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German Pages 344 [337] Year 2018
Dave Elder-Vass
Profit und Gabe in der digitalen Ökonomie
Für Alisa
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2018 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-940-9 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © der deutschen Ausgabe 2018 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-324-7 © der Originalausgabe 2016 by Dave Elder-Vass Titel der Originalausgabe: »Profit and Gift in the Digital Economy« This translation is published by arrangement with Cambridge University Press Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Inhalt
Teil I 1
2
Vielfältige Ökonomien
Einführung
11 Eine Ökonomie unterschiedlicher Appropriationspraktiken Historischer Kontext und politische Strategie 24 Auf dem Weg zu einer neuen politischen Ökonomie 29
Vielfältige Ökonomien
36
Einführung 36 Die Rede von der Marktwirtschaft 37 Was ist »die Wirtschaft« wirklich? 44 Die Realität der vielfältigen Wirtschaft Reale Utopien 55 Schlussfolgerung 61
Teil II 3
50
Politische Ökonomie
Jenseits der marxistischen politischen Ökonomie Einführung 65 Politische Ökonomie als Kritik Produktionsweisen 77 Die Arbeitswerttheorie 87 Schlussfolgerung 98
4
14
65
67
Die Mainstream-Ökonomie und ihre Rivalinnen
100
Einführung 100 Die Mainstream-Ökonomie: der Kern 101 der neoklassischen Theorie Jenseits der neoklassischen Theorie 110 Mauss’ Anthropologie der Gabe 118 Die Wirtschaftssoziologie 124 Schlussfolgerung 131
5
5
Komplexe von Appropriationspraktiken
135
Einführung 135 Praktiken: die Grundeinheit von Wirtschaftsformen Appropriationspraktiken 143 Komplexe von Appropriationspraktiken 149 Schlussfolgerung 160
Teil III 6
136
Formen der Digitalwirtschaft
Digitaler Monopolkapitalismus: Apple
163
Einführung 163 Innovation und Unternehmertum 165 Präferenzielle Bindung 172 Mit geistigen Eigentumsrechten ein Monopol aufbauen 180 Mit Technik ein Monopol errichten 187 Beschäftigte und Zulieferer ausbeuten und Steuern vermeiden Schlussfolgerung 199
7
Kooperative Peer-Produktion: Wikipedia
200
Einführung 200 Enzyklopädisches Wissen als digitales Geschenk Wikipedia versus Encyclopædia Britannica 205 Das Schenkmodell finanzieren 211 Warum verfassen Beitragende Wikipedia-Artikel? Qualität regulieren: Normen 221 Qualität durch Technik sichern 226 Leitung, Legitimität und Teilhabe 229 Schlussfolgerung 235
8
Verteilt Google Geschenke?
191
202
215
238
Einführung 238 Internetsuche und Werbung 239 Schenkkapitalismus? 244 Widerstand und Bindung 253 Personalisierung, Datenschutz und Macht Schlussfolgerung 264
258
6
9
User-Content-Kapitalismus
267
Einführung 267 Weder Waren noch Lohnarbeit 269 Beitragende dauerhaft binden 277 Geschäfte mit nutzergenerierten Inhalten und 281 der herkömmliche Kapitalismus Das schwierige Konzept der Prosumtion 286 Werden Amateure, die Inhalte liefern, ausgebeutet? Schlussfolgerung 298
10 Schluss
300
Einführung 300 Wie man Theorien über die Wirtschaft entwickelt Die Vielfalt akzeptieren 302 Die Wirtschaft durch Versorgung definieren Appropriationspraktiken 304 Eine moralische politische Ökonomie 306 Eine wissenschaftliche politische Ökonomie Die vielfältige Digitalwirtschaft 308 Die digitale Gabenökonomie 309 Die digitale Warenökonomie 311 Die hybride Digitalwirtschaft 313 Interagierende Wirtschaftsformen 315 Wie wir die Wirtschaft verändern können 316 Eine Rolle für den Kapitalismus 317 Eine Rolle für die Gabenökonomie 318 Auf dem Weg in eine offene Zukunft 320
Literatur Danksagung Zum Autor
292
302 303
307
323 342 344
7
Teil I Vielfältige Ökonomien
9
1
Einführung
Mehr als drei Milliarden Mal pro Tag gibt jemand einen Suchbegriff bei Google ein, und innerhalb weniger Sekunden erscheint eine Liste mit Suchbegriffen auf dem Bildschirm.1 Diese für die Nutzer_innen vollkommen kostenlose Dienstleistung ist mittlerweile für einen beträchtlichen Teil der Menschheit zu einer zentralen Praxis bei Arbeit und Informationsbeschaffung geworden.2 Aber das Geschäftsmodell der Google-Suche – wie viele andere Geschäftsmodelle in der Digitalwirtschaft – verwischt und unterwandert einige unserer wichtigsten Vorstellungen, wie die Wirtschaft funktioniert. Google verdient zwar viel Geld mit Werbeeinblendungen neben den Suchergebnissen, doch der Gedanke, dass man erfolgreich ein Geschäft betreiben kann, indem man rund einem Viertel der Menschheit eine kostenlose Dienstleistung zur Verfügung stellt, widerspricht diametral herkömmlichen ökonomischen Vorstellungen. Er läuft auch marxistischen Ideen zuwider, wonach wirtschaftlicher Wert vor allem ein Produkt von Arbeit ist: Die Bereitstellung von Suchergebnissen wie der Verkauf von Werbefläche daneben sind vollkommen automatisierte Prozesse, bei denen Computer und nicht Menschen nahezu die gesamte Verarbeitung leisten. Aber auch herkömmliche Ideen einer Gabenökonomie, die üblicherweise als Alternative zur kommerziellen Ökonomie dargestellt wird, kommen hier nicht zum Tragen, denn bei der Gabenökonomie entstehen persönliche Verbindungen auf der Grundlage wechselseitiger Verpflichtungen. 1 Internet Live Stats 2014. 2 Ende 2012 wurden 65 Prozent der weltweiten Suchanfragen im Internet bei Google
gestellt (Internet Live Stats 2014), und 2016 hatten nach Angaben der Internationalen Fernmeldeunion 47 Prozent der Weltbevölkerung Zugang zum Internet (Taylor, 47 Percent of the World’s Population Now Use the Internet, Study Says).
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Das beste Verständnis für unsere Wirtschaft vermitteln die neoklassische Tradition, die in der Mainstream-Ökonomie vorherrscht, und die marxistische Tradition, die in der kritischen Politik dominiert. Ungeachtet individueller Abweichungen und deutlicher Unterschiede in den Details ist beiden gemeinsam, dass sie die zeitgenössische Wirtschaft als einen Monolithen betrachten: einen kapitalistischen Monolithen, der mehr oder weniger universell dadurch gekennzeichnet ist, dass Unternehmen Waren produzieren und mit Gewinn verkaufen. Aus der Sicht der neoklassischen Ökonomie ist das die effizienteste Art, wie eine Volkswirtschaft funktioniert – deshalb sollte sie auch noch in den letzten zurückgebliebenen Winkel exportiert werden. Aus typisch marxistischer Sicht ist diese Wirtschaftsordnung entfremdend und ausbeuterisch und muss darum gestürzt werden, indem die Kontrolle über den Staat übernommen und eine gänzlich andere, aber genauso monolithische Form der Wirtschaft errichtet wird.3 Die reale Wirtschaft weist jedoch sehr viel mehr unterschiedliche Gesichter auf. Sie ist weder hauptsächlich kapitalistisch, wie die meisten Marxist_innen behaupten, noch hauptsächlich marktwirtschaftlich, wie die meisten Mainstream-Ökonom_innen sagen. Beide Richtungen ignorieren die großen Teile der Wirtschaft, die nicht zu ihren idealtypischen Modellen passen, aber weil ihre Modelle unser Denken so gründlich prägen, haben sie die Vielfalt erfolgreich verborgen. Das Problem ist nicht neu. Feminist_innen haben beispielsweise schon vor vielen Jahren den Blick auf die Privathaushalte gelenkt.4 Doch mit der Ausbreitung der Digitalwirtschaft, die immer mehr neue, innovative ökonomische Formen mit sich bringt, rückt dieses Problem stärker in den Fokus.
3 Allerdings revidieren nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs selbst ziemlich
orthodoxe Marxisten diese Auffassung. David Harvey beispielsweise sieht eine Wiederannäherung kommunistischer und anarchistischer Zukunftsvorstellungen (Harvey, Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, S. 218f.). 4 Zum Beispiel Friedan, Der Weiblichkeitswahn oder die Mystifizierung der Frau; Hochschild, Der 48-Stunden-Tag; Molyneux, Beyond the Domestic Labour Debate.
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Dass es uns nicht gelingt, die Vielfalt der vorhandenen Wirtschaftssysteme zu erkennen, hat zweierlei Konsequenzen. Zum einen führt es dazu, dass unser Verständnis für das Funktionieren der Wirtschaft verzerrt und unvollständig ist. Zum anderen schränkt es unsere Fähigkeit, kreativ über mögliche wirtschaftliche Szenarien der Zukunft nachzudenken, massiv ein. Wenn es so etwas wie ein universelles kapitalistisches System tatsächlich gäbe, wäre es für die Herausforderung, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, vollkommen ungeeignet. Aber das heißt nicht, dass die Lösung ein anderes universelles System ist. Wenn wir produktiv über Alternativen nachdenken wollen, müssen wir aufhören, uns die wirtschaftliche Zukunft immer als Alternative vorzustellen: entweder universeller Kapitalismus oder überwundener Kapitalismus. Die zentrale neue Idee dieses Buches besteht darin, einen anderen Rahmen vorzuschlagen, der es uns ermöglicht, eine große Vielzahl unterschiedlicher ökonomischer Formen zu erkennen und zu analysieren. Erläutert wird dieser Rahmen, indem wir ihn auf Beispiele aus der heutigen Digitalwirtschaft anwenden. Ich nenne den Rahmen eine politische Ökonomie von Praktiken, jede ökonomische Form wird dabei als ein Komplex von Appropriationspraktiken verstanden: gesellschaftliche Praktiken, die die Allokation von Nutzen aus dem Produktionsprozess beeinflussen. Unterschiedliche Kombinationen von Appropriationspraktiken bringen uns unterschiedliche ökonomische Formen mit sehr unterschiedlichen Auswirkungen, wer dadurch welche Nutzen hat und wer dadurch welche Übel erleidet. Die politische Ökonomie der Praktiken untersucht, wie die jeweiligen Praktiken interagieren, sodass die entsprechenden Effekte entstehen; sie nimmt aber auch einen wertenden Standpunkt ein und liefert Begründungen, warum bestimmte Formen in einem konkreten Kontext wünschenswerter sind als andere. Die Appropriationspraktiken in einer herkömmlichen kapitalistischen Firma wie Apple unterscheiden sich sehr von denen in einer Gabenökonomie wie Wikipedia, doch mit zu den interessantesten Prozessen in der Digitalwirtschaft gehören Hybridformen, die Elemente der kapitalistischen Ökonomie und der Gabenökonomie verbinden. Die Digitalwirtschaft ist nicht nur in dem Sinne vielfältig, dass
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sie kapitalistische und nichtkapitalistische Wirtschaftsformen enthält, sondern auch insofern, als es viele verschiedene Ausprägungen kapitalistischer Wirtschaftsformen gibt. Viele entsprechen nicht den traditionellen Modellen und auch nicht unterschiedlichen Formen einer Gabenökonomie, genauso wenig Formen, die weder das eine noch das andere sind oder Mischungen aus beiden darstellen. Aus dieser Perspektive können wir unsere Wirtschaft als ein komplexes Ökosystem konkurrierender und interagierender Wirtschaftsformen mit je eigenen Stärken und Schwächen ansehen. Im nächsten Schritt können wir eine progressive Politik entwickeln, der es mehr darum geht, das Ökosystem umzugestalten, als die imaginäre Perfektion einer einzelnen universellen ökonomischen Form anzustreben. In diesem Kapitel wird zunächst das zentrale Argument des Buches dargelegt. Dann werden seine politischen Implikationen im aktuellen historischen Kontext diskutiert, und am Schluss wird noch etwas mehr darüber gesagt, was zu einer politischen Ökonomie von Praktiken gehört.
Eine Ökonomie unterschiedlicher Appropriationspraktiken Viel zu lange haben wir die Wirtschaft in vom Marktparadigma diktierten Begriffen gefasst. Viele Begriffe, mit denen wir über die Wirtschaft sprechen und nachdenken, einschließlich des Worts Wirtschaft selbst, aber auch Begriffe wie Produktion, Konsum und sogar Arbeit, sind entweder vom Marktmodell abgeleitet oder werden in durch und durch marktwirtschaftlicher Weise verstanden. Wirtschaft umfasst demnach alle Aktivitäten, bei denen Waren und Dienstleistungen für den Markt produziert und auf dem Markt getauscht werden. Die Produktion wird wiederum durch den Warentausch vom Konsum getrennt: Wird beispielsweise Essen vor dem Verkauf gekocht, zählt das als Produktion, aber wenn es nach dem Kauf gekocht wird, ist es Konsum und gehört damit nicht zur produktiven Wirtschaft. Menschliches Handeln gilt nur dann als Arbeit, wenn es zur Produktion von Waren beiträgt, die für den Verkauf auf einem Markt bestimmt sind, oder wenn es gegen Lohn geschieht – und damit zum Arbeitsmarkt
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gehört.5 Obwohl dieses Konzept des Marktes nicht vollkommen kongruent mit dem Kapitalismus ist – zum Beispiel können auch nichtkapitalistische Unternehmen für den Markt produzieren –, ist es zur vorherrschenden Diskursform zur Verteidigung der kapitalistischen Wirtschaft geworden. Das Marktkonzept selbst und alle auf den Markt bezogenen Begriffe sind Teil dessen, was J. K. Gibson-Graham als dominanten Wirtschaftsdiskurs bezeichnen6, bei dem »der Kapitalismus die hegemoniale oder sogar die einzige vorhandene Wirtschaftsform darstellt«.7 Gibson-Graham argumentieren, wir sollten uns die Wirtschaft nicht weiter »fragmentiert« vorstellen, sondern »wir könnten beginnen«, ein weites Feld anderer wirtschaftlicher Aktivitäten zu »erkennen«.8 Der erste Teil dieses Buches übernimmt ihr Konzept der »vielfältigen Wirtschaft«9 und versucht, ihre Argumentation weiter auszuführen. Sie nennen etliche aktuelle Formen wirtschaftlicher Betätigung, die nicht dem traditionellen Modell der kapitalistischen Firma entsprechen,10 darunter der Staatssektor, die Warenproduktion von nichtkapitalistischen Unternehmen wie Kooperativen, Solo-Selbstständigen und Familienunternehmen sowie die vielen Formen von Arbeit im Haushalt, wie Pflegearbeit und Landwirtschaft bzw. Gartenbau zur Selbstversorgung. Ich betone dazu noch die Bedeutung der aktuellen Gabenökonomie, die sich teils mit den Beispielen von Gibson-Graham überlagert, aber auch noch darüber hinausgeht, wie beispielsweise karitatives Schenken, Freiwilligenarbeit, Blut- und Organspende, rituelle Geschenke zu Geburtstagen und anderen Anlässen, Hilfe für
5 Engels machte eine interessante Unterscheidung zwischen »Arbeit«, die alle pro-
6
7 8 9 10
duktiven Aktivitäten einschließt, und »Lohnarbeit«, die gegen Bezahlung geleistet wird (Fuchs, Digital Labour and Karl Marx, S. 26f.; Standing, Prekariat, S. 26). Ich verwende den Plural, weil J.K. Gibson-Graham der Schriftstellername zweier Autorinnen ist (Katherine Gibson / Julie Graham), die gemeinsam »mit einer Stimme« publizieren (Gibson-Graham / Cameron / Healy, Take Back the Economy, S. ix.). Gibson-Graham, The End of Capitalism, S. 2. Ebenda, S. 263. Ebenda, S. xii. Ebenda, S. xii–xv.
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Freund_innen, Nachbar_innen, Arbeitskolleg_innen und sogar unbekannte Passant_innen, Vermächtnisse, die Schaffung digitaler Ressourcen, die dann im Internet frei mit anderen geteilt werden (darunter zum Beispiel Webseiten, Ratschläge in Internetforen, Seiten bei Wikipedia, bei YouTube eingestellte Videos und Open-Source-Software) und, vielleicht bedeutsamer als alles andere, das Teilen von Ressourcen und Fürsorgearbeit in einem Haushalt. Wenn wir all diese Aktivitäten in die Wirtschaft einbeziehen wollen, müssen wir die Definition so verändern, dass Wirtschaft nicht länger vom Markt abhängt. In Kapitel 2 wird im Anschluss an eine Reihe heterodoxer Traditionen argumentiert, dass wir Wirtschaft stattdessen in der Begrifflichkeit des Versorgens definieren sollten: Aktivitäten, die darauf ausgerichtet sind, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Das erlaubt uns, nichtmarktgebundene Versorgungsleistungen in unsere Definition von Wirtschaft einzubeziehen. Aber es ist schwierig, den Umfang der Wirtschaft zu messen, der nicht mit Warenproduktion zu tun hat: Weil dieser Teil nicht gehandelt wird, wird er nicht automatisch monetär erfasst. Doch ich argumentiere, dass die nichtmarktgebundene Wirtschaft insgesamt alles andere als marginal ist, sondern in der gegenwärtigen globalen Gesellschaft mindestens genauso groß, womöglich sogar noch größer ist. Das Konzept der vielfältigen Wirtschaft bedeutet einen radikalen Bruch sowohl mit der marxistischen wie mit der Mainstream-Tradition und führt uns zu eher theoretischen Diskussionen über alternative Formen der politischen Ökonomie in Teil II . In den Kapiteln 3 und 4 werden die marxistische und die Mainstream-Tradition abgehandelt, und Kapitel 5 skizziert die von mir vorgeschlagene Alternative. Wie Gibson-Graham in der marxistischen Tradition argumentieren, hat sie, von sonstigen Stärken einmal abgesehen, zu dem vorherrschenden Diskurs beigetragen, wonach Kapitalismus und Markt in der gegenwärtigen Wirtschaft mehr oder weniger universell sind. Der zentrale marxistische Beitrag zu diesem Diskurs ist das Konzept der Produktionsweisen, das nicht nur in der marxistischen Tradition bis heute sehr einflussreich ist, sondern auch im aktuellen Verständnis der Zeitgeschichte. Üblicherweise bezeichnet der Begriff Produktionsweise eine Form der wirtschaftlichen Organisation, für die bestimmte
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Klassenbeziehungen charakteristisch sind, eine bestimmte Art und Weise, die Zugriffsrechte auf die Ergebnisse des Produktionsprozesses unter den Träger_innen unterschiedlicher gesellschaftlicher Rollen zu verteilen. Die Produktionsweise ist »die ökonomische Struktur der Gesellschaft«, und in der Geschichte stellen aufeinanderfolgende Produktionsweisen »progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation«11 dar. Nach allgemeinem Verständnis und in vielen (wenn auch nicht allen) Interpretationen des Marxismus leben wir heute mehr oder weniger weltweit mit einer kapitalistischen Produktionsweise, die vor mehreren hundert Jahren zumindest in Europa den Feudalismus abgelöst hat. Es wird zwar manchmal anerkannt, dass einzelne Gesellschaften mehrere Produktionsweisen haben können,12 aber Marxist_innen behandeln das häufig als ein Randthema. Typischerweise betrachten sie die Produktionsweise als eine einheitliche Form sozialer Beziehungen, die die gesamte ökonomische Praxis innerhalb einer bestimmten Gesellschaft oder einer gesellschaftlichen Formation entweder konstituiert oder dominiert. Diese Sicht – die Produktionsweisen als ökonomische Formen, die eine Gesellschaft dominieren, während andere Formen ausgeklammert bleiben – ist hochgradig problematisch. Sie reicht zur Beschreibung der gegenwärtigen sozialen Realität nicht aus, und das hat politische Konsequenzen. Weil sie die Vielfalt nichtkapitalistischer Praktiken in der Gesellschaft verschleiert, lenkt sie die Aufmerksamkeit all jener, die nach wirtschaftlichen Alternativen Ausschau halten, von der Möglichkeit ab, solche Alternativen innerhalb einer vielfältigen Wirtschaft zu entwickeln. Bei dieser monolithischen Auffassung der Wirtschaft besteht die Gefahr, dass sie uns direkt zu einer monolithischen Auffassung des politischen Handelns führt, wobei die Kontrolle des Staates zum einzigen Weg wird und das einzige Ziel darin besteht, einen ökonomischen Monolithen durch einen anderen zu ersetzen. Um die zeitgenössischen Volkswirtschaften besser zu verstehen und einen Rahmen zu entwickeln, der es uns erlaubt, realistischer 11 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, S. 8f. 12 Ein klassisches Beispiel dafür ist Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bona-
parte.
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über wirtschaftlichen Wandel nachzudenken, müssen wir die Wirtschaft in flexiblere Begriffe fassen, als es Marxist_innen üblicherweise tun. Doch die Mainstream-Ökonomie ist dieser Aufgabe noch weniger gewachsen. Der Marxismus ordnet sein Verständnis der Wirtschaftsform zumindest in den historischen Zusammenhang ein und erkennt an, dass es in unterschiedlichen Gesellschaften oder Gesellschaftsformationen unterschiedliche Wirtschaftsformen geben kann. Die Mainstream-Ökonomie hingegen baut auf einem Modell auf, das wesensmäßig an ein einziges Konzept von Wirtschaft geknüpft ist: die Marktwirtschaft. Die Mainstream-Ökonomie geht davon aus, dass wir alle wirtschaftlichen Situationen mit den Begriffen von Angebot, Nachfrage, rational kalkulierenden Akteur_innen und Optimierung der Funktionen fassen können.13 Es gibt eine Reihe von Gründen, zu vermuten, dass dies selbst als Analyse der Marktwirtschaft inadäquat ist, und viele Untersuchungen heterodoxer Ökonom_innen und anderer Sozialwissenschaftler_innen stützen diese Vermutung. Aber die Kritik verfehlt oft einen entscheidenden Punkt: Große Teile der Wirtschaft entsprechen überhaupt nicht dem Marktmodell, und die Mainstream-Ökonomie hat keinerlei Instrumente, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Gelegentlich sehen wir so etwas wie wirtschaftswissenschaftlichen Imperialismus, der versucht, Familien und andere gesellschaftliche Phänomene, die nichts mit dem Markt zu tun haben, so zu analysieren, als ob man sie mit Begriffen erfassen könnte, die vom Markt abgeleitet sind.14 Aber das bestätigt nur das Versagen, anzuerkennen, dass es Bereiche der Volkswirtschaft gibt, die nicht wie Märkte behandelt werden können, mit rational optimierenden Akteur_innen und immun gegen größere gesellschaftliche Kräfte. Anders als in diesen beiden Wirtschaftsmodellen wird in diesem Buch versucht, eine detailliertere Analyse zu entwickeln, die die Vielfalt der ökonomischen Formen in der heutigen Gesellschaft erklären kann und damit die politische Möglichkeit eröffnet, bestimmten Formen gegenüber anderen den Vorzug zu geben, ohne die Vielfalt rund13 Keen, Debunking Economics. 14 So etwa Becker, A Treatise on the Family.
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weg eliminieren zu wollen. Dieses Argument kann nicht innerhalb der aktuellen Mainstream-Ökonomie entfaltet werden, sondern erfordert eine umfassendere, Disziplinen übergreifende Perspektive, die zum Beispiel die Diskussion der ökonomischen Anthropologie über Gabenökonomien einbezieht, die soziologische Darstellung ökonomischer Praktiken und eher theoretische Arbeiten über Mechanismen und kausale Kräfte aus der kritisch-realistischen Sozialwissenschaft. Kapitel 4 untersucht nicht nur das Mainstream-Modell, sondern auch eine Vielzahl alternativer Traditionen und ihre Beiträge zu einem kohärenteren Verständnis unserer vielfältigen Volkswirtschaften. Die Kapitel 2 bis 4 liefern wichtigen Kontext, aber viele zentrale Argumente sind auch anderswo in der Literatur zu finden. Kapitel 5 legt dann die zentrale theoretische Innovation dieses Buches dar, die politische Ökonomie der Praktiken. Der Kern des Arguments lautet, dass wir die Wirtschaft besser bestehen können, wenn wir sie als eine vielfältige Ansammlung ökonomischer Formen betrachten, wobei jede Form einen bestimmten Komplex von Appropriationspraktiken darstellt – gesellschaftliche Praktiken, die die Verteilung der Nutzen aus dem Produktionsprozess beeinflussen. Gruppen von Menschen, die diese Praktiken anwenden, bilden auf unterschiedlichen Ebenen Appropriationsstrukturen. Aus der Interaktion der vielen unterschiedlichen Appropriationsstrukturen entsteht ein wirtschaftliches System, das weder dem marxistischen Modell des Kapitalismus entspricht noch dem Mainstream-Modell einer Marktwirtschaft. Ich möchte die drei Begriffe, die das Konzept des Komplexes von Appropriationspraktiken definieren, jeweils kurz vorstellen. Da ist zunächst der Begriff Praktiken, er wird für die kleinste Einheit einer ökonomischen Form verwendet. Die ganze Wirtschaft kann nicht die Einheit der ökonomischen Form sein, etwas, über das man sagen kann, dass es eine einzige ökonomische Form hat oder ist, weil viele unterschiedlichen Formen darin nebeneinander bestehen können. Selbst einzelne gesellschaftliche Orte oder Entitäten können aus demselben Grund nicht die Einheit der ökonomischen Form sein. In einem Haushalt beispielsweise finden wir nicht nur eine Form der Gabenökonomie vor, wenn Eltern oder Betreuungspersonen den Kindern kostenlos Essen und andere Güter zur Verfügung stellen, sondern auch eine
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stärker kommerzielle Form der Ökonomie, wenn sie einem Kindermädchen oder einer Haushaltshilfe einen Lohn für ihre Betreuungsoder Haushaltsdienste bezahlen. Das sind zwei unterschiedliche Praktiken in dem Sinne, dass jede Praktik eine Tendenz darstellt, in einer bestimmten Weise zu handeln. Üblicherweise wird jede Tendenz durch normative gesellschaftliche Erwartungen verstärkt, und man kann jede Praktik als eine bestimmte wirtschaftliche Form identifizieren. Das Konzept der Praktiken wird in den Sozialwissenschaften jedoch häufig für eine große Bandbreite institutionalisierter menschlicher Verhaltensweisen verwendet, und viele davon bringt man in der Regel nicht mit Wirtschaft zusammen. Küssen und Beten beispielsweise sind Praktiken, aber nicht in erster Linie ökonomische Praktiken. Praktiken, die zur Wirtschaftsform gehören, bezeichne ich als Appropriations-Praktiken. Die Mainstream-Ökonomie wie die marxistische Wirtschaftslehre behauptet, sich für die Produktion zu interessieren, doch tatsächlich geht es beiden um die Appropriation des Produkts oder des Nutzens aus der Produktion, und das prägt unsere wirtschaftlichen Vorstellungen. Mit Appropriationspraktiken meine ich die Praktiken, die darüber bestimmen, wer die Nutzen bekommt (nicht die Praktiken, die speziell damit zu tun haben, der erste Besitzer von etwas zu werden; in diesem Sinn wird der Begriff Appropriation manchmal in der Eigentumstheorie verwendet). Bei Lohnarbeit erhält der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin Nutzen in Form eines Lohns, und der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin erhält Nutzen in Form des Eigentums am Produkt der Arbeit; insofern ist Lohnarbeit eine Appropriationspraktik. Größere Appropriationsmuster hängen jedoch oft nicht von einzelnen Appropriationspraktiken ab, sondern von interagierenden Komplexen solcher Praktiken. So kann Lohnarbeit beispielsweise mit vielen anderen Praktiken kombiniert sein, und die daraus resultierenden Komplexe führen unter dem Aspekt der Appropriation zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Die klassische Form des Industriekapitalismus kombiniert Lohnarbeit mit dem privaten Eigentum an den Produktionseinrichtungen und mit Warenproduktion – dem Verkauf der Produkte auf dem Markt. Die Kombination dreier einzelner Praktiken erzeugt typischerweise Ergebnisse, die nicht durch Lohnarbeit allein erreicht werden können; insbesondere tendiert sie dazu, mone-
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täre Gewinne für die Kapitalbesitzer_innen zu generieren. Die Interaktion vieler derartiger Warenverkäufe erzeugt ein Marktsystem, aber Lohnarbeit muss nicht mit Warenproduktion kombiniert werden. Sie könnte beispielsweise auch mit staatlicher Zuweisung der Produktion an andere Unternehmen kombiniert werden; in dem Fall hätten wir einen anderen Komplex von Appropriationspraktiken mit vollkommen anderen Folgen nicht nur für die Appropriation der Nutzen, sondern auch für die Dynamik des Systems. Genauso könnten wir auch Märkte und Waren ohne Lohnarbeit haben, etwa wenn Haushalte Güter ausschließlich mit Familienarbeit herstellen. Um das Konzept der Komplexe von Appropriationspraktiken angemessen zu bewerten, müsste man viele unterschiedliche derartige Komplexe klassifizieren und analysieren, die einen großen Bereich der Weltgeschichte abdecken. Das vorliegende Buch verzichtet auf eine solche Klassifikation; stattdessen unternimmt es einen ersten Versuch, das Konzept durch die Anwendung auf einige wenige interessante aktuelle Fälle zu überprüfen. Weiterhin wird versucht, das Argument zu untermauern, dass Komplexe von Appropriationspraktiken systematische Folgen haben, nicht nur im Hinblick auf die Appropriation des monetären Nutzens, sondern auch im Hinblick auf Phänomene, die die herkömmliche Wirtschaftslehre tendenziell ignoriert, wie die Arbeitszufriedenheit und die Gemeinschaftsentwicklung. In Teil III dieses Buches werden wir deshalb vier unterschiedliche Komplexe von Appropriationspraktiken untersuchen, die in der gegenwärtigen Digitalwirtschaft aufgetaucht sind, und wir werden die Nutzen einer politischen Ökonomie von Praktiken darlegen, indem gezeigt wird, wie sie uns die Interpretation dieser Fälle erleichtert. Die vorherrschenden ökonomischen Vorstellungen wirken wie Polarisationsfilter; keiner dieser Fälle lässt sich richtig erfassen, wenn wir sie durch diese Filter betrachten, denn jeder Filter erlaubt uns, nur eine Dimension – wenn überhaupt – der wirtschaftlichen Aktivität in diesen vielfältigen Wirtschaftsformen zu sehen. Kapitel 6 behandelt einen prominenten Fall der kapitalistischen Warenproduktion: Apple. Apple kommt in vieler Hinsicht dem traditionellen Modell eines kapitalistischen Unternehmens nahe, denn es macht einen großen Teil seiner Gewinne mit der Herstellung und dem
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Vertrieb materieller Güter. Doch viele Aspekte seines Verhaltens und von dessen Wirkungen lassen sich mit den eher groben Vorstellungen vom Markt, die bei den Anhänger_innen der Marktwirtschaft vorherrschen, nicht erklären. So konkurriert Apple beispielsweise nicht nur auf bestehenden Märkten, sondern versucht beständig, den Markt zu kontrollieren, indem es Wettbewerber durch die Manipulation gesetzlicher Regelungen hinausdrängt. Außerdem verdient Apple immer mehr Geld durch den Verkauf immaterieller »Güter«, was wichtige Fragen zur Rolle der Arbeit und der sozialen Konstruktion von Eigentumsrechten bei der Generierung von Gewinnen aufwirft. Trotzdem treffen Elemente des Marktparadigmas auf Fälle wie Apple zu, und es ist wichtig, dass jedes innovative Modell von Wirtschaftsformen diesen Aspekten genauso Rechnung trägt wie den anderen, die sich der traditionellen Sicht entziehen. Abgesehen von der Warenwirtschaft ist das Internet jedoch zum Schauplatz einer florierenden Gabenökonomie geworden; exemplarisch stehen dafür Wikipedia und Open-Source-Software. In Kapitel 7 wird diskutiert, welche Appropriationspraktiken bei Wikipedia am Werk sind: die Erstellung durch freiwillige Arbeit, die Finanzierung durch Spenden, die Überlassung des Produkts als ein kostenloses digitales Geschenk und die internen Praktiken, die zu diesem Modell gehören. Wikipedia ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die technologischen Eigenschaften des Internets neue Möglichkeiten für die kooperative Herstellung digitaler Geschenke geschaffen haben. Insofern illustriert Wikipedia, wie wichtig der Beitrag der Technologie und insbesondere nichtmenschlicher materieller Objekte für die Gestaltung und Umsetzung von Appropriationspraktiken ist. Dieses Kapitel führt kurz das verwandte Konzept der soziomateriellen Strukturen ein. Es ist auch ein faszinierendes Beispiel für die Dekommodifizierung, bei der neue Kombinationen von Information, Software und Kultur eine Bedrohung für herkömmliche Warenproduzent_innen darstellen. Die Interaktion zwischen der Warenwirtschaft und der Gabenökonomie hat eine Reihe von Hybridformen hervorgebracht; zwei davon werden in den Kapiteln 8 und 9 näher betrachtet. Als Erstes sehen wir uns das Modell an, mit dem dieses Kapitel begann. Googles Geschäftsmodell für die Suche im Internet generiert hohe Gewinne, die
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davon abhängen, dass Google Dinge verschenkt – Suchergebnisse, E-Mail-Dienste und Karten beispielsweise – und die Geschenke dazu verwendet, Daten über die Nutzer_innen zu sammeln. Die Daten erlauben es Google wiederum, Fläche für sehr stark zielgerichtete Werbung zu verkaufen. Solche Geschäftsmodelle, bei denen Lohnarbeit nur noch eine stetig schrumpfende marginale Rolle spielt, lassen sich mit den Begriffen der traditionellen marxistischen Kapitalismusanalyse nicht erklären, aber sie zeigen auch, dass die Mainstream-Ökonomie nicht weiterführt: Welche Bedeutung hat Konkurrenz über den Preis auf einem »Markt«, wenn das Produkt nichts kostet? Schließlich profitieren Websites wie YouTube (gehört ebenfalls zu Google) und Facebook von einer anderen Hybridform, die ich als UserContent-Kapitalismus bezeichne. Dabei stellen Nutzer_innen kostenlos ihre Zeit zur Verfügung, um die Ressourcen zu schaffen, die Gewinne für die kapitalistischen Besitzer_innen der jeweiligen Websites generieren. Wieder entstehen Gewinne weitgehend ohne Lohnarbeit, aber darüber hinaus bringt dieses Beispiel grundlegende Konzepte der Ökonomie ins Wanken, allen voran die Trennung von Produktion und Konsum.15 Wie entscheiden wir, wenn wir über den Markt hinausgehen, welche Aktivitäten »wirtschaftlicher« Natur sind und welche nicht? Und wie wünschenswert sind Produktionsmodelle, bei denen Nutzer_innen weitgehend nicht entfremdete Arbeit leisten, die gleichzeitig Gewinne für die Plattformbetreiber_innen abwirft? Unterschiedliche Aspekte dieses Arguments dürften unterschiedliche Leser_innen ansprechen. Die eher wissenschaftlich und theoretisch interessierte Leserschaft wird Teil II dieses Buches wichtig finden, aber es sollte auch die nichtakademische Leserschaft ansprechen, die Teil II überspringen (und vielleicht später bei Kapitel 5 wieder einsteigen) und sich stärker auf die Fallbeispiele aus der Digitalwirtschaft in Teil III konzentrieren kann. Ich habe mich bemüht, Teil I und Teil III für alle gebildeten Leser_innen zugänglich zu machen, aber Teil II dürfte für Leser_innen ohne akademischen Hintergrund eine etwas größere Herausforderung darstellen. 15 Das wird oft als »Prosumtion« bezeichnet. Mit diesem Konzept setze ich mich in
Kapitel 9 kritisch auseinander.
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Historischer Kontext und politische Strategie Eine wichtige Botschaft dieses Buches lautet darum, dass wir in einer weniger kapitalistischen Wirtschaft leben, als die meisten von uns glauben. Tatsächlich existiert bereits eine große Bandbreite anderer Wirtschaftsformen, und einige davon könnten weiterentwickelt werden, um die Gewichtsverteilung in unserer vielfältigen Wirtschaft weiter vom Kapitalismus weg zu verschieben. Aber das sollte uns nicht verleiten, die enorme Macht zu unterschätzen oder wegzuwünschen, die das kapitalistische Geschäftsmodell in der heutigen Welt besitzt, ebenso wenig wie die strukturellen Konsequenzen, die sich aus den Interaktionen vieler kapitalistischer Prozesse ergeben, unabhängig davon, ob sie von den beteiligten Akteur_innen intendiert sind oder nicht. Es besteht ein Nexus von wirtschaftlicher, diskursiver und politischer Macht rund um die Interessen der kapitalistischen Wirtschaft, und dieser Nexus ist wohl der stärkste Machtfaktor in der heutigen Welt. In wirtschaftlicher Hinsicht erzeugt der Kapitalismus massenhaft Geldvermögen (anders als die Gabenökonomie, unabhängig davon, wie groß ihr Anteil an der produktiven Aktivität ist). Deshalb haben kapitalistische Unternehmen gewaltige Macht über Ressourcen. Durch die Kontrolle über die Medien können sie diese wirtschaftliche Macht zudem in diskursive Macht übersetzen: Das Internet hat zwar neue Chancen für die nutzergesteuerte Kommunikation geschaffen, aber am meisten Beachtung finden immer noch die Stimmen, die von den kapitalistischen Medien kontrolliert werden. Populäre Zeitungen, Fernseh- und Radiosender haben weiterhin enormen Einfluss darauf, wie wir über öffentliche Angelegenheiten nachdenken; dadurch ist beispielsweise der Diskurs, der die Wirtschaft als eine reine Marktwirtschaft darstellt, so vorherrschend geworden. Darüber hinaus haben die Medien mitgeholfen, ein Diskursregime zu etablieren, das den Ruf einer Regierung daran misst, wie gut es ihr gelingt, das Wirtschaftswachstum zu fördern. Die diskursive Macht und ihre wirtschaftlichen Ressourcen haben der kapitalistischen Wirtschaft in den meisten Ländern der Welt großen Einfluss auf den politischen Prozess verliehen, mit der Folge, dass viele Regierungen ihre Außen- und Innenpolitik an den Interessen der Wirtschaft ausrichten.
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In diesen Zusammenhang gehört auch, dass es den Neoliberalen gelungen ist, das weltweite wirtschaftliche Umfeld umzugestalten, indem sie staatliche Machtmittel an sich gerissen haben und diese dafür einsetzen, um die Privatwirtschaft zu deregulieren, den staatlichen Sektor zu privatisieren und in vielen Ländern öffentliche Dienstleistungen einzuschränken, die nicht direkt den Unternehmen nützen.16 Die Neoliberalen fördern die Globalisierung und profitieren davon: zum Beispiel indem sie Handelsschranken abbauen und damit Möglichkeiten schaffen, die Produktion vom globalen Norden in den globalen Süden – oder vielleicht sollten wir sagen: in den globalen Osten – zu verlagern, wo dank niedrigerer Lohnniveaus und weniger Regulierung größere Profite möglich sind. In der Folge stagnieren die Löhne auch im Norden, und eine Schicht von Arbeitskräften mit dauerhaft unsicheren Arbeitsverhältnissen entsteht – das Prekariat –, während zugleich die Zahl der Beschäftigten in ebenfalls unsicheren Arbeitsverhältnissen in den Zielländern weiter steigt.17 Es ist eine Welt, in der die Ungleichheit wächst, während die Lohnquote in den offiziellen Statistiken zum Nationaleinkommen immer weiter abnimmt,18 mit negativen Auswirkungen nicht nur für einkommensschwache Menschen, sondern für alle.19 Es ist eine Welt, in der multinationale Konzerne wie Apple, Facebook und Amazon unterschiedliche regulatorische Vorgaben so ausnützen können, dass sie auf ihre enormen Gewinne nur minimal Steuern bezahlen. Damit entziehen sie sich ihrer Verpflichtung, zur Finanzierung der Staaten beizutragen, die ihre Interessen schützen.20 Es ist eine Welt, in der die Werte des Marktes nach und nach alle anderen Werte überlagern.21 Es ist zunehmend eine Welt, die sich nicht um die Bedürfnisse und Probleme der Menschen kümmert, die keine finanzielle Macht haben. Und es ist natürlich eine Welt, die verändert werden muss. Die gewal-
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Klein, Die Schock-Strategie; Mirowski, More Heat than Light. Standing, Prekariat. Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert. Wilkinson / Pikett, Gleichheit. Duke, The Untaxables; Ders. / Gadher, Apple Avoids up to £570m in British Tax. Sandel, Was man für Geld nicht kaufen kann.
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tige Macht kapitalistischer Unternehmen, ihre Interessen zu verteidigen, ist ein großes Hindernis für Veränderungen, aber sie ist nicht das einzige Hindernis. Ein weiteres Hindernis war Teil der Motivation, dieses Buch zu schreiben: die Tatsache, dass viele Kritiker_innen des Neoliberalismus nicht in der Lage sind, gangbare Alternativen zu präsentieren. Üblicherweise befürworten unterschiedliche Teile der Linken zwei Wege, um die Organisation unserer Wirtschaft zu verbessern. Das sind zum einen reformistische Anpassungen an den Kapitalismus und zum anderen die Übernahme der Staatsmacht, um einen revolutionären Wandel durchzusetzen. Meiner Ansicht nach führt weder der eine noch der andere Weg zu einer radikal besseren Wirtschaft. Beide leiten sich von den monolithischen Vorstellungen in unseren Köpfen ab: der Auffassung, dass der Kapitalismus ein System des »Alles oder nichts« ist – und dazu noch ein homogenes. Aber wenn wir anerkennen, dass um uns herum bereits andere Wirtschaftsformen existieren, steht uns auf einmal eine dritte Option offen: fortschrittliche wirtschaftliche Alternativen innerhalb unserer vielgestaltigen Wirtschaft einzuführen, zu unterstützen und weiterzuentwickeln, während wir zugleich versuchen, die schädlichen Formen und Aspekte des Kapitalismus zurückzudrängen. Diesen Weg hat Vishwas Satgar als transformative Politik bezeichnet, und sie bekommt immer mehr Unterstützung.22 In der Welt der politischen Praxis entspricht dieser Weg der Haltung des Weltsozialforums und vieler damit verbundener Bewegungen.23 In der Welt der wissenschaftlichen Theorie passt er sehr gut zu einer Reihe von Projekten im Zusammenhang mit alternativer Ökonomie und solidarischer Ökonomie,24 aber am produktivsten ist vielleicht die Verbindung mit Erik Olin Wrights Projekt Reale Utopien.25 Wright hat zwar selbst einen marxistischen Hintergrund, hält aber wenig von der traditionellen marxistischen Tendenz, in erster Linie die Gegenwart zu kri22 23 24 25
Satgar, The Solidarity Economy Alternative. Mertes, A Movement of Movements; Ponniah / Fisher, Another World Is Possible. Zum Beispiel Hart / Laville / Cattani, The Human Economy. Wright, Reale Utopien.
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tisieren und, abgesehen von vagen Plattitüden über den Kommunismus, wenig darüber zu sagen, welche Art von Zukunft wir anstreben sollten. Er vertritt demgegenüber den Standpunkt, wir müssten klare, detaillierte Gegenvorschläge entwickeln, die er als »reale Utopien« bezeichnet. Diese Alternativen sind utopisch im ethischen Sinn, insofern sie Visionen für »gesellschaftliche Institutionen […] frei von Unterdrückung« sind, Visionen, die unsere Fantasie über das hinausführen, was möglich ist.26 Aber sie sind auch real in dem Sinn, dass ein Vorschlag nur dann in Betracht kommt, wenn wir mit gutem Grund argumentieren können, dass er machbar und das Ziel erreichbar ist. Wrights Projekt passt vor allem deshalb so gut zu der Argumentation in dem vorliegenden Buch, weil die utopischen Vorschläge, für die er sich ausspricht, keine neue monolithische Wirtschaft beinhalten, sondern vielmehr eine große Bandbreite partieller Alternativen anbieten, die im Rahmen der vorhandenen Institutionen möglich sind, auch neue Wirtschaftsformen, von denen wir annehmen können, dass sie innerhalb einer entwickelten Version unserer vielfältigen Ökonomie funktionieren. Wie Geoff Hodgson gesagt hat: »Wenn Utopisten eine Aufgabe haben […], dann besteht sie nicht darin, ein Jerusalem zu entwerfen, sondern viele gegensätzliche, denkbare Möglichkeiten zu erfassen und auszumalen, und auch die sozialen Kräfte, die jeweils dorthin führen könnten.«27 Damit haben wir die Basis einer gangbaren progressiven Strategie für die Wirtschaft: an mehreren Fronten tätig sein, viele Optionen vorbringen, erkennen, dass wir eine vielfältige Wirtschaft haben, und auf eine Verschiebung der Gewichte hinarbeiten. Das bedeutet, fortschrittliche Alternativen voranzutreiben und gleichzeitig rückwärtsgewandte einzuschränken. Dazu gehört, offen zu sein für eine große Bandbreite an Alternativen, einschließlich der Möglichkeit, dass manche Formen des Kapitalismus bei einer adäquateren Mischung wirtschaftlicher Praktiken durchaus weiterhin eine wertvolle Rolle spielen können.
26 Ebenda, S. 45. 27 Hodgson, Economics and Utopia, S. 154.
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Der Kapitalismus ist selbst kein Monolith; es gibt viele verschiedene Komplexe von Appropriationspraktiken, sie funktionieren in vielen unterschiedlichen Kontexten, die oft unter dem Etikett »kapitalistisch« zusammengefasst werden. Die marxistische Diskursstrategie, das wirtschaftliche und politische Spektrum in bürgerlich und proletarisch zu unterteilen, sie und wir, hat es linken Denker_innen schwer gemacht, unterschiedliche als kapitalistisch etikettierte Wirtschaftsformen differenziert zu betrachten, und hat verhindert, dass eine radikale Linke manche kapitalistischen Wirtschaftsformen als nützlich befindet, andere als schädlich, und das in ihrer politischen Strategie berücksichtigt. Anscheinend darf nur die Rechte die positiven Seiten mancher kapitalistischer Formen der Wirtschaftsorganisation anerkennen, wie ihre Flexibilität, ihre Dynamik bei der Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen, ihre Erfolge, technische Neuerungen auf den Weg zu bringen, und die Tatsache, dass der Kapitalismus durch den Prozess, den Schumpeter als schöpferische Zerstörung bezeichnet, die Allokation von Ressourcen steuern kann.28 Selbst die Fähigkeit, die Produktion auf die Kundenwünsche auszurichten, wäre in einer Wirtschaft mit einer weniger ungleichen Verteilung der Kaufkraft etwas Wünschenswertes. Die vollständige Abschaffung des Kapitalismus ist darum nicht nur unrealistisch, sondern auch gar nicht wünschenswert. Wenn wir anerkennen, dass der Kapitalismus selbst vielfältig ist, können wir uns darauf konzentrieren, zwischen den Formen zu unterscheiden, die (bei angemessener Regulierung) zu einer auf die menschlichen Bedürfnisse ausgerichteten Wirtschaft beitragen können, und anderen Formen, die das nicht können. Diese Strategie ist nicht nur wesentlich dafür, wünschbare Wege zu identifizieren, die vorwärts führen, sondern mit ihrer Hilfe lassen sich auch politisch gangbare Wege nach vorne identifizieren. Denn es ist unwahrscheinlich, dass eine Strategie sich durchsetzen kann, die den gesamten kapitalistischen Machtkomplex gegen sich hat und die positiven Erfahrungen verleugnet, die viele durchschnittliche Menschen mit manchen kapitalistischen Arbeitgeber_innen und den Produzent_innen von Waren und Dienstleistun28 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 137.
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gen gemacht haben. Einfach ausgedrückt, schlage ich eine Strategie vor, die zwischen gutem und schlechtem Kapitalismus unterscheidet und die guten Kapitalist_innen auf die Seite der progressiven Kräfte zieht oder zumindest in eine Position bringt, in der sie sich durch Kritik an schädlicheren Formen des Kapitalismus nicht bedroht fühlen. Die Alternative dazu ist, alle oder wenigstens die meisten kapitalistischen Unternehmen in eine politische Allianz gegen den fortschrittlichen Wandel zu treiben. Trotzdem erfordert der Fortschritt hin zu einer stärker auf menschliche Bedürfnisse ausgerichteten Wirtschaftsform wahrscheinlich doch die Abschaffung bestimmter kapitalistischer Praktiken und die Regulierung anderer, einschließlich solcher, hinter denen gewaltige finanzielle Macht steht beziehungsweise die gewaltige finanzielle Macht schaffen. Ich behaupte nicht, eine Lösung für diese Herausforderung zu haben, aber ich denke, dass dazu gehören wird, politische Allianzen zwischen den Befürwortern einer großen Bandbreite unterschiedlicher Praktiken in einer vielfältigen Ökonomie zu schmieden. Einige Hinweise, wie eine solche Allianz aussehen könnte, erhalten wir, wenn wir uns das Weltsozialforum anschauen. Besonders wichtig ist in dem Zusammenhang, dass beim WSF anders als bei den meisten linken Bewegungen im globalen Norden nicht die Arbeiterbewegung im Mittelpunkt steht und es daher nicht an die Strategie der Arbeiterschaft gebunden ist, um die Machtbalance in der Beziehung zwischen Lohn und Arbeit zu verschieben; stattdessen kann es an wirtschaftlichen Alternativen zu dieser Beziehung arbeiten.
Auf dem Weg zu einer neuen politischen Ökonomie Das letzte Unterkapitel streifte Fragen der politischen Strategie, aber nur, um die Argumentation in diesem Buch in den aktuellen politischen und wirtschaftlichen Kontext einzuordnen. Primär geht es hier nicht um Politik, sondern um politische Ökonomie. Probeweise definiere ich politische Ökonomie als das wissenschaftliche, aber notwendigerweise auch wertende und damit politische Studium ökonomischer Praktiken und Systeme. Die Mainstream-Ökonomie stellt sich oft
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selbst als rein technische Wirtschaftswissenschaft dar und nicht als ein wertendes und damit politisches Unterfangen. Doch alle Empfehlungen auf der Grundlage der ökonomischen Analyse betreffen immer die Allokation und Appropriation von Ressourcen und Nutzen durch unterschiedliche Personen, und deshalb können sie ethisch nicht neutral sein. Derartige Empfehlungen beinhalten immer ethische Bewertungen, entweder explizite oder verborgene. Der Marxismus hingegen beansprucht ausdrücklich das Etikett politische Ökonomie. Es gibt viele verschiedene politische Ökonomien, während eine politische Ökonomie eine mehr oder weniger homogene, kohärente und umfassende Tradition der Beschäftigung mit der politischen Ökonomie ist. Man kann sagen, dass diese Traditionen die Merkmale dessen aufweisen, was Kuhn als Paradigma bezeichnet hat.29 Sie enthalten Kerntheorien, die als grundlegend gelten. Sie entwickeln ihre eigenen Begrifflichkeiten und Argumentationsweisen, die es Anhänger_innen unterschiedlicher Traditionen unter Umständen schwer machen, die jeweiligen Argumente zu verstehen. Oder sie sehen sogar empirische Phänomene, die nicht in die Kategorien ihres eigenen Paradigmas passen. Und ihre Anhänger_innen sträuben sich einigermaßen dagegen, ihre Konzepte und Theorien zu revidieren oder zu verwerfen, sondern finden Mittel und Wege, anscheinend widersprüchliche Befunde anders zu interpretieren, sodass sie ihren Glauben an ihr Paradigma nicht mehr bedrohen. Auf der anderen Seite sind die vorhandenen Traditionen der politischen Ökonomie noch resistenter gegen Widerlegungen als die Paradigmen, die Kuhn in den Naturwissenschaften untersucht hat, weil sie es geschafft haben, sich gegen nüchterne Erwägungen zur empirischen Gültigkeit zu isolieren. Teilweise geschieht das mit dem Verweis darauf, dass es grundsätzlich schwierig ist, sozialwissenschaftliche Theorien zu überprüfen. Aber es spielt auch eine Rolle, dass die Identifikation mit einem Paradigma oft mehr aufgrund von politischen Überzeugungen als aus wissenschaftlichen Erwägungen erfolgt. Heute haben wir es mit nur zwei substanziellen politischen Ökonomien zu tun: mit der explizit politischen Ökonomie der marxisti29 Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.
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schen Tradition und mit der verkappt politischen Ökonomie der Mainstream-Tradition. Erstere reklamiert das Etikett politische Ökonomie, Letztere ist ebenfalls politisch, verbirgt das aber unter dem Deckmantel von Pseudo-Objektivität und Mathematik. Sie entfaltet einen Rahmen, der implizit die Marktwirtschaft als die einzige Form der Ökonomie akzeptiert und bestätigt, und liefert die technischen Grundlagen für die neoliberale politische Agenda.30 Beide politische Ökonomien müssen abgelehnt werden. Wie ich später darlegen werde, sind beide wissenschaftlich fehlerhaft, und beide sind mit politischen Projekten verknüpft, die nicht zu dem passen, was die Menschheit wirklich braucht. In diesem Buch wird argumentiert, dass wir eine neue politische Ökonomie brauchen: eine politische Ökonomie der Praktiken. Wie alle intellektuellen Entwicklungen baut auch sie auf früheren Ideen auf und geht über sie hinaus. Bourdieu hat beispielsweise eine »allgemeine Wissenschaft von der Ökonomie der Praxis« gefordert, »die den Warentausch lediglich als speziellen Fall unter mehreren möglichen Formen von sozialem Austausch behandelt«.31 Das vorliegende Buch stützt sich nicht nur auf frühere Arbeiten, sondern wird auch durch aktuelle politische Bewegungen beeinflusst. Damit trägt es zu einer Tradition bei, die sich wohl gerade herausbildet, indem es eine andere Art der politischen Ökonomie anbietet, eine, die unserer vielgestaltigen Wirtschaft und den damit verbundenen Herausforderungen angemessener ist. Aus ethischer Perspektive wird hier für eine politische Ökonomie plädiert, die auch eine moralische Ökonomie ist, wie Andrew Sayer es genannt hat: eine politische Ökonomie, die eine wertende Haltung gegenüber »wirtschaftlichen Systemen, Handlungen und Motiven im Hinblick auf ihre Wirkungen auf das Leben der Menschen« einnimmt.32 Solche Urteile setzen immer Werte oder ethische Maßstäbe
30 Der Neoliberalismus orientiert sich aber auch an der Hayek’schen Lehre, die das
Marktparadigma teilt, aber in manchen Punkten von der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft abweicht. 31 Bourdieu, Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, S. 51. 32 Sayer, Moral Economy and Political Economy, S. 80f.
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als Orientierung voraus, und bekanntermaßen ist es schwierig, Werte objektiv zu begründen. An anderer Stelle33 habe ich mich vorsichtig durch dieses Minenfeld gewagt, um Habermas’ Behauptung zu unterstützen, dass wir durch einen Prozess, den er als Diskursethik bezeichnet, zu guten Begründungen für ethische Maßstäbe kommen können. Im Verlauf dieses Prozesses einigen sich Menschen in Diskussionen, die im Geist von Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit geführt werden, provisorisch auf ethische Prinzipien. Dabei sind alle Betroffenen angemessen vertreten, unterschiedliche Macht darf das Ergebnis nicht beeinflussen.34 Auf der Basis globaler Debattenprozesse, die diesem Modell nahe kommen, können wir mit guten Grund zumindest sagen, dass wir allen Menschen Wert zubilligen und die Systeme und Handlungen unterstützen sollten, die darauf hinwirken, ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen und sie in die Lage zu versetzen, menschenwürdig zu leben; alle Systeme und Handlungen, die das nicht tun, sollten wir bekämpfen (siehe Kapitel 3).35 Auch höhere ethische Maßstäbe können wir vielleicht mit diesem Diskursprinzip rechtfertigen: zum Beispiel, dass wir nicht nur die Grundbedürfnisse aller Menschen befriedigen, sondern ihnen auch ermöglichen sollen, ihr gesamtes Potenzial zu verwirklichen, mit anderen Worten, sich zu entfalten. Aber unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem versagt eklatant schon bei der geringeren Forderung, wenigstens die menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen, und es liegt in der Verantwortung der politischen Ökonomie, nachzuforschen, warum das so ist und wie man es ändern könnte. Die üblichen Darstellungen sowohl der Mainstream-Ökonomie wie der marxistischen politischen Ökonomie räumen lediglich ein, dass wir allen Menschen Wert zubilligen sollen, denn beide berufen sich in ihren Rechtfertigungsdiskursen auf die eine oder andere Variante dieses Satzes. Die Mainstream-Ökonom_innen und Anhänger_innen des Kapitalismus argumentieren routinemäßig, das Marktsystem nütze allen und das sei die adäquate Begründung für den 33 Elder-Vass, Realist Critique Without Ethical Naturalism or Moral Realism. 34 Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 61. 35 Zu den Befähigungen siehe insbesondere Nussbaum, Women and Human
Development. Die vollständige Liste der Befähigungen findet sich ebenda S. 78ff.
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Kapitalismus. Marxist_innen argumentieren routinemäßig, ihr Ziel sei eine kommunistische Gesellschaft, in der die Bedürfnisse aller Menschen erfüllt würden, und das rechtfertige auf dem Weg dorthin alle Arten instrumenteller Entscheidungen. Doch beide verwenden den Standard als so etwas wie ein Legitimationsmittel, um eine theoretische und politische Position zu rechtfertigen, und dann wird es beiseitegeschoben und nie wieder hervorgeholt. Das ist nicht die Perspektive der moralischen Ökonomie: Für eine moralische politische Ökonomie ist der Grundsatz, dass wir allen Menschen Wert zubilligen und uns um ihre Grundbedürfnisse und Befähigungen kümmern sollen, ein Kriterium bei der Bewertung bestimmter Handlungsweisen, Systeme und politischer Entscheidungen. Aber eine ethische Perspektive allein reicht nicht aus: Wenn wir zum Beispiel Wirtschaftsformen danach bewerten sollen, wie sie sich darauf auswirken, dass Menschen ihr Potenzial entfalten können, müssen wir in der Lage sein zu analysieren, welche Ergebnisse sie in der Regel hervorbringen und auf welche Weise. Eine politische Ökonomie muss darum immer auch eine wissenschaftliche Ökonomie sein: Sie muss die reale gesellschaftliche Welt, wie sie tatsächlich funktioniert, analysieren und darf nicht empirische Fakten durch hochgradig abstrakte Modelle ersetzen. Ihre wissenschaftlichen Folgerungen dürfen auch nicht einem philosophischen Dogma untergeordnet werden, wie der Arbeitswerttheorie oder der teleologischen Konzeption von Geschichte als einer Abfolge von Stadien, die in ein nur vage skizziertes Nirwana münden. Wie ich unter Berufung auf die philosophische Tradition des kritischen Realismus36 in meinen früheren Büchern geschrieben habe, erfordert eine angemessene wissenschaftliche Annäherung an die soziale Welt, dass wir auf soziale Ereignisse eine Betrachtungsweise anwenden, die in manchen wichtigen Hinsichten der Betrachtungsweise von natürlichen Ereignissen ähnlich ist: Sie werden durch zusammenwirkende kausale Kräfte vieler verschiedener Entitäten her36 Wichtige Beiträge zur Sozialontologie des kritischen Realismus sind Archer, Rea-
list Social Theory; Bhaskar, A Realist Theory of Science; ders., The Possibility of Naturalism; Lawson, Economics and Reality; Sayer, Method in Social Science.
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vorgebracht, zu denen materielle Objekte zählen, einzelne Menschen und soziale Entitäten (oft spricht man dann von sozialen Strukturen).37 Jedes einzelne Ereignis ist mehrfach determiniert durch viele unterschiedliche Kräfte, in Abhängigkeit vom speziellen Kontext, und die Erklärung solcher Ereignisse hängt davon ab, dass 1. die gesamte Bandbreite der beteiligten kausalen Kräfte erkannt wird und 2. geklärt wird, wie jede einzelne kausale Kraft wirkt. Die Mainstream-Ökonomie ignoriert bis auf eine Handvoll alle Faktoren, die ökonomische Ereignisse beeinflussen; das erleichtert die Aufgabe, aber bedauerlicherweise fallen dabei Elemente unter den Tisch, die für das Verständnis der Wirtschaft entscheidend wichtig sind. Das gilt ganz besonders für die gesellschaftlichen Kräfte hinter dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage: Die Wirtschaft hängt beispielsweise von der Kultur ab, von gesellschaftlichen Netzwerken und Beziehungen und von der gesellschaftlichen Konstruktion von Phänomenen wie Geld und Eigentum.38 Eine wirklich adäquate Darstellung der Wirtschaft wird manchmal diese Kräfte und noch andere mit berücksichtigen müssen, und das ist nur möglich in einer politischen Ökonomie, die die Wirtschaft als Ort begreift, an dem viele interagierende Entitäten und Mechanismen aufeinandertreffen. Die Ontologie des kritischen Realismus liefert damit einen kohärenten Rahmen für die wissenschaftlichen Aufgaben der politischen Ökonomie, aber das löst die grundlegenden wissenschaftlichen Fragen noch nicht: Jede kausale Kraft und jedes Ereignis verlangt die Ermittlung empirischer Befunde und die theoretische Analyse der beteiligten Mechanismen, bevor eine Erklärung möglich ist. Nicht nur eine Erklärung zu geben, sondern eine gesamte politische Ökonomie auszuarbeiten, ist deshalb eine gewaltige Aufgabe. Eine politische Ökonomie von Grund auf zu entwickeln wäre eine unvorstellbar einschüchternde Aufgabe. Glücklicherweise existiert bereits viel Material, das wir weiterverwenden und auf dem wir aufbauen können. Zum einen gab es immer schon Denker_innen, die außerhalb des Mainstreams und außerhalb der marxistischen Tradition standen: heterodoxe Öko37 Elder-Vass, The Causal Power of Social Structures. 38 Ders., The Reality of Social Construction.
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nom_innen aller möglichen Richtungen, Sozialtheoretiker_innen, Wirtschaftssoziolog_innen und Wirtschaftsanthropolog_innen beispielsweise. Sie alle haben wichtiges Material gesammelt, das bereits viele in den verschiedenen Sektoren der Wirtschaft wirksame Mechanismen erhellt. Und zum anderen lässt sich auch ein Teil der in den beiden zentralen Denktraditionen geleisteten Arbeit aus dem Kontext lösen und für eine realistischere Analyse der Phänomene, um die es geht, verwenden. Wir können gleichzeitig aus den Traditionen schöpfen und ihre Kernaussagen ablehnen. Diese politische Ökonomie der Praktiken ist darum in mehrfacher Hinsicht auch eine pluralistische politische Ökonomie. In wissenschaftlicher Hinsicht erkennt sie eine Vielfalt von Wirtschaftsformen an, die auf unterschiedliche Weise analysiert werden müssen; sie akzeptiert Beiträge aus vielen Richtungen des sozio-ökonomischen Denkens, und sie geht davon aus, dass Methodenpluralismus zur Erforschung und Analyse ökonomischer Phänomene erforderlich ist. In normativer Hinsicht befürwortet sie den Fortbestand vielfältiger Wirtschaftsformen und die Entwicklung unterschiedlicher neuer. Und in politischer Hinsicht erkennt sie an, dass es für die vielfältige Wirtschaft keinen Endpunkt gibt, sondern dass sich die Mischung der Praktiken kontinuierlich verändert, was bedeutet, dass wir auf Dauer politischen Pluralismus brauchen: eine lebendige Diskussionskultur darüber, welche Alternativen in der Mischung in den Vordergrund und welche in den Hintergrund treten sollten. Dieses Buch ist insofern ein Schritt in Richtung einer neuen politischen Ökonomie, einer ethischen, realistischen und pluralistischen politischen Ökonomie, einer politischen Ökonomie von Praktiken, die uns die Instrumente geben kann, um die vielgestaltige Wirtschaft um uns herum zu verstehen und zu bewerten, ja sie überhaupt erst richtig zu erkennen.
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Vielfältige Ökonomien
Einführung Die meisten von uns wurden überzeugt – ohne die Überzeugungsarbeit überhaupt zu bemerken –, dass wir in einer überwältigend kapitalistischen Marktwirtschaft leben, in der allein der staatliche Sektor teilweise dem Zugriff des Marktes entzogen ist. Tatsächlich wurde der Begriff Ökonomie so definiert, dass man kaum zu einem anderen Schluss kommen kann. Für die Mainstream-Ökonomie ist »die Wirtschaft« gleichbedeutend mit der Warenwirtschaft – sie besteht aus Produktion und Tausch von Waren und Dienstleistungen gegen Geldzahlung –, und für die Mainstream-Ökonomie wie für (den überwiegenden Teil der) marxistischen Ökonomie ist die Warenwirtschaft mehr oder weniger deckungsgleich mit der kapitalistischen Wirtschaft, in der gewinnorientierte Unternehmen mittels Lohnarbeit produzieren. Dieses Verständnis von Wirtschaft ist eine politische Falle: Wenn wir nicht die Sichtweise infrage stellen, dass die Wirtschaft definitionsgemäß eine Warenwirtschaft ist, können wir uns wirtschaftliche Alternativen zum Markt und zum Kapitalismus nicht vorstellen. Dieses Kapitel beginnt mit der Frage, wie es möglich ist, dass die Rede von der Marktwirtschaft unser Bewusstsein so vollständig durchdringen konnte; aber vor allem wollen wir untersuchen, wie wir über diese Rede hinausgelangen können. Dazu müssen wir unsere Vorstellung von Wirtschaft öffnen, und ich befürworte eine alternative Definition, die auf Versorgung abhebt: grob gesagt geht es um Aktivitäten, die die Waren und Dienstleistungen bereitstellen, die Menschen brauchen. Das ist nicht so einfach und eindeutig, wie es scheinen mag: Wie wir sehen werden, ist es im Kern eine politische Definition, genau wie die Definition, gegen die ich mich wende. Sie er-
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laubt uns jedoch zu erkennen, dass sehr viel Versorgung außerhalb der Warenwirtschaft stattfindet, in vielen unterschiedlichen Formen; in dem Kapitel werden einige Beispiele vorkommen, die Bedeutung und Bandbreite der Formen illustrieren. Anders gesagt: Wenn wir die Natur der Wirtschaft neu gefasst haben, wird deutlich, dass sehr viel wirtschaftliche Aktivität jenseits des Marktes stattfindet, und die Aufgabe, unsere Volkswirtschaften zu verändern, erscheint sehr viel eher lösbar. Wir müssen unsere Volkswirtschaften nicht von Grund auf neu erfinden, sondern können auf den Alternativen aufbauen, die wir direkt vor uns haben. Das ist immer noch eine gewaltige Herausforderung, aber es ist keine unmögliche Aufgabe mehr, und das Kapitel endet mit der Diskussion von Strategien, wie sich die Balance in unseren vielfältigen Volkswirtschaften verschieben lässt.
Die Rede von der Marktwirtschaft Wie Gibson-Graham sagen, hat sich eine bestimmte Vorstellung von Wirtschaft im allgemeinen Diskurs eingebürgert: Wir hören stets – und in der Folge akzeptieren wir es –, »die Wirtschaft« sei »eine Kraft, die der endgültige Schiedsrichter über das Mögliche« in Politik und Gesellschaft sei, und »Lohnarbeit, Warenmärkte und kapitalistische Unternehmen [seien] die einzigen ›normalen‹ Formen von Arbeit, Austausch und Unternehmensorganisation«.1 Der ökonomische Diskurs sei, so ihre Formulierung, hauptsächlich »kapitalzentriert«:2 Trotz formaler Definitionen der Wirtschaft, die scheinbar einen breiteren Fokus implizieren,3 werden nichtkapitalistische Praktiken entweder ignoriert, oder es wird angenommen, dass sie den Kapitalismus nur ergänzen, und alles, was außerhalb der Reichweite kapitalistischer Prak-
1 Gibson-Graham, A Postcapitalist Politics, S. 53. 2 Dies., The End of Capitalism, S. 6. 3 Wie etwa Lionel Robbins’ bekannte Definition der Wirtschaftslehre als Unter-
suchung, wie wir knappe Ressourcen auf unterschiedliche Verwendungen verteilen (Robbins, An Essay on the Nature and Significance of Economic Science, S. 16).
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tiken liegt, wird als nicht zur Wirtschaft gehörig behandelt. So präsentieren solche Diskurse beispielsweise »den Haushalt als den Bereich des ›Konsums‹ (kapitalistischer Waren) und der ›Reproduktion‹ (der kapitalistischen Arbeitskraft) und nicht als Raum der nichtkapitalistischen Produktion und des nichtkapitalistischen Konsums«4. Diese Diskurse produzieren ein »vertrautes Verständnis des Kapitalismus als natürlicherweise dominierende Form der Wirtschaft oder als ein ganzes wirtschaftliches System, das gleichbedeutend ist mit dem gesellschaftlichen Bereich«.5 Ich argumentiere, dass die Wirtschaft in mindestens zweierlei Hinsicht naturalisiert wurde. Erstens insofern, als von uns erwartet wird, wir würden eine bestimmte Wirtschaftsform für natürlich und unvermeidlich halten – eine Marktform oder eine kapitalistische Form oder beides. Und zweitens insofern, als die so definierte Wirtschaft als ein objektives System nach eigenem Recht dargestellt wird, eine Kraft mit eigener Logik und eigenen Tendenzen, die mehr oder weniger unabhängig von unseren Überzeugungen und Handlungen existiert und der wir uns nur anpassen können. Doch die Vorstellung, dass es »die Wirtschaft« gibt, ist noch bemerkenswert jung. Timothy Mitchell zufolge kam dieser Begriff erst in den 1930er Jahren auf, »und erst in der Mitte des Jahrhunderts wurde der Begriff so gebraucht, wie er heute verstanden wird«.6 Zwar spielten viele Stimmen bei der Verbreitung des Begriffs eine Rolle, aber Mitchell hebt ganz besonders den Beitrag von Keynes hervor: »Keynes’ Durchbruch bestand darin, die neue Totalität nicht als eine Aggregation von Märkten für unterschiedliche Waren zu begreifen, sondern als Geldkreislauf. Die Wirtschaft war die Summe all der Momente, in denen Geld die Hände wechselte.«7 Diese Vorstellung von Wirtschaft ist fest mit dem Kauf und Verkauf von Waren verbunden, und diese Verbindung wurde (genau wie die territoriale Abgrenzung der Volkswirtschaft durch die Grenzen des Nationalstaats) durch die Entwicklung der volkswirtschaftlichen Ge4 5 6 7
Gibson-Graham, The End of Capitalism, S. 8. Ebenda, S. ix. Mitchell, Economists and the Economy, S. 126. Ebenda, S. 135.
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samtrechnung verstärkt, die das Volumen der Warentransaktionen innerhalb bestimmter nationaler Grenzen misst.8 Wir dürfen die diskursive Macht der Wissenschaftler_innen jedoch nicht überschätzen. Sie sind zwar oft (wenn auch nicht immer) die Quelle von Innovationen, aber viele Innovationen gehen unter, und breitere gesellschaftliche Kräfte leisten einen substanziellen Beitrag dazu, welche diskursiven Gewohnheiten sich durchsetzen. Neue Diskurse brauchen oft breite Unterstützung, damit sie die Oberhand gewinnen.9 So wurde beispielsweise die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung von Wissenschaftlern erfunden, aber durchsetzen konnte sie sich, weil sie perfekt zu Forderungen von Unternehmen passte, die Politik der Regierung solle darauf ausgerichtet sein, den Umfang der Warenwirtschaft zu steigern. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung stellt einen Maßstab zur Verfügung, um die Leistung der Regierung zu messen, die sich idealerweise an den Bedürfnissen der Wirtschaft orientiert, und sie ist ein geeigneter Fokus für den Mediendiskurs, der Regierungen drängt, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Es ist kein Zufall, dass der vorherrschende Diskurs über Wirtschaft den Interessen der kapitalistischen Unternehmen so gut dient, und es ist auch nicht nur das Ergebnis der Beiträge einer unternehmensfreundlichen Ökonomie, sondern eher eine Folge dessen, dass die Unternehmen das vorherrschende Diskursregime bestimmen können. Wir verstehen nicht nur die Wirtschaft mit der Begrifflichkeit des Marktes, sondern auch viele damit zusammenhängende Konzepte. Nehmen wir Produktion und Konsum. Wir könnten zum Beispiel versuchen, uns dem marktwirtschaftlichen Diskurs zu widersetzen, indem wir sagen, Wirtschaft solle so definiert werden, dass alle produktiven Aktivitäten eingeschlossen sind, unabhängig davon, ob das Produzierte eine Ware ist oder nicht. Tatsächlich wird die Wirtschaft manchmal wirklich so definiert. Geoffrey Ingham beispielsweise schlägt vor, dass generell »der Begriff Wirtschaft für gesellschaftliche Organisationen und Institutionen verwendet wird, die mit der 8 Ebenda, S. 136. 9 Elder-Vass, The Causal Power of Discourse; ders., The Reality of Social Con-
struction, Kapitel 8.
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Produktion und Distribution von Waren und Dienstleistungen in der Gesellschaft zu tun haben«.10 Demgegenüber sage ich, die scheinbar grundlegende und natürliche Unterscheidung von Produktion und Konsum sei ein Ergebnis des Denkens in Warenkategorien. Im vorherrschenden Diskurs gehören zur Produktion die Aktivitäten, die Waren hervorbringen – Güter und Dienstleistungen, die auf dem Markt verkauft werden –, und Konsum umfasst den Kauf und die Verwendung von Waren. Außerhalb des Rahmens der Marktwirtschaft funktioniert die Unterscheidung zwischen Produktion und Konsum jedoch nicht mehr. So gilt in der Marktwirtschaft das Kochen von Lebensmitteln als Produktion, wenn es in einem Restaurant stattfindet und dadurch eine Ware geschaffen wird, hingegen als Konsum (der als Waren eingekauften Zutaten), wenn es im Haushalt erfolgt und dabei eine gemeinsame Mahlzeit entsteht.11 Haare waschen zählt zur Produktion, wenn es in einem Friseursalon gegen Geld getan wird, und als Konsum (von Shampoo), wenn jemand seine Haare selbst wäscht. Wo ist in Fällen wie diesen ohne den Markt der Unterschied zwischen Produktion und Konsum? Wie Miriam Glucksmann sagt, stellt dies »die Auffassung von ›Produktion‹ und ›Konsum‹ als säuberlich getrennte Bereiche infrage«.12 Zumindest ein marxistischer Versuch der Unterscheidung folgt präzise dem Marktmodell: Für Humphreys und Grayson gehören zur Produktion all die Aktivitäten, die Tauschwert schaffen, und zum Konsum die Aktivitäten, die (nur) Nutzwert schaffen.13 Marx selbst formuliert präziser: »Die Arbeit verbraucht ihre stofflichen Elemente, ihren Gegenstand und ihr Mittel, verspeist dieselben und ist also Konsumtionsprozeß. Diese produktive Konsumtion unterscheidet sich dadurch von der individuellen Konsumtion, daß letztere die Produkte als Lebensmittel des lebendigen Individuums, erstere sie als Lebensmittel der Arbeit, seiner sich betätigenden Arbeitskraft, verzehrt. Das Produkt der individuellen Konsumtion ist daher der 10 11 12 13
Ingham, Economy, S. 157. Glucksmann, Bake or Buy. Dies., Working to Consume, S. 5. Humphreys / Grayson, The Intersecting Roles of Consumer and Producer.
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Konsument selbst, das Resultat der produktiven Konsumtion ein vom Konsumenten unterschiednes Produkt.«14 Marx verwendet hier das Wort konsumieren in einem älteren Sinn: »zerstören, aufbrauchen, verschwenden, erschöpfen«15 und nicht im Sinn von »kaufen«. Das ermöglicht es ihm, zwischen produktivem Konsum – der grob dem entspricht, was heute einfach Produktion heißt – und individuellem Konsum – oder einfach Konsum – zu unterscheiden, entsprechend der jeweils unterschiedlichen Beziehung zwischen dem Ergebnis der Produktion und dem oder der Ausübenden der Aktivität. Bei dem Wort »Konsument« im letzten Satz müssen wir aufpassen – hier meint Marx den Handelnden, der produktiven Konsum betreibt, oder mit anderen Worten den Arbeiter oder Produzenten. Wenn die Produktion die Form einer Dienstleistung annimmt, kann sie eine Veränderung beim Konsumenten im geläufigen Sinn des Wortes bewirken, eine Veränderung beim Nutznießer oder der Nutznießerin der Dienstleistung, aber das meint Marx nicht. Wenn wir versuchen, das Argument in leichter zugängliche Begriffe zu übersetzen, könnten wir sagen, der Unterschied zwischen Produktion und Konsum bestehe darin, dass die Produktion ein Produkt schafft, das dem oder der Ausführenden der Aktivität äußerlich ist, während der Konsum den Ausführenden oder die Ausführende verändert. Das spricht dafür, dass eine prinzipielle Trennlinie zwischen den beiden besteht, unabhängig vom Markt, der den Rahmen abgibt. Aber das ist ein anderer Begriff von Produktion als der, den wir heute verwenden: Der übliche Begriff von Produktion ist genauso vollständig ein Produkt des vorherrschenden Diskurses wie der geläufige Begriff von Wirtschaft. Während Wirtschaftswissenschaftler_innen des Mainstreams und viele andere prokapitalistische Kräfte einen wichtigen Beitrag zu diesem Diskurs geleistet haben, ist Gibson-Graham zufolge ein weiterer Grund, warum diese Vorstellung von Wirtschaft dominiert, dass es praktisch keinen Widerstand gegen die Auffassung gibt, die Wirtschaft sei im Wesentlichen eine kapitalistische Marktwirtschaft: Von einigen lobenswerten Ausnahmen wie Gibson-Graham selbst abge14 Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 198. 15 Williams, Keywords, S. 68f.
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sehen, geht die marxistische genauso häufig wie die neoklassische Ökonomie davon aus, dass die heutige Wirtschaft ganz von der kapitalistischen Warenproduktion durchdrungen ist. Andere Formen der Wirtschaft werden als Relikte einer früheren Ära abgetan, die inzwischen angeblich nur noch eine marginale Rolle spielen. David Harvey sagt beispielsweise, dass für die Menschen, die »unter kapitalistischen Verhältnissen leben«, der Strom des Kapitals dafür sorgt, »dass wir unser tägliches Brot erhalten […] und all die anderen Dinge, die wir für unser tägliches Leben brauchen«.16 Die Mainstream- wie die marxistische Ökonomie sieht die heutige Wirtschaft regelmäßig als eine im Wesentlichen kapitalistische (vielleicht mit einigen unbedeutenden nichtkapitalistischen Relikten), die gleichsam auf einem nichtwirtschaftlichen Meer sozialer Praktiken schwimmt, die man weitgehend ignorieren kann, wenn man über die Wirtschaft nachdenkt. Während das marxistische Verständnis des Kapitalismus entwickelt wurde, um politisches Handeln zu befördern, sagen Gibson-Graham, dass es mittlerweile zu einem Hindernis geworden sei, »das zur Krise der linken Politik beiträgt«:17 »Die Verwirrung auf der Linken wird zum Teil durch die Vorstellung verursacht, wogegen die Linke sich wendet. Wenn man den Kapitalismus als ein einheitliches System darstellt, das deckungsgleich mit dem Land oder sogar mit der Welt ist, wenn er so präsentiert wird, als verdränge er alle anderen Wirtschaftsformen, wenn man zulässt, dass er ganze Gesellschaften definiert, dann wird er zu etwas, das nur von einer kollektiven Massenbewegung überwunden und abgelöst werden kann (oder durch einen Prozess der Systemauflösung, den eine solche Bewegung unterstützen könnte).«18 Da solche Bewegungen fehlen und Auflösungserscheinungen des Systems im gegenwärtigen historischen Kontext unwahrscheinlich sind, wirkt diese Sicht »als Bremse für die antikapitalistische Fantasie«:19 Sie 16 17 18 19
Harvey, Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, S. 7. Gibson-Graham, The End of Capitalism, S. 1. Ebenda, S. 263. Ebenda, S. 3.
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verschleiert vor allem die Möglichkeit, dass innerhalb der vermeintlich rein kapitalistischen Wirtschaft, die wir haben, antikapitalistische Alternativen entwickelt werden könnten. Tatsächlich ist das nicht nur ein kognitives Hindernis, sondern auch ein emotionales: Wenn es fruchtlos ist, sich kleine Alternativen vorzustellen, dann besteht wenig Grund zu hoffen, dass etwas mehr möglich sein könnte als sozialdemokratische Flickschusterei an einer durch und durch kapitalistischen Wirtschaft. Gibson-Graham selbst tendieren dazu, die Alternative linguistisch anzugehen: Sie wollen »eine Sprache für die vielfältige Wirtschaft«20 entwickeln, um »die scheinbar natürliche Dominanz der kapitalistischen Ökonomie zu widerlegen und zu unterlaufen und Raum für neue wirtschaftliche Erscheinungen zu schaffen«.21 Sie überschätzen die Möglichkeiten der Sprache und unterschätzen den Einfluss der systemischen Kräfte des Kapitalismus auf unsere Optionen, aber der Kern ihrer Argumentation ist richtig und wichtig. Es gibt eine mächtige Tendenz auf der Linken wie auf der Rechten, die heutige Wirtschaft als durch und durch kapitalistisch zu verstehen. Das verbirgt tatsächlich, dass eine große Bandbreite nichtkapitalistischer wirtschaftlicher Praktiken in der gegenwärtigen Wirtschaft existiert, und es hält uns wirklich davon ab, die Entwicklung solcher Praktiken als einen wesentlichen Punkt antikapitalistischer Politik zu betrachten. Aber wenn wir uns diesem Diskurs verweigern, erkennen wir langsam, dass die Situation gar nicht so verzweifelt ist: Wir sind bereits von vielen funktionierenden und in manchen Fällen sogar florierenden nichtkapitalistischen wirtschaftlichen Praktiken umgeben, und entsprechende Alternativen zu entwickeln ist ein wichtiger Teil einer überzeugenden antikapitalistischen Strategie.
20 Gibson-Graham, A Postcapitalist Politics, S. 60. 21 Dies., The End of Capitalism, S. xii.
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Was ist »die Wirtschaft« wirklich? In den wenigen letzten Sätzen habe ich ein anderes Verständnis von Wirtschaft als das auf Waren ausgerichtete verwendet. Bei der Rede von nichtmarktwirtschaftlichen ökonomischen Alternativen wird die Wirtschaft bereits als etwas behandelt, das nicht durch Waren definiert ist. Aber was ist die Wirtschaft dann, wenn wir die Definition über Waren ablehnen? Forscher_innen aus allen möglichen heterodoxen Traditionen haben argumentiert, wir sollten die Wirtschaft nicht mit den Begriffen des Marktes fassen, sondern mit den Begriffen der Versorgung oder gesellschaftlichen Versorgung. In den institutionalisierten Wirtschaftswissenschaften haben zum Beispiel etliche Autor_innen Gruchys Argument unterstützt, die Wirtschaftswissenschaften sollten »die Wissenschaft der gesellschaftlichen Versorgung« sein.22 Etliche Feminist_innen haben sich ebenfalls für ein auf die Versorgung ausgerichtetes Verständnis von Wirtschaft ausgesprochen.23 Mit kritischem Realismus hat Andrew Sayer argumentiert: »Statt ›Markt‹ als Metonym für die Wirtschaft oder als Euphemismus für den Kapitalismus zu verwenden, was immer dazu führt, dass wirtschaftliche Aktivitäten, die nichts mit Marktaustausch zu tun haben, an den Rand gedrängt werden und zu kurz kommen, verwende ich [den Begriff] Wirtschaft für alle Formen der Versorgung, auch solche außerhalb der Geldwirtschaft.«24 Das Konzept der Versorgung passt gut zu Karl Polanyis wichtigem Konzept der substantivistischen Wirtschaft. Polanyi schreibt, unser Verständnis von Wirtschaft setze sich aus zwei unterschiedlichen Elementen zusammen, der substantivistischen und der formalistischen Auffassung.
22 Boulding, The Economy of Love and Fear; Dugger, Redefining Economics, S. 31;
Garnett, Philanthropy, Economy, and Human Betterment; Gruchy, The Reconstruction of Economics, S. 4–7, S. 21. 23 Zum Beispiel Nelson, The Study of Choice or the Study of Provisioning?; Power, Social Provisioning as a Starting Point for Feminist Economics. 24 Sayer, Moral Economy, S. 2.
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»Die substantivistische Bedeutung von Wirtschaft rührt daher, dass der Mensch für sein Überleben auf die Natur und seine Mitmenschen angewiesen ist. Es bezieht sich auf den Austausch mit seiner natürlichen und sozialen Umgebung, insofern dieser ihn mit den Mitteln zur Erfüllung seiner materiellen Wünsche versorgt.«25 Die formalistische Bedeutung hingegen ist mit der Annahme der Mainstream-Ökonomie verknüpft, dass es in der Wirtschaft um die Allokation knapper Ressourcen geht, die durch ein Marktsystem erfolgt. Sie ist von den formalistischen Modellen der Ökonom_innen für ein solches System abgeleitet und nicht von der empirischen Frage, wie unsere Bedürfnisse erfüllt werden können; manche der dazu erforderlichen Ressourcen sind womöglich gar nicht knapp. Das formalistische Konzept ist im Wesentlichen identisch mit dem Konzept der Wirtschaft, das ich hier kritisiere und das auch Polanyi ablehnt. Er kommt zu dem Schluss, »nur die substantivistische Bedeutung von ›Wirtschaft‹ kann die Konzepte liefern, die die Sozialwissenschaften für die Erforschung aller empirischen Wirtschaftsformen der Vergangenheit und Gegenwart brauchen«.26 Grob gesagt können wir Versorgung oder die substantivistische Wirtschaft als die Aktivitäten definieren, die uns verschaffen, was wir brauchen, um die Bedürfnisse zu befriedigen, die wir als Menschen haben.27 Statt auf »Nachfrage« blicken wir auf »Bedürfnis« und verschieben damit nicht nur die Bandbreite der Aktivitäten, die zur Wirtschaft zählen, sondern in der Folge auch unsere Auffassung von Wirtschaft, sodass sie die Aktivitäten einschließt, die nötig sind, um die Bedürfnisse einkommensschwacher Menschen sowie unseren kollektiven Bedarf an öffentlichen Gütern genauso zu befriedigen wie die Bedürfnisse, die eine Marktökonomie erfüllt, weil sie durch Geld abgedeckt sind. Man kann sagen, dass das eine funktionale Definition von Wirtschaft ist: Wirtschaft definiert als die Aktivitäten, die bestimmte Bedürfnisse erfüllen. Der Anbau von Karotten würde demnach als Ver25 Polanyi, The Economy as Instituted Process, S. 31. 26 Ebenda, S. 32. 27 Nelson, The Study of Choice or the Study of Provisioning?, S. 32ff.
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sorgung zählen und damit als wirtschaftliche Aktivität, egal, ob ich die Karotten in meinem Garten für den Konsum meiner Familie kultiviere oder ob ein Bauer sie für den Verkauf im Supermarkt angebaut hat, wo sie dann an mich verkauft wurden.28 Das ist zweifellos eine Verbesserung: Die Wirtschaft wird nicht länger durch den Markt definiert, und damit entsteht Raum für alternative, nichtmarktwirtschaftliche Wirtschaftsformen.29 Später werde ich darlegen, dass Versorgung tatsächlich eine geeignete Grundlage für eine Neudefinition von Wirtschaft ist, aber erst müssen wir anerkennen, dass sie ganz und gar keine definitive Antwort auf die Frage ist, und dann müssen wir verstehen, warum sie trotz mancher Fehler dennoch angemessen ist. Die Schwierigkeit bei dem substantivistischen/auf Versorgung ausgerichteten Ansatz zur Definition von Wirtschaft besteht darin, dass dabei zwar einige wichtige Dinge eingeschlossen sind, die bei der marktwirtschaftlichen Sicht ausgeschlossen bleiben, dass er uns aber keine überzeugenden Gründe liefert, warum Dinge ausgeschlossen werden und nicht als Wirtschaft zählen. Die marktwirtschaftliche Sicht nennt wenigstens ein klares Kriterium, was zur Wirtschaft zählt und was nicht. (Allerdings wird dieses Kriterium nur selten strikt angewendet: Wenige Forscher_innen bestreiten beispielsweise, dass der staatliche Sektor ein Teil der Wirtschaft ist, obwohl sie implizit das Marktkriterium nutzen, um andere wirtschaftliche Aktivitäten auszuschließen.) Was passiert, wenn wir das Marktkriterium entfernen? Welche Grenze können wir anstelle der Warenbeziehung ziehen, die verhindert, dass der Strom der Bezüge auf das Konzept der Wirtschaft über die Ufer tritt und das gesamte Feld menschlichen Handelns überschwemmt? Wie aus meinen vorherigen Ausführungen klar geworden sein sollte, können wir nicht einfach zwischen Produktion und Konsum unterscheiden. Viel von dem, was nach dem Marktmodell als Konsum gilt, ist Arbeit, die wir verrichten, um ein Bedürfnis zu befriedigen, und deshalb nach dem Versorgungsmodell nicht von Produktion zu unterscheiden. 28 Vgl. Sayer, Warum wir uns die Reichen nicht leisten können, S. 32. 29 Nelson, The Study of Choice or the Study of Provisioning?, S. 33.
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Auch das Konzept »Bedürfnis« bringt uns nicht viel weiter. Julie Nelson beispielsweise plädiert für eine Ökonomie, die »auf die Versorgung für das Leben« ausgerichtet sei, »das heißt auf die Waren und Prozesse, die für das Überleben nötig sind«.30 Das erscheint als ein ziemlich restriktives Verständnis von Bedürfnissen – sicher haben wir noch andere Bedürfnisse als das schiere Überleben? Aber wenn wir akzeptieren, dass wir noch andere Bedürfnisse haben, wird es schwierig, eine Trennlinie zwischen Bedürfnissen und bloßen Begierden zu ziehen. In einer stärker ethisch orientierten Wirtschaft könnten wir vielleicht wünschen, die Produktion extravaganter Luxusgüter zu reduzieren, die überwiegend zur Statusdemonstration gekauft werden, mit der Begründung, dass sie keine echten Bedürfnisse abdecken. Aber wie entscheiden wir, was echte Bedürfnisse sind und was nicht? Und selbst wenn wir eine kohärente Grundlage finden sollten, um zwischen echten und falschen Bedürfnissen zu unterschieden, ist nicht klar, ob es richtig wäre, die Erzeugung unnötiger oder verschwenderischer Produkte aus unserer Definition von Wirtschaft auszuschließen. Es ist verblüffend, dass Nelson »die Bereitstellung von Annehmlichkeiten oder Luxusgütern« in den subjektiven Bereich der Wirtschaft verweist, nachdem es eine Seite zuvor noch um das menschliche Überleben ging.31 In der Kritik an unserer bestehenden Wirtschaftsordnung heißt es immer wieder, dass sie tatsächlich oft die falschen Dinge produziere, aber wir können das erst sagen, wenn wir solche Produktion primär als eine Form der wirtschaftlichen Aktivität anerkennen. Weitere Fragen tauchen auf, wenn wir bedenken, dass die Produkte der Marktwirtschaft nicht nur materielle Güter sind, sondern auch Dienstleistungen und Informationen. Polanyi unternimmt einen ziemlich konfusen Versuch, die substantivistische Wirtschaft auf die Befriedigung »materieller« Bedürfnisse zu beschränken,32 aber Dienstleistungen machen bereits einen erheblichen Teil der formalistischen Wirtschaft aus und einen wichtigen Teil der Versorgung außerhalb,
30 Ebenda, S. 32. 31 Ebenda, S. 33. 32 Polanyi, The Economy as Instituted Process, S. 34.
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insbesondere im Haushalt.33 Unvermeidlich müssen wir Dienstleistungen in unser Verständnis von Wirtschaft einbeziehen, aber mit dem Konzept der Versorgung bekommen wir kein Instrument, um Dienstleistungen von anderen menschlichen Aktivitäten abzugrenzen. Vielleicht müssen wir uns von der weiter oben zitierten Äußerung von Marx inspirieren lassen und davon ausgehen, dass Dienstleistungen anders als nichtökonomische Interaktionen Nutzen für andere Menschen als die Person bringen, die die Arbeit leistet. Allerdings ist nicht klar, wie groß der Nutzen sein muss, damit eine Aktivität als Dienstleistung zählt. Wenn ich einen Freund oder eine Freundin anlächle, wenn ich ihn oder sie sehe, kann ihnen das einen Nutzen bringen, einen Schuss gute Laune für ein paar Augenblicke vielleicht – zählt Lächeln deshalb als Dienstleistung? Wie Arlie Hochschild geschrieben hat, zählen Lächeln und ähnliche Emotionsarbeit tatsächlich im Warensektor als Dienstleistung.34 Selbst negative emotionale Arbeit – der absichtlich unfreundliche Steuereintreiber – ist ein Bestandteil der Warenwirtschaft.35 Sollten soziale Interaktionen darum nicht auch außerhalb der Warenwirtschaft den wirtschaftlichen Aktivitäten zugerechnet werden? Die Versorgung mit Informationen als kommerzielles Produkt wirft ähnliche Fragen auf: Wenn eine Zeitschrift, die uns Klatsch und Tratsch über Prominente liefert, Teil der Wirtschaft ist, warum dann nicht auch das Gespräch, in dem ich berichte, was eine gemeinsame Freundin letzte Woche gemacht hat? In unserer zunehmend wissensorientierten Wirtschaft erscheint es sehr klar, dass Informationen ein Wirtschaftsgut sind, und es erscheint sehr schwierig, zu begründen, warum bestimmte Informationen bei dieser Definition ausgeschlossen sein sollten. Wenn wir all diese Argumente akzeptieren, halten die Ufer nicht mehr stand, das nichtökonomische Feld wird überflutet, und der Begriff Wirtschaft dehnt sich so weit aus, dass er nichts Bestimmtes mehr bedeutet. Wenn wir die Frage »Was ist die Wirtschaft?« mit »Ver33 Nelson, The Study of Choice or the Study of Provisioning?, S. 32. 34 Hochschild, Der 48-Stunden-Tag. 35 Ebenda.
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sorgung« beantworten, scheint diese Antwort mit einer anderen zu verschmelzen, die darin besteht, das Konzept Wirtschaft ganz aufzugeben. Diese Position ist durchaus logisch. Wenn wir anerkennen, dass der bestehende Begriff von Wirtschaft willkürlich, politisch und konstruiert ist, dann müssen wir ohne Zweifel anerkennen, dass jede alternative Definition von Wirtschaft ebenfalls willkürlich, politisch und konstruiert sein wird, und deshalb ist es ein Irrtum zu glauben, wir könnten eine »falsche« Definition von Wirtschaft durch eine »richtige« ersetzen. Stattdessen könnten wir sagen, dass allein der Gedanke, es gebe so etwas wie die Wirtschaft, das Problem darstellt, dass die Idee der Wirtschaft dazu dient, beispielsweise die Idee zu perpetuieren, bestimmte gesellschaftliche Aktivitäten sollten einen privilegierten Status als Objekte staatlicher Politik haben, und daraus zu folgern, der beste Weg nach vorn bestehe darin, das Konzept komplett aufzugeben und als hoffnungslos mit Marktdenken verschmolzen zu verwerfen. Unter logischem Gesichtspunkt ist das eine kohärente Argumentationsweise, aber ich halte sie für einen strategischen Fehler. Die marktwirtschaftliche Auffassung der Wirtschaft funktioniert politisch als Element in einem diskursiven Gebilde, das den Eindruck vermittelt, es gebe keinen anderen Weg, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn wir eine Alternative vorschlagen wollen, müssen wir uns bei unserer Definitionsstrategie an unseren Zielen orientieren. Mein Ziel ist hier ein kritisches, angetrieben durch die Notwendigkeit, anzuerkennen, dass nichtmarktwirtschaftliche Aktivitäten oft unsere Bedürfnisse genauso gut befriedigen können wie die Aktivitäten, die nach marktorientierten Definitionen von Wirtschaft als wirtschaftlich gelten. Es scheint eher möglich, Menschen davon zu überzeugen, dass unsere vertrauten Vorstellungen von ökonomischen Bedürfnissen auf diese Weise erweitert werden müssen, als eine komplett neue, nichtökonomische Terminologie zu erfinden, die beides umfasst, den Markt und gesellschaftliche Alternativen dazu. Das ist natürlich eher ein strategisches als ein ontologisches Argument, und als solches ist es kontextabhängig – unter anderen Umständen könnten wir tatsächlich besser damit fahren, das Konzept Wirtschaft ganz aufzugeben. Es ist auch ein Argument, das anders als die üblichen Konzepte der
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versorgenden oder substantivistischen Wirtschaft einen praktischen Weg weist, einzugrenzen, welche Aktivitäten wir als wirtschaftlich bezeichnen: die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen durch Warentausch und die Bereitstellung gleichwertiger Güter und Dienstleistungen durch andere gesellschaftliche Praktiken. Das basiert immer noch auf dem Konzept der Versorgung, gibt uns aber ein Instrument an die Hand, die versorgende Wirtschaft etwas präziser zu definieren. Trotzdem ist es keine Definition einer objektiven gesellschaftlichen Kategorie mit natürlichen Grenzen – wie Nelson sagt, sind die Grenzen »dialektisch und fließend«36 –, aber ein politischer und vielleicht vorläufiger Weg, ein Studien- und Diskussionsfeld zu identifizieren. Besonders gründliche Dekonstruktivist_innen könnten vielleicht einwenden, dass wir nicht gänzlich frei von Marktdenken sein können, wenn unser Verständnis von Wirtschaft immer noch auf diese Weise mit dem Markt verknüpft ist. Dem stimme ich zu. Aber unsere Aufgabe ist es heute nicht, gänzlich frei von Marktdenken zu sein, sondern in einem Umfeld, in dem es ausgeschlossen ist, von Marktdenken gänzlich frei zu sein, den Glauben daran wiederherzustellen, dass alternative gesellschaftliche Praktiken möglich sind.
Die Realität der vielfältigen Wirtschaft Wenn wir unsere Vorstellung von Wirtschaft über die Grenzen des Marktes hinaus öffnen, erkennen wir allmählich, dass wir bereits eine Wirtschaft haben, die deutlich vielfältiger ist als der kapitalistische marktwirtschaftliche Monolith im vorherrschenden ökonomischen Diskurs. Wie Hart, Laville und Cattani gesagt haben: »Die menschliche Wirtschaft ist bereits überall. Menschen bringen sich auf ihre eigene Rechnung praktisch in das Wirtschaftsleben ein. Was sie tun, wird oft durch die dominierenden wirtschaftlichen Institutionen und Ideologien verschleiert, heruntergespielt oder unterdrückt.«37 Neben der Warenwirtschaft gibt es noch das, was der Ökonom Kenneth Boulding 36 Nelson, The Study of Choice or the Study of Provisioning?, S. 33. 37 Hart / Laville / Cattani, The Human Economy, S. 5.
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eine »Stiftungsökonomie« (»grants economy«) genannt hat: eine Wirtschaft, bei der es nicht um Austausch geht, sondern um einseitige Transfers.38 Einige Transfers leistet der Staat, einige finden zwangsweise statt, aber ein erheblicher Teil gehört zu dem, was wir Gabenökonomie nennen könnten. Die zeitgenössische Gabenökonomie ist sehr groß und auch gesellschaftlich sehr wichtig, aber von den Sozialwissenschaften wird sie sträflich vernachlässigt. Sozialwissenschaftler_innen sind oft skeptisch, wenn behauptet wird, die Gabenökonomie spiele eine wichtige Rolle. Aber meines Erachtens rührt diese Skepsis mindestens zum Teil daher, dass sie unwillkürlich den vorherrschenden Wirtschaftsdiskurs übernehmen. Entsprechend diesem Diskurs werden Schenken/Geben und die Produktion für die Gabe im Allgemeinen aus dem Verständnis für Wirtschaft ausgeklammert, ohne einzugestehen, dass sie ausgeklammert werden. Ausnahmen sind Geldgeschenke und Produkte, die als Waren produziert und gekauft werden, um dann verschenkt zu werden. Sie interessieren die Ökonom_innen im Allgemeinen nur in ihrer Rolle als Waren und sind nicht mehr von Interesse, sobald die Person sie gekauft hat, die das Geschenk machen wird. Eine seltene Ausnahme ist Joel Waldfogel, der sich für Geschenke interessiert: Für ihn sind die meisten Gaben der Verwendung von Geld auf dem Markt unterlegen; Weihnachtsgeschenke bezeichnet er als Verschwendung von Ressourcen.39 Überraschender ist, dass sogar Soziolog_innen dazu neigen, die Gabenökonomie zu ignorieren. In der anthropologischen Tradition von Marcel Mauss behandeln sie das Schenken als marginales Relikt eines vormodernen Vorläufers der Marktwirtschaft.40 Wie David Graeber es formuliert, der die Gabenökonomie als Kommunismus bezeichnet: »Die Soziologie dieses elementaren Kommunismus ist ein riesiges Feld. Aber wegen unserer speziellen ideologischen Scheuklappen ist es uns noch nicht gelungen, darüber zu schreiben, weil wir 38 Boulding, The Economy of Love and Fear. 39 Waldfogel, The Deadweight Loss of Christmas. 40 Cheal, The Gift Economy, S. 2; Godbout / Caillé, The World of the Gift, S. vii; Ne-
gru, The Plural Economy of Gifts and Markets, S. 198, S. 200.
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praktisch nicht in der Lage sind, dieses Feld zu erkennen.«41 Ironischerweise hat das Soziolog_innen oft dazu gebracht, sich ziemlich genau auf die Schenkpraktiken zu konzentrieren, die die Ökonom_innen nur am Rande interessieren – rituelle Geschenke bei Geburtstagen, religiösen Festen und dergleichen –, und andere wichtige Schenkpraktiken zu übergehen (beides wurde häufig kritisiert42). Das sind schwerwiegende Irrtümer. Wie wir gesehen haben, können wir uns keine Alternativen zur Marktwirtschaft vorstellen, wenn wir nicht die Auffassung hinterfragen, dass die Wirtschaft mit der Warenwirtschaft identisch sei. Sobald wir anfangen, die Wirtschaft unter dem Aspekt der Versorgung zu betrachten, wird klar, dass Schenken eine wirtschaftliche Aktivität ziemlich genauso wie Austausch ist und dass Produzieren, um zu schenken, eine wirtschaftliche Aktivität ziemlich genauso wie Produzieren für den Verkauf ist. Und wenn wir uns die große Bandbreite versorgender Aktivitäten in den heutigen Gesellschaften anschauen, registrieren wir bald, dass ein großer Teil davon außerhalb der Warenwirtschaft stattfindet. Zu den Versorgungsaktivitäten zählen beispielsweise karitative Gaben, Freiwilligenarbeit, Blut- und Organspenden, rituelle Geschenke zu Geburtstagen und anderen Anlässen, Hilfe für Freunde und Freundinnen, Nachbar_innen, Arbeitskolleg_innen und sogar unbekannte Passsant_innen, Vermächtnisse, die Schaffung digitaler Ressourcen, die dann im Internet kostenlos mit anderen geteilt werden (einschließlich zum Beispiel Webseiten, Rat in Internetforen, Wikipedia-Einträge, Videos bei YouTube und Open-Source-Software), sowie und möglicherweise am wichtigsten das Teilen von Ressourcen und die Sorgearbeit im Haushalt. Den Umfang derartiger Tätigkeiten zu messen ist problematisch, weil sie definitionsgemäß nicht gehandelt und darum nicht in Geld bewertet werden. Trotzdem gibt es in der Literatur einige Hinweise dazu. Nehmen wir als erstes Beispiel das karitative Schenken oder die Philanthropie. Das ist ein weltweites Phänomen. Die Charities Aid Foun41 Graeber, Schulden, S. 106. 42 Adloff / Mau, Giving, Social Ties, Reciprocity in Modern Society, S. 96; siehe dazu
Berking, Schenken; Cheal, The Gift Economy.
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dation hat anhand globaler Umfragedaten geschätzt, dass im Jahr 2011 45 Prozent der Weltbevölkerung Fremden Hilfe geleistet haben, 28 Prozent gaben Geld für wohltätige Zwecke, und 18 Prozent leisteten Freiwilligenarbeit für eine Organisation.43 Sehen wir uns als zweites Beispiel digitale Geschenke an. Ein Aspekt davon ist die Schaffung kostenlos verfügbarer Webseiten. Chris Anderson kommt in seiner »Bierdeckelrechnung«, was die unbezahlten Leistungen dafür wert sind, zu dem Ergebnis, dass bei moderater Bezahlung rund 260 Milliarden Dollar pro Jahr dafür hätten ausgegeben werden müssen.44 Dies sind jedoch nur einige Kostproben der Hauptsache. Nach dem Umfang der wichtigste Bereich vernachlässigter wirtschaftlicher Praktiken ist die Arbeit, die im Haushalt geleistet wird – nicht nur Kindererziehung und Hausarbeit, sondern zum Beispiel auch Heimwerkertätigkeiten, Gemüseanbau und Eigenleistung beim Hausbau. Manchmal erfolgen solche Tätigkeiten erzwungenermaßen, aber in der Regel können sie mit gutem Grund als Geschenke an diejenigen angesehen werden, die den Nutzen davon haben.45 Um zu einer Schätzung zu gelangen, inwieweit das der Fall ist, können wir den Umfang der Haushaltsarbeit als Indikator für den Umfang dieser Form von Schenkpraktiken nehmen (und selbst wenn diese Leistungen erzwun43 Charities Aid Foundation, World Giving Index, S. 6. 44 Anderson, Free – Kostenlos, S. 196. 45 In einem Kontext, in dem von Frauen erwartet wird, dass sie die Hausarbeit leisten,
und diese Erwartung durch mächtige Geschlechternormen gestützt wird, mag es manchmal schwierig zu entscheiden sein, ob es eine freiwillige Handlung und damit ein Geschenk ist. Unbestritten gehen einige Frauen solche Beziehungen aus eigenem Antrieb ein, und unter dem Einfluss der Geschlechterrollen sind manche froh, diese Rolle ausfüllen zu können; siehe dazu Gibson-Graham, The End of Capitalism. Andere stehen vielleicht stärker unter Druck, zum Beispiel durch häusliche Gewalt, und in solchen Fällen muss man ihre Arbeit im Haus eher als Zwangsarbeit betrachten und nicht als Gabe. Aber einen großen Teil der Hausarbeit leisten Frauen trotzdem nicht zum Nutzen eines dominierenden männlichen Partners: Viel Arbeit fließt in die Versorgung von Kindern und alten Angehörigen oder wird in gleichgeschlechtlichen Beziehungen oder von den Männern selbst oder in stärker gleichberechtigten Beziehungen geleistet. Siehe dazu Fraad / Resnick / Wolff, Bringing it All Back Home, S. 37f.; Gimenez, Review of Bringing it All Back Home; Matthaei, Surplus Labor, the Household, and Gender Oppression, S. 48; Molyneux, Beyond the Domestic Labour Debate.
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gen sind, sind sie nicht Teil der Warenwirtschaft). Zu diesem Thema gibt es sehr viele statistische Untersuchungen, zum Beispiel von Duncan Ironmonger, der für Australien im Jahr 1992 auf der Grundlage ziemlich konservativer Schätzungen zu dem Schluss kam, »die Hälfte der ökonomischen Produktion stammt aus dem Haushalt und die andere Hälfte vom Markt«.46 Sofern diese Zahlen für die Weltwirtschaft insgesamt repräsentativ sind, können wir berechtigterweise daraus folgern, dass die Gabenökonomie insgesamt keineswegs ein marginales Relikt des prämodernen Lebens ist, sondern zumindest der Größe nach vergleichbar mit der Marktwirtschaft in modernen Gesellschaften. Aber das ist immer noch nicht die ganze Geschichte unserer heutigen wirtschaftlichen Vielfalt, denn es gibt noch viele nichtmarktwirtschaftliche und/oder nichtkapitalistische Formen jenseits der Gabenökonomie. Gibson-Graham beschreiben ein großes Spektrum aktueller wirtschaftlicher Aktivitäten, das nicht zum traditionellen Modell des kapitalistischen Unternehmens passt.47 Sie argumentieren, »wenn wir [die Wirtschaft] als fragmentiert […] verstehen, können wir zunächst einen großen staatlichen Sektor postulieren, [dann] einen sehr großen Sektor von selbstständigen und Familienproduzenten (überwiegend nichtkapitalistisch) [und dazu] einen riesigen Haushaltssektor«.48 Sie erinnern uns daran, dass die Warenproduktion nicht unbedingt von kapitalistischen Unternehmen geleistet werden muss: Daneben finden wir auch das, was Laville als Sozialwirtschaft bezeichnet, »nichtkapitalistische Unternehmen, die auf dem Markt agieren«49, wie Kooperativen, Solo-Selbstständige und Familienunternehmen, die Waren ohne die konventionelle Form der Lohnarbeit herstellen, die oft als Definitionskriterium für den Kapitalismus angesehen wird. Und wir haben es mit staatlichen und nicht gewinnorien46 Ironmonger, Counting Outputs, Capital Inputs and Caring Labor, S. 53.
Williams kommt mit Blick auf zwanzig entwickelte Volkswirtschaften zu weitgehend ähnlichen Ergebnissen: Von den 1960er Jahren bis in die 1990er Jahre waren 44,7 Prozent der in diesen Volkswirtschaften geleisteten Arbeitsstunden unbezahlt (Williams, Evaluating the Penetration of the Commodity Economy). 47 Gibson-Graham, The End of Capitalism, S. xii–xv. 48 Ebenda, S. 263. 49 Laville, Solidarity Economy.
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tierten Unternehmen zu tun, die zwar Lohnarbeit nutzen, denen es aber nicht darum geht, ihr Kapital zu mehren. Nichts von alldem soll ein Argument gegen die zentrale Rolle des Kapitalismus in wichtigen Bereichen der heutigen Wirtschaft sein. Der Kapitalismus dominiert zum Beispiel eindeutig die automatisierte Industrieproduktion und hat die Entwicklung eines großen Teils der Technik vorangetrieben, die unser Leben in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten verändert hat. Andere Warenproduzent_innen, die auf kapitalistisch dominierten Märkten konkurrieren, erleben ebenfalls, dass sie auf verschiedene Weise der Logik dieser Märkte unterworfen sind, etwa wenn die Nachfrage nach Produkten nichtkapitalistischer Produzent_innen wegen einer Krise der kapitalistischen Produktion einbricht oder wenn die Preise ihrer Produkte unter Druck geraten, weil ihre kapitalistische Konkurrenz die Produktion in Niedriglohnländer verlagert. Auch die gewaltige Macht, über die kapitalistische Produzent_innen allein durch die schiere Akkumulation finanzieller Ressourcen verfügen, soll nicht bestritten werden. Speziell die Gabenökonomie sammelt nicht in gleicher Weise derartige Ressourcen an.50 Dennoch ist der Kapitalismus trotz seiner Machtposition ganz eindeutig kein allumfassendes System, das den wirtschaftlichen Raum ausfüllt. Er ist eher das diskursiv und politisch dominierende Element in einer Wirtschaft mit gemischten Praktiken: nicht einer aus einem staatlichen und einem kapitalistischen Sektor gemischten Wirtschaft, sondern einer sehr viel bunter gemischten Wirtschaft, als wir sie uns gemeinhin vorstellen.
Reale Utopien Wenn wir erst einmal begriffen haben, dass unsere bestehende Wirtschaft bereits eine vielfältig gemischte Wirtschaft von Praktiken ist, erkennen wir leichter, wie wichtig es ist, alternative wirtschaftliche Praktiken zu verfolgen und zu fördern, die keine grundsätzlichen Alternativen zum Kapitalismus bieten, sondern einzelne begrenzte Ele50 Ich danke Erik Olin Wright, dass er mich darauf hingewiesen hat.
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mente in dem wechselnden Mix von Praktiken in der vielgestaltigen Wirtschaft sind. Eine solche Strategie fördert ein pluralistisches Verständnis von Wirtschaft und ist damit »eine Herausforderung für die monochrome Sicht der Wirtschaft, die die neoliberale Ideologie als unausweichlich darstellt«.51 Dazu kann einfach gehören, bestehende alternative Praktiken zu unterstützen,52 oder man geht innovativer vor. Auch auf diesem Gebiet wurde bereits viel wichtige Arbeit geleistet, insbesondere im Zusammenhang mit Erik Olin Wrights Projekt Reale Utopien. In der Reihe Reale Utopien sind zahlreiche Bücher vieler verschiedener Autor_innen erschienen. Am umfassendsten legt Wright selbst sein Programm in seinem gleichnamigen Buch53 dar. Wright gibt den traditionellen marxistischen Ansatz bei Alternativen zum Kapitalismus auf, der im Wesentlichen darin besteht, die Zukunft der Partei und/oder den anonymen Kräften der Geschichte zu überlassen.54 Stattdessen, so schreibt er, müssen wir konstruktiv über Alternativen nachdenken und, wo immer es möglich ist, damit beginnen, sie jetzt zu entwickeln. Diese Alternativen sind seine realen Utopien. Sie sind utopisch im ethischen Sinn, weil sie Visionen für »gesellschaftliche Institutionen […] frei von Unterdrückung« sind, Visionen, die unsere Fantasie über das hinausführen, was möglich ist.55 Aber sie sind auch real, weil ein Vorschlag nur dann eine reale Utopie sein kann, wenn wir mit Grund sagen können, dass er gangbar und erreichbar ist. Eine Alternative ist dann gangbar, wenn sie nach der Umsetzung »auf nachhaltige und robuste Weise jene Folgen [zeitigt], aufgrund derer der Entwurf formuliert wurde«,56 und sie ist erreichbar, wenn es einen plausiblen Weg gibt, wie wir dorthin gelangen können: Reale Utopien müssen »Ziele mit erreichbaren Zwischenetappen« sein, wie Wright
Laville, Plural Economy, S. 81. Hart / Laville / Cattani, The Human Economy, S. 6. Wright, Reale Utopien. Dieser Ansatz wurde auch kritisiert, zum Beispiel von Andrew Sayer (Sayer, Radical Political Economy). 55 Wright, Reale Utopien, S. 45. 56 Ebenda, S. 64. 51 52 53 54
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es nennt.57 All das erinnert stark an Roy Bhaskars konkreten Utopismus: »die Konstruktion von Modellen für alternative Lebensweisen auf der Grundlage bestimmter Annahmen über Ressourcen, als Gegengewicht zu Aktualismus und Grundlage für Hoffnung«.58 Bhaskars Verweis auf Ressourcen impliziert, dass unsere utopischen Konstruktionen unter plausibel anzunehmenden Umständen gangbar und erreichbar sein sollten, und die Postulierung eines Gegengewichts zum Aktualismus drückt die Notwendigkeit aus, wie Wright sagt, »unsere Vorstellungskraft« über das hinaus »auszudehnen«, was unter den gegenwärtigen Umständen möglich erscheint. Ziel ist es, so Bhaskar, »die realen, aber noch nicht aktualisierten Möglichkeiten einer Situation aufzuspüren und damit begründete Hoffnung zu wecken«.59 An Wrights Projekt ist vieles interessant. Zum einen durchdenkt er sorgfältig die Themen einer emanzipatorischen Sozialwissenschaft. Dazu müsse sie sich »drei grundlegenden Aufgaben stellen: der Ausarbeitung einer systematischen Diagnose und Kritik der Welt, wie sie existiert; dem Entwurf gangbarer Alternativen; und dem Verständnis der Hindernisse, Möglichkeiten und Dilemmata der Transformation«. Wright betont, alle drei Aufgaben seien »für eine umfassende emanzipatorische Theorie notwendig«.60 Zweitens erkennt er an, dass die Kritik wie die Entwicklung von Alternativen im Kern ethische Aufgaben sind, und er benennt explizit seine ethische Grundlage: »ein Verständnis von Gerechtigkeit, […] das sich als radikaldemokratisch egalitär bezeichnen lässt«.61 Drittens räumt er im Gegensatz zu Gibson-Graham ein, dass der Kapitalismus systembedingt dazu neige, Übel zu verursachen, die nicht allein von dem begleitenden Diskursregime abhän-
57 Ebenda, S. 45.
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Mit der Betonung von Gangbarkeit und Erreichbarkeit sowie dem expliziten Verweis auf die ethische Agenda, die seinen realen Utopien zugrunde liegt, entwickelt Wright Gedanken von Andrew Sayer weiter (vgl. Sayer, Critical Realism and the Limits to Critical Social Science). Bhaskar, Dialectic, S. 395; Hartwig, Dictionary of Critical Realism, S. 74f. Bhaskar, Plato etc., S. 112, Fußnote 1. Wright, Reale Utopien, S. 50f.. Ebenda, S. 52.
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gen.62 Viertens erkennt er an, dass das bestehende System Widerstand gegen Veränderungen leistet, und untersucht Strategien, die aufgerichteten Hindernisse anzugehen.63 Fünftens erkennt er an, dass die Zukunft offen ist und Widersprüche im Kapitalismus nicht zu einem unvermeidlichen Ende führen. Deshalb würde ein erfolgreiches emanzipatorisches Programm nicht in einer Art perfekter statischer Gesellschaft münden, sondern einen kontinuierlichen Prozess offener, nicht voraussehbarer Entwicklungen in Gang setzen.64 Wrights Projekt passt aber vor allem deshalb besonders gut zu der hier dargelegten Argumentation, weil viele seiner Utopien keine allumfassenden Blaupausen sind, keine Entwürfe, die vorgeben, ein »neues einheitliches System [zu bieten], […] das alle anderen ökonomischen Formen verdrängt«,65 sondern vielmehr Vorschläge mittlerer Reichweite enthalten, wie sich gesellschaftliche Institutionen so umgestalten lassen, dass sie vielfältig gemischt werden können.66 So können viele Utopien durch »Freiraumprozesse«67 verwirklich werden, wie er sie nennt. Wright zufolge könne man sagen, dass der Kapitalismus selbst »in den Freiräumen der Feudalgesellschaft entstanden sei«.68 Der Kapitalismus habe nur deshalb im Diskurs und in der Politik dominieren und sich nur deshalb in einem Umfang entwickeln können, der seine systemischen Folgen überhaupt erst ermöglicht habe, weil die kapitalistischen Praktiken innerhalb einer früheren Wirtschaft mit gemischten Praktiken immer mehr Raum eingenommen hätten. Man kann neue wirtschaftliche Praktiken, vielleicht über schlichte Veränderungen bei den Eigentumsverhältnissen hinaus, nicht über Nacht in großem Stil einführen und dann erwarten, dass sie am nächsten Tag reibungslos funktionieren; ganz im Gegenteil, sie brauchen Zeit, zu wachsen und zu reifen. Deshalb werden sich alle aussichtsreichen wirtschaftlichen Alternativen fast sicher anfänglich im bestehenden 62 63 64 65 66 67 68
Ebenda, S. 82f. Ebenda, S. 375. Vgl. Bhaskar, Dialectic, S. 297; Wright, Reale Utopien, S. 169ff. Gibson-Graham, The End of Capitalism, S. 263. Wright, Reale Utopien, S. 28f. Ebenda, S. 437. Ebenda.
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Kontext entwickeln müssen. Insofern weist Wrights Argumentation eine deutliche Parallele zur anarchistischen Strategie auf, »das Gerüst der neuen Gesellschaft im Gehäuse der alten«69 zu bilden, und ein deutlicher Schwerpunkt seines Projekts liegt darauf, vorhandene Praktiken zu identifizieren, die die Grundlage für reale Utopien abgeben können.70 Tatsächlich stimmt seine Vision mit dem eher anarchistischen Verständnis von Utopien insofern überein, als beide die Vorstellung ablehnen, eine einzige Blaupause könnte überall eingesetzt werden.71 Wright untersucht politische und wirtschaftliche Innovationen, aber für das vorliegende Buch sind nur die Beispiele aus der Wirtschaft relevant. Einige seiner Utopien würden tiefgreifenden, mit der Macht des Staates vorangetriebenen Wandel erfordern, wie beispielsweise die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens,72 John Roemers Vorschläge für Marktsozialismus73 und Michael Alberts »marktfreie, partizipative und demokratische Wirtschaft«74. Andere basieren hingegen auf bereits existierenden ökonomischen Praktiken, wie Kooperativen von Beschäftigten, die er am Beispiel der MondragónGruppe im spanischen Baskenland abhandelt,75 sowie Einrichtungen der Sozialwirtschaft; hier konzentriert er sich auf die Organisation der Versorgung von Kindern und alten Menschen in Quebec76 sowie auf Wikipedia77. Der Gedanke, dass derartige Praktiken sich innerhalb der bestehenden Wirtschaft entwickeln können, hängt eindeutig von der Annahme ab, dass die Wirtschaft in gewissem Sinn gemischt ist, wie 69 Statuten der Industrial Workers of the World, zitiert aus: ebenda, S. 440. 70 Allerdings distanziert sich Wright von der anarchistischen Auffassung, emanzipa-
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torische Kämpfe könnten den Staat außer Acht lassen: Für Wright ist auch der Staat »ein Kampffeld«, das nicht vernachlässigt werden darf (Wright, Reale Utopien, S. 452). Kinna, Practising (for) Utopia. Ackerman / Alstott / Van Parijs, Redesigning Distribution; Wright, Reale Utopien, S. 305–313. Roemer, A Future for Socialism; Wright, Reale Utopien, S. 344–351. Albert, Parecon; Wright, Reale Utopien, S. 351–366. Wright, Reale Utopien, S. 328–343. Ebenda, S. 289–305. Ebenda, S. 277–289.
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Wright schreibt. Zwar bezeichnet er den Kapitalismus als »eine bestimmte Art, die Wirtschaftstätigkeit einer Gesellschaft zu organisieren«,78 was eine Sicht des Kapitalismus als eine allumfassende Wirtschaftsform zu implizieren scheint, aber er schreibt auch, dass eine Gesellschaft niemals rein kapitalistisch oder umgekehrt rein sozialistisch sei.79 Tätigkeiten wie Haushaltsarbeit und Freiwilligenarbeit rechnet er dem wirtschaftlichen Bereich zu;80 damit stellen sie eine Herausforderung für die Auffassung dar, Wirtschaft immer nur als kapitalistisch zu begreifen. Die Existenz der anderen Formen und auch staatlicher Unternehmen lasse sich »als Abmilderung der ›kapitalistischen Verfasstheit‹ der Wirtschaft begreifen«. Und er fährt fort: »Nichtsdestotrotz bleiben diese Variationen insofern, als sie sämtlich die Kernbestandteile der Institution Privateigentum an den Produktionsmitteln sowie von Märkten als zentralem Mechanismus wirtschaftlicher Koordinierung beibehalten, Varianten des Kapitalismus.«81 Dabei gesteht er zu, dass dies ein »verzwicktes theoretisches Problem« aufwirft: Was rechtfertigt es unter diesen Umständen, »das System insgesamt als ›Kapitalismus‹ zu bezeichnen? Wie viel Nichtkapitalismus ist nötig, damit die resultierende Mischform etwas völlig Neues und nicht einfach eine hybride Form des Kapitalismus darstellt?«82 Wright ist nicht bereit, die Ansicht aufzugeben, dass unsere gegenwärtige Wirtschaft eine kapitalistische ist, aber er räumt ein: »Der Gebrauch der einfachen, adjektivfreien Bezeichnung ›Kapitalismus‹ zur Beschreibung eines empirischen Falls ist also eine Kurzform für so etwas wie ›gemischte Wirtschaftsstruktur, innerhalb derer der Kapitalismus als Organisierungsform wirtschaftlicher Tätigkeit vorherrscht‹.«83 Die Frage, »was genau mit der Aussage gemeint ist, der Kapitalismus sei innerhalb einer gemischten Anordnung ›dominierend‹«,84 sei nicht leicht zu beantworten. 78 79 80 81 82 83 84
Ebenda, S. 78. Ebenda, S. 190. Ebenda, S. 80f. Ebenda, S. 81. Ebenda, S. 81, Fußnote 5. Ebenda, S. 191. Ebenda, S. 192.
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Wright geht sogar so weit, das anzuerkennen, was ich als gemischte Wirtschaft von Praktiken bezeichnet habe, aber trotzdem bleiben in seinem Werk einige wichtige Leerstellen. Erstens ist er wie viele in den Sozialwissenschaften blind für das schiere Ausmaß der nichtkapitalistischen Wirtschaftsaktivitäten in unserer bestehenden Wirtschaft, weshalb er an der Ansicht festhalten kann, die gegenwärtige Wirtschaft sei im Wesentlichen kapitalistisch. Selbst die Rede von den »Freiräumen«, in denen sich alternative Entwicklungen im bestehenden System vollziehen sollen, zeugt von der Vorstellung, dass die Alternativen nur kleine Lücken in einer vorwiegend kapitalistischen Struktur besetzen. Zweitens und als Ergebnis davon sieht er die Notwendigkeit nicht, alle wirtschaftlichen Systeme als Hybridformen zu fassen. In dieser Hinsicht scheint er immer noch einer Version des marxistischen Konzepts der Produktionsweisen als historische Stadien verhaftet, das im nächsten Kapitel hinterfragt wird. Und drittens hängt seine Vernachlässigung der Gabenökonomie auch damit zusammen, dass er die emanzipatorischen Möglichkeiten geringschätzt, die Entwicklungen in der Gabenökonomie eröffnen.85
Schlussfolgerung Wir sehen uns einem kontinuierlichen Strom von Reden über die Wirtschaft und das Wirtschaftliche gegenüber, die davon ausgehen und uns ermuntern zu glauben, dass die Wirtschaft mehr oder weniger identisch mit der Warenwirtschaft ist oder sein sollte, vielleicht sogar mit der kapitalistischen Warenwirtschaft. Aber sofern es ökonomische Aktivitäten bereits gab, bevor es den Markt gab, und sofern es wünschbar und sogar möglich ist, dass wir eine Wirtschaft jenseits des Marktes haben, ist es ein Irrtum, Wirtschaftliches und die Wirtschaft in den Begriffen des Marktes zu definieren. Wir müssen uns die Wirt85 Allerdings hat Wright in jüngster Zeit einen Schritt getan, um das zu korrigieren,
indem er im Rahmen des Projekts »Reale Utopien« einen Beitrag von Yochai Benkler in eine Sonderausgabe von Politics and Society aufgenommen hat; (Benkler, Practical Anarchism).
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schaft umfassender vorstellen, und in diesem Kapitel wurden Argumente vorgetragen, sie in den Begriffen von Versorgung zu denken: Die Wirtschaft besteht, mit anderen Worten, aus den Aktivitäten, mit denen die Dinge geschaffen werden, die die Menschen brauchen. Diese Definition liefert uns zwar keine Grundlage, um endgültig zu unterscheiden, was zur Wirtschaft gehört und was nicht, aber sie erfüllt die wesentliche politische Funktion, uns die Augen zu öffnen für alternative Wege, wie wirtschaftliche Aktivitäten unternommen werden können. Tatsächlich öffnet sie unsere Augen für die vielen alternativen, nichtmarktwirtschaftlichen und nichtkapitalistischen Wege, wie wirtschaftliche Aktivitäten heute schon unternommen werden, und dazu zählt auch die enorm umfangreiche zeitgenössische Gabenökonomie. Das weist wiederum Wege zu politischen Strategien, die bessere alternative Möglichkeiten identifizieren und fördern, um die wirtschaftliche Aktivität zu organisieren, wie etwa Wrights reale Utopien. In neuen Bahnen über die Wirtschaft nachzudenken wird auch erfordern, dass wir manche geschätzten Konzepte aus bestehenden Traditionen der politischen Ökonomie aufgeben. Dennoch halten diese Traditionen wichtige Einsichten bereit, die wir bewahren und in eine andere Tradition einordnen können. In den nächsten beiden Kapiteln geht es darum, was wir von diesen vorhandenen Traditionen aufgeben müssen und was wir sinnvollerweise behalten können, wenn wir eine politische Ökonomie entwerfen wollen, die der Vielfalt unserer bestehenden und potenziellen Wirtschaftsformen Rechnung trägt.
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Teil II Politische Ökonomie
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Jenseits der marxistischen politischen Ökonomie
Einführung In den letzten eineinhalb Jahrhunderten wurden kritische Ansätze zur politischen Ökonomie von der marxistischen Tradition geprägt und beherrscht. Jede alternative Sichtweise außerhalb des Mainstreams fordert unweigerlich den Vergleich mit dem marxistischen Ansatz heraus und wird an ihm gemessen. Aber inzwischen ist der Marxismus selbst zu einem Hindernis für kreatives Nachdenken über Wirtschaft geworden, nicht zuletzt deshalb, weil er am Diskurs der monolithischen kapitalistischen Marktwirtschaft beteiligt ist, den es heute zu überwinden gilt. Auch wenn die Marxist_innen eine deutlich andere Sichtweise auf die Wirtschaft als Mainstream-Ökonom_innen vertreten, gehen die meisten noch immer davon aus, dass es in der heutigen Welt nur eine bedeutsame Wirtschaftsform gebe: eine kapitalistische, beruhend auf Lohnarbeit und auf Waren, die auf dem Markt verkauft werden. Dieses Kapitel kritisiert zwei wichtige Tragsäulen der marxistischen politischen Ökonomie, die zu dieser Perspektive beitrugen: erstens das Konzept der Produktionsweise, das nicht nur die Sicht beförderte, dass unsere Wirtschaft überwiegend kapitalistisch konstituiert sei, sondern zudem eine allzu monolithische Konzeption vom Kapitalismus birgt; und zweitens Marx’ Arbeitswerttheorie, die, neben weiteren Schwächen, tendenziell die obsessive Gleichsetzung von Kapitalismus mit Lohnarbeit unterstützt. Als eine Konsequenz verkannten die Marxist_innen, dass der Kapitalismus neue Formen der Gewinnerzielung entwickelt hat, die nicht mehr ins klassische marxistische Modell hineinpassen, darunter viele, die in der neu entstandenen Digitalwirtschaft auftauchten und erfolgreich waren. Wie manche vor mir, die nach einer alternativen politischen Öko-
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nomie suchten, bin ich mir der Stärken wie der Schwächen der marxistischen Tradition bewusst.1 Ihre politische Ökonomie hat an maßgeblicher Stelle dazu beigetragen, den Kapitalismus kritisch zu hinterfragen, und bildet für kritische Denkanstöße immer noch die wichtigste Quelle. Aber diese können wir nicht produktiv verwerten, wenn wir den Marxismus entweder als heiliges Evangelium oder als Fluch betrachten. Dieses Kapitel würdigt einige Bestandteile des marxistischen Denkens, die in einer alternativen politischen Ökonomie Wiederverwertung finden sollten, kritisiert aber auch einige der anderen, die ausrangiert werden müssen. Zu den Fragestellungen, die dieses Kapitel behandelt, gibt es bereits innerhalb des Marxismus erhebliche Meinungsunterschiede und Debatten, in denen einige der Argumente anklangen, die hier dargestellt werden. Im Gegensatz zu den Marxist_innen, die vormals ähnliche Argumente verfochten, betrachte ich diese für den größeren Rahmen der Lehre allerdings als fatal. Wo es sinnvoll erscheint, gehe ich auf diese Denker_innen ein, freilich ohne den Anspruch, die innermarxistische Debatte zu diesen Fragen in ihrer ganzen Bandbreite abzudecken. Dieses Kapitel versteht sich nicht als Beitrag zu derlei Auseinandersetzungen. Vielmehr versucht es – erstens – aufzeigen, dass der Marxismus als Tradition der Aufgabe, eine politische Ökonomie für die heutige Welt zu entwerfen, nicht gerecht werden kann, und – zweitens – einige der grundlegendsten Stärken und Schwächen der Tradition als einen Schritt zu analysieren, um zu einer tragfähigen Synthese zu gelangen. Vor einer Erörterung des Begriffs der Produktionsweisen und der Arbeitswerttheorie müssen wir allerdings zunächst erwägen, was ein kritischer Ansatz zu einer politischen Ökonomie beinhalten muss.
1 Z. B. Harvey / Geras, Marx’s Economy and Beyond, S. 2; Sayer, Radical Political
Economy, S. viii.
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Politische Ökonomie als Kritik Im Gegensatz zur traditionellen Mainstream-Ökonomie und tatsächlich auch zu manchen heterodoxen Traditionen verweist die marxistische politische Ökonomie mit Stolz darauf, dass sie eine kritische ist. Marx und die Marxist_innen spielten eine immens bedeutende Rolle dabei, uns die Augen für die systembedingten Übel zu öffnen, die das kapitalistische System zu verantworten hat, stellten diese aber zudem in einen weiteren Zusammenhang: In einer Analyse der kausalen Abläufe, die in Volkswirtschaften im Allgemeinen und in der kapitalistischen im Besonderen wirken, lieferten sie für diese Übel erste Erklärungen. Über das rein Analytische hinaus braucht eine Kritik aber auch eine ethische Komponente, um die sich der Marxismus, wie in diesem Teil des Buchs vertreten, niemals angemessen bemüht hat. Während auch andere kritische Traditionen die Übel des Kapitalismus ins Licht rückten, trat die marxistische mit einer deutlich mehr Punkte umfassenden Kritik hervor, die ich hier in fünf Gruppen unterteilen möchte. Erstens ignoriert der Kapitalismus systematisch das Wohl derjenigen, die über kein Kapital verfügen. Durch Wirtschaftskrisen oder die Möglichkeit von Kapitaleigner_innen, lukrativer zu investieren, sehen sich Lohnabhängige von Arbeitslosigkeit und Armut bedroht. Beschäftigungslos geworden, sind sie möglichen Kürzungen oder gar dem Entzug von Leistungen ausgeliefert, um Wohlhabende steuerlich zu entlasten. Landarbeiter_innen können von ihrem Boden vertrieben werden, um ihn einer kapitalistischen Landwirtschaft oder einem kapitalistischen Abbau von Bodenschätzen zuzuführen, ohne Rücksicht auf die massiven Eingriffe in ihr Leben und ihre mangelnde Vorbereitung darauf, ein anderes Auskommen zu finden. Schadstoffe bedrohen womöglich lebenswichtige Ressourcen, weil es profitabler ist, sie in die Umwelt zu entlassen, anstatt sie verantwortungsvoll zu entsorgen. Zweitens ist der Kapitalismus als Wirtschaftssystem massiv ineffizient.2 Seine Wirtschaftskrisen verurteilen Arbeitskräfte und Produk2 Wright, Reale Utopien, S. 104–118.
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tionsanlagen zur Untätigkeit bzw. zum Stillstand, während der Bedarf an Produkten, die sie herstellen können, unbefriedigt bleibt. Öffentliche Güter, welche die Bedürfnisse der Bevölkerung als Ganzes befriedigen könnten, stehen nicht zur Verfügung, weil dem Kapitalismus ein inhärenter Mechanismus fehlt, um sie zu finanzieren. Stattdessen werden überflüssige Güter für wohlhabende Einzelne produziert. Potenziell öffentliche Güter – so Bücher, Musik und Filme in digitaler Form mit vernachlässigbaren Grenzkosten – unterliegen Urheberrechten, die darauf angelegt sind, kapitalistische Profite (und nur zweitrangig die Einkommen ihrer Urheber_innen) auf Kosten des Gemeinwohls zu schützen. Drittens ist Lohnarbeit im Kapitalismus tendenziell höchst entfremdet und entfremdend für die Beschäftigten, die der Kontrolle über ihr Produkt und ihren Arbeitsprozess beraubt und häufig zu einem Rädchen im Getriebe des Produktionsprozesses degradiert sind,3 was zu Stress, Erschöpfung, Demotivierung, Depressionen und dem Verlust an Selbstachtung, Selbstvertrauen sowie Hoffnung in die Zukunft beiträgt. Viertens fördert der Kapitalismus verzerrte Wertvorstellungen, nach denen Kapitalerträge wichtiger als die Lebensqualität der Masse der Bevölkerung seien. Auch wenn Michael Sandel4 vor kurzem einige bereits einige dokumentiert hat, so ist die verbreitetste und wohl schädlichste die Fixierung auf materiellen Konsum: der Glaube, dass wir durch den Erwerb von Dingen, insbesondere von Statussymbolen, die uns über andere erhöhen sollen, Erfüllung finden könnten.5 Konsumorientierte Werte legitimieren Arbeitsexzesse, überflüssige Käufe, ein ganzes Produktionssystem für Güter ohne realen Gebrauchswert, während andere Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, und zielloses Wirtschaftswachstum. Und dazu verherrlichen sie den Warenfetisch, wie Marx ihn nennt:6 Auf Kosten unserer aller realen Bedürfnisse gelten Besitztümer schließlich mehr als zwischenmenschliche Beziehungen. 3 4 5 6
Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 510–522. Sandel, Was man für Geld nicht kaufen kann. Wright, Reale Utopien, S. 118–122. Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 85–97.
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Und schließlich gibt es Übel, die bestimmten historischen Varianten des Kapitalismus zu eigen sind. Wie wir in jüngster Zeit erlebten, sorgte der Neoliberalismus dafür, dass zugunsten privater Profite öffentliche Dienste zerschlagen wurden7 und dass einer kleinen Elite infolge des Finanzkapitalismus ein immer größerer Anteil am Wohlstand zufließt, während reale gesellschaftliche Bedürfnisse auf der Strecke bleiben. Gleichwohl sind die Folgen des Kapitalismus nicht ausschließlich negativ. Selbst Marx erkannte in ihm eine dynamische Kraft, die in nie dagewesener Weise die technologische Entwicklung vorangetrieben und einige Aspekte materiellen Wohlstands geschaffen hat. Hüten muss man sich auch davor, Fehlentwicklungen allein dem Kapitalismus anzulasten. Wie Andrew Sayer und Erik Olin Wright hervorheben, treten einige der genannten Übel auch in anderen Formen der Industriegesellschaft auf.8 Um die des Kapitalismus von anderen zu unterscheiden, müssen wir die Mechanismen betrachten, durch die sie entstehen. Auch hier leistete der Marxismus bedeutende Beiträge zur politischen Ökonomie. Vor allem hob Marx die unersättliche Gier kapitalistischer Unternehmen nach Profitsteigerung – nach Kapitalakkumulation – hervor und erkannte, dass sie der inhärenten Logik des Kapitals entspringt.9 Das Interesse von Investoren, aus Investitionen immer höhere Renditen zu ziehen, kombiniert mit der Macht des Marktes, Unternehmen abzustrafen, die bei den Innovationen hinter der Konkurrenz zurückfallen, erzeugt mit Blick auf Produktionsleistung und Gewinne einen beständigen Wachstumsdruck. Aus diesem entscheidenden Mechanismus geht die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus hervor, sein dauerhafter Druck zur Produktivitätssteigerung und Kostensenkung ohne Rücksicht darauf, welche Auswirkungen sie für Beschäftigte und örtliche Gemeinschaften haben, seine ständige Suche nach neuen Gelegenheiten, Gewinne zu erzielen und in neue Territorien und Geschäftsfelder zu expandieren, seine totale Gleichgültigkeit gegenüber 7 Klein, Die Schock-Strategie. 8 Sayer, Radical Political Economy, Kapitel 1; Wright, Reale Utopien, S. 83. 9 Marx / Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, S. 465.
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allen öffentlichen Gütern, die keine Gelegenheiten bieten, private Profite zu machen, sowie seine ständige Ermunterung zu immer mehr Konsum, indem neue »Bedürfnisse« geschaffen und Marketing- und Werbekampagnen gestartet werden: Das heißt nicht, dass sich ein anderes Wirtschaftssystem Wachstum niemals zum Ziel setzen würde, sondern dass dieses unter dem Kapitalismus zu einem Fetisch wurde, zu einer Obsession mit einem gesellschaftlich aufgerichteten Erfolgsmaßstab, der inzwischen den kapitalistischen Sektor des Wirtschaftssystems beherrscht. Auch liefert Marx mitunter ausgewogene Einschätzungen dazu, wie verschiedene Mechanismen ineinander greifen, und erkennt wie heutige Vertreter_innen des philosophischen Realismus, dass wirtschaftliche Getriebe eher Tendenzen als empirische Gesetzmäßigkeiten ohne Ausnahmen hervorbringen.10 So schafft beispielsweise der kapitalistische Antrieb zur Akkumulation eine Tendenz, Gewinne zu steigern, die dann aber nicht zwangsläufig zu einer tatsächlichen Gewinnsteigerung führen muss. Weitere von Marx ausgemachte systembedingte Mechanismen wie der Trend, dass unter normalen kapitalistischen Wachstumsbedingungen die Nachfrage der Produktion hinterherhinkt (oder die Produktion der Nachfrage vorauseilt), können der Tendenz zu immer mehr Akkumulation entgegenwirken. Wo Marx die Sachverhalte in diesen Begriffen beschreibt, steht er im Einklang mit dem, was heutige Vertreter_innen des philosophischen Realismus als wissenschaftlichen Ansatz für eine Kausalitätstheorie anerkennen würden,11 auch wenn nicht alle seine Beschreibungen zu den Wirkweisen des Kapitals dieses Maß an Überzeugungskraft oder Wissenschaftlichkeit erreichen, wie wir bei der Untersuchung der Arbeitswerttheorie weiter hinten in diesem Kapitel sehen werden. Was wir von Marx als Wissenschaftler auch halten mögen: Eine kritische politische Ökonomie muss mehr sein als ein rein wissenschaftliches Unternehmen. Unweigerlich ist sie zugleich auch ein moralisches Unterfangen: Kritische Betrachtungen, wie Marx sie zum Kapitalismus unternahm, basieren zwangsläufig auf einer Reihe ethi10 Fleetwood, Laws and Tendencies in Marxist Political Economy. 11 Siehe Kapitel 4.
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scher oder moralischer Einstellungen zur Welt.12 Wie von Steven Lukes überdeutlich formuliert, »strotzen Marx’ und marxistische Schriften vor impliziten und expliziten moralischen Urteilen«.13 So auch Norman Geras: »Normative Standpunkte liegen in seinen Schriften zutage oder dicht unter deren Oberfläche, und dies in Hülle und Fülle.«14 Marx war beseelt von der Vision einer idealen Gesellschaft, »in der Menschen in Verhältnissen des Überflusses in einer neuen, durchschaubaren Form gesellschaftlicher Eintracht zur Selbstverwirklichung gelangen können«.15 Und sein »gesamtes Lebenswerk wimmelt vor kritischen Urteilen, die nur vor dem Hintergrund dieses Ideals einer durchschaubaren gesellschaftlichen Eintracht und individuellen Selbstverwirklichung Sinn ergeben«.16 Seither inspirierten diese Sichtweise und die ihr entspringenden kritischen Beurteilungen der bestehenden Gesellschaft marxistische Denker_innen, Aktivist_innen und Politiker_innen. Sie stecken hinter der gewaltigen Energie und dem Einsatz, mit denen diese Marx’ Ideal weiterverfolgten. Dennoch, so heben Lukes und Geras hervor, leugneten Marx und seine Anhänger_innen beständig die ethische Dimension ihres Projekts mit der Behauptung, dass »Moral eine Form der Ideologie und damit ihrem Ursprung nach gesellschaftlich« bedingt sei, »illusorisch im Inhalt und Klasseninteressen dienend«. Deswegen stehe »der Marxismus jedwedem Moralisieren entgegen« und lehne »jedes moralische Vokabular als überholt ab. Die marxistische Kritik am Kapitalismus wie auch an der politischen Ökonomie sei nicht moralisch, sondern wissenschaftlich«.17 Ihre Überzeugung, dass die bestehenden moralischen Konzepte ideologisch seien, ist durchaus berechtigt: So dienten beispielsweise die der Rechte des Einzelnen und insbesondere Eigen-
12 Ich gebrauche die Ausdrücke ethisch und moralisch im Folgenden durchweg gleich-
bedeutend. 13 Ausgiebige Textbelege zu dieser und der im nächsten Abschnitt erörterten Aus14 15 16 17
sage siehe Lukes, Marxism and Morality, Kapitel 2. Das Zitat siehe ebenda, S. 3. Geras, The Controversy about Marx and Justice, S. 62. Lukes, Marxism and Morality, S. 9. Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 3; siehe ebenso Geras, The Controversy about Marx and Justice, S. 62.
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tumsrechte häufig dazu, die massive Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften zu rechtfertigen. Und sehr vieles spricht für ihre Überzeugung, dass diese Elemente der Moralität sich deshalb etablierten, weil sie die Interessen wirtschaftlich einflussreicher Klassen unterstützten. Sie spiegelt wiederum Marx’ Theorie zum »sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt«18 – oder zum Überbau – einer Gesellschaft wider, der letztlich das Produkt von Entwicklungen an deren ökonomischer Basis ist. Auf einer Ebene nehmen die Marxist_innen also die moralischen Werte, die sie ablehnen, angeblich mit einem wissenschaftlichen Ansatz ins Visier. Und doch ist die Vorstellung, dass die Kritik des Marxismus nicht moralischer, sondern wissenschaftlicher Art sei, Illusion und Selbsttäuschung, die wesentlich zu jener rücksichtslosen Menschenverachtung beitrug, die den Stalinismus in der UdSSR und vielen anderen kommunistischen Staaten des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet hat.19 Wo Marx Ethik durch eine angebliche Wissenschaftlichkeit ersetzt, leugnet er faktisch die Notwendigkeit, politische Entscheidungen anhand ethischer Normen zu beurteilen, geschweige denn, dass er sich Gedanken darüber macht, wie die ethischen Normen einer fortschrittlichen politischen Bewegung auszusehen hätten. Auf die Art wurden die Kommunist_innen, angetrieben von einem grundlegend moralischen Anliegen, zu dem Glauben verleitet, dass die glanzvolle Vision einer idealen Gesellschaft eine hinlängliche Rechtfertigung darstelle, um den Gruppen, die sich deren Verwirklichung an der vorherrschenden marxistischen Theorie gemessen in den Weg stellten, jedes erdenkliche Opfer aufzubürden.20 Die Behauptung, dass die marxistische Kritik nicht moralischer, sondern wissenschaftlicher Natur sei, ist in zweifacher Hinsicht irrig. Rein logisch, lässt sich Kritik an einer bestehenden Gesellschaft nicht schlicht auf die »wissenschaftliche« Feststellung stützen, dass deren
18 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, S. 9. 19 Geras, The Controversy about Marx and Justice, S. 85. 20 Wie mächtig dies als Kraft wirkte, beschwört Lew Kopelew in eindringlichen Wor-
ten, die Lukes einleitend seinem Buch voranstellte. Siehe Kopelew, Aufbewahren für alle Zeit!, S. 49f., sowie Lukes, Marxism and Morality, S. viiif.
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Moralität vollständig ideologisch sei.21 Selbst wenn eine solche wissenschaftlich begründbar wäre, ließe sich aus ihr kein Anspruch auf die leiseste Kritik ableiten. Dazu bräuchte es zudem eine Begründung für die Überzeugung, dass eine ideologische Moral irrig sei, was sich seinerseits nur mit einer ethischen Argumentation bewerkstelligen ließe. Mit anderen Worten: Kritik beruht auf moralischen Standards, welche die bestehende Gesellschaft eben nicht erfüllt: Wir können eine Ideologiekritik nur dann entwickeln, wenn wir für sie moralische Gründe haben, die bis zu einem gewissen Grad von der betreffenden Ideologie unabhängig sind. Wenn somit Marxist_innen glauben, dass Ideologie allgegenwärtig und Kritik an ihr möglich sei, lassen sie es an Reflexivität fehlen und erliegen einem performativen Widerspruch: Sie erheben implizit Anspruch auf moralische Unabhängigkeit, während sie explizit leugnen, dass moralische Unabhängigkeit überhaupt möglich sei. Die Einsicht, dass Kritik zwangsläufig auf einer ethischen Haltung beruht, wirft allerdings eine Reihe weiterer Fragen auf, insbesondere die, auf welcher moralischen Einstellung eine bestimmte Kritik beruht und ob diese zu rechtfertigen ist, sowie die weitergehende Frage, wie sich ethische Einstellungen allgemein rechtfertigen lassen. Marx’ Grundanliegen war das Proletariat oder vielmehr das, was er als dessen langfristiges Interesse daran ansah, den Kapitalismus zu überwinden und ihn durch eine vage vorgestellte kommunistische Alternative zu ersetzen.22 Eine Auseinandersetzung mit den sich daraus ergebenden ethischen Fragen lehnte er dabei allerdings ab. Orthodoxe Marxist_innen folgten ihm häufig in der Überzeugung, dass jedwede Be21 Damit wende ich mich unausgesprochen gegen Roy Bhaskars Argumente zuguns-
ten einer emanzipatorischen Kritik und eines ethischen Naturalismus. Siehe Bhaskar, Scientific Realism and Human Emancipation, S. 177–180. Explizit begründet habe ich dies bereits in Elder-Vass, Realist Critique Without Ethical Naturalism or Moral Realism. 22 De Martino macht in Marx’ Werk zwei zentrale normative Grundsätze aus: seinen starken Widerwillen gegen Ausbeutung und seinen wohlbekannten Slogan, der die ethische Grundhaltung des Kommunismus zusammenfasst: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«, siehe DeMartino, Realizing Class Justice, S. 5.
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schäftigung mit ihnen schlicht konterrevolutionäres Denken sei. Alle solche Fragen seien irrig. Dabei hängen nicht nur die langfristigen Ziele progressiver Bewegungen, sondern auch deren Kritik an der bestehenden Gesellschaft und ihre praktischen politischen Entscheidungen davon ab, welche ethischen Positionen die Beteiligten in einem breiten Spektrum an Fragestellungen beziehen. Wie Marx selbst einräumte, unterliegen unsere ethischen Anschauungen einer gesellschaftlichen Prägung, die sich mit der Zeit verändert, weil sie von einem veränderlichen gesellschaftlichen Umfeld beeinflusst wird. Als eine Konsequenz können ethische Ansprüche niemals als in Stein gemeißelt, als so festgefügt gelten, dass sie gegen jedwede Anfechtung gefeit sind. Trotzdem behaupte ich, dass es durchaus möglich ist, eine kritische politische Ökonomie – stets provisorisch – mit einem gerechtfertigten ethischen Fundament zu untermauern, solange dieses für eine bestimmte Art der Debatte offen ist. Wie an anderer Stelle ausführlicher dargelegt, können und sollten wir unsere Ethik auf die Art Übereinkunft stützen, die sich in einem Prozess absichern lässt, den Habermas als Diskursethik bezeichnet hat.23 Laut Habermas müssen moralische Überlegungen aus einem diskursiven Prozess hervorgehen, in den sich alle Betroffenen einbringen können. Um echte Übereinkunft zu erzielen, erfordert er Aufrichtigkeit vonseiten der Teilnehmenden, aber auch die Möglichkeit, dass sämtliche Betroffenen an ihm ungehindert teilhaben können und ihre Meinungen unabhängig von einer unterschiedlichen Machtverteilung mit gleichem Gewicht und Respekt Berücksichtigung finden. Wie Habermas es fasst: »In Argumentationen müssen die Teilnehmer pragmatisch voraussetzen, dass im Prinzip alle Betroffenen als Freie und Gleiche an einer kooperativen Wahrheitssuche teilnehmen, bei der einzig der Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommen darf.«24 Auch wenn solche Verhältnisse in Reinform wohl nie zu erreichen sind, liefert uns Habermas durchaus einige Maßstäbe, anhand derer sich reale Prozesse der moralischen Debatte bewerten lassen. Insofern 23 Für das Folgende und zu den nächsten beiden Unterkapiteln siehe vor allem Elder-
Vass, Realist Critique Without Ethical Naturalism or Moral Realism. 24 Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 61.
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diese 1.) aufrichtig und ehrlich geführt werden; 2.) allen betroffenen Parteien oder zumindest deren wahren Vertreter_innen offenstehen und 3.) ausgeschlossen wird, dass unterschiedliche Machtverhältnisse zwischen Parteien zu verzerrten Ergebnissen führen,25 liefern sie uns eine vernünftige Grundlage, um die aus ihnen hervorgehenden oder zu überprüfenden Werturteile als solide zu erachten – und dies stets vorbehaltlich einer weiteren Überprüfung. Tatsächlich gibt es bereits Beispiele für einige langwährende internationale Prozesse ethischer Überlegungen und Debatten, insbesondere die um die verschiedenen UN -Initiativen zum Schutz von Rechten, die trotz zahlreicher Unzulänglichkeiten Habermas’ Standards nahezu erfüllten: insofern, als die Sichtweisen zumindest einiger Gruppen der weniger Mächtigen tatsächlich Gehör fanden.26 Als Minimum wird der moralische Anspruch, dass wir jedem Menschen Wert zubilligen müssen, im Ergebnis weithin akzeptiert. Mit anderen Worten: Dieser Anspruch erfüllt in einem pragmatischen Sinn die Erfordernisse von Habermas’ Diskursethik.27 Wenn wir überdies das Argument, dass wir allen Menschen Wert zubilligen müssen, als diskursiv abgesichert ansetzen können, ermöglicht es uns diese Prämisse, weitere ethische Argumente zu errichten – zum Beispiel das plausible, dass alle Menschen objektive Grundbedürfnisse wie die nach Nahrung, Wasser, Kleidung und Obdach haben, ohne die sie nicht überleben könnten, und die sich daraus ableitende ethische Verpflichtung, deren Befriedigung zu unterstützen.28 Eine 25 Ders., Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, S. 44f. 26 Elder-Vass, Realist Critique without Ethical Naturalism or Moral Realism, S. 52f.
Die größten Mängel in der Haltung der Vereinten Nationen zu den Menschenrechten, so die Vernachlässigung der LGBT-Rechte, bestehen im Versäumnis, den Prozess in ausreichendem Maß für gesellschaftlich Marginalisierte zu öffnen. Sie sind nach wie vor Gegenstand anhaltender Debatten. Siehe hierzu Morgan, Ought and Is and the Philosophy of Global Concerns, sowie Woodiwiss, Making Human Rights Work Globally. 27 Bleibt wohl hervorzuheben, dass ich diesen Wert urteilend nicht einfach wegen seiner weitverbreiteten Akzeptanz als rational begründet erachte, sondern weil wir vernünftigerweise argumentieren können, dass seine Absicherung im praktisch möglichen Maß die Anforderungen des Diskursprinzips erfüllt hat. 28 Assiter / Noonan, Human Needs: A Realist Perspective.
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noch größere Ausweitung dieses Grundsatzes, allen Menschen Wert zuzubilligen, verkörpert der von Amartya Sen und Martha Nussbaum entwickelte Befähigungsansatz.29 Dieser befasst sich mit dem Notwendigen, um Menschen mit »dem reinen Minimum dessen« auszustatten, »was der Respekt vor der menschlichen Würde erfordert«. Demzufolge müssen wie sie mit einer Anzahl »menschlicher Grundbefähigungen«, wie die zum Leben, zur Gesundheit, zur körperlichen Unversehrtheit, zum Gebrauch der Sinne, zur Vorstellungskraft und zur Gefühlserfahrung, versorgen.30 Nussbaum versucht nicht, diese Sichtweise im vorgetragenen Monolog durchzusetzen, sondern hat im Gegenteil »Jahre mit einer interkulturellen Diskussion«, insbesondere mit Frauengruppen zugebracht,31 die sich mit den Bedürfnissen von Armen und Einflusslosen in schwach entwickelten Ländern befassten. Auf die Art wurde ihr Ansatz zu einem Prozess umgestaltet, der eine auffällige Ähnlichkeit mit den Erfordernissen von Habermas’ Diskursethik zeigt.32 Prozesse wie diese können uns etwas vermitteln, das in der marxistischen Tradition nach wie vor fehlt:33 »eine vollausgearbeitete ethische Kritik und Alternative«,34 die auf einer kohärenten Herangehensweise an die Ethik errichtet sind. Wir können kein Plädoyer für Alternativen zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem aufbauen, ohne dass wir über eine ethische Grundlage für Kritik am heute Bestehenden verfügen. Aber auch wenn diesem ethischen Fundament zentrale Bedeutung zukommt, reicht es für den Aufbau einer politischen Ökonomie allein noch nicht aus. Eine solche muss auch ein wissenschaftliches Element enthalten.
Siehe Gasper, The Ethics of Development, Kapitel 7. Nussbaum, Women and Human Development, S. 5, S. 78ff. Ebenda, S. 76. Ebenda, S. 104. Wenn man von einigen Bemühungen absieht, aus Marx’ Werk ethische Argumente zu extrahieren. Siehe hierzu insbesondere DeMartino, Realizing Class Justice. 34 Harvey / Geras, Marx’s Economy and Beyond, S. 61. 29 30 31 32 33
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Produktionsweisen Das Konzept der Produktionsweisen spielt eine zentrale Rolle in Marx’ Bemühungen, eine wissenschaftliche Darstellung von ökonomischen Systemen zu liefern, und wurde anscheinend eine Zeitlang auch ziemlich unumstritten akzeptiert. So bildet beispielsweise die Ansicht, dass der Kapitalismus den Feudalismus als vorherrschende Produktionsweise in Europa abgelöst habe, eine ständig wiederkehrende Anschauung in soziologischen Darstellungen der Neuzeit. Und auch die Vorstellung, dass gesellschaftlicher Fortschritt darin bestehe, den Kapitalismus zu überwinden, ist nach wie vor ein Grundbestandteil im theoretischen Fundament radikaler Politik. Aber wie dieses Unterkapitel zeigen wird, erweist sich dieses Konzept als hochproblematisch, sobald wir uns mit ihm eingehender auseinandersetzen. Die klassische Quelle dieses Marx’schen Konzepts ist das Vorwort der Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859, in dem Marx in einem langen Abschnitt seine Geschichtstheorie umreißt. Nach Einführung der »Produktionsverhältnisse« und »Produktivkräfte« heißt es da: »Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt.«35 Und etwas weiter unten: »In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden.«36 Schon in diesen ersten beiden Verweisen ist im genannten Begriff eine gewisse Mehrdeutigkeit auszumachen. Im ersten bezeichnet »Produktionsweise« offenbar ziemlich allgemein die Art, wie Produktion stattfindet.37 Im zweiten
35 Marx / Engels, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, S. 8f. [Hervorhe-
bung durch den Verfasser]. 36 Ebenda, S. 9 [Hervorhebung durch den Verfasser]. 37 Vgl. Althusser u. a., Das Kapital lesen, S. 456; Cohen, Karl Marx’s Theory of His-
tory, S. 79.
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wird sie mit bestimmten wirtschaftlichen Strukturen gleichgesetzt, die aufeinanderfolgende Stadien in der Weiterentwicklung der Gesellschaft definieren. Insgesamt herrschte in der marxistischen Tradition der letztgenannte Gebrauch vor. So setzt zum Beispiel Étienne Balibar Produktionsweisen mit Stadien der Wirtschaftsstruktur gleich, auch wenn er einräumt, dass Weise etwas mit Methode zu tun habe. Demnach lasse sich »die Geschichte der Gesellschaft […] derart auf eine diskontinuierliche Abfolge von Produktionsweisen zurückführen«.38 Ähnlich spricht Althusser in einer Formulierung, die nur dann Sinn ergibt, wenn Produktionsweisen die Gesellschaften beherrschen, von unterschiedlichen Produktionsweisen, die wiederum einen unterschiedlichen »Gesellschaftseffekt« hervorbringen«.39 Obwohl häufig eingeräumt wurde, dass bestimmte Gesellschaften vielfältige Produktionsweisen beinhalten könnten, behandelten die meisten Marxist_innen diese Problematik als Marginalie. Wie Hodgson es fasst: »Auch wenn Marx in Das Kapital bei der Analyse des kapitalistischen Systems anerkannte, dass in diesem System auch nichtkapitalistische Elemente real existierten, blendete er sie vollständig aus – und nicht einfach wegen einer einführenden vereinfachenden Annahme. Sie wurden von Anfang an weggedacht und sollten in keinem späteren Stadium der Analyse jemals wieder einbezogen werden.«40 In neuerer Zeit untersuchten Althusser und Balibar in ihrem Werk die Beziehung zwischen den ökonomischen Widersprüchen des Kapitalismus und denen im Überbau, übergingen aber weitgehend das Problem, welche Beziehung zwischen verschiedenen Wirtschaftsformen bestehen, und behandelten diese lediglich als ein Kennzeichen der Übergangszeiten zwischen Epochen, wenn eine Produktionsweise die nächste ablöst. Balibar behandelt zwar den hypothetischen Fall von »Produktionsweisen«, die wie die Warenproduktion durch einzelne/Individuen »niemals in unabhängiger Form existiert haben«, aller-
38 Althusser u. a., Das Kapital lesen, S. 447. 39 Ebenda, S. 97. 40 Hodgson, Economics and Utopia, S. 124.
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dings ohne dabei zu berücksichtigen, wie sie in einer Kombination mit anderen Produktionsweisen in der Praxis auftreten könnten.41 Marxistische Denker_innen althusserischer Prägung vertraten zuweilen den Standpunkt, dass es innerhalb der Gesellschaftsformation, wie sie sie nennen,42 vielfältige Produktionsweisen geben könne, wobei diese aber eher in einer Beziehung von Dominanz und Subordination stünden. So postuliert beispielsweise John Harrison eine »Haushaltsproduktionsweise«43 und vertritt den Standpunkt, »dass es innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsformation untergeordnete, von der vorherrschenden geschiedene, konstitutive Produktionsweisen geben könne«, die Überbleibsel vergangener, erste Ansätze zu künftigen oder abhängige Produktionsweisen sein könnten, »entstanden oder zweckentfremdet durch die vorherrschende Produktionsweise, um bestimmte Funktionen zu erfüllen«.44 Molyneux kritisiert Harrison wegen eines Arguments, das mit Balibars und traditionelleren Konzeptionen der Produktionsweise inkonsistent sei, da die Haushaltsproduktionsweise »niemals« auf die Gesamtwirtschaft »verallgemeinert werden« könne.45 Wie hier ziemlich deutlich wird, gehen die meisten Marxist_innen von der Vorstellung aus, dass die Produktionsweise als eine einzige vorherrschende Form der gesellschaftlichen Verhältnisse gelten müsse, die jedwede wirtschaftliche Praktik innerhalb der betreffenden Gesellschaftsformation entweder konstituiert oder dominiert. Aus einer etwas anderen marxistischen Tradition heraus verwendet G. A. Cohen den Begriff Produktionsweise anders und gebraucht stattdessen den Begriff Sozialformen in einer Bedeutung ganz ähnlich der, in welcher die genannten anderen Denker Produktionsweise verwenden. Für Cohen sind Kapitalismus, Feudalismus und dergleichen Sozialformen ökonomischer Strukturen, und wenngleich er einräumt, dass innerhalb einer ökonomischen Struktur verschiedene gesell-
41 42 43 44 45
Althusser u. a., Das Kapital lesen, S. 465. Hindess / Hirst, Mode of Production and Social Formation, S. 46f. Harrison, The Political Economy of Housework. Molyneux, Beyond the Domestic Labour Debate, S. 8. Ebenda, S. 17.
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schaftliche Verhältnisse koexistieren können, unterstellt er Marx die Annahme, dass »das Produktionsverhältnis, das unmittelbare Produzenten aneinander bindet, quer durch eine einzelne Gesellschaftsformation weitgehend invariant sein wird«.46 Dabei räumt er durchaus ein, dass in einer bestimmten Gesellschaftsformation wahrscheinlich stets eine gewisse Mischung aus Produktionsverhältnissen aufträten, spielt diese Möglichkeit aber sogleich herunter: »In realen und stabilen Strukturen herrscht eine Art des Produktionsverhältnisses vor, die unmittelbare Produzenten aneinander bindet.«47 Diese Behandlung von Produktionsweisen als Wirtschaftsformen, die eine Gesellschaft beherrschten, während andere dem Wesen nach marginal seien, erweist sich im Lichte des vorigen Kapitels dieses Buches als eindeutig problematisch. Wie Andrew Sayer argumentiert, »liegen in realen Gesellschaften mehrere verschiedene Organisationsformen kombiniert vor«.48 Die Koexistenz von Wirtschaftsformen ist kein rein vorübergehendes Phänomen, sondern ein dauerhaftes Kennzeichen sämtlicher komplexer Volkswirtschaften, und sogar in unserer gegenwärtigen Gesellschaft ist die kapitalistische Wirtschaftstätigkeit in der Minderheit. Daher müssen wir den Raum, der gegenwärtig von einem hauptsächlich monolithischen Konzept der Produktionsweise besetzt wird, auf theoretischer Ebene neu ausfüllen. Die bedeutendsten Versuche von Marxist_innen, mit dem Problem der Koexistenz mehrerer Produktionsweisen fertigzuwerden, finden sich wohl in der Literatur zur Entwicklungstheorie. Mit Blick auf die von ihnen wahrgenommenen Übergänge zum Kapitalismus mussten sich die Entwicklungstheoretiker_innen mit der Frage auseinandersetzen, wie der Kapitalismus vorübergehend mit früheren Formen koexistiert hat. So nutzte zum Beispiel Pierre-Philippe Rey den Begriff Artikulation von Produktionsweisen49 zur Bezeichnung einer 46 Cohen, Karl Marx’s Theory of History, S. 77f. 47 Ebenda. 48 Siehe ebenso Hodgson, Economics and Utopia, S. 147; Sayer, Radical Political Eco-
nomy, S. 182. 49 Der Begriff Artikulation stammt von Althusser und Balibar, auch wenn sie ihn nicht
zur Beschreibung der Beziehungen zwischen verschiedenen Produktionsweisen gebrauchten. Siehe Foster-Carter, The Modes of Production Controversy, S. 54.
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solchen Koexistenz und zu einer theoretischen Ausformulierung der Arten, auf die der Kapitalismus in seiner anfänglichen Entwicklung in einer beliebigen Wirtschaft von solchen älteren Formen abhängt.50 Argumente wie diese beinhalten offenbar eine dritte mögliche Definition für Produktionsweise: als eine Wirtschaftsform, die aber die Epoche, in der sie vorkommt, nicht unbedingt beherrschen muss. Dennoch behandeln manche Marxist_innen, die auf diesen Ansatz setzen, das gesamte Wirtschaftssystem weiterhin so, als sei es durch nur eine charakterisiert. Diese Sicht vertritt beispielsweise Erik Olin Wright, der das sich daraus ergebende Problem gleichwohl anerkennt: »Wenn man es mit einem Wirtschaftssystem zu tun hat, das kapitalistische Elemente mit verschiedenen Arten von nichtkapitalistischen Elementen kombiniert, was rechtfertigt es, das System insgesamt als ›Kapitalismus‹ zu bezeichnen?«51 Die Schwierigkeit erfordert offenbar eine Theorie, nach der die Wirtschaftsform in jeder beliebigen Gesellschaft aus mehreren Ebenen besteht,52 auch wenn dieser Gedanke bei Marxist_innen auf äußersten Widerwillen stößt. So argumentierten zum Beispiel Theoretiker von Weltsystemen wie André Gunder Frank und Immanuel Wallerstein, dass es »nur ein einziges ›Weltsystem‹ gibt; und dieses ist durch und durch kapitalistisch«.53 Unstimmigkeiten wie diese schlagen sich auch in Meinungsunterschieden über andere Aspekte des Konzepts der Produktionsweise nieder. Marx setzt in seiner Erörterung im Vorwort die Produktionsweise mit den »Produktionsverhältnissen« in einer Gesellschaft gleich, aber welcher Aspekt dieser Verhältnisse definiert die Produktionsweise? Mit Blick auf den Kapitalismus vertritt Cohen den Standpunkt, dass es zwei scheinbar verschiedene – in der Praxis aber gleichwertige – Aspekte gebe: Nach dem ersten Ansatz lässt sich Kapitalismus als Einsatz von Lohnarbeit betrachten, während er nach dem zweiten dadurch definiert ist, dass »Produktion der Kapitalakkumulation
50 Ebenda, S. 56–59. Ähnliche Argumente trugen auch Theoretiker der Regulations-
schule, z. B. Aglietta, vor. Siehe hierzu Kapitel 5. 51 Wright, Reale Utopien, S. 81, Fn. 5. 52 Foster-Carter, The Modes of Production Controversy, S. 75. 53 Ebenda, S. 49.
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dient«.54 Cohen vertritt, dass beide Aspekte historisch verschmolzen seien,55 muss aber einräumen, dass es anders gelagerte Fälle gebe, wie die Plantagensklaverei in den Konföderierten Staaten vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg.56 Sich um das Problem mit der Behauptung herumzumogeln, dass beide Aspekte oft verschmolzen seien, hilft freilich nicht bei der Festlegung, ob dieser Fall, bei dem Kapitalakkumulation anstatt durch Lohn- durch Sklavenarbeit erfolgt, zurecht als kapitalistisch gelten kann oder nicht. Und es hilft auch in vielen weiteren Fällen nicht weiter, wie in dem des Staates, der Lohnarbeit einsetzt, um seinen Bürgern kostenlose Dienste bereitzustellen, was den gegenteiligen Fall darstellt: Lohnarbeit ohne Kapitalakkumulation. Als die wohl verbreitetste Antwort auf dieses Problem folgen Marxist_innen Cohens Weg mit der Annahme, dass wir die Diskrepanzen ignorieren und den Kapitalismus als die Kombination aus Lohnarbeit und Produktion zum Zweck der Kapitalakkumulation behandeln können. Diese Erwiderung unterminiert allerdings vollständig das Argument, wonach es in gegenwärtigen Gesellschaften oder im gegenwärtigen Weltsystem eine einzige Produktionsweise gebe, da (wie in Kapitel 2 dargelegt) überdeutlich ist, dass eine gewaltige Masse an Produktion aus dem Modell herausfällt. Das Argument, dass es nur eine einzige Produktionsweise gebe, ist nur dann aufrechtzuerhalten, wenn man die Definition von Kapitalismus beträchtlich lockert. Dazu wird sie gewöhnlich so erweitert, dass sie jede Tätigkeit einschließt, die in Kapitalakkumulation mündet. Eine Version dieses Ansatzes liefert David Harvey: »Die Kapitalisten […] übernehmen verschiedene Rollen. Finanzkapitalisten versuchen, zu mehr Geld zu kommen, indem sie anderen Geld gegen Zins verleihen. Handelskapitalisten kaufen billig ein und verkaufen teuer. Grundstückseigentümer beziehen Renten, weil der Grund und Boden, den sie besitzen, eine knappe Ressource ist. Rentiers verdienen Geld mit Lizenzgebühren und Rechten an geistigem Eigentum. Makler von Vermögenswerten 54 Cohen, Karl Marx’s Theory of History, S. 181. 55 Ebenda, S. 182. 56 Ebenda, S. 185.
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tauschen Titel (zum Beispiel auf Wertpapiere und Aktien), Schulden und Kontrakte (einschließlich Versicherungen) gegen Profit. Selbst der Staat kann wie ein Kapitalist agieren, wenn er zum Beispiel Steuereinnahmen dazu benutzt, mit Investitionen in die Infrastruktur das Wachstum anzuregen, und damit noch mehr Steuereinnahmen generiert.«57 Allerdings wischt Harvey all diese verschiedenen Arten des »Kapitalismus« rasch beiseite: »Aber seit Mitte des 18. Jahrhunderts ist das industrielle oder produktive Kapital zur vorherrschenden Form der Kapitalzirkulation geworden.«58 Und damit kehrt er zu einer Analyse des Kapitalismus in Form von Lohnarbeit zurück, die der Warenproduktion dient. Eine überlegtere und konsistentere Version des Arguments liefert Jairus Banaji, der kapitalistische Produktionsverhältnisse mit »Kapitalakkumulation« gleichsetzt und einräumt, dass damit kapitalistische Aktivitäten »auf Formen der Ausbeutung beruhen können, die typisch vorkapitalistisch sind«.59 So sei beispielsweise »neuzeitliche Plantagensklaverei sicherlich eine Form von Kapitalismus«60 gewesen – wie tatsächlich schon Marx geschlossen hatte.61 Demnach ist Lohnarbeit nur eine der möglichen »Formen von Ausbeutung« unter dem Kapitalismus. Ebenso erkennt Banaji an, dass Lohnarbeit auch außerhalb des Kapitalismus stattfinden kann.62 Es gibt folglich keinen zwingenden Grund, mit Banaji anzunehmen, dass Formen von Arbeit ohne Lohn, die zur Kapitalakkumulation beitragen, im Wesentlichen vorkapitalistisch seien. Wie wir in weiteren Kapiteln dieses Buchs noch sehen, kann auch unbezahlte Arbeit, die kostenlos zur Digitalwirtschaft beiträgt, diese Rolle erfüllen. Auch wenn der Industriekapitalismus aus Marx’ Zeit überwiegend auf Lohnarbeit basierte, hängt der Kapitalismus in seiner höchstentwickelten wie auch in seiner rückständigsten Formen
57 58 59 60 61 62
Harvey, Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, S. 45. Ebenda. Banaji, Theory as History, S. 9. Ebenda, S. 353, siehe ebenso ebenda, S. 10, S. 67ff. Ebenda, S. 67; Cohen, Karl Marx’s Theory of History, S. 185. Banaji, Theory as History, S. 54.
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keineswegs ausschließlich von Lohnarbeit ab und lässt sich auch nicht anhand von deren Rolle in ihm definieren. Kohärenter erscheint es da, den Kapitalismus wie Banaji als Streben nach Kapitalakkumulation unabhängig von den Mitteln zu definieren: als »Produktion um der Kapitalakkumulation willen«.63 Ein Vorzug dieser Definition besteht darin, dass wir mit ihr weiterhin die im vorigen Unterkapitel vorgebrachten Argumente gelten lassen können, nach denen sich der Kapitalismus durch eine Reihe systembedingter Tendenzen auszeichnet, die sich aus seinem rastlosen Antrieb zur Anhäufung von Kapital ergeben. Nichtsdestotrotz hat dieser Ansatz zur Definition des Kapitalismus mehrere Konsequenzen, welche die marxistische Konzeption einer Produktionsweise ernsthaft erschüttern und vielleicht sogar zum Einsturz bringen. Als die erste Konsequenz stehen uns keine gleichwertigen Wege zur Verfügung, um andere Produktionsweisen zu definieren. Welche Äquivalente zum »Streben nach Kapitalakkumulation« könnten den Feudalismus, die sklavenhalterische oder die asiatische Produktionsweise definieren, wie Marx sie versteht? Marx behandelt einen hypothetischen Fall, in dem ein Feudaladliger einen Lohnarbeiter beschäftigt, um Waren zu erzeugen. Für ihn ist dies keine kapitalistische Aktivität, weil dieser »Austausch nur für den Überfluß […] und […] nur im Interesse des Überflusses, der Luxuskonsumtion« und damit nicht für die Kapitalakkumulation stattfinde.64 Aber wir können schwerlich behaupten, dass Feudalismus durch das Streben nach Überfluss definiert gewesen sei oder dass ihn dies von anderen Produktionsweisen unterschieden hätte. Trotz dieses Beispiels erscheint Feudalismus bei Marx gewöhnlich als durch Leibeigenschaft65 und die sklavenhalterische Produktionsweise als durch Sklaverei definiert. Beide sind, wie Banaji sie nennt, Formen der Ausbeutung, die in der Tat mit dem Streben nach Kapitalakkumulation in Einklang stehen. Sobald wir anerkennen, dass sich Kapitalismus nicht durch Lohnarbeit definieren 63 Cohen, Karl Marx’s Theory of History, S. 181 [Hervorhebung im Original]. 64 Banaji, Theory as History, S. 93; Marx, Grundrisse, S. 373 [Hervorhebung im Origi-
nal]. 65 Banaji, Theory as History, S. 353.
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lässt und dass Produktionsweisen folglich nicht durch Formen von Arbeitsverhältnissen bestimmt sind, lässt sich Feudalismus nicht mehr durch Leibeigenschaft und die sklavenhalterische Produktionsweise nicht durch Sklaverei definieren. Oder falls sie doch so definiert werden, sind sie etwas anderes als Kapitalismus. Dann könnten wir es mit empirischen Fällen von Produktionsweisen zu tun haben, die gleichzeitig kapitalistisch und feudalistisch oder gleichzeitig kapitalistisch und sklavenhalterisch sind. Aber Banaji stellt in seinem Werk offenbar auch andere Aspekte nichtkapitalistischer Produktionsweisen infrage. Seiner Meinung nach war die asiatische Produktionsweise »eine Art Standardkategorie, der beste Reim, den sich Marx und Engels auf Gesellschaften machen konnten, in deren Geschichte sie kaum Einblick hatten«.66 Das Phänomen der Leibeigenschaft, das für die feudalistische Produktionsweise als entscheidend gilt, war in den sogenannten Feudalgesellschaften längst kein universelles67 und tauchte erst sechs oder sieben Jahrhunderte nach dem Untergang Roms auf, der in Europa angeblich das Ende der vorherigen Produktionsweise durch Sklavenarbeit markiert hatte.68 Auch wenden sich inzwischen Historiker gegen die Vorstellung, dass Sklaverei in der »antiken Wirtschaft« die universelle Produktionsform gewesen sei.69 Auch wenn Banaji darauf abzielt, ein differenzierteres Verständnis des Konzepts der Produktionsweisen zu entwickeln, anstatt dieses auszurangieren, kommt man um die Schlussfolgerung kaum herum, dass es zu grob vereinfacht, um die Wirtschaftsformen in weiten Teilen der Geschichte zu charakterisieren. Wenn Kapitalakkumulation durch Plantagensklaverei, Fabriklohnarbeit und den Verkauf von Werbefläche auf kostenlos abrufbaren Webseiten zu bewerkstelligen ist – um nur drei der zahlreichen Formen struktureller Arbeitsverhältnisse zu nennen, die ihr dienstbar gemacht werden –, müssen wir hinterfragen, ob Kapitalismus wirklich 66 67 68 69
Ebenda, S. 349. Ebenda, S. 92. Ebenda, S. 352. Ebenda, S. 351f.
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ein ganz adäquates Konzept ist, um sämtliche wichtigen Wirtschaftsformen theoretisch zu erfassen. Auf einer abstrakten Ebene können all diese Formen tatsächlich gemeinsame Merkmale aufweisen, nämlich diejenigen, die sich aus ihrem Charakter als Unternehmen ableiten, die auf Kapitalakkumulation abzielen. Auf einer konkreteren Ebene unterscheiden sie sich allerdings radikal. Und die Logik wie auch die Erfahrung deuten darauf hin, dass alle ganz unterschiedliche systembedingte Tendenzen entfalten. Vor diesem Hintergrund können wir die Dynamik des Kapitalismus nicht allgemein Kräften zuschreiben, die nur aus einer dieser Formen hervorgehen. Der Antrieb zur Akkumulation, der all diesen Formen als Kennzeichen gemein ist, befördert bei allen vielleicht auch einige gemeinsame Tendenzen. Aber ein Großteil von Marx’ Analyse, darunter seine Arbeitswerttheorie, beruht auf Lohnarbeit im Industriekapitalismus. In Gesellschaftsformationen, in denen nicht Lohnarbeit vorherrscht, müssen wir auch die Dynamiken berücksichtigen, die aus anderen Formen als aus Lohnarbeit hervorgehen, wenn wir ein wissenschaftliches Verständnis des Kapitalismus gewinnen sollen. Auch erfasst eine so erweiterte Definition des Kapitalismus noch nicht die ganze Vielfalt der gegenwärtigen Wirtschaftsformen, weil vielfältige existierende Produktionsformen nicht einmal in dem Sinn kapitalistisch sind, dass sie auf Kapitalakkumulation abzielen. Bäuerliche Subsistenzwirtschaft, häusliche Betreuung und Pflege, die Bereitstellung einer Gesundheitsversorgung durch den Staat (wo noch vorhanden) und Zusammenschlüsse von Eltern zur wechselseitigen Kinderbetreuung sind nur einige Beispiele, die nicht einmal ansatzweise als kapitalistisch gelten können. Aber sie lassen sich auch unter keine der anderen Produktionsweisen subsummieren, die für eine bestimmte Epoche bestimmend sind. Offenbar benötigen wir folglich Konzepte für mindestens drei Ebenen der Wirtschaftsform: 1.) für den Charakter der Gesamtwirtschaft oder des gesamten Weltsystems, das eindeutig kein rein kapitalistisches, sondern vielmehr eines ist, dass auch nichtkapitalistische Formen umfasst; 2.) für den Kapitalismus als eine ziemlich vielfältige Wirtschaftsform, die den Antrieb zur Kapitalakkumulation als Kernmerkmal hat; und 3.) für weiter unten angesiedelte (konkretere) For-
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men, ob kapitalistisch oder nicht, die sich durch bestimmte Organisationsformen des Produktivprozesses charakterisieren lassen (eben die von mir vorgeschlagenen, die sich mithilfe des Konzepts der Appropriationspraktiken theoretisch erfassen lassen). Das zweite Konzept kommt wohl dem Begriff der »Produktionsweise« im Marx’schen Sinne am nächsten. Aber wenn auf dieser Ebene Kapitalismus den einzigen Fall darstellt, ist fragwürdig, ob wir für solche Wirtschaftsformen überhaupt einen Oberbegriff benötigen.70 Auch wenn einiges dafür spricht, den Begriff Produktionsweise beizubehalten, um die Wirtschaftspraxis grob in Perioden zu unterteilen, ist dieses Konzept nicht ausreichend gut definiert, um in der Theorie irgendetwas Erheblicheres abzustützen.
Die Arbeitswerttheorie Dieses Buch entwickelt einen theoretischen Rahmen, innerhalb dessen sich die Appropriation der Vorteile aus Wirtschaftstätigkeit verstehen und bewerten lässt, und wendet sich somit konkurrierend gegen entsprechende Konzeptionen in den existierenden Traditionen der politischen Ökonomie. Die marxistische basiert auf Marx’ Theorie des Arbeitswertes und der Ausbeutung. In diesem Unterkapitel geht es darum, kurz diese Arbeitswerttheorie kritisch zu erläutern und die ethische Struktur der zugehörigen Theorie der Ausbeutung zu kritisieren. Marx’ Theorie hat bereits (von marxistischer und nichtmarxistischer Seite) eine gewaltige Masse an kritischen Veröffentlichungen nach sich gezogen, deren Thematiken ich in einem Großteil meiner Argumentation aufgreife. Allerdings besteht mein Anliegen hier nicht darin, mich auf obskure Debatten zu den Feinheiten von Marx’ Argumentation einzulassen. Vielmehr möchte ich die Bedenken erläutern, die mich zur Überzeugung brachten, dass wir eine oder mehrere alternative Theorien der Appropriation benötigen.71 70 Wenn Äpfel die einzige Art Obst wären, bräuchten wir dann ein Wort für Obst? 71 Ich verwende den Begriff Appropriation in seinem laienhaften Sinn als etwas in
den Besitz bekommen, ungefähr entsprechend dem der Verteilung: Wie eine Vertei-
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Marx hat die endgültige Formulierung seiner Arbeitswerttheorie im ersten Kapitel des ersten Bandes von Das Kapital niedergelegt,72 in dem er zunächst die Ware als einen zum Verkauf auf dem Markt produzierten Artikel erörtert. Jede Ware, so seine Argumentation, sei durch zwei entscheidende Faktoren gekennzeichnet, die er als den »Gebrauchswert« und den »Tauschwert« (gewöhnlich nur »Wert«) bezeichnet. Der Gebrauchswert einer Ware definiert sich schlicht über ihre Nützlichkeit für uns, die sich daraus ergibt, wie wir sie dank ihrer physischen Eigenschaften gebrauchen können. Während sich die jeweiligen Gebrauchswerte verschiedener Waren desselben Typs – so die Länge zwei verschiedener Bahnen Leinen – quantitativ vergleichen lassen, sind die Gebrauchswerte verschiedener Arten von Waren qualitativ verschieden und dadurch quantitativ inkommensurabel. Dennoch können Waren verschiedener Art gegeneinander eingetauscht werden. Dabei wird eine Wertgleichung aufgestellt: So gelten beispielsweise X Scheffel Getreide als gleichwertig mit Y Kilo Eisen. Es gibt folglich eine Möglichkeit, ihre Werte im Tausch quantitativ miteinander zu vergleichen, auch wenn dies bei ihren Gebrauchswerten nicht der Fall ist. Deswegen, so Marx, seien »die Tauschwerte der Waren zu reduzieren auf ein Gemeinsames, wovon sie ein Mehr oder Minder darstellen«.73 Die einzige gemeinsame Eigenschaft aller Waren besteht nach Marx darin, dass sie »Arbeitsprodukte« sind.74 Marx erkennt freilich, dass sie Produkte verschiedener Art von Arbeit sind. Um sie quantitativ vergleichbar zu machen, müssten wir von ihrem Unterschied abstrahieren und sie mit Blick auf die Menge der in ihr
lungstheorie befasst sich eine Appropriationstheorie damit, wem die Nutzen aus einem Prozess zugutekommen – im Gegensatz zu Ellermans Gebrauch von Appropriation im Sinn von neue Eigentumsrechte schaffen. Siehe Ellerman, Myth and Metaphor in Orthodox Economics. Ellermans Gebrauch des Begriffs mag zumindest mit einigen von Marx’ Verwendungen übereinstimmen, ist heute aber veraltet. 72 Marx, Das Kapital, Bd. 1. 73 Ebenda, S. 51. 74 Ebenda, S. 52. Dabei übergeht Marx freilich mehrere andere plausible Gemeinsamkeiten. Siehe Cutler u. a., Marx’s Capital and Capitalism Today, S. 58.
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enthaltenen »abstrakt menschliche[n] Arbeit« vergleichen.75 Er fährt fort: »Ein Gebrauchswert oder Gut hat also nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist. Wie nun die Größe seines Werts messen? Durch das Quantum der in ihm enthaltenen ›wertbildenden Substanz‹, der Arbeit. Die Quantität der Arbeit selbst mißt sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw.«76 Marx schränkt dieses Argument ein, indem er erstens einräumt, dass das Produkt eines trägen oder leistungsschwachen Arbeiters, der zur Herstellung einer gleichwertigen Ware doppelt so viel Zeit braucht wie ein durchschnittlicher, deswegen nicht doppelt so viel wert ist. Den Wert bestimmt nicht die in einem Produkt tatsächlich verkörperte Arbeitszeit, sondern »die zur Herstellung eines Gebrauchswerts gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit«.77 Und zweitens räumt er ein, dass qualifizierte Arbeit einen höheren Wert als unqualifizierte schaffen kann. Deshalb müsse bei der Berechnung des Wertes die erstgenannte mit einem Vielfachen des letztgenannten gleichgesetzt werden.78 Mit diesen Einschränkungen kann Marx behaupten, dass der Wert einer 75 Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 52. Die gesamte Theorie hängt davon ab, dass so von be-
stimmten Arten von Arbeit abstrahiert wird. Andernfalls wären wie die Gebrauchswerte auch die verschiedenen Arten von Arbeit qualitativ verschieden und damit inkommensurabel. Marx bleibt allerdings eine Erklärung schuldig, warum es zulässig ist, von den qualitativen Unterschieden zwischen verschiedenen Arten Arbeit zu abstrahieren, wenn es nach seiner Argumentation unzulässig ist, von den qualitativen Unterschieden verschiedener Arten von Gebrauchswerten zu abstrahieren. Siehe Cutler u. a., Marx’s Capital and Capitalism Today, S. 58; Harvey / Geras, Marx’s Economy and Beyond, S. 37f. 76 Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 53. 77 Ebenda, S. 54. 78 Nach Böhm von Bawerk nutzt Marx diese Berichtigung, um anhand der verschiedenen Lohnsätze unterschiedlicher Arten von Arbeit deren relative Beiträge zur Wertschöpfung zu bestimmen (siehe Marx, Das Kapital, Bd. 3, S. 204f.). Damit bestimmt er freilich anhand von Tauschverhältnissen den Wert, obwohl seine Theorie doch den Anspruch erhebt, anhand des Wertes Tauschverhältnisse zu bestimmen. Siehe Conway, A Farewell to Marx, S. 88f.; Cutler u. a., Marx’s Capital and Capitalism Today, S. 63.
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Ware durch die enthaltene Menge an gesellschaftlich notweniger, abstrakter Arbeitskraft bestimmt wird. Die groben Umrisse seiner Arbeitswerttheorie hat Marx aus einer früheren Tradition der politischen Ökonomie ererbt, insbesondere der des englischen Ökonomen David Ricardo.79 Als bedeutende Neuerungen wandte er diese allerdings direkt auf den Wert der Arbeitskraft an.80 Laut seiner Argumentation bestimmt sich der Wert der Arbeitskraft in gleicher Weise, wie der Wert einer Ware durch die Menge an Arbeitskraft bestimmt wird, die für ihre Erzeugung gebraucht wurde, durch die Menge an Arbeit, die für ihre Reproduktion aufgewendet werden muss. Mit anderen Worten: Die Arbeitskraft ist so viel wert, wie Arbeitskraft erforderlich ist, um die Waren zu erzeugen, die für den langfristigen Unterhalt der jeweiligen Arbeiter_innen gebraucht wird (einschließlich der Kosten zum Heranziehen neuer Arbeiter_innen, die in deren Familie hineingeboren werden).81 Diese Kosten waren wiederum durch gesellschaftliche Normen bedingt und ließen sich an dem normalen Lohn bemessen, den der Arbeiter oder die Arbeiterin erhielt.82 Dies eröffnete Marx wiederum einen Weg, um den Profit des Kapitalisten zu erklären, der die Arbeiter_innen zur Herstellung der Ware beschäftigte: Insofern er die Beschäftigten länger arbeiten ließ, als für ihre Lohnzahlung notwendig war, war der Wert der von ihnen produzierten Ware größer als der ihrer Arbeitskraft. Auf die Art wurde im Produktionsprozess Mehrwert geschaffen: Der Gesamtwert stieg, wobei sich der Kapitalist diesen Mehrwert (typischerweise) als den Profit aneignete. Dies gab Marx eine Berechnungsweise dazu an die Hand, wie sich nicht nur die Vergütung der produktiven Arbei-
79 80 81 82
McLellan, The Thought of Karl Marx, S. 39, S. 89. Ebenda, S. 91f. Marx, Das Kapital, Bd. 1, 184f., S. 223. Ebenda, S. 185. Wie Leahy hervorhebt, werden Reallöhne tatsächlich durch ein breites Spektrum an Faktoren bestimmt und haben kaum Bezug zu der Arbeitszeit, die benötigt wird, um Arbeitskraft zu reproduzieren. Siehe Leahy, Considering Exploitation, Surplus Distribution and Community Economies in the Work of Gibson-Graham, S. 4. Wieder fällt Marx’ Theorie auf tatsächliche Kosten – diesmal Lohnsätze – zurück, um den Wert von Arbeit zu bestimmen, und unterminiert sich somit selbst.
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ter_innen, sondern auch der Ertrag des kapitalistischen Unternehmers bestimmte. Und beide Rechnungen basierten auf derselben Werttheorie, welche die Verhältnisse erklärte, zu denen unterschiedliche Waren gegeneinander eingetauscht wurden. Und schließlich bezog Marx aus diesem Denkansatz auch sein Konzept der Ausbeutung. Von mehreren komplexen Verhältnissen abstrahierend, definierte der die »Exploitation« in dem Sinn, dass die Arbeiterschaft immer dann ausgebeutet wird, wenn sie mit weniger als mit dem durch ihre Arbeit erzeugten Wert entlohnt wird, sogar dann, wenn ihre Entlohnung dem Wert ihrer Arbeitskraft entspricht.83 Marx stellt diese Festlegung als eine rein sachbezogene Definition der Ausbeutung dar und unterstellt damit, dass sie keinerlei ethische Wertung beinhaltet. Marx’ Werttheorie ist allerdings höchst problematisch. Betrachten wir zunächst eine Anzahl von Problemen, die ihren Status als wissenschaftliche oder erklärende Theorie betreffen. Als erstes Problem ist gar nicht klar, was diese Theorie überhaupt beschreibt. Man könnte erwarten, dass eine Theorie des Tauschwertes darauf abzielt und Anspruch darauf erhebt, die Preise zu erklären, die beim Warentausch erzielt werden. Allerdings betrachtete Marx im Anschluss an Adam Smith den Tauschwert nicht als den realen Preis der Ware oder gar als das Tauschverhältnis, zu dem diese in der Realität gegen eine andere Ware eingetauscht werden kann.84 Aber wenn Wert nicht gleich Preis ist, was ist er dann? Auch wenn sich bei Marx dazu keine Erklärung findet, gilt in der früheren Tradition der politischen Ökonomie, an der er sich bedient, Wert als das normale Niveau, um das herum der Preis einer Ware schwankt, und gleichsam als derjenige Preis, zu dem sie eingetauscht werden müsste.85 Marx schließt offenbar kurzzeitige Preisschwankungen aus dem Wertbegriff aus und verwendet im dritten Band von Das Kapital große Mühe auf eine Erklärung, wie die Angleichung von Profitraten quer durch verschiedene Industriezweige 83 Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 226f. 84 Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, S. 311. 85 Harvey / Geras, Marx’s Economy and Beyond, S. 6; Martins, The Cambridge Revi-
val of Political Economy, S. xiv.
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dazu führen kann, dass Preise regelmäßig vom Wert abweichen. Dabei macht er allerdings niemals deutlich, welche genaue Beziehung zwischen Wert und Preis herrscht.86 Da die Beziehung zwischen diesen beiden stets im Unklaren bleibt, ist die Theorie faktisch gegen jede Art eines empirischen Tests gefeit. Wenn wir den Wert einer Ware niemals exakt bestimmen können, können wir die Werttheorie zu dem, was diesen Wert bestimmt, auch niemals auf den Prüfstand stellen. Aber eben dieser Umstand macht die Werttheorie völlig nutzlos, wenn es um eine Erklärung der realen Vergütungen geht, die Arbeiter_innen und Kapitalist_innen aus den Erträgen der Produktion erhalten. Mit der Theorie lassen sich weder tatsächliche Preise noch tatsächliche Löhne voraussagen oder erklären, obwohl doch sie anstatt eines mysteriösen Wertbegriffs bestimmen, welche Vergütungen Arbeiter_innen und Kapitalist_innen erhalten. Eine Theorie, die Ausbeutung als den Unterschied zwischen zwei empirisch nicht überprüfbaren fiktiven Werten fasst, ist für die reale Welt ohne jedwede Relevanz.87 Wie einst Eugen Böhm von Bawerk darlegte, muss die Werttheorie, um nützlich zu sein, »die im Kapitalismus tatsächlich geltenden Tauschbeziehungen berücksichtigen«.88 Anders würde es sich verhalten, wenn man argumentieren könnte, dass Wert eine zugrunde liegende Kraft sei, die, obzwar vom Preis geschieden, einen bestimmenden und entscheidenden Effekt auf Preise ausübt. Aber bislang wurde noch kein erklärender Mechanismus präsentiert, der eine solche Behauptung rechtfertigen könnte. Als ein zweites Problem beruht die Arbeitstheorie auf einer völlig unplausiblen Ontologie des Wertes: Die Arbeitszeit soll den Tauschwert beeinflussen können, weil in jeder Ware »abstrakt menschliche 86 Mirowski, More Heat than Light, S. 179f. 87 Marx’ makroökonomische Theorien bleiben von diesem Problem allerdings mög-
licherweise unberührt, weil er Werte, die auf die gesamte Volkswirtschaft berechnet werden, als deckungsgleich mit der Gesamtheit der Preise ansetzt und den Mehrwert insgesamt als deckungsgleich mit der Gesamtheit der Profite ansieht. Insofern irrt Conway mit seiner Auffassung, dass das Scheitern der Arbeitswerttheorie Marx’ Wirtschaftstheorie insgesamt disqualifiziere. Siehe Conway, A Farewell to Marx, S. 82, S. 85. 88 Cutler u. a., Marx’s Capital and Capitalism Today, S. 53.
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Arbeit […] vergegenständlicht oder materialisiert« sei.89 Wie Marx stets wiederholt, werde Arbeit nicht nur zur Herstellung der Ware eingesetzt, sondern seien in der Ware auch »Arbeitsquanta enthalten«,90 ein weiterer Gedanke, den er Ricardo entlehnt hat.91 Zahlreiche heutige Marxist_innen beharren nach wie vor darauf, dass Arbeit in den durch sie erzeugten Waren irgendwie als Substanz (vielleicht sogar als eine »immaterielle«)92 enthalten sei und somit in diesen eine objektive Grundlage für ihren Tauschwert liefere.93 Mit dieser Idee soll das Problem gelöst werden, dass der Preis klar zum Zeitpunkt des Tausches bestimmt wird, obwohl eine Arbeitswerttheorie verlangt, dass sich der Wert anstatt aus dem Tauschvorgang aus dem Produktionsprozess ergibt – ein weiterer Grundgedanke des etablierten Marxismus.94 Die Vorstellung, dass Arbeit in einem aus ihr hervorgehenden Objekt irgendwie verdinglicht sei, ist freilich bizarr. Arbeit ist ein Prozess und keine Substanz. Selbst wenn sie die Substanz eines Objekts umgestalten kann, bringt sie in dieses unmöglich irgendeine neue »Arbeitssubstanz« ein.95 Als ein Residuum aus Arbeit in einer Ware konzipiert, erweist sich »Wert« als ein reines Hirngespinst des Werttheoretikers. Verschärft wird das Problem durch die Einsicht, dass Marx nicht die konkrete, sondern die abstrakte Arbeit als wertbestimmend ansetzt.96 Wie Cutler u. a. hervorhoben, lässt sich eine Art Entsprechung zwischen unterschiedlichen Arten von Arbeit, die zur Herstellung verschiedener Waren beitrugen, erst zum Zeitpunkt ihres Tausches ausmachen.97 Damit kann abstrakte Arbeit keine Substanz sein, die Teil einer Ware ist. Sie ist vielmehr nur ein Maß, das sich aus den Preisen Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 53. Ebenda, S. 54. Arthur, The Spectral Ontology of Value, S. 217. Ehrbar, The Relation between Marxism and Critical Realism, S. 237. Z. B. ebenda; Engelskirchen, Why is this Labour Value?. Z. B. Harvey, Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, S. 107. Auch wenn in der sogenannten Wertformtheorie, einem neuen Trend im marxistischen Denken, eine ähnliche Argumentation wie meine auftaucht, versuchen manche ihrer Vertreter_innen die Arbeitswerttheorie in irgendeiner Form offenbar noch zu retten. Siehe Arthur, The Spectral Ontology of Value. 96 Elson, The Value Theory of Labour, S. 135–138, S. 159. 97 Cutler u. a., Marx’s Capital and Capitalism Today, S. 89. 89 90 91 92 93 94 95
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ableitet, zu denen Waren eingetauscht werden – und damit das genaue Gegenteil von dem, was Marx zu belegen versucht. Mirowski fasst diese Fragestellungen mit der Argumentation zusammen, dass Marx »gleichzeitig zugunsten zweier widersprüchlicher Versionen der Arbeitswerttheorie argumentiert«: der Substanztheorie und einer, nach der es möglich ist, dass die Summe der abstrakten Arbeit in einem Produkt und damit dessen Wert durch technologische und auf dem Markt herrschende Bedingungen zum Zeitpunkt des Warentauschs bestimmt wird.98 In seinen Schriften deutet einiges darauf hin, dass für Marx der Markt bei den Faktoren, die für seine Theorie relevant sind, eine Rolle spielt.99 Wäre er von der Substanztheorie des Wertes abgerückt, hätte er auf einen Weg verweisen können, wie die in die Ware eingehende Arbeit gleichwohl zu deren Preis beiträgt: Sie bildet ein Element (nur eines, aber zuweilen sehr bedeutendes) der Produktionskosten der Ware, die den Preis beeinflussen, den Kapitalist_innen und faktisch viele andere Gütererzeugende für ihre Produkte zu akzeptieren bereit sind. Selbst in der neoklassischen Theorie von Angebot und Nachfrage tendieren Preise dazu, sich auf einem Niveau einzupendeln, auf dem sie die Produktionskosten zuzüglich einer normalen Gewinnspanne abdecken.100 Ob wir diese Theorie akzeptieren oder nicht: Klar ist, dass Produktionskosten Preise beeinflussen, auch wenn diese wegen einer Vielfalt an Faktoren von ihnen erheblich abweichen können – z. B. durch Überangebot oder Verknappung, technischen Wandel, eine Monopolstellung von Anbieter_innen oder die Auswirkungen von Werbung auf die Wahrnehmung des Gebrauchswerts. Allerdings kann sich Marx aus zweierlei Gründen auf keine Variante dieses Modells berufen: Erstens geht das Modell von Preisen aus, die zum Zeitpunkt des Tausches festgesetzt werden, anstatt von Werten, die zum 98 Mirowski, More Heat than Light, S. 180f. 99 Cutler u. a., Marx’s Capital and Capitalism Today, S. 60, S. 86f., S. 91. 100 Mit dem Gedanken an eine solche Theorie spielte sogar Marx selbst im dritten
Band von Das Kapital, in dem er Produktionspreise erörterte (das sogenannte Transformationsproblem), allerdings ohne seine Überlegungen dazu selbst zu veröffentlichen, weil sie als Unterminierung seiner Arbeitswerttheorie gelesen werden können. Siehe Marx, Das Kapital, Bd. 3, Kapitel 9–10.
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Zeitpunkt der Produktion entstehen. Zweitens werden in ihm entgegen Marx’ streng monofaktorieller Werttheorie die Preise durch eine ganze Reihe von Faktoren bestimmt, von denen die eingebrachte Arbeit nur einer ist. Ein solches Modell zu akzeptieren, heißt die Arbeitswerttheorie aufzugeben. Aber Preise werden eben tatsächlich wie andere empirische Ereignisse durch ein Zusammenspiel vielfältiger Faktoren bestimmt. Und damit stellt das Bemühen, eine monokausale Arbeitswerttheorie aufrechtzuerhalten, vor allem einen – völlig unwissenschaftlichen – Versuch dar, eben dies zu leugnen.101 Keine monokausale Theorie des Preises taugt in irgendeiner Weise zur Erhellung, und keine Werttheorie, die nicht zugleich eine Theorie des Preises ist, kann uns zu einem Verständnis der tatsächlichen Nutzenallokationen verhelfen – so wenig wie ein geisterhaftes Konzept des Wertes, das angeblich hinter ihnen steht. Gleichwohl trennt sich jeder, der die marxistische Tradition ernst genommen hat, nur schwerlich von dem Gedanken, dass jeder Wert durch Arbeit geschöpft und für jeden vereinnahmten Profit irgendeine Arbeitskraft ausgebeutet werden muss. Diese Denkgewohnheit übernahmen häufig sogar diejenigen, welche die Arbeitswerttheorie ablehnen. Um aus ihr auszubrechen, muss die Linke in ihrem Diskurs eine echte Wende einleiten und anerkennen, dass erstens reale Preise und nicht imaginäre Werte bestimmen, wer im Warentausch was zugeteilt bekommt, und dass sich zweitens Profit nicht aus einem metaphysischen Anspruch ableitet, sondern schlicht ein weiteres empirisches Phänomen ist, das nach einer angemessenen kausalen Erklärung verlangt. Weitere Probleme ergeben sich daraus, wie Marx die Arbeitswerttheorie in seiner Darstellung zur Ausbeutung einsetzt.102 Laut seiner Argumentation verbringen Arbeiter_innen einen Teil ihres Arbeitstages damit, den für ihren Unterhalt notwendigen Wert zu erzeugen – 101 Cutler u. a., Marx’s Capital and Capitalism Today, S. 19; Fleetwood, What Kind of
Theory is Marx’s Labour Theory of Value?; Harvey / Geras, Marx’s Economy and Beyond, S. 7. 102 Auch darüber wurde in der Literatur bereits erheblich gestritten (z. B. Nielsen / Ware, Exploitation; Reeve, Modern Theories of Exploitation; Wolff, Marx and Exploitation.
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oder mit anderen Worten, um selbst für ihren Lohn aufzukommen –, während sie in der übrigen Zeit den Mehrwert schaffen, den sich der Kapitalist oder die Kapitalistin aneignet. Er definiert den »Exploitationsgrad« oder die Mehrwertrate als das Verhältnis zwischen Mehrarbeit und notwendiger Arbeit und betrachtet so jeden Mehrwert und damit jede für ihn aufgewendete Zeit als Ausbeutung.103 Auch wenn sich diese scheinbar rein deskriptive Definition als objektive Bestimmung einer Tatsache gibt, behandeln Marx wie auch seine Anhänger_innen diese Darstellung der Exploitation konsistent als Rechtfertigung für eine ethische Kritik am Kapitalismus: So bezeichnen sie den Mehrwert, den sich Kapitalist_innen aneignen, zum Beispiel als »Raub« oder »Diebstahl«.104 Mit anderen Worten: Das angeblich sachbezogene Konzept der Ausbeutung wird ohne explizite Rechtfertigung zum alltäglichen normativen Ausbeutungsbegriff umgemünzt. Ihre politische Stoßkraft bezieht diese Argumentation klar daraus, dass Ausbeutung in dem ethischen Sinn gedeutet wird, dass »andere ausbeuten unfairen Nutzen aus ihnen ziehen« heißt.105 Als ein Ergebnis betrachten Marxist_innen Ausbeutung in diesem sogenannten objektiven Sinn regelmäßig als verwerflich, obwohl Marx dies niemals durch explizite ethische Begriffe rechtfertigt.106 In einem gewissen Sinn basiert die gesamte marxistische Politik auf diesem grundlegenden Anspruch: Marxist_innen verfechten eine Gesellschaft, die durch Abschaffung des Kapitals und damit des Mehrwerts von Ausbeutung befreit ist. Als ein Grund dafür, warum sich die Arbeitswerttheorie so lange halten konnte, liefert sie für diesen Anspruch eine scheinbar objektive Begründung.107 Wenn alle Werte durch Arbeit geschöpft werden, so die offenkundige Annahme, haben Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 232f. Geras, The Controversy about Marx and Justice, S. 56. Wertheimer / Zwolinski, Exploitation. Im Versuch, den Marxismus auf eine explizit ethische Grundlage zu stellen, überführt DeMartino Marx’ Kritik der Ausbeutung in ein explizit ethisches Prinzip. Siehe DeMartino, Realizing Class Justice. Obwohl problembehaftet, ist dieser Versuch immerhin insofern zu begrüßen, als De Martino die Notwendigkeit erkennt, jede kritische Politik ethisch zu rechtfertigen. 107 Harvey / Geras, Marx’s Economy and Beyond, S. 9. 103 104 105 106
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folglich diejenigen, die diese Arbeit erledigen, Anrecht auf den gesamten geschöpften Wert. Und wenn ihre Entlohnung unter dem Wert des Produkts liegt, werden sie somit in einem ethischen und nicht nur sachbezogenen Wortsinn ausgebeutet. Dieses Argument fußt allerdings auf einer Reihe zweifelhafter Prämissen. Eine besagt, dass die wissenschaftliche Version der Arbeitswerttheorie die Wirklichkeit richtig abbildet und dass somit allein Arbeit Wert schafft und zu ihm beiträgt. Wie wir allerdings sahen, ist Wert eine imaginäre Quantität und das ihm am nächsten kommende Äquivalent, der Preis, eine kausale Folge zahlreicher Faktoren, von denen Lohnarbeit nur einer ist. Selbst wenn wir uns auf die Argumentation einlassen, dass nur diejenigen, die ursächlich zur Produktion einer Ware beitrugen, Anspruch auf einen Anteil am erzielten Erlös haben, müssten wir einräumen, dass zum Beispiel den Unternehmer_innen, die den Produktionsprozess organisieren und die für den Produktionsprozess genutzte Infrastruktur planen und unterhalten, ebenfalls einen Anteil an ihm zusteht. Eine weitere Prämisse besagt, dass Menschen immer dann, wenn sie am Prozess der Warenproduktion beteiligt sind, ein moralisches Anrecht darauf haben, anteilig zu ihrem Beitrag an ihm entlohnt zu werden.108 Doch auch diese Grundannahme hat Schwächen: So sind Produzent_innen moralisch verpflichtet, zu öffentlichen Gütern und zum Wohl Nichtproduzierender – wie Kinder und Alte – beizutragen, zum Beispiel durch Steuerzahlungen.109 Die Stärke von Marx’ Theorie der Ausbeutung besteht darin, dass sie die im Kapitalismus vorherrschenden Appropriationen der Nutzen aus der Produktion hinterfragt und damit erstmals die Notwendigkeit für eine politische Ökonomie deutlich gemacht hat, die solche Appropriationen bewertet. Tatsächlich muss jede kritische politische Ökonomie eine Grundlage bieten, um Appropriationen zu beurteilen, dabei aber in mehrfacher Hinsicht Marx überwinden. Marx reduziert
108 Ebenda, S. 10. 109 DeMartino, Realizing Class Justice, S. 9; Harvey / Geras, Marx’s Economy and Bey-
ond, S. 11. Zu mehreren ähnlichen Problemen, die in Gibson-Grahams Darstellung der Ausbeutung auftauchen, siehe Leahy, Considering Exploitation, Surplus Distribution and Community Economies in the Work of Gibson-Graham.
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Fragen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit auf die einzige Norm, dass Lohnabhängigen der gesamte Wert dessen zustehe, was sie erzeugen. Stattdessen müssen wir anerkennen, a) dass es immer vielerlei mögliche gerechtfertigte Ansprüche auf Anteile aus Produktionserträgen gibt; b), dass wir anstatt einer abstrakten, pseudoobjektiven allgemeinen Theorie explizite Erwägungen zu ethischen Standards benötigen, um diese Ansprüche zu beurteilen; und c), dass es viel mehr Verhältnisse als nur Warenproduktion durch Lohnarbeit gibt, die Fragen der Gerechtigkeit von Appropriationen aufwerfen. Damit stellen wir Urteile über Ausbeutung wieder in den Bereich zurück, in den sie hineingehören: in den der Ethik.
Schlussfolgerung Marx und seine Anhänger_innen hielten über eineinhalb Jahrhunderte hinweg die Möglichkeit aufrecht, eine kritische politische Ökonomie zu errichten, an der jede alternative politische Ökonomie unweigerlich gemessen werden wird. Aber die marxistische baut auf einer Reihe von Konzepten auf, die von jeher fragwürdig waren und heute hinderlich sind, um zu einem angemesseneren Verständnis unserer Wirtschaft und deren potenziellen Alternativen zu gelangen. Dieses Kapitel rückte nur drei Aspekte dieses Problems in den Fokus. Erstens betonten Marxist_innen entgegen orthodoxeren Betrachtungsweisen der Wirtschaft zu Recht, dass eine politische Ökonomie ein kritisches Unternehmen mit der Bereitschaft sein muss, wirtschaftliche Strukturen und politische Vorgehensweisen zu hinterfragen und zu beurteilen. Aber sie beharrten auch darauf, dass es für eine solche Beurteilung eine rein objektive, wissenschaftliche Grundlage gebe – ein analytischer Fehler und eine gefährliche Illusion. Angeblich objektive Grundlagen für Kritik beinhalten stets ethische Annahmen, die wir zum Vorschein bringen müssen, um nicht aufgrund dogmatischer Überzeugungen darüber, welche Ziele Politik verfolgen muss, einer Missachtung des Wohls von Menschen der Weg gebahnt wird. Stattdessen benötigen wir eine ethische Grundlage für Kritik, die offen diskutiert und reflektiert wird.
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Zweitens wurde das marxistische Verständnis der weiterreichenden Dynamiken der Geschichte maßgeblich vom Konzept der Produktionsweisen geprägt. Als gewaltigen Vorzug gegenüber der Mainstream-Ökonomie beinhaltet dies die Erkenntnis, dass es vielfältige mögliche Wirtschaftsformen gibt, die unter verschiedenen historischen Verhältnissen anzutreffen sind. Dennoch ist der Marxismus stark in der Gewohnheit verwurzelt, die gegenwärtige Welt als ein monolithisches universelles kapitalistisches System zu betrachten, wobei diese Sichtweise letztlich auf dem Modell des europäischen Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts beruht. An seine Stelle müssen wir ein Modell der Wirtschaftsform setzen, das die reale Vielfalt sämtlicher moderner Wirtschaftssysteme miteinbezieht. Ein solches wird in Kapitel 5 vorgeschlagen. Drittens zeigte die Theorie von Arbeitswert und Ausbeutung die Bedeutung auf, die einer bewertenden Theorie der Appropriation von Nutzen aus dem Produktionsprozess zukommt. Aber dem Grundmuster der marxistischen Kritik folgend, gründet sich ihre Argumentation auf unhinterfragte ethische Annahmen, die sich hinter einer Maske der Wissenschaftlichkeit verstecken. Um ihren ethischen Kern zu bewahren, verdinglicht die Theorie das Konzept des Wertes, ein imaginäres Konstrukt, das von jedweder empirischen Erwägung isoliert ist. Letztlich objektiviert Marx’ Konzept des Wertes ein moralisches Anliegen, das der Argumentation von Anfang an unterliegt, stellt den Wert aber als eine reale Eigenschaft der Waren dar, um ihm den Anschein wissenschaftlicher Fundierung zu geben. Stattdessen müssen wir anerkennen, dass es zur Bewertung der Appropriation von Nutzen aus der Produktion keine ethisch neutrale Grundlage gibt, und akzeptieren, dass diese Fragen offen mit ethischen Argumenten erörtert werden müssen. Diese Probleme sind für das marxistische Denken zu zentral, als dass sie sich in dieser Tradition politischer Ökonomie noch ausräumen ließen. Dennoch finden wir in ihr einige wiederverwertbare Elemente, die sich zum Aufbau einer alternativen politischen Ökonomie der Praktiken nutzen lassen.
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Die Mainstream-Ökonomie und ihre Rivalinnen
Einführung Wie die marxistische Tradition weist auch die Mainstream-Ökonomie Mängel auf, die zu tiefgreifend sind, als dass sie eine Grundlage für eine taugliche politische Ökonomie liefern könnte. Dennoch birgt sie wie die marxistische Tradition Elemente, die sich in einem veränderten Rahmen produktiv zum Aufbau einer alternativen politischen Ökonomie wiederverwerten lassen. Dieses Kapitel befasst sich mit der Mainstream-Ökonomie, aber auch mit anderen Strömungen, die alternative Gedanken zur Wirtschaft lieferten: mit heterodoxen wirtschaftswissenschaftlichen Traditionen, mit der ökonomischen Anthropologie nach Mauss sowie mit der Wirtschaftssoziologie. Obwohl in der Kapitelüberschrift als Rivalinnen bezeichnet, bietet keine eine voll ausgearbeitete Alternative zum Mainstream. Dennoch haben alle etwas sowohl zur Kritik an diesem als auch zum Verständnis unseres vielfältigen Wirtschaftslebens beizutragen. Wie die marxistische politische Ökonomie beinhalten alle behandelten Traditionen eine Vielzahl von Einzelaspekten, von denen einige in dieser knappen Darstellung der Einfachheit halber übergangen werden, weil dieses Kapitel nicht auf Vollständigkeit oder Ausgewogenheit, sondern vielmehr darauf abzielt, aufzuzeigen, warum die Schwachstellen und Defizite der bestehenden Ansätzen eine Alternative erfordern. Deshalb greift es nur einzelne Elemente heraus, die sich zur Herstellung einer neuartigen Synthese nutzen lassen. Auch wenn dieses Kapitel allgemein in diese einzelnen Traditionen und deren Stärken und Schwächen einführt, geht es hauptsächlich darum, sie mit Blick auf die umfassendere Thematik dieses Buches zu bewerten. Der Fokus liegt folglich allgemein auf Fragestellungen zur
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Wirtschaftsform, zur ökonomischen Vielfalt, zur Appropriation und zur Ethik. Erwogen werden zudem die Ontologie der Wirtschaft und ihre verzerrten Darstellungen in der vorherrschenden Tradition – als Vorspiel zu einer realitätsnäheren Ontologie der Wirtschaft, die den Rahmen zur Darstellung der Appropriationspraktiken bildet, die im nächsten Kapitel abgehandelt werden.
Die Mainstream-Ökonomie: der Kern der neoklassischen Theorie Den Kern der traditionellen Mainstream-Ökonomie bildet die neoklassische Wirtschaftstheorie.1 Obwohl viele und womöglich sogar die meisten akademischen Vertreter_innen des Mainstreams nicht mehr in allen Teilen der neoklassischen Theorie anhängen und dieser seinerseits anstatt von dem Einfluss der Neoklassik zunehmend von realitätsfernen Mathematisierungen geprägt wird,2 nimmt dieses Unterkapitel den Kern dieser Lehre und ihre offenkundige Unzulänglichkeit in den Blick, die Wirtschaft und die in ihr stattfindenden Appropriationen theoretisch zu erfassen. Gerechtfertigt wird dieses Vorgehen unter anderem damit, dass zahlreiche akademische Wirtschaftswissenschaftler_innen das entscheidende neoklassische Paradigma in ihren Forschungen zwar hinter sich gelassen haben, es aber weiterhin lehren. Dies schlägt sich darin nieder, dass es in den führenden Lehrbüchern der Disziplin noch immer vorherrschend und weitgehend unhinterfragt behandelt wird.3 Wie Keen schätzt, hängen rund 1 Ich gebraucht den Begriff neoklassisch in der konventionellen Bedeutung, um die
weiterhin gepflegte Tradition in den Wirtschaftswissenschaften zu bezeichnen, die auf theoretischer Ebene durch die Festlegung auf bestimmte Paradigmen definiert ist, die weiter hinten erörtert werden. Lawson vertrat den Standpunkt, dass der Begriff vielmehr in Anlehnung an Thorstein Veblen, der ihn geprägt hatte, definiert werden müsse (siehe Lawson, The Nature of Heterodox Economics). Auch wenn Lawsons Definition fraglos zweckdienlich ist, genießt der Begriff in der von mir hier verwenden Bedeutung allgemeine Akzeptanz. Auch ist schwer nachzuvollziehen, weshalb diese zugunsten Lawsons alternativer Begriffsbestimmung aufgegeben werden sollte, siehe Morgan, What’s in a Name?. 2 Lawson, The Nature of Heterodox Economics, S. 103. 3 Siehe zum Beispiel Keen, Debunking Economics, S. 57–63.
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85 Prozent der akademischen Wirtschaftswissenschaftler_innen dem althergebrachten Mainstream an. Selbst Abweichler_innen sind gezwungen, diese Tradition zu lehren.4 Als Ergebnis einer gründlichen Indoktrinierung dient sie jungen Ökonom_innen als Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung ihres Denkens. Tatsächlich gehen Wirtschaftsstudent_innen von der Universität – oft um Führungspositionen zu bekleiden – in der Überzeugung ab, dass der Kern der neoklassischen Theorie sowohl grundsolide als auch der einzig gangbare Weg zu einem Verständnis von Wirtschaft sei.5 Gegen diese Tradition wurden zahlreiche Kritikpunkte vorgebracht, von denen dieses Kapitel einige aufgreift, um ihre zentralen Schwächen ins Licht zu rücken und sie mit den besonderen Anliegen dieses Buchs in einen Zusammenhang zu stellen. Die neoklassische Tradition ist vollständig auf die als Marktsystem begriffene Wirtschaft fokussiert. Obwohl sie gelegentlich den Staat analysiert (indem sie ihm eine Pseudomarktlogik unterstellt), ist sie überwiegend die Beschreibung einer reinen Marktwirtschaft. Und die zentrale Stellung, die das neoklassische Marktmodell in der vorherrschenden Tradition einnimmt, trug maßgeblich zu dem in Kapitel 2 kritisierten heutigen wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs bei. Auch wenn einige Mainstream-Ökonom_innen in ihren Forschungen dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem kritischer begegnen,6 stellen nur wenige diese Fokussierung auf den Markt infrage. Dieser schlichte und zweifellos unbewusste Akt, andere Wirtschaftsformen auszublenden, macht die rein marktwirtschaftliche Sichtweise bereits zu einer verkappten politischen Form der Wirtschaftslehre. Auch konzentriert sich die Neoklassik, ohne den Begriff zu verwenden und in einem laienhaften Sinn verstanden, auf Appropriationen: auf das, was die Allokation der Nutzen bestimmt, die im Wirtschaftssystem erzeugt werden. Sie betrachtet jedwedes wirtschaftliches Handeln als durch das Bestreben der wirtschaftlichen Akteur_innen – Ein4 Brown / Spencer, Understanding the Global Financial Crisis; Keen, Debunking
Economics, S. 8. 5 Ebenda, S. 22. 6 Lawson, The Nature of Heterodox Economics, S. 101f.
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zelner oder Organisationen – motiviert, ihren jeweiligen Anteil an den Produktionserträgen zu maximieren,7 und birgt im Kern eine Theorie dazu, wie die daraus resultierenden Interaktionen in einem Marktsystem die Aufteilung von Nutzen unter den jeweiligen Akteur_innen bestimmen. Konsumierenden fällt der Nutzen aus erworbenen Gütern zu, während Produzierende Nutzen in Form der monetären Erträge gewinnen, die der Verkauf ihrer Güter oder ihrer Arbeit abwirft. Trotz dieser Fokussierung auf Appropriationen erhebt die neoklassische Tradition den Anspruch, mit Blick auf die Verteilung von Nutzen aus Wirtschaftstätigkeit ethische Positionen zu vermeiden. Nach ihr erbringen Märkte beste Leistungen in dem Sinn, dass sie die Bedürfnisse von Konsumierenden mit den verfügbaren Ressourcen möglichst gut befriedigen, wenn die Eigentumsverhältnisse bei den Ressourcen vorgegeben sind, wobei eine Bewertung dieser Verhältnisse aber abgelehnt wird.8 Dies, so die Behauptung, sei eine rein technische Form der Optimierung, während die ethische Frage nach der zugrunde liegenden bestehenden Ressourcenverteilung als ein Problem gilt, das andere zu lösen hätten. Aber diese Argumentation spielt eine unmittelbar ideologische Rolle, insofern sie gewöhnlich nicht nur als Beschreibung, sondern auch als Rechtfertigung der Marktwirtschaft aufgefasst wird. Das Allgemeine Gleichgewichtsmodell wird von Mainstream-Ökonom_innen weithin in dem Sinne interpretiert, dass ein wettbewerbsorientiertes Marktsystem die effizienteste Organisationsweise einer Volkswirtschaft sei, beinhalte es doch scheinbar, dass sich 7 Cowell, Microeconomics: Principles and Analysis, S. 2. Für Leser_innen, die mit
den Wirtschaftswissenschaften weniger gut vertraut sind, dazu ein typisches Lehrbuchbeispiel, in dem die althergebrachte Darstellung zwar mit Kritik, wie ich sie weiter hinten ins Feld führe, versehen, dann aber doch als nützlich verfochten wird. So heißt es bei Cowell: »Die Annahme egoistischer Antriebe ist für die Wirtschaftslehre nicht wesentlich, bringt uns aber ein gutes Stück weiter, um Probleme präzise zu formulieren […], sie kann nützlich sein, um ein ausgefeiltes Modell zu spezifizieren«, siehe Cowell, Microeconomics: Principles and Analysis, S. 2f. Bei den weiteren Ausführungen fallen diese Einschränkungen dann typischerweise unter den Tisch, weil den Autor_innen das Modell an sich wichtiger ist als dessen empirische Relevanz. 8 Die sogenannte Pareto-Effizienz. Siehe Varian, Grundzüge der Mikroökonomik, S. 343f.
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die Produktion, sobald sich ein Gleichgewicht eingestellt hat, auf bestmögliche und effizienteste Weise mit den Kaufvorlieben der Konsumierenden deckt. Obwohl mitnichten plausibel (wie später noch zu sehen, stellt sich beispielsweise ein Gleichgewicht an den Märkten, falls überhaupt, nur selten ein), hielt diese Argumentation als zentrale neoliberale Begründung für Privatisierungen und Ökonomisierungen her, die den politischen Diskurs der letzten Jahrzehnte beherrschte. Folglich blendet der Mainstream wirtschaftliche Vielfalt nicht nur als Annahme zur Natur der bestehenden Wirtschaft, sondern auch als Rezept dafür aus, wie Volkswirtschaften funktionieren sollten.
Abb. 1
Die Angebots- und die Nachfragekurve
Die neoklassische Wirtschaftswissenschaft ist für eine politische Ökonomie somit unzulänglich, weil sie zur Wirtschaft jenseits des Marktes kaum etwas zu sagen hat und weil sie ethische Defizite aufweist: wegen ihrer angeblichen Neutralität, die als ideologischer Deckmantel für ihre Rolle als Cheerleaderin für das Marktsystem herhält. Und mehr noch: Wie in diesem Kapitel noch eingehender erörtert wird, ist sie auch als beschreibende Theorie für Marktsysteme an sich unzulänglich.9 Der Kern dieser Theorie ist ein mathematisiertes Modell von Warenmärkten als Interaktionen zwischen Kaufenden und Verkaufen9 Deutlich ausführlichere Erklärungen für ihre Unzulänglichkeit siehe auch an-
derswo, insbesondere bei Keen, Debunking Economics.
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den, die im Zusammenspiel die Gleichgewichtspreise und die Mengen an hergestellten Produkten bestimmen. In diesem Modell übt das kollektive Verhalten von Kaufenden eine Nachfragefunktion aus, häufig grafisch dargestellt als eine Gerade oder Kurve (»Nachfrage« in Abbildung 1), welche die Menge der Güter, die sie kaufen werden, in Beziehung zu dem Preis setzt, zu dem diese angeboten werden.10 Käufer_innen gelten als höchst rationale Akteur_innen, die sich sorgfältig eine Auswahl an angebotenen Produkten zusammenstellen, um den Nutzen ihrer verfügbaren Geldmittel zu maximieren.11 Veränderungen beim Preis eines Produkts schlagen deswegen auf die gekauften Mengen zurück – typischerweise sinkt bei steigendem Preis der Absatz, der umgekehrt bei fallendem Preis steigt. Grafisch ausgedrückt, zeigt die Nachfragekurve bei steigendem Preis nach unten, wenn wir das Verhalten der Kundschaft insgesamt betrachten.12 Leider basiert dieses Modell auf einer völlig realitätsfernen Konzeption von menschlichen Individuen und insbesondere einer unrealistischen Vorstellung davon, wie wir Kaufentscheidungen treffen. Das Modell von Käufer_innen als rational optimierenden Akteur_innen wurde nie auf das Fundament einer Analyse dazu gestellt, wie sich die Kundschaft tatsächlich verhält. Eingesetzt wird es zum einen deshalb, weil es die philosophische Festlegung widerspiegelt, dass Menschen um sich selbst zentrierte Individualist_innen seien, und zum anderen, weil in dieser Tradition rein mathematische Modelle höher bewertet werden als die Realitätsnähe der Annahmen, auf denen sie beruhen. Eine seltene empirische Studie zur Bildung von Konsumvorlieben legt nahe, dass sich Verbraucher_innen tatsächlich an keine der Regeln halten, nach denen ihre Entscheidungen im Sinne der zentralen neoklassischen Annahmen als rational gelten könnten.13 Tatsächlich wäre die sorgfältige Abwägung sämtlicher Kaufoptionen in der Art, wie sie das Modell als normal ansetzt, für jedes reale Individuum schlichtweg 10 Varian, Grundzüge der Mikroökonomik, S. 2ff. 11 Cowell, Microeconomics: Principles and Analysis, S. 79ff.; Varian, Grundzüge der
Mikroökonomik, S. 3. 12 Varian, Grundzüge der Mikroökonomik, S. 3–6, S. 271ff. 13 Zitiert nach Keen, Debunking Economics, S. 67ff.; Sippel, An Experiment on the
Pure Theory of Consumer’s Behaviour.
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unmöglich: Sie würde eine gewaltige Masse an nicht zu beschaffenden Informationen erfordern und es notwendig machen, ein breites Spektrum an Alternativen zu bewerten, was für die ökonomischen Akteur_innen angesichts ihrer begrenzten Zeit ebenfalls unmöglich ist.14 Bis zu einem gewissen Grad sind wir durchaus rational denkende Wesen, und das muss ein tragfähiges Modell des menschlichen Akteurs oder der Akteurin auch berücksichtigen, wir folgen aber auch Gewohnheiten, um Zeit zu sparen, wenn wir Alternativen erwägen. Und diese Gewohnheiten sind stark durch unsere Sozialisation geprägt.15 Kaufentscheidungen werden folglich nur zum Teil durch eine rationale Optimierung beeinflusst, in die zudem nur ein begrenztes Spektrum an Optionen einbezogen wird. Gleichwohl neigen wir beim Abwägen dazu, Dinge dann eher nicht zu kaufen, wenn sie teurer sind.16 Als Netto-Effekt kann die Nachfrage unter bestimmten Umständen, in bestimmten – vielleicht sogar häufig vorkommenden – Fällen tendenziell durchaus auf den Preis so reagieren, wie es das Modell nahelegt, aber dieser Faktor ist nur einer von vielen, die in Kaufentscheidungen einfließen. Das kollektive Verhalten von Verkäufer_innen aus dem neoklassischen Modell lässt sich als Angebotsfunktion mit einer Kurve darstellen, welche die Menge des Produkts, das sie bereitstellen, zu dem Preis in Beziehung setzt, zu dem sie es am Markt anbieten (als »Angebot« in Abbildung 1).17 Das Standardmodell setzt einen vollkommenen Wettbewerb am Markt voraus, bei dem keine Anbieterin groß genug ist, um den Preis eines Produkts beeinflussen zu können. (In anderen Modellen, die ein Monopol oder einen unvollkommenen Markt abbilden, können wenige Anbieter_innen den Preis beeinflussen, was aber eher als Ausnahmefall gilt). Auch Anbietende gelten als rational optimie-
14 Keen, Debunking Economics, S. 70–73; Simon, Theories of Bounded Rationality. 15 Zu einer differenzierteren Erörterung der Rolle unserer Sozialisation bei der Ent-
scheidungsfindung allgemein siehe Bourdieu, Sozialer Sinn, Kapitel 3. Zur Beziehung zwischen diesem Einfluss und bewusster Überlegung siehe Elder-Vass, Reconciling Archer and Bourdieu in an Emergentist Theory of Action. 16 Keen, Debunking Economics, S. 65. 17 Cowell, Microeconomics: Principles and Analysis, S. 50–53.
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rende Agierende, die danach streben, ihren Gewinn möglichst zu maximieren.18 Durch ihr kollektives Verhalten, so die Argumentation, sorgen sie dafür, dass die Angebotskurve nach oben strebt: Wenn der Preis eines Produkts steigt, werden die Erzeugenden allgemein ihre Produktion erhöhen. Angebotskurven sind freilich nicht weniger problematisch als Nachfragekurven. Sie beruhen auf Annahmen dazu, wie Produktionskosten je nach Produktionsmengen variieren, auf Prämissen, die ebenfalls wenig Bezug zu den tatsächlichen Gegebenheiten haben, vor die zahlreiche Produzierende gestellt sind. Wie bei den Nachfragekurven wurden die Annahmen eher deshalb getroffen, um dem Modell Funktionstüchtigkeit zu sichern, als dass sie reale Wirtschaft widerspiegeln. Viele Produzierende verfügen gewöhnlich über erhebliche ungenutzte Kapazitäten, die sie beim vorherrschenden Preis profitabel einsetzen können, während aber die Nachfrage fehlt. Die neoklassische Lösung bestünde in einer Preissenkung, die aber (in dem weit verbreiteten Fall, in dem die Grenzkosten unter den Durchschnittskosten liegen) zu einem Verlust führen würde. Üblicherweise verkaufen Produzierende an diesen Märkten ihre Waren zu den Herstellungskosten plus einer Spanne, die ihnen einen bestimmten Gewinn sichert. Und diese Preise zu unterbieten, ist für jeden Produzierenden langfristig schlichtweg unrentabel. Unter diesen Umständen wird die Vorstellung von einer Angebotskurve ziemlich sinnlos, weil Herstellende bereit sind, nicht eine einzelne Menge, sondern eine ganze Reihe von Mengen zu ihrem üblichen Preis anzubieten. Zudem kombiniert das neoklassische Modell die Nachfrage- und die Angebotskurve mit der Argumentation, dass sich Preise und Mengen für eine bestimmte Ware am Markt tendenziell so lange aneinander anpassen, bis der Gleichgewichtspunkt erreicht ist, an dem sich die Nachfrage- und die Angebotskurve schneiden.19 Liegt der Preis unter diesem Schnittpunkt, steigt die Nachfrage auf ein Niveau über dem Angebot, worauf die herrschende Knappheit den Preis in die Höhe treibt, was wiederum die Produktion ankurbelt, bis das Angebot die 18 Ebenda, S. 10; Varian, Grundzüge der Mikroökonomik, Kapitel 20. 19 Varian, Grundzüge der Mikroökonomik, S. 3, S. 7f., sowie Kapitel 16.
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Nachfrage übersteigt. Wenn der Preis über dem Gleichgewichtsniveau liegt, sinkt die Nachfrage auf eine Höhe unterhalb des Angebots mit dem Ergebnis, dass manche Waren in den Regalen liegen bleiben, worauf der Preis herabgesetzt und die Produktion gedrosselt wird. Veränderungen beim Preis verändern demnach entlang der beiden Kurven in Abbildung 1 so lange Nachfrage und Angebot, bis der Gleichgewichtspunkt erreicht ist. Neoklassische Ökonom_innen erkennen zwar durchaus an, dass sich in bestimmten Fällen kein Gleichgewicht einspielt, sehen diese aber eher als unglückliche »Rigiditäten« anstatt als Fehler im Modell an. Damit kommen wir allerdings zu den grundlegendsten Problemen des neoklassischen Modells, die sich daraus ergeben, dass es vollständig auf dieses sich einspielende Gleichgewicht ausgerichtet ist. Seiner Annahme nach gibt es für jedes Produkt einen Markt, der im Verhältnis zur Kapazität einzelner Produzierenden so groß ist, dass diese die Preise nicht beeinflussen können und dass – entscheidend – auf diesen einzelnen Märkten sämtliche gleichen Produkte zum selben Preis angeboten werden, weil sämtliche Käufer_innen von einer überteuerten Anbieterin zu den anderen überlaufen würden. In der Realität pendeln sich auf den meisten Märkten die Preise für das gleiche Produkt allerdings nicht auf einem einzigen Niveau ein. Zwar wirkt einiger Druck in diese Richtung: Wenn zum Beispiel Tomaten an einem Marktstand bei gleicher Qualität das Doppelte kosten wie am Nachbarstand, wenden sich wahrscheinlich zahlreiche Käufer_innen dem günstigeren zu. Und je länger die Ware liegen bleibt, desto eher wird die teurer anbietende Händlerin die Notwendigkeit sehen, ihren Preis auf das übliche Niveau abzusenken. Einzelhändler_innen verschiedener Typen von Waren achten genau auf die Preise der Konkurrenz und verzichten auf hohe Aufschläge, um solchen Situationen vorzubeugen. Und doch gibt es Preisunterschiede in Hülle und Fülle. So kosten zum Beispiel zwei identische Schokoriegel im Discounter-Markt, bei der Einzelhändlerin an der Ecke und an der Tankstelle sogar dann ganz unterschiedlich viel, wenn diese nur wenige Gehminuten voneinander entfernt liegen. Zwischen zwei mehr oder weniger identischen Handtaschen kann es gigantische Preisunterschiede geben, je nachdem, wo sie gekauft werden und ob es der Anbieterin gelingt, sie als Original-
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produkte eines bestimmten Herstellers zu präsentieren. Und obwohl das oben genannte Beispiel der Tomaten unmittelbar einleuchtet, gibt es zumindest in einer real existierenden Markthalle doch erhebliche Preisunterschiede und eine besondere Kundentreue gegenüber bestimmten Händler_innen.20 Jede Anbieterin für ein Produkt ist anders, und tatsächlich versuchen Anbietende systematisch, sich als einzigartig zu positionieren, indem sie sich eine präferenzielle Bindung zu sichern versuchen, wie ich sie im Folgenden nennen werde: Sie liefern der Kundschaft Gründe dafür, sie gegenüber anderen Anbieter_innen vorzuziehen.21 Als Ergebnis weichen Preise für ganz ähnliche und sogar identische Produkte oft erheblich voneinander ab.22 Wenn wir folglich reale Marktsysteme anhand des neoklassischen Modells beurteilen, so stellt sich heraus, dass einige eher als andere dem Modell entsprechen, viele aber in ein Muster passen, das mehr oder weniger dessen Gegenteil darstellt: Anstatt auf einem Markt auf homogene Preise zu stoßen, die sich in Reaktion auf schwankende Nachfragen und Angebote dynamisch verändern, stellen wir häufig fest, dass Marktsysteme zu einer Vielfalt an kurzfristig stabilen Preisen für ein und dieselbe Ware führen. Die Schlussfolgerung daraus lautet, dass es den von den Neoklassiker_innen theoretisierten Mechanismen von Angebot und Nachfrage in der Praxis nicht einmal gelingt, den Preis auf einem bestimmten Markt zu vereinheitlichen, geschweige denn dafür zu sorgen, dass er sich auf einem dem »Gleichgewicht« entsprechenden Wert einpendelt. Das neoklassische Modell vom Gleichgewicht reduziert die Festlegung von Preis- und Produktionsniveaus auf eine abstrakte Verknüpfung zwischen zwei Kräften, die jeweils ohne Rücksicht auf das tatsächliche Verhalten von Kaufenden und Anbietenden modelliert sind. Auch wenn dieses Modell oberflächlich gut funktioniert, hält es der Wirklichkeit nicht mehr stand, sobald wir das Verhalten realer wirtschaftlicher Agierender untersu20 Siehe die Erörterung zum Marseiller Fischgroßhandelsmarkt in Kirman / Vriend,
Learning to Be Loyal. A Study of the Marseille Fish Market. 21 Callon u. a., The Economy of Qualities; Chamberlin, The Theory of Monopolistic Competition, S. 56f., S. 71; Elder-Vass, Towards a Social Ontology of Market Systems; sowie Kapitel 6; White, Where Do Markets Come from?. 22 Keen, Debunking Economics, S. 117.
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chen. Es kommt an den tatsächlichen Prozess, wie Preise und Produktionsmengen festgelegt werden, nur um einen Hauch näher als das marxistische heran, auch wenn es die neoklassische Tradition besser vermocht hat, seine Realitätsferne zu verschleiern – und dies sogar so gut, dass Wissenschaftler_innen wie Laienakteur_innen regelmäßig seine als Nebelkerze wirkende Grundannahme akzeptieren: dass es für jede Ware zu jedem Zeitpunkt einen Einheitspreis gebe. Wie wir noch sehen, wenn wir den Fall Apple erörtern, baut ein breites Spektrum an Unternehmen seine gesamten Geschäftsstrategien darauf auf, Möglichkeiten zu finden, einen anderen Preis als ihre Konkurrenz durchzusetzen.
Jenseits der neoklassischen Theorie In mancherlei Hinsicht ist das neoklassische Modell eine brillante geistige Konstruktion, die aber als Theorie der Festlegung von Preisen und Produktionsmengen der Wirklichkeit schlichtweg nicht gerecht wird. Eine Reihe von Gründen dafür haben wir bereits gesehen: Die realen Käufer_innen, Verkäufer_innen und Märkte verhalten sich anders, als es für das Funktionieren der von ihr postulierten Mechanismen erforderlich wäre. Aber es gibt einen weiteren Grund: Allgemein funktioniert Kausalität anders, als es das Modell voraussetzt. Damit ist nicht nur die Theorie, sondern auch die Ontologie des Mainstreams zu widerlegen. Das nachfolgende Unterkapitel befasst sich mit diesen ontologischen Problemen, wirft aber auch einige ethische Fragen auf und erörtert den positiven Beitrag, den heterodoxe Traditionen innerhalb der Wirtschaftswissenschaften zu einer realitätsnäheren politischen Ökonomie leisten können. Das Problem des Modells, das den Kern der neoklassischen Tradition ausmacht, liegt in der Annahme, dass Preise und Produktionsmengen durch nur drei Mechanismen festgelegt werden: durch Nachfragefunktionen, Angebotsfunktionen und den Ausgleich des Marktes, während in Wirklichkeit alle Arten realer Ereignisse, so auch Preisbildung und Steuerung von Produktionsmengen, das Ergebnis vielfältiger Ursachen sind, deren jeweiliges Zusammenspiel sich von
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Fall zu Fall verändert. Zur Veranschaulichung wurde weiter vorn eine kleine Anzahl an komplizierenden Faktoren genannt: So versuchen beispielsweise Unternehmen, eine präferenzielle Bindung der Kundschaft an ihre Produkte herzustellen, die es ihnen ermöglicht, Preisunterschiede zur Konkurrenz aufrechterhalten. Damit stören sie sowohl den Mechanismus der Angebotskurve als auch den zur Herstellung eines Marktgleichgewichts, die im Kern der neoklassischen Lehre postuliert werden. Aber dies ist nur eine von zahlreichen möglichen Komplikationen. Kausale Systeme allgemein und soziale im Besonderen sind offene Systeme: Sie lassen sich nicht durch das Wirken von nur einem oder wenigen kausalen Mechanismen erklären, weil diese stets Beeinträchtigungen durch andere ausgesetzt sind, die ihre Wirkweise gelegentlich stören oder modifizieren oder ihre Ergebnisse verfälschen können.23 Nach Lawson zeichnet sich die Tradition des Mainstreams nicht maßgeblich dadurch aus, dass sie am Kern der neoklassischen Theorie festhält, sondern vielmehr durch ihre Verbundenheit mit der, wie er es nennt, »mathematisch-deduktiven Modellierung« als universeller Methode.24 Wie er mit erheblichem Material belegt, wird von etablierten Wirtschaftswissenschaftler_innen verlangt, diese Methoden einzusetzen,25 die logischerweise auf der Annahme beruhen, dass die zu modellierenden Systeme geschlossene seien. Aus einem mathematischen Modell lassen sich keinerlei Schlüsse ziehen ohne die berüchtigte Ceteris-partibus-Klausel, also ohne die Annahme gleichbleibender Bedingungen. In der Praxis läuft dies darauf hinaus, außer dem modellierten alle weiteren kausalen Einflüsse auszuschließen. Das weiter vorne erörterte zentrale neoklassische Modell stellt so einen Idealfall dar: Es geht davon aus, dass nur die drei in ihm modellierten Mechanismen für die Art relevant seien, wie Preise gebildet und Produktionsmengen festgelegt werden. Trotzdem zieht sich die Methode der mathematisch-deduktiven Modellierung wie ein roter Faden durch den gesamten ökonomischen Mainstream. Und da sie als Grundannahme geschlossene Sys23 Faulkner, Closure. 24 Lawson, The Nature of Heterodox Economics, S. 106. 25 Ebenda, S. 105.
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teme voraussetzt, ist sie »für den Umgang mit gesellschaftlichem Stoff angesichts von dessen Natur schlichtweg ungeeignet«.26 Dies bedeutet nicht, dass mathematische Modelle bei der Analyse von Wirtschaftssystemen überhaupt keine nützliche Rolle spielen.27 Sie können insbesondere einer Beschreibung dienen, wie einzelne Mechanismen funktionieren, was Hodgson als Heuristik bezeichnet hat: Der Zweck solcher Beschreibungen »liegt darin, ein einleuchtendes Segment aus einem Kausalzusammenhang darzustellen, ohne unbedingt eine adäquate oder vollständige Erklärung des Phänomens zu liefern, auf das sie sich bezieht«.28 Man kann darüber streiten, was zuerst kommt: das Verständnis eines kausalen Mechanismus oder dessen mathematische Beschreibung.29 Die wichtige Frage lautet allerdings, wie solche Modelle eingesetzt werden. Erstens müssen sie sich realitätsnah an der Natur der Agierenden orientieren, deren Verhalten sie modellieren, was bei den Modellen der Angebotskurve und des Marktgleichgewichts im neoklassischen Paradigma eben nicht der Fall ist.30 Zweitens können sie nicht dazu dienen, empirische Ergebnisse vorherzusagen, weil diese stets vom Zusammenwirken zahlreicher solcher Mechanismen abhängen, von denen heuristische Modelle immer nur einen oder höchstens einige wenige beschreiben. Anstatt dieser überambitionierten Versuche, komplexe empirische Ereignisse mithilfe grob vereinfachender, aber gut handhabbarer mathematischer Modelle zu erklären, brauchen wir Untersuchungsmethoden, welche die reale Natur der kausalen Verhältnisse und der zu untersuchenden gesellschaftlichen Phänomene berücksichtigen. Dazu müssen wir zwei Erklärungsverfahren miteinander kombinieren. Einerseits müssen wir die besonderen Mechanismen ausmachen, die zu einem breiten Spektrum an realen Ereignissen beitragen, und dabei untersuchen, wie diese bestimmte Tendenzen oder Kausalkräfte hervorbringen – also die Untersuchungsmethode der sogenannten
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Ebenda, S. 108. Ebenda, S. 107. Hodgson, On the Problem of Formalism in Economics, S. 181. Lawson, Economics and Reality, S. 208. Ebenda, S. 211.
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Retroduktion anwenden.31 Andererseits müssen wir untersuchen, welche Mechanismen wie zusammenwirken, um bestimmte Ereignisse oder bestimmte Klassen von Ereignissen hervorzubringen – die Retrodiktion.32 Eine sorgfältige Anwendung der Retrodiktion und der Retroduktion sensibilisiert uns für die Frage, wann – unter welchen Umständen, bestimmt durch welche anderen zusammenwirkenden Mechanismen – bestimmte Mechanismen mehr oder weniger wirksam sind. Wenn wir die mathematisch-deduktive Modellierung durch eine Kombination aus Retroduktion und Retrodiktion ersetzen, können wir das komplexe Zusammenspiel vielfältiger Mechanismen berücksichtigen, die in der Praxis am Werk sind. Dieses Erklärungsmodell ist immer nur vorläufig und offen für die Möglichkeit, dass neue Mechanismen zum Vorschein kommen oder zu greifen beginnen. Auch wenn dieses Modell selten klare mathematische Formeln abwirft, anhand derer sich das Wirken der Welt erklären lässt, ermöglicht es uns, weitaus realitätsnähere Erklärungen für soziale Ereignisse zu erstellen – und ganz nebenbei auch, nicht nur das Tauschgeschehen am Markt, sondern die gesamte Bandbreite an Wirtschaftstätigkeit theoretisch zu erfassen, die sich in unseren vielfältigen Volkswirtschaften abspielt. Wenngleich die neoklassischen Argumente als mathematische Beschreibungen unveränderlicher Beziehungen zwischen ursächlichen Faktoren und Ereignissen in die Irre führen, beruhen viele auf Darstellungen von Mechanismen, die unter bestimmten Umständen bis zu einem gewissen Maß durchaus funktionieren und mithelfen können, eine alternative politische Ökonomie zu errichten, sobald sie wieder in einen weniger deduktivistischen Zusammenhang gestellt werden. So gibt es beispielsweise gute Gründe für die Überzeugung, dass die Nachfrage für ein Produkt häufig, wenn auch keineswegs
31 Elder-Vass, The Causal Power of Social Structures, S. 48; Lawson, Economics and
Reality, S. 24. 32 Elder-Vass, The Causal Power of Social Structures, S. 48; Lawson, Economics and Reality, S. 221. Eine eingehende Erörterung zu den hier aufgeworfenen methodologischen Fragen siehe Elder-Vass, A Method for Social Ontology, oder ders., The Causal Power of Social Structures, S. 64–76.
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immer, mit steigendem Preis sinkt. Ähnlich gibt es gute Gründe anzunehmen, dass Marktwirtschaften bis zu einem gewissen Grad auf die Wünsche der Kundschaft reagieren, weil die Produzierenden ihre Produktion und ihre Produktionskapazität, so ungefähr und zeitlich verzögert, an die Mengen anpassen, die sie zum vorherrschenden Preis absetzen können. Das letztgenannte Argument wird allerdings in der gängigen neoklassischen Theorie da, wo sie ideologischen Zwecken dient, in deutlich verschärfter Form verfochten und spielt dann eine zentrale Rolle dabei, Marktsysteme moralisch mit der Begründung zu rechtfertigen, dass sie die Produktionsmenge an die Bedürfnisse der Bevölkerung anpassten. In der Realität findet diese Anpassung allerdings nicht an die Bedürfnisse der allgemeinen Bevölkerung, sondern nur (und höchst unvollkommen) an die mit Kaufkraft ausgestatteten statt, weil der Markt nur auf Nachfragen einer zahlungskräftigen Kundschaft reagiert. Mit anderen Worten: Die Bedürfnisse der Reichen werden deutlich umfassender als die der Armen befriedigt. Zu rechtfertigen wäre dies nur, wenn die Verteilung von Wohlstand und Einkommen an sich gerecht wäre, wobei die neoklassische Theorie auch hier die Ressource lieferte, um entsprechende Behauptungen zu begründen. Manche Wirtschaftswissenschaftler_innen führten das Argument ins Feld, dass alle, die zum Produktionsprozess beitragen, sei es in Form von Land, Arbeit oder Kapital, auch eine Vergütung proportional zum Grenzprodukt ihrer jeweiligen Inputs erhielten.33 Daraus leitet sich gemeinhin die Behauptung ab, dass alle Beteiligten das erhielten, was ihnen entsprechend ihres jeweiligen Beitrages zustehe. Auch diese Haltung ist eine höchst ideologische Position, die das bestehende Wirtschaftssystem stützt, aber aus mehreren Gründen nicht zu rechtfertigen ist. Um nur drei zu nennen: Zunächst erreichen reale Marktwirtschaften niemals so etwas wie eine Gleichgewichtsposition, sodass Vergütungen niemals an Grenzbeiträge angepasst werden. Zweitens geht das Modell davon aus, dass die bestehenden Verhältnisse bei Land- und Kapitaleigentum und damit bei den Renditen und 33 Ausformuliert wurde dieses Argument im 19. Jahrhundert von J. B. Clark. Siehe
Keen, Debunking Economics, S. 129, S. 185.
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Gewinnen, die sie einbringen, ihrerseits gerechtfertigt seien, während sie in der Praxis auf unterschiedlichsten Wegen zustande kommen: außer durch Beiträge zum Produktionsprozess unter anderem auch durch Spekulationen, Erbschaften und tatsächlich auch Verbrechen. Drittens ist die neoklassische Version des Arguments, wonach sich Vergütungen proportional zum Beitrag zum Produktionsprozess bemessen sollten, nicht berechtigter als die marxistische: Wo bleiben beispielsweise Kinder, Alte, Behinderte und diejenigen, die unverschuldet in Arbeitslosigkeit geraten sind? Wie der Marxismus beinhaltet der ökonomische Mainstream folglich eine verkappte ethische Theorie der Appropriation. Wie dieser geht er von der Annahme aus, dass Vergütungen proportional zum Beitrag zur Produktion bemessen sein sollten, und kombiniert dies mit einer völlig unhaltbaren Messmethode für den jeweiligen Beitrag. Stattdessen brauchen wir eine explizit ethische Theorie, die Appropriation anhand einer offenen Grundlage beurteilt, die eine Vielfalt an ethischen Argumenten berücksichtigt. Ohne ins Einzelne zu gehen, vertrete ich den Standpunkt, dass jede in der Breite akzeptable Theorie sowohl die Bedürfnisse als auch die Beiträge miteinbeziehen muss. Es gibt eine Vielfalt an ethischen Anforderungen, von denen wir wohl vernünftigerweise erwarten, dass einige jeweils in bestimmten Situationen relevant sind. Sobald wir dies anerkennen, scheidet ein formales deduktives Modell für eine gerechte Verteilung ebenso aus wie ein formales deduktives Modell für das Funktionieren von Wirtschaft. Neben dem Mainstream und dem Marxismus bestehen mehrere heterodoxe wirtschaftswissenschaftliche Strömungen, darunter die Österreichische Schule, die Evolutionsökonomik, die Feministische Ökonomik, die Institutionenökonomik, der Postkeynesianismus und die Sraffa-Schule.34 Sie unterscheiden sich voneinander erheblich in ihren Analysemethoden, ihren bewertenden Ausrichtungen und ihren Themenschwerpunkten, haben aber laut Lawson eines gemein: Ob explizit oder nicht, lehnen alle die Methode der mathematisch-deduktiven Modellierung geschlossener Systeme als des einzig gangba-
34 Einen Überblick siehe ebenda, Kapitel 18.
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ren Weges ab, um Wirtschaftswissenschaft zu betreiben.35 Dabei weisen sie die Mathematisierung keineswegs grundsätzlich zurück, sondern sehen es lediglich so, dass diese nicht die einzig akzeptable wirtschaftswissenschaftliche Methode ist – wohl deshalb, weil sie die Wirtschaft eben nicht als ein geschlossenes System betrachten. Als Konsequenz kritisieren alle diese Traditionen auf nützliche, aber unterschiedliche Weise den Mainstream und bieten realistischere Darstellungen variierender Elemente von Wirtschaft. So erkennt beispielsweise die Österreichische Schule die dynamische Natur der Marktwirtschaften an und kommt ohne irgendeinen Glauben an – mögliche oder wünschenswerte – Gleichgewichtszustände aus, auch wenn die meisten Vertreter_innen Marktsysteme so offensiv verfechten wie der neoklassische Mainstream.36 Die Postkeynesianer_innen betonen die Notwendigkeit, ökonomische Modelle realitätsnah zu gestalten, und berücksichtigen Unwägbarkeiten, Monopole und den Einfluss von geld- und finanzpolitischen Faktoren auf die Wirtschaft.37 Die feministische Ökonomie wendet sich gegen das neoklassische Modell von ökonomischen Agierenden als isolierten, egoistischen und amoralisch handelnden Individuen38 sowie gegen den Ausschluss von Wirtschaftstätigkeit, die außerhalb des Marktes, insbesondere im Haushalt, stattfindet.39 Ähnliche Themen tauchen auch in heterodoxen Neubewertungen des Werkes von Adam Smith auf, wobei die Vertreter_innen dessen Erbe von den Markideolog_innen zurückerobern, indem sie aufzeigen dass Smith Wohltätigkeit und Kooperation als ebenso wichtig wie kommerzielle Tätigkeiten betrachtet hat.40 Die Institutionalist_innen begreifen Märkte nicht als abstrakte Abwicklungsprozesse, die auf magische Weise Angebot und Nach35 Lawson, The Nature of Heterodox Economics, S. 107, S. 113. 36 Keen, Debunking Economics, S. 445–449. Auch wenn es noch Hayekianer_innen
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gibt, die verschiedene Formen des Marksozialismus vertreten, siehe Burczak, Socialism after Hayek. Keen, Debunking Economics, S. 449f. England, The Separative Self; Nelson, The Study of Choice or the Study of Provisioning?. Fraad u. a., Bringing It All Back Home. Garnett, Philanthropy, Economy, and Human Betterment.
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frage zur Deckung bringen, sondern als gesellschaftliche Institutionen, die abhängig von organisatorischen und kulturellen Zusammenhängen veränderlich funktionieren.41 Eine tragfähige Alternative zur gängigen politischen Ökonomie müsste an einige oder an alle diese Traditionen anknüpfen, zugleich aber auch mehr Elemente aus dem Mainstream aufgreifen, die in neuerer Zeit in einer Abwandlung des neoklassischen Modells entwickelt wurden, so die Verhaltensökonomik, die wirtschaftliches Verhalten anhand realistischer und empirisch überprüfter Modelle der menschlichen Psyche zu erklären versucht.42 Als roter Faden verbindet diese verschiedenen Elemente, dass sie unter dem Banner eines realistischen Ansatzes zusammengeführt werden können – ob es die jeweiligen Autor_innen so sehen oder nicht –, weil sie auf Untersuchungen dazu beruhen, wie Wirtschaft tatsächlich funktioniert, und weil jedes Elemente dazu dienen kann, ein theoretisches Modell zu einem bestimmten Mechanismus oder einer Reihe von Mechanismen (Retroduktion) zu entwickeln, und sich dann in Verbindung mit den Darstellungen anderer Mechanismen dazu heranziehen lässt, bestimmte Ereignisse aus Ereignisklassen zu erklären (Retrodiktion). Wie Tony Lawson – der führende Verfechter eines realistischen Ansatzes für die Ökonomie – hervorgehoben hat, sind viele Wirtschaftstheorien potenziell mit einer realistischen Ontologie vereinbar, auch wenn die entsprechenden Theorien allein deshalb noch nicht richtig sein müssen.43 Ein Ziel dieses Buchs besteht darin, zu einer stichhaltigen Darstellung der Wirtschaft beizutragen, die auf einer realistischen Ontologie beruht, aber auch versucht, erarbeitete Ansätze aus anderen Traditionen einzubeziehen.
41 Hodgson, Economics and Institutions. 42 Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken. 43 Lawson, Provisionally Grounded Critical Ontology, S. 344.
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Mauss’ Anthropologie der Gabe Mehrere dieser Traditionen stammen von außerhalb der Wirtschaftswissenschaften. Gelehrte aus verschiedenen anderen Disziplinen leisteten zu unserem Verständnis der Wirtschaft bedeutende Beiträge, die häufig als Kritik an der neoklassischen Tradition formuliert wurden. Hier eröffnet sich ein beträchtliches Betätigungsfeld, um eine Kombination aus Ideen aus diesen verschiedenen Disziplinen zum Aufbau einer alternativen Perspektive zu nutzen.44 Während sich dieses Unterkapitel mit dem Beitrag von Marcel Mauss zur ökonomischen Anthropologie befasst, erörtert das nachfolgende die Wirtschaftssoziologie. Beide Disziplinen besitzen den Vorzug, dass sie sich nicht in den Rahmen der mathematisch-deduktiven Modellierung zwängen ließen, der den Mainstream beherrscht, und so im Einklang mit ihren weiterreichenden Anliegen weitaus offenere Standpunkte zu den in der Wirtschaft wirkenden Kräfte einnahmen – womit sie der Vielfalt an möglichen Formen in der Wirtschaft und deren Prägung durch institutionelle und kulturelle Kräfte Rechnung trugen. Die ökonomische Anthropologie wurde durch das Werk von Marcel Mauss geprägt, oder besser, durch ein einziges Bändchen, das aus den 1920er Jahren stammt: den Essai sur le don, der auf Deutsch unter dem Titel Die Gabe45 erschien. Mauss untersuchte anthropologische Daten zu den sozialen Praktiken von Melanesiern und amerikanischen Ureinwohnern sowie historische Fakten zu Europäern aus der Zeit vor dem Feudalismus und argumentierte auf dieser Grundlage, dass Markt in vormodernen Wirtschaften nur eine marginale Rolle spiele. Diese beruhten vielmehr auf Zyklen eines Gabentausches mit verzögerter Reziprozität, die ganz anders als der Markt funktionierten, aber gleichwohl entsprechende Funktionen wie Wirtschaftskreisläufe erfüllten. Auf die Art wandte sich Mauss kritisch gegen die Marktfundamentalismen seiner Zeit, insbesondere gegen die Vorstellung, dass nur Märkte Volkswirtschaften koordinieren könnten, und
44 Brown / Spencer, Understanding the Global Financial Crisis. 45 Mauss, Die Gabe.
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gegen die utilitaristische Behauptung, dass alle wirtschaftlichen Entscheidungen anhand einer rationalen Kalkulation des Eigeninteresses getroffen würden oder werden sollten.46 Diese Gabenökonomien, so seine Argumentation, beruhten auf Zyklen des Schenkens, welche in Form eines verzögerten Tausches stattfänden. Kennzeichnend sei eine festgefügte Reihe sozialer Verpflichtungen zum Geben, zur Annahme von Gaben und vor allem zu deren Erwiderung: zu einer Gegenleistung mit entsprechendem Wert zu einem späteren Zeitpunkt.47 Eine gleichwertige sofortige Gegenleistung war dabei in den meisten sozialen Situationen inakzeptabel. Sie kam einer Ablehnung des Geschenks gleich, insofern es den Zyklus des Schenkens in eine sofortige Reziprozität überführte, die im Einklang mit der Logik des Tauschhandels stand.48 Damit wurde der eigentliche Sinn des Geschenks verfehlt, den Gütertransfer einem grundlegenderen Zweck unterzuordnen: der Schaffung eines Netzwerks aus sozialen Verpflichtungen, die dazu dienten, soziale Beziehungen zu festigen. Mit der Annahme der Gabe wurde nicht nur das materielle Gut, sondern auch eine Verpflichtung akzeptiert, zu irgendeinem Zeitpunkt in der Zukunft Ausgleich zu schaffen, und damit eine soziale Bindung zwischen Empfangenden und Gebenden hergestellt. Wie Mary Douglas in ihrem Vorwort zur englischen Ausgabe von Mauss’ Buch deutlich macht, beinhaltet dies, dass es kostenlose Geschenke nicht geben kann, weil in der Gabenökonomie jede Gabe eine Verpflichtung zur Gegenleistung schafft.49 In Mauss’ Argumentation gelten wirtschaftliche Transaktionen somit als angetrieben von Systemen normativer Verpflichtungen, die rationalen utilitaristischen Interessensberechnungen entgegenstehen (oder neben ihnen bestehen). So fortschrittlich Mauss’ Absichten auch gewesen sein mochten, Versuche, sein Modell des Gabentauschs auf gegenwärtige Gesellschaften zu übertragen, hatten unglückliche Konsequenzen. Sein Nach46 47 48 49
Douglas, Foreword, S. x, xviii; Mauss, Die Gabe, S. 75f., S. 171ff. Ebenda, S. 17, S. 36f., S. 91f. Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 192; Godbout / Caillé, The World of the Gift, S. 10. Douglas, Foreword, S. ixf.
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druck auf die zentrale Stellung der Reziprozität wurde unkritisch auf das gegenwärtige Schenken übertragen, obwohl seine Analyse zum Gabentausch auf heutige Verhältnisse nicht unbedingt anwendbar ist.50 Wie Testart vertrat, entsprach die von Mauss untersuchte Praxis eher der des heutigen Ausleihens.51 Geschenke als Form eines verzögerten Tausches zu sehen, verschafft dem utilitaristischen Gedanken, dass die Berechnung des Eigeninteresses der Motor solcher Transfers sei, potenziell erneut Geltung52 und verbindet Schenktheorien, in denen Formen des Gebens als Varianten der Tauschwirtschaft gelten, mit konventionellen Marktwirtschaften.53 Bourdieus Arbeit zum Schenken ist für diese Tendenz ein erstklassiges Beispiel.54 Er schlägt zunächst vor, die Praxis des Schenkens aus zwei Blickwinkeln zu untersuchen, die er offenbar als gleichrangig betrachtet:55 zum einen aus dem subjektiven der Akteur_innen, aus deren Perspektive das Schenken als Akt reiner Großzügigkeit erscheint, ohne dass eine Gegenleistung erwartet oder Reziprozität einkalkuliert wird. Zum anderen gibt es den objektiven Blickwinkel, den beobachtender Wissenschaftler_innen: Wenn die Schenkbeziehungen über einen langen Zeitraum hinweg sorgfältig miteinander verglichen werden, zeigt sich, dass Reziprozität durchaus stattfindet, und sogar in einer so genauen Übereinstimmung, dass beim Vorgehen der Akteur_innen zwangsläufig von einer gewissen Berechnung ausgegangen werden muss. Bourdieu denkt allerdings gar nicht daran, beiden Blickwinkeln, aus denen die Schenkpraktik gedeutet wird, gleiches Gewicht beizumessen, sondern etikettiert den Standpunkt der Akteur_innen vielmehr als ein Verkennen der Natur des Schenkens. Beide Blickwinkel seien gleich wichtig, so sagt er, aber nicht deshalb, weil er den Standpunkt der Agierenden als Beschreibung des Schen-
Elder-Vass, Free Gifts and Positional Gifts. Testart, Uncertainties of the »Obligation to Reciprocate«, S. 101f. Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, S. 88. Elder-Vass, Free Gifts and Positional Gifts; Pyyhtinen, The Gift and its Paradoxes, Kapitel 2. 54 Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 180–193. 55 Adloff / Mau, Giving, Social Ties, Reciprocity in Modern Societies, S. 103. 50 51 52 53
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kens ernstnimmt. Er sieht ihn im Gegenteil deshalb als wichtig an, weil er eine Ideologie des Schenkens liefere, eine irrige Darstellung des Gebens, dank derer dieses effizient zum Aufbau und Unterhalt von Beziehungen beitragen kann, obwohl in Wahrheit Regeln der Reziprozität herrschten.56 Wie sich herausstellt, behandelt Bourdieu den sogenannten subjektiven Blickwinkel als Teil des Objekts: als ein Phänomen, das zum Gesamteffekt der Schenkpraktiken beiträgt, und keineswegs als eine Beschreibung des Schenkens, die wir an sich ernstnehmen müssen. So liefert Bourdieu eine zutiefst entfremdete und entfremdende Darstellung vom Geben: entfremdet, weil sie Schenken auf eine Art rational kalkulierten Austausch reduziert, und entfremdend, weil sie uns alle, einschließlich laienhafter Akteur_innen, dazu ermuntert, Schenken zynisch ausschließlich als eine verborgene Variante des Verfolgens von Eigeninteresse zu behandeln. Wie Osteen es fasst: »Bourdieu kritisiert beständig den Ökonomismus mit der Argumentation, dass er daran scheitere, die Nuancen von Transaktionen zu erfassen, wie diese von den Akteur_innen wahrgenommen werden […]. Und doch fällt seine Beschreibung einem solchen Ökonomismus zum Opfer, weil sie impliziert, dass die ökonomische die grundlegendste Wahrheit sei.«57 Als eine zweite Konsequenz der Mauss’schen Perspektive wird Schenken zuweilen als eine Art vormoderne Alternative zum Markt betrachtet, als eine Art des wirtschaftlichen Transfers und der sozialen Integration, die in modernen Gesellschaften durch den Markt ersetzt wird.58 Mit dem Siegeszug des Marktes gerät das Geschenk deswegen offenbar zum wirtschaftlichen Randphänomen,59 auch wenn Mauss selbst auf seine weiterhin bestehende symbolische Bedeutung beharrte.60 Wie Benkler hervorhob: »Es gibt eine seltsame Kongruenz
Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 192f. Osteen, The Question of the Gift, S. 24. Mauss, Die Gabe, S. 119. Adloff / Mau, Giving, Social Ties, Reciprocity in Modern Society, S. 99; Negru, The Plural Economy of Gifts and Markets, S. 198, S. 200; Zelizer, The Social Meaning of Money, S. 77. 60 Mauss, Die Gabe, S. 157. 56 57 58 59
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zwischen den Anthropologen der Gabe und der heutigen Mainstream-Ökonomie. Beide behandeln die Literatur über das Schenken so, als drehe sie sich um eine periphere Angelegenheit, um Gesellschaften, die sich von modernen kapitalistischen sehr deutlich unterscheiden.«61 Eine Reihe soziologischer Betrachtungsweisen des Schenkens verfielen darauf, heutiges Schenken nur noch als Gabentausch zu rituellen Anlässen wie Geburtstagen und religiösen Festen zu betrachten: tatsächlich als ein lebendig gebliebenes Relikt aus der vormodernen Gesellschaft in ritualisierter Form, das für unsere persönlichen Beziehungen von relativ geringer Bedeutung sei. Diese Perspektive blendet freilich die Existenz und Wichtigkeit eines breiten Spektrums an anderen Formen des Schenkens aus, die in modernen Gesellschaften weiterhin von entscheidender Bedeutung sind, nicht nur für den Aufbau und die Pflege von Beziehungen, sondern auch als ein zentrales Element für die wirtschaftliche Versorgung.62 Die Bandbreite an Schenkpraktiken und deren Häufigkeit variiert in verschiedenen kulturellen Kontexten, kann aber zum Beispiel Spenden an gemeinnützige Organisationen, Gaben an Bettler, religiöse Stiftungen, Freiwilligenarbeit, Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden, Blut- und Organspenden, testamentarische Verfügungen, das Einladen von Freunden zu einem Getränk, das Verschenken von nicht mehr benötigten Dingen (z. B. über das Verschenk-Netzwerk Freecycle) und das Überreichen von Geschenken zu ritualisierten Anlässen wie Geburtstagen beinhalten. Die bedeutendste Praktik ist wohl das Schenken in der Familie oder im Haushalt. Fast alle Menschen sind in der Kindheit auf die Versorgung durch Eltern oder Fürsorgende angewiesen, und dieses Geben setzt sich tatsächlich oft bis ins Erwachsenenalter fort. So ist zum Beispiel für Godbout »die Familie das wichtigste Umfeld für das Schenken in der Gesellschaft«.63 Zudem beruht ein großer Teil dieser Schenkpraktiken nicht auf Reziprozität. Wenn man beispielsweise seine Kinder beschenkt, steht 61 Benkler, Sharing Nicely, S. 332. 62 Godbout / Caillé, The World of the Gift, S. 9; Negru, The Plural Economy of Gifts
and Markets. 63 Godbout / Caillé, The World of the Gift, S. 29.
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dahinter nicht primär die Erwartung, von ihnen dereinst eine gleichwertige materielle Gegenleistung zu erhalten.64 Hübsch illustriert dies Daniel Millers Sichtweise vom Einkaufen, das seiner Ansicht nach »hauptsächlich einen Akt der Liebe« darstellt,65 weil es sich insgesamt auf den Nutzen anderer Mitglieder im Haushalt richtet.66 Solches Schenken gilt eher als ein positionelles denn als ein reziprokes: Es erfolgt nicht um einer Verpflichtung zur Gegenleistung willen oder um einen Prozess der Reziprozität anzustoßen, sondern aufgrund der sozialen Position der jeweils Gebenden, die mit einer normativen Erwartung einhergeht, nämlich aufgrund der Elternposition.67 Entsprechend wird eine wohltätige Spende nicht durch die Erwartung motiviert, dass der oder die Empfangende später eine Gegenleistung erbringt, wobei die positionsbedingten normativen Erwartungen, solche Spenden zu leisten, insgesamt eher schwach ausgeprägt sind. Wie wir in den nachfolgenden Unterkapiteln sehen, sind viele digitale Geschenke mit keinerlei Verpflichtung verknüpft. Selbst wenn Schenkpraktiken Elemente von Reziprozität einschließen, ist eine tauschwirtschaftliche Deutung im Sinn von Reziprozität mitunter völlig verkehrt. Wenn ich beispielsweise von jemandem ein Geburtstagsgeschenk erhalte und ihm wenige Monate später selbst eines überreiche, kann der Beobachter dies durchaus als ein Geben ansehen, das zur Gegenleistung verpflichtet, als eine Art verzögerten Austausch. Aber dies ist womöglich eine völlige Fehldeutung des zweiten Geschenks: Anstatt als Vollendung eines verzögerten Austausches gleichwertiger materieller Güter können die Beteiligten dieses zweite und tatsächlich auch das erste Geschenk – und zwar mit Recht – als Bestätigung dafür deuten, dass sie zu ihrer Verbundenheit miteinander stehen. Die Logik in solchen Fällen ist – außer im alleroberflächlichsten Sinn – keine Reziprozität von Objekten, sondern eine der wechselseitigen Anerkennung und Verbundenheit zwischen
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Cheal, The Gift Economy, S. 8, S. 57f.; Godbout / Caillé, The World of the Gift, S. 24. Miller, A Theory of Shopping, S. 18. Ebenda, S. 12. Elder-Vass, Free Gifts and Positional Gifts.
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Menschen.68 Einen Ablauf zu verfolgen, bei dem auf ein Geschenk in Gegenrichtung ein anderes folgt, und ihn als Reziprozität zu definieren, gemahnt an einen platten Empirismus oder sogar Behaviorismus. Solche Ereignisse im Gegensatz zum Selbstverständnis der Beteiligten als verzögertes Tauschgeschäft zu interpretieren, heißt die von der Tauschwirtschaft geprägten Vorurteile des Analysten höher zu bewerten als das Verständnis der beteiligten Akteur_innen. Sogar scheinbar reziproke Gaben können aus den tauschwirtschaftlichen Annahmen herausfallen, die typischerweise den vorherrschenden Diskurs der neoklassischen Wirtschaftslehre prägen, weil sie vielmehr als Teil einer moralischen Ökonomie zu verstehen sind, einer von Transfers, die sich aus emotionalen Bindungen, sozialen Beziehungen und einem normativen Umfeld und eben nicht aus einem Streben nach individuellen materiellen Vorteilen ergeben. Daher ist Mauss aus einer Reihe von Gründen bedeutsam. Er liefert nicht nur erhebliche Nachweise dafür, dass Volkswirtschaften nicht zwangsläufig auf dem Marktprinzip beruhen müssen, sondern belegt überdies, dass wirtschaftliche Akteur_innen stets innerhalb eines kulturellen Kontextes operieren, der ihre Motive, Erwartungen und Handlungen prägt. Solange wir tauschwirtschaftliche Deutungen seines Werks vermeiden, zeigt er sich als ein Denker, der über die marktwirtschaftliche Tradition weiter hinausblickte als andere bedeutende Wirtschaftstheoretiker.
Die Wirtschaftssoziologie Wie die heterodoxe Ökonomie beinhaltet die Wirtschaftssoziologie zahlreiche Richtungen, die indes ein klares gemeinsames Thema eint: die Beziehungen zwischen dem Ökonomischen und dem Sozialen, die ein deutliches Potenzial für fruchtbare Zusammenarbeit eröffnen.69 Mindestens zwei dieser Richtungen – mit dem Werk Karl Polanyis bzw. dem Mark Granovetters im Zentrum – gingen der Frage dieser 68 Schrift, Introduction: Why Gift?, S. 2. 69 Brown / Spencer, Understanding the Global Financial Crisis.
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Verbindung mithilfe des Konzepts der sozialen Einbettung (embeddedness) nach. Laut Polanyi ist Wirtschaft »in Institutionen, wirtschaftliche und nichtwirtschaftliche, eingebettet und eingebunden«, darunter zum Beispiel in »monetäre Institutionen oder in die Verfügbarkeit von Werkzeugen oder Maschinen« sowie in »Religion oder Staat«. Und er fährt fort: »Das Studium des sich verändernden Platzes, den die Wirtschaft in der Gesellschaft einnimmt, ist deshalb nichts anderes als die Forschung dazu, auf welche Art der wirtschaftliche Prozess zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten instituiert ist.«70 Polanyis Argumentation stellt unter anderem eine Kritik an der MainstreamÖkonomie dar. Zum einen greift er deren Konzeption an, nach der Wirtschaft »in analytischer Hinsicht autonom« von sozialen Einflüssen sei,71 und betont stattdessen, dass diese stets in einen spezifischen institutionellen Kontext eingebettet und von diesem abhängig sei. Zum anderen attackiert er deren ahistorische und totalisierende Konzeption, wonach Wirtschaft ausschließlich und umfassend eine Marktwirtschaft sei. Ökonomien, so seine Argumentation, könnten auf verschiedene Arten instituiert – von verschiedenen organisatorischen und normativen Kontexten geprägt oder in diese eingebettet – sein, mit drei besonders wichtigen alternativen »Integrationsformen«:72 »Reziprozität, Umverteilung und Austausch«, Begriffe, die grob denen der Gabenökonomie, der staatlich gelenkten Wirtschaft und der Marktwirtschaft entsprechen.73 Auch wenn jede einzelne in einer bestimmten Volkswirtschaft vorherrschen kann, so können sie, wie Polanyi ebenfalls erkennt, häufig auch gemischt auftreten.74 Damit nimmt Polanyi an herausragender Stelle die in diesem Buch vertretene Position vorweg. Er kritisiert die »ökonomistische Täuschung«, wie er sie nennt, »eine artifizielle Gleichsetzung von Wirtschaft mit Marktwirtschaft«, und forderte einen breiteren Bezugsrahmen für wirt70 Polanyi, The Economy as Instituted Process, S. 36. 71 Krippner / Alvarez, Embeddedness and the Intellectual Projects of Economic So-
ciology, S. 221f. 72 Polanyi, The Economy as Instituted Process, S. 36. 73 Ebenda. 74 Ebenda, S. 40.
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schaftswissenschaftliches Denken, um dieses Trugbild zu überwinden.75 Der Gedanke, dass Wirtschaft nicht autonom vom gesellschaftlichen Einfluss funktionieren kann, ist auch für ein Verständnis der Marktformen an sich bedeutsam. Auch wenn Polanyi dem Marktverhalten auf der Mikroebene relativ wenig Beachtung schenkte,76 gibt uns die Soziologie zahlreiche Mittel an die Hand, um die Argumentation weiter auszuführen. Austausch ist ein grundlegender institutioneller Prozess. So besteht zum Beispiel das, was getauscht wird, wenn wir etwas käuflich erwerben, nicht nur aus einem materiellen Objekt, sondern auch aus Eigentumsrechten an diesem, die stets von der breiteren rechtlichen und normativen institutionellen Ordnung abhängen. Beim Kauf einer Ware erwerben wir die gesellschaftlich anerkannten und normativ durchgesetzten Rechte, diese exklusiv zu nutzen oder zumindest mitzubenutzen. Jede Markttransaktion ist ein Austausch institutionalisierter Rechte. Zudem findet der gesamte Prozess des Austausches in einem durch Normen festgelegten und abgegrenzten Rahmen (auf eine je nach sozialem Kontext variierenden Art) statt. So werden wir beispielsweise von sozialen Normen geleitet, die regeln, welche Art Dinge überhaupt getauscht werden dürfen, von wem oder an wen wir nicht kaufen oder verkaufen dürfen oder sollen, wie der jeweilige Verkaufsprozess abzulaufen hat und dass Verkäufer_innen verpflichtet sind, zu den betreffenden Gütern korrekte Angaben zu machen. Eine Kundschaft wird – zumindest teilweise – von Wünschen motiviert, die ebenfalls normativ beeinflusst sind: So können wir uns zum Beispiel verpflichtet fühlen, mit der Mode zu gehen, weshalb wir dann immer wieder Neues tragen. Selbst die Praktiken, wie Waren bepreist werden, sind institutionalisiert.77 Diese Abhängigkeit des Ökonomischen vom Sozialen bildete in der Wirtschaftssoziologie ein ständig wiederkehrendes Thema,78 das
75 Ebenda, S. 49. 76 Krippner / Alvarez, Embeddedness and the Intellectual Projects of Economic So-
ciology, S. 221f. 77 Harvey, Introduction: Putting Markets in their Place. 78 Siehe zum Beispiel Smelser / Swedberg, The Handbook of Economic Sociology.
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auch Mark Granovetter trotz seiner eher abweichenden Darstellung der Einbettung im Visier hat. Granovetter interessiert sich insbesondere für die Rolle sozialer Netzwerke bei der Befähigung zum wirtschaftlichen Austausch. Die neoklassische Wirtschaftstheorie geht davon aus, dass die Identität und Geschichte eines Individuums für den Prozess des Warentauschs auf dem Markt irrelevant seien, weil dieser den Annahmen nach rein von Fragen des Preises und Gebrauchswertes bestimmt wird. Aber Granovetter konzentriert sich auf die Abhängigkeit des Austausches vom wechselseitigen Vertrauen der Geschäftspartner_innen. Ohne solches Vertrauen, so Granovetter, wäre es beispielsweise töricht, einer unbekannten Person für eine Ware im Wert von fünf Dollar eine Zwanzig-Dollar-Note auszuhändigen: Dies tun wir nur, weil wir darauf vertrauen, dass uns selbst Unbekannte das Wechselgeld herausgeben, weil sie bestimmten moralischen Normen gehorchen.79 Aber häufiger und bei Transaktionen, bei denen Unehrlichkeit schlimmere Folgen hätte, verlassen wir uns laut Granovetter auf eine schon bestehende soziale Beziehung: Wir vertrauen Menschen, weil wir mit ihnen schon zuvor problemlos ein Geschäft abgewickelt haben oder weil wir ihren Ruf kennen. Die Reputation hängt davon ab, dass wir gemeinsamen sozialen Netzwerken angehören. Granovetter nennt das Beispiel von Diamantenhändlern, die einfach per Handschlag großangelegte Geschäfte besiegelten, weil sie einer Gemeinschaft angehörten, die das Verhalten der jeweiligen Geschäftspartner beobachtet, diskutiert und damit starke Belege für deren Vertrauenswürdigkeit gesammelt hatte.80 Im Gegensatz zur neoklassischen Sicht, wonach sich Akteur_innen »wie Atome außerhalb eines sozialen Kontextes verhalten oder entscheiden, sind ihre Handlungen, so Granovetter, »vielmehr in konkrete, bestehende Systeme sozialer Beziehungen eingebettet«.81 Granovetters einflussreiche Darstellung des Eingebettetseins weicht insofern sichtlich von der Polanyis ab, als sie anstelle des makroinstitutionellen Kontextes die Interaktionen auf Mikroebene in 79 Granovetter, Economic Action and Social Structure, S. 489. 80 Ebenda, S. 490, S. 492. 81 Ebenda, S. 487.
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den Fokus rückt. Auch wenn sie unserem Verständnis des ökonomischen Handelns eine soziologische Dimension hinzufügt, stand sie oft in der Kritik mit der Begründung, dass sie die marktzentrierte Position der Mainstream-Ökonomie letztlich unangetastet lasse. Anstatt diese anzufechten, scheint Granovetter eher einige soziologische Vorbedingungen abzustecken, die für das Funktionieren der Märkte in der von der Neoklassik vertretenen Weise notwendig sind. Beckert weist auf »eine implizite Akzeptanz der formalistischen Definition des Ökonomischen« hin, »wie Polanyi sie nennt«, wonach eine reine Marktwirtschaft existiere, die vom Sozialen, in das sie eingebettet ist, geschieden sei.82 Dies beinhaltet, dass es »irgendwo einen harten Kern des Marktwirkens gibt, der unabhängig von der Gesellschaft besteht«.83 Dies zu akzeptieren, bedeutet freilich ein zu weit gehendes Zugeständnis an die Mainstream-Ökonomie.84 Der Verweis darauf, dass wirtschaftliche Aktivitäten in einen sozialen Kontext eingebettet sind, ist allerdings noch nicht hinreichend. Wirtschaft ist nichts Geschiedenes vom Sozialen, in das es lediglich eingebettet ist, sondern vielmehr ein Aspekt oder eine Untermenge der sozialen Praxis und damit durch und durch gesellschaftlich bedingt. Stattdessen müssen wir »den wirtschaftlichen Prozess als einen organischen Teil der Gesellschaft sehen«.85 Dies bedeutet, dass soziologische Theorien des Ökonomischen streng mit dem formuliert werden müssen, was von den Wirtschaftswissenschaften herübergerettet werden kann,86 wobei aber die Begriffe dieser Formulierung entscheidend sind.87 Wir können keine mathematisch-deduktiven Modelle aus der Ökonomie importieren, aber 82 Beckert, The Great Transformation of Embeddedness. 83 Krippner / Alvarez, Embeddedness and the Intellectual Projects of Economic So84
85 86 87
ciology, S. 231. Ansätze wie diese machen aus der Soziologie offenbar eine Art »Wissenschaft für ›Liegengebliebenes‹«, die es den Wirtschaftswissenschaften ermöglicht, ihren eigenen Geltungsbereich abzustecken, und sich selbst von den Resten ernährt, die diese verschmähen. Siehe Curran, The Challenge of the Financial Crisis for Contemporary Sociology, S. 1048. Smelser / Swedberg, The Handbook of Economic Sociology, S. 6. Ebenda, S. 20. Sparsam, Explanatory Isomorphism Between Economics and New Economic Sociology.
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Beiträge beider Disziplinen zu einer Synthese zusammenführen, um die wirtschaftlichen Mechanismen vor dem Hintergrund eines realistischen Verständnisses sozialer Ursächlichkeiten und Erklärungen zu verstehen. Neuere Beiträge zur Wirtschaftssoziologie zeigen sich nach wie vor vielfältig. Aber auch wenn zahlreiche unserem Verständnis von Wirtschaft dienlich sind, herrscht immer noch das Muster vor, die Darstellungen der Mainstream-Ökonomen der Wirtschaft möglichst unangetastet zu lassen und sie dazu in eine Art Schutzhülle aus soziologischem Kontext zu verpacken. Die wohl auffälligsten Beispiele dazu liefern Forschende, die unter Michel Callons Leitung Studien zu Wissenschaft und Technik durchführen, die mit der Akteur-Netzwerk-Theorie assoziiert sind.88 So vertreten Callon und Muniesa den Standpunkt, dass wir Märkte als »kalkulatorische kollektive Einrichtungen« denken müssten, die »Kompromisse ermöglichen, nicht nur zur Natur der zu erzeugenden und zu vertreibenden Güter, sondern auch zu dem ihnen beizumessenen Wert«.89 Dabei untersuchen sie die besonderen Zusammenstellungen von Dingen und Operationen, die ihrer Überzeugung nach diese Kalkulationen ermöglichen. Dies sehen sie als eine Verbesserung an der ökonomischen Konzeption vom Markt als »einem abstrakten Raum, in dem sich gebündelte Nachfragen und Angebote begegnen und kreuzen«.90 Auch wenn sie zu Recht bemerken, dass die Mainstream-Ökonomie diese Konzeption mit einem bemerkenswerten Desinteresse für reale empirische Märkte kombiniert hat,91 ist ihr eigener Ansatz keineswegs ausgewogener oder umfassender. Sie ignorieren nicht nur die systematischen strukturellen Konsequenzen von Märkten, sondern auch zahlreiche soziologische Einflüsse, die von der früheren Wirtschaftssoziologie in mühseliger Kleinarbeit dokumentiert wurden. Ihre
88 Zu meiner Kritik an der Akteur-Netzwerk-Theorie siehe Elder-Vass, Searching for
Realism, Structure and Agency in Actor Network Theory, sowie ders., Free Gifts and Positional Gifts. 89 Callon / Muniesa, Economic Markets as Calculative Collective Devices, S. 1229. 90 Ebenda, S. 1239. 91 Nee, The New Institutionalisms in Economics and Sociology, S. 56.
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Marktakteur_innen sind rein »kalkulatorische Instanzen«,92 ein Konzept, das verdächtig an die rationale Optimierung gemahnt, wenn auch losgelöst von spezifisch menschlichen Entscheidungsträger_innen, während Hinweise auf institutionelle Einflüsse, Normativität, Sozialisation, habitus, Macht oder Emotionen dabei fast vollständig oder ganz fehlen. Eine letzte, vielversprechendere Richtung innerhalb der jüngsten Wirtschaftssoziologie richtete ihr Augenmerk verstärkt auf die Gabenökonomie. Auch wenn die soziologische Literatur zum Schenken in der Vergangenheit vom Einfluss durch Mauss und insbesondere durch tauschwirtschaftliche Lesarten seines Werks – so durch die weiter vorn erörterte Bourdieus – überschattet wurde, mehren sich die Anzeichen dafür, dass Schenken als eine eigenständige wirtschaftliche Aktivität mit einer Reihe von Rollen und Motivationen inzwischen akzeptiert wird. Die klassische Quelle ist hier Richard Titmuss’ viel zitierte, 1970 erstveröffentlichte Studie zum Blutspenden, die zum Ergebnis kommt, dass das schenkbasierte System zur Blutbeschaffung den Bedarf effizienter deckt als kommerzielle Alternativen.93 Neuere Studien konzentrierten sich zum Beispiel auf die komplexen institutionellen Strukturen, die um das Schenken herum entstanden sind, insbesondere auf Organspenden94, Philanthropie95 und Politik96, darauf, wie Schenken gegen den Bereich der Tauschgeschäfte abgegrenzt wird,97 auf die Einflüsse von Normen auf das Schenken98 sowie auf die zuweilen ziemlich durchlässigen Grenzen zwischen Geschenk und Markt.99 Auch wenn die betreffenden Autoren das Schenken aus viel-
92 93 94 95 96 97 98 99
Callon / Muniesa, Economic Markets as Calculative Collective Devices, S. 1236. Titmuss, The Gift Relationship. Healy, Last Best Gifts. Barman, An Institutional Approach to Donor Control; McGoey, No Such Thing as a Free Gift; Sanghera / Bradley, Social Justice, Liberalism and Philanthropy. Lainer-Vos, Sinews of the Nation. Zelizer, The Social Meaning of Money, Kapitel 1. Caplow, Rule Enforcement without Visible Means; Elder-Vass, Free Gifts and Positional Gifts. Bird-David / Darr, Commodity, Gift and Mass-Gift; McClain / Mears, Free to Those Who Can Afford It; Pettinger, Knows How to Please a Man.
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fältigen Perspektiven betrachten, zeigt allein schon die Tatsache, dass es inzwischen als ein wichtiger Gegenstand der Wirtschaftssoziologie gilt, ein wachsendes Bewusstsein für die Vielfalt von Wirtschaftstätigkeit. Auch das Wachstum der digitalen Gabenökonomie beförderte eine beachtliche akademische und oft kritische Forschung, wenn auch nicht in einer einzelnen Disziplin konzentriert. Deren Ergebnisse verwerte ich ausgiebig in den hinteren Kapiteln dieses Buchs. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Der Jurist Yochai Benkler trug Bedeutendes zum Verständnis der Peer-Produktion als alternative Wirtschaftsform bei. Und der marxistische Medienforscher Christian Fuchs veröffentlichte wertvolle Beiträge zur Verflechtung von digitaler Gabenökonomie und Warenwirtschaft, auch wenn ich einige seiner späteren Arbeiten kritisieren werde.100 Die Wirtschaftssoziologie hält folglich ein beachtliches Material mit Relevanz bereit, um das Funktionieren der Wirtschaft zu erklären. Sie kann unter Umständen »Mikrogrundlagen« für eine alternative politische Ökonomie liefern,101 brachte es aber bislang nicht zu Erklärungen, die mit denen der Mainstream-Ökonomie konkurrieren. Auch bezieht die Wirtschaftssoziologie keine klare ethische oder kritische Position. Während sie sich häufig damit befasst, die Wirtschaftswissenschaften zu hinterfragen, stellt sie deutlich seltener die Art infrage, wie unsere Wirtschaft operiert.
Schlussfolgerung Akademische Analysen zur Wirtschaft sind hauptsächlich solche von Marktsystemen und zeigen sich dabei untereinander tief gespalten. Wirtschaftswissenschaftler_innen neigen dazu, die persönlichen und soziologischen Faktoren zu vernachlässigen, die das Verhalten von 100 Benkler, Coase’s Penguin, or, Linux and the Nature of the Firm, ders., Sharing Ni-
cely; ders., The Wealth of Networks; Fuchs, Internet and Society. 101 Beckert, Capitalism as a System of Expectations Toward a Sociological Microfoundation of Political Economy.
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Marktakteur_innen prägen, und gehen davon aus, von diesen problemlos abstrahieren zu können, wenn sie die kausalen Folgen von Marktinteraktionen untersuchen. Ihre Annahmen – besonders die landläufige, nach der Akteur_innen am Markt rein rational denkende, berechnende und optimierende Agierende seien – sind auffällig realitätsfern, können sich aber teils deshalb halten, weil sich anhand von ihnen mathematisch gut zu verarbeitende Modelle von Marktinteraktionen erstellen lassen. Dagegen herrscht unter Soziolog_innen der Trend, sich auf soziale Faktoren zu fokussieren, die das Verhalten von Marktakteur_innen prägen, während sie die Möglichkeit einer systematischen Analyse der Folgen von Marktinteraktionen ignorieren. Auch wenn ihr Ansatz realitätsnähere Darstellungen des Marktes abwerfen mag, gibt er ihnen nur ein spärliches Instrumentarium an die Hand, mit dem sich die wirtschaftlichen Auswirkungen von Märkten erklären lassen. Am Ende stehen die Wirtschaftswissenschaftler_innen mit unrealistischen Modellen von Märkten da, während die Soziolog_innen nicht gewappnet sind, um deren kausale Folgen zu erklären. Diese Kluft zwischen beiden müssen wir mit einer Analyse der wirtschaftlichen Phänomene überbrücken, die eine realistische soziologische Erklärung des Verhaltens von Wirtschaftsakteur_innen mit einer Untersuchung dazu kombiniert, wie solches Verhalten systematische wirtschaftliche Effekte hervorbringt. Eine solche Analyse birgt das Potenzial, sowohl die realen Verhältnisse zuverlässiger als die wirtschaftswissenschaftlichen Modelle abzubilden als auch fruchtbarer als die reine Kritik zu wirken, welche die Soziologie gegen diese vorbringt. In diesem Buch geht es allerdings nicht einfach darum, sich am Aufbau einer stringenteren Wirtschaftstheorie zu versuchen, die im Prinzip politisch neutral sein könnte. Es versteht sich als Kritik nicht nur an den Wirtschaftstheorien, sondern an der Marktwirtschaft überhaupt. Daher erklärt es wirtschaftliche Praktiken nicht nur, sondern bewertet sie auch. Andrew Sayers Konzeption der moralischen Ökonomie steckte für eine solche Art Untersuchung einen theoretischen Rahmen ab. Einerseits auf den Forschungen E. P. Thompsons aufbauend, umfasst »moralische Ökonomie« als Studienobjekt »sämtliche Formen der Versorgung,
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darunter auch die außerhalb der Geldwirtschaft«,102 und beschränkt sich somit keineswegs auf die Marktwirtschaft.103 Für Sayer wie für Thompson hat Wirtschaft auch eine moralische Dimension, da eben nicht ausschließlich vom individuellen Eigeninteresse angetrieben (das gleichwohl als Faktor wirkt).104 Weitere Faktoren wie Emotionen, Fürsorge und normative oder kulturelle Einflüsse sind für wirtschaftliches Handeln ebenso bestimmend.105 Aber Normativität spielt in der Wirtschaft eine noch größere Rolle: Normen sind auch konstitutiv für wirtschaftliche Institutionen, so für Eigentum, das vollständig auf einer Menge von Normen zu den Rechten beruht, über die Menschen bezogen auf jene Ressourcen verfügen, auf die sie Eigentumsansprüche haben.106 Solche Institutionen werden zudem durch diskursive Strukturen geschützt, die zu ihrer Legitimation eingesetzt werden107 – und die ebenfalls normativ sind.108 Um den Bezug zum eigentlichen Thema deutlich zu machen: Wir müssen nicht nur anerkennen, dass Normen Praktiken hervorbringen und dass somit das Eigentum (neben anderen wirtschaftlichen Institutionen) wie auch seine Legitimation von Praktiken abhängt. Moralische Ökonomie bezeichnet allerdings auch eine Art Untersuchung, die sowohl eine analytische wie eine normative Form annimmt. In ihrer analytischen Form ist sie »das Studium dazu, auf welche Arten wirtschaftliche Aktivitäten von moralisch-politischen Normen und Einstellungen beeinflusst und wie umgekehrt diese Normen von ökonomischen Kräften untergraben werden«.109 In diesem Sinne kann sie als eine Variante der Wirtschaftssoziologie oder vielleicht als eine Lehre gelten, die sich dagegen wendet, dem Studium von Wirtschaft irgendwelche traditionellen Grenzen einer Disziplin auf102 Sayer, Moral Economy, S. 2. 103 Hart, Moral Economy; Thompson, The Moral Economy of the English Crowd in 104 105 106 107 108 109
the Eighteenth Century; ders.; Customs in Common. Sayer, Moral Economy and Political Economy, S. 80. Ders., (De)Commodification, Consumer Culture, and Moral Economy, S. 353. Sayer, Why Things Matter to People, S. 249. Ebenda. Elder-Vass, The Reality of Social Construction, Kapitel 8. Sayer, Moral Economy and Political Economy, S. 80.
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zuerlegen. In ihrer normativen Form nimmt sie eine bewertende Haltung gegenüber »wirtschaftlichen Systemen, Handlungen und Motiven mit Blick auf deren Auswirkungen auf das Leben von Menschen« ein,110 während sie zugleich »die Standpunkte« reflektiert, »von denen aus diese Kritik vorgetragen wird«.111 Moralische Ökonomie ist folglich ethisch und politisch wie auch wissenschaftlich. In diesem Sinne ist das vorliegende Buch ein Werk zur moralischen Ökonomie. Diese stellt freilich keine voll ausgereifte Tradition des wirtschaftswissenschaftlichen Denkens, sondern eher eine Orientierung für die Reflexion über Wirtschaft dar und ist mit Anleihen aus mehreren anderen Traditionen problemlos vereinbar. Nachdem sich die beiden vorigen Kapitel mit einer Untersuchung zu früheren Traditionen beschäftigt haben, wenden wir uns im nächsten der konstruktiven Phase zu: dem Aufbau eines neuen theoretischen Rahmens, der ein Verständnis vielfältiger Arten von Wirtschaft ermöglicht.
110 Ebenda, S. 80f. 111 Ebenda, S. 81; siehe ebenso Sayer, Warum wir uns die Reichen nicht leisten kön-
nen, S. 29–33.
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Komplexe von Appropriationspraktiken
Einführung Volkswirtschaften sind keine Monolithen, sondern vielfältige Gemische aus variierenden Wirtschaftsformen. Folglich müssen wir für ein Verständnis und eine Bewertung wirtschaftlicher Phänomene diese variierenden Formen und ihre Wirkweisen jeweils für sich und in Verbindung miteinander beschreiben und analysieren können. Dieses Kapitel entwickelt einen Rahmen für eine Analyse von Wirtschaftsformen, der weder mit ideologischen Vorurteilen über Märkte noch mit einem teleologischen Narrativ zu Epochen verknüpft ist, die von einer einzigen Produktionsweisen beherrscht werden. Stattdessen führt es – als zentrale theoretische Neuerung des Buches – das Konzept der Appropriationspraktiken ein und vertritt den Standpunkt, dass wir unterschiedliche Wirtschaftsformen produktiver als Komplexe von Appropriationspraktiken begreifen können. Mit der Bezeichnung Appropriationspraktiken rücke ich von vornherein ins Blickfeld, in welcher Weise diese Praktiken für die jeweils Beteiligten eine Vielfalt an unterschiedlichen Nutzen produzieren – oder tatsächlich auch negative Folgen haben, die ich Übel nennen werde. Dem gilt letztlich das Hauptaugenmerk jeder politischen Ökonomie: Wer (oder welche Gruppen oder Typen von Personen) zieht welche Nutzen aus unserem Wirtschaftssystem, woraus ergibt sich dies, wie sollen wir diese Appropriationen bewerten und wie könnten sie tatsächlich verbessert werden? Dies ist zwangsläufig eine politische und ethische Debatte, die sich allerdings auf ein solides Verständnis der beteiligten kausalen Strukturen gründen muss. Dieser Rahmen trägt der Vielfalt Rechnung, indem er nicht nur berücksichtigt, dass es ein breites Spektrum an Appropriationspraktiken
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gibt, sondern auch, dass diese in Kombination miteinander in vielfältigen unterschiedlichen Komplexen auftreten können und dass mitunter ein und dieselbe Praktik zu verschiedenen Wirtschaftsformen beiträgt, wenn sie einen Bestandteil unterschiedlicher Komplexe bildet. Eben diese Komplexe von Praktiken, so meine Kernaussage, stellen charakteristische Wirtschaftsformen mit verschiedenen systembedingten Konsequenzen dar. Streng genommen, sind es nicht die Praktiken oder deren Komplexe, die kausal wirken. Diese müssen erst in der Kombination mit Menschen und Dingen – wie Haushalten, Firmen, Staaten und anderen Formen eines Kollektivs – soziale Strukturen bilden, damit wir es mit Entitäten zu tun haben, die in ihrem Zusammenspiel wirtschaftliche Phänomene hervorbringen. In der gegenwärtigen Welt koexistieren, konkurrieren und interagieren viele dieser Strukturen und bringen dabei ein Wirtschaftssystem hervor, das sich weder wie das marxistische Modell des Kapitalismus noch wie das marktwirtschaftliche der Mainstream-Ökonomie verhält. Dieses Kapitel ist so aufgebaut, dass es seine zentrale Innovation schrittweise einführt. Es beginnt mit einer Untersuchung dazu, warum Praktiken die kohärentesten Grundeinheiten von Wirtschaftsformen sind, und führt etwas näher aus, was Praktiken sind und wie sie funktionieren. Dann wendet es sich dem Konzept der Appropriation und den verschiedenen Arten von Praktiken zu, die als Appropriationspraktiken gelten können. Am Ende erörtert es die Fragen, die sich aus einer Untersuchung dazu ergeben, wie vielfältige Appropriationspraktiken in Komplexen zusammenspielen, und illustriert diese kurz mit Verweisen auf verschiedene Varianten des Kapitalismus und auf hybride Formen.
Praktiken: die Grundeinheit von Wirtschaftsformen Der hochabstrakte Begriff der Wirtschaftsform bezeichnet verschiedene Arten, wie Wirtschaftstätigkeit organisiert ist, beinhaltet aber kein Bekenntnis zu einer bestimmten Theorie der Wirtschaftsformen. Dagegen bezieht sich der Begriff der Produktionsweise zwar ebenfalls auf unterschiedliche Organisationsweisen von Wirtschaftstätigkeit, im-
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pliziert aber eine Reihe theoretischer Festlegungen – tatsächlich ein Bekenntnis zu Marx’ Geschichtstheorie. Während Produktionsweise so als eine mögliche Konkretisierung des abstrakteren Begriffs der Wirtschaftsform dienen könnte, erörtert dieses Kapitel mit dem Komplex der Appropriationspraktiken eine alternative Konkretisierung: Dagegen verfügt die traditionelle Mainstream-Ökonomie über kein stichhaltiges Konzept der Wirtschaftsform im Allgemeinen, sondern geht davon aus, dass es nur eine Form von Wirtschaft, die normale und wünschenswerte gebe: die Marktwirtschaft. Eine Theorie der Wirtschaftsform wie die der Produktionsweisen lässt sich anhand von mindestens zwei Dimensionen charakterisieren. Wir können zunächst danach fragen, auf welche Einheit von Tätigkeit sie sich bezieht: Wenn Wirtschaftsformen voneinander unterscheidbar sein sollen, braucht es ein einigermaßen gut abgegrenztes Kennzeichen oder eine entsprechende Klasse von Tätigkeiten, die sich mehr oder weniger eindeutig dahingehend beschreiben lassen, dass sie eine besondere Form des Wirtschaftens ausmachen. Zweitens können wir fragen, welcher Aspekt oder welche Aspekte der Organisation von Wirtschaftstätigkeit in dieser Theorie als signifikant, als das Kriterium herausgegriffen wird, das eine Wirtschaftsform gegenüber anderen auszeichnet. Dieses Unterkapitel befasst sich mit diesen Einheiten. Wenn der Marxismus Produktionsweisen traditionell mit historischen Epochen gleichsetzt, erhebt er die erstgenannten zum kennzeichnenden Merkmal einer gesamten Gesellschaftsformation: Mit anderen Worten, er erklärt eine ganze Gesellschaft zu einer Wirtschaftsform. Tatsächlich setzt auch der Mainstream mit seiner Konzeption der Marktwirtschaft Wirtschaftsform implizit mit ganzen Gesellschaften gleich. Dabei sind die Konzepte der Gesellschaftsformation oder Gesellschaft dann problematisch, wenn sie einen methodologischen Nationalismus beinhalten, das heißt, wenn Gesellschaften konzeptionell durch Staatsgrenzen umrissen werden,1 auch wenn immer mehr Wissenschaftler_innen Gesellschaft und Gesellschaftsformation vermehrt in globalen Begriffen denken. Aber egal, ob wir den letztgenannten Begriff im nationalen oder globalen Sinn gebrauchen: Die in 1 Chernilo, A Social Theory of the Nation-State, Kapitel 1.
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Kapitel 2 dargelegten Argumente haben deutlich gemacht, dass in der gegenwärtigen Wirtschaft ökonomische Abläufe weitaus zu vielfältig sind, als dass die Gesellschaftsformation zur Grundeinheit der Wirtschaftsform taugen könnte. Weil es innerhalb einer Gesellschaft oder Gesellschaftsformation zahlreiche Wirtschaftsformen geben kann, muss die Einheit, die sich eindeutig mit einer bestimmten Wirtschaftsform gleichsetzen lässt, kleiner sein als die gesamte Gesellschaftsformation. Diejenigen marxistischen Denker_innen, die zu argumentieren versuchten, dass es innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsformation verschiedene Produktionsweisen geben könne, konzipierten die Einheit der Wirtschaftsform tendenziell als das, was wir als Standort oder, genauer vielleicht, als soziale Entität bezeichnen könnten. So wurde beispielsweise die Debatte um Hausarbeit häufig offenbar auf der Basis der Annahme geführt, dass der Kapitalismus innerhalb kommerzieller Betriebe operiere, während irgendeine andere Wirtschaftsform, so es eine gebe, innerhalb des Haushalts ihren Sitz habe. Auch wenn der Begriff Haushalt typischerweise mit dem Raum des häuslichen Bereichs gleichgesetzt wird, während als kommerzieller Betrieb die Räumlichkeiten der Fabrik, des Ladengeschäfts oder Büros gilt, sind diese Gleichsetzungen mit geografischen Standorten ziemlich ungenau. Wenn zum Beispiel eine Büroangestellte ihre Aufgaben zu Hause erledigt, ist sie deswegen nicht für ihren Haushalt, sondern für ihren Arbeitgeber tätig. Und wenn eine Hausfrau in einem Supermarkt Einkäufe tätigt, arbeitet sie nicht für den Supermarktbetreiber, sondern für den eigenen Haushalt. Stimmiger lässt sich somit argumentieren, dass die Einheit in der sozialen Entität auszumachen ist: In diesen Fällen im geografisch gestreuten Betrieb oder Haushalt. Entsprechend argumentieren beispielsweise die Autorinnen, die hinter dem Namen J. K. Gibson-Graham stehen: Sie machen Privatunternehmen als kapitalistisch und das gesamte Spektrum an anderen sozialen Entitäten wie Familienunternehmen, Haushalten oder Kooperativen als nichtkapitalistisch aus.2
2 Z. B. Gibson-Graham, A Postcapitalist Politics, S. 65f.
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Aber selbst diese Einteilung erweist sich als unbefriedigend. Nicht alle Tätigkeiten im Haushalt lassen sich plausibel als Fälle derselben Wirtschaftsform betrachten, wie auch nicht sämtliche Arbeiten in kommerziellen Betrieben als kapitalistisch gelten können. Als eine Abhilfe ließe sich argumentieren, dass in unterschiedlichen Haushalten unterschiedliche Wirtschaftsformen operieren, wie Fraad, Resnick und Wolf implizit vertreten.3 Diese Argumentation ist durchaus nützlich, setzt die Grundeinheit für die Analyse aber nach wie vor falsch an. Denn selbst in ein und demselben Haushalt können vielfältige Wirtschaftsformen am Werk sein. So findet in manchen Haushalten eine Mischung aus Arbeiten statt, wenn Familienmitglieder unentgeltlich Aufgaben übernehmen, während Außenstehende – bei der Kinderbetreuung, der Haushaltsführung, beim Putzen oder im Garten – gegen Bezahlung tätig sind. Miriam Glucksmann zum Beispiel dokumentiert in ihrer Studie zu Arbeiterinnen in den 1930er-Jahren in Lancashire eine Vielfalt von Mischungen aus bezahlter und unbezahlter häuslicher Arbeit.4 Ähnlich wird innerhalb kommerzieller Betriebe Lohnarbeit von Tätigkeiten begleitet, die zu Recht als Teil einer Gabenökonomie gelten können: am beachtenswertesten die Unterstützung, die sich Beschäftigte gegenseitig leisten.5 Verflechtungen der Warenund der Gabenökonomie in der Digitalwirtschaft illustrieren dieses Argument: Wenn zum Beispiel ein angestellter Programmierer in einem gewinnorientierten Software-Unternehmen Zeit damit zubringt, Programme für kostenlose Open-Source-Software zu schreiben, ist eher unklar, ob diese Tätigkeit in die Kategorie der »kapitalistischen Produktionsweise« fällt.6 Deswegen vertrete ich den Standpunkt, dass wir die Einheit, die sich klar einer bestimmten Wirtschaftsform zuordnen lässt, weder in der Gesellschaftsformation noch in der sozialen Entität, sondern vielmehr in der Praktik ausmachen können. Eine Praktik ist eine Tendenz,
3 Fraad u. a., Bringing it All Back Home. Man beachte, dass sie den Begriff Produk-
tionsweise vermeiden. 4 Glucksmann, Cottons and Casuals, Kapitel 3. 5 Sayer, Moral Economy, S. 10. 6 Elder-Vass, The Moral Economy of Digital Gifts.
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auf bestimmte Weise zu handeln, eine, die gewöhnlich durch normative soziale Erwartungen sowohl für das Individuum verstärkt als auch über Individuen hinaus standardisiert wird, auch wenn zu ihrer Standardisierung weitere Faktoren, insbesondere standardisierte materielle Objekte, beitragen können. Wenn wir uns wieder dem Fall der Beschäftigten zuwenden, die sich während ihrer Arbeitszeit gegenseitig unterstützen, sind die Praktik der Lohnarbeit und die des Sich-Aneignens von Mehrwert als Gewinn in diesem Zusammenhang beides kapitalistische Praktiken, während die Unterstützung von Kollegen aus der Kategorie herausfällt. Ähnlich können im Fall angestellter Programmierer, die Open-Source-Programme schreiben, die Praktik der Lohnarbeit und die des gewinnorientierten Vertriebs von Dienstleistungen am Kunden beide kapitalistisch sein, während das Schreiben dieser Open-Source-Programme eine schenkökonomische Praktik ist. Praktiken sind primär das Produkt sozialer Normen: von standardisierten Erwartungen dazu, wie wir uns verhalten sollen. Normen ergeben sich ihrerseits hauptsächlich daraus, dass Mitglieder sozialer Gruppen, die ich Normenkreise nenne, bestimmte Verhaltensweisen annehmen und durchsetzen.7 Zu jeder sozialen Norm und jeder entsprechenden Praktik gibt es eine Gruppe von Menschen – den Normenkreis zur betreffenden Norm –, die für diese Norm einzutreten bereit sind, sei es durch Lob und/oder dadurch, dass sie diejenigen, die sich ihr unterwerfen, belohnen und die anderen, die sich ihr widersetzen, kritisieren oder bestrafen. Diejenigen, die ihren Reaktionen zur Unterstützung der Norm ausgesetzt sind, erkennen – bewusst oder unbewusst –, dass sie es mit einer normierenden Umgebung zu tun haben, in der ein gewisser Druck oder Anreize zur Anpassung herrschen, und neigen deshalb ihrerseits zur Anpassung. So ist zum Beispiel Schlangestehen in manchen Kulturen eine streng normierte Praktik. Wenn in bestimmten Situationen mehrere Personen bedient werden wollen, gilt die Erwartung, dass sie sich »in der Reihenfolge ihrer zeitlichen
7 Elder-Vass, The Causal Power of Social Structures, Kapitel 6; ders., The Reality of
Social Construction, Kapitel 2.
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Ankunft anstellen […], mit der Übereinkunft, dass die jeweils erste Person in der Schlange als nächstes bedient wird«.8 »[Andernfalls] werden sie wahrscheinlich mit heftigen negativen Reaktionen konfrontiert, insbesondere vonseiten derer, die bereits in der Schlange stehen, aber häufig auch vom Personal, das die Dienstleistung an den bestreffenden Orten erbringt. […] Mit anderen Worten: Es gibt einen Normenkreis für das Warten in der Schlange. Wegen der Macht des Normenkreises werden Individuen tendenziell dahingehend beeinflusst, dass sie eine Schlange bilden, in der Schlange die entsprechenden Regeln beachten und in Situationen des Anstehens die entsprechenden Normen unterstützen und durchsetzen.«9 Zu jeder Norm gibt es einen eigenen Normenkreis, wobei sich Normenkreise überschneiden können. Normativität entsteht somit nicht homogen für uns alle durch die »Gesellschaft«, sondern auf variierende Art je nach Größe, Einflussbereich und Stärke der vielen unterschiedlichen Normenkreise, die in ihr funktionieren. Zudem variieren die Größe und der Einfluss der verschiedenen Normenkreise mit der Zeit und führen in der Gesellschaft so einen Normenwandel herbei. Und ihr Einfluss steht auch in einer Beziehung zu anderen Formen sozialer Macht: Diejenigen Normenkreise, deren Mitglieder erhebliche gesellschaftliche und insbesondere diskursive Macht (wie Zeitungsredakteur_innen und -eigner_innen, Politiker_innen und öffentlich präsente Intellektuelle) besitzen, üben größeren sozialen Einfluss als andere aus. Die Praktik der Lohnarbeit entsteht zum Beispiel durch einen Komplex aus Normen, die von einflussreichen Akteur_innen wie kapitalistischen Unternehmen oder dem Staat unterstützt werden. Und der Einfluss dieser Normen auf die Praktik ergibt sich teilweise aus der fehlenden Machtbalance zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden. Zudem stützen normative Praktiken weitaus mehr ab als nur einfache Interaktionen wie Schlangestehen. Jedes Eigentum und damit ein Großteil der Appropriation, die in modernen Wirtschaften statt8 Ders., The Causal Power of Social Structures, S. 146f. 9 Ebenda, S. 147.
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findet, hängt von Normenkomplexen ab wie: »Du darfst ohne Erlaubnis kein Objekt an dich nehmen, das einer anderen Person gehört.«10 In solchen Fällen können mehrere verschiedene Normen im Zusammenspiel das erzeugen, was John Searle institutionelle Tatsachen nennt: Tatsachen, die davon abhängen, wie wir kollektiv über sie denken und reden.11 Eigentum ist nur deshalb Eigentum, weil wir es kollektiv als solches anerkennen, und insbesondere deshalb, weil wir die Normen und Praktiken, die es zu Eigentum machen, kollektiv unterstützen und durchsetzen. Abgestützt werden solche Praktiken durch das Recht, das aber seinerseits von der Billigung von Normen abhängt und als eine Form von deren Annahme gelten kann. Eigentum ist keineswegs das einzige institutionelle Faktum, das für die Form von Appropriation, die in modernen Gesellschaften stattfindet, von grundlegender Bedeutung ist. Ein weiteres ist Geld.12 Ohne zur Norm gewordene Praktiken, die sich auf die Akzeptanz bestimmter Zahlungsmethoden beziehen, und ohne Bewertungsstandards, die zum Beispiel bei der Preisgestaltung genutzt werden, würde es Geld buchstäblich nicht geben.13 Mit anderen Worten: Zahlreiche Grundbestandteile moderner Wirtschaften beruhen ontologisch auf sozialen Prozessen und insbesondere auf zur Norm erhobenen Praktiken, die sowohl von der marxistischen als auch von der Mainstream-Ökonomie ausgeblendet werden. Wenn sich solche sozialen Prozesse verändern, verändern sich mit ihnen auch unsere Wirtschaften. Und Praktiken sind auch für andere Formen von Wirtschaft grundlegend: Mauss’ Darstellung der sogenannten Gabenökonomien war zum Beispiel eine Beschreibung der in diesen beobachteten wirtschaftlichen Praktiken. Dass alle Wirtschaftsformen von Praktiken abhängen, ist ein Faktor, der diese zu einer passenden Einheit der Wirtschaftsform allgemein macht, im Gegensatz zum Beispiel von Märkten, die institutionell für bestimmte Arten von Wirtschaft spezifisch, aber in anderen nicht vorhanden 10 Elder-Vass, The Reality of Social Construction, S. 72. 11 Ebenda, Kapitel 4; Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit,
z. B. 37f.; ders., Wie wir die soziale Welt machen, z. B. S. 23f., S. 42, S. 202ff. 12 Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 42–46; ders., Wie
wir die soziale Welt machen, z. B. S. 179f. 13 Elder-Vass, The Social Structures of Money.
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sind. Und eben durch diese Abhängigkeit ist eine politische Ökonomie der Praktiken allgemeingültiger als die politischen Ökonomien, die in den beiden vorigen Kapiteln kritisiert wurden.
Appropriationspraktiken Es gibt zahlreiche verschiedene Arten von Praktiken, von denen viele nicht primär ökonomisch sind.14 Der für das Anliegen dieses Buches zentrale Begriff der Appropriationspraktiken beruht auf einer speziell wirtschaftlichen Untermenge von Praktiken, wobei wirtschaftlich in dem Sinn zu verstehen ist, der in Kapitel 2 erörtert wurde: als jene Praktiken, die mit der Befriedigung unserer Bedürfnisse zu tun haben, entweder in Form von Waren oder durch Güter und Dienstleistungen, die als Waren bereitgestellt werden konnten. Appropriationspraktiken beziehen sich auf die Produktion (und beruhen letztlich auf ihr) von Gütern oder der Bereitstellung von Dienstleistungen (so weit gefasst, dass sie sich mit dieser weiten Definition des Wirtschaftlichen decken), sind aber durch das Merkmal definiert, dass sie mit der Allokation der Nutzen (und tatsächlich auch der Übel) zu tun haben, die sich für Einzelne oder soziale Gruppen aus der Produktion ergeben. In einer Hinsicht ist dies eine funktionale Definition, insofern sie eine besondere Reihe aus Praktiken herausgreift, die nach ihren tendenziellen Effekten zusammengestellt ist, anstatt sich beispielsweise auf ein gemeinsames Merkmal ihrer Struktur, ihrer Mechanismen oder der beteiligten Akteur_innen zu stützen: Sie beinhaltet all jene Praktiken, die erheblich, systematisch und mehr oder weniger direkt die Allokation der Nutzen aus einer Produktion beeinflussen. Die Adjektive »erheblich«, »systematisch« und »direkt« beziehe ich deshalb mit ein, weil alle Praktiken auf diejenigen, denen Nutzen zufallen, einen geringen, gelegentlichen oder indirekten Einfluss haben können, während hier diejenigen Praktiken im Fokus stehen, die den bedeutendsten und konsistentesten Einfluss ausüben. Etwas lässiger ausgedrückt, können wir sagen, dass 14 Zum Beispiel diskursive, linguistische und epistemische. Siehe Elder-Vass, The
Reality of Social Construction, Kapitel 6, 8 und 11.
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Appropriationspraktiken die den Produktionsprozess umgebenden Praktiken sind, welche die Allokation von dessen Nutzen bestimmen. So ist beispielsweise Naturalpacht eine Appropriationspraktik, welche die Aufteilung der von einer bestimmten Klasse an Landarbeitern erzeugten Ernte regelt. Wenn ein bestehender Begriff zu einem neuen Zweck umgedeutet wird, gerät er in die Gefahr, dass seine neue Bedeutung mit den früheren verwechselt wird. In diesem Fall sind zwei mögliche Verwechslungen zu vermeiden. Erstens wird, wie in Kapitel 1 vermerkt, Appropriation in der wirtschaftswissenschaftlichen Tradition manchmal in dem Sinne verwendet, dass etwas, das bislang noch niemandem gehört hat, in Eigentum umgewandelt wird. Zweitens hat der Begriff der Appropriation zuweilen die Konnotation, dass die Person, der ein Nutzen zufällt, sich diesen aktiv aneignet. Diese Deutung liegt nicht in meiner Absicht. Leider haben alternative Begriffe tendenziell unmittelbar gegenteilige und gleichermaßen unbefriedigende Konnotationen: allokativ und distributiv scheinen mitunter zu beinhalten, dass die Person, die Nutzen erzeugt, aktiv darüber bestimmt, wem dieser zugutekommt. Der Begriff Transfer mag in unserem Zusammenhang zwar passender erscheinen, weil er keine Aussage darüber beinhaltet, wer den betreffenden Prozess steuert, aber Appropriationspraktiken treten nicht unbedingt in Form von Transfers auf. Um es deutlich zu machen: Der Begriff Appropriation, so wie ich ihn gebrauche, bezeichnet weder die anfängliche Schaffung von Eigentum, noch beinhaltet er in irgendeiner Weise, wer über die betreffende Praktik die Kontrolle ausübt. Klarstellen muss ich zudem, dass ich den Begriff in keinem wertenden Sinn mit Blick auf die betreffende Praktik verwende, anders als der gelegentliche Gebrauch des Begriffs Appropriationspraktiken in kulturellen und religiösen Studien, der offenbar allgemein eine Missbilligung beinhaltet.15 Tatsächlich besteht ein Vorteil des Begriffs darin, dass ich mich mit seinem Gebrauch von der Konnotation distanzieren kann, wonach Appropriationen durch einen anderen als durch den Produzenten zwangsläufig ausbeuterisch sind.16 15 Z. B. Welch, Complicating Spiritual Appropriation. 16 Cohen, Karl Marx’s Theory of History, S. 332; siehe ebenso Kapitel 3 dieses Buches.
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Eine Konsequenz dieses Ansatzes besteht darin, dass nicht nur Produktionsakte im engen, traditionell marxistischen Sinn Momente der Appropriation sind. Appropriation beruht insbesondere auch auf Akten des Transfers: Transfers von Produkten und zuweilen von Geld. Diese können, müssen aber nicht zwangsläufig in Form von Austausch auftreten. Wenn ein Teil des Produkts, das eine Leibeigene erzeugt hat, zum Grundherrn transferiert wird, liegt eben kein Tausch vor – so wenig wie beim Transfer von Betreuungsleistungen von Eltern zu ihrem Kind. Aber beides sind Momente der Appropriation, bei denen Nutzen umverteilt wird. Das Konzept des Nutzens oder der Nutzen spielt in dieser Erläuterung zur Appropriation eine entscheidende Rolle. Nutzen sind letztlich persönlicher und psychologischer Natur und müssen von den Nutzenträgern, die sie hervorbringen, unterschieden werden. In Momenten der Appropriation werden Nutzenträger transferiert oder realisiert, womit sie zu Nutzen (oder Übeln) für die betreffenden Individuen führen. Bei Lohnarbeit zum Beispiel erhalten Arbeiter_innen einen Nutzenträger in Form des Lohns, während die Arbeitgebenden einen Nutzenträger dadurch empfangen, dass sie das Produkt der Arbeit als Eigentum vereinnahmen. Als ein anderes Beispiel erhält beim Kauf einer Ware der Käufer den Nutzenträger in Form der Ware und der Verkäufer einen Nutzenträger in Form einer Geldleistung. Nutzenträger können messbar und vergleichbar sein: So können wir beispielsweise vergleichen, wie viel Geld verschiedene Menschen verdienen. Beim Nutzen selbst ist dies nicht möglich, auch wenn wir manchmal Nutzenträger gewissermaßen stellvertretend miteinander vergleichen wollen, um die Verteilung von Nutzen zu bewerten. Lohnabhängige mögen allein aus dem Erhalt ihres Lohnes eine gewisse Befriedigung ziehen, aber aufs Ganze gesehen müssen sie ihren Lohn in Waren umtauschen und diese dazu einsetzen, um tatsächlichen Nutzen zu gewinnen. Auch sind diese Nutzen nicht mit Gebrauchswerten im Marx’schen Sinn gleichzusetzen. Gebrauchswerte sind Objekten zu eigen, und der Gebrauchswert eines Objekts ist seine Fähigkeit, einen bestimmten allgemeinen Bedarf zu decken. So besteht beispielsweise der Gebrauchswert eines Mantels darin, dass er seinen Träger vor Kälte und Nässe schützen kann, während sein Nutzen erst realisiert
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wird, wenn er seinen Träger tatsächlich warm und trocken hält. Gebrauchswerte lassen sich mitunter in grundlegenden Begriffen miteinander vergleichen: Der Gebrauchswert von zwei Fahrrädern ist zum Beispiel doppelt so hoch wie der von einem, nicht aber deren Nutzen: Die Nutzen und/oder die Übel, die sich für jemanden aus dem Besitz von zwei Fahrrädern ergeben, lassen sich nicht im Vergleich zum Besitz eines Fahrrads beziffern. Den Nutzen sind also einige Merkmale des Begriffs der Nützlichkeit gemein, den utilitaristische Philosoph_innen und Mainstream-Ökonom_innen gebrauchen, andere aber nicht. Insbesondere stellen Nutzen keine homogene Eigenschaft dar, sondern variieren in ihrem Charakter von Fall zu Fall. Auch können wir keine Rangfolgen von Bewertungen verschiedener Arten von Nutzen vornehmen, ausgehend von der Annahme, dass Individuen diejenigen Nutzen, die sich aus dem gewählten Verlauf einer Handlung ergeben, gegenüber denjenigen bevorzugen, die sich aus einem nicht gewählten Verlauf ergeben: Dies würde auf den – in Kapitel 4 wiederlegten – Annahmen beruhen, dass ihnen vollständige Informationen vorliegen und sie ihre Entscheidungen vollständig rational optimieren können. Nutzen aus Produktion entsteht, wenn ein materieller Prozess eine Wirkung hervorbringt, die das betreffende Individuum wertschätzt, und hängt somit von einer Beziehung zwischen einem Nutzenträger und einer Bewertung ab. Ein und derselbe Nutzenträger kann auf verschiedene Weise bewertet werden: anhand unterschiedlicher Kriterien, unter verschiedenen Umständen, je nachdem, was der Nutzen der Absicht nach jeweils realisieren soll. Dies ähnelt dem Phänomen, das Gregory value switching, »Wertwechsel« genannt hat: »Menschen können von einer zur anderen Wert-Ordnung wechseln, zum Beispiel, wenn Gold als Ware gekauft, als Geschenk einer Tochter überreicht oder als Familienerbstück an Nachkommen weitervererbt wird.«17 Einen Wert zu wechseln setzt voraus, dass Menschen komplexer sind als die Nützlichkeits-Maximierer_innen, die in der MainstreamÖkonomie Eigeninteressen verfolgen. So ist zum Beispiel möglicherweise »der Antrieb, zu schenken, für das Verständnis der Menschheit
17 Gregory, Value Switching and the Commodity-free Zone, S. 110.
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ebenso wichtig wie das Bedürfnis, zu nehmen«.18 Einer Tochter Gold zu schenken, kann auch für den Schenkenden – der sich zum Beispiel am erhöhten Status der Tochter erfreut – wie für die Empfängerin psychologischen Nutzen abwerfen. Appropriationspraktiken sind folglich nicht zwangsläufig Nullsummenspiele. Die Abhängigkeit der Nutzen von Bewertungsprinzipien und tatsächlich von materiellen und sozialen Umständen beinhaltet zugleich, dass ein und derselbe Nutzenträger in manchen Fällen als Nutzen und in anderen als Übel bewertet werden kann. Ein fades einfaches Gericht kann für einen Hungernden oder einen religiösen Asketen Nutzen bergen, aber für einen wohlhabenden Gourmand eine Strafe bedeuten. Der spektakulärste Fall ist hier wohl Arbeit. Der Produktionsakt kann eine Quelle von Entfremdung und Unglück oder von Erfüllung und Freude sein, je nachdem, welche Umstände herrschen und welche Bewertungskriterien der Arbeiter oder die Arbeiterin anwendet. Der Unterschied zwischen beiden ergibt sich wohlweislich aus der sozialen Organisation der Arbeit und der Arbeitskultur. Die physische Natur von Arbeit spielt als Faktor ebenfalls eine Schlüsselrolle, kann sich allerdings in Abhängigkeit von diesen beiden ganz unterschiedlich auswirken. Die soziale Organisation von Arbeit kann somit als eine Appropriationspraktik gelten, mit Blick nicht nur auf die resultierende Bezahlung, sondern auch auf die Konsequenzen für den Arbeitsprozess. Mit anderen Worten: Nicht nur die Löhne, sondern die Arbeiten selbst sind je nach Bewertungskriterien Träger von Nutzen oder Übeln. Da Appropriation Nutzenallokation ist, bringt es diese Abhängigkeit der Nutzen von Bewertung mit sich, dass auch die Appropriation davon abhängt, wie Menschen die Konsequenzen von Wirtschaftstätigkeit bewerten. Deswegen können wir Appropriation nicht einmal beschreiben, ohne zumindest stillschweigend einen Bewertungsmaßstab anzulegen, auch wenn dies nicht beinhaltet, dass wir mit diesem einverstanden sein müssen. So können wir durchaus anerkennen, dass ein Währungsspekulant einen psychologischen Nutzen daraus zieht, wenn er mit einer Transaktion einen hohen Gewinn erzielt, 18 Godbout / Caillé, The World of the Gift, S. 19.
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ohne dabei zu akzeptieren, dass wir solche Nutzen nach dem impliziten Bewertungsstandard des Spekulanten wertschätzen sollten. Eine moralische Ökonomie beinhaltet folglich stillschweigend zwei Arten von Bewertungskriterien für Appropriationspraktiken: diejenigen, welche die betreffenden Akteur_innen selbst anwenden, und die anderen, die aufgeboten werden, um Appropriationspraktiken und deren Ergebnisse zu bewerten. Die der Akteur_innen zu akzeptieren (so wie es stillschweigend die Mainstream-Ökonomie tut, wenn sie die Nutzentheorie zur Rechtfertigung der Verteilung einsetzt), heißt, die Möglichkeit aufzugeben, Wirtschaft gegenüber eine kritische Position zu beziehen. Die moralische Ökonomie appelliert folglich an andere Standards, auch wenn sie vielleicht anerkennt, dass es vielerlei gültige Bewertungsprinzipen gibt – wie es zum Beispiel Boltanski und Thévenot in ihrer Erörterung zu Rechtfertigungsregimen implizit tun.19 Wir müssen den Standard, nach dem wir solche Bewertungen vornehmen, rechtfertigen oder sie – wie ich es in Kapitel 3 versucht habe – zumindest explizit darlegen, anstatt einen zugrunde liegenden Standard ohne sorgfältige Erwägung stillschweigend als angemessen anzunehmen. Wie Boltanski und Thévenot vertreten, drehen sich moralische Konflikte letztlich zu einem großen Teil darum, welches Bewertungsprinzip für eine Aktivität oder ein Ergebnis gelten soll. Dieses Buch konzentriert sich deshalb auf Appropriationspraktiken, weil es in der politischen Ökonomie eben darum geht, wie sich die Nutzen in einem Wirtschaftssystem verteilen, und weil Appropriationspraktiken eben diese Fragen berühren. Diese Ausrichtung auf die Verteilung wirtschaftlicher Nutzen ist sämtlichen Traditionen der politischen Ökonomie gemein. Sowohl der Mainstream als auch Marx stellen die Frage in den Mittelpunkt, wer aus der Wirtschaft welche Nutzen zieht. Dabei verfügt von beiden allerdings nur die marxistische politische Ökonomie über eine Theorie zur Wirtschaftsform, in der sich Marx ebenfalls auf die Appropriation von Nutzen konzentriert, auch wenn er Wirtschaftsformen als Produktionsweisen be19 Boltanski / Thévenot, Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Ur-
teilskraft.
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zeichnet. Wie wir in Kapitel 3 sahen, ist dies auch für ihn ganz klar mit Bewertungen verknüpft, wobei Appropriation in seinem Schema allerdings deutlich zu unmittelbar mit Ausbeutung verbunden ist.20 Als eine Konsequenz der Arbeitswerttheorie gilt jede Appropriation von Produkten durch andere als durch die Produzierenden als Ausbeutung.21 Aber nachdem wir die Arbeitswerttheorie widerlegt haben, kann die Frage der Ausbeutung wieder als eine ethische behandelt werden, bei der es zu beurteilen gilt, ob eine bestimmte Appropriation oder Appropriationspraktik gerecht oder fair ist.
Komplexe von Appropriationspraktiken Die bedeutendsten Wirtschaftsformen sind nicht durch einzelne Appropriationspraktiken definiert, sondern konstituieren sich vielmehr aus einem Zusammenspiel ganzer Komplexe solcher Praktiken. So ist zum Beispiel das Streben nach Kapitalakkumulation durch den Einsatz von Lohnarbeit zur Herstellung von Waren – im kanonischen Kapitalismus, wie ich ihn wegen seiner Rolle in Marx’ System nenne – ein Komplex, in dem mindestens drei Praktiken in Kombination miteinander auftreten: Kapitalakkumulation, Lohnarbeit und Warenproduktion. Lohnarbeit allein macht noch keinen kanonischen Kapitalismus aus, da Menschen auch gegen Lohn in einer Vielfalt nichtkapitalistischer Kontexte wie staatlichen Einrichtungen arbeiten können.22 Auch Warenproduktion allein reicht als Merkmal für den kanonischen Kapitalismus nicht hin, da Waren auch von Einzelnen in Familienbetrieben ohne Lohnzahlungen oder in Kooperativen hergestellt werden können.23 Und selbst eine Kombination aus Lohnarbeit 20 Auch Marx gebraucht den Begriff Appropriation, bezieht sich aber gewöhnlich di-
rekt auf den Produktionsprozess, den er als eine Appropriation von Natur durch Produzierende betrachtet. Siehe Althusser / Balibar, Das Kapital lesen, S. 460. 21 Siehe Kapitel 3. 22 Einen weiter hinten erörterten Einwand des Marxismus siehe Cohen, Karl Marx’s Theory of History, S. 181ff. 23 Gibson-Graham, The End of Capitalism (As we Knew it), S. 263; Sayer, Radical Political Economy, S. 181.
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und Warenproduktion ist auch außerhalb des kanonischen Kapitalismus möglich, insbesondere in staatlich geführten Unternehmen. Der kanonische Kapitalismus ist folglich anstatt durch irgendeine besondere Appropriationspraktik durch einen bestimmten Komplex aus solchen Praktiken definiert.24 Dieses Konzept eines Komplexes von Appropriationspraktiken, so mein Standpunkt, bietet mehrere Vorteile gegenüber konkurrierenden Verständnisarten der Wirtschaftsform. Sowohl die neoklassische Ausrichtung auf Märkte als die einzig bedeutsame Wirtschaftsform als auch die monolithische Konzeption einer Produktionsweise ist unangemessen, um die gesamte Bandbreite an Wirtschaftsformen in verschiedenen Volkswirtschaften theoretisch zu erfassen. Dieses Unterkapitel untersucht einige Möglichkeiten, wie sich soziale Beziehungen mithilfe des Konzepts der Komplexe von Appropriationspraktiken flexibler theoretisieren lassen. Als erster Vorteil lässt sich die Koexistenz vielfältiger Wirtschaftsformen ohne Schwierigkeiten theoretisch erfassen. So besteht beispielsweise zwischen der Überzeugung, dass der Kapitalismus ein bedeutendes Element der gegenwärtigen Wirtschaft ist, und der Einsicht, dass kapitalistische Praktiken nur eine Minderheit der Produktionsprozesse beherrschen, kein Widerspruch und damit auch keine Notwendigkeit mehr, die Bedeutung der Gabenökonomie oder tatsächlich auch anderer nichtkapitalistischer Wirtschaftsformen zu verschleiern, die mit dem Kapitalismus relativ stabil koexistieren. Dank dieser Tatsache können wir den Versuch zurückweisen, sämtliche gegenwärtige Klassenbeziehungen auf die kapitalistische Appropriation des Produkts von Lohnarbeit zurückzuführen, der für den vulgärsten Marxismus typisch ist, und stattdessen eine Theorie der sozialen Beziehungen und Appropriationspraktiken erstellen, die für diese anderen Komplexe kennzeichnend sind. So brauchen wir beispielsweise die Appropriation von Fürsorgeleistungen durch Kinder nicht auszublenden wie im Marxismus, in dem ihre Berücksichtigung Kinder zu Aus24 Wenn vielfältige Normen und die aus ihnen resultierenden Praktiken systematisch
zusammenwirken, entstehen mitunter starke Sozialstrukturen. Einen anders gearteten Fall siehe Elder-Vass, The Reality of Social Construction, S. 69–73.
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beutern ihrer Eltern stempeln würde, und können stattdessen den Komplex von Prozessen untersuchen, in dem diese als eigenständige Wirtschaftsform stattfindet. Wir entkommen dem engstirnigen Schubladendenken aller sozialer Beziehungen zu dem, was Folbre und Hartmann »eine schablonenhafte Menge an Klassenprozessen« genannt haben25 – diese wenigen Muster, von denen Marxist_innen glauben, dass sie Epochen beherrscht hätten. Damit können wir die Koexistenz vielfältiger Komplexe von Appropriationspraktiken innerhalb der Volkswirtschaft untersuchen und verfügen zudem über die Werkzeuge, um eine solche Koexistenz innerhalb bestimmter Umfelder oder sozialer Entitäten unter die Lupe zu nehmen. Die Tatsache, dass kommerzielle Unternehmen der übliche Ort kapitalistischer Praktiken sind, bildet fortan kein theoretisches Hindernis mehr, um anzuerkennen, dass in ihnen auch andere Formen von Appropriationspraktiken stattfinden können. Und auch das Argument, dass Haushalte der Ort schenkökonomischer Appropriationspraktiken sind, wird nicht mehr durch die Einsicht unterminiert, dass sie auch Schauplatz von Lohnarbeit sind, ob kapitalistisch (wenn z. B. eine Agentur Putzkräfte entsendet) oder nicht (z. B. wenn eine selbständig arbeitende Putzkraft einen Vertrag für diese Dienstleistung abschließt). Aus dieser Sicht wird der Haushalt zum Geschehensort von Appropriationen, die sich im Rahmen einer Vielfalt an unterschiedlichen Komplexen von Appropriationspraktiken ereignen. Er bildet gleichsam eine eigenständige Mischwirtschaft aus Praktiken. Häusliche Streitigkeiten darüber, wie Hausarbeit und die Kontrolle über sie aufzuteilen ist, lassen sich dann auf theoretischer Ebene auch als Auseinandersetzungen über die Mischung, also darüber formulieren, welcher Komplex an Appropriationspraktiken unter welchen Umständen vorherrschen soll. Auch macht es die Einsicht, dass eine Wirtschaftsform nicht unbedingt einer Epoche entsprechen muss, in der Theorie leichter, über Varianten zu einer Wirtschaftsform zu spekulieren. Wie im Anschluss an Banaji in Kapitel 3 dargelegt, charakterisiert das Streben nach Kapitalakkumulation den Kapitalismus als entscheidendes Element. Dieses 25 Folbre / Hartmann, The Persistence of Patriarchal Capitalism, S. 59.
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stellt eine Appropriationspraktik an sich dar, die allerdings auf zahlreiche unterschiedliche Arten umgesetzt werden kann – mit jeweils unterschiedlichen Komplexen aus Appropriationspraktiken, in denen Kapitalakkumulation mit anderen Praktiken kombiniert wird. Dadurch lassen sich Spielarten des Kapitalismus postulieren, in denen dessen allgemeine Form mit anderen Appropriationspraktiken zu einem konkreteren Komplex zusammengeführt wird. So können wir beispielsweise zwischen einem »privaten« Kapitalismus, in dem Kapitalist_innen als Einzelne auftreten, und dem Aktienkapitalismus unterscheiden, in dem die letztendlichen Rechte, über das Kapital und die Verteilung bei der Appropriation von Gewinnen zu bestimmen, durch die Praktik der Beschlussfassung auf Hauptversammlungen und die der Dividendenausschüttung über eine größere Gruppe verteilt sind. Beide Formen des Kapitalismus können ganz unterschiedliche systembedingte Trends aufweisen, zum Beispiel insofern, als der Aktienkapitalismus eher dazu neigt, andere Stoßrichtungen, die nicht der Kapitalakkumulation dienen, gründlicher auszumerzen als der private. Wie bereits zuvor angemerkt, können wir auch zwischen dem auf Lohnarbeit basierenden kanonischen Kapitalismus und dem Plantagenkapitalismus unterscheiden, der Kapitalakkumulation und Warenproduktion mit Sklavenhaltung verbindet. Beide erfordern nicht nur unterschiedliche ethische Bewertungen, sondern sind möglicherweise auch durch unterschiedliche systembedingte Züge gekennzeichnet: So könnte sich der Plantagenkapitalismus durch eine größere Anfälligkeit für Krisen auszeichnen, die durch eine fehlende Nachfrage nach Waren aus Massenproduktion heraufbeschworen werden. Marxistische Denker_innen haben einige solche Unterscheidungen bereits getroffen. Wie beispielsweise Jessop argumentiert, »gibt es nicht eine Logik des Kapitals, sondern eine Reihe von Logiken mit einer Familienähnlichkeit, die den verschiedenen Regulationsweisen und Akkumulationsstrategien entsprechen«.26 Dabei dürfen diese verschiedenen Formen des Kapitalismus allerdings nicht so gesehen werden, als seien sie durch Überbleibsel definiert, die aus früheren Sys26 Jessop, Capitalism, the Regulation Approach, and Critical Realism, S. 105.
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temen herübergerettet wurden.27 Es gibt keine Standardform des Kapitalismus, gemessen an der andere Formen als Verfälschungen oder unvollkommene Ausgestaltungen gelten könnten, sondern vielmehr zahlreiche unterschiedliche Praktiken, angesichts derer sich das Streben nach Akkumulation als eine Vielfalt an verschiedenen, aber gleichermaßen kapitalistischen Komplexen von Appropriationspraktiken formulieren lässt. Wie in Kapitel 3 erwähnt, können wir folglich das Konzept des Kapitalismus beibehalten, wenn wir das der Produktionsweisen durch ein flexibleres Modell der Wirtschaftsform ersetzen. So wie Kapitalismus verschiedene Formen annehmen kann, können auch zahlreiche Praktiken, die als Elemente kapitalistischer Komplexe auftreten, ebenso in nichtkapitalistischen auftauchen. Die Unfähigkeit, dies zu erkennen, hat in der marxistischen Tradition endlos Verwirrung gestiftet. Wie wir in Kapitel 3 sahen, vertritt zum Beispiel Cohen, dass es »zwei gleichermaßen standardisierte, aber logisch geschiedene Marx’sche Definitionen der kapitalistischen Gesellschaft« gebe, eine strukturelle, basierend auf dem Einsatz von Lohnarbeit, und eine modale, die auf der Ausrichtung der Produktion auf Kapitalakkumulation beruhe, wobei das, »was jeweils die eine Definition erfüllt, auch die andere« erfülle.28 Mit anderen Worten: Laut Cohen hängt Kapitalakkumulation von Lohnarbeit ab, während Lohnarbeit zwangsläufig der Kapitalakkumulation diene, worauf er dies denn auch auf den nächsten zehn Seiten zu belegen versucht. Dabei erörtert er sogar die Plantagensklaverei und schließt dennoch, dass Kapitalakkumulation und Lohnarbeit notwendigerweise zusammengehörten. Die Reichweite seiner Argumentation wird allerdings begrenzt durch seine Vorstellung, dass die Grundeinheit der Wirtschaftsform eine ganze Gesellschaft sei, und mithin durch den Glauben, andere Wirtschaftsformen als marginal oder als Übergangsformen abtun zu können. Sobald wir diese Vorstellung widerlegen, stellen wir fest, dass Lohnarbeit durchaus auch zu nichtkapitalistischen Wirtschaftsformen gehören kann. Eine Familie, die beispielsweise einer Person für 27 Hodgson, Economics and Utopia, S. 148–151. 28 Cohen, Karl Marx’s Theory of History, S. 181.
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Kinderbetreuung oder Gartenarbeiten Lohn bezahlt, oder eine Universität, die kostenlos ausbildet, aber dazu bezahlte Lehrkräfte und anderes Personal unterhält, wird durch diese Tatbestände keineswegs zu einem kapitalistischen Unternehmen: Hier haben wir es mit »Lohnarbeit«, aber weder mit Warenproduktion noch mit Kapitalakkumulation zu tun. Es mag nützlich sein, manche Komplexe von Appropriationspraktiken als hybride Formen auffassen. Hybridität kann bedeuten, dass ein Fall synchron (simultan) zwei verschiedene Formen verkörpert oder dass er diachron (historisch/genetisch) aus der Kombination zweier verschiedener Formen hervorgegangen ist. Aus synchroner Sicht stellen sich sämtliche Komplexe als Hybriden der verschiedenen Praktiken dar, aus denen sie sich zusammensetzen. Aber wenn wir eine Menge solcher Komplexe als kapitalistisch bezeichnen, ergibt sich daraus zusätzlich die Möglichkeit für einen spezifischeren Typ der Hybridform: für einen kapitalistischen, der zugleich auch einige andere Formen verkörpert. Wie bereits dargelegt, liegt eine eindeutig kapitalistische Praktik dann vor, wenn zumindest eine Reihe von Akteur_innen ihr Handeln an der Kapitalakkumulation orientiert. Aber selbst im kanonischen Kapitalismus richten nicht alle Klassen von Agierenden ihr Tun auf Kapitalakkumulation aus: Im klassischen Fall tun dies die Kapitalist_innen, nicht aber die Proletarier_innen. Diese streben vielmehr nach Lohn, um ihren Lebensunterhalt zu sichern und vielleicht eine Familie zu ernähren. Dass auch Agierende im Spiel sind, die sich nicht an der Kapitalakkumulation orientieren, reicht nicht hin, um eine Wirtschaftsform als hybrid zu klassifizieren. Für eine Hybridität braucht es neben dem kapitalistischen noch weitere Typen der Wirtschaftsform. Auch wenn ich infrage gestellt habe, dass es neben dem Kapitalismus weitere kohärent identifizierbare Produktionsweisen gibt, kann es durchaus weitere Typen von Komplexen von Appropriationspraktiken geben. Einen solchen Kandidaten legt der Begriff der Gabenökonomie nahe: Es gibt eine breite Vielfalt an Komplexen von Appropriationspraktiken, in denen freiwillig Güter und Dienstleistungen transferiert werden, ohne dass Gegenleistungen erwartet werden oder Verpflichtungen entstehen. Manche Komplexe sind Hybriden aus Kapitalismus und Gabenökonomie, weil
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sie sowohl die Praktik der Kapitalakkumulation und die von Transfers von Waren und Dienstleistungen einschließen. Solche Hybriden sind klar kapitalistisch und gleichzeitig die Geschehensorte fortschrittlicherer Praktiken. In einer Gruppe aus solchen Hybriden kommt zum Beispiel das zum Einsatz, was ich Anreizgeschenke genannt habe.29 Solche Geschenke30 dienen dazu, zu einer oder gleich zu einer Reihe von kommerziellen Transaktionen anzuspornen, die für den Geber oder die Geberin zusammengenommen einen höheren Wert haben als das jeweilige Geschenk. Im Gegensatz zu vielen anderen Schenkpraktiken, die oft Wirtschaftsformen darstellen, die als alternativ oder konkurrierend zum gegenwärtigen Kapitalismus gelten können, steht das Anreizgeschenk im Dienst des Kapitalismus. So beschreibt beispielsweise Anderson die Strategie, die in den Vereinigten Staaten im frühen 20. Jahrhundert angewandt wurde, um das Gelatineprodukt Jell-O zu vermarkten. Da ein Verkauf an der Haustür gesetzlich verboten war, verschenkte die Vertriebsabteilung des Unternehmens Rezepthefte mit dem Erzeugnis als Zutat, das die Verbraucher_innen kaufen mussten, wenn sie dies ausprobieren wollten.31 Diese Art Geschenk war als kommerzielles Phänomen lange Zeit ziemlich verbreitet, erhielt aber durch Entwicklungen in der digitalen Industrie ganz neuen Auftrieb, wie wir in Kapitel 8 sehen werden. Anreizgeschenke sind nach wie vor Geschenke, aber natürlich auch eingebunden in einen kapitalistischen Komplex von Appropriationspraktiken, sodass sie für eine Hybridform aus Schenk- und kapitalistischer Wirtschaft stehen. Der hier vertretene Ansatz birgt zudem Vorteile für eine Betrachtung der systembedingten Effekte verschiedener Wirtschaftsformen. Eines der wertvollsten Kennzeichen von Marx’ Gedanken zu Produktionsweisen ist seine Untersuchung zu den Mechanismen, durch die der Kapitalismus seine systembedingten Auswirkungen entfaltet: so der Antrieb zum Wachstum, eine Tendenz zu Zyklen aus konjunkturellen Aufschwüngen und Einbrüchen sowie ein Trend, die kapitalisti29 Elder-Vass, Commerce, Community and Digital Gifts. 30 Siehe die eingehendere Erörterung in Kapitel 8. 31 Anderson, Free – Kostenlos, S. 17f.
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sche Warenproduktion schrittweise auf größere Territorien und eine größere Warenvielfalt auszuweiten. Diese Effekte gehen aus dem Zusammenspiel von Individuen und Unternehmen hervor, erzeugt von Appropriationspraktiken, die für den Kapitalismus typisch sind.32 Wenn dem so ist, müssen wir danach fragen, welche Mechanismen diese Tendenzen hervorrufen und von welchen Beziehungen sie genau abhängen. Verschiedene Spielarten des Kapitalismus, die dadurch charakterisiert sind, dass zur grundlegenden Menge aus den sie definierenden Praktiken weitere hinzukommen, können zu verschiedenen systembedingten Konsequenzen führen. Und wenn wir deren Entwicklung nachzeichnen, können wir vielleicht Entwicklungen bei den systembedingten Effekten des Kapitalismus erklären, der sich in verschiedenen Mischungen aus diesen Spielarten mit der Zeit weiterentwickelt. Auch bringt der Ansatz der Appropriationspraktiken potenzielle Vorteile bei der Betrachtung der systembedingten Effekte verschiedener Wirtschaftsformen mit sich. Dazu stellten radikale Denker_innen in der Praxis schon lange Überlegungen an, stießen aber jedes Mal auf Einwände, wenn sie anderen Wirtschaftsformen als der Produktionsweise, die in der betreffenden Epoche als vorherrschend galt, einen gleichwertigen Status zubilligten. Marx selbst stellte Spekulationen zur Reproduktion von Arbeitskraft im Haushalt an, aber nur als eine Art Hilfsfunktion kapitalistischer Ausbeutung, wobei die kapitalistische Form aber nach der Stoßrichtung seiner Argumentation ganz von diesen anderen Produktions- und Appropriationsformen abhängt.33
32 Dabei ist hervorzuheben, dass zwischen Erklärungen solcher Effekte anhand von
Praktiken auf der einen und strukturellen Erklärungen auf der anderen Seite kein grundlegender Widerspruch besteht. Praktiken haben selbst strukturelle Erklärungen und sind ihrerseits Elemente der Mechanismen, aus denen die Kausalkräfte hervorgehen, aus denen weitere Strukturen entstehen. Strukturelle Erklärungen können wir plausiblerweise erst dann ins Spiel bringen, wenn wir die betreffenden Strukturen und Mechanismen identifiziert haben. Siehe Elder-Vass, The Causal Power of Social Structures. 33 Marx, Das Kapital, Bd. 1, viertes Kapitel; 3: »Der Kauf und Verkauf der Arbeitskraft«.
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Namentlich unter Althussers Einfluss diskutierten neuere marxistische Denker_innen die Möglichkeit, dass innerhalb einer Gesellschaftsformation eine Vielfalt von Produktionsweisen miteinander verknüpft sein könnten (siehe Kapitel 3). So wurde beispielsweise Imperialismus als »eine ›Verbindung‹ zwischen kapitalistischen und vorkapitalistischen Produktionsweisen«34 gedeutet. Ähnlich argumentierte John Harrison, »dass es innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsformation untergeordnete [… Produktions]Weisen« geben könne, die »von den vorherrschenden, konstitutiven geschieden« seien.35 Allerdings müssen solche Produktionsweisen für Harrison, der hier stellvertretend für die große Mehrheit der marxistischen Tradition steht, so es sie geben könne, entweder Spuren von vergangenen oder künftigen vorherrschenden Produktionsweisen oder »abhängige« Produktionsweisen sein, die Aufgaben erfüllten, die ihnen von der gegenwärtig vorherrschenden delegiert worden seien.36 Ähnlich argumentierten die Theoretiker_innen der französischen Regulationsschule, dass die kapitalistische Wirtschaft eine Reihe von Akkumulationsregime durchlaufen habe, gekennzeichnet unter anderem dadurch, dass sie die Beziehungen »zwischen Kapitalismus und nichtkapitalistischen Produktionsweisen« verändert hätten.37 So hätten zum Beispiel nach Michel Aglietta die Vereinigten Staaten im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts von einem Umfeld profitiert, in dem sich ihre Arbeiter_innen auf Nicht-Waren-Beziehungen im Bereich häuslicher Produktion hätten stützen können, um einen Großteil ihrer Konsumbedürfnisse zu decken, weil sie »in die erweiterte Familien- und Nachbarschaftsgemeinschaft« eingebettet geblieben seien.38 Dieses Zusammenspiel verschiedener Komplexe von Appropriationspraktiken begünstigte den amerikanischen Frühkapitalismus, weil die Löhne unterhalb dessen bleiben konnten, was für den Erhalt der Arbeitskraft notwendig war. Aber selbst die Theoretiker_innen der Regulationsschule stehen dem 34 Benton, The Rise and Fall of Structural Marxism, S. 131. 35 Harrison, The Political Economy of Housework; Molyneux, Beyond the Domestic
Labour Debate, S. 8. 36 Ebenda. 37 Brenner / Glick, The Regulation Approach, S. 47. 38 Aglietta, A Theory of Capitalist Regulation, S. 80.
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Status dieser anderen Wirtschaftsformen zutiefst zwiespältig gegenüber. Nur wenige Zeilen darunter argumentiert beispielsweise Aglietta, dass »sich die kapitalistische Produktionsweise gewiss auf die gesamte Gesellschaftsformation ausweitet, in der sie umgesetzt wird«.39 Für ihn, so scheint es, ist die Abhängigkeit von anderen Produktionsweisen allenfalls ein vorübergehendes Phänomen. Auch wenn dies mitunter tatsächlich der Fall ist, besteht das Problem des marxistischen Deutungsrahmens eben darin, dass in ihm nichtkapitalistische Komplexe von Appropriationspraktiken ohne Rücksicht auf die empirischen Fakten als vorübergehend oder marginal formuliert werden müssen. Dagegen vermeidet der hier vorgeschlagene theoretische Rahmen solche Festlegungen auf ein Primat und untersucht die tatsächlichen Beziehungen zwischen Appropriationspraktiken ohne vorgefasste Meinung dazu, wie sie zueinander zu gewichten sind. Trotz seiner zahlreichen Vorteile birgt dieser Deutungsrahmen gleichwohl so manche Herausforderung. Die wohl bedeutendste besteht darin, dass es schwierig werden könnte zu sagen, wo die Theoriebildung zu Appropriationspraktiken ansetzen soll. Um den Rahmen auf einen besonderen Fall anzuwenden, brauchen wir wohl eine kohärente Darstellung sämtlicher Praktiken und Mechanismen, die in ihm zum Tragen kommen. Aber um eine kohärente Darstellung einer Praktik und ihrer beteiligten Mechanismen zu entwickeln, müssten wir eine Vielfalt an Sonderfällen dieser Praktik in ihrem Wirken betrachten. Auch wenn dies als ein Henne-Ei-Problem anmuten mag, sieht sich jede empirische Wissenschaft mit diesem Problem konfrontiert – als eine unausweichliche Konsequenz der Notwendigkeit, in kausalen Erklärungen sowohl Retroduktion als auch Retrodiktion anzuwenden, also sowohl die Mechanismen als auch ihr Zusammenwirken auszumachen.40 In der Praxis gehen Wissenschaftler_innen das Problem dadurch an, dass sie auf bestehende Beschreibungen zahlreicher kausaler Mechanismen zurückgreifen, die provisorisch als zuverlässig angenommen werden, wobei sie sich aber auf eine oder einige 39 Ebenda, S. 81. 40 Elder-Vass, A Method for Social Ontology; ders.; The Causal Power of Social
Structures, Kapitel 4.
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wenige konzentrieren, bei denen eine theoretische Umformulierung geboten ist. Wenn dieses Buch ein Modell vorgeschlagen würde, das sämtliche frühere gedankliche Arbeit zur Wirtschaft überflüssig machte, würde es sich selbst ein massives Hindernis in den Weg legen: Dann müssten wir die politische Ökonomie von Grund auf neu erfinden. Aber ein Großteil der vorangegangenen Arbeit lässt sich im Kontext dieses Modells so umformulieren und wiederverwenden, dass wir provisorische Beschreibungen zu Praktiken und Mechanismen erhalten, die wir als Grundlage verwenden, korrigieren und miteinander kombinieren können. Leser_innen meiner früheren Veröffentlichungen dürften ahnen, dass dieser theoretische Rahmen für den von mir dort vertretenen Ansatz zur Sozialontologie so manche Herausforderung bedeutet. Argumentiert habe ich dort insbesondere, dass hinter gesellschaftlichen Ursachen Kräfte aus sozialen Entitäten stehen, die letztlich wiederum aus Gruppen von Menschen mit besonderen Typen von Beziehungen zueinander bestehen. In diesem Buch habe ich kaum darauf geachtet, meine Darstellung der Appropriationspraktiken mit diesem Ansatz auszusöhnen. Insgesamt bin ich optimistisch, dass eine solche Aussöhnung möglich ist, möchte auf sie aber nicht näher eingehen, weil sie uns vom eigentlichen Thema zu weit wegführen würde. In einer Hinsicht hat mich die Arbeit an diesem Buch allerdings dazu ermuntert, meine bisherige Beschäftigung mit ontologischen Fragen auszuweiten: Für mich zeichnet sich immer deutlicher ab, dass sich viele ursächlich wirkende soziale Entitäten nicht nur aus Gruppen von Menschen, sondern auch aus nichtmenschlichen, materiellen Objekten zusammensetzen. So sind zum Beispiel Computer und Kommunikationsnetzwerke in vielen Strukturen in der Digitalwirtschaft ebenso wesentliche Bestandteile wie Menschen. Auch wenn ich dieses Thema konsequenter an anderer Stelle erörtern möchte, finden die Leserin und der Leser Ansätze einer Beschäftigung damit schon in der zweiten Hälfte dieses Buches.
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Schlussfolgerung In diesem Kapitel wurde das Konzept der Komplexe von Appropriationspraktiken erörtert, illustriert und der Anspruch formuliert, dass es von den Wirtschaftsformen und ihren Beziehungen untereinander eine Deutung liefert, die flexibler und leistungsfähiger ist als die in den konkurrierenden traditionellen politischen Ökonomien verfügbaren Auslegungen. Ausgehend von der Kritik, die in den beiden vorangegangenen Kapiteln gegen diese vorgebracht wurde, haben wir ansatzweise einen Deutungsrahmen – eine politische Ökonomie der Praktiken – entwickelt, der auf die ökonomische Vielfalt moderner Gesellschaften zugeschnitten ist und die ontologischen Erfordernisse berücksichtigen kann, die eine theoretische Behandlung von Phänomenen in offenen Systemen mit sich bringt. Seinen eigentlichen Test absolviert ein solcher Deutungsrahmen allerdings erst, wenn er auf konkrete Fälle angewandt wird. Die zweite Hälfte dieses Buchs setzt sich aus einer Reihe von Fallstudien aus der gegenwärtigen Digitalwirtschaft zusammen. Diese liefern weder eine vollständige Testreihe oder einen umfassenden Tauglichkeitsbeweis für den Deutungsrahmen noch eine komplette Beschreibung der Struktur der Appropriationspraktiken in der digitalen Ökonomie. Vielmehr behandeln diese Studien Fälle, die strategisch so ausgewählt sind, dass sie einerseits die Flexibilität und Stärke des Deutungsrahmens aufzeigen und andererseits schlaglichtartig das verdeutlichen, was ich für das zentrale politisch-ökonomische Spannungsfeld in der heutigen Digitalwirtschaft halte: die komplexen und vielfältigen Beziehungen zwischen den kapitalistischen und den schenkökonomischen Formen dieses neuen Wirtschaftsbereichs.
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Teil III Formen der Digitalwirtschaft
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Digitaler Monopolkapitalismus: Apple
Einführung Die nächsten vier Kapitel untersuchen jeweils ein bestimmtes ökonomisches Modell innerhalb der Digitalwirtschaft anhand eines Einzelfalls (oder zweier Fälle in Kapitel 9), der ein Beispiel für eine besonders erfolgreiche digitale Unternehmung darstellt: Apple, Wikipedia, Google-Suche sowie Facebook und YouTube. Ihre Bedeutung als Einzelfälle liegt in der Größenordnung ihrer Nutzung und ihres Einflusses auf die Digitalwirtschaft, aber auch in ihrem beispielhaften Charakter als Modelle, die in dieser Wirtschaft und bis zu einem Grad auch über sie hinaus übernommen werden können und in weiten Bereichen tatsächlich auch übernommen werden. Als Studienobjekte stehen sie nicht für spezielle Organisationen oder Websites, sondern vielmehr für Komplexe von Appropriationspraktiken. Auch wenn sie – nicht zuletzt wegen ihrer Größe und ihres Erfolgs – keineswegs repräsentativ sind, dienen sie dem Zweck dieses Kapitels, einige Fälle auszuleuchten und kurz zu erwägen, bis zu welchem Grad sie sich verallgemeinern lassen. Dabei versuche ich in ihnen jeweils spezifische Appropriationspraktiken auszumachen und festzustellen, wie diese im behandelten Fall und in ähnlichen Fällen zu Komplexen miteinander kombiniert sind und wie diese Komplexe bestimmte charakteristische Muster der Appropriation wirtschaftlicher Nutzen hervorbringen. Während manche der hier theoretisch erörterten Appropriationspraktiken wohl noch nie in entsprechender Weise beschrieben wurden, haben sich mit den meisten schon vor mir andere Autor_innen befasst. Das Neue am Ansatz dieses Buches besteht nicht darin, dass es neue Praktiken ausmacht, sondern dass es einen Deutungsrahmen schafft, der es ermöglicht, wirtschaftliche Erfolge
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anhand einer Untersuchung dazu zu erklären, wie diese Praktiken zusammenwirken. Damit möchte ich nicht behaupten, dass dies bislang noch nie unternommen worden wäre,1 sondern vielmehr den Standpunkt vertreten, dass dies der richtige Ansatz ist, um Wirtschaft zu untersuchen, anstatt sich obsessiv auf die dubiosen Konzepte von Mehrwert oder Marktgleichgewicht zu stützen, und aufzeigen, welche Art Analyse sich daraus ergibt. Der in diesem Kapitel untersuchte Fall ist insofern völlig konventionell, als es sich um einen kapitalistischen Großkonzern handelt. Tatsächlich war Apple Mitte 2015 mit Blick auf die Marktkapitalisierung das weltgrößte Unternehmen.2 Dieser streng profitorientierte Konzern erzielt einen erheblichen Anteil seiner Gewinne durch den Verkauf industriell erzeugter Güter. Auch wenn diese Merkmale auf ein Unternehmen hindeuten, das seiner Art nach innerhalb der etablierten wirtschaftswissenschaftlichen Traditionen gut erklärbar sein müsste, lassen sich die Praktiken, mit denen es seine Gewinne erzielt, weder in den Begriffen des marxistischen Modells noch in denen der Mainstream-Ökonomie umfassend oder angemessen beschreiben. Apple verdankt seine gewaltige Profitabilität nicht mehr als andere der Lohnarbeit (auch wenn sich der Konzern auf höchst entfremdende Arbeit im Niedriglohnsektor stützt), sondern herausragenden Leistungen in den Bereichen Produktinnovation, Design und Marketing sowie der Tatsache, dass es sich – entgegen den neoklassischen Träumen vom vollkommenen Wettbewerb – gegen Wettbewerb rücksichtslos abschottet. Die Grenzen der monolithischen Denkweisen zur Wirtschaft überwindend, befasst sich dieses Kapitel der Reihe nach mit sieben verschiedenen Appropriationspraktiken, die in der Kombination Apple seine Profitabilität sichern: unternehmerische Innovation, präferenzielle Bindung der Verbraucher_innen an seine Produkte, Verkauf immaterieller Güter, die von der Konstruktion geistigen Eigen-
1 So machen zum Beispiel Julie Froud und ihre Mitautoren einige der von Apple ein-
gesetzten Appropriationspraktiken (ohne den Begriff zu benutzen) aus. Siehe Froud u. a., Financialization across the Pacific. 2 Forbes, The World’s Biggest Public Companies.
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tums abhängen, Kontrolle über »Märkte«, vollständige Unterwerfung von Zuliefererunternehmen, Ausbeutung von Arbeitskräften und Steuervermeidung.
Innovation und Unternehmertum Die meisten verbreiteten Darstellungen führen Apples Erfolg auf das Genie ihres verstorbenen CEO Steve Jobs zurück: auf Innovation, Design-Philosophie, Marketing und Verhandlungsgeschick sowie auf sein unbeirrbares autoritäres Streben nach Perfektion. So schreibt beispielsweise Adam Lashinsky: »Nach seinem Tod am 5. Oktober 2011 im Alter von 56 Jahren wurde Steve Jobs zu Recht für seine außerordentlichen Beiträge zur Neuordnung vieler Branchen gefeiert. Er revolutionierte nicht weniger als vier Branchen: Die Computerbranche, die Musikbranche […], die Filmindustrie […] und die Kommunikationsbranche.«3 Nicht weniger als acht Mal tauchte er auf dem Titelblatt des Magazins Time auf. Selbst sein ausgewogenster Biograf beschreibt ihn als den »Meistermissionar des digitalen Zeitalters«.4 Zahlreiche Biografien priesen seine beiden Zeiten bei Apple, das er mit Steve Wozniak 1976 gegründet hatte.5 In den neun Jahren nach dessen Gründung entwickelten beide den Apple I , den Apple II und den Macintosh-Computer. Dabei konzentrierte sich Jobs auf eine Konstruktion, die Privatnutzer_innen eine außergewöhnliche Erfahrung bot. Eine Zeitlang operierte Apple als der weltweit führende Hersteller von Personal Computern.6 Als außenstehende Investoren die finanzielle Kontrolle über den Konzern übernahmen, verlor Jobs seinen Posten als CEO. 1985 befand sich Apple auf dem absteigenden Ast. Jobs wurde aus dem Unternehmen gedrängt.7 Nachdem er das Computertrickfilmstudio Pixar zu einem grandiosen Erfolg geführt hatte, kehrte er 1997 in sei-
3 4 5 6 7
Lashinsky, Inside Apple. Das Erfolgsgeheimnis, S. 16. Young / Simon, Steve Jobs und die Erfolgsgeschichte von Apple, S. 417. Ebenda, S. 50. Ebenda, S. 82. Ebenda, Kapitel 4.
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nen noch angeschlagenen alten Konzern zurück, setzte durch, dass Apple formschöne nutzerorientierte Designs betonte, und stellte eine breite Palette an Produkten und Entwicklungsprojekten ein, um das Unternehmen ganz auf ein kleines, aber wachsendes Sortiment an Innovationen auszurichten: den iPod, iTunes, das iPhone und das iPad. Diese beförderten Apple in seine Position als weltweit erfolgreichstes Unternehmen und sicherten Jobs bei Käufer_innen seiner Produkte geradezu tiefste Verehrung: Nach seinem Tod wurden auf der Webseite, die Apple zu seinem Gedenken eingerichtet hatte, über eine Million Botschaften gepostet.8 Jobs unterschied sich deutlich vom typischen CEO. Welche Kundschaft erhebt schon den Führer des Unternehmens, das ihren Föhn, ihre Brille oder ihr Fahrrad designet hat, zu ihrem Idol? Welche Wirtschaftskapitäne sind überhaupt bekannt? Der Unterschied lässt sich auf zwei Faktoren zurückzuführen: erstens auf die besondere emotionale Rolle, die Apples neuen Produkte wegen der von ihnen ermöglichten neuartigen Verbindungen im Leben ihrer Nutzer_innen spielen: zu Musik, zum Internet und zu anderen Nutzenden; und zweitens auf die besondere Rolle, die Jobs dabei spielte, diese Produkte zu kreieren und zu vermarkten. Nach innen übte er über das Design und die Qualität von Apple-Erzeugnissen eine totale Kontrolle aus, bei der er eleganten stilistischen Minimalismus und revolutionär neue Funktionen verlangte: eben jene, die er sich von einem solchen Produkt selbst wünschte.9 Nach außen übte er diese totale Kontrolle über das Image der Produkte aus, mit dem sich Apple der Welt präsentierte – Werbung, Verpackung und der Presse verabreichte Informationen –, und stellte sicher, dass sie als technologisch auf dem allerneuesten Stand und zugleich als Gipfel eines coolen persönlichen Stils vermarktet wurden.10 Dieses Buch hebt die Bedeutung von verallgemeinerbaren Appropriationspraktiken dabei hervor, wirtschaftliche Erfolge zu prägen, 8 www.apple.com/stevejobs/. 9 Lashinsky, Inside Apple. Das Erfolgsgeheimnis, S. 64. 10 Isaacson, Steve Jobs. Die autorisierte Biografie, S. 403f.; Lashinsky, Inside Apple.
Das Erfolgsgeheimnis, S. 29, S. 60, S. 125f.
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steht aber im Einklang mit der Erkenntnis, dass individuelles menschliches Handeln – wie das unternehmerische Steve Jobs’ – zu diesen Erfolgen ebenfalls ursächlich beiträgt. Kritische Realist_innen sehen alle Ereignisse als Konsequenz vielfältiger Arten zusammenspielender Kausalkräfte, darunter von individuellen Handlungen und normativen Kräften, die Appropriationspraktiken fördern, sowie zahlreicher weiterer.11 Wirtschaftliche Phänomene sind das Produkt nicht nur von Appropriationspraktiken, sondern vielmehr des Zusammenspiels von diesen mit menschlicher Handlungskompetenz und tatsächlich auch mit anderen sozialen und materiellen Entitäten und deren Kräften. Innovation und Unternehmertum stellen ihrerseits Praktiken dar, hängen aber wie alle anderen davon ab, dass Einzelne sie ausüben – stets mit dem Potenzial für Kreativität bei der Umsetzung und für Veränderungen in der Art, wie sie diese ausüben, anstatt einfach nur den strukturellen Kontext zu reproduzieren. Wir brauchen also keineswegs zu bezweifeln, dass Jobs einen entscheidenden Beitrag zum Erfolg von Apple geleistet oder dass Apple unter seinem direkten Einfluss eine Serie bemerkenswerter und bemerkenswert erfolgreicher Produkte hervorgebracht hat, müssen diese Leistungen aber in eine breitere Perspektive einbetten und die Bedeutung der anderen Faktoren berücksichtigen, mit denen sie zusammenspielten. So brillant ein Innovator auch sein mag, Innovation ist (im Gegensatz zu Erfindung) stets ein Prozess der Neukombination bereits bekannter oder zumindest gedanklich erschlossener Möglichkeiten.12 Neuartigkeit »geht tendenziell aus ziemlich alltäglichen Prozessen hervor, bei denen bestehende Komponenten und Ideen zusammengeführt werden«: Komponenten, die aus dem »Bestand existierender Technik« stammen, und Ideen, die zumeist im Wissensbestand veran11 Die Erkenntnis, das sowohl Struktur oder Kultur als auch Handlungskompetenz sich
ergänzende und zusammenwirkende kausale Rollen spielen, ist ein Herzstück der kritischen realistischen Sozialontologie, wie es in Roy Bhaskars transformationalem Modell der sozialen Aktivität (Bhaskar, The Possibility of Naturalism, S. 34–37), in Margaret Archers morphogenetischem Zyklus (Archer, Realist Social Theory) und in meiner Arbeit zu Struktur und Handlungskompetenz (Elder-Vass, The Causal Power of Social Structures) zum Ausdruck kommt. 12 Schumpeter, Entrepreneurship as Innovation, S. 51.
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kert sind.13 Wie jeder Innovator stützte sich Jobs auf diese Bestände: So war zum Beispiel die bahnbrechende grafische Benutzeroberfläche auf Apples Mac eine Weiterentwicklung von Arbeiten, die Jobs im Forschungszentrum von Xerox in Palo Alto beobachtet hatte.14 Als eine Konsequenz waren seine Innovationen Produkte, die sich in vielerlei Hinsicht nur geringfügig von bereits verfügbaren unterschieden oder die parallel aus gleichen Beständen entwickelt worden waren. Diese vorhandenen Komponenten und Ideen spielen neben den innovativen folglich ebenfalls eine kausale Rolle. Jobs’ besonderes Talent bestand darin, neue Versionen herkömmlicher Produkttypen zu konzipieren, welche die Bedürfnisse ihrer Nutzer_innen effizienter, praktischer und eleganter befriedigten, und Neukombinationen von Komponenten zu verlangen, die dies ermöglichten. So behauptete er zum Beispiel, dass Apple das iPhone deshalb kreiert hätte, weil seine Top-Manager ihre Smartphones verabscheut hätten: Er habe das Potenzial für Verbesserung erkannt.15 Eine Herausforderung bei der Konstruktion neuer Technik besteht darin, neue Funktionen so zu gestalten, dass ihre Bedienung einfach und mit möglichst geringem Aufwand erlernbar ist, damit die Konsument_innen die Technik mühelos in ihr Leben einbeziehen können.16 Für Jobs war dies ein entscheidendes Merkmal des Designs, bei dem es nicht nur um das Erscheinungsbild, sondern um die gesamte Erfahrung der Nutzer_innen im Umgang mit dem Produkt ging: »Manche Leute glauben, beim Design geht es darum, wie etwas aussieht. Aber wenn man tiefer gräbt, geht es natürlich darum, wie etwas [funktioniert].«17 In beiderlei Hinsicht war das Design für Apples Entwicklungsprozess entscheidend.18 Und Design ist in diesem Sinn eine Anwendung der Kausalitätstheorie der vielfältigen Determination auf die Produktgestaltung. Lawson, Technology and Isolation, Kapitel 8, Cambridge i. E. Young / Simon, Steve Jobs und die Erfolgsgeschichte von Apple, S. 84f. Lashinsky, Inside Apple. Das Erfolgsgeheimnis, S. 63f. Lawson, Technology and Isolation, Kapitel 8. Siehe auch Isaacson, Steve Jobs. Die autorisierte Biografie, S. 402; Steve Jobs, zitiert in Young / Simon, Steve Jobs und die Erfolgsgeschichte von Apple, S. 362. 18 Isaacson, Steve Jobs. Die autorisierte Biografie, S. 403; Lashinsky, Inside Apple. Das Erfolgsgeheimnis, S. 65. 13 14 15 16 17
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Was gestaltet werden muss, ist die Erfahrung der Nutzer_innen, ausgehend von der Erkenntnis, dass diese Erfahrung ein Ergebnis vielfältiger zusammenwirkender Faktoren ist: nicht nur des physischen Objekts, sondern auch der Präsentation seiner Annehmlichkeiten und der Fähigkeiten der Nutzenden. Einheitlichkeit der Benutzeroberfläche sorgt zum Beispiel dafür, dass die Nutzer_innen eine erlernte Fähigkeit bei jeder neuen Anwendung einsetzen können – und vermittelt somit das Gefühl, dass das Produkt »intuitiv« nutzbar sei, wohingegen es Variationen erschweren, das betreffende Gerät ins eigene Leben zu integrieren. Wie Jobs es fasste: »Es erfordert eine Menge harter Arbeit […], etwas Einfaches zu schaffen […].«19 Innovation hängt folglich stark von den materiellen Möglichkeiten, vom Bestand an verfügbarem technischem Wissen und von den kulturell geprägten Bedürfnissen und Fähigkeiten ihrer Nutzenden ab. Dabei ist sie aber auch eine eigenständige soziale Praktik, die in kapitalistischen wie nichtkapitalistischen Wirtschaftsformen weit verbreitet eingesetzt wird. Sie ist weitgehend gleichbedeutend mit Unternehmertum – bei beiden geht es darum, bestehende Technologien neu zu kombinieren, um Neues zu schaffen oder auf neue Weise zu produzieren – und folglich auch mit der Entwicklung neuer Produktionsformen. Auch wenn Unternehmertum außerhalb eines kapitalistischen Umfelds praktiziert werden kann, ist es nichtsdestotrotz eine Praktik, die für den Kapitalismus und seine Dynamik grundlegend ist, wie uns die heterodoxe Wirtschaftstheorie Joseph Schumpeters lehrt. Schumpeter erkannte, dass der neoklassische Blickwinkel auf die ausgleichenden Tendenzen der Wirtschaft die nicht minder bedeutenden dynamischen Tendenzen ausblendete, die Wandel, Wachstum, Profit und Fortschritt generierten. Wie er argumentierte, würde der vollkommene Wettbewerb, wie in der neoklassischen Tradition postuliert, jeden Profit in einer kapitalistischen Wirtschaft schrittweise eliminieren. Deswegen zeige der nach wie vor existierende Profit als zentrales Kennzeichen real existierender kapitalistischer Wirtschaf-
19 Steve Jobs, zitiert in Isaacson, Steve Jobs. Die autorisierte Biografie, S. 402.
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ten, dass die Gleichgewichtstheorie radikal unzulänglich sei.20 Es war die Innovation, die Profit erzeugte: Indem Unternehmer »neue oder billigere Arten, Dinge herzustellen, oder Arten, ganz neue Dinge herzustellen«, einführten, waren sie in der Lage, existierende Produzenten zu unterbieten oder unverkennbar neue Produkte zu schaffen, die nach einem Aufpreis verlangten und somit Profite generierten – zumindest bis sie wieder das Gleichgewicht einholte, indem andere Kapitalisten ihre Innovationen kopierten und diejenigen, die nicht mitzogen, aus dem Markt gedrängt wurden.21 Innovation ist folglich keine gelegentliche Störung in der sich selbst stabilisierenden Wirtschaft, sondern »[d]er fundamentale Antrieb, der die kapitalistische Maschine in Bewegung setzt und hält«.22 Dies ist ein Prozess, »der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozeß der ›schöpferischen Zerstörung‹ ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum.«23 Auch sind Innovator_innen mitnichten die rational kalkulierenden über vollständige Informationen verfügenden Optimierer_innen, welche die traditionelle neoklassische Tradition in ihrer Theorie behandelt. Sie haben es nicht einmal mit Unwägbarkeiten zu tun, bei denen sie die Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Ergebnisse abschätzen können, sondern begeben sich ins Risiko und stürzen sich ins Unbekannte. Jede Innovation kann für die Innovator_innen mit einem Triumph oder einem Desaster enden, aber die systembedingte Konsequenz der Praktik der Innovation ist im Kapitalismus schöpferische Zerstörung, durch die neue Unternehmen aufsteigen und alte untergehen. Ein Ergebnis sind massive Verschiebungen bei der Nutzenallokation hin zu den Manager_innen, Angestellten und vor allem Aktionär_innen in den gewinnenden und weg von denen der verlierenden Unternehmen. Wenn Apple aufsteigt, erleben beispielsweise IBM und Nokia den Abstieg. Aber Innovationen schaffen auch neue Nutzen für Kon20 21 22 23
Heilbroner, The Worldly Philosophers, S. 294. Ebenda, S. 295. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 137. Ebenda, S. 137f.
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sument_innen: iPhones und iPads können ihre Lebensqualität in Weisen steigern, die bislang schlicht unmöglich waren. Unternehmertum ist mit anderen Worten eine Appropriationspraktik, die tiefgreifende Auswirkungen auf die Frage hat, wer von Wirtschaftstätigkeit profitiert, und ebenso eine, die andere Appropriationspraktiken umwandelt und neu gestaltet. Schumpeter sieht Profit als eine systembedingte Folge von Innovation an. Aber für die einzelnen Konzerne wie Apple zielt Innovation ganz darauf ab, ihren Profit zu steigern. Autor_innen, welche die persönliche Leistung Steve Jobs’ in den Fokus rücken, tendieren zu einer Verschleierung dieser Tatsache. Laut einem gemeinsamen Motiv seiner Biografen soll sich Jobs um Geld und was man sich damit kaufen kann, nicht gekümmert haben. Für einen Mann, der über viele Jahre steinreich war, lebte er verhältnismäßig bescheiden. So wie er porträtiert wird, soll er anstatt vom Nettogewinn des Unternehmens vom Gedanken an den Erfolg und von der Befriedigung darüber, Großes zu schaffen, angetrieben worden sein. Diese Antriebe ähneln bemerkenswert den Motivationen, die Schumpeter Unternehmern zuschreibt: »Der Wille, ein privates Reich zu gründen«, »der Antrieb, zu kämpfen, sich als den anderen überlegen zu erweisen, erfolgreich zu sein, nicht wegen der Früchte des Erfolgs, sondern um des Erfolges willen« und wegen »der Freude daran, schöpferisch tätig zu werden, Dinge zu erledigen oder einfach der eigene Tatkraft und Genialität freien Lauf zu lassen«.24 Aber unabhängig von seinen persönlichen Zielen verdankte Jobs seine Fähigkeit, diese auch zu verfolgen, seiner strukturellen Position als CEO von Apple. Ab dem Moment, als außenstehende Investierende die mehrheitliche Kontrolle über Apple übernahmen, und insbesondere nach dem Börsengang des Unternehmens lag diese Position in den Händen des Vorstands und letztlich der Aktionäre. Unabhängig von seinen Manövern hinter den Kulissen25 wurde Jobs 1997 am Ende deshalb erneut CEO, weil der Vorstand und Großaktionäre überzeugt waren, dass er dem Unternehmen bedeutende Gewinne und Gewinnsteigerungen bescheren konnte, und er behielt den Posten, weil er 24 Schumpeter, Entrepreneurship as Innovation, S. 70. 25 Young / Simon, Steve Jobs und die Erfolgsgeschichte von Apple, S. 300f.
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diese Erwartungen erfüllte. Diesem vom System vorgegebenen Imperativ müssen CEO s folgen, oder sie werden abgelöst. Wie andere kapitalistische Unternehmen ist Apple eine Maschine zum Geldverdienen, durch die Struktur des Aktienmarktes dazu angetrieben, Kapital zu akkumulieren: durch die Logik des Systems, in das sie eingebettet ist. Der Antrieb zur Kapitalakkumulation ist die entscheidende Appropriationspraktik des Kapitalismus, die den Führungskräften privatwirtschaftlicher Unternehmen aufgezwungen wird, ob sie wollen oder nicht. Kapitalismus braucht Innovation, um seinen Hunger nach immer neuem Wachstum zu stillen, und treibt sie rastlos weiter voran, um seinem Antrieb zur Akkumulation zu gehorchen. Innovation ist allerdings nur eine Appropriationspraktik, die Unternehmen wie Apple in ihrem Streben nach Akkumulation miteinander verbinden. Eine andere ist das Streben nach Macht über die Kundschaft.
Präferenzielle Bindung Wirtschaftswissenschaftler_innen neigen der Auffassung zu, dass es sich bei Monopolen um relativ seltene Fälle handele, in denen Investitionen in Infrastruktur, rechtliche Beschränkungen oder begrenzte natürliche Ressourcen dazu führten, dass sich ein Großunternehmen gegen keine nennenswerten Konkurrenten behaupten müsse: gegen keine rivalisierenden Anbieter gleichwertiger Produkte. Da dies angeblich selten vorkommt, lassen sich Marktwirtschaften auf theoretischer Ebene als wettbewerbsorientierte Märkte behandeln, an denen Anbieter_innen mit einer Vielzahl anderer mit gleichwertigen Produkten konkurrieren müssen. Aber die Wirklichkeit sieht so aus, dass die meisten Anbietenden (ob kapitalistisch oder nicht) ständig danach streben, sich mit ihren Angeboten von der Konkurrenz abzusetzen und sich das zu sichern, was ich präferenzielle Bindung genannt habe.26 Eine Käuferin hat eine präferenzielle Bindung an einen Anbieter, wenn sie aus einer Grundeinstellung heraus eher bei ihm als bei anderen 26 Elder-Vass, Towards a Social Ontology; siehe ebenso Kapitel 5.
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kauft. Auch wenn solche Einstellungen nicht unerschütterlich sind und Kaufentscheidungen jederzeit durch weitere Faktoren beeinflusst werden können, schaffen sie eine Neigung zum Kauf beim betreffenden Anbieter. Solche Neigungen lassen sich selbst dann entwickeln, wenn der jeweilige Anbieter für ein gleichwertiges Produkt einen höheren Preis als die Konkurrenz verlangt. Aus Sicht der MainstreamÖkonomie sind solche Unternehmen faktisch Monopolisten. Ihre Monopole sind keine seltenen Ausnahmen, sondern kennzeichnen auf vielen und vielleicht sogar den meisten Märkten die normalen Verhältnisse. Präferenzielle Bindungen sind nichtpreisliche Gründe, warum Käufer_innen lieber bei dem einen anstatt bei einem anderen Anbieter kaufen. Um sich eine präferenzielle Bindung zu sichern, setzen Verkäufer_innen darauf, ihr Produkt oder ihre Dienstleistung so gegen andere abzusetzen, dass sie einem Aspekt der Motivationen der Kundschaft besser entgegenkommt. So kann sich ein Ladengeschäft präferenzielle Bindungen zum Beispiel dadurch sichern, dass es zur Kundschaft persönliche Beziehungen aufbaut, die ein Gefühl der Loyalität fördern. Für kleinere Geschäfte kann diese Strategie besonders wichtig sein. Sie stützt sich auf den Wert, den wir solchen Beziehungen beimessen, aber auch auf unser Gefühl der wechselseitigen Verpflichtung, zu dem wir im Umgang mit Menschen neigen: So fühlen wir uns vielleicht verpflichtet, in einem Geschäft mit besonders guter Beratung zu kaufen, auch wenn das betreffende Produkt anderswo billiger zu haben ist. Dies ist übrigens ein weiterer Grund, um mit der in Kapitel 4 kritisierten Gleichsetzung von Geschenk und Reziprozität zu brechen: Zum einen werden viele Geschenke nicht im wechselseitigen Austausch dargebracht, und zum anderen kennzeichnet Reziprozität auch andere Wirtschaftsformen. Es gibt eine große Bandbreite an Methoden, um sich bei der Kundschaft eine präferenzielle Bindung zu sichern. Als ein weiteres Beispiel kann sich ein Online-Lebensmittelgeschäft an das Bedürfnis der Kundschaft wenden, alltägliche Einkäufe möglichst schnell und einfach abzuwickeln, und sich ihre präferenzielle Bindung dadurch sichern, dass er seine Website mit einer besonders benutzerfreundlichen Oberfläche ausstattet oder ihnen die Möglichkeit gibt, künftige
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Einkäufe zu erleichtern: zum Beispiel durch eine wiederverwertbare Einkaufsliste, die auf der betreffenden Shopping-Website wieder abgerufen werden, aber nicht auf andere Sites exportiert werden kann. Dies ist wohl ein Sonderfall des allgemeineren Bedürfnisses, den Aufwand beim Einkaufen zu begrenzen. Und auf dieses zielen denn auch andere Strategien zur Herstellung präferenzieller Bindungen ab. Einkäufe, die vor Ort getätigt werden müssen, kann eine Anbieterin zum Beispiel durch eine entsprechende Standortwahl erleichtern – als einziges Geschäft in einer bestimmten Gegend oder als einzige Tankstelle, die auf dem Weg der Pendlerin oder des Pendlers zur Arbeit liegt. Oder durch Öffnungszeiten, die Einkäufe auch noch spät abends nach der Arbeit ermöglichen. Und diese verschiedenen Strategien lassen sich erfolgversprechend kombinieren: Ein lokaler Gemischtwarenladen, der mit hilfsbereitem Personal bis spät in die Nacht geöffnet hat, kann mit einem Online-Supermarkt, der die gleichen Produkte billiger anbietet, erfolgreich konkurrieren, indem er sich die präferenzielle Bindung der Kundschaft vor Ort sichert. Und dabei müssen solche Strategien nicht einmal so direkt auf den Nutzen der Konsument_innen abzielen. Andere Arten von Anbieter_innen können auch verschiedene Formen von Macht ausüben, um sich eine präferenzielle Bindung zu sichern, indem sie zum Beispiel Regierungen dazu drängen, konkurrierenden Anbieter_innen nichtpreisliche Hindernisse in den Weg zu legen, oder indem sie Einkaufspersonal im Großhandel bestechen. Für die Wirtschaftstheorie bedeutet dies, dass sich die Beziehung zwischen Käufer_innen und Anbieter_innen von Waren nicht allein in Begriffen des Preises erfassen lässt. Wie Schumpeter erkannte, knüpft sich Innovation häufig an einen nichtpreislichen Wettbewerb, weshalb »die Preisvariable« in der Wirtschaftstheorie »aus ihrer beherrschenden Stellung vertrieben« werden müsse.27 Insbesondere beruht das neoklassische Modell auf dem Glauben, dass es für jedes Produkt zu jeder Zeit einen und nur einen Preis gebe, da alle Anbietenden, die einen höheren verlangten, auf ihrem Produkt sitzenblieben, während tatsächlich aber die präferenzielle Bindung dafür sorgt, dass verschie27 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 139.
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dene Anbietende identische Produkte zu völlig unterschiedlichen Preisen verkaufen und diese Preisunterschiede auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten können. Mit anderen Worten: Die Motivationen der Käufer_innen und die Praktiken, mit denen sich Anbietende eine präferenzielle Bindung sichern, bringen in Kombination Marktmechanismen hervor, die ziemlich anders funktionieren als die von den neoklassischen Ökonom_innen postulierten: Und dies ist in kapitalistischen Wirtschaften nicht der Ausnahmefall, sondern vielmehr die Regel.28 Apples Strategie, bei der Kundschaft eine präferenzielle Bindung zu schaffen, beinhaltet zwei eng miteinander verflochtene Elemente. Wie wir sahen, zielt das Unternehmen erstens darauf ab, seine Produkte funktionaler und nützlicher als die besten Entsprechungen auf dem Markt zu gestalten. Dazu achtet es sorgfältig auf Benutzerfreundlichkeit und den Einsatz innovativer Technik. Zweitens vermarktet es seine Erzeugnisse nicht nur als Produkte in Premium-Qualität, sondern auch als »cool«: als Verkörperungen eines Lebensstils, dem in der gegenwärtigen Gesellschaft ein hoher kultureller Status zugeschrieben wird (ohne dass er zwangsläufig mit einer hohen sozialen Position einhergeht). Apples Marketing setzt stark auf diese kulturelle Positionierung seiner Produkte und ist Beispiel für das, was Jim McGuigan als »coolen Kapitalismus« bezeichnet hat: »die Einbeziehung [politischer] Unzufriedenheit in den Kapitalismus selbst«.29 McGuigan zeichnet die Ursprünge des »Coolen« von der afrikanischen Wurzel in der afroamerikanischen Kultur über »eine Art passiven Widerstand gegen die Arbeitsethik durch persönlichen Stil«30 bis hin zu seinen Verwendun28 Siehe hierzu Chamberlins Darstellung des monopolistischen Wettbewerbs (The
Theory of Monopolistic Competition), auch wenn er diesen Prozess mithilfe konventioneller mathematischer Modelle von Angebot und Nachfrage zu verdeutlichen versucht. Dagegen bin ich nicht davon überzeugt, dass sich das dynamische Zusammenwirken zwischen den Praktiken der Verkaufenden und den Motivationen der Kaufenden, auf denen die präferenzielle Bindung beruht, in konventionellen Nachfragekurven adäquat darstellen lässt. 29 McGuigan, Cool Capitalism, S. 1. 30 Pountain / Robins, Cool Rules: Anatomy of an Attitude, S. 41.
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gen in der gegenwärtigen Kultur nach, in der dieser Begriff »frei flottierend« gebraucht wird, dienstbar zur »Artikulierung von Widerstand wie von Anpassung und mit der Zeit von einem ins andere übergehend«.31 Die gegenwärtige Entwicklung des Begriffs knüpft sich an die Gegenkultur der 1960er Jahre, die ihn vereinnahmt und ihn auf ihrer Reise von der Rebellion zum Mainstream mitgenommen hat.32 Cool steht kulturell für Kapitalismus auf zwei verschiedenen, aber miteinander verknüpften Ebenen. Auf makrokultureller Ebene trägt er dazu bei, dem Kapitalismus Legitimität zu verschaffen als ein Element von dem, was Boltanski und Chiapello den »neuen Geist des Kapitalismus« nannten.33 Der Kapitalismus, so ihre Argumentation, sei ein absurdes System, in dem Lohnabhängige zur Unterwerfung verdammt und Kapitalist_innen »an einen endlosen und unersättlichen, durch und durch abstrakten Prozess gekettet« seien.34 Folglich benötige er stets eine Ideologie, die unsere Beteiligung an ihm rechtfertige. Und da die kapitalistische Logik amoralisch sei, setze er darauf, sich moralische Gründe von außerhalb zu beschaffen und sie so umzumünzen, dass sie das eigene System legitimierten. Boltanski und Chiapello deuten Max Webers Argumentation zur »protestantischen Ethik« als eine Darstellung dazu um, wie der Frühkapitalismus durch Umdeutung der calvinistischen Religion Legitimation erhielt. Waren die Calvinisten ursprünglich strenge Kritiker der kapitalistischen Akkumulation, so wurde ihre Theologie im England des 17. Jahrhunderts zu deren Unterstützung umgestaltet, indem sie das Gewinnstreben zur religiösen Pflicht erhob. Mit dem Aufstieg des Industriekapitalismus wurde dieser erste Geist des Kapitalismus zunehmend unzeitgemäß, als sich sozialistische Bewegungen formierten, um der Unterwerfung der Arbeiterklasse entgegentreten. Aber wieder gelang es dem Kapitalismus, die Argumente der Gegenseite so umzukehren, dass sie die Sozialdemokratie in die Rechtfertigung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert miteinbezog. Ein neuer Gesellschaftsvertrag ent31 32 33 34
McGuigan, Cool Capitalism, S. 5. Ebenda, S. 6. Boltanski / Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus. Ebenda, S. 42.
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wickelte sich, der den Kapitalismus dadurch akzeptabel machte, dass er Sicherheit und ein Element von Gerechtigkeit und Humanität bot, weil er die notwendigen Ressourcen zum Unterhalt eines Sozialstaats hervorbrachte. In jüngster Zeit, so Boltanski und Chiapello, sei mit den zunehmenden Angriffen auf den Sozialstaat ein neuer Geist eingezogen, der sich – anders als der erste – nicht aus der umgedeuteten religiösen Kritik am Kapitalismus und – anders als der zweite – ebenso wenig aus der umformulierten politischen Kritik am Kapitalismus, sondern vielmehr aus der »Künstlerkritik« speise. Diese klage den Kapitalismus nicht wegen der Ausbeutung, sondern wegen seiner Entfremdung an: wegen seiner Art, Authentizität, Selbstbestimmung, Kreativität und persönliche Beziehungen in unserem Leben als Produzierende und Konsumierende zu unterdrücken. Und hier schließt Boltanskis und Chiapellos Narrativ an das McGuigans an: Während die Hippie-Gegenkultur der 1960er Jahre beispielhaft für diese Kritik stehe, stelle der coole Kapitalismus eben deren Einbeziehung in umgestalteter Form in die Rechtfertigung des Kapitalismus dar. Die Künstlerkritik werde in die Behauptung verkehrt, dass revolutionär neue Konsumgüter genau das bereitstellten, was der Kapitalismus nach traditioneller Sicht unterdrücke: Legitim sei er gerade deshalb, weil er, anstatt Authentizität, Selbstbestimmung, Kreativität und persönliche Beziehungen auszumerzen, diese vielmehr bereichere und erst so richtig ermögliche.35 Auch hier wird die Verbindung zur zweiten, zur Mikroebene, deutlich, auf welcher der Begriff »cool« zu einem Marketing-Werkzeug für diese besonderen Produkte wird. Beide Ebenen sind rekursiv miteinander verbunden: Die Wende auf Makroebene ist zum Teil das Ergebnis der 35 Auch wenn ihre Argumentation brillant konstruiert ist, beharren Boltanski und
Chiapello wohl allzu entschlossen darauf, dass der Kapitalismus seine Legitimität allein aus einer Vereinnahmung der Argumente seiner Gegner beziehe. Tatsächlich legitimiert er sich auch aus seiner Fähigkeit, Konsument_innen mit einem breiten Spektrum an bezahlbaren und verlockenden Gütern zu versorgen. Die Konsumgesellschaft hatte einen wohl mindestens ebenso bedeutenden Anteil wie der Sozialstaat daran, ihm über das letzte halbe Jahrhundert hinweg seine Legitimität zu verschaffen. Der coole Kapitalismus verquickt Konsumgesellschaft mit Künstlerkritik.
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sich überlagernden und wechselwirkenden Marketingkampagnen auf Mikroebene, die sich ihrerseits an den sich weiterentwickelnden Sprachbildern auf Makroebene bedienen: der neue Geist des Kapitalismus. Der Apple-Konzern, gegründet in Kalifornien, dem Epizentrum der Gegenkultur der 1960er Jahre, und inspiriert von Steve Jobs, der in jungen Jahren Marihuana, LSD, fernöstlicher Mystik sowie dem Fruganismus zusprach, mit Joan Baez liiert war und lange Zeit dem ZenBuddhismus anhing, ist die vollendete Verkörperung dieses Geistes.36 Der Macintosh-Computer wurde als ein Werkzeug für den künstlerischen Ausdruck – insbesondere für Grafikdesigner und Musiker – und somit für Kreativität und Authentizität vermarktet. iTunes und iPod verschaffen immer und überall Zugang zu jeder Art Musik. Und das iPhone und das iPad werden als Kulturplattformen und Kommunikationsgeräte in höchster Vollendung vertrieben, die es uns ermöglichen, ständig mit Freund_innen Verbindung zu halten, immer beschäftigt und stets kreativ zu sein. Und am allerbemerkenswertesten gelang es Apple in seinen Marketingkampagnen, seine Produkte mit einem rebellischen Lebensgefühl in Verbindung zu bringen37 – von der Werbekampagne »Rip, Mix, Burn« für iTunes, die vielen als ein Aufruf zur Musikpiraterie erschien,38 über die betonte Jugendlichkeit in den meisten Apple-Werbungen bis hin zur sorgfältig durchgehaltenen Ästhetik der Apple-Designs. Der immer gleiche, leicht minimalistisch anmutende Ästhetik-Stil kennzeichnet Apples Hardware, die Benutzeroberfläche seiner Software und sogar seine Verpackungen sowie seine Einzelhandelsgeschäfte. Er hebt sie vom kommerziellen Mainstream ab und zeichnet sie zugleich als erlesen aus: kostspielige coole Kultur mit passendem Design. Als beabsichtigtes Ergebnis erreichten 36 Young / Simon, Steve Jobs und die Erfolgsgeschichte von Apple, S. 34ff., S. 46ff.,
S. 116. 37 Lashinski verweist auf die außergewöhnliche »Tatsache, dass ein Unternehmen mit einem Wert von 360 Milliarden US -Dollar als revolutionär betrachtet und
nicht als ›das Establishment‹ verhöhnt wird«. Siehe Lashinsky, Inside Apple. Das Erfolgsgeheimnis, S. 206. 38 Strangelove, The Empire of Mind: Digital Piracy and the Anti-Capitalist Movement, S. 66; Young / Simon, Steve Jobs und die Erfolgsgeschichte von Apple, S. 391.
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Apple-Produkte einen Kultstatus, der sich daraus speist, dass sie als Symbole rebellischer Individuen gedeutet werden, während echte Individualität dank des gekauften Images entbehrlich wird. Was angeboten wird, ist »die Ästhetik des Radikalismus« anstatt dessen Substanz.39 Das neue Angebot, das der dritte Geist des Kapitalismus bereithält, ist nicht mehr Arbeit im Austausch gegen Sicherheit und Menschlichkeit, sondern Arbeit gegen die Möglichkeit, Dinge zu kaufen, die ein cooles Erscheinungsbild und ein cooles Gefühl vermitteln. Wie Lashinsky es fasst: »Apples Vorgehen, anfangs eine Geschichte zu erzählen, ist ein gut ausgearbeitetes Konzept, weil man den Leuten nicht sagt, was sie kaufen sollen, sondern welche Art von Mensch sie sein wollen. Das ist klassische ›Lifestyle-Werbung‹, der Verkauf einer Vorstellung, die mit einer Marke in Verbindung steht und nicht mit dem Produkt selbst. Von Apples Werbefeldzug mit dem Kultslogan, ›Think different‹ aus dem Jahr 1997, in dem Bilder von Gandhi, Einstein und Bob Dylan gezeigt wurden, jedoch keine Abbildungen von Apple-Produkten, bis hin zu den später nur als Schatten gezeigten hippen, urbanen Künstlern, die zur Musik ihrer iPods tanzten […], hatte es Apple hervorragend verstanden, Lifestyle zu verkaufen.«40 Apples Strategie zum Aufbau einer präferenziellen Bindung kombiniert also eine außergewöhnliche Funktionalität der Produkte mit einem hochattraktiven Design, geht aber noch deutlich weiter. Sie knüpft an den weiteren kulturellen Kontext an und nutzt ihn, um die Marke als einen Signifikanten kultureller Auszeichnung zu positionieren, den Verbraucher mit dem Kauf von Apple-Produkte erwerben können. Die Logik der kulturellen Auszeichnung umreißt Pierre Bourdieu brillant in seinem Klassiker Die feinen Unterschiede41, wobei aber die kulturelle Auszeichnung im Frankreich seiner Zeit letztlich mit der gesellschaftlichen Stellung verbunden war. Der Triumph des coolen Kapitalismus besteht nun darin, dass er die kulturelle Aus39 Wu, Der Master Switch. Aufstieg und Niedergang der Medienimperien, S. 321. 40 Lashinsky, Inside Apple. Das Erfolgsgeheimnis, S. 129. 41 Bourdieu, Die feinen Unterschiede.
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zeichnung – zumindest einige Varianten von ihr – in eine Ware verwandelt hat, die jedem mit entsprechender Kaufkraft zur Verfügung steht.
Mit geistigen Eigentumsrechten ein Monopol aufbauen Apple hat folglich die Kunst der präferenziellen Bindung perfektioniert und sie dazu eingesetzt, ein Gefühl zu schaffen, dass seine Produkte größere Nutzen als die der Konkurrenz bereitstellen. Indem das Unternehmen seine Erzeugnisse auf diese Art auszeichnet, schafft es eine Reihe von Monopolen: Wenn man einen iPod, ein iPhone oder ein iPad (und nicht nur einfach ein Musik-Abspielgerät, ein Smartphone oder einen Tabletcomputer) braucht, muss man zwangsläufig bei Apple kaufen. Allerdings müssten Apples Innovationen laut Schumpeters Logik einen Schwarm von Nachahmern anziehen, die mehr oder weniger identische Produkte auf den Markt bringen und Apples Fähigkeit, überhöhte Preise zu verlangen, mit ihrer Konkurrenz durchkreuzen.42 Wenn das Unternehmen schnell genug Neuheiten herausbringt, mag es sich diesen Schwarm vom Leib halten, ist inzwischen aber in mancherlei Hinsicht hinter den Konkurrenten zurückgefallen. Nach einem Branchenkommentator tauchten »viele Features von iOS 8 zuerst auf Android auf, und größere iPhones sind eine Bestätigung für die Richtung, in die Samsung und die anderen Android-OEM s die Dinge vorangetrieben haben. Haben Android in der Frühzeit vieles von Apple kopiert, so schwingt das Pendel inzwischen offenbar in die andere Richtung.«43 Zum Schutz einer Monopolstellung lassen sich allerdings noch weitere Praktiken und Ressourcen aufbieten, in denen Apple Meister ist. Eine dieser Praktiken haben wir bereits gesehen: der Einsatz von Marketing, um in der Kultur das Gefühl einer Höherwertigkeit des Produkts zu schaffen, die – zumindest bis zu einem gewissen Grad – von dessen tatsächlicher Zweckmäßigkeit unabhängig ist. Aber selbst 42 Heilbroner, The Worldly Philosophers, S. 296. 43 Ron Amadeo, zitiert in Ramos, Oh, the Irony! iPhone 6 Copies the Nexus 4.
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diese Strategie ist gegen Nachahmungen grundsätzlich nicht gefeit: Konkurrenten können Produkte herstellen, die schlicht denen von Apple gleichen und Käufer_innen als billige Nachahmung den Kultstatus eines Appleprodukts verleihen. Und tatsächlich sind zahlreiche ähnlich aussehende Geräte auf dem Markt. Allerdings versucht Apple sie wo immer möglich aus dem Verkehr zu ziehen, indem es aggressiv seine geistigen Eigentumsrechte in Feld führt. Diese Rechte untergliedern sich in drei Gruppen: in Markenrechte, Patente und Urheberrechte. Um seine Monopolmacht zu schützen, setzt Apple auf alle drei. Mithilfe des Markenrechts geht der Konzern gegen Verwendungen des Logos mit dem angebissenen Apfel und anderer Apple-Marken auf fremden Produkten vor. 2011 führte er beispielsweise eine Klage gegen einen »New Yorker Teenager«, der weiße Schalen für das iPhone 4 eingeführt und vertrieben hatte. Tatsächlich handelte es sich um einen Umbausatz für Apple-Smartphones. Weil die Teile das Apple-Markenzeichen einschließlich des Logos mit dem angebissenen Apfel trugen und es Nutzer_innen ermöglichten, noch vor der offiziellen Markteinführung ihr iPhone weiß zu gestalten, sah das Unternehmen seine Einnahmen gefährdet und ging gegen den Verkauf vor.44 Als ein interessanter Aspekt der Beweise, die im Verfahren vorgelegt wurden, hatten sich mehrere größere Spediteure geweigert, die Teile aus China auszuführen, mit der Begründung, dass sie unlizenzierte Apple-Logos trugen. Ganz offensichtlich sind zahlreiche Dienstleistungsunternehmen bereit, für Apple die Durchsetzung seiner Markenrechte zu übernehmen. Aber auch wenn das Markenrecht missbraucht werden kann, zum Beispiel gegen ein Unternehmen, das eine Marke als erstes vor Eintragung durch ein anderes genutzt hat, ist dieses Recht grundsätzlich positiv zu bewerten: Es schützt die Kundschaft vor Anbietern, die sie über die Herkunft der von ihnen vertriebenen Waren täuschen wollen. Zudem nutzt der Apple-Konzern das Patentrecht, um die Konkurrenz daran zu hindern, Produkte mit appleähnlichen Merkmalen auf
44 Purcher, Apple Files Trademark Infringement Lawsuit against whiteiphone4now.
com.
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den Markt zu bringen. Dazu führte er eine lange Serie von Klagen, insbesondere gegen Samsung, den gegenwärtigen Marktführer bei Android-Smartphones, unter den Vorwurf, von Apple patentierte Technik zu verwenden, während Samsung mehrere Gegenklagen eingereicht hat. Bis August 2014 hatten sich beide Konzerne darauf geeinigt, die meisten Klagen zurückzuziehen. In zwei Verfahren in Kalifornien, in denen Apple zunächst über 1 Milliarde Dollar Entschädigung zugesprochen bekam, läuft derzeit allerdings noch die Berufung.45 Derlei Klagen zielen letztlich allerdings weniger auf Entschädigungszahlungen als vielmehr darauf ab, die Einzigartigkeit von Apple-Produkten dadurch zu schützen, dass Konkurrenten von einem allzu getreuen Kopieren abgeschreckt werden. Zudem soll wohl auch bei den Verbraucher_innen der Eindruck verstärkt werden, dass Apple sowohl technologisch führend als auch eine coole Marke sei. Nochmals: Apple versucht sein Monopol mit legalen Mitteln zu schützen. Und nochmals: Auch das Patentrecht ist vom Grundsatz her positiv zu bewerten: Es sorgt dafür, dass Erfinder_innen von ihren Ideen profitieren können, indem es vor Nachahmungen schützt, und setzt so Anreize für die Forschung. Allerdings müssten die Laufzeiten des Patentschutzes stärker begrenzt werden. Auch sollten Patente nur für wirklich neue Technologien erteilt werden, die sich von bestehenden erheblich unterscheiden. Andernfalls behindern sie in unvernünftiger Weise die Innovationstätigkeit anderer Unternehmen und kumulative Innovationen. So hat sich Apple 2012 zum Beispiel ein US -Patent gesichert, das ihm das Exklusivrecht zum Vertrieb rechteckiger Geräte mit abgerundeten Ecken verleiht.46 Auch wenn dieses besondere Patent in der Praxis kaum durchsetzbar erscheint, nutzte Apple das Patentrecht immer wieder dazu, um sich ein Monopol auf relativ alltägliche Designmerkmale zu sichern. Das geistige Eigentumsrecht auf diese Art auszunutzen, ist eine weitere Appropriationspraktik, bei der wir allerdings einmal mehr einräumen müssen, dass weitere ursächliche Faktoren wirken: Solche Praktiken hängen ihrerseits von der geltenden 45 Bradshaw, Apple and Samsung Settle Non-US Patent Disputes; Vascellaro, Apple
Wins Big in Patent Case. 46 Macari, Apple Finally Gets its Patent on a Rectangle with Rounded Corners.
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Rechtslage und der Fähigkeit des Staates ab, entsprechende Gesetze durchzusetzen. Der Apple-Konzern verkauft nicht nur Hardware, auch wenn er inzwischen über 60 Prozent seiner Gewinne mit dem iPhone erwirtschaftet.47 Er vertreibt zudem digitale Inhalte, mit denen er im Steuerjahr 2012 insbesondere mit iTunes und über seinen App Store einen Umsatz von fast 13 Milliarden Dollar erzielte.48 Allerdings lassen sich digitale Mediendateien anders als Mobiltelefone – sogar von unbedarften Nutzer_innen – spielend leicht kopieren. Auch ist der Großteil der Inhalte, die Apple vertreibt, auf verschiedenen Websites im Internet zum kostenlosen Herunterladen verfügbar. Warum bezahlen Nutzer_innen überhaupt für sie? Auch hier sind geistige Eigentumsrechte wieder ein Schlüsselfaktor, diesmal in Form des Urheberrechts, das es Dritten untersagt, geschützte Inhalte ohne Einwilligung zu kopieren. Auch wenn diese Rechte immer wieder damit legitimiert werden, dass sie den Schöpfer_innen von Inhalten dienen, und diesen durchaus nutzen, sind die hauptsächlichen Nutznießenden im Musikgeschäft typischerweise die großen Medienkonzerne, die lange Erfahrung darin haben, die Herstellung und Verbreitung von Raubkopien mit juristischen Mitteln zu unterbinden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigten sich die Musikunternehmen unwillig, eine digitale Alternative zum Kauf von Musik-CDs anzubieten, kämpften allerdings auch auf verlorenem Posten dabei, den Datenaustausch übers Internet zu verhindern. Kaum hatten sie zum Beispiel die Musiktauschbörse Napster mit Klagen in die Knie gezwungen, sprangen zahlreiche weitere Anbieter in die Bresche, die dank einer anderen Strukturierung gegen rechtliche Angriffe besser gefeit waren.49 Bis 2003 war die Internettauschbörse Kazaa mit Hunderten von Millionen Nutzer_innen führend, geriet aber ins juristische Fadenkreuz der Musikindustrie und zeigte sich zudem unfähig, die Qualität der ausgetauschten Dateien zu kontrollieren. Viele erfüllten ihre Versprechen nicht. Manche enthielten 47 Yarow, The Astounding Growth of iPhone Profits. 48 Elmer-DeWitt, How Much Revenue Did iTunes Generate for Apple Last Quarter?. 49 Goldsmith / Wu, Who Controls the Internet? Illusions of a Borderless World, Kapi-
tel 7.
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Viren, Werbung oder Pornografie.50 Angesichts ihrer Schwierigkeiten, Kazaa schließen zu lassen, setzte die Musikindustrie auf die Verfolgung von Einzelpersonen, die Raubkopien heruntergeladen hatten.51 Vor diesem Hintergrund setzte Steve Jobs die Vertriebsplattform iTunes Music Store auf. Er überzeugte die großen Musikkonzerne davon, dass es für sie einträglicher war, ihre Musik digital übers Internet zu vertreiben, anstatt untätig dem kostenlosen Datenaustausch durch Filesharer_innen zuzusehen – teils deshalb, weil es eingebaute technische Beschränkungen in Apples iPods und Computern unmöglich machten, über iTunes erworbene Inhalte weiterzureichen.52 Als Ergebnis sicherte sich Apple eine führende Position beim legalen Vertrieb digitaler Musik. Die Musikunternehmen mussten 30 Prozent der Erlöse an Apple abführen, während die Verbraucher_innen Downloads für 99 Cent pro Song erwerben konnten. Jobs rechnete damit, dass zahlreiche Konsument_innen lieber 99 Cent für einen raschen und einfachen Download, der legal und sicher war, bezahlen würden, als beim Filesharing Risiken einzugehen.53 Rasch avancierte iTunes zum führenden Anbieter für legales Herunterladen von Musik und überflügelte sogar illegale Filesharing-Dienste.54 Bis 2013 generierte die Vertriebsplattform einen so großen Umsatz, dass es als Unternehmen für sich genommen zu einem der wenigen Hundert Spitzenverdienern weltweit gezählt hätte.55 Dieses Geschäft hängt vollständig davon ab, dass Urheberechtsgesetze so genutzt werden, dass sie einen eigentlich kostenlosen digitalen Download in eine verkäufliche Ware verwandeln. Diese Gesetze sind allerdings kein natürlicher oder von außen einwirkender Faktor. Wie Davies es fasst, »sind die Kategorien zu dem, was Eigentum sein kann
Ebenda, S. 109–117. Ebenda, S. 115. Young / Simon, Steve Jobs und die Erfolgsgeschichte von Apple, S. 371–379. Goldsmith / Wu, Who Controls the Internet? Illusions of a Borderless World, S. 120. 54 Ebenda, S. 121; Young / Simon, Steve Jobs und die Erfolgsgeschichte von Apple, S. 379. 55 Elmer-DeWitt, How Much Revenue Did iTunes Generate for Apple Last Quarter?. 50 51 52 53
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und sein sollte, etwas schwammig und oft umstritten«.56 Ein Urheberrecht tauchte erstmals 1710 in England auf und wurde seither in weiteren Ländern auf Betreiben von Unternehmen eingeführt und erweitert, die sich mit ihm eine monopolistische Kontrolle über bestimmte kulturelle Inhalte sichern wollten. Während es vernünftig ist, deren Schöpfer_innen für eine bestimmte Zeit ein exklusives Nutzungsrecht zuzubilligen, damit sie ihre kreative Arbeit vergütet bekommen, treten ihnen die Medienkonzerne häufig nur einen kleinen Teil ihrer Umsätze ab. Auch Unternehmen wie Apple streichen an den Einkünften, die das Urheberrechtssystem ermöglicht, einen deutlich größeren Anteil als die eigentlichen Urheber_innen ein. Und wie Lawrence Lessig ausführlich erklärte, entstand paradoxerweise »[j]eder bedeutende Sektor der heutigen ›großen Medien‹ – Film, Tonträger, Radio und Kabelfernsehen – […] aus Piraterie, wenn man sie so definiert«: Alle begannen, »schöpferisches Eigentum anderer ohne deren Erlaubnis zu nutzen«.57 Jede dieser Industrien tauchte in einer Zeit auf, in der es neue Technik ermöglichte, kulturelle Inhalte auf neue Arten zu vermarkten, die nicht unter das bestehende Urheberrecht fielen. Doch trotz ihrer eigenen Ursprünge drängten die Medienkonzerne beständig auf eine Ausweitung der Urheberrechtsgesetze, die ihnen eine noch stärkere Kontrolle über die Verwertung der Inhalte sicherte, die unter ihre Rechte fielen. Seit Einführung des Urheberrechts 1790 in den Vereinigten Staaten wurde die Zeitspanne, in der Inhalte dort geschützt sind, von 14 Jahren ab der Erstveröffentlichung, ausdehnbar auf 28 Jahre, bis zur gegenwärtigen Laufzeit von 95 Jahren ausgedehnt.58 Galt das Urheberrecht 1790 nur für gedruckte Land- und Seekarten sowie Bücher, so betrifft es heute ein breites Spektrum an kulturellen Inhalten, aber insbesondere Musik und Filme bzw. Videos. Dass maßgeblich die Film- und die Musikindustrie auf diese Ausweitungen drang, darf kaum überraschen: Je weiter das Urheberrecht gefasst ist, desto größer ist ihre Monopolmacht. Deswegen können wir die Vorgehensweisen, auf eine Ausweitung von Copyright-Bestim56 Davies, Property, S. 81. 57 Lessig, Freie Kultur, S. 63. 58 Ebenda, S. 140ff.
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mungen zu drängen und Mittel ausfindig zu machen, um sie wirksamer zu gestalten, ebenfalls als Appropriationspraktiken bezeichnen, welche die Allokation der Nutzen aus Medieninhalten weg von den Konsumierenden hin zu den Konzernen verlagert, die über sie die Kontrolle ausüben. Auch beschränken sich solche Aktivitäten keineswegs auf Lobbyarbeit zur Veränderung von Gesetzen. Die Wirksamkeit des Rechts hängt nicht nur vom Staat, sondern auch davon ab, dass es eine maßgebende Unterstützung findet, und damit von seiner praktischen Durchsetzbarkeit. Die Lobbyisten, an herausragender Stelle Jack Valenti von der Motion Picture Association, versuchten nicht nur Gesetzesänderungen, sondern auch einen Wandel im vorherrschenden Diskurs zu der Frage durchzusetzen, wie legitim das Kopieren von Inhalten ist.59 Auf die Art wird beispielsweise »Teilen zu Stehlen. Künstlerische Arbeit wird zu Privateigentum, Konzerne werden zum Opfer von Piraterie«.60 Insbesondere das Kopieren für persönliche Zwecke, das vor dem Auftauchen des Internet weitgehend toleriert wurde, geriet ins Fadenkreuz neuer Kritik und wurde als Piraterie – und damit als kriminell – gebrandmarkt, um die Praxis in Misskredit zu bringen und unter denjenigen, die sie in Versuchung führte, Angst vor juristischen Konsequenzen zu verbreiten. Dieser diskursive Druck bildet eine Seite des »Regulierungsvierecks«, wie Gillespie es nennt:61 die Kombination aus rechtlichen, kulturellen, kommerziellen und technischen Maßnahmen, mit denen privates Kopieren unmöglich gemacht werden soll. Apple hat in dieser diskursiven Kampagne sicherlich eine Rolle gespielt, zum Beispiel durch die Werbung, die der Konzern 2004 in Zusammenarbeit mit Pepsi während des Super-Bowls, des Finales der nationalen Football-Meisterschaft, im US -Fernsehen geschaltet hat. In der Werbung rieten Teenager, die wegen des illegalen Herunterladens von Musik verurteilt worden waren, stattdessen zur Nutzung von iTunes. Die Botschaft war mit Sorgfalt so gestaltet, dass sie in Apples 59 Gillespie, Wired Shut, S. 108. 60 Halbert, zitiert in ebenda, S. 106. 61 Ebenda, S. 17.
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cooles Image passte: Die Downloads, die beworben wurden, gab es als kostenlose Draufgabe auf den Kauf eines Pepsi-Produkts, signiert mit dem Slogan »Und keiner kann etwas dagegen unternehmen«.62 Wurde dies von manchen Kommentatoren als Ermunterung zur Piraterie aufgefasst,63 so war das genaue Gegenteil der Fall. Auf dem Soundtrack hieß es: »Ich habe gegen das Recht gekämpft, und das Recht hat gewonnen.« Die Botschaft war deutlich: Auch junge Rebellen finden bei iTunes die richtige Anlaufstelle für Digitalmusik.
Mit Technik ein Monopol errichten Apples bedeutendster Beitrag zu Gillespies Regulierungsviereck setzt wohl allerdings an dessen vierter, der technischen Seite an. Während MP3-Musikstücke aus der Tauschbörse bequem und uneingeschränkt von Gerät zu Gerät überspielbar sind, begrenzt Apple Downloads über iTunes auf die Geräte der Käufer_innen. Wer ein Stück über iTunes erwirbt, darf es rechtlich nur auf einer begrenzten Reihe von Geräten abzuspielen. Und Apple zielt darauf ab, dass es bei diesen Geräten auch bleibt. Das Copyright wird nicht nur per Gesetz und Überzeugungsarbeit, sondern auch durch den Einsatz von Technik geschützt, mit der das geschaffen wird, was Mark Stefik »trusted systems« nennt64 – Systeme, auf die Konzerne setzen, um die Nutzungsmöglichkeiten der von ihnen vertriebenen Produkte zu begrenzen. Wenn Apple seine Kunden umgarnt, lockt es sie in die Falle: Sie müssen »die strengen Regeln ertragen […], um im Gegenzug mit Apple Umgang zu pflegen.«65 Doch dies bildet nur den Anfang von Apples Ehrgeiz, das um seine Produkte herum geschaffene Ökosystem zu kontrollieren. Im Gegensatz zu PC s und Android-Smartphones, für die jeder mit einschlägigen 62 Das Video ist noch online verfügbar, z. B. unter McNamara, How Apple and Pepsi
Fumbled Their 2004 Super Bowl Ad Play. 63 Strangelove, The Empire of Mind: Digital Piracy and the Anti-Capitalist Movement, S. 66. 64 Lessig, Code und andere Gesetze des Cyberspace, S. 227–232. 65 Lashinsky, Inside Apple. Das Erfolgsgeheimnis, S. 159.
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Kenntnissen Software erstellen und sie auf seine individuellen Bedürfnisse zuschneiden kann, unterliegt die Softwareumgebung für AppleGeräte einer strengen Kontrolle. So lassen sich auf ein iPhone beispielsweise nur Apps herunterladen, die über den Apple-Store vertrieben werden dürfen, während andere aus vielfältigen Gründen ausgeschlossen bleiben.66 Steve Jobs verbannte die weit verbreitete Flash-Software von Adobe mitsamt einer Reihe weiterer Programmierumgebungen, indem er »die Geschäftsbedingungen für die Lizenzen veränderte, die Softwareentwickler unterzeichnen müssen, wenn sie Programme für Apple-Produkte schreiben«.67 Ein Grund soll Spekulationen zufolge darin gelegen haben, dass es diese Tools Nutzer_innen ermöglichen, Software unter Umgehung des App Stores von Apple herunterzuladen, der wie der iTunes Store für Apple 30 Prozent vom Umsatz als Gebühren einbehält. »Flash – eine eigenständige Entwicklungsplattform – zuzulassen, wäre für Apple schlicht zu gefährlich, für ein Unternehmen, das Freude daran hat, über seine Hardware und die auf ihr laufende Software eine totale Herrschaft auszuüben.«68 Tatsächlich stemmte sich Jobs grundsätzlich dagegen, dass auf iPhones Apps von Dritten liefen, und stimmte erst nach der Festlegung zu, dass »sie strikte Standardwerte einhalten und von Apple getestet und genehmigt werden mussten. Außerdem durften sie nur über den iTune Store verkauft werden.«69 Apples Logik entspricht dem, was Jonathan L. Zittrain die »Vergerätung« (appliancisation) genannt hat.70 Laut Zittrain kann Technologie in zweierlei Form bereitgestellt werden. Generative Technologie ist offen für Veränderungen und Verbesserungen durch die Nutzer_innen, was die Entwicklung ganzer Industrien ermöglicht, um ihre Fähigkeiten zu erweitern und sie in neue Bereiche einzuführen. Das Internet an sich ist so eine Technologie. Dagegen sind Geräte abgeschlossen, streng begrenzt in der Funktion und den Möglichkeiten zur Ausstattung durch Nutzer_innen. Viele Tech-
66 67 68 69 70
Gray, The Apps that Apple Does Not Want You to Use. Apple Boss Explains Ban on Flash, BBC , 29. 4. 2010. Chen, Why Apple Won’t Allow Adobe Flash on iPhone. Isaacson, Steve Jobs. Die autorisierte Biografie, S. 588. Zittrain, The Future of the Internet.
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nologien liegen in Form von Geräten – so Kühlschränke, Fernsehgeräte oder Autos – vor und bieten den Nutzenden erhebliche Vorteile: Wegen der begrenzten Anzahl von Gebrauchsmöglichkeiten ist der Umgang mit ihnen leichter erlernbar. Auch bestehen mehr Möglichkeiten, sie gründlich zu testen, sodass Fehlfunktionen seltener vorkommen, und bessere Aussichten darauf, dass sämtliche Funktionen sorgfältig aufeinander abgestimmt sind und reibungslos zusammenwirken. Mit den gleichen Argumenten verteidigte Jobs gerne Apples Kontrolle über das iPhone: »Er wollte nicht, dass Außenstehende die Anwendungen für das iPhone entwickeln, die es möglicherweise vermurksen, mit Viren infizieren oder seine Integrität korrumpieren konnten«71 – und zwar nicht nur die technische, sondern auch die Integrität der Nutzererfahrung. Dieses Modell, nur bestimmte Software zuzulassen, bietet Apple allerdings weitere Vorteile. In der Welt der generativen Systeme verlieren Hardware-Hersteller_innen die Kontrolle über ihre Produkte, sobald sie das Fabrikgebäude verlassen haben. In der Welt der Geräte behält Apple die Kontrolle über die iPods, iPhones und iPads während deren gesamter Nutzungsdauer. So macht der Konzern insbesondere von seiner Möglichkeit Gebrauch, sicherzustellen, dass Musik und Software nur über seine Online-Stores gekauft werden.72 Und dank dieser Monopolstellung kann er in Form von Gebühren einen saftigen Anteil an den Umsätzen einstreichen, weil die Anbieter_innen keine andere Möglichkeit haben, ihre Inhalte den Nutzer_innen von AppleGeräten zu verkaufen. Bei Apples Innovationen, so stellt sich heraus, geht es eben nicht ausschließlich darum, für Verbraucher_innen das Angebot zu verbessern, sondern auch darum, die Auswahl an Konkurrenzprodukten zu begrenzen und die Konkurrenz auszuschließen. Dies ist die »Falle« für Kunden, von der Lashinsky spricht, wobei Apple aber auch diese Anbieter als Drittparteien in die Falle eines Öko71 Isaacson, Steve Jobs. Die autorisierte Biografie, S. 587. 72 Vor Gericht wurde Apple beispielsweise zur Last gelegt, dass an Nutzer_innen, die
auf ihren iPods Musikstücke gespeichert hatten, die nicht über iTunes erworben worden waren, Mitteilungen mit der Aufforderung ergingen, diese sofort zu löschen (Gibbs, Apple Deleted Music from Users’ iPods Purchased from Rivals, Court Told).
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systems gelockt hat, das aus ihnen zu jeder Gelegenheit Zusatzeinkünfte herausschlägt. Dies ist eine sehr direkte Appropriationspraktik: Im Ergebnis bezahlen die Verbraucher_innen mehr und verdienen externe Unternehmen weniger, als sie in einem offenen System verdienen könnten. Und als Konsequenz wird Nutzen auf Apples Aktionäre verlagert. Apple, so viel ist klar, setzt ganz eifrig darauf, sich eine Monopolstellung aufzubauen und sie auszunutzen, als Anbieter von Geräten, die bei Kunden als einzigartig funktionstüchtig und cool gelten, wie auch als Vermittler von jeder möglichen Einnahmequelle, die sich über diese Geräte erschließen und vom Konzern kontrollieren lässt. Bislang hat dieses Kapitel die Konstruktion von Apples Monopol als eine Zusammenstellung von Appropriationspraktiken analysiert, die Apple bis zu einem gewissen Grad selbst orchestriert, die sich aber auch auf eine Reihe anderer Ressourcen stützen, unter anderem auf ein rechtliches und diskursives Umfeld, das stark von den Medienkonzernen geprägt ist, mit denen Apple zusammenarbeitet. Die Mainstream-Ökonomie leistet nützliche Beiträge zu den Mitteln, mit denen Monopolisten ihre Stellung ausnutzen können, um überhöhe Preise zu erzielen – im englischen Sprachraum häufig als rents bezeichnet73 –, hat aber relativ wenig zur Erklärung beizutragen, wie Monopole überhaupt errichtet werden. Dies wäre wohl entschuldbar, wenn Monopole eine seltene Marktverzerrung in einer Welt der ganz für den Wettbewerb geöffneten Märkte mit Preisen wären, die durch das Zusammenwirken von normal verlaufenden Nachfrage- und Angebotskurven in ein Gleichgewicht gebracht würden, wie der politische Flügel 73 Der englische Begriff rent wird als Zahlungen für die Nutzung von Boden oder Ge-
bäuden gebraucht, also im Sinn von »Pacht« oder »Miete«. Im Zusammenhang mit dem auch in der deutschen Wirtschaftswissenschaft gebräuchlichen Begriff des Rent-Seeking bezeichnet er erweitert den Betrag, um den der Preis einer Ware ihre Herstellungskosten übersteigt und der sich der Annahme nach aus ihrer Knappheit ergibt. Der Begriff wurde zur Kritik an Preissteigerungen genutzt, die durch eine künstliche Verknappung herbeigeführt werden. Eben dies versuchen Monopolisten für ihre Produkte zu erreichen. Siehe Sayer, Warum wir uns die Reichen nicht leisten können, S. 65f. Auch wenn Kritik am Rent-Seeking wichtig ist (z. B. Stiglitz, Der Preis der Ungleichheit, S. 141–148), vermeide ich generell diesen Begriff, weil die Rententheorie eng mit der Theorie vom Gleichgewichtspreis verflochten ist.
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der Mainstream-Ökonomie anscheinend unterstellt: eine zu vernachlässigende Ausnahme, wenn es darum geht, die Vorzüge der Märkte und des Kapitalismus einzuschätzen. Aber Monopole und Monopolgewinne sind in kapitalistischen Systemen eben keine Verirrungen.74 Im Gegenteil ist ein gewisses Maß an Monopolismus an kapitalistischen Märkten der Normalzustand, und dies aufgrund von Mechanismen, die für die kapitalistische Produktion ebenso charakteristisch sind wie die des Gleichgewichtspreises, auf die sich die MainstreamÖkonomie fokussiert. Als einer seiner Vorzüge können wir mit dem Ansatz zur politischen Ökonomie, der in diesem Buch vertreten wird, die Faktoren analysieren, die zur Entstehung von Monopolen führen. Apple setzt auf eine ganz spezielle Kombination aus Praktiken, die aber auch – mit Varianten und in variierenden Zusammenstellungen – von anderen Unternehmen genutzt werden, um ebenfalls eine Monopolstellung zu erlangen. Während für eine allgemeinere Darstellung zum Monopol eine Reihe weiterer Fälle und ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede untersucht werden müssten, stellt dieses Kapitel nur den Versuch dar, einer solchen Betrachtungsweise anhand der Untersuchung eines Einzelfalls den Weg zu bereiten.
Beschäftigte und Zulieferer ausbeuten und Steuern vermeiden Wie andere kapitalistische Unternehmen zielt Apple zwangsläufig darauf ab, Gewinne zu erwirtschaften, also Erlöse zu erzielen, die über den Herstellungskosten liegen. Bislang konzentrierte sich dieses Kapitel auf die Faktoren, die Apple seine außerordentlichen Umsätze ermöglichten. Gewinne errechnen sich aber auch aus einer Begrenzung der Produktionskosten, und in diesem Bestreben unterscheidet sich Apple kaum von anderen kapitalistischen Unternehmen. Der Konzern folgte insbesondere dem weit verbreiteten Trend, Herstellungsvorgänge auszugliedern und ins Ausland zu verlagern, insbesondere in Niedriglohnländer. Auch wenn er über diese ausgelagerten Produktionsprozesse ein wohl ungewöhnlich erscheinendes Maß an Kon74 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 134f.
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trolle ausübt,75 ist seine Produktionsstrategie in anderer Hinsicht ganz typisch für die zahlreichen kapitalistischen Unternehmen, die sich in den letzten Jahrzehnten die Globalisierung der Weltwirtschaft zunutze machten (und sie denn auch vorantrieben). Apple hat die Herstellung seiner erfolgreichsten Hardware-Produkte in Fabriken in Festlandchina ausgelagert, darunter in mehrere, die von dem taiwanischen Unternehmen Hon Hai betrieben werden. Weithin unter dem Namen Foxconn bekannt, beschäftigte dieses Unternehmen Ende 2013 über eine Million Arbeiter in China, darunter 300000 in seiner Fabrik in Zhengzhou, in der damals Apples iPhone 5S gefertigt wurde, und erzielt mit der Herstellung von AppleProdukten rund 40 Prozent seines Umsatzes.76 Obwohl Hon Hai sich als »weltgrößter Hersteller von Elektronikbauteilen« mit einem jährlichen Umsatzerlös, der bis Mitte der 2000er Jahre auf über 10 Milliarden Dollar anwuchs, für sich genommen als ein Gigant darstellt, steckt er nichtsdestotrotz in einem »Abhängigkeitsverhältnis« zum AppleKonzern, der seine beherrschende Stellung auf dem nachgelagerten Markt ausnutzen kann, um Zulieferern Vertragsbedingungen zu diktieren, die deren Gewinnmargen bis an die Untergrenze zusammendrücken.77 Als eine Konsequenz erlebte in der Zeit, in der Apple zum weltweit höchstbewerteten Unternehmen aufstieg, Foxconns Profitrate eine rasante Talfahrt.78 Mit anderen Worten: Apple übt nicht nur über seine Kundschaft, sondern auch über seine Zulieferer Macht aus und nutzt diese einmal mehr dazu aus, um seine Profite auf Kosten anderer zu steigern. Diese Gewinne gehen auch zulasten der Beschäftigten von Foxconn. Nachdem die Fair Labor Association (die von Unternehmen wie Apple finanziert wird) und die unabhängige, in Hongkong niedergelassene Organisation Students and Scholars Against Corporate Misbehavior (SACOM) die Arbeitsbedingungen in diesen Fabriken unter-
75 Lashinsky, Inside Apple. Das Erfolgsgeheimnis, S. 67f., S. 152ff. 76 Luk, iPhone 5S Wait Time Drops as Foxconn Boosts Production. 77 Froud u. a., Financialization across the Pacific Manufacturing Cost Ratios, Supply
Chains and Power, S. 52. 78 Ebenda.
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sucht hatten, standen Apple und Foxconn weithin in der Kritik. Viele Beschäftigten sind junge Wanderarbeiter_innen vom Land, die abgeschnitten von Sozialkontakten in fabrikeigenen Schlafsälen übernachten79 und einen Lohn weit unter dem Minimum dessen erhalten, was für einen angemessenen Lebensstandard notwendig ist (auch wenn er über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt). Sie müssen häufig zahlreiche (mitunter unbezahlte) Überstunden leisten und werden gängelnden und erniedrigenden Führungspraktiken unterworfen.80 Sie sind »erdrückenden Arbeitsbelastungen, demütigenden Bestrafungen und einer Unterbringung wie in Käfighaltung ausgesetzt«.81 Viele dürfen den Arbeitsplatz während der gesamten Schicht nicht verlassen,82 die ein Augenzeuge als »eintönig, kräftezehrend [und] entfremdend« beschreibt.83 Zahlreiche Beschäftigte kamen in Erwartung deutlich besserer Löhne und Arbeitsbedingungen in die Stadt: Foxconns Fabrik in Shenzen (seine größte) zahlte 2010 einen Grundlohn von umgerechnet 120 britischen Pfund pro Monat.84 Eine effiziente Arbeitervertretung wird den Beschäftigten dadurch verwehrt, dass sie »angewiesen werden, in die vom Unternehmen kontrollierte Gewerkschaft einzutreten, ohne dass sie die Funktionen der Gewerkschaften kennen«.85 Kaum überraschend, beträgt die Fluktuation der Arbeitskräfte 30–40 Prozent pro Jahr.86 Auch wenn die Löhne und Arbeitsbedingungen von Foxconn nicht schlechter – oder vielleicht sogar besser – als die anderer Produzenten sind, kann kein Zweifel daran bestehen, dass seine Beschäftigten einem hohen Maß an Entfremdung und, an 79 Ngai / Chan, Global Capital, the State, and Chinese Workers: the Foxconn Expe-
rience, S. 402f. 80 Fuchs, Digital Labour and Karl Marx, S. 186ff., S. 193; Johnson, My Gadget Guilt: In-
81 82 83 84 85 86
side the Foxconn iPhone Factory; Ngai / Chan, Global Capital, the State, and Chinese Workers: the Foxconn Experience, S. 397f.; Shah, Apple, Foxconn Slammed by SACOM on Worker Abuse in China. Garside, Apple’s Efforts Fail to End Gruelling Conditions at Foxconn Factories. Ebenda. Johnson, My Gadget Guilt, S. 105; siehe ebenso Ngai / Chan, Global Capital, the State, and Chinese Workers: the Foxconn Experience, S. 399ff. Fuchs, Digital Labour and Karl Marx, S. 187f. SACOM , Sweatshops are Good for Apple and Foxconn, But not for Workers. Light and Death.
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den Standards der meisten Käufer_innen von Apple-Produkten gemessen, ernsthafter Ausbeutung ausgesetzt sind. Angesichts der extrem detaillierten Vorgaben, zu deren Erfüllung der Apple-Konzern seine Zulieferer zwingt, kann er sich für diese Zustände nicht aus der Verantwortung stehlen, auch wenn er widerholt behauptet hat: »Wir kümmern uns um jeden Beschäftigten in unserer weltweiten Zuliefererkette.«87 Wie Kieran Healy hervorhob, ist Apples öffentlich zur Schau gestellter Fokus auf »Liebe zur und Augenmerk für Kreativität vom Produktionsprozess abgekoppelt«: Die »vertraute Qualität« von Objekten wie iPhones stehen in drastischem Gegensatz zur Behandlung der Beschäftigten bei Foxconn als unpersönliche Maschinen.88 Auch wenn Apple betont, dass es diese Probleme in den Griff zu bekommen versucht, kommt man kaum um die Schlussfolgerung herum, dass der Konzern nur das Notwendige unternimmt, um den Imageschaden zu beheben, den diese Enthüllungen verursacht haben. Billige Herstellung ist ein Stützpfeiler von Apples Profitabilität, und Niedriglöhne sind der Hauptfaktor für diese geringen Kosten.89 Aber mit welcher Begründung können wir diese Praktiken als Ausbeutung bezeichnen? In der politischen Ökonomie beruht das vorherrschende Verständnis des Konzepts der Ausbeutung auf Marx. Und wie wir in Kapitel 3 sahen, gelten Beschäftigte immer dann als ausgebeutet, wenn sie mit weniger als mit dem Wert des Produktes entlohnt werden, das ihre Arbeit hervorbringt – und nur Arbeit gilt als Beitrag zum Wert des Produkts.90 Diese angeblich sachbezogene Definition der Ausbeutung sehen Autor_innen in der marxistischen Tradition häufig als Rechtfertigung einer ethischen Kritik am Kapitalismus mit der Begründung, dass dieser zwangsläufig mit einer so definierten Ausbeutung der Arbeiterschaft einhergehe. Aber jede ethische Kritik an bestehenden Verhältnissen beruht auf einem impliziten Vergleich mit einer vorgestellten Alternative, gegenüber der sie als minderwertig 87 Sprecher von Apple, zitiert in Garside, Apple’s Efforts Fail to End Gruelling Condi-
tions at Foxconn Factories. 88 Healy, A Sociology of Steve Jobs. 89 Siehe die Kostenaufschlüsselung für das iPhone in Froud u. a., Financialization across the Pacific. 90 Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 229f.
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erscheinen, und somit auf der echten Möglichkeit für Besseres. In seiner Theorie der Ausbeutung vergleicht Marx implizit reale Appropriationen mit einer Alternative, bei der das gesamte Arbeitsprodukt von der Arbeiterschaft vereinnahmt wird, und beurteilt den Kapitalismus ihr gegenüber als unterlegen. Diese Alternative ist freilich weder ökonomisch praktikabel noch ethisch wünschenswert: Nach ihr würden bei der Verteilung des Nutzens aus der Produktion nicht nur das Kapital und das Unternehmertum, sondern auch Kinder, Arbeitslose und Rentner_innen leer ausgehen. Auch wenn wir eine Vielzahl an alternativen Systemen in Betracht ziehen können, dürften wir kaum eines finden, das weitgehend als gerecht akzeptiert wird und zugleich einen klaren Standard vorgibt, anhand dessen wir die existierenden Appropriationen bewerten könnten. Bedeutet dies, dass wir den Begriff der Ausbeutung komplett aufgeben müssen? Ich denke nicht. Aber es bedeutet, dass wir ihn mit größerer Vorsicht und in stärkerer Abhängigkeit vom Kontext gebrauchen müssen. Das größte Problem an Marx’ Konzept der Ausbeutung besteht offenbar darin, dass es uns zum Glauben ermuntert, dass es einen einzigen gut definierten Standard für gerechte Appropriationen geben könne. Und die angemessenste Reaktion auf dieses Problem sieht wohl so aus, dass wir, anstatt nach einem alternativen Standard zu suchen, unser Verständnis von Ausbeutung neu ausrichten müssen. Mit anderen Worten: Wir gebrauchen den Begriff Ausbeutung, wenn wir das Urteil fällen, dass gesellschaftliche Akteur_innen weniger zugebilligt bekommen, als sie – angesichts der Ansprüche anderer und nach unseren ethischen Maßstäben – entsprechend ihres Beitrags verdient hätten, und dass tatsächlich andere Akteur_innen auf ihre Kosten mehr bekommen, als ihnen eigentlich zustünde. Letztlich müssen wir für dieses Urteil Gründe aufführen, die aber vom speziellen Kontext abhängen und auf der Abwägung vielerlei Ansprüche gegeneinander anstatt auf der mechanischen Anwendung eines allgemeingültigen Prinzips beruhen. Aus dieser Perspektive können wir immer noch behaupten, dass Apple die Beschäftigten ausbeutet, die seine Produkte in chinesischen Fabriken herstellen, allerdings ohne dabei auf triviale Weise den fragwürdigen Grundsatz anzuwenden, nach dem jedwede Lohnarbeit im
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Kapitalismus zwangsläufig mit Ausbeutung verbunden ist. Auf die Art wird die Aussage zu einem spezielleren und somit überzeugenderen und triftigeren Werturteil: Angesichts der gewaltigen Gewinne, die Apple mit seinen Produkten erzielt, handelt der Konzern moralisch verwerflich, wenn er Foxconn und seine anderen Industriezulieferer dazu zwingt, ihre Beschäftigten für eine so schlechte Bezahlung so entfremdenden Arbeitsbedingungen zu unterwerfen. Die marxistische Tradition engt den Geltungsbereich ethischer Bewertungen von Appropriationen auch dadurch ein, dass sie ihre Aufmerksamkeit nur auf zwei Klassen von Nutznießenden des Produktionsprozesses und auf zwei Klassen von Beiträgen zu diesem Prozess konzentriert. Ich habe bereits andere Gruppen mit Bedürfnissen erwähnt, welche die Produktion ebenfalls befriedigen sollte und auch befriedigen muss, um das soziale Leben angemessen aufrechtzuerhalten: Junge, Alte und Arbeitslose. Entsprechend hängt die Produktion und allgemeiner das soziale Leben von Beiträgen zur Bildung, zur Gesundheit, zum Rechtswesen und zu gemeinsam genutzten Infrastrukturen wie Straßen oder der Wasserversorgung ab. Allgemein muss die produzierende Wirtschaft die notwendigen Ressourcen schaffen, um alle diese Bedarfe zu decken. Da ein Großteil dieser Leistungen in gegenwärtigen Gesellschaften durch den Staat bereitgestellt wird, müssen sie durch Steuern finanziert werden. Steuererhebung ist somit ebenfalls eine Appropriationspraktik, bei der Ressourcen vereinnahmt werden, um all diese öffentlichen Dienstleistungen bereitzustellen. Und diese Bereitstellung bildet eine weitere Appropriationspraktik, weil die öffentliche Hand diese Ressourcen dazu einsetzt, einem breiten Spektrum an Empfangenden, auch kapitalistischen Unternehmen, Nutzen zugutekommen zu lassen. Jeder moderne Staat verfügt über ein Steuersystem mit der Aufgabe, für die erforderlichen Einnahmen zu sorgen, um diese Dienste zu finanzieren. Und jeder, der ein erhebliches Einkommen erzielt, ist rechtlich und moralisch dazu verpflichtet, sich angemessen am Steueraufkommen zu beteiligen. Da beispielsweise der Apple-Konzern in zahlreichen Ländern der Welt riesige Gewinne einfährt, weil der Staat dies durch Infrastruktur und Leistungen ermöglicht, ist auch er ethisch dazu verpflichtet, sich mit Steuerzahlungen nach den lan-
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desüblichen Sätzen an deren Finanzierung zu beteiligen. Aber der Apple-Konzern ist ein notorischer Steuervermeider. Obwohl seine Zentrale im kalifornischen Cupertino niedergelassen ist, leitet er Erträge in erheblicher Höhe einem kleinen Büro in Reno in Nevada zu, um die Besteuerung in Kalifornien zu umgehen – nachdem er in diesem Bundesstaat Lobbyarbeit betrieben hatte, um eine Senkung der Besteuerung der Unternehmen zu erreichen, die dort ihren Sitz haben, aber auch in anderen Bundesstaaten operieren.91 Wenn Apple in Europa, Afrika oder dem Nahen Osten Medieninhalte über iTunes vertreibt, wickelt es die Zahlungen über die Steueroase Luxemburg ab und umgeht damit eine Besteuerung sowohl in dem Land, in dem der Verkauf stattfindet, als auch in den Vereinigten Staaten, die für rund 20 Prozent der weltweiten Umsätze von iTunes stehen.92 Wenn der Konzern andere Produkte im Großbritannien verkauft, verbucht er den meisten Umsatz in Irland, schleust ihn in Steueroasen in der Karibik und hat so 2011 seine Steuerlast um geschätzte 570 Millionen britische Pfund reduziert.93 Wie US -Analysten schätzen, nutzte Apple kreative Steuerkonzepte, um im selben Jahr den Vereinigten Staaten 2,4 Milliarden Dollar an Zahlungen zu entziehen.94 Insgesamt versteuerte der Konzern 2011 einen weltweiten Gewinn von 34,2 Milliarden Dollar zu einem Satz von 9,8 Prozent, während Walmart, ein traditionellerer US -Konzern, Gewinne von 24,2 Milliarden Dollar zu einem Satz von 24 Prozent versteuerte.95 Auch in dieser Hinsicht zeigte sich Apples Innovationskraft der Gesellschaft insgesamt keineswegs nützlich: Bei der Entwicklung von Steuervermeidungsstrategien stand der Konzern in der vordersten Reihe. So gehörte er zum Beispiel zu den »ersten Tech-Unternehmen, die Auslandsvertriebspersonal in Hochsteuerländern so aufstellten, dass sie im Auftrag von Tochtergesellschaften in Niedrigsteuerländern auf anderen Kontinenten verkaufen und so Ertragssteuer vermeiden konnten«.96 Auch wenn all diese Stra91 92 93 94 95 96
Duhigg / Kocieniewski, Apple’s Tax Strategy Aims at Low-Tax States and Nations. Ebenda. Duke / Gadher, Apple Avoids up to £570m in British Tax. Duhigg / Kocieniewski, Apple’s Tax Strategy Aims at Low-Tax States and Nations. Ebenda. Ebenda.
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tegien fraglos legal sind, ist Apples Anspruch, dass der Konzern »sämtliche Geschäfte nach höchsten ethischen Standards abgewickelt hat«,97 schlichtweg lächerlich. Im Gegenteil »ist klar, dass er da, wo er seine Gewinne tatsächlich erwirtschaftet, keine Steuern zahlt – und dies mit Methode«.98 Mit anderen Worten: Apple profitiert enorm von der Appropriationspraktik der Steuervermeidung. Und dass Apple dazu in der Lage ist, hängt eng mit den Gegebenheiten der gegenwärtigen Weltwirtschaft zusammen, in der multinationale Konzerne Geschäftsabläufe in Niedrigsteuerländer auslagern und in anderen Fällen durch Manipulationen die juristische Fiktion einer solchen Auslagerung erzeugen können, um ein globales Regulationsumfeld auszunutzen, das all dies möglich macht. Auch wenn ihm das digitale Format mancher seiner Produkte dabei besonders entgegenkommt, ist der Apple-Konzern auch unabhängig vom Produkt ein Meister dieses Spiels. Er ist zwar nur einer von zahlreichen multinationalen Konzernen, die trickreich Steuern vermeiden, trägt aber zweifellos mit dazu bei, dass wegen solcher Praktiken den Staatskassen gewaltige Summen entgehen. Damit eigneten sich die betreffenden Unternehmen nicht nur Mittel an, die den Bevölkerungen der betreffenden Staaten zugutekommen sollten, sondern trugen auch zu den Finanzkrisen in den letzten Jahren bei. Die Regierungen müssen Maßnahmen ergreifen, um Steueroasen vollständig auszutrocknen, und Unternehmen zu Steuerzahlungen zwingen, die wirklich widerspiegeln, wo sie ihre Güter herstellen und verkaufen.
Schlussfolgerung Apple ist seiner Marktkapitalisierung nach deshalb das größte Unternehmen der Welt, weil es aus einem ausgeklügelten Komplex aus Appropriationspraktiken riesige Profite zieht: durch herausragende Pro97 Mitteilung von Apple, zitiert in ebenda. 98 Richard Murphy, zitiert in Duke / Gadher, Apple Avoids up to £570m in British
Tax.
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duktinnovation und -gestaltung, Marketing-Kampagnen, die seinen Produkten Kultstatus verleihen, geistige Eigentumsrechte, die seinen Erzeugnissen dauerhaft eine Monopolstellung sichern, eine Strategie, dank der der Konzern das gesamte kommerzielle Ökosystem um ein Gerät herum auch dann noch kontrolliert, wenn es die Kundschaft erworben hat, Ausbeutung Niedriglohn-Beschäftigter und Steuervermeidung bis an die Grenzen des Legalen. In einer nach ethischen Kriterien ausgerichteten Wirtschaft wäre Apple ungemein weniger profitabel, weil es sein Monopol mithilfe von Patent- und Urheberrechten schlechter schützen könnte und geringere Möglichkeiten hätte, andere Anbietende vom Verkauf von Medieninhalten an AppleNutzer auszuschließen. Zudem würde der Konzern dafür sorgen, dass seine Zulieferer ihren Beschäftigten höhere Löhne bezahlen, und seinerseits höhere Steuern abführen. Aber das heißt nicht unbedingt, dass es in einer ethischen Wirtschaft kein Apple, keine iPhones und keine iPads mehr gäbe. Eine vielfältige gemischte Wirtschaft lässt kapitalistischen Unternehmen Raum, um innovative Konsumprodukte zu entwickeln, aber wie das Beispiel Apple zeigt, braucht es Regulierung, um den aus ihren Produkten hervorgehenden gesellschaftlichen Nutzen zu maximieren. Auch wenn von den vielen weiteren monopolistischen kapitalistischen Unternehmen, von denen einige in der Digitalwirtschaft operieren, keines mit Apple absolut identisch ist, wenden viele ähnliche Mischungen aus Appropriationspraktiken an, weshalb wir sie vielleicht ähnlich beurteilen. Viele solcher Unternehmen setzten dagegen andere Praktiken mit anderen gesellschaftlichen Folgen ein, die wir möglicherweise anders bewerten. Weil kapitalistische Unternehmen nicht immer gleich agieren, müssen wir bei der Einschätzung ihrer Rolle in einer vielfältigen gemischten Wirtschaft gewappnet sein, um ihre Unterschiede und Ähnlichkeiten zu erkennen.
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Kooperative Peer-Produktion: Wikipedia
Einführung Wikipedia ist wie das iPhone allgegenwärtig. So wurde ihre englischsprachige Ausgabe im Oktober 2014 stündlich über 8,5 Millionen Mal aufgesucht und die übrigen Versionen in 286 Sprachen zusammen über 9 Millionen Mal – ein Gesamtwert von über 12 Milliarden Aufrufen pro Monat.1 Mit über 4,7 Millionen Artikeln ist die englische Wikipedia nicht nur die am häufigsten genutzte, sondern auch die weltweit umfangreichste Enzyklopädie aller Zeiten.2 Im Gegensatz zu Apple erwirtschaftet Wikipedia allerdings weder Gewinne, noch hat sie einen Wert auf dem Aktienmarkt. Abgesehen von den inzwischen über 100 bezahlten Mitarbeitern der Wikimedia Foundation,3 von der sie betrieben wird, stellt Wikipedia insofern ein lupenreines Beispiel für die Gabenökonomie dar, als sie vollständig von ehrenamtlichen Beitragenden erstellt wurde und weiterentwickelt wird. Tatsächlich kann (fast) jede/r jede ihre Seiten bearbeiten. Mit minimalen Graden an formeller Hierarchie betrieben, löst Wikipedia Unstimmigkeiten weitgehend durch einen Konsens, der unter Anwendung einer Reihe ausgefeilter normativer Standards und nur selten durch das Eingreifen von Administrator_innen erreicht wird. Die letztgenannten sind ebenfalls Ehrenamtliche, die aufgrund ihrer bisherigen Beiträge zum Projekt in ihr Amt gewählt werden.4 Das Produkt ist für jede/n interessierte/n Benutzer/in in frei verfügbar. Derzeit ist Wikipedia die am häufigsten 1 2 3 4
Wikimedia, Wikipedia Statistics: Site Map. Dalby, The World and Wikipedia: How We are Editing Reality. Orlowski, Wikipedia Doesn’t Need Your Money. Forte u. a., Decentralization in Wikipedia Governance.
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genutzte Website,5 kommt aber im Verhältnis zum gigantischen Ausmaß ihrer Nutzung mit bemerkenswert niedrigen Betriebskosten aus, die vollständig durch eingeworbene Spenden gedeckt werden. Tatsächlich akzeptiert die Website nicht einmal Werbung. Obwohl sich dieses Wirtschaftsmodell auf spektakuläre Weise vom Monopolkapitalismus unterscheidet, besteht es ziemlich beständig neben ihm. Im vorigen Kapitel konnten wir leicht einigen konventionellen Annahmen darüber verfallen, welche Art Nutzen und Übel eine politische Ökonomie erklären und bewerten sollte. Apple und andere Unternehmen erwirtschaften Gewinne; Verbraucher_innen kommen in den Genuss nützlicher Produkte; Beschäftigte erhalten Löhne und leiden unter entfremdenden Arbeitsbedingungen. Dies alles treibt die Mühlen der alten politischen Ökonomien an, auch wenn diese sich darin unterscheiden, welches Augenmerk sie jeweils den einzelnen Elementen widmen und wie sie ihnen Rechnung tragen. Aber verschiedene Komplexe von Appropriationspraktiken erzeugen unterschiedliche Arten von Nutzen und Übeln und erfordern deshalb verschiedenartige Erklärungen und Bewertungen. Mit Wikipedia begeben wir uns auf ein Terrain, das den althergebrachten politischen Ökonomien deutlich weniger vertraut ist. Dieses Projekt generiert keine Gewinne, zahlt keine Löhne, schafft keine Entfremdung und stellt keine blinkenden Elektronikgeräte her. Auch halten die herkömmlichen politischen Ökonomien keinerlei Werkzeuge – nicht einmal stumpfe – bereit, mit denen sich eine Analyse dazu erstellen ließe, was Wikipedia eigentlich erschafft: frei verfügbare Informationen und befriedigende Arbeit, die außerhalb traditioneller hierarchischer Organisationstrukturen erbracht wird. Erklärlich sind diese ganz anderen Ergebnisse nur unter Verweis auf ganz andere Mechanismen, aber immer noch mithilfe des Modells der Appropriationspraktiken, wie dieses Kapitel zu belegen versucht. Dieses Kapitel erweitert den Fokus, der in diesem Buch auf den Appropriationspraktiken liegt, allerdings insofern, als es den Beitrag von Technologie zu Wikipedia berührt. Dass Wikipedia wie auch allgemeiner die digitale Gabenökonomie entstehen konnte, setzte voraus, 5 Alexa.com, Top 500 Global Sites.
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dass neue soziale Praktiken entwickelt und normative Gemeinschaften errichtet wurden und am Leben gehalten werden, welche diese Praktiken unterstützen, wobei diese ihrerseits allerdings erst durch technologische Entwicklungen ermöglicht wurden. Um die Digitalwirtschaft zu verstehen, müssen wir folglich anerkennen, dass in ihr gesellschaftliche und technische Faktoren in Komplexen zusammenwirken, in soziomateriellen Appropriationsstrukturen, in denen soziale und technische Faktoren sowie deren Zusammenspiel ursächlich wirken.6 Dieses Kapitel betrachtet zunächst die Appropriationspraktiken mit Blick auf den Transfer von Wikipedias Produkt zu ihren Benutzer_innen, die Finanzierung ihres Betriebs und die Arbeitsprozesse, aus denen dieses Produkt hervorgeht. Danach befasst es sich mit einigen Praktiken, mit denen dessen Qualität sichergestellt und das Engagement der Beitragenden aufrechterhalten wird: mit Wikipedias normativer Umgebung, ihrem Einsatz von Technologie und ihren Führungsprozessen.
Enzyklopädisches Wissen als digitales Geschenk Der auffälligste Unterschied zwischen Wikipedia und einem typischen kapitalistischen Unternehmen besteht darin, dass Wikipedia ihre Produkte allen Interessierten kostenlos zur Verfügung stellt: Sie sind digitale Geschenke, die erste Appropriationspraktik, die wir in diesem Kapitel betrachten wollen. Digitale Geschenke sind im Internet inzwischen so allgegenwärtig, dass sie dessen Rückgrat bilden: Tatsächlich basiert das World Wide Web auf digitalen Geschenken. Seine Technologie ist ausdrücklich so konzipiert worden, dass sie einen einfachen Zugang zu Informationen ermöglicht, die auf Webservern kos6 Im Gegensatz zu den von Akteur-Netzwerk- und ähnlichen Theoretiker_innen
vertretenen Auffassung sind diese Strukturen nicht einfach flüchtige Netzwerke aus Zusammenschlüssen, sondern beständige Gebilde und Beziehungen, die in Kombination dauerhafte Appropriationsstrukturen hervorbringen, die in erkennbare Typen mit konsistenten ursächlichen Einflüssen zerfallen. Siehe hierzu ElderVass, Disassembling Actor-Network Theory.
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tenlos zum Abruf bereitstehen. Fast jede Webseite, die wir uns mit unseren Browsern anzeigen lassen, wird als ein komplexer Text zum Download bereitgehalten, ohne dass eine Gegenleistung verlangt oder auch nur erwartet wird.7 So sind beispielsweise Blog-Einträge, Videos auf YouTube, Fotografien und Ratschläge, die in breitgefächerten Foren erteilt werden, sowie Statusmeldungen auf Facebook Arbeitserzeugnisse, die von ihren Schöpfer_innen sozusagen verschenkt werden. Und auch wenn es ihnen soziale Netzwerke wie Facebook ermöglichen, den Zugang zu ihren Beiträgen einzuschränken, ist das Gros des Materials für jeden frei verfügbar. Diese Geschenke sind keine Almosen: Im digitalen Raum machen wir Geschenke ohne das Gefühl, Hilfsbedürftigen unter die Arme greifen zu müssen, und empfangen sie ohne die Empfindung eines Stigmas. Wenn wir Unbekannten solche Geschenke machen, behandeln wir sie als Gleichrangige, von denen wir weder eine Zahlung noch irgendeine Gegenleistung erwarten. Auch empfinden wir es in keiner Weise als unanständig, sie nicht zu vergelten – letztlich deshalb, weil digitales Schenken dem Gebenden keine Opfer abverlangt: Wenn wir digitale Produkte verschenken, schenken wir etwas, ohne es herzugeben oder es zu verlieren. In Mangelwirtschaften geben wir auf, was wir geben, daher sind unsere Möglichkeiten zum Schenken begrenzt. Deswegen müssen wir uns beschränken und dafür sorgen, dass unsere Geschenke Belohnungen einbringen – ob in Form von Gegenleistungen, sozialen Beziehungen oder eines Gefühls der Befriedigung darüber, dass wir für unsere Familie sorgen oder in die Gemeinschaft eingebunden sind –, Belohnungen, welche die persönlichen Kosten des Schenkens rechtfertigen. In Überflusswirtschaften wie der digitalen Informationsökonomie entfällt die Notwendigkeit, dass jedes Geschenk den Gebenden einen Nutzen bringt, solange nur einige insgesamt genug Nutzen abwerfen, um die Praktik nachhaltig am Laufen zu halten. Auf der Ebene der einzelnen Empfänger_innen ist Reziprozität in solchen Wirtschaften im Wesentlichen obsolet, weshalb sich die Bedeutungen der Schenkpraktiken entsprechend weiterentwickelt haben. In der Digitalwirtschaft, so behaupte ich, empfinden wir es nicht 7 Barbrook, The Hi-Tech Gift Economy; Berry, Copy, Rip, Burn, S. 12.
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mehr als unehrenhaft, ein digitales Geschenk ohne Gegenleistung anzunehmen, weil uns klar ist, dass es Teil eines Überflusses ist und seine Grenzkosten unbedeutend sind. Digitale Güter sind nichtrivalisierend im Konsum: Ihre Nutzung durch eine Person hindert nicht daran, dass auch andere sie nutzen. Und das, was Wikipedia erzeugt – Information oder Wissen –, stellt den klassischen Fall des nichtrivalisierenden Produkts dar. Auch wenn dies in gewissem Maß schon für wissenschaftliche Erkenntnisse galt, die heute tatsächlich ebenfalls als digitale Produkte verfügbar sind, war deren Verbreitung in der Zeit vor dem Internet noch kein Gratisunternehmen: Papier musste hergestellt, bedruckt und unter die Leute gebracht werden, verbunden mit Kosten, einem notwendigen Finanzierungsmodell zu ihrer Deckung und häufig dem Einfluss kommerzieller Aktivitäten, welche die Verbreitung dieses Wissens zu einem Geschäft gemacht haben. Mit dem Internet änderte sich die Lage (wenn auch bislang leider noch nicht für wissenschaftliche Veröffentlichungen). Die erstmalige Schöpfung eines digitalen Gutes ist mitunter mit einem erheblichen Zeitaufwand und womöglich sogar mit der Anschaffung von Ausrüstung verbunden, aber einmal hergestellt, liegen die Kosten für seine Vervielfältigung und damit die Grenzkosten der kostenlosen Weiterverbreitung bei nahezu null. Einmal geschaffen, gehen Wikipedia-Artikel ins neue digitale Gemeingut ein: Sie sind digitale öffentliche Güter, die für jeden gebührenfrei verfügbar sind.8 Der Begriff der Gemeingüter oder Allmende bezeichnete ursprünglich gemeinsames Land, auf dem sämtliche Dorfbewohner ihr Vieh weiden konnten, auch wenn er später auf eine Vielfalt weiterer gemeinschaftlich genutzter Ressourcen wie Grundwasser oder Fischbestände ausgeweitet wurde.9 Das digitale Gemeingut unterscheidet sich von traditionellen Gemeingütern allerdings in mindestens zweierlei Hinsicht. Erstens stehen digitale Informationen – zumindest im Prinzip – allen und nicht nur einer bestimmten Dorfgemeinschaft zur Verfügung. So erfordert der Zugang zu Wikipedia nur
8 Clippinger / Bollier, A Renaissance of the Commons; Stalder, Digital Commons. 9 Ostrom, Die Verfassung der Allmende.
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ein Gerät und einen Browser. Auf den ersten Blick erhöht dies scheinbar die Gefahr der sogenannten Tragik der Allmende: die einer Übernutzung gemeinschaftlicher Ressourcen, die sie teilweise oder vollständig unbrauchbar macht.10 Dieses Problem führt aber zum zweiten Unterschied: Weil Information ein nichtrivalisierendes Gut ist, zeigen digitale Gemeingüter beim Konsum keinen Verschleiß, weshalb sie gegen die von Garrett Hardin 1968 beschriebene Tragik der Allmende gefeit sind. Weil eine Nutzerin die Verfügbarkeit für andere nicht einschränkt, stellen Trittbrettfahrer_innen ein deutlich geringeres Problem dar. Wenn von einer Million Menschen, die ein digitales Produkt nutzen, nur ein winziger Bruchteil zu dessen Weiterentwicklung beiträgt, kann eine Informationswirtschaft auch nachhaltig florieren. Gemeinschaften, die Informationsgüter erzeugen, können allein mit den Beiträgen von nur einem kleinen Teil ihrer Mitglieder fortbestehen. Und diese wenigen Beitragenden können aus dem Wissen, dass sie mit ihrer Arbeit einer gewaltigen Anzahl von Menschen nützen, durchaus Befriedigung ziehen. Und häufig erzeugt ein Produkt gerade deshalb einen gewaltigen gesellschaftlichen Nutzen, weil es nichts kostet: Eine Enzyklopädie, die Geld kostet, beschränkt die Anzahl der Nutzer_innen massiv auf diejenigen, die sie sich leisten können.
Wikipedia versus Encyclopædia Britannica Und genau dies war natürlich die Lage vor dem Siegeszug der Digitalwirtschaft. Enzyklopädien erschienen als gedruckte Bücher, die nur im Handel – als Waren – erhältlich waren. Eine Enzyklopädie dient der einführenden Information mit einem breiten Spektrum an gründlich recherchierten, aber zumeist recht knapp ausgeführten Artikeln, die jeweils das Wichtigste enthalten, das durchschnittliche Leser_innen zum Thema wissen möchten. Unter akademischen Expert_innen der jeweiligen Fachgebiete gelten Enzyklopädien selten als maßgebende Quellen, werden aber von anderen gerne als zuverlässige Nachschla-
10 Hardin, The Tragedy of the Commons.
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gewerke für benötigtes Wissen genutzt. Manche genossen traditionell ein höheres Ansehen als andere. Die Encyclopædia Britannica galt über viele Jahre in den englischsprachigen Ländern als Goldstandard. Nach Wikipedia stand sie »ab der 3. Auflage unter den breiten Massen und den Kritikern im Ruf genereller Exzellenz«.11 In den meisten nichtakademischen Kreisen wurde eine Aussage dann als Wissen akzeptiert, wenn sie aus einer angesehenen Enzyklopädie wie der Britannica stammte. Zwischen Wikipedia und der Encyclopædia Britannica wurden schon mehrfach Vergleiche angestellt. Der bekannteste erschien 2005 in Nature, als Wikipedia gerade einmal vier Jahre alt war. In dieser Studie überprüften Expert_innen 42 Paare sich entsprechender Artikel aus beiden Enzyklopädien.12 Sie kamen zum Schluss, dass »in Wikipedia naturwissenschaftliche Artikel durchschnittlich rund vier Ungenauigkeiten enthielten; in der Britannica rund drei«.13 Auch wenn das Ergebnis darauf hindeutet, dass die Britannica als Nachschlagewerk tatsächlich etwas zuverlässiger war, wurde die Studie weithin als ein Beleg dafür dargestellt, dass die Online-Enzyklopädie gleich gut abschnitt wie die gedruckte.14 Spätere Studien erbrachten insgesamt relativ geringe Qualitätsunterschiede.15 Wikipedia ist seither auf einen Umfang angewachsen, der den der Britannica deutlich übersteigt,16 sodass ihre Benutzer_innen in ihr mit höherer Wahrscheinlichkeit Antworten auf ihre Fragen bekommen. So bestand zum Beispiel am 1. Januar 2015 der Eintrag in der Britannica zu Pierre Bourdieu aus einem einzigen Abschnitt mit vornehmlich biografischen Angaben, während der von Wikipedia über 16 Bildschirmseiten verlief, darunter mit detaillierten Auskünften zu seinen theoretischen Gedanken. Auch dürfte Wikipedia wegen ihres Redaktionsprozesses aktueller sein. Da sich an diesem 11 12 13 14 15 16
Wikipedia, Encyclopædia Britannica. Reagle, Good Faith Collaboration, S. 7. Giles, Internet Encyclopædias Go Head to Head. Dalby, The World and Wikipedia, S. 56. Reagle, Good Faith Collaboration, S. 7. »Allein die englischsprachige Wikipedia umfasst über 2,6 Milliarden Wörter, mehr als das Tausendfache der nächstumfangreichen englischsprachigen Enzyklopädie, der Encyclopædia Britannica«, siehe Wikipedia, Size Comparisons.
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Verfahren aber jede/r beteiligen kann, kommt es immer wieder zu Fehlern durch unqualifizierte Bearbeitungen oder sogar durch Vandalismus. Und auch wenn die meisten (wie weiter hinten noch zu sehen) rasch korrigiert werden, bleiben einige übrig, sodass sich die typische Benutzerin von Wikipedia nicht absolut auf sämtliche Aussagen verlassen kann. Fehler enthält auch die Britannica, aber weniger grobe, als sie den Laien in Wikipedia unterlaufen (auch wenn nicht alle Beitragenden unqualifiziert sind), weil ihre Artikel von Expert_innen des jeweiligen Fachgebiets verfasst werden. Insgesamt lässt sich wohl sagen, dass bei der Wahrscheinlichkeit, ob eine bestimmte Angabe tatsächlich stimmt, zwischen beiden kein großer Unterschied besteht, dass Wikipedia aber ein höheres Risiko für grobe Fehler birgt. Aus diesem Grund gilt Wikipedia für akademische Zwecke gewöhnlich noch immer als ungeeignet. So ist es Studierenden an britischen Universitäten noch heute untersagt, in schriftlichen Arbeiten die Online-Enzyklopädie als Quelle aufzuführen: Aussagen, die sich nur auf Wikipedia stützen, bleibt in diesen Kreisen der Status des Wissens verwehrt (auch wenn fairerweise darauf hinzuweisen ist, dass andere Enzyklopädien, einschließlich der Britannica, in zahlreichen Situationen ebenfalls als unzulässige Belege gelten).17 Aber in vielen anderen Kontexten und zu vielen anderen Zwecken werden Informationen aus Wikipedia als Wissen oder fundierte Überzeugung akzeptiert. (Tatsächlich verweise ich in diesem Kapitel häufig auf Wikipedia: Sie ist mit Blick auf ihre Funktionsweisen das mit Abstand zuverlässigste Auskunftsmittel.) Auch wenn dafür die breite Berichterstattung über die Studien, die Wikipedia mit der Britannica verglichen, verantwortlich sind, wirken hier zahlreiche weitere Faktoren. Als ein hervorstechender Faktor erscheinen bei der Google-Suche Wikipedia-
17 Aleksi Aaltonen hat mir gegenüber hervorgehoben, dass »der Wert von Wikipedia
als Nachschlagewerk teilweise der Tatsache zu verdanken sei, dass den Benutzer_innen ungewöhnlich deutlich bewusst sei, dass sie womöglich unzuverlässig ist« (persönliche Mitteilung). In einer Hinsicht ist dieses eine ungewohnt reife Haltung: Sie indiziert »Wissen« nach der Qualität seiner Quellen. Die Kontroverse über Wikipedias Zuverlässigkeit hat uns so vielleicht insofern einen Dienst erwiesen, als sie zu dieser Einstellung beigetragen hat.
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Einträge häufig fast ganz oben oder sogar an oberster Stelle.18 Diese Platzierungen leiten der Online-Enzyklopädie eine gewaltige Masse an Benutzer_innen zu (während im Gegenzug auch Wikipedia Google einen Nutzen bringt, insofern sie relativ zuverlässige und unparteiische Informationen bereitstellt, welche die Suchmaschine in ihren Ergebnissen an oberer Stelle auflisten kann)19 und trägt so zum Vertrauen in die Qualität von deren Inhalten bei. Wann immer ein Autor oder eine Autorin als Beleg Wikipedia anführt, stärkt er deren Autorität als Wissensquelle. Und auch wenn akademische Forscher_innen solche Belege generell noch scheuen, beziehen sich auch Nachrichtenmedien von Zeit zu Zeit auf sie.20 Als Konsequenz liefert uns Wikipedia für zahlreiche Zwecke durchaus Inhalte, die deshalb als Wissen gelten, weil sie als solches weithin anerkannt werden.21 Mit ihrer erfolgreichen Etablierung als angesehene Quelle für nützliche Informationen trug Wikipedia stark zum Wandel des Geschäfts mit Enzyklopädien bei, bei dem ein Komplex von Appropriationspraktiken durch einen anderen ersetzt wurde. Das Geschäftsmodell der Britannica bestand über zweihundert Jahre lang darin, die Enzyklopädie als mehrbändige gedruckte und ledergebundene Ausgabe herauszugeben, die in der 15. Auflage in der Schlussversion (erschienen 2010) 32 Bände erreichte und über 1000 Dollar kostete.22 In ihrer Hochzeit 1990 verkaufte sich die Ausgabe der Britannica über 100000 Mal mit einem Ertrag von 650 Millionen US -Dollar.23 Aber schon vor dem Siegeszug des Web brach das Geschäft mit der Britannica durch das Erscheinen digitalisierter Enzyklopädien auf CD -ROM und insbesondere dadurch drastisch ein, dass Microsoft ab 1994 sein Betriebssystem Windows mit Gratisexemplaren seiner Enzyklopädie Dalby, The World and Wikipedia, S. 82f. Ein weiterer Hinweis, den ich Aleksi Aaltonen verdanke. Dalby, The World and Wikipedia, S. 86–93. Mit anderen Worten: Es gibt Wissensnormen, die von ausgedehnten Normenkreisen unterstützt werden, die Informationen aus Wikipedia den Status von Wissen verleihen. Siehe Elder-Vass, The Reality of Social Construction, Kapitel 11. 22 Silverman, Encyclopædia Britannica vs. Wikipedia. Eine kurze Geschichte der Britannica, siehe Dalby, The World and Wikipedia, S. 27–31. 23 Channik, Encyclopædia Britannica Sees Digital Growth, Aims to Draw New Users. 18 19 20 21
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»Microsoft Encarta« auf CD -ROM vertrieb. Um die gleiche Zeit startete die Britannica ihre eigene CD -ROM , die immer noch über 1000 Dollar kostete.24 Ihre letzte Auflage der gedruckten Ausgabe erschien 2010 – längst im Zeitalter von Wikipedia – und verkaufte sich nur noch 8000 Mal bis 2012, als Britannica verkündete, dass die gedruckte Version eingestellt würde.25 Dass Britannicas Verlag gleichwohl überlebt hat, verdankt er nur einer radikalen Veränderung des Geschäftsmodells. 2012 erzielte er 85 Prozent seines Umsatzes mit dem Verkauf von Lehrmaterial für Schulen und Hochschulen und den Großteil der übrigen Erlöse durch Abonnements für einen Online-Zugang zu seiner Enzyklopädie für das allgemeine Publikum mit 70 Dollar pro Jahr oder 1,99 Dollar pro Monat für eine Smartphone-App.26 Um das Subskriptionsmodell weiterzuführen, konnten auf 80 Prozent der BritannicaInhalte nur Abonnenten zugreifen.27 Da die Enzyklopädie-Sparte »kaum die Gewinnzone erreichte«, gab der Verlag bis 2014 über die Hälfte ihrer Inhalte frei und schwenkte auf ein auf Werbung beruhendes Geschäftsmodell ein, um mit dem freien Zugang Einnahmen zu erzielen, während es zahlenden Abonnent_innen einen werbefreien Zugang anbot.28 Obwohl der Absatz der gedruckten Ausgabe längst »abgestürzt« war,29 bevor Wikipedia zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz wurde, bildete deren alleinige Präsenz im Internet bereits das größte Hindernis, um enzyklopädische Inhalte als digitale Ware zu vertreiben. Als Reaktion nahm Britannica die Qualität von Wikipedias Informationen unter Beschuss. Der »President« von Britannica äußerte sich so:
24 Cauz, Encyclopædia Britannica’s President on Killing Off a 244-Year-Old Product, 25 26 27 28 29
S. 40. Silverman, Encyclopædia Britannica vs. Wikipedia. Frenkel, Encyclopædia Britannica is Dead, Long Live Encyclopædia Britannica; Silverman, Encyclopædia Britannica vs. Wikipedia. Channik, Encyclopædia Britannica Sees Digital Growth, Aims to Draw New Users. Ebenda. Cauz, Encyclopædia Britannica’s President on Killing Off a 244-Year-Old Product, S. 40.
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»[W]ir konzentrierten uns auf die redaktionelle Qualität mit Britannica Online und nutzten Wikipedias Quantität-vor-QualitätAnsatz und ihre chronische Unzuverlässigkeit als Unterscheidungsmerkmal zu unseren Gunsten. Wir wussten, dass Britannicas langjährige Mission, fachkundiges, tatsachenbezogenes Wissen an ein allgemeines Publikum zu bringen, auf einen ständigen Bedarf in der Gesellschaft stieß. Dies fand auf dem Bildungsmarkt tiefgreifenden Widerhall (inzwischen gehört es zur Standardpraxis von Lehrern, Schüler anzuweisen, sich nicht auf Wikipedia als Nachschlagewerk zu verlassen), und trug dort zur Absatzsteigerung bei.«30 Wikipedia als chronisch unzuverlässig zu brandmarken, war Teil der beschriebenen Strategie. Zudem veröffentlichte die Encyclopædia Britannica eine feurige Antwort auf den Artikel in Nature, der ihre Qualität mit der Wikipedias verglichen hatte.31 Sie steht im Einklang mit Britannicas langfristiger Strategie (und Appropriationspraktik), sich die präferenzielle Bindung von Kund_innen zu sichern, indem sie sich als maßgebender und zuverlässiger als die Konkurrenz präsentiert. Schon vor der digitalen Ära diente der Verweis auf die Qualität – und den schieren Umfang des Produkts – dazu, einen Aufpreis gegenüber kommerziellen Konkurrent_innen zu rechtfertigen. In neuerer Zeit wurde diese Strategie dazu eingesetzt – und dem Umfang entgegengestellt –, um die Gebührenpflicht gegenüber »kostenlos« verfügbaren Konkurrenzprodukten durchzusetzen. Obwohl ein Großteil von Britannicas Inhalten inzwischen gratis zugänglich ist, bleibt die präferenzielle Bindung ein entscheidendes Ziel von deren Marketing-Praxis, weil der Verlag nicht nur die Bepreisung seiner Bildungsmaterialien rechtfertigen, sondern auch dafür sorgen muss, dass die kostenlosen Seiten der Enzyklopädie zunehmend häufiger abgerufen werden, um die Werbeeinnahmen zu steigern. Unabhängig davon, ob ihre Inhalte
30 Ebenda. 31 Encyclopædia Britannica, Fatally Flawed: Refuting the Recent Study on Encyclope-
dic Accuracy by the Journal Nature. Die Antworten von Nature fielen allerdings deutlich überzeugender aus: Siehe Nature, Editorial: Britannica Attacks … and We Respond.
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tatsächlich zuverlässiger sind, kam es in Britannicas Geschäftsstrategie darauf an, das diskursive Umfeld im Bildungssektor so zu manipulieren, dass die präferenzielle Bindung an ihre Produkte aufrechterhalten blieb.
Das Schenkmodell finanzieren Eine Schwierigkeit der Britannica – und tatsächlich aller Anbietenden digitaler Waren – besteht darin, dass Schenken gegenüber Verkaufen eine deutlich effizientere Praktik darstellt, um digitale Produkte zu transferieren. Warenproduzierende müssen Geld investieren, um bestens gesicherte Systeme zur Abwicklung von Käufen bereitzustellen, Buch über Zahlungen und Kund_innen führen, Gebühren für Zahlungsabwicklungen über Drittfirmen entrichten, Systeme zur Bearbeitung von Reklamationen und Retouren aufbauen und zur Werbung von Kundschaft üblicherweise Geld für Marketing ausgeben. Mit anderen Worten: Verkaufen ist mit erheblichen Transaktions- und Marketingkosten verbunden. Und bei digitalen Produkten, deren übrige Grenzkosten nahezu bei null liegen, ist Verschenken eine erheblich günstigere Methode der Verbreitung.32 Schenken macht somit Aktivitäten überflüssig, die nur wegen der Warenform des Transferierten anfallen und von denen viele aus gesellschaftlicher Sicht hauptsächlich eine Verschwendung von Ressourcen darstellen.33 Wikipedias Produkt, enzyklopädische Artikel, ist ein Paradebeispiel für ein nichtrivalisierendes Gut, dessen Bereitstellung mit verschwindend geringen Grenzkosten verbunden ist. Wenn eine Person auf einen Artikel zugreift, vermindert dies nicht dessen Verfügbarkeit für andere, weshalb wir es anstatt mit einer Mangel- mit einer Überflusswirtschaft zu tun haben. Auch sind die Kosten, um eine Informa-
32 Hier klingt leise das Werk Ronald Coases nach, der die Existenz von Unternehmen
damit begründete, dass diese die Kosten anfallender Transaktionen verringerten, indem sie diese vom Markt in die innerbetriebliche Bürokratie verlagerten. Siehe Coase, The Nature of the Firm. 33 Vgl. Clippinger / Bollier, A Renaissance of the Commons, S. 276f.
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tionsseite via Internet zu weiteren Benutzer_innen zu übertragen, verschwindend gering. Gleichwohl besteht zwischen gering und null immer noch ein Unterschied, der sich erheblich auswirkt, wenn von einer Website 12 Milliarden Seiten pro Monat abgerufen werden. Die entstehenden Gesamtkosten sind alles andere als unbedeutend. Auch wenn viele ihrer Kosten im Verhältnis zur Größenordnung ihrer Operation sehr niedrig liegen,34 muss Wikipedia genügend Serverkapazität und Bandbreite vorhalten, damit ihre Benutzer_innen auf alle gewünschten Produkte zugreifen können. 2014 besaß die Wikimedia Foundation, die gemeinnützige Organisation, die Wikipedia betreibt, Computerausrüstung im Wert von 10,6 Millionen Dollar und gab 2,5 Millionen Dollar für die Bereitstellung von Speicherplatz aus. Die Stiftung beschäftigt zudem eine erhebliche Anzahl an nichtredaktionell tätigen Mitarbeiter_innen, für die sie 2013–2014 20 Millionen Dollar aufwenden musste, und hat weitere Betriebskosten – im selben Jahr mit einem Ausgabenbudget von insgesamt 46 Millionen Dollar.35 Da Wikipedia keine Waren verkauft, nutzt die Stiftung eine alternative Appropriationspraktik, um die anfallenden Kosten zu decken. Hier kommen wir zum zweiten Aspekt, unter dem Wikipedia ein Beispiel für die Gabenökonomie ist: Sie deckt ihre laufenden Kosten mehr oder weniger vollständig durch Spenden. So betrug deren Anteil von den Gesamteinkünften von 52,8 Millionen Dollar 2013–2014 zum Beispiel 51,2 Millionen Dollar.36 Während rund 7 Millionen Dollar als Großspenden von Einzelnen und gemeinnützigen Stiftungen stammten, wurde der Rest durch Online-Kampagnen eingeworben, bei denen gewöhnliche Wikipedia-Benutzer_innen in Banneranzeigen auf Wikipedia-Seiten und per Email um einen Beitrag für die laufenden Betriebskosten gebeten wurden.37 Bei den Spender_innen handelt es sich vornehmlich um regelmäßige Benutzer_innen, die Wikipedias
34 O’Sullivan, Wikipedia: a New Community of Practice?, S. 105. 35 Wikimedia Foundation / KPMG , Financial Statements, S. 3, S. 11. 36 Ebenda, S. 3. In der angegebenen Zahl für die Spenden sind 1,6 Millionen Dollar als
»Freigabe von vorübergehend beschränktem Nettovermögen« ausgewiesen. 37 Wikimedia Foundation, Fundraising / 2013–14 Report. Einige der aufgeführten Daten sind der Diskussionsseite entnommen.
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nichtkommerzielles Ethos unterstützen wollen. Laut einer Umfrage unter Spender_innen, die Wikimedia Deutschland durchführte, war die stärkte Motivation zum Spenden, »etwas zurückzugeben, da ich Wikipedia so häufig nutze«, dicht gefolgt von dem Wunsch, dass Wikipedia weiterhin kostenlos zur Verfügung stehen möge und »um Wikipedia vor Beeinflussung und Manipulation zu schützen«. Häufig als Grund genannt wurde auch, »damit keine Werbung auf Wikipedia geschaltet wird«.38 In dem zuerst genannten Grund für Spenden klingen Theorien vom Schenken als eine Form der Reziprozität nach, auch wenn es sich dabei eher um eine andere Form von Gegenleistung als die von Mauss beschriebene handelt.39 Für ihn war Reziprozität eine Verpflichtung, eine Gegenleistung, die als Reaktion auf eine Gabe fällig wird, während sich Wikipedias Benutzer_innen in der Mehrzahl mit keinem Obolus erkenntlich zeigen. Ihre Spendenden gehorchen keinerlei Verpflichtung, leisten aber wohl deshalb einen Betrag, weil sie es als richtig oder fair ansehen, einen empfangenen wertvollen Nutzen zu vergelten. Einfluss übt womöglich auch ihre Zahlungskraft aus. Die deutsche Umfrage beinhaltet einige Informationen über die Einkommen der Spendenden, die allerdings schwer zu interpretieren sind, weil Daten zu komparativen Bezugsgruppen fehlen. Belegt ist aber immerhin, dass die Spender_innen überwiegend männlich sind, zu 65 Prozent einen Universitätsabschluss oder eine höhere Qualifikation besitzen und zu 72 Prozent über 40 Jahre alt sind.40 All dies deutete darauf hin, dass diese Spender_innen besser situiert sind als der Durchschnitt. Wenn auch eher nebensächlich, legen diese Hinweise einen interessanten Schluss nahe: dass eine Ressource wie Wikipedia auf diese Art vielleicht fairer finanziert wird als durch ein kommerzielles Modell. Einerseits bleiben anders als bei einer kommerziellen Finanzierung die Wikipediaseiten für jedermann frei verfügbar, während andererseits diejenigen, die es sich leisten können, je nach dem
38 Wikimedia Foundation, Ergebnisse Spender-Umfrage 2011, S. 7. 39 Siehe Kapitel 4. 40 Wikimedia Foundation, Ergebnisse Spender-Umfrage 2011, S. 10f.
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Gefühl, welchen Nutzen sie aus ihnen ziehen, zu deren Finanzierung beitragen. Die zweite in der Umfrage offengelegte Motivation – der Wunsch, dass Wikipedia kostenlos bleibt – zeigt eine erhebliche Unterstützung für das Konzept, Informationen im Web mit einem schenkbasierten Ansatz bereitzustellen. Die dritte und vierte spiegeln eine anhaltende Besorgnis unter Wikipedia-Benutzer_innen und -Bearbeitenden wegen der möglichen Rolle von Werbung wider. Klar ist, dass sich Wikipedia angesichts der gewaltigen Anzahl an Besuchenden problemlos finanzieren könnte, wenn in ihren Artikeln Anzeigen geschaltet würden.41 Dennoch wurde auf dieses Mittel vollständig verzichtet, nachdem sich 2002 Mitarbeiter_innen der spanischsprachigen Ausgabe aus Protest gegen den Vorschlag, in Wikipedia Werbung zuzulassen, »abgespalten« und eine unabhängige Version gegründet und weiterentwickelt haben.42 Auch wenn die Einzelheiten zu dem Entscheidungsprozess umstritten sind, wies Larry Sanger, der das Projekt mit Jimmy Wales begründet hat, darauf hin, dass »die Abspaltung der spanischen Wikipedia bei der Entscheidung zugunsten einer 100-prozentigen Werbefreiheit letztlich durchaus den Ausschlag gegeben haben könnte«.43 Ein Hauptgrund für die Unterstützung dieser Politik durch die Beitragenden war das Bemühen, die Inhalte von Wikipedia vor kommerziellen Einflussnahmen zu schützen, zum Beispiel durch Befürchtungen, Anzeigenkunden zu verprellen. Spendenfinanzierung und kommerzielle Finanzierung via Warenverkauf prallen hier als verschiedene Appropriationspraktiken in einem klaren Konflikt aufeinander.
41 O’Sullivan, Wikipedia: a New Community of Practice?, S. 106. 42 Tkacz, The Spanish Fork: Wikipedia’s Ad-Fuelled Mutiny. Allerdings hat diese Wi-
kipedia-Version mindestens eine Spende angenommen: eine von Google über 2 Millionen Dollar. Siehe Johnson, Wikipedia Wins the Google-Lottery – But Why?. 43 Zitiert in Tkacz, The Spanish Fork: Wikipedia’s Ad-Fuelled Mutiny.
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Warum verfassen Beitragende Wikipedia-Artikel? Obwohl zur Finanzierung von Wikipedia die Spender_innen ziemlich leicht durch Werbekundschaft hätten ersetzt werden können, geschah dies unter anderem deshalb nicht, weil es möglicherweise die dritte Appropriationspraktik beeinträchtig hätte, wegen der Wikipedia zur Gabenökonomie gehört: Ihre Inhalte entstehen ausschließlich durch den unentgeltlichen Arbeitseinsatz von vielen tausend Ehrenamtlichen, die sie verfassen und bearbeiten. Wikipedias Arbeitspraktiken sind ein bedeutendes Beispiel für das, was Yochai Benkler als »Gemeingut schaffende Peer-Produktion« bezeichnet hat:44 Einzelpersonen arbeiten in großer Anzahl unentgeltlich zusammen, um etwas Nützliches zu erzeugen, das der Allgemeinheit kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Neben der Tatsache, dass diese Produktion ehrenamtlich geschieht, kennzeichnet sie eine dezentralisierte, auf Kooperation beruhende Organisationsform, bestehend aus »sehr großen Verbünden aus Einzelpersonen, die unabhängig voneinander ihr Informationsumfeld auf der Suche nach Möglichkeiten durchforsten, auf kleiner oder großer Stufe kreativ zu wirken. Diese Individuen setzten sich ihre Aufgaben selbst und erfüllen sie aus einer Vielzahl persönlicher Gründe.«45 Laut Benkler hat diese Art Produktion eine wichtige Rolle »beim Aufbau der Netzwerkumgebung, der Netzwerkkultur und der vernetzten Sozialordnung« gespielt.46 Sie ist für einen Großteil der Aktivitäten beim Setzen von Standards verantwortlich, welche die Gestaltung des Internets geprägt haben, für die »Entwicklung einiger zentraler Dienstprogramme, mit denen das Web betrieben wird«,47 und tatsächlich für eine große Menge an weiterer Software, die durch die Open-Source-Bewegung weit verbreitet genutzt wird.48 Es ist schwer zu ersehen, wie sich die Mainstream-Ökonomie auf eine gemeingut-basierte Peer-Produktion, wie von Wikipedia prakti-
44 45 46 47 48
Benkler, Sharing Nicely, S. 375. Ebenda, S. 376. Benkler, Practical Anarchism, S. 214. Ebenda. Elder-Vass, Commerce, Community and Digital Gifts.
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ziert, jemals einen Reim machen könnte. Für dieses fortlaufende Projekt opfern Hunderttausende von Menschen ohne jedwede finanzielle Entlohnung Zeit, um ein Gut zu schaffen, das für Milliarden einen Wert darstellt und das sie dennoch umsonst zur Verfügung gestellt bekommen. Hier gibt es keinen Markt, keine Tauschgeschäfte und keine Waren und deshalb – aus Sicht des Mainstreams – auch keine Wirtschaft. Und doch brauchen wir und profitieren wir von Qualitätsinformationen – von Wissen –, wie sie uns die Warenwirtschaft häufig erfolgreich verkauft hat. Aus Sicht der Versorgung ist Wikipedia somit eindeutig ein Wirtschaftsunternehmen, in dem Menschen arbeiten, um für andere Nutzen zu erzeugen. Jede/r registrierte Benutzer/in kann eine Seite redigieren,49 indem er oder sie schlicht »Bearbeiten« anklickt. Und jede/r registrierte Benutzer/in kann einen neuen Artikel zu einem bislang nicht abgedeckten Thema anlegen. Wikipedias Beitragende sind kollektiv ihre Urheber_innen. Manche bearbeiten einen oder wenige Artikel, während andere über Jahre hinweg als echte Redakteur_innen wirken: Die drei produktivsten leisteten jeweils über eine Million Beiträge.50 Warum tun sie dies? Produktive Arbeit gilt in der Mainstreamwie in der marxistischen Tradition gewöhnlich als ein Übel für die Beschäftigten, die sie ohne finanzielle Entlohnung niemals erledigen würden. Dennoch leisteten die Benutzer_innen der englischsprachigen Wikipedia bis Oktober 2014 in Form von Bearbeitungen 400 Millionen – kostenlose – Beiträge,51 manche teils deshalb, weil sie aus der Arbeit persönliche Befriedigung ziehen, wie Clay Shirky (soweit er dies aus eigener Erfahrung sagen kann) in einer faszinierenden Darlegung der Gründe hervorhob, aus denen er seinen ersten Wikipedia49 Allerdings sind relativ wenige umstrittene Seiten für die Bearbeitung durch neue
und unerfahrene Redakteur_innen inzwischen gesperrt. Siehe Wikipedia, Wikipedia: Flagged Revisions. 50 Wikipedia, Wikipedia: List of Wikipedians by Number of Edits. 51 Dabei wurden 4,7 Millionen Artikel durchschnittlich 87,8 Mal bearbeitet. Siehe Wikimedia, Wikipedia Statistics: Edits per Article. Hervorzuheben ist, dass rund 5 Prozent dieser Bearbeitungen von Software-Agenten (Softbots) ausgeführt wurden (mit einem erheblich höher liegenden Prozentsatz in einigen anderssprachigen Wikipedia-Ausgaben). Siehe Kurzweil, Are Bots Taking over Wikipedia?.
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Beitrag geleistet hat. Sein erster – »eine Chance, brachliegende geistige Kapazitäten zu nutzen«52 – verweist auf unentfremdete Arbeit, also auf ein Tun, das rein aus Freude am Einsatz der eigenen Schaffenskraft geschieht.53 Seinen zweiten Grund bezeichnete er zunächst als »Eitelkeit«, doch dann als das Bedürfnis, »einen sinnvollen Beitrag« zur Veränderung der Welt zu leisten54 – ein weiterer Aspekt von unentfremdeter Arbeit: Arbeit, bei der wir unserer Kreativität freien Lauf lassen, indem wir ihr Ergebnis und ihre Wirkung auf die Welt selbst bestimmen. Und sein dritter Grund, den er als »den überraschendsten und zugleich offensichtlichsten« bezeichnet, war »das Bedürfnis, etwas Positives zu leisten«:55 etwas zum Nutzen der ganzen Menschheit zu schaffen. Tatsächlich spiegeln alle genannten Gründe die Freude an unentfremdeter Arbeit wider, bei der Tätige ihre Aufgabe selbst wählen, über ihren Arbeitsprozess und dessen Ergebnis selbst bestimmen, mit anderen Erzeugenden als freie und gleiche Individuen zusammenwirken und ihre schöpferische Kraft zum breiteren Nutzen der Menschheit einsetzen, im Gegensatz zu der von Marx beschriebenen entfremdeten Arbeit.56 O’Sullivan weist darauf hin, dass Wikipedia-Beitragende neben diesen Motivationen, die wohl tatsächlich eine bedeutende Rolle spielen, von weiteren angetrieben werden, die Shirky nicht nennt, insbesondere »der Reiz, einer Gemeinschaft anzugehören und von ihr anerkannt und geschätzt zu werden, vor allem von einer, die nichthierarchisch und kooperativ organisiert ist. Die Mitgliedschaft gibt den Teilnehmer_innen ein Zugehörigkeitsgefühl, ein gemeinsames Ziel, und bietet gegenseitige Unterstützung, um die Gruppenziele zu erreichen.«57 Wikipedias gewöhnliche Benutzer_innen stellen kaum eine Gemeinschaft dar: Ihre Seiten sind für sie hauptsächlich ein Infor-
52 Shirky, Here Comes Everybody, S. 132. 53 Siehe ebenso Benkler, Coase’s Penguin, or, Linux and the Nature of the Firm, 54 55 56 57
S. 424. Shirky, Here Comes Everybody, S. 132. Ebenda, S. 133. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 516ff. O’Sullivan, Wikipedia: a New Community of Practice?, S. 87.
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mationsinstrument, auf das sie zugreifen, ohne mit anderen zu interagieren. Anders verhält sich dies mit den Beitragenden. Auch wenn manche, insbesondere diejenigen, die selten Bearbeitungen vornehmen, sich mit anderen kaum austauschen, ist dies bei anderen durchaus der Fall. Sie beziehen ihr Zusammengehörigkeitsgefühl nicht nur aus der Empfindung, dass sie zu einem Gemeinschaftsprojekt beigetragen, sondern auch aus der Teilhabe an interaktiven Prozessen mit anderen Beitragenden.58 Obwohl diese Abläufe den meisten Wikipedia-Benutzer_innen verborgen bleiben, finden sie hochgradig öffentlich statt. Eine Kostprobe von ihnen verschafft sich jeder, der auf einer beliebigen Wikipedia-Seite den Karteireiter »Diskussion« anklickt. Wikipedia-Redakteur_innen leisten ihre Beiträge unter Pseudonym. Von der Nutzung echter Namen wird explizit abgeraten, damit Entscheidungen möglichst aufgrund der Qualität der Argumente und nicht wegen der Stellung derer getroffen werden, die sie vertreten. Auch sollen so Laien-Redakteur_innen, die sich eingeschüchtert fühlen könnten, zur Teilnahme an der Diskussion ermuntert werden.59 Über Wikipedia hinausgehende Kontakte zwischen Benutzer_innen werden dadurch stark eingeschränkt. Aber die Redakteur_innen können sich auf den Diskussionsseiten mit anderen austauschen und sich unter Pseudonym innerhalb der Wikipedia-Community ein erhebliches Ansehen aufbauen – und sich zum Beispiel einen Barnstar verdienen, mit dem sie von anderen Benutzer_innen wegen wertvoller Beiträge ausgezeichnet werden.60 Und die Anerkennung durch die Gemeinschaft spiegelt sich auch in der Übertragung einer Rolle mit mehr Verantwortung wider.61 Die prominenteste Rolle ist wohl die der Administrator_innen. In der Wikipedia-Community ist ein/e »Admin«, der bzw. die auf den Bearbeitungsprozess größeren Einfluss als andere ausübt und üblicher58 59 60 61
Lessig, Remix, S. 159f. O’Sullivan, Wikipedia: a New Community of Practice?, S. 88. Reagle, Good Faith Collaboration, S. 10. Forte u. a., Decentralization in Wikipedia Governance. Wikipedia-Redakteur_innen arbeiten folglich weniger anonym und namenlos, als es den Anschein hat: Sie bauen sich innerhalb von Wikipedia unter einem Benutzernamen eine Identität auf und sammeln Ansehen.
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weise Streitigkeiten zwischen Bearbeitenden schlichtet, indem er zum Beispiel Benutzer_innen sperrt, die Vandalismus begehen, Seiten, die häufig von Vandalismus betroffen sind, vor weiterer Bearbeitungen schützt (seltener Fall) oder andere zu Themen löscht, die seiner oder ihrer Ansicht nach die Relevanzkriterien nicht ausreichend erfüllen.62 Wie eine Umfrage unter 115 Administrator_innen zeigte, deckten sich deren Motivationen für Beiträge weitgehend mit denen zuvor aufgeführten: Zu den wichtigsten Antrieben zählten das Bedürfnis, etwas von öffentlichem Wert zu schaffen, Freude an kreativer Arbeit und das Bedürfnis, sich in der Wikipedia-Community zu engagieren.63 Die bedeutendste Motivation bildete allerdings der Wunsch, Neues zu lernen, sowohl beim Lesen von Wikipedia-Inhalten als auch bei Recherchen in anderen Quellen, um zur Redaktion von Wikipedia beizutragen.64 Die Arbeit am Aufbau von Wikipedia kann für Beitragende also hochgradig befriedigend sein, weil sie mit kurzzeitigem Spaß und mit einer längerfristigen persönlichen Weiterentwicklung einhergeht. Sie ist eine von der Tyrannei des Marktes befreite Beschäftigung, die, obwohl zuweilen als bloßes Hobby abgetan, potenziell für eine Erfüllung sorgen kann, wie sie unsere Wirtschaften nur so selten bereithalten. Wikipedia folgt einem Modell wirtschaftlicher Produktion mit Obertönen aus Marx’ Vision vom Kommunismus und Kropotkins anarchistischen Ausblicken auf Gesellschaften, die auf gegenseitiger Hilfe beruhen.65 Allgemeiner können wir sagen, dass ehrenamtliche Arbeit in der Gabenökonomie eine Appropriationspraktik darstellt, die der Produzentin und dem Nutzer des Produkts Vorteile bringt, auch wenn nicht jede/r Wikipedianer/in die Erfahrung der Mitarbeit als befriedigend erlebt: Manche fühlen sich durch Überarbeitungen ihrer Beiträge und Einsprüche auf den Diskussionsseiten entfremdet.66 62 Reagle, Good Faith Collaboration, S. 125. Zur Rolle der Administrator_innen siehe
das nächste Unterkapitel. 63 Baytiyeh / Pfaffman, Volunteers in Wikipedia: Why the Community Matters,
S. 135f. 64 Ebenda, S. 135. 65 Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung, Leipzig 1904. 66 Morgan u. a., Tea and Sympathy; O’Sullivan, Wikipedia: a New Community of Practice?, S. 107f.
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Zwischen diesem Modell von Arbeit und Lohnarbeit im Industriekapitalismus besteht ein krasser Unterschied. Die Beschäftigten in Fertigungslinien von Fabriken wie der von Foxconn betriebenen führen ihre kräftezehrende, stressende, geistestötende und zuweilen erniedrigende Arbeit nur deshalb aus, weil sie den Lohn unbedingt benötigen. Ihre Lohnabhängigkeit verschafft ihren Arbeitgebenden eine Machtposition, die sie in die Lage versetzt, Widerstände gegen unbefriedigende Arbeit zu brechen, hierarchische und autoritäre Formen der Führung durchzusetzen und den Arbeitsprozess einer strengen disziplinarischen Kontrolle zu unterwerfen. Diese Art Arbeit ist eine ganz andere Form der Appropriationspraktik als die redaktionelle Mitarbeit bei Wikipedia. Sie ist eine Praktik, mit der Arbeitgebende das Arbeitsprodukt vereinnahmen, während der Arbeitsprozess für die Beschäftigten erhebliche Nachteile mit sich bringt. Und haltbar ist dieses Missverhältnis nur deshalb, weil die Beschäftigten auf den Lohn angewiesen sind, der ihnen als Entschädigung angeboten wird. Dagegen sind Wikipedianer_innen Ehrenamtliche, die sich jederzeit aus der Arbeit zurückziehen können, die auch durch völlig andere Machtverhältnisse bestimmt wird. Als eine Konsequenz muss Wikipedia für die Bedürfnisse ihrer Redakteur_innen empfänglicher sein. Die Aufrechterhaltung ihrer Gemeinschaft hängt davon ab, dass die Website ihnen nicht nur bereichernde Erfahrungen bietet, sondern auch ihre Arbeit auf legitime Weise verwertet. Hier stehen die Bedürfnisse der Beitragenden und die der Organisation in einer völlig anderen Balance zueinander: Weil ein kapitalistisches Unternehmen seine Beschäftigten leicht ersetzen kann, diese aber deutlich schwieriger einen gleich gut bezahlten Arbeitsplatz finden, neigt sich die Machtbalance klar zugunsten der Arbeitgebenden. Dagegen können die Redakteur_innen von Wikipedia ihre Arbeit problemlos einstellen, was für die Website eine klare Einbuße bedeutet, sodass die Machtbalance deutlich ausgeglichener ist.
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Qualität regulieren: Normen Als eine zentrale Herausforderung ist Wikipedia damit konfrontiert, die Qualität ihrer Artikel – und damit ihren Wert für die Benutzer_ innen und deren Bindung an sich – in einem Kontext sicherzustellen, in dem es im Umgang mit den Beiträgen ihrer Redakteur_innen kaum Hierarchie und Führungsmacht gibt. Die Herausforderung ergibt sich daraus, dass ihre Artikel von jedem verfasst werden können und viele der Beitragenden für Standards, die man von einem Nachschlagewerk erwartet, eher dürftig vorqualifiziert sind. Sogar in einer Stichprobe aus Administrator_innen verfügten 45 Prozent über Bildungsabschlüsse unterhalb des ersten akademischen Grades (auch wenn 38 Prozent als Vollzeitstudenten diesen mutmaßlich anstrebten). Nur 36 Prozent hatten promoviert oder habilitiert.67 Zudem sind einige Bearbeiter_innen an der Aufrechterhaltung von Wikipedias Zuverlässigkeit kaum interessiert: Manche betreiben schlicht Vandalismus, während andere bei der Bearbeitung von Inhalten politische68 oder kommerzielle Absichten verfolgen. Wie lässt sich Wikipedia unter diesen Umständen davor schützen, dass es zu einem beliebigen Sammelsurium aus tendenziösen und unzuverlässigen Aussagen wird? Hier droht wohl eine andere Form der Tragik der Allmende – eine Qualitätseinbuße nicht durch Übernutzung, sondern durch übermäßige Bearbeitung. Die herkömmlichen Gemeingüter waren für eine Tragik dieser Art allerdings weniger anfällig als von manchen Forschenden dargestellt. Wie Elinor Ostrom gezeigt hat, finden Gemeinschaften oft Wege, um Allmenden erfolgreich auch ohne staatlichen Einfluss, Ressourcenprivatisierung oder den Rückgriff auf den Markt zu bewirtschaften. Häufig entwickelten sie »das Beispiel eines Arran-
67 Baytiyeh / Pfaffman, Volunteers in Wikipedia: Why the Community Matters,
S. 132f. 68 Siehe zum Beispiel die Diskussion um Veränderungen am Artikel zum Völker-
mord an den Armeniern in: Hansen u. a., Wikipedia, Critical Social Theory, and the Possibility of Rational Discourse, S. 44f.
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gements für eine im Gemeineigentum befindliche Ressource, dessen Regeln nicht nur von den Teilnehmern selbst entworfen und modifiziert worden sind, sondern auch von ihnen kontrolliert und durchgesetzt werden«.69 Ähnliches hat sich bei Wikipedia eingespielt. Wikipedianer_innen – Wikipedias engagierte Autor_innen und Redakteur_innen – haben diese Probleme gründlich und sorgfältig ausdiskutiert und die Ergebnisse zu einer Reihe ineinandergreifender Normen, Abläufe, Rollen und Techniken verarbeitet, um der Herausforderung zu begegnen.70 Niedergelegt sind diese ausführlich, aber verständlich ausformuliert in einer speziellen Abteilung, den sogenannten Namensräumen, die Wikipedia der eigenen Sache widmet. Als eine Reihe von Wikipedia-Artikeln abgefasst, sind diese wie andere Seiten bearbeitbar, unterstehen aber angesichts ihrer Bedeutung für das Projekt der Kontrolle vieler erfahrener Benutzer_innen. Veränderungen, die nicht auf der zugehörigen Diskussionsseite debattiert und im Konsens vorgenommen wurden, werden wahrscheinlich rasch rückgängig gemacht.71 Selbst Wikipedias besonders streng zu beachtende Richtlinien und ihre weniger strengen Empfehlungen existieren nur als gemeinsam verfasste Seiten. Ein Augenmerk von Wikipedias Normen, Richtlinien und zentralen Grundprinzipien liegt auf dem zivilen Umgang, den die Beitragenden untereinander selbst im Fall von Provokationen pflegen sollen. Bei Auseinandersetzungen um einen Beitrag geht es darum, konstruktiv zu einem Einvernehmen zu gelangen, anstatt den Streit »für sich zu entscheiden«.72 Tatsächlich ist die Anforderung an Redakteur_innen, einander mit Respekt und Anstand zu begegnen«, laut der englischen Ausgabe eine der »fünf Tragsäulen«, die zu den »Grundprinzipien von
69 Ostrom, Die Verfassung der Allmende, S. 26. 70 Wie Aaltonen und Lanzara zeigten, haben sich die Normen von Wikipedia als Re-
aktion auf die wechselnden Erfordernisse und Umstände verändert. Siehe Aaltonen / Lanzara, Building Governance Capacity in Online Social Production. 71 Forte u. a., Decentralization in Wikipedia Governance. 72 Eine einführende Zusammenfassung siehe Wikipedia, Wikipedia: Expectations and Norms of the Wikipedia Community. Siehe hierzu auch Wikipedia, Wikipedia: Konflikte.
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Wikipedia« zählen.73 Verglichen mit den besonders groben und destruktiven Schlagabtäuschen, die sich anonyme Nutzer_innen auf anderen Websites liefern, zeichnen sich die Konflikte auf Wikipedias Diskussionsseiten durch ein außergewöhnlich geringes Maß an Emotionalität aus, vornehmlich wohl deshalb, weil die genannten Normen auf breiter Front von erfahrenen Redakteur_innen beachtet und verfochten werden. Das zweite besondere Augenmerk von Wikipedias Normen und Grundprinzipien liegt darauf, welche inhaltliche Ausrichtung für Wikipedia-Artikel als wünschenswert oder akzeptabel gilt. In der englischen Ausgabe ist dies als die erste der »fünf Tragsäulen« ausgedrückt, die in der deutschen Version dem ersten der »zentralen Grundprinzipien« entspricht: »Wikipedia ist eine Enzyklopädie.«74 Als solche muss sie bestimmte Themen abdecken, während andere außen vor zu bleiben haben. Sie ist zum Beispiel »kein Wörterbuch, […kein Beitrag zur] Theoriefindung […], keine Gerüchteküche und keine Plattform für Werbung, Propaganda oder Verschwörungstheorien […], kein Ort für Essays und kein Ort für Fan-Seiten […], kein allgemeines Diskussionsforum und kein Chat-Room […], kein Webspace-Provider und kein Ersatz für die eigene Website […] und keine Rohdatensammlung.«75 Stattdessen sollten die Beiträge neutrale, nachprüfbare, sachgerechte Überblicke zu Themen beinhalten, die von öffentlichem Interesse sind. Diese Grundsätze werden von den Redakteur_innen weitgehend beachtet, wenn sie Artikel verbessern oder Veränderungen rückgängig machen, die gegen sie verstoßen. Das Neutralitätsprinzip ist so zentral und für einige neu hinzugekommene Beitragende vielleicht so ungewohnt, dass es in der deutschen Ausgabe als eines der »vier unveränderlichen Grundprinzipien von Wikipedia« und in der englischen
73 Wikipedia, Wikipedia: Five Pillars. Diese Tragsäulen entsprechen in Ungefähr den
zentralen Grundprinzipien. Siehe hierzu: Wikipedia: Wikipedia, Grundprinzipien. 74 Ebenda. 75 Wikipedia, Wikipedia: Was Wikipedia nicht ist, Zur englischen Version siehe: Wikipedia, Wikipedia: What Wikipedia is not.
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als eine der »fünf Tragsäulen« (five pillars) auftaucht: in der letztgenannten heißt es: »Wikipedia wird von einem neutralen Standpunkt aus verfasst«, ein Prinzip, das häufig mit der Abkürzung NPOV für »Neutral Point Of View« abgekürzt wird: »Wir streben Artikel an, welche die wichtigsten Gesichtspunkte dokumentieren und erläutern und geben diesen dabei in einem unparteiischen Tonfall hinsichtlich ihrer Bedeutung angemessenes Gewicht. Wir vermeiden Fürsprache und charakterisieren Informationen und Themen, anstatt sie zu debattieren. […] Persönliche Erfahrungen, Deutungen oder Meinungen der Redakteur_innen gehören nicht dazu.«76 Normen sind freilich nur dann wirksam, wenn sie auch angenommen und durchgesetzt werden. Denjenigen, für die sie gelten sollen, muss bewusst sein, dass sie unter dem Druck stehen, sich ihnen beugen.77 Wikipedia erreicht dies durch zwei entscheidende Mechanismen: Jede Bearbeitung kann auf der mit jedem Artikel verlinkten Diskussionsseite (zugänglich durch Anklicken des Reiters »Diskussion« oben links auf der Seite) diskutiert und, falls sie gegen die Normen verstößt, wieder rückgängig gemacht werden.78 Unstimmigkeiten, die sich in der Diskussion nicht ausräumen lassen, können so weit eskalieren, dass ein/e Administrator/in eingreifen muss. Diese/r kann drastischere Maßnahmen ergreifen, mit dem Sperren von Benutzer_innen, die Grundprinzipien missachten, als äußerste Sanktionsmöglichkeit, um diesen Prinzipien und den entsprechenden Normen Geltung zu verschaffen (wobei es für Streitigkeiten auch andere Eskalationsstufen gibt).79 Um der kritisierenden Tendenz normativer Botschaften entgegenzuwirken, hat die Gemeinschaft auch positive Feedbackformen
76 Wikipedia, Wikipedia: Five Pillars. 77 Elder-Vass, The Causal Power of Social Structures, Kapitel 6. 78 Ein hübsches Beispiel ist der Abschnitt »Werturteil aus dem Abschnitt zur Sprache
entfernen« auf der Diskussionsseite des Wikipedia-Artikels zu Pierre Bourdieu. Die Bearbeitenden sind sich uneins darüber, wie sie im Artikel unterschiedliche Kritik an Bourdieus Prosastil unterbringen sollen, und berufen sich dabei auf verschiedene Wikipedia-Normen. Siehe Wikipedia, Talk: Pierre Bourdieu. 79 Reagle, Good Faith Collaboration, S. 125–133.
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entwickelt: einfaches Lob für gute Beiträge, aber auch die etwas förmlichere Auszeichnung mit einem Barnstar, die jede/r Benutzer/in an jede/n anderen für besonders wertvolle Beiträge vergeben kann und der dann auf dessen oder deren Benutzerseite prangt.80 Wikipedias Grundprinzipien und Richtlinien mögen auf den ersten Blick eher als regulativ denn als appropriativ erscheinen, insofern ihr Fokus weniger auf der Allokation von Nutzen aus dem Projekt als vielmehr auf der Regulierung der Inhalte liegt, die auf Wikipedia erstellt werden. Wikipedia zeichnet sich klar durch eine Reihe typischer regulativer Praktiken aus, aber haben diese auch etwas mit Appropriation zu tun? In mindestens zweierlei Hinsicht durchaus: Erstens haben sie erheblichen Einfluss auf die Inhalte der Wikipedia-Artikel und tragen dazu bei, den Nutzen, der sich aus Wikipedia ziehen lässt, aufrechtzuerhalten, indem sie eine klare Vorstellung davon vermitteln, welche Art Inhalte in Wikipedia-Artikel gehören und wie diese präsentiert werden sollen. Zweitens betreffen sie die Qualität der Erfahrung beim Bearbeiten und damit die Frage, inwieweit die Beitragenden Nutzen aus ihrer Arbeit für Wikipedia ziehen. Einerseits fühlen sich Neulinge, die in die Arbeit hineinschnuppern, durch die regulativen Prozesse ausgeschlossen, was den erlebten Nutzen drastisch reduziert – insbesondere was das Gefühl angeht, einen sinnvollen Beitrag zu einem höheren Gut leisten zu können. Andererseits wächst vermutlich für Benutzer_innen, die das regulierende Verfahren verstanden und für gut befunden haben, der Nutzen, weil ihnen das Projekt, an dem sie teilhaben, so eher als lohnenswert erscheint. Regulierende Praktiken sind in produktiven Organisationen somit für die Appropriation durchaus relevant. Vielleicht können wir sie sekundäre Appropriationspraktiken nennen, insofern sie nicht direkt mit der Allokation von Nutzen zu tun haben, diese aber gleichwohl beeinflussen.
80 O’Sullivan, Wikipedia: a New Community of Practice?, S. 89.
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Qualität durch Technik sichern Wenn ich von Praktiken rede, nehme ich Handlungen von und Interaktionen zwischen Menschen in den Fokus. Doch obwohl diese auf Wikipedia und in den meisten anderen produzierenden Organisationen eine entscheidende Rolle spielen, blendet diese eng gefasste Sicht eine Reihe von kausalen Faktoren aus, die für die digitale und tatsächlich für die konventionelle Wirtschaft ebenfalls von großer Bedeutung sind: Nichtmenschliche, materielle und insbesondere technische Objekte spielen in den Ursächlichkeiten ebenfalls eine Rolle. Befassen wir uns dazu zunächst mit den »Vandalenjäger_innen« auf Wikipedia. Vandalismus wurde bereits erwähnt: Eingriffe in Wikipedia-Artikel, die allein in der Absicht geschehen, die Qualität der Inhalte zu verschlechtern, indem zum Beispiel nützliche Informationen gelöscht, fehlerhafte hinzugefügt oder Schmähungen oder unsinnige Äußerungen eingeschmuggelt werden. Vandalismus ist auf Wikipedia einfach zu bewerkstelligen. Tatsächlich wird er den jeweiligen Urheber_innen gerade durch jene technischen Abläufe leicht gemacht, dank derer jede/r Benutzer/in Wikipedia sinnvoll aktualisieren kann: Websites auf Wiki-Basis können direkt im Webbrowser verändert werden. Man könnte mutmaßen, dass die Menge der entstellenden Bearbeitungen die Menge der weitaus schwierigeren Bearbeitungen, die zur Erstellung von Qualitätsinhalten notwendig sind, leicht überflügeln und so zur Zerstörung des Projekts führen könnten. Normativer Druck hilft zwar mit, gutwillige Beitragende dazu zu bewegen, produktive anstatt destruktive Eingriffe vorzunehmen, beeindruckt aber kaum Außenstehende, die sich an der Website nur deshalb zu schaffen machen, um ihr zu schaden oder ein Einzelinteresse zu verfolgen. Allerdings verfügen Wikipedias Verteidiger über eine weitere Reihe technischer Werkzeuge, dank derer es letztlich einfacher ist, Vandalismus rückgängig zu machen, als ihn zu begehen. Dass es Diskussionsseiten und damit eine Abstimmung zwischen Beitragenden gibt, um normativen Druck zu erzeugen und Gegenmaßnahmen zu koordinieren, ist an sich schon ein Merkmal von Wiki-Technik. Daneben beinhaltet Wikipedias Technik aber noch eine Reihe weiterer Funktionen, die mit dazu beitragen, Vandalismus auszumerzen. Bei-
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tragende können Artikel, die sie besonders interessieren, in ihre Beobachtungsliste aufnehmen, die sie automatisch über jede Veränderung auf dem Laufenden hält. Jeder Eingriff in einen Artikel wird in dessen Versionsgeschichte dokumentiert, zu der man durch Anklicken des Reiters oben rechts gelangt und in der die Funktion »gewählte Versionen vergleichen« Eingriffe mühelos sichtbar macht. Über den Link »rückgängig« kann jede/r Bearbeiter/in eine ältere Version wiederherstellen. Auch ist zu jeder Veränderung der oder die Urheber/in mit dem jeweiligen Wikipedia-Benutzername oder, falls nicht registriert, die entsprechende IP-(Internet)Adresse festgehalten. Auf die Art lassen sich weitere Eingriffe desselben Benutzers oder der Benutzerin leicht nachvollziehen. Stößt ein/e Vandalenjäger/in auf einen entstellenden Eingriff, kann er oder sie so rasch überprüfen, ob der oder die betreffende Urheber/in weiteren Vandalismus begangen hat und die entsprechenden Veränderungen ebenfalls zurücksetzen. Wie ein Administrator erklärt, »kostet es rund zehn Klicks, um zu checken, ob ein Benutzer an weiteren Artikeln Vandalismus begangen und keine positiven Beiträge geleistet hat, um seine IP-Adresse oder seinen Benutzernamen zu sperren und alle seine mutwillig entstellenden Eingriffe rückgängig zu machen«.81 Ein besonders bekannter Fall des Umgangs mit Vandalismus folgte auf ein Experiment, das 2005 Alexander Halavais durchgeführt hatte. Um Wikipedia zu testen, schmuggelte er 13 Fehler in verschiedene Artikel ein. In knapp drei Stunden waren alle wieder beseitigt.82 Wahrscheinlich hatte der oder die Redakteur/in, der/die als erste/r einen entdeckt hatte, die gesamte Kette der übrigen zurückverfolgt und alle korrigiert. Die Technik im Kampf gegen Vandalismus ist mit der Zeit zusehends schlagkräftiger geworden. Unterstützende Redaktionsprogramme wie Huggle analysieren Bearbeitungen in Gruppen von Seiten, für die sich der oder jeweilige Benutzer/in interessiert, machen automatisch verdächtige Seiten aus, listen sie dem oder der Vandalenjäger/in auf und manchen sie rückgängig, sobald diese/r eine entspre81 Slashdot user taxman415a, zitiert in Rosenzweig, Can History Be Open Source?,
S. 133. 82 O’Sullivan, Wikipedia: a New Community of Practice?, S. 108.
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chende Schaltfläche anklickt.83 Daneben patrouillieren sogar vollautomatische Programme, sogenannte Bots, auf den Wikipedia-Seiten und setzten bestimmte Arten von Eingriffen automatisch zurück, zum Beispiel hinzugefügte Links zu bekannten Spam-Websites.84 Manche Arten irreführender Eingriffe sind schwieriger aufzuspüren. Und einige hielten sich bemerkenswert lang, bis sie entdeckt wurden – am bekanntesten der Fall Seigenthaler.85 Nichtsdestotrotz werden Fälle von Vandalismus in der überwiegenden Mehrzahl offenbar rasch wieder beseitigt. Auch wenn sich diese regulierenden Maßnahmen den weiter vorn erörterten Praktiken zurechnen lassen, ist klar, dass sie als kausale Erklärung allein völlig unzulänglich wären: Vandalismusbekämpfung ist nicht nur eine Praktik, die Menschen unter einer Reihe normativer Einflüsse betreiben, sondern eine, die ganz und gar vom Einsatz technischer Werkzeuge abhängt – und die von diesen schon vor Einführung von Programmen wie Huggle und Redaktions-Bots abhängig war. Der Erfolg der Vandalismusbekämpfung auf Wikipedia lässt sich nur als das Ergebnis eines kausalen Komplexes erklären, in dem Beitragende, Werkzeuge und Praktiken als eine soziomaterielle Struktur zusammenwirken.86 Solche Systeme haben insofern emergente Eigenschaften, als in ihnen das Zusammenwirken verschiedener Elemente eine Fähigkeit schafft, die außerhalb dieses Komplexes keine allein besitzen würde. Wikipedia sichert die Qualität ihrer Inhalte und damit den Wert für ihre Benutzer_innen folglich durch ein System, in dem Appropriationspraktiken und bestimmte technische Komponenten
83 Geiger / Ribes, The Work of Sustaining Order in Wikipedia, S. 121f. Die Autoren
beschreiben einen faszinierenden Fall, bei dem mehrere Vandalenjäger_innen diese Werkzeuge gemeinsam dazu einsetzten, einen Benutzer zu sperren, der über einen kurzen Zeitraum hinweg mehrere entstellende Bearbeitungen vorgenommen hatte. 84 Wikipedia, User:XL inkBot / FAQ. Bots werden auch eingesetzt, um konstruktive Eingriffe vorzunehmen, die eher als Routinearbeit anfallen, z. B. um inhaltlich aufeinander bezogene Seiten miteinander zu verlinken. 85 Dalby, The World and Wikipedia, Kapitel 7; O’Sullivan, Wikipedia: a New Community of Practice?, S. 108ff. 86 Niederer / van Dijck, Wisdom of the Crowd or Technicity of Content?.
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eine wesentliche Rolle spielen und sich wechselseitig ergänzen. Dieses Merkmal von Wikipedia ist keineswegs einzigartig: Technik leistet zu jedem Aspekt der Digitalwirtschaft und tatsächlich zur überwiegenden Mehrheit wirtschaftlicher Aktivität einen entscheidenden Beitrag. Und diese wechselseitige Abhängigkeit zwischen sozialen Strukturen und technischen Objekten ist in der Sozialtheorie allgemein von brennender Aktualität.
Leitung, Legitimität und Teilhabe Auch wenn Wikipedias Erfolg davon abhängt, dass ihre Artikel weiterhin hohe Qualitätsstandards erfüllen, und Maßnahmen zur Durchsetzung seiner Grundprinzipien dazu einen wichtigen Beitrag leisten, steht dieser Anspruch in einem Spannungsverhältnis zu einem anderen: Wikipedia braucht eine große und vielfältige Gemeinschaft aus Redakteur_innen, die sich ihren Zielen nachhaltig verpflichtet fühlen. Derzeit sind selbst Bots zum Aufspüren von Vandalismus nach wie vor Werkzeuge, die von menschlichen Beitragenden eingesetzt werden. Dass Wikipedia sich weiterentwickelt und erhalten bleibt, wird auf absehbare Zukunft nach wie vor vom Erhalt einer funktionierenden Gemeinschaft aus Redakteur_innen abhängen, selbst wenn Automatisierung eine immer größere Rolle spielt. In der Frühzeit von Wikipedias Entwicklung stieg die Anzahl der Redakteur_innen rasant an, von null 2001 bis auf über 51000 aktive Benutzer_innen der englischen Ausgabe in deren Hochzeit 2007.87 Während der Kreis der Beitragenden anderssprachiger Ausgaben weiter wächst, ging die Anzahl der englischsprachigen Beitragenden nach ihrem Spitzenwert bis Mitte 2014 schrittweise auf rund 30000 zurück.88 Wahrscheinlich durch diese Schrumpfung bedingt, sank in ähnlichem Umfang auch die Anzahl an neu verfassten Artikeln. Ein gewisser Rückgang bei beiden mag verkraftbar sein und ist wohl sogar ein Symptom für eine reifere Herangehensweise an Wikipedias In87 Morgan u. a., Tea and Sympathy, S. 839; Wikimedia, English Wikipedia at a Glance. 88 Ebenda.
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halte – eine unvermeidliche Entwicklung, da mit der steigenden Anzahl an Artikeln der Bedarf an neuen immer mehr sinkt, weil auszufüllende Lücken geschlossen werden. Dennoch besteht weiterhin Bedarf an anderen Aktivitäten, einschließlich der, bestehende Artikel qualitativ zu verbessern und die Enzyklopädie vor Vandalismus zu schützen, sodass die Community der Redakteur_innen in einer bestimmten Größenordnung aufrechterhalten bleiben muss. Unbezahlte Arbeit, selbst angenehme, wird dauerhaft nur dann geleistet werden, wenn die einhergehenden unbefriedigenden Aspekte gegenüber den erfüllenden nicht überwiegen. Wikipedias Normen leisten einen erheblichen Beitrag dazu, für die Redakteur_innen ein relativ angenehmes Umfeld aufrechtzuerhalten, insbesondere das Grundprinzip »des Anstands« – eine der fünf Tragsäulen –, das von den Beitragenden verlangt, dass sie anderen »mit Respekt und Rücksicht« begegnen und Kränkungen vermeiden.89 Aber ein weiterer zentraler Faktor für eine kontinuierliche Mitarbeit ist die Wertschätzung, die sie dem größeren Unternehmen entgegenbringen, an dem sie beteiligt sind. Anders ausgedrückt: Ehrenamtlich Engagierte leisten ihre Arbeit nur dann, wenn sie von der Legitimität des Projektes und seiner Organisation überzeugt sind. Hier sind zwei Faktoren besonders bedeutsam: die Leitung/Führung (governance) des Projekts und die Art Nutzen, die andere aus ihm ziehen. Wikipedia ist ein faszinierendes Managementexperiment. Trotz ihrer Anfänge als Ableger eines kommerziellen Unternehmens von Jimmy Wales entwickelte sich Wikipedia zu einem gemeinnützigen Projekt mit einzigartigen Abläufen in der Führung. Diese teilt sich zwischen der Wikimedia Foundation und Wikipedias Redakteur_innen auf. Die Stiftung stellt Wikipedia notwendige Ressourcen zur Verfügung, indem sie Spenden einsammelt und mit ihnen Server, Datenübermittlung, nichtredaktionelle Mitarbeiter und weitere Betriebskosten finanziert. Dagegen treffen die Redakteur_innen Beschlüsse zu Wikipedias Inhalten und den Abläufen zu deren Erstellung. Wie diese Entscheidungen in der laufenden Redaktionsarbeit funktionieren, haben wir gesehen. Dabei ist bemerkenswert, dass auch Wikipedias Po89 Wikipedia, Wikipedia: Civility.
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litikgestaltung demselben Modell folgt. Wie wir gesehen haben, sind sämtliche Grundprinzipien und Richtlinien in Wikipedias Namensraum in Artikeln festgehalten, die wie andere Wikipedia-Seiten ebenfalls zur Bearbeitung und Diskussion zur Verfügung stehen. Die Führungsabläufe zeigen folglich interessante Ähnlichkeiten zu Habermas’ Modell der diskursiven Demokratie, in dem alle Stimmen Gehör finden können und Diskussionen so lange anhalten, bis ein (notwendigerweise vorläufiger) Konsens erzielt wird, geleitet vom Zwang des Arguments anstatt von der jeweiligen Macht der Teilnehmer_innen.90 Dieser Grundsatz unterscheidet sich deutlich vom Mehrheitsprinzip, das unser gegenwärtiges Verständnis von Demokratie gewöhnlich beinhaltet. Tatsächlich hebt Wikipedia vor diesem Hintergrund darauf ab, dass sie sich nicht als Demokratie im herkömmlichen Sinn versteht: »Ihr vorrangiges (aber nicht ausschließliches) Mittel der Entscheidungsfindung und Konfliktlösung ist Redaktion und Diskussion, die zu Konsens führt – keine Abstimmung.«91 Dahinter steht die Absicht, dass Mehrheiten Minderheiten nicht einfach unterdrücken, sondern eine Übereinkunft erzielen sollen, welche die Interessen beider widerspiegelt. Diese Aufgabe bedeutet in jedem Kontext eine Herausforderung, aber wenn die Beitragenden Wikipedias Grundprinzip des »neutralen Standpunkts« akzeptieren, entfallen einige Hindernisse auf dem Weg zu einer Einigung zwischen den Vertreter_innen unterschiedlicher Sichtweisen und Interessen: Die Aufgabe besteht schlicht in einer Einigung dazu, wie verschiedene Standpunkte dargestellt, nicht welcher Standpunkt bezogen werden soll, da sich Wikipedia-Artikel keinen Standpunkt zu eigen machen sollen. Dieser Führungsprozess (process of governance) trägt erheblich zu Wikipedias Legitimierung bei den Bearbeitenden bei, weil Ausübung von Macht im Prinzip insofern eine relativ marginale Rolle spielt, als er offen für alle und auf Einbeziehung ausgerichtet ist. Dies bedeutet 90 Elder-Vass, Realist Critique without Ethical Naturalism or Moral Realism, S. 50;
Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln; ders., Erläuterungen zur Diskursethik; Hansen u. a., Wikipedia, Critical Social Theory, and the Possibility of Rational Discourse. 91 Wikipedia, Wikipedia: What Wikipedia is Not. Siehe auch Wikipedia, Wikipedia: Was Wikipedia nicht ist.
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nicht, dass innerhalb von Wikipedia keine Macht ausgeübt wird. Für Redakteur_innen am deutlichsten spürbar ist die anderer Redakteur_innen, die ihre Beitrage rückgängig machen oder abändern können. Auch wenn alle im Prinzip gleichrangig agieren, setzen sich in sogenannten Edit-Wars, in »Bearbeitungskriegen«, mit größerer Wahrscheinlichkeit diejenigen Beitragenden durch, die mehr Zeit haben, entschlossener auftreten und über bessere Kontakte zu Unterstützenden verfügen oder die sich manchmal einfach nur mit größerer Sturheit und Arroganz Geltung verschaffen – und demotivieren damit andere.92 An zweiter Stelle des Einflusses kommen die Administrator_innen,93 die im Prinzip über keine größeren redaktionellen Befugnisse verfügen, sondern lediglich in Streitfällen Wikipedias Grundprinzipien durchsetzen sollen.94 Obwohl auch für sie das Konsensprinzip gilt, haben Beitragende immer wieder den Eindruck, dass ein/e voreingenommene/r Administrator/in gegen sie Partei ergreift. Zu den weiteren Strukturen zählt insbesondere der Vermittlungsausschuss, der Streitigkeiten zwischen Administrator_innen schlichtet und Einsprüche gegen ihre Entscheidungen behandelt, der allerdings auch »der englischsprachigen Website nur allzu oft als allgemeineres Entscheidungsgremium zu dienen scheint«.95 Und schließlich hat auch Jimmy Wales, Wikipedias Mitbegründer und ursprünglicher Geldgeber, eine beachtliche Macht als Vorstandsmitglied der Wikimedia Foundation, die letztlich »die Rechtsaufsicht über Wikipedia führt und für sie haftet«.96 Allerdings hat er deren Ausübung schrittweise zurückgefahren. Wales schaltet sich generell nur dann ein, wenn er es zur Verteidigung des größeren Projektes als absolut notwendig erachtet – zum Beispiel um juristischen Drohungen zu begegnen.97 Joseph Reagle bezeichnete Wales’ Rolle als »auktoriale Führung«, ein Modell, das auch die Open-Source-Bewegung kenn92 Siehe hierzu die Kommentare in: Schofield, Have You Stopped Editing Wikipedia?. 93 Mit Stand Januar 2015 füllten für die englischsprachige Wikipedia 1373 aktive Mit94 95 96 97
glieder diese Rolle aus. Siehe Wikipedia, Wikipedia: Administrators. Reagle, Good Faith Collaboration, S. 125f. Forte u. a., Decentralization in Wikipedia Governance, S. 56. Wikipedia, Wikipedia: Consensus. Reagle, Good Faith Collaboration, Kapitel 6.
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zeichnet, in der Einzelne, die eine führende Rolle dabei spielten, ein Projekt zu realisieren und weiterzuführen, in der betreffenden Community besonderes Ansehen genießen: Deswegen erscheint es legitim, wenn sie gelegentlich zu autokratischen Machtmitteln greifen, solange klar ist, dass es den umfassenderen Interessen des Projektes dient.98 Wales pflegt einen sehr lockeren Führungsstil, der laut einer tonangebenden Administratorin »hauptsächlich unterstützend wirkt. Sehr wenig Anweisung, aber sehr viel Unterstützung«.99 Heute, rund 14 Jahre nach Gründung von Wikipedia steht die Wikipedia-Gemeinschaft nach wie vor hinter ihm. Aber auch wenn sein Führungsstil mithilft, Wikipedia bei den Beitragenden Legitimität zu verschaffen, ist diesem Empfinden auf längere Sicht – und insbesondere wenn Wales’ Amtszeit endet – möglicherweise eher mit einer demokratischeren Führungsstruktur gedient, in der die Wikipedia-Gemeinschaft das Büro der Wikimedia Foundation kontrolliert anstatt umgekehrt. Als zweitwichtigstes Problem der Legitimität stellt sich die Frage, wer von Wikipedia profitiert. Ein Grund für die Bereitschaft der Beitragenden, unentgeltlich für das Projekt zu arbeiten, ist die Überzeugung, dass ihre ehrenamtlichen Leistungen von niemandem kommerziell zweckentfremdet werden. Sie empfinden es als befriedigend, Inhalte zum Nutzen einer Masse anonymer Benutzer_innen zu erstellen, aber wie der bereits erörterte Fall der spanischsprachigen Wikipedia zeigt, würde es zumindest einigen, verärgern, wenn ihre Arbeit durch Werbung auf der Website mit kommerziellen Interessen verquickt würde. So teilte zum Beispiel der Redakteur RodW dem New Statesman mit, dass er sich unter solchen Umständen auf keine Mitarbeit eingelassen hätte: »Es verändert den Vertrauensmechanismus.«100 Obwohl für die Möglichkeit von Werbung anfangs offen, erkennt Wales inzwischen an, dass Anzeigen »die DNA der Organisation« schädigen würden – wegen des entstehenden Drucks, ihre Inhalte nach den Bedürfnissen von Werbekunden auszurichten.101 Sorge be98 99 100 101
Ebenda, S. 118f. User Anthere, zitiert in ebenda, S. 131. Bernstein, Wikipedia’s Benevolent Dictator, S. 36. Ebenda.
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reiten den Beitragenden dabei nicht nur mögliche Einflussnahmen auf Inhalte, sondern auch die Tatsache, dass das Ideal eines nichtkommerziellen, gemeinnützigen Projektes in Gefahr geraten könnte.102 Weder der Gedanke, dass Webkunden davon profitieren, wenn sie ihre Produkte in Verbindung mit Wikipedia-Artikeln anpreisen, noch die Vorstellung, dass Wikipedia selbst als gewinnorientiertes Unternehmen betrieben wird, erscheint den Beitragenden, die von den oben genannten Vorstellungen angetrieben werden, in irgendeiner Weise reizvoll. Die Gemeinschaft der Wikipedianer_innen wird folglich durch eine Mischung aus Praktiken zusammengehalten, die ihren Bedürfnissen und Motivationen als Ehrenamtliche entgegenkommen. Normative Grundprinzipen und Richtlinien dienen dazu, diese Praktiken so zu regulieren, dass unnötige Konflikte vermieden und Diskussionen über die Beiträge in gegenseitigem Respekt und für alle offen geführt werden. Praktiken der Entscheidungsfindung sind so ausgelegt, dass sie möglichst alle einbeziehen und einen Konsens erzielen. Kommerzielle Praktiken bleiben bewusst ausgeschlossen, um die Legitimität des Projekts für die Autor_innen und Redakteur_innen aufrechtzuerhalten. All diese Praktiken berühren den Nutzen, die diese aus ihrer ehrenamtlichen Arbeit ziehen, indem sie ihr Gefühl stärken, dass sie zu einem lohnenswerten Projekt beitragen, und die unangenehmen Aspekte von Konflikten minimieren. Auch wenn das tatsächliche Verhalten auf der Website mitunter gegen die normativen Standards verstößt – dieser Faktor hat offenbar erheblich zum Rückgang der Anzahl an aktiven Benutzer_innen beigetragen –,103 bleibt einzuräumen, dass sich Konflikte wegen unsinniger Beträge kaum vermeiden lassen. Die Qualität aufrechtzuerhalten und gleichzeitig neuen Beitragenden Mut zu machen, wird stets ein schwieriger Balanceakt bleiben. Um das Problem dauerhaft zu bewältigen, muss Wikipedias Modell am Ende vielleicht in einigen Aspekten abgewandelt werden, zum Beispiel durch eine Sperrung ausgereifterer Artikel zum Schutz vor unqualifizierten Eingriffen. Was die Zukunft auch bringt, bislang leistete Wikipedia Bemerkenswertes dabei, Führungspraktiken (governance practises) aufzu102 O’Sullivan, Wikipedia: a New Community of Practice?, S. 107. 103 Morgan u. a., Tea and Sympathy; Wikimedia, English Wikipedia at a Glance.
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bauen, die nicht nur eine Enzyklopädie, sondern auch eine Gemeinschaft von Redakteur_innen zusammenhalten.
Schlussfolgerung Wie Apple hat Wikipedia bemerkenswerte Erfolge vorzuweisen, die das Projekt wie Apple teilweise dem Nutzen verdankt, den es den Konsument_innen seiner Produkte spendet. Und wie hinter Apple steckt hinter Wikipedia ein sorgsam konzipierter, sich aber weiterentwickelnder Komplex aus ineinandergreifenden Appropriationspraktiken. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. Anstatt aus ihrem Ökosystem maximalen Profit zu ziehen, zielen Wikipedias Praktiken darauf ab, ihren Benutzer_innen eine Online-Enzyklopädie in bestmöglicher Qualität zur Verfügung zu stellen und dabei eine Gemeinschaft ehrenamtlicher Beitragender – und damit sich selbst – zusammenzuhalten und zu motivieren. Wikipedia braucht keine Vermarktungsstrategie, um Beschäftigte und Vertragspartner_innen auszubeuten, ihre Benutzer_innen einer strengen Kontrolle zu unterwerfen oder bis an die Grenze der Legalität Steuern zu vermeiden. Stattdessen kann sie ihre Energien auf ihr Produkt und dessen Produzierende konzentrieren. Damit liefert sie den umfassenden Beweis für die Möglichkeit, kostenlos Nutzen von hoher Qualität bereitzustellen und eine effizient arbeitende Organisation zu betreiben, die auf dezentralisierter und diskursiv organisierter Zusammenarbeit beruht. Wikipedias wichtigste Appropriationspraktiken bestehen darin, Produkte als Geschenke zu transferieren, Betriebskosten durch Spenden zu finanzieren, ihr Produkt ehrenamtlich herzustellen, Produktion dadurch zu koordinieren, dass die Aufgaben selbst gewählt werden, zwischen den Beitragenden einen respektvollen und offenen Diskurs zu organisieren und hierarchische und direktive Macht zu minimieren. Obwohl bei Weitem nicht perfekt, liefert Wikipedia in der Bilanz ein inspirierendes Modell, wie eine digitale Gabenökonomie funktionieren kann – und eines, das in den eng gefassten wirtschaftlichen Kategorien der Mainstream-Ökonomie wie auch der marxistischen politischen Ökonomie praktisch undenkbar ist.
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Das bedeutet nicht, das sich Wikipedias Modell nach Lage der Dinge auf breiter Basis kopieren ließe: Es verdankt seine Entwicklung einer Reihe besonderer Technologien, insbesondere Wiki-Software, die es ermöglicht, Websites öffentlich zu bearbeiten und mit ihnen verbundene Diskussionsräume einzurichten. Wegen der engen Einbindung von Technik in die Herstellung der Wikipedia-Artikel müsste ein Projekt, bei dem eine andere Art von Produkt hergestellt wird, zwangsläufig anders koordiniert werden, wenn auch vorzugsweise getreu dem diskursiven demokratischen Geist, der Wikipedias Koordinierungsprozesse auszeichnet. Trotz ihrer eindrucksvollen Leistungen steht Wikipedia nur für einen möglichen Weg, wie sich ein geschenkbasiertes Produktionsmodell organisieren lässt, während das breite Spektrum an weiteren möglichen Modellen erkundet werden müsste, um zu einem umfassenderen Verständnis des Potenzials zu gelangen, das die Gabenökonomie bereithält. Die Abhängigkeit von Wikipedias Organisationsform von ihrer speziellen Technologie stützt auch den in diesem Kapitel vertretenen Standpunkt, nach dem soziale Praktiken für Wirtschaftsformen zwar entscheidend, aber stets auch wechselseitig von materiellen Technologien abhängig sind. Wikipedia ist ein soziotechnisches System, das soziale Praktiken und technische Infrastruktur erfordert. Diese Infrastruktur wurde in ihrer Entwicklung zumeist zielgerichtet auf Wikipedias Anforderungen zugeschnitten, und tatsächlich wurde auch die zugrunde liegende Wiki-Technologie zum Zweck entwickelt, Texte öffentlich bearbeiten zu können,104 sodass auch umgekehrt die Technologie ein Stück weit vom sozialen Prozess abhängt. Andererseits hat sie Möglichkeiten für soziale Interaktion und für neue Arten von Arbeit geschaffen, die es ohne sie nicht gäbe. Damit spielte sie als Kausalfaktor eine wichtige Rolle bei Wikipedias Erfolg und der Schaffung eines neuen Potenzials für unentfremdete Arbeit. Allgemeiner können wir sagen, dass die Entwicklung des Web und der Wiki-Technologie dazu beigetragen hat, Informationsgüter deutlich einfacher und wirtschaftlicher kostenfrei bereitzustellen –
104 Reagle, Good Faith Collaboration, S. 5.
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mit einschneidenden Folgen für die bestehende Informationswirtschaft. Da sich Informationsquellen nur noch schwer als Waren verkaufen, wenn sie dank der digitalen Gabenökonomie in vergleichbarer Form kostenlos zur Verfügung gestellt werden, sind die kapitalistischen Unternehmen, die auf diesem »Marktplatz« operieren, unter einen enormen Druck geraten. Wikipedia selbst ist es gelungen, eine nennenswerte Verflechtung mit kapitalistischen Unternehmen zu vermeiden, obwohl ihr Mitbegründer und »wohlmeinender Diktator« noch immer ein gewinnorientiertes Unternehmen leitet, das in einem eng verwandten Bereich operiert. Zweifellos nutzt das Projekt indirekt auch einigen kommerziellen Unternehmen, darunter Netzwerkbetreibern, denen alle Websites Datenverkehr verschaffen, und kommerziellen Websites, auf die über Links auf Wikipedia zugegriffen wird, aber eine direkte Verflechtung wurde aus Rücksicht auf seine Beitragenden sorgsam vermieden. Insofern liefert Wikipedia für die digitale Gabenökonomie ein Beispiel, wie es in unserem gegenwärtigen wirtschaftlichen Umfeld reiner nicht vorstellbar ist.
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Verteilt Google Geschenke?
Einführung Die Gabenökonomie und kapitalistische Wirtschaftsformen erscheinen zwar radikal verschieden, doch in der Praxis haben kapitalistische Unternehmen viele Wege gefunden, mittels Geschenken ihre Gewinne zu steigern. In diesem und dem nächsten Kapitel betrachten wir zwei daraus resultierende wirtschaftliche Mischformen, die sich im digitalen Raum entwickelt haben. Im nächsten Kapitel schauen wir uns Unternehmen an, die Geschenke von gewöhnlichen Nutzer_innen entgegennehmen. In diesem Kapitel geht es zunächst um Geschenke – oder etwas Ähnliches wie Geschenke –, die ein Unternehmen an seine Nutzer_innen verteilt; in der Praxis überlappen sich beide Formen. In diesem Kapitel konzentrieren wir uns auf Googles enorm profitable Verbindung von kostenlosen Dienstleistungen und gezielter Werbung – eine Verbindung, die davon abhängt, dass Google die kostenlosen Dienstleistungen nutzt, um Daten über seine Nutzer_innen zu sammeln. Geschäftsmodelle wie dieses, bei denen Lohnarbeit nur eine marginale Rolle spielt, weil die entscheidenden Prozesse überwiegend automatisiert durch Technologie abgewickelt werden, illustrieren, dass die traditionelle marxistische Analyse des Kapitalismus obsolet ist. Aber Googles Modell zeigt auch die Grenzen der MainstreamÖkonomie auf: Welche Bedeutung hat Preiswettbewerb auf einem »Markt«, wenn das Produkt kostenlos ist? Weder die eine noch die andere etablierte Tradition der politischen Ökonomie ist dafür gerüstet, eine solche Form der Wirtschaftstätigkeit zu erklären, aber wir können sie aus der Perspektive interagierender Appropriationspraktiken erklären, wie in diesem Kapitel ausgeführt wird. Wir beginnen mit einem Blick auf Googles Angebot für die Inter-
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netsuche und bringen es dann mit dem Konzept der Anreizgeschenke zusammen: Geschenke, die den Empfänger oder die Empfängerin zu Handlungen veranlassen sollen, die dem oder der Schenkenden Nutzen bringen. Google ist Meister in der Kunst, Werbung im Netz hocheffizient einzusetzen; durch eine Reihe von Strategien sorgt es dafür, dass die Nutzer_innen seiner Suchmaschine treu bleiben, und ist dabei gleichzeitig bestrebt, die oft negativen Wirkungen von Werbung möglichst gering zu halten: zwei Ziele, die häufig in Spannung zueinander stehen. Wir untersuchen zunächst die Spannungen und befassen uns dann mit den Themen Personalisierung und Datenschutz, die Googles Techniken aufwerfen. Abschließend fügen wir die einzelnen Teile zusammen zu einem Bild des Komplexes von Appropriationspraktiken, mit dem Google Gewinne erwirtschaftet und der hinter seiner Suchmaschine steht, die ein Großteil der Internetnutzer_innen einsetzt.
Internetsuche und Werbung Googles enorme Gewinne haben dem Unternehmen erlaubt, sich in viele andere Bereiche zu verzweigen, aber die Internetsuche ist die Hauptquelle seiner Erträge und immer noch der Kern seines Geschäftsmodells. Google nutzt automatische Programme, sogenannte Webcrawler oder Spider, die Webseiten analysieren, über Links von einer Webseite zu weiteren gelangen und auf ihrem Weg durch das Web Informationen über die Seiten sammeln. Die gesammelten Informationen dienen dazu, einen Index anzulegen mit Einträgen für jedes Wort auf allen gefundenen Seiten. Die Nutzer_innen geben auf der Webseite des Providers ein Wort oder eine Wendung in die Suchmaske ein, und die Suchmaschine erstellt anhand des Index eine Liste aller Webseiten, auf denen dieses Wort oder diese Wendung vorkommt.1 Den vielleicht wichtigsten Unterschied zwischen den einzelnen Suchanbietern machen ihre Algorithmen zum Ranking der gefundenen Seiten aus: der Teil der Suchmaschine, der darüber entscheidet, in welcher Reihenfolge die Ergebnisse den Nutzer_innen präsentiert 1 Genaueres dazu bei Battelle, Die Suche, S. 32–38.
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werden. Googles explosionsartiges Wachstum war hauptsächlich deshalb möglich, weil die Unternehmensgründer Sergey Brin und Larry Page einen innovativen, leistungsfähigen Algorithmus entwickelten.2 Ihr Algorithmus, PageRank, ordnet die Suchergebnisse danach, wie viele Links von anderen Seiten auf eine bestimmte Seite führen (diese grundlegende Regel wurde im Laufe der Zeit immer weiter verfeinert). Dieses Verfahren geht auf die wissenschaftliche Gepflogenheit zurück, die Bedeutung einer Veröffentlichtung daran zu bemessen, wie häufig sie von anderen Wissenschaftler_innen zitiert wird. Entsprechend nahmen Page und Brin an, die wichtigsten Seiten müssten diejenigen sein, auf welche die meisten anderen Seiten verlinken; deshalb setzt Google diese Seiten ganz oben auf die Liste seiner Suchergebnisse. Auch wenn die Ergebnisse nicht unbedingt die nützlichsten sind, weil sie nach einer Faustregel zusammengestellt werden, fanden Googles frühe Nutzer_innen insgesamt dieses Verfahren hilfreicher als die Algorithmen anderer Suchmaschinen. Mittlerweile verwenden viele andere Suchmaschinen Googles PageRank-Algorithmus, doch seinen Ruf, der nützlichste Suchmaschinenanbieter im Web zu sein, begründete Google mit dem frühen Einsatz dieser Technologie. Google begann als experimentelles Projekt von Studenten im Jahr 1996, 1998 erfolgte die Unternehmensgründung, 2000 verdiente es erstmals Geld, 2001 war es bereits profitabel, und die Gewinne wuchsen schnell.3 Heute dominiert Google in den meisten Ländern der Welt die Internetsuche. Laut einem Bericht war Google 2013 in 27 von 31 wichtigen Ländern der beliebteste Suchanbieter, und in 24 Ländern entfiel ein Anteil von 88 Prozent und mehr des Such-»Marktes« auf Google.4 Nur in China, Russland und Südkorea waren andere Suchmaschinen populärer. In den Anfängen der kommerziellen Aktivitäten im Netz ging man allgemein davon aus, dass Unternehmen, die große Zahlen von
2 Ebenda, S. 93–97. 3 Levy, Google inside, S. 27, 47, 91f. 4 Return on Now, 2013 Search Engine Market Share by Country.
In einem der vier anderen Länder war es die Suchmaschine hinter dem beliebtesten Internetprovider.
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Besucher_innen auf ihre Websites zogen, auch Gewinne erwirtschaften würden. Deshalb wurden Unternehmen, die trotz eines hohen Aufkommens an Besucher_innen Verluste schrieben, dennoch von Risikokapitalgeber_innen und sogar auch vom Aktienmarkt mit hohen Investitionen bedacht.5 Viele mussten um ihre Einnahmen erbittert kämpfen. Ihre Versuche, aus ihren Besucherzahlen Profit zu ziehen, indem sie Werbefläche auf ihren Seiten verkauften, gerieten zunächst zum kommerziellen Desaster. Werbetreibende glaubten nicht daran, dass Werbung im Netz kosteneffizient sein könnte, weil Anzeigen im Netz nicht genug Kundenkontakte generierten. Das hing wiederum damit zusammen, dass es nicht gelang, die Werbung für die Nutzer_innen, denen sie präsentiert wurde, relevant zu machen. Websites versuchten das zu kompensieren, indem sie ihre Werbung aufdringlicher gestalteten – zum Beispiel mit Pop-up-Fenstern, Bannern, die einen Großteil des Bildschirms ausfüllten, und mit animierten Bannern –, aber damit verärgerten sie die Nutzer_innen oft, die manchmal sogar zu anderen Websites wechselten, um der Werbung zu entgehen. Vor diesem Hintergrund führte Google im Jahr 2000 auf seinen Suchseiten Werbung ein, die es aber anders präsentierte als die meisten Konkurrenten.6 Google hob sich von anderen durch das Bemühen ab, Werbung weniger aufdringlich und gleichzeitig nützlicher zu machen. Die bezahlten Werbeanzeigen auf den Seiten mit den Suchergebnissen sehen nach Stil und Größe ähnlich aus wie die organischen Suchergebnisse, beide erscheinen in einem einfachen, textbasierten Format (allerdings tauchen in den letzten Jahren in manchen Anzeigen und bei manchen Suchergebnissen auch sehr kleine Bilder auf). Solche Anzeigen sind sicher unaufdringlich, können aber auch leicht mit den organischen – also anhand von Qualitätskriterien erstellen – Suchergebnissen verwechselt werden. Manche Suchmaschinenanbie5 Ein sehr gutes Beispiel war priceline.com, ein Reiseportal, das 1999 auf dem Höhe-
punkt des Dotcom-Booms in Amerika an den Start ging. Am Ende des ersten Handelstages an der Börse wurde das Unternehmen mit 10 Milliarden Dollar bewertet, obwohl es bei einem Umsatz von lediglich 35 Millionen Dollar einen operativen Verlust einfuhr. Siehe dazu Cassidy, Dot.con, S. 2–6, S. 214–217. 6 Battelle, Die Suche, S. 149–152.
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ter wurden dafür kritisiert, dass sie diese organischen Suchergebnisse mit bezahlten vermischen, ohne auf den Unterschied hinzuweisen, und so Nutzer_innen möglicherweise in die Irre führen.7 Google hat das Problem vermieden, weil bezahlte Anzeigen an anderer Stelle, in anderer Farbe oder auf andere Weise etwas abgehoben auf der Seite erscheinen und dadurch von den Suchergebnissen klar und einfach unterschieden sind. Googles Modell ist außerdem darauf ausgelegt, Nutzer_innen Anzeigen zu zeigen, die sie wahrscheinlich hilfreich finden und nicht als ärgerliche Ablenkung betrachten. In einem späteren Abschnitt werden wir diese Fragen eingehender diskutieren; an dieser Stelle ist wichtig, dass Google eine Formel gefunden hat, Internetwerbung so zu präsentieren, dass sie Nutzer_innen nicht verärgert und sogar als ein Teil der Internetsuche erscheinen kann. Google hat auch Wege gefunden, seine Dienstleistung für Werbetreibende immer attraktiver zu machen. Einem Modell folgend, das GoTo.com eingeführt hat, begann Google 2002, Werbung nach der Klickrate zu berechnen und nicht nach den Impressions; gewissermaßen nach dem Prinzip »Klicks statt Blicke«: Werbetreibende müssen nicht für jedes Mal bezahlen, wenn ihre Werbung gezeigt wird, sondern nur, wenn Nutzer_innen tatsächlich von der Werbung auf die Website des oder der Werbetreibenden klicken.8 Die Werbetreibenden haben damit sofort viel größeres Vertrauen, dass ihr Geld wirklich gut angelegt ist, und für die ursprüngliche Website – in dem Fall Google – ist es ein Anreiz, die Zahl der Klicks dadurch zu steigern, dass die Werbung für die Nutzer_innen so attraktiv wie möglich gestaltet wird. Seiten mit Suchergebnissen sind das ideale Umfeld dafür: So sind beispielsweise Nutzer_innen, die nach »Bassgitarrensaiten« suchen, naheliegenderweise potenzielle Käufer_innen für Bassgitarrensaiten und ähnliche Produkte. Wenn Google Anzeigen für derartige Produkte auf den Seiten mit den Suchergebnissen platziert, steigen die Chancen, dass diese Werbung angeklickt wird: Die Werbung basiert auf den zum jeweiligen Zeitpunkt bekannten Absichten der Nutzer_innen.9 7 Zu dem Beispiel GoTo siehe Levy, Google inside, S. 114f. 8 Battelle, Die Suche, S. 128f., S. 170ff.; Levy, Google inside, S. 114–119. 9 Battelle, Die Suche, S. 200ff.
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Zweitens hat Google, ebenfalls nach dem Modell von GoTo, ein Auktionssystem namens Adwords eingeführt. Dort ersteigern Werbetreibende die Möglichkeit, ihre Werbung neben den Suchergebnissen zu einem bestimmten Begriff zu präsentieren, müssen aber nur dann bezahlen, wenn die Werbung tatsächlich angeklickt wird. Werbetreibende können jederzeit bieten: Googles Suchmaschine spuckt bemerkenswerterweise nicht nur eine Liste mit maßgeschneiderten »organischen« Suchergebnissen aus, sondern startet in Echtzeit auch eine Auktion für die bezahlte Werbefläche auf der Ergebnisseite des Nutzers oder der Nutzerin, üblicherweise innerhalb eines Sekundenbruchteils.10 Die Abgabe von Geboten erfolgt ebenfalls online. Potenzielle Werbetreibende können für eine kleine Zahl von Klicks bieten oder für Klicks von Nutzer_innen aus einer begrenzten Region. Deshalb ist dieses Verfahren für den »langen Schwanz« kleiner lokaler Unternehmen genauso interessant wie für größere Werbetreibende, die von den herkömmlichen Medienunternehmen hofiert wurden. Auf diese Weise konnte Google Werbung zeigen, ohne seine Nutzer_innen zu vertreiben, und zwar solche Werbung, die relativ hohe Klickraten garantierte, mit dem Ergebnis, dass es als erstes Unternehmen im Web mit Werbung signifikante Einnahmen erzielte. Und diese Einnahmen sind seither stark gewachsen. 2014 verdiente Google 45 Milliarden Dollar mit dem Verkauf von Werbung auf seinen Websites, hauptsächlich auf den Seiten mit Suchergebnissen, aber beispielsweise auch bei seinem E-Mail-Angebot und bei YouTube, und weitere 14 Milliarden Dollar durch den Verkauf von Werbung auf anderen Websites (ein Dienst namens AdSense). Aus beiden Quellen stammten 89 Prozent des gesamten Umsatzes von Google.11 Rund 25 Prozent davon (16,5 Milliarden Dollar) blieben als Gewinn übrig. Mitte 2015 verfügte Google dank dieser Umsätze und der Erwartungen von Investoren hinsichtlich der künftigen Umsatzentwicklung über die zweithöchste Marktkapitalisierung weltweit.12
10 Levy, Google inside, S. 121f. 11 Google, 2014 Financial Tables. 12 Forbes, The World’s Biggest Public Companies.
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Im Laufe der Zeit stimmte Google die Werbung immer besser auf die Zielgruppen ab, vor allem personalisierte es die Werbung immer präziser für die einzelnen Nutzer_innen. Die Auswirkungen werden in späteren Abschnitten genauer untersucht, aber die Kernelemente dieses hier wirksamen Komplexes von Appropriationspraktiken sind bereits deutlich. Erstens bietet das Unternehmen eine kostenlose Dienstleistung, die viele Nutzer_innen attraktiv finden. Zweitens setzt es diese Dienstleistung für zwei Dinge ein, die es zu einem idealen Werbeträger machen: Es sammelt Informationen darüber, was Nutzer_innen in einem bestimmten Augenblick interessiert, und bindet deren Aufmerksamkeit lange genug, um Werbung einzublenden, die diesem Interesse entgegenkommt. Drittens ermöglicht dies dem Unternehmen, Werbefläche zu hohen Preisen zu verkaufen, die die Qualität der daraus resultierenden Kundenkontakte widerspiegeln.
Schenkkapitalismus? Sind Googles kostenlose Dienstleistungen Geschenke an die Nutzer_innen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst etwas länger mit dem Wesen und mit unterschiedlichen Arten von Geschenken befassen; dabei greifen wir auf die Diskussion in Kapitel 4 zurück. Geschenke sind manchmal selbstlose Akte der Großzügigkeit, und manchmal dienen sie dazu, Netzwerke mit gegenseitigen Verpflichtungen zu knüpfen, aber sie können auch noch viele andere Formen und Zwecke haben. Wie wir in Kapitel 5 gesehen haben, bezahlen beispielsweise bestimmte kommerzielle Software-Unternehmen Programmierer, um einen Code zu schreiben, der dann kostenlos für Open-Source-Projekte wie Linux zur Verfügung gestellt wird.13 Das ist zwar ein Geschenk, weil die entstandene Open-Source-Software kostenlos abgegeben wird, aber die dahinter stehenden Motive sind hauptsächlich gewinnorientiert. IT-Dienstleistungsunternehmen, die an einem Open-Source-Produkt mitarbeiten, sammeln enormes Ex13 Cammaerts, Disruptive Sharing in a Digital Age; Elder-Vass, Commerce, Commu-
nity and Digital Gifts.
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pertenwissen, um Unternehmen, die das Produkt nutzen wollen, Support und Integrationsservices zu bieten. Sie können zum Beispiel Aktualisierungen oder neue Funktionen für einen Kunden programmieren (die dann Teil des Open-Source-Produkts werden).14 Red Hat beispielsweise preist sich als »der weltweite führende Anbieter von Open-Source-Lösungen«15 für IT-Produkte und Dienstleistungen an. Das ist ein Beispiel für eine eher allgemeine Form von Geschenken, die ich Anreizgeschenke nenne. Anreizgeschenke werden ausgegeben, damit künftige Transaktionen zustande kommen, die dem Schenkenden mehr einbringen, als sein Geschenk wert ist. Dank der Möglichkeiten, die die digitale Technologie eröffnet, wächst die Zahl solcher Geschenke rasch.16 Anders als viele andere Schenkpraktiken, die Alternativen zum bestehenden Kapitalismus sind oder in Wettbewerb mit ihm stehen, dienen Anreizgeschenke kapitalistischen Zwecken. In diesem Clustern von Praktiken finden wir regelmäßig das, was Fuchs »eine Verschränkung von Geschenken innerhalb der Warenform«17 nennt. Anreize zu setzen gehört zu den nicht an Austausch gebundenen Praktiken, die tief in der kapitalistischen Wirtschaft verwurzelt sind. Eine Folge ist, dass selbst Denker_innen, die sich nur für die kommerzielle Ökonomie interessieren, auch andere Motivationsformen und Praktiken berücksichtigen müssen als jene, die bei kommerziellen Warentauschmodellen analysiert werden. Gleichzeitig vollzieht sich hier so etwas wie eine Kolonisierung des Gebens, wobei die kommerzielle Ökonomie auf die Form und den Einsatz von Schenkpraktiken zurückwirkt. Ein Anreizgeschenk ist nicht Teil eines Austausches und erfordert nicht zwingend ein Gegengeschenk. Doch obwohl die Gegenleistung des Empfängers oder der Empfängerin freiwillig ist, zielt das Geschenk 14 Anderson-Gott / Ghinea / Bygstad, Why Do Commercial Companies Contri-
bute to Open Source Software?, S. 109; Weber, The Success of Open Source, S. 195–203. 15 Red Hat, The World’s Leading Provider of Open Source Enterprise IT Products and Services. 16 Anderson, Free – Kostenlos. 17 Fuchs, Internet and Society, S. 171.
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auf eine solche Gegenleistung ab. Damit ist das Anreizgeschenk eine Form des Schenkens, die manchmal ein Element der Reziprozität einführt, aber eine ganz andere als beim reinen Austausch, weil die Gegenleistung erstens freiwillig erfolgt und sie zweitens oft nicht gleichwertig ist. Es gibt mindestens drei wichtige Arten von Anreizgeschenken. Bei der ersten soll ein anschließender Austausch auf dem Markt erreicht werden. Solche Anreizgeschenke können wir Werbegeschenke nennen. Anderson schildert beispielsweise, mit welcher Strategie in den Vereinigten Staaten zu Anfang des 20. Jahrhunderts Jell-O vermarktet wurde, ein Dessert auf der Basis von Gelatine. Weil das Unternehmen aufgrund der Gesetzeslage sein Produkt nicht an der Haustür verkaufen konnte, verschenkte der Vertrieb Rezepthefte mit Anleitungen, wie man es verwenden konnte. Als Ergebnis kauften die Konsument_innen Jell-O, um die Rezepte auszuprobieren.18 Werbegeschenke sind in kommerziellen Volkswirtschaften ein weit verbreitetes Phänomen, haben aber durch die digitalen Entwicklungen einen neuen Aufschwung erlebt. Ein zeitgenössisches Beispiel aus der digitalen Welt sind Werbespiele (»advergaming«): Dabei verschenken Unternehmen Computerspiele, bei denen sich die Spielenden mit den Produkten der Unternehmen beschäftigen und Lust bekommen, sie zu kaufen (oder ihre Eltern/Betreuungspersonen bitten, sie zu kaufen).19 Die gleiche Logik steckt auch hinter kostenlosen Computerspielen, bei denen die Spielenden durch Käufe im Spiel (»in-game-purchases«) Fortschritte machen oder auf andere Weise ihre Beteiligung steigern können – in den Vereinigten Staaten wurden 2011 bei solchen Käufen 2 Milliarden Dollar umgesetzt.20 Solche Geschenke ziehen keine Verpflichtung zur Erwiderung nach sich, aber sie sind eindeutig darauf ausgelegt, eine Reaktion zu erzeugen, die dem oder der Schenkenden eine Rendite auf das Geschenk einbringt. Die Reaktion ist jedoch kein Gegengeschenk, sondern ein eigenständiger Austausch auf dem Markt, von dem der Schenker oder die Schenkerin zu profitieren hofft. 18 Anderson, Free – Kostenlos, S. 15–18. 19 Lumpkin / Dess, E-business Strategies and Internet Business Models, S. 166. 20 Cheshire, Test. Test. Test, S. 139.
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Die zweite Art von Anreizgeschenken sind Aufforderungsgeschenke. Solche Geschenke sind mit der Bitte um ein Gegengeschenk verbunden, das trotzdem vollkommen freiwillig ist. Ein Beispiel aus der nichtdigitalen Welt wäre ein Blumengeschenk von einer Bettlerin: Die Bettlerin verschenkt eine Blume mit der Bitte um ein Gegengeschenk in Form von Geld. Auch wenn das Gegengeschenk im Prinzip freiwillig ist, weckt das Annehmen der Blume bei der Schenkerin mitunter eine hohe Erwartung, und es kann eine heftige Reaktion geben, wenn das Gegengeschenk ausbleibt. Solche Fälle kommen dem Prinzip der Reziprozität sehr nahe, obwohl die Gegenleistung nominell freiwillig ist, unter anderem deshalb, weil – im Falle der Bettlerin – die Blumen eine knappe Ressource sind. Ob die Bettlerin sie gekauft, selbst gezogen oder am Straßenrand gepflückt hat: Für Ersatz zu sorgen ist für sie mit einem Aufwand verbunden, weshalb sie eine entsprechende Gegenleistung erwarten muss. Wenn die potenziellen Empfänger_innen sich dieser Erwartungen bewusst sind, wirkt die Annahme der Blume mehr oder weniger als ein Signal, dass eine Erwiderung kommen wird. Die Wirksamkeit von Aufforderungsgeschenken hängt davon ab, welche kulturellen Assoziationen sie auslösen: insbesondere von der Erwartung einer fairen Gegenleistung, die zu manchen Formen des Schenkens gehört (siehe Kapitel 4). Solche Assoziationen können von Schenkenden in vielfältigen kommerziellen Kontexten ausgenutzt werden, um Gegenleistungen zu erreichen, die von außen betrachtet wie ein Tauschgeschäft auf dem Markt erscheinen (anders als das Gegengeschenk an die Bettlerin). Aber sie sind zumindest teilweise nicht durch den Bedarf des Käufers oder der Käuferin motiviert, sondern durch ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem oder der Verkaufenden. In der Digitalwirtschaft verändert die Tatsache, dass digitale Geschenke praktisch kostenlos sind, die Dynamik von Aufforderungsgeschenken grundlegend. Wenn das digitale Geschenk für den Schenkenden oder die Schenkende tatsächlich kostenlos ist (mindestens unter dem Strich) und für den Empfänger oder die Empfängerin ebenfalls, kann der oder die Schenkende es sich leisten, Geschenke in großer Zahl zu machen, selbst wenn der Rückfluss sehr gering ist. Unter solchen Umständen ist es nicht nötig, beim Empfänger oder der Emp-
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fängerin auf eine Gegenleistung zu drängen, es kann viel sinnvoller sein, dass die Gegenleistung freiwillig erfolgt. Dieses Verfahren stand eine Zeitlang auf dem Markt für Smartphone-Apps hoch im Kurs, aber seine Wurzeln hat es in der Bewegung für Computer-Shareware.21 Viele Apps sind in zwei Versionen erhältlich: einer kostenlosen und einer Bezahlversion. In der Theorie ist die Bezahlversion überlegen – das »Freemium«-Geschäftsmodell22 –, aber in der Praxis unterscheidet sich die kostenlose Version in ihrer Funktionalität meist nur wenig von der Bezahlversion. Möglicherweise kann die kostenlose Version alles, was die Bezahlversion auch kann, aber auf dem Startbildschirm wird der Nutzer oder die Nutzerin zu einem Upgrade auf die Bezahlversion aufgefordert, oder beide Versionen sind identisch und bei der kostenlosen Version taucht manchmal Werbung auf. Außerdem sind bei Apps selbst die Bezahlversionen bemerkenswert billig – ein Zwanzigstel oder ein Fünfzigstel dessen, was ein Konsolenspiel kostet. Wenn die kostenpflichtige der kostenlosen Version deutlich überlegen ist, können wir die kostenlose als Werbegeschenk betrachten, das potenzielle Kundschaft zum Erwerb der Bezahlversion animieren soll. Doch wenn die Bezahlversion der kostenlosen Version sehr ähnlich ist, warum wechseln die Nutzer_innen dann zur Bezahlversion? Zweifellos gibt es viele Gründe, aber einer ist das Gefühl, die Anbieter_innen der App verdienten eine Belohnung dafür, dass sie etwas zur Verfügung stellen, das nach unserem Empfinden einen deutlichen Nutzwert hat. Solche Gefühle werden, wenn auch insgesamt sehr subtil, durch einführende Botschaften der Entwickler_innen und durch gelegentliche Kommentare anderer Nutzer_innen gefördert. Ein sehr illustratives Beispiel dafür bietet die Veröffentlichung des Albums In Rainbows der Band Radiohead:
21 Eine App ist ein Computerprogramm, in der Regel für ein Smartphone. Ich folge
dem üblichen Sprachgebrauch und bezeichne die Websites, auf denen man Apps kaufen kann, als Märkte, obwohl der Begriff vollkommen ungeeignet ist, denn die Apps sind kostenlos. Während ich das schreibe, scheint das Aufforderungsmodell auf den Märkten für Apps gegenüber In-Game-Käufen und Geschäftsmodellen mit Werbung an Bedeutung zu verlieren. 22 Anderson, Free – Kostenlos, S. 37f.
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»Anstatt das siebte Album wie üblich über den Handel zu veröffentlichen, war es ausschließlich im Internet erhältlich, und jeder konnte selbst bestimmen, wie viel er dafür zahlen wollte. Manche entschieden sich, nichts dafür zu bezahlen […], andere legten freiwillig über 20 US -Dollar dafür hin. Im Durchschnitt wurde ein Verkaufspreis von 6 US -Dollar erzielt.«23 Das Gegengeschenk ist in diesen Fällen eine weitere kostenlose Gabe, diesmal allerdings motiviert durch ein Gefühl, dass wir der Gerechtigkeit halber für das bezahlen sollten, was wir bekommen haben. Solche Gaben sind keine Gegengeschenke in dem Sinn, dass sie zwangsläufig einem vorangegangenen Geschenk nachfolgen müssen, appellieren aber in anderer Weise an den Sinn für einen gerechten Ausgleich. Die dritte Variante von Anreizgeschenken nenne ich belastete Geschenke. Die Annahme oder Verwendung solcher Geschenke zieht automatisch eine Gegenleistung nach sich; sie ist in gewisser Weise ein verborgener oder zumindest eher impliziter als expliziter Bestandteil des Handels. Fangen wir mit einem nicht kommerziellen Beispiel an: Manche missionierende religiöse Gruppen verteilen wahllos kostenlose Flugschriften oder sogar Bücher. Durch die Annahme hat der Empfänger oder die Empfängerin bereits eine kleine Gegenleistung erbracht, denn er oder sie hat signalisiert, möglicherweise für die Ideen der Gruppe offen zu sein, und wenn er oder sie das Druckerzeugnis liest, ist das eine weitere Gegenleistung – es besteht die Möglichkeit, dass der Leser oder die Leserin sich dadurch beeinflussen lässt und der Kontakt sich fortsetzt. Kommerzielle Fälle konzentrieren sich um das Thema Werbung. Bei manchen Konferenzen bekommen die Teilnehmenden zum Beispiel kostenlose Taschen für ihre Unterlagen – allerdings oft mit einem aufgedruckten Logo und dem Schriftzug eines kommerziellen Sponsors. Durch die Nutzung der Taschen werden die Konferenzteilnehmer_innen damit zu wandelnden Werbetafeln für die Sponsor_innen. Oder denken wir an die kostenlosen Zeitungen wie etwa den London Evening Standard, der täglich an 700000 Menschen verteilt wird.24 Kostenlose Zeitungen sind belastete Geschenke, 23 Ebenda, S. 179f. 24 Preston, Standard Shows Free Content Can Compete with the Paywall Brigade.
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weil die Leser_innen mit der Annahme der Zeitung die Auflage steigern und die Zeitung damit für Werbetreibende attraktiver machen; die Zeitung bekommt somit einen Ertrag in Form von Werbeeinnahmen. Anderson spricht von einem »Drei-Parteien-Markt«25, obwohl der Verkauf der Ware eine Transaktion zwischen der Zeitung und einem oder einer Werbetreibenden ist, während die Beziehung zwischen Zeitung und Leser_innen gar keine Warenbeziehung darstellt. Mit Googles Suchergebnissen verhält es sich ähnlich. Wie die Zeitung sind die Suchergebnisse kostenlos. Wie die Zeitung bieten sie die Möglichkeit, Werbung unterzubringen und dabei vom Interesse der Nutzer_innen an den frei verfügbaren Inhalten der Website zu profitieren. Und wie die Zeitungsleser_innen steigern auch die Nutzer_innen der Suchmaschine die Attraktivität der Website für Werbetreibende einfach dadurch, dass sie von der angebotenen Dienstleistung Gebrauch machen. Doch genauso bedeutsam sind die Unterschiede. Vor allem liefert die Leserin einer kostenlosen Zeitung dem Zeitungsverlag sehr wenig Informationen über ihre Interessen. Werbetreibende bekommen nur eine interessante Information: wo sich die Leserin befindet. Beispielsweise können Werbetreibende, die im London Evening Standard Anzeigen schalten, davon ausgehen, dass fast alle Leser_innen am Erscheinungstag der Zeitung in London unterwegs waren. Zweifellos könnte der Zeitungsverlag diese Information noch detaillierter nutzbar machen – er könnte zum Beispiel unterschiedliche Ausgaben für Nord- und Südlondon produzieren oder vielleicht eine Sonderausgabe für die Finanzbezirke und damit Unternehmen anlocken, die stärker lokal eingegrenzte oder thematisch spezialisierte Märkte bedienen. Aber die Möglichkeiten für gezielte Werbung sind durch die Natur der verfügbaren Informationen und das Format des Produkts begrenzt. Googles Vorteil besteht darin, dass seine Nutzer_innen sehr viel speziellere und wertvollere Informationen preisgeben: Eine Nutzerin hinterlässt zumindest eine Suchhistorie, die Rückschlüsse darauf ermöglicht, an welchen Produkten sie in diesem speziellen Augenblick interessiert sein könnte, um sie zu erwerben. Die
25 Anderson, Free – Kostenlos, S. 35.
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Suchergebnisse von Google sind deshalb auch belastete Geschenke; sie werden kostenlos zur Verfügung gestellt, erzeugen aber im Gegenzug einen für Google sehr wertvollen Transfer, weil sein Geschäftsmodell ganz davon abhängt, solche Rückflüsse von Informationen über die Bedürfnisse und Interessen von Nutzer_innen zu verwerten. Trotzdem taucht vielleicht die Frage auf, ob belastete Geschenke überhaupt Geschenke sind. Zeitungen, die auf Bahnhöfen verschenkt werden, sind in finanzieller Hinsicht wirklich kostenlos. Der Verlag bekommt keine direkte Gegenleistung, sondern allenfalls eine vage Information als Bestandteil der Transaktion, deshalb sind sie eindeutig keine Waren. Googles Suchergebnisse sind ebenfalls kostenlos, aber dabei fließen speziellere Informationen, die unvermeidlich übermittelt werden müssen, weil die Suche sonst nicht möglich ist. Können wir sagen, dass die Suchergebnisse weder Geschenke noch Waren sind? Nicht alle Transfers sind Geschenke oder Tauschgeschäfte. Diebstähle und Kredite beispielsweise sind andere Transferarten, und es gibt noch viele weitere. Diese Beispiele helfen uns zu erkennen, dass das Wesen eines Transfers von den Absichten der Beteiligten abhängt. Ein Diebstahl beispielsweise unterscheidet sich von einem Geschenk, weil die Person, der der Gegenstand entwendet wurde, nicht die Absicht hatte, ihn dem Dieb zu übergeben. Zweifel daran, dass die Suchergebnisse von Google tatsächlich Geschenke sind, regen sich auch, weil es unvermeidlich eine Gegenleistung des Nutzers oder der Nutzerin gibt: den Suchbegriff. Aber was hat es mit diesem Transfer auf sich? Ich schlage vor, von einem beiläufigen Transfer zu sprechen. Beiläufige Transfers kommen vor, wenn jemand durch das absichtsvolle Handeln einer anderen Person einen Nutzen erhält, aber die Absicht hinter dem Handeln nicht der Transfer des betreffenden Nutzens war. Derartige Transfers tauchen als Nebenprodukte einer anderen absichtsvollen Handlung auf. Zum Beispiel spendet jemand für krebskranke Kinder, und nebenbei trägt er oder sie dazu bei, die Gehälter der Manager_innen der wohltätigen Organisation zu bezahlen.26 Nutzer_innen der Suchmaschine von Google 26 Beiläufige Transfers weisen einige Übereinstimmung mit Reys Konzept der Bei-
produktion (ambient production) auf, bei der Nutzer_innen Daten oder anderes pro-
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überlassen Google Informationen, die das Unternehmen bei gezielter Werbung verwenden kann; damit sind sie beiläufige Transfers: Der Nutzer oder die Nutzerin gibt den Suchbegriff preis, weil das ein logisch notwendiger Bestandteil der Suche nach Informationen zu einem bestimmten Thema ist, aber indem sie den Suchbegriff zu einem bestimmten Zweck preisgeben, übertragen sie beiläufig auch noch Daten, die Google verwenden kann, um Werbemöglichkeiten zu schaffen. Weil der Nutzer oder die Nutzerin den Suchbegriff mitteilt, um die Dienstleistung in Anspruch zu nehmen, und nicht, um dafür zu bezahlen, können wir das nicht als Warentransfer ansehen. Aber um was handelt es sich dann bei Googles Angebot einer kostenlosen Suche? Meines Erachtens ist es hilfreich, wenn wir uns klarmachen, dass Transfers auch asymmetrisch sein können, wenn die Beteiligten jeweils unterschiedliche Einstellungen dazu haben. Der Anbieter betrachtet einen Transfer vielleicht als ein Geschenk und der Empfänger oder die Empfängerin als Kredit oder umgekehrt.27 Oder das Opfer eines Betrügers sieht einen Transfer als Teil eines Austauschs, während der Betrüger ihn als Diebstahl versteht. Eine kostenlose Zeitung oder eine kostenlose Seite mit Suchergebnissen mag dem Empfänger oder der Empfängerin als Geschenk erscheinen, aber tatsächlich findet ein beiläufiger Transfer an den Verlag oder den Betreiber der Suchmaschine statt, der die Möglichkeiten für Werbung steigert. Für den Zeitungsverlag und für Google ist der beiläufige Transfer der eigentliche Zweck ihres Angebots. Wir könnten sagen, dass in diesem Fall ein Geschenk in Erwartung einer Gegenleistung ausgegeben wird, wobei diese aber anders als traditionell üblich anstatt einer beabsichtigten Leistung nur eine unbeabsichtigte, beiläufige Erscheinung einer anderen Handlung ist. Angesichts der Parallelen zum reziproken Schenken meine ich, dass wir Googles Suchergebnisse immer noch als Geschenk bezeich-
duzieren, ohne sich bewusst zu sein, dass sie das tun; vgl. Rey, Alienation, Exploitation, and Social Media, S. 400, S. 410. Doch Transfers können auch dann beiläufig sein, wenn uns bewusst ist, dass sie stattfinden. 27 Heath / Calvert, Gifts, Loans and Intergenerational Support for Young Adults; Lainer-Vos, Sinews of the Nation.
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nen können – ein belastetes Geschenk –, aber wie manche traditionellen Formen reziproker Geschenke sind sie ein Geschenk mit Bedingungen.
Widerstand und Bindung Googles Umsatz hängt davon ab, dass seine Dienstleistungen, insbesondere seine Suchdienstleistungen, von vielen Personen genutzt werden, denen Google bei dieser Gelegenheit bezahlte Werbung präsentieren kann. Diese beiden Ziele stehen jedoch tendenziell in Konflikt zueinander, wenn die Nutzer_innen Werbung ablehnen. Weil Werbung allgegenwärtig ist, sind wir in gewissem Umfang darauf trainiert, sie zu erwarten und zu akzeptieren – genau wie die Aufforderung, die Konsumwerte zu akzeptieren, die Werbung verkörpert28 –, aber die Adressat_innen von Werbung werden nicht einfach überlistet. Selbst Fernsehpublikum, das in mancher Hinsicht verglichen mit Internetnutzer_innen eine stärker passive Rolle beim Medienkonsum spielt, besitzt einige Autonomie und setzt sie oft ein, um sich der Werbung zu entziehen.29 Manche Zuschauer_innen verlassen den Raum und erledigen andere Dinge, während im Fernsehen Werbung läuft, oder sie überspringen bei aufgezeichneten Sendungen die Werbung, oder sie schalten einfach innerlich ab und ignorieren die Werbung. Werbetreibende und die Werbebranche bemühen sich seit jeher um Gegenmaßnahmen – eine Strategie sind beispielsweise Produktplatzierungen in Medieninhalten wie Kinofilmen oder Fernsehserien. Aber sie stehen vor einer Reihe von Problemen, die Eric Clemons prägnant zusammengefasst hat: »Bei Werbung in jeder Form, ob im Rundfunk oder im Netz, gibt es drei Arten von Problemen. 1. Die Konsument_innen trauen der Werbung oft nicht. 2. Die Konsument_innen wollen häufig keine Werbung sehen […]. 3. Und vor allem brauchen die Konsument_innen keine Werbung.«30 28 Schudson, Advertising as Capitalist Realism. 29 Turow, Advertisers and Audience Autonomy at the End of Television. 30 Clemons, Business Models for Monetizing Internet Applications and Web Sites,
S. 18.
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Internetnutzer_innen haben erheblich mehr Autonomie als das Fernsehpublikum und setzen diese manchmal dazu ein, um Werbung zu vermeiden – zum Beispiel stellen die Betreiber_innen von Websites mit besonders aufdringlicher Werbung womöglich fest, dass ihre Nutzer_innen zu anderen Websites abwandern. Entsprechend führte die Verbreitung von Pop-up-Anzeigen dazu, dass Pop-up-Blocker entwickelt und schließlich in häufig genutzte Webbrowser integriert wurden; im Internet sind auch noch radikalere Blockierprogramme verfügbar. Allgemein gilt, dass Werbung im Internet sich auf dem schmalen Grat bewegen muss, auf dem sie zwar wahrnehmbar bleibt (andernfalls wäre sie sinnlos), aber auch unaufdringlich ist (andernfalls würde sie Abwehrreaktionen provozieren). Einige Unternehmen im Netz nutzen den Widerwillen von Kundschaft gegen Werbung sogar, um Einnahmen zu generieren. Spotify ist beispielsweise eines von vielen Unternehmen, bei denen man zwischen einer durch Werbung unterstützten und einer Abonnementversion ihrer Dienstleistung wählen kann. Die Kund_innen, die letztere wählen, zahlen zumindest zum Teil dafür, von Werbung verschont zu bleiben. Solche Unternehmen sind aber immer gefährdet durch das übliche Marktrisiko, dass Konkurrent_innen ihre Preise unterbieten. Preiskonkurrenz ist für Google kein Thema – »kostenlos« kann man kaum unterbieten –, aber kostenlose Websites können auf unterschiedliche Weise miteinander konkurrieren. Google verdankt seinen Erfolg zu einem großen Teil der Tatsache, dass es effizient nicht nur beim Preis, sondern auch bei der Qualität der Nutzererfahrung konkurrieren kann. Wie wir gesehen haben, hatte Google am Anfang deshalb Erfolg, weil seine Suchresultate für die Nutzer_innen relevanter und nützlicher waren als die von Vorgängerdiensten. Aber dieser Vorteil ließ sich langfristig schwer aufrechterhalten, und weil andere Anbieter von Suchdienstleistungen Googles Algorithmen kopiert haben, sind die Unterschiede zwischen Google und seinen wichtigsten Konkurrenten bei der Qualität der Suchergebnisse weitgehend zusammengeschmolzen.31 Google hat auch den Standard für das Design 31 Siehe zum Beispiel Davies, Google Results or Bing Results; Hachman, The 4 Rea-
sons I Switched from Google to Bing.
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der Seiten mit den Suchergebnissen gesetzt. Die klare, einfache, nicht überladene »reine Suche« war einmal das typische Merkmal von Google – und ist heute allgemein verbreitet. Google war auch Vorreiter bei den Qualitätsstandards, nicht nur was die organischen Suchergebnisse anbetrifft, sondern auch bei den Werbeeinblendungen.32 Im Mittelpunkt steht das System der Schlüsselwörter: Früher waren die Anzeigen oft irrelevant für die Nutzer_innen, ohne Bezug zu den jeweiligen Suchaktivitäten. In Verbindung mit einer aufdringlichen Präsentation steigerte das lediglich den Widerwillen der Nutzer_innen gegen Werbung. Doch seit Google die Werbung auf die Suchbegriffe abstimmt, sind die Anzeigen potenziell nützlich: Sie können als eine Dienstleistung für die Nutzer_innen betrachtet werden.33 Deshalb war es nicht nötig, sie aufdringlich zu präsentieren, und die Seiten mit den Suchergebnissen konnten genauso einfach und benutzerfreundlich gestaltet werden wie die Seite mit der Eingabemaske für die Suchbegriffe. Im Laufe der Zeit hat Google mit verschiedenen Formaten für die Präsentation von Werbung neben den Suchergebnissen experimentiert – und dabei vielleicht getestet, wo die Balance zwischen möglichst vielen Werbeklicks und einer abschreckenden Wirkung von Werbung auf die Nutzer_innen liegt. Google hat sich noch weiter mit der Qualität der Werbung befasst und sie zu einem Faktor in den Algorithmen gemacht, die entscheiden, welche Werbung ein Nutzer oder eine Nutzerin zu sehen bekommt. Adwords basiert auf Auktionen, ist aber kein reines Auktionssystem. Wenn Google beispielsweise feststellt, dass Nutzer_innen häufiger auf das zweite Werbebanner auf einer Seite klicken als auf das erste, wird der Suchalgorithmus möglicherweise die zweite Werbung an die erste Stelle rücken, obwohl der oder die Werbetreibende weniger pro Klick geboten hat.34 Dieses Verfahren bestraft Werbetreibende, deren Angebote für die Nutzer_innen weniger relevant sind; die Nutzer_innen bekommen eine Dienstleistung, die relevanter für sie ist, und das hält sie länger auf der Seite. Es ist unklar, welche kurzfristigen Auswirkungen 32 Levy, Google inside, S. 112f., S. 120f. 33 Ebenda, S. 121f. 34 Battelle, Die Suche, S. 171f.
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das auf Googles Umsatz hat – Google bekommt weniger pro Klick, aber insgesamt mehr Klicks –, doch die Politik zielt eindeutig darauf ab, Nutzer_innen langfristig zu binden. Google verzichtet somit auf kurzfristigen Umsatz, wenn es nötig ist. Google ist, mit anderen Worten, genau wie konventionellere kapitalistische Unternehmen wie Apple, auf präferenzielle Kundenbindung aus. In der Vergangenheit hat Google das durch eine kostenlose und sehr praktische Dienstleistung erreicht, durch eine minimalistische Ästhetik und unaufdringliche Werbung, aber all dies kann die Konkurrenz imitieren. In einer solchen Situation müssen die Unternehmen sehr genau darauf achten, was eine Dienstleistung von einer anderen, ähnlichen unterscheidet. Stetige kleine Verbesserungen auf diesen Feldern können hilfreich sein, dass eine Website ihren Vorsprung eine Weile behaupten kann. Aber im Laufe der Zeit werden die kleinen Verbesserungen immer weniger und für die meisten Nutzer_ innen immer weniger bedeutsam. Unter diesen Umständen ist es ein großer Vorteil, ein Pionier zu sein. Als der »erste Beweger« in vielen Bereichen der Internetsuche und verwandter Technologie besetzt Google im Leben vieler Nutzer_ innen, die seine Dienstleistung regelmäßig verwenden, einen festen Platz. Nutzer_innen, die gewohnheitsmäßig mit Google suchen, vielleicht sogar Google als Standardsuchmaschine in ihrem Browser eingestellt haben, werden daran festhalten, bis sie einen Anlass haben, das zu ändern. Als Teil der Strategie, zu verhindern, dass ein solcher Anlass auftaucht, achtet Google sehr auf seinen Eindruck bei den Nutzer_innen. Googles Bemühungen, sich durch sorgfältiges Abwägen, wo bezahlte Werbung platziert wird und welche Werbung relevant ist, das Vertrauen der Nutzer_innen zu erhalten, gehört zu seinem bekannten Motto »Don’t be evil« und ist sogar Ausdruck eines bestimmten ethischen Anspruchs.35 Auch Humor ist Teil der Strategie: die »doodles«, die regelmäßig anstelle des Google-Logos auf der Seite mit der Eingabemaske auftauchen. Google hat aktuell eine weltweit dominierende Stellung, aber in der Branche, zu der es gehört, sind Wettbewerbsvorteile kurzlebig und 35 Google, Code of Conduct.
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ist Kundenbindung enorm wichtig. Die vielleicht größte Bedrohung für Googles Dominanz ist das Risiko, beim Kauf neuer digitaler Geräte als Standardsuchmaschine entthront zu werden. Damit könnte Google den Nutzen verlieren, den es der Bequemlichkeit und Trägheit der Kundschaft verdankt. Zum Beispiel hat Microsoft mit dem Start des Betriebssystems für Windows Phone und dem Kauf der Handysparte von Nokia erreicht, dass Google auf einigen seiner Geräte nur noch eine marginale Rolle spielt; sie werden standardmäßig mit Microsofts eigener Suchmaschine Bing ausgeliefert.36 In ähnlicher Weise hat der beliebte Open-Source-Browser Firefox Ende 2014 in den Vereinigten Staaten zu Yahoo als Standardsuchmaschine gewechselt.37 Allerdings ist es zu dem Zeitpunkt, da diese Zeilen geschrieben werden, noch zu früh, um zu sagen, wie groß der Effekt war. Google scheint sich jedoch seit einiger Zeit der Gefahr bewusst zu sein, die insbesondere auf den mobilen Geräten droht, zumal diese bei Internetsuchen zunehmend häufiger verwendet werden als Desktop-Computer. Der Kauf von Android 2005 und sein enorm erfolgreicher Einsatz als Betriebssystem für Smartphones müssen in diesem Zusammenhang betrachtet werden. Steven Levy meint, Google habe »Sorge« gehabt, »seine Dienste auf diesem Weg [auf den neuen Smartphones] vielleicht nicht anbieten zu können«.38 Aus Levys Sicht bestand die Gefahr, dass mobile Netzwerke die Betriebssysteme auf den Smartphones kontrollieren und damit Google aus der Position als standardmäßiger Anbieter der Suchdienstleistung verdrängen könnten. Genauso plausibel erscheint, dass Google sich Sorgen machte, Apple (das damals auf dem Markt für Smartphones dominierte) hätte Google verdrängen oder zwingen können, für die Installation der Suchmaschine zu bezahlen, womit es einen erheblichen Teil von Googles Umsatz hätte abschöpfen können, wie Apple das bei anderen Anbietern von mobilen Inhalten tut. Im dritten Quartal 2014 wurden über 84 Prozent aller neuen Smartphones mit dem Betriebssystem Android ausgeliefert, in der Regel, aber 36 Warren, Microsoft Won’t Let you Set Google as Default Search on Some New
Lumias. 37 Lardinois, Firefox 34 Launches With Yahoo As Its Default Search Engine. 38 Levy, Google inside, S. 277.
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nicht immer, mit Google als Standardsuchmaschine.39 Googles Kontrolle über Android ist dadurch eingeschränkt, dass Android eine Open-Source-Software ist; Google hat kein Druckmittel, seine eigene Suchmaschine als Standardeinstellung durchzusetzen. Aber es ist Google gelungen, potenziellen Mitbewerbern diese Macht aus den Händen zu nehmen und damit das Katastrophenszenario zu verhindern, dass seine Stellung als bevorzugte Adresse für Suchen im Internet ins Wanken gerät. Um die Nutzerbindung zu sichern, muss Google deshalb all jene abwehren, die um die Aufmerksamkeit seiner Nutzer_innen konkurrieren, und gleichzeitig die Notwendigkeit, diese bei der Stange zu halten, gegen die Notwendigkeit abwägen, von deren Aufmerksamkeit finanziell zu profitieren. Diese Dynamik, Nutzer_innen an sich zu binden und die Bindung gleichzeitig für kommerzielle Zwecke auszubeuten, steht im Zentrum der Geschäftsmodelle heutiger kapitalistischer Unternehmen, und es ist eine ihrer zentralen Herausforderungen, das potenzielle Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Polen zu bewältigen.
Personalisierung, Datenschutz und Macht Die jüngsten Entwicklungen bei Online-Werbung, bei denen Google ebenfalls wieder an vorderster Front mitspielt, hängen mit der Sammlung immer größerer Datenmengen über die Nutzer_innen zusammen. Viele Webseiten installieren »Cookies« auf unseren Geräten, sodass sie unser Browserverhalten verfolgen und Einzelheiten für eine künftige Verwendung speichern können. Anderen erleichtern wir die Arbeit, indem wir uns als Nutzer_innen für ihre Dienstleistungen registrieren und Name, Adresse, Telefonnummer und vieles mehr angeben. Viele Seiten verkaufen diese Daten an Datenaggregatoren, die in der Lage sind, Informationen über unser Verhalten und persönliche Details aus vielen verschiedenen Quellen zu verknüpfen.40 Google 39 IDC , Smartphone OS Market Share, Q3 2014. 40 Pariser, Filter Bubble, S. 50–54.
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sammelt nicht nur unsere Suchbegriffe, sondern auch die Daten, die wir bei seinen anderen Diensten eingeben – die Inhalte unserer E-Mails und deren Empfänger, wenn wir Gmail verwenden; wo wir uns befinden und wohin wir gehen (und möglicherweise sogar, mit wem wir unterwegs sind), wenn wir Google Maps die Bestimmung unseres Standorts erlauben; unsere sozialen Interaktionen mit Freund_innen und Kolleg_innen, wenn wir uns bei Google+ anmelden und den Dienst nutzen. All das zusammen liefert eine Menge Informationen über unsere Interessen, Kontakte und Vorlieben. Und Google steht damit nicht allein, ein weiteres bekanntes Beispiel ist Facebook, das riesige Datenmengen aus den Postings der Nutzer_innen extrahiert. Ein Student, der drei Jahre lang Facebook genutzt hatte, stellte fest, dass Facebook 1222 Seiten mit Informationen über ihn gesammelt hatte.41 Der wichtigste kommerzielle Grund, derartige Profile zusammenzustellen, ist, dass sich damit Werbung besser personalisieren und auf die Interessen den Nutzer_innen abstimmen lässt. Das kann für die Nutzer_innen hilfreich sein, weil die Suchergebnisse, die zu ihren Interessen passen, ganz oben auf der Liste stehen. Der Vorteil wird besonders bei mehrdeutigen Suchbegriffen deutlich. Wenn jemand beispielsweise den Suchbegriff »Brücke« eingibt, ist zunächst unklar, ob er oder sie sich für einen Teppich, für Bauwerke über Flüsse hinweg, für Zahnersatz, eine Zeile in einem Lied oder für die Befehlszentrale auf einem Schiff interessiert. Ohne weitere Informationen, was gemeint sein könnte, muss der Nutzer oder die Nutzerin womöglich viele Bildseiten mit Suchergebnissen durcharbeiten, bis er oder sie das Richtige findet. Aber wenn Google weiß, dass jemand E-Mails von einer Teppichhandelsfirma erhält oder oft nach Musikbegriffen sucht, dann kann es anhand dieser Informationen diejenigen Ergebnisse oben auf die Liste setzen, die zu diesen Interessen passen. Für Google ist das ein weiterer Schritt auf dem Weg, Suchergebnisse und Werbung für seine Nutzer_innen hilfreicher und ansprechender zu gestalten und auf diese Weise seine Werbeeinnahmen zu steigern – als sein Lohn für die vielen verschiedenen kostenlos bereitgestellten Dienste, die es
41 Pidd, Facebook Could Face € 100,000 Fine.
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dem Unternehmen ermöglichen, eine Menge Daten über seine Nutzer_innen zu sammeln. Bei einem zweiten, damit verwandten Trend war Facebook der Vorreiter (ausführlicher gehen wir im nächsten Kapitel darauf ein). Facebook hatte mehr Schwierigkeiten als Google, durch die Platzierung von Werbung von seinen hohen Nutzerzahlen zu profitieren. Auf Suchvorgängen basierende Werbung hat zwei große Vorteile. Zum einen kann der Suchmaschinenanbieter aus dem eingegebenen Suchbegriff Rückschlüsse ziehen, wofür der Nutzer oder die Nutzerin sich gerade jetzt interessiert, und damit Werbung sehr genau auf seine oder ihre aktuellen Bedürfnisse und Interessen abstimmen. Zweitens erwartet der Nutzer oder die Nutzerin, eine ganze Seite mit Informationen zu dem Suchbegriff zu bekommen, und das ist eine ideale Gelegenheit, passende Werbung zu präsentieren. Facebook hat Zugang zu den Postings seiner Nutzer_innen und damit Informationen über ihre aktuellen Interessen, aber das bedeutet nicht automatisch, dass sie auch Informationen zu dem bekommen wollen, was sie gerade gepostet haben, geschweige denn Werbung, und deshalb kann Werbung aufdringlich wirken. Tatsächlich können Werbeeinblendungen betonen, dass Informationen, die Nutzer_innen als privat betrachten, zu kommerziellen Zwecken verwendet werden, und das birgt die Gefahr, die Nutzer_innen zu verärgern. Denn oft machen sie sich gar nicht bewusst, wie Facebook mit ihren Daten umgeht, und viele sind gegenüber Werbung auf der Website negativ eingestellt.42 In mancher Hinsicht ist es für Facebook schwieriger als für Google, Daten von Nutzer_innen zu verwerten, ohne sie zu verprellen. Facebook hat seine Nutzer_innen wiederholt mit Initiativen verärgert, bei denen ihre Daten in unerwarteten Zusammenhängen auftauchten, vor allem mit dem Werbeprogramm Beacon, das mit automatischen Postings über Aktivitäten von Nutzer_innen auf anderen Webseiten informierte.43
42 Lilley / Grodzinsky / Gumbus, Revealing the Commercialized and Compliant
Facebook User. 43 Debatin u. a., Facebook and Online Privacy, S. 85.
Facebook besitzt gegenüber Google einen wichtigen Vorteil, den sogenannten Netzwerkeffekt: Es ist schwer für Nutzer_innen, Facebook den Rücken zu kehren
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Angesichts dieser Probleme versuchte Facebook, anhand der sozialen Kontakte, die Nutzer_innen auf der Webseite preisgeben, Werbung anzuziehen. Nach einigen Fehlstarts scheint Facebook mittlerweile durch den Einsatz des »Like«-Buttons Fortschritte zu machen: Nutzer_innen signalisieren mit einem Klick auf diesen Button, dass sie ein Posting, eine Webseite oder ein Produkt gut finden (nicht nur auf den Seiten von Facebook, sondern auf vielen anderen Seiten im gesamten Internet). Dadurch erhält Facebook viele wertvolle Informationen nicht nur über die Vorlieben seiner Nutzer_innen, sondern auch über die ihrer Freund_innen und damit die Möglichkeit, Werbung zielgenauer einzusetzen. Mit Stand 2012 hatten die Facebook-Nutzer_innen über eine Billion Mal den Like-Button geklickt.44 Google versucht, mit Google+ als Konkurrent von Facebook ebenfalls in diesen Bereich vorzustoßen, aber bisher nur mit mäßigem Erfolg. Inzwischen nehmen die beiläufigen Transfers von Nutzer_innen zu Google und ähnlichen Websites einen etwas anderen Charakter an. Es sind immer noch beiläufige, aber nicht mehr rein transaktionale Transfers. Wenn alle denkbaren Arten von Daten aus einer Fülle digitaler Aktivitäten von Nutzer_innen gesammelt und für unbegrenzte Zeit gespeichert werden, hat das eine deutlich andere Qualität als die geringfügigen, ephemeren Transfers, die bei den einfachsten Suchmaschinen stattfinden. Vielleicht am augenfälligsten sind die Bedenken im Hinblick auf den Datenschutz – ist es prinzipiell akzeptabel, dass ein Unternehmen Daten über uns sammelt, ohne dass wir davon wissen, dass es diese Daten ohne unsere Kenntnis und ausdrückliche Zustimmung an andere weitergibt oder verkauft und sie auch dann noch speichert, wenn wir die Dienstleistung, bei der sie gesammelt wurden, längst nicht mehr nutzen? Diese Fragen führen in dunklere Bereiche, wenn wir beispielsweise daran denken, dass Hacker_innen sich Zugang zu den Daten verschaffen und sie dazu verwenden können, die betreffenden
und anderswo einen gleichwertigen Dienst zu finden, wenn all ihre Freund_innen bei Facebook bleiben und nicht zu anderen sozialen Medien gehen. 44 Gerlitz / Helmond, The Like Economy.
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Nutzer_innen zu betrügen, oder wenn Internetunternehmen Informationen über die politischen Aktivitäten von Dissidenten an repressive Regimes weitergeben, wie Yahoo es im Fall von Li Zhi und Shi Tao in China getan hat.45 Google läuft Gefahr, das Vertrauen seiner Nutzer_innen zu verlieren, wenn es nicht sehr sorgfältig mit ihren persönlichen Daten umgeht.46 Mindestens ein Wettbewerber bietet eine Suchfunktion an, die dieses Risiko berücksichtigt und den Nutzer_innen zusichert, dass er keine persönlichen Daten sammelt.47 Ein zweiter Komplex von Bedenken hängt damit zusammen, dass Google in der Lage ist, die digitale Wissensumgebung zu gestalten, in die wir alle eingebettet sind. Eli Pariser hat dafür mit seiner Theorie von der Filterblase eine anschauliche Formulierung gefunden.48 Wie wir gesehen haben, nutzen Websites wie Google und Facebook zunehmend die persönlichen Daten ihrer Nutzer_innen, um auszuwählen, welche Informationen sie ihnen zukommen lassen – um beispielsweise zu entscheiden, in welcher Reihenfolge Suchresultate präsentiert werden und welche Postings besonders augenfällig in einem Facebook-Feed erscheinen. Pariser sieht die Gefahr, dass »ein ganz eigenes Informationsuniversum für jeden von uns«49 erschaffen wird, mit »einer Art unsichtbaren Autopropaganda, die uns mit unseren eigenen Vorstellungen indoktriniert [und] unser Verlangen nach uns bekannten Dingen steigert«50. In manchen Bereichen könnte das schlichtweg dazu führen, dass wir uns nicht mehr um neue Erfahrungen bemühen – wenn zum Beispiel die Daten darauf hindeuten, dass eine Person sich für Liebesromane interessiert, wird sie womöglich nie Werbung für Science Fiction oder Krimis erhalten. In der Politik, so Pariser, ist jedoch die Demokratie bedroht, weil wir unsere bestehenden Meinungen und Vorurteile ständig bestätigt bekommen und nie mit gegensätzlichen Ansichten konfrontiert werden, die ein Um-
45 46 47 48 49 50
Dann / Haddow, Just Doing Business or Doing Just Business, S. 229. Battelle, Die Suche, S. 26ff. Hern, DuckDuckGo: the Pucky Upstart Taking on Google with Stealth Searches. Pariser, Filter Bubble. Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 22.
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denken, Kompromisse und konstruktives Nachdenken begünstigen könnten.51 Parisers Besorgnis ist vielleicht übertrieben,52 aber unsere Wissensumgebungen werden eindeutig immer stärker von einigen wenigen extrem mächtigen Internetprovidern wie Google und Facebook kontrolliert. Die Entscheidungen der Provider üben großen Einfluss auf das diskursive Umfeld aus, in dem wir uns bewegen, und damit auf die Entscheidungen, die wir treffen.53 Solche Unternehmen haben die Möglichkeit, die Inhalte, die wir zu sehen bekommen, zu zensieren oder unsere Wahrnehmung subtil zu verzerren. Obwohl es wenig Anhaltspunkte dafür gibt, dass Google und Facebook diese Macht derzeit in politisch anrüchiger Weise nutzen, müssen wir das Risiko im Auge behalten. Allein die Tatsache, dass Internetunternehmen den Gesetzen und Behörden der Länder unterstehen, in denen sie operieren, vergrößert die Gefahr; so gibt es beispielsweise deutliche Hinweise darauf, dass sich in China Internetunternehmen zu Handlangern des Staates bei der politischen Zensur des Internets machen.54 Aber Gefahr geht nicht nur von den Staaten aus. Die herkömmlichen Medien sind berüchtigt für ihre politische Parteilichkeit, und alte Medienunternehmen haben bereits versucht, sich in den neuen Bereich einzukaufen, wie etwa Rupert Murdoch, der mit seiner News Corporation MySpace gekauft (und dann wieder abgestoßen) hat.55 Wie Siva Vaidhyanathan schreibt, ist das Ausmaß an Macht über globale Wissensflüsse, die sich bei Google konzentriert, eine erhebliche Bedrohung für die Zukunft, auch wenn Google diese Macht zur Zeit noch in relativ harmloser Weise nutzt.56
51 52 53 54 55 56
Ebenda, Einleitung. Morozov, Book Review, The Filter Bubble. Elder-Vass, The Causal Power of Discourse. Dann / Haddow, Just Doing Business of Doing Just Business. News Corp Finally Sells MySpace. Vaidhyanathan, The Googlization of Everything.
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Schlussfolgerung Google ist eine faszinierende Mischung aus Gabenökonomie und kapitalistischer Wirtschaft. Auf der einen Seite strebt Google nach Profit, den es als börsennotiertes Unternehmen mit Verpflichtungen gegenüber seinen Investor_innen auch erzielen muss; insofern ist es eindeutig ein kapitalistisches Unternehmen. Auch verdient Google Geld, indem es eine Ware auf einem Markt verkauft: Es veräußert Klicks an Werbetreibende und nutzt dazu ein Auktionsmodell zur Preisfestsetzung. Damit ist es ganz klar Teil der Warenökonomie. Aber sein Umsatz hängt ganz davon ab, dass es eine Dienstleistung oder vielmehr eine Reihe von Dienstleistungen seinen Nutzer_innen kostenlos zur Verfügung stellt, deren Bedürfnisse und Vorlieben es ständig im Auge behalten muss, um sie an sich zu binden. Googles Geschenke sind belastete Geschenke, Geschenke, die beiläufige Transfers von den Nutzer_innen zurück zu Google beinhalten und deshalb einige Ähnlichkeit zum Tauschgeschäft und Formen des reziproken Schenkens aufweisen. Aber am besten können wir sie als eine andere Form des Transfers begreifen, die sich weder mit freien Geschenken noch mit Warentausch deckt. Anders als beim Warentausch ist die Gegenleistung, die Google von seinen Nutzer_innen erwartet, weder monetärer Art noch quantifiziert. Sie wird weder ausgehandelt, noch gilt sie im Allgemeinen als Teil eines Handels zwischen Google und seinen Nutzer_innen. Allerdings ist aufgeklärteren Nutzer_innen durchaus klar, dass sie eine Gegenleistung erbringen. Google steht insofern für einen Komplex von Appropriationspraktiken, den man nur schwer mit einem der beiden dominierenden Ansätze der politischen Ökonomie erklären könnte. Der Teil der Geschäfts, der keinen Warencharakter hat, gibt die entscheidende Grundlage für das Element ab, das Warencharakter hat, aber es lässt sich nicht in den Begriffen der Marktmodelle der herrschenden ökonomischen Lehre fassen und auch nicht in denen der marxistischen als Extraktion von Mehrwert aus Lohnarbeit analysieren.57 Google kann 57 Google hat auch angestellte Beschäftigte, die zu seinem Erfolg beitragen und von
denen manche als ausgebeutet gelten könnten (Fuchs, Internet and Society, Kapi-
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jedoch als eine Appropriationsstruktur analysiert werden, als Ort, an dem wechselseitig voneinander abhängige Appropriationspraktiken ineinanderspielen. Zu diesen gehören der Verkauf von Werbung als Ware, belastete Geschenke von Dienstleistungen an Nutzer_innen, beiläufige Datentransfers von den Nutzer_innen, die Akkumulation von Nutzerdaten, um die Personalisierung zu erleichtern, und eine ständige dynamische Interaktion zwischen den Bemühungen, die Werbeeinnahmen zu steigern, und denen, die Nutzer_innen der Dienstleistung an das Unternehmen zu binden und diese Bindung zu vertiefen. Daraus ergeben sich viele unterschiedliche Nutzen – und manchmal auch Übel – für die verschiedenen Beteiligten. Die Nutzer_innen profitieren von hilfreichen kostenlosen Dienstleistungen, tragen aber das Risiko des Missbrauchs ihrer Daten. Die Werbetreibenden profitieren davon, dass sie ein Publikum für ihre Botschaften und damit die Möglichkeit bekommen, die Umsätze ihrer Produkte zu steigern. Und Google und seine Aktionäre profitieren von enormen Gewinnen. Aber die Auswirkungen sind noch viel weiter spürbar. Vor allem Printmedien haben erlebt, dass ihre Einnahmen aus Werbung massiv eingebrochen sind, weil Werbetreibende zu den digitalen Medien abgewandert sind, die Werbung gezielter auf bestimmte Kundengruppen ausrichten können.58 Jenseits der wirtschaftlichen Frage, wer welche Nutzen und welche Übel von Googles Geschäftsmodell davonträgt, ist festzuhalten, dass Google über die Informationsflüsse im Internet große Macht gewonnen hat, die ein erhebliches politisches Risiko darstellt. Aber in dem Zusammenhang tauchen auch noch bedeutendere ethische Fragen auf: Wie sollen wir ökonomische Mischmodelle wie dieses bewerten? Korrumpieren Unternehmen wie Google die Gabenökonomie, oder sind sie Pioniere einer großzügigeren Form des Kapitalismus? Das kapitalistische Marktmodell ist weder absolut bewundernswert tel 9). Einige Marxisten, darunter auch Fuchs, haben versucht, Hybridformen digitaler Unternehmen in Begriffen des Mehrwerts zu analysieren. Diese Versuche werden im nächsten Kapitel kritisch betrachtet. 58 McKinsey & Company, Global Media Report 2013.
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noch vollständig verwerflich, sondern danach zu beurteilen, welche Nutzen und welche Übel es in jedem Einzelfall bringt. Nach dem kurzen Überblick scheinen die Nutzen die Übel deutlich zu überwiegen, aber es bleiben nach wie vor ethische Fragen. Wie wünschenswert ist ein ökonomisches Modell für die Digitalwirtschaft, das auf Werbung aufbaut und damit auf der Förderung des Konsumdenkens? Wie viele Daten dürfen Anbieter_innen von Dienstleistungen im Internet vertretbar über ihre Nutzer_innen speichern? Und sollen wir die Dominanz über wichtige Dienstleistungen wie die Suche im Internet hinnehmen, die Google derzeit ausübt? Wenn das ein Warenmarkt wäre, würde ein Unternehmen, das in 24 von 31 großen Ländern über einen Marktanteil von 88 Prozent und mehr (in einigen sogar von 98 Prozent) verfügt, ins Visier der Kartellwächter_innen geraten. Verlangt nicht die mit dieser Dominanz verbundene Machtkonzentration eine entsprechende Aufmerksamkeit? Vielleicht ist Google gemäß seinem eigenen Anspruch wirklich nicht böse, aber Regulierung ist zweifellos vonnöten.
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9
User-Content-Kapitalismus
Einführung In diesem Kapitel wenden wir uns einer anderen ökonomischen Mischform zu, die allerdings oft mit der im letzten Kapitel diskutierten Form der Werbung verbunden ist. Bei den hier diskutierten Fällen geht es um zwei Arten von Appropriationspraktiken: erstens, wie bereits im letzten Kapitel, um kostenlose Dienstleistungen kommerzieller Websites für ganz gewöhnliche Nutzer_innen und zweitens um die unbezahlte Bereitstellung von Ressourcen auf diesen Sites – Ressourcen, die für die Attraktivität und damit für den kommerziellen Erfolg der freien Dienstleistung entscheidend sind – durch einzelne oder alle ganz gewöhnlichen Nutzer_innen. Die beiden Fälle sind YouTube (das Google gehört), derzeit das wichtigste Videoportal im Internet, und Facebook, derzeit das dominierende soziale Netzwerk. Anfangs stammten die Videos auf YouTube ausschließlich von ganz gewöhnlichen Nutzer_innen, die nach wie vor einen großen Teil der Inhalte beisteuern, obwohl das Portal inzwischen auch kommerziell produzierte Inhalte anbietet. Bei der Dienstleistung von Facebook geht es darum, Nutzer_innen Zugang zu Material (darunter Status-Updates, Fotos und Videos) zu gewähren, die deren Freund_innen auf die Website gestellt haben. Beide Unternehmen sind zu einem gewissen Grad – Facebook sogar fast ganz – davon abhängig, dass Nutzer_innen Inhalte liefern und auf diese Weise die Dienstleistung für andere Nutzer_innen attraktiv machen. Beide profitieren von dem so entstehenden Datenverkehr – und den persönlichen Informationen über die Nutzer_innen, die sie dabei sammeln –, um mit zielgerichteter Werbung Einnahmen zu generieren. Im Prinzip könnten die in diesem Kapitel diskutierten Praktiken aber auch mit an-
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deren Strategien zur Einkommenserzielung durchgeführt werden. So hat Facebook beispielsweise mit »Kauf«-Buttons auf seinen Seiten experimentiert, um Einkommen aus Kommissionen oder auf der Grundlage von Umsatz zu erzielen.1 Außerdem bekommt Facebook Geld von Partner_innen, deren Spiele es auf seinen Seiten präsentiert.2 In diesem Kapitel werden die Appropriationspraktiken untersucht, die zusammen diese von nutzergenerierten Inhalten abhängige Form des Kapitalismus hervorbringen. Wie die meisten anderen großen Internetunternehmen müssen Facebook und YouTube in erheblichem Umfang Nutzer-Datenverkehr anziehen, damit ihr Geschäftsmodell funktioniert, und, wie wir erneut sehen werden, vor allem ihre Nutzer_innen an sich binden. Dienstleistungen kostenlos zur Verfügung zu stellen, ist nur ein Teil der Strategie: Die Dienstleistungen müssen auch attraktiv sein, und die Unternehmen müssen sehr darauf achten, ihre Nutzer_innen nicht zu verprellen, damit der Datenverkehr auf der Website hoch bleibt. Wir werden uns auch die Beziehung zwischen solchen Websites und dem Sektor der eher konventionellen kapitalistischen Unternehmen ansehen. In gewissem Ausmaß stehen sie im Wettbewerb, aber als wichtige Träger von Werbung verhalten sie sich auch symbiotisch zueinander. Die meisten Spannungen gibt es beim Copyright digitaler Inhalte; da hat YouTube Konflikte mit den großen Medienkonzernen ausgefochten und letztlich für beide Seiten vorteilhafte Vereinbarungen geschlossen. Die Beiträge der Nutzer_innen, von denen dieses Modell des Kapitalismus abhängt, werden oft als Prosumtion bezeichnet – eine Form von Arbeit, die zwischen Produktion und Konsum liegt –, und Prosumtionsarbeit wird häufig als eine Form der Ausbeutung von Nutzer_innen durch die beteiligten Unternehmen dargestellt. In den letzten Abschnitten des Kapitels setzen wir uns kritisch sowohl mit dem Konzept der Prosumtion wie mit der Behauptung auseinander, die Beiträge der Nutzer_innen seien auf jeden Fall eine Form von Ausbeutung. Wenn von Ausbeutung gesprochen wird, kommt das marxistische Modell der verkappten ethischen Bewertung ins Spiel, das wir in 1 Duke, Welcome to Zuck’s Big Online Bazaar. 2 Van Grove, Forget Zynga.
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Kapitel 3 kritisch beleuchtet haben. Die Bewertung dieser ökonomischen Formen sollte auf einer genaueren Betrachtung gründen, wer welche Nutzen davon hat. Weiter wird damit versucht, ein dogmatisches Produktionsmodell, das aus der Fabrikproduktion des 19. Jahrhunderts stammt, einer ganz anderen ökonomischen Form überzustülpen. User-Content-Kapitalismus entspricht eindeutig weder der stereotypen marxistischen Vorstellung von Industriekapitalismus noch der stereotypen marktwirtschaftlichen Vorstellung der Mainstream-Ökonom_innen.
Weder Waren noch Lohnarbeit Das Geschäftsmodell von Unternehmen wie YouTube und Facebook ist ein Komplex von Appropriationspraktiken, der von vielen miteinander verbundenen Transferformen abhängt. Drei davon kennen wir bereits aus dem letzten Kapitel: Warenverkäufe, meistens im Zusammenhang mit Werbung; das Angebot kostenloser Dienstleistungen, die Nutzer_innen auf die Website locken und damit die Gelegenheit schaffen, Werbeeinnahmen zu generieren; und beiläufige Transfers persönlicher Daten der Nutzer_innen, die es den Websites ermöglichen, personalisierte Werbung zu platzieren. Entscheidend ist jedoch ein vierter Punkt: die Bereitstellung der Medieninhalte, von denen die ersten beiden Praktiken abhängen und die ebenfalls von den Nutzer_innen geleistet wird. Keine der letztgenannten drei Praktiken nimmt die Form von Warentausch, Lohnarbeit oder einer anderen Art des Austausches an. Die Dienstleistungen sind Geschenke, die persönlichen Daten werden als beiläufiger Transfer übermittelt, aber die Bereitstellung von Inhalten durch die Besucher_innen ist eine komplexere Form, bei der ein Geschenk einzelner Besucher_innen an andere einen beiläufigen (von ihnen nicht intendierten) Nutzen für das Unternehmen bringt, das die Website betreibt: Die Inhalte sind kein Geschenk an die Website, aber die Website eignet sie sich dennoch an als Nebeneffekt der Tatsache, dass sie anderen Nutzer_innen zur Verfügung gestellt werden. Als soziales Netzwerk ermöglicht es Facebook seinen registrier-
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ten Nutzer_innen, ein Profil auf der Website zu erstellen und zu pflegen, das Informationen über den Nutzer oder die Nutzerin enthält, Fotografien und Nachrichten (»Status-Updates«), und der Nutzer oder die Nutzerin kann Verbindungen zu anderen Nutzer_innen herstellen (die dann »Freunde« werden).3 Wenn zwei Nutzer_innen auf Facebook befreundet sind, können sie ihre jeweiligen Profile und Status-Updates einsehen; je nach den gewählten Privatsphäre-Einstellungen erhalten auch andere Nutzer_innen Zugang. Facebook ist heute ein bemerkenswert breit und intensiv genutztes Medium für den sozialen Austausch. Im September 2014 waren 1,35 Milliarden Nutzer_innen bei Facebook registriert (ungefähr 20 Prozent der gesamten Weltbevölkerung).4 2014 ergab eine Umfrage unter erwachsenen Amerikaner_innen, dass sich 70 Prozent derjenigen, die ein Facebook-Konto hatten, dort auch täglich einloggten.5 Im Laufe der Zeit wurde der Dienst immer mehr erweitert. Zum Beispiel wächst aktuell die Zahl der geposteten Videos rasant – in der zweiten Jahreshälfte 2014 wurden täglich über 1 Milliarde Videos auf Facebook gehostet.6 Facebook ist außerdem zu einer wichtigen Plattform für Spiele geworden.7 Während es prinzipiell möglich ist, sich mit praktisch allen anderen Nutzer_innen auf Facebook zu verbinden, wird die Plattform mit großem Abstand am häufigsten dazu genutzt, »Beziehungen zu pflegen und zu intensivieren, bei denen auch in der einen oder anderen Form eine Offline-Verbindung besteht«8. Facebook-Freunde haben meistens auch in der Welt jenseits des Internets Kontakt, und sei es nur gelegentlich, und Facebook verwenden sie hauptsächlich, um den Austausch mit bestehenden Kontakten zu intensivieren, die nicht physisch präsent sind. Bei einer Befragung 2010/2011 gaben amerikanische College-Studierende an, dass sie Facebook besonders geeignet fänden, um »auf dem Laufenden zu bleiben, was in der Familie und bei
3 4 5 6 7 8
Boyd / Ellison, Social Network Sites: Definition, History, and Scholarship. Facebook, Company Info. Duggan u. a., Social Media Update 2014. Facebook, What the Shift to Video Means for Creators. Cheshire, Talent Tube; Van Grove, Forget Zynga. Ellison / Steinfield / Lampe, The Benefits of Facebook »Friends«.
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Freund_innen passiert«, und um »gute Freundschaften zu pflegen«, dicht gefolgt von der Angabe, um »sich unterhalten zu lassen«.9 Ein Teil der Inhalte, die all das bieten, wird kommerziell zur Verfügung gestellt – insbesondere Spiele –, aber die große Mehrheit und vor allem sämtliche Inhalte, die die Nutzer_innen informieren, was bei Freund_innen und Verwandten vor sich geht, stammen von anderen Nutzer_innen. Manche Facebook-Nutzer_innen posten relativ wenig, andere hingegen sehr viel. Insgesamt wurden mit Stand Mai 2013 täglich 4,75 Milliarden Stückchen Inhalt geteilt.10 Ohne Zweifel profitieren davon die Nutzer_innen, die die Inhalte posten, und ihre Freund_innen, aber auch Facebook profitiert. Zum einen machen diese Postings die Website für die Nutzer_innen attraktiv, ziehen große Zahlen von Besucher_innen an und schaffen damit für Facebook Gelegenheiten, Werbefläche zu verkaufen. Zum anderen enthalten die Postings auch Daten über die jeweiligen Nutzer_innen, die, wie im letzten Kapitel diskutiert, von Facebook gesammelt und analysiert werden, um seine Nutzer_innen im Hinblick auf Werbung in Kategorien einzuteilen. Je mehr Daten Facebook über seine Nutzer_innen zusammenträgt, desto gezielter lässt sich Werbung platzieren und desto wertvoller ist die Werbemöglichkeit für Facebook. Unter diesem Gesichtspunkt war die Einführung eines »Like«-Buttons, mit dem Facebook-Nutzer_innen anderen zeigen können, was sie mögen und was sie interessiert, ein meisterlicher Schachzug, denn dadurch gelangt Facebook an ähnliche Daten wie Google durch die Suchbegriffe – Daten, die genau zeigen, was Nutzer_innen interessiert, und die deshalb für Werbetreibende extrem wichtig sind. Wie im letzten Kapitel diskutiert, dient die Ausdehnung der Facebook-Buttons auf viele andere Websites nur dazu, die Qualität und den Wert dieser Daten zu steigern.11 In vieler Hinsicht beruht das Geschäftsmodell von YouTube auf einem ähnlichen Mix von Appropriationspraktiken: Nutzer_innen 9 Lilley / Grodzinsky / Gumbus, Revealing the Commercialized and Compliant
Facebook User. 10 Noyes, The Top 20 Valuable Facebook Statistics – Updated October 2014. 11 Gerlitz / Helmond, The Like Economy.
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werden mit einer kostenlosen Dienstleistung angelockt und tragen dann selbst viel Content bei, der die Dienstleistung attraktiv macht; Geld verdient YouTube mit dem Modell, indem der Input der Nutzer_innen im Hinblick auf gezielte Werbemöglichkeiten analysiert wird. In anderer Hinsicht unterscheidet sich dieses Modell von Facebook. Die Kerndienstleistung, die Besucher_innen auf die Seite zieht, ist die Möglichkeit, kostenlose Videos anzuschauen, größtenteils von nur wenigen Minuten Länge.12 Die Nutzer_innen können aus einem riesigen Bestand an Videos zu allen erdenklichen Themen auswählen – YouTube schätzt, dass in jeder Minute hundert Stunden neues Videomaterial auf die Website hochgeladen werden.13 Darunter sind beispielsweise Musikvideos, Clips von Kino- und Fernsehfilmen, Bewertungen von Produkten, Erklärvideos, Videos von Familienfeiern und Ferien, politische Kommentare, Unterrichtsmaterial und Videos von Haus- und anderen Tieren. Wie bei Facebook zieht das enorme Besucherströme an: Jeden Monat schauen sich über eine Milliarde Nutzer_innen auf der Website mehr als sechs Milliarden Stunden Videomaterial an.14 Die Gründe für den Besuch sind unterschiedlich: Wie eine Untersuchung herausfand, sahen sich »[d]ie Teilnehmer_innen […] Videos an, weil sie Informationen suchten, schauten Videos und teilten sie zu Unterhaltungszwecken und als Gemeinschaftserlebnis und zum sozialen Austausch«15. Wie bei Facebook spielt das soziale Element eine Rolle, wenn auch eine nicht so große: Die Nutzer_innen können Kommentare zu den angesehenen Videos abgeben, aber auch außerhalb der Plattform von YouTube über Videos diskutieren und Links zu den Videos teilen – zum Beispiel auf Facebook und in ähnlichen sozialen Netzwerken. YouTube-Nutzer_innen liefern einen großen Teil des Contents auf der Website. YouTube startete als Plattform, auf die Nutzer_innen ihre selbst gedrehten Videos hochladen konnten, und bis heute stammen die meisten Videos, auch die populärsten, von den Nutzer_innen 12 13 14 15
Ross, YouTube For Smart Social Marketers. YouTube, Statistics, 2015. Ebenda. Haridakis / Hanson, Social Interaction and Co-Viewing with YouTube, S. 317.
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selbst,16 obwohl es, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, auch immer mehr kommerziell produzierte Videos auf YouTube gibt. Amateurvideos sind für Werbetreibende eher uninteressant, weil sie sich an der geringen Produktionsqualität stören und die Befürchtung hegen, ihre Produkte könnten mit kommerziell unpassenden Inhalten in Verbindung gebracht werden, aber bei den Nutzer_innen sind sie sehr beliebt.17 Während das Ertragsmodell von YouTube von Werbung abhängt und die meiste Werbung neben kommerziellen Inhalten platziert wird, locken die Amateurvideos weiterhin die Besucher_innen auf die Website, die dann Anreize finden, sich auch Inhalte mit Werbung anzusehen. Seit 2007 bietet YouTube einigen besonders erfolgreichen Amateur-Videofilmer_innen auch Werbepartnerschaften an, bei denen neben ihren Videos Werbung eingeblendet wird; ein Teil der Einnahmen fließt dann dem Urheber oder der Urheberin des Videos zu.18 Wenn Videofilmer_innen Inhalte zur Verfügung stellen und im Gegenzug Werbeeinnahmen bekommen, ist das eine klare Warentransaktion. Wenn nur Amateurfilme hochgeladen werden, ist das keine Warentransaktion, ebenso wenig, wenn YouTube Videos zum kostenlosen Download zur Verfügung stellt. Aber sind das dann Geschenke? Wie im letzten Kapitel dargelegt, sind nicht alle Transfers Geschenke oder Austausch, und das Konzept der beiläufigen Transfers, das wir dort eingeführt haben, ist auch im Zusammenhang mit YouTube relevant. Beiläufige Transfers, um es zu wiederholen, finden dann statt, wenn ein Empfänger oder eine Empfängerin durch das absichtsvolle Handeln einer anderen Person einen Nutzen erhält, aber der Transfer des betreffenden Nutzens nicht die Absicht hinter der Transaktion war. 16 Nach Schätzung von Strangelove stammen 79 Prozent der Videos von Nutzer_in-
nen (Strangelove, Watching YouTube). YouTube erstellt keine Listen der meistgesehenen Videos mehr, aber das sogenannte »Top-Trend-Video« des Jahres 2014 war beispielsweise eine Amateur-Horrorkomödie mit dem Titel »Mutant Giant Spider Dog«, in der eine als Riesenspinne verkleidete Labradorhündin die Hauptrolle spielte (YouTube, #YouTubeRewind 2014). 17 McDonald, Digital Discords in the Online Media Economy; Strangelove, Watching YouTube, S. 6f. 18 Cheshire, Talent Tube; Wasko / Erickson, The Political Economy of YouTube.
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Ich schlage vor, bei den Appropriationspraktiken, um die es in diesem Kapitel geht, grob drei Arten zu unterscheiden, allerdings gibt es auch Mischungen und Grenzfälle. Wenn YouTube Nutzer_innen Videos zur Verfügung stellt, ist das ein Geschenk und manchmal sogar ein Geschenk ohne Bedingungen. Man kann sich Videos auf YouTube ansehen ganz ohne eine Gegenleistung, die für YouTube einen Wert hat – man muss beispielsweise keinen Suchbegriff eingeben, und die Nutzer_innen können sogar Werbung und Cookies blockieren. Diese Dienstleistungen stellt YouTube den Nutzer_innen in voller Absicht zur Verfügung, und weil das auch ohne eine werthaltige Gegenleistung passiert, können wir zu Recht sagen, dass es keine Verpflichtung für die Nutzer_innen gibt, irgendeine Gegenleistung zu erbringen oder sich in irgendeiner Form erkenntlich zu zeigen. Deshalb handelt es sich um freie Geschenke, das heißt Geschenke ohne Bedingungen. Aber natürlich sind es Anreizgeschenke, die insgesamt einen finanziellen Ertrag generieren sollen (siehe Kapitel 8), auch wenn es für den einzelnen Nutzer oder die Nutzerin keine Verpflichtung zu einer Gegenleistung gibt. In der Praxis blockieren die meisten Nutzer_innen die Cookies nicht, und viele geben Suchbegriffe bei YouTube ein. Wenn sie das tun, liefern sie Daten, die für YouTube einen kommerziellen Wert haben. Wie bei der Google-Suche möchte jemand, der einen Suchbegriff eingibt, eine bestimmte Art von Inhalt finden, aber in der Regel hat er oder sie nicht die Absicht, YouTube nützliche Informationen zukommen zu lassen. Diese Art von Transfer ist deshalb kein Geschenk an YouTube und nicht einmal Teil eines Austausches, denn bei einem Austausch müsste der Nutzer oder die Nutzerin verstehen, dass die Daten eine Bezahlung für die erhaltene Dienstleistung sind. Vielmehr haben wir es mit einem beiläufigen Transfer zu tun, der als unbeabsichtigte Folge einer beabsichtigen Handlung stattfindet. Es ist hilfreich, in diesem Zusammenhang zwischen nutzergenerierten Daten und nutzergeneriertem Inhalt zu unterscheiden.19 Nutzergenerierte Daten sind Daten, die eine Website als Nebenprodukt von Handlungen sammelt, die der Nutzer oder die Nutzerin nicht unter19 Andrejevic, Exploiting YouTube, S. 414–418.
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nommen hat, um Inhalt zur Verfügung zu stellen, etwa die Eingabe von Suchbegriffen bei YouTube oder Google. Nutzergenerierter Inhalt hingegen ist Material, das die Nutzer_innen bewusst als Inhalt liefern, den andere ansehen können, etwa hochgeladene Videos bei YouTube oder Status-Updates bei Facebook. Anders als nutzergenerierte Daten ist das Hochladen von nutzergeneriertem Inhalt ein bewusster Transfer, aber wie bei nutzergenerierten Daten gibt es auch bei nutzergeneriertem Inhalt viele Aspekte. YouTube-Videos sind aus der Sicht der meisten Amateurfilmer_innen, die sie hochladen, eine Art Geschenk an andere YouTube-Nutzer_innen (manche hoffen vielleicht auf eine Gegenleistung, aber es gibt keine Verpflichtung und nicht einmal die Erwartung, dass individuelle Rezipient_innen eine Gegenleistung erbringen). Einige Nutzer_innen, die beispielsweise Fan-Videos auf YouTube einstellen, betrachten ihre Beiträge als Geschenke an die jeweilige Fangemeinde.20 Auf jeden Fall sind sie als Geschenke an andere YouTube-Nutzer_innen intendiert und nicht als Geschenke an YouTube selbst, obwohl YouTube eindeutig davon profitiert. Es sind gleichzeitig Geschenke an andere YouTube-Nutzer_innen und beiläufige Transfers an YouTube. Postings bei Facebook erscheinen ähnlich, werfen aber noch weitere Fragen auf. Ist eine Nachricht für eine Freundin oder eine Gruppe von Freund_innen im Internet ein ökonomischer Transfer, oder sollte man sie eher wie ein Gespräch betrachten, als eine Form der kommunikativen Interaktion? Nach meinem Dafürhalten besteht da kein Widerspruch, ein und dieselbe Handlung kann beides sein. Es sind Kommunikationshandlungen, aber in gewisser Weise auch ökonomische Transaktionen, weil unsere Freund_innen einen Nutzen davon haben, wenn wir unsere Postings bei Facebook für sie zugänglich machen, und üblicherweise ist das Teil unserer Absicht, wenn wir etwas posten. Angesichts der in Kapitel 2 diskutierten Schwierigkeiten, zu definieren, was Wirtschaft ist, bleibt bei diesem Beispiel einiges unklar, doch der Transfer an Facebook ist eindeutig ein ökonomischer Transfer. Der Nutzen für Facebook ist ganz klar ökonomischer Natur, weil er in Form von Werbeeinnahmen anfällt, und das intendieren wir üblicherweise 20 Jenkins, What Happened Before YouTube, S. 119.
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nicht, selbst wenn uns bewusst ist, dass es ein Nebeneffekt unseres Handelns ist. Ob wir uns Postings bei Facebook als Geschenke an unsere Freund_innen vorstellen oder nicht, sie sind immer auch beiläufige Transfers an Facebook selbst. Wir könnten den Datentransfer an Facebook auch als einen weiteren asymmetrischen Transfer auffassen. Anders als bei YouTube ist es unmöglich, Facebook zu nutzen, ohne nutzergenerierte Daten zu liefern und zumindest einige nutzergenerierte Inhalte – ein gewisses Minimum ist erforderlich, um ein Benutzerkonto zu erstellen. Aus der Perspektive der Nutzer_innen mag das ein beiläufiger Transfer im Rahmen eines Prozesses sein, der es ihnen ermöglicht, von den Dienstleistungen zu profitieren, die Facebook als Geschenke zur Verfügung stellt. Aber weil Facebook die Regeln diktieren kann, welche Daten für das Profil angegeben werden müssen, und weil es danach kommerziellen Nutzen aus den Daten zieht, sieht es aus der Perspektive von Facebook eher wie ein Tausch aus, etwa wie ein Tauschhandel mit einer Ware. Hier haben wir es deshalb mit einem Komplex marktunabhängiger Appropriationspraktiken zu tun: mit kommerziellen Unternehmen, die Dienstleistungen zur Verfügung stellen, die zumindest manchmal Geschenke sind; mit Nutzer_innen, deren Dienstleistungen Geschenke füreinander sind; und als Folge von beidem – der Nutzung der Dienstleistung und der Geschenke untereinander – fallen beiläufige Transfers an die kommerziellen Unternehmen an. Diese Praktiken sind eng miteinander verschränkt: Ohne die Dienstleistung gäbe es die Geschenke zwischen den Nutzer_innen nicht, ohne die Geschenke zwischen den Nutzer_innen gäbe es die beiläufigen Transfers an den Anbieter der Dienstleistung nicht, und ohne die Transfers könnte der Anbieter der Dienstleistung diese marktunabhängigen Praktiken nicht mit der marktgebundenen Praxis des Verkaufs von Werbemöglichkeiten verbinden. Nur der letzte Teil dieses Komplexes lässt sich in den Begriffen der herkömmlichen Wirtschaftswissenschaften erfassen, während die der marxistischen politischen Ökonomie hier überhaupt nicht weiterhelfen.
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Beitragende dauerhaft binden Wie Apple und Google sind auch Websites wie Facebook profitorientierte Unternehmen, deren Gewinne von der präferenziellen Bindung ihrer Nutzer_innen abhängen. Sie ködern diese mit kostenlosen Dienstleistungen und haben Interesse daran, weitere und noch wirksamere Wege zu finden, um ihre Angebote für die Nutzer_innen attraktiv zu machen. Gleichzeitig besteht immer die Gefahr, dass sie Nutzer_innen abschrecken, wenn sie ihr Tun regulieren und mit ihnen Geld verdienen wollen.21 Das zwingt Websites wie Google zu einem Balanceakt, bei dem sie möglichst alles vermeiden müssen, was die Bindung ihrer Nutzer_innen brüchig machen könnte. Wie vorsichtig sie dabei vorgehen müssen, hängt wiederum von der Stärke dieser Bindung ab. Je stärker sie ist, desto mehr können die Unternehmen von den Nutzer_innen profitieren, wie das Beispiel Apple zeigt. Doch langfristig besteht bei dieser Strategie die Gefahr, dass sie ein Einfallstor für konkurrierende Dienstleistungen öffnet. Der vielleicht offensichtlichste Faktor, der diese Websites für gewöhnliche Nutzer_innen attraktiv macht, ist die Qualität der Inhalte, die sie dort finden. Für Websites sozialer Netzwerke wie Facebook ist ausschlaggebend, welche Möglichkeiten sie anbieten – beispielsweise wie sich Freund_innen verlinken und welche Inhalte geteilt werden können –, aber der allerwichtigste Faktor ist ganz einfach, ob die Personen, mit denen die Nutzer_innen interagieren möchten, ebenfalls Nutzer_innen der Website sind. In sozialen Netzwerken sind Inhalte dann hochwertig, wenn sie von Personen stammen, mit denen ein Nutzer oder eine Nutzerin Kontakt haben möchte. Wenn die betreffenden Personen die Website nicht nutzen, spielen die dort gebotenen Möglichkeiten auch keine Rolle. Dieses Phänomen wird als Netzwerkeffekt bezeichnet, ein bekannter Effekt, den es schon lange vor
21 Friendster, ein frühes soziales Netzwerk, schreckte viele Nutzer_innen ab, als es
beliebte Features abschaltete, die nicht zu den Vorstellungen des Unternehmens passten, was auf der Website vor sich gehen sollte (Boyd / Ellison, Social Network Sites, S. 215f.).
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dem Internet gab – das Telefonnetzwerk beispielsweise hatte für eine einzelne Person ebenfalls keinen großen Wert, solange die Menschen, mit denen sie sprechen wollte, kein Telefon besaßen. Aber sobald viele Personen einem bestimmten Netzwerk angehören, hat es gegenüber Neulingen, die in denselben Bereich drängen, einen erheblichen Vorteil. Ein neues Portal mit einem deutlich besseren Angebot als Facebook könnte Facebook nur sehr schwer Konkurrenz machen, weil die Personen, die bereits ein großes Netz von Freund_innen auf Facebook haben, Facebook wahrscheinlich nicht verlassen und zu einem Portal mit nur relativ wenigen ihrer Freund_innen wechseln würden. Größe ist, mit anderen Worten, ein Grund für präferenzielle Bindung bei sozialen Netzwerken, aber Größe kann auch für andere Arten von Websites von Nutzen sein. YouTube profitiert beispielsweise von der schieren Zahl der verfügbaren Videos: Weil die Nutzer_innen auf der Website nahezu alles Gesuchte finden, werden sie eher auf YouTube als auf eine konkurrierende Website mit einem nicht so großen Angebot zugreifen, selbst wenn anderes bei dieser Website besser sein sollte. Größe ist jedoch nicht immer ausschlaggebend – eine andere Website deckt vielleicht einen Spezialbereich besser ab als YouTube und zieht entsprechend interessierte Nutzer_innen von YouTube ab, obwohl sie in anderen Bereichen mit YouTube nicht konkurrieren kann. Aber je umfangreicher das Material von YouTube ist, desto geringer ist die Gefahr der Abwanderung. Die präferenzielle Bindung der Nutzer_innen zu sichern ist nicht nur wichtig, damit sie immer wieder auf die Website zurückkommen, sondern auch, um Widerstände wegen anderer Unzufriedenheitsfaktoren zu überwinden, insbesondere die Ablehnung von Werbung. Wie Google stehen YouTube und Facebook im ständigen Spannungsverhältnis zwischen dem Bestreben, die Werbeeinnahmen zu steigern, und der Gefahr, Nutzer_innen mit Werbung zu verprellen. So hat YouTube beispielsweise in seinen Anfängen entschieden, auf sogenannte Pre-Roll-Werbung zu verzichten – Werbeclips, die ein Nutzer oder eine Nutzerin vor dem eigentlich gefragten Video über sich ergehen lassen muss –, denn solche Werbung hätte den Eindruck untergraben, dass sich auf der Website Menschen treffen, die Videos miteinander
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teilen wollen.22 Andere Werbeformate werden häufig eingesetzt, etwa Werbebanner oder Werbeclips, die ganz oben auf der Ergebnisliste der Videosuche laufen. Trotz seiner anfänglichen Bedenken hat auch YouTube mit Werbung experimentiert, die »vor, während und nach Videos«23 läuft, allerdings mit abschreckender Wirkung: Pre-Roll-Werbung »veranlasst 70 Prozent der Nutzer_innen, ein Video nicht weiter anzuschauen«24. Deshalb wurde sie durch Overlay-Werbung ersetzt, »bei der am unteren Rand des Videobildschirms ein halbtransparentes Banner läuft«25. Unlängst hat YouTube Pre-Roll-Clips wieder eingeführt, die aber meistens kurz sind oder einen »Skip«-Button enthalten, mit dem die Nutzer_innen nach fünf Sekunden mit einem Klick die Werbung überspringen können. YouTube experimentiert, mit anderen Worten, ständig mit neuen Methoden, seinen Nutzer_innen Werbung in einem Format zu präsentieren, das nicht abschreckt. Weitere Fragen im Zusammenhang mit der Bindung an eine Website ergeben sich bei Nutzer_innen, die nicht einfach nur Inhalte konsumieren, sondern als aktive Mitglieder einer Gemeinschaft selbst Inhalte erstellen. Die soziale Interaktion mit einer Gemeinschaft ist auf Facebook offensichtlich von großer Bedeutung, spielt aber auch bei YouTube eine Rolle. Die Nutzer_innen von YouTube lassen sich in drei Gruppen einteilen: diejenigen, die Videos hochladen; diejenigen, die keine Videos hochladen, aber Videos kommentieren; und diejenigen, die sich einfach nur Videos anschauen. Ein Analyst, der sich (relativ früh) mit YouTube befasste, stellte fest, dass in Amerika nur bei 0,16 Prozent der Besuche auf YouTube Videos hochgeladen wurden.26 Ein anderer fand heraus, dass »2007 mehr als 13 Prozent des OnlinePublikums Kommentare zu Videos posteten, die sie sich angesehen hatten«27. Die Nutzer_innen, die Videos und Kommentare posten, interagieren in einer Weise, die an andere Online-Gemeinschaften erinCloud, The YouTube Gurus. Wasko / Erickson, The Political Economy of YouTube, S. 380. Strangelove, Watching YouTube, S. 6. Wasko / Erickson, The Political Economy of YouTube, S. 380. Tancer, Click: What Millions of People Are Doing Online and Why It Matters, S. 125. 27 Strangelove, Watching YouTube, S. 14. 22 23 24 25 26
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nert. Strangelove zufolge sehen sich Amateurfilmer_innen, die Videos hochladen, »als die echten Mitglieder der Gemeinschaft«28, und andere Urheber_innen betrachten »ihre Videoinhalte« als »Mittel der Kommunikation und […] Indikator für die soziale Clusterbildung«29. Die Nutzer_innen, die Videos kommentieren, tragen zu diesem Prozess der Interaktion bei, und selbst Personen, die nur Videos anschauen, können das Gemeinschaftsgefühl stärken, zum Beispiel indem sie die Inhalte abonnieren, die bestimmte Nutzer_innen beitragen. Viele der am häufigsten abonnierten Kanäle gehören »YouTube-Stars […], deren Marken sich innerhalb des sozialen Netzwerks von YouTube entwickelt haben«30. Das Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören, kann eindeutig die Bindung an eine Website verstärken, und die Features, die eine Website anbietet – zum Beispiel die Möglichkeit, Kommentare abzugeben oder einen Kanal zu abonnieren –, sind darauf ausgelegt, Verbindungen und Interaktion zu fördern. Aber in Gemeinschaften kann es auch negative Erfahrungen geben, und YouTube gilt als »berüchtigt wilde und unzivilisierte Kommunikationsplattform«31. Oder direkter ausgedrückt: »YouTube ist von Internet-Trollen verseucht«32 – von Nutzer_innen, die Spaß daran haben, andere zu beschimpfen und Konflikte zu schüren.33 Besonders beliebt sind bei Trollen sexistische und homophobe Kommentare.34 Dadurch, dass YouTube den kommunikativen Austausch ermöglicht hat, hat es die Tür für Missbrauch geöffnet, und das schreckt manche davon ab mitzumachen. 2013 erlaubte YouTube nur Nutzer_innen mit einem Google+-Konto, Kommentare abzugeben; auf diese Weise wollte es die Nutzer_innen zwingen, sich mit einer realen, verifizierbaren Identität einzuloggen. Nach Aussage einiger Kommentatoren zielte das darauf ab, »ärgerliche Kommen-
28 29 30 31 32 33 34
Ebenda, S. 113. Burgess / Green, YouTube: Online Video and Participatory Culture, S. 58. Ebenda, S. 59. Goode / McCullough / O’Hare, Unruly Publics and the Fourth Estate on YouTube. YouTube-Nutzerin Dallah1990, zitiert ebenda, S. 596. Lumsden / Morgan, »Fraping«, »Sexting«, »Trolling« and »Rinsing«. Burgess / Green, YouTube: Online Video and Participatory Culture, S. 96f.
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tare zu Videos herauszufiltern«35 – allerdings offenbar ohne die gewünschte Wirkung. Die Maßnahme wurde auch von den Gründern von YouTube heftig kritisiert36 und weckte den Verdacht, dass es eher darum ging, Google+, der unternehmenseigenen Konkurrenz zu Facebook, massenhaft neue Nutzer_innen zuzuführen. Ob das stimmt oder nicht, auf YouTube treiben jedenfalls weiterhin Trolle ihr Unwesen. Unklar ist, inwieweit YouTubes Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft zu Gegenmaßnahmen der Beteiligung der Nutzer_innen schadet; womöglich ignorieren sie einfach die Kommentare unter den Videos, und die Urheber_innen von Inhalten, die sich über die Aktivitäten von Trollen ärgern, können die Kommentarfunktion abschalten. Aber auf jeden Fall ist es ein latenter Unzufriedenheitsfaktor, der eine Chance für potenzielle Konkurrenz eröffnet.
Geschäfte mit nutzergenerierten Inhalten und der herkömmliche Kapitalismus Obwohl diese Unternehmen unkonventionelle Formen des Transfers praktizieren, indem sie Dienstleistungen kostenlos zur Verfügung stellen und für ihr Geschäftsmodell nutzergenerierte Inhalte brauchen, sind sie in anderen Hinsichten ganz konventionelle kapitalistische Unternehmen. Die Umsätze und Gewinne von YouTube werden nicht unabhängig von der Mutterfirma Google veröffentlicht, aber Schätzungen gehen dahin, dass sich der Gewinn 2013 in einer Größenordnung von 3,5 Milliarden Dollar bewegte.37 Facebook machte mit Stand 3. Quartal 2014 mehr als eine 1 Milliarde Dollar Gewinn pro Quartal,38 sein Börsenwert wird auf über 200 Milliarden Dollar veranschlagt.39 Wie traditionellere Medienunternehmen verdienen auch
35 Larson, Want To Comment On YouTube?. 36 Hern, YouTube Co-founder Hurls Abuse at Google Over New YouTube Com-
ments. 37 DeSimone, New Study: YouTube Profits Far Below Expectations for 2013. 38 Rushton, Facebook Now has as Many Users as China has People. 39 Bradshaw, Facebook Market Value Tops $200bn.
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diese Unternehmen das meiste Geld mit Werbung und bewerben deshalb nicht nur die Produkte vieler anderer kapitalistischer Unternehmen, sondern fördern auch allgemein Konsumdenken und Kommerzialisierung. Wie andere erfolgreiche kapitalistische Unternehmen gehen auch bei diesen die Gewinne zulasten ihrer Konkurrenz, in dem Fall zulasten der herkömmlichen Werbemedien, vor allem der Printmedien, weil sie ein interessanteres und persönlicheres Erlebnis bieten. Sie verdrängen auch alternative soziale Netzwerke und VideoWebsites. Nachdem andere soziale Netzwerke mehr Wachstum verzeichneten als Facebook, hat Facebook reagiert: Es hat seine enormen finanziellen Möglichkeiten eingesetzt, um seine wichtigsten Konkurrenten Instagram und Whatsapp zu kaufen, allein für Whatsapp hat Facebook 19 Milliarden Dollar bezahlt.40 Beide Unternehmen beschäftigen auch eine große Zahl fest angestellter Mitarbeiter_innen, obwohl es im Verhältnis zur Zahl der Nutzer_innen, die Inhalte beisteuern, immer noch relativ wenige sind. YouTube ist in seinem Verhältnis zu Medienproduktionsunternehmen vielleicht weniger konventionell, besonders in der Frage des Copyrights. Zu Anfang wurden bei YouTube alle Videos von Amateuren hochgeladen, die im Prinzip das Copyright für das Material besaßen, das sie selbst geschaffen hatten. Doch viele hochgeladene Videos enthielten auch Material, für die das Copyright bei Medienunternehmen der Musik-, Film- und Fernsehbranche lag. Manche Nutzer_innen luden Clips aus Fernsehsendungen hoch oder offizielle Musikvideos. Andere nahmen Titel von CDs oder aus MP3-Dateien, fügten Bilder oder ein Video hinzu und luden das Ganze dann hoch. Wieder andere drehten eigene Videos und verwendeten dabei durch Copyright geschützte Musik als Hintergrundmusik.41 Und wieder andere bastelten kreative Remixe aus kommerziellem Material mit Copyright, sei es als Satire, sei es als Hommage an die ursprünglichen Urheber_innen oder einfach deshalb, weil es Urheber_innen im Kulturbereich schon immer so gemacht haben.42 Als die Unternehmen, die das Copyright für 40 Stone, Facebook Buys WhatsApp for $19 Billion. 41 Ein hübsches Beispiel zitiert Lessig, Remix, S. 1ff. 42 Jenkins, Convergence Culture; Lessig, Remix.
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dieses Material innehatten, das erkannten, warfen sie YouTube vor, solches Vorgehen bewusst zu ermutigen und von den Verstößen gegen das Urheberrecht zu profitieren.43 Für die betroffenen Unternehmen war der Umgang mit diesem Material auf YouTube in zweifacher Hinsicht schädlich, oder zumindest behaupteten sie das: erstens weil die Nutzer_innen das Material auf YouTube anschauen konnten, statt es bei den Medienunternehmen zu kaufen, und zweitens weil YouTube damit Werbeeinnahmen erzielte und sie nicht mit den Rechteinhaber_innen teilte. 2007 verklagte Viacom YouTube und Google auf 1 Milliarde Dollar Schadenersatz und forderte, »über 100000 Clips mit Inhalten von Viacom« von der Website zu entfernen.44 Der Konflikt birgt eine gewisse Ironie, denn alle großen amerikanischen Medienkonzerne haben in ihren Anfängen selbst Piraterie betrieben: Hollywood wurde an der Westküste gegründet, um Thomas Edisons Patenten auf Filmtechnologie zu entgehen; die Plattenfirmen zahlten Komponisten keine Tantiemen, bis sie durch eine Gesetzesänderung dazu gezwungen wurden; und mit einem Verhalten, das sehr stark an YouTube erinnert, strahlten amerikanische Kabelfernsehsender dreißig Jahre lang Videomaterial aus, ohne etwas an die Urheber_innen zu bezahlen.45 In einigen Fällen profitierten neue Branchen davon, dass das Gesetz den neuen technologischen Möglichkeiten zur Verbreitung kultureller Inhalte hinterherhinkte. YouTube hingegen profitierte von den rechtlichen Veränderungen, die es tatsächlich gegeben hat, um die Gesetze den neuen Technologien anzupassen. 1998 erließen die Vereinigten Staaten den Digital Millennium Copyright Act, der bestimmte Anbieter_innen von Online-Diensten vor Klagen wegen Urheberrechtsverletzungen schützt. Das Gesetz sollte offensichtlich Telekommunikationsunternehmen, Suchmaschinen und andere Internetprovider vor Verfolgung bewahren, wenn sie Inhalte weitergaben, über die sie keine Kontrolle hatten, aber es war so offen formuliert, dass YouTube sich darauf berufen konnte. Der Schutz wurde an Bedingungen geknüpft: Provider sollten nur dann geschützt sein, 43 Burgess / Green, YouTube: Online Video and Participatory Culture, S. 5. 44 Ebenda, S. 32f. 45 Lessig, Freie Kultur, Kapitel 4.
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wenn sie nicht wussten, dass eine Urheberrechtsverletzung vorlag, wenn sie nicht direkt finanziell davon profitierten und wenn sie das Material sofort löschten, sobald sie von der Urheberrechtsverletzung erfuhren.46 YouTube hat das Gesetz so interpretiert, dass es erlaubt, weiterhin das Urheberrecht verletzendes Material zu veröffentlichen, bis der Inhaber oder die Inhaberin des Urheberrechts die Entfernung verlangt und dabei jeden Fall genau darlegt – allerdings ist YouTube vorsichtig damit, Werbung mit Material zu verbinden, bei dem das Copyright nicht klar ist.47 In gewisser Weise leistet YouTube damit den Medienkonzernen Widerstand, allerdings als Geschäftsstrategie und nicht etwa deshalb, weil es das Urheberrecht grundsätzlich ablehnen würde. Weil die Medienkonzerne angesichts des stetigen Stroms von Material, das auf YouTube auftaucht, sowieso nur Rückzugsgefechte führen können, bleibt ihnen nicht viel anderes übrig, als die Chance zu ergreifen, die sich ihnen bietet. Da sie YouTube nicht in die Knie zwingen konnten, mussten sie sich mit YouTube zusammentun: Innerhalb von zwei Jahren nach Gründung von YouTube schlossen praktisch alle großen Medienunternehmen mit YouTube Vereinbarungen über eine Aufteilung der Erlöse.48 Diese Deals haben zwei Bestandteile: Erstens stellen die Medienunternehmen YouTube eigene Inhalte zur Verfügung und teilen dann die Werbeeinnahmen mit YouTube. Aber YouTube hat auch eine Technologie zur Identifizierung von Inhalten eingeführt, die automatisch Material mit Copyright erkennt, wenn der Inhaber oder die Inhaberin des Urheberrechts YouTube einen »digitalen Fingerabdruck« des Materials übermittelt hat. Das bedeutet, dass von ganz normalen Nutzer_innen gepostetes Material, das das Urheberrecht eines Partnerunternehmens verletzt, umgehend identifiziert und entweder entfernt oder so mit Werbung verknüpft werden kann, dass die Einnahmen daraus dann geteilt werden – nicht mit der Person, die das Material gepostet hat, sondern mit dem Unternehmen, das das Urheberrecht innehat. Wie Wasko und Erickson schreiben: »Schät46 McDonald, Digital Discords in the Online Media Economy, S. 398. 47 Ebenda, S. 399 48 Ebenda, S. 394.
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zungsweise 90 Prozent der Urheberrechtsansprüche, die auf diese Weise geltend gemacht werden, werden in Werbemöglichkeiten umgesetzt.«49 Trotz anfänglicher Konflikte haben YouTube und die Content-Lieferanten somit zu einer harmonischen Symbiose gefunden, die ihnen beiden beträchtliche Werbeeinnahmen einbringt. Da beide ein starkes Interesse haben, diese Einnahmen zu steigern, gibt es Befürchtungen, YouTube könnte seine Kontrolle über die Website dazu nutzen, seine Partnerunternehmen gegenüber den Amateurproduzent_innen zu bevorzugen, die weiterhin große Mengen an Material hochladen – zum Beispiel durch die Auswahl bestimmter Videos oder durch die Entfernung von Material, das den betreffenden Unternehmen auf YouTube nicht genehm ist.50 All das sollte die Tatsache nicht verschleiern, dass YouTube und Facebook sich in manchen Hinsichten auch sehr von herkömmlichen kapitalistischen Unternehmen unterscheiden. Facebook und ähnliche soziale Netzwerke haben neue Räume geschaffen, in denen der Fokus auf der freien sozialen Interaktion mit Freund_innen, Familie und Bekannten liegt, ohne geografische Einschränkung. YouTube stellt einen neuen Raum zur Verfügung, um Kreativität kostenlos zu teilen und kollaborativ zusammenzuarbeiten, der in starkem Kontrast zu dem Top-Down-Modell der Massenmedien in der Zeit vor dem Internet steht. YouTube hat dazu beigetragen, dass sich neue Chancen für eine partizipative Kultur entwickeln konnten, geschaffen von ganz gewöhnlichen Menschen, die aus allgemeineren kulturellen Phänomenen schöpfen, ob kommerziellen Ursprungs oder nicht, und sich auf diese Weise die Kreativität von den Unternehmen zurückholen.51 Dazu gehören signifikante Elemente der Gabenökonomie, sowohl bei der Bereitstellung von Inhalten durch die Nutzer_innen als auch bei der Bereitstellung der Dienstleistung durch die betroffenen Websites. Mit kostenlosen Musikangeboten ist YouTube beispielsweise zu einem
49 Wasko / Erickson, The Political Economy of YouTube, S. 381. 50 Strangelove, Watching YouTube, S. 108; Wasko / Erickson, The Political Economy
of YouTube, S. 382. 51 Jenkins, Convergence Culture; Lessig, Remix.
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wichtigen Konkurrenten von Apples iTunes geworden, wo für digitale Inhalte bezahlt werden muss. Das Verhältnis dieser Unternehmen zum kapitalistischen Modell lässt sich auf zweierlei Weise beschreiben. Auf der einen Seite ist es eine den Interessen des Kapitals unterworfene Gabenökonomie, eingefügt in eine Umgebung, die dauernd umgestaltet wird, damit sie diesen Interessen dient. Auf der anderen Seite ist es eine Form des Kapitalismus, die sich als Anhängsel neuer Arten der Interaktion gebildet hat, bei denen die Schenktransaktionen im Vordergrund stehen. Es ist immer noch Kapitalismus, aber eine sehr andere Art von Kapitalismus. Beide Perspektiven tragen der Tatsache Rechnung, dass es sich um eine sehr stark gemischte Form handelt, bei der ein kapitalistisches Element mit Elementen anderer Wirtschaftsformen interagiert. Durch die Besetzung dieser Räume und der überlegenen Position, die dank Netzwerk- und Größeneffekten entstanden ist, haben die Unternehmen verhindert, dass sich Alternativen durchsetzen konnten, bei denen die Aspekte der Gabenökonomie wichtiger sind. Im Videobereich hätte das Peer-to-Peer-Filesharing eine Alternative sein können, bei den sozialen Netzwerken gibt es verschiedene Alternativen, wie die Software Diaspora*, aber angesichts der Dominanz von YouTube und Facebook auf den entsprechenden »Märkten« ist schwer vorstellbar, wie Alternativen eine kritische Masse erreichen könnten.
Das schwierige Konzept der Prosumtion In aktuellen Diskussionen über nutzergenerierte Inhalte taucht oft das Konzept der Prosumtion oder der Prosument_innen auf, das der Zukunftsforscher Alvin Toffler eingeführt hat. Toffler beschrieb mit dem Begriff die Situation, dass sich die Rollen von Produzent_innen und Konsument_innen zunehmend vermischen, weil Konsument_innen immer mehr Aufgaben übernehmen, die früher von den Beschäftigten der Unternehmen geleistet wurden, bei denen die Konsument_innen einkauften.52 Noch bevor es das Internet gab, beobachtete Toffler diese 52 Toffler, Die dritte Welle.
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Entwicklung in vielen Bereichen, etwa wenn Kund_innen sich ein konfigurierbares Produkt selbst zusammenstellen. Aber die bekanntesten Beispiele entstanden mit der Einführung der Selbstbedienung in Supermärkten, an Tankstellen, in Banken und Fastfood-Restaurants. In diesen Fällen wurden die Geschäftsprozesse umgestaltet, um Aufgaben, die Lohnarbeit erfordern, zu reduzieren oder ganz abzuschaffen, indem sie künftig in die Verantwortung der Kunden fielen. In jüngster Zeit haben etliche Autor_innen das Konzept der Prosumtion mit Entwicklungen der Digitalwirtschaft verbunden, als Erster der Wirtschaftsautor Don Tapscott.53 Aus der wissenschaftlichen Literatur sind vor allem George Ritzer und Nathan Jurgenson bekannt. Sie vertreten die Auffassung, die digitalen Entwicklungen würden den »Prosumenten-Kapitalismus« ankündigen.54 Eine formelle Definition geben sie nicht, aber sie argumentieren ganz im Sinn von Toffler, Prosumtion bedeute, »die Kund_innen arbeiten [zu] lassen«55. Sie legen eine lange Liste mit Beispielen digitaler Prosumtion vor, darunter auch die Erstellung von Inhalten durch unbezahlte Nutzer_innen von Wikipedia, Facebook, Twitter und YouTube, die Blogs verfassen, Charaktere und Communities bei Rollenspielen wie Second Life schaffen, Open-Source-Software schreiben, Produktbewertungen bei Amazon abgeben und auf eBay und Craigslist »den Markt« bilden.56 Ritzer und Jurgenson unterscheiden zunächst Prosumtion von früheren Arten von Produktion und Konsum und schreiben der Prosumtion immer größere Bedeutung zu, die sie hauptsächlich unter dem Einfluss des Internet 2.0 gewinnen, bei dem nutzergenerierte Inhalte eine immer größere Rolle spielen. Demnach würden wir in das »Zeitalter der Prosument_innen« oder des »Prosumentenkapitalismus« eintreten.57 Die digitale Prosumtion sehen sie als Vorreiterin einer noch interessanteren Wirtschaftsform, in der die Kapitalist_innen die Prosument_innen nicht vollständig kontrollieren könnten.
53 54 55 56 57
Tapscott, Die digitale Revolution, S. 86f. Ritzer / Jurgenson, Production, Consumption, Prosumption. Ebenda, S. 18. Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 19ff.
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Von deren Ausbeutung könne nicht die Rede sein, da sie sich ihre Beiträge selbst aussuchten und gerne erbrächten, während die Unternehmen nach neuen Wegen suchen müssten, um Gewinne zu erzielen.58 Im Folgewerk weitet Ritzer das Konzept der Prosumtion noch aus und definiert es als »den verschränkten Prozess von Produktion und Konsum«59; Produktion wie Konsum seien als Varianten des »primären« Prozesses zu sehen, nämlich der Prosumtion.60 Zur Produktion gehöre wesensmäßig der Konsum dazu, und in den sei wiederum die Produktion »eingewoben«. Aber während er Produktion und Konsum einfach als Spielarten der Prosumtion definiert, hebt er im Folgenden darauf ab, dass wir »eine massive Ausweitung« der Prosumtion erlebten.61 Auch wenn sich einige Aspekte dieser Argumentation mit der in diesem Buch vertretenen decken, erweist sich das Konzept der Prosumtion und die Rolle, die es bei Ritzer spielt, als problematisch, weil die Begriffe Produktion und Konsum unhinterfragt in anspruchsvollere theoretische Konstruktionen einfließen. Sowohl bei Toffler als auch bei Ritzer und Jurgensen beruht Prosumtion darauf, dass die betreffende Aktivität zwischen den beiden Kategorien wechselt, wie es zum Beispiel der Fall ist, wenn Kund_innen ihr Auto selbst betanken, anstatt das dem Tankwart zu überlassen. Weil solche Tätigkeiten vormals als Bestandteile der Produktion galten, scheint es so, als seien sie auf die Kund_innen verlagert worden. Dabei übersehen die Theoretiker_innen der Prosumtion jedoch, dass tatsächlich die Marktgrenze den Unterschied zwischen Produktion und Konsum definiert (siehe Kapitel 2). Ein und dieselbe physische Aktivität zählt zur Produktion, wenn sie von einem oder einer Angestellten im Rahmen der Lieferung einer Ware ausgeführt wird, und als Konsum, wenn der Käufer oder die Käuferin der Ware sie ausführt. Die Verschiebung über die Marktgrenze hinweg verleiht ihr keinen ambivalenten Charakter: Von den Beispie-
58 Ebenda, S. 21f. 59 Ritzer, Prosumption: Evolution, Revolution, or Eternal Return of the Same?, S. 3
und Fußnote 1. 60 Ebenda, S. 10. 61 Ebenda.
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len, welche die Autoren für Prosumtion anführen, kann eigentlich keines als Produktion gelten.62 Wer sie dennoch als solche verbucht, sitzt einer unkritisch essenzialistischen Vorstellung von Produktion auf, die den Charakter der Produktion in der physischen Natur der betreffenden Tätigkeiten verortet anstatt in ihrer Beziehung zum Markt. Diese ideologische Konzeption von Produktion ist das Ergebnis, weil die Marktgrenze als selbstverständliches Unterscheidungskriterium in den allgemeinen Diskurs eingeführt wurde: Dadurch erscheinen Tätigkeiten, die zur Herstellung von Waren dienen, als sozial wertvoller als Tätigkeiten, bei denen das nicht der Fall ist. Der solchen Tätigkeiten zugeschriebene Wert wird mit dem Etikett »produktiv« versehen, das dieser Einschätzung Zustimmung verschafft. Dabei gerät der Ursprung dieser Überzeugung aus dem Blick, was es ermöglicht, ausgehend von der Idee, dass allein »produktive« Tätigkeiten gesellschaftlich wertvoll seien, zugunsten der Herrschaft des Marktes zu argumentieren: Dieser sei wohltätig, animiere er doch Unternehmen zur »produktiven« Tätigkeit, für die sie dann auch eine finanzielle Entlohnung verdienten. Damit diese auf den Kopf gestellte Wahrnehmung funktioniert, muss verschleiert werden, dass in erster Linie die Marktgrenze definiert, was »produktiv« ist. Auf dieser Grundlage lässt sich die »Produktivität« dann als eine besondere Leistung der Warenproduktion feiern, während es sich in Wahrheit schlicht um einen Zirkelschluss handelt. Deshalb kommen wir zu der Vorstellung, dass die meisten »produktiven« Arbeiten zwar tatsächlich von Warenproduzent_innen erledigt werden, aber durchaus auch von anderen – immer noch als »produktive« – übernommen werden könnten, während die meisten anderen Aktivitäten, die außerhalb der Warenproduktion stattfinden, als unproduktiv abqualifiziert werden, unabhängig davon, welchen Nutzen sie für die Menschen bringen können. Marx’ bekannte Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit ist im Übrigen insofern 62 In der marxistischen Terminologie zählen zur Produktion nur Tätigkeiten, die
Tauschwert schaffen, nicht jedoch Tätigkeiten, die Nutzwert schaffen, aber keinen Tauschwert (Humphreys / Grayson, The Intersecting Roles of Consumer and Producer).
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ein seltsamer Aufguss dieser Logik, als damit im Ergebnis die Industriearbeiterschaft politisch auf ein Heldenpodest gestellt wird. Damit soll nicht bestritten werden, dass die Einführung einer »Prosumtion« (oder ähnlich) benannten Kategorie durchaus hilfreich sein kann, um Aktivitäten zu bezeichnen, die kürzlich über die Marktgrenze hinweg Personen zugeschoben wurden, die dafür nicht entlohnt werden. Diese realen und bedeutsamen Veränderungen zu benennen hilft, die Wege offenzulegen, auf denen Kapitalbesitzer_innen neuerdings die Profitabilität ihrer Unternehmen steigern. Dass aber solche Aktivitäten immer noch eine Form von Produktion seien, ist ein Irrglaube. Zwar schaffen sie Nutzen ganz ähnlich wie die zur Produktion zählenden, aber das gilt auch für ein breites Spektrum anderer Tätigkeiten, denen die Menschen außerhalb der Marktökonomie nachgehen, wie wir in Kapitel 2 gesehen haben. Auf die Art lässt sich das theoretische Argument, hier gebe es inzwischen eine Grauzone zwischen Produktion und Konsum, nicht rechtfertigen. Überdies ist Prosumtion eine naturgemäß instabile Kategorie, insofern sie darauf beruht, dass eine Tätigkeit, die heute von Konsument_innen erledigt wird, mit einer vergleichbaren, von Produzent_innen ausgeführten in Verbindung gebracht wird. Was zur Prosumtion zählt, hängt von den jeweils gezogenen Vergleichen ab.63 Nach welcher Zeitspanne kann zum Beispiel ein Käufer oder eine Käuferin, der oder die eine Tätigkeit übernimmt, die vormals von bezahlten Kräften ausgeführt wurde, als Prosument oder Prosumentin gelten? Oder wie häufig müssen sie diese Tätigkeit übernehmen? Wenn eine Person vor fünfzig Jahren ein Unternehmen dafür bezahlt hat, dass es Personal zur Verfügung stellte, das ihr Trauben zum Mund führte, macht uns das heute zu Prosument_innen, wenn wir uns die Trauben selbst in den Mund stecken? Falls ja, wären die fünfzig Jahre dann die Grenze und wir heute noch Prosument_innen, wenn wir die Trauben selbst zum Mund führen, aber morgen schon nicht mehr? Vielleicht wegen Fragen wie dieser hat Ritzer inzwischen seine Definition von Prosumtion verändert. Mit seiner Auffassung, Prosumtion umfasse alle Aspekte von Produktion und Konsum, rückt er in die 63 Vgl. Glucksmann, Working to Consume, S. 19.
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Nähe meiner Darstellung der substantivistischen oder Versorgungsökonomie in Kapitel 2, bei der es keine essenzielle Unterscheidung zwischen Produktion und Konsum gibt. Er argumentiert auch ganz richtig, dass die Unterscheidung zwischen Produktion und Konsum eher eine historische als eine wesensmäßige sei und mit der Ausbreitung des Marktes in der Wirtschaft zusammenhänge.64 Aber im Anschluss vertritt er die Auffassung, dass in dem breiten Spektrum ökonomischer Aktivitäten einige eher der Produktion ähnlich seien und andere dem Konsum und dass die Prosumtion eine immer größere Rolle spiele: alles Gedankengänge, die auftauchen, weil die oben kritisierten Konzepte von Produktion und Konsum nicht hinterfragt werden. Trotzdem können wir fragen, ob es eine Rolle gibt, die nicht genau in die binäre Unterscheidung von Produzent_innen und Konsument_innen passt, die im vorherrschenden ökonomischen Diskurs implizit getroffen wird, und ob der Begriff Prosument oder Prosumentin sie richtig bezeichnet. Die Rolle, die jemand übernimmt, der in einem Fastfood-Restaurant sein Essen selbst zum Tisch trägt, unterscheidet sich nicht sehr von der des Konsumenten generell, aber einige Tätigkeiten, die Ritzer und Jurgenson identifizieren, sind tatsächlich anders. Gekennzeichnet sind sie allerdings nicht dadurch, dass sie von einer Seite der Marktgrenze auf die andere verlagert wurden, sondern dass sie Rollen beinhalten, die sich von denen der traditionellen Konsument_innen und bezahlten Arbeitskräfte unterscheiden. Hier denke ich an die Rollen, die wir weiter oben in diesem Kapitel ausführlich diskutiert haben. Wenn Facebook-Nutzer_innen auf FacebookSeiten Status-Updates und Fotos ihrer Freund_innen posten, übernehmen sie keine Rolle, die früher einmal Lohnarbeiter_innen gespielt haben, sondern werden in einer Weise tätig, die aus den herkömmlichen Kategorien von Produzierenden und Konsumierenden herausfällt. Auf der einen Seite sind sie nicht bei Facebook angestellt und werden nicht von Facebook bezahlt, und deswegen sind sie keine herkömmlichen Produzent_innen. Aber auf der anderen Seite schaffen sie Inhalte und geben die Kontrolle darüber anders als typische 64 Ritzer, Prosumption: Evolution, Revolution, or Eternal Return of the Same?, S. 15.f
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Konsument_innen zumindest teilweise an ein kommerzielles Unternehmen ab, das ihnen eine Dienstleistung zur Verfügung stellt. Um eine Verwechslung mit dem Konzept der Prosumtion zu vermeiden, bezeichne ich alle, die eine solche Rolle ausfüllen, als Co-Schöpfer_innen: Co-Schöpfer_innen sind unbezahlte Urheber, die Inhalte für kommerzielle Unternehmen schaffen.65 Diese Rolle existierte schon vor der Digitalwirtschaft, einige Beispiele von Ritzer und Jurgenson aus der prädigitalen Ära zählen ebenfalls dazu – Anrufer_innen in einer Radiosendung beispielsweise und Personen, die in Reality-Shows im Fernsehen auftreten –, aber seit es nutzergenerierte Inhalte auf kommerziellen Websites gibt, hat diese Rolle offensichtlich enorme Verbreitung gefunden. Wie wir gesehen haben, ist diese Rolle für eine ganze Gruppe großer Digitalunternehmen von zentraler Bedeutung, lässt sich aber weder in den Begriffen der Mainstream-Ökonomie noch in denen der marxistischen politischen Ökonomie plausibel erklären. Einige Marxist_innen haben jedoch versucht, sie in ihre Sichtweise zu integrieren, indem sie sagen, Co-Schöpfer_innen – oder Prosument_innen – seien Ausbeutung unterworfen.
Werden Amateure, die Inhalte liefern, ausgebeutet? Christian Fuchs beispielsweise argumentiert, Facebook-Nutzer_innen und andere digitale Prosument_innen würden ausgebeutet. Nach seiner Lesart von Marx werden arbeitende Menschen dann ausgebeutet, wenn sie a) zu der Arbeitsleistung gezwungen sind und b) in strikt monetären Begriffen weniger für ihre Arbeitsleistung bekommen, als ihre Arbeit zur Schaffung von Mehrwert beiträgt. In vertrauter marxistischer Manier versichert er, Lohnarbeit beruhe auf Zwang, weil die Arbeitskräfte ohne den Lohn Not leiden und sogar sterben würden. Doch es ist eher schwierig, dieses Argument auf den Fall der Co-Schöp65 Dieser Begriff hat in der Wirtschaftsliteratur eine längere Geschichte (siehe zum
Beispiel Prahalad / Ramaswamy, Co-opting Customer Competence). Ich stimme nicht mit allen Verwendungen überein.
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fer_innen auszuweiten. Laut Fuchs werden sie »durch ideologische Gewalt gezwungen«66, weil ihnen bei einer Nichtregistrierung bei Facebook die soziale Isolation drohe67 – nicht eben ein überzeugendes Argument. Da nach meinem Verständnis Zwang ohnehin nicht zu Marx’ Ausbeutungsbegriff gehört, ist der zweite Teil des Arguments wohl wichtiger: Wie Fuchs vertritt, stellten Prosument_innen dadurch, dass sie einerseits Daten über sich selbst lieferten und andererseits Aufmerksamkeit für die Werbung aufbrächten, die sie in der Folge erhielten, eine »Internet-Prosumer-Ware«68 mit einem Tauschwert für Unternehmen wie Facebook dar, ohne dass sie dafür bezahlt würden. Er räumt ein, dass die kostenlosen Dienstleistungen für sie vielleicht von einem gewissen Nutzwert seien, beharrt aber darauf, dass das keine echte Entlohnung sei, weil diese »Zugang zu einem allgemeinen Tauschäquivalent« verschaffen oder, mit anderen Worten, in Form von Geld stattfinden müsse.69 Anderen Nutzen spielt er herunter und kommt zu dem Ergebnis: »Die Arbeit von Internet-Prosument_innen wird in einer unendlichen Größenordnung vom Kapital ausgebeutet. Das bedeutet, dass kapitalistische Prosumtion eine extreme Form der Ausbeutung ist, bei der die Prosument_innen vollkommen unbezahlt arbeiten.«70 Die Ausbeutungsrate sei unendlich groß, weil die Summe des für das kapitalistische Unternehmen geschaffenen Werts durch den erhaltenen Lohn geteilt wird, der null beträgt. So gelangt Fuchs – zumindest auf mathematischem Weg – zu der Schlussfolgerung, dass Facebook-Nutzer_innen stärker ausgebeutet würden als Lohnarbeitskräfte wie die an den Fließbändern in den chinesischen Fabriken von Foxconn. Wenn das marxistische Konzept der Ausbeutung zu einem solchen Ergebnis führt, belegt es damit lediglich, dass es als ethischer Maßstab überflüssig ist. Diese Logik überzeugt allerdings nicht alle Denker_innen in der marxistischen Tradition: Viele zeigen sich offen für kreativere Wege,
66 67 68 69 70
Fuchs, Digital Labour and Karl Marx, S. 90. Ebenda, S. 91. Ebenda, S. 93. Ebenda, S. 105. Ebenda, S. 104.
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Marx’ Ideen zu verwenden. So hob Hesmondhalgh beispielsweise hervor, dass digitale Prosument_innen eindeutig nicht im gleichen Maß ausgebeutet würden wie die Arbeitskräfte in einem Ausbeutungsbetrieb.71 Sie erhielten für ihre Leistung durchaus eine Entlohnung, wenn auch nicht finanzieller Art. Hesmondhalgh wendet sich gegen den Gedanken, Geldlohn sei »die einzige bedeutsame Form der Entlohnung«72. Aufgrund einer ähnlichen Argumentation gelangt Rey zu dem Schluss, Co-Schöpfer_innen würden tatsächlich ausgebeutet, weil ihre Arbeit den betreffenden Unternehmen Gewinne bringe, aber diese Ausbeutung sei nicht unendlich groß, weil sie eine gewisse immaterielle Entlohnung erhielten, die berücksichtigt werden müsse.73 »Je nützlicher ein bestimmter Inhalt für den Prosumenten ist«, so Rey, »desto weniger ausbeuterisch ist die Prosumtion.«74 Gleichwohl halten Hesmondhalgh und Rey an Versionen von Marx’ Theorie vom Arbeitswert und von der Ausbeutung fest,75 die in Kapitel 3 widerlegt wurde. Rey unterstellt als selbstverständlich, dass die Gewinne von Facebook zwangsläufig auf der Arbeit der Co-Schöpfer_innen beruhen, die somit ausgebeutet würden, weil sich nach Marx’ Theorie Gewinne immer nur daraus ergeben, dass Arbeitskräfte weniger als den vollen Wert dessen erhalten, was sie produzieren. Wie Fuchs’ Argumentation setzt auch diese eine etwas verzerrte Lesart von Marx’ Theorie voraus, weil Marx nur die Arbeit von Lohnabhängigen behandelt, die denn auch als einzige mit der Untermenge an Tätigkeiten befasst sind, die er als »produktiv«, als wertschöpfend, bezeichnete. Wenn man die Arbeit unbezahlter Nutzer_innen in die Gleichung einbezieht, taucht eine Frage auf, die zu stellen sich Anhänger_innen der Arbeitswerttheorie nicht leisten können: Wenn diese 71 Hesmondhalgh, User-generated Content, Free Labour and the Cultural Industries, 72 73 74 75
S. 271. Ebenda, S. 278. Rey, Alienation, Exploitation, and Social Media, S. 402. Ebenda, S. 415. Hesmondhalgh betont allerdings richtig, diese Diskussionen müssten »von ethischem Denken getragen sein und die Aufmerksamkeit auf die Besonderheiten bestimmter Formen von Arbeit und Freizeit lenken« (Hesmondhalgh, User-generated Content, Free Labour and the Cultural Industries, S. 279).
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neuen Faktoren zur Wertschöpfung beitragen, warum in die Analyse dann nicht auch alle anderen einbeziehen, wie die auf der Website verwendete Technologie, die Programmierarbeit zu ihrer Erstellung, die unternehmerische Leistung der Urheber_innen der Website, das Marketing, um Werbung auf der Website zu verkaufen, sowie die Beiträge der Werbetreibenden selbst? Wie ich in Kapitel 3 argumentiert habe, ist die Behauptung, aller Wert stamme aus (Lohn-)Arbeit, eindeutig unwissenschaftlich. Sie ist ein ethisch motivierter Glaubenssatz und ganz klar ungeeignet zur Beschreibung der kausalen Prozesse, die im Kapitalismus Tauschwert hervorbringen. Und auch als ethische Position ist sie unhaltbar: Selbst wenn aller Wert tatsächlich durch Arbeit geschaffen würde, bedeutete das keineswegs, dass den Arbeitenden der Gesamtwert dessen zustünde, was sie erzeugen. Unbezahlte Lieferant_innen von Inhalten und Daten spielen dennoch eine entscheidende kausale Rolle bei den Prozessen, die den Websites erhebliche Gewinne bescheren. Dies berechtigt zu der Frage, ob sie in einem tauglicheren, explizit ethischen Sinn des Wortes ausgebeutet werden. Um sie zu beantworten, müssen wir wiederum eine Frage zur Appropriation stellen: Wer leistet bei der Produktion von Nutzen durch diese Websites welche Beiträge und wem kommen die Nutzen zugute? Kurz gesagt, erhalten alle Personen, die die Dienstleistungen in Anspruch nehmen, einen Nutzen in Form von, beispielsweise, verbesserten Möglichkeiten, mit ihren Freund_innen zu kommunizieren, sowie freien Zugang zu Medieninhalten wie Videos, während die Provider der Website – zumindest die erfolgreichen – von Werbeeinnahmen und weiteren Möglichkeiten profitieren, durch den Verkauf von Dienstleistungen Gewinne zu erzielen. Damit sind wir bei der ethischen Frage: Sind die Nutzen wie die kostenlosen Dienstleistungen eine faire Vergütung für den Beitrag, den die Besucher_ innen der Websites zur Profitabilität von Unternehmen wie Facebook und Google leisten? Dass sich die Nutzer_innen freiwillig dafür entscheiden, auf die betreffenden Websites zu gehen, spricht dafür, dass sie das Geschäft für gerecht halten. Dennoch könnten wir die These von der Ausbeutung verfechten, wenn den Nutzer_innen wichtige Aspekte des Handels nicht bewusst wären, die sie andernfalls davon abgehalten hätten, sich darauf einzulassen, mit anderen Wor-
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ten, wenn sie ungerechte Bedingungen des Handels nicht durchschaut hätten. Wir könnten einen solchen Fall konstruieren, zum Beispiel wenn wir zwei interessante Argumente von Andrejevic und Rey kombinieren. Andrejevic hinterfragt verschiedene Ansätze, Prosument_innen als ausgebeutet darzustellen, und weist darauf hin, dass bei ihnen ein wichtiger Punkt fehle: »die Unterscheidung […] zwischen nutzergeneriertem Inhalt und nutzergenerierten Daten«, die wir weiter oben in diesem Kapitel diskutiert haben.76 Die nutzergenerierten Daten seien das eigentliche Problem, weil sie in einem Kontext gewonnen würden, »der die Bedingungen des Zugangs zu den produktiven Ressourcen so regelt, dass sich die Betreffenden ausgeklügelten Formen der Überwachung und des Informationssammelns« unterwerfen müssen.77 Während die Nutzer_innen in bestimmtem Umfang die Kontrolle über die von ihnen generierten Inhalte behielten, hätten sie keinerlei Kontrolle über die als Nebeneffekt ihrer Aktivitäten auf der Website generierten Daten. Tatsächlich finde in gewissem Sinn eine Entfremdung von diesen Daten statt: Die Daten würden den Nutzer_innen entzogen, die dann keinerlei Einfluss auf die weiteren Abläufe und die Verwendung der Daten mehr hätten.78 Auch Rey sieht das als eine Form von Entfremdung an und fügt noch einen weiteren Punkt hinzu: »Nutzer_innen sind sich oft nicht vollständig bewusst, wie viele Informationen sie tatsächlich preisgeben« – ein Phänomen, das er »Beiproduktion« (»ambient production«) nennt.79 Es gibt empirische Belege, dass viele Facebook-Nutzer_innen nicht genau wissen, in welchem Umfang ihre Daten an Werbetreibende weitergegeben werden, und dass sie die Werbung ablehnen, die infolgedessen auftaucht.80 Wir könnten deshalb sagen, dass Co-Schöpfer_innen ausgebeutet werden, weil sie Daten liefern, die Nutzen für die Unternehmen schaffen, ohne sich in vollem Umfang bewusst zu sein, dass das geschieht. Tatsächlich wird der 76 77 78 79 80
Andrejevic, Exploiting YouTube, S. 418. Ebenda. Ebenda, S. 418f. Rey, Alienation, Exploitation, and Social Media, S. 410. Lilley / Grodzinsky / Gumbus, Revealing the Commercialized and Compliant Facebook User.
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Vorgang weitgehend vor ihnen verborgen, und deshalb erfolgen ihre Zustimmung und Beteiligung unter falschen Voraussetzungen. Ich weiß nicht, ob wir all das Ausbeutung nennen sollen – es könnte beispielsweise auch sein, dass die meisten Besucher_innen weiterhin Beiträge leisten würden, selbst wenn ihnen das gesamte Ausmaß der Datensammlung und der damit verbundenen Nutzen für die Betreiber_innen der Website klar wäre. Womöglich würden sie das als eine vernünftige Kompensation dafür ansehen, dass ihnen Dienstleistungen zur Verfügung gestellt werden, die sie als Nutzer_innen schätzen. Das Argument, die Datensammlung werde verschleiert, muss hinterfragt werden, weil die Profitabilität und die hohen Börsenbewertungen von Facebook und Google allgemein bekannt sind, genau wie die Tatsache, dass ihre Gewinne aus Werbung bei den Nutzer_innen der Website stammen und dass die Werbung auf die Nutzer_innen zugeschnitten ist. Sicher wissen manche Nutzer_innen das nicht, und viele dürften sich des vollen Ausmaßes, in dem Daten gesammelt werden, nicht bewusst sein, aber es ist nicht klar, ob das die Behauptung rechtfertigt, die Nutzer_innen erhielten weniger, als sie für ihre Beiträge gerechterweise erhalten sollten. Auf jeden Fall geht es hier um wichtige ethische Fragen: Wir sollten unbedingt bestimmte Rechte über die Daten haben, die über uns gesammelt werden, und ich würde auch sagen, dass wir Anspruch auf eine Umwelt haben sollten, die nicht durch eine Flut von konsumorientierter Werbung verschmutzt ist. Mein Einwand gilt lediglich dem Versuch, das Problem in die sterile und nur am Rande relevante marxistische Kategorie der Ausbeutung zu zwängen. Wie ich in Kapitel 3 ausgeführt habe, impliziert ethische Kritik immer, dass es eine bessere Alternative gibt, und die bessere Alternative hier wären nicht Websites, die die Bereitstellung von Inhalten und Daten dadurch kommodifizieren, dass sie Nutzer_innen bezahlen, bis der gesamte Gewinn aufgezehrt wäre. Wie Hesmondhalgh schreibt, würde das bedeuten, »die Betonung der Kommodifizierung durch den Kapitalismus zu internalisieren«.81 Selbst Fuchs spricht sich nicht für diese Alternative 81 Hesmondhalgh, User-generated Content, Free Labour and the Cultural Industries,
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aus, sondern für »die Schaffung nicht kommerzieller, nicht profitorientierter Websites«.82 Das bei all diesen kritischen Einschätzungen implizit enthaltene Ideal ist nicht eine Alternative, bei der die Nutzer_innen bezahlt werden, sondern eine, bei der sie genau wissen, was mit ihren Daten geschieht, die volle Kontrolle über die Daten behalten und nicht als Bedingung für die Inanspruchnahme der Dienstleistung mit unerwünschter Werbung bombardiert werden.
Schlussfolgerung In diesem Kapitel haben wir zeitgenössische Formen des digitalen Kapitalismus untersucht, die von der Arbeit unbezahlter Nutzer_innen abhängen, die Inhalte beitragen und nebenbei wertvolle Daten über ihre Interessen und Merkmale generieren: Inhalte und Daten, die den Dienstleistungen der betreffenden Unternehmen zugrunde liegen und auf denen ihre Profitabilität beruht. Es ist eine Mischform aus Kapitalismus und kollaborativer Produktion, zu der Geschenke, Waren und beiläufige Transfers gehören; all das ist zu neuen Komplexen von Appropriationspraktiken zusammengeflossen. Für die erfolgreichsten Unternehmen entstehen daraus enorme Gewinne, und enorme Zahlen von Nutzer_innen profitieren von den angebotenen kostenlosen Dienstleistungen. Selbstverständliche Annahmen über die Grenzen der Produktion und der Wirtschaft werden dadurch infrage gestellt, ebenso der Fokus der beiden dominierenden Formen der politischen Ökonomie auf Warenproduktion durch den Einsatz von Lohnarbeit. Wie viele andere Wirtschaftsformen, die in diesem Buch behandelt werden, weist auch diese Mischform darauf hin, dass wir unsere Theorien über die Wirtschaft überdenken müssen. Theorien über Prosumtion konzentrieren sich jedoch auf die falschen Themen. Es gibt keine dritte Kategorie zwischen Produktion und Konsum; wir müssen vielmehr anerkennen, dass diese Begriffe nur im Rahmen des marktwirtschaftlichen Diskurses Bedeutung haben. Auch Versuche, die Prosumtion in die alte marxistische Theorie der Ausbeutung einzufügen, 82 Fuchs, Digital Labour and Karl Marx, S. 89.
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helfen uns nicht dabei, die ökonomischen Praktiken und die ethischen Fragen zu verstehen, um die es geht. Stattdessen lenken sie die Aufmerksamkeit von dem wirklich interessanten Merkmal des UserContent-Kapitalismus ab: dass er weder wie ein Markt noch wie Lohnarbeit funktioniert. Dieses Kapitel verfolgt einen produktiveren Ansatz, weil es damit beginnt, die mit diesen Mischformen verbundenen Appropriationspraktiken, ihre Zusammenhänge und Interaktionen mit anderen Wirtschaftsformen und ihre ethischen Implikationen zu untersuchen. Es gibt keinen klaren Grund zu sagen, dass Co-Schöpfer_innen ausgebeutet werden; die meisten ziehen echten Nutzen aus ihrer Beteiligung. Aber man kann die bestehenden kapitalistischen Ausprägungen dieser Mischform aus anderen Gründen kritisieren: Vor allem missbrauchen sie die Kontrolle über nutzergenerierte Daten und überschwemmen uns mit konsumorientierter Werbung. Trotzdem gehört diese Mischform zu den weniger bösartigen Ausprägungen des Kapitalismus, und ein Verdienst des in diesem Buch entwickelten Ansatzes ist es, dass er uns erlaubt, solche Urteile zu treffen: Der Kapitalismus ist weder inhärent böse noch inhärent erstrebenswert, sondern jeder Einzelfall muss nach seinen Folgen beurteilt werden.
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Schluss
Einführung Um über die Wirtschaftssysteme hinauszudenken, die wir heute haben – ja, um überhaupt die Wirtschaft zu verstehen, die wir haben –, brauchen wir eine neue politische Ökonomie: eine, die anerkennt, dass die Warenproduktion nicht die einzige Form der ökonomischen Tätigkeit ist, und die sich deshalb mit der gesamten Bandbreite der vorhandenen und möglichen Wirtschaftsformen befasst und nicht versucht, sie alle in ein dogmatisches Schema zu pressen. Wir brauchen eine politische Ökonomie, die die zutiefst gesellschaftliche – und materielle – Natur der wirtschaftlichen Tätigkeit anerkennt und die Praktiken untersucht, mit denen sie operiert, nicht als Nebenschauplatz einer formelleren, fundamentaleren Ökonomie, sondern als theoretische Grundlage eines sehr viel realistischeren Studiums der Wirtschaft. Wir brauchen eine politische Ökonomie, die wirtschaftliche Handlungen und Praktiken an expliziten ethischen Maßstäben misst, die die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen widerspiegeln, und nicht an ideologischen Prinzipien, die behaupten, einem langfristigen allgemeinen Nutzen zu dienen. Wir brauchen eine politische Ökonomie, die uns hilft, gangbare Wege zu einer besseren Wirtschaft zu erkunden, statt zu bestreiten – wie es die Mainstream-Ökonomie heute tut –, dass wir eine bessere Wirtschaft brauchen, oder – wie es im traditionellen Marxismus geschieht – eine bessere Wirtschaft außerhalb unserer Reichweite anzusiedeln. In diesem Buch wird skizziert, wie eine solche politische Ökonomie aussehen könnte: eine politische Ökonomie soziomaterieller Strukturen und Praktiken, ich kürze sie ab als politische Ökonomie von Praktiken. Bei diesem Ansatz wird die Wirtschaft als versorgende Wirt-
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schaft definiert, die all jene Aktivitäten einschließt, die Nutzen für die Menschen schaffen und ihnen bringen, unabhängig davon, ob Warentausch erfolgt. Diese Aktivitäten nehmen unterschiedliche Formen an, die alle – und das ist die zentrale theoretische Neuerung des Buchs – analysiert werden können als interagierender Bestand oder Komplex von Appropriationspraktiken. Dabei ist eine Appropriationspraktik eine normativ standardisierte Art, zu handeln, die beeinflusst, wer welche Nutzen aus Versorgungsaktivitäten erhält. Der Kapitalismus ist weniger eine einzige Form, sondern vielmehr eine Palette unterschiedlicher Komplexe von Appropriationspraktiken, die ein zentrales Merkmal gemeinsam haben: Aktivitäten in kapitalistischen Formen sind letztlich von der Notwendigkeit getrieben, immer größere Mengen von Kapital anzusammeln. Unsere Wirtschaft ist jedoch nicht nur der Schauplatz des Kapitalismus, sondern auch vieler anderer Komplexe von Appropriationspraktiken, einschließlich der Gabenökonomie und verschiedener hybrider bzw. Mischformen. Da Wirtschaftsformen und Appropriationspraktiken entscheiden, wem welche Nutzen zufallen, gehen kritische Analysen solcher Formen und Praktiken unvermeidlich immer von ethischen Prinzipien aus, die besagen, wem welche Nutzen zustehen, gleichgültig, ob solche Prinzipien explizit oder verdeckt sind. Dieses Buch plädiert für Prinzipien, die in offenen Diskursprozessen vereinbart werden, wie sie Jürgen Habermas und Martha Nussbaum beschreiben: allen voran das Prinzip, dass die Grundbedürfnisse aller Menschen befriedigt und ihre wesentlichen Befähigungen geschützt werden sollten. Weil wirtschaftliche Alternativen auf dieser Grundlage beurteilt werden, ist es eine politische Ökonomie. Um zu einer besseren Wirtschaft zu gelangen, müssen wir in erster Linie real existierende Wirtschaftsformen bewerten und uns in Richtung einer Mischung bewegen, die die eher schädlichen Formen reduziert und die eher vorteilhaften stärkt. Das abschließende Kapitel beginnt mit einigen weiteren Ausführungen dazu, wie die politische Ökonomie der Praktiken eine Perspektive für theoretische Überlegungen zur Wirtschaft abgeben kann, und wendet sich dann der Digitalwirtschaft zu. Es wird erläutert, wie die in Teil III diskutierten Fälle – und ähnliche andere – die Aussagen des Buchs über wirtschaftliche Vielfalt illustrieren. Das Buch en-
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det so, wie jedes Buch über politische Ökonomie enden sollte: mit Überlegungen, was all das bedeutet, wenn man die Welt verändern will.
Wie man Theorien über die Wirtschaft entwickelt Die Vielfalt akzeptieren Die heutige Weltwirtschaft ist enorm vielfältig, nicht nur wegen der sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus der einzelnen Länder und Regionen. In nahezu jedem Land der Welt wird ein großer Sektor der Wirtschaft von gewinnorientierten Unternehmen beherrscht, ein weiterer großer Sektor vom Staat, und ein dritter funktioniert als Gabenökonomie, wobei die Sektoren jeweils sehr unterschiedlich sind und viele verschiedene Mischformen existieren. Trotzdem erscheint die Wirtschaft im theoretischen Denken überwiegend als Monolith: als homogene Warenökonomie, die die Mainstream-Ökonomen als Marktwirtschaft beschreiben und ihre marxistischen Kritiker als kapitalistische Wirtschaft. Beide Richtungen erkennen die Existenz eines staatlichen Sektors an, aber von vielen Puristen des Mainstreams wird er als ineffiziente Verzerrung belächelt und im traditionellen Marxismus als Schöpfung der Kapitalistenklasse abgetan; in ihren jeweiligen Wirtschaftstheorien kommt er praktisch nicht vor. Weder die eine noch die andere Richtung würdigt indes die bedeutsame Rolle der Gabenökonomie in der heutigen Gesellschaft. Wie J. K. Gibson-Graham argumentieren, haben beide Denkrichtungen trotz der großen Unterschiede zwischen ihren theoretischen und politischen Ansätzen zur Entstehung eines Diskursregimes beigetragen, das Wirtschaft mit der Warenproduktion kapitalistischer Unternehmen identifiziert. Die alltägliche Vorstellung von Wirtschaft wird durch Kaufen und Verkaufen und durch die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung bestimmt, die nur das misst, was gekauft und verkauft wird. Die verwandten Konzepte von Produktion, Konsum und Markt sind so selbstverständlich geworden, als wären sie die einzig richtige Art, über Wirtschaft zu sprechen, und allein der Gedanke,
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dass zum Beispiel Freiwilligenarbeit oder Blutspenden oder die Zubereitung einer Mahlzeit zu Hause wirtschaftliche Tätigkeiten sein könnten, erscheint unter dem Einfluss dieses Diskursregimes leicht absurd. Doch wenn es uns nicht gelingt, das infrage zu stellen, schließen wir die Möglichkeit aus, über Wirtschaft radikal anders nachzudenken, als es dieses monolithische Modell zulässt. Das hat zwei schwerwiegende Konsequenzen. Erstens verhindert es die Anerkennung, dass bestehende nichtmarktwirtschaftliche Wirtschaftsformen gangbare Alternativen für die Zukunft sein können. Traditionelle Marxisten befürworten natürlich eine andere Wirtschaft, aber wie sie aussehen soll, bleibt vage; ihre Vorstellungen sind nicht getestet und als gangbarer Weg für die Zukunft vollkommen unplausibel. Wir anderen müssen erst mehr praktische Alternativen sehen, bevor wir glauben können, dass eine andere Wirtschaft möglich ist. Und zweitens hindert es uns daran, zu erkennen, dass es eine vielfältige Wirtschaft heute schon gibt und es folglich möglich ist, durch die Ausdehnung und Weiterentwicklung der bereits existierenden nichtmarktwirtschaftlichen Formen zu einer weniger marktorientierten Wirtschaft zu kommen. Deshalb brauchen wir eine andere politische Ökonomie, eine, die anerkennt, dass viele verschiedene Wirtschaftsformen bestehen – nicht am Rande des Marktes, sondern genauso wichtig wie der Markt – und ein Reservoir an bereits funktionierenden Alternativen darstellen.
Die Wirtschaft durch Versorgung definieren Unsere Vorstellung von nichtmarktwirtschaftlichen Wirtschaftsformen wäre jedoch inkohärent, wenn wir weiterhin davon ausgingen, dass sich die Wirtschaft durch die Marktbeziehung definiert. Wir können nur offener und flexibler über Wirtschaftsformen nachdenken, wenn wir die Wirtschaft mit anderen Begriffen definieren. Wie etliche Denker_innen aus heterodoxen ökonomischen Richtungen argumentiert haben, sollten wir die Wirtschaft nicht in den Begriffen des Marktes fassen, sondern in denen der Versorgung: Wirtschaftliche Aktivitäten sind solche, die die Waren und Dienstleistungen zur Verfügung stellen, die die Menschen brauchen. Nach diesem Verständnis zählt
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beispielsweise die Zubereitung einer Mahlzeit zur Versorgung und ist damit eine wirtschaftliche Aktivität, ob sie gegen Lohn geschieht und dabei eine Ware für den Verkauf in einem Restaurant geschaffen wird oder ob sie zu Hause der Ernährung der Familie dient. Diese Definition von Wirtschaft hängt davon ab, was wir zu den Bedürfnissen zählen wollen: Wenn wir Bedürfnisse zu eng definieren, schließen wir Aktivitäten aus, die eindeutig wirtschaftlich sind, wie die Produktion von Luxusgütern ohne besonderen Funktionswert; allerdings können wir zu Recht hinterfragen, was für »Bedürfnisse« damit befriedigt werden. Bei einer zu weiten Definition könnte es so aussehen, als würden alle menschlichen Aktivitäten Bedürfnisse befriedigen und könnten damit zur Wirtschaft zählen. In Kapitel 2 habe ich deshalb dafür plädiert, als versorgende Wirtschaft all jene Aktivitäten zu definieren, die durch Warentausch Güter und Dienstleistungen zur Verfügung stellen, und außerdem die Verfügbarmachung gleichwertiger Waren und Dienstleistungen durch andere gesellschaftliche Praktiken einzubeziehen. Das ist eine politische Definition, die eine taktische Rolle spielt: Sie öffnet uns die Augen dafür, dass auch marktunabhängige ökonomische Praktiken möglich sind. Aber das ist keine Schwäche: Die bestehende Mainstream-Definition von Wirtschaft ist ebenfalls eine politische Definition, insofern sie dazu neigt, unser bestehendes Wirtschaftssystem zu stützen, aber ihre diskursive Dominanz verschleiert die politische Natur.
Appropriationspraktiken Wenn wir die wirtschaftliche Vielfalt anerkannt haben, müssen wir auch Wege finden, um andersartige Wirtschaftsformen zu analysieren. Wieder sind die vorhandenen Denkrichtungen der politischen Ökonomie wenig hilfreich. Die Mainstream-Ökonomie ist auf die Marktwirtschaft fixiert und besitzt keine Instrumente, um andere Formen zu erfassen. Marxisten geben zu, dass Wirtschaftsformen sich im Laufe der Geschichte verändern, aber sehen in jeder Zeit eine bestimmte Wirtschaftsform als notwendigerweise dominierend und andere als lediglich ergänzend oder als historische Anachronismen an: Überbleibsel ehemals dominierender Formen oder Vorläufer künftiger Formen. Wir brauchen stattdessen einen Rahmen für die politi-
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sche Ökonomie, der es uns ermöglicht, ein großes Spektrum nebeneinander bestehender Wirtschaftsformen in ihrer ganzen Vielfalt und ihren unterschiedlichen Mischungen zu erfassen. Der wichtigste theoretische Beitrag dieses Buchs ist der Vorschlag, dass wir jede Wirtschaftsform daraufhin untersuchen, welche Appropriationspraktiken dazu gehören. Eine Praktik ist eine standardisierte Handlungsweise, üblicherweise standardisiert als Folge von normativem Druck nicht nur von anderen Menschen (oder vielmehr von Gruppen von Menschen, die ich als Normenkreise bezeichne), sondern manchmal auch durch den Einfluss standardisierter materieller Objekte (einschließlich Computersysteme), die bei der Praktik verwendet werden. Eine Appropriationspraktik beeinflusst maßgeblich die Allokation von Nutzen und/oder Übeln aus Versorgungsprozessen. Deshalb ist beispielsweise Lohnarbeit eine Appropriationspraktik: Die Arbeitnehmer_innen erhalten einen Lohn und damit einen Teil des Nutzens aus dem Versorgungsprozess als Gegenleistung für ihre erbrachte Arbeit. Ein anderes Beispiel: Die Einkommensteuer ist eine Appropriationspraktik, bei der ein Teil der Nutzen (oder eher der Nutzenträger), der den Lohnabhängigen zusteht, zur Finanzierung des Staates abgezweigt wird. Und ein drittes Beispiel: Den eigenen Kindern zu essen zu geben, ist eine Appropriationspraktik, bei der sie infolge von Handlungen ihrer Eltern oder Betreuungspersonen Nutzen empfangen. Ich konzentriere mich aus zwei Gründen auf Appropriationspraktiken. Erstens weil die Allokation von Nutzen und Übeln ökonomischer Prozesse bei Untersuchungen zur Wirtschaft das fundamentale ethische und politische Thema ist, egal, ob wir dieses Thema als Ungleichheit, Ausbeutung und Armut oder Wohlstand und wirtschaftliches Wohlergehen definieren. Und zweitens, weil das Bestreben wirtschaftlicher Akteure, Nutzen zu erringen oder zu verteilen, zur Folge hat, dass die Appropriationspraktiken von zentraler Bedeutung für die Erklärung von wirtschaftlichem Handeln und wirtschaftlichen Interaktionen sind. Die wichtigsten Wirtschaftsformen lassen sich jedoch nicht durch eine einzige Appropriationspraktik definieren, sondern eher durch miteinander verbundene und interagierende Komplexe von Praktiken. So ist beispielsweise die Form des Kapitalismus, die Marx untersucht
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hat, ein Komplex, der die Appropriationspraktiken der Kapitalakkumulation, der Lohnarbeit und der Warenproduktion verbindet. Aber wir können auch andere Wirtschaftsformen als andersartige und vielleicht sich überlappende Komplexe von Appropriationspraktiken beschreiben. So könnten wir beispielsweise den »öffentlichen Dienst« als einen Komplex definieren, der die Appropriationspraktiken Besteuerung, Lohnarbeit und die Bereitstellung kostenloser Dienstleistungen für die Bürger kombiniert. Oder wir beschreiben die »Warenproduktion in der Familie« als einen Komplex, der unbezahlte Familienarbeit und Warenproduktion verbindet. Wenn wir uns vom Dogmatismus der vorherrschenden politischen Ökonomien befreien, können wir nach und nach die Vielfalt der bestehenden Wirtschaftsformen erfassen und sehen, wie jede Form durch gesellschaftliche und tatsächlich materielle Kräfte hervorgebracht wurde, die die jeweils zugrunde liegenden normativen Praktiken prägen. In dieser Betrachtungsweise ist die Wirtschaft zutiefst vielfältig und ganz auf die Gesellschaft ausgerichtet.
Eine moralische politische Ökonomie Bei der Beschäftigung mit Wirtschaft geht es um die Frage, wer was bekommt: eine notwendigerweise ethische Frage. Doch die etablierten politischen Ökonomien haben kein gutes Verhältnis zur Ethik. Der Mainstream stellt die Wirtschaftswissenschaften im Allgemeinen als ein rein technisches Unternehmen dar, das davon ausgeht, man könne die Wertvorstellungen der Menschen an ihren Einkaufspräferenzen ablesen, weshalb die Wirtschaftswissenschaft ethische Fragen ausklammern und sich darauf konzentrieren solle, wie sich diese Präferenzen am besten bedienen lassen. Aber diese Haltung ordnet die Bedürfnisse der weniger Wohlhabenden den Bedürfnissen derjenigen unter, die über die Ressourcen verfügen, um ihre Wünsche auf dem Markt zu erfüllen. Die marxistische politische Ökonomie wird zwar letztlich von einer ethischen Vision angetrieben, doch traditionell hat sie eine andere Ethik der Unterordnung praktiziert, indem sie eine imaginäre utopische Zukunft auf ein politisches Podest gehoben und alle ethischen Fragen gegenüber dem Ziel, diese Zukunft zu erreichen, als nachrangig behandelt hat.
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Demgegenüber ist die in diesem Buch vertretene politische Ökonomie der Praktiken explizit ethisch ausgerichtet. Sie erkennt an, dass wirtschaftliche Entscheidungen keine technischen Entscheidungen sind und deshalb von ethischen Urteilen bestimmt sein müssen – nicht von abgehobenen Urteilen, die sich nach fernen politischen Prinzipien richten, sondern von ganz konkreten, indem der Nutzen und die Übel betrachtet werden, die sich wahrscheinlich ergeben, und deren Verteilung bewertet wird. Auch solche Bewertungen erfolgen anhand von ethischen Maßstäben. Es gibt keinen objektiv richtigen Bestand an ethischen Prinzipien, unsere tatsächliche Ethik entwickelt sich kontinuierlich in einem komplexen Prozess der gesellschaftlichen Interaktion, bei dem gesellschaftliche Macht eine große Rolle spielt. Jürgen Habermas hat uns gute Gründe geliefert, warum wir solchen Prinzipien den Vorzug geben sollten, die aus ehrlichen, offenen Diskussionsprozessen hervorgehen oder darin bestätigt werden, Diskussionsprozessen, in denen alle Standpunkte zu Wort kommen und deren Ausgang nicht dadurch verzerrt wird, dass manche Beteiligte mehr Macht haben als andere. Solche Prozesse oder zumindest die besten Annäherungen, die es bisher gibt, in Foren wie den Vereinten Nationen und in Untersuchungen wie denen von Martha Nussbaum, stützen das Prinzip, dass wir alle Menschen wertschätzen und dafür sorgen sollten, dass sie über die wichtigsten menschlichen Befähigungen verfügen, die Voraussetzung für ein Leben in Würde sind. Dieses Buch ist ein Plädoyer für eine Veränderung unserer Wirtschaft, die das ermöglicht.
Eine wissenschaftliche politische Ökonomie Jede politische Ökonomie, die diesen Namen verdient, muss jedoch mehr leisten, als ethische Positionen zu Fragen der Appropriation einzunehmen. Sie muss auch analysieren, wie Appropriationsprozesse vonstattengehen, wie sie bestimmte Resultate hervorbringen und wie die Prozesse verändert werden könnten, um andere Resultate hervorzubringen. Sie muss, mit anderen Worten, zugleich wissenschaftlich und ethisch sein. Beide vorherrschenden Richtungen der politischen Ökonomie verstehen sich als wissenschaftlich, aber weder die eine noch die andere erfüllt diesen Anspruch. Die Mainstream-Ökonomie
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ist gespalten zwischen einer theoretischen Richtung, die hoch abstrakte mathematische Modelle für die Untersuchung der realen Welt entwickelt, und einer empirischen Richtung, die lineare statistische Modelle ökonomischer Variablen produziert, aber den Mechanismen und komplexen Interaktionen hinter den gemessenen Phänomenen zu wenig Beachtung schenkt. Die marxistische politische Ökonomie ersetzt, insbesondere mit ihrer Arbeitswerttheorie und ihrer teleologischen Sicht der Geschichte, ein philosophisches Dogma durch die Untersuchung der schieren Vielfalt kausaler Interaktionen in den heutigen Volkswirtschaften. Der politischen Ökonomie der Praktiken liegt eine kritisch-realistische Sozialontologie zugrunde. Aus dieser Perspektive sind Gesellschaften wie auch Volkswirtschaften offene Systeme, in denen vielfältige kausale Kräfte zusammenwirken und Ergebnisse hervorbringen. Die wissenschaftliche Untersuchung der Wirtschaft erfordert, diese interagierenden kausalen Kräfte zu identifizieren und die dahinterliegenden Mechanismen zu erklären. Zu solchen Erklärungen gelangen wir hauptsächlich, indem wir untersuchen, auf welche dauerhaft strukturierten Arten Menschen miteinander und mit materiellen Objekten interagieren, um soziale Entitäten mit kausaler Macht zu bilden. Appropriationspraktiken beispielsweise werden durch normativen Druck geformt, und Gruppen von Menschen und Objekten, deren Interaktionen wiederum durch solche Praktiken geformt werden, bilden Appropriationsstrukturen, die einen starken Einfluss darauf haben, welche Vorteile und welche Nachteile Menschen von Versorgungsaktivitäten haben.
Die vielfältige Digitalwirtschaft Im dritten Teil ging es um Komplexe von Appropriationspraktiken in der Digitalwirtschaft, und dieser Abschnitt fasst die Implikationen für die umfassendere Argumentation dieses Buches zusammen. Wie in der Wirtschaft allgemein findet sich auch in der heutigen Digitalwirtschaft eine Fülle unterschiedlicher Wirtschaftsformen, darunter viele faszinierende Mischungen vertrauter Formen. Digitale Produkte – wie
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Enzyklopädieeinträge, Nachrichtenartikel, Musikaufzeichnungen und Videos – haben eine deutlich andere Kostenstruktur als herkömmliche materielle Produkte. Die Kosten der Vervielfältigung sind verschwindend gering, und das hat den Weg für eine Wirtschaft des Überflusses bereitet, die in sehr anderer Weise gelenkt wird als die von Knappheit bestimmten Wirtschaftsformen, an die wir gewöhnt sind. Überall gibt es Möglichkeiten für die Gabenökonomie, aber dieser Bereich ist auch das wichtigste Ziel für den unersättlichen Appetit des Kapitals. In ihrem aktuellen frühen Entwicklungsstadium ist die Digitalwirtschaft deshalb ein Feld, auf dem immer neue Wirtschaftsformen entstehen, und der Schauplatz von Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Formen. Dieses Buch hat am Beispiel einer Handvoll von Fällen einige Formen illustriert. Später werde ich den Fokus erweitern, indem ich noch auf einige andere eingehe, aber alle Beispiele dienen als Illustrationen meiner Argumentation und sind kein Versuch, eine umfassende Darstellung der Digitalwirtschaft zu geben.
Die digitale Gabenökonomie Das World Wide Web beruht auf digitalen Geschenken: Webseiten sind digitale Ordner, die über das Internet auf die Computer und Smartphones von Menschen übertragen werden, die sie aufrufen, und die überwältigende Mehrheit der Seiten, die wir in unseren Browsern aufrufen, sind kostenlos. Die Kosten für die Übertragung einer typischen Webseite sind verschwindend gering, und das, was übertragen wird, ist immer eine Kopie des originalen Objekts; das Original steht für unendlich viele weitere Übertragungen zur Verfügung. Weder der Schöpfer des Ordners noch andere potenzielle Nutzer_innen verlieren den Zugang dazu, wenn ein Nutzer oder eine Nutzerin ihn herunterlädt. Das verändert die Gabenökonomie. Die Schenkenden müssen ihre Gaben nicht mehr rationieren oder sorgfältig entscheiden, wem sie etwas geben. Stattdessen können digitale Informationen für alle, die sie haben wollen, frei verfügbar gemacht werden, und zwar praktisch kostenlos, abgesehen von der für ihre Erstellung erforderlichen Arbeit. Die interessantesten Beispiele der Gabenökonomie im Internet treiben die Dinge noch einen Schritt weiter. Sie organisieren weit ver-
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streute Gruppen von Beiträgern, die große und manchmal komplexe kostenlos zugängliche Ressourcen erzeugen: kollaborativ geschaffene Gemeingüter. In Kapitel 7 haben wir Wikipedia diskutiert, ein herausragendes Beispiel: die größte Enzyklopädie, die die Welt jemals gesehen hat, entstanden allein aus freiwilligen Beiträgen von selbstorganisierten Individuen, die aus der Betreuung der Enzyklopädie eine so große Befriedigung ziehen, dass sie ihnen den Lohn für die aufgewendete Zeit ersetzt. Die Arbeit der Herausgeber wird durch einen normativen, regulatorischen technischen Rahmen koordiniert, der mit bemerkenswert wenig Organisation die Qualität des Gesamtprodukts sicherstellt. Auch das Finanzierungsmodell entspricht der Gabenökonomie: Sämtliche Kosten von Wikipedia werden durch Spenden gedeckt, überwiegend von den Benutzer_innen – oder zumindest von der relativ kleinen Untergruppe von Benutzer_innen, die genug Geld haben und von Wikipedias Modell so überzeugt sind, dass sie zu den Kosten beitragen. Wikipedia, eine der am meisten genutzten Ressourcen im Internet, wird durch geschenkte Arbeit geschaffen, durch geschenktes Geld finanziert und den Nutzer_innen als Geschenk von Informationen überlassen. Wikipedia ist zwar das bekannteste Beispiel aus der digitalen Gabenökonomie, aber nur ein Beispiel von vielen. Vielleicht am ehesten vergleichbar ist die Bewegung für Open-Source-Software.1 Obwohl bei manchen Open-Software-Projekten auch kommerzielle Unternehmen mitarbeiten, ähnelt das Grundmodell stark dem von Wikipedia: Freiwillige suchen sich Aufgaben aus, die sie übernehmen, und spenden ihre Arbeitszeit dem Projekt. Das daraus resultierende Produkt steht dann allen zur kostenlosen Nutzung zur Verfügung. Einige Unterschiede gibt es allerdings: Open-Source-Software-Projekte erfordern eine verantwortliche Spitze, die die Veröffentlichung koordiniert, auch wenn die individuellen Programmierer für die einzelnen Arbeitspakete selbst verantwortlich sind. Trotzdem ist bei OpenSource-Projekten ein sehr ähnlicher Komplex von Appropriations-
1 Elder-Vass, Commerce, Community and Digital Gifts; ders., The Moral Economy
of Digital Gifts.
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praktiken im Spiel wie bei Wikipedia: etwas, das Benkler kollaborative Peer-Produktion nennt. Auch Politikforen wie die britische Website Open Democracy, wo Interessierte sich zu politischen Themen äußern können, sind ein ähnliches Phänomen, während manchen Erscheinungen der Gabenökonomie eine andere Mischung von Appropriationspraktiken zugrunde liegt. Bei Peer-to-Peer-Filesharing übernehmen die Nutzer_innen dezentral das Hosting; damit fallen keine zentralen Kosten an, und eine zentrale Organisation wird weitgehend überflüssig. Viele missachten allerdings das Urheberrecht, und damit tauchen ganz andere Fragen im Zusammenhang mit der Appropriation auf, vor allem die umstrittenen Forderungen kommerzieller Urheberrechtsinhaber_innen, das Kopieren von bestimmtem digitalem Material zu kontrollieren. Andere Dienste nutzen digitale Mittel, um nichtdigitales Schenken zu erleichtern, allen voran das Verschenk-Netzwerk Freecycle mit 7 Millionen Mitgliedern in 85 Ländern. Dort können Nutzer_innen materielle Gegenstände einstellen, die sie verschenken möchten.2 Manche Formen des Verschenkens aus der prädigitalen Ära sind ebenfalls ins Internet gewandert, wie etwa Sponsoring-Websites, die es Einzelpersonen erleichtern, mit Fundraising-Aktivitäten um Spenden zu werben. Trotz des alles beherrschenden Diskurses über die monolithische kapitalistische Marktwirtschaft gedeiht in der digitalen Welt die Gabenökonomie.
Die digitale Warenökonomie Auch der Kapitalismus gedeiht natürlich, aber er ist nicht monolithischer als die Gabenökonomie. Wenn wir den Kapitalismus als die Wirtschaftsform definieren, bei der es um die Akkumulation von Kapital geht, kann er mit vielen verschiedenen anderen Appropriationspraktiken verbunden werden, und jede Kombination repräsentiert eine andere Ausprägung des Kapitalismus. Für die geläufigste in diesem Buch diskutierte Ausprägung steht Apple, seit Kurzem das nach der Marktkapitalisierung größte Unternehmen der Welt. Apple de-
2 Freecycle, History and Background Information.
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signt und verkauft einen Mix aus physischen und digitalen Produkten, um Gewinn zu machen; die physischen Produkte werden in Massenproduktion von billigen Arbeitskräften unter entfremdenden Arbeitsbedingungen in Fabriken hergestellt. Insofern erfüllt Apple etliche stereotype Vorstellungen von kapitalistischen Unternehmen, aber weder das neoklassische noch das marxistische Modell können seine Größe und Profitabilität hinreichend erklären. Zwar profitiert Apple bei seinen Gewinnen davon, dass die Arbeitskräfte in der Produktion niedrige Löhne bekommen, wie es der Erwartung von Marxist_innen entspricht. Aber das erklärt ganz und gar nicht das volle Ausmaß seiner Gewinne. Wenn wir einen mehr kausalen als dogmatischen Ansatz zur Erklärung der Gewinne wählen, müssen wir anerkennen, dass es eine Reihe anderer relevanter Faktoren gibt. Anders als nach dem marxistischen Modell hat beispielsweise Unternehmergeist einen erheblichen Teil zum Erfolg von Apple beigetragen: Steve Jobs’ Fokus auf Design, Nutzerfreundlichkeit, Marketing und Image hat eine starke präferenzielle Kundenbindung an Apple-Produkte entstehen lassen und es Apple ermöglicht, Spitzenpreise zu verlangen, die andere Hersteller mit entsprechenden Arbeitsbedingungen nicht verlangen können. Auch die Mainstream-Ökonomie kann Apples Erfolg nicht besser erklären. Apple konkurriert nicht über den Preis; Apple macht Gewinne, indem es Kontrolle über seine Märkte ausübt: indem es eine präferenzielle Kundenbindung aufbaut; indem es gesetzliche Regelungen zum Urheberrecht ausnützt, um Konkurrent_innen auszuschalten; und indem es seine Kontrolle über die Hardware nutzt, um verwandte Märkte gegen Konkurrenz abzuschotten, wie etwa die Märkte für Apps und Musikdownloads. Wir können Apples Erfolg sehr viel plausibler als das Ergebnis eines Komplexes interagierender Appropriationspraktiken erklären, die das Unternehmen zum Teil selbst geformt hat. Doch genau wie Wikipedia nur ein mögliches Modell der digitalen Gabenökonomie definiert, steht auch Apple nur für ein mögliches Modell einer digitalen Warenökonomie. Andere Unternehmen in diesem Bereich haben etwas andere, aber sich überschneidende Appropriationspraktiken kombiniert. Amazon beispielsweise hat gezielt die Märkte rund um seine Produkte geöffnet und eine Plattform geschaffen,
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auf der seine Wettbewerber_innen – oder zumindest kleinere Wettbewerber_innen – die gleichen Produkte auf Amazons eigener Website anbieten können, manchmal sogar billiger. Amazon bekommt eine Provision von den Umsätzen, gewinnt wertvolle Informationen über Marktsegmente und verstärkt den Zustrom von Kund_innen auf seine eigene Website, indem es sich als kompetitiver Marktplatz positioniert; insofern hat diese Strategie nichts mit Wohltätigkeit zu tun.3 Man kann sagen, dass es einfach eine andere Art und Weise ist, präferenzielle Kundenbindung zu erzeugen.
Die hybride Digitalwirtschaft Obwohl in der Digitalwirtschaft das Gewinnmodell mit dem Schenkmodell konkurriert, haben beide sich auch intensiv vermischt, weil kommerzielle Unternehmen nach unkonventionellen Strategien suchen, um vom Internet zu profitieren. So hat etwa Google ein enorm erfolgreiches Geschäft damit aufgebaut, seinen Nutzer_innen kostenlose Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen – zum Beispiel Internetsuche, E-Mail und Karten. Diese Dienstleistungen sind Geschenke an die Nutzer_innen, aber eine andere Art von Geschenken als die von Wikipedia. Wie das wechselseitige Schenken, das Marcel Mauss beschreibt, zielen Anreizgeschenke von Unternehmen wie Google auf eine Gegenleistung ab; doch anders als bei wechselseitigen Geschenken kommt die wichtigste Gegenleistung nicht vom Empfänger des Geschenks. Google erhält seine Gegenleistung vielmehr in Form von Einnahmen aus Werbung, die auf die Nutzer_innen seiner Dienstleistungen abgestimmt ist. Dass die Werbung für die Nutzer_innen relevant ist, wird durch die Verwendung der Informationen gewährleistet, die die Nutzer_innen preisgeben; danach können dann Inhalte maßgeschneidert ausgewählt werden. Die Nutzer_innen stellen die Informationen nicht mit der Absicht zur Verfügung, Google dabei zu helfen, Werbung möglichst gut zu personalisieren, sie sind eher ein 3 Jopson, From Warehouse to Powerhouse.
Auch die Vorstellung eines »Marktes« unter der Kontrolle eines oder einer Beteiligten passt nicht sonderlich gut zu neoklassischen Träumen von vollständigem Wettbewerb.
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beiläufiger Transfer der Nutzer_innen, ein Nebenprodukt anderer Intentionen. Google verdankt seine Profitabilität folglich einem Komplex von Appropriationspraktiken, zu dem das Geschenk von Dienstleistungen an die Nutzer_innen gehört, ein beiläufiger Transfer von den Nutzer_innen zu Google und der Warenverkauf von Werbefläche durch Google an Werbetreibende. Das entspricht noch weniger dem neoklassischen Wirtschaftsmodell als das Geschäftsmodell von Apple. Anders als bei Apple ist hier von Herstellung weit und breit nichts zu sehen, die Abläufe bei Google sind weitgehend automatisiert, und insofern ist die marxistische Lesart, dass Profit auf der Ausbeutung von Lohnarbeit beruht, nicht mehr relevant. Und anders als bei Apple beruht Googles Geschäftsmodell nicht auf einer herkömmlichen Kundenbeziehung zu den primären Nutzer_innen seiner Dienstleistungen, sondern auf einer Schenkbeziehung, die dann eine Verkaufsbeziehung mit einer anderen Gruppe von Nutzer_innen ermöglicht: den Nutzer_innen seiner Dienstleistungen für Werbetreibende. Der Erfolg der letztgenannten Beziehung hängt vom Erfolg der erstgenannten ab, deshalb muss Google sich in einem Bereich dem Wettbewerb stellen, um in einem anderen erfolgreich zu sein. Aber Google konkurriert nicht beim Preis, weil es wie alle seine wichtigsten Konkurrent_innen die Dienstleistung kostenlos anbietet: Stattdessen konkurrieren die Unternehmen um die Bindung ihrer Nutzer_innen. Auch Facebook und YouTube stellen Dienstleistungen kostenlos zur Verfügung, um Nutzer_innen anzuziehen, damit sie mit Werbung Geld verdienen können, aber darüber hinaus setzen sie noch eine zweite Form des Schenkens ein: Sie sind davon abhängig, dass Nutzer_innen ihren Websites kostenlos Inhalte liefern (Status-Updates, Fotos, Videos usw.), diese Inhalte machen die Website für andere Nutzer_innen attraktiv. Für die Lieferant_innen der Inhalte mag das wie ein Geschenk aussehen, aber es ist ein Geschenk an ihre Freund_innen und an andere Nutzer_innen der Website und nur nebenbei auch ein Transfer an die Betreiber_innen der Website. Deshalb müssen wir zu dem Mix, den Google verwendet, eine weitere Appropriationspraktik hinzufügen, wenn wir verstehen wollen, wie solche Websites Geld verdienen.
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Diese Misch- oder Hybridformen sind unbestreitbar Beispiele einer kapitalistischen Wirtschaftsform: Die betreffenden Unternehmen verzeichnen hohe Gewinne und stehen unter beträchtlichem Druck ihrer Anteilseigner, profitabel zu sein. Aber sie nutzen auch Elemente einer Gabenökonomie, und um die daraus resultierende Mischform zu erklären, brauchen wir eine neue Form der politischen Ökonomie.
Interagierende Wirtschaftsformen In den Kapiteln von Teil III ging es um einzelne Organisationen, die bestimmte Wirtschaftsformen illustrieren. Aber hin und wieder sind wir auch auf die Frage gestoßen, wie Interaktionen zwischen unterschiedlichen Organisationen und zwischen Organisationen, die unterschiedliche Wirtschaftsformen verkörpern, emergente Effekte generieren. Das eröffnet uns den Weg zu einer politischen MakroÖkonomie von Praktiken, einer politischen Ökonomie, die systematische Verhaltensmuster größerer ökonomischer Systeme oder Subsysteme untersucht. Aber in diesem Buch unternehmen wir nur einige sehr kleine Schritte in diese Richtung. Wir haben beispielsweise gesehen, dass Unternehmen der Gabenökonomie mit Unternehmen der Warenökonomie konkurrieren, dass Mischunternehmen bei der kostenlosen Abgabe von Dienstleistungen untereinander konkurrieren, dass kapitalistische Unternehmen bestrebt sind, Steuern zu sparen, und dass Mischunternehmen versuchen, geistiges Eigentum zu verschenken, das anderen kapitalistischen Unternehmen gehört, aber schließlich die Erlöse mit ihnen teilen. Weitere Möglichkeiten, wie das Modell öffentlicher Dienstleistungen, habe ich gar nicht angesprochen, doch auch das interagiert mit anderen Formen: Im Vereinigten Königreich gibt es beispielsweise eine politische Kontroverse um die Rolle der BBC bei der kostenlosen Bereitstellung von digitalen Inhalten, weil kapitalistische Medienunternehmen dadurch ihre Chancen geschmälert sehen, gleichwertige Inhalte zu verkaufen. Ebenfalls nicht angesprochen habe ich das Thema der kriminellen Digitalwirtschaft, bei dem wieder andere Appropriationspraktiken zum Zuge kommen, manchmal auf Kosten von Durchschnittsbürger_innen und manchmal auf Kosten von Staaten und Unternehmen.
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Es bleibt abzuwarten, ob eine echte politische Makroökonomie der Praktiken möglich ist. Sie müsste von einem ganz anderen Punkt ausgehen als die herkömmliche Makroökonomie mit ihren Statistiken, die nur das erfassen, was sich monetär messen lässt, und nicht die ganze sonstige Versorgung. Und eine solche neue Makroökonomie würde sich mit ganz anderen Themen befassen als die herkömmliche: nicht mit nationalen Einkommensniveaus, sondern mit den nationalen Niveaus der Bedürfnisbefriedigung; nicht mit Wohlstand, sondern mit Wohlergehen; nicht mit dem Umfang der Warenökonomie, sondern mit den relativen Rollen unterschiedlicher Wirtschaftsformen und ihren wechselseitigen Effekten. Die wirtschaftlichen Fragen, die wir stellen, spiegeln unsere wirtschaftlichen Ziele wider, und wir wollen unsere Wirtschaft so verändern, dass sie menschliche Bedürfnisse besser erfüllt. Die Mainstream-Ökonom_innen hingegen fragen, wie sich ohne Rücksicht auf menschliche Bedürfnisse das unendliche Wachstum der Warenökonomie immer noch weiter steigern lässt.
Wie wir die Wirtschaft verändern können Wie können wir also vorgehen, um die Wirtschaft so zu verändern, dass sie menschliche Bedürfnisse besser erfüllt? Die Vielfalt unserer bestehenden Wirtschaft anzuerkennen gibt Anlass zu leichtem Optimismus, dass signifikanter wirtschaftlicher Wandel möglich sein könnte. Unsere Volkswirtschaften werden nicht so deutlich vom Kapitalismus dominiert, wie es in den vorherrschenden wirtschaftlichen Diskursen den Anschein hat, und es muss möglich sein, Alternativen neben den kapitalistischen Praktiken zu errichten, weil viele alternative Formen bereits gedeihen. Mit dieser Perspektive können wir die binäre Entscheidung zwischen nichts als Kapitalismus auf der einen Seite und Abschaffung des Kapitalismus auf der anderen Seite überwinden, die oft für die marxistische Politik charakteristisch war (obwohl es ermutigende Zeichen gibt, dass auch marxistische Denker_ innen nach Alternativen für diese binäre Sicht suchen). Stattdessen könnten wir unsere Wirtschaft langsam umgestalten, indem wir
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schrittweise die Mischung der Wirtschaftsformen verändern und dabei stetig die schädlicheren Formen des Kapitalismus reduzieren und gleichzeitig humanere Wirtschaftsformen fördern. Nur wenn wir Alternativen parallel zum Kapitalismus aufbauen, lassen sich funktionsfähige Wirtschaftsformen für die Zukunft entwickeln. Wir sollten die Arbeiten von Theoretikern wie Erik Olin Wright und Yochai Benkler begrüßen, die Wege untersuchen, wie das gelingen könnte.
Eine Rolle für den Kapitalismus Allerdings müssen wir diesen Optimismus auch wieder einschränken. Wie wir gesehen haben, können alternative Appropriationspraktiken mit kapitalistischen Formen verwoben sein, und letztlich hängt die Funktionsfähigkeit alternativer Formen nicht nur davon ab, dass sie sich innerhalb unserer bestehenden Wirtschaft entwickeln, sondern auch davon, dass wir Wege finden, die kapitalistischen Appropriationspraktiken zu kritisieren und zu beschneiden. Der Kapitalismus ist nur ein Teil unserer heutigen Wirtschaft, aber er kann immer noch großen Schaden anrichten – vor allem extreme Ausbeutung, Entfremdung, Ungleichheit, massive Ungleichgewichte bei der Ressourcennutzung, Umweltschäden und Unterstützung repressiver politischer Systeme. Hinter dem Kapitalismus steht nach wie vor eine enorme politische und diskursive Macht, und er ist anhaltend bestrebt, Alternativen seiner Profitgier zu unterwerfen. Doch sobald wir anerkennen, dass der Kapitalismus selbst vielgestaltig ist, sehen wir, dass manche Formen bei entsprechender Regulierung einen positiven Beitrag zu unserem Wohlergehen leisten können. Weil das so ist, können wir den Kapitalismus nicht länger rundweg ablehnen auf der Grundlage von Marx’ zweifelhafter Theorie der Ausbeutung. Statt die formelhaften Lehrsätze von Marx’ Arbeitswerttheorie anzuwenden, müssen wir Formen des Kapitalismus bewerten, indem wir ihre realen Tendenzen identifizieren und ihre tatsächlichen Effekte anhand explizit formulierter, begründeter ethischer Maßstäbe beurteilen. Wenn wir das tun, werden wir meiner Überzeugung nach zum Beispiel feststellen, dass Formen des Kapitalismus, die darauf beruhen, dass Nutzer_innen Inhalte kostenlos zur Verfügung stellen, sehr viel weniger schädlich sind als solche, bei denen Sklaven-
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arbeiter in Afrika Minerale abbauen,4 und als solche, bei denen es um die Schaffung unsicherer Geldanlagen geht. Diese Formen lassen sich voneinander unterscheiden. Sie gehören nicht zu einem Monolith, und sie sollten auch unterschiedlich behandelt werden: Manche brauchen wenig, andere brauchen viel Regulierung, und wieder andere sollten ganz abgeschafft werden, je nachdem, wie sie sich auf das Wohlergehen der Menschen auswirken.
Eine Rolle für die Gabenökonomie Neben den weniger schädlichen Relikten der kapitalistischen Wirtschaft müssen wir die Entwicklung anderer Formen unterstützen. Der Staat spielt dauerhaft eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung wesentlicher Dienstleistungen, die für alle verfügbar gemacht werden, unabhängig davon, ob die Betreffenden sie sich leisten können, und bei der Versorgung mit öffentlichen Gütern, die uns allen nützen. Nichtkapitalistische Warenformen sollten auch weiterhin wichtig sein: Familienunternehmen und Kooperativen beispielsweise. Aber die Gabenökonomie ist bereits genauso wichtig, insbesondere wenn wir große Teile der Haushaltsökonomie einbeziehen, vor allem die digitale Gabenökonomie ist vielversprechend. Wie wir gesehen haben, eignet sich die Gabenökonomie besonders gut für die Verteilung digitaler Güter, bei denen die Grenzkosten zu vernachlässigen sind. In diesem Bereich florieren innovative Formen kollaborativer Produktion, was nicht nur den Besucher_innen der entsprechenden Websites Nutzen bringt, sondern auch den Urheber_innen der Inhalte, die sie teilen. Aber es gibt auch gute Gründe, mit Behauptungen über das Potenzial der Digitalwirtschaft vorsichtig zu sein. Eine Einschränkung hängt genau mit den Faktoren zusammen, die die Vorteile der Gabenökonomie ausmachen: Die praktisch kostenlose Verteilung von Geschenken, ohne dass es ein Opfer für den Schenkenden oder die Schenkende bedeutet, ist ausschließlich ein Merkmal digitaler Güter. Es spricht wenig dafür, zu glauben, dass ähnliche Prozesse die nichtdigitale Marktwirtschaft so grundlegend verändern könnten wie die Tendenz
4 Fuchs, Digital Labour and Karl Marx, S. 172–181.
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zur Dekommodifizierung von Software infolge der Open-Source-Bewegung.5 Tatsächlich hängt die digitale Gabenökonomie selbst eindeutig von anderen Sektoren der Wirtschaft ab, in denen heute der Markt dominiert: Zum Beispiel sind die Hardware und die Netzwerke, die die Gabenökonomie erst ermöglichen, selbst physische Produkte der Warenökonomie, und unabhängige Programmierer_innen, die Beiträge zu Open-Source-Software leisten, brauchen andere Einkommensquellen und finden sie oft in der Warenökonomie.6 Gewisse Elemente der digitalen Gabenökonomie versuchen die Staaten sogar regelrecht zu unterdrücken, und dabei vertreten sie die Interessen von Medienkonzernen aus der prädigitalen Ära. Insbesondere haben Lobbyist_innen dieser Konzerne die Staaten dazu gebracht, den Urheberrechtsschutz auszuweiten, um zu verhindern, dass digitale Medienprodukte in großer Zahl kostenlos verteilt werden.7 Open-Source-Software scheint davon nicht betroffen zu sein, was zum Teil mit geschickter Copyleft-Lizenzierung zusammenhängt. Aber ironischerweise spielt vielleicht noch eine größere Rolle, dass viele kommerzielle Unternehmen Open-Source-Software verwenden. Viele IT-Unternehmen haben Wege gefunden, um mit OpenSource-Software Geld zu verdienen, zumindest einige wichtige OpenSource-Software-Produkte werden hauptsächlich auf Kosten solcher Unternehmen entwickelt.8 Doch das ist nur die eine Seite der Medaille: Wir müssen auch anerkennen, dass kommerzielle Unternehmen mit am meisten von den Einsparungen durch die Nutzung von OpenSource-Software profitieren – diese Ersparnisse sind ein wichtiger Grund, warum Produkte wie Linux und Apache so große »Markt«-Anteile haben. Angesichts derartiger Verquickungen ist Skepsis angebracht gegenüber Äußerungen in der Literatur, Phänomene wie Open-Source5 Benkler hat einen ähnlichen Vorbehalt formuliert (Benkler, Coase’s Penguin,
S. 381), aber er hat auch einige interessante Fälle nichtdigitaler Waren identifiziert, bei denen das Schenken sogar in den Begriffen der konventionellen Ökonomie effizient zu sein schien (ders., Sharing Nicely, S. 275ff.). 6 Barbrook, The Hi-Tech Gift Economy. 7 Gillespie, Wired Shut, Kapitel 4; Lessig, Freie Kultur. 8 Elder-Vass, The Moral Economy of Digital Gifts.
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Software würden das Ende des Kapitalismus einläuten.9 Aber wenn wir anerkennen, dass die Wirtschaft vielfältig ist, brauchen wir keine Alles-oder-nichts-Alternativen. Wir müssen uns nicht zwischen einer Gabenökonomie und einer Warenökonomie entscheiden; die Frage ist, wie viel Raum in der Volkswirtschaft die Gabenökonomie einnehmen wird, um welche Arten von Geschenken es geht, wie viel Raum die Warenökonomie einnehmen wird, und um welche Arten von Waren es sich handelt.
Auf dem Weg in eine offene Zukunft Zum Abschluss möchte ich nicht noch einmal ein Kapitel zusammenfassen, das bereits eine Zusammenfassung ist, sondern fragen, welche Rolle ein Buch wie dieses dabei spielen kann, derartige Veränderungen voranzubringen. Bücher allein verändern die Welt nicht; ihre Wirkung hängt davon ab, dass sie Menschen und Bewegungen von Menschen beeinflussen können, aber wo sind die Bewegungen, die einen Fortschritt in Richtung auf eine Gabenökonomie unterstützen? David Harvey spricht von »einer wechselseitigen Blockierung«: »Das Fehlen einer alternativen Vision verhindert die Bildung einer Oppositionsbewegung, und das Ausbleiben einer solchen Bewegung macht die Formulierung der Alternative unmöglich.«10 Wie Harvey richtig sagt, ist die Lösung für diese wechselseitige Blockierung die wechselseitige Verstärkung: Aus dem Wechselverhältnis zwischen zwei fehlenden Dingen »muss eine Spirale werden«.11 Die Spirale dreht sich bereits, doch es ist ungewiss, in welche Richtung. Manche Bewegungen arbeiten schon auf Ziele hin, die sich mit den in diesem Buch dargelegten Gedanken decken, zum Beispiel grüne Parteien, die Occupy-Bewegung, viele der Gruppen, die im Weltsozialforum zusammenkommen, und die Bewegungen gegen die Austeritätspolitik in Europa. Darüber hinaus sind sehr viele Menschen in der einen oder anderen Form in einer Gabenökonomie aktiv. Zwar erkennen viele von ihnen nicht einmal an, dass es sich tatsächlich um 9 Berry, Copy, Rip, Burn. 10 Harvey, Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, S. 220. 11 Ebenda.
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Wirtschaftsformen handelt, aber sie könnten dazu gebracht werden, diese Formen weiter zu unterstützen. Es gibt auch Autor_innen, die ergänzende Gedanken zu denen in diesem Buch formulieren, zum Beispiel jene, die zum Konvivialistischen Manifest12 beigetragen haben, und die Denker_innen, deren Arbeiten Keith Hart in dem Band The Human Economy13 versammelt hat. Das vorliegende Buch und die politische Ökonomie der Praktiken, für die es plädiert, sind im besten Fall eine weitere Drehung der Spirale, eine, die zu einer offeneren, aber realistischeren alternativen Sicht der Zukunft ermutigt, einer Zukunft, die es uns ermöglichen könnte, uns besser zu entfalten, statt der Logik einer sinnlosen Akkumulation unterworfen zu bleiben, die letztlich niemandem nützt. Wir wissen nicht, zu welcher Art von Wirtschaft und welcher Art von Gesellschaft uns das führen wird, nicht zuletzt, weil die gesellschaftliche Entwicklung keinen Endpunkt hat und keiner alles beherrschenden Logik folgt, sondern vielmehr ein kontinuierlicher Prozess des Wandels in einem grundsätzlich offenen System ist. Die Mischung der Wirtschaftsformen innerhalb dieses Systems wird sich unweigerlich als Reaktion auf sich bietende Gelegenheiten entwickeln, aber es liegt an uns allen gemeinsam, Wege zu finden, um die Formen zu fördern, die vor dem Hintergrund der ethischen Debatte allen Menschen am meisten nützen. Wir werden uns nur dann produktiv auf einen solchen Prozess einlassen können, wenn wir monolithische Visionen eines Nirwana aufgeben und auf viele Puzzleteile realer Utopien hinarbeiten. Das ist kein Rückschritt, sondern ein Schritt vorwärts in Richtung einer progressiven Politik: Wir müssen die Dogmen der beiden alten politischen Ökonomien überwinden und stattdessen kreativ mit unserer vielfältigen Wirtschaft und ihrer offenen Zukunft umgehen.
12 Das konvivialistische Manifest. 13 Hart / Laville / Cattani, The Human Economy.
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Danksagung
Ich möchte vielen Menschen danken, die über die in diesem Buch behandelten Themen mit mir diskutiert haben, im direkten Austausch wie auch digital, dass sie mir ihre Aufmerksamkeit und ihre Ideen geschenkt haben. Unvermeidlich werde ich einige vergessen, wofür ich mich entschuldige, aber ich erinnere mich an: Aleksi Aaltonen, Margaret Archer, Michaela Benson, Dave Berry, Gurminder Bhambra, Roy Bhaskar, Tom Brock, Gideon Calder, Mark Carrigan, Bob Carter, Daniel Chernilo, Rachel Cohen, Dean Curran, Asaf Darr, Gerard Delanty, Steve Fleetwood, Rob Garnett, Des Gasper, Christian Greiffenhagen, Mark Harvey, Tuukka Kaidesoja, Ruth Kinna, Chris Land, Tony Lawson, Terry Leahy, Paul Lewis, Andrea Maccarini, Lee Martin, Ashley Mears, Jamie Morgan, Graham Murdock, Karen O’Reilly, Lynne Pettinger, Jonathan Preminger, Olli Pyyhtinen, Hartmut Rosa, Sandy Ross, Michael Roy, Balihar Sanghera, Andrew Sayer, John Scott, Dennis Smith, David Thomas, Hilary Wainwright, Erik Olin Wright und die sehr hilfreichen anonymen Leserinnen und Leser, die dieses Buch und die vielen Paper, die während der Arbeit daran entstanden sind, kommentiert haben. Besonderen Dank schulde ich Dean Curran und Aleksi Aaltonen, die Teile dieses Buchs gelesen und mir sehr wertvolles Feedback gegeben haben, der Universität Loughborough, die mir den Forschungsurlaub gewährt hat, in dem der Großteil des Buches entstanden ist, und meinen Kolleginnen und Kollegen in der Forschungsgruppe Soziologie, die mich in allen erdenklichen Weisen unterstützt haben. Wie immer geht mein größter Dank an meine Ehefrau Alisa für ihre Geduld und Ermutigung. Schließlich danke ich noch etlichen Zeitschriften und den jeweiligen Verlagen, dass sie mir erlaubt haben, Material aus den im Folgen-
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den genannten Artikeln wiederzuverwenden. Kein Artikel wurde vollständig übernommen, aber Teile davon finden sich über das Buch verstreut: »Towards a Social Ontology of Market Systems«, CRESI Working Paper 2009-06, University of Essex, © 2009 Dave Elder-Vass, verwendet in Kapitel 4 und 6. »Realist Critique without Ethical Naturalism and Moral Realism«, Journal of Critical Realism 9:1 (2010), S. 33–58, © 2010 Equinox Publishing, verwendet in Kapitel 3. »Giving and Social Transformation«, Journal of Critical Realism 13:3 (2014), S. 261–285, © 2014 Maney Publishing, verwendet in den Kapiteln 1, 2, 3, 5, 7 und 10. »Commerce, Community and Digital Gifts«, in: Garnett, Robert / Lewis, Paul/Ealy, Lenore (Hg.), Commerce and Community: Ecologies of Social Cooperation, Routledge 2014, S. 236–252, © Dave Elder-Vass, verwendet in den Kapiteln 5, 7 und 8. »The Moral Economy of Digital Gifts«, International Journal of Social Quality 5:1 (2015), Berghahn Books, © Dave Elder-Vass, verwendet in Kapitel 4 und 10. »Free Gifts and Positional Gifts: Beyond Exchangism«, European Journal of Social Theory (2015), doi: 10.1177/1368431014566562, Sage Publications, © Dave Elder-Vass, verwendet in Kapitel 7.
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Zum Autor
Dave Elder-Vass lehrt Soziologie und digitale Ökonomie an der Loughborough University in Groflbritannien. Zuvor arbeitete er als Senior IT Technology Manager in der Privatwirtschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind digitale Ökonomie und soziale und ökonomische Ontologie.
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