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German Pages [534] Year 1977
Fischer Athenäum Taschenbücher
Alexej Nikolajewitsch Leontjew Probleme der Entwicklung des Psychischen
Sozialwissenschaften Psychologie
Dieses Werk ist Dokument und herausragendes Ergebnis eines der wichtigsten Entwicklungszüge der sowjetischen Psychologie, der „kulturhistorischen Schule", die von Wygotski in den dreißiger Jahren begründet wurde. - Zentrales Kennzeichen der marxistisch fundierten psychologischen Konzeption I. eontjews ist das „historische Herangehen an die Untersuchung der menschlichen Psyche" im Sinne einer inneren Einheit von naturgeschichtlicher, gesellschaftlich-historischer und individualgeschichtlicher Analyse. - Leontjew verfolgt die Entwicklung des Psychischen beim Tier und die Entstehung und historische Entwicklung des menschlichen Bewußtseins in seiner Geprägtheit durch verschiedene Gesellschaftsformationen. Die Persönlichkeit des Menschen wird dabei als Resultat individualgeschichtlicher Aneignung vergegenständlichter historisch-gesellschaftlicher Erfahrung begriffen. - Aus den grundlegenden Konzeptionen werden neue, praktisch relevante Ansätze und Untersuchungen etwa zur Entwicklung des Gedächtnisses, zum Spiel, zur Lernmotivation und zur Persönlichkeitsentwicklung abgeleitet. In einer umfangreichen Einführung von Holzkamp und Schurig werden der Stellenwert dieses Werkes in der Geschichte der sowjetischen Psychologie, seine Besonderheit in Abhebung von der bürgerlichen Psychologie und Konsequenzen für eine kritische Psychologie in der bürgerlichen Gesellschaft dargelegt. Alexej Nikolajewitsch Leontjew, einer der größten sowjetischen Psychologen, ist derzeit Dekan der psychologischen Fakultät de f ' Moskauer Universität. Sein hier vorliegendes Werk wurde 1963 mit dem Lenin-Preis ausgezeichnet. Klaus Holzkamp und Volker Schurig arbeiten am Psychologischen Institut der Freien Universität in West-' Jerlin.
Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag
Leontjew Probleme der Entwicklung des Psychischen
Fischer Athenäum Taschenbücher Sozialwissenschaften / Psychologie
Wissenschaftlicher Beirat: Franz Dröge, Bremen Klaus Holzkamp, Berlin Klaus Horn, Frankfurt am Main Urs Jaeggi, Berlin Ekkehart Krippendorff, Bologna Hans Joachim Krüger, Gießen Wolf Lepenies, Berlin Wolf-Dieter Narr, Berlin Frieder Naschold, Konstanz Claus Offe, Starnberg Jürgen Ritsert, Frankfurt am Main Enno Schwanenberg, Frankfurt am Main Erich Wulff, Gießen
Redaktion: Stefan Müller-Doohm
Alexej Nikolajewitsch Leontjew
Probleme der Entwicklung des Psychischen Mit einer Einführung von Klaus Holzkamp und Volker Schurig (Psychologisches Institut der Freien Universität Berlin)
2., revidierte Auflage
Athenäum Verlag, Kronberg/Ts. 1977
CIP-Kurztitelaufnähme der Deutschen Bibliothek Leoniev, Aleksej Nikolaevic [Sammlung ] Probleme der Entwicklung des Psychischen. 2. Aufl., 11.-14. Tsd. - Frankfurt am Main: Athenäum-Fisdier-Taschenbuch-Verlag, 1977. (Fischer-Athenäum-Taschenbüdier; 4018: Sozialwiss., Psychologie) Orig.-Ausg. u. d. Т.: Leoniev, Aleksej Nikolaevic: Problemy razvitija psichiki. ISBN 3-8072-4018-7
2. Auflage Athenäum Verlag GmbH, Kronberg/Ts., 11.-14. Tausend: April 1977 Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag GmbH & Co., Frankfurt am Main, 1973 Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Volk und Wissen Volkseigener Verlag Berlin Alle Rechte vorbehalten Umschlagentwurf Endrikat + Wenn Satzherstellung Gutfreund & Sohn, Darmstadt Druck und Bindearbeit Clausen & Bosse, Leck (Sdileswig) Printed in Germany ISBN 3-8072-4018-7
Editorische Notizen zum Programm Sozialwissenschaften
Dieses Taschenbuchprogramm richtet sich an ein soziologisch, politikwissenschaftlich und psychologisch interessiertes Publikum. Vor allem ist es an den Lehr- und Lernbedürfnissen der Hochschulangehörigen und den Erfordernissen der beruflichen Ausbildung und Weiterbildung orientiert. Das Programm folgt nicht der üblichen einzelwissenschaftlichen Trennung in verschiedene Disziplinen, sondern gliedert sich in fächerübergreifende Problemkomplexe. Die inhaltlichen Schwerpunkte beziehen sich auf Fragen sozialwissenschaftlicher Theorienbildung und Forschung und auf die Untersuchung gesellschaftlicher Problembereiche. Dies schließt die Analyse der vom Produktions- und Verwertungsprozeß bestimmten gesellschaftlichen Lebensbedingungen ein, wie etwa; die Wohn- und Umweltverhältnisse, das Ausbildungs-und Bildungssystem, das rechtliche und politische Regulierungssystem, die Massenkommunikationsmittel, den Freizeitbereich, die gesellschaftlichen Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung. Das Programm wird nach folgenden Publikationstypen differenziert: Arbeits- und Forschungsberichte, Textsammlungen, Dokumentationsund Materialienbände, Diskussionsbände, Einzeldarstellungen. Für den Bereich der Psychologie ist daneben die Entwicklung einer Reihe gesellschaftswissenschaftlich orientierter Lehrbuchtexte geplant. Arbeits- und Forschungsbericht enthalten die Resultate von Seminar-, Instituts- und Gruppenprojekten. In den Textsammlungen werden wichtige, bisher nicht oder nur schwer zugängliche Arbeiten publiziert, die nach systematischen Sachgebieten zusammengestellt und eingehend kommentiert sind. Die Textsammlungen sind als Fortsetzungsbände konzipiert, um den jeweils neuesten Stand der Forschung zu präsentieren. In den Dokumentations- und Materialienbände werden Texte aus den Bereichen Wissenschafts- und Theoriengeschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte publiziert. Die Diskussionsbände informieren über kontroverse wissenschaftliche Positionen. Interpretationsversuche und Untersuchungsverfahren. Einzeldarstellungen richten sich vor allem auf Konzeptionsprobleme und die methodenkritische Neubestimmung von Untersuchungen. Die verschiedenen Publikationstypen sind aufeinander beziehbar; so können beispielsweise die Monographien oder Forschungsberichte zu relevanten Themen durch Textsammlungen ergänzt, in Bänden mit
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Editorische Notizen
Dokumentationsliteratur historisch fundiert und in Diskussionsbänden problematisiert werden. Neben der Entwicklung sozialwissensdiaftlidier Theorie und Forschung verfolgen die Taschenbücher im wesentlichen zwei praktische Absiditen: sie wollen einerseits berufsrelevante Informationen für Gruppen der sozialwissenschaftlichen Intelligenz zur Verfügung stellen und andererseits die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen und Verwendungszusammenhänge sozialwissenschaftlicher Theorien klären. Der wissenschaftliche Beirat
Inhaltsverzeichnis
Zur Einführung in A. N. Leontjews »Probleme der Entwicklung des Psychischen« (Klaus Holzkamp und Volker Schurig) 1. Vorbemerkung XI 2. Die Stellung Leontjews innerhalb der Geschichte der sowjetischen Psychologie XIII 3. Leontjews historischer Grundansatz der Psychologischen Forschung in seiner Besonderheit gegenüber der bürgerlichen Psychologie . . . . . . . . XXV 4. Konsequenzen aus Leontjews Ansatz für die marxistisch fundierte Weiterentwicklung der Psychologie in der bürgerlichen Gesellschaft XLV Vorwort Teil I
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Das Problem des Entstehens von Empfindungen 1. Das Problem 2. Hypothese . 3. Die Untersuchung der funktionalen Entwicklung der Sensibilität 4. Einschätzung der Ergebnisse und einige Schlußfolgerungen
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Ober den Mechanismus der sinnlichen Widerspiegelung .
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Teil II Abriß der Entwicklung des Psychischen I. Die Entwicklung des Psychischen beim Tier . . . 1. Das Stadium der elementaren sensorischen Psyche 2. Das Stadium der perzeptiven Psyche 3. Das Stadium des Intellekts . . . . . . . . . 4. Allgemeine Charakteristik der Psyche des Tieres .
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155 155 155 172 180 189
II. Die Entstehung des menschlichen Bewußtseins. . . . . 1. Bedingungen für die Entstehung des Bewußtseins . . 2. Die Entstehung des Denkens und der Sprache . . .
197 197 208
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Inhaltsverzeichnis
III. Ober die historische Entwicklung des Bewußtseins .
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1. Das Problem der Psychologie des Bewußtseins . . . 2. Das Bewußtsein des Menschen in der Urgesellsdiaft . . 3. Das Bewußtsein der Menschen unter den Bedingungen der Klassengesellschaft und der sozialistischen Gesellschaft
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Über das historische Herangehen an die Untersuchung der menschlichen Psyche 1. Biologistische Theorien in der Psychologie 2. Die soziologische Richtung in der Psychologie . . . 3. Die ^Entwicklung des historischen Herangehens in der sowjetischen Psychologie 4. Individuum und Umwelt - Mensch und Gesellschaft . . 5. Die biologische und die gesellschaftlich-historische Entwicklung des Menschen 6. Die Aneignung der gesellschaftlich-historischen Erfahrung durch den Menschen 7. Die Grundmechanismen des Verhaltens in der Ontogenese des Tieres und des Menschen . 8. Die Besonderheiten der Bildung geistiger Handlungen 9. Das Gehirn und die psychische Tätigkeit des Menschen
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262 262 265 268 273 275 279 288 295 300
Teil III Die Entwicklung höherer Formen des Gedächtnisses . . . Psychologische Grundlagen des Spiels im Vorschulalter . . Zur Theorie der psychischen Entwicklung des Kindes . . . Die Entwicklung der Lernmotive beim Kinde Psychologische Probleme der Persönlichkeitsentwicklung im Vorschulalter Die Prinzipien der psychischen Entwicklung des Kindes und das Problem des geistigen Zurückbleibens 1. Die geistige Entwicklung als Prozeß, in dem sich das Kind die menschlichen Erfahrungen aneignet. . . . 2. Die Entwicklung der Fähigkeiten als Bildung funktionaler Hirnsysteme . 3. Die intellektuelle Entwicklung des Kindes als Bildung geistiger Handlungen
313 375 398 421 436 447 449 454 458
Inhaltsverzeichnis
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Bemerkungen Sachwortverzeichnis Personenverzeichnis
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KLAUS HOLZKAMP UND VOLKER SCHURIG
Zur Einführung in A. N. LEONTJEWs »Probleme der Entwicklung des Psychischen« 1. Vorbemerkung Die Arbeit von LEONTJEW, die mit dieser Taschenbucliausgabe erstmalig einem breiten Leserkreis in der Bundesrepublik zugänglich gemacht werden soll, ist ein wesentliches Dokument der Entstehung und Eigenart desjenigen Grundansatzes innerhalb der sowjetischen Psychologie, in welchem am konsequentesten und mit dem größten wissenschaftlichen Ertrag die psychologische Forschung auf marxistischer Basis umgestaltet und weiterentwickelt wird. LEONTJEWS Buch repräsentiert einen zentralen, bisher international weitgehend unterdrückten, Bereich der Psychologiegeschichte. Die von LEONTJEW erarbeiteten Konzeptionen und Befunde stellen - explizit und mehr noch implizit - eine tiefgreifende Kritik an der modernen bürgerlichen Psychologie von einem fortgeschritteneren wissenschaftlichen Standort dar. Aus LEONTJEWS Werk - und dies scheint uns am wichtigsten - sind Leitgesichtspunkte darüber zu erlangen, wie die Psychologie in den kapitalistischen Ländern aus ihrer Stagnation und Sterilität in Richtung auf die Gewinnung wirklicher Erkenntnisse über die konkreten Menschen unter bürgerlichen Lebensbedingungen herausgeführt werden kann. Eine gründliche Rezeption und Diskussion der »Probleme der Entwicklung des Psychischen« durch die innerhalb der BRD wissenschaftlich oder praktisch im Gebiet der Psychologie Tätigen ist mithin so dringlich wie überfällig. Man kann keineswegs davon ausgehen, daß mit dem bloßen Vorliegen des Textes von LEONTJEWS Buch auch schon eine angemessene Rezeption gesichert sei. Im Gegenteil: Mißverständnisse und Fehldeutungen sind hier als der Normalfall anzusehen. Wo innerhalb der bürgerlichen Psychologie theoretische Ansätze oder empirische Befunde der psychologischen Forschung aus der Sowjetunion zur Kenntnis genommen werden, geschieht dies fast durchgehend auf eine charakteristische Weise: Bestimmte Aussagen werden als isolierte Einzelthesen und bestimmte Ergebnisse als isolierte Einzelresultate im Kontext bürgerlicher Beiträge zum gleichen Thema herangezogen. Mögliche grundsätzliche Verschiedenheiten der philosophisch-gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen, womit ein solches Nebeneinanderstellen wissenschaftlich unzulässig sein müßte, werden nicht in Rechnung gestellt. Dies ist daraus erklärlich, daß die bürgerliche Psychologie als sol-
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che ihre eigenen philosophisch-gesellschaftstheoretischen Grundlagen aus ihrem »einzelwissenschaftlichen« Gesichtskreis fernhält, demgemäß abweichende Grundlagen mit ihren Denkmitteln notwendig nicht erfassen kann; der Stückwerk-Charakter und die aggregative Beschaffenheit der modernen bürgerlich-psychologischen Forschung müssen so als universelle Eigenart psychologischer Forschung überhaupt erscheinen. - Sofern man an LEONTJEWS Arbeit mit der gleichen Haltung herangeht, wird man die marxistische Fundierung der hier dargelegten Konzeptionen und Resultate entweder gar nicht bemerken, oder, wo sie explizit hervorgehoben ist, als außerwissenschaftlich-»ideologisch« beiseite lassen wollen, um das, was dann noch übrigbleibt, entweder kritisch oder zustimmend in den eigenen Problemhorizont einzugemeinden. Auf diese Weise ist der wesentliche wissenschaftliche Gehalt, das gegenüber der bürgerlichen Psychologie Neue und Weiterführende des LEONTJEWschen Buches von vornherein unerkennbar. Andersgeartete Mißinterpretationen und Fehldeutungen des LEONTjEWSchen Werkes sind bei solchen »linken« Lesern zu erwarten, die der Ansicht sind, Marxismus und Psychologie seien unvereinbar miteinander, psychologische Forschung sei auf der Basis des historisch-dialektischen Materialismus nicht zu begründen und habe innerhalb des wissenschaftlichen Sozialismus keinen Platz. Wer diese Ansicht vertritt, setzt die bürgerliche Psychologie mit der Psychologie überhaupt gleich und hat nicht begriffen, daß MARX, wenn er auch nicht zur systematischen Ausführung psychologischer Fragestellungen kam, dennoch so häufig und an so wichtigen Stellen psychologisch relevante Erkenntnisse zum Ausdruck brachte, daß die Eigenart und Funktion einer zu schaffenden marxistisch fundierten Psychologie dadurch eindeutig vorgezeichnet ist (Lucien SEVE hat das ausführlich und überzeugend nachgewiesen1). Sofern dies nicht verstanden ist, kann auch nicht gesehen werden, daß LEONTJEWS Konzeption in ihren wesentlichen Positionen weder eine Revision noch eine Erweiterung, sondern einen inneren Ausbau marxistisch begründeter Wissenschaft darstellt. In dieser Einführung sollen einige Anhaltspunkte zur Vermeidung von in der einen oder anderen Richtung unangemessenen Rezeptionsweisen des LEONTjEWschen Buches gegeben werden. Eine Kommentierung von Einzelheiten des Textes, der 1959 zuerst veröffentlicht wurde und teilweise noch viel ältere Abhandlungen enthält, demnach in manchen methodischen und terminologischen Details nicht auf dem neuesten Stand ist und neuere Forschungsergebnisse nicht berücksichtigen konnte, wird von uns unterlassen. Hier wäre nur durch eine völlige Überarbeitung, die wir an dieser Stelle nicht leisten können, Abhilfe zu 1
SÜVE, L.: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. - Berlin (DDR) (Dietz Verlag) 1972 u. Frankfurt/Main (Verlag Marxistische Blätter) 1972.
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schaffen. Es geht uns ausschließlich darum, die wissenschaftliche Bedeutung und Aktualität des LEONTjEWschen Grundansatzes hervorzuheben. Im folgenden werden zunächst die Entstehung und der Stellenwert der von LEONTJEW vertretenen Konzeption innerhalb der Geschichte der sowjetischen Psychologie skizziert. Dann wird die Besonderheit von LEONTJEWS psychologischen Auffassungen in einigen wesentlichen Punkten durch Abhebung von der bürgerlichen Psychologie angedeutet. Schließlich wird das Problem der Umsetzung der Einsichten und Resultate LEONTJEWS bei der Entwicklung einer marxistisch fundierten Psychologie in der bürgerlichen Gesellschaft kurz diskutiert.
2. Die Stellung LEONTJEWs innerhalb der Geschichte der sowjetischen Psychologie Ein richtiges Verständnis des Übergangs von der vorsowjetischen russischen Psychologie zur sowjetischen Psychologie wäre von vornherein unmöglich, wenn man von der Vorstellung ausginge, mit der Oktoberrevolution 1917 sei eine voll entwickelte marxistische Psychologie quasi automatisch entstanden; ebenso falsch wäre es anzunehmen, die marxistische Psychologie hätte nach der Revolution durch politische Beschlüsse voluntaristisch eingeführt werden können. Zwar wurden, wie in allen gesellschaftlichen Bereichen, so auch in der Psychologie mit der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse neue Entwicklungen möglich. Die Durchsetzung dieser Entwicklungsmöglichkeiten war aber an den Entfaltungsgrad der objektiven gesellschaftlichen Bedingungen gebunden, bestimmte Entfaltungsstufen konnten dabei weder umgangen noch übersprungen werden, vorhandene Entwicklungstendenzen rissen nicht einfach ab, sondern setzten sich einerseits fort, wurden andererseits in Abhängigkeit vom Stand der gesellschaftlichen Entwicklung schrittweise durch die neue Qualität des gesellschaftlichen Lebens verwandelt, wobei Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten als notwendiger Bestandteil eines solchen Verwandlungsprozesses auftreten mußten. Heute überwundene geschichtliche Stadien der sowjetischen Psychologie dürfen deswegen nicht mit ahistorischen Maßstäben abstrakt bewertet und abgewertet werden, sondern sind unter Berücksichtigung der durch den jeweils vorgängigen Forschungsstand ermöglichten und begrenzten wissenschaftlichen Fortschritte im Zusammenhang der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu betrachten. Die beiden wichtigsten Grundkonzeptionen, die bereits vor 1917 in wesentlichen Zügen ausgearbeitet waren, sind die »Reflexologie« BECHTEREWS, der 1 8 9 7 in Petersburg das erste psychologische Institut in
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Rußland gründete und 1907 sein Hauptwerk »Objektive Psychologie« veröffentlichte, und die »Physiologie der höheren Nerventätigkeit« PAWLOWS, der seine entscheidenden theoretischen und experimentellen Arbeiten, etwa über die »bedingten Reflexe«, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts durchgeführt und dabei zentrale physiologische Begriffe, wie »R.eizgeneralisation«, »Irradiation«, den Zusammenhang zwischen Erregungs- und Hemmungsprozessen, etc. konzipiert hatte. BECHTEREW, dessen »objektive Psychologie« schon bald ins Englische übersetzt wurde, besonders aber PAWLOW, fanden große internationale Beachtung, deren äußerer Höhepunkt die Verleihung des Nobel-Preises an PAWLOW im Jahre 1 9 0 4 war. PAWLOWS Lehren gaben den entscheidenden Anstoß zur Entstehung des amerikanischen Behaviorismus; WATSON bezog sich seit 1914 ausdrücklich auf die PAWLOwsche Theorie vom »bedingten Reflex«; viele der Grundkonzeptionen PAWLOWS fanden in die behavioristische »Lerntheorie« Eingang und wurden dort modifiziert und weiterentwickelt. Die sowjetische Psychologie nach 1917 war zunächst wesentlich durch die Konkurrenz zwischen der Schule BECHTEREWS und der PAWLOWS geprägt. - BECHTEREW arbeitete immer schärfer das radikal mechanistische Programm einer »Reflexologie« heraus, die mit universalem Anspruch auftrat und als selbständige Disziplin die Psychologie ersetzen sollte. Der Kampf, nicht nur gegen idealistische Ausprägungsformen der Psychologie, sondern gegen die Psychologie überhaupt wurde dabei als ein Kampf vom marxistischen Standpunkt aus verstanden. Die objektive Unmöglichkeit einer Vereinigung des überkommenen mechanistischen Ansatzes mit den Grunderkenntnissen des Marxismus trat in BECHTEREWS Lehren immer deutlicher zutage; durch die 1 9 2 1 erschienene »Kollektive Reflexologie«, einer systematischen Anwendung der Reflexvorstellung auf die Gesellschaft, wurde vollends offenbar, daß der wissenschaftliche Entwicklungsstand der Reflexvorstellungen BECHTEREWS eine Universalisierung dieser Konzeption unter marxistischen Prämissen notwendig ausschloß. BECHTEREWS Programm mußte damit als gescheitert gelten. PAWLOW beschränkte auch nach der Revolution seine wissenschaftlichen Intentionen auf das Gebiet der Physiologie und setzte seine wichtigen experimentell-physiologischen Arbeiten fort, wobei er, vielleicht aus Einsicht in die historische Verfrühtheit eines solchen Vorhabens, nicht den Versuch einer Integration seiner Lehren in den Marxismus machte. PAWLOWS »Physiologie der höheren Nerventätigkeit« wurde, zunächst ohne eine intensivere Diskussion ihrer philosophisch-gesellschaftstheoretischen Grundlagen, in der Sowjetunion anerkannt und gefördert. 1 9 2 1 ordnete LENIN in einem Dekret des Rates der Volkskommissare die finanzielle Unterstützung der Untersuchungen PAWLOWS an; 1 9 2 6 erfolgte der Aufbau
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des Forschungszentrums Koltuschi bei Leningrad, das über 400 Arbeitsplätze verfügte und in der apparativen Ausstattung dem neuesten Stand der Forschung entsprach. PAWLOW kam bis zu seinem Tode im Jahre 1936 noch zu wichtigen wissenschaftlichen Resultaten in verschiedenen Bereichen, etwa auch der Psychopathologie und Psychiatrie durch die Erzeugung »experimenteller Neurosen« bei Hunden. Von besonderer Bedeutung war außerdem der Ausbau der Lehre vom »zweiten Signalsystem«, der Sprache. Mit den Namen BECHTEREW und PAWLOW sind zwar zwei der Haupttendenzen, ist aber keineswegs die ganze Mannigfaltigkeit der Entwicklung der sowjetischen Psychologie nach 1917 charakterisiert. Es gab eine Vielzahl weiterer Forschungsrichtungen, wie z. B. die Reaktologie, die sich in manchen Einzelheiten, wenn auch nicht grundsätzlich, von den genannten Hauptströmungen unterschieden. Der Versuch einer marxistischen Deutung der vorhandenen Ansätze und Resultate wurde besonders energisch von KORNILOW auf dem ersten Allrussischen Kongreß für Psychoneurologie im Jahre 1923 vorangetrieben; 1924 erschien sein Artikel »Die dialektische Methode in der Psychologie«, 1925 der Sammelband »Psychologie und Marxismus«; 1930 veröffentlichte KORNILOW den Aufsatz »Psychology in the light of Dialectical Materialism«; ähnliche Bestrebungen fanden sich bei BLONSKI U. V. a. - Als für spätere Darlegungen wesentlich sei noch der Umstand hervorgehoben, daß auch Konzeptionen der darwinistischen Biologie bzw. der Evolutionstheorie in der sowjetischen Psychologie innerhalb ihrer ersten Phase wirksam wurden. Als zwei repräsentative Veröffentlichungen aus einem ganzen System einschlägiger Darstellungen können SEWERZOWS 1922 erschienenes Buch »Evolution und Psyche« und die 1923 erschienene Arbeit WAGNERS »Die Biopsychologie und die Nachbarwissenschaften« angesehen werden. SEWERZOW war ein auch international angesehener Morphologe, dessen Hauptarbeitsgebiet die Präzisierung des biogenetischen Grundgesetzes für anatomische Abhängigkeiten war, zugleich der bedeutendste damalige Vertreter des Darwinismus in der Sowjetunion; durch seinen Einfluß gewann die Vorstellung von der Ableitbarkeit der Entwicklung des Psychischen aus der Selektionswirkung der Umwelt einige Bedeutung in der sowjetischen Psychologie. Über die - in ihren vielschichtigen Tendenzen von uns nur sehr vergröbernd geschilderte - Entwicklung der sowjetischen Psychologie während der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution ist zusammenfassend festzustellen, daß hier einerseits im Kampf gegen metaphysische Seelenvorstellungen und dem Bemühen um eine naturwissenschaftliche Fundierung der Psychologie sich spontan-materialistische Angehensweisen manifestierten, die insoweit eine wesentliche Grundlage für die Ausarbeitung einer marxistischen Psychologie darstellten. Andererseits
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aber war damit die marxistische Transformation der Psychologie keineswegs selbst schon hinreichend geleistet (was schon daran deutlich wird, daß ähnliche spontan-materialistische Tendenzen sich zu dieser Zeit auch in der Psychologie innerhalb der kapitalistischen Länder zeigten, hier allerdings gemäß den andersgearteten gesellschaftlichen Bedingungen nicht als Vorstufe zu einer psychologischen Forschung auf der Basis marxistischer Erkenntnisse, sondern auf einem niedrigen wissenschaftlichen Entwicklungsstand stagnierend). Der Umstand, daß marxistische Konzeptionen der Psychologie, wo sie formuliert wurden, damals der Faktizität einzelwissenschaftlichpsychologischer Theorienbildung und Forschung in der Sowjetunion noch weitgehend äußerlich gegenüberstanden, ist darauf zurückzuführen, daß die materialistischen Ansätze, wieweit sie auch immer als dialektisch interpretiert wurden, ihren mechanistisch-reduktiven Charakter noch nicht überwunden hatten (einen Status, der die behavioristisch beeinflußte bürgerliche Psychologie bis heute kennzeichnet). - Demgemäß wurde das menschliche Bewußtsein, wo nicht ganz aus der wissenschaftlichen Diskussion eliminiert, als ein Epiphänomen physiologischer Prozesse betrachtet. Die Widerspiegelung der Außenwelt im Bewußtsein wurde dabei noch weitgehend als ein passiv-mechanischer Prozeß der Abbildung verstanden. Dies führte zu ersten Kontroversen mit den Positionen marxistischer Erkenntnistheorie; besonders wesentlich ist die Kritik LENINS an den mechanistischen WiderspiegelungsKonzeptionen von KORNILOW, weil hier gleichsam paradigmatisch die inhaltliche Erklärung der gleichen Beziehung, des Verhältnisses von Bewußtsein und objektiver Realität, durch die mechanische Abbildtheorie und die marxistische Widerspiegelungstheorie gegenübergestellt sind. - Durch die mechanistisch-reduktive Charakteristik des damaligen Materialismus in der sowjetischen Psychologie bedeutete die Bemühung um eine objektiv-naturwissenschaftliche Lösung psychologischer Probleme gleichzeitig die Ausklammerung der gesellschafllich-historischen Dimension des Psychischen (auch dies bis heute kennzeichnend für die bürgerliche Psychologie). In den genannten evolutionstheoretischen Ansätzen der Psychologie wurde über den reduktionistischen Physiologismus zwar insofern hinausgegangen, als in der Ableitung der Entwicklung des Psychischen aus der Selektionswirkung die abstrakte Verhaltensbestimmung mit ihrer Negierung der Eigengesetzlichkeit des Psychischen tendenziell überwunden war. Der latente Mechanizismus einer im Grunde biologistischen Denkweise schlägt aber auch hier durch, da die Konzeption der historisch-gesellschaftlichen Determination des Menschen einfach durch selektionstheoretische Vorstellungen ersetzt wurde. - Die frühe sowjetische Psychologie bietet ein komplexes Bild: Sie ist auf der einen Seite noch in ihrer bürgerlichen Vorgeschichte
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verhaftet (und insoweit mit der damaligen Psychologie in den kapitalistischen Ländern vergleichbar), enthält aber auf der anderen Seite bereits vielfältige Andeutungen einer neuen Entwicklung, nicht zuletzt durch den vorantreibenden Widerspruch zwischen den objektiven gesellschaftlichen Notwendigkeiten der Herausbildung einer marxistischen Psychologie und dem hinter den gesellschaftlichen Anforderungen noch zurückbleibenden Stand der Forschung. Die materialistischen Grundkonzeptionen haben hier trotz ihrer tendentiellen Fortschrittlichkeit die Begrenzungen des vormarxschen Materialismus noch nicht überwunden. »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus... ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv« (MARX, 1. Feuerbachthese). Wesentliche neue Impulse für die Herausbildung einer marxistisch fundierten Psydiologie in der Sowjetunion entstanden, von ca. 1930 an, aus dem Werk von WYGOTSKI, der seine theoretischen und empirischen Arbeiten ausdrücklich in der MARXschen Auffassung über die Beziehung zwischen menschlicher Tätigkeit und menschlichem Bewußtsein gründete und der - trotz mancher Brüche und idealistischen Inkonsequenzen seiner Konzeption - den entscheidenden Anstoß für die systematische Auswertung sowie die empirisch-wissenschaftliche Spezifizierung- und forschende Weiter Verfolgung von MARX' psychologierelevanten Einsichten gab. WYGOTSKI ist der Begründer der (von ihm selbst so genannten) »kulturhistorischen Schule«; unter WYGOTSKIS Schülern und Mitarbeitern, die nach seinem Tode (1934) die kulturhistorische Schule der sowjetischen Psychologie weiterentwickelten, war - neben LURIJA und GALPERIN - LEONTJEW am bedeutendsten. WYGOTSKIS Grundauffassungen fußen auf der marxistischen Charakterisierung des menschlichen Bewußtseins als bewußtes Sein, Bestimmungsmoment des wirklichen, materiellen Prozesses des gesellschaftlichen Lebens in seinen jeweils historisch-konkreten Ausprägungsformen. Das menschliche Bewußtsein hat sich nicht nur im historischen Maßstab mit der gegenständlichen Arbeit herausgebildet und mit der Struktur der gesellschaftlichen Arbeit verändert: Auch die individuelle Bewußtseinsentwicklung - dies ist das Fundament für WYGOTSKIS psychologischen Ansatz - ist über die gegenständliche Tätigkeit des Menschen vermittelt und führt zu einer Strukturierung des Bewußtseins, die durch die objektive gesellschaftlich-historische Struktur geprägt, also selber gesellschaftlich-historischer Art ist. Wie der Ubergang von der naturgeschichtlichen zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung durch den Gebrauch von Werkzeugen gekennzeichnet ist, so ist nach WYGOTSKI auch
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in der individuellen Entwicklung der Übergang vom bloß biologischen zum eigentlich menschlichen Stadium durch Werkzeuge vermittelt, zunächst durch materiell-sinnliche Werkzeuge und dann durch die Sprache als in der menschlichen Geschichte entstandene Form von »Werkzeugen«. Der gesellschaftlich-kooperativen Natur der Arbeit entspricht dabei die kommunikative Natur der individuellen Entwicklung: In die Vermittlungsprozesse der individualgeschichtlichen Herausbildung des Bewußtseins ist von vornherein der Umgang des Kindes mit den Erwachsenen als notwendiges Moment eingeschlossen, zunächst der Umgang über die sinnlich-motorische Tätigkeit und später der Umgang über die sprachliche Kommunikation. - Die vermittelten, historisch-gesellschaftlichen Formen des Bewußtseins entstehen also bei jedem einzelnen Menschen aus äußeren Tätigkeiten und werden dann schrittweise in innere, psychische Tätigkeiten umgewandelt, wobei sowohl die inhaltliche Eigenart wie die funktionale Struktur der inneren Tätigkeiten sich aus den äußeren gesellschaftlichen Tätigkeiten herleitet, aus denen sie entstanden sind. Die genaue theoretische Bestimmung und empirische Erforschung des damit angedeuteten Prozesses der Interiorisiemng in seinen verschiedenen Etappen muß gemäß WYGOTSKIS Auffassungen das zentrale Thema der Psychologie sein. - WYGOTSKI hat seinen Grundansatz besonders bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Denken und Sprechen genauer ausgeführt und realisiert, wobei er von der Annahme ausging, daß Denken und Sprechen phylogenetisch und ontogenetisch unterschiedliche Ursprünge haben und erst durch die gesellschaftliche Arbeit bzw. die individuelle gesellschaftliche Praxis des Menschen sich integrieren. WYGOTSKI ist dem Prozeß der Interiorisierung der Sprache von der »sozialen Sprache«, dem Gespräch, über die »egozentrische Sprache«, das Selbstgespräch, zur »inneren Sprache« als der Phase, in der die logischen Operationen sich ausbilden, differenziert nachgegangen, wobei von ihm in diesen drei Stufen zugleich der Übergang von der Erfassung des anderen als bloß leibhaftigem Partner zur Übernahme der Rolle des anderen und schließlich zur Verallgemeinerung des anderen und damit intersubjektiven Nachvollziehbarkeit von Gedankengängen herausgearbeitet wurde (wir können hier nicht näher darauf eingehen; vgl. WYGOTSKI, »Denken und Sprechen«, zuerst 1934)1. Die Grundkonzeption WYGOTSKIS, die, seines frühen Todes wegen, in vieler Hinsicht allgemein und programmatisch bleiben mußte, wurde in der Folgezeit von seinen Schülern und Mitarbeitern präzisiert, ausgebaut und vielfältigen empirischen Uberprüfungen unterzogen. GALPERIN, der bereits 1936 in seiner Dissertation »Der psychologische Un1
In der BRD zugängliche deutsche Ausgabe: Frankfurt/M (Fischer), 2. Aufl., 1971.
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terschied zwischen den menschlichen Werkzeugen und den Hilfsmitteln der Tiere« WYGOTSKIS Ansatz unter einem bestimmten Aspekt weiterverfolgte, arbeitete später intensiv am Problem der Entstehung des Denkens durch Interiorisierung äußerer Tätigkeitsformen. LURIJA führte u. a. wichtige Untersuchungen über die individuelle Entwicklung der Sprache durch. Alle empirischen Arbeiten LEONTJEWS, auf die im vorliegenden Buch zurückgegriffen wird, entstanden in dieser Periode der sowjetischen Psychologie. - Eine besonders wichtige Tendenz der kulturhistorischen Schule bestand in der Einbeziehung naturgeschichtlicher Aspekte und der immer stärkeren Berücksichtigung der dialektischmaterialistischen Widerspiegelungstheorie, wobei durch Herausarbeitung der naturgeschichtlichen und gesellschaftlich-historischen Vermitteltheit der Widerspiegelung als eines aktiven Prozesses erkennender Wirklichkeitsverarbeitung hier schon in den dreißiger und vierziger Jahren mechanistische Fehldeutungen des Widerspiegelungskonzeptes weitgehend überwunden wurden (was für LEONTJEWS Arbeiten später noch genauer gezeigt wird). Wesentlich blieb dabei stets der intensive Bezug auf praktisch-pädagogische Fragen im Zusammenhang mit dem Problem der Entwicklung allseitig entfalteter sozialistischer Persönlichkeiten. Die durch die Revolution möglich gewordene neue Qualität der gesellschaftlichen Entwicklung wissenschaftlicher Forschung, die Einbeziehung der Wissenschaft in die bewußte Planung des gesellschaftlichen Lebens unter der Führung der Kommunistischen Partei, realisierte sich einerseits in einer umfassenden, organisierten Förderung der Wissenschaften, konnte aber andererseits aus objektiven Gründen nicht bruchlos und widerspruchsfrei sich durchsetzen. Aus den Klassenauseinandersetzungen in der ersten nachrevolutionären Phase ergaben sich auch Spannungen zwischen den Tagesnotwendigkeiten des politischen Kampfes und der wissenschaftlichen Betätigung; bestimmte wissenschaftliche Tendenzen, die langfristig der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung dienen, konnten dabei aktuell durchaus in Widerspruch zu den politischen Erfordernissen geraten. Ein Beispiel für derartige Konflikte ist die »Pädologie«-Kontroverse in den dreißiger Jahren, in die WYGOTSKI und die »kulturhistorische Schule« zentral verwickelt waren; die (hier in ihrer Komplexität nicht darstellbare) Pädologie-Diskussion führte dazu, daß 1932 die Anordnung der Einstellung der von WYGOTSKI gegründeten und herausgegebenen Zeitschrift »Pedologia« erfolgte; 1936 wurde ein Dekret über den Abbruch der Untersuchung von Schulkindern mit den Fragestellungen und Methoden der kulturhistorischen Schule erlassen. Die Rehabilitation und wachsende gesellschaftliche Bedeutung der »kulturhistorischen Schule« in späterer Zeit sind nicht zu trennen von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in
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der Sowjetunion. - Um die Widersprüchlichkeiten, die längerfristig zur Herausbildung einer marxistisch fundierten Psychologie beitrugen, angemessen zu verstehen, muß die andere;, neben der kulturhistorischen Richtung für die sowjetische Psychologie dieser Zeit bestimmende »physiologische Richtung«, die zum kulturhistorischen Ansatz sachlich in einem Spannungsverhältnis stand, in ihrer Entwicklung betrachtet werden. Die physiologische Richtung als Fortsetzung der in der ersten Phase der sowjetischen Psychologie durchgesetzten PAWLOWschen Lehre von der höheren Nerventätigkeit hatte sich auf eine differenzierte und wissenschaftlich fruchtbare Weise weiterentwickelt. So wurde von ANOCHIN, einem Schüler PAWLOWS, 1932-35, noch unter PAWLOW, das Konzept des Reflexbogens kybernetisch zum Reafferenzprinzip ausgeweitet. Das strukturell Besondere des Reafferenzprinzips gegenüber dem Reflexbogen ist die Annahme einer zirkulierenden Informationsmenge in dem System Rezeptor-ZNS-Effektor, durch welche Rückmeldungen und damit Kontrolle über den Erfolg der Handlung möglich sind. Mit der Annahme von Rückkoppelungssystemen war die Vorstellung über lineare Reflexketten im biologischen Verhalten überwunden (ANOCHINS Entdeckung geriet zunächst in Vergessenheit; das Reafferenzprinzip wurde 1950 von HOLST und MITTELSTAEDT unabhängig erneut aufgestellt und endgültig in die Physiologie eingeführt). Eine weitere biokybernetische Ausweitung der PAWLOWschen Theorie wurde von SPERANSKI und BERNSTEIN erarbeitet, die neue Vorstellungen über die Organisationsleistungen des Nervensystems und über die Bedeutung der Aktivität für das biologische Verhalten von Organismen entwickelten. Eine Verschärfung der Auseinandersetzung zwischen der physiologischen Richtung und der kulturhistorischen Schule über den wissenschaftlichen Wettstreit hinaus zeichnete sich in dem Maße ab, als - besonders nach PAWLOWS Tod 1936 - von bestimmten Vertretern der physiologischen Richtung die Auffassung akzentuiert wurde, die PAWLOWsche Lehre von der höheren Nerventätigkeit sei bereits als solche die vollendete Ausbildung und Transformation der Psychologie im Sinne des historischen und dialektischen Materialismus. Diese Auffassung konnte sich vorübergehend so weit Geltung verschaffen, daß auf einer im Juni 1950 durchgeführten Tagung der Akademie der Wissenschaften und der Medizinischen Akademie der Wissenschaften der UdSSR die Vorstellung für die wissenschaftliche Planung verbindlich gemacht wurde, daß eine sowjetische Psychologie zu begründen sei, die eine Synthese von Pädagogik, Neurologie, Psychiatrie und Psychologie (im bisherigen Sinne) darstellen und als deren theoretische Grundlage die Lehre PAWLOWS dienen soll. Die Gleichsetzung der PAWLOWschen Lehre mit einer marxistisch
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fundierten Psychologie beruht auf der philosophisch fehlerhaften Voraussetzung, mit der bloßen Ausschaltung »subjektivistischer« Tendenzen sei zugleich die »Bürgerlichkeit« der sowjetischen Psychologie zu überwinden; es wurde noch nicht gesehen, daß ein reduktiver Antisubjektivismus durchaus in der Entwicklungslinie moderner bürgerlicher Psychologie lag, daß mit PAWLOWS Grundansatz, trotz seiner großen Bedeutung für die Weiterentwicklung der Physiologie, das menschliche Bewußtsein nicht aus seiner historischen Gewordenheit als spezifischer, nicht physiologisch reduzierbarer Qualität des materiellen Lebensprozesses begriffen werden kann, und daß dieser Grundansatz deswegen über differenzierte und verfeinerte Formen des mechanischen Materialismus notwendig nicht hinausgelangt. Durch die aus einer unzulänglichen Interpretation des MarxismusLeninismus erwachsene Auffassung, die PAWLOWsche Lehre sei als solche schon die voll entwickelte marxistische Konzeption der Psychologie, wurden die von PAWLOW erarbeiteten Auffassungen quasi versteinert und als der wissenschaftlichen Kritik und dem wissenschaftlichen Fortschritt entzogen betrachtet, was zu einer vorübergehenden Beeinträchtigung der Forschungsarbeit führen mußte. Innerhalb der physiologischen Richtung selbst wurde die schöpferische Weiterentwicklung der PAWLOWschen Lehren erschwert und die internationale Verbreitung wichtiger neuer Einsichten verzögert. Wissenschaftler außerhalb der i. e. S. physiologischen Schule standen häufig vor dem Dilemma, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse mit den politischen Leitlinien für die Wissenschaftsentwicklung in Einklang bringen zu müssen, was zu Brüchen und Inkonsequenzen, teilweise sogar zu später nur schwer wieder eliminierbaren theoretischen Schwächen führte. Der bedeutende Psychologe RUBINSTEIN Z. В . , der 1 9 3 4 einen grundlegenden Artikel »Probleme der Psychologie in den Werken von Karl Marx« und 1935 ein vielbeachtetes Buch »Grundlagen der Psychologie« veröffentlicht hatte 1 , akzeptierte im Anschluß an die genannte Tagung im Jahre 1950 in Übernahme der dort beschlossenen gesellschaftlichen Planung der weiteren Psychologie-Entwicklung die PAWLOWsche Lehre von der höheren Nerventätigkeit als Basis für seine weitere Forschung. In späteren Arbeiten unter veränderten gesellschaftlichen Umständen, so in seinem wichtigen 1957 zuerst erschienenen Werk »Sein und Bewußtsein«, setzt er sich zwar in vielen Punkten mit PAWLOW ausein^ ander, hinsichtlich so zentraler Fragen wie der Frage der psychophysischen Einheit und der Bewußtseinsproblematik finden sich aber neben vielen weiterführenden Einsichten auch Auffassungen, in denen mecha1 Eine überarbeitete Fassung, die noch weitere Verbreitung fand, folgte 1940 unter dem Titel »Die Grundlagen der allgemeinen Psychologie«.
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nisch-materialistische Vorstellungen der PAWL0Wschen Konzeption nicht voll überwunden sind. - Auch die Mitglieder der kulturhistorischen Schule selbst beschäftigten sich nach 1950 mit reflektorischen Medianismen des Psychischen, was z. B . in dem Aufsatz von LEONTJEW »Über die reflektorisch-materialistische und die subjektiv-idealistische Auffassung vom Psychischen« seinen philosophischen und psychologischen Niederschlag fand. Eine in gewisser Hinsicht unorganische Rezeption PAWLOWscher Auffassungen ist in dem vorliegenden Buch an manchen Stellen zu konstatieren, was aber die marxistische Fundierung und wissenschaftliche Stringenz der Gesamtkonzeption kaum beeinträchtigt. Die weitere gesellschaftliche Entwicklung in der Sowjetunion, dabei auch die immer weitergehende Überwindung von Nachwirkungen des zweiten Weltkrieges auf das Leben der Gesellschaft, schloß einen Aufschwung der sowjetischen Psychologie mit der Auflösung von Einseitigkeiten und gegenseitiger Befruchtung verschiedener Forschungsansätze ein, womit die marxistisch fundierte Psychologie in ein neues Stadium trat. Während der Entwicklungsverlauf der sowjetischen Psychologie bisher in stärkerem Maße durch Auseinandersetzungen über die richtige Grundlegung der Psychologie auf der Basis der marxistischen Lehre geprägt war, wobei die psychologische Forschung weitgehend mit der Selbstreflexion und Aufarbeitung der eigenen Geschichte befaßt war, was eine starke Isolation nach außen mit sich brachte, ist die weitere Entwicklung (von etwa 1960 an) durch eine weitgehende Einigung über die angemessene Basis einer auf dem historischen und dialektischen Materialismus beruhenden Psychologie, die wachsende Ausweitung und gesellschaftliche Anerkennung psychologischer Forschung und Praxis wie die Aufhebung der Isolierung und die Verstärkung internationaler Kontakte gekennzeichnet. Die philosophisch-theoretische Konsolidierung der Psychologie führte zu der Einsicht, daß eine marxistisch fundierte psychologische Konzeption sich nur in der von MARX, ENGELS und LENIN entwickelten historischen Methode gründen kann, wobei es unangemessen ist, eine verselbständigte, ahistorisch-»naturwissenschaftliche« Angehensweise zu etablieren, vielmehr auch bei der empirischen Erforschung der individuellen Persönlichkeit die dialektische Einheit von naturgeschichtlicher und gesellschaftlich-historischer Entwicklung, die im Hinblick auf den individuellen Menschen als dialektische Einheit zwischen biologischer Ausfaltung und Vergesellschaftung innerhalb der Individualgeschichte zu fassen ist, zugrunde gelegt werden muß. Die Verbreitung dieser Einsicht führte zu einem vielseitigen wissenschaftlichen Forschungs- und
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Diskussionsprozeß, in welchem nunmehr die kulturhistorische Schule gemäß den geänderten gesellschaftlichen Bedingungen einen wichtigen Platz einnahm und weitgehende Anerkennung fand. Dies dokumentierte sich eindrucksvoll darin, daß das hier vorgelegte Buch LEONTJEWS, »Probleme der Entwicklung des Psychischen«, das 1959 zuerst erschienen war, im Jahre 1963 mit dem LENIN-Preis ausgezeichnet würde 1 . Dies bedeutete keineswegs eine Vernachlässigung der wichtigen Konzeptionen und Resultate der von PAWLOW ausgehenden Richtung. Es wurde nur jetzt allgemein erkannt, daß die Theorie der höheren Nerventätigkeit nicht schon selbst ein marxistisch legitimierter wissenschaftlicher Ansatz ist, sondern im Zusammenhang einer umfassenderen marxistisch fundierten Psychologie kritisch weiterentwickelt werden muß. - Nunmehr waren Analysen der geschichtlichen Entwicklung der Psychologie auf einem neuen Niveau möglich, wie etwa an den Arbeiten von JAROSCHEWSKI »Der Determinismus in der Psychophysiologie des 19. Jahrhunderts« (1962) und »Geschichte der Psychologie« (1966), sowie an einer kollektiven Publikation »Die moderne Psychologie in den kapitalistischen Ländern« (1963) deutlich wird. Auch fundierte kritische Analysen der Stellung einzelner Psychologen innerhalb der Geschichte der sowjetischen Psychologie, etwa der Bedeutung und der Schwächen der Arbeiten RUBINSTEINS, prägten jetzt die wissenschaftliche Diskussion. Äußeres Zeichen des Einsetzens einer erhöhten gesellschaftlichen Beachtung der sowjetischen Psychologie ist die Durchführung des 1. Kongresses der Psychologischen Gesellschaft 1959 in Moskau. Charakteristisch ist nun eine systematische Abhaltung wissenschaftlicher, Kongresse, an denen der Entwicklungsstand der sowjetischen Psychologie abgelesen werden kann. Bereits 1963 folgt der 2. Kongreß der Psychologischen Gesellschaft in Leningrad, 1968 der 3. Kongreß in Kiew. Außerdem ist eine sprunghafte Steigerung der Publikationstätigkeit festzustellen, in der die wachsende Eigenständigkeit der Psychologie im Rahmen der marxistischen Gesellschaftswissenschaft zum Ausdruck kommt. - Die allmähliche Extension des Gegenstands-^ bereiches der sowjetischen Psychologie wird auch an der Einführung neuer Teildisziplinen deutlich. In dem 1968 erschienenen Artikel »Einige aktuelle Aufgaben der Psychologie« führt LEONTJEW als derartige neue Gebiete die Ingenieurpsychologie und die psychologische Kybernetik, ferner die Arbeitspsychologie und Entwicklungen auf dem Gebiet der Sozialpsychologie und medizinischen Psychologie an. Von 1
Dem Buch »Probleme der Entwicklung des Psychischen« gingen die Dissertation »Die Entwicklung des Psychischen« (1940) und die Arbeit »Abriß der Entwicklung des Psychischen« (1947) voraus.
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dem erst in dieser Periode an sowjetischen medizinischen Hochschulen eingeführten Psychologieunterricht und der Erweiterung des Netzes von Psychologen in psychiatrischen Anstalten verspricht sich LEONTJEW auch eine Stärkung der allgemeinen Situation der Psychologie in der SU. Er kritisiert ferner die Vernachlässigung solcher Themen wie die Rolle des Unbewußten, die Struktur von Konflikterlebnissen oder psychischen Kompensationen in der Psychopathologie und allgemeinen Psychologie, die diesen Disziplinen nur geschadet habe. - Die Entwicklung der Psychologie seit etwa 1960, die von vielen sowjetischen Psychologen als eine Zeit des Umschwungs gesehen wird, bringt aber nicht nur eine Bearbeitung bisher aus ideologischen Gründen verschlossener Problemgebiete der bürgerlichen Psychologie unter marxistischen Prämissen, sondern auch eine allgemeine Hebung des qualitativen Niveaus der Wissenschaft durch konsequente interdisziplinäre Forschung. Bedeutende Produkte des Ausbaus in dieser Richtung sind Beiträge zur kybernetischen Psychologie und mathematischen Psychologie; aber auch die Erschließung der allgemeinen Dimension MenschTechnik durch die Ingenieur- und Arbeitspsychologie gehört in diese Entwicklungslinie, durch die der Anschluß an ökonomische Fragestellungen sowie an das Problem der Stellung des Menschen im konkreten Arbeitsprozeß gefunden wird. Sofort entstanden nun auch Berechnungen über die Ausbildung von Psychologen und den Bedarf in der sowjetischen Industrie sowie Prognosen über die Entwicklung dieser Relationen in den nächsten Jahrzehnten. Dem inneren Aufschwung der sowjetischen Psychologie entsprach die Aufnahme und Verstärkung internationaler Kontakte. 1966 wurde in Moskau der 18. Internationale Kongreß für Psychologie abgehalten, uhd sowjetische Psychologen beteiligten sich ihrerseits mit verschiedenen Beiträgen am 19. Internationalen Kongreß für Psychologie in London. Die Isolierung früherer Perioden ist damit überwunden und macht einer Wechselwirkung in verschiedenen Formen mit dem internationalen Stand der Psychologie Platz. Derartige Beziehungen müssen allerdings notwendig durch eine bestimmte Art von Asymmetrie gekennzeichnet sein, da die marxistisch fundierte sowjetische Psychologie von ihrem umfassenderen Konzept aus die Ansätze und Ergebnisse der bürgerlichen Psychologie kritisch analysieren und in ihren wissenschaftlich wertvollen Aspekten nutzbar machen kann, die bürgerliche Psychologie hingegen - wie eingangs gesagt - gemäß den ihr inhärenten Beschränktheiten den spezifischen, weiterführenden Erkenntnisgehalt der Gesamtkonzeption einer Psychologie auf der Basis des historischen und dialektischen Materialismus verfehlen, ihre Besonderheiten auf dem eigenen Niveau einebnen und ihre Ansätze und Befunde »konvergenztheoretisch« verkürzen muß. Diese
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Asymmetrie ist nur mit der Durchsetzung marxistischer Denkweisen innerhalb der Psychologie in den kapitalistischen Ländern (als Teilmoment der Entwicklung der objektiven Widersprüche des Kapitalismus in Richtung auf eine sozialistische Transformation) allmählich zu verringern.
3. LEONTJEWs historischer Grundansatz der psychologischen Forschung in seiner Besonderheit gegenüber der bürgerlichen Psychologie Das vorliegende Buch enthält in seinen einzelnen Abschnitten Texte, die nicht nur aus verschiedenen Zeiten stammen, sondern auch verschiedener Herkunft sind: Manche Texte sind Teile aus größeren Werken, andere sind Zeitschriftenartikel, wieder andere sind Vortragsmanuskripte. Audi der Charakter der Texte ist unterschiedlich: Es handelt sich teilweise um grundlegende philosophische Abhandlungen, teilweise um Berichte über empirische Forschungen, teilweise um mehr popularisierende, an einen größeren Interessentenkreis gerichtete Darlegungen. Dennoch ist die Gliederung des Buches keineswegs eine mehr oder weniger zufällige, äußerliche Systematik, sondern spiegelt stringent den inneren Zusammenhang der gedanklich entwickelten Sachverhalte, damit gleichzeitig die organische Geschlossenheit des hier repräsentierten Lebenswerkes seines Verfassers. Zentrales Kennzeichen des LEONTJEWschen Grundansatzes ist das »historische Herangehen an die Untersuchung der menschlichen Psyche« (S. 262 ff.); historisches Herangehen im Sinne der inneren Einheit von naturgeschichtlicher, gesellschafllichhistorischer und individualgeschichtlicher Analyse, wie aus dem Aufbau des Buches nachvollziehbar. Unerläßliche Voraussetzung für das Verständnis von LEONTJEWS psychologischer Konzeption (und jeder marxistisch fundierten psychologischen Konzeption) ist ein richtiger Begriff davon, was aus der Sicht des historischen und dialektischen Materialismus historisches Herangehen heißt. Historisches Herangehen bedeutet nicht lediglich, daß historische Sachverhalte zum Gegenstand der Analyse gemacht werden; auch nicht, daß bestimmte Erscheinungen in ihrem historischen Kontext betrachtet und so »relativiert« werden. Vielmehr ist die Methode des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns selbst in bestimmtem Sinne eine historische Methode. Einen Gegenstand wissenschaftlich erklären, heißt hier, ihn aus seiner Gewordenheit begreifen. Nur in einer historischen Ursprungs- und Differenzierungsanalyse lassen sich an den Erscheinungen die wesentlichen inneren Zusammenhänge samt der vermittelnden
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Prozesse zu ihrer Erscheinungsform angemessen herausarbeiten. Auch die i. e. S. empirische Forschung innerhalb der Gesellschaftswissenschaft (einschließlich der Psychologie) gewinnt ihre Fragestellungen wie ihren Interpretationsrahmen aus den Resultaten der historischen Analyse. Die historische Methode unter den Prämissen des historischen und dialektischen Materialismus begreift ihren Erkenntnisgegenstand in seiner Entstehung aus den objektiven Notwendigkeiten des wirklichen, materiellen Lebensprozesses: unter naturgeschichtlichem Aspekt den Notwendigkeiten der organismischen Lebenserhaltung, unter gesellschaftlich-historischem Aspekt den Notwendigkeiten der Erhaltung und Entfaltung des gesamtgesellschaftlichen Lebens und unter individualgeschichtlichem Aspekt den Notwendigkeiten der Lebenserhaltung und -entfaltung des individuellen gesellschaftlichen Menschen. LEONTJEWS Buch ist in allen Teilen das Beispiel einer konsequenten Anwendung der so angedeuteten historischen Methode in ihren verschiedenen Aspekten, zentriert auf den engeren Gegenstand der Psychologie, den gesellschaftlichen Menschen in seiner Individualität. Damit wird der Ansatz einer marxistisch fundierten Psychologie exemplifiziert, die zwar im einzelnen ausgebaut und korrigiert werden muß, im Prinzip aber an den Leitlinien orientiert ist, denen jede psychologische Forschung, sofern sie auf der Grundlage des dialektischen und historischen Materialismus wissenschaftliche Fortschritte erreichen will, zu folgen hat. Die Persönlichkeit des je individuellen Menschen ist unmittelbar resultativer Ausdruck seiner individualgeschichtlichen Gewordenheit. Die individuelle menschliche Entwicklung ist aber nicht aus sich heraus verständlich; sie ist in ihren biologischen Voraussetzungen Resultat der naturgeschichtlichen Entwicklung des Menschen und in ihrem konkreten Verlauf geprägt durch die Aneignung von Resultaten der gesellschaftlich-historischen Entwicklung. Die wissenschaftliche Erforschung des Menschen in seiner individualgeschichtlichen Gewordenheit setzt also eine entsprechende stammesgeschichtliche und gesellschaftlich-historische Analyse voraus. LEONTJEWS Buch beginnt deswegen folgerichtig damit, die Besonderheiten des Psychischen als Lebenserscheinung naturgeschichtlich herzuleiten. Die heutige bürgerliche Psychologie blickt auf die »Leib-Seele«-Diskussion ihrer klassischen Phase als auf einen überwundenen Entwicklungsabschnitt zurück. Sie glaubt das Leib-Seele-Problem als »Scheinproblem« erkannt zu haben und meint, mit der Bestimmung ihres Gegenstandes als menschliches »Verhalten« und der Fassung von subjektiven Momenten als bloß theoretisch eingeführten »2wischen variablen« die alten Schwierigkeiten vom Hals zu haben. Die moderne bürgerliche
Leontjews Besonderheit gegenüber der bürgerlichen Psychologie XXXIII Wissenschaftslehre deckt diese Auffassung ab, indem sie die wirkliche Beziehung zwischen Psychischem und Physiologischem als ein tatsächlich wissenscbaftsspracbliches Problem hinstellt und phänomenalistische, physikalistische, oder »double-language«-theoretische Reduktionen auf den sprachlichen Bereich anbietet, womit hier auch ihr sprachanalytischlogisches Instrumentarium anwendbar sein soll (wie z. B. bei FEIGL nachzulesen1). - Da in der konkreten Forschung im Grenzgebiet zwischen Physiologie und Psychologie sich dennoch die Tatsache nicht aus der Welt schaffen läßt, daß man es hier nicht mit lediglich sprachlichen, sondern mit realen Wechselwirkungsbeziehungen zwischen Bewußtseinserscheinungen und physiologischen Prozessen zu tun hat, hält sich daneben als pragmatische Gebrauchsphilosophie des Forschers der alte, von DESCARTES herkommende, dichotomisierende psychophysische Parallelismusу in welchem die Bewußtseinstatsachen radikal von den physiologischen Tatsachen getrennt und Beziehungen zwischen beiden lediglich konstatiert, nicht aber wissenschaftlich begriffen werden. Gelegentlich erfährt diese Auffassung auch eine erkenntnistheoretische Stilisierung, wie bei BISCHOFS 2 sublimiertem, als »kritischen Realismus« bezeichneten Parallelismus, in welchem die gegebene »phänomenale Welt« einer »transphänomenalen Welt« gegenübergestellt wird, die einem nicht gegeben ist, an die man aber zweckmäßigerweise glauben sollte. Tatsächlich hat die bürgerliche Psychologie das Leib-Seele-Problem nicht als Scheinproblem entlarvt, sondern lediglich beiseite geschoben, indem sie die Unlösbarkeit dieses Problems mit den Denkmitteln der modernen bürgerlichen Psychologie und Erkenntnistheorie mit seiner Unlösbarkeit überhaupt gleichsetzte. Die marxistisch fundierte Psychologie übernimmt hier (wie in anderen grundsätzlichen Fragen) sozusagen das Erbe der klassischen Psychologie, indem sie aufweist, daß das Leib-Seele-Problem nicht als Problem falsch gestellt war, sondern daß die Versuche seiner Lösung unzulänglich waren, und nimmt die Klärung des Problems auf angemessenere Weise in Angriff. Damit wird auch hier die agnostizistische Resignation der in ihre eigenen Sophismen verstrickten bürgerlichen Erkenntnistheorie in Richtung auf wirklichen Fortschritt der menschlichen Erkenntnis überwunden. In seiner Herausarbeitung der Sensibilität als Elementarform des Psychischen vermeidet LEONTJEW im Einklang mit dem dialektischen Materialismus schon im Ansatz sowohl mechanisch-materialistische oder idealistische Reduktionen (einschließlich der idealistischen Reduktion 1
FEIGL, H.: The »Mental« and the »Physical«; University of Minnesota Press, Mineapolis 1967. BISCHOF, N.: Erkenntnistheoretische Grundlagenprobleme der Wahrnehmungspsychologie ; Handbuch der Psychologie, I. 1, »Wahrnehmung und Bewußtsein«, Herausg. W. Metzger, Göttingen (Hogrefe) 1966.
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äuf Sprachprogramme) wie die dualistische Zerreißung zwischen Psychischem und Nichtpsychischem, indem er die Sensibilität in ihrer Gewordenheit als am objektiven Notwendigkeiten der stammesgeschichtlichen Entwicklung entstandenes organismisches Differenzierungsprodukt begreift. - Die Beziehung des Organismus zur Welt wird grundsätzlich als asymmetrische Wechselwirkung des aktiven Organismus mit seinen objektiven Lebensbedingungen verstanden. Die früheste Form der Auslösbarkeit von organismischen Aktivitäten durch äußere Einflüsse ist die Erregbarkeit (oder Reizbarkeit), die unmittelbar zu »lebenserhaltenden« Stoffwechselvorgängen führt. Im Laufe der Evolution bildet sich als Selektionseffekt in Abhängigkeit von den objektiven Lebensbedingungen aus der Erregbarkeit eine besondere Form der Aktivitätssteuerung, die Ansprechbarkeit des Organismus auf solche äußeren Einflüsse, die selbst nicht im Stoffwechsel assilimiert werden können, aber mit assimilierbaren Gegebenheiten in einem objektiven Zusammenhang stehen, also Signalfunktion für die Annäherung an »lebenserhaltende« Nahrungsquellen haben, die Sensibilität. Die Sensibilität als »vermittelnde« Ansprechbarkeit hat dadurch ihren »überlebensfördernden« Effekt (genauer: den Effekt der Erhöhung der Fortpflanzungs Wahrscheinlichkeit von Organismen-Populationen), daß sie objektive Außenwelttatbestände auf einem elementaren Niveau adäquat widerspiegelt. Nur unter dieser Voraussetzung ist die Entstehung der Sensibilität evolutionstheoretisch verständlich. Die Widerspiegelung als Eigenschaft aller Materie gewinnt also auf dem Niveau der Sensibilität eine neue Qualität, » . . . indem sie ihren passiven, toten und zufälligen Charakter verliert. Die Widerspiegelung wird erstmalig zur notwendigen Bedingung für die Existenz des Lebewesens« (S. 43 f., Hervorh. Ref.). LEONTJEWS Herausarbeitung der Sensibilität als Elementarform des Psychischen ist paradigmatisch für das historische Herangehen an das Psychische im naturgeschichtlichen Bereich. - Schon im Hinblick auf die Sensibilität ergibt die historische Analyse (im Sinne des historischen und dialektischen Materialismus), daß es wissenschaftlich unhaltbar ist, die Eigenständigkeit des Psychischen innerhalb der Lebensvorgänge reduktiv zu leugnen. Die Spezifität des Psychischen entsteht aus von objektiven Außenweltbedingungen abhängigen spezifischen organismischen Lebensnotwendigkeiten im Evolutionsprozeß. Andererseits ist es genauso unhaltbar, das Psychische dem Physiologischen dichotomisierend gegenüberzustellen. Der innere Realzusammenhang zwischen Erregbarkeit und Sensibilität erwächst aus dem gemeinsamen naturgeschichtlichen Ursprung, wobei die Gesetzmäßigkeiten des elementaren Prozesses nicht äußer Kraft gesetzt, sondern im »höheren« mehr spezifischen Prozeß aufgehoben sind. Dies gilt auch für die weiteren Spezifitätsstufen
Leontjews Besonderheit gegenüber der bürgerlichen Psychologie XXXIII bis hin zum menschlichen Bewußtsein, womit das »vermittelnde« Wesen der Sensibilität eine Wesensbestimmung des Psychischen überhaupt ist. »Auf welcher Entwicklungsstufe die Sensibilität auch stehen mag und in welcher Form des psychischen Lebens wir dieser Erscheinung auch begegnen, die empfundene Einwirkung muß stets das Verhältnis des Subjekts zu irgendeiner anderen Einwirkung vermitteln. In dieser Beziehung darf die Sensibilität des Menschen keine Ausnahme bilden. Daß sie beim Menschen in Form von Bewußtseinserscheinungen auftritt, stellt ihre spezifische Besonderheit dar, ändert jedoch nichts an dem grundsätzlichen Verhältnis, das ihr Wesen kennzeichnet« (S. 48). Es führt zwangsläufig zu einer Verfehlung des »Leib-Seele-Pröblems«, wenn man nur den Endzustand, die subjektiv-phänomenale Mensch-Welt-Beziehung einerseits und die objektiv-physische Organismus-Außenreiz-Beziehung andererseits, betrachtet, und somit Psychisches und Bewußtes gleichsetzt; auf diese Weise verstellt man sich (da Daten über Bewußtseinsprozesse nur vom Menschen zu erlangen sind) schon methodisch den Weg zum Begreifen der bewußten Beziehung des Menschen zur Welt aus dem naturgeschichtlichen Gewordensein dieser Beziehung. Die Dichotomie zwischen »Objektivem« und »Subjektivem« erscheint so unaufhebbar. Man kann den Tatbestand nicht berücksichtigen, daß »der Gegensatz zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven in Wirklichkeit keineswegs absolut und von Anfang an gegeben« ist, daß er »vielmehr erst durch eine Entwicklung hervorgerufen« wird, »in deren Verlauf stets Übergänge zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven bestehen, die jede Einseitigkeit zunichte machen. Wir dürfen uns folglich nicht darauf beschränken, subjektive und objektive Daten rein äußerlich gegenüberzustellen, sondern müssen den inhaltsreichen, konkreten Prozeß erschließen und untersuchen, der sowohl das Objektive als auch das Subjektive umfaßt und in dessen Verlauf sich beide wandeln« (S. 20). Nur in der historischen Analyse wird erkennbar, warum die Ablösung und Verselbständigung von Empfindungen, »Sinnesdaten«, »phänomenalen« Tatbeständen von der objektiven Welt (einerlei ob subjektiv-idealistisch an die Stelle der Wirklichkeit gesetzt oder dualistisch einer unerkennbaren objektiven Realität gegenübergestellt) wissenschaftlich falsch ist. Die Empfindungen, Sinnesdaten, phänomenalen Gegebenheiten werden nur dann aus ihrer Gewordenheit verständlich, wenn man ihre Entstehung aus der Funktion der Widerspiegelung objektiver Realität als Notwendigkeit organismischer Lebenserhaltung begreift. Schon die Herausbildung der Sensibilität, ebenso die spätere Ausdifferenzierung von Rezeptorsystemen etc. ist durch die Vermittlung über die Widerspiegelung ein Resultat immer spezifischerer Wechselwirkungsformen zwischen der Aktivität des sich orientierenden Or-
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ganismus und den objektiv-gegenständlichen Außenwelt-Bedingungen. Die verschiedenen Sensibilitäts- und Rezeptionsformen sind also in ihrer organismischen Funktion und Struktur durch den Selektionseffekt der Widerspiegelung auf die immer adäquatere Erfassung der objektiven Realität hin angelegt; dies gilt mithin in besonderem Maße für die bewußte Widerspiegelung der Realität durch den Menschen als der entwickeltsten Widerspiegelungsform. Die psychische Aktivität steht, wie sich aus ihrer Genese ergibt, ihrer je besonderen Eigenart nach mit ihrem Gegenstand in einem inneren Zusammenhang. »Die grundlegende >Einheit< des Lebensprozesses ist die Tätigkeit des Organismus. Die mannigfachen Tätigkeiten, die die vielfältigen Lebensbeziehungen des Organismus zur ihn umgebenden Wirklichkeit realisieren, werden wesentlich durch deren Gegenstand bestimmt. Deshalb werden wir vom Gegenstand ausgehen, wenn wir zwischen einzelnen Arten der Tätigkeit unterscheiden« ('S. 33). »Nur die Gegenständlichkeit, das heißt der Bezug auf die Wirklichkeit, schafft die Empfindung als psychische Erscheinung . . . Anstatt mit der Frage zu beginnen, welche Erscheinungen der Außenwelt sich hinter der Empfindung verbergen (d. h. von der Empfindung zu den realen Gegenständen zu schreiten), gilt es von der Frage auszugehen, wie aus der Wirklichkeit eine Empfindung entsteht, das heißt, bei einer wissenschaftlichen Analyse des Problems von der Wirklichkeit, von den realen Gegenständen zu den Empfindungen zu schreiten . . . Bevor sie in der Empfindung >gegeben< ist, tritt die gegenständliche Wirklichkeit als Bedingung der praktischen Existenz, als Objekt der sich in realen Kontakten mit der Außenwelt vollziehenden Anpassung des Organismus auf« (S. 128 f., Hervorh. Ref.). Die im Zusammenhang mit seiner Theorie über die Entstehung der Sensibilität als Elementarform des Psychischen von LEONTJEW durchgeführten umfangreichen und vielgestaltigen Experimente, in denen versucht wird, menschliche Reaktionen hervorzurufen, die auf eine Lichtempfindlichkeit der Haut schließen lassen, indem der Photosensibilität unter Abschirmung aller übrigen Reize eine vermittelnde Funktion gegeben wird, sind ein Beispiel für eine Verbindung der historischen mit der experimentellen Methode. »Wir wollen . . . auf dem Weg über das Laboratoriumsexperiment zur realen Genese der Sensibilität vordringen, denn an der Grenze des Aufkommens des Psychischen kann von einem Bewußtseinsvorgang nicht die Rede sein« (S. 104). Die experimentelle Fragestellung ergibt sich hier aus der historischen Analyse: Der Annahme, daß die elementaren psychischen Erscheinungen in den mehr spezifischen aufgehoben sind und der Annahme der Entstehung der Sensibilität aus der Lebensnotwendigkeit einer vermittelnden, »signalisierenden« Ansprechbarkeit des Organismus. Ohne den Kontext der na-
Leontjews Besonderheit gegenüber der bürgerlichen Psychologie XXXIII turgeschichtlich-evolutionstheoretisdien Ansätze und Befunde hätte die experimentelle Hypothese weder entstehen können, noch wäre sie als sinnvoll zu begreifen. Ebenso ist die Interpretation der experimentellen Befunde nur auf dem Hintergrund der naturgeschichtlichen Analyse sinnvoll möglich; »Man kann entweder annehmen, bei unseren Probanden sei im Laufe der Versuche eine neue Form der Sensibilität entstanden und wir hätten auf experimentellem Wege eine Erscheinung geschaffen, die der Genese der Sensibilität analog ist. Man kann aber auch den Standpunkt vertreten, die bei unseren Probanden beobachteten Empfindungen seien darauf zurückzuführen, daß die den Hautrezeptoren früher phylogenetisch eigene Photosensibilität, die infolge der Entwicklung höherer Rezeptoren unterdrückt und gehemmt wurde, wieder wachgerufen wird. Wir hätten dann in unseren Versuchen nicht das Entstehen einer neuen Form der Sensibilität, sondern lediglich das Zutagetreten einer bereits existierenden Lichtempfindlichkeit beobachtet . . . « (S. 89). Die äußerst differenziert und sorgfältig durchgeführten Experimente bedürfen sicherlich einer Uberprüfung unter Anwendung moderner Verfahren des Design und der statistischen Auswertung. Ebenso bedarf die Frage der Repräsentanz der experimentellen Befunde für die historische Analyse noch genauerer Klärung. Wesentlich erscheint uns jedoch, daß hier ein Typ des »genetischen Experiments« entwickelt wurde, durch welchen prinzipielle Hinweise über das Verhältnis zwischen historischer Herangehensweise und experimenteller Forschung in der marxistisch fundierten Psychologie zu gewinnen sind. - Ein weiteres Beispiel dieser Art genetischer Experimente sind die (im Kapitel über sinnliche Widerspiegelung, S. 123 ff.) dargestellten experimentellen Untersuchungen über die Beziehung zwischen Aktivität und Widerspiegelung. Auch die allgemeine Einsicht, daß die adäquate Widerspiegelung objektiver Eigenschaften und die gegenstandsgerichtete Aktivität des Organismus ihrem Wesen nach miteinander zusammenhängen, ist - wie dargelegt - ein Ergebnis der historischen Analyse. Weitere Resultate LEONTJEWS bei der Analyse des phylogenetischen Gewordenseins der menschlichen Psyche, etwa die Herausarbeitung verschiedener Stadien der »Entwicklung des Psychischen beim Tier« (S. 155 ff.), des Stadiums der elementaren sensorischen Psyche, des Stadiums der perzeptiven Psyche und des Stadiums des Intellekts, sind durch die prinzipiell gleiche Art des naturgeschichtlichen Herangehens gewonnen, wie sie auch zum Aufweis der Herausdifferenzierung der Sensibilität aus der Erregbarkeit angewendet wurde, weshalb eine genauere Diskussion hier unterbleibt. Der nächste entscheidende Schritt zum Aufbau einer marxistisch fundierten Psychologie ist die Auseinanderlegung der Entstehung des menschlichen Bewußtseins und des Ver-
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haltnisses zwischen biologischer und gesellschaftlich-historischer Entwicklung des Menschen.; deswegen soll die Weise, in der LEONTJEW dieses Problem im Einklang mit dem historischen und dialektischen Materialismus behandelt, in ihrer Besonderheit kurz gekennzeichnet werden. Die bürgerliche Psychologie hat, in der gleichen Weise wie sie das Leib-Seele-Problem reduktionistisch »erledigte«, auch das Problem der menschlichen Gesellschaftlichkeit aus ihrem wissenschaftlichen Horizont entfernt. Aus dem berechtigten Kampf gegen die »geisteswissenschaftliche« Psychologie, die »verstehende« Methode, den »Introspektionalismus« etc. und dem Streben nach einer Verwissenschaftlichung psychologischer Forschung erwuchs (aufgrund von gesellschaftlichen Bedingungen, die hier nicht diskutiert werden können), eine reduktive organismische Grundkonzeption, in welcher der Unterschied zwischen tierischen und menschlichen »Organismen« als ein lediglich gradueller Unterschied erscheint, das Wesen der menschlichen Gesellschaftlichkeit nicht erfaßt werden kann. Vom ahistorischen Ansatz der bürgerlichen Psychologie aus bleiben nur die Möglichkeiten einer Reduktion der Natürlichkeit des Menschen auf eine verselbständigte »Kultur« oder »Gesellschaft« (wie in der geisteswissenschaftlichen Psychologie), einer Reduktion der Gesellschaftlichkeit des Menschen auf seine bloße »Natur« (wie in der behavioristisch beeinflußten modernen Psychologie) oder einer dichotomisierend dualistischen Gegenüberstellung von menschlicher Natur einerseits und Gesellschaft andererseits (wie etwa in der Psychoanalyse). Die Spezifik der Gesellschaftlichkeit des Menschen und gleichzeitig der innere Zusammenhang zu seiner »Natürlichkeit« kann nur durch die historische Ursprungs- und Differenzierungsanalyse aus der Gewordenheit des gesellschaftlichen Menschen begriffen werden, wobei das methodische Verfahren sich auch hier gemäß dem materialistischen Grundansatz an den Notwendigkeiten der Lebenserhaltung auszurichten hat, im vorliegenden Fall also den Ubergang von den Notwendigkeiten der organismischen Lebenserhaltung zu den Notwendigkeiten der Erhaltung und Entfaltung gesellschaftlichen Lebens wissenschaftlich erfassen muß. Die historische Methode gemäß den Prämissen des historischen und dialektischen Materialismus ist mithin als Methode die gleiche, einerlei, ob sie ihren Gegenstand aus seinem naturgeschichtlichen oder seinem gesellschaftlich-historischen Gewordensein begreifen will. Unterschiede des Verfahrens ergeben sich hier nur aus inhaltlichen Unterschieden der zu erforschenden Sache, wobei die Anmessung des Vorgehens an die konkrete Inhaltlichkeit des historischen Materials ein wesentliches Kennzeichen der historischen Methode ist.
Leontjews Besonderheit gegenüber der bürgerlichen Psychologie XXXIII Leontjew stellt, indem er in anthropogenetischer Analyse sowohl die Kontinuität wie den qualitativen Sprung im Übergang von der naturgeschichtlichen zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung auseinanderlegt, die Arbeit als spezifisch menschliche Form der Lebenserhaltung heraus, wobei die Arbeit als Einheit von vergegenständlichender Veränderung der Natur und gesellschaftlicher Produktion der Lebensmittel zu verstehen ist. »Kennzeichnend für die Arbeit sind zwei Merkmale, die eng miteinander zusammenhängen: Das erste ist der Gebrauch und die Anfertigung von Werkzeugen . . . Das zweite liegt in der Tatsache, daß der Arbeitsprozeß unter den Bedingungen einer gemeinsamen, kollektiven Tätigkeit vollzogen wird. Der Mensch tritt dabei nicht nur in Beziehung zur Natur, sondern auch zu anderen Menschen, den Mitgliedern der gegebenen Gesellschaft. Nur über die Beziehung zu anderen Menschen tritt der Mensch in Beziehung zur Natur. Die Arbeit ist damit von Anfang an ein Prozeß, der durch das Werkzeug (im weiten Sinne des Wortes) und zugleich durch die Gesellschaft vermittelt wird.« Auch Tiere, besonders die Menschenaffen, gebrauchen gelegentlich »Werkzeuge«. Indessen: »So kompliziert die Tätigkeit mit Hilfe eines >Werkzeugs< beim Tier auch sein mag, sie ist niemals ein gesellschaftlicher Prozeß; sie wird nicht kollektiv vollzogen und entwickelt sich auch nicht über die Beziehungen, die die einzelnen Individuen dabei eingehen. So kompliziert andererseits das instinktive Zusammenleben der Individuen einer Tiergemeinschaft auch sein mag, die Beziehungen werden nicht auf der Grundlage der »Produktionstätigkeit geknüpft, werden nicht von ihr bestimmt und hängen nicht von ihr ab« (S. 202). Die Spezifik des menschlichen Bewußtseins (als »bewußtes Sein«) ist herzuleiten aus den spezifischen Notwendigkeiten der Lebenserhaltung und -entfaltung durch gesellschaftliche Arbeit. LEO*NTJEW geht diesen Zusammenhängen auf differenzierte Weise nach. - Besonders hervorgehoben wird dabei die neue Form der Kollektivität bei gesellschaftlicher Arbeit, die auch eine neue Form der bewußten Widerspiegelung der Wirklichkeit einschließt. Am Beispiel des Zusammenwirkens von Jäger und Treiber in der Urgesellschaft demonstriert er den hier erreichten höheren Grad der Objektivität der Realitätserfassung. Das Hochscheuchen des Wildes durch den Treiber ist, lediglich »biologisch« betrachtet, nicht nur sinnlos, sondern sogar gegen die Lebensinteressen des Treibers, da er die Beute von sich entfernt. Hier ist mithin die kognitive Möglichkeit zur Trennung des Motivs der Tätigkeit, dem Nahrungserwerb, von dem unmittelbaren Ziel, dem Aufscheuchen des Wildes, vorausgesetzt. »Der Treiber kann offenbar nur handeln, weil er die Verbindung zwischen dem erwarteten Ergebnis seiner persönlichen Handlung und dem Resultat der gesamten Jagd - dem Überfallen der
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Tiere aus dem Hinterhalt, dem Töten und dem Verbrauch des Produkts - widerzuspiegeln vermag« (S. 206). »Damit ist der wichtigste und entscheidendste Schritt getan. Im menschlichen Bewußtsein trennt sich die Tätigkeit von den Gegenständen, die vom Menschen jetzt nur innerhalb bestimmter Verhältnisse erfaßt werden. Die Natur, das heißt die Gegenstände seiner Umwelt, offenbart sich in ihrem konstanten Verhältnis zu den Bedürfnissen und der Tätigkeit des Kollektivs. Der Mensch nimmt z. B. die Nahrung als Ziel bestimmter Tätigkeiten - er muß sie suchen, jagen oder zubereiten - und zugleich als Ziel der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse wahr, und zwar unabhängig davon, ob er gerade Hunger hat oder ob er im Augenblick gerade eine der genannten Tätigkeiten vollzieht. Sie wird aus anderen Gegenständen nicht nur praktisch, das heißt während der Tätigkeit, und nicht nur abhängig von einem gerade vorhandenen Bedürfnis, sondern auch >theoretisch< hervorgehoben; sie kann damit im Bewußtsein festgehalten und zur >Idee< werden« (S. 207). LEONTJEW weist hier (trotz mancher an dieser Stelle nicht zu erörternden Problematik im einzelnen) ein wesentliches Spezifikum des »gesellschaftlichen« Bewußtseins des Menschen auf, die praktische Einsicht in die objektive Tatsache, daß mit der gesellschaftlichen Arbeit die individuelle Lebenserhaltung in der Lebenserhaltung der Gesellschaft, zu deren Bestand der einzelne seinen Beitrag leistet, aufgehoben ist. Die historisch-gesellschaftliche Entwicklung des Menschen unterscheidet sich - wie LEONTJEW ausführlich nachweist - von der naturgeschichtlichen Entwicklung wesentlich dadurch, daß die evolutionäre, selektionsbedingte, über den Erbgang vermittelte Entwicklung der Organismen jetzt überformt und aufgehoben ist in einer quasi aus dem Menschen nach außen verlegten, dezentralen Entwicklung der Gesellschaft: der Kumulation gesellschafttlicher Erfahrung. Die gesellschaftlich-historische Entwicklung ist vermittelt durch auf menschlicher Arbeit beruhende Vergegenständlichungen, womit das spezifische Wesen des Menschen als »Gattung« außerhalb seiner selbst, in der gegenständlichen gesellschaftlichen Produktion liegt, der Mensch in der vergegenständlichenden Entäußerung seiner Wesenskräfte gleichzeitig sich selbst als Gattungswesen produziert. - Wenn man die Umwandlung der Arbeit aus einer Tätigkeitsform in eine gegenständliche Form unter Absehung von anderen Momenten unter dem Aspekt der Beziehung zwischen dem Inhalt der Arbeit und den arbeitenden Individuen untersucht, offenbart sich diese »Umwandlung als Verkörperung und Vergegenständlichung geistiger Kräfte und Fähigkeiten in den Arbeitsprodukten. Die Geschichte der geistigen und materiellen Kultur erschließt sich dann als ein Prozeß, der in äußerer, materialisierter Form die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Fähigkeiten ausdrückt.
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Unter diesem Gesichtspunkt kann man jeden Schritt, der beispielsweise in der Vervollkommnung und Präzisierung der Werkzeuge getan wurde, als Atisdruck eines bestimmten Entwicklungsniveaus psychomotorischer Funktionen der Menschenhand betrachten; die komplizierte Phonetik der Sprachen erscheint dann als Ausdruck für höher entwickelte Artikulation und ein besseres phonematisches Gehör; die Vervollkommnung des künstlerischen Schaffens zeugt von der ästhetischen Entwicklung der Menschheit. Selbst in den einfachsten produzierten Dingen haben wir vergegenständlichte menschliche Fähigkeiten, haben wir die >Wesenskräfte des Menschern vor uns« (S. 280). Da die historische Entwicklung des Menschen in ihrer »menschlichen« Spezifik sich in der über die (stofflichen, ikonischen und sprachlich-symbolischen) Vergegenständlichungen vermittelten Kumulation gesellschaftlicher Erfahrung vollzieht, und da die Tätigkeiten, mithin auch die Bewußtseinsweisen des Menschen (wie jede Lebensaktivität) durch ihren Gegenstand geprägt sind, muß sich das menschliche Bewußtsein mit den verschiedenen Stufen der Produktion und dabei eingegangenen Produktionsverhältnisse selber ändern. LEONTJEW trägt dieser Konsequenz Rechnung, indem er das menschliche Bewußtsein selbst als historischen Tatbestand, demnach als strukturiert durch die historische Bestimmtheit der Gesellschaftsstruktur einer geschichtlichen Entwicklungsepoche erfaßt und diese Konzeption an der Charakterisierung des Bewußtseins des Menschen in der Urgesellschaft, unter den Bedingungen der bürgerlichen Klassengesellschaft und denen der sozialistischen Gesellschaft veranschaulicht (S. 224 ff.). Methodisches Grundprinzip ist dabei die Herausarbeitung des Zusammenhangs zwischen der Struktur der Produktionsverhältnisse, der Art der menschlichen Tätigkeit und der Bewußtseinsstruktur. Ein besonders wichtiger von vielen Aspekten dieser Analyse ist die Veränderung des Verhältnisses zwischen objektiver Bedeutung und persönlichem Sinn. Während in der Urgesellschaft auf elementarer Ebene eine Integration zwischen gesellschaftlicher Bedeutung und persönlichem Sinn besteht, treten im Bewußtsein des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft - wie LEONTJEW im Anschluß an MARX aufweist durch die strukturbedingte Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln die objektive Bedeutung und der subjektive Sinn auseinander und stehen im Widerspruch zueinander. »Die Tätigkeit des Treibers in der Urgesellschaft wird subjektiv durch seinen in Aussicht stehenden Anteil an der gemeinsamen Beute angeregt, die seine Bedürfnisse befriedigt. Diese Beute ist zugleich das objektive Ergebnis der gemeinsamen Tätigkeit im Kollektiv. Der Lohnarbeiter in der kapitalistischen Produktion ist ebenfalls subjektiv bestrebt, durch das Ergebnis seiner Tätigkeit seine Bedürfnisse nach Nahrung, Klei-
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dung oder Wohnung zu befriedigen. Das objektive Ergebnis seiner Arbeit ist jedoch ein ganz anderes: >Was er für sich selbst produziert, ist nicht die Seide, die er webt, nicht das Gold, das er aus dem Bergschacht zieht,, nicht der Palast, den er baut. Was er für sich selbst produziert, ist der Arbeitslohn, und Seide, Gold, Palast lösen sich für ihn auf in ein bestimmtes Quantum von Lebensmitteln, vielleicht in eine Baumwolljacke, in Kupfermünzen und in eine Kellerwohnung^.« »Seine Arbeitstätigkeit ändert sich für ihn in etwas anderes, als sie es in Wirklichkeit ist. Ihr Sinn, den sie für den Arbeiter hat, deckt sich jetzt nicht mehr mit ihrer objektiven Bedeutung« (S. 243). »Die zwölfstündige Arbeit . . . hat für ihn keinen Sinn als Weben, Spinnen, Bohren usw., sondern als Verdienen, das ihn an den Tisch, auf die Wirtshausbank, ins Bett bringt.« 2 - LEONTJEW geht der Desintegration zwischen objektiver Bedeutung und persönlichem Sinn als historisch bedingten wesentlichem Strukturmerkmal des Bewußtseins des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft in verallgemeinernder Weise nach und kommt dabei zu Annahmen über den Ursprung der inneren Widersprüche und Konflikte der menschlichen Persönlichkeit unter bürgerlichen Lebensverhältnissen aus den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen, womit die Voraussetzungen auch für eine Neufassung klinisch-psychologischer Grundvorstellungen angedeutet sind. LEONTJEW führt dann aus, wie sich bereits in der bürgerlichen Gesellschaft beim Lohnarbeiter die Auflösung der persönlichen Widersprüche durch politisches Handeln unter sozialistischer Perspektive, geleitet von dem »Verlangen nach wahrem Verstehen und Wissen« (S. 253), anbahnt, und wie in der sozialistischen Gesellschaft eine Reintegration des Bewußtseins in Richtung auf das Wiederzusammenfallen von gesellschaftlicher Bedeutung und persönlichem Sinn auf einer höheren Stufe eingeleitet ist. - LEONTJEWS Darlegungen über den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Stufen gegenständlicher gesellschaftlicher Strukturen und Grundformen von Bewußtseinsstrukturen sind - wie vorläufig und weiterer Präzisierung und Überprüfung bedürftig sie im einzelnen audi sein mögen - wegweisend für die Erforschung der Subjektivität des konkreten, in seiner Gesellschaftlichkeit durch historisch bestimmte objektive Gesellschaftsstrukturen charakterisierten Menschen. Wenn die historische Entwicklung des Menschen in ihrer »menschlichen« Spezifik nicht mehr in evolutionsbedingten Veränderungen der Organismen, sondern in der über stoffliche und sprachlich-symbolische Vergegenständlichungen vermittelten Kumulation gesellschaftlicher Erfahrung besteht, so liegt die Teilhabe des jeweils einzelnen Menschen an dieser Entwicklung nicht lediglich in seinen biologischen Eigentüm1 2
MARX ENGELS Werke (Dietz), Bd. 6, S. 400. MARX ENGELS Werke (Dietz), Bd. 6, S. 400 f.
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lidikeiten, sondern in der individualgeschichtlidoen Aneignung gesellschaftlicher Erfahrung, wobei Vergegenständlichung und Aneignung zwei Seiten des gleiten gesellschaftlich-historischen Prozesses sind. Das Konzept der Aneignung, das LEONTJEW von MARX übernimmt und psychologisch spezifiziert, steht sachlich im Mittelpunkt der LEONTJEWschen Lehren und bezieht sich auf einen zentralen Gegenstandsbereich jeder i. e. S. psychologischen Forschung auf marxistischer Grundlage. Die Bedeutung gesellschaftlicher Momente für ein angemessenes Begreifen der individualgeschichtlichen Gewordenheit des Menschen wird von der bürgerlichen Psychologie in verschiedenen Versionen unzulänglich bestimmt. Während die »klassische« Entwicklungspsychologie die »Umwelt«-Faktoren als Inbegriff von Auslösungsbedingungen einer biologisch vorgeprägten, entelechialen Entfaltung der Persönlichkeit verstand, werden in »lerntheoretisjchen« Entwicklungskonzeptionen etwa das »Reinforcement-Schicksal«,4tlie Summierung der im Laufe des Lebens durch die »Umwelt« gesetzten »positiven« und »negativen Verstärkungen« als entscheidendes Bewegungsmoment der Entwicklung angesehen. In modernen Konzeptionen der »Sozialisationsforschung«, die auf psydioanalytischen Vorstellungen fußt, wird die »Gesellschaft« als vorgegebene Struktur von »Normen«, »Rollen« o. ä. aufgefaßt, und die individuelle »Sozialisation« als durch Angst, Lohn und Strafe etc. gesteuerter Prozeß der Norm- und Rollenübernahme gekennzeichnet, wobei dieser Konzeption nach mittels Identifikation und Introjektion (unter gewissen Umständen) eine »Verinnerlichung« der Normen bzw. Rollenerwartungen erfolgt, so daß norm- bzw. rollengerechtes Verhalten als von äußeren Sanktionen unabhängig und selbstregulativ erscheint. - In all solchen Ansätzen wird das Problem der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft verfehlt 1 . Das gilt für die »Sozialisationsforschung« selbst da, wo sie sich gesellschaftskritisch versteht, Sie kann die abstrakte Gegenüberstellung zwischen der menschlichen »Natur« mit ihren »Triebansprüchen« einerseits und der fordernden und einschränkenden »Gesellschaft« andererseits von ihrer Grunddenkweise her nicht überwinden und kommt in »kritischer« Wendung höchstens zu einer Parteinahme für die »Triebansprüche« und gegen die »Gesellschaft«, was wissenschaftlich unhaltbar ist und politisch zu illusionären Vorstellungen der Möglichkeit individueller Emanzipation, in radikalisierter Form zu ultralinken Konzeptionen der »Befreiung« des Menschen von der Gesellschaft überhaupt führt. - Der Grundirrtum der genannten und anderer bürgerlicher Entwicklungsansätze ist die Ausklammerung der gegenständlichen gesellschaftlichen Arbeit, die Ver1
Vgl. HAUG, F.: Kritik der Rollentheorie; Frankfurt/M. (Fischer Taschenbuch) 1973.
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fehlung eines nur in historischer Analyse zu gewinnenden Begriffs vom Menschen als eines Wesens, das seiner Natur nach gesellschaftlich produziert, damit der Mangel an Einsicht, daß die Produktion und Reproduktion der Gesellschaft in gegenständlicher Arbeit und die individuelle Vergesellschaftung des Menschen in tätiger Aneignung vergegenständlichter gesellschaftlicher Erfahrung zwei Aspekte des gleichen Prozesses sind. Deshalb kann sich die Frage gar nicht erst stellen, warum die dem materiellen gesellschaftlichen Lebensprozeß notwendig zugrunde liegende Einheit zwischen menschlicher Gesellschaft und gesellschaftlichem Menschen sich unter bürgerlichen Produktionsverhältnissen auf so widersprüchliche Weise in der gesellschaftlichen Bewegung durchsetzt, daß auf der Oberfläche dieser Bewegung der Schein des äußerlichen Gegenüberstehens von ungesellschaftlich-»natürlichen« menschlichen Triebansprüchen einerseits und einer »triebunterdrückenden« Gesellschaft andererseits entsteht und von der bürgerlichen Sozialwissenschaft als Wesen der Beziehung Mensch-Gesellschaft überhaupt »wissenschaftlich« stilisiert werden kann. LEONTJEWS Konzeption der individuellen Aneignung bezieht sich nicht auf die menschliche Entwicklung oder Sozialisation als Spezialproblem von Teildisziplinen, wie etwa der »Entwicklungspsychologie« oder »Sozialisationsforschung«. Das Aneignungskonzept ist konstituierendes Merkmal des »historischen Herangehens an die menschliche Psyche«y und deswegen ein Grundbegriff marxistisch fundierter Psychologie überhaupt. Im Aneignungs-Begriff ist die isoliert-unhistorische Betrachtung der individuellen menschlichen Entwicklung überwunden; es wird erkannt, daß die menschliche Persönlichkeit allein aus ihrer individualgeschichtlichen Gewordenheit angemessen wissenschaftlich erfaßt werden kann, weil nur so die historische Dimension des Menschen in der Psychologie sich eröffnet: Die individualgeschichtliche Entwicklung ist der Prozeß, in welchem die naturgeschichtliche Gewordenheit und die gesellschaftlich-historische Gewordenheit auf eine je bestimmte Weise im individuellen Menschen sich konkret manifestieren. Die naturgeschichtliche Gewordenheit ist resultativer Ausdruck der biologischen Möglichkeit zur individualgesdiichtlichen Vergesellschaftung des Menschen und die historische Gewordenheit der Gesellschaft auf einer jeweils bestimmten Stufe ist, nach Maßgabe der Art und des Grades, in welchem sie individualgeschichtlich angeeignet wurde, resultativer Ausdruck der je besonderen Weise, in welcher diese biologischen Möglichkeiten im individuellen Vergesellschaftungsprozeß sidi in der Persönlichkeit realisiert haben. Das Verhältnis zwischen biologischen Voraussetzungen und gesellschaftlicher Geprägtheit der Persönlichkeit als Resultat ihrer Individualgeschichte kann nur durch Rückgriff auf den Übergang von der
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naturgeschichtlichen zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung des Menschen richtig bestimmt werden, weil allein im Blick auf den geschichtlichen Verlauf der Menschwerdung die biologischen Voraussetzungen der gesellschaftlichen Entwicklung von dieser selbst unterscheidbar sind. Es ist hier zu erforschen, welcher Art die in der Evolution entstandenen biologischen Beschaffenheiten des Menschen sind, die ihn seiner Natur nach zur Gesellschaftlichkeit befähigen. Die individualgeschichtliche Realisierung biologischer Möglichkeiten im Prozeß der Aneignung gesellschaftlicher Erfahrung ist selbstverständlich keine einfache Wiederholung des Übergangs von der Naturgeschichte zur Geschichte des Menschen. Dennoch sind nur in anthropogenetischer Erforschung des Tier-Mensch-Übergangsfeldes die wissenschaftlichen Kategorien zu gewinnen, mit denen erfaßt werden kann, wie man in der menschlichen Ontogenese biologische Voraussetzungen zu bestimmen und näher zu untersuchen hat, die als biologische Beschaffenheiten den Prozeß der individuellen Vergesellschaftung ermöglichen. Die verschiedenen bürgerlichen (psychoanalytischen, »lerntheoretischen« etc.) Triebbzw. Motivationskonzeptionen, aus denen weder verständlich wird, wie der Mensch je biologisch dazu in der Lage war, den Übergang zur Produktion seiner Lebensmittel in gesellschaftlicher Arbeit zu vollziehen, noch, wie jedes einzelne menschliche Individuum biologisch dazu in der Lage ist, an dem auf gegenständlicher Arbeit beruhenden gesellschaftlich-historischen Prozeß teilzuhaben, werden dann bald nur noch von musealem Interesse sein. Der Aneignungsvollzug ist sowohl gesellschaftlich wie individuell lebensnotwendig, weil nur über die Aneignung die Menschen zu wirklichen Trägern des Prozesses der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens werden, und weil nur über die Aneignung der einzelne Mensch durch seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben auch sein persönliches Leben erhalten und entfalten kann. Die individualgeschichtliche Entwicklung als Aneignung gesellschaftlicher Erfahrung läuft also nicht einfach »von selbst« ab, sondern sie ist zugleich eine Aufgabe, die jedem einzelnen durch die Gesellschaft gestellt ist und eine Aufgabe, die jeder einzelne, mit wachsendem Alter immer bewußter, sich selbst stellt. In diesem Sinne führt LEONTJEW aus, daß die Errungenschaften der historischen Entwicklung dem Menschen nicht lediglich gegeben, sondern als in seiner ontogenetischen Entwicklung zu realisierende »aufgegeben« sind (S. 281). Die aneignungsbedingte individualgeschichtliche Entwicklung ist in ihrem Verlauf nur von ihrem gesellschaftlich notwendigen Resultat, dem individuellen Beitrag zur Produktion und Reproduktion gesellschaftlichen Lebens, her zu begreifen. - Allgemein bedeutet dies, wie aus LEONTJEWS Darlegungen hervorgeht, daß die gesellschaftliche Arbeit als
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über gegenständliche Tätigkeit vermittelte Kooperation das Paradigma für die Richtungsbestimmung des Aneignungsvollzuges sein muß. - Die Aneignung gesellschaftlicher Erfahrung vollzieht sich von Anfang an und notwendig durch ein Zusammenwirken zwischen dem tätigen Kind und dem unterstützenden Erwachsenen. Nur durch die Hilfe des Erwachsenen kann das Kind den Übergang von der bloß natürlichen Aktivität zur gesellschaftlichen Tätigkeit vollziehen. »Der Gegenstand, den« das Kind »in die Hand nimmt, wird zunächst ohne weitere Umstände in das System der natürlichen Bewegungen einbezogen. Das Kind führt zum Beispiel den Löffel wie jeden anderen natürlichen Gegenstand, der keinen Werkzeugcharakter hat, an den Mund und achtet nicht darauf, daß es ihn waagerecht halten muß. Durch das unmittelbare Eingreifen des Erwachsenen werden die Handbewegungen des Kindes beim Gebrauch des Löffels allmählich grundlegend umgestaltet und ordnen sich der objektiven Logik des Umgangs mit diesem Gerät unter. Es ändert sich die allgemeine Art der Afferenz dieser Bewegungen; sie werden auf ein höheres, gegenständliches Niveau gehoben« (S. 292, Hervorh. Ref.). So müssen selbst »die einfachsten Werkzeuge und Gegenstände des täglichen Bedarfs, denen das Kind begegnet, . . . von ihm in ihrer spezifischen Qualität erschlossen werden. Mit anderen Worten: Das Kind muß an diesen Dingen eine praktische oder kognitive Tätigkeit vollziehen, die der in ihnen verkörperten menschlichen Tätigkeit adäquat (obwohl natürlich nicht mit ihr identisch) ist« (S. 281). Da die »objektive Logik« selbst der einfachsten Gebrauchsgegenstände vergegenständlichtes Ergebnis der Erfahrungskumulation der Geschichte ist, ist das erreichte »gegenständliche Niveau« der Tätigkeit zugleich der erste Schritt der praktischen Aneignung gesellschaftlicher Erfahrung. Die Tätigkeit des Kindes wie die helfende Tätigkeit des Erwachsenen unterliegen dabei gleichermaßen der »Logik der Sache«, sind durch das gesellschaftliche Ding (z. B. den Löffel) miteinander verbunden und koordiniert. Die Asymmetrie des Helfens nähert sich allmählich immer mehr der Symmetrie der über die Sache vermittelten Kooperation an. Dabei wird die Vermittlung über den Gebrauchsgegenstand bald durch die Vermittlung über die Sprache ergänzt, womit eine neue Stufe der Aneignung kumulierter gesellschaftlicher Erfahrung erreicht ist, etc. Da, wie ausgeführt, die gesellschaftlich-historische Entwicklung, im Gegensatz zur bloß naturgeschichtlichen Entwicklung, sich nicht primär durch Veränderung der Organismen, sondern durch vergegenständlicht kumulierte Erfahrung in der vom Menschen geschaffenen »äußeren« Welt, also quasi dezentral vollzieht, muß auch der Prozeß der Aneignung gesellschaftlicher Erfahrung in seinem je individualgeschichtlichen Verlauf quasi von »außen« nach »innen«, von der äußer-
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lieh wahrnehmbaren, durch den Gegenstand geprägten, Aneignungstätigkeit und äußerlich wahrnehmbaren Kooperation und Kommunikation zu nur »innerlich« gegebenen psychischen Tätigkeiten sich entwickeln. Bei der Erforschung der (erwachsenen) Persönlichkeit aus ihrer individualgeschichtlichen Gewordenheit müssen also die »Fähigkeiten«, »Eigenschaften«, die Selbst- und Weltsicht der Persönlichkeit, die oberflächlich als dem isolierten Individuum primär zugehörig erscheinen, die den Stempel ihrer Herkunft nicht an sich tragen, dadurch wissenschaftlich verständlich gemacht werden, daß man ihren Zusam* menhang mit der ursprünglichen äußeren Tätigkeit und die Prozesse ihrer Verinnerlichung und Verwandlung aufdeckt. Nur auf diese Weise kann der gesellschaftliche Charakter der Persönlichkeit auseinandergefaltet und untersuchbar werden. Solche Verinnerlichungs- und Verwandlungsprozesse werden - wie gesagt - von LEONTJEW (und der kulturhistorischen Schule) Interiorisierung genannt (wobei dieser Ansatz vom »sozialisationstheoretischen« Konzept der »Internalisierung« von »Normen« und »Rollenerwartungen« scharf zu unterscheiden ist). Die Interiorisierungsprozesse beim Aufbau geistiger Operationen sind besonders von LEONTJEWS Mitarbeiter GALPERIN sorgfältig empirisch untersucht worden1. Besondere Hervorhebung verdient, daß LEONTJEW bei der Untersuchung des Aneignungsprozesses als individueller Vergesellschaftung des Menschen auch die unspezifisch-physiologischen Aspekte der Aneignung sorgfältig berücksichtigt. Er kommt dabei zum Ausbau des schon bei WYGOTSKI eingeführten Konzeptes der »funktionellen Organe«, die sich im Laufe des Aneignungsvollzuges im Zentralnervensystem herausbilden, wobei er der Entstehung und Funktionsweise solcher sekundärer Organe in umfangreichen experimentellen Untersuchungen nachgegangen ist (vgl. S. 300 ff.). Entscheidend ist, daß mit diesem Ansatz auch im Hinblick auf die individualgeschichtliche Entwicklung sowohl die reduktive wie die dualistische Verfehlung der Beziehung zwischen Psychischem und Physiologischem überwunden ist, indem die gesellschaftlich-historische Prägung physiologischer Prozesse aufgewiesen wird. »Die experimentelle Untersuchung der Genese und der Struktur psychischer Fähigkeiten und Funktionen, die sich beim Menschen bilden, während er sich die Ergebnisse der gesellschaftlich-historischen Entwicklung der Menschheit aneignet, im Zusammenhang mit der Erforschung von Genese und Struktur der entsprechenden Hirnmechanismen bedeutet, auch auf den Grenzgebieten psychologischer Untersuchungen historisch vorzugehen« (S. 310, Hervorh. Ref.). Damit ist aber nur die 1 Vgl. etwa GALPERIN, P. J.: Die Entwicklung der Untersuchungen über die Bildung geistiger Operationen; in: Ergebnisse der sowjetischen Psychologie; Herausg. H. Hiebsch, Berlin (Akademie-Verlag) 1967.
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eine Seite des Problems angesprochen. Gleichzeitig muß man die nur dem Menschen eigene Fähigkeit zur Herausbildung funktioneller Organe, die physiologische Möglichkeitsbedingung der Aneignung gesellschaftlicher Erfahrung sind, als ein wesentliches Moment der früher diskutierten naturgeschichtlich gewordenen biologischen Voraussetzungen für die gesellschaftlich-historische Entwicklung des Menschen begreifen und genauer untersuchen. Der marxistisch fundierte psychologische Grundansatz der »kulturhistorischen Schule«, wie er von LEONTJEW in besonders konsequenter und wissenschaftlich folgenreicher Weise vorangetrieben wurde, muß zu einer neuen und fruchtbareren Behandlung aller Teilprobleme der überkommenen Psychologie führen. Über den Charakter einer solchen Neufassung psychologischer Theorien und Forschungsverfahren finden sich - über die in den grundsätzlichen Teilen des Buches vorgelegten Annahmen und Resultate hinaus - Hinweise im dritten Teil des Buches, was exemplarisch durch Heraushebung der prinzipiellen Besonderheit von LEONTJEWS Theorie der kindlichen Entwicklung verdeutlicht werden soll. Die bürgerliche Entwicklungspsychologie hat von ihrer klassischen Periode an den individuellen Entwicklungsgang in verschiedenen Versionen als Phasen- oder Stufenfolge erfassen wollen, wobei sich nicht nur empirische Unstimmigkeiten hinsichtlich der Charakterisierung des Inhalts und der lebenszeitlichen Lokalisation der Phasen und Phasenübergänge ergaben, sondern, was schwerer wiegt, eine wissenschaftlich haltbare theoretische Fundierung der Phasen-Konzeptionen kaum gelang (wie von BERGIUS überzeugend und umsichtig dargelegt)1. Da die Begründung der Phasenfolgen als biologisch vorgeprägter Ausfaltungsprozeß immer weniger akzeptabel erschien, hat man sich entweder auf ein bloß pragmatisch deskriptives Verfahren der zeitlichen Ordnung empirischen Materials unter dem Aspekt von Entwicklungsphasen ohne theoretischen Anspruch zurückgezogen (GESELL ist ein früher Exponent dieser Vorgehensweise), oder man hat den Phasenaufbau der Entwicklung »sozialpsychologisch« erklären wollen, wobei man aber, gemäß den früher angedeuteten Beschränktheiten bürgerlicher Sozialwissenschaft, über die Annahme von gesellschaftlichen »Normen« oder »Rollen«, durch die das jeweils »altersgemäße« Verhalten festgelegt ist, nicht hinauskam. - Das Wesen menschlicher Entwicklungsphasen kann ohne eine umfassendere historische Sichtweise auf die Individualgeschichte des Menschen nicht angemessen begriffen werden. BERGIUS, R . : Entwicklung als Stufenfolge; in: Handbuch der Psychologie 3. Bd., »Entwicklungspsychologie«, Herausg. H. Thomae, Göttingen (Hogrefe) 1959. 1
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LEONTJEW geht aus von dem (schon in der naturgeschichtlichen Analyse, vgl. S. XXX, verfolgten) Ansatz der Bedingtheit der Tätigkeit durch ihren Gegenstand, demnach der Unterscheidbarkeit verschiedener Tätigkeitsarten gemäß den unterschiedlichen Gegenständen, auf die sie gerichtet und von denen sie geprägt sind. Die Stufenfolge der individuellen Entwicklung wird aufgefaßt als Folge von »sachlogisch« aufeinander aufbauenden Stufen verschiedener »dominanter Tätigkeiten« in Abhängigkeit von bestimmten Gegenstandsarten und den über die Gegenstände vermittelten Kooperations- und Kommunikationsweisen, wobei die kindlichen Tätigkeitsmöglichkeiten schrittweise den Anforderungen jeweils bestimmter Beiträge zur Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens angenähert werden. Die Stufen sind demgemäß in ihrem jeweiligen Inhalt und ihrer Aufeinanderfolge abhängig von der historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise. »Die Dauer und der Inhalt der Entwicklungsstufen, die den Menschen auf die Teilnahme an der Arbeit und am gesellschaftlichen Leben vorbereiten, sind im Laufe der Geschichte keineswegs immer gleich gewesen. Ihr zeitlicher Umfang ändert sich von Epoche zu Epoche; er nimmt in dem Maße zu, in dem die Forderungen der Gesellschaft an diese Entwicklungsperiode wuchsen. Das bedeutet: Die zeitliche Reihenfolge der Entwicklungsstufen liegt zwar fest, ihre Altersgrenzen hängen jedoch von ihrem Inhalt und dieser wiederum von den konkret-historischen Verhältnissen ab, unter denen das Kind lebt. Demnach bestimmt nicht das Alter den Inhalt, sondern der Inhalt die Altersgrenzen eines Entwicklungsstadiums, und beide verändern sich zusammen mit den gesellschaftlich-historischen Bedingungen« (S. 403, Hervorh. Ref.). Es ist einsichtig, daß bei der Erforschung der so verstandenen Stufenfolge der Entwicklung die biologischen Voraussetzungen und die jeweils besonderen Aneignungsformen einer Entwicklungsphase wissenschaftlich nur dann angemessen erfaßt werden können, wenn man unter politischökonomischem Aspekt die historisch bestimmte Produktionsweise, in der die objektiven gesellschaftlichen Anforderungen sich ausdrücken, dabei auch unter bildungsökonomischem Aspekt die informellen und institutionalisierten Weisen gesellschaftlich organisierter, gestaffelter Vorbereitung auf die unterschiedlichen Arten von Beiträgen zur gesellschaftlichen Lebenserhaltung und -entfaltung, zentriert auf entwicklungspsychologische Fragestellungen mituntersucht. Gemäß der früher erwähnten Auffassung, daß die Aneignung gesellschaftlicher Erfahrung nicht ein von allein ablaufender oder lediglich durch von außen erhobene Forderungen vorangetriebener Prozeß, sondern - je nach den gesellschaftlichen Umständen in geringerem oder höherem Grade - ein vom Individuum bewußt als Aufgabe übernommener Vollzug der menschlichen Selbstentfaltung ist, begreift LEONTJEW
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den Übergang von einer Entwicklungsphase zur nächst höheren als mindestens partiell - vom Kind bewußt und intendiert vollzogen, wenn nicht gar gegen äußeren Widerstand erzwungen. Wenn das Leben des Kindes eine Zeitlang von der für eine Phase charakteristischen dominanten Tätigkeitsart bestimmt war, so hat sich die Persönlichkeit des Kindes so weit entwickelt, daß es zu einem immer schärferen Widerspruch zwischen den Möglichkeiten des Kindes und den tatsächlichen Anforderungen der dominanten Tätigkeit der Entwicklungsphase kommt. Dieser Widerspruch führt zu einer »Entwicklungskrise«: Das Kind strebt danach, den zu eng gewordenen Lebensbereich der gesellschaftlich definierten Phase in Richtung auf die erweiterten Tätigkeitsund Entfaltungsformen der nächsten Phase zu überschreiten, damit seine Lebensmöglichkeiten mit der Lebenswirklichkeit wieder in Einklang zu bringen. - Das Verständnis wesentlicher Momente der Bewegung individualgeschichtlicher Entwicklung aus dem erkannten Widerspruch zwischen objektiven Entwicklungsperspektiven und der Begrenztheit der tatsächlichen Lebensmöglichkeiten eröffnet neue Wege zur Erforschung der Bedingungen des persönlichen Entwicklungsfortschritts (und der Behinderungen persönlicher Entwicklung). LEONTJEW kommt auf der Grundlage der angedeuteten entwickjungstheöretischen Konzeption zu differenzierenden, empirisch gestützten Darlegungen, so z. B. zu der Unterscheidung und Bestimmung des Verhältnisses zwischen »Tätigkeiten«, »Handlungen« und »Operationen« zur Erklärung des individualgeschichtlichen Aufbaus von Funktionssystemen in Abhängigkeit von objektiven gesellschaftlichen Anforderungen, oder zur theoretischen Kennzeichnung des kindlichen Spiels als Auflösung des Widerspruchs zwischen dem »Selbermachen-Wollen« auf der einen Seite, und den noch begrenzten Realisierungsmöglichkeiten, auch dem zum Schutz des Kindes vom Erwachsenen ausgesprochenen »Das-darfst-du-nicht« auf der anderen Seite in risikofreier Simulation von Ernstsituationen, damit Herausbildung spielerischer Aktivität als für bestimmte Phasen »dominante Tätigkeit« mit optimaler Vorbereitungsfunktion. Besonders wesentlich ist LEONTJEWS Charakterisierung der kindlichen Motivation als Sinnbestimmung der Handlung vom gesellschaftlichen Gegenstand der Tätigkeit her. Statt näherer Ausführungen sei dieses Motivations-Konzept abschließend mit den Worten von LEONTJEWS Mitarbeiter GALPERIN charakterisiert: Der Sinn einer Tätigkeit wurde dadurch objektiv faßbar gemacht, »daß alle Glieder der sinnvollen Tätigkeit in ihrem gegenständlichen Ausdruck betrachtet wurden. So wurden als Motiv zum Beispiel nicht die Bedürfnisse angesehen, sondern die Gegenstände, auf die jene in der Erfahrung gerichtet waren (und die durch ihre objektiven Eigenschaften und Beziehungen den konkreten Inhalt des Handelns bestimmten); der Sinn der
Konsequenzen für die Weiterentwicklung der PsychologieXLVII Handlung wurde definiert als die Beziehung zwischen dem Motiv der Tätigkeit insgesamt und dem Ziel dieser einzelnen Handlung, und das war die Beziehung zwischen zwei Dingen, die eine bestimmte Stellung in der objektiven Struktur der Tätigkeit einnehmen . . . In diesem System von Anschauungen wurde die äußere Tätigkeit des Kindes als im wesentlichen psychologische Erscheinung mit einer klaren allgemeinen psychologischen Struktur und psychologischen Kennzeichen seiner einzelnen Elemente anerkannt. Nicht geheimnisvolle psychische Prozesse, sondern diese sinnvolle gegenständliche Tätigkeit wurde zum unmittelbaren Gegenstand der Psychologie«1.
4. Konsequenzen aus LEONTJEWs Ansatz für die marxistisch fundierte Weiterentwicklung der Psychologie in der bürgerlichen Gesellschaft Buch ist, wie eingangs gesagt, nicht nur psychologiegeschichtlich als konsequentester Ansatz einer marxistisch fundierten Psychologie in der Sowjetunion relevant: Die Verbreitung und Diskussion der »Probleme der Entwicklung des Psychischen« in der Bundesrepublik ist vielmehr vor allem deswegen zwingend notwendig, weil daraus entscheidende Leitgesichtspunkte für eine Weiterentwicklung der Psychologie in der bürgerlichen Gesellschaft auf marxistischer Grundlage und damit eine Kritik der bürgerlich-psychologischen Forschung von einem fortgeschritteneren wissenschaftlichen Standort aus zu gewinnen sind. - Im vorigen Abschnitt haben wir versucht, die Besonderheit wesentlicher Grundpositionen LEONTJEWS durch ihre Abhebung von den wissenschaftlich beschränkteren Konzeptionen der bürgerlichen Psychologie zum jeweils gleichen Thema zu verdeutlichen (was hier natürlich nur auf globale Weise möglich war). Aus einer solchen kontrastierenden Darstellung sind aber keineswegs schon zulängliche Hinweise darauf, wie die Psychologie in der bürgerlichen Gesellschaft unter marxistischen Prämissen wissenschaftlich weiterzubilden sei, zu gewinnen. Der Grund hierfür liegt darin, daß wohl die von LEONTJEW explizierten und systematisierten, aus der MARXschen Lehre unmittelbar herleitbaren Basisvoraussetzungen marxistisch fundierter psychologischer Forschung auch für die Weiterbildung der Psychologie in der bürgerlichen Gesellschaft maßgeblich sein müssen, daß ebenso auf den Theorien und Ergebnissen im Bereich naturgeschichtlicher Analyse unmittelbar aufgebaut werden kann, daß aber LEONTJEWS theoretische Ansätze und emLEONTJEWS
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GALPERIN, a.a.O., S. 370.
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pirische Befunde, sofern sie durch die konkreten Bedingungen individualgeschichtlicher Vergesellschaftung des Menschen in der sowjetischen Gesellschaft geprägt sind, nicht einfach auf individuelle Vergesellschaftungsprozesse unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen übertragen werden können - dies versteht sich aus der Eigenart der historischen Angehensweise in der Psychologie. (Abgesehen davon sind auch Unterschiede hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktion und damit besonderen Richtung des Erkenntnisinteresses marxistisch fundierter Psychologie in sozialistischen und in kapitalistischen Ländern in Rechnung zu stellen, was hier unberücksichtigt bleiben soll.) Die marxistisch fundierte Weiterentwicklung der bürgerlichen Psychologie kann also auf gesellschaftlich-historischem Spezifitätsniveau nicht lediglich in der Übernahme von Theorien und Befunden marxistisch fundierter Psychologie in den sozialistischen Ländern bestehen. Wenn ein richtiger Ansatz zum wissenschaftlichen Begreifen der Persönlichkeit von konkreten Menschen aus ihrer Gewordenheit unter den Bedingungen bürgerlicher Lebensverhältnisse erreichbar sein soll, so ist ein neuer Einsatz der psychologischen Forschung nötig, wobei auch die in den sozialistischen Ländern erarbeiteten theoretischen Annahmen, die ja von dem zu erforschenden Gegenstand nicht unabhängig sind, neu durchdacht und, wo erforderlich, spezifiziert und modifiziert werden müssen. LEONTJEW hat in seiner Abhandlung über die »historische Entwicklung des Bewußtseins« (S. 214 ff.) die Notwendigkeit der Bezogenheit psychologischer Forschung auf den konkreten Menschen unter historisch bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen mit aller Deutlichkeit herausgehoben: »Es ist ganz gleich, welchen konkret-psychologischen Zug im Psychischen eines Menschen, der unter Bedingungen des Privateigentums [an Produktionsmitteln] lebt, wir herausgreifen, es ist ganz gleich, ob wir die Besonderheiten seines Denkens, seiner Interessen oder seiner Gefühle betrachten. Stets erkennen wir dabei den Stempel dieser [der desintegrierten] Bewußtseinsstruktur. Ignoriert man die Eigenschaften der Bewußtseinsstruktur dagegen und klammert sie aus psychologischen Untersuchungen aus, dann verliert die Psychologie ihre historische Konkretheit und wird zur Wissenschaft vom Psychischen des abstrakten Menschen, des Menschen an sich« (S. 245, Hervorh. Ref.). - Die damit formulierte Einsicht findet jedoch innerhalb des Gesamts der LEONTjEWschen Forschungsarbeit nicht überall mit gleicher Entschiedenheit Berücksichtigung. Besonders bei der Auseinanderlegung und Veranschaulichung des Schlüsselkonzepts der »individuellen Aneignung gesellschaftlicher Erfahrung«, aber auch in den i. e. S. entwicklungspsychologischen Ansätzen und Befunden schlägt sich die Tatsache, daß hier Menschen unter den Produktionsbedingungen der sowjetischen
Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Psychologie XLVII Gesellschaft in einer bestimmten Stufe ihrer historischen Entwicklung zum Thema psychologischer Untersuchung geworden sind, zwar faktisch in vielen Aussagen und Resultaten nieder, ist aber kein explizit herausgearbeiteter Bestandteil der Theorienbildung und Interpretation der Befunde. - Hier sind, wenn der Grundansatz LEONTJEWS und der »kulturhistorischen« Schule der sowjetischen Psychologie für die marxistisch fundierte Weiterentwicklung der Psychologie in der bürgerlichen Gesellschaft voll fruchtbar werden soll, bestimmte Verdeutlichungen und Präzisierungen nötig. Mit dem Verständnis der Persönlichkeit aus ihrer individualgeschichtlichen Gewordenheit durch Aneignung gegenständlich kumulierter gesellschaftlicher Erfahrung ist die organismische Position der bürgerlichen Psychologie auf jeden Fall überwunden und sowohl die Spezifik der Gesellschaftlichkeit des Menschen wie der Zusammenhang zwischen biologischen und gesellschaftlichen Momenten der menschlichen Entwicklung allgemein gesehen richtig bestimmt. Die generelle Herausarbeitung der aneignungsbedingten individuellen Gesellschaftlichkeit des Menschen darf aber nur als Zwischenschritt der historischen Analyse des Psychischen, nicht schon als ihr Ergebnis betrachtet werden. Der Zwischenschritt ist einerseits notwendig, damit die wissenschaftliche Unhaltbarkeit sowohl organismischer Reduktionen wie der äußerlichen Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft nachgewiesen ist und den Erkenntnisfortgang nicht mehr behindern kann. Dieser Schritt ist andererseits als Zwischenschritt nicht hinreichend, weil die Bedingtheit der individualgeschichtlichen Gewordenheit des konkreten Menschen durch Strukturmomente einer jeweils historisch bestimmten Gesellschaftsformation hier noch nicht miterfaßt wird. Die Herausarbeitung der allgemeinsten Züge individueller Gesellschaftlichkeit des Menschen in ihrer Gewordenheit ist Ergebnis einer gedanklichen Abstraktion von den jeweils historisch bestimmten objektiven Lebensbedingungen, unter denen sich die individuelle Vergesellschaftung vollzieht. Wenn man diesen Abstraktionsprozeß nicht explizit als Zwischenschritt der wissenschaftlichen Vorgehensweise begreift, hört eine solche Abstraktion auf, eine »verständige Abstraktion« (im Sinne von MARX) zu sein; man kommt dann zu der falschen Auffassung, mit der Herausarbeitung der allgemeinen Charakteristika des Aneignungsvollzuges in seinem Verhältnis zu naturgeschichtlich gewordenen Entwicklungsvoraussetzungen einerseits und den Vergegenständlichungen als Resultaten gesellschaftlicher Arbeit andererseits bereits den konkreten, wirklichen Menschen aus seiner Gewordenheit begriffen zu haben. Tatsächlich hat man hier zwar die reduktive Konzeption des »organismischen Menschen« überwunden, aber das gedankliche Abstraktionsprodukt »allgemeingesellschaftlicher Mensch« unangemessen reifiziert. Von einem sol-
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chen Grundansatz aus würden bei der psychologischen Erforschung der individualgeschichtlichen Aneignungsprozesse unter den Lebensbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft zwangsläufig alle die gewordenen Eigenarten der Persönlichkeit> die aus der Aneignung von Strukturmomenten der bürgerlichen Klassenwirklichkeit in ihrer historischen Bestimmtheit entstanden sind, weder in theoretischen Annahmen noch empirischen Befunden sich niederschlagen können. Die Psychologie des »allgemeingesellschaftlichen Menschen« wäre demnach lediglich eine weitere Ausprägungsform der bürgerlichen Psychologie (die allerdings gegenüber der Psychologie des »organismischen Menschen« der Erfassung des wirklichen Menschen unter historisch bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen um einen Schritt nähergekommen ist). Wir müssen voraussetzen, daß - wie der historische Prozeß der Kumulation gesellschaftlicher Erfahrung kein widerspruchsfreier Fortschritt ist, sondern in der Geschichte als einer »Geschichte von Klassenkämpfen« die Masse der Menschen auf jeweils andere Weise die Möglichkeit genommen war, in ihrem persönlichen Dasein der Errungenschaften der historischen Entwicklungsstufe zu realisieren - der individualgeschichtliche Aneignungsprozeß in der bürgerlichen Gesellschaft keineswegs als ein widerspruchsfreier Vollzug der bewußten Vorbereitung auf eine prinzipiell allen zugängliche volle Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens und damit volle Entfaltung der dem geschichtlichen Niveau entsprechenden menschlichen Möglichkeiten betrachtet werden kann. Die gegenständliche gesellschaftliche »Erfahrung«, die innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft vom Individuum angeeignet wird, ist gebrochen durch den allen sekundären Schichtungen und Gruppierungen zugrunde liegenden Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital. Die im Aneignungsprozeß gewordene individuelle Persönlichkeitsstruktur spiegelt in ihrer Widersprüchlichkeit, wenn auch auf vielfach vermittelte Weise, die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaftsstruktur. Dies schließt ein, daß die Persönlichkeitsstruktur der Masse der Werktätigen in der kapitalistischen Gesellschaft, in welchen unterschiedlichen Formen auch immer, gekennzeichnet ist durch die Abtrennung der Arbeiterklasse von der bewußten, kooperativen Planung gesellschaftlicher Produktion, die gesellschaftliche Perspektivelosigkeit des individuellen Lebens und damit ein objektiv bedingtes Zurückbleiben hinter dem durch die historische Entwicklung der Menschheit ermöglichten Niveau menschlicher Lebensgestaltung und Daseinserfüllung. Davon ist auszugehen, wenn die individuelle Persönlichkeit unter bürgerlichen Produktionsverhältnissen aus ihrer aneignungsvermittelten Gewordenheit psychologisch begriffen werden soll. Insoweit ist eine marxistisch fundierte Psychologie in der bürgerlichen Gesellschaft notwendig »kritische Psychologie«.
Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Psychologie
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Wenn von einem so verstandenen »kritisch-psychologischen« Grundansatz aus etwa die aneignungsvermittelte individuelle Vergesellschaftung des Menschen als Vorbereitung auf die Tätigkeit in der unmittelbaren Produktion unter kapitalistischen Verhältnissen untersucht werden soll, so ist dabei mit der Herausarbeitung der von der Gesellschaft geforderten und vom Individuum bewußt vollzogenen Entwicklung von »Fähigkeiten« und »Eigenschaften« gemäß den Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Lebenserhaltung nur eine Seite des Prozesses erfaßt. Es muß klar gesehen werden, daß der Aneignungsvollzug hier ein in sich widersprüchlicher Vorgang ist. Die »Vorbereitung« des Menschen auf seine Funktion als Werktätiger in der kapitalistischen Produktion ist nicht nur Entwicklung, sondern auch Behinderung und Vereinseitigung der Entwicklung; die eigene Entwicklung, einerseits bewußter Vollzug, umschließt andererseits im Aneignungsvorgang gleichzeitig das »Lernen« des Verzichts auf die bewußte individuelle Entwicklung über einen bestimmten Stand hinaus. Die individuelle Aneignung von Wissen schließt immer auch eine systematische Aussparung von Wissen oder, zugespitzt gesagt, eine Aneignung von Nichtwissen ein. Die Aneignung menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten umschließt gleichzeitig die Aneignung der Ausgeschlossenheit von bestimmten Möglichkeiten menschlicher Erfahrung; die aneignungsbedingte Erweiterung der Möglichkeiten zur Erkenntnis und zum Begreifen bedeutet gleichzeitig die objektive Aneignung des Verkennens und der Begriffslosigkeit gegenüber der bürgerlichen Klassenwirklichkeit. - Dies letzte Moment weist auf ein besonderes Aneignungsresultat als »Vorbereitung« auf die Funktion im kapitalistischen Produktionsprozeß hin. Eine »funktionsgerechte« Vorbereitung heißt hier nicht nur die objektive Realisierung des Widerspruchs zwischen individuell wirklicher und gesellschaftlich möglicher Entfaltung der Persönlichkeit, sie heißt gleichzeitig die Unterdrückung dieses Widerspruchs, auf jeden Fall aber die Unterdrückung der Einsicht in die wirklichen gesellschaftlichen Ursachen dieses Widerspruchs im Bewußtsein der Werktätigen. Nur wenn durch die Aneignung diese bestimmte Form von Bewußtlosigkeit mit erzeugt worden ist, ist der Arbeiter auch darauf »vorbereitet«, sidi mit seiner Abgeschnittenheit von der kooperativen gesellschaftlichen Planung der Produktion, dem Zurückgeworfensein auf ein sinnentleert-»privates« Leben und damit der Verkümmerung seiner geistigen und emotionalen Kräfte als »naturgegeben« abzufinden und sein Dasein so weit als »erträglich« zu erleben, daß er seine Produktionsaufgabe erfüllen kann. Unter diesen Aspekten ist die Persönlichkeit von Menschen in verschiedener Klassenlage und unter verschiedenen schichtspezifischen Lebensbedingungen in der kapitalistischen Gesellschaft durch Analyse des Prozesses individualgeschichtlicher Gewordenheit wissenschaftlich zu
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Einführung
erforschen. Die Prägung der Persönlichkeitsstruktur durch Strukturmomente der bürgerlichen Gesellschaft muß dabei bereits in der frühkindlichen Entwicklung verfolgt werden: So ist dem über den helfenden Erwachsenen erreichten »gegenständlichen Niveau« der Tätigkeit von allem Anfang an nicht nur im Hinblick auf die Tätigkeitsformung durch Gebrauchswertvergegenständlichung, sondern auch durch die damit in Widerspruch stehende Wertvergegenständlichung, damit durch den Warencharakter der produzierten Wirklichkeit, der auch die Form der menschlichen Beziehungen wesentlich charakterisiert, in empirischer Forschung nachzugehen; etc. - Die genetische Abhängigkeit wie phänomenale Verschiedenheit der Persönlichkeitsstruktur von der Gesellschaftsstruktur (SEVE spricht hier von der Persönlichkeitsstruktur als »Juxtastruktur«, abhängiger Nachbarstruktur, der Gesellschaftsstruktur 1 ) dürfen dabei nicht nur unter den Prinzipien der »Interiorisierung« äußerer gegenständlicher Tätigkeit, wie sie von GALPERIN 2 herausgearbeitet wurden, untersucht werden. Unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen ist die Unkenntlichkeit des wirklichen Ursprungs geistiger Operationen aus der äußeren Tätigkeit, damit die Verselbständigung »innerer« Prozesse gegenüber der in der Tätigkeit angeeigneten gegenständlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht lediglich ein Resultat von Verkürzungen, Verallgemeinerungen, Umformungen in »inneres Sprechen« etc., damit Möglichkeit zu einer umfassenderen gedanklichen Widerspiegelung der Realität; das Erlebnis der Icheingeschlossenheit des eigenen »Inneren«, des spontanen Entstehens von Befindlichkeiten, Gedanken, Fähigkeiten, Eigenschaften aus dem Individuum und seinem individuellen Schicksal, des sekundären Charakters »sozialer« Beziehungen, die der Mensch eingeht, damit die »introjektive« Verkehrung 3 des gesellschaftlichen Ursprungs in einen scheinhaftindividuellen Ursprung menschlicher Lebenstätigkeit, muß vielmehr als ein Moment der aktiven Unterdrückung der vergesellschaftenden Qualität der individualgeschichtlichen Entwicklung, damit Reproduktion des objektiven Scheins des abstrakt-isolierten Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft im je persönlichen Bewußtsein aufgefaßt werden. Es gilt im einzelnen aufzuweisen, wie sich in der Individualgeschichte des Menschen objektive gesellschaftliche Widersprüche in scheinbar lediglich individuelle Konflikte verwandeln, auf welche Weise es in der Aneignung zu einer kognitiven Struktur kommt, die auf der einen Seite ein »Sich-Zurechtfinden« in der bürgerlichen Lebenswirklichkeit er1 2
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SivE, L., a.a.O., etwa S. 162 ff. GALPERIN, P. J., a.a.O.
Zum Konzept der »Introjektion« in der hier benutzten Bedeutung vgl. HOLZKAMP, К »Kritische Psychologie« (Fischer Taschenbuch) Frankfurt/M. 1972, S. 102 ff.
Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Psychologie XL VII laubt, auf der anderen Seite das Begreifen des antagonistisch-transitorisdien Charakters der bürgerlichen Gesellschaft in seinen verschiedenen Facetten ausschließt, etc. (dabei sind psychoanalytische Konzepte wie »Abwehr«, »Verdrängung«, »Realitätsverlust« unter dem Aspekt neu zu durchdenken, daß es hier nicht um die Eliminierung des Widerspruchs von Triebansprüchen und im Oberich repräsentierten gesellschaftlichen Verboten, sondern um die Eliminierung des Widerspruchs zwischen der gesellschaftlich möglichen und der individuell wirklichen Lebensentfaltung, in anderer Wendung: des Widerspruchs zwischen der tatsächlichen persönlichen Lebenspraxis und den objektiven Notwendigkeiten gesellschaftlicher Umgestaltung aus dem individuellen Bewußtsein geht). - Umfassendes Ziel solcher Forschungsaufgaben wäre der Aufweis der individualgeschichtlichen Bedingungen, unter denen der Schein der »Natürlichkeit« und »Selbstverständlichkeit« bürgerlicher Lebensverhältnisse als solcher erkannt, damit die Realitätsabwehr gegenüber der kapitalistischen Klassenwirklichkeit überwunden werden kann, um auf diese Weise Voraussetzungen schaffen zu helfen, unter denen die Einsicht in die Notwendigkeit der Herstellung von objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen, die allen Menschen die bewußte Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens, damit allseitige Entfaltung ihrer Persönlichkeit gemäß dem Niveau der gesellschaftlichen Entwicklung erlauben, auf immer breiterer Basis in politische Praxis umgesetzt wird. Aus diesen - globalen und fragmentarischen - Hinweisen sollte veranschaulicht werden, welche Fruchtbarkeit LEONTJEWS Grundansatz, wenn das »historische Herangehen an die Untersuchung der menschlichen Psyche« konsequent bis zum Begreifen der Persönlichkeit aus ihrer aneignungsbedingten Gewordenheit unter bürgerlichen Lebensverhältnissen konkretisiert wird, für eine marxistisch fundierte psychologische Forschung in der bürgerlichen Gesellschaft haben kann, die mit der Gewinnung eines gegenüber der bürgerlichen Psychologie fortgeschrittenen wissenschaftlichen Standortes gleichzeitig und notwendig ihr kritisches Potential gewinnt. Am Psychologischen Institut der Freien Universität, an dem wir arbeiten, hatte bei wissenschaftlichen Bemühungen, die bloße »Kritik« der bürgerlichen Psychologie zu einer »kritischen Psydiologie« weiterzuentwickeln, damit neue Perspektiven der psychologischen Forschung und Praxis im Interesse der werktätigen Bevölkerung (und damit im gesamtgesellschaftlichen Interesse) zu gewinnen, das hier vorgelegte Werk LEONTJEWS entscheidende Bedeutung. Auf der Basis LEONTjEWscher Grundkonzeptionen setzte sich audi die Einsicht immer stärker durch, daß marxistisch fundierte Psychologie nicht in abstrakten »wissensdiaftstheoretischen« Standpunkt-Debatten mit dem positivistischen Lager, sondern nur in wirklicher Forschungsarbeit ihre wissenschaftliche Überlegenheit und kritische Kraft entfalten kann.
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Einführung
Ein Versuch, in der Aufnahme bestimmter Entwicklungslinien der »kulturhistorischen Schule« neue Forschungsansätze einer Kritischen Psychologie unter den Bedingungen der bürgerlichen -.Gesellschaft zu erarbeiten, liegt in den »Texten zur Kritischen Psychologie« aus dem Psychologischen Institut der FUB1 und anderen Veröffentlichungen vor. Unsere These, daß LEONTJEWS Buch nicht nur wichtige psychologische Einsichten und Resultate enthält, sondern wesentliche Impulse zur Erforschung der Subjektivität des Menschen unter bürgerlichen Lebensbedingungen zu geben vermag, soll durch die bisher veröffentlichten und noch folgenden Arbeiten zur Kritischen Psychologie immer besser überprüfbar werden.
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In der Reihe »Texte zur Kritischen Psychologie« sind bisher folgende Bände erschienen: Holzkamp, K., »Sinnliche Erkenntnis. Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion, der Wahrnehmung, 1973, 3. Aufl. 1976, Athenäum Taschenbuch (Bd. 1); Ulmann, G., »Sprache und Wahrnehmung« (Bd. 2,1975); Schurig, V., »Naturgeschichte des Psychischen«, 2. Bd. (Bd. 3.1 und 3.2, 1975); Holzkamp-Osterkamp, U., »Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung I« (Bd. 4.1, 1975); Schurig, V., »Die Entstehung des Bewußtseins« (Bd. 5, 1976); Seidel, R., »Denken - Psychologische Analyse der Entstehung und Losung von Problemen« (Bd. 6, 1976); Holzkamp-Osterkamp, U., »Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung II. Die Besonderheit menschlicher Bedürfnisse - Problematik und Erkenntniswert der Psychoanalyse« (Bd. 4.2, 1976); Haug, F., »Erziehung und gesellschaftliche Produktion. Kritik des Rollenspiels« (Bd. 7, 1977). Bände 2 bis 7: Frankfurt/M., Campus Verlag. (Stand Frühjahr 1977.)
Vorwort
Die Entwicklung des Psychischen gehört zu den zentralen Problemen der sowjetischen Psychologie. Die Lehre von der Entwicklung des Psychischen bildet die theoretische Grundlage, auf der sich wichtige psychologische und pädagogische Fragen klären lassen. Die Bedeutung dieses Problems ist in der heutigen Zeit, in der die Fragen der psychischen Entwicklung und der Persönlichkeitsbildung sehr aktuell sind, besonders groß. Ein derart vielfältiges und kompliziertes Problem gilt es nach allen Richtungen hin zu verfolgen, von den verschiedensten Seiten zu betrachten und mit allen möglichen Methoden zu untersuchen. Die im vorliegenden Buch veröffentlichten experimentellen und theoretischen Arbeiten sind nur als Versuch anzusehen, einige dieser Fragen zu klären. Wir erheben keinen Anspruch darauf, eine Übersicht oder eine Verallgemeinerung der sowjetischen und ausländischen psychologischen Arbeiten zum Entwicklungsproblem zu geben; wir beziehen uns vor allem auf die zahlreichen Beiträge zur psychischen Entwicklung des Kindes. Die im vorliegenden Band enthaltenen Arbeiten behandeln zwar verschiedene Aspekte des Entwicklungsproblems, unterliegen jedoch einer einheitlichen Absicht, und der Zusammenhang zwischen ihnen ergibt sich aus der Art und Weise, wie an die Untersuchung psychischer Erscheinungen herangegangen wird. Sie sind in drei Teile gruppiert: Der erste Teil beschäftigt sich mit der Genese und dem Wesen der Empfindung - der elementaren Form des Psychischen. Der zweite Teil behandelt theoretische Fragen der biologischen Evolution und die historische Entwicklung des Psychischen. Im dritten Teil schließlich sind Arbeiten zusammengefaßt, die der Theorie der psychischen Entwicklung des Kindes gewidmet sind. Da die von uns ausgewählten Beiträge zu verschiedenen Zeitpunkten verfaßt wurden und manche von ihnen schon vor zehn oder mehr Jahren entstanden, sind in ihnen einige Ansichten enthalten, die ich heute nicht mehr vertrete. Ich habe deshalb an das Ende jedes der drei Teile eine meiner neueren Arbeiten gestellt. Sie berühren den jeweils behandelten Aspekt des Entwicklungsproblems (»Über den Mechanismus der sinnlichen Widerspiegelung« - »Über das historische Herangehen an das Studium der menschlichen Psyche« »Prinzipien der psychischen Entwicklung des Kindes und das Problem der geistigen Unzulänglichkeit«).
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Vorwort
Einige Arbeiten werden hier erstmalig vorgelegt, andere sind unveränderte Nachdrucke; der Abschnitt »Abriß der psychischen Entwicklung« wurde gegenüber einer früheren Fassung wesentlich gekürzt und neu bearbeitet. Die ergänzenden Bemerkungen zum vorliegenden Band stammen v o n A . W . SAPOROSHEZ.
Der Verfasser
Das Problem des Entstehens von Empfindungen
1. Das Problem
1 Das Problem des Entstehens des Psychischen und das Problem seiner Entwicklung hängen eng zusammen. Die Art und Weise, wie die Frage nach dem Entstehen des Psychischen theoretisch beantwortet wird, ist auch kennzeichnend dafür, wie man allgemein an das Problem der psychischen Entwicklung herangeht. Man hat bekanntlich schon eine ganze Anzahl von Versuchen unternommen, das Problem der Entstehung des Psychischen prinzipiell zu lösen. Es sei hier zunächst an die theoretische Auffassung erinnert, die man als »Anthropopsychismus« bezeichnen könnte und die in der Geschichte der Philosophie an den Namen DESCARTES geknüpft ist. Diese Theorie schreibt das Psychische nur dem Menschen zu und klammert damit die Vorgeschichte der menschlichen Psyche vollständig aus. Es wäre falsch anzunehmen, dieser Gesichtspunkt sei inzwischen restlos überwunden. Manche Forscher vertreten auch heute noch die Meinung, das Psychische im eigentlichen Sinne des Wortes sei nur dem Menschen eigen. Den entgegengesetzten Standpunkt stellt der sogenannte »Panpsychismus« dar, der die ganze Welt als beseelt auffaßt. Diese Ansicht wurde von einigen französischen Materialisten, beispielsweise von ROBINET, propagiert. Unter den Psychologen vertrat FECHNER diesen Standpunkt. Zwischen diesen Gegenpolen - auf der einen Seite wird das Psychische nur dem Menschen zugeschrieben, auf der anderen Seite wird behauptet, jeglicher Materie sei Psychisches eigen - liegen zwei weitere, und zwar die am meisten verbreiteten Ansichten. Wir wollen davon zunächst die Auffassung betrachten, die man mit dem Terminus »Biopsychismus« bezeichnen könnte. Sie schreibt das Psychische nicht jeder, sondern nur der belebten Materie zu. Zu den Verfechtern dieser Theorie gehören HOBBES und eine große Anzahl Naturwissenschaftler ( C . BERNARD, HAECKEL U. a.). Unter den Psychologen wurde sie von W U N D T vertreten. Die vierte Auffassung schließlich schreibt das Psychische nicht jeder
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Materie und auch nicht jeder belebten Materie, sondern nur den Organismen zu, die ein Nervensystem haben. Man könnte diese theoretische Konzeption als »Neuropsychismus« bezeichnen. Sie wurde von D A R W I N und SPENCER entwickelt. Unter den Psychologen wird sie vor allem von den Anhängern der S P E N C E R s c h e n Richtung vertreten. Die beiden zuerst genannten Auffassungen - das Psychische sei ausschließlich dem Menschen eigen, und jede Form der Materie sei beseelt sind mit einem konsequent materialistischen wissenschaftlichen Standpunkt unvereinbar. Wir sind der Meinung, daß das Psychische eine Eigenschaft der Materie ist, die nur in einem höheren Stadium ihrer Entwicklung - auf der Stufe der organischen, lebenden Materie - entsteht. Bedeutet das jedoch, jeder lebenden Materie - und sei sie noch so primitiv - müsse Psychisches eigen sein, und der Ubergang von der unbelebten zur belebten Materie sei zugleich ein Ubergang zur beseelten und fühlenden Materie? Nach unserer Meinung widerspricht eine solche Annahme den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die einfache lebende Materie. Das Psychische kann nur Produkt der höher entwickelten lebenden Materie und damit der Höherentwicklung des Lebens selbst sein. Aus diesem Grunde lehnen wir die Behauptung ab, das Psychische bilde sich zusammen mit dem Entstehen der lebenden Materie und sei allen Organismen eigen. Damit kommen wir zur letzten der oben angeführten Theorien. Sie behauptet, das Psychische sei mit der Ausbildung des Nervensystems entstanden. Auch diese Auffassung können wir nicht vorbehaltlos übernehmen. Sie befriedigt uns insofern nicht, als sie willkürlich eine direkte Verbindung zwischen dem Aufkommen des Psychischen und dem Entstehen des Nervensystems herstellt. Organ und Funktion hängen zwar untrennbar zusammen, diese Verbindung ist jedoch - und das wird bei dieser Theorie nicht genügend berücksichtigt - nicht unbeweglich, gleichbleibend und ein für allemal fixiert. Analoge Funktionen können durchaus von verschiedenen Organen vollzogen werden. So wird zum Beispiel die Funktion, die später vom Nervengewebe übernommen wird, ursprünglich durch Prozesse realisiert, die im Protoplasma ohne Beteiligung der Nerven ablaufen. 1 Bei Schwämmen (Stylotella), die noch keinerlei Nervenelemente haben, stellte man richtig arbeitende Schließmuskeln fest, deren Funktion nicht von Nervenapparaten gesteuert wird (M. PARKER)2. Wir können deshalb ohne nähere konkrete Betrachtung nicht ohne weiteres - wie viele moderne Physiologen - der Auffassung zustimmen, nach der das Entstehen des Psychischen unmittelbar und unabänderlich mit dem Entstehen des Ner1 2
E. Du BOIS-REYMOND: Reden. Bd. I und II, Berlin 1912. Nach L. BIANCHI : La mecanique du cerveau. Paris 1921.
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vensystems zusammenhänge, obwohl an einer solchen Verbindung auf den höheren Entwicklungsstufen natürlich nicht zu zweifeln ist. Das Problem des Entstehens des Psychischen kann mithin - selbst in der allgemeinsten Form - auch heute noch nicht als gelöst angesehen werden. Diese Tatsache verleitete viele Naturwissenschaftler verständlicherweise dazu, einen agnostizistischen Standpunkt zu diesem Problem einzunehmen. Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts zählte E. Du B O I S - R E Y M O N D , einer der bekanntesten Naturwissenschaftler seiner Zeit, in einer Rede zu Ehren von LEIBNIZ (1880) »sieben Welträtsel« auf, die für die Wissenschaft unlösbar seien.3 Unter ihnen nannte er auch die Frage nach dem Entstehen der Empfindung. Zwar meinte der Präsident der Berliner Akademie der Wissenschaften, der im Anschluß an den Vortrag von Du B O I S - R E Y M O N D die Unerkennbarkeit mancher Probleme einschätzte, eine Reihe dieser »Rätsel« sei doch lösbar. Drei von ihnen - betonte er - seien der menschlichen Erkenntnis tatsächlich unzugänglich. Dazu zählte er auch das Aufkommen der Empfindungen, das HAECKEL nicht zufällig als »zentrales psychologisches Geheimnis« bezeichnete.4 Einem konsequent materialistischen Wissenschaftler kann selbstverständlich nichts fremder sein als diese agnostizistischen Ansichten, auch wenn sie nur auf ein Teilgebiet der Wissenschaft beschränkt sind.
2 Will man die Genese des Psychischen untersuchen, dann erhebt sich als erstes die Frage nach der ursprünglichen, nach der Ausgangsform des Psychischen, Darüber gibt es zwei entgegengesetzte Ansichten. Nach der ersten Auffassung beginnt die Entwicklung des psychischen Lebens mit dem Aufkommen der sogenannten »hedonischen« Psyche, das heißt mit dem Auftreten eines primitiven Selbstbewußtseins. Es besteht aus einem zunächst noch blassen Erleben der eigenen Zustände durch den Organismus; das Erleben ist positiv, sofern die Ernährungs-, Wachstums- und Fortpflanzungsbedingungen günstig sind, und es ist negativ bei Hunger und teilweiser Zerstörung des Organismus. Diese Zustände, die die Urbilder menschlicher Erlebnisse der Zuneigung, der Lust und des Leides sind, bilden nach der erwähnten Auffassung die Grundlage, auf der sich die verschiedenen Formen des »voraussehenden« Bewußtseins, das die Umwelt zu erkennen vermag, entwickeln. 8 4
E. Du BOIS-REYMOND: Reden. Bd. I und II, Berlin 1912. E. HAECKEL: Die Welträtsel. Leipzig 1926.
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. Probleme der Entwicklung des Psychischen
Diese Ansicht kann theoretisch nur vom Standpunkt der psychovitalistischen Auffassung über das Psychische aus gerechtfertigt werden; es wird eine besondere, im Objekt selbst liegende Kraft angenommen, die zunächst als innerer Antrieb wirkte und sidi erst später mit äußeren Sinnesorganen ausstattete. Die moderne Forschung kann - sofern sie den Boden der Wissenschaft nicht verlassen will - eine solche Ansicht nicht vertreten. Wir halten es für überflüssig, uns mit ihr kritisch auseinanderzusetzen. Theoretische Erwägungen und das vorliegende Tatsachenmaterial zwingen uns, das Leben vor allem als Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt zu betrachten. Nur auf der Grundlage der Auseinandersetzung mit der Außenwelt entwickeln sich die inneren Beziehungen und Zustände des Organismus. Die Sensibilität, die in ihrer biologischen Bedeutung mit der funktionalen Koadaptation der Organe zusammenhängt, kann deshalb nur eine sekundäre Erscheinung sein, die von »protallaktischen« (A. N. SEWERZOW) Veränderungen abhängig ist. Primär ist die Extrasensibilität, die funktionell aus dem Zusammenwirken zwischen Organismus und Umwelt hervorgeht. Wir wollen daher als elementare Form des Psychischen eine Empfindung ansehen, die die äußere, objektive Wirklichkeit widerspiegelt. Analog werden wir das Entstehen des Psychischen in dieser konkreten Form als das Entstehen der »Fähigkeit zu empfinden«, der eigentlichen Sensibilität, betrachten. Welche Kriterien gibt es für die Sensibilität? Wie kann man auf das Vorhandensein einer Empfindung, selbst in ihrer einfachsten Form, schließen? Gewöhnlich dienen subjektive Kennzeichen als praktische Kriterien. Wollen wir wissen, was ein Mensch empfindet, dann brauchen wir keine komplizierten methodischen Überlegungen anzustellen, sondern können viel einfacher vorgehen: Wir fragen ihn und erhalten eine klare Antwort. Wir können die Richtigkeit der Auskunft überprüfen, indem wir unter analogen Bedingungen dieselbe Frage an eine genügend große Anzahl von Menschen richten. Stellen alle oder die meisten von ihnen die gleiche Empfindung bei sich fest, dann gibt es keinen Zweifel daran, daß es sich hier um einen gesetzmäßigen Zusammenhang handelt. Die Sache liegt schon anders, sobald wir über die Empfindungen von Tieren urteilen wollen. Wir können uns nicht an die Selbstbeobachtung des Tieres wenden, und wir erfahren weder bei einfachen Organismen noch bei hochentwickelten Tieren etwas über ihre subjektiven Eindrücke. In solchen Fällen stehen subjektive Kriterien nicht zur Verfügung. Wer die Frage nach den Kennzeichen der Sensibilität (Fähigkeit zu empfinden) als der elementaren Form des Psychischen aufwirft,
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steht demnach vor der Aufgabe, nicht ein subjektives, sondern ein streng objektives Kriterium zu finden. Was kann als objektives Kriterium der Sensibilität dienen? Woraus läßt sich schließen, ob ein Tier diese oder jene Einwirkung empfindet? Betrachten wir zunächst den augenblicklichen Stand dieses Problems. YERKES nennt zwei Arten objektiver Kriterien für die Sensibilität, über die die moderne Tierpsychologie verfügt oder anscheinend verfügt. 5 Es handelt sich einmal um funktionale Kriterien, das heißt um Merkmale des Psychischen, die im Verhalten der Tiere liegen. Jede Bewegung wird als Merkmal beträchtet, aus dessen Vorhandensein oder Fehlen sich auf das Vorhandensein oder Fehlen einer Empfindung schließen läßt. Kommt ein Hund auf einen Pfiff herbeigelaufen, dann läßt sich mit Recht annehmen, er habe den Pfiff gehört, er müsse also fähig sein, bestimmte Laute zu empfinden. Bei einem höher entwickelten Tier wie dem Hund erscheint das Problem auf den ersten Blick ziemlich klar. Wird es jedoch auf Tiere niedrigerer Entwicklungsstufen übertragen und in allgemeiner Form betrachtet, dann braucht die Bewegung durchaus nicht immer vom Vorhandensein einer Empfindung zu zeugen. Jedes Tier kann sich bewegen. Betrachten wir die Bewegung ganz allgemein als Merkmal der Sensibilität, dann müßten wir überall, wo wir Lebenserscheinungen und damit auch der Bewegung begegnen, auf die Existenz von Empfindungen als psychischen Erscheinungen schließen. Diese Annahme steht jedoch im krassen Widerspruch zu der für uns unbestreitbaren These, daß das Psychische, selbst in seiner einfachsten Form, nicht jeder organischen Materie, sondern nur höheren Lebewesen eigen ist. Natürlich kann man an die Bewegungen auch differenzierter herangehen und die Frage stellen: Dürfen wir vielleicht nicht aus jeder Bewegung, sondern nur aus bestimmten Formen der Bewegung auf die Sensibilität schließen? Auch eine derartige Einengung löst das Problem nicht. Es gibt bekanntlich sehr klar empfundene Einwirkungen, die durchaus nicht mit ausgeprägten äußeren Bewegungen verbunden zu sein brauchen. Es sei nur an ein Raubtier erinnert, das bewegungslos verharrt, während es voller Spannung den Tritten seiner Beute lauscht. Die Bewegung kann demnach nicht als Kriterium der Sensibilität betrachtet werden. Man hat ferner versucht, nicht bestimmte Formen, sondern bestimmte Funktionen der Bewegung als Kennzeichen der Sensibilität zu verwenden. Die Vertreter der biologischen Richtung in der Psychologie zum Beispiel sahen die Abwehrbewegungen eines Organismus oder die Verbindung der Bewegungen eines Lebewesens mit seinen vorheri5
Siehe R . M . YERKES: Animal Psychological Criteria. »Journal of Philosophy«, Bd. II, Nr. 6/1905.
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gen Zuständen, mit seiner Erfahrung, als Merkmal der Sensibilität an. Die erste Annahme ist insofern anfeditbar, als man Bewegungen mit Abwehrcharakter nicht anderen Bewegungen gegenüberstellen kann, die der Ausdruck einfacher Reaktivität sind. Jede lebende Materie hat die Eigenschaft, nicht nur auf positive, sondern selbstverständlich auch auf negative Einwirkungen zu antworten. Zieht zum Beispiel eine Amöbe als Antwort auf eine Säure, die sich in dem umgebenden Wasser ausbreitet, ihre Scheinfüßchen ein, dann handelt es sich dabei zweifellos um eine Abwehrbewegung, die jedoch über die Fähigkeit dieses Einzellers, etwas zu empfinden, nicht mehr aussagt als die entgegengesetzte Bewegung, mit der er seine Scheinfüßchen aussendet, um seine Nahrung zu umfassen, oder die Bewegungen, mit denen er der Beute »nachstellt«, wie das JENNINGS SO anschaulich bei Einzellern schildert. Wir sind demnach nicht in der Lage, irgendwelche Funktionen anzugeben, durch die sich die mit Empfindungen verbundenen Bewegungen von denjenigen unterscheiden, die mit keiner Empfindung zusammenhängen. Ähnlich verhält es sich mit der Abhängigkeit der Reaktionen des Organismus von seinem allgemeinen Zustand und von früheren Einwirkungen. Manche Forscher (Du BON U. a.) nehmen folgendes an: Hängt eine Bewegung mit der Erfahrung des Tieres zusammen, das heißt, läßt das Tier in seinen Bewegungen erste Ansätze einer Gedächtnistätigkeit erkennen, dann sind diese Bewegungen mit Empfindungen verbunden. Aber auch diese Hypothese stößt auf eine unüberwindliche Schwierigkeit: Die Fähigkeit, sich und seine Reaktionen unter dem Einfluß einer vorherigen Einwirkung zu verändern, ist überall dort zu beobachten, wo man Lebenserscheinungen überhaupt feststellt. Jeder lebende und lebensfähige Körper verfügt über die Eigenschaft, die wir als mnemische Funktion bezeichnen, und zwar in dem weiten Sinne, in dem HERING und SEMON diesen Begriff gebrauchen. Ja, man spricht über mnemische Funktionen nicht nur bei der lebenden Materie im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern auch bei unbelebten Strukturen - den Kolloiden - , die physikalisch und chemisch dem lebenden Eiweiß ähneln, mit ihm jedoch nicht identisch sind. Nun ist: die mnemische Funktion der lebenden Materie selbstverständlich eine andere Eigenschaft als die »Mneme« der Kolloide; diese Tatsache läßt uns jedoch mit um so größerem Recht behaupten, unter den Bedingungen des Lebens gebe es auch stets eine Abhängigkeit der Reaktionen des Organismus von den Einwirkungen, die er früher erfuhr. Wir können daher auch das letztgenannte Moment nicht als Kriterium der Sensibilität anerkennen. Es gibt eine schwerwiegende Ursache, die es unmöglich macht, aus den motorischen Funktionen der Tiere auf ihre Empfindungen zu
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schließen: Uns fehlen objektive Grundlagen, um unterscheiden zu können zwischen der Reizbarkeit - gewöhnlich definiert als allgemeine Eigenschaft aller lebenden Körper, unter dem Einfluß äußerer Einwirkungen in tätigen Zustand zu geraten - und der Sensibilität, einer Eigenschaft, die zwar eine Form der Reizbarkeit darstellt, aber ihre qualitative Eigenart besitzt. Jeder Versuch, aus Bewegungen auf Empfindungen zu schließen, scheitert an der Ungewißheit, ob wir es im gegebenen Falle mit einem zu Empfindungen fähigen Körper oder mit dem Ausdruck einfacher Reizbarkeit zu tun haben, die jeder lebenden Materie eigen ist. Wir stünden vor den gleichen Schwierigkeiten, falls wir die funktionalen Kriterien, wie sie YERKES nennt, beiseite ließen und zu strukturellen Kriterien übergingen, falls wir also versuchten, nicht aus Funktionen, sondern aus der anatomischen Organisation eines Tieres auf seine Empfindungen zu schließen. Diese morphologischen Kriterien sind noch weniger zuverlässig. Auch dafür gibt es einen Grund: Wie wir bereits erwähnten, bilden die Organe und ihre Funktionen zwar eine Einheit, sie sind jedoch keineswegs unbeweglich und unabänderlich miteinander verbunden. 6 Ähnliche Funktionen können auf verschiedenen Stufen der biologischen Entwicklung von strukturell verschiedenen Organen übernommen werden und umgekehrt. Höhere Tiere vollziehen ihre Bewegungen bekanntlich mit Hilfe des Nerven-Muskel-Systems. Läßt sich daraus jedoch folgern, Bewegung existiere nur dort, wo es ein NervenMuskel-System gibt? Wir stellen selbstverständlich eine solche Behauptung nicht auf, da sich - wie wir wissen - Organismen auch ohne Nerven-Muskel-System zu bewegen vermögen. Das ist zum Beispiel bei Pflanzen der Fall. Es handelt sich hier um Bewegungen, die durch den stark ansteigenden Druck der Flüssigkeit zustande kommen, die die Hülle des Plasmas an die Zellwand drückt und diese in Spannung versetzt. Solche Bewegungen können sehr intensiv sein, da der Druck in den Pflanzenzellen mitunter einige Atmosphären erreicht (H. MOLISCH). Die Blätter der Venusfliegenfalle (Dionaea muscipula) klappen ganz plötzlich zu, sobald ein Insekt sie berührt. Ebenso wie aus dem Fehlen eines Nerven-Muskel-Systems nicht auf die Unmöglichkeit zum Vollzug von Bewegungen geschlossen werden durfte, läßt sich auch aus dem Fehlen differenzierter Sinnesapparate nicht ableiten, bei solchen Lebewesen könne es - da die Empfindungen höherer Tiere stets an bestimmte Sinnesorgane gebunden sind - nicht einmal bescheidene Ansätze zu solchen Funktionen geben. 6 A. DORN: Die Entstehung der Wirbeltiere und das Prinzip des Funktionswechsels. Ubersetzung. Moskau 1937 (russ.).
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Wird zum Beispiel bei der Mimose eins der Federblättchen im letzten Paar ihres großen gefiederten Blattes verletzt, dann überträgt sich diese Einwirkung durch die Gefäßbündel den Hauptstiel entlang, und über das ganze Blatt läuft gleichsam eine Erregungswelle, die die übrigen Blättchenpaare sich nacheinander schließen läßt. Dürfen wir diesen Apparat, der die medianische Erregung umgestaltet und auch die benachbarten Blätter sich schließen läßt, als Organ zur Übertragung von Empfindungen betrachten? Wir vermögen diese Frage begreiflicherweise nicht zu beantworten; dazu müßten wir wissen, wodurch sich die Organe der eigentlichen Sensibilität von anderen Apparaten unterscheiden, die nur äußere Einwirkungen umgestalten; dazu müßten wir audi die Prozesse der Reizbarkeit von denen der Sensibilität differenzieren können. Nun scheint die Analyse des anatomischen Substrats einer Funktion auf den ersten Blick neue Möglichkeiten zur Lösung unseres Problems zu erschließen. Könnte man nicht die Methoden der vergleichenden Anatomie benutzen und mit ihrer Hilfe die Organe, allerdings nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrer realen genetischen Reizaufnahmefähigkeit untersuchen? Vielleicht wird unser Blick durch dieses Verfahren auf funktionale Gemeinsamkeiten zwischen Organen gelenkt, deren Funktionen bei höheren Tieren bekannt sind, und Organen, die ihnen überhaupt nicht ähnlich sind, mit ihnen jedoch genetisch zusammenhängen. Eröffnete sich eine solche Möglichkeit, dann brauchte man, um das Problem der Genese der Sensibilität zu lösen, nur eingehend zu untersuchen, wie sich ein gegebenes Organ allmählich zu einer anderen Struktur entwickelt, obwohl es auch weiterhin eine analoge Funktion erfüllt. Doch auch auf diesem Wege stoßen wir auf eine unüberwindliche Schwierigkeit: Die Entwicklung der Organe unterliegt dem Prinzip der Nichtübereinstimmung zwischen ihrem Ursprung und ihrer Funktion. Die heutige vergleichende Anatomie unterscheidet zwei außerordentlich wichtige Begriffe: die Homologie und die Analogie. »In der Analogie und der Homologie«-, schreibt W. A. DOGEL, »haben wir zwei gleichwertige, wenn auch verschiedenartige Kategorien vor uns. Die Homologie drückt die Fähigkeit der Organismen aus, vom gleichen Material (identischen Organen) ausgehend, sich unter dem Einfluß der natürlichen Auslese während der Evolution wechselnden Bedingungen anzupassen und unterschiedliche Effekte zu erzielen. Aus den Flossen der Fische sind Organe zum Schwimmen, Laufen oder Fliegen geworden. In der Analogie zeigt sich demgegenüber die Fähigkeit der Organismen j von unterschiedlichem Grundmaterial ausgehend, zu ähnlichen Resultaten zu kommen und Gebilde zu schaffen, die in ihren Funktionen und auch in ihrer Struktur weitgehend übereinstimmen, obwohl sie
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in phylogenetischer Hinsicht nichts Gemeinsames haben, wie zum Beispiel die Augen der Wirbeltiere, der Kopffüßer und der Insekten.«7 Der Weg einer vergleichenden morphologischen Untersuchung ist damit ebenfalls versperrt. Das Problem des Entstehens von Empfindungen läßt sich auf diese Weise nicht lösen, weil Organe, die in ihrem Ursprung viel Gemeinsames haben, mit verschiedenen Funktionen verbunden sein können. Es kann zwar Homologie, es braucht aber keine Analogie zwischen ihnen zu bestehen. Diese Diskrepanz wird um so auffälliger, je größer der Entwicklungsabschnitt ist, den wir betrachten, und je tiefer wir die Stufen der Entwicklung hinabsteigen. Auf höherem Niveau der biologischen Evolution können wir uns noch ziemlich sicher über die Funktionen der Organe orientieren; je weiter wir uns von den höheren Tieren entfernen, desto aussichtsloser wird ein solches Unterfangen. Das ist die Hauptschwierigkeit, die Organe der Reizbarkeit von denen der Sensibilität zu unterscheiden. Wir kommen damit wieder zum Problem der Reizbarkeit und der Sensibilität, das jetzt jedoch in anderer Form vor uns steht: Wie läßt sich unterscheiden zwischen Organen der Sensibilität und Organen, die zwar Reize aufnehmen, jedoch keine Empfindungen zustande bringen? Da es nicht möglich war, zwischen Prozessen der Reizbarkeit und Prozessen der Sensibilität zu unterscheiden, wurde dieses Problem von den Physiologen des vergangenen Jahrhunderts vollkommen vernachlässigt. Sie gebrauchten die Sensibilität und die Reizbarkeit häufig sogar als Synonyme, obwohl die Physiologie in der ersten Zeit ihrer Entwicklung diese beiden Begriffe noch differenziert hatte. Einerseits wurde der Terminus »Sensibilität« (sensibilitas) und andererseits der Ausdruck »Reizbarkeit« (irribilitas) verwendet (A. VON HALLER). In der heutigen Zeit ist es für die Physiologie erneut wichtig geworden, die Reizbarkeit von der Sensibilität abzugrenzen. Die modernen Physiologen wenden sich immer mehr den physiologischen Prozessen zu, die mit dem Psychischen - einer der wichtigsten Eigenschaften der Materie - zusammenhängen. Es ist deshalb kein Zufall, wenn L. A. ORBELI auf die Notwendigkeit verweist, den Begriff der Sensibilität von dem der Reizbarkeit abzugrenzen. Er schreibt in diesem Zusammenhang: »Ich werde mich bemühen, den Begriff der Sensibilität... nur dort zu gebrauchen, wo wir mit Sicherheit sagen können, die Reizung eines Rezeptors und der entsprechenden höheren Gebilde lasse eine entsprechende subjektive Empfindung entstehen... In allen anderen Fällen, wo es die Sicherheit, daß die gegebene Reizung von einer subjektiven Empfindung begleitet wird, nicht gibt und nicht geben kann, 7
W. A. DOGEL: Vergleichende Anatomie der Wirbellosen. Bd. I, Leningrad 1938, S. 9 (russ.).
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werden wir von Erscheinungen der Reizbarkeit (oder Erregbarkeit) sprechen.«8 Das Kriterium, das der Verfasser benutzt, um zwischen Reizbarkeit und Sensibilität zu unterscheiden, ist ebenfalls rein subjektiv. Es ist für Untersuchungen am Menschen durchaus brauchbar; für die Arbeit mit Tieren existiert es nicht. »Der Begriff >Empfindungreduzieren die gegenständliche Wirklichkeit, zu der der Organismus immer kompliziertere Beziehungen aufnimmt, richtig widerzuspiegeln. Läßt sich - so fragen wir - auch für die höheren Entwicklungsstufen die Ansicht aufrechterhalten, die Erscheinungen der Sensibilität - die vor allem für die Prozesse des lebenden Organismus charakteristisch sind - würden durch Signale, das heißt durch Reize hervorgerufen, die die Beziehungen des Lebewesens zu anderen Einwirkungen vermitteln? Auf den ersten Blick scheint es Tatsachen zu geben, die dieser Auffassung widersprechen. Unsere Einstellung zur Nahrung beispielsweise ist ein grundlegendes, vitales Verhältnis; zugleich verfügen wir jedoch über eine vielfältige Sensibilität gegenüber den Nahrungsstoffen. Bei näherer Betrachtung spricht diese Tatsache - ebenso wie zahlreiche ähnliche Fakten - nicht gegen unsere grundlegende Ansicht. Wir brauchen nur ein wenig nachzudenken, um zu erkennen, daß die konkreten Merkmale der Nährstoffe, die unsere Gesichts-, Tast-, Geruchs- und sogar Geschmacksempfindungen hervorrufen, nicht mit den Eigenschaften der Speisen identisch sind, die unser Bedürfnis nach Nahrung befriedigen. Wir können die zuerst genannten Merkmale, durch die unser Verhältnis zu den eigentlichen Nahrungseigenschaften der gegebenen Substanz nur vermittelt wird, künstlich auch anderen Stoffen verleihen, die nicht als Nahrung geeignet sind, oder wir können, umgekehrt, eine Speise mit Eigenschaften ausstatten, die sie sonst nicht hat. Bei eingehender Analyse der Verhältnisse auf den höheren Entwicklungsetappen stellt sich folgendes heraus: Die Einflüsse, die Empfin* düngen hervorrufen, orientieren den Organismus auch in dieser Phase stets auf die Umwelt, sie vermitteln demnach die Beziehungen des Organismus zu anderen, objektiv mit ihnen verbundenen Eigenschaften. Erfüllen die Einwirkungen dagegen keine Orientierungsfunktion, dann beobachten wir auch keine Sensibilität. Wir besitzen zum Beispiel, wie wir wissen, keine Sensibilität gegenüber dem Sauerstoff, obwohl das Vorhandensein dieses Elements in der Luft unsere erste Lebensbedingung ist. Das ist durchaus verständlich. Da der Sauerstoff für das Leben so außerordentlich wichtig ist, ist er niemals in der Lage, die Funktion der Vermittlung, der Signalisation zu übernehmen. Etwas anders liegen die Dinge bei der Lichtenergie. Der Einfluß von
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Lichtstrahlen bestimmter Frequenzen ist - wie wir wissen - für die Entwicklung höherer Tiere unerläßlich. Junge Hunde zum Beispiel, die im Dunkeln aufgezogen werden, gehen zugrunde. Die Lichtenergie ruft bei höheren Tieren aktive biologische Prozesse hervor, die zur Lebenserhaltung unmittelbar notwendig sind. Nun können die Tiere die von der Sonne ausgesandten Lichtstrahlen (meist außer dem ultravioletten Teil des Spektrums) aber auch empfinden; es haben sich spezielle und ziemlich vollkommene Organe der Lichtempfindungen, Organe des Sehens, bei ihnen entwickelt. Der Organismus tritt zur gleichen Einwirkung gleichsam in eine doppelte Beziehung, die zu einer doppelten Form der Reizbarkeit gegenüber dem Licht führt. Bei unseren Überlegungen zum Problem der Sensibilität auf den höheren Entwicklungsstufen des Lebens müssen wir einen weiteren Umstand ins Auge fassen: Zwischen dem Organismus und den Umwelteinwirkungen, die unmittelbar zu Assimilationsprozessen führen, löst sich im Laufe der Entwicklung die ursprünglich bestehende direkte Verbindung; es vollzieht sich eine Trennung zwischen dem sogenannten inneren Milieu des Organismus und seiner Umwelt, dem äußeren Milieu. Zwischen dem inneren und dem äußeren Milieu der höheren Tiere existieren zahlreiche Beziehungen, durch die die grundlegenden Lebensprozesse des Organismus (Assimilation) vermittelt werden und die folglich mit immer vielfältigeren und differenzierteren Erscheinungen der Sensibilität zusammenhängen müssen. Die Erscheinungen der Sensibilität verändern sich im Laufe der Entwicklung selbstverständlich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Die primitive Sensibilität niederer Tiere ist etwas völlig anderes als die Formen der Sensibilität, denen wir bei höheren Tieren und beim Menschen begegnen. Schon die Entwicklung der Intra- und Propriozeption zum Beispiel zwingt uns, an die Definition der Sensibilität auf den höheren Stufen völlig anders heranzugehen. Da sich jede wissenschaftliche Hypothese zunächst auf theoretische Erwägungen stützt, wird das Schicksal der von uns vorgetragenen Hypothese davon abhängen, in welchem Maße sie zur Grundlage experimenteller Untersuchungen wird, durch die sie überprüft, konkretisiert und weiterentwickelt werden kann. Solange es noch keine Versuche gibt, mit konkreten Untersuchungen in dieses heute noch rätselhafte und dunkle Problem einzudringen, haben wir kein Recht, selbst auf eine vorläufige Hypothese zu verzichten, die noch weit davon entfernt ist, den hohen Grad einer durch Tatsachen belegten Annahme zu erreichen, der sie erst auf das Niveau einer wissenschaftlich begründeten Auffassung erhebt.
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3. Die Untersuchung der funktionalen Entwicklung der Sensibilität 1 Es erweist sich als außerordentlich komplizierte Aufgabe, unsere Hypothese über das Wesen der Sensibilität experimentell zu belegen und weiterzuentwickeln. Wir müssen dazu eine ganze Reihe von Versuchen anstellen, bei denen es mannigfache, einander kreuzende Wege einzuschlagen gilt. Die Hauptschwierigkeit liegt in der Überprüfung der theoretischen Auffassung durch konkrete experimentelle Daten. Schon die Wahl des ersten Schrittes ist recht problematisch. Es gilt sich dabei für die Hauptrichtung des Experiments zu entscheiden : Soll die Untersuchung an genetischem Material, das heißt an Tieren (und dabei auch an Tieren auf niedrigeren Stufen der biologischen Evolution) oder am Menschen durchgeführt werden? Nur im ersten Falle läßt sich von einer direkten Untersuchung sprechen. Der zweite Weg erscheint - sofern es um das Entstehen der Sensibilität geht - auf den ersten Blick kaum gangbar und sogar widersinnig; er scheint vom Ziel abzulenken. Trotzdem wollen wir uns für diesen zweiten Weg entscheiden. Dafür spricht ein historisches Argument: Die traditionelle Problemstellung zwingt uns dazu, bei der Ermittlung von Tatsachen über die Sensibilität ein subjektives Kriterium zu benutzen. Das schließt die Möglichkeit von Tierexperimenten aus. Wollen wir jedoch die Genese der Sensibilität am Menschen mit seinen hochentwickelten, spezialisierten Sinnesorganen und seiner komplizierten Nervenorganisation untersuchen, dann stehen wir vor weiteren Schwierigkeiten. Es erhebt sich vor allem ein theoretisches Problem: Ist es gerechtfertigt, umfassende, allgemeine psychologische Schlußfolgerungen aus Tatsachen zu ziehen, die bei der Untersuchung des Menschen mit seiner qualitativ besonderen und spezifischen Form des Psychischen gewonnen wurden? Die allgemeinen Einwände, die sich hier vorbringen ließen, sind recht einleuchtend. Man darf sich jedoch in diesem Falle nicht auf abstrakte Überlegungen beschränken, sondern muß die konkrete Auffassung analysieren, die der experimentellen Arbeit zugrunde liegt. Nun gibt es in der Tat wissenschaftliche Ansichten, die vom Spezifischen einer Erscheinung abstrahieren und nur das Allgemeine hervorheben. Sprechen wir beispielsweise davon, der Stoffwechsel sei eine notwendige Bedingung des Lebens, dann gilt diese Auffassung für jede
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beliebige Entwicklungsstufe. Ebenso verhält es sich mit der Aussage, die Arbeit sei eine ewige und natürliche Lebensbedingung der menschlichen Gesellschaft, denn dieser Standpunkt trifft für alle gesellschaftlichen Formen zu. Eine solche Auffassung ist auch die vom prinzipiellen Wesen der Sensibilität. Die grundlegende und allgemeine Bedingung, eine äußere Einwirkung zu empfinden, ist die auf die Umwelt orientierende Funktion der Empfindung. Das bedeutet: Auf welcher Entwicklungsstufe die Sensibilität auch stehen mag und in welcher Form des psychischen Lebens wir dieser Erscheinung auch begegnen, die empfundene Einwirkung muß stets das Verhältnis des Subjekts zu irgendeiner anderen Einwirkung vermitteln. In dieser Beziehung darf die Sensibilität des Menschen keine Ausnahme bilden. Daß sie beim Menschen in Form von Bewußtseinserscheinungen auftritt, stellt ihre spezifische Besonderheit dar, ändert jedoch nichts an dem grundsätzlichen Verhältnis, das ihr Wesen kennzeichnet. Schwierigkeiten ergeben sich demnach nur im Hinblick auf die Frage, inwieweit solche Experimente praktisch durchführbar sind und welches Material man dafür auswählen sollte. Wir erinnern hier an zwei Momente unserer grundlegenden Auffassung von der Sensibilität: a) Die Erscheinungen der einfachen Reizbarkeit decken sich nicht mit denen der Sensibilität, b) Die Reizbarkeit läßt sich in Sensibilität umwandeln. Die unter a) formulierte Ansicht, die die erste Voraussetzung unserer Untersuchung darstellt, bereitet uns keinerlei Schwierigkeiten. Es lassen sich mühelos Agenzien auswählen, denen gegenüber der Mensch zwar reizbar ist und auf die sein Organismus mit bestimmten biologischen Prozessen reagiert, die jedoch unter normalen Bedingungen keine Empfindungen bei ihm auslösen. Der menschliche Organismus reagiert auf solche Agenzien, zeigt ihnen gegenüber aber keine Sensibilität. Größere Schwierigkeiten bereitet uns das zweite Moment, das die zweite Voraussetzung unserer Untersuchung darstellt. Gibt es beim Menschen irgendwelche Übergänge von der einfachen Reizbarkeit zur Sensibilität? Kann ein Agens, das normalerweise nicht empfunden wird, zu einem Agens werden, das eine Empfindung auslöst? Diese Frage läßt sich - das belegen umfangreiche und in ihrer Vielfalt kaum überschaubare wissenschaftlich ermittelte Tatsachen - für den Menschen zweifellos bejahen. Alle Erscheinungen dieser Art lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Zur ersten Kategorie gehört das Entstehen einer Sensibilität auch gegenüber Agenzien, für die der Mensch keinen spezifischen und adäquaten Rezeptor besitzt. Hierher gehören zum Beispiel die eigenartigen
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Empfindungen, die bei den Blinden entstehen; während dieser sogenannte »sechste Sinn« bei Menschen, die gerade erst erblindet sind, nicht zu beobachten ist, ist er bei Blinden, die ihr Augenlicht schon lange verloren haben, zweifellos vorhanden. Das bestätigen zahlreiche sorgfältige experimentelle Untersuchungen/Deutsche Verfasser bezeichnen die soeben geschilderten Erscheinungen mit den Termini »Fernsinn« oder »Ferngefühl«, LEWT nannte sie »perceptio facialis«, und GERHART sprach etwas unbestimmter von einem »Gefühl X«. 32 Dieses Problem ist zwar heute noch sehr umstritten, aber gegen die Tatsache, daß es diese eigenartigen Empfindungen bei Blinden gibt, werden keine Zweifel erhoben. Man ist sich nur nicht einig darüber, welches Organ die Funktion der Distanzsensibilität gegenüber Hindernissen bei ausgeschaltetem optischem Rezeptor erfüllt. Wir halten für unsere weiteren Ausführungen vor allem den folgenden Umstand für erwähnenswert: Bei der Analyse von Ergebnissen verschiedener Untersuchungen sahen wir uns veranlaßt, mitunter auch Daten als überzeugend anzusehen, die einander widersprachen. Das berechtigt zu der Annahme, daß diese Empfindungen auf eine Reizbarkeit gegenüber Einwirkungen verschiedener Ordnung zurückgehen können, daß sie folglich nicht auf der Grundlage eines bestimmten, sondern verschiedener Rezeptoren gebildet werden können. Zu dieser Gruppe von Erscheinungen gehören auch die Vibrationsempfindungen von Gehörlosen. Für unser Problem ist eine experimentelle Untersuchung von KAMPIK sehr bedeutsam, in der folgendes ermittelt wurde: Bei Personen mit normalem Gehör entstehen bestimmte Formen von Vibrationsempfindungen erst nach besonderer Unterweisung oder nachdem die Möglichkeit der Rezeption mit dem O h r ausgeschaltet worden ist.33 In diesem Zusammenhang sind auch die Angaben interessant - über die allerdings noch keine völlige Klarheit herrscht und die wissenschaftlich noch nicht klassifiziert worden sind die über das Entstehen unspezifischer Sensibilität bei Personen gemacht werden, die lange Zeit hindurch bestimmten Spezialberufen nachgegangen sind. Einige Daten sind mir freundlicherweise von GELLERSTEIN überlassen worden. Wir werden an gegebener Stelle auf dieses Problem zurückkommen. 82
Siehe А. A. KROGIUS: Die Blindenpsydiologie und ihre Bedeutung für die allgemeine Psychologie. 1926; Ebenderselbe: Aus der geistigen Welt der Blinden. Teil I : Die Wahrnehmungsprozesse bei den Blinden. 1 9 0 9 ; T. HELLER: Studien zur Blindenpsydiologie. »Philosophische Studien«, Bd. XI, 1894; P. VILLEY: Le monde des aveugles. 1 9 1 4 ; JAVAL: La suppleance de la vie par les autre sens. »Bull, de PAcad^mie de la m£d.«, Bd. XLVII, 1902, S. 438. 33 Siehe A. KAMPIK: Archiv für die gesamte Psychologie. 1 9 3 0 , H . 1 / 2 , S. 3 bis 7 0 ; ROBERT H . HOULT: Les sens vibrotactiles. »Annee psychologique«, 1 9 3 4 , S. 3.
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In die zweite, größere Kategorie wollen wir die allgemein bekannten Erscheinungen eingruppieren, in denen spezifische, aber gewöhnlich unterschwellige Reize in Reize umgewandelt werden, die Empfindungen hervorrufen. Auf den ersten Blick scheinen diese Phänomene unser Problem nicht direkt zu berühren. Sie betreffen die Dynamik der adäquaten Sensibilität und werden gewöhnlich interpretiert, sobald die Adaptation behandelt oder die Möglichkeit erörtert wird, die Empfindungsschwellen durch Training zu verändern. Wir wollen diese zweite Gruppe von Erscheinungen daher zunächst beiseite lassen und stellen fest: Es gibt Agenzien, denen gegenüber der Mensch zwar reizbar ist, die bei ihm jedoch keine Empfindungen auslösen. Unter bestimmten Bedingungen können sich aber auch gegenüber diesen Agenzien eindeutig Erscheinungen der Sensibilität einstellen.34 Unsere Hauptfrage lautet nun: Welche Bedingungen sind dazu erforderlich? Diese Frage, die sich unmittelbar aus unserer Hypothese ergibt, läßt sich theoretisch wie folgt beantworten: Soll ein biologisch adäquates Agens, das normalerweise keine Empfindungen auslöst, zu einem Reiz werden, der vom Subjekt empfunden wird, dann muß dazu eine Situation geschaffen werden, in der die Einwirkung des gegebenen Agens eine Vermittlerfunktion ausübt und dadurch die Beziehung des Subjekts zu irgendeiner anderen Einwirkung der Außenwelt realisiert. Wir müssen deshalb dieses Agens während des Experiments mit irgendeiner anderen äußeren Einwirkung verbinden. Stellt sich dann tatsächlich eine Empfindung ein, unterliegt also die Erscheinung wirklich der Regel für das Entstehen der Sensibilität, die sich aus unserer Hypothese ableiten läßt, dann können wir unsere Hypothese in einem Punkt der verlangten Beweiskette als experimentell bestätigt betrachten, Wahrscheinlich wird sie in diesem Punkt auch ein wenig weiterentwickelt und näher konkretisiert worden sein. Wir wollen nun noch eine letzte Frage stellen: Welches Agens, das normalerweise keine Empfindung auslöst, dem gegenüber das Subjekt jedoch reizbar ist, läßt sich für unsere Untersuchung verwenden? 84
In Westeuropa und in Amerika erschienen in den letzten Jahren zahlreiche Arbeiten, die sich mit dem Problem der sogenannten »extrasensory perception« beschäftigten. (Einen Uberblick darüber gibt J. KENNEDY im »Psych. Bulletin«, H. 2/1938.) Wir können zwar Arbeiten nicht als wissenschaftlich ansehen, in denen die Möglichkeit eingeräumt wird, Einwirkungen ohne Beteiligung von Organen wahrzunehmen, die gegenüber diesen Agenzien reizbar sind. Einige dieser Tatsachen sind jedoch von gewisser Bedeutung, obwohl sie in mystifizierter Form dargelegt werden. Viel aufschlußreicher sind demgegenüber Untersuchungen, die sich mit unterschwelligen (subliminalen) Reizen beschäftigten, wie das in den Arbeiten von K . COLLIER (»Psych. Monogr.«, Bd. 52, 1940) geschieht. Wir werden uns mit ihnen an gegebener Stelle noch auseinandersetzen.
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Im Zusammenhang mit diesem Problem wurden wir auf die Arbeiten von POSNANSKAJA aufmerksam, die die Sensibilität der menschlichen Haut gegenüber infraroten und sichtbaren Lichtstrahlen untersucht hat. Wie die Verfasserin feststellte, wird die Empfindungsschwelle der Haut gegenüber der Strahlungsenergie durch längeres Training herabgesetzt. Besonders deutlich zeigt sich das gegenüber dem sichtbaren Teil des Spektrums. Die Verfasserin schlußfolgert daraus: »In unseren Versuchen, in denen wir die Haut bestrahlten, zeigte sich neben der Wärmeempfindlichkeit auch eine Sensibilität gegenüber den sichtbaren Lichtstrahlen; diese stellte sich jedoch erst nach langem Training und nur bei schwacher Bestrahlung ein; bei größerer Strahlungsintensität wurde die Lichtempfindlichkeit durch die Wärmeempfindlichkeit völlig überdeckt.« 35 Dieser Schlußfolgerung liegen Fakten zugrunde, die für unsere Aufgabe sehr wichtig sind. Dabei handelt es sich erstens um das Aufkommen der Sensibilität der Haut gegenüber Lichtstrahlen, deren Wärmeintensität unter der Wärmeempfindungsschwelle der Versuchsperson liegt. Diese Beobachtung stimmt einerseits mit den biologischen Angaben über die Existenz einer Photorezeption der Haut bei manchen Tieren und andererseits mit der Tatsache überein, daß auch unspezifische Nervenapparate gegenüber dem Licht reizbar sind.36 Zum andern ist die von der Verfasserin festgestellte Bedeutung des Trainings widitig. Diese Angaben stimmen unter anderem mit den bereits zitierten Erkenntnissen vom KAMPIK über das Entstehen von Vibrationsempfindungen überein. Da die Versuche von POSNANSKAJA jedoch ein ganz anderes Ziel verfolgten, bleibt die Frage offen, ob wir es hier mit dem Aufkommen einer neuen, nicht adäquaten Sensibilität der Haut gegenüber sichtbaren Lichtstrahlen oder nur mit einem Absinken der Wärmeempfindungsschwelle zu tun haben. Der Umstand, daß in der Arbeit von POSNANSKAJA die Sensibilität der Haut gegenüber sichtbaren Lichtstrah85
Siehe N. B. POSNANSKAJA: Die Hautempfindlichkeit gegenüber infraroten und gegenüber sichtbaren Strahlen. »Bulletin exper. biologii i mediziny«, 1936, Bd. 2, Folge 5. Ebendieselbe: Die Hautempfindlichkeit gegenüber infraroten und sichtbaren Strahlen. »Fisiologitscheski shurnal SSSR«, 1938, Bd. XXIV, Folge 4. N. EHRENWALD: Über einen photo-dermischen Tonusreflex. »Klinische Wochenschrift«, 1933. 86 Hautempfindlidikeit gegenüber Licht wurde bei Hohltieren durch HAUG ( 1 9 3 3 ) , bei Planarien durch MERKER ( 1 9 3 2 ) , bei höheren Würmern durch HESS ( 1 9 2 6 ) , bei Insekten durch GRABER ( 1 8 8 5 ) und LAMMERT ( 1 9 2 6 ) , bei den Mollusken durch LIGHT ( 1 9 3 0 ) u. a., bei Fischen durch WYCES ( 1 9 3 3 ) und bei Amphibien durch PEARSE ( 1 9 1 0 ) festgestellt. In diesem Zusammenhang ist eine Untersuchung von JOUNG besonders aufschlußreich (J. Z. JOUNG: The Photoreceptors of Lampreys. »Journal of Experimental Biology«, 1935, Bd. XII, S. 2 2 3 bis 2 3 8 ) .
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len durch eine allmähliche Senkung der Wärmeempfindungsschwelle erreicht wurde, spricht eher gegen die Annahme, es sei eine nicht adäquate Empfindlichkeit der Haut entstanden* . Trotzdem setzten wir aus theoretischen Erwägungen voraus, es habe sich in den Versuchen von P O S N A N S K A J A um das Aufkommen einer neuen Sensibilität gehandelt, und die in diesen Experimenten erreichte Empfindlichkeit gegenüber sichtbaren Lichtstrahlen sei tatsächlich eine experimentell geschaffene Neubildung gewesen. Wir stellten uns zunächst die Aufgabe, diese Annahme durch neue Versuche zu überprüfen. Dabei sollten möglichst alle Umstände ausgeschaltet werden, die das Verständnis der wirklichen Bedeutung dieser Tatsachen erschwerten.
2 Die erste Untersuchung 37, die der funktionalen Genese der Sensibilität gewidmet war, verfolgte zwei Ziele: Es sollte erstens das Moment des allmählichen Absinkens der Wärmeempfindungsschwelle ausgeschaltet werden. Zweitens wollten wir uns Klarheit über das Verhältnis zwischen der Bildung einer bedingten motorischen Verbindung und dem Entstehen der Sensibilität verschaffen. Die konkrete Methodik des Experiments ^rurde dieser Aufgabe entsprechend aufgebaut. Als Agens, das nach unserer Terminologie die Funktion einer Einwirkung des Typs oc erfüllen sollte, benutzten wir Lichtstrahlen aus dem grünen Bereich des sichtbaren Spektrums, denn in den Untersuchungen von P O S N A N S K A J A hatten sich bei diesem Teil des Spektrums die niedrigsten Schwellen erreichen lassen.88 Wir wählten aus technischen Gründen die Handfläche der rechten Hand der Versuchsperson als bestrahlten Abschnitt. Das grüne Licht, das als Agens auf die Handfläche der Versuchsperson wirkte, blieb im Laufe der Versuche in physikalischer Hinsicht praktisch konstant; die Wirkung der Wärmestrahlen (die größtenteils durch ein Wasserfilter absorbiert wurden) war nur ganz unerheblich und lag unter der Wärmeempfindungsschwelle. Als Agens, das nach unserer Terminologie die Funktion einer Einwirkung des Typs a erfüllen sollte, benutzten wir einen elektrischen 87
Diese Versuche wurden wie alle anderen hier geschilderten Experimente (mit Ausnahme der vierten Untersuchung) am Moskauer Institut für Psychologie im Laboratorium des Verfassers in den Jahren 1937 bis 1940 durchgeführt. 88 Siehe N . B . POSNANSKAJA, I . N . NIKITSKI, C H . J . KOLODNAJA und T. S. SCHACHNASARJAN: Die Hautempfindlichkeit gegenüber sichtbaren und infraroten Strahlen. In: Sammelband von Referaten auf der VI. Unionskonferenz der Physiologen. Tbilissi 1937, S. 307 bis 312 (russ.).
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Hautreiz - einen elektrischen Schlag gegen den rediten Zeigefinger der Versuchsperson. Bei den Experimenten benutzten wir zwei Tische, auf denen die benötigten Apparate montiert waren und von denen einer den Geräten des Versuchsleiters vorbehalten war, während die Versuchsperson am anderen Tisch Platz nahm. In der Tischplatte der Versuchsperson befand sich eine kreisrunde Öffnung von vier Zentimetern Durchmesser; die Handfläche der Versuchsperson lag genau darüber; der Zeigefinger berührte die Reaktionstaste, die zur Vermittlung des elektrischen Häutreizes diente. Unter der Tischplatte stand ein Projektionsapparat, in dessen Strahlengang ein Wasserfilter und darüber ein Farbfilter angebracht waren. Eine zusätzliche Linse sammelte schließlich die Lichtstrahlen und ließ sie genau durch den Ausschnitt in der Tischplatte austreten. Als Lichtquelle diente eine Glühbirne. Der elektrische Strom wurde mit Hilfe eines Induktionsapparates nach Du BOIS-REYMOND appliziert. Das Einschalten des Lichts durch den Versuchsleiter und das Loslassen der Taste wurden mit Hilfe einis elektrischen Apparates registriert, der völlig geräuschlos arbeitete. Die Versuchsperson war vom Versuchsleiter durch einen Schirm getrennt. Während der Experimente wurde das Laboratorium ein wenig verdunkelt (siehe Abb. 1). Reakf!™~ taste
Ausschnitt in der Ratte
Tischplatte
•Sammellinse •Farbfilter
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•Wasserfilter
-Projektionsapparat
Abb. 1: Schema der Versuchsanordnung
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Die Untersuchung gliederte sich in zwei Reihen. In der ersten Versuchsserie wurde wie folgt vorgegangen: Die Versuchsperson wurde zunächst darüber unterrichtet, man werde einige psycho-physiologische Experimente mit ihr durchführen, in denen ihre Empfindlichkeit gegenüber elektrischen Hautreizen untersucht werden solle. Beim Betreten des Laboratoriums konnte die Versuchsperson die Geräteanordnung nicht sehen, da ihr Tisch mit einem schwarzen, undurchsichtigen Stoff zugedeckt war. Man setzte sie seitlich an den Tisch und ließ sie die Handfläche ganz natürlich auf die Platte legen. Danach wurde sie gebeten, sich abzuwenden und die Augen eine Minute lang zu schließen. Der Versuchsleiter brachte die Hand der Versuchsperson in die richtige Lage, machte sie auf die Taste aufmerksam, auf der der Zeigefinger liegen sollte, und bedeckte dann die Hand mit schwarzem Stoff. Es wurden damit alle Vorkehrungen getroffen, um die Versuchsperson nichts von der Einwirkung der Lichtstrahlen sehen zu lassen. Die Versuchsperson erhielt die Instruktion, ihren Finger während des ganzen Experiments auf der Taste zu halten; sobald sie die Einwirkung des elektrischen Hautreizes spürte, sollte sie den Finger von der Taste wegziehen89 und dabei das Handgelenk ein wenig anheben, ohne jedoch die ganze Hand von der Stelle zu bewegen; das ergab sich übrigens schon aus der Lage der Hand auf der Tischplatte. Danach sollte die Versuchsperson den Zeigefinger wieder auf die Taste legen. Die Versuche verliefen folgendermaßen: Wir schalteten mit einem Schalter das Licht ein und ließen es 45 Sekunden lang auf die Handfläche wirken. In dem Augenblick, in dem wir das Licht wieder ausschalteten, wurde der elektrische Hautreiz dargeboten. Um jede Möglichkeit auszuschließen, bei der Versuchsperson einen bedingten Zeitreflex zu bilden, veränderten wir die Intervalle zwischen den Reizkombinationen (die Zeitabstände schwankten zwischen 45 Sekunden und 6 Minuten). Im Laufe eines Experiments wurden 10 bis 14 Reizkombinationen dargeboten; nach der Hälfte der vorgesehenen Zeit legten wir eine kurze Pause ein, in der sich die Versuchsperson vom unbeweglichen Sitzen am Tisch erholen konnte. Die Experimente wurden in der gewohnten Form protokolliert. Wir untersuchten in dieser ersten Serie insgesamt vier Versuchspersonen. Unseren Experimenten lag das klassische Schema zugrunde, nach dem ein bedingter motorischer Reflex gebildet wird. Das Licht, das zu einer Einwirkung des Typs a werden sollte, war der bedingte, und der elek89
Durch diese Instruktion wollten wir der Möglichkeit vorbeugen, daß sich ein »verborgener« motorischer Reflex bildet, wie er in den Experimenten von BERITOW und DSIDSISCHWILI ermittelt wurde (Arbeiten des Biologischen Sektors der Akademie der Wissenschaften der Grusinischen SSR, Tbilissi 1934 [russ.]).
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trische Strom (Typ a) der unbedingte Reiz* Der von uns untersuchte Entstehungsprozeß der Sensibilität war damit unmittelbar dem Bildungsprozeß eines bedingten Reflexes angenähert; wir wollten auf diese Weise verfolgen, in welchem Verhältnis beide Prozesse zueinander stehen. Trotz der großen Anzahl von Reizkombinationen (350 bis 400) stellte sich bei keiner einzigen Versuchsperson ein bedingter motorischer Reflex auf die Einwirkung des Lichts ein. Das ist auch begreiflieh: Die erste Einwirkung (Lichtreiz auf die Haut) vermochte bei den Versuchspersonen keinen Orientierungsreflex auszulösen. Da der Lichtstrahl nicht empfunden wurde, waren die normalen Voraussetzungen für die Bildung einer bedingten Verbindung gestört; das Licht konnte unter den gegebenen Bedingungen nicht zum bedingten Reiz werden. Die prinzipiellen Voraussetzungen für die Bildung eines bedingten Reflexes decken sich demnach - wie die Ergebnisse dieser Serie zeigen - nicht mit den Bedingungen für das gesuchte Entstehen der Sensibilität. In der zweiten Versuchsreihe (Hauptserie) wandelten wir deshalb die Versuchsbedingungen entsprechend unseren theoretischen Vorstellungen über den untersuchten Prozeß ab. Zu diesem Zwecke teilten wir nunmehr den Probanden mit, auf ihre Handfläche werde vor der Darbietung des elektrischen Hautreizes ein sehr schwaches Licht wirken, das nicht sofort empfunden werden könne. Werde als Antwort auf diesen Lichtreiz der Finger weggezogen, dann lasse sich der elektrische Schlag vermeiden. Damit stellten wir den Versuchspersonen die Aufgabe, den elektrischen Hautreizen aus dem Wege zu gehen, und schufen auf diese Weise eine aktive »forschende« Situation. Um zu vermeiden, daß die Versuchsperson die Hand vorzeitig wegzog, führten wir eine zusätzliche Bedingung ein: Wurde der Finger im falschen Augenblick (d. h. in der Zeit zwischen den Reizkombinationen) von der Taste genommen, dann exponierten wir sofort wieder das Licht, sobald der Finger erneut auf der Taste lag, und lösten unmittelbar danach den elektrischen Hautreiz aus. Diese zusätzliche Bedingung sollte sich auf einer späteren Etappe des Experiments für die Versuchsperson noch als sehr wichtig erweisen, um die gesuchte Einwirkung hervorzuheben. Die übrigen Bedingungen glichen denen der ersten Serie. An diesen Versuchen nahmen ebenfalls vier erwachsene Versuchspersonen teil. Wir erhielten folgende Ergebnisse: Am Ende der Experimente nahmen objektiv alle Versuchspersonen den Finger von der Taste, sobald Lichtstrahlen der beschriebenen Art
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auf ihre Handfläche einwirkten; fehlerhafte Reaktionen traten zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht oder nur vereinzelt auf. Die Versuchsperson Frid. zum Beispiel nahm den Finger erstmalig beim 12. Versuch (nach 139 Kombinationen) im richtigen Augenblick von der Taste. Vom 28. Versuch an unterliefen ihr keine falschen Reaktionen mehr. Die besten Ergebnisse wurden im 34. Versuch erzielt. Auf 18 Reizkombinationen reagierte sie 7mal richtig; 11 Reaktionen wurden ausgelassen. Der Gesamtverlauf der Experimente mit der Versuchsperson Frid. ist in Abbildung 2 dargestellt.
Abb. 2: Versuchsperson Frid.
Die Versuchsperson Sam. hatte schon an der ersten Serie teilgenommen. Nach 300 Reizkombinationen hatte es bei ihr noch kein Ergebnis gegeben. In der zweiten Versuchsserie dagegen begann sie schon nach 40 Reizkombinationen richtig zu reagieren. Nach 80 Kombinationen war die Anzahl ihrer richtigen Reaktionen größer als die der falschen. Am Ende der Serie erzielte sie folgendes Ergebnis: 9 richtige, 4 ausgelassene Reaktionen und 0 Fehler (Abb. 3).
Das Problem des Entstehens von Empfindungen ' Anzahl der Reaktionen 14
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Gesamtzahl dßrReizkombthationem 802
12 . 10
8 -
€I 4 I 340 Reizkombinationen 2I Lfd. Nr. 15 17 19 21 23 25 27 29 31 33 Datum 10M 13M 17.IV. 20JV. 23JV. 26.iV.29M 4M • 7.V. 10.V. Abb. 3: Versuchsperson Sam.
Die Resultate der dritten Versuchsperson (Gur.) waren am konstantesten. Wir führten daher mit ihr noch viele Kontroll versuche durch, die wir später beschreiben werden. Schon während des 9. Experiments gab es bei ihr 6 richtige, 2 ausgelassene und nur 1 falsche Reaktion. In den weiteren Versuchen reagierte sie durchschnittlich 5- bis 6mal richtig, auf 2 bis 3 Reize reagierte sie nicht, und die Anzahl ihrer Fehler schwankte zwischen 0 und 2 (Abb. 4). Infolge besonderer Umstände war es nicht möglich, die Experimente mit der vierten Versuchsperson zu Ende zu führen. Wir stellten bei ihr schon im 15. und 16. Versuch 3 bis 4 richtige und nur 1 bis 2 falsche Reaktionen fest. Der von uns untersuchte Prozeß verlief bei ihr offensichtlich ebenso wie bei den anderen Versuchspersonen. Selbst unter der Annahme einer gewissen Anzahl zufällig richtiger Reaktionen zeugen diese Ergebnisse davon, daß die Versuchspersonen auf die Einwirkung sichtbarer Lichtstrahlen auf die Haut tatsächlich richtig reagierten. Zu diesem Schluß sind wir selbstverständlich nur unter einer Voraussetzung berechtigt: Während des Experiments darf es keine anderen, von uns nicht berücksichtigten Faktoren gegeben haben, die die Richtigkeit der Reaktionen hätten bestimmen können. Inwieweit diese Annahme richtig ist, läßt sich der Schilderung der Versuche entnehmen, die wir noch später geben werden. Wir wollen nun die subjektiven Daten anführen, die wir in dieser Versuchsreihe ermittelten.
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Abb. 4: Versuchsperson Gur.
Hatte eine Versuchsperson zum ersten Male richtig reagiert, dann fragten wir sie am Ende des Experiments, warum sie den Finger von der Taste genommen habe. Abgesehen von einigen unbestimmten und widersprüchlichen Antworten während der Versuche, in denen meist noch falsch reagiert wurde (»Mir war so, als müßte ich jetzt die Hand wegziehen!« — »Ich habe den Finger einfach weggenommen!«), gaben uns alle diese Aussagen einen Einblick in das spezifische Erleben der Versuchspersonen, das sich lediglich in der Art und Weise der Schilderung unterschied. Das sei an einigen Beispielen gezeigt: »Ich fühlte ein Rieseln auf der Handfläche.« - »Mir war, als streifte mich der Flügel eines Vogels.« (Diese Äußerung zitiert auch POSNANSKAJA.) - »Ich fühlte ein leichtes Zittern.« - »Mir war, als schlage eine Saite an.« - »Es war wie ein leichter Luftzug.« Um eine genauere Vorstellung über die Hinweise der Probanden zu vermitteln, führen wir nachstehend ein Protokoll im Wortlaut an. (Die Versuchsperson K. war Studentin im ersten Studienjahr der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät.) »Warum haben Sie den Finger weggezogen?« - »Kälte und Wärme sind das nicht. Etwas wie eine Welle verläuft über die Handfläche. Die
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Wellen erscheinen einzeln, eine nach der anderen. Ich spüre genau, wenn diese Wirkung unterbrochen wird.« - »Ist diese Empfindung mit Wärme verbunden?« - »Nein, eine Wärmeempfindung habe ich nicht. Einmal dachte ich, es wäre Wärme. Sobald ich das dachte, glaubte ich wirklich Wärme zu spüren. Das war aber nicht richtig.« - »Ist die Empfindung vor dem elektrischen Schlag deutlich spürbar?« - »Jetzt ist sie spürbar. Sobald ich Zweifel habe, versuche ich mich zu überprüfen. Ich bewege nur die Hand. Verschwindet der Eindruck nicht, dann muß ich tatsächlich etwas empfunden haben.« - »Hätten wir das nicht vor Beginn des Versuchs erst ausprobieren sollen?« - »Ich versuche mich selbst zu kontrollieren. Sobald ich etwas fühle, erwarte ich den Strom. Dabei versuche ich festzustellen, ob ich mich geirrt habe oder nicht.« Es fiel den Versuchspersonen schwer, ihre unbeständigen und wenig intensiven Empfindungen in Worte zu kleiden. Sie vermochten sie nicht von anderen Empfindungen ihrer Hand abzugrenzen, deren Zahl im Laufe des Experiments zunimmt. Wir haben es hier mit einer ganzen Skala anderer, nebensächlicher Eindrücke zu tun, aus denen sidi die gesuchte Empfindung nur außerordentlich schwer hervorheben läßt. Eine gewisse Hilfe bietet das Wegziehen des Fingers von der Taste im falschen Augenblick mit der anschließenden »Strafe«, denn die Versuchsperson weiß, daß ihre Handfläche dann der Lichteinwirkung erneut ausgesetzt wird. »Deshalb«, äußerte eine Versuchsperson, »ziehe ich den Finger manchmal nur weg, um mich dieser Empfindung zu erinnern und sie wieder zu erfassen.« Die Probanden (wir stützen uns auf Hinweise aus allen Versuchsreihen) bemerkten gegen Ende der Serie oft eine starke assoziative und perseverative Tendenz der Lichtempfindungen. Sobald sie die Hand auf die Tischplatte legten, glaubten sie schon die Empfindung zu spüren, obwohl diese - wie sie genau wußten - erst entstehen konnte, wenn der Versuchsleiter den Beginn des Experiments angekündigt hatte. Die meisten Probanden baten dann, mit der Exposition der Reize zu warten, bis sich ihre Hand beruhigt habe. »Es ist, als tanzten Teufel auf meiner Handfläche«, klagte eine Versuchsperson. Ebenso deutlich tritt die perseverative Tendenz zutage: »Es ist gefährlich, die Hand wegzuziehen, wenn man eine Empfindung nur vermutet, denn dann gibt es trotzdem einen Schlag. Manchmal klappt das zwar, aber im allgemeinen ist das schwerer. Man sollte lieber die Hand auf der Taste lassen und warten, bis man die Empfindung tatsächlich spürt«, äußerte die Versuchsperson K. Die meisten Teilnehmer dieser Serie reagierten mit deutlichen Affekten auf die Versuchssituation. Jeder Fehler wurde von ihnen ausgesprochen negativ erlebt. Sie bemühten sich leidenschaftlich darum, den elektrischen Schlag zu vermeiden (obwohl die objektive Intensität des
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Reizes niemals die geringste Stromstärke übertraf, die zum reflektorischen Wegziehen des Fingers erforderlich war). Durch dieses affektive Verhältnis zum Erfolg der Aufgabe unterschied sich das Verhalten der Versuchspersonen in dieser Serie erheblich von dem in der ersten Reihe. Wir haben es hier mit der ein wenig widersinnigen Tatsache zu tun, daß die auftretenden Empfindungen trotz ihrer äußerst geringen Intensität mit starken Affekten verbunden sind. Das zeigte sich besonders deutlich in einigen weiteren Experimenten, in denen wir die bereits trainierten Versuchspersonen baten, ihren Finger auch nach der Lichteinstrahlung nicht von der Taste wegzunehmen. Die vorhandene affektartige Einstellung der Teilnehmer an unseren Experimenten zu der ihnen übertragenen Aufgabe erwies sich dabei als wesentlicher Faktor. Diejenigen Versuchspersonen, deren affektartige Einstellung zur Aufgabe besonders deutlich ausgeprägt war, erzielten objektiv die besten Ergebnisse. Wir können für unser Problem sowohl aus den objektiven Beobachtungen als auch aus den subjektiven Aussagen auf folgenden wichtigen Tatbestand schließen: Die Versuchspersonen vermögen die auf ihre Handfläche einwirkenden Lichtstrahlen nur zu empfinden, wenn sie sich auf die dadurch ausgelösten Empfindungen bewußt orientieren. Nur eine Versuchsperson, die bereits an einer sehr großen Zahl von Experimenten teilgenommen hatte, meinte, die Hände hebe sich »wie von selbst« von der Taste ab. Bei allen übrigen Teilnehmern der Untersuchung gab es entweder gar keine oder eine wesentlich geringere Anzahl richtiger Reaktionen, sobald ihre Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. Die Notwendigkeit, sich auf die eigenen Empfindungen zu konzentrieren, verlangt große Aktivität von den Versuchspersonen. Deshalb wirkten sich ungünstige Umstände, wie Unwohlsein, Ermüdung oder ablenkende Gefühlserlebnisse, negativ auf die objektiven Ergebnisse des Experiments aus. Am Ende der Reihe versuchten wir die Probanden an eine Taste mit einer pneumatischen Kamera zu führen (ähnlich wie die Apparatur von LURIJA, mit der die zugeordneten motorischen Reaktionen registriert werden). Aus dem Kymogramm ergaben sich keinerlei Anhaltspunkte für unwillkürliche Handbewegungen als Antwort auf die einwirkenden Lichtstrahlen. Wir unterstreichen diesen Tatbestand, denn aus ihm ergibt sich der zunächst noch vorläufige - Schluß: Die Empfindlichkeit gegenüber einem gegebenen Agens entsteht nicht nach der Bildung einer bedingtreflektorischen Verbindung; die aufkommende Sensibilität stellt vielmehr nur eine Bedingung für die Ausarbeitung eines bedingten Reflexes auf die einwirkenden Lichtstrahlen dar.
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Das bedeutet: Der Zustand, der subjektiv in Form einer blassen und unspezifischen Empfindung auftritt, ist kein einfaches Epiphänomen (Begleiterscheinung - Anm. des Ubers.) der bedingt-reflektorischen Prozesse, das parallel zu ihnen verläuft, aber selbst keine objektive Rolle hat. Wir möchten noch eine zweite Tatsache unterstreichen: Das Subjekt muß sich - um die von uns untersuchten Empfindungen zu erleben - im Zustand zielgerichteter Aktivität befinden, die in unseren Versuchen die eigenartige Form der inneren, »theoretischen«, forschenden Tätigkeit annahm, die nur beim Menschen möglich ist. Die objektiven Ergebnisse unserer Voruntersuchung sind in quantitativer Hinsicht ziemlich eindeutig. Es gab zwar bei keiner Versuchsperson vollkommen richtige Reaktionen (Wegziehen der Hand unmittelbar nach der Lichteinstrahlung), das setzt jedoch selbstverständlich die Aussagekraft unserer Resultate nicht herab. Die entstehenden Empfindungen sind sehr schwach, zeigen eine starke perseverative Tendenz und lassen sich schwer von anderen zufälligen Empfindungen abgrenzen. Das gilt es selbstverständlich in Betracht zu ziehen. Wir haben noch das Hauptproblem zu klären, die Frage nach dem Faktor, von dem die Möglichkeit richtiger Reaktionen abhängt, das heißt die Frage nach der Art der von uns untersuchten Empfindungen. Um dieses Problem zu klären, müßte man die technischen Bedingungen unseres Experiments grundlegend ändern und eine viel kompliziertere Apparatur schaffen. Wir wollen die Frage daher bis zur nächsten Untersuchung offenlassen und vorläufig nur annehmen, sie ließe sich positiv beantworten. Zunächst führten wir noch eine dritte Serie von Experimenten mit der gleichen Versuchsanordnung durch. Diese Reihe sollte der Klärung und der Kontrolle dienen. Wir zogen dazu die Versuchspersonen heran, die in der zweiten Untersuchung die konstantesten Ergebnisse erzielt hatten. Wir ersetzten jetzt ganz am Ende des Experiments (nach 750 Reizkombinationen bei Sam. und nach 500 Reizkombinationen bei Gur.), ohne die Versuchsperson davon zu unterrichten, das grüne durch ein rotes Lichtfilter. Dabei kamen Wir zu folgenden Ergebnissen: Versuchsperson Sam.: Bei grünem Lichtfilter 7 richtige und 0 falsche Reaktionen; am nächsten Tage bei rotem Lichtfilter 2 richtige und 1 falsche Reaktion; am Tage darauf bei rotem Lichtfilter 1 richtige und 1 falsche Reaktion. Versuchsperson Gur.: Bei grünem Lichtfilter 5 richtige und 0 falsche Reaktionen; am nächsten Tage bei rotem Lichtfilter 7 richtige und 1 falsche Reaktion. In drei weiteren Experimenten, die wir - nach einigen anderen Kontrollversuchen - eine Woche später bei rotem Lichtfilter vornahmen, ging die Zahl der richtigen Reaktionen wieder zurück.
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Das waren die objektiven Ergebnisse der Untersuchung. Nachstehend führen wir die subjektiven Daten an. Versuchsperson Sam.: Im ersten Versuch mit rotem Lichtfilter meinte Sam. nach der zweiten Darbietung des Lichtreizes (auf beide Reize war keine Reaktion erfolgt): »Warum spüre ich den Reiz nur so schlecht? Vielleicht konzentriere ich mich nicht genug. Ich möchte es noch einmal probieren.« Nach der Exposition des dritten Reizes, auf den ebenfalls keine Reaktion erfolgte, äußerte Sam.: »Ich fühlte die Einwirkung, aber nur sehr schwach. Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber das gelang mir nicht.« Beim vierten Reiz zog Sam. die Hand weg und bemerkte: »Man kann es sehr schwer erfassen. Früher war das leichter.« Danach unterlief der Versuchsperson wieder ein Fehler. , Versuchsperson Gur.: Im ersten Experiment mit dem roten Lichtfilter erfolgte auf den ersten Reiz keine Reaktion: Nach der Darbietung des zweiten Reizes, auf den ebenfalls keine Reaktion erfolgte, meinte Gur.: »Ich habe zwar eine Empfindung, aber sie ist anders als sonst. Die Vibration ist heftiger.« Auf den dritten und vierten Reiz reagierte Gur. nicht. Nach der Darbietung des vierten Reizes meinte er: »Eben wollte ich sagen, ich hätte eine Empfindung.« Auf den fünften Reiz erfolgte wiederum keine Reaktion. Auf die weiteren fünf Reize reagierte Gur. richtig. Nach dem Experiment äußerte er: »Es war doch etwas anderes. Später habe ich mich daran gewöhnt.« Das veranlaßte uns, mit diesem Probanden einige weitere Versuche durchzuführen, in denen wir eine Differenzierung zwischen dem grünen und dem roten Lichtfilter ohne vorheriges Training (»auf Anhieb«) ausarbeiten wollten. Gur. ließ zunächst drei Reaktionen aus, dann reagierte er dreimal richtig, und schließlich unterlief ihm ein Fehler. Der Proband schätzte die Einwirkung des Lichts bei grünem Filter als »anders« und »neu« ein, während er die durch ein rotes Filter fallenden Strahlen als »gewohnt« bezeichnete. Was läßt sich diesen Versuchen entnehmen? Es ist offensichtlich nur der Lichteinfall, der die Reaktionen unserer Versuchspersonen bestimmt. Der Austausch des grünen gegen ein rotes Lichtfilter konnte sich bei sonst gleichbleibenden Versuchsbedingungen nur aus zwei Ursachen auf das Ergebnis auswirken: a) Die Frequenz der Lichtstrahlen wurde verändert, b) Der Wärmeeffekt erhöhte sich. Unter den gegebenen Bedingungen kam das einer indirekten Bestätigung für die Empfindlichkeit der Haut gegenüber sichtbaren Lichtstrahlen gleich. Diese Versuche stellten uns jedoch gleichzeitig vor die Aufgabe, uns genauere Angaben über diese Erscheinung zu verschaffen. In den nächsten Experimenten nahmen wir das Lichtfilter heraus, ohne die Versuchsperson davon zu unterrichten. Sam. machte 1 Fehler und reagierte auf 9 Reize überhaupt nicht;
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ihm gelang also keine einzige richtige Reaktion. Gur. reagierte Imal richtig, machte 4 Fehler und ließ Reaktionen auf 4 Reize aus. Ebenso wie in den Versuchen mit ausgetauschten Lichtfiltern beschränkte sich Sam. auf die Bemerkung, es wolle nicht gelingen. Gur. dagegen meinte nach seiner einzigen richtigen Reaktion: »Ich habe eine intensive Empfindung, sie hat jedoch anderen Charakter.« Schließlich verwies er direkt auf die Wärmewirkung. Wir kamen damit in diesen Versuchen zu ähnlichen Ergebnissen wie beim Austausch der Lichtfilter; sie traten jedoch ausgeprägter zutage. Die Unterschiede zwischen den Versuchspersonen bestanden weiter. Gur. vermochte sowohl in diesen als auch in den vorangegangenen Experimenten die Einwirkungen genauer zu unterscheiden und gründlicher zu analysieren. Deshalb erzielte er auch bessere Ergebnisse. Wir führten mit Sam. zu Kontrollzwecken einige zusätzliche Versuche durch. Wir schalteten jetzt die Beleuchtungslampe ganz aus. Damit fehlte der Lichtreiz vor der Einwirkung des elektrischen Stroms. Obwohl das den Erfahrungen der Versuchsperson widersprach und ihrer Erwartung zuwiderlief, unternahm sie kein einziges Mal den Versuch, die Hand von der Taste wegzuziehen. »Ich habe nichts empfunden«, wunderte sie sich nach dem Experiment. In einigen der letzten Versuche mit Gur. ließen wir die Lichtstrahlen nicht auf die rechte, sondern auf die linke Handfläche wirken. Dabei erzielten wir folgende Ergebnisse: Versuch mit der rechten Hand: 6 richtige, 3 ausgelassene und 1 falsche Reaktion; Versuch mit der linken Hand (am gleichen Tage): 3 richtige, 7 ausgelassene und 1 falsche Reaktion; Versuche mit der linken Hand an den beiden darauffolgenden Tagen: 4 richtige, 7 ausgelassene und 0 falsche Reaktionen; 6 richtige, 6 ausgelassene und 0 falsche Reaktionen; Versuch mit der rechten Hand: 7 richtige, 2 ausgelassene und 1 falsche Reaktion. Die Sensibilität der Haut gegenüber Lichtstrahlen wurde demnach — das unterliegt keinem Zweifel - bei dieser Versuchsperson von der rechten auf die linke Hand übertragen. Natürlich genügen die letztgenannten Versuche nicht, um aus ihren Ergebnissen irgendwelche zuverlässigen Schlüsse zu ziehen. Sie sollten uns nur orientieren. Um diese interessanten Erscheinungen tiefer zu ergründen; unternahmen wir weitere Experimente, die den begonnenen Zyklus fortsetzten und den Inhalt unserer zweiten und dritten Untersuchung bildeten.
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IN der zweiten Untersuchung über das Entstehen der Hautsensibilität gegenüber sichtbaren Lichtstrahlen arbeiteten wir gemeinsam mit N. B. POSNANSKAJA. Ferner nahm S . J . RUBINSTEIN an ihr teil; sie führte dann einige Versuchsreihen selbständig durch. Unsere erste Aufgabe bestand darin, die Haupterscheinung - die Lichtempfindlichkeit der Haut - möglichst sorgfältig zu prüfen und zu qualifizieren. Dazu mußten die Experimente so sauber wie möglich verlaufen, wobei es galt, den Einfluß aller nebensächlichen und unvorhergesehenen Faktoren aus der Versuchssituation vollkommen auszuschalten. Ferner mußten die wichtigsten Einwirkungen genau charakterisiert und entsprechende physikalische Messungen vorgenommen werden. Schließlich mußte die Möglichkeit bestehen, die Untersuchungsmethoden zu modifizieren und Kontrollversuche anzustellen. Mit diesem Ziel bauten wir die Apparatur völlig um. Die Geräte für die Versuchsperson wurden in einem getrennten Laboratorium aufgestellt und nur durch elektrische Kabel mit dem Raum des Versuchsleiters verbunden, der am gleichen Korridor lag. Auf diese Weise wurde die Versuchsperson allen unmittelbaren Einflüssen des Experimentators entzogen. Der »Tisch«, an dem der Proband während des Experiments saß, war wie folgt ausgerüstet: An einen mittleren, höheren Teil schlössen sich nach beiden Seiten, in einiger Entfernung von der Wand, zwei vollständig geschlossene Flügel an. In jedem dieser Flügel befand sich ganz außen auf Holzschienen ein beweglicher mit einem Kondensor versehener Scheinwerfer mit einer Projektionslampe, deren Leistung 750 Watt betrug. Weiter nach der Mitte zu schloß sich je ein Wasserfilter (von 15 Zentimeter Flüssigkeitsdurchmesser), ein bewegliches Stativ mit einem Farbfilter und ein Stativ mit einer Zusatzlinse an. Unterhalb der »Tisch«platte des mittleren Teils waren Spiegel in Form eines Prismas befestigt, die die gleiche Höhe wie die von beiden Lichtquellen einfallenden Strahlen hatten. Das Winkelverhältnis der Spiegel erlaubte es, beide Lichtstrahlen zu sammeln, nach oben zu werfen und gleichmäßig auf die Öffnung in der »Tisch«platte zu verteilen, über der die Hand der Versuchsperson lag. Uber dem Prisma war nochmals ein 6 Zentimeter dickes Wasserfilter angeordnet und wieder darüber ein dickes Spiegelglas, so daß kein Luftstrom in dem Raum entstehen konnte, der sich unmittelbar utiter der Öffnung in der Tischplatte befand (Abb. 5).
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Abb. 5: Längsschnitt durdi die Versuchsvorriditung für die Versuchsperson: 1 - Beleuchtungslampe; 2 - Wasserfilter; 3 - Farbfilter; 4 - Zusatzlinse; 5 Spiegelprisma; 6 - zusätzliches Wasserfilter; 7-Trennwand aus Glas; 8 - Signallampe ; 9 - Reaktionstaste; 10 - Elektrode; 11 - Thermometer; 12 - Signalvorrichtung des Assistenten
Die geschilderte Anordnung hatte folgende Vorzüge: Wir könnten erstens zwei Strahlungsenergiequellen benutzen. Zweitens war es möglich, die Beleuchtung und den Wärmeeffekt genau zu regulieren, indem wir einmal die Abstände zu den Lichtquellen und zum anderen die Filter änderten, die die Wärmestrahlen absorbierten; wir konnten den Filtern beispielsweise Wasser zugießen oder das Wasser durdi eine Flüssigkeit mit größerem Absorptionskoeffizienten ersetzen. Auf der »Tisch«platte war wie in den früheren Experimenten eine verstellbare Taste zur Exposition des elektrischen Hautreizes angeordnet. In einem kleineren Einschnitt am vorderen Rande der Tischplatte wurde ein Thermoelement eingeführt (das Bezugselement befand sich im Dewar-Gefäß im gleichen Raum). Dadurch konnten wir jede feine Temperaturänderung des belichteten Hautabschnitts genau registrieren. Daneben war an einem Schwinghebel eine abnehmbare, nicht polarisierende Elektrode zur Messung des elektrischen Potentials und des Widerstands der Haut befestigt; die zweite Elektrode (linke Hand der Versuchsperson) wurde auf einem gesonderten Gestell angeordnet. Das Laboratorium verfügte außerdem über einen Temperaturschreiber, um die allgemeinen Veränderungen der Hauttemperatur des Probanden während der Versuche zu messen. Darüber hinaus wurde mit Quecksilberthermometern die Temperatur des Raumes und die Lufttemperatur des Bereichs ermittelt, der unmittelbar neben dem Ausschnitt in der Tischplatte lag.
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Im Blickfeld der Versuchsperson lag ein Signallämpchen. Dahinter befand sich ein Signalgerät, mit dem die Verbindung zwischen dem Assistenten und dem Versudisleiter hergestellt werden konnte. Es war durch die senkrechte Wand des Versuchstisches verdeckt. Außerdem befanden sich im Versuchsraum eine Deckenleuchte mit einem Rheostaten und einem Voltmeter und eine weitere Lampe, die vom Raum des Versudisleiters aus eingeschaltet werden konnte. Den Zweck dieser Geräte werden wir später erklären. Die Apparate im Zimmer des Versuchsleiters waren auf einem großen Tisch und an der hinter diesem liegenden Wand angeordnet. Sie bestanden aus folgenden Teilen: 1. Geräte zur Reizdarbietung: a) ein Schalter zum Einschalten des Stadtnetzes, ein Widerstand und ein Spannungsmesser zur Kontrolle der Spannungskonstanz im Stromkreis der Projektionslampen, ein Schalter für den Lampenstromkreis und ein Schalter zum Umschalten von einer Lampe zur anderen; B) ein Induktionsapparat nach Du BOIS-REYMOND, ein Schalter und eine Taste zum Auslösen des elektrischen Reizes; c) ein Schalter für die zusätzliche Beleuchtung (optischer Reiz). 2. Signalgeräte: ein Taster zum Betrieb des Signallämpchens für die Versuchsperson, eine Signaleinrichtung für die Verständigung mit dem Assistenten, ein Taster zum Unterbrechen der Signalisation (bei den Kontrollversuchen) und je ein Signallämpchen vom Taster der Versuchsperson und von dem des Assistenten. 3. Geräte zum Registrieren der Hauttemperatur der Hand: ein Gerät für den Ubergang der Leitung des Thermoelements, ein Rheostat und ein Dekadenwiderstand sowie ein Spiegelgalvanometer. 4. Geräte zur Messung des elektrischen Potentials der Haut, ihres Widerstandes und ihrer Elektroempfindlichkeit: ein Spiegelgalvanometer, ein Zeigergalvanometer, ein Spannungsmesser für Gleichspannung (geeicht in Millivolt) mit zweifacher Skala, ein Kommutator nach POHL, ferner Rheostate und Potentiometer; Umschalter der Stromkreise und Taster für die Arbeit nach einem der drei möglichen Schemata.* Die erste Serie dieser Versuchsreihe wurde im Prinzip nach der gleichen Methode wie die zweite Serie der vorangegangenen Untersuchung durchgeführt. Es gab dabei allerdings folgende Unterschiede: a) Die Zeitdauer, in der wir die Handfläche belichteten, wurde auf 30 Sekunden verkürzt, zugleich verkleinerten wir auch die Intervalle zwischen den Reizdarbietungen, die jetzt 30 Sekunden bis 3 Minuten betrugen. * Die beiden Schaltbilder zu dieser Versuchsanordnung wurden nicht mit übernommen. - Anm. der Red.
Das Problem des Entstehens von Empfindungen b) Die Verbindung zwischen Versuchsleiter und Versuchsperson wurde diesmal durch eine elektrische Signalanlage hergestellt. Der Beginn des Experiments wurde der Versuchsperson durch mehrmaliges kurzes Aufleuditen der Signallampe angekündigt. Leuchtete das Lämpchen einige Sekunden nach dem Wegziehen der Hand auf, dann bedeutete das, daß die Reaktion richtig war; flackerte es nur, dann zeigte das eine falsche Reaktion an. Nahm die Versuchsperson die Hand von der Taste, dann leuchtete automatisch die Signallampe im Zimmer des Versuchsleiters auf. Durch vereinbarte Lichtzeichen eines anderen, für die Versuchsperson unsichtbaren Lämpchens erhielt der Assistent, der sich im gleichen Raum mit dem Probanden befand, Anweisungen vom Versuchsleiter. c) Die Übungsversuche wurden durch einen Assistenten beobachtet, der etwas seitlich hinter der Versuchsperson saß, deren Verhalten registrierte und die Arbeit der Apparate verfolgte. Auf einem Schaltbrett leuchtete je nach dem Reiz, der dem Probanden dargeboten wurde, unsichtbar für diesen automatisch ein schwaches grünes oder rotes Licht auf. Während der Kontrollversuche wurde dieser Teil der Signalanlage abgeschaltet. In der ganzen ersten Serie (drei Versuchspersonen) wurden konstante Reize dargeboten; die gemessene Helligkeit der Lichtreize betrug etwa V4 Stilb, das ist wesentlich mehr als in der vorausgegangenen Versuchsreihe, und die kalorimetrischen Messungen ergaben den winzig kleinen Wärmewert von 0,006 cal. Die in dieser Versuchsserie gewonnenen Ergebnisse bestätigen die Resultate der ersten Untersuchung. Die Abbildung 6 zeigt den typischen Verlauf des Entstehens der Sensibilität bei einer Versuchsperson (in objektiven Werten). 14 12
Bekräftigte Reakttonen,
10
8 6 4 2 1
5 3
9 7
11
fbsitive Reaktionen
452 Retzkombinaticn&\/ , , У • Falsch? Reaktionen
13
29
17 15
21 19
25 23
27
31
33 37 41 45 35 39 43
Abb. 6: Versuchsperson K., Serie А
Als Beispiel führen wir das Protokoll eines der letzten Experimente mit dieser Versuchsperson an (Tab. 1).
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Tabelle 1
Versuchsperson К. Lfd. Nr., des Reizes
1 2 3 4 5
Zeitpunkt der Reizdarbietrung
3b 51'00" 54'30" 56'00" 58'30" 59'30"
2. 6.1939 Intervalle zwischen den Reizen
3'00" l'OO" 2'00" 0'30"
Fehler
0 0 0 0 0
Bemerkungen über richtige Reaktionen
Nr. 47 Bemerkungen über Die vom Beginn die Darbietung der Reizeinwirkung des elektrischen an verstrichene Zeit Hautreizes
+
27"
+ +
20" ^ 26"
+ +
Pause 6 7 8 9 10 11 12
4h 05'30" 08'00" 09'30" 11'30" 12'30" 15'00" 16'30" 18'30"
l'OO" 1'30"
о'зо" 2'00" l'OO" 1'30"
0 0 0 0 0 0 0 0
+
+ + +
29" 19" 20"
+
21"
+ +
Bemerkungen
Versudisleiter: Leontjew; Assistent: Rubinstein. Am Versuch nimmt Lebedinski teil. Die Signalanlage ist ausgeschaltet.
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Der Einfluß irgendwelcher Nebenfaktoren, die sich auf die Ergebnisse dieser Serie hätten auswirken können, war durch die Untersuchungsbedingungen auf ein Mindestmaß eingeschränkt. Der Proband war vom Versuchsleiter vollständig isoliert, so daß irgendwelche unwillkürlichen Signale von seiner Seite ausgeschlossen waren. Auch seitens des Assistenten bestand diese Möglichkeit nicht, da die Kontrolllampen auf seinem Schaltbrett ausgeschaltet waren. Darüber hinaus wurde die einzige technische Operation, die zeitlich mit der Darbietung des Hautreizes zusammenfiel, durch das Vakuum-Quecksilberrelais völlig geräuschlos vollzogen. Es waren nur noch die Momente auszuschalten, die mit der Wirkung der Lichtstrahlen selbst zusammenhingen. Wir stellten uns zunächst die Frage nach einem möglichen Einfluß der Wärme. Der von uns mit gut geeichten Geräten ermittelte Wert (wir benutzten zwei verschiedene Kalorimeter) betrug 0,006 cal und lag damit tief unter der Empfindungsschwelle. Immerhin galt es zu klären, ob sich diese Schwelle während der Versuche nicht änderte. Zu diesem Zwecke ermittelten wir gegen Ende des Experiments die Empfindungsschwelle jeder einzelnen Versuchsperson gegenüber infraroten Strahlen und erhielten dabei Ergebnisse, die im Bereich zwischen 0,06 und 0,04 cal lagen. Diese Werte waren demnach - wie erwartet - erheblich höher als die Wärmemengen, mit denen wir es in unseren Versuchen zu tun hatten. Damit war die Möglichkeit einer Reaktion auf Wärmestrahlen völlig ausgeschaltet. Wir mußten jedoch auch prüfen, ob nicht ein mittelbarer Wärmeeffekt auf der Haut durch die Umsetzung der Energie der Lichtstrahlen entstanden sein konnte. Um dieses Problem zu klären, nahmen wir weitere Messungen vor. Falls eine solche Erwärmung tatsächlich stattfand, dann konnte sie den Hautabschnitt nicht unberührt lassen, der dem bestrahlten benachbart war. Es mußte daher genügen, die Temperatur dieses benachbarten Hautabschnitts systematisch zu registrieren, um einen möglichen Wärmeeffekt zu ermitteln. Dazu wurde ein besonderes Thermoelement angefertigt und mit Hilfe einer Feder an den Rand der bestrahlten Handpartie angelegt. Da die 300 Millimeter der Skala des Spiegelgalvanometers einer Temperaturschwankung von 1,2 Grad Celsius entsprachen und wir als Maßeinheit einen Skalenabschnitt von 0,5 Millimetern benutzten, konnten wir mit einer Genauigkeit von etwa 0,005 Grad messen. Wir maßen bei verschieden großer Belichtungsintensität. Da die Hauttemperatur im Laufe des Experiments erheblich schwankte, stellten wir die Durchschnittswerte, die sich am Ende des 30 Sekunden dauernden Lichtreizes ergaben, den Durchschnittswerten gegenüber, die wir während der Intervalle zwischen den Bestrahlungen ermittelten.
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Die Ergebnisse dieser Messungen zeigten: а) Bei einer Bestrahlungsintensität, die größer als 0,10 und kleiner als 0,16 cal ist, erfolgt gesetzmäßig eine unerhebliche Erhöhung der Hauttemperatur während der Belichtung, b) Bei einer Bestrahlungsintensität, die größer als 0,06 und kleiner als 0,10 cal ist, gibt es offensichtlich keine Wärmereaktion, c) Bei einer Bestrahlungsintensität von 0,006 cal, die wir in unseren Versuchen verwendeten, unterliegt es keinem Zweifel, daß eine Wärmereaktion nicht erfolgt. Damit war eine mögliche Wärmereaktion der Haut vollständig ausgeschlossen. Diese Behauptung wird noch erhärtet durch einen Vergleich der soeben geschilderten Ergebnisse mit Angaben über die allgemeinen Schwankungen der Hauttemperatur, die wir durch systematische Messungen am Anfang, in der Mitte und am Ende des Experiments im Zentrum der bestrahlten Fläche und an den benachbarten Hautpartien ermittelten. Diese Messungen ergaben: a) Im Laufe des Experiments schwankt die Hauttemperatur der Hand ganz erheblich (bis zu 1 Grad Celsius), b) Die höchsten Werte wurden am Anfang des Versuchs gemessen, während sie in der Mitte und am Ende des Versuchs am niedrigsten waren, c) Wir stellten keine wesentlichen Temperaturunterschiede zwischen dem belichteten und dem nicht belichteten Hautabschnitt fest. Wie diese Angaben zeigen, können die beobachteten Schwankungen der Hauttemperatur nicht von der Wirkung des Lichts abhängen; zumindest wird der Effekt dieser Einwirkung völlig durch den Einfluß anderer Faktoren überdeckt. Die Hauttemperatur sinkt ganz offensichtlich, weil die Hand der Versuchsperson während des Experiments unbeweglich auf der Tischplatte liegt. In diesem Zusammenhang galt es noch zu klären, ob hier möglicherweise die Konvektionswärme eine Rolle spielt. Beim Aufleuchten der Lampe erwärmen sich zwangsläufig die umliegenden Metallteile und damit trotz der vorhandenen Ventilation auch die Luft im oberen Teil des Versuchstisches, auf dem — durch eine . Glasscheibe vom Inneren des Tisches getrennt - die Hand der Versuchsperson lag. Man konnte deshalb annehmen, der Proband reagiere auf den Wechsel der Lufttemperatur in der Versuchseinrichtung. Diese Annahme erscheint uns kaum glaubwürdig. Die Konvektionswärme breitet sich relativ langsam aus, und infolge des unrgelmäßigen Aufleuchtens der Lichtstrahlung mußte sich ein recht komplizierter Verlauf der Temperaturschwankungen ergeben; wir führten trotzdem die erforderlichen Messungen durch. Wie sich dabei herausstellte, erhöht sich die Tempreatur in der oberen Kammer des Versuchstisches (es wurden über 30 Messungen vorge-
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nommen) im Laufe des Experiments um etwa 3 Grad Celsius. Dieser Umstand ist außerordentlich wichtig. Wenn die Temperatur der Luft, die die belichtete Hautfläche umgibt, derartig stark schwankt, läßt sidi kaum annehmen, daß die Versuchsperson auf die minimale Strahlungswärme reagiert. Außerdem können - wie diese Angaben ebenfalls zeigen - die Temperaturschwankungen der Haut nicht von den äußeren Wärmeeinwirkungen abhängen (oder deren Einfluß wird völlig überdeckt), denn die Temperaturkurven der Haut und die der Luft in der oberen Kammer verlaufen in entgegengesetzter Richtung: Während die erste fällt, steigt die zweite ganz erheblich. Um zu ermitteln, inwieweit der Verlauf der Lufttemperatur an der Handfläche der Versuchsperson vom Ein- und Ausschalten des Lichts abhängt, nahmen wir 50 Minuten lang jede halbe Minute eine Messung mit einer Genauigkeit von 0,1 Grad Celsius vor. (Während dieser Zeit wurde die Beleuchtung 22mal ein- und ausgeschaltet.) Die Ergebnisse dieser Messungen zeigt die Kurve in Abbildung 7. +
Licht + Licht 0 + Г 26ß. 25,5. 25P. ?4j5. 24.0. 23.5. 2310. 22,5.
_
_
+
+
+
—
+ +
+
+ —
+++
—
+
+ ++
+
-
+
++
+-77 -70 + -72
220.
Hauten
1
3
5
7
9
13 17 21 25 29 33 37 41 45 49 11 15 19 23 27 31 35 39 43 47
Abb. 7: Kurve des Anstiegs der Lufttemperatur in der Versuchsvorrichtung
Die mit ausgezogenen Linien dargestellten Ordinaten entsprechen den 30 Sekunden andauernden Belichtungen. Wir addierten an Hand dieser Kurve die Anzahl der Fälle, in denen das Einschalten des Lichts mit einer Temperatursteigerung zusammenfiel, die Anzahl der Fälle, in denen die Temperatur beim Einschalten des Lichts gleichblieb, und die Anzahl der Fälle, in denen die Temperatur stieg, obwohl das Lidit nicht eingeschaltet wurde, und erhielten als Summen die Werte 11,10 und 12. Demnach ist es völlig ausgeschlossen, daß sich die Versuchspersonen auf die Erhöhung der Temperatur in der Versuchsanordnung orientiert haben konnten.
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In dieser Serie unternahmen wir auch Versuche, die den Einfluß der Bestrahlung auf das elektrische Potential und den elektrischen Widerstand der bestrahlten Hautfläche klären sollten. Bei längerer, intensiver Wärmebestrahlung - das war durch vorangegangene Untersuchungen (POSNANSKAJA) bereits nachgewiesen worden — nimmt der elektrische Widerstand der Haut beträchtlich ab, während der erwärmte Abschnitt zugleich positiv aufgeladen wird. Wir hielten es für zweckmäßig, diese Erscheinungen unter den Bedingungen unserer Experimente sowohl an Probanden, die an unserer Arbeit bereits teilgenommen hatten, als auch an neuen Versuchspersonen zu überprüfen. Wie unsere Experimente zeigten, veränderte sich bei einer Bestrahlung von 0,1 cal und mehr in beiden Gruppen der Hautwiderstand geringfügig; das äußerte sich in einer unerheblichen Zunahme der Stromstärke. Betrug die Einstrahlung jedoch nur 0,006 cal, dann lag eine mögliche Reaktion innerhalb des Fehlerbereichs und war daher nicht mehr gesetzmäßig nachzuweisen. In bezug auf das elektrische Potential der Haut kamen wir zu analogen Ergebnissen. Bei einer Bestrahlung von 0,006 cal konnten wir weder in der Versuchs- noch in der Kontrollgruppe irgendwelche Veränderungen des Potentials feststellen. Eingehend beschäftigten wir uns mit der Zeitspanne zwischen dem Beginn der Belichtung und dem Moment, in dem die Hand von der Taste genommen wurde. Zu Beginn der Serie schwankten diese Intervalle erheblich und ergaben relativ niedrige Durchschnittswerte. Gegen Ende der Experimente glichen sich die Unterschiede bei jeder Versuchsperson aus; gleichzeitig wurden die Intervalle länger. Beim Probanden K., bei dem diese Zeitspannen relativ am konstantesten waren, ließen sich die letzten richtigen Reaktionen bezüglich der Länge der Intervalle wie folgt einteilen: die ersten 30 Reaktionen - 16 Sekunden (durchschnittliche Zeit zwischen dem Beginn der Belichtung und dem Zeitpunkt der Reaktion), die zweiten 30 Reaktionen - 19 Sekunden, die dritten 30 Reaktionen - 20 Sekunden und die letzten 30 Reaktionen 25 Sekunden. Die durchschnittlichen Abweichungen von diesen Zeiten betrugen in der gleichen Reihenfolge: 6,3 - 6,0 - 5,0 - 2,6 Sekunden. Die letzte Zahl spricht gegen die Annahme, es könnte gegen Ende der Versuchsserie auch einige zufällig richtige Reaktionen gegeben haben, und sei deren Anzahl auch noch so gering. Eine Genauigkeit von 2,6 Sekunden bei einem durchschnittlichen zeitlichen Abstand von 2 Minuten zwischen den Reizen läßt zufällig richtige Reaktionen äußerst unwahrscheinlich erscheinen. Die Zeitspanne zwischen dem Beginn der Belichtung und der Reaktion wird - wie wir sahen - gegen Ende der Versuche nicht kürzer,
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sondern länger. Das hatten wir nicht erwartet. Eine Erklärung dafür finden wir in den Hinweisen der Versuchspersonen, deren Hauptschwierigkeit darin bestand, die gesuchte Empfindung aus einer Reihe anderer schwacher Empfindungen hervorzuheben. Das gelingt am besten, wenn man mit der Reaktion möglichst lange zögert. Diese Taktik der Versuchspersonen wird noch durch die von ihnen allmählich erworbene Fertigkeit gefördert, das Intervall zwischen dem Beginn der Lichteinwirkung und dem elektrischen Schlag, das in unseren Experimenten immer konstant war, zu schätzen. Hatte ein Proband auf einen Reiz hin nicht reagiert und war mit einem elektrischen Schlag »bestraft« worden, dann verkürzte er - wie sich aus den Protokollen entnehmen läßt - danach seine Reaktionszeit; allmählich ließ er dann die Intervalle meist wieder länger werden. Als Beispiel seien einige Angaben aus dem Protokoll Nr. 48 angeführt: Der Proband K. reagierte auf die erste Lichteinwirkung nach 27 Sekunden, auf die zweite nach 28 Sekunden; auf die dritte reagierte er nicht und äußerte: »Ich habe es nicht geschafft, die Hand wegzuziehen!« Auf die vierte Einwirkung reagierte er wieder richtig nach 21 Sekunden und auf die fünfte nach 29 Sekunden. Den folgenden Reiz ließ er wieder unbeachtet. Auf die nächsten zwei Reize reagierte er nach 25 und 26 Sekunden. Als wir die Hauptaufgabe dieser Serie im allgemeinen als erfüllt ansahen, nahmen wir abschließend - ebenso wie in der dritten Serie unserer ersten Untersuchung - einige Kontrollversuche vor, in denen wir den Einfluß des Lichts ausschalteten. Es ist begreiflich, warum solche Experimente erst am Ende einer Serie und auch nicht mit allen Probanden durchgeführt werden können: Sie rufen bei den Versuchspersonen zwangsläufig einen emotionalen Ausbruch hervor, der um so stärker ist, je gefühlsbetonter die experimentelle Situation für sie ist. Eine unserer Probandinnen weigerte sich nach einigen vermeintlichen Einwirkungen, denen ein elektrischer Hautreiz folgte, den Versuch fortzusetzen, und begründete ihre Ablehnung damit, sie könne sich nicht konzentrieren; außerdem sei ihre Hand von Schweiß bedeckt. Vollständigere Ergebnisse gewannen wir in dieser Serie dagegen bei einem zweiten Probanden. Im Gegensatz zu ähnlichen Experimenten der ersten Versuchsreihe schalteten wir in diesem Fall das Licht ein. Wir legten jedoch auf die Glasscheibe, die den oberen Teil der Versuchsanordnung abschloß, ein kleines dickes Buch, ohne daß es die Versuchsperson merkte, 40 Bis auf diese Einzelheit blieben die Bedingungen unverändert. Nach dieser Methode führten wir zwei Experimente durch, von denen jedes aus zwei Teilen bestand. Der erste Teil verlief normal; im 40
Diesen Vorschlag hat uns BLONSKI unterbreitet.
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zweiten Teil wurden die Lichtstrahlen durch das Buch abgeschirmt. Insgesamt exponierten wir 8 Reize; die im ersten Teil des Experiments gewählten Intervalle wurden im zweiten Teil genau wiederholt. In den beiden Versuchsabschnitten wurden folgende Ergebnisse erzielt: Im ersten Teil - 12 richtige, 4 weggelassene und 0 falsche Reaktionen; im zweiten Teil - 2 richtige (in einem Fall wurde die Hand infolge einer Störung im Schalter erst nach 53 Sekunden weggezogen), 13 weggelassene und 0 falsche Reaktionen (Versuchsperson K., Protokolle Nr. 66 und 67). Diese Ergebnisse bedürfen keines Kommentars.
4 Aus den Ergebnissen der ersten und der zweiten Untersuchung läßt sich folgendes entnehmen: Die Wärmeempfindungsschwellen lagen bei unseren Versuchspersonen sehr wahrscheinlich bedeutend höher als der Wärmeeffekt der Lichtwellen. Die Empfindungen, die bei den Probanden während der Experimente entstanden, gingen demnach nicht unmittelbar auf den Einfluß der Strahlungswärme, sondern offensichtlich auf den der Lichtstrahlen zurück. Es wäre die Annahme möglich, die Strahlungswärme könne vielleicht nur in Verbindung mit den Strahlen des sichtbaren Teils des Spektrums ihren Einfluß ausüben; die letzteren könnten unter Umständen katalysierend auf die Wärmeempfindlichkeit einwirken und diese bei Bestrahlung der Haut erhöhen. Demgegenüber berechtigen uns unsere experimentellen Ergebnisse zu der Behauptung, die Wärmeempfindungsschwelle sei sogar niedriger geworden. Damit könne vom Entstehen einer spezifischen Hautempfindlichkeit gegenüber den sichtbaren Lichtstrahlen nicht die Rede sein. Es wird hier ein Problem aufgeworfen, daß experimentell zu klären die Aufgabe unserer nächsten Untersuchung war. Das Problem erschien uns auch in anderer Hinsicht beachtenswert. Man interpretiert manche Erscheinungen der Sensibilität gewöhnlich als Ergebnis einer rein quantitativen Senkung der Empfindungsschwellen. Diese Erklärung erschien uns theoretisch nicht sehr befriedigend. Nach der Diskussion über die Modalität der Hautempfindlichkeit, die durch die Entdeckung des Tatbestandes der protopathischen Empfindlichkeit ausgelöst wurde, lag die Annahme nahe, die wesentliche qualitative Veränderung des Erlebens hänge mit einer quantitativen Wandlung des Prozesses zusammen. Wie uns schien, müßte es in manchen Fällen, in denen die Schwellen allmählich quantitativ absinken, zu Sprüngen kommen, die sich im Entstehen neuer objektiver Beziehungen äußern. Diese Frage, die wir im Laufe unserer Untersuchung aufwar-
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fen, half uns, in der Klärung des allgemeineren Problems einige Schritte weiter zu kommen. In der zweiten Serie dieser Untersuchung stellten wir uns - wie gesagt - die Aufgabe, das Verhältnis zwischen der Wärmeempfindlichkeit und der Reizbarkeit gegenüber sichtbaren Lichtstrahlen experimentell zu erforschen. Wir setzten zu diesem Zwecke die Intensität der Bestrahlung allmählich herab und kehrten damit zu der Methode zurück, nach der POSNANSKAJA in ihren Versuchen gearbeitet hatte. Gleichzeitig galt es, die Wirkung der beiden Faktoren Wärme und Licht voneinander zu trennen. Wir mußten dazu die Möglichkeit haben, sowohl die Intensität der von unseren Projektionslampen ausgesandten Lichtstrahlen als auch die Intensität der Strahlungswärme im Verlauf der Experimente zu verändern. Da unsere Geräte symmetrisch angeordnet waren und wir die Lage der Energiequellen und das Absorptionsvermögen der Wasserfilter ändern konnten, waren wir in der Lage, für unsere Versuche die Intensität der Licht- und der Wärmestrahlen nach einer zwölfgradigen Skala festzulegen und beide Faktoren die in Abbildung 8 dargestellten Kurven durchlaufen zu lassen.
Strahlungswärme in cal
Belichtung in vereinbarten Einheiten
Abb. 8
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Den Punkten I, II, III, IV, V, VII, VIII und IX der Skala waren fallende Werte der Belichtung und der Strahlungswärme zugeordnet; an den Punkten VI, VI A und VI B divergierten beide Faktoren in ihrer Tendenz außerordentlich stark: Die Belichtungsintensität nahm gegenüber der (fallenden) Intensität der Wärme erheblich zu. Auf der letzten Stufe war der Unterschied zwischen beiden Größen am stärksten. Die Versuchspersonen waren selbstverständlich über diesen Verlauf nicht unterrichtet. Wir arbeiteten wieder mit drei Probanden. Die Ergebnisse werden wir für jede Versuchsperson getrennt darlegen. Die ersten Experimente mit der Versuchsperson R. führten wir nach der Methode der ersten Serie durch, das heißt, wir arbeiteten mit konstanten Einwirkungen (N). Wir beobachteten im Laufe der ersten 14 Versuche nur vereinzelte richtige Reaktionen. Die Anzahl der Fehler war doppelt so groß, und in über 90 Prozent aller Fälle reagierte die Versuchsperson gar nicht. Sie äußerte, sie habe auf der Handfläche so gut wie nichts empfunden, und das wenige, was sie gespürt habe, sei völlig unklar gewesen. Vom 15. Versuch an traten wir in die oben geschilderte zweite Serie ein. Wir begannen auf der Stufe II unserer Skala. Die Versuchsperson reagierte dreimal hintereinander richtig, so daß wir es am gleichen Tage noch mit der Stufe III versuchten (0,102 cal). Am dritten Tage boten wir den Reiz IV dar (0,064 cal). Nachdem die Versuchsperson vier Tage lang richtig darauf reagiert hatte, bemühten wir uns, sie auf die Stufe V zu bringen, mußten jedoch wieder zur Stufe IV zurückkehren. Erst im neunten Experiment war wieder ein Erfolg bei dieser Strahlungsintensität zu verzeichnen. Die Wärmeempfindungsschwelle war bei dieser Versuchsperson auf den wesentlich niedrigeren Wert Q = 0,045 cal zurückgegangen. Das erscheint widersinnig; die gleiche Erscheinung wurde jedoch auch bei anderen Versuchspersonen beobachtet. Wir versuchten sie zunächst auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Veränderung der Wärmeempfindungsschwellen auf einer offenen Apparatur gemessen wurde (die Schwankungen der auf die Hand wirkenden Konvektionswärme hätten die Versuchsperson stören können); am Ende der Experimente neigten wir einer anderen Erklärung zu, auf die wir später noch zurückkommen werden. Die Aussagen der Versuchsperson waren ziemlich bestimmt: »Ich empfinde Wärme«, meinte sie zu Beginn der Serie. Erst in den Versuchen mit dem Reiz IV fügte sie plötzlich hinzu: » . . . und auch etwas Rauhes.« Der dreizehnte Versuch zeitigte zufriedenstellende Ergebnisse mit dem Reiz V (0,049 cal). Wir führten deshalb den zweiten Teil des Experiments mit dem Reiz VI (0,034 cal) durch und senkten dazu die
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Wärmeintensität um 30 Prozent, während wir die Belichtung um 70 Prozent erhöhten. Das Ergebnis war positiv. Auf die Frage des Versuchsleiters: »Was empfanden Sie, als Sie im ersten Teil des Experiments die Hand wegzogen?« antwortete die Versuchsperson: »Zunächst empfand ich Wärme, dann etwas Ähnliches wie eine Berührung.« Auf die gleiche Frage erhielten wir im zweiten Teil des Versuchs die Antwort: »Ich spürte das gleiche, die Empfindungen erschienen mir jedoch stärker« (Protokoll Nr. 14). Diesem kritischen Versuch folgten weitere Experimente mit den* Reiz VI (0,034 cal), dessen Belichtungsintensität sehr gering war. Ein zufriedenstellendes Ergebnis wurde erst beim 25. Versuch, nach 10 Übungstagen, erzielt. Charakteristisch war der Hinweis des Probanden beim letzten Experiment mit diesem Reiz: »Früher empfand ich Wärme. Jetzt ist das etwas anderes..., etwa wie eine leichte Berührung« (Protokoll Nr. 25). Die Stufe VII umfaßte 7 Versuche, die Stufe VIII 3 und die Stufe IX insgesamt nur 2 Versuche. Wir gingen demnach gegen Ende des Experiments wieder - wie am Anfang - rascher vor. Um den Verlauf aller Versuche zu analysieren, müssen wir zunächst in Betracht ziehen, daß die Art der Reize am Ende der Skala erheblich mehr als auf den mittleren Stufen voneinander abwich (die Intensität der Strahlungswärme nahm erheblich ab, während die Belichtungsstärke beinahe konstant blieb). Der Übungsprozeß war demnach im ersten Teil der Skala offensichtlich vom Verlauf der Strahlungswärme und nach den kritischen Graden (V, VI) von der Belichtung abhängig. Mit anderen Worten: Die Reaktionen der Versuchsperson wurden zu Beginn der Serie von der Wärmeempfindlichkeit und im zweiten Teil der Serie von der Sensibilität gegenüber den sichtbaren Lichtstrahlen bestimmt. Dieser Schluß wird durch das zweite kritische Experiment vollauf bestätigt, bei dem die Versuchsperson von der Stufe IX zur Stufe N übergehen sollte. Diese letzte Stufe (es sei daran erinnert, daß sie den konstanten Bedingungen der ersten Serie entspricht) unterscheidet sich von den vorherigen insofern, als jetzt die Strahlungswärme erheblich vermindert wird (von 0,011 auf 0,006 cal), während der Belichtungsgrad wesentlich (um das Mehrfache) gesteigert wird. Hingen die Reaktionen der Versuchsperson auch jetzt noch vom WärmeefFekt ab, dann müßte die Anzahl der richtigen Reaktionen beim Ubergang zur Stufe N abnehmen. Ist dagegen unsere Schlußfolgerung richtig, das heißt, orientiert sich die Versuchsperson auf die Lichteinwirkung, dann darf ihr der Ubergang zur Stufe N keine Schwierigkeiten bereiten. Beim ersten Versuch nach den Experimenten mit dem Reiz IX wurden folgende Ergebnisse erzielt: 6 richtige, 4 weggelassene und 1 falsche
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Reaktion. Zweiter Versuch: 8 richtige, 4 weggelassene und 1 falsche Reaktion. Die beiden Versuche sind in Abbildung 9 dargestellt. Beginn der Versuche (erste Serie)
13 11 -
9
Ende der Versuche (Rückkehr zur ersten Serie) A Bekräftigte /\Reaktionen
Bekräftigte Reaktionen
/
.
\L
7 . 5 _ 3 _ 1_
л
I! \Falsche i \ Reaktionen I ^ \ Fbsitive Reaktionen
у Falsche A Reaktionen
/ \
Г , V \ Y i 23.HL 27/ff. 31.UI. 2.1V. 4M 7Ж 3./V 8.1V. 10.1V. 14.1V. 1 26.111. 29Ж UV. Ж S.W. 4M 9.1V. 13.1V. 15.1V. Abb. 9: Erste Serie, Versuchsperson R.
Nach dem ersten Experiment mit dem normalen Reiz äußerte sich die Versuchsperson wie folgt: Versuchsleiter: »Aus welchem Anlaß ziehen Sie die Hand weg?« Versuchsperson R.: »Ist die Hand feucht, dann ist mir, als würde sie plötzlich trocken. Ist sie nicht feucht, dann spüre ich etwas wie eine Berührung und dann einen leichten Luftstrom. Damals, vor einem Monat, war die Empfindung anders, sie war deutlicher. Mitunter habe ich sie sofort gespürt.« Audi beim zweiten Probanden (Midi.) führten wir die Versuche zunächst mit dem Reiz N (Reiz der ersten Serie) durch. Nach 12 Experimenten hatten wir insgesamt folgende Ergebnisse erzielt: 6 richtige, 22 falsche und 112 weggelassene Reaktionen. Vom 13. Versuch an exponierten wir die Reize der zweiten Serie. Schon während des ersten Experiments wurde auf Anhieb die Stufe II erreicht. Bei den Reizen der Stufe III bedurfte es eines achttägigen Trainings, obwohl die Wärmeempfindungsschwelle dieses Probanden um die Hälfte niedriger war als die dargebotene Wärmemenge. (Wir beobachteten diese Erscheinung auch bei der Versuchsperson R.)
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Die Stufe IV (0,064 cal) wurde nach 3 weiteren Experimenten erreicht. Die Stufe V (0,049 cal; dieser Wert entspricht etwa der Empfindungsschwelle) bereitete dem Probanden erneut Schwierigkeiten. Die ersten zufriedenstellenden Ergebnisse mit diesem Reiz erzielten wir erst während des 11. Versuchs. Danach gingen wir sofort zu dem kritischen Experiment über. Wir stellten uns dabei die Aufgabe, in diesem Abschnitt, in dem die Kurven unserer Skala am stärksten voneinander abwichen, möglichst eindeutig zu ermitteln, inwiefern die Reaktionen der Versuchsperson vom Verhältnis der uns interessierenden Momente abhingen. Dazu bedienten wir uns der Methode der Rückkehr zum vorangegangenen Reiz (Wechsel der Reize). In dem Versuch, der den Experimenten mit dem Reiz V folgte, exponierten wir zunächst den Reiz VI und im zweiten Teil dieses Versuchs den Reiz VI A . Nachstehend seien die Ergebnisse dargelegt: Erster Teil des Versuchs (0,037 cal, Belichtungsgrad 24 - von uns vereinbarte Einheiten): 1 richtige, 7 weggelassene und 4 falsche Reaktionen. Zweiter Teil (0,034 cal, Belichtungsgrad 36): 5 richtige, 5 weggelassene und 2 falsche Reaktionen. Damit nahm auch bei diesem Probanden - wie bei der Versuchsperson R. - die Anzahl der richtigen Reaktionen zu, sobald der Wärmeeffekt herabgesetzt und der Belichtungsgrad erhöht wurde (Protokolle Nr. 24 und 25). Im zweiten Versuch mit dem Reiz VI A wurden noch eindeutigere Ergebnisse erzielt: 6 richtige, 4 weggelassene und 1 falsche Reaktion. Wir exponierten daraufhin wieder den Reiz VI. Resultat: 1 richtige, 11 weggelassene und 2 falsche Reaktionen. Sobald demnach der Wärmeeffekt erhöht und der Belichtungsgrad vermindert wurde, nahm bei dieser Versuchsperson die Anzahl der richtigen Reaktionen ab und die der Fehler zu. Wir wiederholten den Versuch zum dritten Male: Zunächst unternahmen wir zwei Experimente mit dem Reiz VI, in denen die Ergebnisse noch deutlicher als vorher waren, und ließen einen Versuch mit dem Reiz VI A folgen. Jetzt reagierte der Proband 5mal richtig und machte keinen einzigen Fehler (Protokoll Nr. 30). Der zuvor festgestellte Unterschied blieb demnach nicht nur bestehen, sondern vertiefte sich noch. Daraus folgt: Einwirkungen, deren Wärmeeffekt gesteigert und deren Belichtungsgrad vermindert wird, wirken sich auf die Sensibilität des Probanden negativ und nicht positiv aus. Aus den angeführten Ergebnissen könnte man auch einen anderen Schluß ziehen: Da bei der Rückkehr vom Reiz VI A zum Reiz Vl sich nicht nur der Belichtungsgrad verringert, sondern auch die Wärmeintensität ein wenig zunimmt, könnten die schlechten Ergebnisse auf das
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letzte Moment zurückgehen. Die Wärmestrahlen - könnte man annehmen - haben eine negative Wirkung. Um diese Annahme zu überprüfen, führten wir einen vierten Kontrollversuch durch: Wir verminderten den Belichtungsgrad und setzten zugleich auch den Wärmeeffekt erheblich (auf 0,023 cal) herab (Reiz VII). Die Ergebnisse waren negativ: 3 richtige, 9 weggelassene und 4 falsche Reaktionen. Im nächsten Versuch, in dem wir sowohl den Belichtungsgrad als auch den Wärmeeffekt erhöhten (Reiz VI B - 0,029 cal), erzielten wir eindeutig positive Ergebnisse (Protokoll Nr. 32). Diese Resultate sprechen gegen die oben formulierte Annahme. Es läßt sich eher auf das umgekehrte Verhältnis schließen: Die Lichtstrahlen setzen - wie wir schon sagten - die Wärmeempfindlichkeit des Probanden herab. Das zeigte sich besonders deutlich in den Experimenten mit dem dritten Probanden (Mus.). Bevor wir die Resultate dieser Versuche schildern, wollen wir einige Äußerungen zitieren, in denen der zweite Proband Mich, die Ergebnisse seiner Selbstbeobachtungen während der oben geschilderten Experimente wiedergab: Versuchsleiter: »Was empfinden Sie, bevor Sie die Hand wegziehen?« Versuchsperson Mich.: »Ich empfinde Wärme. Diese Empfindung ist jedoch nicht immer gleich. Einmal ist sie deutlich spürbar, und am nächsten Tage weiß ich nicht, ob es Wärme ist oder nicht. Heute hatte ich einige Zweifel. Ich fühlte die Wärme nicht deutlich. Einmal zog ich die Hand weg, ein anderes Mal ließ ich sie liegen« (Protokoll Nr. 32). Es sei daran erinnert, daß die Versuchspersonen über die Veränderung der Reize nicht unterrichtet wurden. In dem Experiment, auf das sich die zitierten Äußerungen beziehen, reagierte der Proband 5mal richtig und machte keinen einzigen Fehler. Wir wollen nunmehr die Experimente mit der Versuchsperson Mus. schildern. Auch mit diesem Probanden gingen wir nach dem 12. Experiment zur zweiten Serie über und begannen mit dem Reiz II. In den nächsten vier Tagen wurden die Stufen III und IV durchlaufen, und schon im 6. Versuch kamen wir zur kritischen Stufe V. Wie eine anschließende Messung ergab, lag die Wärmeempfindungsschwelle dieses Probanden zwischen 0,06 und 0,05 cal; sie lag demnach etwa im Bereich der Strahlungswärme des Reizes V (0,049 cal). Die Ergebnisse des 1. Versuchs mit diesem Reiz entsprachen unseren Erwartungen: 4 richtige Reaktionen und 0 Fehler. Auch im nächsten Experiment wurden noch positive Resultate erzielt: 4 richtige Reaktionen und 2 Fehler. Der 3. Versuch zeitigte etwas schlechtere Ergebnisse: 3 richtige und 2 falsche Reaktionen (wir vermuteten zunächst, es handle sich um einen Zufall). Beim 4. Versuch registrierten wir wieder zufriedenstellende Ergebnisse: 5 richtige Reaktionen und 2 Fehler.
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Da der Proband auf die letzten 5 Reize richtig reagiert hatte, hätten wir ihn auf die nächste Stufe führen können. Um jedoch unsere Vermutung zu überprüfen, entschlossen wir uns, die Experimente mit dem kritischen Reiz V fortzusetzen. Beim 5. Versuch erhielten wir wieder positive Ergebnisse, und zwar die besten in dieser Serie: 7 richtige, 3 weggelassene Reaktionen und 0 Fehler. Im nächsten Experiment ging die Anzahl der richtigen Reaktionen wieder erheblich zurück. Wir registrierten nur 2 richtige Reaktionen; im 7. Versuch erhielten wir 3 richtige und 2 falsche Reaktionen. Im 8. Versuch wurden wieder gute Ergebnisse erzielt: 7 richtige Reaktionen und 0 Fehler. Im 9., 10. und 11. Experiment waren die Ergebnisse wieder negativ. Diese Schwankungen waren kaum auf Zufälle zurückzuführen. Wir zogen die Versuchsergebnisse der anderen Probanden zum Vergleich heran und vermuteten die Ursache dieser Erscheinung schließlich im widersprüchlichen Charakter des Reizes, bei dem die Wirkung der Licht- und die der Wärmestrahlen in antagonistischem Verhältnis zueinander standen. Von dieser Annahme ausgehend, versuchten wir zu noch eindeutigeren Ergebnissen zu kommen, indem wir abwechselnd Reize wirken ließen, bei denen einer noch stärkeren Lichtintensität ein noch geringerer Wärmeeffekt gegenüberstand. Die oben angedeutete absteigende Tendenz in der Qualität der Versuchsergebnisse setzte sich fort, und zwar in deutlich ausgeprägter Form. Das erste Experiment mit dem Reiz VI B brachte negative Ergebnisse. Die Rückkehr zum Reiz V (13. und 14. Versuch auf dieser Stufe) zeitigte zunächst unbefriedigende Resultate, die aber allmählich besser wurden. Im zweiten Experiment mit dem Reiz VI B , in dem wir zunächst zum Reiz VI und danach zum Reiz V zurückkehrten, nahm die Anzahl positiver Reaktionen erheblich ab: 3 richtige Reaktionen, 4 Fehler und 0 richtige Reaktionen; 2 richtige und 2 falsche Reaktionen; 1 richtige und 1 falsche Reaktion. Im dritten Experiment mit dem Reiz VI B registrierten wir, sobald wir zum Reiz V zurückkehrten, keine einzige richtige Reaktion mehr. »Ich empfinde nichts«, äußerte die Versuchsperson. Wir waren deshalb gezwungen, noch am gleichen Tage den Reiz IV zu exponieren. Ergebnis: 1 richtige Reaktion. (Es sei daran erinnert, daß der Proband zu Beginn der Serie auf diesen Reiz sofort 6mal richtig reagiert hatte und ihm kein einziger Fehler unterlaufen war.) Aus diesem Grunde gingen wir am gleichen Tage noch eine Stufe, zum Reiz III, zurück. Wir ließen diesen Reiz 5mal einwirken. Der Proband reagierte kein einzi-
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ges Mal richtig. Erst beim Reiz II waren die Ergebnisse wieder positiv. Im ersten Versuch mit diesem Reiz registrierten wir 4 richtige Reaktionen und 0 Fehler, im zweiten Versuch 9 richtige Reaktionen und 1 Fehler (Protokolle Nr. 32 und 33). Die Stufe II bildete den Ausgangspunkt unserer Untersuchung; keine unserer Versuchspersonen hatte eines besonderen Trainings bedurft, um sie zu erreichen. Alle Probanden hatten - das läßt sich aus ihren Äußerungen entnehmen - in den Versuchen mit diesem Reiz eine deutlich ausgeprägte Wärmeempfindung, auf die sie reagierten. Es erschien uns deshalb wenig wahrscheinlich, daß sich die Sensibilität unserer Probanden noch weiter verschlechtern würde; wir setzten unsere Versuche mit abwechselnder Exposition der Reize dennoch fort. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die Sensibilität des Probanden ging noch weiter zurück. Das 36. Experiment mit dem Reiz II ergab 5 richtige Reaktionen und 2 Fehler. Im 37. Versuch zählten wir 2 richtige Reaktionen und 2 Fehler; im 38. Experiment 6 richtige Reaktionen und 3 Fehler. Im 39. Versuch registrierten wir schließlich nur 1 richtige Reaktion und 1 Fehler. Im Laufe des letzten Experiments erhöhten wir aus Kontrollgründen den Wärmeeffekt sehr stark; wir gingen unmerklich zum Reiz mit der größten Wärmeintensität über. Auf diese 5 Reize reagierte der Proband richtig. Die Empfindlichkeit der Versuchsperson gegenüber den von uns exponierten Strahlenkombinationen lag demnach am Ende der sich über einen Zeitraum von etwa zweieinhalb Monaten erstreckenden Versuche erheblich niedriger als zu Beginn der Serie. Geht diese Tatsache auf eine allgemeine Verminderung der Hautempfindlichkeit zurück, die nicht vom Verlauf unserer Experimente abhängt, oder handelt es sich hier um eine spezifische Erscheinung? Um die erste Frage zu beantworten, führten wir anschließend zwei Versuche mit infraroten Strahlen durch. Die dabei erzielten Ergebnisse waren völlig normal: Auf den Reiz von 0,058 cal und - nach einem kurzen Training - von 0,053 cal wurde fehlerlos reagiert. Bei Versuchen mit geringeren Wärmemengen erzielten wir negative Ergebnisse. Danach exponierten wir wieder den Reiz II und registrierten im ersten Experiment 5 richtige Reaktionen und 1 Fehler, im zweiten Experiment 4 richtige Reaktionen und 0 Fehler (Protokolle Nr. 42 und 43). An dieser Stelle brachen wir die Arbeit mit diesem Probanden ab. Der stark sinkenden Sensibilität müssen offenbar irgendwelche komplizierten funktionalen Zusammenhänge zugrunde liegen. Wir wollen zunächst annehmen, sie seien auf eine zunehmende hemmende Wirkung der sichtbaren Strahlen auf die Wärmeempfindlichkeit zurückzuführen. Aus dem Vergleich und der Analyse der in dieser Serie ermittelten Daten lassen sich folgende Schlüsse ziehen:
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1. Die bei den Versuchspersonen entstehenden Empfindungen haben ihre Ursache nicht in einem Absinken der Wärmeempfindungsschwelle; diese weist, im Gegenteil, sogar eine steigende Tendenz auf, sondern hängen spezifisch mit der Wirkung der Lichtstrahlen zusammen. 2. Die erhöhte Sensibilität in den Experimenten, in denen wir die Strahlungsintensität allmählich verminderten, ist das Ergebnis eines qualitativ neuen Prozesses, der sich auf einer bestimmten, kritischen Stufe (echte Wärmeempfindungsschwelle) bildet und der objektiv einer anderen Qualität (Seite) des einwirkenden Reizes entspricht; die bei den Versuchspersonen aufkommende neue subjektive Qualität der Empfindung ist nicht unabhängig von der Veränderung der Qualität der objektiven Einwirkung, sondern spiegelt diese Veränderung adäquat wider.
5 An dieser Stelle sei auf die von S. J. RUBINSTEIN durchgeführten Versuche eingegangen, die eine kleine Serie für sich darstellen. Sie verfolgten das Ziel, unter vollkommeneren experimentellen Bedingungen als in unserer ersten Voruntersuchung zu überprüfen, ob die Versuchspersonen in der Lage sind, Lichtstrahlen zu differenzieren. In dieser dritten Serie wurde die Methode etwas abgewandelt. Die Probanden erhielten während der ersten Versuche alle zwei Minuten ein Vorsignal, nach dem der Experimentator den gewöhnlichen Reiz entweder sofort 30 Sekunden lang exponierte oder bis zum nächsten Vorsignal nicht einwirken ließ. Die Versuchsperson sollte wie in den vorangegangenen Experimenten die Hand von der Taste nehmen, sobald sie die Einwirkung des Reizes empfand. Es bestanden folgende Möglichkeiten: a) Der Proband zieht bei Einwirkung der Lichtstrahlen die Hand weg (positive richtige Reaktion), b) Der Proband zieht die Hand weg, obwohl kein Reiz exponiert wird (falsche Reaktion), c) Der Proband zieht, da kein Reiz wirkt, seine Hand nicht weg (negative richtige Reaktion), d) Der Proband zieht die Hand nicht weg, obwohl der Reiz dargeboten wird (ausgelassene Reaktion). In diesen Experimenten wurde wieder mit drei Versuchspersonen gearbeitet. Zwei von ihnen hatten bereits an der ersten Serie teilgenommen, die dritte kam neu hinzu. Wie diese Daten zeigen, erzielten die Versuchspersonen unter den angegebenen Bedingungen sofort eindeutig positive Ergebnisse. Die beim Probanden K. registrierten Resultate sind in der nachfolgenden Tabelle zusammengestellt.
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Probleme der Entwifklurig des Psychischen Tabelle 2
Lfd. Nr. des Protokolls
Gesamtzahl der Intervalle
49/1 50/2 52/3 54/4 56/5 59/7 60/8 61/11 62/13 63/14 64/1.5 65/16
20 20 18 9 14 20 11 21 18 19 15 15
Anzahl der Fehler
5 — — —
1 1 — —
1 — —
Anzahl der richtigen Reaktionen in absoluten Zahlen
in Prozenten
15 10 14 7 10 14 14 18 14 16 13 13
75 50 78 78 71 70 88 86 80 84 87 87
Besonders auffällig ist hier die außerordentlich niedrige Anzahl falscher Reaktionen. Es wurden insgesamt nur 8 Fehler gezählt; das sind weniger als 4 °/o. Auch die zweite Versuchsperson kam in diesen Experimenten auf recht gute Ergebnisse. Ihre Reaktionen waren zu 72 % richtig und nur zu 12 «/о falsch. Der dritte Proband, der an den Versuchen der ersten Serie nicht teilgenommen hatte, erzielte Ergebnisse, wie sie bei einem Training üblich sind; in den ersten 15 Experimenten wurden die Werte registriert, die nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu erwarten waren. Danach erhöhte sich die Anzahl seiner richtigen Reaktionen allmählich. Da wir die ersten Versuche mit diesem Probanden aus Zeitgründen nicht zu Ende führen konnten, wurde er zu den Hauptexperimenten nicht mit herangezogen. Diese Hauptexperimente (kritische Versuche) wurden nach der gleichen Methode wie die Ubungsversuche durchgeführt. Die Probanden wurden jedoch - und darin bestand der Unterschied gegenüber den oben geschilderten Versuchen - vor dem Experiment darüber unterrichtet, man werde ihre Handfläche entweder mit rotem oder mit grünem Licht bestrahlen, und sie müßten lernen, beide Einwirkungen voneinander zu unterscheiden. In beiden Fällen wurden die Reize wie gewöhnlich mit einem elektrischen Hautreiz gekoppelt. Ein Teil der Experimente wurde bereits neben den Übungsversuchen, ein Teil erst danach durchgeführt.
Das Problem des Entstehens von Empfindungen
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Um den Unterschied im Wärmeeffekt auszuschalten, wurden die neuen Reize dem normalen Agens gleichgesetzt, indem den entsprechenden Wasserfiltern eine Lösung zugefügt wurde. Dabei sollte der Zeiger eines empfindlichen Galvanometers, das mit einem im Ausschnitt der Tischplatte befestigten Thermoelement verbunden war, keine merklichen Ausschläge beim Umschalten der Lichtquellen aufweisen (EMK pro Grad С = 75 ^V). Wir wollen nun die Daten betrachten, die in den Experimenten mit dem ersten Probanden ermittelt wurden. Zu Beginn wurden die verschiedenen Reize einige Male exponiert und die Versuchsperson darüber unterrichtet, welches Licht gerade eingewirkt habe. Nachstehend geben wir das Protokoll des ersten Kontrollversuchs wieder (Tab. 3). Tabelle 3 Versuchsperson K. Lfd. Nr. Zeitpunkt der Reizdes Reizes darbietung
6. 9.1939
Reiz
Nr. 54/4 (Kontrollversudi)
Zeit vom BeResulBeginn der kräftitat Darbietung gung
1 2 3 4
ЗЗ'ОО" 34'30" Зб'ОО" 37'30"
grün rot rot grün
+ + + +
29" 28" 25" 28"
5 6
39'30" 42'30"
grün rot
+ +
29" 28"
7 8 9 10
44'00" 45'30" 47'00" 48'30"
rot grün grün rot
+
—
+ — —
28"
+ +
Hinweise der Versuchsperson
»Grünes Licht!« »Rotes Licht!« »Rotes Lidit!« »Grünes Licht; ich habe richtig reagiert.« »Grünes Lidit!« »Das grüne Lidit fühlt man besser. Diesen Reiz empfinde ich nicht so stark. Es ist also rotes Licht.« »Ich weiß nicht!« »Grünes Lidit!« »Ich weiß nicht!« »Ich weiß nicht!«
Wie aus dem Protokoll hervorgeht, waren die Ergebnisse dieses Experiments recht gut: 7 richtige, 3 weggelassene Reaktionen und 0 Fehler. Der zweite, analog aufgebaute Kontrollversuch zeitigte weniger zufriedenstellende Ergebnisse: 5 richtige, 2 weggelassene Reaktionen und 3 Fehler (13.6.1939, Protokoll Nr. 56/6).
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Danach führten wir mit dem Probanden sieben Übungsversuche mit jedem Reiz für sich durch und gingen anschließend zum dritten Kontrojlversuch über. In diesem Experiment (Protokoll Nr. 62/12) wurde die Versuchsperson vor die Aufgabe gestellt, sich zwischen drei Möglichkeiten - keine Einwirkung, rote Strahlen und grüne Strahlen - zu entscheiden. Die in diesem Versuch gewonnenen Daten sind wieder eindeutig: Es wurde 8mal grünes Licht, 7mal rotes Licht exponiert und 7mal kein Reiz dargeboten. Beurteilen wir nur, ob der Proband zwischen einwirkenden und nicht einwirkenden Strahlen zu unterscheiden vermochte, dann kommen wir zu folgenden Ergebnissen: 18 richtige, 3 weggelassene Reaktionen und 1 Fehler. Bei diesem Fehler äußerte die Versuchsperson: »Ich nehme an, es ist rotes Licht, aber es wirkt sehr schwach.« Beurteilen wir darüber hinaus, inwiefern der Proband zwischen beiden Reizen unterschied, dann lautet das Ergebnis wie folgt: Von der Gesamtzahl der richtigen Reaktionen, die 12 betrug (15 Lichteinwirkungen minus 3 weggelassene Reaktionen), vermochte die Versuchsperson 7mal die richtige Farbe zu nennen; 2mal wußte sie nicht, welcher Reiz einwirkt, und 2mal gab sie eine falsche Antwort. Über eine Reaktion sind wir uns nicht ganz klar. Als das rote Licht exponiert worden war, hatte die Versuchsperson eine richtige Antwort gegeben. Danach wurde grünes Licht dargeboten. Die Versuchsperson meinte: »Ich empfinde etwas, aber es ist nicht das gleiche.« Sehen wir diese Antwort als richtige Differenzierung an (d. h. fassen wir die Worte in dem Sinne auf: »Es wirkt Licht, aber kein rotes!«), dann erhöht sich die Anzahl der richtigen Reaktionen auf 8. Zu annähernd gleichen Ergebnissen kamen wir bei der zweiten Versuchsperson. Die Gesamtzahl der Übungen betrug 21; davon wurde 9mal kein Reiz, 5mal grünes Licht und 7mal rotes Licht dargeboten. Die Gesamtzahl der richtigen Reaktionen betrug 11 (auf 1 Reiz erfolgte keine Antwort). Davon konnte die Versuchsperson 6mal die richtige Farbe nennen, 2mal wußte sie nicht, welcher Reiz einwirkt, und 2mal gab sie eine falsche Antwort (Protokoll Nr. 65/6 vom 16. 6.1939). Wegen der Ferien konnten wir - wie bereits erwähnt - die Versuche mit dem dritten Probanden nicht fortsetzen. Das erschien uns auch überflüssig, denn die mit den beiden ersten Versuchspersonen ermittelten Daten genügten uns, um die Differenzierung von Reizen als Methode für eine weitere Untersuchung (vierte Untersuchung) zu übernehmen. Die Ergebnisse der soeben geschilderten Versuchsserie wurden in einem anderen Laboratorium gesondert überprüft. Um auf das Problem der Differenzierung zwischen roten und grünen Lichtstrahlen später nicht noch einmal zurückkommen zu müssen, wollen wir bereits jetzt darauf verweisen, daß die Versuchspersonen in
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der vierten Untersuchung von Anfang an gezwungen waren, zwischen roten und violetten Lichtstrahlen zu unterscheiden, wobei sie nicht einmal über den allgemeinen Charakter der einwirkenden Reize unter- J richtet wurden. Wie die Daten dieses Versuches zeigen, ist diese Differenzierung tatsächlich möglich. Sowohl in der vierten Untersuchung als auch in der soeben geschilderten Serie wurden die Reize im Hinblick auf die Intensität der Strahlungswärme einander angeglichen. Auf Grund welcher Eigenschaften wurden sie differenziert? Ziehen wir auf der einen Seite die Rolle der Belichtung beim Entstehen der Empfindungen in Betracht und vergegenwärtigen wir uns auf der anderen Seite die Hinweise der Versuchspersonen (»Ich glaube, es ist rotes Licht, denn die Empfindung ist sehr schwach!« - »Das rote Licht wirkt schwächer!«), in denen vor allem die quantitativen Unterschiede betont werden, dann läßt sich folgendes annehmen: Den Hauptanteil an der Möglichkeit, die Reize zu differenzieren, hat nicht die Frequenz, sondern der unterschiedliche Belichtungsgrad. Um die Richtigkeit dieser Annahme zu überprüfen, hätte es einer besonderen Untersuchung bedurft. Da es sich hier um eine spezielle Frage handelt, die für unser Problem von nebensächlicher Bedeutung war, erschien es uns überflüssig, die erforderlichen schwierigen und exakten Messungen vorzunehmen und die Reize in zweierlei Hinsicht, das heißt im Hinblick auf ihren Wärmeeffekt und auf ihren Belichtungsgrad, einander anzugleichen. Wir begnügten uns deshalb mit der Feststellung, daß es möglich ist, die auf die Haut einwirkenden sichtbaren Lichtstrahlen zu differenzieren. Wir verzichteten darauf, diese Erscheinung weiter zu analysieren und näher zu bestimmen. Bevor wir den Inhalt unserer dritten Untersuchung darlegen, wollen wir versuchen, die bisherigen Ergebnisse zusammenzufassen: Die beiden von uns durchgeführten Arbeiten verfolgten das Ziel, experimentell die grundlegende Tatsache zu belegen, daß mit Hilfe der Haut, die normalerweise keine optischen Reize aufnimmt, Empfindungen gegenüber sichtbaren Lichtstrahlen zustande kommen können. In unseren Experimenten, in denen jede Möglichkeit ausgeschaltet war, auf die Strahlungs- und Konvektionswärme zu reagieren, verfolgten wir außerdem die Abhängigkeit der durch das Licht ausgelösten Empfindungen von den objektiven Zusammenhängen der einwirkenden Strahlungsenergie. Eine Reihe von Kontrollversuchen dienten schließlich der Aufgabe, die Rolle des untersuchten Reizes herauszugliedern. Die Ergebnisse dieser Arbeiten berechtigen uns, das Entstehen einer Sensibilität gegenüber sichtbaren Lichtstrahlen als gesicherte Tatsache anzusehen, die selbstverständlich noch weiterer Untersuchungen bedarf. Die Anzahl der Versuchspersonen war verhältnismäßig gering, weil die Versuche sehr kompliziert waren und viel Zeit beanspruchten (für
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jeden Zyklus waren 70 bis 90 Tage erforderlich). Dieser Nachteil glich sich jedoch weitgehend aus, da sich die im Laufe der gesamten Arbeit gewonnenen Ergebnisse deckten. Wir stellten die entstehende Hautempfindlichkeit gegenüber den Lichtstrahlen in unseren Untersuchungen (die Arbeit von POSNANSKÄJA nicht mitgerechnet) bei 16 Probanden fest. Sie trat allerdings nicht bei allen Versuchspersonen im gleichen Maße zutage, und bei 5 Probanden blieben die Experimente erfolglos. Die Eigenart der Empfindungen, die während der geschilderten Versuche bei unseren Probanden entstanden, läßt sich wie folgt kennzeichnen: 1. Diese Empfindungen sind sehr schwach und recht unbeständig. Sie zeigen starke perseverative Tendenz und verschwinden - wie wir uns überzeugen konnten - sehr rasch, sobald der Versuchszyklus unterbrochen wird. 2. Die geschilderten Empfindungen sind eindeutig mit emotionalen Erlebnissen verbunden und verfügen offensichtlich über eine starke anregende Kraft, obwohl ihre Intensität nur gering ist. 3. Die entstehenden Empfindungen haben gewöhnlich keinen diskriminativ-gnostischen Charakter; die subjektiven Beschreibungen der Versuchspersonen beziehen sich offenbar auf sekundäre Prpzesse, die zufällige und schwankende Erlebnisse widerspiegeln. Die nachstehend zitierten Äußerungen der Probanden dürften der Qualität dieser Empfindungen am meisten entsprechen: »Es ist nichts Bestimmtes, obwohl zweifellos ein Reiz einwirkt«, meinte A. »Diese Empfindung läßt sich nicht beschreiben; sie ist unbestimmt«, äußerte Wor. Davon zeugt auch der Fortschritt in der Qualität dieser Empfindungen, der sich unter bestimmten Bedingungen erreichen läßt, indem man sie mit adäquaten Hautempfindungen in Beziehung bringt; es handelt sich dabei um einen Fortschritt, der an den Wandel von Empfindungen erinnert, wie ihn H E A D im Hinblick auf die protopathische Sensibilität beobachtete.41 Wir werden auf dieses Problem noch zurückkommen, sobald wir die Resultate der vierten Untersuchung (W. I. ASNIN) analysieren. Zunächst wollen wir uns weiter mit der Frage nach dem Wesen der von uns untersuchten Erscheinungen der Sensibilität befassen. Um dieses Problem einzuschätzen, müssen wir von zwei verschiedenen Annahmen ausgehen: Man kann entweder annehmen, bei unseren Probanden sei im Laufe deir Versuche eine neue Form der Sensibilität entstanden und wir hätten auf experimentellem Wege eine Erscheinung geschaffen, die der Genese der Sensibilität analog ist. Man kann aber auch den Standpunkt ver41 Siehe H. HEAD und W. H. RIVERS: An Human Experiment in Nerve Division. »Brain«, 1908, Nr. 29, S. 537.
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treten, die bei unseren Probanden beobachteten Empfindungen seien darauf zurückzuführen, daß die den Hautrezeptoren früher phylogenetisch eigene Photosensibilität, die infolge der Entwicklung höherer Rezeptoren unterdrückt und gehemmt wurde, wieder wachgerufen wird. Wir hätten dann in unseren Versuchen nicht das Entstehen einer neuen Form der Sensibilität, sondern lediglich das Zutagetreten einer bereits existierenden Lichtempfindlichkeit beobachtet, die sich äußerte, weil die optische Wahrnehmung ausgeschaltet und die Wirkung der Wärmestrahlung, die die intensiveren Lichtstrahlen gewöhnlich begleitet, stark herabgesetzt wurde. Diese Annahme ist aus zwei Gründen berechtigt. Erstens hat es in der phylogenetischen Reihe tatsächlich eine Photosensibilität der Haut gegeben. Zweitens hängt - diesen Standpunkt dürfen wir in seiner allgemeinen Form als richtig anerkennen das Entstehen neuer Organe und Funktionen eng mit der Unterdrükkung und Zurückbildung physiologisch älterer Funktionen zusammen, die jedoch wieder zutage treten, sofern die neuen, sie maskierenden Prozesse aus irgendwelchen Gründen nicht vollzogen werden können (ORBELI).
Wie verhält sich diese Annahme vom Wesen der bei unseren Versuchspersonen festgestellten Lichtempfindlichkeit der Haut zur Haupthypothese unserer Untersuchung? Sie läßt sich mit ihr durchaus in Einklang bringen; es gilt allerdings, das Problem ein wenig anders zu formulieren. Wir bezeichneten die Sensibilität als besondere Form der Reizbarkeit, und zwar als Reizbarkeit gegenüber Einwirkungen, die die grundlegenden Lebensbeziehungen des Organismus vermitteln. Daraus ergibt sich: Soll eine Einwirkung, der gegenüber der Mensch reizbar ist, zu einer Einwirkung werden, die er empfindet, dann muß sie unbedingt eine vermittelnde Funktion erfüllen und den Organismus auf irgendeine andere Einwirkung orientieren. Daraus ergibt sich weiterhin: Ist die Sensibilität gegenüber einer gegebenen Einwirkung unterdrückt, weil diese Einwirkung mit der Entwicklung höherer, vollkommenerer Apparate ihre frühere Funktion - die darin bestand, die Verbindung des Organismus mit anderen auf ihn einwirkenden Umwelteigenschaften zu vermitteln — verloren hat, dann müßte man, um die Sensibilität des Organismus gegenüber der gegebenen Einwirkung wiederherzustellen, dieser Einwirkung die verlorengegangene vermittelnde Funktion wieder verleihen. Deshalb schalteten wir - und darin bestand die Hauptmethode unserer Untersuchung - künstlich die Möglichkeit aus, die von uns untersuchte Einwirkung (Licht), welche die Beziehung des Organismus zu einer anderen Einwirkung (elektrischer Strom) vermittelte, mit den üblichen sensorischen Apparaten (Augen, Temperaturrezeptoren) wahr-
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zunehmen. Zugleich wirkten wir mit den sichtbaren Lichtstrahlen auf die gegenüber diesen Einwirkungen reizbaren Rezeptoren der Hautoberfläche, wodurch die Empfindlichkeit gegenüber den sichtbaren Lichtstrahlen auch tatsächlich wiederhergestellt wurde. Für unsere Schlußfolgerungen ist es demnach gleichgültig, ob wir von der ersten oder von der zweiten Annahme ausgehen. Wichtig für unsere Hypothese ist lediglich die Frage, ob gewöhnlich nicht empfundene Einwirkungen unter experimentellen Bedingungen zu empfundenen Reizen werden. Ob dabei eine neue Form der Sensibilität entsteht oder ob nur die phylogenetisch ältere Lichtempfindlichkeit der Haut wiederhergestellt wird, ist in diesem Zusammenhang ein relativ zweitrangiges Problem. Gestützt auf theoretische Überlegungen, die zu entwickeln jetzt noch verfrüht wäre, wollen wir annehmen, es sei grundsätzlich möglich, neue Formen der Sensibilität auf experimentellem Wege zu schaffen. Ob diese Annahme richtig ist, wird sich erst durch Untersuchungen klären lassen, in denen als vermittelnde Einwirkung ein Reiz benutzt wird, dem wir unter normalen Bedingungen nicht begegnen (beispielsweise Röntgenstrahlen oder Ultrakurzwellen). Bei der Einschätzung unserer Untersuchungsergebnisse erhebt sich noch die Frage nach dem physiologischen Mechanismus der Hautempfindlichkeit gegenüber den sichtbaren Lichtstrahlen. Wir haben uns nicht die Aufgabe gestellt, dieses Problem näher zu untersuchen. Deshalb beschränken wir uns auf einige Bemerkungen: Die Möglichkeit, die rezeptorische Funktion der Hautoberfläche bei unseren Versuchspersonen zu verändern, kann in physiologischer Hinsicht nur hinreichend verstanden werden, wenn wir folgendes in Betracht ziehen: Der Effekt einer Reizung wird im allgemeinen nicht nur durch die Eigenschaften der gegebenen Einwirkung bestimmt, sondern hängt auch vom Zustand des rezeptorischen Systems ab. Wir können, um die beobachteten Erscheinungen zu erklären, prinzipiell von einem Einfluß der zentrifugalen akzessorischen Innervation auf die Hautrezeptoren sprechen ( O R B E L I ) . In diesem Zusammenhang ist die Meinung wichtig, das »Niveau« der von der Peripherie kommenden Prozesse sei veränderlich. Der Prozeß - so können wir uns diesen Sachverhalt hypothetisch vorstellen - , der sich an der Hautoberfläche unter dem Einfluß der auftreffenden sichtbaren Lichtstrahlen vollzieht und der früher auf rein trophische Funktionen beschränkt war, erhebt sich - bildlich gesprochen - auf eine höhere Ebene, das heißt, er erhält seine Repräsentation im Kortex, was sich auch im Entstehen von Empfindungen äußert. Mit anderen Worten: Die geschilderte Veränderung dürfte dem Prozeß analog sein, der Empfindungen entstehen läßt, die von Interorezeptoren stammen.
Das Problem des Entstehens von Empfindungen
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Wir wollen noch kurz die Frage erörtern, welche Hautrezeptoren bei diesen Vorgängen beteiligt sind. Die histologischen Untersuchungen entdeckten in der Haut zwar eine ganze Reihe von Nervenendigungen, die sich in Tast-, Wärme-, Kälte- und Schmerzrezeptoren einteilen lassen. Diese Gliederung ist in gewissem Sinne jedoch nur formal, weil die erwähnten Rezeptoren nicht unabhängig voneinander funktionieren. Es kann hier drei Möglichkeiten geben: Die beobachtete Sensibilität ist a) an keinen irgendwie spezialisierten Hautrezeptor gebunden, b) auf die Wiederherstellung der im Laufe der Entwicklung verlorengegangenen Funktionen eines der genannten Hautrezeptoren zurückzuführen oder c) mit einer unspezifischen Beteiligung einer ganzen Reihe von Hautrezeptoren verbunden. So hängt zum Beispiel die Lokalisation der entstehenden Empfindungen sehr wahrscheinlich von taktilen Rezeptoren ab. (Die Hand berührt den Ausschnitt in der Tischplatte.) Unsere Bemerkungen zu diesem Problemkreis - das sei nochmals betont - sind nur vorläufige Überlegungen, mit denen wir zeigen wollten, daß es prinzipiell möglich ist, die physiologische Seite des geschilderten Prozesses weiter zu erschließen. Zwei Fragen haben wir in unserer Arbeit bisher noch nicht berührt: die Wechselbeziehung der Sensibilität und des bedingten Reflexes sowie die für das Entstehen von Empfindungen unerläßliche spezifische Situation. Sie sind miteinander eng verbunden und haben uns von Anfang an stark interessiert. Wir werden an diese beiden Komplexe in unserer dritten und vierten Untersuchung herangehen.
6 Alle unsere Versuche hielten sich an das Schema, nach dem man experimentell bedingte motorische Reflexe ausarbeitet. Wir versuchten, als Antwort auf ein zunächst indifferentes Agens beim Probanden eine motorische Schutzreaktion auszulösen, die normalerweise durch einen elektrischen Schlag hervorgerufen wird. Auch die Bedingungen, unter denen diese Reaktion verlief, deckten sich äußerlich mit den Voraussetzungen für die Bildung eines bedingten Reflexes: Das indifferente Agens ging der Darbietung des unbedingten Reizes zeitlich etwas voraus, und die Reizkombinationen wurden wiederholt exponiert. Ein wenig wichen unsere Versuche jedoch von den klassischen Experimenten ab, in denen bedingte Reflexe gebildet wurden. Der Unterschied lag vor allem im Charakter des indifferenten Agens.
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»Zu einem bedingten Reiz«, schreibt PAWLQW, »kann jegliches Agens der Natur werden, für das bei einem gegebenen Organismus ein rezeptorischer Apparat vorhanden ist. . . . Auch hier wird natürlich durch die Vollkommenheit und Feinheit der rezeptorischen Apparate eine Grenze gesetzt.« 42 Wie kann man jedoch auf die Arbeit dieser Apparate schließen? »Ich habe bereits kurz darauf hingewiesen«, setzt PAWLOW fort, »daß eine jede Veränderung in der Umwelt des Tieres zu einer Reaktion führt, wenn nicht zu einer speziellen, angeborenen oder erworbenen Reaktion, so doch zu einer allgemeinen, orientierenden Reaktion, einem Untersuchungsreflex. Dieser Reflex ist es vor allem, den wir dazu benutzen können, um festzustellen, in welchem Maße das Nervensystem eines bestimmten Tieres das eine vom anderen unterscheiden kann.« 43 Es war, wie wir bereits ausführten, das Ziel unserer Arbeit, eine Schutzreaktion bei den Probanden zu bilden. Sie sollte durch ein Agens hervorgerufen werden, das vorher weder einen speziellen noch einen Orientierungsreflex auslöste. Läßt sich unter solchen Bedingungen überhaupt ein bedingter Schutzreflex bilden? Wir haben das nicht erwartet, als wir unsere Arbeit mit einem solchen Versuch begannen. Und wir erhielten — wie erinnerlich - dabei auch nur negative Ergebnisse. Darin lag auch gar nicht der Sinn unserer Versuche. Einen bedingten Reflex auszuarbeiten war für uns nur eine sekundäre Aufgabe. Wir wollten vor allem einen Reiz, der normalerweise keinerlei Orientierung hervorruft, in einen bemerkbaren, das heißt in einen Reiz umwandeln, der einen Orientierungsreflex auslöst. Mit anderen Worten: Wir wollten eine früher nicht empfundene zu einer empfundenen Einwirkung machen. Äußerlich hat es den Anschein, als drückten beide Aufgaben nur zwei Seiten eines, im Grunde einheitlichen Prozesses aus und als enthielten unsere Versuche die Voraussetzungen dafür, sie beide zu lösen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint dann auch die Veränderung, die wir in das Experiment einführten, ziemlich unwesentlich. Sie erwies sich jedoch - wie die von uns ermittelten Tatsachen zeigen - als entscheidend. Diese speziellen Versuchsbedingungen wollen wir aber erst zusammen mit unserer vierten und letzten Untersuchung analysieren. Beschränken wir uns jetzt auf die Feststellung, daß sie tatsächlich eine Rolle spielten, und wenden wir uns dem von uns untersuchten Prozeß zu. 42
I. P. PAWLOW: Sämtliche Werke. Bd. IV, Akademie-Verlag, Berlin 1953, S. 31. 4S Ebenda, S. 90.
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H a t sich in unseren Versuchen tatsächlich ein bedingter Reflex gebildet? Gibt es Unterschiede zwischen den in der ersten und den in der zweiten Aufgabe ablaufenden Prozessen? Diese Frage läßt sich hier noch nicht eindeutig beantworten, da unsere bisher geschilderten Untersuchungen nicht das spezielle Ziel verfolgten, das Entstehen der Sensibilität und die Bildung bedingter Reflexe zu differenzieren. Dazu war unsere Methodik nicht ohne weiteres geeignet. Es galt deshalb, neue Versuche mit speziellen Verfahren durchzuführen. Der Hauptmangel unserer früheren Methode bestand darin, daß wir nicht genau ermitteln konnten, ob die Reaktion der Versuchsperson eine rein reflektorische Antwort auf den gegebenen Reiz oder ein willkürlicher Prozeß war, dem sehr komplizierte Bedingungen zugrunde lagen. In einigen seltenen Fällen änderte sich gegen Ende der Versuchsserie der Charakter der Reaktionen (»Ich habe die Hand unwillkürlich weggezogen!« - »Ich habe nicht einmal bemerkt, wie ich die Hand wegzog!«). Diese Feststellung ermöglicht jedoch noch keine begründe* ten Schlüsse. Wir mußten beide Prozesse voneinander trennen, um damit die durch die Methode unserer früheren Untersuchungen geschaffene Alternative zu beseitigen. Dazu gab es nur ein einziges Verfahren: Wir mußten in das Experiment eine zweite, leicht zu registrierende Reaktion einführen, die vom Probanden völlig unwillkürlich vollzogen wird und die nicht seiner Kontrolle unterliegt. Wir stützten uns dabei auf die Ergebnisse, die bei der Untersuchung der sogenannten sensorischen bedingten Reflexe gewonnen worden waren. Fast zur gleichen Zeit wurden die Gesetzmäßigkeiten dieses Prozesses von А . I . BOGOSLOWSKI, А . O . D O L I N und G. Ch. KEKTSCHEJEW ermittelt. 44 Wie diese Verfasser feststellten, kann sich die Sensibilität der menschlichen Sinnesorgane unter dem Einfluß sogenannter intersensorischer bedingter Verbindungen verändern. Um eine solche Verbindung zu bilden, muß man ein für die untersuchte sensorische Funktion indifferentes Agens mehrfach mit einem Reiz kombinieren, der diese Funktion unmittelbar verändert. Mari muß also die gleichen Bedingungen wie bei der Bildung eines motorischen oder sekretorischen bedingten Reflexes schaffen. Wie die eingehende Untersuchung der sensorischen bedingten Reflexe zeigte, unterscheiden sich die Gesetze, nach denen sie entstehen, nicht 44
Siehe А . I . BOGOSLOWSKI: Über die Ausarbeitung sensorischer bedingter Reflexe beim Menschen. »Fisiologitscheski shurnal SSSR«, Bd. XX, Nr. 6/1936, S. 1071 (russ.); А. O. DOLIN: »Archiw biologitsdieskidi nauk«, Folge 1/2, 1936 (russ.); G. C H . KEKTSCHEJEW: »Bjulleten exper. biologii i mediziny«, Folge 5/6,1935, S. 358 (russ.) und andere Arbeiten dieser Autoren.
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wesentlich von den Gesetzen, nach denen sich die gewöhnlichen bedingten Reflexe bilden. Die sensorischen bedingten Reflexe können demnach mit vollem Recht als Prozesse angesehen werden, die der allgemeinen bedingt-reflektorischen Tätigkeit der Großhirnrinde völlig entsprechen. Für unsere Arbeit hatte die Methode der sensorischen bedingten Reflexe einen großen Vorzug vor den Verfahren mit motorischen Reflexen: Die Veränderung der Funktion der menschlichen Sinnesorgane ist in der Regel unabhängig vom direkten Einfluß höherer Prozesse. Die Methode ist auch den Verfahren mit sekretorischen Reflexen überlegen, da sich diese beim Menschen nur sehr schwer anwenden*lassen. Wir benutzten daher in unseren Experimenten als zweiten Anzeigevorgang die Veränderung einer sensorischen Funktion; wir konnten auf diese Weise verfolgen, wie sich der bedingte Reflex in einer Situation bildete, in der die Versuchsperson unwillkürlich reagierte und ihre Ergebnisse nicht kontrollieren konnte. Die Probanden kannten „ nicht den Sinn der zusätzlichen Messungen; sie sahen keinen Unterschied gegenüber den anderen Messungen, denen sie im Laufe der Experimente ständig begegneten. Als sensorischen Prozeß, den wir untersuchen wollten, wählten wir die Veränderung der Sehschärfe.45 Als unbedingten Reiz benutzten wir dabei eitie Erhöhung der Raumhelligkeit, als indifferentes Agens die Wirkung der Lichtstrahlen auf die Handfläche. Für die Experimente wurden die gleichen Apparate wie in der zweiten Untersuchung verwendet; wir erweiterten sie um einen Spiegel, auf der LANDOLTsche Ringe zur Messung der Sehschärfe exponiert wurden, und um eine konstante Lichtquelle in Form einer Kugel aus Mattglas, in der eine Reihe von Glühbirnen mit geringer Wattzahl untergebracht war. Um die Spannung zu kontrollieren, waren in den Stromkreis ein Widerstandsregler und ein Voltmeter dazwischengeschaltet. Diese Vorkehrungen waren erforderlich, um Helligkeitsschwankungen des Laboratoriums zu vermeiden, zu denen es kommen konnte, da die Beleuchtungskörper an das Ortsnetz angeschlossen waren. Ferner benutzten wir eine zusätzliche Lampe, deren Aufleuchten nach der Einwirkung des indifferenten Agens als unbedingter Reiz wirkte. Die Fenster des Laboratoriums waren selbstverständlich verdunkelt. Alle Versuche wurden bei künstlichem Licht durchgeführt. Wir begannen unsere dritte Untersuchung46 mit einem Hauptversuch, 45
Siehe А. I. BOGOSLO WSKI: Die bedingt- reflektorische Veränderung der Unterschiedsschwellen des Auges gegenüber Helligkeit. »Bjulleten exper. biologii i mediziny«, Bd. VIII, Folge 3, S. 272 (russ.); Ebenderselbe: Über die Bildung sensorischer bedingter Reflexe beim Menschen. »Fisiologitscheski shurnal SSSR«. Bd. XX, Nr. 6/1936, S. 1017 (russ.) und andere Arbeiten dieses Autors. 46 An den Eexperimenten beteiligte sich W. I. DROBANZEWA. Während der ganzen Untersuchungen zogen wir regelmäßig А. I. BÖGOSLOWSKI ZU Rate.
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zu dem wir den Probanden K. heranzogen, der schon an der ersten und dritten Serie der zweiten Untersuchung mit guten Ergebnissen teilgenommen hatte. Wir gingen nach der gleichen Methode wie in der dritten Serie der zweiten Untersuchung vor, erschwerten jedoch die Bedingungen, indem wir eine zweite zu registrierende Funktion - die Veränderung der Sehschärfe - einführten. Das Experiment lief wie folgt ab: Sobald bei dem Probanden eine Adaptation an die Lichtverhältnisse im Laboratorium erfolgt war, untersuchten wir seine Sehschärfe zunächst unter den vorhandenen Bedingungen und danach bei der größeren Helligkeit (zusätzliche Lampe). Bei diesen Messungen brauchte die Versuchsperson ihren Platz am Experimentiertisch nicht zu verlassen. Anschließend wurde das Vorsignal exponiert, nach dem, sofern eine Belichtung der Handfläche erfolgt war, als unbedingter Reiz die zusätzliche Lampe (1 Minute 30 Sekunden lang) aufleuchtete. Nach einiger Zeit (gewöhnlich nach etwa 4 Minuten) wurde das nächste Vorsignal gegeben. In den Übungsversuchen mußte die Reizkombination etwa 160mal dargeboten werden. Diese Zahl war sehr hoch und betrug ein Vielfaches der Anzahl der Kombinationen, die А . I. BOGOSLOWSKI in seinen Versuchen brauchte, um einen sensorischen bedingten Reflex auszuarbeiten. Das läßt sich wie folgt erklären: a) Die Intervalle waren in unseren Experimenten erheblich kürzer als in den Versuchen von BOGOSLOWSKI, das wirkte sich ungünstig auf die Ergebnisse aus. b) Die Bedingungen, unter denen der bedingte Reflex gebildet werden sollte, waren bei uns erheblich komplizierter. Nach diesen Ubungsversuchen gingen wir zu den eigentlichen Experimenten mit dem bedingten Reflex über. Sie unterschieden sich von den gewöhnlichen Versuchen dadurch, daß wir den Probanden in einigen Fällen 25 Sekunden nach der Reizeinwirkung die LANDOLTschen Ringe betrachten ließen, um die Schwelle seiner Sehschärfe zu ermitteln. Zu Kontrollzwecken nahmen wir solche Messungen auch nach »leeren« Intervallen vor. Wie die Versuchsergebnisse zeigen, bildete sich tatsächlich ein sensorischer bedingter Reflex auf die Einwirkung der Lichtstrahlen auf die Handfläche. Die nachstehende Tabelle zeigt die Daten, die wir im letzten Versuch ermittelten (Protokoll Nr. 65/16a).47
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Zu Beginn des Versuchs betrug die Sehschärfe (in von uns festgelegten Einheiten) unter normalen Bedingungen 9 und bei der erhöhten Helligkeit 13 Einheiten.
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Probleme der Entwifklurig des Psychischen Tabelle 4
Lfd. Nr. des Reizes
1 2 3 4 5 6 7 8
9 10 11 12 13 14 15
Zeitpunkt der Reizdarbietung
3h 50'00" 55'00" 4h OO'OO"
Reaktion
+ + +
оз'оо"
—
04'30"
—
Об'ЗО"
12'00" 15'00" 19'00" 23'00" ЗО'ОО"
34'00" 37'00" 42'00" 48'00"
+ + +
Bekräftigung
Sehsdiärfe
bekräftigt bekräftigt bekräftigt nicht bekräftigt bekräftigt bekräftigt
13
nicht bekräftigt bekräftigt bekräftigt
12
—
+ + + — —
+
nicht bekräftigt
10 12
Das Ergebnis läßt sich wie folgt zusammenfassen: Zu Beginn des Versuchs betrug die Sehschärfe bei normaler Beleuchtung 9 und bei der helleren Beleuchtung 13 (von uns festgelegte) Einheiten. Während des Versuchs betrug die Sehschärfe nach der Einwirkung der sichtbaren Lichtstrahlen auf die Haut 13, 12, 12 Einheiten; nach dem Signal, bei dem keine Einwirkung auf die Haut erfolgte, maßen wir 10 Einheiten. Um die Ergebnisse richtig deuten zu können, galt es vor allem zu ermitteln, ob sich ein sensorischer bedingter Reflex auf die einwirkenden Lichtstrahlen auch bei Versuchspersonen bilden läßt, deren Hautempfindlichkeit nicht in besonderen, langwierigen Übungen entwickelt worden ist. Wir unternahmen einige solcher Versuche und kamen dabei zu negativen Ergebnissen. Daraus läßt sich vorläufig schlußfolgern: a) Eine nicht empfundene Einwirkung sichtbarer Lichtstrahlen auf die Haut kann bei der Versuchsperson keine willkürliche motorische Reaktion auslösen und kann auch nicht zum bedingten Reiz werden. b) Wird sie jedoch zu einer von der Versuchsperson empfundenen Einwirkung und bestimmt sie deren motorische Reaktion, dann wird sie auch zu einem bedingten Reiz.
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Daraus ergab sich das Hauptproblem unserer Untersuchung: Vollzieht sich bei der Versuchsperson ein spezifischer Prozeß, als dessen Ergebnis sich eine Sensibilität gegenüber einer früher nicht empfundenen Einwirkung einstellt, und ist diese Sensibilität die Voraussetzung für die anschließende Bildung bedingter Reflexe, oder stellen beide Vorgänge im Grunde genommen den gleichen Prozeß dar, und ist das Entstehen der Sensibilität damit nichts anderes als eine allmähliche Bildung bedingter Verbindungen? Es war außerordentlich schwer, dieses Problem experimentell zu lösen. Am einfachsten war es noch, das allgemeine methodische Prinzip zu finden. Um nachzuweisen, daß beide Prozesse chronologisch nicht zusammenfallen, brauchte man nur zu versuchen, sie im Experiment zeitlich zu vereinigen. Praktisch hätte das bedeutet, den bedingten Reflex gleichzeitig mit der Entwicklung der Hautempfindlichkeit gegenüber sichtbaren Lichtstrahlen zu bilden, und zwar in den gleichen Experimenten. Diese Forderung in einer konkreten Methode zu erfüllen, bereitete jedoch viele Schwierigkeiten. Wir brauchten ein ganzes Jahr, in dem wir mit 14 Versuchspersonen arbeiteten, um erste Schlußfolgerungen ziehen zu können. Wir kehrten wieder zur Methode der ersten Serie der zweiten Untersuchung zurück. Diesmal vereinigten wir jedoch die Experimente, in denen wir die Hautempfindlichkeit entwickelten, mit Versuchen, deren Ziel es war, einen sensorischen bedingten Reflex zu bilden. In einem Teil der Versuche benutzten wir beide Einwirkungen - den elektrischen Hautreiz und die Veränderung der Beleuchtungsintensität - als unbedingten Reiz, während wir in den übrigen Experimenten nur mit der Veränderung der Beleuchtungsintensität arbeiteten. Beim Vorgehen nach der ersten Methode ergab sich - und das war ein Mangel dieses Verfahrens - ein sehr kompliziertes Bild des Prozesses, das sich nur schwer analysieren ließ. Aber auch die andere Methode wies einen schwerwiegenden Nachteil auf: Sie vermochte bei den Versuchspersonen kaum eine aktive Einstellung zu schaffen. Unsere Probanden fielen - im psychologischen Sinne - oft aus dem Experiment aus; sie wurden leicht von ihrer Aufgabe abgelenkt und achteten nicht genügend auf die Hautempfindung, die dem Aufleuchten der zusätzlichen Lampe voranging. Wir entschlossen uns daher trotz allem für die erste Methode und benutzten sie bei den meisten Versuchspersonen als Hauptverfahren. Die nachstehende allgemeine Bilanz gibt einen Oberblick über die von den Versuchspersonen erzielten Ergebnisse. 3 Probanden mußten die Experimente bereits während der ersten Hälfte der Serie aus äußeren Gründen abbrechen. Wir werden daher auf die mit ihnen gewonnenen Resultate nicht näher eingehen.
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Bei 3 Versuchspersonen (Won, Stef. und Gub.) entstanden Hautempfindungen gegenüber sichtbaren Lichtstrahlen; die Ergebnisse waren ziemlich deutlich ausgeprägt, es waren jedoch dazu viel mehr Reizkombinationen als in den anderen Serien erforderlich. Der 4. Proband kam sehr rasch zu guten Resultaten (in einem Versuch erreichte er 9 richtige bei 0 weggelassenen und nur 2 falschen Reaktionen). In den Kontrollexperimenten dagegen fielen seine Ergebnisse erheblich ab. Wir wollen daher auch die mit ihm ermittelten Daten bei der Gesamtauswertung dieser Versuche ausschließen. Die Resultate der anderen Versuchspersonen (Majat., Kam. und Grig.) müssen wir negativ bewerten. Bei ihnen entstand die Hautempfindlichkeit gegenüber den sichtbaren Lichtstrahlen nur außerordentlich langsam. Bei Majat. zum Beispiel exponierten wir im Laufe von 52 Versuchstagen ungefähr 500 Reizkombinationen. Bis zum 46. Experiment registrierten wir bei ihm keine einzige richtige Reaktion (allerdings auch keinen Fehler), obwohl er vom 36. Versuch an wiederholt betonte, er habe eine ziemlich deutliche Empfindung gehabt. »Ich empfinde etwas«, äußerte der Proband, »aber ich wage es nicht, die Hand wegzuziehen.« In den letzten 6 Versuchen reagierte er zwei- bis dreimal richtig. Bei den beiden anderen Versuchspersonen registrierten wir nach 30 bis 35 Experimenten vereinzelt richtige Reaktionen, die jedoch auch zufällig sein konnten. Von dieser Gruppe konnten wir demnach nur die bei dem Probanden Majat. ermittelten Daten benutzen. Die übrigen Probanden wurden nur zu besonderen Kontrollversuchen, die wir später darlegen werden, herangezogen. Nachstehend wollen wir die Ergebnisse dieser Untersuchung unter dem Gesichtspunkt der Aufgabe analysieren, die sie zu erfüllen hatte. Wir können uns dabei auf Ergebnisse mit 6 Versuchspersonen stützen, die sich bezüglich der Anzahl der Reizkombinationen in 2 und im Hinblick auf das Entstehen der Sensibilität in 3 Gruppen einteilen lassen. Daraus ergab sich die in Tabelle 5 dargestellte Gliederung. Tabelle 5 Versudispersonen Etappe der Bildung den Sensibilität
Die Sensibilität fehlt vollkommen Erstes Aufkommen der Sensibilität Deutlich ausgeprägte Sensibilität
Weniger als 300 Reizkombinationen
Mehr als 300 Reizkombinationen
Kam.
Grig. Majat.
Wor.
Gub. Stef.
Wor.
Gub.
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Die Probanden Wor. und Gub. sind gleichzeitig in zwei Gruppen zu finden. Die bei ihnen ermittelten Daten repräsentieren gleichsam zwei Abschnitte - die Phase des ersten Aufkommens richtiger Reaktionen und die Phase einer deutlich ausgeprägten Sensibilität. Diese Tatsache geht auf die unterschiedliche Anzahl der mit ihnen vorgenommenen Experimente zurück. Wir gingen in der Regel zu Kontroll versuchen (ohne Bekräftigung) erst über, nachdem bei einer Versuchsperson die Anzahl richtiger Reaktionen die der Fehler überwog. Davon wichen wir nur bei zwei Probanden (Kam. und Grig.) ab, bei denen keinerlei Hautempfindlichkeit gegenüber sichtbaren Lichtstrahlen festgestellt werden konnte. Wir nahmen gegen Ende der Serie auch mit ihnen einige Experimente mit dem sensorischen bedingten Reflex vor. Die Ergebnisse waren negativ: Trotz einer großen Anzahl von Reizkombinationen bildete sidi bei ihnen kein sensorischer Reflex. Bei dem Probanden Wor. versuchten wir die erste Kontrolle mit dem bedingten Reflex nach 150 Reizkombinationen, und zwar, als er in einem Experiment dreimal hintereinander ohne Fehler reagierte. Bei dem Probanden Gub. nahmen wir die Kontrolle nach 210 Reizkombinationen (unter den gleichen Bedingungen) vor. In beiden Fällen erhielten wir nur negative Ergebnisse. Wir setzten deshalb das Experiment mit diesen Probanden in gewohnter Weise fort und begannen mit den Kontrollversuchen erst nach etwa 400 Reizkombinationen. Zu diesem Zeitpunkt stand es außer Zweifel, daß sich bei den Probanden eine Sensibilität der Haut gegenüber den sichtbaren Lichtstrahlen gebildet hatte. Ebenso wie in den Experimenten mit anderen Probanden wurde die Kontrolle sowohl nach richtigen als auch nach weggelassenen Reaktionen vorgenommen. Die Ergebnisse dieser Versuche waren ebenfalls negativ. Nur bei einem einzigen Probanden registrierten wir in den allerletzten Experimenten eine konstante, aber unerhebliche Erhöhung der Sehschärfe unter dem Einfluß des bedingten Reizes. Wir waren nicht in der Lage, die in dieser Untersuchung ermittelten Daten auszuwerten, solange wir uns nicht in weiteren Experimenten darüber klargeworden waren, ob es überhaupt möglich ist, unter den gegebenen Bedingungen einen sensorischen bedingten Reflex zu bilden. Deshalb führten wir im Anschluß an die oben geschilderten Versuche eine spezielle Kontrollserie durch. In dieser Versuchsreihe arbeiteten wir mit 4 Probanden. Der nicht adäquate Reiz wurde jetzt durch ein Agens ersetzt, das normalerweise von den Versuchspersonen empfunden wird (Ticken eines Metronoms). Schon am 8. bis 10. Versuchstage erzielten wir dabei eindeutig positive Ergebnisse. Im 8. Experiment mit Wor. zum Beispiel registrierten wir
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folgende Daten: Bei normaler Beleuchtung betrug die Sehschärfe 1,1 bis 1,2 Einheiten, nach der Einwirkung des bedingten Reizes erhöhte sie sidi auf 1,65 Einheiten. Beim Probanden Pust. betrugen die entsprechenden Werte (am 10. Versuchstage): bei normaler Beleuchtung 1,0 Einheiten, nach der Exposition des bedingten Reizes 1,35 Einheiten. Analoge Ergebnisse erzielten wir auch bei den beiden anderen Versuchspersonen. Aus den Daten der soeben geschilderten Experimente und aus den Resultaten der vorangegangenen Untersuchungen läßt sich der folgende vorläufige Schluß ziehen: Wird das neutrale Agens vom Probanden nicht empfunden (unterschieden), dann kann sich bei ihm kein bedingter Reflex bilden. Um einen bedingten Reflex auszuarbeiten, muß dieses Agens unter dem Einfluß besonderer Bedingungen zu einem Reiz werden, dem gegenüber der Organismus nicht nur reizbar ist, sondern den er auch empfindet, das heißt zu einem Reiz, den die Versuchsperson um mit PAWLOW ZU sprechen - unterscheidet und der eine Orientierungsreaktion bei ihr auslöst. Der Prozeß, als dessen Ergebnis eine Sensibilität gegenüber einem normalerweise nicht empfundenen Agens entsteht, und der Entstehungsprozeß einer bedingt-reflektorischen Verbindung sind demnach keine identischen, sondern verschiedene Vorgänge. Diese Schlußfolgerung, die noch experimentell überprüft werden soll, weil die in unserer letzten Arbeit angewandte Methode noch nicht vollkommen war, deckt sich mit den Ergebnissen einiger anderer Untersuchungen. Wir erwähnen hier vor allem die Arbeit von BOGOSLOWSKI, der in seinen Versuchen sensorische bedingte Reflexe hervorrief und seine Probanden darauf trainierte, die Reize in einem fortlaufenden Prozeß immer feiner voneinander zu unterscheiden (Länge einer Linie und Tempo des Metronoms). Wie die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, läßt sich eine Differenzierung bedingter Reflexe nur ausarbeiten, wenn die Versuchspersonen den Unterschied zwischen den Reizen subjektiv bemerken. Wir wollen unsere allgemeine Vorstellung von dem untersuchten Prozeß wie folgt ausdrücken: Jeder Organismus lebt in einer sich unablässig wandelnden Umwelt. Er verhält sich jedoch gegenüber den einzelnen Veränderungen unterschiedlich. Manche von ihnen rufen bei ihm überhaupt keinen aktiven Prozeß, keinen »Widerhall«, keinerlei biologische Reaktion hervor. Andere dagegen lösen Antwortreaktionen aus. Diese Veränderungen sind Agenzien, in denen sich die Außenwelt als ein Pol einer Wechselwirkung darstellt. Sie können für den Organismus von zweierlei Bedeutung sein: entweder von unmittelbarer Lebensbedeutung oder von orientierender und - im weitesten Sinne des Wortes - signalisierender
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Bedeutung. Für die letztere Funktion ist im Organismus a) ein Prozeß erforderlich, der den biologischen Effekt der gegebenen Einwirkung mit dem zentralen Koordinierungssystem des Organismus (das selbstverständlich auf den einzelnen Entwicklungsstufen unterschiedlich ist) verbindet, und b) ein Prozeß, als dessen Ergebnis die signalisierende Funktion erfüllt wird. Wollen wir mit Hilfe von Versuchen, in denen wir bedingte Reflexe ausarbeiten, diesen zweiten Prozeß erforschen, dann müssen wir dabei auch den ersten Prozeß, den Prozeß der Sensibilisierung, als vorhanden annehmen. 48 Wir betrachten daher einerseits die Orientierung als eine Reaktion, die für das Vorhandensein des ersten Prozesses spricht, bevor sich der bedingte Reflex bildet, und die verschwindet, sobald sich die zeitweilige Verbindung eingestellt hat, und andererseits als Arbeit des Organismus, der gegenüber den Einwirkungen reizbar ist, die den ersten Prozeß auslösen, das heißt, wir betrachten die Arbeit der Rezeptoren, der Sinnesorgane. Die Orientierungsreaktion ist nicht mehr als ein notwendiger Ausdruck des ersten Prozesses in den Fällen, in denen die Schließung noch nicht erfolgt ist. Der Verlauf der Orientierungsreaktion an sich ist jedoch keineswegs ausschlaggebend für die Bildung eines bedingten Reflexes, wie das PAWLOW in seiner Auseinandersetzung mit LASHLEY nachdrücklich betont. 49 Dieser erste Prozeß findet - in seinen wesentlichen Zügen im Hinblick auf das auslösende Agens - sein Ende in einem durch ihn hervorgerufenen Zustand des zentralen Koordinierungssystems (im Zustand der Großhirnrinde, sofern wir es mit höheren Tieren zu tun haben). Der anschließende Effekt charakterisiert spezifisch bereits die Wirkung eines anderen Agens, zu dessen »Surrogat« - sofern sich eine bedingte Verbindung bildet - dieses erste Agens wird. Untersuchen wir den zweiten Vorgang, den Schließungsprozeß, dann stellt die Frage nach der Arbeit der Rezeptoren ein besonderes Problem dar, das in keinem Falle mit dem Problem der Differenzierung eines bedingten Reflexes vermengt werden darf. In seinen Ausführungen über die Differenzierungshemmung schreibt PAWLOW: »Auf Grund der verschiedenen Tatsachen . . . sind wir gezwungen anzunehmen, daß die Fähigkeit des Nervensystems, einen Unterschied zwischen äußeren Agenzien überhaupt festzustellen, und der Prozeß des Differenzierens dieser Reize mit Hilfe der bedingten Reflexe zwei grundsätzlich von48
Unter der »empfundenen Einwirkung« - das sei ganz besonders betont verstehen wir Reize, die ohne spezielle Vorbereitung im gegebenen Augenblick empfunden werden können, die jedoch nicht in jedem Falle eine bewußte Empfindung hervorzurufen brauchen. 49 I. Р. PAWLOW: Sämtliche Werke. Bd. I I I / 2 , Akademie-Verlag, Berlin 1953, S. 411 bis 424.
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einander verschiedene Erscheinungen sind. Der erste Prozeß offenbart sich durch einen Erregungsprozeß nach Art der Orientierungsreaktion, des Suchreflexes; erst der Ablauf dieses Reflexes kann sekundär hemmend auf die bedingten Reflexe wirken. Der zweite Fall, das Differenzieren von Reizen, ist die Auswirkung eines sich allmählich entwickelnden Hemmungsprozesses, der sozusagen als Ergebnis eines Kampfes zwischen Erregung und Hemmung zustande kommt. Wie wir weiter sehen werden, ist dieser Kampf oftmals sehr schwierig. Es ist möglich, daß er bisweilen die Kräfte des Versuchstieres übersteigt, und dann entsteht eine Lage, bei der der betreffende Organismus die Ergebnisse der tatsächlichen Analyse der äußeren Agenzien nicht mehr in vollem Maße für seine allgemeine Tätigkeit verwenden kann. Ist dem wirklich so, so wird die Forschung über die analysierende Tätigkeit des Nervensystems nach der Methode der bedingten Reflexe einige Lücken aufweisen. Jedenfalls aber ist und bleibt sie eine höchst interessante Aufgabe.« 50 Eine vulgäre Verwechslung dieser Prozesse, wie wir ihr in der psychologischen Diskussion über die Genese der Sensibilität zuweilen begegnen, entbehrt jeder Grundlage und geht darauf zurück, daß die angeführten Gedanken PAWLOWS nicht verstanden worden sind. Die Untersuchungen der bedingten Reflexe gehen - ihrer Aufgabe entsprechend - stets von der Tatsache der Rezeption eines neutralen Agens aus. Die Frage nach der Genese und Dynamik der rezeptorischen Funktion ist ein Problem, das es gesondert zu untersuchen gilt. Die Konzeption von den bedingten Reflexen macht diese Frage nicht überflüssig, sondern verlangt danach, sie besonders zu erforschen. Schließlich geht es hier nur um eine Unterscheidung und nicht um eine Trennung. Die modernen physiologischen Ansichten über die Tätigkeit der Rezeptoren erlauben es nicht, den Rezeptor als ein für immer fixiertes Organ anzusehen, das am Anfang eines vom zentralen Einfluß unabhängigen zentripetalen Prozesses steht. Es gibt auch den Vorgang der Reafferenz, bei dem die Nervenzentren auf den Rezeptor wirken und seine funktionalen Eigenschaften bestimmen. Die Rezeption ist folglich nur eine Seite des allgemeinen Prozesses der Anpassung des Organismus an die Bedingungen der Außenwelt.
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Wir wollen nun über den Verlauf unserer experimentellen Arbeit weiter berichten. 50
I. P. PAWLOW: Sämtliche Werke. Bd. IV, Akademie-Verlag, Berlin 1953, S. 106 (vom Verfasser hervorgehoben).
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Die vierte Untersuchung, die dem Problem der Sensibilität gewidmet war, wurde unter Anleitung von W. I . ASNIN (Laboratorium des Lehrstuhls für Psychologie am Charkower Pädagogischen Institut) vorgenommen. Wir wollen uns hier darauf beschränken, die Aufgabenstellung, die Methode und die Hauptergebnisse dieser Arbeit darzulegen. 51 Die Untersuchung bestätigte die erste von uns ermittelte Tatsache: Um Sensibilität gegenüber einer normalerweise nicht empfundenen Einwirkung entstehen zu lassen, muß die Versuchsperson ihre Aufmerksamkeit aktiv der Aufgabe zuwenden, die »signalisierende« Einwirkung zu suchen. Daraus resultieren die Unterschiede zwischen den Ergebnissen von Versuchen, in denen der Proband über die auf seine Haut einwirkenden Lichtstrahlen nicht unterrichtet wurde, und den Resultaten von Experimenten, bei denen die Versuchsperson wußte, dem elektrischen Hautreiz werde eine optische Einwirkung vorausgehen, und bei denen sie sich bemühte, dem elektrischen Schlag zuvorzukommen. Aus dieser Tatsache läßt sich erkennen, wie die bewußte Aktivität des Probanden den untersuchten Prozeß unmittelbar beeinflußte. Nun versucht man in der Psychologie noch heute, sich bei der Erklärung mancher Tatbestände auf die aktive Rolle des Bewußtseins* der willkürlichen Aufmerksamkeit usw. zu berufen und naiv festzustellen, die gegebene Erscheinung sei »psychologisch« und lasse sich nicht auf physiologische Prozesse zurückführen. Derartige Erklärungen - das braucht nicht besonders nachgewiesen zu werden - verschleiern nur die subjektiv-phänomenologische, parallelistische Ansicht vom Psychischen, anstatt sie zu überwinden. Im Grunde genommen sind sie nur in einem System vorwissenschaftlicher psychologischer Auffassungen am Platze. Solche Interpretationen, denen subjektivistische Traditionen zugrunde liegen, sind nicht durch konkrete Tatsachen zu belegen; auch theoretisch gesehen sind sie unhaltbar. Sie lassen sich auf den allgemeinen Standpunkt von der Aktivität des Bewußtseins zurückführen - dieser Standpunkt aber ist unbestritten; auch wir erkennen die aktive Rolle des Bewußtseins an. Was ergibt sich jedoch daraus für die konkrete wissenschaftliche psychologische Untersuchung? Selbstversätndlich darf man nicht einfach auf diesem Standpunkt verharren, sondern muß danach trachten, die entsprechenden konkreten Tatsachen wissenschaftlich zu erklären. In unseren Experimenten entstand - wie wir bereits ausführten — die 51
Siehe W. I. ASNIN: Uber die Bedingungen des Entstehens der Sensibilität. »Wissenschaftliche Tagung des Charkower Pädagogischen Instituts«, Verlag des Charkower Pädagogischen Instituts, Charkow 1940, S. 27; W. A. SAPOROSHEZ: Die Besonderheiten und die Entwicklung des Wahrnehmungsprozesses. »Wissenschaftliche Schriften des Charkower Pädagogischen Instituts«, Bd. IV, Charkow 1940.
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Sensibilität gegenüber einem nicht adäquaten Reiz nur in den Fällen, in denen der Proband die Versuchssituation kannte. Womit läßt sich jedoch diese Rolle des Wissens, des bewußten Erfassens der experimentellen Situation erklären? Geht es hier um die Tatsache des Bewußtwerdens an sich, oder ist das Bewußtwerden der Situation nur eine Form, in der sich eine allgemeine Bedingung für das Entstehen der Sensibilität offenbart? Die letzte Frage ist besonders wichtig in Anbetracht des grundlegenden, des genetischen Problems unserer Untersuchung. Wir wollen bekanntlich auf dem Umweg über das Laboratoriumsexperiment zur realen Genese der Sensibilität vordringen, denn an der Grenze des Aufkommens des Psychischen kann von einem Bewußtseinsvorgang nicht die Rede sein. Wir stehen somit wieder vor einer der zahlreichen Schwierigkeiten, die zwangsläufig bei der experimentellen genetischen Methode auftreten. Bei der Analyse der Untersuchungsergebnisse darf man nie den allgemeinen Entwicklungsweg aus den Augen verlieren, vor allem wenn man Teilhypothesen aufstellen will. Wir haben die Situation unserer Experimente nicht zufällig mit dem Terminus »Such-Situation« bezeichnet. Durch unsere Instruktion riefen wir bei den Versuchspersonen eine gerichtete Aufmerksamkeit hervor. In unseren Versuchen mit Menschen verlief diese Tätigkeit in Form eines inneren Prozesses, eines Bewußtseinsvorgangs; es handelte sich um ein inneres Suchen, um die Tätigkeit der Aufmerksamkeit. Der Verlauf dieses Prozesses vollzieht sich zwangsläufig über die Einwirkung des experimentellen Agens, denn das ganze innere Suchen unserer Probanden ist durch unsere Instruktion auf diese Seite gerichtet. Dieser innere Prozeß ist es auch, der die vermittelnde und die vermittelte Einwirkung, in unserem Falle Licht und Strom, miteinander verbindet und zueinander in Beziehung setzt. Dabei ist nicht die Form des Prozesses, sondern der Prozeß selbst wesentlich, ganz gleich, ob er innerlich oder äußerlich verläuft. Diese Hypothese galt es experimentell zu überprüfen. Dazu mußten wir erstens den Prozeß, der beide Einwirkungen miteinander verbindet, aus der Form der inneren Suche, der gerichteten Aufmerksamkeit, die er zunächst hatte, in die Form einer äußeren Handlung, in die genetische Ausgangsform jeder Tätigkeit bringen. Zweitens mußten wir dem Probanden die Möglichkeit nehmen, bei der Analyse der Tatsachen an sein Bewußtsein zu appellieren; das heißt, wir mußten die wahre Versuchssituation vor ihm verborgen halten und ihn nichts von den Einwirkungen ahnen lassen, denen er ausgesetzt war und auf die er sich während des Experiments hätte orientieren können. Beide Bedingungen waren bei unserer Untersuchungsmethode berücksichtigt.
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Als Apparatur benützen wir ein über ein Meter hohes Prisma mit quadratischer Grundfläche, das allseitig geschlossen und innen in vier Kammern eingeteilt war. Im untersten Abteil waren eine starke Lichtquelle und die Einblaseöffnung eines Ventilators zur Luftkühlung angeordnet. In der darüberliegenden Kammer befand sich ein großes Filter, das die Wärmestrahlen absorbierte. Diese Kammer war an das Luftkühlungssystem angeschlossen. Das dritte Abteil enthielt ein violettes und drei rote Farbfilter, die von einem Rahmen gehalten wurden, der in vier gleich große Quadrate eingeteilt war (Abb. 10). Dieser Rahmen war um eine zentrische Achse gelagert und konnte zusammen
Abb. 10
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mit den Liditfiltern mechanisch von außen gedreht werden. Die oberste Kammer war für die Handtätigkeit der Versuchsperson vorgesehen. Sie war wie folgt ausgestattet: In einer Seitenwand befand sich ein Ausschnitt, an dem eine Manschette aus lichtundurchlässigem Stoff befestigt war. Der Rand der Manschette, der über das Handgelenk der Versuchsperson gezogen wurde, war mit einem dehnbaren, stromleitenden Armband versehen, das mit einer elektrischen Leitung verbunden werden konnte. Der Boden dieser Kammer bestand aus einem verglasten Rahmen, der in vier Quadrate eingeteilt war, die genau der Größe und Lage der Lichtfilter entsprachen. In vier Vertiefungen im Rahmenkreuz lagen vier Stahlkugeln, die über Kontakte mit dem zweiten Pol des elektrischen Stromkreises verbunden werden konnten. Die Kugeln waren so angeordnet, daß die Handfläche, sobald die Finger eine von ihnen berührten, über dem entsprechenden quadratischen Ausschnitt des Rahmens lag und damit der Einwirkung des Lichts ausgesetzt war. Griff die Hand nach einer der weiter entfernten, in der zweiten Reihe liegenden Kugeln, dann wurde das durch den näher liegenden Ausschnitt fallende Licht durch die lichtundurchlässige Manschette, mit der das Handgelenk der Versuchsperson umgeben war, abgeschirmt; der Proband war damit auch in diesem Falle nur der Einwirkung des Lichts aus einem Rahmenausschnitt ausgesetzt. Die Farbfilter waren für unsere Zwecke besonders angefertigt und im Hinblick auf die Wärmeintensität der Lichtstrahlen einander angeglichen worden. Wie schon aus der Beschreibung der Versuchsanordnung hervorgeht, liefen die Experimente nach dem folgenden Schema ab: Der Proband durchlief zunächst die Übungsserie. Er sollte sich dabei mit der Einrichtung der oberen Kammer vertraut machen, indem er sie innen betastete; dabei steckte er seine Hand durch die Manschette, die am Ausschnitt der Kammer befestigt war und das Handgelenk der Versuchsperson umspannte. Der Proband sollte sich vor allem über die Lage der Kugeln orientieren. Er übte sich darin, die Kugeln, die der Versuchsleiter bezeichnete (»die Kugel hinten links«, » . . . hinten rechts«, » . . . vorn links« und » . . . vorn rechts«) herauszunehmen. Sobald der Proband mit den Kugeln so sicher hantierte, als lägen sie vor ihm, gingen wir zur Hauptserie unserer Versuche über. Wir erklärten dem Probanden zunächst seine Aufgabe. Er müsse eine der vier Kugeln herausnehmen. Dabei gelte es, vorsichtig und vor allem nicht überstürzt vorzugehen, denn drei Kugeln lösten bei Berührung einen unangenehmen elektrischen Schlag aus; nur eine Kugel sei nicht an den Stromkreis angeschlossen, und diese gelte es herauszunehmen. Die Versuchsperson hatte keine Ahnung, an welcher Stelle die
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»ungefährliche« Kugel lag, deren Lage sich zudem von Fall zu Fall ändern oder auch gleichbleiben konrite. Die Stellung des Schalters, der die Kugeln mit dem elektrischen Stromkreis verband, deckte sich - das lag im Sinne unserer Untersuchung - mit einer ganz bestimmten Lage der Lichtfilter. Berührte die Hand die »ungefährliche« Kugel, dann wirkten violette Strahlen auf die Haut. Näherte sie sich dagegen einer der »gefährlichen« Kugeln, dann wirkten rote Strahlen auf die Haut ein. Diese Methode schuf eine außerordentlich lebendige Versuchssituation. Das Verhalten des Probanden ähnelte dem eines Menschen, der einen sehr heißen Gegenstand in die Hand zu nehmen versucht: Er zögert, vollzieht »leere« Bewegungen über der Oberfläche des Objektes, ohne es zu streifen, berührt es leicht und greift schließlich sicher zu. In zwei Punkten unterschied sich unser Experiment von diesem Schema. In unseren Versuchen war der Proband vor eine Wahl gestellt; er konnte sich zuerst der einen und dann einer anderen Kugel nähern, er konnte wieder zur ersten zurückkehren und erst danach eine von ihnen wirklich berühren. Hatte er eine falsche Wahl getroffen und einen Schlag erhalten, dann wurde der Versuch erneut aufgenommen. Der zweite Unterschied lag darin, daß in unserem Versuch - anders als bei einer Annäherung an eine heiße Oberfläche - eine deutliche Empfindung erst zustande kommen konnte, sobald der Proband die Kugel wirklich berührte, denn elektrischer Strom mit einer Spannung von 100 Volt ist auf Entfernung nicht zu spüren, und betrüge die Luftschicht zwischen Hand und Kugel nur Bruchteile eines Millimeters. In dieser experimentellen Situation standen also unsere Probanden vor der Aufgabe, eine Kugel herauszunehmen und dabei nach Möglichkeit keine Fehler zu begehen. Sie vollzogen dabei mitunter längere Zeit hindurch vorsichtige Suchbewegungen, um die »ungefährliche« Kugel zu finden. Diese äußeren Handlungen waren selbstverständlich bewußt, aber nur insofern, als die Versuchspersonen ihr Ziel bewußt erfaßten. Eine bewußte Einstellung, bei der die einwirkenden Agenzien innerlich zueinander in Beziehung gebracht wurden, konnte es dagegen nicht geben. Die »innere Suche« wurde in dieser experimentellen Situation zu einer äußeren Handlung, durch die allein beide Einwirkungen miteinander in Verbindung gebracht wurden. Diese Handlung war zwar besonders geartet, sie hatte einen suchenden Charakter. Solche suchenden Handlungen gibt es jedoch nicht nur beim Menschen. Wir begegnen ihnen bei Tieren auf Schritt und Tritt. Es sei nur daran erinnert, wie sich eine Ratte im Labyrinth verhält, nachdem sie einen elektrischen Schlag erhalten hatte: Sie ist gespannt, macht Pausen, kehrt an die frühere Stelle zurück und vollzieht vorsichtige, »probierende« Bewegungen.
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Nun wollen wir das in dieser Untersuchung gewonnene Tatsachenmaterial darlegen. Die Serie umfaßte jeweils bis zu 600 Proben. In den Kontrollversuchen registrierten wir bei den Probanden im Durchschnitt 75 Prozent richtige Reaktionen. Dieser Wert übersteigt das auf Grund der bloßen Wahrscheinlichkeit zu erwartende Ergebnis um das Dreifache. Bei den Kontrollversuchen wurde nach einer anderen Methode vorgegangen. Der Experimentator nannte eine bestimmte Kugel, und der Proband mußte antworten, ob sie geladen sei oder nicht. Danach überprüfte er die Richtigkeit seiner Antwort, indem er diese Kugel berührte. Die Anzahl der richtigen Reaktionen schwankte dabei recht erheblich. Mitunter sank der Wert auf 50 Prozent, bisweilen stieg er bis auf 100 Prozent an. Unter den Bedingungen einer äußeren, suchenden Handlung kann man die Möglichkeit des Entstehens einer Sensibilität der Haut gegenüber sichtbaren Lichtstrahlen als objektiv feststehend betrachten. In der vorangegangenen Serie hatten wir einmal die Frage aufgeworfen, ob es möglich sei, die unter dem Einfluß sichtbarer Lichtstrahlen entstehenden Empfindungen zu differenzieren. Diese Frage muß in Anbetracht der letzten Untersuchung bejaht werden, in der es rote und violette Strahlen voneinander zu unterscheiden galt. In den Kontrollversuchen, mit denen die Untersuchungsergebnisse überprüft wurden, gewannen wir nicht nur die oben angeführten Zahlenwerte, sondern erfuhren auch einiges, was die Probanden an sich selbst beobachtet hatten. Ebenso wie bei den anderen Serien richteten sich die Versuchspersonen auch in diesem Experiment in ihrem Verhalten nach den auf ihrer Handfläche entstehenden eigenartigen Empfindungen. Nach der Art dieser Empfindungen gefragt, äußerten sie sich ähnlich wie die Probanden anderer Serien. Darüber hinaus stellten wir in ihren Aussagen die folgende Besonderheit fest: Sie führten die Empfindung, die sie bei der Annäherung an eine »gefährliche« Kugel hatten, auf den Einfluß des elektrischen Stroms zurück, den sie auf diese Distanz zu spüren glaubten. Diese Tatsache ist aus zwei Gründen beachtenswert: Sie wirft auf der einen Seite einige neue Probleme auf, und sie bestätigt auf der anderen Seite, daß die Versuchspersonen die Bedingung, von der ihre Wahl wirklich abhing, in der Tat nicht kannten. Welche vorläufigen allgemeinen Schlußfolgerungen lassen sich aus den Ergebnissen unserer vierten Untersuchung ziehen? In den Bedingungen der letzten und in denen der früheren Untersuchungen gibt es offensichtlich etwas Gemeinsames, von dem es abhängt, ob eine normalerweise nicht empfundene in eine empfundene Einwirkung umgewandelt wird. Dabei geht es selbstverständlich nicht um Wissen, sondern um das Bewußtwerden des Verhältnisses, das
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zwischen den Agenzien besteht. Dazu genügt es, daß beide Reize in der aktiven Tätigkeit der Versuchsperson auf bestimmte Art und Weise zueinander in Beziehung gebracht werden. Das letztere ist offensichtlich unbedingt erforderlich. Eine objektive zeitweilige Verbindung zwischen den Reizen allein, die durchaus genügt, um einen bedingten Reflex auf der Basis einer bereits vorhandenen, sozusagen »fertigen« Empfindung zu bilden, ist nicht imstande, diese Empfindung erstmalig aufkommen zu lassen. Damit lassen sich auch die negativen Ergebnisse der Serie erklären, mit der wir unser Problem zu untersuchen begannen. Auch in diesen Versuchen waren die Probanden aktiv, und wir konnten bei ihnen ebenfalls auf eine innere Tätigkeit schließen. Diese Tätigkeit wich jedoch erheblich von der in den zuletzt geschilderten Versuchen ab. Sie verlief in völlig anderer Richtung. Möglicherweise haben die Probanden in den ersten Versuchen, um dem unangenehmen Gefühl der Erwartung in den Pausen zwischen den elektrischen Hautreizen vorzubeugen oder um sich von der Versuchssituation gedanklich abzulenken, Pläne für den weiteren Verlauf des Tages geschmiedet oder ihr Bewußtsein mit anderen Dingen beschäftigt. Vielleicht haben sie sich gerade im Gegenteil auf die Empfindung des Stroms vorbereitet und versucht, die Dauer des möglichen Intervalls abzuschätzen, vielleicht haben sie vorsichtig den Druck auf die Taste verringert, in der Annahme, damit die Wirkung des elektrischen Hautreizes abzuschwächen. Möglicherweise verlief ihre innere Tätigkeit noch in ganz anderer Richtung. Sie verfolgte jedenfalls kein Ziel, das der Versuchssituation in irgendeiner Weise entsprochen hätte; ein gewisser adäquater Vorgang war zwar vorhanden, es fehlte jedoch ein Prozeß, der die einwirkenden Agenzien hätte zueinander in Beziehung setzen können. Damit lassen sich auch die negativen Ergebnisse des ersten Versuchs erklären. Unter dem von uns entwickelten Gesichtspunkt kann Sensibilität nur dort entstehen und eine Orientierungsreaktion nur dort aufkommen, wo die Versuchsperson zum Suchen veranlaßt wird. Das zeigt sich besonders deutlich in Situationen, in denen die Tätigkeit nach außen verlegt wird. Das ist beispielsweise bei einem Tier der Fall, das sich unter dem Einfluß eines neutralen Agens in einem realen räumlichen Bereich bewegt. Die Orientierung der Tätigkeit auf das betreffende Agens offenbart sich hier als tatsächliche Veränderung ihres äußeren Verlaufs. Unter experimentellen Bedingungen bleiben diese Beziehungen weitgehend verborgen. Der Prozeß scheint nur von rein formalen Zeit- und Kräftebedingungen abzuhängen, hinter denen sich nicht immer die realen Umstände erkennen lassen, unter denen sich die Tätigkeit des Tieres in seiner natürlichen Umwelt formt. Daraus resultiert nach
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unserer Meinung die Begrenztheit der in künstlichen Experimenten gewonnenen Daten, auf die von vielen Verfassern hingewiesen wird, die das Verhalten des Tieres nicht unter künstlichen Bedingungen untersuchen (unter denen es zwischen diffusen Versuchen, der experimentellen Situation auszuweichen, und dem Schlaf schwankt), sondern im Zustand deutlich ausgeprägter aktiver Tätigkeit, die einer bestimmten Aufgabe entspricht. Die Analyse der Erscheinungen der Sensibilität führt uns also wieder zum Problem der bedingten Reflexe. Wir können jetzt an dieses Problem etwas anders herangehen, da wir nicht, wie das oft geschieht, von der Genese und der Dynamik der eigentlichen sensorischen Prozesse abstrahieren. Der Prozeß der Bildung bedingter Verbindungen stellt sich uns daher selbstverständlich etwas anders dar und offenbart sich in seinen größeren biologischen Zusammenhängen.
4. Einschätzung der Ergebnisse und einige Schlußfolgerungen Wir haben unsere Untersuchung der Sensibilität mit den zuletzt geschilderten Versuchen von A S N I N abgebrochen. Damit sind die Möglichkeiten der experimentellen Erforschung dieses Problems jedoch noch nicht erschöpft. Im Gegenteil, am Ende des bereits durchlaufenen Weges eröffnen sie sich noch mehr. Im Grunde genommen haben wir nur die ersten Schritte getan. Manche experimentell ermittelten Daten bedürfen noch der Uberprüfung. Vieles muß nochmals analysiert und präzisiert werden. Eine ganze Reihe von Fragen, die im Laufe der Arbeit aufgetaucht sind, gilt es noch durch zusätzliche Experimente zu klären. Darüber hinaus zeichnen sich auch noch andere Untersuchungswege ab. Wir denken dabei vor allem an die Möglichkeit genetischer Untersuchungen, der Untersuchungen an Tieren. Wir schlössen uns den historisch entstandenen Ansichten über die Erscheinungen der Sensibilität an und betrachteten diese als Erscheinungen, die vor allem subjektiv auftreten. Deshalb untersuchten wir, unter welchen Bedingungen sie sich beim Menschen bilden, weil es uns damit möglich war, uns an subjektive Daten zu halten. Jetzt können wir von der Tatsache ausgehen, daß das aufkommende subjektive Erleben der Sensibilität dem Entstehen der Möglichkeit entspricht, die Tätigkeit des Organismus gegenüber seiner Umwelt zu verändern (bei höheren Tieren und beim Menschen durch den Mechanismus der bedingten Reflexe). Damit können wir uns auf ein streng objektives Krite-
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rium stützen: auf das Vorhandensein einer Orientierungsreaktion, des Entstehungsprozesses einer bedingt-reflektorischen Verbindung oder eines Prozesses, der dessen genetisches Äquivalent darstellt. Es müßte demnach Aufgabe unserer Experimente sein, nach Bedingungen zu suchen, unter denen eine Einwirkung, die zunächst die zu erforschende äußere Tätigkeit des Tieres von sich aus nicht zu ändern vermochte, zu einem Impuls wird, der diese Wandlung, nach der die gegebenen Umstände verlangen, herbeiführen kann. Nur auf diesem Wege können wir versuchen, auf den verschiedenen Entwicklungsstufen des Lebens die Situation zu erschließen, die wir zunächst mit dem Terminus »Such-Situation« bezeichnen wollen. Daneben zeichnet sich eine zweite Untersuchungslinie ab: Man sollte die Bedingungen untersuchen, unter denen unterschwellige Reize zu Agenzien werden, die Empfindungen hervorrufen, das heißt, man sollte nach den Umständen forschen, unter denen ein an der Peripherie entstandener Prozeß an die höheren Zentren des Nervensystems »angeschlossen« wird, von deren Arbeit die einheitliche Gerichtetheit unserer Tätigkeit abhängt. Im Prinzip beeinflußt zwar jeder an der Peripherie entstehende Prozeß über zahlreiche nervale und humorale Verbindungen in irgendeiner Weise die Lebenstätigkeit des gesamten Organismus; diese Einflüsse sind jedoch nicht identisch mit den Einflüssen von Prozessen, die sich, um mit ORBELI ZU sprechen, den entsprechenden kortikalen Prozessen »anfügen«. Spezielle Untersuchungen in dieser Richtung gibt es nur in Ansätzen. Dennoch erlauben die Ergebnisse einiger dieser Arbeiten schon jetzt die Annahme, daß das vorliegende Material die Hypothese von den Entstehungsbedingungen einer Sensibilität gegenüber gewöhnlich nicht empfundenen Einwirkungen bestätigen wird. Sehr aufschlußreiche Angaben über die Dynamik der optischen Empfindungen finden wir in einer Arbeit von SALZI.52 Die Untersuchung ist in ihren theoretischen Grundlagen zwar falsch, und sie wurde mit Recht kritisiert 53 ; die in ihr ermittelten Tatsachen sind jedoch interessant, und zwar besonders im Hinblick auf das Problem, das uns beschäftigt. Der Verfasser versetzte Versuchspersonen mit verminderter Sehschärfe in Situationen, in denen sie Objekte wahrnehmen mußten, die unter der Unterschiedsschwelle lagen. Bei den Probanden betrugen die Ergebnisse der ersten Experimente 48 bis 60 Einheiten der Entfernung vom Objekt; im Laufe von drei Monaten erhöhten sie sich nach und nach auf 50 bis 57, 55 bis 85, 60 bis 95, 80 bis 120, 80 bis 110, 80 bis 145 und 70 bis 120 Einheiten. Die im beschriebenen Experi52 53
E. SALZI: La sensation. fitude de sa genese. Paris 1934. Siehe ein Referat von H. Р1ёгоп in »Anne psydiologique«, 1935.
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ment erzielten Fortschritte traten auch unter anderen Bedingungen und bei anderen Objekten auf; sie waren übertragbar. Der Verfasser erklärt die Möglichkeit solcher Fortschritte mit der Aktivität der Versuchspersonen gegenüber den besonderen Aufgaben, die sie in der experimentellen Situation zu lösen gehabt hätten. Zu den bei manchen Probanden beobachteten schlechten Ergebnissen bemerkt er folgerichtig, diese Personen seien nicht in der Lage gewesen, den Instruktionen, die angespannte innere Tätigkeit von ihnen forderten, zu genügen. Er schlägt vor, die Versuchsperson vor dem Experiment erst auf ihre Aufgabe vorzubereiten und dabei zu entscheiden, ob sie für die Versuche geeignet sei oder nicht. Auch die Daten aus anderen Untersuchungen decken sich im Prinzip mit den oben dargelegten Ergebnissen, obwohl im Charakter und in der Problemstellung der Experimente große Unterschiede bestehen. In diesem Zusammenhang sei eine Arbeit von BRONSTEIN genannt. 54 Der Verfasser stellte unter dem Einfluß sich wiederholender akustischer Reize ein selektives Absinken der akustischen Schwellen unter einen Wert von 17,0 Dezibel fest. »Eine gesetzmäßige Erhöhung der Sensibilität«, schreibt der Verfasser, »war nur in den Versuchen zu beobachten, in denen die Probanden aktiv lauschten; sie trat folglich nur beim tätigen Typ auf.« 55 56 K A U F M A N stellte in einer Arbeit eine direkte Verbindung zwischen dem Inhalt der »steuernden« Tätigkeit und der Sensibilität gegenüber den Unterschieden in der Tonhöhe fest. Der Verfasser wendet sich gegen die Ansicht anderer Autoren, beispielsweise WHIPPLES und S E A SHORES, die die individuellen Unterschiede in der Empfindungsschwelle für die Tonhöhe als angeborene, unveränderliche Besonderheiten des Organismus betrachten. An Hand seines Materials weist K A U F M A N nach: a) Die Empfindungsschwelle und der Wahrnehmungstyp für Tonhöhenunterschiede hängen von der Art der musikalischen Betätigung ab (Pianisten, Violinspieler, Cellisten), b) Pie Schwelle und der Wahrnehmungstyp für Tonhöhenunterschiede können sich verschieben (Mikro- und Makrointervalle). K A U F M A N stellte zum Beispiel erhebliche Unterschiede zwischen klavierspielenden Kindern und solchen, die Saiteninstrumente spielten, fest. Die ersteren nehmen Mikrointervalle (5 und weniger Hertz) nicht mehr wahr, während die letzteren dazu 54
А. I. BRONSTEIN: Uber den sensibilisierenden Einfluß akustischer Reize auf das Hörorgan. »Bjulleten exper. biologii i mediziny«, 1936, Mitteilung 1 bis 3 (russ.). 55 Ebenda, Mitteilung 2, S. 366 (russ.). 56 W. I. KAUFMAN: Die Wahrnehmung kleiner Tonintervalle. In: Sammelband »Untersuchungen zum Problem der Sensibilität« unter der Redaktion von W. P . OSSIPOW und B. G . ANANJEW. Leningrad 1 9 4 0 , S. 1 1 4 bis 138 (russ.).
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noch in der Lage sind. Für unsere Auffassung ist vor allem die Tat-, sache wichtig, daß sich diese Besonderheiten ändern können. Audi die klavierspielenden Versuchspersonen lernten Mikrointervalle zu unterscheiden, obwohl sie »anders hörten« und ihnen die exponierten Töne fremd erschienen. »Die Fähigkeit, Tonhöhen zu unterscheiden, ist nicht angeboren und physiologisch unveränderlich«, schreibt der Verfasser. »Sie ist im Gegenteil eine Funktion der musikalischen Betätigung und hängt von den konkreten Besonderheiten der praktischen Tätigkeit, der betreffenden Persönlichkeit ab.« 57 Die Ergebnisse aller in dieser Richtung angestellten Untersuchungen sind zur Zeit nur schwer einzuschätzen. Da sie die mit der Sensibilisierung spezialisierter sensorischer Apparate zusammenhängenden Tatsachen den Fakten gegenüberstellen, die die Genese der Empfindlichkeit betreffen, erscheinen sie uns theoretisch außerordentlich wichtig: Vermutlich sind auf den frühen Entwicklungsstufen, auf denen die sensorischen Vorgänge viel weniger spezialisiert und beständig sind, die durch adäquate Reize hervorgerufenen Prozesse nach dem gleichen Prinzip der funktionalen Entwicklung aufgebaut, wie wir sie beim Aufkommen der Sensibilität gegenüber nicht adäquaten Reizen beobachten. Ob ein Reiz physiologisch adäquat oder nicht adäquat ist, hängt davon ab, ob er biologisch adäquat ist oder nicht. In dieser Hinsicht sind die Tatsachen gründlich genug untersucht worden. Das Ergebnis läßt sich wie folgt verallgemeinern: Soll ein physiologisch adäquater Reiz beim Tier eine Reaktion hervorrufen, dann muß er auch biologisch adäquat sein. Die Untersuchungen über die Dynamik der Sensibilität haben auch eine außerordentlich große praktische Bedeutung. Erschließt man die Abhängigkeit der sensorischen Entwicklung vom Inhalt der Tätigkeit, dann ergibt sich nicht nur eine neue Problemstellung in bezug auf die sensorische Wahrnehmung, sondern erweitert sich auch der Rahmen dieses Problems; es eröffnen sich auch Einblicke in das Entstehen der mitunter wirklich frappierenden Sensibilisierung, zu der die Lebensnotwendigkeit bei manchen sensorischen Defekten (Blindheit beziehungsweise Taubheit) oder die Anforderungen mancher Berufe spontan führen. Wir wollen abschließend einige Verallgemeinerungen treffen. Dazu kehren wir nochmals zum Problem der Sensibilität und dem der bedingt-reflektorischen Tätigkeit zurück, diesmal jedoch mit dem Ziel, einige genetische Schlußfolgerungen zu ziehen, die sich aus der Lehre PAWLOWS ergeben. 57
W.I.KAUFMANN: Die Wahrnehmung kleiner Tonintervalle. In: Sammelband »Untersuchungen zum Problbem der Sensibilität« unter der Redaktion von W. Р . OSSIPOW und B. G . ANANJEW. Leningrad 1940, S. 114 bis 138 (russ.).
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Mit der Theorie von den bedingten Reflexen eröffnete sich uns »ein zweiter umfangreicher Teil der Physiologie des Nervensystems, des Nervensystems, das in der Hauptsache nicht die Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen des Organismus regelt, mit denen wir uns jetzt vorwiegend beschäftigt haben, sondern diejenigen zwischen Organismus und Umwelt« 58 . Was bildet den Schwerpunkt dieses »zweiten Teiles der Physiologie«? » U m . . . >den Schwerpunkt der neuen Seiten in der physiologischen Erforschung... zu verstehen«, schreibt PAWLOW, »muß man in den Objekten der Außenwelt, die auf den Tierorganismus einwirken, zwei Arten von Eigenschaften unterscheiden: die wesentlichen Eigenschaften, die eine bestimmte Reaktion in diesem oder jenem Organ absolut bestimmen, und unwesentliche Eigenschaften, die zeitweilig, bedingt wirken. Nehmen wir zum Beispiel eine Säurelösung. Ihre bestimmte chemische Reizwirkung auf die Mundhöhle kommt unter anderem unbedingt und immer in einem Speichelfluß zum Ausdruck, der im Interesse der Unversehrtheit des Organismus für das Neutralisieren, Verdünnen und Entfernen dieser Lösung notwendig ist. Die anderen Eigenschaften dieser Lösung, ihre Farbe, ihr Geruch, stehen an und für sich in keinerlei Beziehung zum Speichel oder der Speichel zu ihnen. Gleichzeitig kann man eine Tatsache nicht übersehen, die ungeheure Bedeutung für die Lebenserscheinungen besitzt, die Tatsache, daß unwesentliche Eigenschaften des Objekts nur dann zu Reizen für das Organ (in unserem Fall die Speicheldrüsen) werden, wenn ihre Wirkung auf die rezipierende Oberfläche des Organismus mit der Wirkung der wesentlichen Eigenschaften zusammenfällt.« 59 Damit ist nach PAWLOW nur eine weitergehende Anpassung gemeint. Im ersten, »physiologischen« Falle ist die Tätigkeit der Speicheldrüsen mit den Eigenschaften des Gegenstandes verbunden, auf die der Speichel wirkt. Das Tier wird durch wesentliche, unbedingte Merkmale des Objekts gereizt. Anders liegen die Dinge im zweiten, »psychologischen« Falle: »Bei psychologischen Versuchen hingegen«, schreibt PAWLOW, »wird das Tier durch Eigenschaften äußerer Gegenstände gereizt, die für die Funktion der Speicheldrüsen unwesentlich oder sogar ganz zufällig sind.« 60 Damit ist der klassische, grundlegende Standpunkt formuliert, unter dem die höhere Nerventätigkeit (das Verhalten) der Tiere - die bedingten Reflexe - untersucht wird. Damit sind zugleich die wichtigsten Tatsachen verallgemeinert, die die Physiologie der höheren Formen betreffen, » . . . jener unbegrenzten Anpassung in ihrem vollen Um58
I. P. PAWLOW: Sämtliche Werke, Bd. III/L, Akademie-Verlag, Berlin 1953,
S. 12. 59 Ebenda, S. 25 (vom Verfasser hervorgehoben). Ebenda, S. 13.
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fang, die das Leben auf der Erde ausmacht« 61 . Diese Tatsachen sind allgemein bekannt. Ebenso bekannt sind jetzt auch die spezifischen Gesetze der Signaltätigkeit der Großhirnrinde gegenüber zahllosen und ständig wechselnden Signalen, die diese Erscheinungen wissenschaftlich erklären. Das von PAWLOW entdeckte Prinzip zeigt uns, wie sich die höhere Nerventätigkeit, die psychische Tätigkeit, aufbaut, die innerlich mit der Sensibilität, mit der Fähigkeit des Organismus zu empfinden und mit der Fähigkeit zur psychischen Widerspiegelung der Außenwelt, zusammenhängt. PAWLOW ging mit besonderem Elan daran, » . . . den Mechanismus und Lebenssinn« dessen zu erschließen, » . . . was den Menschen am meisten beschäftigt: sein Bewußtsein, die Konflikte seines Bewußtseins«. Durch die Perspektive, »Psychologisches und Physiologisches einander anzunähern und schließlich zu verschmelzen«, werde sich dieser Mechanismus erschließen lassen. Der Häuptweg, den PAWLOW und seine Schüler in ihren Untersuchungen beschritten, folgte einer aufsteigenden genetischen Linie: Man bezog in den Bereich der objektiven physiologischen Forschung immer kompliziertere Verhaltensprozesse höherer Tiere - Hunde, Affen, Anthropoiden - ein und versuchte, die dabei gewonnenen experimentellen Daten auf den Menschen zu übertragen. Dennoch zeichneten sich in den Untersuchungen zuweilen auch absteigende Tendenzen ab. »Die individuelle Anpassung existiert innerhalb der ganzen Tierwelt. Das ist eben der bedingte Reflex, die bedingte Reaktion«, schreibt PAWLOW.62 Dieses grundlegende Prinzip gilt folglich auch auf niederen Entwicklungsstufen. Auch auf diesen Stufen gibt es damit einen Unterschied zwischen der »physiologischen« und der bedingten oder, um mit PAWLOW ZU sprechen, der »psychischen« Gleichgewichtseinstellung zwischen Organismus und Umwelt. Auch in diesem Stadium gilt es, den Schwerpunkt der zweiten Seite der organischen Lebenstätigkeit irgendwie zu begreifen. Das allgemeine Prinzip, das von PAWLOW bei der Untersuchung des Verhaltens höher entwickelter Tiere entdeckt und formuliert wurde, umfaßt in seinem konkreten Ausdruck zwangsläufig Besonderheiten, die für diese relativ hohe Stufe der biologischen Entwicklung spezifisch sind. Es läßt sich deshalb kaum mechanisch auf das Verhalten bedeutend niedriger organisierter Tiere übertragen. Aus dieser unumstrittenen Tatsache wird jedoch mitunter eine Schlußfolgerung gezogen, die unserer Meinung nach völlig falsch ist. 61 62
Ebenda, S. 20.
Ebenda. Bd. III/2, Akademie-Verlag, Berlin 1953, S. 425 (vom Verfasser hervorgehoben).
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Man nimmt nämlich an, das von PAWLOW entdeckte Prinzip gelte nur für Entwicklungsstufen, deren Formen und Gesetzmäßigkeiten den zuerst beschriebenen gleich oder sehr ähnlich sind. Eine derartige Einengung - das vergißt man dabei - widerspricht dem oben angeführten Gedanken PAWLOWS von der Existenz der bedingten Reaktion innerhalb der gesamten Tierwelt. Wir kennen auch einige Gründe, warum das Prinzip der bedingten Reflexe, der Signalisation, derart eingeengt wird: Man hat unter anderem die ursprünglichen Tatsachen nicht so analysiert, wie das die Aufgabe einer genetischen Untersuchung in absteigender Linie erfordert hätte. Der Bereich der bedingten Reflexe wurde historisch entdeckt, als man von der Erforschung von Nervenprozessen, die die Beziehungen zwischen mehreren Organen herstellen, zur Untersuchung von Prozessen überging, die ein Organ (Speicheldrüse) zu einer für dessen Funktion neutralen Umwelteinwirkung in Beziehung setzten. Damit wurde eine doppelte Unterscheidung getroffen: Auf der einen Seite unterschied man zwischen zwei Typen physiologischer Prozesse (zweier Teile der Physiologie), auf der anderen Seite zwischen zwei Typen von Beziehungen der einwirkenden Eigenschaften zum Organ - einmal Beziehungen von Eigenschaften, die unmittelbar mit der physiologischen Funktion der Speicheldrüse zusammenhängen, und zum anderen Beziehungen von Eigenschaften (z. B. des Lichts oder des Lautes), die von sich aus keinen Einfluß auf die Speicheldrüsen haben, die jedoch, sofern sich ihre Wirkung mit den erstgenannten Eigenschaften verbindet, deren Rolle übernehmen und zu deren »Surrogaten« - um mit PAWLOW ZU sprechen - werden können. Man hat die biologische Bedeutung dieser beiden neuentdeckten Arten von Beziehungen sofort in gebührendem Maße gewürdigt. PAWLOW erforschte die erste Art von Beziehungen nur auf den Anfangsetappen seiner Arbeit. Mit der Weiterentwicklung der Pawlowschen Schule (Arbeiten von BYKOW) hat man dann das Prinzip der bedingt-reflektorischen Tätigkeit auch an Prozessen untersucht, die die Beziehungen zwischen den Organen herstellen. Die erste Unterscheidung hat trotzdem ihre allgemeine Bedeutung. Die bedingten Verbindungen betreffen vor allem die Gleichgewichtseinstellung des Organismus zur Außenwelt und dienen damit einer weiteren Anpassung. Demgegenüber ermöglichen die unbedingten Reflexe die inneren Prozesse der Selbsterhaltung des Organismus; in seinen äußeren Beziehungen treten sie nur zutage, sofern Eigenschaften wirksam werden, auf die das betreffende Organ »eingestellt« ist, die mit seinen Funktionen und mit seinem Leben eng und unmittelbar verbunden sind. Abstrahieren wir von der außerordentlichen Kompliziertheit höherer Organismen
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(was unsere Aufgabe unbedingt erfordert), dann können wir allgemein unterscheiden zwischen Prozessen, die das Leben unmittelbar erhalten, und Prozessen, die der Veränderlichkeit der Außenwelt entsprechen. Diese Unterscheidung trifft auch für die niederen Stufen der biologischen Entwicklung zu. Ebenso unumstritten bleibt genetisch auch die zweite, die Hauptunterscheidung. Aber auch hier muß man, um genetische Probleme lösen zu können, die Unterscheidung in sehr allgemeine Form kleiden. PAWLOW, der recht komplizierte und differenzierte Organismen untersuchte, betrachtete das Verhältnis eines von ihm ausgewählten Organs zu äußeren Einwirkungen. Die Wechselbeziehung eines Organs ist jedoch ein Einzelfall, in dem sich die Wechselbeziehung des gesamten Organismus äußert. Bei Lebewesen, deren Organe erheblich weniger differenziert und spezialisiert sind, können wir das Prinzip der Verbindung des Organismus mit der Außenwelt nur allgemein gelten lassen. Die konkreten Gesetzmäßigkeiten sind hier unter Umständen völlig anders; sie müssen sich schon insofern von den in Versuchen mit Hunden ermittelten Gesetzmäßigkeiten unterscheiden, als die Lebensbedingungen und die anatomische Organisation niederer Tiere erheblich von den Lebensbedingungen und der anatomischen Organisation der Säugetiere abweichen. Gehen wir unter genetischem Aspekt an die Lehre PAWLOWS heran, dann ergibt sich noch ein weiteres Problem, das für uns sehr wichtig ist. Bei einem bedingten Reflex haben wir es stets mit der Arbeit eines komplizierten Systems von Rezeptoren und mit einer ebenso komplizierten kortikalen Repräsentation der Sinnesorgane zu tun. Auf höheren Entwicklungsstufen ist die Sensibilität voll funktionsfähig, in ihrer Tätigkeit festgelegt und verhältnismäßig beständig. Deshalb können wir uns hier ein klares Bild über die Schließungstätigkeit der Großhirnhemisphären verschaffen. Die Untersuchung beschränkt sich dabei meist auf die Dynamik der zentralen Verbindungen, während die sensorische Sphäre und die ihr eigentümliche Dynamik aus dem Blickfeld zu verschwinden scheinen. (Die Prozesse in diesen Zentren werden als gegeben vorausgesetzt.) In den klassischen Untersuchungen der bedingten Reflexe haben wir es in der Regel nur mit der Wirkung von Agenzien zu tun, die indifferent für das betreffende Organ (beispielsweise für die Speicheldrüse) sind und deren allgemeine Signalbedeutung im Laufe der phylogenetischen Entwicklung in Form unbedingter Orientierungsreaktionen morphologisch bereits fixiert ist. In Experimenten mit höheren Tieren zeigt sich dieses Prinzip unmittelbar nur von seiner genetisch sekundären Seite. Um diesen Gedanken zu erläutern, wollen wir die Reaktion eines Tieres auf irgendein neutrales Agens, zum Beispiel auf das Ticken eines
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Metronoms, näher betrachten. In welchem Sinne ist dieses Agnes eigentlich »neutral«? Es ist erstens deshalb neutral, weil es zunächst nicht den zu untersuchenden Prozeß, beispielsweise die Speichelreaktion, auslöst; es ist folglich neutral im Hinblick auf die Funktion des betreffenden Organs, das heißt, seine Einwirkung an sich steht in keiner unmittelbaren Beziehung zur Lebenstätigkeit dieses Organs. Dieses Agens ist zweitens auch insofern neutral, als es von sich aus in keiner direkten Beziehung zur Lebenstätigkeit des gesamten Organismus steht, sofern wir unter dem Terminus »Lebenstätigkeit des gesamten Organismus« nur die grundlegenden Prozesse der Selbsterhaltung (Verteidigungs-, Ernährungs- und Fortpflanzungsvorgänge) verstehen. Diese Einschränkung ist erforderlich, denn jedes Agens, das dem betreffenden Rezeptor adäquat ist, ruft ja eine unbedingte Orientierungsreaktion hervor. Weder der Rezeptor - in diesem Falle das Gehör - noch die mit ihm ursprünglich verbundene Orientierungsreaktion haben hier jedoch eine spezielle unbedingte Funktion; ihre Tätigkeit unterscheidet sich grundsätzlich zum Beispiel von der Funktion der Speicheldrüse, deren Arbeit unmittelbar der Lebenserhaltung des Tieres dient. Die Existenz dieser besonderen Funktion bildet auch die Voraussetzung für die bedingt-reflektorische Steuerung der unmittelbaren Lebensprozesse des Organismus. Das einheitliche Prinzip offenbart sich demnach in doppelter Gestalt: einmal allgemein in Gestalt der Wechselbeziehung zwischen Organismus und Umwelt, die durch die Wirkung neutraler Agenzien vermittelt wird, und zum anderen speziell in Gestalt der eigentlichen bedingten (zeitweiligen) Nerven Verbindungen. Offenbar kann nur die erste Interpretation dieses Prinzips umfassende genetische Bedeutung haben; sie konkretisiert es im Hinblick auf Tiere, die über spezialisierte Analysatoren und über ein hochentwickeltes Nervensystem verfügen. Da wir an unser Problem genetisch herangehen, ergeben sich zwei grundlegende Schlußfolgerungen: Man muß erstens genau unterscheiden zwischen der »bedingten« Tätigkeit des Organismus im weitesten Sinne des Wortes, das heißt der Tätigkeit, die durch Agenzien vermittelt wird, welche seinen Lebensfunktionen gegenüber neutral sind, und der bedingt-reflektorischen Tätigkeit im eigentlichen Sinne des Wortes, den eigentlichen bedingten Reflexen. Die erste Form der Tätigkeit, die biologisch fixiert ist, kann mit Hilfe der Artmechanismen der Anpassung des Organismus an die Umwelt vollzogen werden; die eigentliche bedingt-reflektorische Tätigkeit ist immer eine individuelle Anpassungstätigkeit. Im ersten Falle gilt es zu unterscheiden zwischen unmittelbar lebenswichtigen Reizen und Einwirkungen, die mittelbar der Lebenserhaltung dienen. Im zweiten Falle differenzieren wir zwischen unbedingten Reizen, auf die eine
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angeborene Reaktion erfolgt, und bedingten Reizen, die eine Reaktion nur auslösen, sofern die individuelle Erfahrung des Tieres zu einer entsprechenden Nerven Verbindung geführt hat. Die beiden Paare dieser Begriffe decken sich also nicht. Das unbedingte Agens kann zu einem Reiz werden, der die Lebensfunktionen des Organismus mittelbar beeinflußt, indem er auf einen Analysator, auf ein spezialisiertes Organ einwirkt, das die Verbindung zwischen Organismus und Umwelt herstellt. Das ist möglich, weil das Prinzip der im weiteren Sinne bedingten, das heißt vermittelnden Reaktion und das Prinzip der zeitweiligen, bedingten Verbindung zwei zwar verschiedene, aber genetisch miteinander verbundene Prinzipien sind. Dazu führt PAWLOW in einer seiner Arbeiten folgendes aus: »Was gibt der Mechanismus der zeitweiligen Verbindung dem Organismus? Wann tritt die zeitweilige Verbindung, der bedingte Reflex, in Erscheinung? Gehen wir von einem lebendigen Beispiel aus. Die wesentlichste Verbindung des tierischen Organismus mit der umgebenden Natur ist die Verbindung durch bestimmte chemische Stoffe, die dauernd in den Bestand des jeweiligen Organismus eingehen, das heißt die Verbindung durch die Nahrung. Auf den niederen Stufen der Tierwelt führt nur die unmittelbare Berührung der Nahrung mit dem tierischen Organismus oder umgekehrt des Organismus mit der Nahrung zum Stoffwechsel. Auf höheren Stufen werden diese Beziehungen zahlreicher und weitgehender. Jetzt lenken schon Gerüche, Geräusche und Bilder die Tiere in weiten Gebieten ihrer Umwelt auf die Nahrung hin. Und auf der höchsten Stufe lassen Sprechlaute, Schrift- oder Druckzeichen die Menschenmasse sich über die ganze Oberfläche der Erdkugel in der Suche nach dem täglichen Brot ausbreiten. Auf diese Weise erscheinen die zahllosen, verschiedenartigen äußeren Agenzien gleichsam als eine Art von Signalen des Nahrungsstoffes. Sie lenken die höheren Tiere darauf, sich der Nahrung zu bemächtigen, sie veranlassen sie, über die Verbindung mit der Umwelt die Nahrung zu erlangen. Hand in Hand mit dieser Vielfalt und Entfernung geht die Umwandlung der dauernden Verbindung der äußeren Agenzien mit dem Organismus in eine zeitweilige Verbindung; denn erstens sind Verbindungen auf Distanz ihrem Wesen nach zeitweilig und wechselnd, und zweitens könnten sie wegen ihrer Vielzahl selbst in den umfangreichsten Apparaten nicht als dauernde Verbindungen untergebracht werden.« 63 Mit anderen Worten: Der Organismus entwickelt sich insofern, als auf der einen Seite seine unmittelbaren Beziehungen zur Umwelt zu mittelbaren, 63 I. Р . PAWLOW: Sämtliche Werke. Bd. S. 80 (vom Verfasser hervorgehoben).
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durch vielfältige Signale gesteuerten Beziehungen.werden, und auf der anderen Seite die konstanten Verbindungen des Organismus mit den Agenzien der Außenwelt zu zeitweiligen Verbindungen umgestaltet werden. Termini wie »bedingt-reflektorische Verbindung«, »bedingter Reiz« oder »unbedingter Reiz« beziehen sich auf die Nerventätigkeit hochorganisierter Tiere; in bezug auf niedere Organismen sind sie nur mit Vorbehalt zu benutzen. Durch allgemeinere Begriffe wie »vermittelte Tätigkeit«, »signalisierende Einwirkung« oder »Orientierung« kann man dagegen eine ganze Reihe genetischer Erscheinungen erfassen, ohne daß sie an präziser Bedeutung verlieren. Die zweite Schlußfolgerung, die wir in Anbetracht des genetischen Herangehens an das allgemeine Prinzip der Signaltätigkeit des Organismus ziehen müssen, betrifft schon unmittelbar das Problem der Sensibilität. Die Lehre PAWLOWS von der höheren Nerventätigkeit betrachtet die Sensibilität der Organismen gegenüber neutralen Reizen, die sich im Vorhandensein einer ihrem Wesen nach unbedingten Orientierungsreaktion äußert, als gegebene Voraussetzung für die Bildung bedingtreflektorischer Verbindungen. Dieser Umstand führt zwangsläufig dazu, von der Dynamik der Bedürfnisse des Tieres zu abstrahieren. Genauer gesagt: Diese Dynamik wird in den Untersuchungen der höheren Nerventätigkeit nur im Hinblick darauf verfolgt, inwiefern sie sich in den bedingten Verbindungen niederschlägt. PAWLOW schreibt in diesem Zusammenhang: »Wenn wir unsere Ergebnisse mit den Erscheinungen der subjektiven Welt vergleichen wollen, müssen wir nicht einen Wunsch des Hundes, sondern seine rege Aufmerksamkeit als Hauptbedingung für den Erfolg unseres Versuchs ansehen. Die Speichelreaktion des Tieres würde man in der subjektiven Welt als ein Substrat der elementaren, reinen Vorstellung, des Denkens, ansehen können.« 64 Die Bedeutung der Bedürfnisse (der »Wünsche«) des Tieres, die auch experimentell verfolgt wurden, liegt nur in ihrem Einfluß auf die selektiven Reaktionen des Organismus. Eine Reizbarkeit, die vom Zustand der Bedürfnisse abhängt und nicht unmittelbar in den Bereich der Gesetze der Bildung zeitweiliger Verbindungen gehört, stellt ein Problem für sich dar. Ganz anders verhalten sich die Dinge bei einer genetischen Untersuchung. Hier wird die Frage, wie der Organismus die Außenreize im Zusammenhang mit seinen Lebensbedürfnissen ursprünglich hervorhob, tatsächlich zum Problem. Die Entwicklung der Sensibilität kann nur verstanden werden, sofern man vor allem die Bedingungen verfolgt, 64
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unter denen sich die unmittelbaren Verbindungen mit der Außenwelt in immer vielfältigere und entferntere Beziehungen verwandeln. Wer die Tätigkeit niederer Tiere untersuchen will, muß von diesem Problem ausgehen. Dabei gilt es im Auge zu behalten, daß sich die Entwicklung der Sensibilität nicht nur in immer differenzierteren Empfindungen äußert; sie wandelt sich im Laufe der Entwicklung auch qualitativ, es bilden sich immer neue Formen der Sensibilität. ORBELI ist einer der wenigen Verfasser, die den tiefen genetischen Sinn der PAWLOWschen Arbeiten erkannten. Auch uns erscheint die Methode PAWLOWS objektiv als eine experimentelle genetische Methode in der oben erläuterten Bedeutung dieses Terminus. Die Untersuchung bedingter Speichelreflexe an Hunden, bei der von komplizierten Prozessen anscheinend abgesehen wird, erschließt nach unserer Meinung einfachere und zugleich tiefere genetische Zusammenhänge. Das gilt wiederum vor allem für die sensorische Sphäre. Zweifellos sind Experimente mit isolierten Reizen oder künstlichen zeitweiligen Reizkombinationen ein methodisches Verfahren, das den Hund vor besondere Bedingungen stellt. Diese Methode hat den Vorzug, die Dynamik der Nervenprozesse in den Großhirnhemisphären besonders deutlich zutage treten zu lassen; sie gestattet jedoch nicht, in die Dynamik der eigentlichen sensorischen Prozesse einzudringen. Läßt man dagegen die experimentellen Bedingungen komplizierter werden, dann treten die mit der Sensibilität verbundenen Momente in den Vordergund. Will man zum Beispiel in einem Versuch zeitweilige Verbindungen zwischen zwei indifferenten Reizen bilden, dann gilt es, die Orientierungsreaktion des Tieres auf jedes der beiden indifferenten Agenzien aufrechtzuerhalten. Die auf diese Weise entstehenden Verbindungen sind durch einen charakteristischen Zug gekennzeichnet: Sind sie einmal entstanden, dann bleiben sie monate-, ja sogar jahrelang erhalten. Je komplizierter die Aufgabe wird, desto deutlicher tritt offensichtlich die Rolle der eigentlichen Sensibilitätsprozesse - vor allem in ihren dynamischen Beziehungen - in Erscheinung. Analysieren wir die Grundgedanken der Lehre PAWLOWS von der höheren Nerventätigkeit unter dem Gesichtspunkt unserer genetischen Untersuchung, dann läßt sich ein zweifaches Prinzip erkennen, das dem Begriff der bedingten, der »psychischen« Reaktion des Organismus zugrunde liegt: das allgemeine biologische Prinzip einer Lebenstätigkeit, die durch Signale, das heißt durch diese oder jene neutralen Einwirkungen, vermittelt wird, und das eigentliche Prinzip der zeitweiligen Verbindungen, in dem sich das erste, allgemeine Prinzip speziell in der Arbeit der Großhirnhemisphären äußert. Wie die Analyse zeigt, offenbart sich dieses allgemeine Prinzip vor allem in der Entwicklung der sensorischen Sphäre.
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Man darf das Prinzip der bedingten Signalbeziehungen zwischen Organismus und Umwelt nicht als etwas von Anfang an Gegebenes betrachten. Um wesentliche und absolut bestimmende Einflüsse durch Einwirkungen ersetzen zu können, die von sich aus unwesentlich sind und nur zeitweilig in Aktion treten, müssen bereits Prozesse existiert haben, die den Organismus zu den ersten, von sich aus lebenswichtigen Eigenschaften der Außenwelt in Beziehung setzen. Es gibt demnach einen Ubergang von jener einfachen Lebensform, die auf direkte, unbedingte Beziehungen beschränkt war, zu einem Dasein, das auch bedingte und signalisierende Beziehungen umfaßt; es gibt folglich auch das Problem der Genese dieser Beziehungen, das sich uns zugleich als das Problem der Genese der Sensibilität, der Genese der Empfindungen offenbart. Wir kehren damit wieder zu unserer Ausgangshypothese zurück, nähern uns ihr diesmal jedoch nicht von »unten«, von den Tatsachen ausgehend, die die allgemeine Richtung der Evolution auf den Stufen des primitiven Lebens charakterisieren, sondern von »oben«, indem wir das grundlegende Prinzip der Nerventätigkeit der höher entwickelten Tierebetrachten.
Über den Medianismus der sinnlichen Widerspiegelung l Die Entwicklung wissenschaftlicher Vorstellungen von den konkreten Mechanismen der unmittelbaren sinnlichen Erkenntnis hat zweierlei Bedeutung - eine psychologische und eine philosophische. Für den letzteren Aspekt ist das von uns untersuchte Problem besonders wichtig; wir haben es nicht nur nach konkret-wissenschaftlichen, sondern auch nach erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten aufmerksam zu analysieren. Im 19. Jahrhundert entdeckte die klassische Physiologie der Sinnesorgane zahlreiche fundamentale wissenschaftliche Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten. Sie entwickelte zugleich in der Lehre von den Empfindungen eine theoretische Konzeption, die bei uns in den letzten Jahren als »rezeptorisch« bezeichnet und der »reflektorischem Konzeption der Empfindungen gegenübergestellt wurde, die sich auf die Auffassungen SETSCHENOWS und PAWLOWS stützt. Die »rezeptorische« Konzeption entsprang der subjektiv-idealistischen Philosophie, die diese Konzeption wiederum benutzte, um ihre Positionen zu verteidigen. Für die rezeptorische Konzeption war der Standpunkt kennzeichnend, die spezifische Qualität der Empfindung werde durch die Eigenschaften des Rezeptors und der Nervenbahnen bestimmt. JOHANNES MÜLLER formulierte diese Ansicht im Prinzip der »spezifischen Energien der Sinnesorgane«. In seiner allgemeinen Form scheint dieses Prinzip recht banale und selbstverständliche Tatsachen auszudrücken wie etwa, das Auge sei in seiner Struktur so beschaffen, daß es nur optische Empfindungen liefern könne, ebenso wie das Ohr nur für akustische Empfindungen zuständig sei. Wir halten es daher für zweckmäßig, dieses Prinzip vollständiger wiederzugeben. In seinem Buch 65 formuliert J. MÜLLER sinngemäß folgende Gedanken: Wir können keine Empfindungen haben, die durch äußere Ursachen hervorgerufen werden, außer solchen, die auch ohne diese Ursachen durch den Zustand der sensorischen Nerven hervorgerufen werden. Dieselbe äußere Ursache ruft in den verschiedenen Sinnesorganen in Abhängigkeit von ihrer Natur unterschiedliche Empfindungen hervor. 65 JOHANNES MÜLLER: Handbuch für die Physiologie des Menschen für Vorlesungen. Bd. II, Coblenz 1844.
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Die einem jeden sensorischen Nerv eigenen Empfindungen können durdi viele äußere und innere Einwirkungen ausgelöst werden. Die Empfindung liefert dem Bewußtsein nicht die Eigenschaften oder Zustände äußerer Körper, sondern nur Eigenschaften und Zustände des sensorischen Nervs, die durdi äußere Ursachen bestimmt werden, und diese Eigenschaften sind für die verschiedenen sensorischen Nerven unterschiedlich. Aus diesen Thesen zog M Ü L L E R eine ganz bestimmte erkenntnistheoretische Schlußfolgerung: Die Empfindungen liefern uns keine Kenntnisse von den Eigenschaften der einwirkenden Dinge, da sie nur der Qualität des Sinnesorgans (seiner spezifischen Energie) entsprechen. Diese subjektiv-idealistische Schlußfolgerung wurde später häufig mit dem Argument bekräftigt, man könne sie nicht ablehnen, da eine Reihe konkreter Tatsachen aus den Empfindungsprozessen für sie spräche. Und es ist vom Standpunkt der rezeptorischen Theorie auch tatsächlich nicht möglich, die Realität von Tatsachen zu leugnen, mit denen die Abhängigkeit der Eigenart der Empfindungen von der Struktur der Sinnesorgane nachgewiesen wird. Entspricht es zum Beispiel nicht den Tatsachen, daß derselbe Reiz, beispielsweise ein mechanischer, je nach dem Sinnesorgan - Auge, Ohr, Hautoberfläche - , auf das er einwirkt, qualitativ verschiedene Empfindungen hervorruft? Entspricht es nicht den Tatsachen, daß verschiedenartige Reize (elektrischer Strom, Druck, Licht), die auf dasselbe Sinnesorgan - beispielsweise auf das Auge wirken, Empfindungen derselben Qualität - im gegebenen Falle optische Empfindungen - auslösen? Obwohl sich die subjektiv-idealistischen Schlußfolgerungen auch unmittelbar aus dem Prinzip der spezifischen Energien ergeben, so liegt ihre tiefere Ursache in der allgemeinen rezeptorischen Auffassung: Eine Empfindung entsteht, sobald die aus irgendwelchen äußeren Gründen im Rezeptor hervorgerufene Erregung das Gehirn erreicht, in dem sie unmittelbar in eine subjektive Erscheinung umgestaltet wird. Dieser Auffassung entsprechend beschränkte sich die Analyse darauf, die Prozesse, die im Gehirn durch die von der Peripherie kommenden Erregungen hervorgerufen werden, nur als Vorgänge anzusehen, die die Empfindungen später umbilden (»unbewußte Schlußfolgerung«, »assoziative Synthese«), jedoch nicht an ihrer Entstehung beteiligt sind. Das gleiche gilt für die motorischen Antwortreaktionen, die völlig aus dem Gesichtsfeld der rezeptorischen Konzeption verschwinden. In dieser Auffassung von den Empfindungen werden eigentlich nur die Ansichten der alten subjektiv-empiristischen Psychologie wiederholt, die die Empfindung als Ergebnis eines rein passiven Prozesses betrachtete und den Anfang der Aktivität erst in einer besonderen Instanz der Seele, der aktiven Apperzeption, dem Bewußtsein - sah.
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Diese Auffassung von einem gleichsam passiven und rein »anschaulichen« Charakter der Empfindung (und der sinnlichen Erkenntnis überhaupt), ihre Loslösung von der Tätigkeit und von der Praxis, die demgegenüber die rein geistige Aktivität, die Aktivität des Bewußtseins unterstrich, ließ die rezeptorische Konzeption von der Empfindung mit der subjektiv-idealistischen Psychologie zusammenfallen. Sie bestimmte auch die einseitige Auswahl der Tatsachen, die die empirische Grundlage des MüLLERschen Prinzips bildeten und aus der erkenntnistheoretischen Ansicht dieses Verfassers resultierten. Die Vertreter der rezeptorischen Konzeption wählten - wie gesagt die Tatsachen einseitig aus und berücksichtigten bei weitem nicht alle Daten, die den Prozeß der Empfindung charakterisieren. Die von ihnen herangezogenen Tatbestände standen in einigen Fällen sogar im Widerspruch zu den bekannten Fakten. Hierher gehören vor allem die Angaben, die vom Mitwirken motorischer Prozesse beim Entstehen von Empfindungen sowie von einigen Erscheinungen der, Wechselwirkung zwischen den Sinnesorganen zeugen.66 Bereits in der Zeit, in der die rezeptorische Konzeption vorherrschte, wandelten sich die wissenschaftlichen Ansichten über das Wesen der Empfindungen; dazu trug der größere Umfang wissenschaftlicher Erkenntnisse und insbesondere die Tatsache bei, daß man die Sinnesorgane immer mehr vom Standpunkt der vergleichenden Anatomie und in ihrer Entwicklung zu betrachten begann. Da man die Sinnesorgane also nun in ihrer Entwicklung erforschte, kam man auch zu ganz anderen Ansichten über deren Eigenart. Die von der Evolutionslehre ermittelten Daten bildeten die Grundlage für eine sehr wichtige These: Die Sinnesorgane sind das Produkt aus der Einwirkung der Außenwelt und der Anpassung an ihre Einflüsse; sie sind daher in ihrer Struktur und in ihren Eigenschaften diesen Einwirkungen adäquat. 67 Man erkannte ferner: Die Sinnesorgane können ihre Funktion - der Anpassung des Organismus an die Umwelt zu dienen - nur erfüllen, sofern sie alle objektiven Eigenschaften getreu widerspiegeln. Das ee Schon WEBER, HELMHOLTZ und andere Autoren führen Tatsachen an, die vom Anteil der Handbewegungen am Entstehen von Tastempfindungen zeugen. Aus diesen Fakten wurden jedoch oft negative Schlußfolgerungen gezogen. FREY zum Beispiel, der reine Daten über die Tastempfindungsschwellen gewinnen wollte, schaltete bei den Versuchspersonen diese Bewegungsmöglichkeit aus, indem er ihre Hand in Gips legte. Wie SCHILDER nachweist, liegen die Empfindungsschwellen, sofern sich die Hand bewegen kann, fünf- bis siebenmal niedriger als bei unbewegter Hand. 67 Siehe S. I. WAWILO: Das Auge und die Sonne. Moskau 1 9 5 0 (russ.) und S. W . KRAWKOW : Abriß der allgemeinen Psychophysiologie der Sinnesorgane. Moskau 1956 (russ.).
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»Prinzip der spezifischen Energien der Sinnesorgane« wandelte sich allmählich zu einem »Prinzip der Organe spezifischer Energien«, das die Eigenschaften der Sinnesorgane auf die spezifischen Besonderheiten der auf den Organismus wirkenden äußeren Energien zurückführt. Diese Auffassung spielte eine entscheidende Rolle in der Kritik der erkenntnistheoretischen Schlußfolgerungen, die sich aus der rezeptorischen Konzeption der Empfindungen ergaben. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der genetischen Betrachtungsweise sei auch auf die Rolle hingewiesen, die die Erforschung der funktionalen Entwicklung der Empfindungen spielte. Es sei hier an die Arbeiten erinnert, die sich mit der Veränderung der Empfindungsschwellen unter dem Einfluß äußerer Faktoren, insbesondere des Berufs oder spezieller experimenteller Übungen beschäftigten.68 Besonders aufschlußreich waren dabei die Untersuchungen, die sich mit der Frage befaßten, wie die Empfindungen unter willkürlichen Bedingungen, bei denen die Arbeit der Sinnesorgane entstellt wurde, umgestaltet werden. Wie von STRATTON und unter den modernen Autoren von I. KOHLER nachgewiesen wurde, verläuft die Anpassung unter solchen Bedingungen stets in Richtung der normalen Empfindungen, das heißt in der Richtung, die der im praktischen Kontakt mit den Gegenständen der Außenwelt gewonnenen Erfahrung entspricht.69 Einen besonderen Platz nehmen in diesem Zusammenhang die Arbeiten ein, die sich mit der Wechselwirkung von Empfindungen beschäftigten. Hier sind vor allem KRAWKOW und seine Schüler zu nennen, die sich in den dreißiger Jahren eingehend mit diesem Problem befaßten.70 Ihre Untersuchungen trugen erheblich dazu bei, die alte Theorie von den Empfindungen zu überwinden. Es wurde von ihnen experimentell nachgewiesen, daß die Sinnesorgane schon auf niederen neurologischen Stufen ständig zusammenwirken. Damit wurde die Ansicht widerlegt, die Empfindungen seien selbständige Elemente, deren Vereinigung ausschließlich eine Funktion des Denkens, des Bewußtseins sei. Zur Entwicklung der materialistischen Auffassung vom Wesen der Empfindungen trugen schließlich die Arbeiten bei, die sich mit der Frage beschäftigten, inwiefern die Prozesse in den Wirkorganen (Effektoren) an Empfindungen beteiligt sind. Diese Untersuchungen befaßten sich zunächst fast ausschließlich mit den Empfindungen, die mit 68
Siehe B. G. AN AN JEW: Die Arbeit als wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung der Sensibilität. »Woprossy psichologii«, H. 1/1955 (russ.). 69 Siebe I. KOHLER: Die Methode des Brillenversudis in der Wahrnehmungspsychologie mit Bemerkungen zur Lehre von der Adaptation. 1955; Ebenderselbe: Experiments with Prolonged Optical Distortions. »Proceeding of the XIV. International Congress of Psydiology«, 1955. 70 Siehe S. W. KRAWKOW: Die Wechselwirkung der Sinnesorgane. Verlag der AW der UdSSR, Moskau-Leningrad 1948 (russ.).
Über den Mechanismus,dersinnlichen Widerspiegelung der Tätigkeit von Kontaktrezeptoren zusammenhingen, beschäftigten sich aber, nachdem man efferente Fasern auch im Bereich der sensorischen Nerven des optischen, des akustischen und anderer Rezeptoren entdeckt hatte, auch mit der Analyse der Mechanismen von Empfindungen, die von Distanzrezeptoren herrührten. Diese zahlreichen und vielfältigen Arbeiten führten zu einem allgemeinen Schluß, der sich wie folgt formulieren läßt: Fehlt eine Antwortreaktion oder ist sie nicht adäquat, dann ist eine Empfindung als psychische Erscheinung nicht möglich; das bewegungslose Auge kann nicht sehen, die bewegungslose Hand vermag den Raum nicht wahrzunehmen. 71 Diese Untersuchungen waren ein Schlag gegen die frühere rezeptorische Konzeption vom passiven Wesen der Empfindungen, die - wie man meinte - ausschließlich Ergebnisse zentripetaler Prozesse seien. Es bedarf - wie in diesen Arbeiten nachgewiesen wurde - auch umgekehrt der Verbindung vom Zentrum zur Peripherie, um Empfindungen entstehen zu lassen. Alle diese Forschungen, von denen nur die wichtigsten erwähnt wurden, zerstörten die empirische Grundlage der rezeptorischen Konzeption, zumindest in der Form, in der sie J . MÜLLER, HELMHOLTZ und die Psychophysiker ausgedrückt hatten. Die entscheidende, positive Arbeit, die - von neuen, prinzipiell anderen Positionen ausgehend - eine Theorie der Empfindungen schuf, ging jedoch einen anderen Weg, den Weg der Ideen SETSCHENOWS und PAWLOWS.
2 Die psychologischen und erkenntnistheoretischen Ansichten SETSCHEN O V S sind in der sowjetischen Literatur wiederholt erörtert worden. Sie dürfen als bekannt 7 2 vorausgesetzt werden, und es erübrigt sich daher, sie in ihrer Gesamtheit darzulegen. Wir werden uns hier auf die 71
Siehe den Artikel von W. Р . SINTSCHENKO in »Woprossy psichologii«, H . 5 / (russ.); L. G. TSCHLENOW und A. SUTOWSKAJA: Zur Pathologie des Tastens. »Ardh. biol. nauk«, Bd. 4 0 , Folge 1 (russ.); Р . DELATTRE: Les indices acoustiques de la parole. »Phonetica«, Bd. 2, H. 1 und 2, Basel-New York 1958
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J. A. BUDILOWA: Die Lehre I. M. Setsdienows von den Empfindungen und vom Denken. Verlag der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (AP4#) der RSFSR, Moskau 1954 (russ.); G. S. KOSTJUK: Die Bedeutung der Arbeiten I. M. Setsdienows für die Entwicklung der materialistischen Psychologie. »Arbeiten der Universität Odessa«, Bd. 147, Odessa 1957 (russ.); S. L. RUBINSTEIN: Die psychologischen Ansichten I. M. Setsdienows und die sowjetische Psychologie. »Woprossy psichologii«, H. 5/1955 (russ.); S. L. RUBINSTEIN: Setsdienow und die materialistische Psychologie (Sammelbd.), Verlag der , APW der UdSSR, Moskau 1957 (russ.).
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Auffassungen SETSCHENOWS vom Wesen der Empfindungen und Wahrnehmungen beschränken. SETSCHENOW ging - wie wir wissen — an die Empfindungen grundsätzlich anders heran, als man das früher getan hate, indem man die Eigenschaften des einwirkenden Reizes und den durch ihn in Form einer Empfindung hervorgerufenen subjektiven Effekt einander gegenüberstellte. SETSCHENOW faßte die Empfindung als eine durch die gegenständliche Wirklichkeit determinierte psychische Erscheinung auf, deren Ursprung er zu ergründen suchte. Er ging davon aus, jede Tätigkeit gehe aus dem Reflex hervor und behalte dessen prinzipielle Struktur bei. Deshalb betrachtete er auch die Empfindung als eine Erscheinung, die nur innerhalb eines reflektorischen Aktes und dessen äußerlich zutage tretenden oder verborgenen und gehemmten »motorischen Folgen« entstehen könne. Als primär sah er dabei die Akte mit äußerer motorischer Seite an, die auch den unmittelbaren Kontakt mit den Gegenständen der Umgebung und die praktische Anpassung an die Wirklichkeit realisieren. Die Empfindung, die innerhalb des reflektorischen Anpassungsvorgangs entsteht, nimmt zugleich auch an dessen Verwirklichung teil, sie vermittelt ihn. Sie kann diese Funktion erfüllen, weil sie gegenständlich ist und die Eigenschaften der gegenständlichen Wirklichkeit widerspiegelt, wozu sie wiederum die Tatsache befähigt, daß sie selbst auf der Grundlage von Prozessen entsteht, die im Grunde genommen motorisch sind und auf dem Kontakt mit dem Gegenstand beruhen. Um die volle Tragweite dieser Ansicht zu verstehen, muß man den mit ihr verbundenen prinzipiellen Gedanken im Auge behalten: Nur die Gegenständlichkeit, das heißt der Bezug auf die Wirklichkeit, schafft die Empfindung als psychische Erscheinung. Durch diesen Gedanken SETSCHENOWS wird das Problem grundsätzlich anders angefaßt. Anstatt mit der Frage zu beginnen, welche Erscheinungen der Außenwelt sich hinter der Empfindung verbergen (d. h. von der Empfindung zu realen Gegenständen zu schreiten), gilt es von der Frage auszugehen, wie aus der gegenständlichen Wirklichkeit eine Empfindung entsteht, das heißt, bei einer wissenschaftlichen Analyse des Problems von der Wirklichkeit, von den realen Gegenständen zu den Empfindungen zu schreiten. Während der erste Weg - wie LENIN nachweist - der des Idealismus ist, ist der zweite der des Materialismus.73 73
»Wenn i h r . . . euch ernstlich vor Subjektivismus und Solipsismus >hüten< wollt, so müßt ihr euch vor allem vor den idealistischen Grundthesen eurer Philosophie hüten; ihr müßt die idealistische Linie eurer Philosophie (von den Empfindungen zur Außenwelt) durch die materialistische (von der Außenwelt zu den Empfindungen) ersetzen.« W. I. LENIN: Werke. Bd. 14, Dietz Verlag, Berlin 1962, S. 48.
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Bevor sie in der Empfindung »gegeben« ist, tritt die gegenständliche Wirklichkeit als Bedingung der praktischen Existenz, als Objekt der sich in realen Kontakten mit der Außenwelt vollziehenden Anpassung des Organismus auf. Es gilt daher, die entscheidende Rolle der Muskelbewegungen beim Aufkommen von Empfindungen anzuerkennen. Ohne diese Bewegungen hätten unsere Empfindungen und Wahrnehmungen nicht die Eigenschaft der Gegenständlichkeit, sie hätten keinen Bezug zu den Objekten der Außenwelt, ihnen fehlte das, was sie erst zu eigentlichen psychischen Erscheinungen macht.74 Das ist der Hauptgedanke in SETSCHENOWS Ansichten vom Wesen der sinnlichen Erkenntnis. »Alle unsere Vorstellungen von der Außenwelt, so vielfältig und kompliziert sie auch sein mögen, bauen letztlich auf der Grundlage der Elemente auf, die uns zugleich von den Muskeln gegeben werden« 75, interpretierte SAMOILOW iti seiner bekannten Rede » I . M. Setschenow und seine Gedanken über den Anteil der Muskeln an unserer Naturerkenntnis« diesen Hauptgedanken in den Ansichten des großen Physiologen. Wie soll dieser Anteil der Bewegungen am Entstehen von Empfindungen und Wahrnehmungen verstanden werden? SETSCHENOW beantwortet diese Frage am klarsten in seiner Analyse der Tastenempfindungen. Beim praktischen Kontakt, bei der »realen Begegnung« mit einem Objekt der Außenwelt muß sich die Bewegung der Hand den Eigenschaften des Gegenstandes unterordnen; indem sie die Form, die Größe und die Konturen betastet, reproduziert sie diese Eigenschaften und erzeugt mit Hilfe der Signale ihres motorischen Apparats einen »Abdruck« dieser Eigenschaften im Gehirn. Ähnlich stellte sich SETSCHENOW auch die Arbeit des optischen Apparats vor. Der Prozeß des Betrachtens - meinte er - sei seinem Sinne nach dem Betasten eines Gegenstandes mit der Hand vergleichbar. SETSCHENOW führt hier ein neues Moment ein: die Assoziation der sich bildenden optischen Erfahrung mit taktilmotorischen Erfahrungen. Die Netzhaut eines geübten Auges, meinte er, sei bei der Hand in die Schule gegangen. Dieses neue Moment ist außerordentlich wichtig. Während die Kontaktrezeption der Form und Größe durch Bewegungen bewerkstelligt wird, die vom Gegenstand gleichsam aufgezwungen werden, wird die Distanzrezeption nicht streng vom Objekt bestimmt 74 I. M. SETSCHENOW: Gesammelte Werke. Bd. I, Verlag der APW der UdSSR, Moskau 1952 (russ.); Ebenderselbe: Physiologie der Nervenzentren. Verlag der APW der UdSSR, Moskau 1952 (russ.). 75 A. F. SAMOILOW: Gesammelte Artikel und Vorträge. Moskau-Leningrad 1946 (russ.).
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und kontrolliert. Der Gegenstand leistet den Blicken nicht den physikalischen Widerstand, den er der Handbewegung entgegensetzt. SETSCHENOW dehnte seine Vorstellung vom Anteil der gegenständlichen Bewegungen im Prinzip auch auf andere extrazeptive Empfindungen aus. Dabei konnte er nur noch einen erheblich loseren oder gar keinen direkten Zusammenhang mit den motorischen Erfahrungen annehmen. Das ließ seine Ansichten vom Wesen der sinnlichen Erkenntnis zuweilen inkonsequent werden; zudem waren viele Erkenntnisse über das Wesen der propriomotorischen Rezeption der Distanzrezeptoren zu seiner Zeit noch nicht bekannt. SETSCHENOW hat aber einen entscheidenden Schritt getan: Er schuf die allgemeine theoretische Grundlage für die reflektorische Konzeption der Empfindung. Trotz der außerordentlich großen wissenschaftlichen Bedeutung der Arbeiten SETSCHENOWS für das Verständnis des Wesens der Empfindungen bleiben viele Probleme bei ihm ungelöst. Dazu gehört erstens der Komplex der konkreten zentralen Nervenmechanismen der sensorischen Prozesse und zweitens die Frage, worin sich der Anteil der efferenten Glieder, die mit gegenständlichen Bewegungen oder analogen Vorgängen (beispielsweise mit Augenbewegungen) nicht unmittelbar verbunden sind, bei den Empfindungen äußert. Die reflektorische Konzeption von den Empfindungen wurde von PAWLOW und seinen Schülern weiterentwickelt. Der Beitrag PAWLOWS zum wissenschaftlichen Verständnis des Wesens und des Mechanismus der Empfindungen beschränkt sich keineswegs - wie das mitunter dargestellt wird - auf seine Lehre von den Analysatoren. PAWLOW geht von der Unterscheidung zwischen unbedingten und bedingten Reflexen aus und verbindet sie mit der grundlegenden biologischen Unterscheidung zwischen zwei Formen der Verbindung des Organismus mit seiner Umwelt - den direkten und den Signalverbindungen. Diese Differenzierung ist für die allgemeine Theorie von den Empfindungen sehr bedeutsam. Dadurch konnte die Auffassung von der signalisierenden, orientierenden Funktion der Empfindung in die Psychologie eingeführt werden. 76 Der psychologische Aspekt dieses Standpunktes wurde in der Sowjetuntion gegen Ende der dreißiger Jahre als Hypothese von der Genese der Empfindungen von LEONTJEW und SAPOROSHEZ formuliert. Wir wollen sie nachstehend darlegen. Auf den allerersten Stufen des Lebens hängt die Wechselwirkung mit der Umwelt von der Reizbarkeit des Organismus gegenüber Umwelteigenschaften ab, die entweder unmittelbar der Assimilation die76
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Akademie-Verlag, Berlin 1953.
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nen oder unmittelbare Verteidigungsreaktionen auslösen, die also in beiden Fällen das Leben des Eiweißkörpers unmittelbar erhalten und entwickeln. Es ist kaum anzunehmen, diese primitiven Organismen seien auch gegenüber Einwirkungen reizbar, die von sich aus für das Leben neutral sind. Derartige Reaktionen hätten nur einen durch nichts zu kompensierenden Zerfall der organischen Substanz zur Folge, auf dessen Kosten eine Reaktion erst zustande kommen kann. Bei relativ hochentwickelten Tieren begegnen wir dagegen deutlich ausgeprägten Reaktionen auch auf Reize, die an sich keine »sachliche« um mit PAWLOW ZU sprechen - Beziehung zum Organismus haben. Mit anderen Worten: Diese Tiere sind auch reizbar gegenüber neutralen Einwirkungen. Eine derartige Reizbarkeit ist bei diesen Lebewesen biologisch auch zweckmäßig. Die Reaktionen auf neutrale Umwelteinwirkungen, durch die grundlegende Lebensfunktionen vermittelt werden, orientieren das Tier auf Umwelteigenschaften von direkter biologischer Bedeutung. In unserer Hypothese gehen wir vor allem von folgenden Voraussetzungen aus: Die Funktion, die durch die Reizbarkeit gegenüber neutralen, lediglich auf die Umwelt orientierenden Einwirkungen realisiert wird, ist die Funktion der Sensibilität, ist die Fähigkeit zu empfinden. Die Organe, die diese neutralen Reize umgestalten, sind die Sinnesorgane, die Rezeptoren. Die spezifischen Erscheinungen, in denen sich die geschilderte Form der Reizbarkeit äußert, treten in entfalteter Form als Phänomene der Sensibilität zutage. Die Hauptbedingung für das Entstehen der Sensibilität sehen wir im Übergang vom Leben in einer zwar veränderlichen, aber homogenen, zum Leben in einer gegenständlichen Umwelt, die das Aufkommen vermittelnder, signalisierender Beziehungen erforderlich macht. Ein gegenständlich geformter Körper wirkt nicht nur durch seine Nahrungseigenschaften, sondern vor allem auch durch seine Form, seine Größe und andere Züge, die mit seiner Eigenschaft, dem Organismus als Nahrung zu dienen, konstant verbunden sind. Auf einer bestimmten Stufe der biologischen Evolution werden die der Lebenserhaltung dienenden Wechselwirkungsprozesse gleichsam in zwei Teile gespalten. Auf der einen Seite sehen wir die Umwelteinwirkungen, die die Existenz des Organismus unmittelbar bestimmen und auf die er mit grundlegenden Lebensprozessen und Lebensfunktionen reagiert. Auf der anderen Seite wirken neutrale Reize, auf die der Organismus mit Prozessen antwortet, die die organischen Grundfunktionen nur mittelbar realisieren, den Prozessen des Verhaltens. Da die objektiven Verbindungen zwischen den biologisch unmittelbar wichtigen und den neutralen Eigenschaften der Gegenstände nur relativ konstant sind und sich ändern können, stehen auch die ihnen
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entsprechenden Formen der Lebenstätigkeit in dynamischen Beziehungen zueinander. Sie brauchen nicht immer miteinander übereinzustimmen und können möglicherweise sogar in Widerspruch zueinander geraten. Dieser neue Widerspruch ist charakteristisch für die Entwicklung des tierischen Verhaltens und für die Form, in der die Tiere die Umwelteigenschaften widerspiegeln. In unserer Hypothese wollten wir möglichst vermeiden - und darin liegt ihr philosophisch-psychologischer Sinn das Wesen der Empfindungen schon in der Problemstellung, an der Schwelle der Untersuchung subjektivistisch aufzufassen. Will man die ihrem Wesen nach tatsächlich subjektiven Phänomene der Sensibilität als Erscheinungen betrachten, die die objektiven Eigenschaften widerspiegeln, dann muß man die Empfindung als Produkt der Entwicklung mittelbarer Beziehungen zwischen Organismus und Umwelt anerkennen. Eine Eigenschaft erhält ihre objektive Charakteristik nur über die Beziehung zu einer anderen objektiven Eigenschaft und nicht über ihre unmittelbare Beziehung zum Subjekt. Soll eine objektive Eigenschaft subjektiv widergespiegelt werden, dann müssen beide Beziehungen - zum anderen Objekt und zum Subjekt - eine Einheit bilden. Diese einheitlichen Beziehungen finden wir erstmalig bei jenen höheren Lebensformen, die durch die Tätigkeit realisiert werden, welche durch die objektiven Verbindungen zwischen den Umwelteigenschaften vermittelt wird. 77 Die Hypothese, die das Entstehen von Signalverbindungen und das Aufkommen der Empfindungen einander annähert, wurde in der Physiologie der höheren Nerventätigkeit besonders überzeugend von BYKOW und P S C H O N I K formuliert. »Das Moment der Bildung eines bedingten Reflexes - einer zeitweiligen Verbindung höheren kortikalen Typs«, schreiben die Verfasser, »ist zugleich das Moment des Entstehens eines elementaren psychischen Aktes, einer Empfindung.« 78 77
Siehe A. N. LEONTJEW: Die Entwicklung des Psychischen. Habilitationsarbeit, 1940 (russ.); Ebenderselbe: Über die Genese der Sensibilität. In: Sammelband »Psychologie« (D. N. Usnadse gewidmet), Tbilissi 1945 (russ.). 78 Siehe К . M . BYKOW und А . T. PSCHONIK: Uber das Wesen des bedingten Reflexes. »Fisiologitscheski shurnal SSSR«, Bd. 35, Nr. 5/1949 (russ.); К. M. BYKOW: Wie die von den Außen- und den Innenrezeptoren empfangenen Eindrücke der Großhirnrinde signalisiert werden. Gesammelte Werke. Bd. I, Moskau 1953 (russ.); А . A. GJURDSHIAN: Die Veränderung der Sensibilität des Analysators gegenüber einem Reiz, der zum bedingten Signal geworden ist. »XVI. Tagung zu Problemen der höheren Nerventätigkeit«, 1953 (russ.); A . L . KNJASEWA: Über die Bildung zeitweiliger Verbindungen auf Reize, die von den Sinnesorganen nicht empfunden werden. In: »Trudy Fisiologitsdieskogo Instituta im. I. P. Pawlowa«, Bd. IV, 1949 (russ.); A. L. KNJASEWA und I. E. BÄRBEL: Über die Bildung bedingter Reflexe auf Lichtreize minimaler Intensität. »Problemy fisiologitscheskoi optiki«, Bd. X, 1952 (russ.); I. I.
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Trotz der äußeren Ähnlichkeit beider Hypothesen gibt es zwischen ihnen einen wichtigen Unterschied. Setzt man nämlich das Entstehen einer Empfindung mit der Bildung eines bedingten Reflexes gleich, dann verliert man den genetischen Aspekt aus dem Auge; die Frage nach dem Entstehen der Empfindung als einer spezifischen und objektiv zu charakterisierenden Funktion wird dann durch die Frage nach der Umgestaltung adäquater, aber unterschwelliger Reize in empfundene Signale ersetzt? Davon zeugen eindeutig die Tatsachen. In dem grundlegenden und typischen Experiment, auf das sich der geschilderte Standpunkt stützt, wird ein Reiz verwendet, der bei einer bestimmten Intensität kein subjektives Erleben der Empfindung und auch kein Erleben des Unterschiedes zwischen mehreren Empfindungen hervorruft. Dieser Reiz löst jedoch objektive Reaktionen aus, beispielsweise eine Verengung der Gefäße (die, nebenbei gesagt, eine charakteristische Kompo*nente der Orientierungsreaktion darstellt); die Einwirkung des gegebenen Reizes wird außerdem mit der eines anderen Agens verbunden, so daß die Versuchsperson den ersten Reiz auch subjektiv unterscheiden, das heißt bewußt erfassen kann. Solche Experimente sind zwar interessant, jedoch in einem anderen Zusammenhang. Bei ihnen geht es darum, die Einwirkungen mit Hilfe neu entstandener Assoziationen auf höherer kortikaler Ebene, auf der Grundlage des zweiten Signalsystems, bewußt zu erfassen.79 In der zuerst dargelegten Hypothese vom Entstehen der Sensibilität wird das Problem anders gestellt. Es geht hier nicht um die Umgestaltung unterschwelliger in empfundene Reize, sondern um die Tatsache, daß die Reize Signal- und Orientierungsfunktion annehmen. Deshalb verfolgten auch die Experimente, die im Zusammenhang mit dieser Hypothese durchgeführt wurden (A. N. LEONTJEW unter Beteiligung v o n N . B . POSNANSKAJA, W . I . A S N I N , W . I . DROBANZEWA u n d S . J . R U BINSTEIN),
einen anderen Zweck. Als Reiz wurde die Einwirkung inten-
Über das Verhältnis zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven in der Bildung bedingter Reflexe beim Menschen. »Trudy fisiologitscheskidi laboratorij im. I. P . PAWLOWA«, Bd. XVI, 1949 (russ.); A.T. PSCHONIK und R. A. FELBORBAUM: Einige Angaben zum Gebiet der relativen Stärke der bedingten Reize. »Fisiologitscheski shurnal SSSR«, H. 4/1955 (russ.); L. A. TSCHISTOWITSCH: Uber die Veränderung der Unterschiedsschwellen eines akustischen Reizes, dessen Signalbedeutung sich wandelt. »Fisiologitscheski shurnal SSSR«, H. 4/1955 (russ.). 79 Siehe F. P. MAJOROW: Das Problem der Wechselwirkung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven bei der Erforschung der höheren Nerventätigkeit. »Fisiologitscheski shurnal SSSR«, Bd. XXXVII, H. 2/1951 (russ.); W. G. SAMSONOWA: Einige Besonderheiten der Wechselwirkung zwischen dem ersten und dem zweiten Signalsystem bei der Ausarbeitung bedingter Reaktionen auf Liditreize schwacher Intensität. »Shurnal wysschei nerwnoi dejätelnosti«, Folge 5,1953 (russ.).
KOROTKIN:
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siver Lichtstrahlen auf die Handfläche benutzt. Bekanntlich ist die Haut reizbar gegenüber den Strahlen des sichtbaren Teils des Spektrums, das heißt, die Einwirkung von Lichtstrahlen auf die Haut der Tiere oder Menschen ruft physiologische Prozesse hervor. Andererseits ist die Haut kein Organ, um Licht zu empfinden; es können selbst sehr intensive Lichtreize auf die Haut einwirken, ohne Orientierungsreaktionen hervorzurufen. In bezug auf die Haut ist das Licht in diesem Sinne ein nichtadäquater Reiz; er liegt nicht im Schwellenbereich und ist überhaupt nicht fähig, eine Signalfunktion zu erfüllen und mit anderen Agenzien bedingte Verbindungen einzugehen. Diese Auffassung wurde experimentell überprüft. Der infrarote Teil des Spektrums wurde sorgfältig zurückgehalten, und das so filtrierte Licht wirkte auf die Handfläche der Versuchsperson (die davon während der Versuche nichts ahnte). Anschließend exponierten wir einen elektrischen Hautreiz, unter dessen Eindruck die Hand reflektorisch von der Taste gezogen wurde. Die Experimente dieser Serie waren nach dem normalen Schema der sogenannten motorischen Methode aufgebaut und sollten zur Bildung bedingter Reflexe führen. Sie wichen nur insofern von diesem Verfahren ab, als der neutrale Reiz erheblich länger als sonst wirkte und zwischen den Reizdarbietungen relativ längere Pausen lagen. Die Ergebnisse dieser Versuche waren negativ. Selbst nach 350 bis 400 Reizkombinationen »Licht - Strom« stellte sich bei keiner Versuchsperson ein bedingter Reflex ein. Die daran anschließenden Serien unterschieden sich von der eben geschilderten in folgenden Punkten: a) Die Versuchsperson wurde vor die Aufgabe gestellt, die Hand von der Taste zu nehmen, um den unangenehmen elektrischen Hautreizen aus dem Wege zu gehen. Dazu sollte sie sich auf die dem elektrischen Schlag vorausgehende Einwirkung orientieren und sie selbständig erfassen. b) Die Methode wurde etwas komplizierter. Nahm die Versuchsperson die Hand von der Taste, bevor der »warnende« Reiz wirkte (reagierte sie also falsch), dann wurde sie über den Fehler zunächst durch ein optisches Signal unterrichtet. Danach mußte sie die Hand wieder auf die Tischplatte legen. Bald darauf wurde der »warnende« Lichtreiz und unmittelbar nach ihm der elektrische Reiz exponiert. c) Wir benutzten eine technisch vollkommenere Apparatur, die jede Möglichkeit ausschloß, auf irgendwelche mit dem Einschalten des Lichts verbundene Einwirkungen (Temperatur, Geräusche) zu reagieren. Die geschilderte Methode veranlaßte die Probanden zu einer aktiven Orientierungstätigkeit mit dem Ziel, den »warnenden« Reiz zu erfassen. Die Versuchspersonen wußten jedoch - ebenso wie in der ersten
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Serie - nicht, was für ein Reiz diese Funktion erfüllt. Es war ihnen nicht bekannt, daß Lichtstrahlen auf ihre Handfläche einwirkten. Eine Reihe von Probanden (insgesamt 16 Personen, sofern man. alle Serien dieser Art berücksichtigt) zeigten während: dieser Experimente tatsächlich die Fähigkeit, dem elektrischen Hautreiz vorzubeugen und die Hand einige Sekunden nach Beginn der Lichteinwirkung von der Taste zu nehmen (Abb. 3, S. 57). Die Versuchspersonen äußerten dabei, sie hätten sich auf schwache subjektive Erscheinungen orientiert, die dem elektrischen Hautreiz vorausgegangen und durch keine spezifische Eigenschaft gekennzeichnet gewesen seien. Diese Fähigkeit bildete sich in mehreren Phasen. In der ersten Versuchsperiode - das geht sowohl aus subjektiven Angaben der Versuchspersonen als auch aus objektiven Ergebnissen hervor - reagierten die Probanden nur richtig, wenn sie aktiv suchten. Dennoch gab es in dieser Zeit nur zufällig eine richtige Reaktion. Danach nahm die Anzahl der Fehler ab (in manchen Fällen sank sie auf 10 und sogar auf 4 Prozent, ging aber niemals auf Null zurück). Diese guten Ergebnisse festigten sich allmählich, und die Versuchspersonen zogen ihre Hand schon »automatisch« von der Taste weg. Von hier an trat die Entwicklung des untersuchten Prozesses in eine andere Phase ein. Es gelang jetzt, normale bedingte Reflexe auf die Bestrahlung der Handfläche zu bilden. Das wurde experimentell in einer weiteren Versuchsserie überprüft und bestätigt. Wir wandten dabei zwei parallellaufende Verfahren an: die Methode des aktiven Forschens, die der Versuchsperson die Aufgabe stellte, die Einwirkung selbst zu erfassen, und die Methode der Bildung eines bedingten Reflexes auf die Bestrahlung der Handfläche. Aus unserer Untersuchung lassen sich folgende Schlüsse ziehen: a) Ein Reiz, der in einem für ihn nicht spezifischen Organ normalerweise keine Prozesse hervorruft, die den Organismus auf andere Einwirkungen orientieren, kann zu einem Agens umgestaltet werden, das derartige Prozesse auslöst. b) Man muß unterscheiden zwischen dem Prozeß, als dessen Ergebnis ein Reiz, obwohl er das normalerweise nicht tut, eine Orientierungsreaktion hervorruft, und dem Prozeß der Umwandlung des gegebenen Agens in einen bedingten Reiz, das heißt dem Entstehungsprozeß eines bedingten Reflexes. Dieser Schluß auf das besondere Wesen der eigentlichen sensorischen Reaktion mag auf den ersten Blick unbegründet erscheinen und sogar den Anschein erwecken, als stünde er im Widerspruch zur Lehre PAWLOWS von der höheren Nerventätigkeit. Das erscheint jedoch nur auf den ersten Blick so. In Wirklichkeit deckt er sich völlig mit den Ansichten PAWLOWS über den Mechanismus des bedingten Reflexes.
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Die Physiologie der höheren Nerventätigkeit geht von der bereits im Organismus vorhandenen Fähigkeit aus, die Veränderungen der Außenwelt zu konstatieren und mit Orientierungsreflexen darauf zu reagieren. Das Vorhandensein des unbedingten Orientierungsreflexes ist bekanntlich eine notwendige Voraussetzung, um eine bedingte Verbindung zu bilden und um ein Agens von anderen Reizen zu differenzieren, indem gewisse Reaktionen bekräftigt und andere nicht bekräftigt werden. PAWLOW schreibt in diesem Zusammenhang: »Auf Grund der verschiedenen Tatsachen . . . sind wir gezwungen anzunehmen, daß die Fähigkeit des Nervensystems, einen Unterschied zwischen äußeren Agenzien überhaupt festzustellen, und der Prozeß des Differenzierens dieser Reize mit Hilfe der bedingten Reflexe zwei grundsätzlich voneinander verschiedene Erscheinungen sind. Der erste Prozeß offenbart sich'-durch einen Erregungsprozeß nach Art der Orientierungsreaktion, des Suchreflexes.« 80 Die Frage nach dem Wesen des »Erregungsprozesses nach Art der Orientierungsreaktion« ist demnach ein besonderes Problem, das sich nicht mit dem der Bildung bedingter Reflexe deckt. Es handelt sich mit anderen Worten - beim ersten Problem um das Wesen der Sensibilität, die wir als spezifische, objektive Funktion der Orientierung auffassen und nicht auf ihre höheren Erscheinungsformen - die bewußten Empfindungen - beschränken. Obwohl PAWLOW wiederholt betonte, daß sich die Unterscheidung von Reizen und deren Differenzierung als Ergebnis der Ausarbeitung bedingter Reflexe nicht miteinander decken, wird das bei der Wiedergabe seiner Ansichten über die Tätigkeit der Analysatoren nicht immer berücksichtigt. Nach PAWLOW stellt die Struktur eines Analysators ein komplizierteres System dar, das aus dem an der Peripherie liegenden Organ, den Leitungsbahnen und den Nervenzentren besteht. Es hat vor allem die Aufgabe, einzelne Elemente der mannigfaltigen Umweltreize hervorzuheben. Dieses Herausheben - es handelt sich dabei um eine Analyse wird auf zwei Ebenen vollzogen. Auf der ersten Stufe übernehmen sie die Rezeptoren. Die zweite, höhere Stufe der Analyse wird durch die Tätigkeit der Großhirnrinde bewältigt. Bei der Gegenüberstellung von bekräftigten und nicht bekräftigten Agenzien entstehen die bedingte Hemmung und die Induktion, mit deren Hilfe die Reize differenziert werden. Daher gewinnen aus der Fülle gleichartiger Agenzien nur ganz bestimmte Reize eine Signalbedeutung. Man hat die Tätigkeit der Analysatoren untersucht, um zu erfahren, 64
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wie die Differenzierung entsteht; man interessierte sich demnach für die Funktion des »synthetisierenden Analysators«. Das führte zu der Tendenz, die Rezeption und die Differenzierung der Reize einander gleichzusetzen, die ihre Signalbedeutung zutage treten läßt. Die Untersuchung des Differenzierens mit Hilfe der bedingten Reflexe war dabei beinahe die einzige und universelle Methode, um die rezeptorische Funktion zu ergründen. 81 PAWLOW vertrat keineswegs diesen Standpunkt. Er betonte sogar, daß »der Organismus die Ergebnisse der tatsächlichen Analyse der äußeren Agenzien nicht immer in vollem Maße für seine allgemeine Tätigkeit verwerten kann«. In diesem Falle »wird die Forschung über die analysierende Tätigkeit des Nervensystems nach der Methode der bedingten Reflexe auch bestimmte Lücken aufweisen« 82.
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Die allgemeine Lehre von der analytisch-synthetischen Tätigkeit der Großhirnrinde trug wesentlich dazu bei, konkrete wissenschaftliche materialistische Vorstellungen zu entwickeln. Sie erschloß die Tätigkeit des Gehirns, des Organs des Psychischen, die durch die objektiven Beziehungen zwischen den Umwelteigenschaften streng determiniert ist und die diese Eigenschaften adäquat widerspiegelt. Beschränkt man sich dagegen auf diejenigen Vorstellungen von diesen konkreten Mechanismen, die aus den klassischen Versuchen zur Bildung von Differenzierungen stammen, und bezieht die sinnliche Widerspiegelung völlig in die Tätigkeit dieser Mechanismen ein, dann stößt man zwangsläufig auf ernsthafte theoretische Schwierigkeiten. Als Faktor, der die analytisch-synthetische Tätigkeit determiniert, tritt dann die vorhandene oder fehlende Bekräftigung der Reaktion auf, die lediglich die Signalbedeutung, aber nicht das Wesen der Reize erschließt. Ein akustischer oder ein optischer Reiz zum Beispiel, der durch Nahrung bekräftigt wurde, beginnt beim Tier eine bedingte Speichelreaktion auszulösen. Der hier wirksame Reflex spiegelt die objektive Verbindung »Laut - Nahrung« oder »Licht - Nahrung« adäquat wider* 81
Siehe L. A. ANDREJEW: Die allgemeine und besondere Charakteristik der analytischen Tätigkeit der Großhirnhemisphären am Beispiel des akustischen Analysators. »Archiw biologitsdieskich nauk«, Bd. 49, Folge 3 (russ.); Ebenderselbe: Die Physiologie der Sinnesorgane. Moskau 1941 (russ.). 82 I. P. PAWLOW: Sämtliche Werke, Bd. IV, Akademie-Verlag, Berlin 1953, S. 106.
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Dabei wird selbstverständlich auch der entsprechende Reiz widergespiegelt, aber eben in seiner Verbindung mit dem unbedingten Reiz, das heißt als Signal der Nahrung. Wird der gleiche bedingte Nahrungsreflex sowohl auf einen akustischen als auch auf einen optischen Reiz ausgearbeitet, dann werden diese beiden verschiedenartigen Agenzien, da sie gemeinsame Signalbedeutung haben, einander angenähert. Wird dagegen von zwei gleichartigen Reizen der eine bekräftigt und der andere nicht, dann werden sie vom Tier nach dem Merkmal ihrer Signalbedeutung differenziert. Die klassischen Untersuchungen über das Entstehen von Differenzierungen beschäftigten sich demnach nicht mit der Frage, ob eine spezifische Eigenschaft adäquat widergespiegelt wird; sie ließen die Frage nach dem Wesen der Einwirkung offen. Diesen Tatbestand gilt es zu unterstreichen. Wird nämlich der Sinn der Lehre von der kortikalen Analyse und Synthese ungerechtfertigterweise ausgeweitet, dann wird leicht die Widerspiegelung der bedingten Signalbedeutung der einwirkenden Eigenschaften mit der Widerspiegelung ihres Wesens gleichgesetzt und auf diese Weise die sinnliche Erkenntnis völlig falsch und rein pragmatisch aufgefaßt. Wir haben die Frage nach dem Mechanismus der Rezeption von Reizen als besonderes Problem herausgegliedert. Bei seiner Klärung dürfen wir voraussetzen, daß das bei der Bildung und Differenzierung bedingter Reflexe geltende Prinzip der Analyse auch für die Rezeption zutrifft, jedoch nur als ein Prinzip, das diesem Prozeß genetisch zugrunde liegt. Mit anderen Worten: Die spezifischen Eigenschaften der Rezeption, die sich in der selektiven Reizbarkeit äußern, haben sich vermutlich gebildet, indem Einwirkungen, die einander im Hinblick darauf gegenübergestellt wurden, ob sie mit anderen Umwelteigenschaften zusammenhängen, immer feiner differenziert wurden. Es liegt jedoch auf der Hand, daß diese Annahme das Problem nicht lösen kann. Die Unterscheidung der Reize auf der Grundlage der in der Großhirnrinde entstehenden Differenzierungen vollzieht sich nach dem allgemeinen Schema der »filtrierenden« Analyse. Sie kommt zustande, indem der Umfang der Erregungen, die über die effektorischen Bahnen weitergeleitet werden, allmählich eingeengt wird. Solche Schemata geben jedoch keine Auskunft über die ursprünglichen Einwirkungen. Was im Prinzip funktionell nicht möglich ist, läßt sich selbstverständlich auch genetisch nicht annehmen. Der an sich richtige Hinweis auf die Phylogenese, in der sich der spezifische, selektive Charakter der Rezeptoren gebildet hat, trägt demnach nicht dazu bei, die Frage nach dem - Wesen der eigentlichen Rezeption zu beantworten. Der Lösung dieses Problems haben uns die Untersuchungen erheblich näher gebracht, die sich in den letzten Jahren mit den speziellen Mecha-
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nismen des Orientierungsreflexes beschäftigten.83 Die dabei gewonnenen zahlreichen experimentellen Daten kennzeichnen die Rezeption eines Reizes als kompliziertes System vieler Komponenten, das auf neurophysiologisdi unterschiedlichen Ebenen funktioniert. Es umfaßt sowohl afferente als auch efferente (reafferente) Verbindungen, die nicht nur die in den Rezeptoren ablaufenden Erscheinungen, sondern auch einen größeren Kreis von Vorgängen an der Peripherie (die vasomotorischen und die eigentlichen motorischen Prozesse) steuern. Der Orientierungsreflex - eine spezifische Reaktion auf die Erregung eines Rezeptors - tritt, wie die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigten, im Gesamtsystem der höheren Nerventätigkeit als eine Erscheinung auf, die sich von der kortikalen Reizdifferenzierung unterscheidet. Die Empfindung - auch das zeigten die Versuche - ist das Produkt einer komplizierten Antworttätigkeit auf diesen anfänglichen zentripetalen Erregungsprozeß, der im Exterorezeptor entsteht und die komplizierte reflektorische Tätigkeit in Gang setzt; die zentripetale Erregung wird keineswegs auf irgendeine rätselhafte Weise direkt in eine psychische Erscheinung, in die sinnliche Widerspiegelung einer objektiven Eigenschaft in ihrer spezifischen Qualität, umgewandelt. Diese Auffassung, die heute unbestritten ist, bildet eine der wichtigsten naturwissenschaftlichen Voraussetzungen dafür, positiv an die Klärung der Frage nach dem prinzipiellen Mechanismus der unmittelbaren Widerspiegelung der objektiven Realität heranzugehen. Die Entwicklung der wissenschaftlichen Ansichten über das Wesen der Empfindungen läßt sich nach meiner Meinung in drei Punkten zusammenfassen. a) Der Prozeß der Empfindung hat reflektorische Struktur. Die Empfindung ist nicht einfach das Ergebnis eines zentripetalen Prozesses, und sie bildet nicht einfach die Ausgangsbasis des Reflexes; ihr liegt vielmehr ein vollständiger, komplizierter reflektorischer Akt zugrunde, der in seiner Bildung und in seinem Verlauf den allgemeinen Gesetzen der reflektorischen Tätigkeit unterliegt. b) Die Empfindung ist kein einfaches Epiphänomen, das parallel mit der Erregung der sensorischen Nervenzentren entsteht, das nur dessen subjektiven Widerschein darstellt und keine eigene Rolle spielt. Die Empfindung ist das sinnliche Abbild einer einwirkenden objektiven Eigenschaft; eben dadurch erfüllt sie ihre spezifische Orientierungsund zugleich auch eine Signalfunktion. 83
Siehe L . G. WORONIN, A. N. LEONTJEW, A. R. LURIJA und J. N. SOKOLOW (Red.): Der Orientierungsreflex und. die Orientierungstätigkeit. Verlag der APW der RSFSR, Moskau 1958 (russ.); J. N. SOKOLOW: Die Wahrnehmung und der bedingte Reflex. Verlag der Moskauer Staatlichen Universität, Moskau 1958 (russ.).
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Die Empfindung ist ihrem Wesen nach ein Bestandteil der spezifischen Aktivität der Tiere, die sich unmittelbar in »suchenden« Prozessen, in »probierenden« Reaktionen äußert, denen wir bei Pflanzen niemals begegnen. (Deshalb hat sich wahrscheinlich auch die Vorstellung gebildet, die Pflanzen seien unbeweglich, obwohl wir bei manchen von ihnen eindeutige Bewegungen beobachten.) c) Die reflektorischen Prozesse, die den Mechanismus der Empfindung ausmachen, stellen ein besonderes System mit eigener Struktur dar. Das alles eröffnet uns die Perspektive, die Rezeptionsvorgänge so analysieren zu können, daß sie als Prozesse zutage treten, deren Funktion es ist, die objektiven und spezifischen Umwelteigenschaften widerzuspiegeln. Die Funktion der Rezeptoren erschließt sich zwangsläufig, sobald man deren propriomotorische Reaktionen und einige andere Vorgänge im Bereich des Orientierungsreflexes untersucht. Man hat auf diese Weise die trophische Anpassungsfunktion, die tonische und die Verteidigungsfunktion beschrieben. Obwohl jede von ihnen und alle zusammen sehr wichtig sind, können sie nicht so aufgefaßt werden, als realisierten sie die eigentliche Widerspiegelung der spezifischen Eigenschaften des einwirkenden Agens. Sie äußern sich im Hinblick auf den Widerspiegelungsprozeß einerseits als Teilfunktionen und andererseits als weitergehende Anpassungsfunktionen. Betrachten wir zum Beispiel die Verteidigungsfunktion: Sie ist eine Teilfunktion, indem sie sozusagen die technische Voraussetzung der Widerspiegelung schafft, und sie ist - biologisch gesehen - zugleich eine viel umfassendere Funktion. Wer demnach klären will, wie die spezifischen Eigenschaften der Reize widergespiegelt werden, muß sieh nach wie vor mit dem Hinweis auf die Struktur der Rezeptoren begnügen, die sich im Laufe der biologischen Evolution unter dem Einfluß entsprechender Energien gebildet hat. Dieser Standpunkt ist zwar absolut richtig, er löst jedoch unser Problem nicht, denn die physiologische Entwicklung eines Organs kann wiederum nur im Zusammenhang mit seiner Funktion verstanden werden. Wer demnach begreifen will, wie sich die Organe entwickeln, die die Eigenschaften der äußeren Einwirkungen adäquat widerspiegeln, muß eine Charakteristik der Widerspiegelungsfunktion geben können und darf sich nicht darauf beschränken, auf die in ihrem Ergebnis entstehende Eigenschaft - die Empfindung - hinzuweisen. Wir haben damit die Aufgabe umrissen, die im Mittelpunkt des gesamten Problems steht. Sie ist sehr schwierig, und alle Mühe könnte aussichtslos erscheinen, hätte sich nicht in der Entwicklung der Ansichten über das Wesen der Empfindungen ein Weg angebahnt, der zu ihrer Lösung führt. Es ist der Weg, den SETSCHENOW in seinen Arbeiten über das Tasten und das Sehen beschritten hat. Er löst das Problem,
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wie die räumlichen Eigenschaften eines Gegenstandes adäquat widergespiegelt werden, indem er von der Analyse der Prozesse ausgeht, mit denen beim Tasten und Betrachten die Umrisse und die Entfernung eines Gegenstandes sowie die räumliche Anordnung seiner Elemente reproduziert werden. Hierin liegt die Besonderheit seiner Arbeiten. Die Erkenntnistätigkeit sowohl der Hand als auch des Auges läßt sich - nach den Vorstellungen SETSCHENOWS - als ein Prozeß bezeichnen, durch den der Gegenstand gleichsam herangeholt wird. Es wird wie mit Hilfe eines »Spürorgans« ein fester Kontakt mit dem Gegenstand hergestellt. Die Hand, die die Konturen eines Objekts betastet, löst sich dabei nicht von ihm, ebenso wie das Auge sich nicht in den einzelnen Elementen verliert. Der Kontakt der Hand mit dem Gegenstand bestimmt den Ausgangspunkt und die Richtung ihrer Bewegungen, von denen wiederum die weiteren, vom Objekt kommenden Signale abhängen. Andererseits wird der gesamte Vorgang des Betrachtens und Tastens streng von den Eigenschaften des Objekts determiniert. Wir haben es demnach bei diesem Prozeß strukturell mit einem selbstregulierenden System zu tun, das jedoch nur in morphologischem Sinne geschlossen ist. Im Hinblick auf die Determinierung der Widerspiegelung ist es dagegen offen, und zwar an den Berührungspunkten mit dem Objekt. Etwas Ähnliches geschieht mit einem weichen Gummiring, der zwischen harten Gegenständen gerollt wird. Er behält zwar seine ringförmige Struktur und die ihm eigene Bewegungsform, das Rollen. Kommt er jedoch mit einem anderen Gegenstand in Berührung, dann ändert sich seine Form je nach der Oberfläche des Objekts, von der sie einen adäquaten dynamischen Abdruck wiedergibt. Während der taktilen Rezeption wird ebenfalls ein »Abdruck« des Gegenstandes genommen. Im Gegensatz zur oben geschilderten Erscheinung verändert sich nicht die Form des Substrats, das diesen Abdruck vornimmt, sondern es wandelt sich der Prozeß. Nicht die tastende Hand, sondern ihre Bewegung reproduziert die Umrisse des Gegenstandes. Dabei gilt eine einfache und selbstverständliche Regel: J e besser die Bewegung der Form des Objekts entspricht, desto vollkommener wird seine Gestalt widergespiegelt und desto genauer wird seine Form von anderen Formen unterschieden. Das alles ist allgemein bekannt, und man hat viele Einzelheiten des geschilderten Prozesses experimentell untersucht.84 84
Siehe L. M. WEKKER: Uber die Dynamik der Tastvorstellung in Abhängigkeit vom Charakter der Bewegung. In: Sammelband »Probleme der Psychologie«, Leningrad 1948 (russ.); Ebenderselbe: Über einige theoretische Probleme der Tastvorstellung. »Materialien der Konferenz über Fragen der Psychologie«, Verlag der APW der RSFSR, Moskau 1 9 5 7 (russ.); L. I. KOTLJAROVA: Die Bedingungen der Bildung des Wahrnehmungsbildes. In: »Thesen
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Die Analyse des Tastens hat insofern einen Vorzug, als wir es dabei mit einem Prozeß zu tun haben, dessen wesentlicher Inhalt sich in Form äußerer Bewegungen offenbart und der Untersuchung leicht zugänglich ist. Wir wollen versuchen, diesen Prozeß näher zu betrachten. Es handelt sich dabei um einen Anpassungsvorgang, der weder die Funktion der Assimilation noch die der Verteidigung erfüllt. Das Objekt wird durch ihn nicht aktiv verändert. Seine einzige Funktion besteht darin, in seiner Dynamik einige Eigenschaften des Gegenstandes - seine Größe und seine Form - zu reproduzieren. Die Eigenschaften des Objekts werden durch diesen Prozeß fortlaufend zu einem Bild nachgezeichnet, das dann zu einer Erscheinung der simultanen sinnlichen Widerspiegelung »entfaltet« wird. Durch den Mechanismus des Tastens wird die Dynamik der Prozesse im rezipierenden System den Eigenschaften der äußeren Einwirkung angepaßt. Im Hinblick auf das Tasten braucht dieser Widerspiegelungsmechanismus kaum näher begründet zu werden. Das Tasten offenbart sich anschaulich als ein Prozeß, bei dem der Kontakt des tastenden Organs mit dem Gegenstand darauf gerichtet ist, im Bewegungsverlauf die Umrisse des Objekts zu wiederholen. Mit anderen Worten: In der Dynamik dieses Prozesses erfolgt eine Angleichung an die widergespiegelten Eigenschaften des Objekts. Die Fähigkeit zu tasten ist demnach nichts anderes als die Beherrschung der spezifischen Verfahren oder Operationen des Angleichens.85 Daß wir es hier mit einer Angleichung und nicht mit irgendeinem anderen Prozeß zu tun haben, wird durch zahlreiche Tatsachen bestätigt. Am überzeugendsten ist die beinahe unbeschränkte Möglichkeit, diesen Prozeß mit den verschiedensten Hilfsmitteln zu vollziehen und der wissenschaftlichen Tagung des Charkower Pädagogischen Instituts«, Charkow 1 9 5 6 (russ.); L. A. SCHIFMAN: Zum Problem der taktilen Wahrnehmung der Form. In: »Arbeiten des Instituts >W. M. Bechterew< zur Erforschung des Gehirns«, Bd. XIII, Leningrad 1940 (russ.); D. KATZ: Der Aufbau der Tastwelt. Leipzig 1925; Rivisz, G.: Die Formenwelt des Tastsinnes. Band I—II, Den Haag 1938/1939.
85 Besonders aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang sowohl die Ergebnisse, die in Untersuchungen der Ontogenese des Tastens gewonnen wurden, als auch die Angaben der Pathologie. Siehe Т . O . GINEWSKAJA: Die Entwicklung der Handbewegungen beim Tasten. »Nachrichten der APW der RSFSR«, Folge 1 4 , Moskau 1 9 4 8 (russ.); F. S. ROSENFELD: Die Besonderheiten der Tastwahrnehmung beim Vorschulkind. »Nachrichten der APW der RSFSR«, Folge 1 7 , Moskau 1 9 4 8 (russ.); A. N. LEONTJEW und Т . O. GINEWSKAJA: Die gnostische Sensibilität der verletzten Hand. »Wissenschaftliche Schriften der Moskauer Universität«, Folge I I I , Moskau 1 9 4 7 (russ.); L. G . TSCHLENOW und A. SUTOWSKAJA: Zur Pathologie des Tastens. »Ardiiw biologitscheskidi nauk«, Bd. 40, Folge 1 (russ.); J. DELAY: Les astereognosies. Pathologie du toucher. 1935.
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die die Handbewegungen afferierenden Signale »umzuchiffrieren«, ohne das adäquate Tasten zu beeinträchtigen. Werden die Konturen zum Beispiel mit einer Sonde abgetastet, dann verändern sich die Zusammensetzung der von der Hand kommenden Signale und auch die konkrete Form der von ihr vollzogenen Bewegungen ganz erheblich. Dennoch bleibt das Ähnlichkeitsverhältnis zwischen der Zeichnung, die die Bewegung »aufnimmt«, und der Form des Objekts unverändert. Das genügt aber, um den Gegenstand adäquat widerzuspiegeln. Wird jedoch dieses Verhältnis aus irgendwelchen Gründen gestört, dann bleibt die Sonde »blind«, und die Tastempfindung verschwindet. Die Hand fühlt jetzt nur noch die Sonde, die sie hält. Es erscheint uns überflüssig, weitere Tatsachen anzuführen, um den prinzipiellen Widerspiegelungsmechanismus beim Tasten und - in den Grenzen der Analogie, auf die S E T S C H E N O W hinweist - auch beim Sehen zu veranschaulichen. Gegen diese Auffassung dürfte es kaum ernsthafte Einwände geben. Es erhebt sich hier aber eine andere Frage, die wir für besonders wichtig halten: Läßt sich diese Auffassung auch auf Sinnesorgane ausdehnen, deren Tätigkeit keinen in Bewegungsprozessen hergestellten direkten Kontakt mit dem Objekt ermöglicht? Das Problem läßt sich noch anders formulieren: Kann man die Angleichung der Prozesse des rezipierenden Systems als allgemeinen prinzipiellen Mechanismus der unmittelbaren sinnlichen Widerspiegelung des Wesens der einwirkenden Umwelteigenschaften ansehen?
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Das Gehör ist eines der am wenigsten beweglichen Sinnesorgane. Das Ohr ist vom Apparat der äußeren Muskelbewegungen weitgehend getrennt. Es empfängt die auftreffenden Schallwellen mit einem spiralförmigen Knochengebilde, das sich im inneren Ohr befindet. Der Eindruck der Unbeweglichkeit des Hörorgans bleibt bestehen, obwohl das Ohr über einen inneren propriozeptiven Apparat verfügt. Die motorischen Reaktionen des äußeren Ohrs sind völlig unwesentlich; davon zeugt schon die Tatsache, daß sie bei den meisten Menschen überhaupt fehlen. Im Hinblick auf das Gehör muß uns deshalb die Rolle der motorischen Prozesse bei der Widerspiegelung der spezifischen Schalleigenschaften besonders interessieren. Und gerade die Untersuchung des Gehörs lieferte die Grundlage für die oben dargelegte Auffassung vom Medianismus der sinnlichen Widerspiegelung. Wir untersuchten vor einiger Zeit und in etwas anderem Zusammen-
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hang experimentell die Struktur des funktionalen Systems, das dem Gehör für Tonhöhen zugrunde liegt. Schon die erste Analyse zwang uns, den Anteil des Stimmapparats bei der Unterscheidung von Tonhöhen zu berücksichtigen. Auf die Bedeutung dieser Tatsachen haben unter anderem KÖHLER und der sowjetische Autor В. M. TEPLOW hingewiesen.86 In unserer Untersuchung benutzten wir Töne verschiedener Klangfarbe, die in ihrer Höhe miteinander zu vergleichen waren. Damit konnten wir experimentell eine strenge Abhängigkeit zwischen der Unterschiedsschwelle für Tonhöhen und der Genauigkeit der Vokalisation der verlangten Tonhöhe, das heißt der Genauigkeit, mit der ein dargebotener Ton stimmlich wiedergegeben wird, nachweisen.87 Wie unsere Versuche zeigten, ist es demnach bei der Analyse der Klänge nach ihrer Tonhöhe entscheidend, daß der Ton nachgesungen wird. Mit anderen Worten: Die Höhe der Schwelle hängt von der Fähigkeit ab, Töne zu intonieren; die Unterschiedsschwelle für die Tonhöhe sinkt, je genauer die Tonhöhe wiedergegeben wird. 88 Die Analyse der Tonhöhe offenbart sich damit als eine Funktion, der ein System reflektorischer Prozesse zugrunde liegt und dem als notwendige und entscheidende Komponente die motorischen Reaktionen der Stimmwerkzeuge angehören, ganz gleich, ob die wahrgenommenen Töne laut wiedergegeben oder nur lautlos »nachgesungen« werden. Wir stießen auf die allgemeinere Bedeutung dieser Tatsache, weil wir uns in der eben geschilderten Untersuchung vorgenommen hatten, die Tätigkeit des Gehörs für Tonhöhen als besondere Funktion zu erschließen, die sich nicht mit dem Gehör für Sprechlaute deckt. Die Eigenart dieser Arbeit machte es erforderlich, die Rolle der motorischen Glieder im Funktionssystem des Gehörs eingehender zu analysieren. Ein Laut ist - wie jede andere Einwirkung - durch einige Merkmale, durch einen Komplex bestimmter konkreter Eigenschaften, im gegebenen Falle vor allem durch die Tonhöhe und die Klangfarbe, gekennzeichnet. Einen Laut wahrzunehmen bedeutet demnach nichts anderes, als eben diese Eigenschaften widerzuspiegeln, denn eine »eigenschafts86
W. KÖHLER: Akustische Untersuchungen. III. »Zeitschrift für Psychologie«, Bd. 7 2 , Leipzig 1 9 1 5 ; В . M. TEPLOW: Psychologie der musikalischen Fähigkeiten. Moskau 1947 (russ.). 87 Siehe J. B. GIPPENREITER: Die Analyse des systematischen Aufbaus der Wahrnehmung. I. Teil (Zur Methodik der Messung der akustischen Unterschiedsschwelle). »Referate der APW der RSFSR«, Nr. 4/1957 (russ.); Ebenderselbe: Die Analyse des systematischen Aufbaus der Wahrnehmung. II. Teil (Experimentelle Analyse der motorischen Grundlage des Wahrnehmens von Tonhöhen). »Referate der APW der RSFSR«, Nr. 1/1958 (russ.). 88 O. W. OWTSCHINNIKOWA: Die Analyse des systematischen Aufbaus der Wahrnehmung. VII. Teil, »Referate der APW der RSFSR«, 1959, S. 55-58 (russ.).
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lose« Widerspiegelung ist nicht vorstellbar. Dabei bleibt natürlich die Frage offen, welche Eigenschaften des Lautes gerade widergespiegelt werden. Je nach dem Charakter der durch die Empfindung »aufgenommenen« Eigenschaften wird durch die rezipierenden Systeme eine Differenzierung nach den verschiedenen Formen des Gehörs vorgenommen: auf der einen Seite des Gehörs für die Tonhöhe und auf der anderen Seite des Gehörs für die Sprechlaute. Da beide Systeme einen gemeinsamen Rezeptor haben, ist die Frage nach ihrem Anfangsglied außerordentlich schwierig zu beantworten. Es tritt jedoch eindeutig zutage, daß sich beide Formen des Gehörs in bezug auf ihre motorischen Komponenten nicht decken. Als wichtigste Tatsache erkennen wir: H a t sich bei einer Versuchsperson noch kein funktionales System gebildet, an dem auch die Stimmwerkzeuge beteiligt sind, dann ist sie nicht in der Lage, Tonhöhen zu differenzieren. Diese Tatsache mag zwar widersinnig erscheinen, sie kann dennoch als feststehend angesehen werden. 89 Prinzipiell das gleiche trifft offensichtlich auch für das Gehör für die Sprechlaute zu, mit dessen Hilfe die spezifischen Eigenschaften der Sprechlaute adäquat widergespiegelt werden (gemeint sind hier Sprachen, bei denen die Tonhöhe keine Rolle spielt). Es tritt dann allerdings - und darin besteht der Unterschied gegenüber dem Gehör für die Tonhöhe - an die Stelle der vokalen Motorik die Bewegung der eigentlichen Artikulationsorgane. 90 Hören wir beispielsweise eine Sprache, die uns in phonetischer Hinsicht völlig fremd ist, dann vermögen wir die spezifischen Eigenschaften ihrer Sprechlaute zunächst nicht zu unterscheiden.91 Der Anteil der Artikulationsbewegungen an der Wahrnehmung der Sprache wird auch durch andere experimentelle Untersuchungen bestätigt. 92 89
Unter gewöhnlichen Bedingungen und bei der Anwendung der klassischen Methode zur Messung der Schwellen für Tonhöhen wird diese Tatsache meist dadurch verborgen, daß die Klänge nach anderen Merkmalen unterschieden werden, die sich gleichzeitig mit der Veränderung der Tonhöhe wandeln. 90 »Beim Hören der Sprache handelt es sidi nidit um ein einfaches Hören; in gewissem Maße ist es, als sprächen wir gemeinsam mit dem Sprecher.« (Р. P. BLONSKI: Das Gedächtnis und das Denken. Moskau-Leningrad 1935, S. 154 [russ.]). In der modernen sprachwissenschaftlichen Literatur ist es DELATTRE, der diese Auffassung unterstreicht und wie folgt formuliert: »Die Schallwelle wird nicht direkt wahrgenommen, sondern auf mittelbarem Wege (indirectement), indem sie zu der bei der Artikulation entstandenen Bewegung in Beziehung gesetzt wird (par ref£rence au geste articulatoire).« (P. DELATTRE: Les indices acoustiques de la parole. »Phonetica«, Bd. 2, H. 1 und 2, BaselNew York 1958, S. 248.) 91 Siehe S. BERNSTEIN: Probleme der Sprecherziehung. Moskau 1937 (russ.). 92 Siehe A. N. SOKOLOW: Die innere Sprache und das Verstehen. »Wissenschaftliche Schriften des Staatlichen Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Psychologie«, Bd. II, Moskau 1941 (russ.).
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Wir stehen somit yor der folgenden Sachlage: Die Reizbarkeit des peripheren Hörorgans schafft eigentlich nur die Voraussetzung für die Widerspiegelung des Lautes in seinen spezifischen Eigenschaften. Welche Eigenschaften gerade widergespiegelt werden, wird vom Mitwirken dieses oder jenes motorischen Gliedes im rezipierenden motorischen System bestimmt. Die motorischen Glieder des rezipierenden Systems, von denen hier die Rede ist, ergänzen nicht einfach - das sei in diesem Zusammenhang ganz besonders betont - den endgültigen sensorischen Effekt und machen ihn nicht schlechthin komplizierter, sondern sie gehören zu den grundlegenden Komponenten dieses Systems. Wird das vokal-motorische Glied nicht in die Wahrnehmung eines Tones aufgenommen, dann kommt es zur echten »Taubheit« für die Tonhöhe. Fehlt also im rezipierenden System das motorische Glied, das der widergespiegelten Eigenschaft des Lautes adäquat ist, dann ist es nicht möglich, die Tonhöhe hervorzuheben. Sobald jedoch die Versuchsperson den wahrgenommenen Laut in seiner Höhe stimmlich wiederzugeben beginnt, sinken die Unterschiedsschwellen ganz erheblich, und zwar in manchen Fällen auf ein Sechstel bis ein Achtel, ja mitunter auf ein Zehntel des ursprünglichen Wertes. In welchem Sinne ist nun der Prozeß des Intonierens der widergespiegelten Eigenschaft des Klanges adäquat? Offensichtlich ist er das im gleichen Sinne, in dem die beim Tasten vollzogene Bewegung den Umrissen des Gegenstandes adäquat ist: Die Bewegungen der Stimmbänder reproduzieren das Wesen der wahrzunehmenden Eigenschaft der Einwirkung. Dabei ist es gleichgültig, ob wir den Mechanismus des Intonierens im Sinne der klassischen Theorie von den passiven Schwingungen der Stimmbänder auffassen oder den Standpunkt H U S S O N S 93 von den aktiven Vibrationen vertreten. In beiden Fällen wird die intonierte Tonhöhe dem zu differenzierenden Klang angepaßt; der Prozeß, der das effektorische Glied des rezipierenden Systems bildet, wird also der widergespiegelten Eigenschaft angeglichen. Die Bewegungen der Stimmbänder, das heißt ihre Schwingungsfrequenz, entsprechen völlig dem physikalischen Merkmal, nach dem der Klang differenziert wird. Mit anderen Worten: der prinzipielle Mechanismus der Rezeption der Tonhöhe ist dem Mechanismus der taktilen Rezeption der Form völlig analog. Zwischen diesen Prozessen gibt es jedoch einen wichtigen Unterschied. Bei der taktilen Wahrnehmung kommt die Hand in direkte Berührung mit dem Gegenstand, und die der Tonhöhe ist dem Mechanismus der taktilen Rezeption der Form völlig analog. 93
Siehe R. HUSSON : £tude des phenomenes physiologiques et acoustiques de la voix diantee. »Revue scientifique«, 88, Paris 1950.
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Anders verhält es sich bei der Wahrnehmung eines Klanges. Obwohl sich hier der Prozeß der Angleichung zunächst auch als eine äußerlich zutage tretende Bewegung (lautes Nachsingen) vollzieht, ist er zur Interiorisierung fähig und kann die Form des inneren »Nachsingens«, einer inneren »Vorstellung«, annehmen (TEPLOW). Das ist möglich, weil der eigentliche periphere sensorische Apparat und der Effektor dieses rezipierenden Systems nicht - wie beim Tasten - im gleichen Organ liegen. Wird beim Tasten die äußere Bewegung unterbrochen, dann Ьогёп auch die auf die Hand wirkenden extrazeptiven Signale auf, und die taktile Rezeption des Gegenstandes wird unmöglich. Anders liegen die Dinge bei der akustischen Wahrnehmung: Wird auf die äußere Bewegungsform der Angleichung verzichtet (wird also vom lauten Nachsingen zur inneren »Vorstellung« der Tonhöhe übergegangen), dann wird damit die Einwirkung der extrasensorischen Reize auf das periphere akustische Organ weder beseitigt noch verändert, und die akustische Rezeption wird nicht unterbrochen. Auf Grund aller Angaben über die Rolle und die Besonderheiten des effektorischen Gliedes im reflektorischen System des Gehörs für die Tonhöhe läßt sich das folgende allgemeine Schema für die Analyse von Klängen nach ihrer Tonhöhe aufstellen: Ein auf das periphere Hörorgan wirkender akustischer Reiz ruft eine Reihe von Antwortreaktionen hervor, unter denen sich auch als spezifische motorische Reaktion eine Intonation mit propriozeptiver Signalisation befindet. Dabei wird die Höhe des einwirkenden Klanges nicht sofort genau reproduziert, sondern es setzt ein aktives »Suchen«, eine aktive Orientierung, ein, die so lange fortgeführt wird, bis sich (innerhalb des rezipierenden Systems) die intonierte Höhe der Höhe des einwirkenden Klanges nähert. Durch die nun einsetzende »Resonanz« zwischen den von den StimmWerkzeugen stammenden Frequenzsignalen und den Signalen, die vom akustischen Rezeptor ausgehen (oder im »operativen Gedächtnis« festgehalten sind), stabilisiert sich dieser dynamische Prozeß; die Tonhöhe wird hervorgehoben, das heißt, ihre Eigenschaft wird widergespiegelt. Diese Vorstellung vom Ablauf der Wahrnehmung der Tonhöhe wurde durch die von uns gewonnenen experimentellen Ergebnisse bestätigt. 94 Wir hatten dabei einige Versuchspersonen, deren Gehör für Tonhöhen bereits genügend ausgebildet war, aufgefordert, die von 94
Siehe A. N. LEONTJEW und O . W. OWTSCHINNIKOWA : Analyse des systematischen Aufbaus der Wahrnehmung. IX. Teil: Über den Mechanismus der Tonhöhenanalyse akustischer Reize. »Referate der APW der RSFSR«, Nr. 3, Moskau 1958 (russ.).
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einem Frequenzgenerator exponierten Töne in ihrer Höhe wiederzugeben. Mit Hilfe eines Oszillographen wurde dabei die Frequenz des exponierten und die Frequenz des intonierten Tones registriert; ein Lichtzeiger gab die Zeit an. Wir führten diese Experimente mit 40 Versuchspersonen durch. Wir nahmen das Oszillogramm in Zeitlupe auf und konnten auf diese Weise die Veränderungen in Abständen von 0,01 Sekunden berücksichtigen. Der Prozeß wurde sozusagen mikroskopisch verfolgt. - Die Ergebnisse der Experimente sind in den nachstehenden Diagrammen dargestellt. Auf der Ordinate sind die exponierten (dünne, gestrichelte Linie) und die von der Versuchsperson intonierten Frequenzen (dicke Linie) abgetragen und auf der Abzisse die Zeit in Sekunden. Wir wollen zunächst die in den Abbildungen 11, 12 und 13 dargestellten Kurven betrachten. Sie sind typisch für Versuchspersonen mit relativ gut ausgebildetem Gehör für Tonhöhen.
Abb. 11
In ihrem Bestreben, den dargebotenen Ton zu treffen, fanden die Versuchspersonen die verlangte Höhe erst allmählich, indem sie im Zeitraum von weniger als einer Sekunde zum Beispiel das Intervall von 270 bis 350 H z (Abb. 11) durchliefen. In anderen, »besseren« Fällen war dieses Intervall kleiner; in Abbildung 12 beträgt es 40 H z und in Abbildung 13 sogar nur 10 Hz. Im gleichen Verhältnis verringert sich auch die Zeit, die die Stimme braucht, um sich der Höhe des exponierten Tones anzugleichen; im letzten Falle wird nur 0,1 Sekunde dazu benötigt.
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270л 250 I 2301 2101
0 I
———i 1
1 2
—i в
1 ir 4 Sekunden 5
Abb. 12 In den Abbildungen fällt eine wichtige Tatsache auf: Die Kurve des nachgesungenen Tones schneidet niemals die Linie, die die Höhe der exponierten Frequenz bezeichnet. Die erste Kurve nähert sich der des akustisch aufgenommenen Tones nur von einer Seite her und verschmilzt gleichsam mit ihr. Diese Erscheinung veranlaßte uns zu der Annahme, es komme hier zu einer »Resonanz der Konturen«, die ein weiteres Suchen beendet. Die in den Abbildungen 11 bis 13 dargestellten Kurven zeigen nur eine Möglichkeit, den intonierten Ton der Höhe des wahrgenommenen Tones anzugleichen; der suchende Charakter dieses Prozesses tritt dabei nicht deutlich in Erscheinung. 410 390. 370.
350~. 330l 31 Ol
—I —Г 2 Sekunden 3 Abb. 13 Auf Abbildung 14 zeigt er sich dagegen ziemlich ausgeprägt. Wie die Kurve erkennen läßt, nähert sich die Höhe des reproduzierten Tones der exponierten Frequenz und entfernt sich zeitweise auch wieder von
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ihr, bis beide Kurven schließlich miteinander verschmelzen. Das erfojgt zuweilen unter plötzlicher Abkehr von der gerade verfolgten Richtung; die Kurve des exponierten Tones wird jedoch niemals geschnitten.
Abb. 14
Wir müssen bei diesen Versuchen berücksichtigen, daß den Versuchspersonen bei der Genauigkeit, mit der sie den exponierten Ton treffen, bestimmte Grenzen gesetzt sind. Bei manchen Probanden beobachteten wir daher, zumindest in bestimmten Frequenzbereichen, einen konstanten Fehler bei der Angleichung. Die intonierte Höhe stabilisiert sich bei ihnen sehr genau, aber mit einer bestimmten Abweichung gegenüber dem verlangten Ton (Abb. 15).
Abb. 15
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Es sei schließlich nodi auf folgenden Umstand verwiesen: Das Suchen verläuft nicht immer, aber sehr häufig von niedrigeren zu höheren Frequenzen (d. h. so, wie das auf den Abbildungen dargestellt ist). Lag der exponierte Ton jedoch so tief, daß es der Versuchsperson schwerfiel, ihn nachzusingen, dann beobachteten wir auch eine Bewegung in entgegengesetzter Richtung. In Anbetracht dieser Untersuchungsergebnisse können wir den von uns untersuchten Tatbestand im Unterschied zur filtrierenden Analyse als komparierende Analyse bezeichnen.95 Diese Analyse läuft wie folgt ab: Sobald die Frequenz des ersten der exponierten akustischen Reize probeweise durch die ihm entgegenkommenden angleichenden Bewegungen der Stimmwerkzeuge bestimmt ist, ruft die Einwirkung eines zweiten Reizes, der vom ersten differenziert wird, eine weitere Veränderung des vokal-motorischen Gliedes des Systems hervor, bis dieses mit der Frequenz des zweiten Reizes übereinstimmt. Es handelt sich hier um einen Prozeß, in dem die Töne ihrer Höhe entsprechend eingeschätzt werden. Wird die Frequenz erhöht, dann wird der zu vergleichende Reiz als höher, bewegt sie sich in entgegengesetzter Richtung, dann wird er als tiefer eingeschätzt. Dieser Prozeß liegt offensichtlich der Messung des Abstandes zwischen dem differenzierten Ton und dem Normalton, das heißt der Einschätzung der Intervalle, zugrunde. (Dabei ist es überhaupt nicht erforderlich, daß der Frequenzbereich der wahrgenommenen Töne und der Stimmumfang der Versuchsperson übereinstimmen.) Die Vorstellung von dem der Rezeption zugrunde liegenden Funktionsmechanismus, zu der wir bei der Untersuchung des Gehörs für Tonhöhen gelangten, ist im Prinzip der weiter oben dargelegten Vorstellung vom Mechanismus des Tastens analog. Entscheidend für die adäquate Widerspiegelung ist in beiden Fällen ein Prozeß der Anglei95
Bei der Einführung dieser Termini denke idi an verschiedene Schemata analysierender Einrichtungen, die die moderne Automatentheorie unterscheidet. Das eine von ihnen ist dadurch gekennzeichnet (MCCULLOCH und PITTS), daß die abschließende Einschätzung des Eingangssignals dessen einfaches Filtrat darstellt, das durch Prozesse entsteht, die nur in einer einzigen Richtung von dem Eingang aus - ablaufen. Nach dem anderen, von M C K A Y beschriebenen Schema ist die Einschätzung des Eingangssignals (»die physikalische Vorstellung von ihm«) das Ergebnis des entgegenkommenden »Nachahmungsprozesses«, der sich innerhalb des Systems vollzieht und gleichsam wie ein ununterbrochenes Ausprobieren der »organisierenden Programme« verläuft. Diese Hypothese geht von dem Prozeß der Rückkopplung aus. Der Verfasser führt einen bildhaften Vergleich zwischen beiden Schemata an: Das Schema, das auf dem Prinzip der »Komparation« beruht, unterscheidet sich von dem ersten insofern, als in ihm der Erkenntnisakt auch der Antwortakt ist. (Siehe С . E. SHANNON und G . MCCARTHY: Automata Studies. Princeton Univ. Press, 1956.)
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chungy durch den das effektorische Glied des rezipierenden Systems an die widergespiegelte Eigenschaft herangeführt wird. Die Untersuchung des Gehörs erlaubte es, diesen Mechanismus genauer zu charakterisieren. Wir begegneten dabei einem recht komplizierten Mechanismus; der Prozeß des Angleichens muß, da hier die Möglichkeit ausgeschaltet ist, das motorische Organ in äußeren, praktischen Kontakt mit dem Gegenstand treten zu lassen, auf dem Wege des »Komparierens« der Signale innerhalb des Systems, das heißt im inneren Feld, verlaufen. Die vorliegende Hypothese ist ein Versuch, die schwierigste Frage der Theorie von den Empfindungen zu beantworten: Wie kommt es zur Entschlüsselung (Dekodierung) der von den sensorischen exterozeptiven Organen ausgehenden Signale, als deren Ergebnis die spezifische Eigenschaft des Reizes reproduziert wird? Die in den Rezeptoren stattfindende ursprüngliche Transformation der äußeren Einwirkungen stellt ja bereits eine Umbildung, das heißt eine Verschlüsselung (Kodierung) dar. 96 Dabei wird der »Frequenzcode« der Nervenprozesse auf dem gesamten Wege beibehalten; das ist eine unerläßliche Bedingung für die Rindentätigkeit. Es gäbe sonst kein Zusammenwirken von Nervenprozessen, die auf Reize verschiedener Qualität antworten. Der Reproduktionsmechanismus spezifischer Eigenschaften von Einwirkungen muß unter diesen Umständen alle Prozesse umfassen, die das Wesen der einwirkenden Eigenschaft auszudrücken vermögen. Dazu gehört auch das Betasten eines Gegenstandes, das Verfolgen mit den Augen, das Intonieren von Lauten, das heißt eine Reihe von Prozessen, die unter Beteiligung der Muskeln vollzogen werden. Muß das Entschlüsseln (Dekodierung) der Eigenschaft einer Einwirkung stets unter Beteiligung der Muskelperipherie erfolgen, oder ist es besser zu sagen, an diesem Prozeß seien allgemein irgendwelche Effektoren beteiligt? Dieses Problem bedarf weiterer Erörterung, ebenso wie die noch wichtigere Frage nach dem allgemeinen biologischen Sinn und nach der Herkunft der Angleichungsfunktion. Die Hypothese, von der wir hier sprachen - diese Bemerkung sei zum Schluß gestattet läßt noch viele wichtige Fragen offen. Sie ist nach meiner Ansicht nur ein vorläufiger Versuch, einen weiteren Schritt zur Entwicklung einer Konzeption zu tun, in der die Empfindungen als Prozesse betrachtet werden, die die Verbindung mit der einwirkenden gegenständlichen Umwelt vermitteln, indem sie eine orientierende, signalisierende und im Zusammenhang damit widerspiegelnde Funktion erfüllen. 98
Siehe P. GRANIT: Die elektrophysiologisdie Untersuchung der Rezeption. Moskau 1957 (russ.); J. F. EDRIAN: Die Grundlagen der Empfindung. Moskau 1931 (russ.); CL. MORGAN: Physiological Psychology. New York 1941.
Abriß der Entwicklung des Psychischen
I. Die Entwicklung des Psychischen beim Tier 1. Das Stadium der elementaren sensorischen Psyche Die Sensibilität lebender Organismen bildete sich als Folge ihrer komplizierteren Lebenstätigkeit; dabei hoben sich innerhalb ihres Gesamtverhaltens diejenigen Prozesse heraus, die die Beziehungen zu Umwelteigenschaften von lebenswichtiger Bedeutung vermitteln. Der Organismus muß dazu reizbar gegenüber Einwirkungen werden, die Signalfunktion für ihn haben. Auf diese Weise erwirbt er die Fähigkeit, die Einwirkungen der Umwelt in ihren objektiven Zusammenhängen und Beziehungen widerzuspiegeln, es entsteht die psychische Widerspiegelung. Die Formen der psychischen Widerspiegelung vervollkommnen sich in dem Maße, in dem die Struktur der Organismen komplizierter wird; sie sind abhängig von der Entwicklung der Tätigkeit, mit der sie zusammen entstehen. Will man sie wissenschaftlich analysieren, dann muß man das Verhalten der Tiere betrachten. Die Tätigkeit der Tiere, mit der die einfachsten Formen des Psychischen zusammenhängen, hat eine wichtige Eigenart: Sie wird durch bestimmte auf das Tier einwirkende Eigenschaften ausgelöst und ist auch auf diese gerichtet; das Leben des betreffenden Tieres hängt jedoch nicht unmittelbar von diesen Eigenschaften ab. Das Tier reagiert auf Eigenschaften, die lebenswichtige Reize signalisieren, die die Lebensprozesse jedoch nicht unmittelbar beeinflussen. Gerät zum Beispiel ein Insekt in ein Spinnennetz, dann kriecht die Spinne schnell zu ihm und beginnt es einzuspinnen. Wodurch wird die Tätigkeit der Spinne ausgelöst und worauf ist sie gerichtet? Um diese Frage beantworten zu können, muß man nacheinander alle Momente ausschalten, die möglicherweise auf die Spinne wirken können. Es läßt sich dann erkennen, wodurch die Tätigkeit des Tieres hervorgerufen wird und worauf sie sich richtet: Es ist die Vibration des Netzes, die durch die Schwingungen der Flügel des Insekts entsteht, das sich in ihm verfangen hat. Sobald die Vibration aufhört, bewegt sich die Spinne nicht mehr zu ihrem Opfer. Beginnt das Insekt wieder mit den Flügeln zu vibrieren, so versucht die Spinne erneut, es zu umkreisen und einzuspinnen. Ist es wirklich die Vibration, die die Tätigkeit der Spinne auslöst und auf die sich diese Tätigkeit richtet? Der folgende Versuch gibt
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die Antwort darauf: Das Spinnennetz wird ^lurdi eine Stimmgabel in Schwingungen versetzt. Als Antwort darauf bewegt sich die Spinne in Richtung der Stimmgabel, setzt sich auf eine der Zinken und versucht, ihr einen Stoß zu versetzen (E. RABAUD). Die Ursache für die Aktivität des Tieres liegt tatsächlich in der Vibration, denn außer der Fähigkeit, rasche Schwingungen zu erzeugen, gibt es zwischen einem Insekt und einer Stimmgabel keine Ähnlichkeit. Warum wird die Tätigkeit der Spinne gerade durch die Vibration ausgelöst, die an sich im Leben dieses Tieres keinerlei Rolle spielt? Normalerweise steht die Vibration stets in einem Zusammenhang, und zwar in einer ganz bestimmten, konstanten Beziehung zu einem Opfer, das sich im Netz verfangen hat und von dessen Blut sich die Spinne ernährt. Wir wollen die Beziehung einer einwirkenden Eigenschaft zur Befriedigung eines organischen Bedürfnisses als biologischen Sinn der gegebenen Einwirkung bezeichnen. Die Tätigkeit der Spinne richtet sich folglich auf den schwingenden Körper, weil die Vibration für sie im Laufe der Artentwicklung den biologischen Sinn der Nahrungsaufnahme erhalten hat. Nun bleibt der biologische Sinn irgendeiner Einwirkung für ein Tier nicht konstant; er ändert und entwickelt sich im Laufe seiner Tätigkeit je nach dem objektiven Zusammenhang mit den übrigen Umwelteigenschaften. Läßt man zum Beispiel eine Kröte erst hungern, füttert sie dann mit Würmern und legt ihr schließlich ein Streichholz und ein rundes Stück Moos vor, dann stürzt sie sich auf das Streichholz, dessen längliche Form den Würmern ähnelt, ohne das Moos zu beachten. Die längliche Form hat für das Tier den biologischen Sinn der Nahrungsaufnahme gewonnen. Hat man die Kröte jedoch zuerst mit Spinnen gefüttert, dann stürzt sie sich, ohne auf das Streichholz zu reagieren, auf das Stück Moos, dessen Form einer Spinne ähnelt; jetzt haben runde Gegenstände den biologischen Sinn der Nahrungsaufnahme erlangt. Diese Sinnzusammenhänge, die im Leben der Tiere entstehen, sind bedingte Verbindungen besonderer, ja sogar außergewöhnlicher Art. Sie unterscheiden sich eindeutig von den bedingten Verbindungen, die den Mechanismus des Verhaltens bilden, das heißt von den Verbindungen, mit deren Hilfe das Verhalten der Tiere zustande kommt. Bewegt sich ein Tier beim Anblick der Nahrung auf sie zu, dann haben wir es mit einem Sinnzusammenhang zwischen der Nahrung und ihrem Anblick zu tun. Er muß von den Verbindungen unterschieden werden, die beispielsweise bei der Bildung der Fertigkeit entstehen, ein Hindernis zu umgehen (Verbindung zwischen dem Hindernis und dem Umweg). Verbindungen der ersten Art bilden sich schnell, »auf Anhieb«, wer-
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den aber auch ebenso rasch wieder gelöst; oft genügen schon eine oder zwei Kombinationen dazu. Verbindungen der zweiten Art entstehen und erlöschen dagegen langsam und allmählich. Küken zum Beispiel beginnen schon tiadi einem erfolgreichen Versuch, nach gehacktem Eigelb zu picken; sie brauchen im Alter von zwei Tagen aber auch nur ein- oder zweimal an ein bitteres Stück Apfelsinenschale geraten zu sein, damit die Reaktion auf das Eigelb wieder erlischt (MORGAN U. a.). Andererseits sind viele Dutzende von Proben erforderlich, bis die gleichen Tiere lernen, ihre Pickbewegungen den äußeren Bedingungen anzupassen, unter denen sie gefüttert werden. BUYTENDIJK (1930) untersuchte die Bildung von Fertigkeiten bei Kröten. In einer Versuchsserie fütterte er diese Tiere mit Insekten, deren Substanz eine heftige negative biologische Reaktion bei ihnen hervorrief. War der Kröte dieses Mißgeschick einmal widerfahren, dann machte sie stundenlang nicht die geringsten Anstalten, das gleiche oder ein ähnliches Insekt zu fressen. In anderen Experimenten brachte BUYTENDIJK eine Glasscheibe zwischen die Kröte und ihr Opfer, einen Regenwurm. Obwohl das Tier jedesmal mit dem Kopf gegen die Scheibe stieß, wiederholte es hartnäckig seine Versuche, den Regenwurm zu erreichen; es dauerte lange, bis diese Reaktion erlosch. Derartige Bewegungen werden nicht einmal durch eine Verstärkung des Momentes der »Strafe« (negative Bekräftigung) unterbrochen. In Experimenten von ABBOT stürzte sich ein Frosch in einem Zeitraum von 72 Stunden immer wieder auf sein Opfer, das von einem Nadelkranz umgeben war, bis sein Oberkiefer ernsthaft verletzt war. Die unterschiedliche Geschwindigkeit, mit der sich Verbindungen der ersten und der zweiten Art bilden, wird in ihrer biologischen Bedeutung verständlich, wenn man die Lebensbedingungen der fraglichen Tierart betrachtet. »Nähert sich eine Kröte während ihrer abendlichen Jagd«, schreibt BUYTENDIJK, »einem Ameisenhaufen und verschlingt sie eine giftige Ameise, dann bewahrt sie die schnell gebildete Verbindung davor, weitere solcher Insekten zu fressen, deren Säure ihr schadet. Versucht die Kröte dagegen, einen Regenwurm zu fangen, und mißlingt ihr das, dann kann ihr die Wiederholung des Versuches unter gewohnten Bedingungen helfen, ihre Nahrung doch noch zu erbeuten.« Ein weiteres Merkmal der Sinnzusammenhänge ist ihr »zweiseitiger« Charakter: Hat sich eine solche Verbindung gebildet, dann ruft nicht nur die Wirkung des gegebenen Reizes eine bestimmte Reaktion, ein bestimmtes Verhalten hervor, sondern das entsprechende Bedürfnis scheint sich jetzt in diesem Gegenstand wiederzuerkennen, konkrete Gestalt anzunehmen, und ruft ihm gegenüber ein aktives und suchendes Verhalten hervor.
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Sdion DARWIN betonte die Eigenart dieser Sinnzusammenhänge. Er führt dazu folgende Beobachtung an: Es sei viel leichter, ein Kalb oder einen Säugling, die noch nie an der Mutterbrust gesaugt haben, an die Flasche zu gewöhnen, als ein Kalb oder einen Säugling, die auch nur ein einziges Mal die Mutterbrust genommen haben. Larven, die eine Zeitlang mit einer bestimmten Pflanze gefüttert wurden, gehen eher zugrunde, bevor sie eine andere Pflanzenart fressen, die sie ohne weiteres genießen würden, hätten sie sich von Anfang an an sie gewöhnt. In den klassischen Arbeiten PAWLOWS und seiner Mitarbeiter wird ebenfalls auf die Bildung dieser »schnellen« Sinnzusammenhänge verwiesen (in einer frühen Arbeit von ZITOWITSCH und später in den Versuchen von NARBUTOWITSCH), deren besondere Rolle im Verhalten jedoch nicht näher behandelt wird. Die Tiere spiegeln ihre Umwelt innerhalb ihrer Tätigkeit wider. Obgleich zwischen dem Widerspiegelungs- und dem Tätigkeitsprozeß ein Unterschied besteht, sind sie zugleich untrennbar miteinander verbunden und bedingen einander wechselseitig: Auf der einen Seite bildet sich jede Widerspiegelung während der Tätigkeit; ob und wie die auf das Tier einwirkende Eigenschaft eines Gegenstandes widergespiegelt wird, hängt davon ab, ob und in welcher Weise das Tier in seiner Anpassung an die Umwelt, in seiner Tätigkeit mit diesem Gegenstand real verbunden ist. Auf der anderen Seite wird jegliche Tätigkeit durch die empfundenen Einwirkungen vermittelt und vervollkommnet sich je nach der Art und Weise, wie die gegebene Einwirkung in den Empfindungen des Tieres widergespiegelt wird. In dieser komplizierten Einheit zwischen Widerspiegelung und Tätigkeit ist die Tätigkeit, die das Lebewesen praktisch mit der objektiven Realität verbindet, selbstverständlich primär und vorherrschend; sekundär und abgeleitet ist die psychische Widerspiegelung der einwirkenden Eigenschaften dieser Realität. Auf der allerersten Stufe der Entwicklung des Psychischen reagieren die Tiere mit ihrer Tätigkeit auf einzelne Umweltreize (oder Komplexe von ihnen), weil eine Verbindung zwischen diesen Eigenschaften und anderen Einwirkungen besteht, von denen der Vollzug biologischer Grundfunktionen abhängt. Die Widerspiegelung der Wirklichkeit, die mit einer auf diese Weise ausgelösten Tätigkeit verbunden ist, hat daher die Form einer Sensibilität gegenüber einzelnen einwirkenden Eigenschaften (oder deren Komplexen), die Form der elementaren Empfindung. Dieses Stadium in der Entwicklung des Psychischen wollen wir als Stadium der elementaren sensorischen Psyche bezeichnen. Das Stadium der elementaren sensorischen Psyche umfaßt eine lange Tierreihe. Über eine elementare Sensibilität dürften schon einige höhere Infusorien verfügen.
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Mit größerer Sidierheit läßt sich das für einige Würmer, für Krebse, für Insekten und selbstverständlich für alle Wirbeltiere behaupten. Viele Forscher haben festgestellt, wie sich das Verhalten der Würmer unter veränderten Bedingungen wandelt. Der Ringelwurm zum Beispiel reagiert normalerweise überhaupt nicht oder höchstens negativ auf die Berührung mit einem Glasstäbchen. Verbindet man jedoch den Anstoß durch das Stäbchen mit der Nahrung, dann ändert sich die Reaktion des Wurms: Sobald er mit dem Stäbdien berührt wird, bewegt er sich zur Nahrung hin (Versuche vonKoPELED und BROWN, 1 9 3 4 ) . Bei Krebsen können derartige Veränderungen schon recht komplizierten Charakter annehmen. Wird zum Beispiel beim Einsiedlerkrebs der zarthäutige Hinterleib, während sich dieser im Schneckengehäuse befindet, mechanisch leicht gereizt, dann beginnt sidi das Tier zu bewegen. Wird die Reizung fortgesetzt, dann verläßt der Einsiedlerkrebs seine Behausung und entfernt sich (Versuche von TEN-CATE-KAZEEWA, 1934).
Diese Tatsache an sich ist kaum interessant; aufschlußreich ist aber der sich vollziehende Wandel im Verhalten des Einsiedlerkrebses. Werden die angeführten Experimente nämlich systematisch fortgesetzt, dann beginnt sich der Einsiedlerkrebs anders zu verhalten. Schon bei der ersten Berührung zieht er seinen Hinterleib aus dem Schneckengehäuse, entfernt sich jedoch nicht mehr von ihm, sondern nimmt unmittelbar danach seinen ursprünglichen Platz wieder ein. Der mechanische Reiz hat jetzt einen anderen Sinn erlangt; er wurde zum Signal, den Hinterleib aus dem Schneckenhaus herauszuziehen. Die Entwicklung der anatomischen Organisation bildet selbstverständlich die materielle Grundlage für die Entwicklung der Tätigkeit und der Sensibilität der Tiere. Die allgemeine Entwicklung des Organismus und damit auch der elementaren sensorischen Psyche besteht darin, daß sich die Sinnesorgane immer mehr differenzieren, daß ihre Anzahl zunimmt und daß sich dementsprechend auch die Empfindungen differenzieren. Bei den niederen Tieren sind die Lichtsinneszellen zum Beispiel über die ganze Körperoberfläche verteilt. Bei den Würmern sind sie erstmalig am Kopfende des Körpers gelagert (Abb. 16 a). Sie konzentrieren sich dann immer mehr und nehmen die Form kleiner Scheiben an (Abb. 16 b). Das macht es möglich, die Bewegungen besser auf das Licht zu orientieren. Auf einer noch höheren Stufe, bei den Mollusken, entsteht infolge der Krümmung der Scheiben eine innere lichtempfindliche konkave Fläche. Sie funktioniert wie eine Kamera und erlaubt es, die Bewegungen der Gegenstände wahrzunehmen (Abb. 16c).
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Abb. 16: Verschiedene Typen der Struktur von Lichtsinnesorganen (Schema nach BUDDENBROOK)
Auf der anderen Seite entwickeln sich auch die Bewegungsorgane, mit denen die Tiere ihre äußere Tätigkeit vollziehen. Zwei Veränderungen bringen die Entwicklung besonders rasch voran: der Ubergang zum Leben auf dem Festland und der Ubergang der weiterhin im Wasser lebenden Tiere zum aktiven Verfolgen der Beute. Gleichzeitig mit den Sinnes- und Bewegungsorganen entwickelt sich auch das Nervensystem, das die Prozesse miteinander verbindet und koordiniert. Ursprünglich stellt das Nervensystem ein einfaches Netz dar, dessen Fasern in verschiedenen Richtungen verlaufen und die an der Körperoberfläche liegenden Sinneszellen unmittelbar mit dem kontraktionsfähigen Gewebe verbinden. Keines der heute lebenden Tiere besitzt mehr ein Nervensystem dieser Art. Selbst bei der Meduse ist das von den Sinneszellen ausgehende Netz bereits über motorische Nervenzellen mit dem Muskelgewebe verbunden (Abb. 17).
Abb. 17: Das netzförmige Nervensystem der Meduse
Vom netzförmigen Nervensystem werden nur diffuse Erregungen übertragen. Seine Nervenfasern verfügen über eine zweiseitige Leitfähigkeit, und Hemmungsprozesse fehlen offensichtlich ganz. Als weiteren
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Schritt in der Entwicklung des Nervensystems gliederten sich bestimmte Neuronen zu zentralen Ganglien heraus (Nervenknotensystem). In der Evolutionsreihe der Stachelhäuter lagern sich diese Knoten um den Schlund wie ein Ring, von dem die Nervenstämme ausgehen. Ein solches Nervensystem ermöglicht bereits ein recht kompliziertes Verhalten. Die Seesterne zum Beispiel vermögen zweischalige Musdieln zu öffnen (Abb. 18). In zwei weiteren Evolutionsreihen (von den niederen Wür-
Abb. 18: Das Nervensystem des Seesterns
mern zu den Krebsen und Spinnentieren und von den niederen Würmern zu den Insekten) wird ein massives vorderes Ganglion gebildet, das am Kopfende liegt und die Tätigkeit der tiefer liegenden Ganglien steuert (Abb. 19).
Abb. 19: Das Nervenknotensystem eines Insekts
Ein Nervensystem dieser Art entsteht, weil sich neben anderen Sinnesorganen auch ein steuerndes Organ bildet, das die Lebenstätigkeit des Organismus vermittelt.
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Das Nervenknotensystem entwickelt sich insofern, als es immer mehr > differenziert wird; das hängt mit der Bildung von Körpersegmenten zusammen. Innerhalb dieses Stadiums verändert sich auch die Tätigkeit. Sie wird immer komplizierter, und zwar im Zusammenhang mit der Entwicklung der Wahrnehmungs- und Tätigkeitsorgane sowie des Nervensystems. Demgegenüber gibt es in diesem Stadium keinen nennenswerten Wandel im allgemeinen Aufbau der Tätigkeit und in der allgemeinen Art der Widerspiegelung der Umwelt. Die Tätigkeit wird angeregt und gesteuert durch die Widerspiegelung einer Reihe von Einzeleigenschaften; es werden die Gegenstände demnach noch nicht in ihrer Ganzheit wahrgenommen. Bei niederen Tieren dieses Stadiums (beispielsweise bei Würmern) wird die Tätigkeit stets nur durch den Einfluß einer Einzeleigenschaft angeregt. Die Nahrungssuche vollzieht sich, schreibt WAGNER, stets nur mit Hilfe eines einzigen Sinnesorgans ohne Mitwirkung der anderen. Meist ist es der Tastsinn, seltener der Geruchs- oder der Gesichtssinn, aber stets nur einer von ihnen. Diese allgemeine Art der Tätigkeit wird später in zweierlei Hinsicht komplizierter. Die eine Richtung ist in der Evolutionsreihe, die von den Würmern zu den Insekten und Spinnentieren führt, am deutlichsten ausgeprägt. Die Tätigkeit dieser Tiere nimmt die Form von Ketten an, die sich mitunter aus vielen Reaktionen zusammensetzen, die auf viele einzeln aufeinanderfolgende Einwirkungen antworten. Als bestes Beispiel dafür sei das oft zitierte Verhalten des Ameisenlöwen angeführt. Der Ameisenlöwe gräbt sich in den Sand ein. Ist er so tief eingedrungen, daß die Sandkörner den oberen Teil seines Kopfes berühren, beginnt er, um den Sand nach oben zu schleudern, den Kopf und den oberen Teil des Rumpfes ruckartig nach hinten zu bewegen. Auf diese Weise bildet sich schließlich ein gleichmäßiger Trichter, in dessen Mittelpunkt sich der Kopf des Tieres befindet (Abb. 20). Gerät eine Ameise in diesen Trichter, dann rieseln zwangsläufig einige Sandkörnchen hinab. Sie fallen auf den Kopf des Ameisenlöwen und lösen bei ihm die geschilderten »Schleuderreflexe« aus. Ein Teil des aufgeworfenen Sandes trifft die Ameise, die zusammen mit dem Sand zum Boden des Trichters gleitet. Die Kiefer des Ameisenlöwen schließen sich, und das Opfer wird ausgesaugt (nach DOFLEIN - vereinfacht). Den Mechanismus dieses Verfahrens bilden elementare Reaktionen, und zwar sowohl angeborene unbedingte als auch bedingte Reflexe. Eine derartige Tätigkeit ist besonders charakteristisch für die Insekten, bei denen sie ein ziemlich hohes Entwicklungsniveau erreicht. Die Linie, die wir soeben schilderten, verläuft nicht progressiv und führt nicht zu weiteren qualitativen Veränderungen.
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Abb. 20: Der Trichter des Ameisenlöwen (nadi
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DOFLEIN)
Es gibt jedoch eine andere, progressive Richtung, in der sich die Tätigkeit und die Sensibilität vervollkommnen. Sie führt zu einem anderen Tätigkeitsablauf und auf dieser Grundlage zum Entstehen einer Form, die Umwelt widerzuspiegeln, die schon das zweite, höhere Stadium in der Entwicklung der tierischen Psyche - das Stadium der perzeptiven (wahrnehmenden) Psyche - kennzeichnet. Diese Richtung ist mit der progressiven Linie der biologischen Evolution verbunden, die von den Würmern zu den niederen Chordatieren und schließlich zu den Wirbeltieren führt. Die Tätigkeit und die Sensibilität der Tiere werden hier insofern komplizierter, als das Verhalten von einem Gefüge vieler gleichzeitiger Einwirkungen gesteuert wird. Beispiele dafür finden wir bei Fischen. Gerade bei diesen Tieren gibt es einen deutlichen Widerspruch zwischen dem relativ komplizierten Inhalt der Tätigkeitsprozesse, dem hohen Entwicklungsniveau einzelner Funktionen auf der einen und dem noch recht primitiven Aufbau der Tätigkeit auf der anderen Seite. Nachstehend wollen wir einige Versuche dazu anführen: Quer in ein Aquarium, in dem zwei junge Zwergwelse (Amiurus) leben, wird ein Hindernis gestellt. Es besteht aus einem Rahmen, auf den weiße Gaze gespannt ist. Zwischen dem Rahmen und einer Wand des Gefäßes ist ein Durchgang freigelassen. Sobald sich die Fische, die gewöhnlich beieinander bleiben, in einem - und zwar stets dem gleichen - Teil des Aquariums befinden, wird auf den Boden des anderen Teiles ein Stück Fleisch gelegt. Vom Geruch des Köders angelockt, suchen die Fische nahezu den Boden auf und
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schwimmen direkt auf das Fleisch zu. Dabei stoßen sie auf das Hindernis. Wenige Millimeter davon stoppen sie ihre Bewegungen und scheinen den Rahmen zu betrachten. Dann schwimmen sie am unteren Rand des Hindernisses hin und her, bis sie schließlich zufällig an den Durchgang geraten, der ihnen den Weg zum anderen Teil des Aquariums freigibt, in dem sich das Fleisch befindet (Abb. 21 a).
Abb. 21: Schema der Experimente mit Fischen (nach
A . W . SAPOROSHEZ
und
I . G . DIMANSTEIN)
Die geschilderte Tätigkeit der Fische vollzieht sich im Zusammenhang mit zwei grundlegenden Einwirkungen. Sie wird durch den Geruch des Fleisches ausgelöst und in die Richtung dieser dominierenden
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Einwirkung gelenkt. Andererseits bemerken die Fische optisch das Hindernis, wodurch die durch den wahrgenommenen Geruch ausgelöste Bewegung in komplizierten, zickzackförmigen Kurven verläuft. Hier handelt es sich nicht um die einfache Bewegungskette: Reaktion auf die Trennwand — Reaktion auf den Geruch. Die Einflüsse dieser beiden Reize werden auch nicht einfach addiert; die Bewegung wird nicht zur Resultierenden beider Reize. Es handelt sich vielmehr um eine komplizierte koordinierte Tätigkeit, in der sich objektiv zweierlei Inhalt erkennen läßt. Das Tun ist erstens auf ein bestimmtes Ziel gerichtet und führt zu einem Ergebnis. Die Tätigkeit tritt zweitens als Umgehungsbewegung auf, deren Inhalt mit dem Hindernis zusammenhängt, das allerdings anders als der Geruch einwirkt. Es vermag die Tätigkeit des Tieres nicht von sich aus anzuregen; die Gaze allein ruft normalerweise keine Reaktionen hervor. Die zweite Einwirkung hängt nicht mit dem Gegenstand zusammen, der zur Tätigkeit anregte und auf den diese gerichtet war, sondern von den Bedingungen, unter denen der Gegenstand auftrat. Das ist der objektive Unterschied zwischen den beiden Einwirkungen und das objektive Verhältnis zwischen ihnen. Spiegelt sich dieses Verhältnis auch in der Tätigkeit der untersuchten Fische wider? Tritt es für den Fisch auch getrennt auf, einmal als Verhältnis des Hindernisses zum Gegenstand, der zur Tätigkeit anregt, und zum anderen als Verhältnis zu den Tätigkeitsbedingungen allgemein? Um diese Frage zu beantworten, wurde das Experiment fortgesetzt: Füttert man die Fische unter den gleichen Bedingungen weiter, dann nimmt die Anzahl der überflüssigen Bewegungen allmählich ab, bis die Tiere schließlich direkt auf den Durchgang zwischen Hindernis und Aquariumwand zustreben, um zum Futter zu gelangen (Abb. 21b). Bei diesem Ergebnis gingen wir zum zweiten Teil des Experiments über. Bevor die Fische erneut gefüttert wurden, nahmen wir das Hindernis weg. Obwohl die Trennwand ziemlich nahe am Ausgangsort der Fische gestanden hatte und ihr Fehlen trotz des schlechten Sehvermögens der Tiere unbedingt bemerkt werden mußte, bewegten sich die Welse so zum Futter, als sei das Hindernis weiter vorhanden (Abb. 21 c). Erst allmählich schlugen sie wieder den geraden Weg zur Freßstelle ein (Abb. 21 d). Dazu bedurfte es allerdings einiger Zeit (nach Angaben v o n SAPOROSHEZ u n d D I M A N S T E I N ) .
Die untersuchten Fische hatten demnach die Einwirkung, die ihren Umweg veranlaßte, mit der Einwirkung der Nahrung, das heißt mit deren Geruch verbunden. Die Tiere hatten von Anfang an die erste Einwirkung zusammen mit dem Geruch der Nahrung wahrgenommen und nicht als Eigenschaft eines anderen Gegenstandes.
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Mit der immer komplizierter werdenden Tätigkeit und der zunehmenden Sensibilität ergibt sich ein deutlidier Widerspruch im Verhalten der Tiere. In der Tätigkeit der Fische (und offensichtlich auch anderer Wirbeltiere) kann bereits ein Inhalt hervorgehoben werden, der objektiv den einzelnen einwirkenden Bedingungen entspricht. Diese Tiere verbinden jedoch diesen Inhalt mit den Einwirkungen, auf die ihre gesamte Tätigkeit gerichtet ist. Mit anderen Worten: Die Tätigkeit der Fische wird faktisch schon durch die Einwirkung einzelner Gegenstände (Nahrung, Hindernis) bestimmt, während die Tiere nur eine Summe von Einzeleigenschaften widerzuspiegeln vermögen. Im Laufe der weiteren Evolution wird dieser Widerspruch gelöst, indem sich die dominierende Form der Widerspiegelung wandelt und der allgemeine Typ der Tätigkeitsstruktur der Tiere umgestaltet wird; es vollzieht sich ein Ubergang zu einer neuen, höheren Entwicklungsstufe der Widerspiegelung. Bevor wir dieses neue Stadium näher erörtern, wollen wir uns noch mit einem speziellen Problem beschäftigen, das sich aus der allgemeinen Frage nach der Veränderlichkeit der Tätigkeit und der Sensibilität der Tiere ergibt. Wir denken dabei an das sogenannte instinktive, das heißt angeborene, unbedingt-reflektorische Verhalten im Gegensatz zu einem Verhalten, das sich unter dem Einfluß der äußeren Lebensbedingungen des Tieres, unter dem Einfluß seiner individuellen Erfahrung ändert. In der Psychologie gibt es einige - ziemlich weitverbreitete - Ansichten, die die aufeinanderfolgenden Stufen der psychischen Entwicklung mit diesen verschiedenen Mechanismen der Anpassung an die Umwelt verbinden wollen. Als niedrigste Stufe in der Entwicklung des Psychischen wird ein Verhalten betrachtet, dem die sogenannten Tropismen oder Instinkte der Tiere zugrunde liegen. Als höhere Stufe wird dagegen ein Verhalten angesehen, das sich im Laufe des individuellen Lebens ändert und dessen Grundlage die bedingten Reflexe bilden. Diese Ansichten stützen sieht auf eine unumstrittene Tatsache: Je höher die Tiere in ihrer biologischen Entwicklung stehen, desto besser können sie sich den Veränderungen der Umwelt anpassen, desto dynamischer wird ihre Tätigkeit und desto besser vermögen sie zu »lernen«. Die Art und Weise, wie die Anhänger dieser Auffassung den Entwicklungsprozeß der Tätigkeit der Tiere konkret betrachten, ist jedoch äußerst primitiv und im Grunde genommen falsch. Vor allem ist es völlig unbegründet, das angeborene Verhalten, von dem man meint, es ändere sich nicht unter dem Einfluß äußerer Einwirkungen, dem Verhalten entgegenzustellen, das sich im Laufe der individuellen Entwicklung und Anpassung des Tieres ausprägt, und beide als genetisch verschiedene Stufen anzusehen. »Die individuelle
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Anpassung«, schreibt PAWLOW, »existiert innerhalb der gesamten Tierwelt.« 1 Diese Gegenüberstellung geht einerseits auf den Versuch zurück, die Tätigkeit der Tiere auf angeborene Mechanismen zurückzuführen, und andererseits auf die idealistische Ansicht über den Begriff des Instinkts. Als einfachste Art des angeborenen Verhaltens wird gewöhnlich der Tropismus angesehen. Die Theorie der Tropismen bei den Tieren wurde von J. LOEB geschaffen. Nach LOEB ist der Tropismus eine zwangsläufige automatische Bewegung; sie wird hervorgerufen durch die Ungleichheit der physikalisch-chemischen Prozesse in den symmetrischen Teilen des Organismus infolge der einseitig auf ihn einwirkenden Reize. Als Beispiel dafür sei das Wachstum der Wurzeln angeführt, das stets nach unten gerichtet ist, gleichgültig, in welche Lage die Pflanze gebracht wird. Ähnlichen Erscheinungen begegnen wir auch bei Tieren. Daraus darf man jedoch nicht schließen, die Tätigkeit dieser Lebewesen gehe auf den Mechanismus der Tropismen zurück und könne sich nicht unter dem Einfluß der Erfahrung ändern. Die meisten Daphnien verfügen zum Beispiel über einen positiven Phototropismus, das heißt, sie bewegen sich zwangsläufig zum Licht. Wie jedoch Versuche von BLEES und sowjetischen Autoren (LEONTJEV und BASSIN) zeigen, ähnelt das Verhalten der Daphnie keineswegs dem der Wurzeln bei Pflanzen. Die Versuche waren wie folgt aufgebaut: Ein flaches, kleines Aquarium wurde nur von einer Seite beleuchtet (Abb. 22). In der Mitte des Gefäßes wurde ein rechtwinklig abgebogenes Glasröhrchen befestigt. Der horizontale Teil des Rohres befand sich unter Wasser, der senkrechte Teil ragte über den Wasserspiegel hinaus (Abb. 23). а Glasröhrchen
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Glasröhrchen Abb. 22
Abb. 23
Versuchsvorrichtung der Experimente mit Daphnien (nach BLEES) 1 J. P. PAWLOW: Sämtliche Werke. Bd. III/2, Akademie-Verlag, Berlin 1953, S. 425.
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Zu Beginn der Versuche wurde der waagerechte Teil des Röhrchens genau auf die Lichtquelle gerichtet (Abb. 23). Eine Daphnie wurde mit Hilfe einer Pipette ins Rohr gesetzt. Sie sank rasch bis zum horizontalen Teil und bewegte sich dann dem Licht zu. Sobald sie das Rohr verlassen hatte, schwamm sie frei zur beleuchteten Wand des Aquariums weiter. Ihr Verhalten wurde demnach streng durch die Wirkung des Lichts bestimmt. In den nächsten Versuchen zeigte das Glasröhrchen unter einem Winkel von 45 Grad seitlich an der Lichtquelle vorbei (in Abb. 23 gestrichelt dargestellt). Unter diesen Bedingungen verließ die Daphnie nach wie vor das Röhrchen, sie bewegte sich jedoch langsamer. Diese Tatsache läßt sich unter dem Gesichtspunkt der TropismenTheorie leicht erklären. Man könnte annehmen, es handle sich hier um das Zusammenwirken zweier Kräfte: des Einflusses des Lichts und des Einflusses der Rohrwand, die jetzt ein wenig zur Seite gedreht worden ist und eine direkte Bewegung zum Licht verhindert. Diese Kräftekonstellation habe ihren Ausdruck in der verlangsamten Bewegung der Daphnie durch das Rohr gefunden. Wiederholt man jedoch den Versuch häufiger, dann bewegt sich die Daphnie im waagerechten Rohr immer schneller, bis sie nahezu wieder die Geschwindigkeit erreicht, die sie entwickelte, als das Rohr genau auf das Licht gerichtet war. Hier liegt folglich eine gewisse Übung vor. Die Daphnie hat ihr Verhalten den veränderten Bedingungen allmählich angepaßt. In den weiteren Versuchen wurde das Rohr um 90, um 130 und schließlich um 180 Grad gedreht. Auch unter diesen Umständen lernte die Daphnie, das Rohr relativ schnell zu passieren, obwohl sie sich zuletzt sogar vom Licht entfernen, das heißt nach einer Richtung bewegen mußte, die dem Merkmal ihres Tropismus widersprach (Abb. 24 und 25). Diese Tatsache scheint auf den ersten Blidk mit der Annahme des Phototropismus der Daphnie unvereinbar zu sein. Man könnte annehmen, der positive Phototropismus habe sich aus irgendwelchen unbekannten Gründen in einen negativen Phototropismus verwandelt. Diese Ansicht wird jedoch dadurch widerlegt, daß sich die Daphnie wieder zum Licht wendet, sobald sie das Rohr verlassen hat. Wie aus den angeführten Tatsachen hervorgeht, läßt sich das Verhalten der Daphnie keineswegs nur auf automatische, zwangsläufig ablaufende Bewegungen - die Tropismen - zurückführen. Die Tropismen der Tiere sind nicht Elemente eines durchweg mechanischen Verhaltens, sondern Mechanismen elementarer Prozesse eines Verhaltens, das plastisch und fähig ist, sich auf die Umweltveränderungen einzustellen.
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I 45°
90°
135°
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Abb. 24: Veränderungen im Verhalten der Daphnie: I - Experimente von BLEES ( 1 9 1 9 )
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Abb. 25: Veränderungen im Verhalten der Daphnie: II - Experimente von LEONTJEW, BASSIN u n d SOLOMACH ( 1 9 3 3 b i s 1 9 3 4 )
Der zweite Begriff, mit dem in der Psychologie die Vorstellung des angeborenen, streng fixierten Verhaltens der Tiere verbunden ist, ist der Begriff des Instinkts. Es gibt verschiedene Ansichten darüber, was der Instinkt eigentlich sei. Am meisten verbreitet ist die Auffassung, das instinktive Verhalten sei angeboren und bedürfe keines »Lernprozesses«. Es vollziehe sich unter dem Einfluß bestimmter Reize und sei für alle Vertreter einer gegebenen Tierart ein für alle Male fixiert. Der Instinkt sei »blind« und berücksichtige nicht die Besonderheiten in den äußeren Lebensbedingungen des betreffenden Tieres. Er verändere sich nur während des langen Prozesses der biologischen Evolution. Diese Ansicht vom Instinkt vertritt zum Beispiel der bekannte Naturforscher F A B R E .
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Bei den meisten höherentwickelten Tieren unterscheiden wir in der Tat zwischen Prozessen, in denen sich ein in der Geschichte der Art gebildetes, erblich fixiertes Verhalten äußert (beispielsweise die angeborene »Fertigkeit« mancher Insekten, Waben zu bauen), und Verhaltensweisen, die die Tiere im Laufe ihres individuellen Lebens »erlernen« können (die Bienen »lernen« zum Beispiel, einen Sirupnapf von bestimmter Form wiederzuerkennen). Wie jedoch zahlreiche Untersuchungsergebnisse zeigen, lassen sich das Artverhalten und das individuell erworbene Verhalten selbst auf niederen Entwicklungsstufen der Tiere einander nicht gegenüberstellen. Das Verhalten eines Tieres ist zwar auch das Verhalten seiner Art, es ist jedoch zugleich recht plastisch. Die Anfangsstufe in der Entwicklung der Tätigkeit beim Tier bildet demnach keineswegs ein streng fixiertes instinktives Verhalten. Das ist die erste Feststellung. Darüber hinaus gibt es auf den höheren Entwicklungsstufen der Tätigkeit kein instinktives Verhalten, das sich nicht unter dem Einfluß der individuellen Lebensbedingungen des Tieres änderte. Strenggenommen kennen wir kein Verhalten, das ein für alle Male fixiert wäre und das nach einer durch die Anlagen gegebenen Schablone abliefe. N u t wer die Tatsachen nicht genügend analysiert, kann zu einer falschen Vorstellung vom Verhalten der Tiere kommen. Als Beispiel für die geschilderte unrichtige Betrachtungsweise wollen wir ein Experiment von FABRE anführen, dessen Ergebnisse in späteren Versuchen präzisiert wurden. FABRE wollte nachweisen, daß das instinktive Verhalten nur für streng festgelegte Lebensbedingungen der gegebenen Art zutrifft und nicht fähig ist, sich neuen Umständen anzupassen. Dazu führte er Experimente mit einzeln lebenden Bienen durch, die beim Verlassen ihrer Wabe den Deckel aus Wachs durchbeißen, mit dem sie verschlossen ist. FABRE verschloß eine Gruppe von Waben zusätzlich, indem er direkt auf dem Wachs noch einen Bogen Papier anbrachte. Bei einer zweiten Gruppe befestigte er kegelförmige Papiertüten, die ein wenig von dem die Wabe verschließenden Wachsdeckel abstanden. Die Bienen, die sich in der ersten Gruppe von Waben entwickelt hatten, bissen neben dem Wachsdeckel auch das Papier durch und konnten ihr Nest verlassen. Die Bienen der zweiten Gruppe bissen ebenfalls den festen Wabendeckel durch, waren jedoch nicht in der Lage, die darüber angebrachte kegelförmige Tüte durchzubeißen. Sie waren dem Untergang ausgeliefert. FABRE schlußfolgerte aus diesem Experiment, die Insekten vermöchten zwar beim instinktiven Akt des Durchbeißens auch mit einem etwas stärkeren Deckel fertig zu werden, sie seien jedoch nicht in der Lage, ein zweites Hindernis zu beseitigen, und sei es noch so gering.
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Das instinktive Verhalten, schlußfolgert FABRE weiter, laufe demnach völlig blind nach einem während der Artentwicklung ausgearbeiteten und in ihrer Aufeinanderfolge festgelegten Schablone ab. Dieses Experiment von FABRE ist jedoch nicht überzeugend. Das Verhalten der Bienen unter den Bedingungen seiner Versuche wurde von ihm nicht genügend analysiert. Wie später geklärt werden konnte, waren die Bienen der zweiten Gruppe nicht deshalb zum Untergang verurteilt, weil sie nicht fähig gewesen wären, ihr Verhalten dem zweiten, von den normalen Bedingungen abweichenden Hindernis (kegelförmige Papiertüte über dem Wabendeckel) anzupassen, sondern weil sie infolge der Beschaffenheit ihrer Kiefer außerstande waren, die glatte Oberfläche zu erfassen, obwohl sie das versuchten. Das beweisen folgende Experimente: Auf den Wabendeckel, den die Biene beim Ausschlüpfen aus dem Nest normalerweise durchbeißen muß, wurde ein Glasröhrchen aufgesetzt, dessen oberes Ende mit einem Tonpfropfen verschlossen war. Sobald das Insekt den Deckel durchgebissen hatte, passierte es das Röhrchen und beseitigte auch das zweite Hindernis. Das instinktive Verhalten läuft demnach nicht nach einer vorher festgelegten Reihenfolge der einzelnen Akte ab, sondern kann sich ändern. Fassen wir zusammen: Untersucht man das angeborene Artverhalten bei Wespen, Spinnen, Krebsen, Fischen und anderen Tieren näher, dann stellt sich heraus, daß es keineswegs aus unveränderlichen und erblich fixierten Bewegungsketten besteht, deren einzelne Glieder automatisch aufeinanderfolgen, sondern daß jedes dieser Glieder durch bestimmte, mit Hilfe der Sinne aufgenommene Signale ausgelöst wird. Das Verhalten wird stets durch die gerade gegebenen Bedingungen reguliert und kann sich erheblich verändern. Andererseits kann sich das sogenannte individuelle Verhalten — diese Tatsache ist noch offensichtlicher - stets nur auf der Grundlage des instinktiven Artverhaltens bilden. Das bedeutet: Ebenso wie es kein Verhalten gibt, das ausschließlich durch angeborene, von Umwelteinflüssen unabhängige Bewegungen realisiert wird, gibt es keine Fertigkeiten oder bedingten Reflexe, die nicht von angeborenen Momenten abhingen. Man darf diese beiden Verhaltensarten daher einander nicht gegenüberstellen. Wir können nur behaupten, bei dem einen Tier spielten die angeborenen Mechanismen eine größere Rolle, während beim anderen die Mechanismen der individuellen Erfahrung überwögen. Aber auch durch diesen Unterschied werden keine psychischen Entwicklungsstufen der Tiere widergespiegelt. Er zeigt eher die Besonderheiten, die verschiedene Evolutionslinien kennzeichnen. So ist zum Beispiel das angeborene Verhalten am deutlichsten bei den Insekten ausgeprägt, die, wie wir wissen, einen Seitenzweig der Evolution bilden.
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Der Unterschied in der Art der Mechanismen, mit deren Hilfe sich das Tier den Veränderungen der Umwelt anpaßt, kann demnach nicht das einzige Kriterium für dessen psychische Entwicklung sein. Wesentlich ist nicht nur, auf welchem Wege sich die Tätigkeit der Tiere vorzugsweise ändert, sondern auch, welchen Inhalt und welche innere Struktur die Tätigkeit hat und in welchen gesetzmäßig mit der Tätigkeit verbundenen Formen die Wirklichkeit widergespiegelt wird.
2. Das Stadium der perzeptiven Psyche Das zweite Stadium, das der Stufe der elementaren sensorischen Psyche folgt, könnte man als Stadium der perzeptiven Psyche bezeichnen. Es ist durch die Fähigkeit gekennzeichnet, die objektive Realität nicht mehr in Form elementarer, durch isolierte Reize oder deren Komplexe ausgelöste Einzelempfindungen, sondern in Form gegenständlicher Abbilder widerzuspiegeln. Der Ubergang zu diesem Stadium hängt mit den Veränderungen in der Tätigkeitsstruktur der Tiere zusammen, die bereits in der vergangenen Etappe vorbereitet wurden. Schon in dem vorangegangenen Stadium beginnt sich ein Tätigkeitsinhalt anzudeuten, der sich objektiv nicht ausschließlich auf den Gegenstand bezieht, auf den die Handlung gerichtet ist, sondern auf die Bedingungen, unter denen der betreffende Gegenstand objektiv in der Umwelt gegeben ist. Auf der zweiten Stufe - und darin besteht die eigentliche Veränderung der Tätigkeitsstruktur - wird dieser Inhalt deutlich hervorgehoben. Er wird nicht mehr mit dem verbunden, was die Tätigkeit insgesamt anregt, sondern entspricht den speziellen Einwirkungen, die ihn auslösen. Wird zum Beispiel eine Trennwand zwischen einem Säugetier und seinem Futter gezogen, dann wird es dieses Hindernis selbstverständlich umgehen. In der Tätigkeit des Tieres läßt sich damit - ebenso wie in dem oben geschilderten Experiment mit Fischen - ein gewisser Inhalt herausheben, der sich objektiv nicht auf die Nahrung allein, sondern auch auf das Hindernis bezieht, das eine der objektiven Bedingungen darstellt, unter denen die Tätigkeit abläuft. Zwischen dem Verhalten der Fische und dem der Säugetiere gibt es jedoch einen erheblichen Unterschied: Während bei den Fischen nach Beseitigung des Hindernisses der Inhalt der Tätigkeit (Umweg) zunächst erhalten bleibt und erst allmählich verschwindet, wendet sich ein höher entwickeltes Tier, sobald die Trennwand beseitigt wird, direkt zur Nahrung. Die Einwirkung, auf die dieses Tier seine Tätigkeit richtet, wird nicht mehr
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mit der Einwirkung des Hindernisses verquickt, sondern beide Einwirkungen werden jetzt getrennt wahrgenommen. Von der ersten hängt die Richtung und das Ergebnis der Tätigkeit ab, von der anderen die Art und Weise, wie sie vollzogen wird, indem beispielsweise ein Umweg um das Hindernis gemacht wird. Wir wollen dieses besondere System oder die besondere Seite der Tätigkeit, die den Bedingungen entspricht, unter denen der zur Tätigkeit anregende Gegenstand gegeben ist, als Operation bezeichnen. In der Tätigkeit werden jetzt - wie gesagt - Operationen hervorgehoben. Die einwirkenden Eigenschaften, die für die niederen Tiere nebengeordnet waren, werden jetzt in Gruppen unterteilt: Auf der einen Seite treten Eigenschaften auf, die den Gegenstand kennzeichnen, auf den sich die Tätigkeit in ihrer Gesamtheit richtet, und auf der anderen Seite begegnen wir Eigenschaften von Gegenständen, die die Art und Weise der Tätigkeit - die Operation - bestimmen. Im Stadium der elementaren sensorischen Psyche waren die einwirkenden Eigenschaften insofern differenziert worden, als sie einfach um den dominierenden Reiz zusammengefaßt wurden. Jetzt begegnen wir erstmalig Prozessen, die die einwirkenden Eigenschaften zu einem gegenständlichen Bild zusammenfassen. Die Tiere spiegeln jetzt ihre Umwelt in Form mehr oder weniger gegliederter Abbilder einzelner Gegenstände wider. Die meisten heute lebenden Wirbeltiere stehen auf verschiedenen Stufen des Stadiums der perzeptiven Psyche. Der Übergang zu diesem Stadium hängt offensichtlich mit dem Ubergang zum Leben auf dem Festland zusammen. Die Entstehung und Entwicklung der perzeptiven Psyche geht auf eine Reihe anatomisch-physiologischer Veränderungen zurück. Vor allem verändert und entwickelt sich die Rolle der Distanzrezeptoren, insbesondere des Sehens, und zwar insofern, als sich sowohl ihre Bedeutung im allgemeinen System der Tätigkeit als auch die Form ihres anatomischen Zusammenhangs mit dem zentralen Nervenapparat wandelt. Im vorausgegangenen Stadium hatte die Differenzierung der Rezeptoren dazu geführt, dominierende Organe herauszuheben. Bei den Wirbeltieren dagegen werden die führenden Rezeptoren zu Organen, die die äußeren Einwirkungen integrieren. Das wird möglich, weil sich gleichzeitig auch das Zentralnervensystem umgestaltet, indem sich (erstmalig bei den Reptilien) das Vorderhirn und danach die Großhirnrinde bilden. Das Vorderhirn ist (bei den Fischen, Amphibien und Reptilien) ursprünglich ein ausgesprochenes Geruchszentrum, das gleichsam die Verlängerung des zentralen Geruchsapparates bildet. Im Laufe der Entwicklung (bei den Säugetieren) verringert sich der Anteil der Geruchszentren in der Großhirnrinde auf Kosten der kortikalen Reprä-
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sentation anderer Sinnesorgane., Das macht ein Vergleich zwischen dem Raum, den das Geruchszentrum in der Großhirnrinde des Igels einnimmt, mit dem Geruchszentrum niederer Affen deutlich (Abb. 26 und 27). Ursprüngliche Rindenprojektion des Geruchssinn 5+7
Abb. 27: Das Geruchszentrum in der Großhirnrinde der niederen Affen
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Die optischen Zentren nehmen dagegen (mit den Reptilien beginnend) in der Großhirnrinde immer mehr Raum ein. Bei den Vögeln wird das Auge zum wichtigsten Rezeptor (Abb. 28). Audi bei vielen höheren Säugetieren spielt das Sehen die dominierende Rolle (Abb. 29).
Abb. 29: Die allmähliche Verschiebung der optischen Zentren in die Großhirnrinde bei Wirbeltieren (nach MONAKOW) : А - die optischen Bahnen und die optischen Hirnzentren beim Frosch; В - das gleiche bei den Reptilien; С - das gleiche bei den Säugetieren 1-Vorderhirn; 2-Zwischenhirn; 3-Mittelhirn; 4-Kleinhirn; 5-verlängertes Mark; 6-Auge
Zugleich entwickeln sich auch die Bewegungsorgane, die »natürlichen Werkzeuge«, die den Tieren komplizierte Operationen vollziehen helfen, wie sie das Leben auf dem Festland erfordert (Laufen, Kriechen, Verfolgen der Beute, Überwinden von Hindernissen). Die Bewegungs-
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funktionell werden immer mehr vom Kortex gesteuert (sie gehen in die Großhirnrinde über), so daß die Entwicklung der Operationen mit der des Kortex zusammenhängt. Bei den niederen Wirbeltieren ist die Tätigkeit vorzugsweise mit tiefer liegenden Zentren (subkortikale Ganglien) verbunden; mit fortschreitender Entwicklung wird sie immer mehr von der Großhirnrinde gesteuert, und die Veränderungen in deren Struktur finden ihren Niederschlag auch in der weiteren Entwicklung der Tätigkeit. Das Herausheben von Operationen, das das Stadium der perzeptiven Psyche kennzeichnet, bildet den Anfang einer neuen Form, die Erfahrungen der Tiere zu fixieren, der Form motorischer Fertigkeiten im engeren Sinne des Wortes. Mitunter wird jede beliebige, in der individuellen Erfahrung entstandene Verbindung als Fertigkeit bezeichnet. Bei einer derartigen Erweiterung wird der Begriff jedoch recht verschwommen und umfaßt dann einen außerordentlich großen Bereich völlig unterschiedlicher Prozesse, die sich von den Reaktionen der Infusorien bis zu den komplizierten Handlungen des Menschen erstrecken. Wir werden - im 'Gegensatz zu dieser völlig ungerechtfertigten Erweiterung des Begriffs - nur gefestigte Operationen als Fertigkeiten bezeichnen. Diese Definition deckt sich mit der Auffassung PROTOPOPOWS, der erstmalig experimentell nachwies: Die motorischen Fertigkeiten der Tiere entstehen aus den zur Uberwindung von Hindernissen notwendigen motorischen Elementen; die Eigenart der Fertigkeiten wird durch den Charakter des Hindernisses bestimmt. Der Reiz (d. h. die anregende Haupteinwirkung) beeinflußt die Fertigkeit nur dynamisch (er wirkt sich nur auf die Schnelligkeit und Genauigkeit aus, mit der eine Fertigkeit fixiert wird, und schlägt sich nicht in ihrem Inhalt nieder). Die motorischen Elemente, die in den Bestand der Fertigkeiten eingehen, können verschiedenen Charakter haben. Es kann sich sowohl um angeborene Bewegungen der betreffenden Art als auch um Bewegungen handeln, die erst im Laufe der individuellen Erfahrung gewonnen wurden. Zuweilen begegnen wir auch Bewegungen, die sich während der zufälligen motorischen Übungen fixiert haben, die das Tier beim Erwerb der betreffenden Fertigkeit unternahm. Klar ausgeprägten Fertigkeiten im eigentlichen Sinne des Wortes begegnen wir erst bei Tieren mit einer Großhirnrinde, da wir den Bildungs- und Festigungsmechanismus kortikaler bedingter Nervenverbindungen als physiologische Grundlage für den Erwerb von Fertigkeiten anzusehen haben. Beim Übergang zum Stadium der perzeptiven Psyche verändert sich auch die sensorische Form, in der die Erfahrungen gefestigt werden. Bei den Tieren entstehen erstmalig sinnliche Vorstellungen.
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Nun ist die Frage, ob die Tiere überhaupt Vorstellungen haben können, heute noch sehr umstritten. Es gibt jedoch zahlreiche Tatsachen, die diese Frage eindeutig bejahen. Das Problem wurde zum Beispiel in den Experimenten von TINKLEPAUGH systematisch untersucht. Der Forscher warf Früchte im Beisein eines Affen hinter eine Trennwand und ersetzte jene unbemerkt durch Kohlköpfe, die das Tier viel weniger reizten. Der Affe, der das Hindernis überwunden und dahinter nur Kohlköpfe vorgefunden hatte, suchte weiter nach den Früchten, die er zuvor gesehen hatte. Ähnliche Versuche hat bei uns WOITONIS mit einem Fuchs durchgeführt; sie erbrachten die gleichen Ergebnisse. Sehr aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang einige von BERITOW geschilderte Beobachtungen. Bei einem Hund war ein bedingter Reflex ausgearbeitet worden, demzufolge das Tier auf ein bedingtes Signal zum Futternapf lief, der sich zur gleichen Zeit öffnete und den Hund zur Nahrung gelangen ließ. Im Laufe dieses Experiments zeigte man dem Tier, bevor es ins Laboratorium gebracht wurde, an einer entfernten Stelle des Korridors das Futter, das es allerdings nicht nehmen durfte. Danach wurde im Laboratorium wie gewohnt das bedingte Signal exponiert. Der Hund lief zum Futternapf, den er diesmal jedoch leer vorfand. Er kehrte daraufhin nicht wie gewöhnlich zu seinem alten Platz zurück, sondern lief zu der Stelle im Korridor, an der er vorher das Futter gesehen hatte. Einen spezielleren Charakter trugen Versuche von BUYTENDIJK und FISCHEL. Wie dabei experimentell nachgewiesen wurde, orientiert sich ein Hund - im Gegensatz zu niederen Wirbeltieren - in seinen Reaktionen auf früher wahrgenommene Situationen oder (sofern man in seinem Beisein ein Lockmittel versteckte) auf Gegenstände, die man ihm zuvor gezeigt hat. Mit dem Wandel in der Tätigkeitsstruktur und der Form, in der die Tiere die Wirklichkeit widerspiegeln, gestaltet sich auch ihre Gedächtnisfunktion um. Auf dem Stadium der elementaren sensorischen Psyche äußerte sich diese Funktion insofern, als sich in der motorischen Sphäre unter dem Einfluß äußerer Einwirkungen die Bewegungen veränderten, die mit dem zur Tätigkeit anregenden Reiz verbunden waren, und in der sensorischen Sphäre die Verbindung zwischen einzelnen Einwirkungen fixiert wurde. Im Stadium der perzeptiven Psyche tritt die mnemische Funktion in der motorischen Sphäre in Form motorischer Fertigkeiten und in der sensorischen Sphäre in Form des primitiven bildhaften Gedächtnisses zutage. Noch tiefgreifender werden beim Übergang zur perzeptiven Psyche die Prozesse der Analyse und der Verallgemeinerung der auf die Tiere wirkenden Umwelteinflüsse verändert.
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Schon auf den ersten Entwicklungsstufen des Psychischen lassen sich bei den Tieren Prozesse der Differenzierung und der Synthese einzelner Einwirkungen beobachten. Ein Lebewesen, das früher auf zwei verschiedene Laute gleichermaßen reagierte, beachtet den zweiten Reiz immer weniger, sobald man nur noch den ersten mit einer biologisch wichtigen Einwirkung verbindet. Die Laute werden auf diese Weise differenziert, und das Tier beginnt, selektiv auf sie zu reagieren. Verbindet man dagegen eine ganze Reihe von Lauten mit einem lebenswichtigen Reiz, dann wird das Tier gleichermaßen auf sie alle antworten; sie erlangen bei ihm den gleichen biologischen Sinn. Hier vollzieht sich eine primitive Verallgemeinerung. Innerhalb des Stadiums der ; elementaren sensorischen Psyche differenzieren und verallgemeinern die Tiere auch bereits einzelne auf sie einwirkende Eigenschaften. Diese Differenzierungs- und Wahrnehmungsprozesse werden jedoch - das sei in diesem Zusammenhang betont - nicht von dem abstrakten Verhältnis zwischen den Einwirkungen bestimmt, sondern hängen von der Rolle ab, die diese Reize in der Tätigkeit des Lebewesens spielen. Wie leicht oder schwer verschiedene Reize differenziert oder verallgemeinert werden, wird auch weniger dadurch beeinflußt, wie ähnlich sie einander sind, sondern hängt ebenfalls von ihrer konkreten biologischen Rolle ab. Eine Biene zum Beispiel kann mühelos Formen differenzieren, die der Blume ähnlich sind, während es ihr schwerfällt, abstrakte Formen - und seien sie einander noch so unähnlich (Dreieck, Quadrat) - zu unterscheiden. Das gilt auch für die höheren Entwicklungsstufen der Tiere. Hunde reagieren beispielsweise sehr fein auf schwache Gerüche tierischer Herkunft, während sie den Duft von Blumen oder Parfüm nicht beachten (PASSY, BINET). Der gegebene Geruch muß für den Hund einen biologischen Sinn erlangt haben; dann vermag er ihn im allgemeinen sehr genau zu unterscheiden. Er differenziert zum Beispiel unter experimentellen Bedingungen noch Gerüche organischer Säuren in einem Lösungsverhältnis von 1 : 100 000. Beim Übergang zur perzeptiven Psyche tritt beim Differenzieren und Verallgemeinern vor allem insofern ein Wandel ein, als die Tiere ganze Objekte zu differenzieren und zu verallgemeinern in der Lage sind. Die Entstehung und Entwicklung der verallgemeinerten Widerspiegelung von Gegenständen ist ein außerordentlich kompliziertes Problem, das es eingehender zu erörtern gilt. Das sinnliche Abbild eines Gegenstandes ist nunmehr keine Summe einzelner Empfindungen und kein mechanisches Produkt vieler gleichzeitig einwirkender Eigenschaften, die objektiv verschiedenen Bereichen angehören. Bei zwei Dingen A und B, die über die Eigenschaften
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а, b, c, d und m, n, о, p verfügen, müssen diese Einzeleigenschaften zwei verschiedene Einheiten (a, b, c, d = A; m, n, о, p = B) bilden, um ihre Abbilder entstehen zu lassen; zwischen beiden muß in dieser Hinsicht eine Differenzierung erfolgen. Das heißt aber auch: Wirken diese Eigenschaften später mit anderen Eigenschaften zusammen, dann muß die zuvor hervorgehobene Einheit dennoch als derselbe Gegenstand wahrgenommen werden. Da sich die Umwelt und die Bedingungen der Wahrnehmung zwangsläufig verändern, ist das nur möglich, wenn das entstandene Abbild des Gegenstandes verallgemeinert ist. In den geschilderten Fällen begegnen wir zwei Arten miteinander verbundener Prozesse: Es handelt sich erstens um Prozesse, in denen eine Operation von einer konkreten Situation auf eine andere, ihr objektiv ähnliche übertragen wird. Zweitens handelt es sich um Prozesse, in denen das verallgemeinerte Abbild eines Gegenstandes erzeugt wird. Dieses verallgemeinerte Abbild entsteht, während eine auf den gegebenen Gegenstand gerichtete Operation gebildet wird; es formt sich auf deren Grundlage und erlaubt es zugleich, diese Operation auf eine neue Situation zu übertragen. Da sich dabei die gegenständlichen Bedingungen der Tätigkeit ändern, stimmt die ursprüngliche Operation nicht mehr mit den neuen Umständen überein. Sie muß sich zwangsläufig ändern und umgestalten, und analog dazu wird auch das verallgemeinerte Abbild des Gegenstandes umgestaltet und präzisiert. Es wird gleichsam mit einem neuen Inhalt angereichert. Das wiederum ermöglicht es, die Operation auf neue gegenständliche Bedingungen zu übertragen, die vom Tier eine vollständigere und richtigere verallgemeinerte Widerspiegelung verlangen.
Abb. 30: Die Großhirnrinde des Kaninchens, des niederen Affen und des Menschen Die gestrichelten Abschnitte kennzeichnen die Projektionsfelder (primäre Rindenfelder), die nicht gestrichelten Abschnitte umfassen die Integrationsfelder (sekundäre Rindenfelder). Es ist die erhebliche Vergrößerung der Fläche der Integrationsfelder (nicht gestrichelte Teile) beim Übergang zu höheren Entwicklungsstufen deutlich zu erkennen (nach ECONOMO; der Maßstab der Darstellungen des Gehirns ist bei diesem Schema nicht mit angegeben).
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Die Wahrnehmung ist auf dieser Stufe demnach noch vollständig in die äußeren motorischen Operationen des Tieres einbezogen. Verallgemeinerung und Differenzierung, Synthese und Analyse vollziehen sich noch in einem einheitlichen Prozeß. Die Entwicklung der Operationen und der verallgemeinerten Widerspiegelung der Umwelt drückt sich in einer komplizierter werdenden Struktur der Großhirnrinde aus. Ihre Integrationsfelder nehmen immer mehr Raum ein und werden weiter differenziert (Abb. 30). Die Funktionen dieser höheren Integrationsfelder besteht darin wie schon ihr Name ausdrückt die einzelnen Einwirkungen zusammenzufassen. 3. Das Stadium des Intellekts Die meisten Säugetiere befinden sich in ihrer psychischen Entwicklung im Stadium der perzeptiven Psyche. Eine höhere Stufe erreichen nur die am höchsten organisierten von ihnen. Diese neue, höhere Stufe der psychischen Entwicklung wird gewöhnlich als Stadium des Intellekts (oder des Denkhandelns) bezeichnet. Natürlich können wir den Intellekt eines Tieres nicht mit dem Denken des Menschen gleichsetzen; zwischen beiden gibt es - wie wir noch sehen werden - einen großen qualitativen Unterschied. Das Stadium des Intellekts zeichnet sich durch eine außerordentlich komplizierte Tätigkeit und eine ebenso komplizierte Form, die Wirklichkeit widerzuspiegeln, aus. Das intellektuelle Verhalten der höchstentwickelten Tiere - der Menschenaffen - wurde erstmalig von W . K Ö H L E R systematisch experimentell untersucht. Die Versuche waren nach folgendem Schema aufgebaut: Ein Schimpanse wird in einen Käfig gebracht, in dem sich ein Stock befindet. Vor dem Gitter liegt eine Lockspeise (Banane, Apfelsine), die der Affe mit der Hand nicht erreichen kann. Er kann die Frucht nur erlangen, wenn er sich des Stockes bedient. Wie verhält sich das Tier in einer solchen Situation? Es versucht zunächst, die Lockspeise unmittelbar mit der Hand zu erreichen. Diese Versuche bleiben erfolglos. Der Schimpanse scheint daraufhin seine Bemühungen aufzugeben; er unterbricht seine Versuche und beachtet die Frucht nicht mehr. Bald darauf nimmt der Affe seine Bemühungen wieder auf, schlägt jetzt aber eine andere Richtung ein. Er versucht nicht mehr, die Frucht unmittelbar mit der Hand zu erreichen, sondern greift nach dem Stock, richtet ihn auf die Frucht und berührt sie damit. Der Schimpanse zieht den Stab wieder zu sich heran und bewegt ihn so lange hin und her, bis die Frucht
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näher herangerückt ist und mit der Hand erfaßt werden kann. Die Aufgabe ist gelöst. Man stellte dem Afferi zahlreiche weitere Aufgaben, die nach dem gleichen Prinzip aufgebaut waren. Um sie zu lösen, war er jeweils gezwungen, Verfahren anzuwenden, die er nicht im Laufe der geschilderten Aufgabe erworben haben konnte. Man hängte zum Beispiel an die Decke des Affenkäfigs einige Bananen, die das Tier nicht unmittelbar greifen konnte. In der Nähe stand eine leere Kiste. Der Schimpanse konnte diese Aufgabe nur lösen, wenn er auf die Kiste kletterte, die er zuvor unter die Lockspeise stellen mußte. Wie die Ergebnisse zeigten, bewältigen die Anthropoiden solche Aufgaben, ohne vorher lange lernen zu müssen. Auf den niedrigeren Entwicklungsstufen hatten sich die Operationen nur langsam nach zahlreichen Proben gebildet; die erfolgreichen Bewegungen wurden dabei nach und nach gefestigt und die überflüssigen Bewegungen allmählich gehemmt. Beim Anthropoiden beobachten wir zunächst zwar auch eine Periode völliger Mißerfolge, und audi er unternimmt viele Versuche, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Plötzlich findet er jedoch die Operation, die beinahe sofort zum Erfolg führt. Das ist die erste charakteristische Besonderheit der intellektuellen Tätigkeit der Tiere. Wird der Versuch wiederholt, dann vermag der Affe die betreffende Operation zu reproduzieren, obwohl er sie nur einmal vollzogen hat. Das Tier löst demnach eine ähnliche Aufgabe ohne irgendwelche vorherigen Versuche. Darin liegt die zweite charakteristische Eigenart der intellektuellen Tätigkeit der Tiere. Die intellektuelle Tätigkeit hat nodi eine dritte Besonderheit: Das Tier vermag eine bereits gefundene Lösung leicht auf Bedingungen zu übertragen, die denen ähnlich sind, unter denen die erste Lösung gefunden wurde. H a t der Affe zum Beispiel eine Frucht mit Hilfe eines Stockes zu sich herangezogen, dann benutzt er, sofern kein Stab verfügbar ist, jeden anderen beliebigen Gegenstand dazu. Gleichgültig, ob man die Frucht an einen anderen Platz bringt oder die Situation sonst ein wenig ändert, der Affe findet sofort die richtige Lösung. Die Operation wird auf eine andere Situation, die sich von der ersten ein wenig unterscheidet, übertragen und ihr angepaßt. Unter den zahlreichen Angaben, die in experimentellen Untersuchungen mit Menschenaffen gewonnen wurden, ist eine Gruppe von Tatsachen bemerkenswert, die auf eine weitere qualitative Eigenart schließen lassen: Die Anthropoiden sind fähig, zwei isolierte Operationen zu einer einheitlichen Tätigkeit zu verknüpfen. Das zeigt der folgende Versuch: Vor dem Käfig des Schimpansen befindet sich eine Lockspeise. Daneben liegt, ebenfalls außerhalb des
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Käfigs und auch außerhalb der Reichweite des Tieres, ein längerer Stock. In der Nähe des Affen befindet sich nur ein kurzer Stab, mit dem er zwar den längeren Stock, aber nicht die Frucht berühren kann. Um diese Aufgabe zu lösen, muß das Tier zuerst den längeren Stock mit dem kürzeren zu sich heranziehen und dann den längeren Stab benutzen, um die Frucht zu erlangen (Abb. 31). Die Menschenaffen lösen gewöhnlich auch solche aus zwei Phasen bestehenden Aufgaben ohne besondere Mühe. Die vierte Besonderheit der intellektuellen Tätigkeit besteht demnach in der Fähigkeit, Zwei-Phasen-Auf gaben zu lösen.
o o o o o o o o o o o o o Abb. 31:
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Ziel О
Schema einer ZweiPhasen-Aufgabe
Wie weitere Versuche anderer Forscher zeigten, ist auch das komplizierte Verhalten der Anthropoiden durch die genannten charakteristischen Züge gekennzeichnet ( N . N . LADYGINA-KOHTS, E . G . WAZURO). Wie ein Menschenaffe eine der kompliziertesten Aufgaben löst, mag der folgende Versuch zeigen (Abb. 32): In den Käfig wurde eine Kiste gestellt, deren Vorderwand als Gitter ausgebildet war, während die anderen Wände vollständig geschlossen waren. In die Hinterwand war ein langer, schmaler Spalt eingeschnitten. Nun wurde in die Kiste nahe an die Hinterwand eine Frucht gelegt, die der Affe sowohl durch das
Abb. 32: Schema einer komplizierten Aufgabe bei Versuchen mit Menschenaffen
.... Wand mit dem Spalt oooooo Gitter
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Gitter als auch durch den Spalt sehen konnte. Die Frucht war von der Vorderwand zu weit entfernt, um sie mit der Hand erreichen zu können. Von der anderen Seite war an die Frucht ebenfalls nicht heranzukommen, weil der Spalt zu schmal war, um die Hand hindurchzustekken. In der Nähe der Hinterwand war ein Pfahl in die Erde eingeschlagen, an dem ein Stock an einer kurzen Kette befestigt war. Wollte der Affe diese Aufgabe lösen, mußte er den Stock durch den Spalt der Rückwand stecken und die Frucht damit zur Vorderwand schieben, durch deren Gitter er sie erfassen konnte. Wie verhält sich das Tier in einer solchen Situation? Sobald es sich der Kiste genähert und die Frucht bemerkt hat, versucht es zunächst, sie durch das Gitter zu ergreifen. Danach begibt es sich zur Rückwand der Kiste und betrachtet die Frucht durch den Spalt. Der Affe steckt nun den Stock in die Kiste und versucht, die Frqcht hervorzuholen, doch das gelingt ihm nicht. Schließlich schiebt er die Frucht mit dem Stock zur Vorderwand, begibt sich dorthin und holt sie sich mit der Hand, die er durch das Gitter steckt. Wie bilden sich alle diese komplizierten Operationen, die in den geschilderten Versuchen zu beobachten sind? Entstehen sie wirklich ganz plötzlich und ohne jede Vorbereitung, wie das auf den ersten Blick erscheint? Bilden sie sich vielleicht doch ebenso wie auf der vorherigen Entwicklungsstufe, indem zunächst probiert und die erfolgreichen Bewegungen - jetzt allerdings viel rascher - gefestigt werden? Diese Fragen werden durch ein^n Versuch beantwortet, der von französischen Forschern beschrieben wird. Das Experiment läuft wie folgt ab: Der Affe wird in den Käfig gebracht. Außen wird unmittelbar an das Gitter eine kleine Kiste gestellt, deren Öffnung dem Gitter abgekehrt ist. In die Kiste wird in der Nähe des Gitters eine Apfelsine gelegt. Die Kiste ist oben durch ein Gitter verschlossen, durch dessen Stäbe sich die Apfelsine nicht durchziehen läßt. Um die Frucht unter diesen Bedingungen erlangen zu können, muß sie der Affe zunächst durch einen Stoß aus der Kiste hinausrollen. Eine solche Bewegung kann jedoch auch zufällig auftreten. Um diese Möglichkeit auszuschalten, dachten sich die Forscher folgendes Verfahren aus: Sie bedeckten die Kiste mit einem Netz, durch dessen enge Maschen der Affe nur einen Finger stecken konnte. Die Kiste war gerade so hoch, daß er die Apfelsine mit dem Finger nur berühren konnte, ohne ihr einen starken Stoß geben zu können. Auf diese Weise konnte die Apfelsine jeweils nur wenige Zentimeter verschoben werden. Damit war jeder Zufall völlig ausgeschlossen. Auf der anderen Seite waren die Forscher in der Lage, den Weg genau zu verfolgen, den die Frucht nahm. Der Affe konnte die Apfelsine entweder in beliebigen Richtungen verschieben, und ihre Bahn würde sich dann aus vielen kleinen Teilstrecken zusam-
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mensetzen, die vielleicht zufällig auch einmal zum Ausgang der Kiste führen. Die Frucht konnte aber auch auf geradem Weg zum Ausgang rollen, und man würde daraus entnommen haben, daß sich die Handlungen des Affen nicht aus zufälligen, sondern aus zielgerichteten Bewegungen zusammensetzen. Wie verhielt sich nun das Tier in dieser Situation? Es schob die Furcht langsam auf geradem Wege dem Ausgang zu. Das nahm viel Zeit in Anspruch und ermüdete das Tier offensichtlich. Auf halbem Wege machte es eine ungeduldige Bewegung mit der Hand und versuchte, die Apfelsine zu erreichen. Da ihm das nicht gelang, schubste der Affe sie nach wie vor langsam zum Ausgang, bis er sie endlich erreichen konnte (GUILLAUME und MEYERSON). W. KÖHLER nahm an, solche Operationen bildeten sich nicht allmählich, auf dem Wege von Versuch und Irrtum, sondern entstünden unabhängig von der Erfahrung und gleichsam als Ergebnis einer plötzlichen »Einsicht«. Das betrachtete er als das Hauptmerkmal, in dem sich das Verhalten der Anthropoiden von dem anderer Tiere unterscheide und es dem menschlichen Verhalten annähere. Von diesem ersten sei als zweites Merkmal die Fähigkeit abgeleitet, sich eine einmal gefundene Lösung für immer zu merken und sie auf ähnliche Bedingungen zu übertragen. Die Lösung von Zwei-Phasen-Aufgaben habe, wie KÖHLER und seine Anhänger glaubten, diese beiden Momente r die »Einsicht« und die Übertragung einer früheren Lösung - zur Grundlage. Eine prinzipielle Bedeutung messen sie dieser Art von Aufgaben nicht bei. Wer die Dinge so betrachtet, braucht nur noch die wichtigste Tatsache - das plötzliche Finden des Lösungsverfahrens bei der ersten Aufgabe - zu erklären, um die ganze Eigenart der intellektuellen Tätigkeit der Affen zu verstehen. KÖHLER gab dafür die folgende Erklärung: Die Menschenaffen meinte er - verfügten über die Fähigkeit, die bei der Wahrnehmung hervorgehobenen einzelnen Gegenstände zueinander in Beziehung zu setzen und sie daher als »ganzheitlich gegliederte Situationen« wahrzunehmen. Diese Eigenschaft der Wahrnehmung - ihre Strukturiertheit - wurde von KÖHLER nur als Sonderfall betrachtet; er nahm im übrigen ein allgemeines »Gestaltprinzip« an, das nicht nur der Psyche und der Lebenstätigkeit des Tieres und des Menschen, sondern der ganzen physischen Welt a priori zugrunde liege. Auf diese Weise kann dieses »Gestaltprinzip« natürlich als erklärendes Prinzip dienen und bedarf dann keiner näheren Erläuterung. Jeder derartige Versuch, das Wesen des Intellekts zu erschließen, indem man von der idealistischen Gestaltpsychologie ausgeht, ist deshalb unhaltbar. Es genügt aber ebensowenig wie der Hinweis auf die Strukturiertheit der Wahrnehmung, um die Eigenart des Verhaltens höherer
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Tiere zu erklären. Die Anhänger des »Gestaltprinzips« meinen im übrigen, die strukturierte Wahrnehmung sei nicht nur den höheren Affen, sondern auch den in ihrer Entwicklung viel tiefer stehenden Tieren eigen, die keinerlei intellektuelles Verhalten zeigen. Diese Erklärung ist auch in einer anderen Hinsicht nicht befriedigend. K Ö H L E R betonte die »plötzliche Einsicht« im intellektuellen Verhalten und betrachtete sie isoliert von der Erfahrung des Tieres. Damit vernachlässigte er aber eine Reihe von Umständen, die das Verhalten der Affen unter natürlichen Lebensbedingungen kennzeichnen. K . B Ü H L E R hat wohl als erster darauf hingewiesen, das Heranholen der Frucht mit Hilfe eines Stockes habe vieles gemeinsam mit dem Heranziehen eines Zweiges, an dem die Frucht wächst. Ferner richtete man die Aufmerksamkeit auf die Umgehungsbewegungen, die bei Ex-* perimenten mit Menschenaffen zu beobachten sind. Auch dafür gibt es eine Erklärung: Diese Tiere leben im Urwald, wo sie sich im voraus über ihren Weg zwischen den Bäumen orientieren müssen, um nicht in eine Sackgasse des von den Bäumen gebildeten natürlichen Labyrinths zu geraten. Die Affen vermögen daher - das ist kein Zufall - auch experimentelle Aufgaben zu bewältigen, in denen es Umwege zu finden gilt. In späteren physiologischen und psychologischen Arbeiten sprach man den Gedanken immer bestimmter aus, man müsse das intellektuelle Verhalten der Affen, um es zu erklären, vor allem im Zusammenhang mit deren gewöhnlichem Artverhalten unter natürlichen Existenzbedingungen sehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die intellektuelle »Lösung« nichts anderes als die Anwendung eines in der Phylogenese erworbenen Handlungsverfahrens unter neuen Bedingungen. Eine solche Übertragung von Handlungsverfahren gibt es aber auch bei anderen Tieren; sie vollzieht sich bei Affen lediglich in einem größeren Bereich. Nach dieser Ansicht müßten die von K Ö H L E R hervorgehobenen Hauptmerkmale des intellektuellen Verhaltens der Affen aber gerade im umgekehrten Verhältnis zueinander stehen. Die Tatsache der Übertragung einer gefundenen Lösung ist nicht mit der Plötzlichkeit im intellektuellen Verhalten zu erklären, sondern umgekehrt, die plötzliche Lösung einer experimentellen Aufgabe ist auf die Fähigkeit dieser Tiere zur weitgehenden Übertragung von Operationen zurückzuführen. Diese Ansicht über das intellektuelle Verhalten der Affen hat den Vorzug, sich mit einigen praktischen Tatsachen zu decken. Sie stellt den Intellekt des Tieres nicht seiner individuellen Erfahrung und seiner Arterfahrung gegenüber, und sie trennt den Intellekt auch nicht von den Fertigkeiten. Allerdings läßt sie noch schwerwiegende Fragen offen. Weder die Bildung von Operationen noch deren Übertragung
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auf neue Bedingungen können als Kriterien für das intellektuelle Verhalten dienen, denn beide Merkmale sind auch niedriger entwickelten Tieren eigen. Wir begegnen ihnen - allerdings in weniger ausgeprägter Form - auch bei anderen Säugetieren und bei Vögeln. In dieser Hinsicht gibt es zwischen den Menschenaffen und den zuletzt genannten Tieren nur quantitative Unterschiede: Die Operationen werden langsamer oder schneller gebildet, sie werden auf kleinere oder größere Bereiche übertragen. Das Verhalten der Menschenaffen unterscheidet sich von dem niederer Säugetiere jedoch auch qualitativ. Davon zeugen der Gebrauch von Hilfsmitteln und der besondere Charakter ihrer Operationen. Die oben dargelegte Auffassung vom Intellekt läßt vor allem die wichtigsten Fragen offen: Was stellt die bei den Affen beobachtete weitgehende Übertragung eigentlich dar, und wie läßt sich diese Tatsache erklären? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir die Reihenfolge der von K Ö H L E R genannten Merkmale des intellektuellen Verhaltens nochmals ändern und die dritte charakteristische Eigenschaft an den Anfang stellen - die Fähigkeit, Zwei-Phasen-Auf gaben zu lösen - , die nach K Ö H L E R S Meinung keine prinzipielle Bedeutung hat. Wie die Aufgaben deutlich gezeigt haben, ist jede intellektuelle Tätigkeit des Tieres in zwei Phasen gegliedert. Es muß zuerst den Stock nehmen und dann die Frucht heranholen. Es muß die Frucht zunächst von sich stoßen und dann zur gegenüberliegenden Wand gehen, um sie durch das Gitter erreichen zu können. Ein Affe, der einen Stock in die Hand nimmt, hat zunächst nur den Stock, aber nicht die Frucht. Das ist die erste Phase. Ohne Verbindung mit der zweiten Phase fehlt ihr jeder biologische Sinn. Man kann sie als Vorbereitungsphase bezeichnen. Erst die zweite Phase, der Gebrauch des Stockes, dient dem Vollzug einer Tätigkeit, die insgesamt darauf gerichtet ist, das gegebene biologische Bedürfnis des Tieres zu befriedigen. Betrachten wir die Aufgaben, die K Ö H L E R den Anthropoiden stellte, unter diesem Gesichtspunkt, dann stellt sich heraus, daß jede von ihnen eine Aufgliederung der Tätigkeit in zwei Phasen forderte: Erst den Stock ergreifen - dann die Frucht heranholen; erst die Kiste unter die Banane stellen - dann die Frucht abreißen. Welchen Inhalt haben diese beiden Tätigkeitsphasen? Die Vorbereitungsphase wird offensichtlich nicht nur durch den Gegenstand angeregt, auf den sich die Tätigkeit zunächst richtet, beispielsweise auf den Stock. Nimmt ein Affe den Stock in einer Situation wahr, in der er nicht gebraucht wird, zum Beispiel um einen Umweg zu machen, dann versucht er gar nicht, ihn in die Hand zu nehmen. Die erste Tätigkeitsphase hängt demnach nicht mit dem Stock allein, sondern mit der ob-
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jektiven Beziehung zwischen Stock und Frucht zusammen. Indem der Affe auf dieses Verhältnis reagiert, tut er nichts anderes, als sich auf die nächste Phase - die Vollzugsphase - vorzubereiten. Wir wollen uns dieser Phase zuwenden. Die Tätigkeit richtet sich jetzt auf den Gegenstand, durch den das Tier unmittelbar angeregt wird, und verläuft in Abhängigkeit von den objektiven gegenständlichen Bedingungen. Es wird irgendeine Operation vollzogen, die zu einer genügend gefestigten Fertigkeit geworden ist. Beim Übergang zum höchsten Entwicklungsstadium des Tieres wird die Tätigkeitsstruktur immer komplizierter. War die Tätigkeit auf den vorangegangenen Stufen zu einem ganzheitlich-ungegliederten Prozeß verschmolzen, wird sie jetzt in zwei Phasen - die Vorbereitungs- und die Vollzugsphase - gegliedert. Die Existenz einer Vorbereitungsphase ist typisch für das intellektuelle Verhalten. Der Intellekt bildet sich demnach in allen den Fällen, in denen der mögliche Vollzug einer Operation oder Fertigkeit vorbereitet wird. Bei einer in zwei Phasen gegliederten Tätigkeit - das ist ihr wesentliches Kennzeichen - lösen die neuen Bedingungen beim Tier nicht einfach probierende Bewegungen aus, sondern veranlassen es, alle möglichen früher erworbenen Verfahren und Operationen anzuwenden. Betrachten wir zunächst ein Huhn, das durch einen Zaun gelangen »will«: In dem Versuch, hindurch zu gelangen, rennt es blindlings hin und her. Es verstärkt einfach seine motorische Aktivität, bis eine zufällige Bewegung schließlich zum Erfolg führt. Höhere Tiere, die auf ein Hindernis stoßen, verhalten sich ganz anders. Auch sie unternehmen einige Versuche; sie vollziehen jedoch nicht einfach irgendwelche Bewegungen, sondern probieren vor allem verschiedene Verfahren und Operationen aus. Steht beispielsweise ein Affe vor der mit einem Holzriegel verschlossenen Tür eines Käfigs, dann versucht er zunächst, den Riegel nach unten zu drücken. Gelingt ihm das nicht, dann beginnt er eine Ecke des Käfigs anzunagen. Dann probiert er, durch den Türspalt in den Käfig zu gelangen. Danach versucht er, den Riegel zunächst mit den Zähnen und dann mit der Hand zu entfernen. Führen alle diese Versuche zu keinem Ergebnis, dann greift er zur letzten Methode: Er kippt den ganzen Käfig um (nach B U Y T E N D I J K ) . Das Verhalten des Affen ließ die Fähigkeit erkennen, die gleiche Aufgabe mit vielen Verfahren zu lösen. Damit wird bewiesen: Bei Tieren dieser hohen Entwicklungsstufe ist die Operation nicht mehr starr mit der Tätigkeit verbunden, die einer bestimmten Aufgabe entspricht. Die neue Aufgabe braucht der früheren nicht unmittelbar zu ähneln, damit eine Operation übertragen werden kann. Betrachten wir nun die intellektuelle Tätigkeit im Hinblick darauf, wie das Tier seine Umwelt widerspiegelt.
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Wie wir sahen, ist die erste Phase in der intellektuellen Tätigkeit äußerlich darauf gerichtet, die zweite Phase vorzubereiten; sie wird demnach objektiv durch die nachfolgende Tätigkeit des Tieres bestimmt. Bedeutet das jedoch, das Tier habe schon die bevorstehende Operation im Auge und sei fähig, sie sich vorzustellen? Eine solche Annahme wäre völlig unbegründet. Diese erste Phase entspricht dem objektiven Verhältnis zwischen den Gegenständen. Dieses Verhältnis muß auch vom Tier widergespiegelt werden. Die Form der psychischen Widerspiegelung verändert sich beim Obergang zum intellektuellen Verhalten also nur insofern, als das Tier jetzt nicht nur einzelne Gegenstände, sondern auch, die Beziehungen zwischen ihnen (Situationen) widerspiegelt. Dementsprechend wandelt sich auch die Art der Übertragung und die Art der Verallgemeinerung. Die Operation wird jetzt nicht mehr ausschließlich nach dem Prinzip der Ähnlichkeit der Dinge (beispielsweise der Hindernisse), mit denen sie verbunden war, übertragen, sondern auch nach dem Prinzip der Ähnlichkeit der Beziehungen zwischen den Dingen (beispielsweise Zweig - Frucht). Das Tier verallgemeinert jetzt die Beziehungen und Zusammenhänge zwischen den Gegenständen. Dieses Verallgemeinern von Beziehungen bildet sich ebenso wie die verallgemeinerte Widerspiegelung der Gegenstände während der Tätigkeit. Der Entstehung und Entwicklung des intellektuellen Verhaltens der Tiere liegt in anatomisch-physiologischer Hinsicht eine Weiterentwicklung der Großhirnrinde und ihrer Funktionen zugrunde. Welchen grundlegenden Wandlungen der Großhirnrinde begegnen wir auf der höchsten Stufe der Entwicklung des Tieres? Das Stirnhirn der höheren Säugetiere nimmt einen relativ größeren Raum ein; seine präfrontalen Felder werden dabei differenziert. Entfernt man bei höheren Affen, die eine Serie komplizierter Aufgaben zu lösen vermochten, operativ den vorderen Abschnitt des Stirnhirns, dann sind die Tiere nicht mehr in der Lage, Zwei-Phasen-Aufgaben zu lösen, während die vorher erworbene Operation, die Lockspeise mit dem Stock zu holen, völlig erhalten bleibt. Entfernt man andere Rindenfelder, dann tritt ein solcher Effekt nicht ein. Die genannten Felder müssen daher mit dem Vollzug der aus zwei Phasen bestehenden Tätigkeit spezifisch verbunden sein (Versuche von JACOBSEN).
Wie aus Untersuchungen des Intellekts höherer Affen hervorgeht, wird das menschliche Denken durch das Denken der Tiere real vorbereitet. Zwischen dem Menschen und seinen tierischen Vorfahren gibt es in dieser Hinsicht keine unüberbrückbare Kluft. Es gibt - wir erkennen das durchaus an - natürliche Übergänge zwischen der psychischen Entwicklung des Tieres und der des Menschen. Man sollte jedoch
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nicht gewaltsam nach Ähnlichkeiten suchen, wie das manche Tierpsychologen tun, die durch Affenversuche nachweisen wollen, selbst ein »intellektuelles Verhalten« wie die Lohnarbeit oder der Geldaustausch seien gleichsam ewig und naturgemäß ( W O L F E ) . Ebenso falsch ist es, das intellektuelle Verhalten der Anthropoiden dem intellektuellen Verhalten anderer höherer Säugetiere entgegenzustellen. Wir verfügen heute über genügend Tatsachen, die eine in zwei Phasen gegliederte Tätigkeit bei vielen höheren Säugetieren, beispielsweise bei Hunden, Waschbären und sogar bei Katzen (bei diesen allerdings in recht eigenartiger Form), nachweisen. Das intellektuelle Verhalten der höheren Säugetiere, das bei den Anthropoiden eine besonders hohe Entwicklungsstufe erreidit, stellt die obere Grenze in der psychischen Entwicklung des Tieres dar. Danach beginnt die Entwicklungsgeschichte einer völlig anderen und nur dem Menschen eigenen Psyche - die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Bewußtseins.
4. Allgemeine Charakteristik der Psyche des Tieres Die Vorgeschichte des menschlichen Bewußtseins bildet, wie wir sahen, ein langer und komplizierter Entwicklungsprozeß beim Tier. Werfen wir einen Blick auf diesen Weg zurück, dann werden seine wichtigsten Stadien und Gesetzmäßigkeiten deutlich sichtbar. Die psychische Entwicklung der Tiere vollzieht sich im Laufe ihrer biologischen Evolution und unterliegt den dafür geltenden allgemeinen Gesetzen. Jeder neuen Stufe ihrer psychischen Entwicklung liegt ein Übergang zu neuen Existenzbedingungen, ein neuer Schritt in der Vervollkommnung ihrer körperlichen Organisation zugrunde. Die zunehmende Anpassung an eine kompliziertere, gegenständlich geformte Umwelt führt zur Differenzierung des Nervensystems und der Sinnesorgane. Auf dieser Grundlage entsteht die elementare sensorische Psyche, die Fähigkeit, einzelne Umwelteigenschaften widerzuspiegeln. Mit dem Ubergang zum Leben auf dem Festland und mit der damit verbundenen Entwicklung der Großhirnrinde beginnt das Tier ganze Gegenstände widerzuspiegeln; es bildet sich die perzeptive Psyche. Werden infolge der komplizierteren Lebensbedingungen die Wahrnehmungs- und Tätigkeitsorgane sowie die Großhirnrinde noch vollkommener, dann sind die Tiere in der Lage, die objektiven Beziehungen zwischen den Dingen in Form gegenständlicher »Situationen« sinnlich widerzuspiegeln.
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Die psychische Entwicklung der Tiere wird demnach durch die Notwendigkeit bestimmt, sich der Umwelt anzupassen. Die psychische Widerspiegelung ist eine Funktion besonderer Organe, die sich im Laufe dieser Anpassung bilden. Sie ist - das sei in diesem Zusammenhang besonders betont - keine rein subjektive Nebenerscheinung ohne Bedeutung für das Leben und den Existenzkampf der Tiere. Im Gegenteil! Wie wir schon ausführten, entsteht und entwickelt sich das Psychische der Tiere, weil sie sich sonst in ihrer Umwelt nicht mehr orientieren könnten. Die Entwicklung des Lebens verändert demnach die körperliche Organisation der Tiere. Sie läßt Sinnesorgane, Tätigkeitsorgane und das Nervensystem entstehen, deren Funktion es ist, die umgebende Wirklichkeit widerzuspiegeln. Wovon hängt der Charakter dieser Funktion ab? Wodurch wird sie bestimmt? Warum drückt sich diese Funktion einmal als Widerspiegelung einzelner Eigenschaften und ein anderes Mal als Widerspiegelung ganzer Gegenstände aus? Das hängt, wie wir sahen, von der objektiven Struktur der Tätigkeit ab, durch die das Tier praktisch mit seiner Umwelt verbunden ist. Diese Tätigkeit der Tiere verändert entsprechend den Existenzbedingungen ihre Struktur, verändert sozusagen ihre »Anatomie«. Dazu müssen sich die Organe und ihre Funktionen verändern. Diese Wandlung läßt eine höhere Form der psychischen Widerspiegelung entstehen. Der Sachverhalt läßt sich kurz wie folgt ausdrücken: Der objektiven Tätigkeitsstruktur eines Tieres entspricht auch die Form, in der es die Wirklichkeit widerspiegelt. Dabei bleibt die Entwicklung der psychischen Widerspiegelung gleichsam hinter der Entwicklung der Tätigkeit zurück. Eine Tätigkeit, die durch die objektiven Zusammenhänge zwischen den einwirkenden Eigenschaften bestimmt wird und die das Tier mit einer komplizierten, gegenständlich geformten Umwelt in Beziehung bringt, läßt elementare Empfindungen entstehen, die nur einzelne Einwirkungen widerspiegeln. Bei der komplizierten Tätigkeit der Wirbeltiere, die durch die Beziehungen zwischen den Dingen, durch ganze Situationen, ausgelöst wird, werden nur einzelne Gegenstände widergespiegelt. Im Stadium des Intellekts tritt in der Tätigkeit der Tiere eine besondere Vorbereitungsphase auf, die objektiv schon die Möglichkeit zu weiterer Tätigkeit vorwegnimmt, während im Psychischen nur die Beziehungen zwischen den Dingen, gegenständliche Situationen, widergespiegelt werden. Die Formen der psychischen Widerspiegelung liegen demnach in ihrer Entwicklung gleichsam jeweils eine Stufe tiefer als die Tätigkeitsstruktur, und es gibt zwischen beiden keine völlige Ubereinstimmung.
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Genauer gesagt: Eine Übereinstimmung gibt es nur im Moment des Übergangs von einer Entwicklungsstufe zur anderen. In diesem Augenblick, in dem eine neue Form der Widerspiegelung entsteht, eröffnen sich der Tätigkeit neue Möglichkeiten und verhelfen ihr zu einer höheren Struktur. Damit ergibt sich zwischen Tätigkeit und Widerspiegelung ein neuer Widerspruch, diesmal jedoch auf einem höheren Niveau. Als materielle Grundlage des komplizierten psychischen Entwicklungsprozesses beim Tier haben wir demnach die Bildung »natürlicher Tätigkeitswerkzeuge«, der Organe und ihrer Funktionen, zu betrachten. Die Entwicklung der Organe und der entsprechenden Hirnfunktionen bereitet allmählich die Möglichkeit vor, auch zu einer neuen, höheren Organisation der Tätigkeit überzugehen. Die Veränderungen, die sich dabei in der allgemeinen Tätigkeitsstruktur vollziehen, machen wiederum eine Weiterentwicklung einzelner Organe und Funktionen erforderlich, die jetzt gleichsam i'n einer neuen Richtung verläuft. Dieser Wechsel in der Richtung, in der sich einzelne Funktionen beim Übergang zu einer neuen Tätigkeitsstruktur und zu einer neuen Form der Widerspiegelung entwickeln, ist unverkennbar. Im Stadium der elementaren sensorischen Psyche bilden sich zum Beispiel die Gedächtnisfunktionen, indem einerseits die Verbindungen zwischen einzelnen einwirkenden Eigenschaften und andererseits einzelne einfache motorische Verbindungen fixiert werden. Die gleiche Funktion des Gehirns entwickelt sich im Stadium der perzeptiven Psyche einmal als Gedächtnis für Gegenstände und zum anderen als Fähigkeit, motorische Fertigkeiten zu bilden. Im Stadium des Intellekts entwickelt sich diese Funktion wieder in einer anderen Richtung: Es entwickelt sich das Gedächtnis für komplizierte Beziehungen, das heißt für ganze Situationen. Ähnlichen qualitativen Veränderungen begegnen wir auch in der Entwicklung anderer Funktionen. Wir haben bisher die Entwicklung der Psyche beim Tier betrachtet, indem wir vor allem auf die Unterschiede zwischen den einzelnen Formen des Psychischen verwiesen haben. Nun müssen wir noch das Gemeinsame hervorheben, das diese einzelnen Formen kennzeichnet und das die Tätigkeit und das Psychische des Tieres von der Tätigkeit und vom Psychischen des Menschen, vom menschlichen Bewußtsein, qualitativ unterscheidet. Die Tätigkeit des Tieres ist instinktiv-biologisch.2 Dadurch unterscheidet sie sich grundsätzlich von der Tätigkeit des Menschen. Mit an2
Wir gebrauchen den Terminus »instinktiv« hier und in den folgenden Ausführungen im weitesten Sinne, und zwar als unmittelbares natürliches Verhalten.
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deren Worten: Das Tier vollzieht seine Tätigkeit nur im Hinblick auf den Gegenstand seines biologischen Bedürfnisses beziehungsweise auf Eigenschaften, Dinge und deren Beziehungen (Situationen), die für das Tier insofern einen Sinn erlangen, als mit ihnen die Befriedigung eines bestimmten biologischen Bedürfnisses verbunden ist. Jede Veränderung in der Tätigkeit des Tieres drückt damit einen Wandel in der objektiven Einwirkung aus, die zur Tätigkeit anregte, jedoch nicht in der Lebensbeziehung, die durch die Tätigkeit realisiert wird. Arbeitet man zum Beispiel bei einem Tier experimentell einen bedingten Reflex aus, dann entsteht bei ihm keine neue Beziehung und kein neues Bedürfnis. Reagiert es jetzt auf ein bedingtes Signal, dann nur deshalb, weil dieses Signal jetzt wie ein unbedingter Reiz wirkt. Analysieren wir irgendeine der mannigfachen Tätigkeiten eines Tieres, dann werden wir immer eine bestimmte biologische Beziehung feststellen, die durch diese Tätigkeit verwirklicht wird; wir können folglich stets das biologische Bedürfnis aufspüren, das ihr zugrunde liegt. Die Tätigkeit der Tiere bleibt demnach stets im Rahmen ihrer instinktiven, biologischen Beziehungen zur Natur. Das ist das allgemeine Gesetz der tierischen Tätigkeit. Im Zusammenhang damit sind auch die Möglichkeiten des Tieres, die umgebende Wirklichkeit widerzuspiegeln, prinzipiell begrenzt. Da es mit mannigfaltigen Gegenständen seiner Umwelt zusammenwirkt und seine biologischen Beziehungen auf sie überträgt, spiegelt es nur die Eigenschaften der Objekte wider, die mit diesen Beziehungen zusammenhängen. Die Form eines Dreiecks zum Beispiel wird im Bewußtsein des Menschen unabhängig davon widergespiegelt, welche biologische Beziehung er zu ihr hat; sie wird von ihm objektiv durch die Anzahl der Winkel charakterisiert. Ein Tier, sofern es dazu überhaupt in der Lage ist, wird nur die Form hervorheben, mit der es einen biologischen Sinn verbindet. Die Form, die es dabei von anderen Formen differenziert, wird untrennbar von der entsprechenden biologischen Beziehung widergespiegelt. H a t das Tier keine biologische Beziehung zu einem Gegenstand oder einer Eigenschaft und hängt der Gegenstand auch nicht irgendwie mit der Verwirklichung einer solchen Beziehung zusammen, dann scheint er für das Tier nicht zu existieren. Es ist gleichgültig in seiner Tätigkeit gegenüber Einwirkungen, die zwar zum Gegenstand seiner Wahrnehmung werden könnten, die es jedoch unter den gegebenen Bedingungen nicht sind. Damit läßt sich erklären, warum die vom Tier wahrgenommene Welt durch den engen Rahmen seiner instinktiven Beziehungen begrenzt ist. Im Gegensatz zum Menschen gibt es bei ihm keine konstante, objektiv-gegenständliche Widerspiegelung der Wirklichkeit.
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Wir wollen das an einem Beispiel erläutern (Abb. 33). Ein Einsiedlerkrebs (Eupagums prideauxi) trägt gewöhnlich eine Seeanemone (Mantelaktinie; Adamsia palliata) auf dem Schneckenhaus, in dem er lebt. Entfernt man diese Mantelaktinie, dann nimmt er, sobald er einem solchen Tier begegnet, dieses wieder auf sein Schneckengehäuse (obere Bilder). Verliert der Einsiedlerkrebs seine Behausung, dann benutzt er die Mantelaktinie als Schutz für seinen zarthäutigen Hinterleib, der bekanntlich keinen Chitinpanzer trägt. Er versucht, in sie hineinzukriechen (Bilder in der Mitte). Ist der Einsiedlerkrebs schließlich hung-
Abb. 33: Der Einsiedlerkrebs und die Mantelaktinie (nach UEXKÜLL und KRISZAT)
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rig, dann ändert sich der biologische Sinn, den die Seeanemone für ihn hat, nochmals: Er frißt sie einfach auf (untere Bilder). Da die Gegenstände dem Tier nur an ein biologisches Bedürfnis gebunden entgegentreten können, gibt es bei ihm keine Beziehung an sich, die von ihrem Objekt losgelöst wäre. Das ist ein weiteres Kennzeichen, das die Psyche des Tieres vom menschlichen Bewußtsein unterscheidet. Tritt der Mensch in irgendeine Beziehung zu einem Gegenstand, dann unterscheidet er auf der einen Seite das Objekt seiner Beziehung und auf der anderen Seite die Beziehung selbst. Eine solche Unterscheidung gibt es beim Tier nicht. »Das Tier«, schreibt M A R X , »>verhält< sich zu Nichts und überhaupt nicht.« 3 Es sei auf einen weiteren charakteristischen Zug hingewiesen, der das Psychische des Tieres vom menschlichen Bewußtsein unterscheidet. Die Beziehungen der Tiere zu ihresgleichen sind im Prinzip nicht anders als ihre Beziehungen zu anderen Objekten der Außenwelt; sie gehören ausnahmlos zum Bereich ihrer biologischen Beziehungen. Diese Tatsache geht darauf zurück, daß es bei den Tieren keine Gesellschaft gibt. Mehrere oder sogar viele Tiere können durchaus gemeinsam tätig sein, es handelt sich dabei dennoch nicht um Zusammenarbeit im menschlichen Sinne. Das zeigen Beobachtungen an Ameisen. Tragen viele dieser Tiere einen größeren Gegenstand - zum Beispiel einen Zweig oder ein größeres Insekt - , dann ist der endgültige Weg, den die Last zurücklegt, das Ergebnis einer mechanischen Addition der Kräfte einzelner Ameisen, von denen jede so handelt, als hätte sie die Last allein zu tragen. Etwas Ähnliches ist sogar bei den höchstentwickelten Tieren, den Menschenaffen, zu beobachten. Mehrere Affen stehen vor der Aufgabe, zwei Kisten aufeinanderzustapeln, um eine an der Decke hängende Banane zu erreichen. Jedes Tier beginnt dabei zu handeln, ohne die anderen zu beachten. Bei dieser »gemeinsamen« Tätigkeit kommt es oft zum Kampf um die Kiste, zu Zusammenstößen und Raufereien. Das »Bauwerk« kommt nicht zustande, obwohl jeder Affe allein ohne weiteres fähig wäre, die Kisten aufeinanderzustapeln, sie zu besteigen und auf diese Weise die Frucht zu erreichen. Ungeachtet dieser Tatsache meinen manche Verfasser, bei den Tieren gäbe es eine Arbeitsteilung. Als Beispiel werden gewöhnlich die Ameisen, die Bienen und andere in »Gemeinschaft« lebende Tiere angeführt. In Wirklichkeit gibt es jedoch in allen diesen Fällen keine echte Arbeitsteilung, ebenso wie es sich nicht um Arbeit handelt, die ihrem Wesen nach ja ein gesellschaftlicher Prozeß ist. In manchen Tiergemeinschaften verrichten die einzelnen Individuen zwar verschiedene Funktionen; diesem Unterschied liegen jedoch un11
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mittelbare biologische Faktoren zugrunde. Die Art solcher Funktionen ist streng festgelegt (die Arbeitsbienen bauen zum Beispiel die Waben, während die Königin nur Eier legt). Ebenso festgelegt ist auch ein Wechsel der Funktionen (beispielsweise der Arbeitsbienen). Noch komplizierter ist die Verteilung der Funktionen in Gemeinschaften höherer Tiere, beispielsweise in einer Affenherde; aber auch hier wird sie durch unmittelbare biologische Ursachen bestimmt und nicht durch die objektiven Bedingungen, die sich in der Entwicklung der Tätigkeit der betreffenden Tiergemeinschaft ergeben. Die Art und Weise, wie die Tiere zueinander in Beziehung treten, bestimmt auch die Besonderheiten ihrer »Sprache«. Wie wir wissen, vollzieht sich die »Verständigung« unter den Tieren oft, indem ein Tier durch Laute auf die anderen einwirkt. Man meint deshalb, auch die Tiere hätten ihre »Sprache«, und verweist zum Beispiel auf die Warnsignale der Wächtervögel an den Schwärm. Handelt es sich dabei wirklich um einen Prozeß, der der sprachlichen Verständigung der Menschen ähnelt? Zwischen der Verständigung der Tiere und der des Menschen gibt es zwar einige äußere Ähnlichkeiten, innerlich sind diese beiden Prozesse jedoch grundverschieden. Der Mensch drückt in seiner Sprache einen objektiven Inhalt aus, und auch die Sprache, auf die er antwortet, ist für ihn nicht einfach ein Laut, der konstant mit einer bestimmten Erscheinung verbunden ist, sondern eine sprachlich widergespiegelte Realität. Ganz anders liegen die Dinge bei der Verständigung der Tiere mit Hilfe von Lauten. Ein Tier, das läßt sich leicht nachweisen, das auf die Stimme eines anderen Tieres reagiert, antwortet nicht auf das, was das sprachliche Signal objektiv widerspiegelt, sondern auf das Signal selbst, mit dem es einen bestimmten biologischen Sinn verbindet. Fängt man zum Beispiel ein Küken und hält es gewaltsam fest, dann beginnt es mit den Flügeln zu flattern und zu piepsen. Die Glucke läuft nun in diese Richtung und beginnt eigenartige Laute von sich zu geben. Das geschilderte Verhalten des Kükens und der Glucke ähnelt zwar äußerlich der sprachlichen Verständigung. In seinem Wesen handelt es sich jedoch um einen völlig anderen Prozeß. Das Piepen des Kükens ist eine angeborene, instinktive (unbedingt-reflektorische) Reaktion, die zu den sogenannten »Ausdrucksbewegungen« zählt; es bezeichnet keinen bestimmten Gegenstand, keine Handlung oder Erscheinung, sondern ist lediglich mit einem bestimmten Zustand des Tieres verbunden, der durch äußere oder innere Einwirkungen hervorgerufen wird. Das Verhalten der Glucke ist ebenfalls nur eine instinktive Antwort auf das Piepsen des Kükens. Diese Laute rufen bei der Glucke eine bestimmte instinktive Reaktion hervor. Sie nimmt das Piepsen nicht als Signal wahr, das irgendeine reale Erscheinung widerspiegelt. Das läßt sich
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leiAt durch das folgende Experiment nachweisen: Das gefangene Küken wird unter eine Glasglocke gesetzt, die sein Piepsen dämpft. Die Glücke hört jetzt seine Stimme nicht mehr und zeigt deshalb auch keine Aktivität gegenüber dem Küken. Der Anblick des flügelschlagenden kleinen Tieres läßt sie völlig unbeteiligt. Die Glucke reagiert demnach nicht auf das, was das Schreien des Kükens objektiv bedeutet; sie reagiert auch nicht auf die Gefahr, die das Küken objektiv bedroht, sondern nur auf dessen Laute (Abb. 34).
Abb. 34: Die Glucke und das Küken (nach
UEXKÜLL)
Ähnlich verhält es sich im Prinzip auch bei den hochentwickelten Tieren, beispielsweise den Menschenaffen. Wie Y E R K E S und L E R N E D T nachweisen, ist es unmöglich, die Anthropoiden sprechen zu lehren. Die lautlichen Äußerungen der Tiere sind, wie wir sahen, instinktiv. Aus dieser Tatsache läßt sich jedoch nicht folgern, sie hingen überhaupt nicht mit der psychischen Widerspiegelung der objektiven Realität zusammen. Beim Tier sind jedoch die Gegenstände, die es widerspiegelt, nicht von seiner Beziehung zu ihnen getrennt. Darauf haben wir bereits hingewiesen. Deshalb bezieht sich auch das Ausdrucksverhalten des Tieres niemals auf den objektiven Gegenstand selbst. Gleichen sich zwei stimmliche Reaktionen eines Tieres, dann haben die beiden einwirkenden Gegenstände nicht den gleichen Charakter, sondern den gleichen biologischen Sinn, wobei sie völlig verschieden sein können. Vögel, die in Schwärmen leben, geben zum Beispiel warnende Signale ab, sobald dem Schwärm eine Gefahr droht. Diese Schreie bringt der Vogel aber auch hervor, wenn er aus irgendwelchen anderen äußeren Gründen erschreckt worden ist. Dabei ist es gleichgültig, aus welchen Ursachen das geschieht. Er bringt diese Laute hervor, sobald ein Mensch vorbeiläuft, sobald sich ein Raubtier nähert oder sobald er irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche hört. Seine Laute sind demnach mit irgendwelchen realen Erscheinungen nicht nach deren objektiv ähnlichen
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Merkmalen, sondern nach der Ähnlichkeit seiner instinktiven Beziehungen zu diesen Erscheinungen verbunden. Sie beziehen sich nicht auf die realen Gegenstände, sondern hängen mit den subjektiven Zuständen zusammen, die durch diese Gegenstände hervorgerufen werden. Mit anderen Worten: Die Laute der Tiere haben keine konstante gegenständliche Bedeutung. Die »Verständigung« der Tiere untereinander überschreitet sowohl in ihrem Inhalt als auch im Hinblick auf die konkreten Prozesse, durch die sie vollzogen wird, niemals die Grenzen der instinktiven Tätigkeit. Eine ganz andere Form des Psychischen mit völlig anderen Zügen stellt das menschliche Bewußtsein dar. Der Übergang zum menschlichen Bewußtsein, dem der Übergang zu menschlichen Lebensformen und zur menschlichen Arbeit, die ihrem Wesen nach gesellschaftlich ist, zugrunde liegt, beruht nicht nur auf einem Wandel der Tätigkeitsstruktur und der Widerspiegelungsformen. Das Psydiische des Menschen ist nicht nur frei von allen Zügen, die den bisher betrachteten Stufen in der Entwicklung der Tiere gemeinsam waren, und es nimmt nicht nur qualitativ neue Züge an. Mit der Menschwerdung - und das ist das Wichtigste - ändern sich auch die Gesetze, denen die psychische Entwicklung unterliegt. Die psychische Entwicklung des Tieres wird durch die Gesetze der biologischen Evolution bestimmt. Die psychische Entwicklung des Menschen hingegen unterliegt den gesellschaftlich-historischen Entwicklungsgesetzen.
II. Die Entstehung des menschlichen Bewußtseins
1. Bedingungen für die Entstehung des Bewußtseins Mit der Entstehung des Bewußtseins beginnt eine neue, höhere Etappe in der Entwicklung des Psychischen. Die bewußte Widerspiegelung ist im Gegensatz zur einfachen psychischen Widerspiegelung, der wir beim Tier begegnen, eine Widerspiegelung, in der die gegenständliche Wirklichkeit von ihren augenblicklichen Beziehungen zum Subjekt getrennt ist und in der die konstanten objektiven Eigenschaften der Umwelt hervorgehoben werden. Im Bewußtsein wird das Abbild der Wirklichkeit nicht mit dem Erleben des Subjekts verschmolzen; das Widergespiegelte wird dem Subjekt gleichsam »vorangestellt«. Erfasse ich zum Beispiel bewußt ein
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Buch oder auch nur einen Gedanken über das Buch, dann verschmilzt das Buch in meinem Bewußtsein nicht mit meinem Erleben, das mit ihm als Gegenstand zusammenhängt, und der Gedanke über das Buch nicht mit meinem Erleben dieses Gedankens. Da der Mensch die widergespiegelte Realität als etwas Objektives hervorzuheben vermag, ist er auch in der Lage, sein inneres Erleben hervorzuheben. Auf dieser Grundlage entwickelt sich die Selbstbeobachtung. Wir haben uns unter anderem die Aufgabe gestellt, die Bedingungen aufzuspüren, die zum Entstehen dieser höchsten Form des Psychischen - des menschlichen Bewußtseins - führen. Die Ursache für die Menschwerdung unserer tierischen Vorfahren liegt im Aufkommen der Arbeit und der auf dieser Grundlage entstandenen menschlichen Gesellschaft. »Die Arbeit«, schreibt ENGELS, » . . . hat den Menschen geschaffen.«4 Die Arbeit hat auch das menschliche Bewußtsein geschaffen. Die Entstehung und Entwicklung der Arbeit, der ersten Grundbedingung der menschlichen Existenz, führte zur Veränderung und »Vermenschlichung« des Gehirns, der Tätigkeits- und der Sinnesorgane. »Arbeit zuerst«, schreibt ENGELS, »nach und dann mit ihr die Sprache das sind die beiden wesentlichsten Antriebe, unter deren Einfluß das Gehirn eines Affen in das bei aller Ähnlichkeit weit größere und vollkommenere eines Menschen allmählich übergegangen ist.« 5 Die Hand, das Hauptorgan der menschlichen Tätigkeit, konnte nur durch die Arbeit ihre Vollkommenheit erreichen. »Nur durch Arbeit«, lesen wir bei ENGELS, »durch Anpassung an immer neue Verrichtungen . . . hat die Menschenhand jenen hohen Grad von Vollkommenheit erhalten, auf dem sie Raffaelsche Gemälde, Thorwaldsensche Statuen, Paganinische Musik hervorzaubern konnte. «6 Vergleichen wir das Schädelvolumen der Anthropoiden mit dem des Urmenschen, dann stellen wir fest, daß das Schädelvolumen des Urmenschen mehr als doppelt so groß ist wie das der heute lebenden höchstentwickelten Menschenaffen (1400 cm8 gegenüber 600 cm3). Noch deutlicher offenbart sich dieser Unterschied beim Vergleich der Hirnmasse. Das Hirngewicht des Orang-Utans beträgt 350 Gramm, das des heute lebenden Menschen 1400 Gramm, also das Vierfache. Im Vergleich zum Gehirn höherer Affen ist die Struktur des menschlichen Gehirns erheblich komplizierter und vollkommener. 4
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S. 444. 5 Ebenda, S. 447. « Ebenda, S. 445 f.
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Wie aus Abdrücken erkennbar ist, die man von der Schädelinnenfläche des Neandertalers machte, zeichnen sich dort schon Felder ab, die beim Menschenaffen noch nicht differenziert, beim heutigen Menschen aber völlig entwickelt sind. Dazu gehören zum Beispiel die Felder 44, 45 und 46 im Stirnlappen, die Felder 39 und 40 im Scheitelgebiet und die Felder 41 und 42 im Schläfenlappen (Abb. 35).
- äußere Oberfläche (nach BRODMANN)
Wie sich die neuen, spezifisch menschlichen Züge in der Struktur der Großhirnrinde niederschlagen, wird in einer Untersuchung des sogenannten motorischen Projektionsfeldes (auf Abb. 35 mit der Ziffer 4 bezeichnet) deutlich erkennbar. Reizt man vorsichtig einzelne Punkte dieses Feldes mit elektrischem Strom, dann kann man sich auf Grund der durch diesen Reiz hervorgerufenen Muskelkontraktion vorstellen, welchen Raum die Projektion der entsprechenden Organe in diesem Feld einnimmt. P E N F I E L D fertigte an Hand der Ergebnisse dieser Versuche eine schematische Zeichnung an (Abb. 36). Die Darstellung, die in einem bestimmten Maßstab angefertigt wurde, läßt erkennen, wie groß die Fläche ist, die im menschlichen Gehirn zum Beispiel die Projektion der Hand und der Sprechwerkzeuge (Muskeln des Mundes, der Zunge und des Kehlkopfes) einnimmt, der Organe also, deren Funktionen sich unter den Bedingungen der menschlichen Gesellschaft besonders intensiv entwickeln (Arbeit, sprachliche Verständigung).
Abb. 36: Die Projektion verschiedener Bewegungsorgane im motorischen Gebiet der Rinde - der »Hirnmensch« (nach PENFIELD) Unter dem Einfluß der Arbeit und im Zusammenhang mit der Entwicklung des Gehirns vervollkommneten sich auch die Sinnesorgane des Menschen. Ebenso wie die Organe der äußeren Tätigkeit gewannen auch sie neue qualitative Eigenschaften: Der Tastsinn verfeinerte sich; das menschliche Auge sieht an den Dingen viel mehr als das des scharfsichtigsten Vogels; es vervollkommnete sich das Gehör, das die feinsten Unterschiede und Ähnlichkeiten der Sprechlaute wahrzunehmen vermag. Die Entwicklung des Gehirns und der Sinnesorgane wirkte auf die Arbeit und die Sprache zurück und gab »beiden immer neuen Anstoß zur Weiterbildung«, schreibt ENGELS. 7 Die durch die Arbeit hervorgerufenen anatomischen und physiologischen Veränderungen zogen zwangsläufig, infolge der natürlichen, wechselseitigen Abhängigkeit in der Entwicklung der Organe, auch eine Veränderung des gesamten Organismus nach sich. Die Entstehung und Entwicklung der Arbeit veränderte den Menschen in körperlicher Hinsicht, und seine gesamte anatomisch-physiologische Organisation wandelte sich. Das Entstehen der Arbeit wurde selbstverständlich durch den gesamten vorangegangenen Entwicklungsverlauf vorbereitet. Der immer 7
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mehr bevorzugte aufrechte Gang, zu dem auch bei den heute lebenden Menschenaffen eindeutige Ansätze zu beobachten sind, läßt sich durch die Lebensbedingungen unserer tierischen Vorfahren erklären. Die vorderen Gliedmaßen werden von der Funktion des Laufens befreit. Sie werden beweglicher und beginnen, Gegenstände zu ergreifen. Damit werden die körperlichen Voraussetzungen für komplizierte Arbeitsoperationen geschaffen. Das Entstehen der Arbeit wurde auch von anderer Seite her vorbereitet. Nur bei Lebewesen, die in Gruppen lebten und bei denen es verhältnismäßig hochentwickelte Formen des gemeinschaftlichen Lebens gab, obwohl diese von den primitivsten Formen des Zusammenlebens in der menschlichen Gesellschaft natürlich noch weit entfernt waren, konnte die Arbeit aufkommen. Welche Höhe das Zusammenleben der Tiere erreichen kann, geht aus den aufschlußreichen Untersuchungen hervor, die W O I T O N I S und T I C H im Tierpark von Suchumi vornahmen. Wie sich dabei herausstellte, gibt es im Affenrudel schon ein recht kompliziertes System der gegenseitigen Beziehungen und eine eigenartige Hierarchie, die jedoch auf rein biologische Anliegen beschränkt sind und niemals vom objektiven gegenständlichen. Inhalt einer Tätigkeit bestimmt werden. Eine wesentliche Voraussetzung für das Entstehen der Arbeit waren schließlich die bei den höheren Tieren weiterentwickelten Formen der psychischen Widerspiegelung der Wirklichkeit. Alle diese Momente in ihrer Gesamtheit lieferten die wichtigsten Bedingungen, unter denen im Laufe der Evolution die Arbeit und die auf ihr beruhende menschliche Gesellschaft entstehen konnten. Was stellt nun diese spezifisch menschliche Tätigkeit dar, die wir als Arbeit bezeichnen? Die Arbeit ist ein Prozeß, der den Menschen mit der Natur verbindet und in dem der Mensch auf die Natur einwirkt. »Die Arbeit«, schreibt K A R L M A R X , »ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angfrhörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit.« 8 16
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Kennzeichnend für die Arbeit sind zwei Merkmale, die eng miteinander zusammenhängen: Das erste ist der Gebrauch und die Anfertigung von Werkzeugen. »Die Arbeit«, schreibt ENGELS, »fängt an mit der Verfertigung von Werkzeugen.« 9 Das zweite Merkmal liegt in der Tatsache, daß der Arbeitsprozeß unter den Bedingungen einer gemeinsamen, kollektiven Tätigkeit vollzogen wird. Der Mensch tritt dabei nicht nur in Beziehungen zur Natur, sondern auch zu anderen Menschen, den Mitgliedern der gegebenen Gesellschaft. Nur über die Beziehungen zu anderen Menschen tritt der Mensch in Beziehung zur Natur. Die Arbeit ist damit von Anfang an ein Prozeß, der durch das Werkzeug (im weiten Sinne des Wortes) und zugleich durch die Gesellschaft vermittelt wird. Der Gebrauch von Werkzeugen hat ebenfalls seine Vorgeschichte. Schon bei manchen Tieren finden wir Ansätze dazu; sie benutzen, wie wir wissen, mitunter äußere Mittel, um einzelne Operationen zu vollziehen (beispielsweise der Gebrauch des Stocks bei Menschenaffen). Diese »Werkzeuge« des Tieres unterscheiden sich jedoch qualitativ von den echten Werkzeugen, den Arbeitsmitteln des Menschen. Der Unterschied liegt nicht nur in der Tatsache, daß das Tier seine »Werkzeuge« viel seltener gebraucht als der Mensch; er kann auch nicht in der äußeren Form dieser »Werkzeuge« liegen. Um den wirklichen Unterschied aufzuspüren, müssen wir die Tätigkeit, in die die Werkzeuge einbezogen sind, objektiv betrachten. So kompliziert die Tätigkeit mit Hilfe eines »Werkzeugs« beim Tier auch sein mag, sie ist niemals ein gesellschaftlicher Prozeß; sie wird nicht kollektiv vollzogen und entwickelt sich auch nicht über die Beziehungen, die die einzelnen Individuen dabei eingehen. So kompliziert andererseits das instinktive Zusammenleben der Individuen einer Tiergemeinschaft auch sein mag, die Beziehungen werden nicht auf der Grundlage der »Produktionstätigkeit« geknüpft, werden nicht von ihr bestimmt und hängen nicht von ihr ab. Demgegenüber ist die menschliche Arbeit von Anfang an ein gesellschaftlicher Prozeß. Das Zusammenwirken der Individuen bildet die Grundlage der Arbeit. Dabei wird zumindest eine beginnende technische Einteilung der Arbeitsfunktionen vorausgesetzt. Die Arbeit ist folglich ein Prozeß der Einwirkung auf die Natur, der die Beteiligten miteinander verbindet und ihre Beziehungen zueinander vermittelt. »In der Produktion«, schreibt M A R X , »wirken die Menschen nicht allein auf die Natur, sondern auch aufeinander. Sie produzieren nur, indem sie auf eine bestimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeiten gegeneinander austauschen. Um zu produzieren, treten sie in bestimmte 11
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Beziehungen und Verhältnisse zueinander, und nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Einwirkung auf die Natur, findet die Produktion statt.« 10 Um zu klären, welche konkrete Bedeutung diese Tatsache für die Entwicklung der menschlichen Psyche hat, gilt es zu analysieren, wie sich die Struktur der Tätigkeit ändert, sobald sie als kollektive Arbeit vollzogen wird. . Schon in der frühesten Entwicklungsepoche der menschlichen Gesellschaft wird zwangsläufig der ursprünglich einheitliche Tätigkeitsprozeß unter den einzelnen Produktionsmitgliedern aufgeteilt. Diese Arbeitsteilung ist zunächst zufällig und unbeständig. Erst im Laufe der weiteren Entwicklung nimmt sie die Form einer primitiven technischen Arbeitsteilung an. Einige Mitglieder der Gesellschaft übernehmen jetzt die Aufgabe, das Feuer zu unterhalten und das Essen zuzubereiten, die anderen gehen auf Jagd, um Nahrung zu beschaffen. Von den Teilnehmern an der kollektiven Jagd übernehmen wieder einige die Funktion, dem Wild nachzustellen, während die anderen auf die Beute lauern und sie erlegen. Das alles verändert entscheidend und grundlegend die Tätigkeitsstruktur des Individuums, das am Arbeitsprozeß teilnimmt. Wie wir schon darlegten, wird die Tätigkeit, die die unmittelbaren biologischen, instinktiven Beziehungen der Tiere zur Umwelt realisiert, stets durch die Gegenstände angeregt, die ein biologisches Bedürfnis befriedigen, und ist auch auf diese gerichtet. Bei den Tieren entspricht jede Tätigkeit einem unmittelbaren biologischen Bedürfnis; jede Tätigkeit wird durch einen Gegenstand ausgelöst, mit dem sie ein biologischer Sinn verbindet: der Sinn eines Gegenstandes, der ein Bedürfnis unmittelbar befriedigt; und es gibt bei Tieren auch keine Tätigkeit, die nicht in ihrem letzten Kettenglied unmittelbar auf diesen Gegenstand gerichtet wäre. Bei den Tieren sind Gegenstand und Motiv der Tätigkeit - wie wir bereits ausführten - stets miteinander verschmolzen und stipimen überein. Wir wollen unter diesem Gesichtspunkt untersuchen, wie die Tätigkeit eines Individuums während des kollektiven Arbeitsprozesses aufgebaut ist. Erledigt ein Kollektivmitglied seine Arbeitsaufgabe, dann tut es das zunächst auch, um eines seiner Bedürfnisse zu befriedigen. Die Tätigkeit eines Treibers in der Urgesellschaft zum Beispiel, der an einer gemeinsamen Jagd teilnimmt, dürfte auch durch das Bedürfnis nach Nahrung oder nach Kleidung, die ihm das Fell des erbeuteten Tieres liefert, ausgelöst worden sein. Worauf ist seine Tätigkeit jedoch 16
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unmittelbar gerichtet? Sie verfolgt möglicherweise das Ziel, die Tierherde zu erschrecken, um sie anderen Jägern zuzutreiben, die im Hinterhalt lauern. Damit ist seine Arbeit vollendet; alles übrige erledigen die anderen Jagdteilnehmer. Selbstverständlich befriedigt diese Tätigkeit des Treibers sein Bedürfnis nach Nahrung oder Kleidung an sich noch nicht. Das Ziel, auf das seine Tätigkeitsprozesse gerichtet sind, deckt sich nicht mit dem Motiv seiner Tätigkeit; beide sind voneinander getrennt. Wir wollen solche Prozesse, deren Ziel und Motiv nicht zusammenfallen, als Handlungen bezeichnen. Die Tätigkeit eines Treibers, der das Wild erschreckt und es den Jägern zutreibt, wäre dann eine Handlung. Wie kommt es eigentlich zu einer Handlung, das heißt zu einer Trennung zwischen Gegenstand und Motiv der Tätigkeit? Sie ist offensichtlich nur möglich, wenn mehrere Individuen gemeinsam, kollektiv auf die Natur einwirken. Das Gesamtprodukt dieses Prozesses, das den Bedürfnissen des Kollektivs entspricht, befriedigt auch die Bedürfnisse der einzelnen Mitglieder, obwohl das Individuum die letzten Operationen (Töten des Tieres), die unmittelbar dazu führen, den Gegenstand des Bedürfnisses zu erlangen, selbst nicht zu vollziehen braucht. Die Trennung zwischen Ziel und Motiv der individuellen Tätigkeit ist genetisch (d. h. in ihrer Herkunft) darauf zurückzuführen, daß sich aus der früheren, komplizierten, aus mehreren Phasen bestehenden, aber einheitlichen Tätigkeit einzelne Operationen herausgegliedert haben. Diese Operationen, die nun den Inhalt der Tätigkeit des Individuums ausmachen, verwandeln sich in eine selbständige Handlung des Individuums, obwohl sie nur Kettenglieder im gesamten, kollektiven Arbeitsprozeß sind. Um einzelne Operationen herauszugliedern, die in der individuellen Tätigkeit eine gewisse Selbständigkeit erlangen, bedarf es als natürlicher Voraussetzung offensichtlich zweier Hauptmomente: Das erste ist eine gemeinsame instinktive Tätigkeit und eine primitive »Hierarchie« in den Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft höherer Tiere, beispielsweise von Affen. Zweitens müssen sich in der Tätigkeit der Tiere, die noch ihre Ganzheitlichkeit beibehält, zwei Phasen - die Vorbereitungs- und die Vollzugsphase - abzuheben beginnen, die zeitlich durchaus erheblich voneinander getrennt sein können. Unterbricht man die Tätigkeit eines Tieres innerhalb einer dieser Phasen, dann läßt sich die nächste Reaktion nur ganz unerheblich verzögern. Wird die Tätigkeit dagegen zwischen den beiden Phasen unterbrochen, dann läßt sich eine zehn- und sogar hundertmal längere Verzögerung erreichen (Versuche von SAPOROSHEZ). Obwohl nun zweifellos ein genetischer Zusammenhang zwischen der in zwei Phasen gegliederten intellektuellen Tätigkeit des Tieres und
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der des Menschen besteht, der am kollektiven Arbeitsprozeß teilnimmt, gibt es zwischen der Tätigkeit des Tieres und der des Menschen einen grundlegenden Unterschied. Dieser hat seine Ursache in den unterschiedlichen objektiven Verbindungen und Beziehungen, die der gegebenen Tätigkeit zugrunde liegen und die sich im Psychischen der handelnden Individuen widerspiegeln. Die in zwei (oder sogar mehrere) Phasen gegliederte intellektuelle Tätigkeit des Tieres ist, wie wir sahen, dadurch gekennzeichnet, daß die Verbindung zwischen den Phasen durch physische, gegenständliche Zusammenhänge, durch räumliche, zeitliche und mechanische Beziehungen bestimmt wird. Unter den natürlichen Existenzbedingungen des Tieres handelt es sich dabei um natürliche Beziehungen und Zusammenhänge. Das Psychische der höheren Tiere ist infolgedessen durch die Fähigkeit gekennzeichnet, diese gegenständlichen und natürlichen Zusammenhänge und Beziehungen widerzuspiegeln. Ein Tier, das einen Umweg machen muß, um seine Beute zu erfassen, nähert sich dieser, indem es sich zunächst von ihr entfernt. Um diese komplizierte Tätigkeit vollziehen zu können, muß das Tier die räumlichen Verhältnisse der gegebenen Situation wahrnehmen. Der erste Teil des Weges, die erste Phase der Tätigkeit, ermöglicht es dem Tier völlig natürlich, ihre zweite Phase zu vollziehen. Die von uns betrachtete Tätigkeitsform des Menschen hat eine grundsätzlich andere objektive Grundlage. Die Tätigkeit eines Treibers befriedigt sein Bedürfnis nach dem Wild nicht deshalb, weil die natürlichen Beziehungen der gegenständlichen Situation danach verlangen. Eher trifft das Gegenteil zu. Unter normalen Bedingungen berauben die natürlichen Verhältnisse den Treiber zunächst der Möglichkeit, durch eigene Tätigkeit das Wild zu erbeuten, da er es von sich wegtreibt. Was verbindet in diesem Falle das unmittelbare Ergebnis seiner Tätigkeit mit ihrem endgültigen Resultat? Das ist offensichtlich nichts anderes als das Verhältnis des Individuums zu anderen Kollektivmitgliedern, von denen er seinen Teil des Produkts der gemeinsamen Arbeit erhält. Diese Verhältnis wird in der Tätigkeit mit anderen Menschen realisiert. Die Tätigkeit der anderen Menschen bildet demnach die objektive Grundlage der spezifischen Tätigkeitsstruktur des menschlichen Individuums. Das bedeutet: Im Hinblick auf ihr Entstehen, das heißt unter historischem Aspekt, spiegelt die Verbindung zwischen Motiv und Ziel der Tätigkeit nicht die natürlichen, sondern die objektiven gesellschaftlichen Zusammenhänge und Beziehungenwider. Die komplizierte Tätigkeit der höheren Tiere, die den natürlichen gegenständlichen Zusammenhängen und Beziehungen unterworfen ist, wandelt sich beim Menschen in eine Tätigkeit um, der von Anfang an
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gesellschaftliche Beziehungen zugrunde liegen. Hier begegnen wir der unmittelbaren Ursache für das Entstehen der spezifisch menschlichen Form der Widerspiegelung - des menschlichen Bewußtseins. Um handeln zu können, muß das handelnde Subjekt in der Lage sein, das objektive Verhältnis zwischen Motiv und Ziel der Tätigkeit psychisch widerzuspiegeln. Ist das nicht der Fall, dann ist eine Handlung nicht möglich, da sie für das Subjekt ohne jeden Sinn wäre. Kehren wir zu unserem Beispiel zurück: Der Treiber kann offenbar nur handeln, weil er die Verbindung zwischen dem erwarteten Ergebnis seiner persönlichen Handlung und dem Resultat der gesamten Jagd - dem Überfallen der Tiere aus dem Hinterhalt, dem Töten und dem Verbrauch des Produkts - widerzuspiegeln vermag. Diese Verbindung offenbart sich ihm zunächst noch in anschaulicher Form; er nimmt die realen Handlungen der anderen Teilnehmer am Arbeitsprozeß wahr. Ihre Handlungen verleihen der Tätigkeit der Treiber erst einen Sinn, wie auch die Handlungen des Treibers das Tun der Jäger, die im Hinterhalt lauern, erst sinnvoll machen; ohne die Tätigkeit des Treibers wäre es sinnlos und unbegründet, auf Beute zu warten. Wir begegnen hier wieder einem Verhältnis, von dem die Richtung einer Tätigkeit abhängt. Es unterscheidet sich jedoch von den Beziehungen, die über die Tätigkeit des Tieres entscheiden. Das neue Verhältnis beruht auf der gemeinsamen Tätigkeit der Menschen und ist ohne sie nicht möglich. Es hat zur Folge, daß das Ziel an sich für den Menschen keinen direkten biologischen Sinn zu haben braucht, ja, diesem sogar mitunter widersprechen kann. Die Tätigkeit des Treibers ist biologisch an sich sinnlos. Sie bekommt ihren Sinn erst bei kollektiver Arbeit. Das alles verleiht den Handlungen erst ihren menschlichen Sinn. Mit der Handlung, der »Haupteinheit« der menschlichen Tätigkeit, bildet sich demnach auch die Grundlage und ihrem Wesen nach gesellschaftliche »Einheit« der menschlichen Psyche: der vernünftige Sinn dessen, worauf sich die Aktivität des Menschen richtet. Dieses Problem muß näher erörtert werden, weil es außerordentlich wichtig ist, um die Gesetze des Psychischen zu erfassen. Wir wollen diesen Gedanken nochmals erläutern. Bewegt sich eine Spinne auf einen vibrierenden Gegenstand zu, dann ,• folgt ihre Tätigkeit dem biologischen Verhältnis, das die Vibration mit der Eigenschaft eines ins Netz geratenen Insekts, der Spinne als Nahrung zu dienen, verbindet. Dieses Verhältnis verleiht der Vibration für die Spinnen den biologischen Sinn der Nahrung. Nun wird die Tätigkeit der Spinne durch die Verbindung zwischen der Eigenschaft des Insekts, das Spinnennetz schwingen zu lassen, und seiner weiteren Eigenschaft, der Spinne als Nahrung zu dienen, zwar faktisch bestimmt, dieses Verhältnis bleibt dem Tier aber verborgen und existiert für die
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Spinne praktisch nicht. Versetzt man einen Teil des Netzes durch einen anderen Gegenstand, zum Beispiel durch eine Stimmgabel, in Schwingungen, dann bewegt sich die Spinne ebenfalls in dieser Richtung. Auch ein Treiber ordnet seine Handlung einer bestimmten Verbindung unter, und zwar dem Verhältnis, das das Treiben der Tiere mit ihrer Erlegung verbindet. Dieser Verbindung liegt jedoch kein natürliches, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis zugrunde: die Verbindung zwischen der Arbeit des Treibers und der Arbeit der anderen Teilnehmer an der kollektiven Jagd. Wie wir bereits darlegten, vermag der Anblick des Wildes an sich den Treiber nicht zu veranlassen, es zu treiben. Um diese Funktion zu übernehmen, muß ein Zusammenhang zwischen dem Ergebnis seiner und dem Resultat der kollektiven Tätigkeit bestehen. Dieses Verhältnis muß der Treiber subjektiv widerspiegeln; es muß für ihn existieren. Mit anderen Worten: Der Sinn seiner Handlungen muß sich ihm erschließen und von ihm bewußt erfaßt werden. Das geschieht, indem ihr Gegenstand als bewußtgewordenes Ziel widergespiegelt wird. Dem Subjekt erschließt sich damit erstmalig die Verbindung zwischen Ziel (Gegenstand) und Motiv der Tätigkeit. Es nimmt sie anschaulich in der Tätigkeit seines Arbeitskollektivs wahr. Die Tätigkeit wird von ihm nicht mehr in ihrer subjektiven Verschmelzung mit dem Ziel, sondern als praktische, objektive Beziehung des Subjekts zu ihm widergespiegelt. Unter den hier erörterten Bedingungen handelt es sich natürlich stets um ein kollektives Subjekt. Die Beziehungen der einzelnen Teilnehmer zur Arbeit werden von ihnen zunächst in dem Maße widergespiegelt, in dem ihre subjektiven Beziehungen mit denen des ganzen Arbeitskollektivs zusammenfallen. Damit ist der wichtigste und entscheidendste Schritt getan. Im menschlichen Bewußtsein trennt sich die Tätigkeit von den Gegenständen, die vom Menschen jetzt nur innerhalb bestimmter Verhältnisse erfaßt werden. Die Natur, das heißt die Gegenstände seiner Umwelt, offenbart sich in ihrem konstanten Verhältnis zu den Bedürfnissen und der Tätigkeit des Kollektivs. Der Mensch nimmt zum Beispiel die Nahrung als Ziel bestimmter Tätigkeiten - er muß sie suchen, jagen oder zubereiten - und zugleich als Ziel der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse wahr, und zwar unabhängig davon, ob er gerade Hunger hat oder ob er im Augenblick gerade eine der genannten Tätigkeiten vollzieht. Sie wird aus anderen Gegenständen nicht nur praktisch, das heißt während der Tätigkeit, und nicht nur abhängig von einem gerade vorhandenen Bedürfnis, sondern auch »theoretisch« hervorgehoben; sie kann damit im Bewußtsein festgehalten und zur »Idee« werden.
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Probleine der Entwicklung des Psychischen 2. Die Entstehung des Denkens und der Sprache
Wir haben die Bedingungen aufzuspüren versucht, unter denen das Bewußtsein entsteht. Wir fanden sie in der gemeinsamen Arbeit. Nur auf diese Weise wird der Inhalt dessen, worauf sich die Handlung des Menschen richtet, aus der Verschmelzung mit biologischen Zusammenhängen hervorgehoben. Wir wollen jetzt die Frage klären, wie sich die besonderen Prozesse bilden, mit denen die bewußte Widerspiegelung der Wirklichkeit zusammenhängt. Um das Ziel einer Handlung bewußt zu erfassen, ist es, wie wir bereits festgestellt haben, erforderlich, die Gegenstände widerzuspiegeln, auf die sich diese Handlung richtet, und zwar unabhängig von den Beziehungen, in denen das Subjekt augenblicklich zu ihnen steht. Wo finden wir die besonderen Bedingungen einer solchen Widerspiegelung? Wir finden sie im Arbeitsprozeß. Die Arbeit verändert nicht nur die allgemeine Tätigkeitsstruktur des Menschen und läßt nicht nur zielgerichtete Handlungen entstehen; während der Arbeit wird auch der Inhalt jener Komponenten der Tätigkeit, die wir als Operation bezeichnen, qualitativ verändert. Die Operationen verändern sich in dem Maße, in dem Arbeits Werkzeuge entstehen und sich entwickeln. Die Arbeitsoperationen des Menschen werden - das ist ihr Kennzeichen - mit Hilfe von Werkzeugen vollzogen. Was ist ein Werkzeug? »Das Arbeitsmittel ist ein Ding oder ein Komplex von Dingen, die der Arbeiter zwischen sich und den Arbeitsgegenstand schiebt und die ihm als Leiter seiner Tätigkeit auf diesen Gegenstand dienen«, schreibt K A R L M A R X . 1 1 Das Werkzeug ist also ein Gegenstand, mit dem die Arbeitsoperationen vollzogen werden. Um Werkzeuge herstellen und verwenden zu können, muß der Mensch die Ziele der Arbeitshandlung bewußt erfassen. Zugleich führt der Gebrauch eines Werkzeuges aber auch dazu, sich des Arbeitsgegenstandes in seinen objektiven Eigenschaften bewußt zu werden. Beim Benutzen einer Axt zum Beispiel wird nicht nur dem Ziel einer praktischen Handlung entsprochen, sondern es werden auch die Eigenschaften des Arbeitsgegenstandes widergespiegelt, auf den sich die Handlung richtet. Der Hieb einer Axt erprobt also untrüglich die Härte des Materials, aus dem der betreffende Arbeitsgegenstand besteht. Seine objektiven Eigenschaften werden nach Merkmalen, die im Werkzeug
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S. 194.
Werke. Bd. 23, Dietz Verlag, Berlin 1962,
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selbst objektiv gegeben sind, praktisch analysiert und verallgemeinert. Das Werkzeug wird damit gleichsam zum Träger der ersten, echten, bewußten und vernünftigen Abstraktion, der ersten, bewußten und vernünftigen Verallgemeinerung. Es gilt noch einen zweiten Umstand in Betracht zu ziehen: Das Werkzeug ist nicht nur ein Gegenstand, der eine bestimmte Form hat und über bestimmte physikalische Eigenschaften verfügt, sondern ist zugleich ein auf bestimmte Art und Weise gebrauchter, gesellschaftlicher Gegenstand. Die Art und Weise seiner Verwendung ist während der kollektiven Arbeit gesellschaftlich erarbeitet und festgelegt worden. Betrachten wir beispielsweise die Axt als Werkzeug und nicht nur als physikalischen Körper, dann haben wir in ihr mehr zu sehen als die Vereinigung zweier Teile - des Stiels und der Schneide. In ihr sind gleichsam das gesellschaftlich erworbene Arbeitsverfahren und die gegenständlich geformten Arbeitsoperationen kristallisiert. Ein Werkzeug zu gebrauchen erfordert deshalb nicht nur, es einfach zu handhaben, sondern auch das entsprechende Arbeitsverfahren zu beherrschen. Das Werkzeug ist das materielle Mittel, mit dem dieses Verfahren realisiert wird. Auch mit dem »Werkzeug« des Tieres wird eine bestimmte Arbeitsoperation vollzogen. Die Operation ist jedoch nicht an diesen Gegenstand gebunden. H a t beispielsweise der Stock in der Hand eines Affen seine Funktion erfüllt, ist er dem Tier gleichgültig. Er wird nicht zum konstanten Träger einer bestimmten Operation. Das Tier fertigt deshalb seine Werkzeuge auch nicht selbst an, und es bewahrt sie auch nicht auf. Der Mensch dagegen erfindet und produziert seine Werkzeuge selbst; er bewahrt sie auf und konserviert damit auch die mit ihrer Hilfe vollzogenen Arbeitsverfahren. Schon ein Blick auf das Werkzeug, das der Mensch bei seiner Arbeit benutzt, läßt uns den Unterschied gegenüber dem »Werkzeug« des Tieres erkennen. Das Tier findet in dem »Werkzeug« nur eine natürliche Möglichkeit, seine instinktive Tätigkeit zu vollziehen und mit seiner Hilfe zum Beispiel eine Frucht heranzuholen. Der Mensch dagegen erblickt im Werkzeug einen Gegenstand, in dem ein gesellschaftlich erarbeitetes Verfahren fixiert ist. Ein Affe gebraucht deshalb die vom Menschen für spezielle Zwecke angefertigten Werkzeuge nur in begrenztem Rahmen seiner instinktiven Tätigkeitsverfahren. In den Händen des Menschen dagegen kann sogar ein primitiver natürlicher Gegenstand zum echten Werkzeug werden, mit dessen Hilfe eine echte, gesellschaftlich erarbeitete Operation vollzogen wird. Beim Tier schafft das »Werkzeug« keine neuen Operationen; es ordnet sich den natürlichen Bedingungen unter, in deren Ablauf es einbe-
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Probleme der Entwicklung des Psychischen
zogen ist. Im Gegensatz dazu wird die menschliche Hand in das gesellschaftlich erarbeitete und im Werkzeug fixierte System von Operationen einbezogen und ordnet sich ihm unter. In neueren Untersuchungen wird das im einzelnen nachgewiesen. Die natürliche Entwicklung der Hand bestimmt die Art und Weise, wie der Affe den Stock als »Werkzeug« gebraucht. Beim Menschen dagegen können wir mit Recht behaupten, der Gebrauch der Werkzeuge habe die spezifischen Eigenschaften seiner Hand geschaffen. Das Werkzeug ist, wie wir sahen, ein gesellschaftlicher Gegenstand, ist ein Produkt der gesellschaftlichen Praxis. Folglich ist auch die verallgemeinerte Widerspiegelung der objektiven Eigenschaften der Arbeitsgegenstände das Produkt der gesellschaftlichen und nicht der individuellen Praxis. Demzufolge ist selbst die primitivste menschliche Erkenntnis, die noch in einer unmittelbaren praktischen Arbeitshandlung mit Hilfe von Werkzeugen vollzogen wird, nicht auf die individuelle Erfahrung beschränkt, sondern den Erfahrungen der gesellschaftlichen Praxis entsprungen. Eine solche Erkenntnis, zu der der Mensch auf ursprüngliche Weise während der Arbeit mit den Werkzeugen gelangt, kann im Gegensatz zur instinktiven intellektuellen Tätigkeit der Tiere in echtes Denken übergehen. Als Denken im eigentlichen Sinne des Wortes bezeichnen wir die bewußte Widerspiegelung der Wirklichkeit in ihren objektiven Eigenschaften, Beziehungen und Zusammenhängen, in die auch Objekte einbezogen sind, die der sinnlichen Erkenntnis nicht unmittelbar zugänglich sind. Der Mensch nimmt zum Beispiel die ultravioletten Strahlen nicht wahr, obwohl er von ihrer Existenz und ihren Eigenschaften weiß. Wie ist eine solche Erkenntnis möglich? Der Mensch gelangt zu ihr auf mittelbarem Wege, auf dem Wege des Denkens. Wir untersuchen die Gegenstände - das ist das allgemeine Prinzip des Denkens - mit Hilfe anderer Dinge; erfassen wir die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge und Beziehungen, dann schließen wir aus den von uns wahrgenommenen Veränderungen auf die verborgenen Eigenschaften dieser Gegenstände. Für das Entstehen des Denkens ist es deshalb unerläßlich, die objektiven Wechselbeziehungen zwischen den Gegenständen hervorzuheben und bewußt zu erfassen. Das ist im Rahmen der instinktiven Tätigkeit der Tiere nicht möglich. Dieses bewußte Erfassen vollzieht sich zunächst ebenfalls während der Arbeit, beim Gebrauch von Werkzeugen, mit deren Hilfe die Menschen aktiv auf die Natur einwirken. »Die erste und wesentliche Grundlage des menschlichen Denkens«, schreibt ENGELS, »ist die Veränderung der Natur durch den Menschen; nicht nur die Natur als solche, sondern auch der Verstand des Menschen ent-
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wickeln sich proportional dazu, wie er gelernt hat, die Natur zu verändern.« 12 Dadurch unterscheidet sich das menschliche Denken grundsätzlich vom Intellekt der Tiere, der - wie spezielle Untersuchungen zeigen nur eine Anpassung an die vorhandenen Bedingungen der Situation ermöglicht und diese höchstens zufällig zu verändern vermag. Die Tätigkeit des Tieres richtet sich nicht auf die Gesamtheit dieser Bedingungen, sondern nur auf bestimmte Gegenstände seines biologischen Bedürfnisses. Anders verhält es sich beim Menschen. Die Vorbereitungsphase, aus der sein Denken erwächst, wird zum Inhalt selbständiger, zielgerichteter Handlungen; demzufolge kann sie auch zu einer selbständigen Tätigkeit werden, die sich in eine ausschließlich innerliche, geistige Operation umzuwandeln vermag. Das Denken (sowie die menschliche Erkenntnis im allgemeinen) unterscheidet sich vom Intellekt des Tieres auch insofern, als es nur mit dem gesellschaftlichen Bewußtsein entstehen und sich entwickeln kann. Nicht nur die Ziele, sondern - wie wir sahen - auch die Verfahren und Mittel der menschlichen intellektuellen Handlung sind ihrem Wesen nach gesellschaftlich. Demzufolge kann auch das abstrakte, sprachlogische Denken nur entstehen, indem der Mensch sich gesellschaftlich erarbeitete Verallgemeinerungen - Begriffe und logische Operationen aneignet. Zu erörtern ist schließlich noch die Frage nach der Form, in der der Mensch die Wirklichkeit bewußt widerspiegelt. Die allgemeine Vorstellung und der Begriff haben eine sinnliche Grundlage. Die Wirklichkeit bewußt widerzuspiegeln bedeutet jedoch nicht nur, sie sinnlich zu erleben. Schon bei der einfachen Wahrnehmung eines Gegenstandes spiegeln wir nicht nur seine Form und seine Farbe wider, sondern zugleich auch die objektive und konstante Bedeutung, die dem Ding beispielsweise als Nahrung oder als Werkzeug zukommt. Es muß danach eine besondere Form der bewußten Widerspiegelung geben, die sich qualitativ von der unmittelbaren sinnlichen psychischen Widerspiegelung des Tieres unterscheidet. Welches ist die konkrete Form, in der der Mensch die ihn umgebende objektive Wirklichkeit bewußt erfaßt? Diese Form ist die Sprache, die nach den Worten von K A R L M A R X das praktische Bewußtsein des Menschen darstellt. Deshalb ist das Bewußtsein mit der Sprache unlösbar verbunden. Ebenso wie das Bewußtsein entsteht auch die Sprache nur während und zusammen mit der Arbeit. Ebenso wie das Bewußtsein ist auch die Sprache das Produkt der menschlichen Tätigkeit, das Pro16
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dukt eines Kollektivs und zugleich dessen »selbstsprechendes Sein« ( K A R L M A R X ) ; nur deshalb existiert sie für den einzelnen Menschen. »Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein - die Sprache ist das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein«, schreibt K A R L M A R X . 1 3 Das Entstehen der Sprache kann nur im Zusammenhang mit dem bei den Menschen aufkommenden Bedürfnis verstanden werden, »daß sie einander etwas zu sagen hatten«. 14 Wie haben sich Denken und Sprache gebildet? Bei der Arbeit treten die Menschen - wie wir sahen - in Beziehungen zueinander. Ursprünglich bildeten die Arbeitsoperationen und der allgemeine menschliche Kontakt einen einheitlichen Prozeß. Die Bewegungen, mit denen der Mensch während seiner Arbeit die Natur beeinflußte, wirkten zugleich auch auf die anderen Teilnehmer an der Produktion ein. Seine Handlungen erlangten unter diesen Bedingungen eine doppelte Funktion: Sie dienten unmittelbar der Produktion und wirkten zugleich auf die anderen Menschen. Sie dienten damit auch dem allgemeinen menschlichen Kontakt. Allmählich wurden diese beiden Funktionen voneinander getrennt. Die Erfahrung lehrte die Menschen folgendes: Führt eine Arbeitsbewegung aus diesen oder jenen Gründen nicht zum praktischen Ergebnis, dann kann sie trotzdem auf die anderen Produktionsteilnehmer wirken und sie beispielsweise veranlassen, die mißglückte Handlung gemeinsam zu vollziehen. So entstehen Bewegungen, die die Form von Arbeitsoperationen beibehalten, denen aber der praktische Kontakt mit dem Gegenstand und damit auch die Anstrengung fehlt, durch die sie zu echten Arbeitsbewegungen würden. Diese Bewegungen und die sie begleitenden Sprechlaute lösen sich von der Aufgabe, auf den Gegenstand einzuwirken; sie behalten aber die Funktion bei, auf andere Menschen einzuwirken und sich mit ihnen sprachlich zu verständigen. Mit anderen Worten: Diese Bewegungen werden zu Gesten. Eine Geste ist nichts anderes als eine Bewegung, die von ihrem Ergebnis getrennt ist, die also mit dem Gegenstand, auf den sie gerichtet ist, nicht mehr in Kontakt tritt. Gleichzeitig geht die Rolle in der menschlichen Verständigung von den Gesten immer mehr auf die Sprechlaute über; es entsteht die menschliche, artikulierte Sprache. Mit ihrer Hilfe wird irgendein Inhalt des allgemeinen menschlichen Kontaktes fixiert. Bevor er jedoch benannt und in der Sprache widergespiegelt wird, muß er hervorgehoben und bewußt erfaßt werden. 18 KARL MARX/FRIEDRICH ENGELS: S.30.
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Werke. Bd.
3,
Dietz Verlag, Berlin
Ebenda. Bd. 20, Dietz Verlag, Berlin 1962, S. 446.
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Das geschieht, wie wir gesehen haben, ursprünglich während der praktischen Tätigkeit der Menschen, während der Produktion. Hierzu schreibt K A R L M A R X : »Also: die Menschen fingen tatsächlich damit an, gewisse Dinge der Außenwelt als Befriedigungsmittel ihrer eigenen Bedürfnisse sich anzueignen etc. etc.; später kommen sie dazu, sie auch sprachlich als das, was sie in praktischer Erfahrung für sie sind, nämlich als Befriedigungsmittel ihrer Bedürfnisse zu bezeichnen, als Dinge, die sie >befriedigentreulich< wahrzunehmen - und dann verliert er ganz gewiß — oder sich zu sträuben, für seine Menschheit zu kämpfen, solange es geht, und das kann er nur im Kampf gegen die Bourgeoisie.«26 Die Auflehnung gegen die herrschenden Verhältnisse zwingt die Individuen, sich zu vereinigen; sie holen sich ihr menschliches Wesen zurück, und aus ihren von der Arbeit verhärteten Zügen leuchtet dann die ganze Schönheit der Menschlichkeit. Auf der Grundlage ihrer Beziehungen zueinander entsteht der Kollektivgeist der Arbeiter. Dadurch gewinnt auch ihre Einstellung zur 25 KARL MARX/FRIEDRICH ENGELS: Werke. Bd. 6, Dietz Verlag, Berlin S. 400 f. 26 Ebenda, Bd. 2, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 347.
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Arbeit einen anderen Sinn: Nur der Arbeiter kann bewußt arbeiten. Obwohl ihm das Arbeitsprodukt fremd gegenübersteht, hat er eine echte moralische Beziehung zu seiner Tätigkeit. Er ist zwar gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen, für ihn wird jedoch die Arbeit niemals zur Ware. Die bürgerlichen Psychologen stehen hier vor einem Rätsel, denn diese Haltung steht im Widerspruch zu ihren Vorstellungen von der menschlichen Natur. Wir wollen das an einigen Beispielen zeigen: »Der Maßstab für die Einschätzung der menschlichen Arbeit«, schreibt PERRIN, »ist der Verdienst. Der Lohn drückt in den Augen der Menschen den Wert der geleisteten Arbeit aus. Beinahe so wichtig wie der Geldschein, den er für seine Leistung erhält, ist für den Arbeiter jedoch die Art und Weise, wie die Bedeutung und Qualität seiner Tätigkeit von den Kollegen beurteilt wird. Die Zufriedenheit, die ein Bergmann verspürt, dem die anderen den Weg freigeben, um ihn als ersten in den Schacht einfahren zu lassen, ist für ihn soviel wert wie ein Teil seines Entgelts.« Der Verfasser hat diese Art der Belohnung mit einem Geldschein verglichen. An anderer Stelle bezeichnet er sie als »geistiges Gehalt«, das die Verwaltung jedoch leider mit den Arbeitern nicht abrechnen könne. »Ein erfahrener Automechaniker«, heißt es später, »ist daran interessiert, bei ebenso erfahrenen Automechanikern angesehen zu sein; das Lob von Menschen, die nicht zu diesem Kreis gehören, kann nur schwer den Verlust der Achtung seiner Berufskollegen ausgleichen... Das Wohlwollen der Mitarbeiter steht oft höher als die Anerkennung der Vorgesetzten.« 27 Wir wollen nun den zweiten Umstand in Betracht ziehen. Mit der Entfremdung der Arbeit wird auch ein Teil des Lebens entfremdet, und das findet im Bewußtsein des Arbeiters seinen Niederschlag. Die objektiven Verhältnisse behalten für ihn jedoch auf der anderen Seite ihren menschlichen Sinn, der auch nicht in die mystische Hülle der Religion gekleidet wird. Seine Ideale, seine Moral bleiben menschlich; sein Bewußtsein verlangt nicht nach religiösen Vorstellungen, die für ihn leer und sinnlos sind. »Und wenn er ja etwas Religion haben sollte, so ist sie nur nominell, nicht einmal theoretisch - praktisch lebt er nur für diese Welt und sucht sich in ihr einzubürgern.« 28 Da es in der Tätigkeit des Arbeiters keine Motive gibt, durch die ein anderer Mensch für ihn den Sinn verlieren und die Bedeutung einer Sache annehmen könnte, ist er in seinem täglichen Leben viel humaner 27 28
F. PERRIN: Practical Psydiology. 1945, S. 278 bis 280.
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Dietz Verlag, Berlin
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als der Bourgeois. » . . . für sie (die Arbeiter, d. Übers.) ist jeder Mensch ein Mensch, während der Arbeiter dem Bourgeois weniger als ein Mensch ist.« 29 Die Arbeiter hassen zwar ihre Ausbeuter, in solchen Gefühlen äußert sich jedoch nicht der Verlust ihrer Menschlichkeit. »Diese Leidenschaft, dieser Zorn ist vielmehr ein Beweis, daß die Arbeiter das Unmenschliche ihrer Lage fühlen, daß sie sich nicht zum Tier herabdrängen lassen wollen.« 30 Völlig frei ist der Arbeiter von der »Religion des Kapitals«. Obwohl er gezwungen ist, des Geldes wegen zu arbeiten, hat das Geld für ihn nicht den ihm eigenen besonderen Sinn. Der Arbeiter mißt den Wert des Geldes nur daran, was er dafür kaufen kann; für den Bourgeois dagegen hat das Geld einen besonderen Wert, den Wert eines Götzen. »Darum ist der Arbeiter auch viel unbefangener, hat viel offenere Augen für Tatsachen als der Bourgeois und sieht nicht alles durch die Brille des Eigennutzes an.« 81 Wer die allgemeine Lebensweise des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft eingehend untersucht, erkennt nicht nur eine Doppelseitigkeit, sondern eine Widersprüchlichkeit in ihr. Unter diesen Umständen teilt sich das Leben nicht einfach in seinen eigentlichen Sinn und in einen Inhalt, der ihm entfremdet ist. Für den Menschen selbst bleibt das gesamte Leben einheitlich. Es nimmt die Form eines inneren Kampfes an, in dem sich die Auflehnung des Menschen gegen die Verhältnisse offenbart, die ihn beherrschen. Der Mensch ist sich nicht bewußt, daß Sinn und Bedeutung einander fremd sind; diese Tatsache bleibt seiner Selbstbeobachtung verborgen. Sie offenbart sich ihm aber in einer anderen Form: eben in diesem inneren Kampf. Die dabei ablaufenden Prozesse werden gewöhnlich »Widersprüche des Bewußtseins«, zuweilen auch »Bewußtseinsqualen« genannt. Der Sinn der Wirklichkeit wird dabei bewußt erfaßt, der persönliche Sinn hinter den Bedeutungen erkannt. Wir wollen nachstehend die einfachsten Formen dieses Prozesses betrachten. Schon sehr früh kommt es zu einer Diskrepanz zwischen den Beziehungen des menschlichen Kollektivs zur Umwelt, die im System sprachlicher Bedeutungen verallgemeinert werden, und den persönlichen Beziehungen der Individuen, die für sie den Sinn des Widergespiegelten ausmachen. Diese Diskrepanz macht den Prozeß des Bewußtwerdens recht kompliziert. Unter bestimmten Bedingungen nimmt dieser Pro29
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« Ebenda, S. 346. Ebenda, S. 352.
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zeß die sonderbarsten Formen an, etwa in der Art der sogenannten Partizipationen. In diesen oder auch in allgemeinen Formen kann sich das Bewußtsein nur bis zu einer gewissen Grenze entwickeln. Je mehr sich die Produktion vervollkommnet und im Zusammenhang damit die positiven Kenntnisse von der Natur erweitern, desto mehr erweitern und differenzieren sich zwangsläufig auch die Bedeutungen. Sie spiegeln jetzt immer präziser die gegenständlichen Beziehungen wider, denen die gesellschaftlich erarbeiteten technischen Verfahren und Mittel der menschlichen Tätigkeit zugrunde liegen. Zugleich befreien sie sich immer mehr von den in ihnen kristallisierten gesellschaftlichen Beziehungen zu den benannten Erscheinungen. Diese Beziehungen werden jetzt teilweise in besonderen Bedeutungen widergespiegelt. Um das zu begreifen, muß man die Veränderung in den Formen der Sprache und des gesellschaftlichen Bewußtseins berücksichtigen, die sich dabei vollziehen. Sie hängen mit der im Laufe der Sprachgeschichte eintretenden Technisierung der Sprache zusammen (ABAJEW). Mit dem Fortschreiten der Sprache tragen jetzt die Wörter den widergespiegelten Inhalt nicht mehr direkt in sich, sondern geben diesen vermittelt wieder. Im Hinblick auf die Geschichte des gesellschaftlichen Bewußtseins bedeutet das, daß »die in der Sprache ausgedrückte Ideologie durch eine Ideologie ersetzt wird, die mit der Sprache ausgedrückt wird«. 32 Das gleiche System sprachlicher Bedeutungen vermag demnach unterschiedliche und sogar widersprüchliche Inhalte auszudrücken. Der zwangsläufig in der Klassengesellschaft entstehende grundsätzliche Unterschied in den Gedanken und Vorstellungen der Menschen braucht sich deshalb nicht in unterschiedlicher Sprache oder in unterschiedlichen Systemen sprachlicher Bedeutungen auszudrücken. Natürlich gibt es Abweichungen und Gegensätze in den Vorstellungen, die der Sklave und der Sklavenhalter, der Leibeigene und der Feudalherr, der Arbeiter und der Kapitalist von der Welt haben; dieser Unterschied bedarf jedoch keiner verschiedenen Sprachen oder verschiedener sprachlicher Bedeutungen für die Angehörigen verschiedener Klassen und er beschränkt sich auch nicht auf sie. Psychologisch, also im Hinblick auf den Bewußtseinsprozeß, hängt das damit zusammen, daß dieser Prozeß jetzt eine entfaltete und entwickelte Form annimmt. Man kann den Sinn einer Erscheinung ja nur bewußt erfassen, wenn man die Bedeutung dieser Erscheinung nennt. Ein Sinn, der nicht in einer Bedeutung verkörpert ist, kann dem Men82
W. ABAJEW: Die Sprache als Ideologie und die Sprache als Technik. In: Sammelband »Die Sprache und das Denken«, Bd. II, Verlag der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Leningrad 1934 (russ.).
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sehen noch nicht bewußt werden. Die Entstehung des Sinnes in den Bedeutungen wird allmählich aus einem einfachen Konkretisierungsvorgang zu einem recht komplizierten Prozeß, der die Lösung einer eigenartigen psychologischen Aufgabe darstellt. Diese psychologische Aufgabe ist mitunter so schwierig, daß sie Qualen bereitet. In der wissenschaftlichen und schöngeistigen Literatur werden wiederholt die »Qualen des Wortes« geschildert, die der Versuch bereiten kann, einen Sinn in den Bedeutungen zu objektivieren oder einen Sinn in den Fällen bewußt zu erfassen, in denen, um mit D O S T O J E W S K I ZU sprechen, der Sinn nicht in den Worten steckt. Diese Vorgänge sind nicht mit den Qualen des schöpferischen Denkens identisch; sie sind Qualen des Bewußtseins, des Bewußtwerdens. Deshalb ist es nutzlos, ihre Natur im Wesen der eigentlichen Erkenntnistätigkeit zu suchen. Ihre Natur liegt nicht einfach in der Kompliziertheit des Sachverhalts; diese Tatsache erweitert im Gegenteil die Möglichkeiten. Ihr wahres Wesen ist darin zu suchen, daß der Inhalt des menschlichen Lebens widersprüchlich und das gesellschaftliche Bewußtsein eingeengt ist, sobald es zum Klassenbewußtsein geworden ist. Wie wir sahen, ist der Mensch, der die objektive Realität, sich selbst und sein Leben in dieser Welt bewußt erfassen will, nicht auf sich allein angewiesen. Sein individuelles Bewußtsein kann sich nur auf der Grundlage des gesellschaftlichen Bewußtseins bilden, das er sich aneignet, indem er die Wirklichkeit gleichsam durch das Prisma gesellschaftlich erarbeiteter Bedeutungen - der Kenntnisse und Vorstellungen - widerspiegelt. Unter den Bedingungen der entwickelten, »technisierten« Sprache nimmt er dabei nicht einfach die Fülle sprachlicher Bedeutungen auf. Er eignet sich zugleich das System der Ideen, Ansichten und Ideale an, die diese Wörter bezeichnen und die er nicht anders zu seinem Besitz machen könnte. Mit anderen Worten: Der Mensch, der sich das System der sprachlichen Bedeutungen aneignet, erwirbt zugleich auch deren allgemeineren ideologischen Inhalt, das heißt deren Bedeutungen im weitesten Sinne des Wortes.33 In der Klassengesellschaft dominiert, wie wir wissen, die Ideologie der herrschenden Klasse, die die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegelt und fixiert. Wie wir ferner feststellten, unterjochen diese Verhältnisse den Menschen und sein Leben und lassen innere Widersprüche in ihm aufkommen. Da jedoch das menschliche Leben nicht völlig in diesen Verhältnissen verkörpert ist, sind auch die 33
Wir verweisen den Leser noch einmal darauf, daß wir den Terminus »Bedeutung« in zweierlei Hinsicht verwenden: einmal als Bedeutung eines Wortes (Wortbedeutung) und zum anderen als Kenntnis, allgemein als Inhalt des gesellschaftlichen Bewußtseins, den sich das Individuum aneignet.
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durcht das Leben des Menschen entstehenden Sinngehalte nicht vollständig in den Bedeutungen verkörpert, die lebensfremde Beziehungen widerspiegeln. Deshalb werden diese Tatbestände nicht adäquat und nicht vollständig bewußt. Um diese Erscheinung zu überwinden, gilt es die objektiven Bedingungen, die sie entstehen lassen, praktisch zu verändern. Das muß immer wieder betont werden. Genauer gesagt: Diese Erscheinung kann nur beseitigt werden, indem sich das Bewußtsein vom realen Leben absetzt oder indem ein aktiver Kampf gegen diese Verhältnisse geführt wird. Der Mensch ist bestrebt, die Desintegration seines Bewußtseins zu überwinden. Er tut das nicht aus abstrakter Liebe zur Wahrheit, sondern aus dem Verlangen nach einem wahren Leben. Dieses Verlangen läßt die Prozesse des Bewußtwerdens, die verborgensten Prozesse des Innenlebens, äußerst dramatisch ablaufen. Es nimmt in den antagonistischen gesellschaftlichen Klassen verschiedene Formen an und hat nicht das gleiche Schicksal. Bei den Vertretern der herrschenden Klasse führt dieses Verlangen dazu, daß der Mensch sich selbst und sein Leben negiert; deshalb kann es auch nicht beständig sein. Es ist machtlos und kann sich höchstens im inneren Erleben realisieren. M. G O R K I schildert die Machtlosigkeit dieses Strebens in seinem Roman » Foma Gordeje w «. Ignat Gordejew lebte nur, um Kapital anzuhäufen. Seine Habgier und Härte überstiegen jedes Maß. Solange er von seinem Werk gefesselt war, begegnete er den Menschen streng und ohne Mitleid. In seiner Jagd nach dem Gelde gönnte er auch sich selbst keine Ruhe. Diese Perioden wechselten mit anderen ab, in denen er sich von allem losriß. Alle Dinge erschienen ihm dann in einem anderen Licht, und er erkannte, daß er nicht Herr, sondern niedrigster Sklave seiner Sache war. Dann erwachte eine andere Seele in ihm. Es hatte den Anschein, als wolle er die Ketten sprengen, die er sich selbst geschmiedet hatte. Doch es fehlte ihm die Kraft, das zu vollbringen. Er veranstaltete Gelage, denen Tage der Buße und Gebete folgten. Für diesen Menschen war es furchtbar zu wissen, er lebe von der Arbeit Tausender von Menschen, und zugleich zu hören, diese Arbeit sei nicht notwendig, sondern sinnlos. Dieses aussichtslose Streben nach einem adäquaten Bewußtsein spiegelt nur die objektive Diskrepanz seiner realen Lebensverhältnisse wider. Psychologisch geht das auf zwei Umstände zurück: Erstens wird der durch die sachlichen Beziehungen, die das Leben des Menschen beherrschen, geschaffene Sinn entstellt. Der zweite Umstand liegt in dem System von Bedeutungen, in der Ideologie, die gerade diese unwahren
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sachlichen Beziehungen widerspiegelt. Ignat Gordejew lebte nur, um Kapital aufzuhäufen, und dieses Streben wirkte sich sogar auf seine innersten Gefühle und Wünsche aus. Er sehnte sich leidenschaftlich nach einem Sohn, aber selbst dieses menschliche Verlangen wirkt bei ihm entartet und versachlicht. »Ich brauche einen Sohn! Verstehst du das? Einen Sohn, der alles erbt. Wer soll sonst nach meinem Tode mein Kapital erben?« rief er in erbitterter Sehnsucht aus. Im entgegengesetzten gesellschaftlichen Lager dagegen ist das Streben nach einem adäquaten Bewußtsein der psychologische Ausdruck für einen echten Lebenswunsch. Dieses Streben widerspricht sich nicht selbst, es negiert nicht den wirklichen Inhalt des menschlichen Lebens, sondern läßt es zu voller Entfaltung kommen. Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktion wird die Arbeit immer mehr im Kollektiv vollzogen; dabei vereinigen sich breite Massen der Werktätigen im Kampf gegen die Bourgeoisie. Unter diesen Lebensumständen des Proletariats bleibt nichts mehr von den Bedingungen zurück, die die herrschenden Verhältnisse in seinem Bewußtsein festhielten. Die letzten Fäden, die die Arbeiter noch an ihre »Brotgeber« banden und den wahren Charakter dieses Verhältnisses verschleierten, werden nun zerrissen. Die herrschenden Verhältnisse und die in ihnen verborgenen Anfänge neuer Beziehungen offenbaren sich dem Arbeiter immer mehr in ihrem wirklichen Sinn. Dieser Sinn wird zunächst noch nicht adäquat erfaßt. Dazu muß er erst verkörpert und in gesellschaftlich erarbeiteten Bedeutungen, die das wirkliche Wesen dieser Verhältnisse widerspiegeln, zum Bewußtsein gelangen. Unter den gegebenen historischen Bedingungen dominier e n daher noch die Bedeutungen - das heißt die Vorstellungen und Ideen die der bürgerlichen Ideologie entsprechen. Sie sind diesem Sinn fremd. Da sie jedoch im Bewußtsein der Massen tief verwurzelt sind, ist ihr neues Bewußtsein zunächst nicht adäquat und »unwahr«. Diese Tatsache ist alles andere als nebensächlich; hinter ihr verbirgt sich das nicht adäquate Leben, denn das Bewußtsein ist ja nicht nur ein »Epiphänomen«, nicht nur eine Nebenerscheinung, sondern eine notwendige Bedingung des Lebens. Deshalb kommt zwangsläufig das Streben auf, diese Diskrepanz zu überwinden. Das Streben nach einem adäquaten Bewußtsein nimmt unter den hier betrachteten historischen Bedingungen bei den arbeitenden Massen eine Form an, die sich grundsätzlich von den Formen unterscheidet, denen wir bei den Ausbeuterklassen begegnen. Die Arbeiter negieren nicht das Leben, dessen Sinn sie durchaus erkennen. Sie verneinen und beseitigen jedoch die inadäquaten Bedeutungen, die die Wirklichkeit entstellt im Bewußtsein widerspiegeln. Durch dieses Streben wird zu-
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gleich der psychologische Boden geschaffen, sich adäquate Bedeutungen, eine adäquate Ideologie anzueignen. Hier entspringt auch die Hinwendung zur sozialistischen Ideologie, zum wissenschaftlichen sozialistischen Bewußtsein. Dafür liegt folgende Ursache vor: Der Sinn der existierenden objektiven Verhältnisse kann im Bewußtsein der Arbeiter zwar noch nicht adäquat realisiert werden, sondern wird zunächst noch unbewußt und instinktiv erfaßt; er realisiert sich jedoch im praktischen Leben, im spontanten Kampf, in der Vereinigung und im Umgang der Arbeiter untereinander. Dieser Sinn, der die wirklichen objektiven Verhältnisse widerspiegelt, veranlaßt zugleich zum Handeln. Die Widersprüche im Bewußtsein äußern sich daher nicht in einer machtlosen Auflehnung gegen sich selbst, sondern in der Empörung gegen eine Ideologie, die im Bewußtsein dominiert; es entsteht das Verlangen nach wahrem Verstehen und Wissen. Dieses Verlangen der Arbeiter, sich von den Fesseln der bürgerlichen Ideologie zu befreien und die Wahrheit zu finden, ist allgemein bekannt; es ist überflüssig, Beispiele dafür anzuführen. Psychologisch betrachtet haben wir es hier mit einem neuen Verhältnis zwischen den von uns hervorgehobenen wichtigsten Komponenten der inneren Bewußtseinsstruktur zu tun, das sich noch im Rahmen der früheren, allgemeinen Bewußtseinsstruktur anbahnt. Es äußert sich in einer neuen Rolle, die die angeeigneten Bedeutungen und Ideen jetzt spielen, es tritt in der Kraft zutage, die diese Bedeutungen und Ideen annehmen können, sobald sie die wirklichen Verhältnisse widerspiegeln. Die Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus spiegeln die wirklichen Verhältnisse wider. Unter den Bedingungen des Kapitalismus bilden sie eine neue, sozialistische Ideologie, die von Menschen geschaffen wurde, die die Wissenschaft beherrschte und den Sinn der Arbeiterbewegung verstand. Welche große Rolle die Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus spielen, hat die marxistische Lehre vom Hineintragen des sozialistischen Bewußtseins in die spontane Arbeiterbewegung erschöpfend dargelegt. Wir wollen nur auf ein sehr wichtiges psychologisches Moment verweisen, das das Bewußtsein auf dieser Etappe seiner historischen Entwicklung kennzeichnet: Zwischen dem Sinn und den ihn verkörpernden Bedeutungen entsteht ein neues Verhältnis, das den Ideen eine besondere Rolle im Leben verleiht. Dieses Verhältnis läßt sich wie folgt charakterisieren: Der Mensch erfaßt den Sinn mit Hilfe dieser neuen Bedeutungen. Dadurch gewinnen auch seine Handlungen neue psychische Züge. Sie erlangen gleichsam wieder die Kraft und Natürlichkeit des Instinkts, behalten jedoch zugleich die Vernunft und Klarheit der Ziele bei, die einer höherentwickelten menschlichen Tätigkeit eigen sind.
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Diese wachsende Kraft stellt die bürgerlichen Psychologen vor ein Rätsel. Dennoch sind sie sich ziemlich klar darüber, daß diese Kraft auf die Verbreitung der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus zurückgeht, und verschärfen deshalb ihren Kampf gegen diese Ideen. Unter bestimmten historischen Bedingungen wird die Kraft, von der wir sprachen, zur historischen Tat, die die Verhältnisse des Privateigentums an den Produktionsmitteln beseitigt und die menschliche Arbeit befreit. Dadurch wird die »Reintegration« des Menschen und seines Bewußtseins erreicht (KARL MARX). Wir stehen am Ubergang zu einerneuen Bewußtseinsstruktur, zum Bewußtsein des sozialistischen Menschen. Als wichtigste psychische Veränderung wandelt sich dabei das Grundverhältnis innerhalb des Bewußtseins, und zwar die Beziehung zwischen Sinn und Bedeutung. Die beiden Glieder dieses Verhältnisses ändern sich jedoch nicht gleich. Infolge der Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln stimmt der objektive Inhalt der menschlichen Tätigkeit wieder mit ihrem subjektiven Inhalt überein: Die menschliche Tätigkeit erhält wieder ihren tatsächlichen Sinn; die Widersprüche und die Diskrepanz zwischen objektivem und subjektivem Inhalt werden beseitigt. Der sozialistische Werktätige beschäftigt sich ebenso wie der Arbeiter in einem kapitalistischen Betrieb zum Beispiel mit Spinnen oder Weben. Für ihn hat jedoch diese Tätigkeit aber auch wirklich den Sinn des Spinnens oder Webens. Das Motiv und das Produkt seines Schaffens stehen einander nicht fremd gegenüber, denn der Arbeiter schafft jetzt nicht für den Ausbeuter, sondern für sich selbst, für seine Klasse, für seine Gesellschaft. Der sozialistische Werktätige erhält ebenfalls seinen Lohn. Die Arbeit hat für ihn also ebenfalls die Bedeutung des Geldverdienens. Das verdiente Geld ist für ihn jedoch nur ein Mittel, einen Teil der Produkte der gesellschaftlichen Produktion für seinen persönlichen Bedarf in Anspruch zu nehmen. Der Sinn der Arbeit verändert sich auch insofern, als sich ihre Motive wandeln. Die neue Motivation ergibt sich aus einer veränderten Einstellung zur Aufgabe, die Arbeitstechnik, die Arbeitsverfahren und Arbeitsoperationen zu beherrschen. Da es sich hier um eine bewußte Einstellung handelt, haben wir es mit einem Verhältnis zwischen dem Sinn der Arbeit und dem entsprechenden Kreis von konkreten Bedeutungen, also von Kenntnissen, zu tun. Diese konkreten Bedeutungen stehen jetzt dem Sinn der Arbeit nicht mehr fremd gegenüber. Ihre Beherrschung ist nicht mehr Vorbedingung für den Verdienst oder mit den Augen des kapitalistischen Unternehmers gesehen - für den Mehrwert, das heißt in beiden Fällen für Ergebnisse, die nichts mit dem Wesen der Produktion und des Produkts zu tun haben. Diese kon-
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kreten Bedeutungen treten dem Menschen nun in ihrem wirklichen und eigentlichen Inhalt gegenüber, nämlich als Voraussetzungen für eine hohe Arbeitsproduktivität. Deshalb ist es verständlich, warum jetzt der Wissensdrang stärker wird. »Von nichts anderem träume ich so viel«, sagte BUSSYGIN auf dem Ersten Unionskongreß der Stachanowarbeiter, »wie vom Lernen.« Das Lernen ist eine unerläßliche Voraussetzung für das Bewußtsein eines neuen Menschen. Der neue Sinn kann sich doch nur in den Bedeutungen realisieren; ein Sinn, der nicht in Bedeutungen, also in Kenntnissen, objektiviert und realisiert ist, wird ja vom Menschen nicht bewußt erfaßt und ist für ihn noch nicht völlig existent. Der neue Sinn der Arbeit verwirklicht sich in der Beherrschung der Arbeitskultur, der intellektuellen Seite der Arbeit. Eine Bewegung wie die Stachanowbewegung, die das Ziel verfolgt, sich die Arbeitskultur schöpferisch anzueignen, und die nur auf der Grundlage der neuen Produktionsverhältnisse möglich ist, hat deshalb entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung des von ihr intellektuell bereicherten menschlichen Bewußtseins. Die Welt der Bedeutungen offenbart sich dem Individuum jetzt völlig anders. Auf der einen Seite eignen sich die Menschen den in den Bedeutungen kristallisierten und widergespiegelten Reichtum der menschlichen Erfahrungen in viel breiterem Umfang an; auf der anderen Seite erlangt dieser Reichtum einen neuen persönlichen Sinn. Alles, was wahr ist, erschließt sich dem Bewußtsein mit besonderer Kraft und entwickelt sich zielstrebig; alles, was imaginär ist, verliert dagegen seinen Sinn und geht unter. Die sich wandelnde Struktur des Bewußtseins ist vor allem durch dieses neue Verhältnis zwischen Sinn und Bedeutung gekennzeichnet, das aber keineswegs eine Rückkehr zur ursprünglichen, einfachen Ubereinstimmung bedeutet. Es ist in seiner Form komplizierter und umfaßt viele wechselseitige Ubergänge beider Komponenten. Indem sich eine Abkehr von früher zu eng gefaßten Sinninhalten vollzieht, wird die Desintegration des Bewußtseins beseitigt. Das menschliche Bewußtsein ist in seiner Struktur wieder integriert. Ist jedoch die Bewußtseinsstruktur damit wirklich psychologisch charakterisiert? Diese Frage kann gestellt werden, weil zur Charakteristik des Bewußtseins, von dem hier die Rede ist, auch dessen ideologischer Gehalt gehört, der an sich, in seinem Verhältnis zu den objektiven Bedingungen, die ihn entstehen lassen, zum gesellschaftlichen Bewußtsein gehört und damit nicht Gegenstand der Psychologie ist. Daraus folgt jedoch nicht, der Psychologe müsse die Rolle der Bedeutungen, Begriffe und Ideen ignorieren und die Abhängigkeit der Besonderheiten des Bewußt-
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seins von ihnen vernachlässigen. Täte er das, dann wäre es ihm nicht möglich, das Bewußtsein konkret-psychologisch zu charakterisieren. Von den Ideen und Ansichten, die sich ein Mensch aneignet, und von deren Verhältnis zu seinem persönlichen Leben hängen nicht nur die allgemeinen Besonderheiten seiner Bewußtseinsstruktur, sondern seine ganze psychische Haltung ab. Da wir hier nur die wichtigsten Etappen der psychischen Widerspiegelung beschrieben haben, können wir auch nur deren allgemeine Formen betrachten und sind nicht in der Lage, genau zu verfolgen, wie sie mit den einzelnen konkreten Besonderheiten des Psychischen, die dabei entstehen, zusammenhängen. Diese allgemeinen Formen liefern jedoch offensichtlich den Schlüssel zum Verständnis elementarer psychischer Prozesse, die sich als Folge der allgemeinen Umgestaltung der Tätigkeit und des Bewußtseins ebenfalls verändern. Wie wir bereits dargelegt haben, gestalten sich die einzelnen Handlungen - sowohl die äußeren, praktischen als auch die inneren, theoretischen - um, indem sie zu Bestandteilen einer neuen Tätigkeit werden, das heißt ein neues Verhältnis realisieren und ein neues Motiv und einen neuen Sinn erlangen. Mit den Handlungen entwickeln sich auch die Verfahren und Operationen und folglich auch die Bedeutungen, in denen sie sich im Bewußtsein niederschlagen. Wie neuere experimentelle Untersuchungen zeigen, ändern sich schließlich auch die elementaren Funktionen in Abhängigkeit von den Operationen, die mit ihrer Hilfe Vollzogen werden. Es sei hier nur an die Empfindungsschwellen erinnert, die sich je nach der Rolle und dem Umfang, den die betreffende Airt der Sensibilität in der Tätigkeit einnimmt, ständig ändern können. Die objektive Abhängigkeit der einzelnen Prozesse von der allgemeinen Struktur des Bewußtseins und der Tätigkeit macht es psychologisch verständlich, warum sich bei uns die menschlichen Eigenschaften und Kräfte täglich ändern, die nicht nur die Drehzahlen der Maschinen um ein Vielfaches zu steigern vermögen, sondern dem Menschen auch ein neues psychisches Gepräge verleihen. Der innere Zusammenhang zwischen der Tatsache, daß sich den Menschen ihre wirkliche Gemeinsamkeit erschließt, die nicht mehr durch ihre sachlichen Beziehungen zueinander entstellt ist, und der Tatsache, daß die früher herrschenden Gefühle durch neue, echt menschliche Gefühle abgelöst werden, ist nicht zu übersehen. Mit den Motiven und dem Sinn entwickeln sich zugleich der Wille und die Gefühle. Eine kühne Tat, die dem Motiv entspringt, andere Menschen zu unterjochen, sich fremdes Gut anzueignen und sich über andere zu erheben, beruht auf völlig anderen psychischen Eigenschaften als eine ebensolche Tat, die der gemeinsamen Sache dienen soll. Den gleichen Unterschied gibt es zwischen Heldentaten, die unter den Be-
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dingungen eines allgemein widersprüchlichen Lebens (und damit gleichsam nur von gewissen Persönlichkeitseigenschaften) vollbracht werden, und ähnlichen Taten, in denen sich die menschliche Persönlichkeit in ihrer natürlichen Ganzheit und Vollständigkeit äußert und in denen sich allein die moralische Stärke und innere Schönheit völlig entfalten können. Ignoriert die Psychologie diese Abhängigkeit einzelner Besonderheiten und Züge des Psychischen von der allgemeinen Eigenart des menschlichen Bewußtseins, die durch die realen Lebensbedingungen bestimmt wird, dann muß sie zwangsläufig die historische Natur dieser psychischen Eigenschaften negieren. In ihrem Bestreben, die psychische Eigenart des Menschen auf seine einzelnen Fähigkeiten und Eigenschaften zurückzuführen, bewegt sie sich in einer Richtung, die dem tatsächlichen Verlauf entgegengesetzt ist. Sie stellt die Verhältnisse genau umgekehrt dar: die Voraussetzung als Ergebnis, die Ursache als Folge. Auch die Motive der menschlichen Tätigkeit werden auf die subjektiven Erlebnisse zurückgeführt, die durch diese Motive erst ausgelöst werden, also auf die Gefühle, Interessen und Neigungen. Wenn die Analyse in der genannten Richtung fortgesetzt wird, findet die Psychologie die Quelle für diese Erlebnisse schließlich in den angeborenen Emotionen und Neigungen sowie in den Besonderheiten der Instinkte. Geht man dagegen von einer historischen Analyse aus, dann zeigt sich recht deutlich, daß die psychischen Eigenschaften des Menschen durch seine realen Beziehungen zur Welt bestimmt werden, die ihrerseits wieder von den objektiven historischen Lebensbedingungen abhängen. Diese Beziehungen lassen auch die Besonderheiten der Bewußtseinsstruktur entstehen, von der sie widergespiegelt werden und die das Psychische in seinem wahren, gesellschaftlichen Wesen charakterisiert. Wir haben uns nicht die Aufgabe gestellt, die konkrete Entwicklungsgeschichte des Menschen genau zu verfolgen. Deshalb haben wir nur einen kurzen Überblick über ihre allgemeinsten historischen Formationen gegeben. Wie jedoch schon daraus erkennbar wird, ist selbst das, was auf den ersten Blick beim Menschen unveränderlich erscheint, in Wirklichkeit nur eine Übergangsetappe in seiner historischen Entwicklung. Wie sich ferner herausstellt, kann das Bewußtsein seine Integration erst in einer grundlegend gewandelten Gesellschaft wiedererlangen; erst dann kann es sich frei und allseitig entfalten. Diese neue psychologische Bewußtseinsstruktur entsteht selbstverständlich nicht spontan mit der Veränderung der Existenzbedingungen. Der Prozeß vollzieht sidi auch nicht kampflos; es bedarf dazu der Erziehung, durch die die sozialistische Ideologie in das Bewußtsein der
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Menschen hineingetragen werden muß. Diese aktive Erziehung neuer psychischer Eigenschaften ist für das Aufkommen eines sozialistischen Bewußtseins unerläßlich. Die Metamorphose des Bewußtseins, die sich dazu vollziehen muß, umfaßt nicht sofort alle Lebensbereiche und alle Beziehungen des Menschen zur objektiven Realität. Wie beim ersten Aufkommen des Bewußtseins erscheint auch hier die ganze Wirklichkeit nicht auf einmal in neuem Lidit; vieles sieht der Mensch so wie früher, weil sich die Bedeutungen, die Vorstellungen und Gedanken nicht von allein und automatisch ändern, sobald sie in den objektiven Bedingungen ihren Boden verlieren. Sie können als Vorurteile noch lange wirksam sein, und es bedarf oft eines hartnäckigen Kampfes, bis sie aus dem Bewußtsein verschwinden. Fassen wir zusammen: Das menschliche Bewußtsein entwickelt sich, indem es sich qualitativ verändert, indem seine früheren Eigenheiten verschwinden und neue Besonderheiten auftauchen. Es entsteht mit dem Aufkommen der Gesellschaft; mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und des Privateigentums entwickelt sich auch seine innere Struktur, wird es zugleich begrenzt und widersprüchlich. Es kommt schließlich eine neue Zeit, die Zeit der kommunistischen Verhältnisse, die auch ein neues Bewußtsein entstehen läßt, dessen große Entfaltungsperspektiven heute kaum vorstellbar sind. *
Zum Abschluß dieses kurzen Abrisses wollen wir einige theoretische Schlußfolgerungen über das prinzipielle Herangehen an das Psychische ziehen. Mit den Fragen, die wir hier erörterten, ist der wichtigste Inhalt der psychischen Entwicklung natürlich noch nicht erschöpft. Wir erheben auch gar keinen Anspruch darauf, in diesem kurzen Abschnitt einen Abriß der Geschichte der psychischen Entwicklung gegeben zu haben. Wir haben uns eher die Aufgabe gestellt, einen Abriß der Theorie der psychischen Entwicklung zu geben oder, genauer gesagt, das Prinzip des historischen Herangehens an das Psychische darzulegen. Wir wollen nachstehend die allgemeinen Ergebnisse unserer Überlegungen anführen: Das traditionelle Herangehen an das Psychische bestand darin, daß man zwischen zweierlei Erscheinungen und Prozessen unterschied. Auf der einen Seite sah man innere Vorgänge, zum Beispiel sinnliche Vorstellungen, Begriffe, emotionale Erlebnisse, Prozesse des Denkens, der Phantasie oder des willkürlichen Gedächtnisses. Alle diese Prozesse und
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Erscheinungen zählte man zum Bereich des Psychischen. In ihrer Gesamtheit stellen sie das dar, was DESCARTES als »Denken« bezeichnet. »Unter dem Denken verstehe ich alles, was wir unmittelbar wahrnehmen und was in unserem Inneren vorgeht. Etwas zu beabsichtigen, zu wünschen, sich vorzustellen oder zu empfinden ist nichts anderes als denken.« 84 Auf der anderen Seite sah man Erscheinungen und Prozesse, die im Gegensatz zu den erstgenannten in der materiellen Welt vorgehen. Man zählte dazu die Vorgänge in der den Menschen umgebenden objektiven Wirklichkeit und die Prozesse in seinem Körper, das heißt die physiologischen Erscheinungen in seinem Organismus. Man bezeichnete die Gesamtheit dieser Erscheinungen und Prozesse als Bereich des Physischen, als »räumliche« Welt. Von diesen zwei Bereichen von Erscheinungen betrachtete man nur den ersten als Gegenstand der Psychologie und glaubte, sie unterschieden sich insofern vom physischen Bereich, als man sie für rein innere Erlebnisse des Subjekts hielt, die keinerlei andere Existenzform hätten. Jede andere Form - nahm man an - müßte sich in der physischen, räumlichen Welt und nicht in der Sphäre des Denkens vollziehen. Geht man an das Psychische unter einer solchen Differenzierung heran, dann vernachlässigt man vollständig die praktische, sinnliche Tätigkeit des Menschen, ohne die, wie KARL MARX betont, die Psychologie nicht zu einer inhaltvollen und reellen Wissenschaft werden kann. Man kann jedoch auch an das Psychische herangehen, indem man sich auf die philosophische Grundlage der Widerspiegelungstheorie stützt. Auch hier wird zunächst eine Differenzierung vorgenommen, und zwar zwischen dem materiellen Subjekt des Lebens und der objektiven Realität, in der das Subjekt lebt und mit der es in materielle Wechselbeziehungen tritt. Mit anderen Worten: Das Subjekt wird der Umwelt nicht wie das FiCHTEsche »Ich« gegenübergestellt, sondern im Zusammenhang mit ihr gesehen. Durch sein Leben, durch seine Lebenstätigkeit ist es real mit dem Objekt verbunden und verwirklicht die wechselseitigen Ubergänge, die sich ursprünglich im einfachen Stoffwechsel äußern. Auf einer bestimmten Entwicklungsstufe im Leben des materiellen Subjekts entstehen spezifische Erscheinungen, die die Eigenschaften der objektiven Realität in ihren Zusammenhängen und Beziehungen abbilden: die psychische Form der Widerspiegelung. Geht man von der Materie des Subjekts aus, dann offenbart sich die psychische Widerspiegelung nur als besonderer Zustand dieser Materie, als Funktion des Gehirns. Geht man von den Beziehungen des Subjekts 84
R . DESCARTES: P r i n c i p i a p h i l o s o p h i a e . 1644.
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zu seiner Umwelt aus, dann ist die psychische Widerspiegelung ein Abbild der objektiven Realität. Es gibt demnach einen realen Prozeß, in dem das Widergespiegelte die Widerspiegelung, das Ideelle (KARL MARX) entstehen läßt. Dieser Vorgang ist auch ein materieller Lebensprozeß des Subjekts, ein Teil seiner Tätigkeit, die es mit der objektiven Realität verbindet. Das Subjekt ist durch seine Tätigkeit praktisch mit der Umwelt verbunden, es wirkt auf sie ein und ordnet sich ihren objektiven Eigenschaften unter. Das ruft Erscheinungen beim Subjekt hervor, die immer adäquatere Widerspiegelungen der Wirklichkeit darstellen. Auf einer relativ späten Entwicklungsstufe des Lebens kann die Tätigkeit interiorisiert werden; sie nimmt dann die Form einer inneren, ideellen Tätigkeit an. Dennoch bleibt sie nach wie vor ein Prozeß, mit dem das Subjekt sein reales Leben verwirklicht, und ist kein »rein« geistiger Vorgang, der der äußeren, praktischen Arbeit entgegengestellt werden kann. Die traditionelle, idealistische Psychologie hielt den Gegensatz zwischen beiden Formen für absolut. Es handelt sich dabei aber nur um einen Ausdruck für die im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung vollzogene Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, die nicht absolut, sondern ebenso wie die ökonomischen Verhältnisse, die sie entstehen ließen, eine historische Übergangsetappe ist. Wir lehnen die dualistische Gegenüberstellung beider Tätigkeitsformen ab und trennen die innere, theoretische nicht von der äußeren, praktischen Arbeit. Es gilt dann allerdings, zwischen eigentlicher Widerspiegelung (ganz gleich, welche Form, beispielsweise die einer Empfindung oder eines Begriffs, sie annimmt) und Tätigkeitsprozessen, darunter auch denen der inneren Tätigkeit, zu differenzieren. Wir trennen damit nicht zwischen innerer und äußerer Tätigkeit, vermengen jedoch auch nicht die Tätigkeitsprozesse mit den Widerspiegelungsvorgängen. Das versetzt uns in die Lage, die idealistische Auffassung zu überwinden, die das Psychische als besonderes Wesen mit einer besonderen Existenz betrachtet, das folglich in den Bestand materieller Prozesse eingehen und mit ihnen zusammenwirken könne. Wir betonen das nachdrücklich, weil die Art und Weise, wie mitunter psychologische Begriffe und Beziehungen ausgedrückt werden, den Stempel dieser idealistischen Auffassung trägt. Wir sagen beispielsweise, in unserem Bewußtsein gehe etwas vor; diese Ausdrucksweise ist nichts anderes als das Festhalten an einer sprachlichen Tradition. Geht man an das Psychische historisch heran, so offenbart sich die reale Geschichte der psychischen Entwicklung als Entwicklungsgeschichte der »Spaltung« des ursprünglich einfachen, einheitlichen Lebens, die die primitive Psyche des Tieres aufkommen ließ und ihren vollen Ausdruck im bewußten Leben des Menschen findet. Diese Geschichte spie-
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gelt, wie wir sahen, die Entwicklungsgeschichte des Lebens wider und unterliegt seinen allgemeinen Gesetzen - auf den ersten Etappen der biologischen Entwicklung den Prinzipien der biologischen Evolution und auf den Etappen der historischen Entwicklung den gesellschaftlichhistorischen Gesetzen. Das historische Herangehen kann nach unserer Meinung die Psychologie zu einer Wissenschaft machen, die sidi nicht von den großen Lebensaufgaben trennt, sondern diese wirklich lösen hilft: Sie trägt dann dazu bei, ein neues Leben aufzubauen, das Leben des befreiten Menschen, das ihn immer höher aufsteigen läßt und in dem er alle seine Fähigkeiten und Eigenschaften harmonisch entwickeln kann.
Über das historische Herangehen an die Untersuchung der menschlichen Psyche 1. Biologistische Theorien in der Psychologie Es gibt heute wohl kaum eine psychologische Untersuchung, die nicht den Einfluß gesellschaftlich-historischer Bedingungen auf das Verhalten und Bewußtsein des Menschen berücksichtigte, die sich gleichzeitig mit diesen Bedingungen ändern. Selbst Forschungen auf engen psychologischen Bereichen können nicht umhin, den Einfluß sozialer Einwirkungen in Betracht zu ziehen. Das tut zum Beispiel jeder Versuchsleiter, der seiner Versuchsperson Instruktionen gibt und die bei ihr ermittelten Daten sprachlich einschätzt. Auf manchen psychologischen Gebieten besteht sogar die Hauptaufgabe darin, die gesellschaftliche Determiniertheit des Psychischen zu untersuchen. Das gilt für Untersuchungen, die sich mit der psychischen Entwicklung des Kindes beschäftigen; das gilt auch für die pädagogische Psychologie, für die Psychologie der Sprache und der sozialen Beziehungen sowie für die Psychologie der Persönlichkeit. Die große allgemeine theoretische Bedeutung der gesellschaftlichen Determiniertheit des Psychischen liegt auf der Hand. Wichtig ist aber auch, wie dieses Problem gelöst wird und welchen prinzipiellen Platz man ihm in einer wissenschaftlichen psychologischen Richtung einräumt. Und in dieser Hinsicht gehen die Ansichten weit auseinander; hier stehen verschiedene theoretische Ausgangspositionen einander gegenüber. Die erste von ihnen geht von dem positivistischen Evolutionismus SPENCERS35 aus, dessen Ideen sich besonders stark auf die pragmatistische amerikanische Psychologie auswirkten.36 Nach dieser Ansicht lebt der Mensch im Gegensatz zum Tier nicht nur in seiner natürlichen, sondern auch in einer »überorganischen«, sozialen Umwelt, die ständig auf ihn wirkt und an die er sich anpassen muß. Dabei bleiben aber die Gesetze und Mechanismen dieser Anpassung, insbesondere der Erwerb persönlicher Erfahrungen, beim Ubergang vom Tier zum Menschen im Prinzip unverändert. Sie werden - wie man annimmt - lediglich komplizierter, indem neue Faktoren, beispielsweise die Sprache und verschiedenHERBERT SPENCER: Grundlagen der Philosophie (First Principles). Stuttgart 1875 - Die Prinzipien der Psychologie (Ine Principles of Psydiology). Bd. 1 u. 2, Stuttgart 1882-1886. 86 Siehe L. P. THORPE und А. M. SCHMULLER: Contemporary Theories of Learning. New York 1954.
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Historisches Herangehen a. d. Untersuchung d. menschlichen Psyche 263, artige soziale Instruktionen, zu wirken beginnen. Bei der Erforschung des Menschen müsse man demnach alle Grundbegriffe der biologischen Evolution beibehalten: den Begriff der Anpassung an die Umwelt und an die Lebensbedingungen, den der Integration und Differenzierung der Organe und Funktionen sowie den der zwei Arten von Erfahrungen - der individuellen und der angeborenen Arterfahrung. Diese Anpassungsprozesse, und zwar sowohl die der Art als auch die des Individuums, werden - wie man glaubt - beim Ubergang vom Tier zum Menschen lediglich in quantitativer Hinsicht komplizierter. Deshalb analysieren die meisten Forscher, die diesen Standpunkt vertreten, zum Beispiel den Erwerb individueller Erfahrungen (learning), indem sie sich gewöhnlich vorbehaltlos auf Tierversuche stützen. Sie legen zwar die Bedeutung dieser Daten unterschiedlich aus, das ändert jedoch nichts an der Art ihres allgemeinen Herangehens. Manche Verfasser 37 ( G U T H R I E ) meinen, der Erwerb individueller Erfahrungen sei beim Menschen und beim Tier gleich; andere sehen im menschlichen Lernen insofern eine Besonderheit, als sich dieser Prozeß mit Hilfe der Sprache vollziehen kann ( S K I N N E R 38), wieder andere räumen immerhin ein, es gebe beim menschlichen Lernen noch einige weitere besondere Faktoren, zu denen beispielsweise der sogenannte Lernwille ( W E L L E R 3 9 ) zähle. Unter den Faktoren, die das Verhalten »vermenschlichen«, wird gewöhnlich der Sprache die entscheidende Bedeutung zugeschrieben. Mit dem Aufkommen der Sprache (sowie des entsprechenden Systems inneren und äußeren sprachlichen Verhaltens) glaubt man die spezifischen menschlichen Fähigkeiten, zum Beispiel die Fähigkeit, sich Ziele zu stecken, seine Handlungen zu planen oder seine Bewegungen zu steuern, erklären zu können. N U T T I N 40 erinnerte allerdings mit Recht vor kurzem daran, T H O R N D I K E habe zu Beginn der Entwicklung des Behaviorismus davor gewarnt, die Sprache einfach dem Verhalten der Tiere hinzuzufügen, um die menschlichen Besonderheiten zu erklären. Der Mensch, schreibt T H O R N D I K E in einer seiner ersten klassischen Arbeiten 41, sei ebensowenig ein Tier, dem man die Sprache hinzugefügt hat, wie der Elefant eine Kuh mit einem Rüssel sei. Das hinderte T H O R N 87
Siehe E. R. GUTHRIE: The Psydiology of Learning, New York 1953. Siehe B. F. SKINNER: Verbal Behavior. New York 1957. Siehe E. R. HILGARD: Theories of Learning. New York 1948; L. P. THORPE und А. M. SCHMULLER: Contemporary Theories of Learning. New York 1954; S . S. STEVENS: Handbook of Experimental Psydiology. New York 1954, S. 517 bis 788. (In den zitierten Arbeiten wird ein Überblick über amerikanische Untersuchungen gegeben, die sich mit dem Problem des Lernens beschäftigen.) 40 Siehe J. N U T T I N : Täche, r&issite et echec. Louvain 1953. 41 E. THORNDIKE: Human Learning. New York 1931. 88
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DIKE allerdings nicht daran, die Ansicht zu vertreten, der Mensch habe lediglich die psychischen Fähigkeiten weiterentwickelt, die auch dem Tier eigen seien, und irgendein beliebiges Verhalten entwickle sich nur insofern, als die Prozesse komplizierter werden, die die Situation mit der Antwortreaktion verbinden; diese Vorgänge seien aber allen Wirbeltieren und sogar niederen Tieren eigen, vom Neunauge bis hinauf zum Menschen. Diese Ansicht, die nicht über die Anpassung des Organismus an die Umwelt hinausgeht, wird in vielen ausländischen Arbeiten selbst auf dem Gebiet der Persönlichkeitspsychologie beibehalten. Man betrachtet die menschliche Persönlichkeit als Produkt der Integration aller Anpassungsakte an die physische, vor allem aber an die soziale Umwelt, als Produkt interkorrelativer Verbindungen, die ein ganzheitliches System bilden und die im Daseinskampf entstehen. Dieses Herangehen an die Persönlichkeit läßt sich mit kurzen Worten wie folgt formulieren: Gegenstand der Untersuchung in der Persönlichkeitspsychologie ist der individuelle menschliche Organismus, der als »Geschichte seiner Anpassungen« angesehen wird. 42 Die Beziehungen der Menschen innerhalb der Gesellschaft werden dabei analog zu den Beziehungen der Tiere zu ihrer Umwelt, das heißt biologistisch, betrachtet. Mit dieser Art des Herangehens wird erkenntnistheoretisch der pragmatistische Standpunkt begründet. Führt man das menschliche Dasein tatsächlich auf Akte zurück, deren einziges Ziel die Lebenserhaltung ist, dann muß man als Grundlage für das menschliche Verhalten und die menschliche Erkenntnis die Nützlichkeit für das Subjekt ansehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist dann der Erfolg, der positive Effekt das einzige Kriterium für ein adäquates und richtiges Verhalten: Richtig und wahr ist alles, was zum Erfolg führt. Dies ist die Hauptthese jeglichen Pragmatismus. Der Versuch, biologische Wechselbeziehungen auf den Menschen zu übertragen, führt damit zwangsläufig zum Utilitarismus oder Pragmatismus. Und in der Tat sind alle Tiere insofern gleichsam »praktische Pragmatisten«, als es für die Steuerung ihres Verhaltens keine andere Grundlage als den biologischen Nutzen gibt. Für sie existieren die Probleme nicht, die vor dem Menschen und vor der Gesellschaft stehen. Das biologistische Herangehen macht es nicht nur unmöglich, die wirkliche Eigenart der psychischen Tätigkeit und des menschlichen Bewußtseins wissenschaftlich zu erklären, sondern es festigt auch retrospektiv die falschen Anschauungen in der Biologie. Kehrt man vom menschlichen Verhalten, dessen Besonderheiten bei dieser Art des Her42
H. A. MURRAY (editor): Explorations in Personality. 1938.
Historisches Herangehen a. d. Untersuchung d. menschlichen Psyche 265 angehens unberücksichtigt bleiben, zum Verhalten des Tieres zurück, dann festigt man in der Biologie zwangsläufig die Idee von einem unerkennbaren Entwicklungsbeginn. Es werden jetzt gleichsam von oben in der Evolutionstheorie die metaphysischen idealistischen Konzeptionen unterstützt, die entweder eine geheimnisvolle Bewegung der Neuronenfortsätze, eine Entelechie, eine universelle Tendenz zur »guten Form« oder schließlich ewig wirksame Triebe postulieren.
2. Die soziologische Richtung in der Psychologie Grundsätzlich anders wird dagegen unser Problem in psychologischen Arbeiten behandelt, die den Menschen in erster Linie als soziales Wesen betrachten und seine psychischen Besonderheiten aus der Geschichte der Gesellschaft zu erklären versuchen. Im Gegensatz zur biologistischen sprechen wir hier von einer soziologischen Richtung in der Psychologie. Diese Richtung wird im Ausland vor allem in der französischen wissenschaftlichen Literatur vertreten. Sie geht von der Auffassung aus, die menschliche Natur bilde sich in der Gesellschaft, die Gesellschaft sei folglich das Prinzip, aus dem sich das Individuum erklären lasse.48 Unterschiede gibt es lediglich in der Auffassung über die Entwicklung der Gesellschaft; diese Ansicht ist aber bei den meisten ausländischen Verfassern idealistisch. Daraus resultieren auch verschiedenartige Ansichten von der »Sozialisation« des Individuums. D Ü R K 45 HEIM 4 4 , H A L B W A C H S und andere Autoren stellen sich - ihren soziologischen Anschauungen entsprechend - diesen Prozeß als Ergebnis des geistigen, sprachlichen Umgangs mit den Mitmenschen, als Resultat des Erwerbs gesellschaftlicher »Konzepte« und »kollektiver Vorstellungen« vor. In den Arbeiten dieser und anderer Verfasser wird die Gesellschaft vor allem als bewußte Einwirkung und das Individuum mehr in seinem Kontakt mit der Umwelt und weniger in seinen praktischen Handlungen dargestellt. Dennoch liefern die Autoren, die diese Linie verfolgen, einen bedeutenden, oft nicht genügend gewürdigten Beitrag zur Psydiologie. Das gilt insbesondere für die Probleme, die mit der Entwicklung sozialer Formen des menschlichen Gedächtnisses und der Zeitvorstellungen, mit der Entwicklung des logischen Denkens im Zusammenhang mit der Entwicklung der Sprache, mit dem Ursprung höherer Gefühle 43
44 45
G. DUMAS: Тгакё de psydiologie. Bd. II, Paris 1924, S. 766. E. DÜRKHEIM: Les r£gles de la m£thode sociologique. Paris 1895. M. HALBWACHS: Les cadres sociaux de la шёшоке. Paris 1925.
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und des sogenannten sozialen Verhaltens, sowie mit verschiedenen Bräuchen und Zeremonien zusammenhängen ( J A N E T 4 6 ) . Unter dem uns interessierenden Gesichtspunkt halte ich die Untersuchungen von PIAGET 47, die sich mit der psychischen Entwicklung des Kindes beschäftigen, in zweierlei Hinsicht für bedeutsam. Auf der einen Seite behält der Autor in seiner eigenen Entwicklungstheorie solche Grundbegriffe wie »Assimilation«, »Akkommodation« und »Organisation« bei; auf der anderen Seite vertritt er den Standpunkt, die psychische Entwicklung ergebe sich aus der Entwicklung der individuellen Beziehungen zu den Mitmenschen, also zur Gesellschaft, und diese Beziehungen gestalteten die Strukturen der Erkenntnisprozesse, die dem Kinde ursprünglich eigen sind, um. So betrachtet PIAGET das Entstehen zusammenhängender Systeme intellektueller Operationen die wichtigste Etappe in der Entwicklung der kindlichen Logik - als Produkt der unter den Bedingungen des sozialen Lebens entstandenen und auf die innere Ebene übertragenen Kooperation. Ein Individuum, schreibt PIAGET, das nicht mit anderen Menschen zusammenarbeitet, wäre nicht in der Lage, seine Operationen zu einem zusammenhängenden Ganzen zu gruppieren. Infolge der »Zweigleisigkeit« seiner Auffassungen gerät PIAGET jedoch in ernsthafte Schwierigkeiten. Eine von ihnen äußert sich insofern, als die soziale Transformation, von der wir soeben sprachen, erst auf relativ späten Entwicklungsetappen zutage tritt und nur für höhere Prozesse gilt. Die von uns zitierten und viele weitere ausländische Arbeiten, in denen das gesellschaftliche, historische Wesen der psychischen Eigenschaften und Fähigkeiten analysiert wird, enthalten durchaus progressive, materialistische Tendenzen. In ihnen wird das Soziale im Menschen nicht losgelöst von seinen natürlichen Besonderheiten und seiner neurologisdb^physiologischen Organisation betrachtet, sondern als Entwicklungsprodukt des materiellen Subjekts aufgefaßt, das in der Einheit seiner körperlichen und psychischen Eigenschaften gesehen wird. Diese Tendenz zeigt sich besonders deutlich in den Arbeiten des französischen Psychologen H . WALLON und seiner Schüler.48 Darüber hinaus Versucht man, den abstrakten idealistischen Soziologismus in der histo46
Siehe P. JANET: Revolution de la memoire et de la notion du temps. Paris 1928; Ebenderselbe: Revolution psychologique de la personnaliti. Paris 1929. J. PIAGET: La formation du symbole diez Penfant. Paris 1945; Ebenderselbe: Psychologie de Pintelligence. Neuchatel-Paris 1947. - Deutsch: Psychologie der Intelligenz. Zürich 1948; Ebenderselbe: De la logique de Penfant ä, la logique de Padolescent. Paris 1955; Ebenderselbe: L'organique et le sociale chez l'homme. »Scientia«, 1953. 48 H . WALLON: Vom Handeln zum Denken. Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1956. 47
Historisches Herangehen a. d. Untersuchung d. menschlichen Psyche 267, risdien Betrachtung des Psychischen zu überwinden. Die Autoren solcher Arbeiten fassen die Gesellschaft materialistisch auf und unterstreichen den konkreten und dynamischen Charakter der psychischen Tätigkeit des Menschen.49 Nicht minder wichtig ist auch der Versuch, die Lehre von der Rolle der Arbeit in die moderne historische Richtung in der Psychologie hineinzutragen. Die Arbeit gestaltet die äußere Natur um und schafft eine Welt materieller und geistiger menschlicher Objekte; zugleich wandelt die Arbeit die Natur des Menschen und bringt das menschliche Bewußtsein hervor ( M E Y E R S O N 5 0 ) . Beide Richtungen - die biologistische und die soziologische - in den modernen ausländischen Arbeiten trennen jedoch nach wie vor die Psychologie in zwei Gebiete: Ein Teil wird den anatomisdi-physiologischen Forschungen, der andere der Soziologie vorbehalten. Man stellt deshalb auch heute noch die experimentelle und physiologische der theoretischen und metaphysischen, die erklärende der beschreibenden sowie die Verhaltenspsychologie der subjektiv-phänomenologischen Psychologie gegenüber. Diese Trennung ist allerdings nur relativ; obwohl man an die Untersuchungen unter verschiedenen Gesichtspunkten und von verschiedenen Seiten heranging, gelangte man zu den gleichen psychischen Erscheinungen. Damit wurde objektiv die Möglichkeit geschaffen, die Spaltung der Psychologie zu beseitigen. Es bedarf jedoch noch eingehender theoretischer Arbeit, um diese Aufgabe zu lösen. Weder der mechanistische Materialismus noch der Idealismus sind in der Lage, den psychologischen Untersuchungen die Richtung zur einheitlichen Wissenschaft vom psychischen Leben des Menschen zu geben. Dieses Vorhaben läßt sich nur auf der Grundlage einer philosophischen Weltanschauung bewältigen, die die Erscheinungen in der Natur und in der Gesellschaft materialistisch erklärt. Diese Weltanschauung kann nur die Philosophie des dialektischen Materialismus sein.
49
Siehe J. POLLITZER: Critique des fondements de la psychologie contemporaine. 1947. 50 Siehe I. MEYERSON: Themes nouveaux de la psychologie objective. »Journal de psychologie normale et pathologique«, 1954; Ebenderselbe: Le travail, fonction psychologique. »Le travail, les metiers, l'emploi«, 1955.
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Probleme der Entwicklung des Psychischen 3. Die Entwicklung des historischen Herangehens in der so wjetisichen Psychologie
Die sowjetischen Psychologen stellten sich von Anfang an die Aufgabe, die Psychologie auf der Grundlage des dialektischen Materialismus aufzubauen. Sie erkannten die Bedeutung der gesellschaftlich-historischen Determiniertheit der menschlichen Psyche. Schon in den ersten sowjetischen Arbeiten wird deshalb das Psychische als Funktionseigenschaft eines materiellen Organs - des Gehirns - und als Widerspiegelung der objektiven Realität betrachtet; zugleich wird nachdrücklich auf die Rolle der gesellschaftlichen Umwelt und auf die konkret-historische, klassenmäßige Bedingtheit des Psychischen hingewiesen.51 Die sowjetische Wissenschaft hat sich komplizierte Aufgaben gestellt, mit dem Ziel, eine marxistische Psychologie aufzubauen. Diese Aufgabe kann nur in langer und systematischer Arbeit gelöst werden. Die ersten Versuche der sowjetischen Psychologie richteten sich zunächst darauf, allgemeinste Prinzipien einer materialistischen Auffassung vom Psychischen aufzustellen und sich mit der idealistischen Richtung in der Psychologie kritisch auseinanderzusetzen.52 In den Arbeiten dieser Periode wird häufig das Problem der sozialen Determiniertheit des menschlichen Verhaltens angeschnitten. KORNILOW, der zu dieser Zeit das Reiz-Reaktion-Problem noch in den Vordergund stellte, schrieb im Jahre 1924: »Wir wollen nicht von der Individualzur Sozialpsychologie schreiten, sondern sollten die entgegengesetzte Richtung einschlagen.« - »Nur auf der Grundlage der gesellschaftlichen Triebkräfte wird die Individualpsychologie verständlich, mit der sich die empirische Psychologie beschäftigt.« Er warnte entschieden davor, in der Psychologie die Allmacht der naturwissenschaftlichen Methode anzuerkennen.58 Das wichtigste methodologische Problem - das einheitliche Herangehen an die Untersuchung der menschlichen Psyche - blieb jedoch ungelöst. Das zeigte sich recht deutlich in dem im Jahre 1926 erschienenen Lehrbuch von KORNILOW.54 Er spricht darin von zwei Fak51 А. A. SMIRNOW: 40 Jahre sowjetische Psychologie. »Woprossy psichologii«, H. 5/1957 (russ.). 62 Р. P. BLONSKI: Abriß der wissenschaftlichen Psychologie. Moskau 1921 (russ.); K. N. KORNILOW: Die moderne Psychologie und der Marxismus. GIS, Leningrad 1924 (russ.). 58 K. N. KORNILOW: Psychologie und Marxismus. In: Sammelband »Psychologie und Marxismus«, GIS, Moskau 1925 (russ.); L. S. WYGOTSKI: Die Psychologie und die Lehre von der Lokalisation. Thesen des 1. Gesamtukrainischen Psydioneurologisdien Kongresses. Charkow 1934 (russ.). 64 Siehe K . N. KORNILOW: Psychologielehrbuch auf der Grundlage des dialektischen Materialismus. Leningrad 1926 (russ.).
Historisches Herangehena.d. Untersuchung d. menschlichen Psyche 269, toren - dem biologischen und dem sozialen die das menschliche Verhalten bestimmen, und beschreibt nicht nur elementare Reaktionen, sondern charakterisiert zügleich Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Klassen. Die Arbeiten W Y G O T S K I S leiteten mit dem Versuch, das Problem der gesellschaftlich-historischen Determiniertheit der menschlichen Psyche zu klären, eine neue Etappe in der sowjetischen Psychologie ein. WYGOTSKI vertrat 1927 in der Sowjetunion erstmalig den Standpunkt, man müsse sich vom Prinzip des historischen Herangehens leiten lassen, um eine Psychologie des Menschen aufzubauen. Er setzte sich theoretisch mit biologistischen und naturalistischen Konzeptionen auseinander und stellte ihnen seine Theorie von der kulturhistorischen Entwicklung gegenüber. Sein Gedanke, die menschliche Psyche sei historisch bedingt, seine Idee von der Umbildung der natürlichen Mechanismen der psychischen Prozesse im Laufe der gesellschaftlich-historischen Entwicklung in der Ontogenese leitete ihn - und das war das wichtigste auch bei seinen konkreten psychologischen Untersuchungen. W Y G O T S K I führte die erwähnte Umbildung darauf zurück, daß sich das Individuum während seines Umgangs mit anderen Menschen die Produkte der menschlichen Kultur aneignet. W Y G O T S K I ging in seinen Forschungen von zwei Hypothesen aus: Er nahm erstens an, daß die psychischen Funktionen des Menschen mittelbaren Charakter hätten. Zweitens meinte er, die inneren geistigen Prozesse entwickelten sich aus einer zunächst äußeren, »interpsychischen« Tätigkeit. Nach der ersten Hypothese entstehen die spezifischen Besonderheiten des Psychischen, indem sich die unmittelbaren, »natürlichen« Prozesse in mittelbare Vorgänge umwandeln, sobald sich ein Zwischenglied (Stimulus) in das Verhalten einschaltet. Dadurch vereinigen sich im Gehirn die einfachen Elemente zu einer neuen »Einheit«. Es entsteht ein ganzheitlicher Prozeß nach dem Schema
А
В
А - В symbolisiert den mittelbaren Prozeß, А - X und X - В sind Symbole für elementare Verbindungen, die sich in der gleichen Art bilden, wie sich gewöhnliche bedingte Reflexe schließen. Beim mittelbaren Einprägen zum Beispiel werden die sich schließenden elementaren Verbindungen mit Hilfe des mnemotechnischen Zeichens X strukturell vereinigt; in anderen Fällen übernimmt ein Wort diese Rolle.55
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Probleme der Entwicklung des Psychischen
W Y G O T S K I sah die Eigenart der menschlichen psychischen Tätigkeit im Vergleich zu der des Tieres nicht nur darin, daß sie quantitativ komplizierter wird und sich der durch sie widergespiegelte Inhalt verändert, sondern vor allem in der Wandlung ihrer Struktur. Prinzipielle Bedeutung hatte auch die zweite von W Y G O T S K I aufgestellte Hypothese, nach der sich die mittelbare Struktur des psychischen Prozesses zunächst unter Bedingungen bildet, in denen das vermittelnde Glied als Außenreiz und der entsprechende Prozeß als äußerer Vorgang auftritt. Dieser Standpunkt erlaubte es, den sozialen Ursprung der neuen Struktur zu begreifen, die nicht von innen heraus entsteht und nicht willkürlich geschaffen wird, sondern sich zwangsläufig während des beim Menschen stets mittelbaren - Umgangs bildet. Das willkürliche »Ingangsetzen« einer Handlung wird zunächst durch ein äußeres Signal vermittelt, mit dessen Hilfe ein anderer Mensch auf das Verhalten des Individuums einwirkt, das die Handlung vollziehen soll. Auf dieser Etappe kennzeichnet die mittelbare Struktur nicht den Prozeß, der vom handelnden Subjekt vollzogen wird, sondern einen »interpsychischen«, das heißt einen Gesamtvorgang, an dem sowohl derjenige beteiligt ist, der mit dem Handlungsvollzug darauf reagiert, als auch derjenige, der das Signal dazu gibt. Später wird das auslösende Signal in analogen Situationen vom handelnden Subjekt selbst produziert (Selbstkommando); der »intrapsychische« Prozeß, der von einem einzigen Menschen vollzogen wird, nimmt mittelbaren Charakter an. Es bildet sich die elementare Struktur eines Willensaktes. Mit anderen Worten: Die mittelbare Struktur psychischer Prozesse ergibt sich überall dort, wo sich das Individuum Verhaltensformen aneignet, die sich zunächst als Formen unmittelbaren sozialen Verhaltens bildeten. Dabei eignet sich der Mensch das Glied (das stimulierende Mittel) an, das den gegebenen Prozeß vermittelt. Es kann sich um gegenständliche Mittel (Werkzeuge), um gesellschaftlich erarbeitete verbale Begriffe oder um irgendwelche anderen Zeichen handeln. Damit wird in die Psychologie eine wichtige Auffassung eingeführt: Der Grundmechanismus der psychischen Entwicklung des Menschen ist der Mechanismus der Aneignung sozialer, gesellschaftlich ausgebildeter Formen und Arten der Tätigkeit. Da die Tätigkeit dabei nur in ihrem äußeren Ausdruck vollzogen werden kann, nahm man an, die zunächst in äußerer Form angeeigneten Prozesse wandelten sich später in innere, geistige Vorgänge um. Die von W Y G O T S K I entwickelten Ideen stellen allerdings kein abge55
L. S. WYGOTSKI: The Problem of the Cultural Development of the Child. »Journal of Genetic Psychology«, H. 3/1929.
Historisches Herangehen a. d. Untersuchung d. menschlichen Psyche 271, schlossenes psychologisches System dar. Er zeigte, wie man an das Problem heranzugehen habe, löste es aber nicht.56 Einen zweiten Aspekt des historischen Prinzips lieferten die Erörterungen zum Problem des Bewußtseins und der Tätigkeit. Sie entsprangen unmittelbar den Ansichten von K A R L M A R X über die Veränderung der menschlichen Natur durch die Entwicklung der materiellen und geistigen Tätigkeit der Gesellschaft. Grundlegend wurde ein Artikel von R U B I N S T E I N , der sich mit psychologischen Problemen in den Arbeiten von K A R L M A R X beschäftigte.57 Leider wurde ihm nicht die Beachtung geschenkt, die ihm gebührte.58 In einer weiteren Arbeit ging R U B I N S T E I N von dem bekannten Ausspruch K A R L M A R X ' aus, das gewordene gegenständliche Dasein der Industrie sei die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie, und leitete daraus den Standpunkt ab, die Psychologie müsse die psychischen Besonderheiten der Tätigkeit untersuchen und sich sowohl mit dem Verhalten als auch mit der Tätigkeit beschäftigen.59 Diese Formulierung wurde später von R U B I N S T E I N geändert. In einer 1 9 4 0 erschienenen Arbeit behauptete er, die Psychologie untersuchte nicht das Psychische, und die Tätigkeit, sondern das Psychische in der Tätigkeit. Jede Psychologie, meinte er, die wisse, was sie tut, untersuche ausschließlich das Psychische.60 In seinen späteren Arbeiten gab der Verfasser wiederholt Erklärungen, die der Möglichkeit vorbeugen sollten, seinen Standpunkt primitiv auszulegen.61 Trotzdem wurden diese oft so falsch gedeutet, daß sie ihren prinzipiellen, ursprünglichen Sinn fast ganz verloren. Man unterschob R U B I N S T E I N die grundsätzlich andere Auffassung, die psychischen Prozesse äußerten sich in der Tätigkeit und hingen von ihr ab. Diese 56
Eine eingehende Analyse und Einschätzung der Arbeiten L . S. WYGOTSKIS findet sich in der Einleitung von A. N. LEONTJEW und A. R. LURIJA zur letzten Auflage des Werkes des sowjetischen Psychologen ( L . S. WYGOTSKI: Gesammelte psychologische Untersuchungen. Verlag der APW der RSFSR, Moskau 1956 [russ.]) sowie in dem Artikel »L. S. Wygotski« von A. N. LEONTJEW (»Sowremennaja psichonewrologija«, H. 6/1934 [russ.]). 57 S . L . RUBINSTEIN: Psychologische Probleme in den Arbeiten von Karl Marx. »Psichotechnika«, 1934. 58 Soviel mir bekannt ist, wurde die prinzipielle Bedeutung dieser Arbeit nur in einem historischen Überblick (В. M. TEPLOW: 30 Jahre sowjetische Psychologie. Moskau 1947 [russ.]) gewürdigt. 59 S . L . RUBINSTEIN: Grundlagen der Psychologie. Utsdipedgis, Moskau 1 9 3 5 (russ.). 60 Ebenderselbe: Gedanken über die Psychologie. »Wissenschaftliche Schriften des Leningrader Staatlichen Pädagogischen Instituts >A. I. Herzenfertigen< Menschen, verläuft die Arbeitstätigkeit ohne jegliche Beziehung zum morphologischen Fortschritt.« 70 68 F . TILNEY: The Brain from А Р Е to Man. Bd. 2 , 1 9 2 8 . M . F . NESTURCH: Der Ursprung des Menschen. Moskau 1958 (russ.). 69 Wie ROGINSKI betont, geht es hier um verschiedene auf verschiedenen Sphären wirkende Gesetze und nicht um vermischte bio-soziale Gesetze. (J. J. ROGINSKI und M. G. LEWIN: Grundlagen der Anthropologie. Moskau 1 9 5 5 , S. 316 [russ.]). 70 Ebenda, S. 319 (russ.).
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Probleme der Entwicklung des Psychischen
Seit dem Cromagnonmenschen, das heißt dem Menschen im eigentlichen Sinne, verfügen die Individuen über alle morphologischen Eigenschaften für die weitere unbegrenzte gesellschaftlich-historische Entwicklung, bei der es keiner Veränderung der vererbten Natur mehr bedarf. Das bestätigt auch die Entwicklung seit Zehntausenden von Jahren, die uns von den ersten Vertretern der Art homo sapiens trennen: Auf der einen Seite verändern sich die Lebensbedingungen und Lebensweise einschneidend und immer schneller, während die morphologischen Besonderheiten der Menschenart konstant bleiben; Veränderungen auf diesem Gebiet gehen nicht über den Rahmen von Varianten hinaus, die im Hinblick auf die soziale Anpassung keine wesentliche Bedeutung haben.11 Bedeutet das jedoch, auf der Stufe des Menschen höre jede phylogenetische Entwicklung auf? Bedeutet das, die Natur des Menschen verändere sich nicht mehr, nachdem sie sich einmal gebildet hat? Bejaht man diese Fragen, dann müßte man auch annehmen, die Fähigkeiten und Funktionen, die dem heute lebenden Menschen eigen sind, beispielsweise das feine phonematische Gehör oder die Fähigkeit, logisch zu denken, seien ausschließlich Produkte ontogenetischer funktioneller Veränderungen (A. N. SEWERZOW) und hingen nicht von den Entwicklungsergebnissen der Art, von den Entwicklungsergebnissen vorangegangener Generationen ab. Eine solche Annahme ist untragbar, das liegt auf der Hand. Die Möglichkeit, sich beispielsweise mit Hilfe der Sprache zu verständigen, oder die Fähigkeit, Werkzeuge zu gebrauchen, werden von Generation zu Generation vererbt und stellen in diesem Sinne Eigenschaften der menschlichen Art dar. Ein Individuum, bei dem sich im Laufe der Ontogenese aus irgendwelchen Gründen solche Eigenschaften nicht bilden (wie beispielsweise bei Kaspar Hauser, der hin und wieder in der Literatur zitiert wird), repräsentiert nicht die Züge des heutigen Menschen, so wenig er sich auch in seinen morphologischen Merkmalen von ihm unterscheiden mag. Der Mensch realisiert im Laufe seiner Ontogenese zwangsläufig die Errungenschaften seiner Art, darunter auch diejenigen, die sich im Laufe der gesellschaftlich-historischen Ära gebildet haben. Die Form, 71
Der relative Stillstand in der Morphogenese bedeutet selbstverständlich nicht, daß die Gesetze der biologischen Veränderlichkeit und Vererbung beim Menschen zu wirken aufgehört hätten. Unwirksam bleibt nur die Auslese im Kampf ums Dasein. »Die Lehre vom Kampf ums Dasein«, schreibt TIMIRJASEW, »macht an der Schwelle des Kulturzeitalters halt. Die gesamte vernünf-
tige Tätigkeit des Menschen ist ein einziger Kampf - gegen den Kampf ums Dasein.« ( К . A . TIMIRJASEW: Die historische Methode in der Biologie. Kap. X . In: Ausgewählte Werke, Bd. II, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1954, S. 484.)
Historisches Herangebena,d. Untersuchung d. menschlichen Psyche 279 in der die Errungenschaften der gesellschaftlich-historischen Entwicklung der Menschheit gesammelt und fixiert werden, unterscheidet sidi jedoch grundsätzlich von der biologischen Form, in der phylogenetische Eigenschaften gesammelt und fixiert werden. Und es gibt audi grundsätzliche Unterschiede in der Form, in der die Ergebnisse der historischen Entwicklung der Menschheit von einzelnen Individuen überliefert werden. Das Problem, in welchem Verhältnis die Eigenschaften der Art und die des Individuums zueinander stehen, gibt es demnach auch auf der Stufe des Menschen; es hat jedoch einen völlig anderen Inhalt. Wir wollen nachstehend die Besonderheiten dieses Verhältnisses näher betrachten. 6. Die Aneignung der gesellschaftlich-historischen Erfahrung durch den Menschen Die Menschheit hat im Laufe ihrer Geschichte große geistige Kräfte und Fähigkeiten entwickelt. Die Zehntausende von Jahren der gesellschaftlichen Geschichte lieferten in dieser Hinsicht viel mehr als die Millionen von Jahren der biologischen Evolution. Die Errungenschaften der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften wurden gesammelt, indem sie von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Dazu mußten sie auch fixiert werden. Wie wir bereits darlegten, wurden sie in der Ära der Herrschaft sozialer Gesetze nicht in morphologischen Besonderheiten und nicht in Form erblicher Veränderungen fixiert. Sie festigten sich in einer besonderen, und zwar in einer äußeren Form. Diese neue Form, phylogenetische Erfahrungen zu sammeln, wurde beim Menschen möglich, weil seine Tätigkeit im Gegensatz zu der der Tiere produktiven Charakter hat. Wir sprechen hier von der Haupttätigkeit des Menschen - der Arbeit. Die Arbeit, mit deren Hilfe die Produktion (in ihren beiden Formen - in der materiellen und geistigen) vollzogen wird, fixiert sich in ihrem Produkt. K A R L M A R X schreibt in diesem Zusammenhang: »Was auf seiten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als ruhende Eigenschaft, in der Form des Seins, auf seiten des Produkts.« 72 Die Umwandlung der Arbeit aus einer Tätigkeitsform in eine Form des Seins (eine gegenständliche Form) läßt sich von verschiedenen Sei86
KARL MARX/FRIEDRICH ENGELS:Werke,Ergbd.I,Dietz
S.539f.
Verlag, Berlin 1968,
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ten her und in verschiedener Hinsicht betrachten. Man kann sie im Hinblick auf das Verhältnis zwischen der eingesetzten Kraft und der Menge des Produkts analysieren und dabei von ihrem konkreten Inhalt absehen. Wir können aber auch den Inhalt der Arbeit und die Beziehungen der produzierenden Individuen zu ihm betrachten und dabei von anderen Verhältnissen und Bereichen abstrahieren. In diesem Falle offenbart sich die erwähnte Umwandlung als Verkörperung und Vergegenständlichung geistiger Kräfte und Fähigkeiten in den Arbeitsprodukten. Die Geschichte der geistigen und materiellen Kultur erschließt sich dann als ein Prozeß, der in äußerer, materialisierter Form die Entwicklungsgeschichte menschlicher Fähigkeiten ausdrückt. Unter diesem Gesichtspunkt kann man jeden Schritt, der beispielsweise in der Vervollkommnung und Präzisierung der Werkzeuge getan wurde, als Ausdruck eines bestimmten Entwicklungsniveaus psychomotorischer Funktionen der Menschenhand betrachten; die komplizierte Phonetik der Sprachen erscheint dann als Ausdruck für höher entwickelte Artikulation und ein besseres phonematisches Gehör; die Vervollkommnung dts künstlerischen Schaffens zeugt von der ästhetischen Entwicklung der Menschheit. Selbst in den einfachsten produzierten Dingen haben wir vergegenständlichte menschliche Fähigkeiten, haben wir die »Wesenskräfte des Menschen« vor uns. Es geht hier - das sei besonders betont - um psychische Fähigkeiten der Menschen. Der Komplex von Fähigkeiten, die das Individuum bei der Arbeit einsetzt und die im Arbeitsprodukt fixiert werden, muß natürlich auch körperliche Kräfte und Fähigkeiten umfassen, die jedoch die spezifische Seite menschlicher Arbeit, die ihren psychologischen Inhalt ausdrückt, lediglich praktisch realisieren. Deshalb bezeichnet K A R L M A R X das gegenständliche Sein der Produktion als Psychologie, die sich unseren Sinnen darbietet. Er schreibt weiter in diesem Zusammenhang: »Eine Psychologie, für welche dies Buch, also grade der sinnlich gegenwärtigste, zugänglichste Teil der Geschichte zugeschlagen ist, kann nicht zur wirklichen inhaltsvollen und reellen Wissenschaft werden.« 73 , Dieser Gedanke von K A R L M A R X ist in der psychologischen Literatur wiederholt zitiert worden. Er wurde jedoch gewöhnlich nur in engerem, vor allem historischem, genetischem Sinne aufgefaßt. In Wirklichkeit ist er für die wissenschaftliche Psychologie von allgemeinerer, ja entscheidender Bedeutung; um sie völlig zu erschließen, muß man allerdings nicht nur die Vergegenständlichung, sondern auch die Aneignung menschlicher Fähigkeiten durch das Individuum betrachten. 73
KARL MARX/FRIEDRICH ENGELS:
S. 543.
Werke. Ergbd. I, Dietz Verlag, Berlin
1968,
Historisches Herangehen a. d. Untersuchung d. menschlichen Psyche 281 Im Laufe seiner Ontogenese 74 tritt der Mensdi in besondere Beziehungen zu der Welt der Dinge find Erscheinungen, die von den früheren Generationen geschaffen worden sind. Die Spezifik dieser Beziehungen wird auf der einen Seite vom Wesen dieser Gegenstände und Erscheir nungen bestimmt. Auf der anderen Seite hängt sie von den Bedingungen ab, unter denen sich diese Beziehungen bilden. Die tatsächliche Umwelt, die das menschliche Leben am meisten bestimmt, ist eine Welt, die durch die menschliche Tätigkeit umgewandelt wurde. Als eine Welt gesellschaftlicher Gegenstände, die die im Laufe der gesellschaftlich-historischen Praxis gebildeten menschlichen Fähigkeiten verkörpern, wird sie dem Individuum nicht unmittelbar gegeben; in diesen Eigenschaften offenbart sie sich jedem einzelnen Menschen als Aufgabe. Selbst die einfachsten Werkzeuge und Gegenstände des täglichen Bedarfs, denen das Kind begegnet, müssen von ihm in ihrer spezifischen Qualität erschlossen werden. Mit anderen Worten: Das Kind muß aii diesen Dingen eine praktische oder kognitive Tätigkeit vollziehen, die der in ihnen verkörperten menschlichen Tätigkeit adäquat (obwohl natürlich mit ihr nicht identisch) ist. In welchem Maße das gelingt und wie weit sich dem Kinde dabei die Bedeutung des gegebenen Gegenstandes oder der gegebenen Erscheinung erschließt, ist ein anderes Problem; es muß jedoch stets diese Tätigkeit vollziehen. Bringt man Gegenstände der menschlichen materiellen Kultur in einen Tierkäfig, dann verlieren sie keine einzige ihrer physikalischen Eigenschaften, und doch können sie jetzt die spezifischen Züge, in denen sie sich dem Menschen offenbaren, nicht mehr äußern. Sie sind nun nur noch Gegenstände der Anpassung, der Gleichgewichtseinstellung, das heißt nur noch Teile der natürlichen Umwelt des Tieres. Auch das Tier paßt sich mit seiner Tätigkeit der Umwelt an, es eignet sich dabei jedoch niemals die Errungenschaften der phylogenetischen Entwicklung an. Während ihm diese in den natürlichen, angeborenen Besonderheiten gegeben sind, sind sie dem Menschen dagegen in den objektiven Erscheinungen seiner Umwelt aufgegeben. Um diese Errungenschaften in seiner ontogenetischen Entwicklung zu realisieren, muß er sie sich aneignen; nur durch diesen, stets aktiven Prozeß ist das Individuum in der Lage, deren wahre menschliche Natur, deren Eigenschaften und Fähigkeiten zutage treten zu lassen, die aus der gesellschaftlich-historischen Entwicklung der Menschheit resultieren und objektiv gegenständliche Form erlangt haben. »Erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens«, schreibt KARL M A R X , »wird der Reichtum der subjek74 Ich denke hier und in den weiteren Ausführungen nur an die Entwicklung nach der Geburt.
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tiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, kurz, werden erst menschlicher Genüsse fähige Sinne, Sinne, welche als menschliche Wesenskräfte sich bestätigten, teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt. Denn nicht nur die fünf Sinne, sondern auch die sogenannten geistigen Sinne, die praktischen Sinne (Wille, Liebe etc.), mit einem Wort der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der Sinne, wird erst durch das Dasein seines Gegenstandes, durch die vermenschlichte Natur. Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte.«75 »Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner Individualität... s i n d . . . in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben; die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit.« 76 Die geistige, die psychische Entwicklung einzelner Menschen ist demnach das Produkt eines besonderen Prozesses - der Aneignung - , den es beim Tier nicht gibt, ebenso wie bei diesem auch der entgegengesetzte Vorgang - die Vergegenständlichung von Fähigkeiten in den Produkten der Tätigkeit - nicht existiert.77 Der Aneignungsprozeß unterscheidet sich grundsätzlich von dem Vorgang der individuellen Anpassung an die natürliche Umwelt. Wir betonen das ganz besonders, da man im allgemeinen den Begriff der Anpassung, der Gleichgewichtseinstellung zur Umwelt, vorbehaltlos auf die gesamte Ontogenese des Menschen auszudehnen pflegt. Dieser Begriff vermittelt jedoch - wird er ohne entsprechende Analyse auf den Menschen angewandt - kein richtiges Bild seiner Entwicklung. Kann man zum Beispiel mit den Termini »Anpassung« oder »Gleichgewichtseinstellung« eine Tätigkeit bezeichnen, die dem kognitiven Bedürfnis nach Kenntnissen entspricht, die in sprachlicher Form vorliegen? Ein Mensch, der sein Bedürfnis nach Kenntnissen befriedigt und dabei einen gegebenen Begriff zu seinem Begriff macht, das heißt dessen Bedeutung beherrschen lernt, vollzieht dabei einen Prozeß, der dem der Anpassung, der Gleichgewichtseinstellung nicht im geringsten ähnelt. »Anpassung an einen Begriff« oder »Gleichgewichtseinstellung zu einem Begriff« wären völlig sinnlose Ausdrücke. Das gleiche gilt auch für die Beziehungen des Individuums zu materiellen Gegenständen, beispielsweise zu Werkzeugen, die Produkte menschlicher Tätigkeit sind. Für den Menschen ist ein Werkzeug nicht KARL MARX/FRIEDRCH ENGELS: Werke, Ergbd. I, Dietz Verlag, Berlin 1968, S. 541 f. 76 Ebenda, S. 131. 77 Ich sehe hier absichtlich von den »Bauinstinkten« ab, die bei manchen Tieren zu beobachten sind, denn diese haben eine völlig andere Natur. 75
Historisches Herangebena,d. Untersuchung d. menschlichen Psyche 283 schlechthin ein Ding von bestimmter Form und mit bestimmten mechanischen Eigenschaften, sondern ein Gegenstand, in dem'gesellschaftlich geschaffene Arbeitsverfahren und Arbeitsoperationen fixiert sind. 78 Die adäquate Beziehung des Individuums zum Werkzeug äußert sidi darin, daß es sich (praktisch oder theoretisch) die in ihm fixierten Operationen aneignet und seine menschlichen Fähigkeiten daran entwickelt. »Die Aneignung einer bestimmten Totalität von Produktionsinstrumenten ist schon deshalb die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst.«79 Das gilt selbstverständlich auch für alle anderen vom Mensdien geschaffenen Gegenstände. Zwischen den Anpassungsprozessen im eigentlichen Sinne des Wortes und den Aneignungsprozessen gibt es folgenden prinzipiellen Unterschied: Bei der biologischen Anpassung verändern sich die Arteigenschaften und das Artverhalten des Individuums. Beim Aneignungsprozeß reproduziert dagegen das Individuum die historisch gebildeten Fähigkeiten und Funktionen. Durch diesen Prozeß wird in der Ontogenese des Menschen das erzielt, was beim Tier durch die Vererbung erreicht wird: Die Entwicklungsergebnisse der Art werden in den Eigenschaften des Individuums verkörpert. Die Fähigkeiten und Funktionen, die sich beim Mensdien während dieses Prozesses einstellen, sind psychische Neubildungen, für die die natürlichen, angeborenen Mechanismen und Prozesse nur notwendige (subjektive) Bedingungen sind; sie ermöglichen ihr Entstehen, sie bestimmen jedoch weder ihren Bestand noch ihre besondere Eigenart. Auf Grund seiner morphologischen Eigenschaften vermag ein Mensch zum Beispiel zu hören. Die Entwicklung des phonematischen Gehörs läßt sich jedoch nur mit dem objektiven Sein der Sprache und die Entwicklung spezifischer Eigenschaften dieses Gehörs nur mit den phonetischen Besonderheiten der Spradie erklären. Ein weiteres Beispiel: Um logisch denken zu können, bedarf es angeborener Hirnprozesse und der sie steuernden inneren Gesetze. Darüber hinaus muß sich jedoch der Mensch, um zum logisdien Denken fähig zu sein, die Logik, das objektive Produkt der gesellschaftlichen Praxis der Menschheit, aneignen. Ein Individuum, das unter Verhältnissen aufwächst, in denen es nicht mit objektiven Formen in Berührung kommt, die die menschliche Logik verkörpern, und in denen es ihm am notwendigen Umgang mit anderen Menschen fehlt, könnte 78 P. J. GALPERIN: D e r psychologische Unterschied zwischen den menschlichen Werkzeugen und den Hilfsmitteln der Tiere. Dissertation, Charkow 1936 (russ.).
KARL MARX/FRIEDRICH ENGELS:Werke,Ergbd.I,Dietz S .539f.
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nicht denken lernen, sooft es auch vor problematischen Situationen stünde, an die sich nur derjenige anpassen könnte, der fähig ist, logisch zu denken. Nun ist die Vorstellung von einem Menschen, der der ihn umgebenden gegenständlichen Welt ganz allein gegenüberstünde, nur eine künstliche Konstruktion. Unter normalen Bedingungen werden die Beziehungen des Menschen zu seiner gegenständlichen Umwelt stets durch sein Verhältnis zu anderen Menschen, zur Gesellschaft vermittelt. Der Umgang, sowohl in seiner ursprünglichen äußeren Form als einer Seite der gemeinsamen Tätigkeit, einer »unmittelbaren Kollektivität«, als auch in seiner inneren, interiorisierten Form bildet die zweite notwendige und spezifische Bedingung, unter der sich das Individuum die Errungenschaften der historischen Entwicklung der Menschheit aneignet. Die Rolle des Umgangs in der Ontogenese des Menschen ist in psychologischen Arbeiten, die sich mit der frühen Kindheit beschäftigten, eingehend untersucht worden. 80 Unter dem uns interessierenden Gesichtspunkt lassen sich die Ergebnisse dieser Forschungen wie folgt zusammenfassen: Schon im Säuglingsalter sind die praktischen Verbindungen des Kindes mit den von Menschen geschaffenen Gegenständen zwangsläufig in seinen Umgang mit den Erwachsenen einbezogen, der zunächst natürlich ein »praktischer« Umgang ist. Subjektive Voraussetzung für das Entstehen dieser ersten Kontakte ist das Aufkommen einer spezifischen Reaktion, die durch den Menschen ausgelöst wird und die F I G U R I N und D E N I S S O W A als »Belebungskomplex« bezeichneten.81 Aus dieser Reaktion differenziert sich später der praktische Umgang des Kindes mit seinen Mitmenschen. Dieser Umgang hat von Anfang an die für die menschliche Tätigkeit charakteristische Struktur des mittelbaren Prozesses, der in seinen ersten, ursprünglichen Formen jedoch nicht durch das Wort, sondern durch den Gegenstand vermittelt wird. Ein Kind in den ersten Entwicklungsphasen vermag nur mit Hilfe der Erwachsenen zu den GeF . I. FRADKINA: Psychologie des Spiels in der frühen Kindheit. Dissertation, Moskau 1950 (russ.); Ebendieselbe: Das Entstehen der Sprache beim Kinde. »Wissenschaftlidie Schriften des Leningrader Staatlichen Pädagogischen Instituts >A. I. Herzen