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German Pages 650 [652] Year 1881
Preußische Jahrbücher Herausgegeben
von
Heinrich von Treitschke.
Siebenundvierzigfter Band.
Berlin, 1881. Druck und Verlag von G. Reimer.
Erstes Heft. Die italienische Komödie deS 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.
(Emil
1
Feuerlein.)............................................................................................ Seite .................................................. —
25
(Aus Ungarn.) ....................................................... —
41
Dr. Mittelstädt und die Einzelhaft. Die Deutschenhetze in Ungarn.
(I. Bartz.)
(Schmarsow.)...................................
—
49
Die Leitung des Manövers...................................................................................
—
57
*.......................................
—
Lermolieff, Raphael und Pintnricchio.
Gustav Freytag's Ahnen.
(Julian Schmidt.) .
Die auswärtige Lage beim Jahreswechsel. Notizen.
(Politische Correspoudcnz.
H. v.T.)
(Die jüdische Einwanderung in Deutschland.
.
-.)
....
65
—
99
—
109
—
133
Zweites Heft. Nüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III.
1798—1823............... —
Karl Wilhelm Göttling und sein Verhältnis zu Goethe.
Lessing.
15. Februar 1881.
Hermann Lotze.
.
(Dr. Koffka.).................
—
(Ernst Kapp.).................................................
—
Die Selbstverwaltung im VormundschastSrecht.
Zur geographischen Literatur.
.
(G-Wendt.)
111
143 151
(Julian Schmidt.)............................................... —
161
(Hugo Sommer.)............................................................................. —
177
Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform durch Reguliruug der Gemeinde-Steuern und der Communalsteuer Gesetzentwurf".
(Von einem —
Mitgliede des Abgeordnetenhauses.).....................................................
196
Drittes Heft. Die Landung in EnglandDie irische Landfrage.
(Max Duncker.)..................................................... —
(Ludwig Freiherr vou Ompteda.)...............................
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
215 —
242
(Rein
hold Koser.).............................................................................................. —
285
...
—
306
Notizen............................................................................................................................
—
312
Ein Wort zur Verständigung über die jetzigen Studentenverhältniffe
IV
Inhalt.
Viertes Heft. Fiorenza.
Die irische Landfrage.
' * ®c'tc
/ ‘
(Herman Grimm.)..........................
— 361
(Ludwig Freiherr von Ompteda.)(Schluß.) ....
Die diplomatische und die Consularvertretung deS Deutschen Reiches.
...
— 380
Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters.
...
— 397
(R. Pauli.)
Die neueste Erwerbung der Berliner Gemäldegalerie, „Neptun nnd Amphitrite"
von P. P. Rubens. Zur Lage.
.
(Bode.)...........................................................
— 420
(Heinrich von Treitschke.).........................
Notizen............................................................................................................................
—
434
—
443
—
445
Fünftes Heft. Die Entstehung des Volksbuches vom Dr. Faust.
(Herman Grimm.) ...
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege. (Reinhold Koser.)....................................................................................
II.
—
466
(Christian Meyer.)..........................................—
494
Zum Verständniß der „Deutschenhetze" in Ungarn.....................................................—
524
Altösterreichische Culturbilder.
II.
Europa uud die Tunesische Frage.
(Politische Correspondenz.)............................ — 538
Sechstes Heft. Ueber parlamentarische Regierung. Sächsisch-polnische Beziehungen
(Friedrich Thudichum.)................................. — 547
während
des
siebenjährigen Krieges zum
russischen Hof nnd insbesondere zum Großkanzler Bestuschew.
Herrmann.)
(Ernst
................................................................................................... —
558
(R. Schöne)..................................... —
590
(Julian Schmidt.)................................................................ —
606
Die diplomatische und die Consularvertretung Deutschlands. (Schluß.) . . — Der Reichstag und die Parteien. (Heinrich von Treitschke.)................................ —
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Zu Schinkels hundertjährigem Geburtstag. Ranke's Weltgeschichte.
Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen. Bekannt ist die Abhängigkeit der neuerstandenen komischen Bühne in dem Italien des 16. Jahrhunderts von der altrömischen Komödie des
PlautuS und Terenz.
Die beiden großen Bühnendichter des alten Rom
wurden vielfach übersetzt und ihre Stücke aufgeführt.
Wo eine selbstän
dige Arbeit im Fach des Lustspiels unternommen wurde, griff man gern zu einer Um- oder Ueberarbeitung der einen oder andern Komödie, die
von ihnen bereits vorlag, oder benützte wenigstens ihre Fabelstoffe, ihre
Findlings- und Menächmengeschtchten.
Ja schon die bloße Inangriffnahme
einer Lustspielaction überhaupt mußte auf Personenrollen zurückführen, die bei ihnen schon zu finden waren. ES bewährte sich nach 17. Jahrhunderten die hartnäckige Zähigkeit der Tradition, in der das Lustspielfach von keinem andern Fach menschlichen Wissens und Könnens übertroffen wird, wie auf
sie sich schon Terenz zu eigenen Gunsten berufen hatte, wenn er im Prolog
zum Eunuchen seine Menander'schen Reminiscenzen mit den Worten recht
fertigt: „Soll nun der Gebrauch derselben Rolle verboten sein,
Wie toar1 ein rennender Sclave dann uns mehr erlaubt?
Eine wackere Hausfrau?
Eine verschmitzte Buhlerin?
Ein schmarotzender Vielfraß? Ein unterschobenes Kind? Von seinem Sclaven?
Ein ruhmrediger Soldat?
Ein betrogener alter Herr
Argwohn, Haß und Liebe?
Kurz
Es gibt in der Welt nichts, was nicht schon dagewesen wär'!"
Den Bodensatz der altrömischen Komödie tragen übrigens selbst die originalsten Erzeugnisse des 16. Jahrhunderts an sich.
Man kann die
Beobachtung machen, daß in Italien der Lockerheit der Sitten eine Werth
schätzung des häuslichen Lebens, die man bei dem vielfach ungebundenen Umgang der Geschlechter unter einander dort nicht suchen würde, zur
Seite geht.
Der Italiener ist zu viel nach außen gerichtet, zu wenig in
sich gekehrt, kennt zu wenig eine Reflexbewegung auf das eigene Selbst, Preußische Jahrbücher. 2bt>. XLVII. Heft 1.
1
2
Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.
als daß er nicht die beste Gelegenheit, seinem Geselligkeitstrieb und seinem
Rededrang auf die Dauer Genüge zu thun, die ehliche Verbindung nach
Welch eine Prädisposition zum Lustspiel, zu
Gebühr zu würdigen wüßte.
derjenigen Darstellung, die mit glücklichem AuSgang, inSbesimdere also
auch mit gutem Erfolge von Liebeswerbungen, mit dem sichern Einlaufen
in den Hafen der Ehe verbunden ist! brunst und HeimathSlust mußte
Und wie viel Zunder von LiibeS-
gerade
das
aufgeweckte,
lebensfrohe
16. Jahrhundert dem Lustspiel entgegenbringen und damit der Versuchung anheimfallen, die ausgetretenen Pfade der mittel- und neuattischen und
der auf diese sich basierenden altrömischen Komödie wieder auszutreten!
Nicht als ob ein Ariost, ein Pietro Aretino völlig ein und dieselben Sittenzustände in ihrem Volk vor sich
gehabt und
in
ihren Stücken
wiedergegeben hätten, wie PlautuS und Terenz sie in ihrer Zeit vor sich hatten und wiedergaben!
Alles was bei den Römern hart auSsieht, hat
sich bei den Italienern erweicht.
Im alten Rom prallte die in Folge
der punischen Kriege bei der Jugend eingerissene Sittenverderbniß und die alte römische HauSzucht, die sich in der patria potestas concentritte,
aufs Härteste an einander und es bedurfte aller Kunst und Feinheit eines Terenz, mit seinen ebenso sorglichen, als nachsichtigen Vätern und mit
seinen Jünglingen, die ebenso gute Söhne als leichtsinnige Bursche sind, die Autorität des Familienhaupts und den Fortschritt der Zeit zu ver
söhnen, im „Eunuchen" gar die Hetärenherberge und daS ehrsame Bürger haus baulich mit einander zu vereinigen.
Bei unseren Cinquecentisten
handelte es sich nicht mehr um das Nebeneinander des altehrwürdigen
Statuts der HauSobrigkeit und des jugendlichen SichgehenlaffenS in ge schlechtlichen Dingen; der Bestand des Familienlebens war nicht mehr
eine Frage der Religion, sondern nur noch des Comforts, der bequemen, geruhlichen Existenz geworden.
Aber dem socialen Bedürfniß wohnt die
selbe Zwangskraft inne, wie sie der moralischen Forderung inhärirt.
Kurz, die legitimen und illegitimen Paarungen, die einen wegen des Drangs der Verhältnisse, die andern wegen der ziemlich gleichen Ver
derbtheit der damaligen Generation müssen hier die gleich bedeutende Rolle spielen wie in der römischen Komödie.
UebrigenS hat die Bonhommie, womit auch das italienische Lustspiel
deS 16. Jahrhunderts Mann und Weib ehlich zusammenzuführen bemüht ist, eine Tugend, ob deren willen Luther in den Komödien ein Jncitament für die Heirathsscheuen Leute verehrt hat, nicht die Ausdehnung, die sie
z. B. bei Shakespeare hat.
Unsere Italiener lassen die subalternen Per
sonen wohl ebenso erotisch disponirt sein, als es ihre Herrschaften sind;
sie lassen dieselben sich auch mitunter über den Unterschied ihrer einfachen,
des Zieles sicheren Liebschaften vor den umständlichen, riskierten LiebeSwerbungen ihrer Herrschaften humoristisch äußern; aber beim KehrauS werden sie nicht so menschenfreundlich bedacht, wie von dem großen eng lischen Dichter, beim Hochzeitmachen darf es die Dienerschaft nicht nach
thun; grade wie Jean Paul es beklagen muß, daß das Gesinde in dem
HauS, wo es dient, sich keiner Feier seines Geburtstags erfreuen darf.
Im Zusammenhang mit der Lockerung der Sitten steht die Entwerthung des Weibes in unseren beiden Perioden der Komik.
Vom Alter
thum ohnedem läßt sich ein Hochhalten der Frauenwürde noch nicht er warten.
Natürlich erfährt sie aber im 16. Jahrhundert eine besondere
Degradierung in Folge des laSciven UebermuthS, der das männliche Ge
schlecht ergriffen hat, parallel dem Selbstgefühl der Bildung und Ver bildung deS Medtcäischen Zeitalters, dessen Raffinement im Punkte des Ehebruchs die altrömische Cormption im Leben und auf der Bühne noch
überbieten sollte.
Allerdings lag dem neu sich bildenden Drama der
Italiener etwas vor, was dem Alterthum noch nicht vorgelegen hatte,
nemlich die gesammte Romantik des Mittelalters mit ihrem FrauencultuS und dieselbe blieb auch, außer ihrer Verwendung in AriostS Epos (Medor-
Angelica'S Liebesseligkeit, der Schmerz der verlassenen Olympia, Isabellens
Treue gegen ihren Zerbin, Bradamante'S Heimwehrufe nach ihrem Rüdiger)
dramatisch nicht unbenützt. Zeuge davon sind Trissino'S „SophoniSbe" und Bernardo Accoltt'S „Virginia", die Vorläuferin von Shakefpeare'S „Ende
gut, alles gut".
Aber ein anderes ist der italienische Cothurn, ein anderes
der italienische Soccus.
Dieser darf und kann sich über das Leben, wie
es sich dem nächsten Blick darbietet, nicht zu viel erheben, und was bot sich da den damaligen Dichtern anders dar, als eine bornierte, ganz oder
halb klösterliche, Geist und Gemüth zurückhaltende Erziehung und eine so fortige selbstsüchtige Versorgung der Mädchen, die in der Ehe für dm ihnen in der Jugend angethanen Zwang durch die nächsten besten Lieb
schaften (man höre nur Pietro Aretino darüber) sich zu entschädigen suchten,
oder gar vorher schon bei dem Mangel innerer Bewahrung, die ihnen vor Allem die Kirche nicht gewähren konnte, die Schranken der Zucht und
guten Sitte übersprungen hatten.
Ganz aber kann der Fortschritt, den
die Welt mit Christenthum, Germanenthum, Mittelalter gemacht hat, auch auf dem Terrain, das am meisten von der Ueberlieferung seit unvordenk
lichen Zeiten zehrt, sich nicht verbergen.
Zwar muß das weibliche Ge
schlecht auf Shakefpeare'S Lustspiele warten, um zu seinem Recht und zu seiner Ehre durch die freie Werbung der liebenden Herzen um einander
zu kommen; in Italien bleibt- nahezu bei dem PlautuS-Terenztschen Her
kommen, daß die umworbene und umstrittene Geliebte auf der Bühne 1*
4
Die italienische Komödie des 16. Jahrhundert« in ihren Anfängen.
nicht austrttt, durch keinerlei eigentliche Initiative ihres Wollens oder
Wählens sozusagen ihren Mann stellt, nicht selber liebt und heirathet, sondern sich nur lieben und heirathen läßt.
Aber wie wir in Rom den
Conflict der antiken Vaterzucht und der modernen Verderbniß der Jugend gehabt
ersteht in Italien die straff angezogene Spannung
haben, so
zwischen den selbstsüchtigen Vergebungen der Kinder durch die Eltern und zwischen den ewigen Ansprüchen
der Gleiches zu Gleichen gesellenden
Natur, wie sie sich in dem Jahrhundert einer großen Geistesemancipatton
und in einer ihrer Zwanglosigkeit frohen Nation in vermehrtem Maße geltend machen.
Es tritt das Problem der Wahlverwandtschaften auf;
mehr als einmal kommt es vor, daß die Glieder zweier Ehepaare sich
über'S Kreuz lieben und die schließliche Paarung in der von ihnen er
Ja es ist ein dem naiven Alterthum fast Un
strebten Weise ausfällt.
mögliches, die geflissentliche Enthaltung in einer blos formell abgeschlossenen
Ehe, jetzt möglich geworden. Wir haben bis dahin von dem 16. Jahrhundert überhaupt gesprochen.
ES ist nicht zu verkennen, daß dieses Jahrhundert gerade für Italien in
zwei einander ungleiche, durch eine Kluft von einander getrennte Hälften, in die beiden Perioden: Restauration zerfällt.
Höhepunkt deS Humanismus und katholische
Der Contrast zwischen dem Cardinal, der die
lustigste Komödie von der Welt geliefert hat, und den Priestern, die dem
Tasso das Concept zu corrigieren hatten, zwischen der weltlichen Romantik des rasenden Roland und der geistlichen des befreiten Jerusalem drängt sich zu fühlbar auf!
Im Lustspiel ist der Natur der Sache nach der Um
schwung der Zeiten weniger merklich; die Kugel, die einmal in'S Rollen gekommen ist, wird nicht so schnell Halt machen; die einfache Intrigue setzt
sich mit der Zeit in ein ganzes „Jntriguenlabyrinth", in einen „Jntriguen-
carneval", die joviale Prellerei in die gemeine über und die Obscönitäten laufen auch mit.
Aber in die Länge lassen sich die einzelnen Stände die
Geißel der Satire, wie sie vor Men Pietro Aretino geschwungen hatte, nicht mehr gefallen; die ernster und kirchlicher gewordene Anschauung und
Behandlung der Dinge bewirkt mehr Wahrung deS äußeren Anstandes und Vermeidung des ärgsten Skandals, so daß der fruchtbare Cecchi
(1518—1587) einen recht achtbaren Vertreter des volkSthümlichen Bürger
lustspiels von Florenz vorstellen kann. ganz ungebundene Sensualismus
Hauptsächlich nimmt der zuvor
ein Feigenblatt vor sich.
Nicht nur
fordern die jetzt hervorgesuchten novellistischen Stosse eine reinere LiebeSleidenschaft bet den Jünglingen; eS äußert sich auch eine Scheu vor wilden Ehen.
Wenn Shakespeare'S Julia sich ihrem Romeo nicht eher hingibt,
als bis ihre Verbindung priesterlich eingesegnet ist, so will in der italient-
Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.
5
schen Komödie der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts der stehende Ver-
lobungSring dazu dienen, den Liebenden zum Quasigatten feines Mädchens vor deren Entführung zu machen.
Wir beschränken uns hier auf die Anfänge der italienischen Komödie
des 16. Jahrhunderts.
Diese Originalproducte rechtfertigen vollauf die
Bedeutung, welche die Geschichtschreiber der Komödie dieses ganzen Zeit
raums zuweisen, „daß sie die Mutter unserer modernen Sitten-, Charakterund Jntriguen-Komödie und selbst deS rührenden Familiendrama'S sei"
(Klein, Geschichte deS Drama'S 4, 697), „daß die europäische Literatur geschichte der italienischen Lustspiele als der frühesten in Prosa und in
völlig realistischem Tone gedichteten nicht vergessen dürfe" (Burckhardt,
Cultur der Renaissance 1878. 2, 58).
Wie mit einem Zauberschlag ist
unter Pabst Leo X. das komische Theater in Italien in den hohen und
niedem Regionen unter Aufmunterung der Höchsten und der Hohen auf der Erde, des Pabsts und Kaisers, der Fürsten und Herzoge erstanden,
dort als Gelehrtenkomödie (commedia erudita), hier als Zunftkomödie
(commedia dell’arte).
Die letztere, mit ihren stehenden Masken und
Improvisationen auf die alte OSkische und Tarentinische Bühne zurückund kosmopolitisch auf Shakespeare's Pantalon (in „der Widerspenstigen
Zähmung"), aus Moltere'S Scopin, auf den deutschen Harlekin vorwärts weisend, verdankte ihre feste Einrichtung dem Günstling und LieblingS-
komtker Leo'S, Franz Chorea.
(Klein, 4, 902 ff.)
Diesem Plebejer zur
Seite arbeiteten ganz gleichzeitig mit einander, von einander wissend*), die aristokratischen Gründer der gelehrten Komödie:
Bibbiena 1470—1520,
Ariost 1474-1533, Machiavelli 1469—1527, Pietro Aretino 1492—1557, nicht zwar mit dem auSschließenden Primat auf der komi schen Bühne ihres Vaterlands, das ihnen schon zugeschrieben werden
wollte**), da über dem 16. daS 18. Jahrhundert mit Goldoni und Gozzi *) Ariost erwähnt in der 4. Satire Bibbiena als in seiner Beneficiensache am päpst lichen Hof thätig; den Pietro Aretino feiert er in der für die Größen seiner Zeit errichteten RnhmeShalle in Ges. 46 des Ort. für.: „und der die Fürsten geißelt ohne Gnade, der göttergleiche Aretin"; Machiavelli läßt dem Ariost durch einen Dritten unter Elogen über seinen Orlando auSrichten, er nehme es ihm übel, daß er ihn in besagtem Document unter den vielen gleichzeitigen Dichtern weggelaffen und ihm damit etwas in seinem Orlando zugesagt habe, was er ihm in seinem „goldenen Esel" nicht zufügen werde. Der Aretiner erwähnt oft scherz- oder ernst haft Ariost. **) E. Ruth, Geschichte der italienischen Dichtknnst 2, 582: „Das sind die 4 bezeich nendsten und hervorragendsten Lustspieldichter der Italiener gewesen und leider bis jetzt auch geblieben. Sie gaben den Weg an, den die Komödie ganz richtig ging, aber zum Ziel hat sie keiner der folgenden Dichter bringen können." Vorsichtiger Schloffer, Weltgeschichte für das deutsche Volk 11, 427: „Schade, daß man in Italien wegen der herrschenden Stegreifkomödie und wegen der Oper die regel mäßige Komödie verschmähte, welche Pietro Aretin ebenso wie Ariost und Machia velli, vortrefflich behandelt hat." Ranke, die römischen Päpste 3. A. 1844. 3,66 be-
Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.
6
nicht übersehen werden darf, aber jeder von ihnen mit wesentlichen Vor zügen, die den komischen Dichter auSmachen, ausgerüstet und jeder von
ihnen mit dem Beibringen der Stadt, in der er hauptsächlich lebte und wirkte.
Bibbiena gehört dem Rom Leo'S X., Ariost dem Hof von Ferrara,
Machiavelli der Republik Florenz, Pietro Aretino vornemlich seiner Nähr
mutter, dem oligarchischen Venedig, an. Bernardo Dovizi, geb. 1470 zu Bibbiena in Toscana, mit Leo X.
von jeher befreundet und 1513 zum Cardinal Bibbiena erhoben, wußte
sich nicht nur als Geschäftsmann, sondern auch als Humorist diesem Pabst
unentbehrlich zu machen.
Er war dafür bekannt, daß er eS verstand,
selbst würdige Männer zu Narrentheidungen zu verleiten.
Er verfaßte
daS Lustspiel, daS seinen Namen unsterblich gemacht hat, im Jahre 1505,
einige Jahre später, als Ariost mit seinen ersten Versuchen im komischen Fach aufgetreten war.
Dieses Lustspiel war die Calandria, so benannt
von einem Einfaltspinsel, der für den Dichter die Zielscheibe seines Spottes
ist.
Die Fabel ist:
Ein Bürger von Modena hatte Zwillinge, einen
Knaben Lydio nnd ein Mädchen Santilla, einander so ähnlich, daß
wenn sie gleich gekleidet waren, man sie nicht von einander unterscheiden
konnte.
Der Vater war 6 Jahre todt, als Modena von den Türken erobert
und verbrannt wurde.
Ihre Amme und ihr Diener kleideten Santilla,
um sie zu retten, als Knaben und nannten ihn Lydio, in der Meinung,
ihr Bruder sei von den Türken umgebracht worden.
Dem war aber nicht
so: vielmehr ging der Knabe mit seinem Diener Fessenio frei aus und
kam nachher wie das Mädchen gleichfalls in die Lage, fein Geschlecht zu verstellen.
AuS dieser Geschlechtsambiguität, sowie aus dem örtlichen
Nebeneinander der beiden einander nicht kennenden Geschlechter in Rom
geht die nachherige in'S Ungemessene gehende und in einem wahren Schlamm von Obscönitäten sich fortbewegende Verwicklung hervor. Lydio
nemlich zieht in Rom, wohin er nach seinem Jugendaufenthalt in Florenz
gekommen, war, in seiner Manneseigenschaft die Fulvia, deS dortigen Bürger Calandro Ehefrau, in seiner Verkleidung als Santilla den Calandro selber an.
geblichen Lydio,
Hinwiederum gibtS bei der Santilla, dem
ein Quid pro quo um'S andere.
an
Diesen Pflegesohn
möchte ihr Pflegevater, der Florentiner Perillo, der mit ihr nach Rom
übergesiedelt ist, seiner Tochter zur Frau geben.
Und dann erleidet der
vermeintliche Lydio, mit dem Bruder auf gleichem Terrain befindlich, stürmische Liebeszumuthungen von Fulvia, indem deren Emissäre Santilla klagt «S, daß „selbst so geistreiche Männer, wie Bibbiena und Machiavelli ihren komischen Arbeiten die volle Anerkennung der spätern Zeit nicht haben sichern können".
Fulvia nemlich muß nach vier Monaten
mit dem Bruder verwechseln.
vertrauten Umgangs mit ihrem Lydio auf einmal ihn, der sich von ihr zurückgezogen hatte, entbehren, wobei sie sich der Hilfe eines Zauberers
Ruffo, ihn wieder ihr günstig zu stimmen, bedient.
Ihr und ihres
Mannes Jagd, je auf den Gegenstand ihrer Neigung, bildet die Unter
lage für die unzähligen Täuschungen, Verwechslungen, Verkleidungen, Verlegenheiten, Nothhilfen, mitunter auch Unwahrscheinlichkeiten und Un möglichkeiten in diesem Stück, in dem man nicht weiß, welches Laster diese
frivole Welt des Schwankes und der Posse mehr beherrsche, die Zügel
loseste Lüsternheit oder die gemeinste Gewinnsucht?
Natürlich muß alles
gut ausgehen.
Vor Allem finden die solange getrennten Geschwister ein
ander wieder.
Der Dichter thut dem saubern Grundsatz, den er seinem
Lhdio gegenüber seinem Warner, dem Hofmeister PolynikeS, in den Mund legt, daß man bei jungen Leuten das LiebeSfeuer sich trt sich selber
verzehren lassen müsse, damit Genüge, daß schließlich der echte Lhdio, den man ja von dem unechten, von Santilla, nicht auseinander kennen kann,
eine solide Ehe mit der Tochter des Perillo, Santilla aber eine solche mit dem Sohn des Calandro-Fulvia'schen Ehepaars eingeht. Die Leidensgeschichte der Fulvia ziemt eö sich, schon wegen deS über die Maßen unsittlichen Inhalts nicht weiter zu verfolgen, wohl aber die
frisch und lebendig verlaufende Calandro'S, nach der ungeachtet ihres viel kleineren Umfangs Bibbiena im Gefühle seiner Meisterschaft im Gebiete deS SchabemackS und des Aberwitzes mit Fug und Recht das Ganze be titelt hat.
Diesen Werber um die vermeintliche Santilla nimmt der
Diener der letzteren, also Lhdio'S, der Jntriguant Fessenio auf'S Korn.
ES handelt sich davon, Calandro zu der Geliebten, deren rasende Liebe
zu ihm er sich hat von Fessenio versichern lassen, zu bringen.
Fessenio
meint, er solle Anstands halber sich zu ihr in einem Koffer tranSportiren lassen.
Man erinnert sich aus ArtstophaneS' Wolken „des Mannes von
Lindenholz", des DithhrambikerS KinestaS, der so lang, hager und säbel
beinig war, daß er sich, um nicht zusammen zu knicken, Brust und Rücken mit Lindenbrettem umband.
Mit dem gleichen Scharfblick des witzigen
Mechanikers verfährt Bibbiena.
Der Jntriguant macht nemlich seinem
Düpö weiß, falls der Koffer zu klein wäre, so müßte man ihn eben stück
weise hineinlegen, müßte, wie bei Schiffstransporten, Hände, Arme, Beine,
ihm abschrauben, damit er nachher seine Glieder sich wieder ansetzte. Gleich wird auch an dem armen Calandro eine Probe gemacht, die jedoch,
ungeachtet der Zauberworte, die er seinem Peiniger nachzusprechen hat, mit einer schrecklichen Verrenkung seines Arms endigt.
So will Fessenio
eben einen größeren Koffer nehmen, wo kein Ausetnanderthun der Glied-
8
Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.
maßen nöthig werden wird.
Sein Plan ist der ersehnten Santtlla eine
häßliche Courtisane zu substituiren.
Der beabsichtigte Transport leitet sich
ein mit einem Gespräch, wo dem guten Calandro nicht weniger weiß gemacht
wird, als er werde im Koffer sterben müssen, das sei für den Koffer der natürliche Zustand, er brauche dann aber nur, um den Koffer lebend ver
lassen zu können, aufwärts in die Höhe zu spucken und einen Ruck zu
thun.
Der Koffer setzt sich mit seinem Inhalt in Bewegung, gefolgt von
Fessenio und der eigendS abgerichteten Courtisane.
Sbirren halten den
Koffer an; Fessenio gibt vor, es sei ein Todter drin, der an der Pest
gestorben sei, der Mann des mitfolgenden Frauenzimmers, das sofort auf Commando tüchtig heulen muß; man wolle nun den Todten heimlich im
Fluß begraben.
Calandro in dem den Sbirren zulieb halbgeöffneten
Koffer das hören, herauöspringen, Sbirren und alles auseinanderstäuben
machen, den Fessenio dafür, daß er ihn ersäufen wolle, würgen ist nur Ein
Moment.
Doch Fessenio weiß
ihn zu beschwichtigen:
habe
er,
Fessenio, ja doch von ihm das Unglück abgewendet, daß er als reine Zoll waare auf der Dogana verkauft worden wäre, und die häßliche Dirne, die er wahrgenommen habe, sei der leibhaftige Tod gewesen, der vor den
Sbirren davon gelaufen sei.
Ja, Calandro läßt sich von ihm sogar den
Koffer, ihn auf dem Rücken zu tragen, aufhalsen, Santilla werde dann
als Sibylle schon ihn kennen und wissen, wie die Sache stehe.
So weit
gut; nur daß der Unglückliche bei der Courtisane von seiner Frau, die
eben auch etwas, ein Stelldichein mit Lydio, vorhat, ertappt wird und sich gegen deren Gekeife nur nothdürftig mit der Berühmung seines aphrodi sischen Gemüthes wehren kann!
Geschickt hat der Dichter seinem Tölpel,
um ihn in unserer Achtung zu heben,
einige Züge von natürlichem don
sens geliehen.
Lodovico Ariosto, geboren 1474 in Reggio im Modenesischen, in
der Luft des bühnenfrohen Ferrara aufgewachsen, von klein an auf daS dramatische Fach gerichtet, lang bevor er den rasenden Roland dichtete, mit Komödien beschäftigt^ begann mit dem Lustspiel Cassaria, daS Kästchen.
Zwei Jünglinge auS guten Häusern in Metellino, Erofilo und
Cartdoro, haben sich in zwei Mädchey, Eulalia und Corisca, die sich in dem Gewahrsam eines mit viel Humor gezeichneten MädchenkupplerS Lucramo befinden, verliebt.
Mädchen zu beschaffen.
ES gilt den Loskaufspreis für die
Erofilo kommt auf den Gedanken, eine Geldkiste,
die sein eben abwesender Vater, Crisobolo, als Depositum von einem
Freund im Hause hat, bis auf Weiteres dem Lucramo zu verpfänden. Die Ausführung dieses Anschlags leitet Erofilo's Diener, der schlaue
Bolpino (daS Füchslein).
In einer Rethenkette von lauter das Zwerchfell
erschütternden Scenen wird der Handel mit Lucramo von dem in Crisobolo'S Kleider gesteckten Tollpatsch Trappola abgeschlossen, die Kiste dem
Wucherer ausgehändigt, die Mädchen von ihm herausgegeben, Eulalia aber dem Trappola von den
in Abwesenheit deS Hausherrn sich be
trinkenden Domestiken in der Meinung, Trappola wolle ihrem jungen
Herrn seine Geliebte entführen, abgejagt und in ein befteundetes HaüS gebracht.
Trappola ist ohne Kiste und Mädchen.
Erofilo rennt Straße
auf, Straße ab nach seinem Liebchen, Volpino bleibt auf der Stelle, darob
bangend, daß der Kuppler mit der Kiste davon gehen könnte.
Da muß
der Unstern den Alten, Crisobolo, daher führen; die vorgehabte Reise ist überflüssig geworden.
Volptno weiß es nun wohl dahin zu bringen, daß
Crisobolo dem Kuppler die Kiste wieder abnimmt, aber er kann dem Un
fall nicht entgehen, daß Trappola im Haus von dem Alten noch in seinen Kleidern steckend getroffen wird und wohl bei dem mit ihm vom Alten
angenommenen Examen auf seine Weisung hin sich eine P)etle stumm stellt, aber doch, wo'S ihm um den Hals geht, auf einmal beredt wird,
ausschwätzt, soviel er ausschwätzen kann und dem Volptno eine Verhaftung von dem erzürnten Crisobolo zuzieht. Erofilo, Caridoro und defien Diener, der
an
des etngesperrten Volpino Stelle tretende Jntrtguant Fulcio
richten in einer nicht in allen Theilen klaren Entwirrung deS in einander
gewirrten Knäuels den ganzen Handel zurecht:
Die Kassette bleibt er
halten, die Mädchen bleiben ihren Liebhabern, der Vater zeigt sich über alle Maßen willig, dem leichtsinnigen Sohn mit Geldopfern hinauszuhelfen,
der Kuppler wird mit einer Zahlung abgefunden, mit der er ruhig von Metellino abziehen kann. Man sieht: der Dichter hatte offenbar einen dramatisch gut verwerth baren Conflict tieferen GehaltS: Mädchenverkäuferei und freie Liebeswahl
vor sich und er hat neben dem, daß er seine ganze Stärke der Abwicklung
deS Handelsprocesses und seiner komischen Consequenzen zu widmen hatte, der sittlich gemüthlichen Seite der Sache nicht' alle Aufmerksamkeit ent zogen: die beiden Liebchen treten doch Anfangs in ihrer ganzen Verlaffenheit vor uns auf und rühren die Jünglinge der Art, daß sie Ihnen all
ihre Manneskraft für ihre Erlösung einzusetzen geloben; auch ist Erofilo'S Ruf nach der abhanden gekommenen Geliebten ergreifend.
Aber neben
dem prosaischen Proceß, der unS, die Zuschauer, beschäftigt, nehmen sich seine zeitweise eingemischten Liebesseufzer eher lächerlich, als geschmackvoll
auS.
Roman und Intrigue wollen nicht recht in einander greifen.
WaS
Wunders, wenn Ariost künftig den Roman vollends abwirft um, wenn auch
auf Kosten deS ethischen GehaltS seiner Stücke, blos der Intrigue zu dienen!
10
Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.
Dies zeigt sich gleich bei der zweiten Komödie, die übrigens in Bau
und Technik seine vollendetste ist, bei den Suppositi, die Unterschobenen. Hier ist der Heldin aller ideale Duft abgestreift; sie ist zu unserem nicht
geringen Schrecken eine deflorata. Erostrato aus Catanea, reicher Eltern Kind, hält sich ursprünglich Studien halber in Ferrara auf (sein Vater
glaubt's ihm komischer Weise bis in den 5. Act hinein), wo er sich in Polinnesta, Damon's Tochter, verliebt und, um zu seinem Ziel zu kommen, mit seinem Diener Dulipo die Rolle wechselt, so daß er der
Nähe der Geliebten zulieb in den Dienst Damons tritt, Dulipo aber statt
seiner den großen Herrn
und Werber um die Hand
Erostrato, Filagono's Sohn aus Catanea,
des Fräuleins,
spielen muß.
Dulipo erfreut sich schon zwei Jahre hindurch
Der falsche
aller und jeder Gunst
seines Liebchens, dem er natürlich sich zu erkennen gegeben hat.
eine leidige Durchkreuzung ihrer Heirathsabsichten.
Da droht
Der 56 jährige Doctor
Cleandro, ein Product echten Dichterhumors, der nicht blos auf seinen alten Freierfüßen allen Hohn, sondern auch durch seine Lebensschicksale
alle Theilnahme hervorruft, bewirbt sich unter den edelmüthigsten Offerten um Polinnesta; er sucht in dieser Ehe einen Ersatz für einen Sohn, den
er fünfjährig bei der Eroberung Otranto's durch die Türken eingebüßt hat.
Um den Doctor auszustechen, kommt es für Erostrato darauf an, dem
alten Damon seinen, Erostrato's Vater, mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit und seines Reichthums zu stellen.
Da aber der Vater nicht
selber zur Stelle zu schaffen ist, so muß Dulipo, und er thuts in der
jocosesten Weise von der Welt, einen eben durchreisenden Sienesen zu dieser Vaterschaft, also zu der Rolle des angesehenen Filogono aus Catanea
pressen.
Es dauert aber nicht lang, so kommt der wirkliche Filogono,
erfragt das Haus des Sohnes, der eben nicht zu Haus ist, aber wie er hört, feit einer Stunde schon seinen angeblichen Vater bei sich einquartiert haben soll.
Die Verwirrung wächst, wo der Sienese sich zeigt und er
Filogono sein will und Dulipo, der in Ferrara vor der Welt den flotten Cavalier Erostrato macht, den alten Herrn aus Catanea nimmer erkennen
mag, sodaß es diesem angst und bange wird, Dulipo könnte seinen Sohn
gar um'S Leben gebracht haben, um, wie er es thut, jetzt dessen Rolle zu
spielen.
Der Sohn selbst ist zunächst gar nicht in der Lage, mit dem
Vater zusammenzutreffen, denn der alte Damon ist in Folge von ganz nach dem Leben geschilderten Vorgängen in der Domestikenwelt hinter das
unsaubere Verhältniß seiner Tochter mit dem Diener Dulipo gekommen
und läßt ihn — ein Akt wirklicher Gerechtigkeit gegen den Eindringling!
— festnehmen, ja er bestellt für ihn statt der Stricke, mit denen er vor läufig gebunden ist, Handschellen.
Eine Zusammenführung der beiden
Filogono und Comp. mit dem zur Schlichtung des Filogonoprocesses aus
ersehenen Cleandro führt die erwünschte Aufklärung herbei, die der Dichter bei den betheiligten Respectspersonen von dem gebührenden Cerimoniell,
das uns auS der komischen Oper geläufig ist, begleiten läßt.
Der Doctor
kann auf seine Werbung verzichten; denn Dulipo entpuppt sich als sein
im fünften Jahr von seiner Seite getrennter Sohn; Damon kann bei
dem reichen Tochtermann von seinem Gewissensscrupel über die Entehrung seiner Tochter wegkommen; der Sienese ist gutmüthig genug, den Spaß, den man sich mit ihm gemacht hat, zu verzeihen; die Handschellen, die
eben für den vermeintlichen Dulipo fertig geworden sind, können füglich
rosten! Nicht leicht wird eö ein dramatisches Erzeugniß geben, das Erndte
und Saat der Art in sich vereinigt, wie die Suppositi Ariost's.
Von
den „Gefangenen" des PlautuS ist das Wiederfinden des abhanden ge
kommenen SohneS und die glückliche Entwicklung des in niederer Stellung
ausgewachsenen jungen Menschen, hier Dulipo, dort Thndarus entlehnt
und für Shakespeare'S „der Widerspenstigen Zähmung"
ist der Sienese,
der dem würdigen Filogono substituiert wird, dem Magister, der dort den Vincentio, Vater des Lucentio, vorstellen muß, Modell gesessen.
Und
wie bei Ariost der Freier Erostrato in den Diener Dulipo und dieser sich in den stattlichen Werber Erostrato verkleidet, so tauschen auch bei Shake speare mit dem gleichen Erfolg der Herr Lucentio und der Diener Tranio
ihre Rollen.
Die ästhetische Todsünde freilich eines Heldenpaares
in
wilder Ehe hat der protestantisch germanische Dichter dem romanischen nirgends nachgemacht. Kein geringfügigeres Sujet und kein energischeres, plastischeres Sittenund Zeitbild neben einander, als
drittem Lustspiel.
in Lena,
der Kupplerin,
Ariost's
Man sieht wohl, der Dichter hat sich nicht blos in der
Blüthenwelt seiner üppigen Phantasie umgetrieben; er hat auch beobachtet,
er hat seine praktische Laufbahn, z. B. seinen dreijährigen Aufenthalt in
der Provinz Garfagnana, wo er Ferraresischer Gouverneur war, dazu be nützt, sich im Leben umzusehen und die Zustände auch der mittleren und unteren Gesellschaftsschichten kennen zu lernen.
Und wenn er vor unsern
Augen in seiner Lena ein Nachtstück aus dem Gesellschaftsleben entrollt,
wo oben Liederlichkeit und Straflosigkeit, unten Verbrechen und Armuth sich die Hand bieten, so hat er, wie Goethe zu sagen pflegte, viel von seinem Eigenen hineingelegt.
Er hatte Zeitlebens den socialen Druck,
unter dem die niederen Stände in diesem Stück seufzen, an seinem Fürsten hof selber zu erleiden.
Die Aufgabe, die sich der Dichter in seiner Lena gestellt hat, ist
Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.
12
ähnlich, wie in der Cassaria und in den Suppositi.
Es handelt sich
nur davon, einen Liebenden nach Wegräumung des leidigen Geldpunkts
in den Besitz der Geliebten zu bringen. niedrigeren Gehaltes, als bisher.
Nur ist der LiebeShandel noch
Flavio liebt die junge Licinia und
läßt sich von ihr an die Lena, bei der sie, um Stricken und Nähen zu
lernen, aus und eingeht, wegen Ermöglichung eines Stelldicheins weisen. Die Zusammenkunft verzögert sich fast ganze 5 Acte hindurch, weil eS
dem Flavio nicht gelingen will, die fünfundzwanzig Gulden für Lena, diese Kupplerin Courtisane, die mit ihrem Mann Vielfraß, dem Pacifico, daS Geld nur gar zu gut brauchen kann, herbeizuschasfen.
Er kommt
auch zuletzt, da alle Versuche des Jntriguanten Corbolo, durch Lügen und
Ränke von Flavio's Vater, dem zähen Gutspächter Ilario, daS Geld herauszuschlagen, in mitunter komischer Weise mißlingen, nicht auf dem Wege des Kaufs, sondern erst durch einen abnormen Zufall zu seinem Zweck.
Bei einer Verpfändung, die der Vater LicinienS, der reiche Geiz
hals Fazio, der schlimmste Mensch des ganzen Stücks, ungeachtet seines schmutzigen Verhältnisses zur Frau, über die Pacifico'schen Eheleute ver
hängt, gelangt unter Umständen, die dem Dichter die lebendigsten socialen Schilderungen ernster und lustiger Art an die Hand geben, ein Faß, in
das der ungeschickter Weise im Haus befindliche Liebhaber gesteckt werden
muß, mit diesem seinem Inhalt in das Haus des Fazio und auf diese Art die beiden Liebenden zu dem ersehnten Zusammensein, dem am Schluß die legitime Verbindung folgt.
Das Tragische aber, was die Lena über
das gewöhnliche Lustspiel weit hinaushebt, ist, daß nicht nur dem Freier sein Liebchen, sondern auch dem armen Ehepaar Pacifico-Lena ihr ganzes
Elend, wie es in den Scherereien Fazio's und in den gegenseitigen Vor würfen der Eheleute zu Tage tritt, sowie dem schlechten Fazio seine bis herige Stellung in der Gesellschaft bleibt.
Nicht in den so geheißenen
Satiren, die, wie richtig schon bemerkt wurde, eigentlich epistolae heißen sollen, hat Ariost seinen Sarkasmus, seinen kaustischen Witz niedergelegt,
aber in seiner Lena.
Ob das Schlußduett zwischen Fazio und Lena:
Er: „und hoff' ich, daß Licinia und Flavio diesen Abend nicht die ein
zigen verbunden werden fein";
Sie: „ich bin bereit zu Allem, was er
wünschen mag" — ein Ausfluß seiner unbezwinglichen Lüsternheit oder
Ausbruch seiner schilderten
satirischen Laune Angesichts der Unheilbarkeit der ge
Mißstände oder beides zugleich ist,
wollen wir nicht
ent
scheiden. II Negromante, der Astrolog, wenn man dem Verfasser glauben
darf, erst nach lOjährigem Planen im Jahre 1520 fertig geworden und
vor Leo X. in Nom aufgeführt, spielt in Cremona.
Der Borwurf ist
bei diesem Stück unter dem vom Dichter vollendeten Bühncnarbeiten (von der nicht vollendeten Scolastica sehen wir ab) der bedeutendste.
ES
handelt sich, wie später bei Machiavelli's eommedia in versi, von der
Correctur einer unnatürlichen Eheverbindung.
Cintio,
Pflegesohn
Massimo's,
hat insgeheim Lavinia,
die
Pflegetochter deS biedern Fazio, geheirathet, ist aber von seinem Pflege
vater zur Ehe mit der Tochter von dessen reichem Freund Abondio, Emilia, förmlich gepreßt worden.
Er sucht sich in der Collision der ihm
durch die NeigungS- und durch die Convenienzheirath auferlegten Pflichten dadurch zu helfen, daß er Emilien nicht berührt, ohne sich vor dem Ver
dachte mangelnder Virilität zu scheuen.
Feinsinnig läßt der Dichter gleich
Anfangs aus dem Munde der Angehörigen Emiliens, die eS bedauern,
daß man das Mädchen nicht dem Camill, der sie schon so oft begehrt hatte, gegeben habe, den Schluß des Stücks errathen.
Der Zug des
Herzens kommt zu seinem Recht, im Gegensatz gegen die Convenienzrück-
sichten, ohne daß die bei der ganzen HeirathSangelegenheit interessierten
Alten um das ihrige kämen.
Cintio wird von der aufgedrungenen Emilia
befreit und darf seine Lavinia vor aller Welt die seinige nennen; sein Pflegevater kann dazu seine lebhafte Einwilligung geben; denn sie enthüllt
sich als seine unter einem Gewirre von Abenteuern in Fazio's HauS ge
kommene legitime Tochter; Camill darf seine Emilia heimführen.
Die
Verwicklung, die diesem befriedigenden Schluffe vorangeht, wird durch die Intervention eines Negromanten,
Einer Person, bewirkt.
Cagliostro und gemeiner Dieb in
Er läßt sich von den verschiedenen Parteien, je
für ihre Zwecke, bestellen und reichlich bezahlen.
Dem Massimo soll er
zu einem Cintio, der als Gatte seinen Mann stellt, verhelfen; den Cintio soll er durch Constatierung seiner ehlichen Unfähigkeit von der ihm auf-
octroyierten Frau erlösen; endlich den Camill, den er gründlich nach dem Recept behandelt, das Ariosts im rasenden Roland geäußerte Ansicht von
der Liebe als einer Narrheit an die Hand gibt, soll er in das Zimmer
der Geliebten bringen.
Gut läßt der Dichter den Schelm insbesondere
auch nach der Maxime: 2 Mücken auf . Einen Schlag hantieren; aber die Gegenpartie, bestehend aus Cintio's Diener, dem verstandesklaren Tremolo
und aus seinem wackern Gönner Fazio überlisten den Listigen und seinen
Gesellen Nibbio.
Sie lassen die Kiste,
in der Camill in's Zimmer
Emiliens gebracht werden soll, in das Zimmer Laviniens tragen, wo sich Camill von den zärtlichen Beziehungen zwischen Cintio und Lavinia über zeugt und seinen Beitrag zu Entwirrung des bisher verschlungenen Ge
webes geben kann.
Des Astrologen Niedergang wird ein vollständiger,
indem ihm Tremolo seinen Mantel abzuschwindeln weiß, damit die phy-
14
Die italienische Komödie d«S 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.
fische Blöße auch gleich die moralische versinnbildliche, und Nibbio seinen
Auftrag,
ihm Behufs schleunigen Abzugs sein Gepäck und waS sonst
noch mitlaufen könnte, auS dem Gasthof mitzubringen, mit einem Auf
nimmer Wiedersehen! erwidert.
Die Schlußworte:
„Wundert euch nur
nicht, wenn ihr den Astrologen nicht gar sonderlich befriedigt seht vom AuSgang der Komödie; denn Kunst, die der Natur nachahmt, duldet nicht,
daß arger Schelme böseS Thun ein andres, als ein schlechtes Ende nehme", würden unö über die poetische Gerechtigkeit des Dichters eine ungetrübte
Freude bereiten, wenn nicht der Mund, der diese Weisheit predigt, der
das Unglück seines Herrn auSbeutende Schelm Nibbio uns die Ironie
des Italieners verriethe, für dessen empirische Taxation Niederlage und Sieg des Bösen sich so ziemlich das Gleichgewicht hält.
Doch verkennen wir darob die Aristophanische Ader in unserem mo dernen Komödienspieler nicht gänzlich!
Es ist freilich keine großartige
patriotisch-politische Wirksamkeit, die der in kleinen Verhältnissen an einem Fürstenhof weilende Ariost mit seinen Lustspielen entfalten kann; aber er
ist redlich seiner Pflicht nachgekommen, in denselben seiner Zeit und sei nem Volk einen Spiegel vorzuhalten.
Er ist dem Negromantenwesen,
das sich damals von dem Mark des abergläubischen Volkes mästete, mit
Hilse besonders seines vorurtheilsfreien Tremolo furchtlos zu Leib ge gangen, er hat in seiner Lena ein zur Umkehr und zur Einkehr bei sich selbst aufforderndes Schauergemälde des damaligen socialen Elends ent
worfen; er hat in all' seinen Lustspielen es nicht versäumt, Brutalität und Gewaltthat zu verdammen,
die Bequemlichkeit und Genußsucht der
höheren, sowie die Bestechlichkeit und Raubgier der niederen Beamten, die faulen Schäden einer schlechten Polizei und Verwaltung bloszulegen,
während er in den Satiren das Censoramt gegen den üppigen, gewissen
losen Klerus nachholte.
Wenn er auch kein Patriot, wie der große grie
chische Komiker sein konnte, so hat er doch, was in seiner eingeschränkten
Lage
alle
Anerkennung
verdient,
einen
ehrenwerthen,
unabhängigen
Charakter sich gewahrt und, wie es Goethe ihm nachrühmt, „einen Sinn
fürs wahre Gute" und
„Weisheit in erhab'nen Sprüchen" geoffenbart.
Wenn man bei dem Komiker Ariost von seiner Hauptleistung,
von
derjenigen auf dem epischen Gebiet absehen mußte, so liegt dagegen bei
Niccolo Machiavelli, dem Florentiner Staatssekretär, die Erklärung
seiner Laufbahn als Lustspieldichter,
besonders als Verfasser der Man-
dragola, in seinem berühmtesten, am meisten charakteristischen Werk, in seinem Büchlein vom principe.
Nicht nur ist eS bemerkenSwerth, daß
er, was er bei seinen diseorsi über Livius und bei seiner Florentiner
Geschichte nicht gethan hätte, diese Dichtungen, wie seinen Fürsten, als
ein hors d’oeuvre, unternommen zur Zerstreuung und zum Zeitvertreib,
bezeichnet.
Um bei der Mandragola stehen zu bleiben: es verräth sich in
ihr der gleich tiefe Blick in die Vorgänge der Seele, die gleich scharfe
Beobachtung des Ganges, welchen die Dinge, der ihnen immanenten un
erbittlichen Logik zufolge, nehmen müssen, die gleiche Kaltblütigkeit deS Verstandes bei einem warmen, weichen Herzen, das für das Gute glüht aber das Schlimme als eine Nothwendigkeit hinnehmen muß, die gleiche Objektivität der Betrachtung aber auch Unzulänglichkeit für ideale Nor
men, wie wir dies Alles im principe finden.
Die Mandragola behandelt einen an sich gründlich unsittlichen
Stoff.
Callimaco, ein junger Mann nicht ohne Gehalt, lernt unter
ominösen Umständen (Wette auf Damenschönheit; vgl. auch mit Beziehung
aus eine Lucrezia, Livius 1, 57 f. und PosthumuS, mit Jachtmo wettend, in Shakespeare's Cymbeline) die schönste und keuscheste aller Frauen, Ma
dame Lucrezia, die Gattin deS Nicia Calfucci von Florenz, auswärts
kennen und heiß lieben und zieht ihr nach Florenz nach, in der Ab sicht, in ihren Besitz sich zu setzen.
Er hat zu dem Ende einen Parasiten
höheren Stils, den feinsinnigen Ligurio ins Vertrauen gezogen, der
ihm Hoffnung erweckt, daß, ungeachtet der notorischen Sittenreinheit LucrezienS, bei dem Verlangen deS kinderlosen Ehepaars nach Kindern sich etwas werde machen lassen.
Ein Plan, die Frau in ein Bad zu schicken,
wo Callimaco sich ihr nähern könnte, scheitert an dem Widerstreben Nicia'S, der vergehen zu müssen meint, wenn er nicht immer seinen Florenzer Dom
vor Augen hat.
Darum muß ein anderer Plan ausgeheckt werden.
Calli
maco soll einem fremden Arzt vorstellen, dem Nicia durch Ligurio sich empfehlen lasseu und ihm eS eingeben, daß seine Frau durch einen Zauber
trank Mandragola von ihrer Unfruchtbarkeit befreit werden könnte.
Aber
der Mann, der zuerst ihr beiwohne, müsse sterben, weil er alles Gift deS
Tranks in sich einsaugen würde; daher eS für Nicia gerathen sei einen
Gatten-Stellvertreter in der Person eines kräftigen jungen Mannes — man kann sich denken, wen Ligurio dabei im Auge hat, — zu stellen.
Nicia
wird von Callimaco, dem fremben Arzt, glücklich überredet, auf diesen
Rath einzugehen.
Mit ein paar lateinischen Brocken und Berufung auf
hohe Potentaten, deren Frauen die Mandragola geholfen habe, ist da
bald viel auSgerichtet.
Um so schwerer wird'S bei der braven Frau halten.
Man kommt unter Beirath Nicia'S selber überein, sie durch Mutter und
Beichtvater, die freilich erst selbst zu gewinnen wären, zu bearbeiten.
Die
Mutter, Sostrata, willigt aus mütterlicher Sorge für das Eheglück ihrer Tochter ein.
Fra Timoteo, pfäffisch beschränkt und verschmitzt, aber im
Vergleich mit einem anderen Frater, der Lucrezien'S Ehre nachgestellt hatte,
16 noch
Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.
ziemlich
gewissenhaft,
läßt sich in Folge
der Sache durch Ligurio von diesem überreden.
geeigneter
Behandlung
Wie schwer die reine
fromme Lucrezia bei dem Entschluß thut, der ihr von ihren besten Freunden auf Erden, von Mutter und Beichtvater, angesonnen wird, dafür nur eine Aeußerung von ihr: „Ich soll den Tod eines Menschen verschulden? Wenn
ich allein auf der Welt wäre und das menschliche Geschlecht sollte durch mich entstehen, ich glaube nicht, daß mir dergleichen gestattet wäre!" Wie
könnte sie aber auf die Dauer, gutmüthig und nachgibig von Natur, und bei der devoten Art ihrer Frömmigkeit doch in ihrer Einsicht nicht gehörig
aufgehellt, plausibeln Gründen widerstehen, als da sind: „Vielleicht kommt der junge Mensch auch davon; nur dein Leib, nicht dein Wille ist dabei
in Thätigkeit, also weit und breit keine Sünde da; deinem Mann thust du edelmüthiger Weise den größten Gefallen; du erwirbst dir das Ver
dienst, einen Sitz im Paradiese auszufüllen."
Sie gibt sich halb frei
willig, halb gezwungen zum Opferlamm her.
So kann die Sache nach
dem Programm vor sich gehen und Callimaco zu seinem Zweck kommen. Denn er ist natürlich der die Lame klimpernde Nachtschwärmer, der von
der lustigen Gesellschaft mit der Parole: Saint Cocu, von der sich der immer drolliger werdende Nicia auch nicht ausschließt, ergriffen und von dem Gatten selber in die Arme seiner Frau geführt wird.
Nicht minder
drollig, als die Pressung des Ehestellvertreters ist der Bericht, den Nicia über das, was derselben nachfolgt, soweit er anständiger Weise dabei war,
seinen Genossen preisgibt und tragikomisch die Hausfreundsfunction, die
er anderen Tags beim Kirchgang, der das Ganze beschließt, in seiner un begrenzten Dankbarkeit dem hilfreichen Arzt überträgt.
Machiavclli's Mandragola ist, was Anordnung und gleiche Verthei-
lung der scenischen Vorgänge, seine Zeichnung sämmtlicher Charaktere und
Charaktertypen, psychologische Wahrscheinlichkeit betrifft, ein Muster des
Lustspiels.
Es verbirgt sich in ihr der Meister pragmatischer Geschichts
behandlung nicht; wo er, wie hier, selber die Thatsachenreihe fabricirt,
da weiß er, wie keiner, Eins aus dem Andern hervorgehen, auf das A
das B folgen, ohne Zuziehung anderweitiger Hilfsmittel den in der An lage schon vorherbestimmten Fortgang der Sache folgen zu lassen.
Man
würde ihm schweres Unrecht thun, wenn man ihn frivol nähme, wenn
man seine Absicht dahin auslegen wollte, als wollte er nur ein Jntriguenlustspiel liefern,
worin ein Leichtfuß mit seinem illegitimen Glück bei
einer Ehefrau und ein alter Hahnrei mit dem ihm gebührenden Hörner
schmuck zu allgemeiner Belustigung aufgeführt würde.
Ein Vorwalten
der Intrigue würde schon nicht recht zu dem Mann der Thatsächlichkett, als den wir Machiavelli kennen, stimmen.
Nein, das Stück soll zu gleichen
Theilen Situations- und Jntriguenkomödie sein; es schwebt dem Dichter
ein tieferes, eine Art romantisches Motiv vor.
Mit Recht macht Klein,
der im Uebrigen noch zu viel von der unnachahmlichen Komik aller ein
zelnen Scenen angesteckt ist, um in den Hintergrund des Stückes vorzu
dringen, darauf aufmerksam, daß die Liebe Callimaco's mit dem Dufte der Romantik umgeben, daß er vor dem entscheidenden Akt mitten in seiner Liebesgluth, wo er ohne Liebesgenuß fast nimmer leben könnte,
nicht blos ein dumpfes Bangen vor der Schäferstunde, sondern auch Ge
wissensregungen hat.
Aber es ist auch zu bemerken, daß Machiavelli bei
der an ihm gewohnten Sachlichkeit den genarrten Nicia mehr als das
Opfer seines gleich der Flamme Callimaco's inbrünstigen Schmachtens nach Vaterfreuden, denn als bloßen Dupä hinstellt.
Zwar sollte es dem
Dichter nicht begegnen, daß er vor der Katastrophe erst durch Ligurio dem
Callimaco den Rath geben läßt, aber er müsse nach der Lucrezien abge rungenen Liebesnacht ihr sich und seine Liebe zu erkennen geben und den ganzen Vorgang erklären.
Callimaco sollte das selber wissen; aber mit
unserer Auffassung der Intention des Dichters stimmt überein, einmal,
daß Callimaco in seinem Bericht über diese Nacht im mindesten nicht lasciv, sondern ernst und sowie es seine und seiner Geliebten Ehre ver
langt, sich äußert nnd daß Lucrezia ihn feierlich als ihren Herrn und Beschützer proclamiert, ihrem Mann aber
sie sich
über Nacht
von
innerlich
ihm
kurzangebundenes Benehmen auffällt.
des andern Morgens, weil emancipiert
hat,
durch
ihr
Es ist das Evangelium von der
freien Liebe, was Machiavelli mit seiner Mandragola predigen will, ein
Evangelium, das, wenn es auch eine Seite der Wahrheit an sich hat, die
für das Bewußtsein gerade in dem aufgeweckten 16. Jahrhundert sich her auskehrt, in dieser Nacktheit nur von einem Romanen gepredigt werden
konnte.
Ich bekenne, nur noch einmal so wehmüthig von einer gefallenen
Unschuld bewegt worden zu sein, wie es mir hier bei der braven Lucrezia
widerfahren ist, es ist dies die Katastrophe bei der hochstrebenden Linda
in Jean Paul's Titan, die von dem blasirten Rocquairol unter der MaSke Albano's zu Fall gebracht wird.
Ein solch energisches Erregtwerden weist
auf die große Kunst des Dichters hin, der klar und nüchtern das in der menschlichen Schwäche waltende Lebensgesetz beobachtet, aber in unseren Fall, unfähig deS Glaubens an Tugend und sittliche Weltordnung, einen
Vorwurf gewählt hat, der uns ohne ideale Versöhnung entläßt. Wir können bei den übrigen Lustspielen Machiavelli's kürzer sein.
Die Clizia ist eine freie, selbstständige Bearbeitung der Casina des
Plautus, eines seiner verrufenen Stücke.
Bei Plautus verlangen Vater
und Sohn eine und dieselbe Geliebte, die Casina, und es stiftet jener Preussische Jahrbücher. Bd.Xl.VII. Hefti.
2
18
Die italienische Komödie dcS 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen-
seinen Pächter, dieser seinen Waffenträger auf, sie zur Frau zu fordern,
um nach der Hand selber die Ernte einzuheimsen.
Der Alte/ ist eine höchst
komische Figur, die sich fortwährend verschnappt, und statt deS: „er (der
Pächter) liebt, er will" mit „wir lieben, wir wollen" herausplatzt.
Die
eigentlichen Rivalen treten einander gar nicht gegenüber, (der Sohn kommt nicht einmal auf die Scene), um so mehr und um so schlagfertiger die Ersatzrivalen.
Das Loos, das im Kampfe der Parteien den Ausschlag
geben soll, entscheidet für den Pächter, beziehungsweise den Alten.
Aber
die Gegenseite erwidert die gelegte Mine mit einer Gegenmine; sie ver
kleidet bei der Hochzeit einen handfesten Bedienten als Braut und dieser wird schon auf dem Weg in's bräutliche Haus stößig, um vollends in der Brautnacht den Alten und seinen Pächter mit Puffen und Stößen vollauf
zu regalieren.
Das Stück beschließt eine Wiedervereinigung des Alten
und seiner Ehehälfte und nur ein kurzer Epilog meldet die Verbindung deS Sohns mit dem Vkädchen, das auch nicht auf der Bühne erscheint.
Aus dem PlautuS'schen Torso, der einen recht heitern Schwank vorstellt, hat
Machiavelli einen förmlichen Roman, eine regelrechte Komödie in 5 Acten gemacht.
Er bringt seinen Nicomaco, den auf einen Irrweg sich ver
laufenden Alten unserer gemüthlichen und komischen Theilnahme näher.
Derselbe war nach Aussage seiner Frau bis vor Kurzem, wo eine Neigung
zu seiner eben herangeblühten Pflegetochter, Clicia, in ihn hineingefahren ist, ein Mann schlecht und recht; sodann sucht er sich für daS vorgehabte Beilager eigends physisch zu stärken; er hat bei demselben alle Püffe
allein auszuhalten, was ihn vor dem von ihm vorgeschobenen Bräutigam auch noch prostitutiert.
Der Sohn Cleandro macht die Wartezeit der
Liebe regelmäßig durch und zieht uns schon darum an.
Er muß mit seinen
Ansprüchen auf die Hand der Clizia an sich halten, bis man über deren
Herkunft im Reinen ist.
Dies geschieht durch die Ankunft ihres Vaters,
deS reichen neapolitanischen Edelmanns Kamondo, der zu der Verbindung
beider seine Einwilligung gibt.
Beim PlautuS'schen Inkognito der Heldin
hat es die italienische Ueberarbeitung gelassen, doch mit der Entschuldigung, daß sie Anstands halber sich nicht selber zeige. Die commedia in versi.
In zwei Ehen Camill-Panfila und Catill-
Virginia paßt Mann und Frau nicht zu einander.
Camill liebt Vir
ginia, die Frau des Catill und bedient sich eines Schwarms von Mittels
personen, einer gar umständlichen Kupplerin, eines Gaumenphilosophischen Parasiten, eines berufseifrigen Dieners, einer abgeschlagenen Zofe, um bei ihr zum Zweck zu gelangen.
ES kommt, Dank der leidlichen Gattin
treue der Virginia, in vier Acten nichts zu Stande und bildet im Grunde das Ensemble der Subalternen einen Lachchor bei dem Viel Lärm um nichts
einer Herrenliebschaft.
Camills
Ja, ein der Virginia zugedachtes Liebesbriefchen
verirrt sich zu seiner
eignen Frau, Panfila, die damit den
In der Ehe Catill-
Beweis der Untreue ihres Mannes in Händen hat.
Birginia ist nicht durch eine Liebschaft des Mannes, aber durch seine maßlose Eifersucht und durch Vernachlässigung einer an Aufmerksamkeit
gewöhnten Frau der Karren verführt.
Der Dichter gleicht diese Schwierig
keiten dadurch aus, daß er Chremas, einen Onkel der von Camill über
In Folge seiner
Gebühr zurückgesetzten Panfila, in'S Mittel treten läßt.
Jntercession kommen gleichartige Paare zu Stande, die wärmeren Tempera
mente Camills und Virginiens gesellen sich zu einander und ebenso die kühleren Temperamente Catill's und Panfila's,
die
wirklich auch erst
im fünften Act etwas von Zuneigung gegen einander fühlen lassen.
Die
Correctur der anfänglichen Ehebünde geht um so leichter von Statten, als
beidemal die Eheschließung blos formell geblieben war.
Dies und die
Vorführung des Gatten, wie er sein soll durch den Chremas, analog der Zeichnung der Gattin, wie sie sein soll, durch Katharina in „der Wider
spenstigen Zähmung" von Shakespeare, verschaffen dem Stücke einen nicht
zu verachtenden ethischen Werth.
Eines solchen entbehrt die vom Dichter
ohne Namen gelassene vierte Komödie in drei Acten, von Andern il Frate
oder Fra Alberigo genannt, an Boccaccio'sche Hergänge erinnernd, lasciv muthwillig, wie die Mandragola, aber ohne deren Tiefe und Gehalt, mit
einem aller sittlichen Welteinrichtung spottenden Ausgang.
Eine Frau,
Katharina, gibt ihrem Mann Amerigo, der eine Zusammenkunft mit
der heiß begehrten Gevatterin, Alfonso's Frau, plant, die Untreue mit doppelten Zinsen heim.
Sie leiht aus Rache gegen ihren Mann einem
Mönch Alberigo, der längst um ihre Gunst gebuhlt hat, Gehör.
Amerigo
läßt sich in Alfonso's Haus zu einem Stelldichein mit der Gevatterin, die weit und breit nicht ist, locken.
Als er dorthin kommt, hat seine eigene
Frau die Stelle der Gevatterin eingenommen, bereits in den Armen des
Mönchs geruht, dreht jetzt aber den Stil gegen den in flagranti ertappten Mann, den sie mit gehörigen Gekreisch empfängt, um.
Die beiden correi
überbieten sich gegenseitig in Heuchelei und Verstellung, sie mit Betheurung ihrer ehelichen Treue, er mit frommer Paränese.
Da der Frater einen
erträglichen Frieden zwischen den beiden Ehegatten zuwege bringt, be sonders den Mann von dem fortgesetzten Keifen seines Weibes errettet, so fällt für ihn der Gewinn ab, daß er von nun an bei ihnen als ge
setzlicher Hausfreund fungieren wird.
Dies der Schluß einer Posse, die
nur als Warnung vor den Uebergriffen des Klerus nicht ganz der mo
ralischen Verurtheilung anheimfällt. Pietro Aretino, übel berüchtigten Andenkens, wird darum doch
2*
Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.
20
von Schlosser, Ruth, Burkhardt, Klein bei den großen Komödiendichtern Mit Fug und Recht: eS ist zwar auch
des 16. Jahrhunderts eingereiht.
im vorliegenden Fach nicht seine Sache, sich an Maas, Ordnung und Regel zu binden, aber er ist der geborene Plauderer, burlesk und mit dem Herzen immer auf der Zunge, voll von Erfindungen und Einfällen, nicht ohne
gewisse ihm eigenthümliche, specifische Vorzüge.
Unter diese möchten wir
rechnen daS Unicum einer Farce, die er mit seiner ersten und besten Ko mödie, il Marescalco, geliefert hat, und seine Erhebung gewisser stehender Lustspielfiguren zu Originalen, seine Schöpfung bedeutender, bisher nur
von Terenz geschaffener Charakterthpen. II Marescalco, der Hofmarschall, ist an und für sich schon schätzbar,
weil es daS einzige, ganz schulgerechte Stück des AretinerS ist, in dem nicht eine Handlung sich erst mit einer zweiten in den Rahmen der fünf
Acte theilen muß oder in der nicht der Gang der Darstellung durch epi sodische Nebenunterhaltungen, in denen daS flagellum principum gern seine satirische Laune über Gott und Welt ausschüttet, wesentlich gestört
wäre.
Wenn Aretin schreibt, der Marescalco und die Cortigiana
haben ihn nicht mehr als 10 Morgenstunden zu machen gekostet, so paßt
diese Zeitangabe wenigstens für den genialen Wurf, den er mit dem Hof marschall gethan hat. anderem
Wer hätte nicht schon Träume gehabt, die in nichts
als in Retardationen
einer dringenden Eile
bestanden?
Er
befand sich dabei nicht in einer epischen, sondern in einer dramatischen
Situation, weil er sich mit dem verwünschten Schicksal herumzankte, also gleichsam in der Dialektik sich übte.
Aehnlich ist's mit dem Helden der vor
liegenden Komödie, nur daß es diesmal nicht einem Retardieren, sondern einem Avancieren der LebenSuhr gilt, der vom bösen Traum Heimgesuchte nicht der ewig Zurückgehaltene, sondern der ewig Geschobene ist.
Der
Hofmarschall des AretinerS gehört noch nicht zu seinen Originalen; dafür ist im Stück gesorgt durch einen absurden Pedanten, der selten ohne einen von dem jungen Volk der Pagen ihm hinten angehefteten
brennenden Papierstreifen erscheint.
Nein, der Hofmarschall ist ein Mann
comme il saut, gescheidt, honnett, berufsgetreu, ohne Ansprüche, nur mit
dem der Komik jederzeit eine offene Sette darbietenden Fehler behaftet, daß er nicht heiraten will. Gerade aber auf ein solches Individuum, das
die Welt in Ruhe läßt, hat's die Unruhe abgesehen, ihn packt der wüste Traum, die ganze Unseligkeit einer mit ihm
angestellten Parforcejagd.
Sein Herzog Gonzaga von Mantua verlangt von ihm absolut, daß er heiraten soll, und weil er selber keine Schritte thut, so soll er in'S Ehe
joch hinein getrieben und gestoßen werden, ob er will oder nicht.
Immer
hat nun der Unglückliche die Meute, die des Herzogs Spruch aufgeboten
hat, hinter sich.
Alles hat sich gegen ihn verschworen, ihn in den unlieb
samen Ehestand hineinzubrtngen: alt und jung, hoch und niedrig, Amme und Bursche, Reitknecht und Page, Christ und Jude, Cavalier und Ju
welier; alles will sein Bestes, alles beeifert sich, auch die Hand bei der hochwichtigen Sache im Spiel zu haben, eins läßt sich vom andern an
stecken, im Ernst oder im Spaß sich bei der Sponsalienaffatre des Hofmarschalls zu betheiligen.
Ach, der Arme hat eine Art Beistand an Meister
Ambrogio, einem abgesagten Feind deS Ehestandes, unter deffen Hörnern
er selber seufzt, aber der thut zuletzt auch beim Treibjagen mit oder stellt
sich mit mitleidigem Lächeln zur Sette.
Und vollends wie weit treibens
die um das Glück des Hofmarschalls ängstlich Besorgten, die Amme, die
bis in'S kleinste Detail das gemüthliche Behagen des heiligen Ehestandes
auSmalt, Meister Jacopo,
der dem Zögernden extra
seinen
heran
vorführt!
Welch eine
drollige Figur der geplagte Mann mit seiner fruchtlosen,
bis an den
gewachsenen Sohn als Bild des Kindersegens
Traualtar fortgesetzten, Gegenwehr*) darbieten wird, läßt sich denken, nicht
aber wie diese rastlose Hetze, die uns gleich dem Hetzwild schwül und immer schwüler macht, endigen wird.
Der Herzog treibt seinen gnädigen
Spaß nur soweit, daß der häßliche Traum gerade noch Schaum werden kann: wo die angebliche Braut nach dem Wechsel der Ringe sich entschleiert,
da sieht das naseweise Gesicht des Pagen hervor.
Wenn an dem Schleier-
macher'schen Wort von der Analogie des träumenden und des dichtenden Fortspinnens der Phantasie etwas Wahres, wenn Leben und Bewegung die Seele des echten Drama und ein alles in regste Betheiligung ver
setzender Mittelpunkt, wie eine interessante Hochzeit, das Erforderniß der selben ist, dann dürfte der MareScalco des AretinerS ein Muster von
einer Farce sein. Einer der unerfüllten Wünsche Pietro Aretino'S war die CardinalS-
würde.
Vielleicht daß er für feine durch mehrere Päpste getäuschte Hoff
nung sich einige Genugthuung mit seiner Cortigiana, die HöflingSschule, verschaffen wollte, worin die entehrende Laufbahn, die der Purpur-
adspirant Maco von Siena durch die Höflingsschule hindurch bis zur
Bekleidung mit dem Purpur machen muß, beschrieben wird.
Nicht nur
enthält daS Buch für Höflinge, das dem Maco sein schelmischer Mentor
Andrea in die Hand gibt, eine abscheuliche Instruction zur Gesinnungs losigkeit, Geckenhaftigkeit, Unterwürfigkeit.
Auch die Prozedur, die Maco,
um ein Höfling zu werden, durchmachen muß, ist eine treffende Satire. *) Er erschöpft alle Mittel derselben; er schreit in derselben Verzweiflung vor der ganzen Hochzeitsgesellschaft 5, 4 hinaus: io sono aperto, wo ihn aber gleich seine Amme Lügen straft.
Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.
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Er wird in eine Wasserkufe geworfen, um geschmeidig zu werden, er muß devotest Pillen verschlucken, er muß ein Schwizbad nehmen, um sich zum Mann vom Hofe abbrühen zu lassen.
Ein zweiter, von dem ersten ganz
unabhängiger Halbnarr ist ein Signore Parabolano aus Neapel, der
sich, ein Vorläufer Don Quixote's und seiner Dulcinea von Toboso, in Madonna Livia, die nichts von ihm weiß, geschweige will, abstract ver
liebt hat, so daß seine geheimen Seufzer, von dem abgefeimten Rosso
belauscht, von diesem und der Kupplerin Alvigia dazu verwendet werden, ihm durch die Zusammenführung mit einem schlechten Weib, Trog na,
Frau des Bäcker Hercolano, als der angeblichen Livia ein X für ein U zu machen.
Die beiden disparaten Fäden der Erzählung weiß der ge
wandte Dichter am Schluß zusammenzubringen, indem er mit Hilfe des enttäuschten Parabolano, dem er gleichsam das Regiment überträgt, die
verschiedenen Interessen des Lustspiels in menschenfreundlicher Weise be friedigt werden läßt.
Eine bedeutendere Leistung, als la Cortigiana, ist das dritte Lust spiel il Ipocrito, der Heuchler, so benannt, nach dem Factotum bei der
schicksals- und töchterreichen Familie eines Herrn Liseo
in Mailand.
Doch verdient es die Figur dieses Hhpokriten nicht, daß nach ihm das Stück betitelt wurde.
II Ipocrito ist zwar gehörig carikiert, ein Simulant,
Salbader, Mahlzeitjäger, Frauenbeschwätzer erster Sorte, aber zu Er
zeugung eines vollständigen Tartüffe haben die Italiener noch zu viel Re spect vor der Magie, über die der Klerus verfügt.
Besser hieße das
Stück nach Liseo, in dem uns ein eigenartiger, im Verlauf der Erzählung zur Entwickelung gekommener Charakter geschenkt wird. Liseo ist ein Kreuzträger, wie wenige. Schon zu Anfang des Stückes ist er mit be ständiger Angst behaftet, sein von ihm in der Kindheit getrennter Zwillings
bruder Britio könnte wieder kommen und er müßte mit diesem das Erbe
theilen.
Dann hat er nicht weniger als fünf mannbare Töchter, von denen
jede ihrm eigenen, möglicher Weise durch mehrere Bewerber oft recht ver wickelten Liebesroman hat, was für die Eltern Verlegenheiten genug absetzt,
er leidet dann auch gleich Petrarka unter Schlingeln von Bedienten; end lich kommt er mit seiner Frau in die ärgsten Ehehändel hinein, weil
der incognito erscheinende Bruder, Britio, Anlaß zu den ärgsten Miß verständnissen gibt.
Kurz, er kann sich, wie er seinem Hausfreund, dem
Hhpokriten, klagt, aus dem Wirrwarr seiner Verhältnisse nimmer heraus
finden, hält sich von einem durch das Schicksal in Person Verfolgten.
Der
Hypokrit gibt ihm den Rath, sich eben aus dem Schicksal nichts zu machen. Er folgt ihm, so gut es geht.
Sein Dasein ist von nun an ein Wechsel
zwischen dem Verfolgungswahn, der nicht mehr von ihm lassen will, und
zwischen einem starken, gegen Laune und Tücke des Geschicks sich abhärtenden Willen, eine Mischung von Narrheit und Weisheit, ein erstes Auftauchen
eines in moderner Weise zerrissenen Subjects in der Culturgeschichte! DaS Einemal sieht er in seinem Brilder-Doppelgänger die leibhaftige,
ihn äffende Fortuna, das anderemal setzt er eine kaustische Apathie und Stumpfheit gegen Leid und Freude. Auch gegen Freude: eS stellt sich heraus,
daß der Junggesell Brttio in den besten Verhältnissen lebt und
nicht
daran denkt, sein Erbe vom Bruder zu verlangen; eö wickeln sich die
HeiratSaffairen, eine nach der andern, aufs Befriedigendste ab; „die fünf Töchter", proklamiert der Hypokrit, „werden heute ihre Hochzeit machen
oder erneuern"; Britio ist der theilnehmendste Bruder, Schwager, Onkel
von der Welt.
Lifeo beharrt in seinem dumpfen Brüten, das er nur mit
seinem ewigen Reftatn: Todos es nada, alles ist nichts und mit dem Kassandrawort: in zwei Stunden werde sich all der Hochzeitjubel in Gram und Grauen auflösen, unterbricht. Immerhin ein anzuerkennender Versuch,
den tragikomischen Conflict von Menschenschicksal und Menschenherz vor
zuführen l Gehen wir über die vierte Komödie deS AretinerS, la Talanta, eine neue Auflage von Terenz' Eunuch, nur
daß
die Courtisane Talanta
noch ganz anders, als die Hetäre Thais, das Metier, Männer ein- und auszuziehen, zu äffen und zu foppen und zu guter Letzt doch noch einen Gatten zu erangeln versteht, zu der fünften und letzten, il Filosofo über. Dieselbe ist, ungeachtet sie zwei heterogene Handlungen enthält, die nicht,
wie in der Eortigiana, schließlich zusammengehen, nicht ohne Gehalt, indem
sie unS in dem Filosofo nach Lifeo, dem vom Schicksal herausgeprägten
Original, auch ein ursprüngliches, gleichsam spontanes Original darbietet. Um mit der Nebenhandlung fertig zu werden: sie gibt sein und lustig
dialogisiert unter anderem Namen und mit ausgedehnterer Staffage die bekannten Abenteuer des Pechvogel und schließlichen Glückspilz Andreuccio
wieder, die wir aus der drolligen Erzählung Boccaccio'S in Dekamerone
kennen.
Die Haupthandlung dreht sich um den Philosophen Plata-
ristotele, der eine Frau, Tessa, genommen hat, von der er aber ver
graben in seinen Studien, keine Notiz nimmt, so daß sie in der Ver
zweiflung die Huldigungen eines süßlichen Galan, Polidoro, annimmt.
Als der Philosoph die Lunte riecht, beschließt er, den Rivalen in sein
Studierzimmer zu locken und dort einzuschließen, um seine Frau vor ihrer
Mutter und den Domestiken zu beschämen.
Aber die Gegner bekommen
Kunde von dem Anschlag, lassen den Polidoro heraus und statt seiner einen Esel hinein, sodaß der Philosoph, als er feierlich das Zimmer öffnet,
um Tessa vor Zeugen ihrer Untreue zu überweisen, nur den Spott der
Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.
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Uebrtgen und eine geeignete Strafpredigt von seiner Frau erndtet.
Er hat
aber eine so gesunde Natur, daß die erlittene Beschämung und die wohl begründeten Vorstellungen seiner Frau ihn zum Nachdenken bringen und
er sich auf seine ehelichen Pflichten besinnt, der Frau und den Ihrigen,
selbst auf die Gefahr hin, daß sie ihm nicht ganz treu gewesen sei, Ab
bitte thut und unS mit der Hoffnung entläßt, die versöhnten Ehegatten könnten eS noch zu einer ganz leidlichen Ehe miteinander bringen.
Verdienst unseres Dichters besteht darin,
Das
in seinem Ptataristotele an
gemessen die Züge deS Gelehrten und Menschen gemischt zu haben.
In
seiner Umnachtungsperiode nehmen seine Meditationen von selber ihren Inhalt von dem Stand, in den er formell eingetreten ist, indem sie sich auf
Gegenstände, wie Liebe, Sinnlichkeit, Procreation richten und in der Zeit seines WachwerdenS führt ihn ein angenehmes Nebeneinander von tief
sinniger Reflexion und von nüchterner Anschauung auf das, was er seiner Frau und seiner eigenen Lebensaufgabe schuldig ist.
Kein unfeiner Zug
des Dichters ist es, diesem Sonderling, der sich zuletzt als einen Mann von
Substanz offenbart, einen recht faden Menschen zum Nebenbuhler verliehen zu haben: für Mann und Frau vergeht auf diese Weise die Seifenblase seiner Erscheinung so leicht, wie er in der Erzählung selber verduftet.
Wir haben die vier bedeutendsten Vertreter der italienischen Komödie im 16. Jahrhundert unsern Lesern vorgeführt.
„In die Denkweise der
Blüthe der italienischen Gesellschaft muß man eingeweiht sein, um die weltgeschichtliche Bedeutung zu verstehen, welche die Lehre von der Recht
fertigung durch den Glauben, aus dem deutschen Gemüth wiedergeboren,
erlangt hat."
So
ruft Georg Voigt
in seiner
„Wiederbelebung des
classischen Alterthums" S. 412 aus, wo er die Welt des Scheins beleuchtet, in der rein humanistische Schöngeistigkeit die sittliche Ordnung verkehrt hatte.
Auch bei den vorgeführten italienischen Komikern fühlt man häufig das Bedürfniß, um nicht an der Menschheit zu verzweifeln, die ihnen gleich zeitige Reformation in ihrer Blüthenära ihnen gegenüber sich zu denken;
darum dürfen wir aber den Werth ihrer redlich gemeinten Vorarbeit für das Drama auf dem germanisch-protestantischen Boden uns nicht ver
bergen.
Emil Feuerlein.
Dr. Mittelstädt und die Einzelhaft*). Don
I. Bartz.
In den maßgebenden Kreisen wie in der Sphäre der Fachmänner und weit über dieselbe hinaus schien die Frage nach der besten Art des
Strafvollzugs seit längerer Zeit prinzipiell entschieden zu sein.
Freiheits
strafe das normale Strafmittel, Einzelhaft die normale Ausführung der
Freiheitsstrafe, diese Sätze waren fast zu Axiomen geworden, von denen namentlich der erstere eine- Beweises nicht mehr bedurfte.
zweiten wurden noch hie und da Stimmen laut.
Gegen den
Auf der einen Seite
protestirten immer noch Leute, denen bei dem Worte „Zelle" das modrige
Kerkerloch eines mittelalterlichen Burgverließes vor das Auge trat und die sich einen Gefangenen in seiner Zelle so verlassen vorstellten, wie es nicht einmal Robinson auf seiner Insel gewesen war, die sich dann auch
nicht denken konnten, wie jemand Leben in solcher Einsamkeit behalten könne, und die nicht selten glaubten, daß die armen Gefangenen dort durch
religiöse Bestürmung um den letzten Rest von Verstand gebracht würden. Auf der anderen Seite fehlte es auch immer noch nicht an Strafanstalts beamten, welche die Einrichtung und das Leben in einem Gefängniß mit durchgeführter Einzelhaft höchstens ganz oberflächlich kennen gelernt und
die nicht geneigt waren, die Verhältnisse, in die sie sich einmal eingelebt hatten, aufzugeben für etwas, in dessen Wesen sie sich gar nicht hinein
versetzen konnten.
Diese hielten in dem Bewußtsein, daß doch auch in
ihren Anstalten Reinlichkeit und Ordnung herrsche, die Zellengefängnisse
für einen ganz überflüssigen, wenn nicht gar schädlichen Luxus.
Beide
Parteien zusammen waren aber nicht im Stande das siegreiche Vorschreiten der Einzelhaft aufzuhalten; was sie erreichten, waren einige Restrictionen für die praktische Ausführung in Bezug auf die Dauer der Zeit, welche *) Die Red. stellt hiermit die wichtige Frage zur DiScussion und behält stch ihre Meinung vor.
der Gefangene in der Zelle zubringen müsse, welche aber daS Prinzip
selbst nicht anfochten. geworden.
Jetzt ist die Sachlage seit einiger Zeit eine andere
Mancher einflußreiche Mann ist in seinen Anschauungen über
die Sache unsicher geworden, ja man hört, daß der Entwurf zum Straf vollzugsgesetz, der im wesentlichen die Einzelhaft als die normale Art des
Strafvollzugs festhielt, einstweilen ad acta gelegt sei.
Die Ursache dieses
Umschwungs ist die Broschüre des Dr. Mittelstädt in Hamburg „Gegen
die Freiheitsstrafen" (Leipzig, Hirzel).
ES hat ihr nicht an Entgegnungen
und Kritiken gefehlt, doch ist die Sache noch immer unentschieden und darum soll hier auö den Erfahrungen eines Beamten an einem Zellen-
gefängniß ein bescheidener Beitrag zur Frage nach dem Werthe der Einzel haft mit besonderer Berücksichtigung
jener Einwände gegeben werden,
welche Dr. Mittelstädt dagegen erhoben hat. Der frische Ton, in dem die Schrift Dr. Mittelstädt's geschrieben ist, sein energischer Unwille gegen die Oberflächlichkeit, sittliche Verschwommen
heit und geistige Zerfahrenheit unserer Zeit, die Freimüthigkeit, mit
welcher er der öffentlichen Meinung entgegentritt, sind wohl geeignet ihm die Sympathie aller derer zu gewinnen, welche mit tiefem Schmerz er kannt haben, in wie hohem Grade das sittliche Bewußtsein unseres deut
schen Volkes gesunken ist — so sehr, daß in weiten Kreisen der Satz, der Zweck heiligt die Mittel, in praxi als etwas selbstverständliches an
gesehen wird.
Leider ist dieser Schlummer der Gewissen meist zu tief,
als daß ein solcher Weckruf viel wirken könnte, hat doch selbst die ernste
Predigt der Attentate, und die Aufdeckung der erschreckenden Progression,
in der Verbrechen und Vergehen aller Art im letzten Jahrzehnt zuge
nommen haben, in der Art wenig gebessert, daß die einzelnen Glieder des Volkes sich auf ihre speciellen sittlichen Verpflichtungen hin ernstlich und
dauernd besonnen hätten.
Zudem hat meines Erachtens Dr. Mittelstädt
selbst viel gethan die Wirkung seiner Schrift zu hemmen, die sonst als
ein Aufruf an den geistigen Adel der deutschen Nation so wohl gemeint ist.
Seine prinzipiellen Anfeindungen der Freiheitsstrafen und speciell
der Einzelhaft sind keineswegs so fest begründet, wie es nach der Sicher
heit scheinen möchte, mit der sie auftreten.
Nach Dr. Mittelstädt ist die Freiheitsstrafe ein Product der Neuzeit, welche, hingenommen von einem weichlich sentimentalen Humanismus und
einer gründlichen philosophischen Bildung entbehrend, den Begriff der Strafe verloren habe und nur an die Besserung deS verirrten Indivi duums denke.
Die Entziehung der Freiheit als Strafe anzuwenden, er
scheint ihm ganz widersinnig, weil eine Relation zwischen Gesetzesüber
tretung und Freiheitsstrafe nicht herzustellen sei.
Erst wenn man den
abschreckenden Charakter, welchen jede Strafe tragen müsse, wenn sie als Strafe gelten solle, aus dem Auge lasse und daS Wesen der Strafe nur
darin suche, daß sie den Verbrecher bessern solle, könne man auf die un
glückliche Idee der Freiheitsstrafen kommen.
Die prinzipielle Frage, ob
Freiheitsstrafen berechtigt sind oder nicht, kann in diesen Zeilen nicht zum AuStrage gebracht werden, sie muß dem Forum der Juristen vorbehalten bleiben.
Wir wollen hier auch nicht mit ihm darüber rechten, in wie
weit nicht z. B. schon die Bergwerksarbeit bei den Völkern deS Alter thums unsern Zuchthäusern entsprochen habe.
Nur so viel soll nicht un
erwähnt bleiben, daß nach der historischen Entwickelung des Strafvollzugs der Staat nicht etwa zu einer Zeit das BefferungSprinzip an die Stelle des Strafübels, durch welches die Verletzung der Gesetze oder der Ge
rechtigkeit gesühnt werden soll, gesetzt, sondern daß er im Laufe der Zeit theils Privatpersonen
theils
kirchlichen Organen gestattet hat,
an der
Besserung der Gefangenen zu arbeiten, woraus sich allmählich der jetzige Zustand herausgearbeitet hat.
Andererseits liegt es im eigensten Interesse
des StaateS wie vor allem im Begriff der Strafe, daß die sittliche Um
wandlung des Verbrechers vor sich gehe, denn nur dann wird die Ge rechtigkeit vor neuen Verletzungen von seiner Seite gesichert sein.
Ueber
allem Thun, über allen Bestrebungen des modernen Staates, der nicht mehr den christlichen Charakter an sich trägt, sondern über aller Religion
zu stehen glaubt, steht allein das Prinzip der Selbsterhaltung und Fort entwickelung.
Auch die Gerechtigkeitspflege kann von dem Staate nur auS
dem Grunde geübt werden, weil ohne Ordnung kein Gemeinwesen besteht. Der objective Ausdruck aber der staatlichen Ordnung ist daS Gesetz.
DaS
Ziel des StaateS muß eS jedoch sein, daß seine Bürger das Gesetz nicht
blos aus Furcht vor der Strafe unterlassen, sondern willig befolgen, weil er nur in diesem Falle sicher ist, daß nicht unter der täuschenden Hülle
äußerer Gesetzmäßigkeit in der Stille große Ungesetzlichkeiten verübt werden. Es ist wohl kaum nöthig an das Beispiel jener Wucherer zu erinnern,
welche es sogar verstanden haben, daS Gesetz ihren verbrecherischen Zwecken dienstbar zu machen.
So ist dem Staat und seiner Rechtssicherheit wenig
geholfen, wenn aus einem Diebe ein raffinirter Betrüger wird, welcher
sich nicht fassen läßt.
Und auch zu dem Begriff der Sühne gehört eS,
daß auf die Ausübung eines Unrechts nicht nur ein Strafübel folgt, son dern auch die Reue des Thäters über die begangene That.
Dieselbe ist
nur dann wirklich gesühnt, wenn der Verbrecher den Schmerz auftichtiger
Reue gefühlt hat, wenn die Majestät des Gesetzes ihn auch innerlich über
wältigt hat.
Freilich wird es in jedem Staat eine Reihe nothwendiger
Vorschriften geben, welche nur eine durch die besondern Verhältnisse be-
dingte zufällige Nothwendigkeit besitzen und denen gegenüber im allge
meinen sich nur eine äußerliche Erfüllung erzwingen läßt.
aber die prinzipielle Seite der Frage nicht.
Das tangirt
So erscheint die anzustre
bende Besserung nicht mehr als Nebenzweck neben dem Hauptzwecke von
weiteren Uebertretungen abzuschrecken, sondern als ein integrirendeS Mo ment in dem Begriff der Strafe.
Eine Strafe, welche die Besserung
des Bestraften nicht erreicht hat, ist unvollkommen geblieben.
ES ist nicht
eine Verkennung von dem wahren Wesen der Strafe, wenn der Straf vollzug so gestaltet wird, daß man dadurch den Verbrecher zu bessern sucht,
sondern eine tiefere Erfassung dieses Begriffs. Alle praktischen Bestrebungen sind jedoch an die Verhältnisse in der
Wirklichkeit gebunden, und lassen sich nur so weit verwirklichen, als diese es.gestatten.
So gestehen wir Dr. Mittelstädt das gerne zu, daß bei
einer ganzen Anzahl von Vergehungen es überflüssig erscheint, den kost
spieligen und umständlichen Apparat der Freiheitsstrafen in Anwendung
zu bringen.
Sicherlich giebt es eine ganze Anzahl von Vergehungen, wo
von einem derartigen Geisteszustand des Thäters nicht die Rede ist, daß es erst einer längeren Einwirkung bedürfte, um ihn zur Erkenntniß seines
Unrechts zu bringen.
Geldstrafen,
welche aber auf die Erwerbs- und
Vermögensverhältnisse des Betreffenden billige Rücksicht nehmen sollten, Ehren- und auch Leibesstrafen, bei denen sich gegen die brutale Art, in
der sie leider häufig ausgeführt worden sind, und die sie in Mißcredit gebracht haben, leicht Garantieen finden ließen, könnten wenigstens einen
Theil der kürzeren Gefängnißstrafen mit großem Vortheil ersetzen.
Ich
kann mir nicht vorstellen, daß unter den Männern, welche die Wirkung
der Gefängnißstrafen mit Aufmerksamkeit beobachtet haben, ein einziger sein sollte, welcher nicht auch die Ueberzeugung gewonnen hätte, daß die kurzzeitigen Freiheitsstrafen in ihrer überwiegenden Mehrheit einen durch
aus schädlichen Charakter an sich tragen.
Sie dienen meist nur dazu die
Scheu vor der Strafe und damit die Scheu vor dem Verbrechen zu ver lieren.
Weder an eine Sühnung der begangenen That, noch an eine
Abschreckung des Verbrechers und seiner Umgebung, noch, und dies am
allerwenigsten, an eine Besserung ist dabei zu denken.
Das ist selbst bei
der Einzelhaft der Fall, von der gemeinsamen Haft ganz zu geschweigen. Vor
allem bei jugendlichen Verbrechern,
bei ehrlos verkommenen, ge
werbsmäßigen Vagabonden, welche ihre Faulheit zwischen Gefängniß und
Arbeitshaus hin- und hertreibt und die die Strafanstalt wie eine Ver sorgungsanstalt betrachten, so wie für sogenannte Louis wäre eine ange messene Anwendung der Körperstrafe ficherlich zweckmäßiger als kurze Ge
fängnißhaft, wo möglich noch in Gemeinschaft mit gleichgesinnten Genossen.
Wer durch sein Leben oder durch sein Vergehen resp. Verbrechen zeigt, daß er keine Ehre hat,
sollte um seinetwillen wie um der ehrenhaften
Leute willen, auch als ehrlos behandelt werden, denn in der Regel kann
er allein auf diese Weise zur Erkenntniß seines sittlichen Zustandes kom
men, und ohnedies wird seine innere Frechheit nur gestärkt, wie man das hundertfach beobachten kann.
Nach meiner festen Ueberzeugung sollte
Gefängnißstrafe unter einem Jahr nur in Ausnahmefällen, unter 6 Mo naten überhaupt nicht erkannt werden können. Auch das ist Dr. Mittelstädt zuzugeben, daß jene ausgelernten Ver brecher, bei denen alle Aussicht auf eine mögliche Wiedergeburt verloren
gegangen ist, nicht in den
eigentlichen Strafgefängnissen oder Zucht
häusern unterzubringen sind, sondern in Arbeitshäusern, vielleicht auch durch Deportation, aber nicht nach englischem oder französischem Muster,
unschädlich zu machen sind.
Im Uebrigen aber sind die Beschuldigungen,
welche er gegen die Freiheitsstrafen erhoben hat und zwar besonders noch gegen die normale Art der Freiheitsstrafen, gegen die Einzelhaft, durch
aus unzutreffend. Eigenthümlich nimmt es sich aus, wenn Dr. Mittelstädt in seinem
offenen Briefe an den Sächsischen General-Staatsanwalt von Schwarze
(im neuen Reich 1860 Nr. 16) mit Nachdruck geltend macht,
nicht wie
lange, sondern wie man beobachtet habe, sei für die Richtigkeit der Beob achtungen entscheidend, während jeder Beamte eines Zellengefängnisses
aus der Schrift des Dr. Mittelstädt den Eindruck gewinnen muß,
daß
derselbe eingehendere Studien in einem Zellengefängniß nicht gemacht
hat.
Nur so erklärt es sich auch, wenn er die Anwendung der Freiheits
strafen vornehmlich aus dem Grunde bekämpft, daß ihnen der abschreckende Charakter fehle.
Das wäre doch nur der Fall, wenn man den Verlust
eines Gutes nicht als ein Uebel empfinden würde. freien Willens,
Die Beraubung deö
des Genusses aller seiner Besitzthümer, die Entfernung
aus dem Kreise seines Wirkens und Umgangs, die LoSreißung von allen lieb gewordenen Lebensgewohnheiten, sollte nicht als ein Uebel empfunden
werden?
Gewiß
wird es von den verschiedenen Personen je nach ihrer
Charakteranlage und bisherigen Lebensstellung verschieden schwer gefühlt,
aber das wird bei jeder Strafe bleiben.
Für jeden Gefangenen aber ist
diese Entsagung, verbunden mit der Unterordnung unter die Vorschriften der Hausordnung, eine Last,
welche ihm auferlegt wird, und nur etwa
in gemeinsamer Haft oder bei kurzzeitigen Strafen, kann dort die unter haltende Gesellschaft, hier die Erwartung des nahen Endtermines den
Druck dieser Last wirkungslos machen. Wenn Dr. Mittelstädt als Gegenbeweis den traurigen Umstand an-
führt, daß die Zahl der Vergehen und Verbrechen in den letzten Jahren erschreckend gewachsen ist, so kann gegen die Einzelhaft schon aus dem einfachen Grunde damit nichts bewiesen sein, weil die Zahl der Zellen
gefangenen immer noch verschwindend klein ist gegenüber der ganzen Zahl Eine allgemeine abschreckende Wirkung der Einzelhaft
der Gefangenen.
kann doch füglich erst dann erwartet werden, wenn sie allgemein einge führt ist und jeder Verbrecher darauf gefaßt sein muß, daß er in die
Zelle gebracht wird.
Soweit sich die Sache nach den hier in Plötzensee,
wo sowohl Einzelhaft als Gemeinschaftshaft in ziemlich großem Maßstabe
gemachten Erfahrungen beurtheilen
vertreten ist,
läßt, kann gar kein
Zweifel darüber sein, daß die Einzelhaft insbesondere auch für den be reits moralisch tief gesunkenen Verbrecher eine entschieden abschreckende Wirkung ausübt.
So groß ist dieselbe natürlich nicht, daß keine Rück
fälle mehr vorkommen. verhindern.
Diese lassen sich durch kein Strafmittel ganz
War doch vor einiger Zeit ein Mensch hier inhaftirt, welcher
wegen TodtschlagS zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurtheilt gewesen
war, wovon er siebenundzwanzig Jahre verbüßt,
und der sich nach
her doch wieder in eine Schlägerei eingelassen hatte.
Wenn aber Dr.
Mittelstädt die große Rückfälligkeit, welche im Allgemeinen herrscht, auch ohne Weiteres auf die Einzelhaft anwenden will, so ist das eine große
Ungerechtigkeit.
Leider ist die Statistik auf diesem Wege noch sehr wenig
ausgebildet. In Bezug auf die Zuchthaussträflinge ist ja angeordnet, daß über ihre Rückfälligkeit Buch geführt wird, aber doch nur so weit es sich
um eine neue Verurtheilung zum Zuchthaus handelt, ohne etwaige neue Gefängnißstrafen zu berücksichtigen.
In dieser Beziehung stehen z. B.
Moabit in Preußen, Nürnberg in Baiern durchaus günstig da neben den
Zuchthäusern mit gemeinsamer Haft.
Wenn Dr. Mittelstädt von der ge
meinsamen Haft behauptet hätte, daß sie nicht bloß die Rückfälligkeit nicht
hindere, sondern vielmehr oft Anlaß werde zu neuen Verbrechen, wie ja selbst in der Untersuchungshaft von den Zimmergenossen schon neue ver
brecherische Pläne geschmiedet werden,
so hätte ich nach meinen Erfah
rungen dem nicht widersprechen können.
Dr. Mittelstädt sucht alle möglichen Instanzen gegen die Einzelhaft
in Bewegung zu setzen.
Wie er aber dabei behaupten kann, daß das
System der sogenannten vorläufigen Entlassungen, wonach ein Sträfling, wenn er drei Biertheile, mindestens aber ein Jahr von seiner Strafe ver büßt und sich auch gut geführt hat, unter Vorbehalt des Widerrufs ent
lasten werden kann, kläglich FiaSco gemacht habe (S. 54), ist mir voll
ständig unfaßlich.
Wie Dr. Mittelstädt die Zahlen, welche von Schwarze
in seiner Schrift „die Freiheitsstrafe" (Leipzig FueS' Verlag) zur Wider-
legung dieser Behauptung anführt, in seiner oben angeführten Entgegnung
„Im Neuen Reich" zu seinen Gunsten wenden will, vermag ich nicht einzusehen.
Die Zahl der in Preußen bedingt entlassenen Sträflinge
betrug 1871, 1708;
1872, 289;
1873, 179;
1874, 140, der Widerruf
erfolgte in je 80, 26, 7 und 2 Fällen, oder es erfolgte auf je 21, 4;
11,1; 25, 6; 70 Entlassungen ein Widerruf, was sich doch wahrlich nicht
als ein ungünstiges Resultat bezeichnen läßt.
Sollte eS ihm denn so
ganz unbekannt geblieben sein, daß nicht schlechte Erfahrungen, die man
auf diesem Gebiete gesammelt hätte, sondern persönliche Antipathien eS herbeigeführt haben, daß jetzt leider nur eine sehr kleine Zahl von solchen
vorläufigen Entlassungen stattfindet, und daß, wo die Genehmigung ver
weigert wird, nicht einmal der Grund der Versagung angegeben wird? Die Erfahrungen, welche man in dieser Sache gemacht hat, sprechen
sehr entschieden zu Gunsten dieser Einrichtung.
Auch die Ergebnisse,
welche Streng in seinem trefflichen Buche über daS Zellengefängniß in
Nürnberg anführt, sind geradezu glänzend, und mit Recht hat die rhei nisch-westphälische Gefängniß-Gesellschaft, auf solche Resultate gestützt, mehrfach Petitionen eingeretcht, welche um eine mildere Handhabung des
§. 23 des Strafgesetzbuches bitten.
Bis jetzt sind dieselben leider ohne
nennenSwerthen Erfolg geblieben.
Aeußere Vorzüge erkennt Dr. Mittelstädt der Zellenhaft gegenüber der Gemeinschaftshaft ohne Bedenken zu.
So sagt er:
Wie viel Luft
und Licht, welche durchsichtige Ordnung und makellose Sauberkeit waltet in diesen endlosen Gängen und zahllosen Zellen (S. 15).
An anderer
Stelle redet er von dem relativen Vorzüge, welchen die Einzelhaft im Allgemeinen vor der regellosen Zusammenpferchung mannigfaltigsten Ver-
brecherthumS in den Gefängnißmauern voraus hat.
Er giebt zu, daß eS
unleugbar geringere Gefahren erbringt, ein geringeres Uebel für die sitt
liche Gesundheit deS Ganzen ist, wenn der Strafgefangene absolut von jeder Gemeinschaft mit andern Schicksalsgenossen gesondert wird; und so
lange die Freiheitsstrafen ihre jetzige Herrschaft behaupten, wünscht er der
Einzelhaft die unbeschränkteste Entwickelung (S. 29).
Damit contrastirt
es freilich in eigenthümlicher Weise, wenn er an anderer Stelle (S. 34)
die Errichtung der Jsolirgefängnisse als die Vergeudung kostbarsten na tionalen Vermögens in unserm armen Deutschland bezeichnet. Bei etwas
weniger Voreingenommenheit hätte er leicht erkennen müssen, daß eS nicht blos relative Vortheile sind, welche die Zelle vor der Gemeinschafts
haft voraus hat, sondern auch objective, welche die Einzelhaft vor allen
übrigen Strafmitteln auSzeichnet. Ein Hauptgrund dieses Umstands scheint mir darin zu liegen, daß
Dr. Mittelstädt das Prinzip der Einzelhaft falsch auffaßt. Nicht in möglichst
absoluter Isolirung ist das Wesen der Einzelhaft zu suchen, wie schon Hagele
in seinen sehr lesenswerthen „Erfahrungen in einsamer und gen einsamer
Haft" (Altona 1862) ausführt, sondern in dem Ausschluß des Verkehrs mit Verbrechern, und in der Beschränkung doch nicht in dem Ausschluß socstigen
Umgangs mit Menschen.
Nicht das ist das Ziel, daß der Mensch ganz
mit sich allein sein soll, sondern daß neben die Entziehung der Selbstbestim mung, worin das Wesen der Freiheitsstrafe liegen dürfte, die Entferstung
aller für eine sittliche Umwandlung hinderlichen Elemente tritt.
Wie
wenig eö bei der Einzelhaft auf möglichste Jsolirung abgesehen ist, zeigt die Fülle geistiger Anregung, welche man dem Gefangenen von den ver
schiedensten Seiten zuzuführen bemüht ist.
Die Beschränkung geht nur
so weit, wie es auf der einen Seite nöthig ist, um die Strafe als Uebel
fühlbar zu machen, und auf der andern, um die sittliche Umwandlung des Verbrechers zu unterstützen.
Wenn Dr. Mittelstädt sagt: „Wo Geist und
Seele ein gewisses Maß, einen gewissen Inhalt von Intelligenz, Em pfindung, sittlicher Kultur in die Einsamkeit mitnehmen, wenn auch noch so verwildert und verschüttet durch Laster und Frevel, da ist freilich Stoff
vorhanden für die Beschäftigung des Menschen mit sich selbst, und ein Ziel für die Einkehr in das Innere.
Wo das fehlt, starrt das sich selbst
beschauende Individuum in das öde, inhaltsleere Nichts" (S. 31), — so muß man auf den Gedanken kommen, er stelle sich die jetzigen Zellengefäng nisse Deutschlands als unveränderte Nachbildungen jenes ersten peniten-
tiary in Pittsburg vom Jahre 1826 vor, wo die Insassen in absoluter Einsamkeit gehalten wurden.
Wie verfehlt ein solches Verfahren sei, sah
man schon schnell genug in Pcnnsylvanien selbst ein und die heutigen deut schen Anstalten der Art entsprechen der eben
durchaus nicht.
angeführten Schilderung
Abgesehen davon, daß auch der einfachste Mensch, dessen
Leben immer in gleichmäßigem Geleise fortgeschritten ist, doch ein Leben hinter sich hat, das, so inhaltsleer es dem Fremden erscheinen mag, ihm eine Fülle von Erinnerungen hinterlassen hat, so ist nirgends eine Ein
zelhaft vorhanden, wo man den Gefangenen ohne alle geistige Nahrung und ohne alle Möglichkeit der Aussprache nur mit sich allein ließe.
Den
größten Theil seiner Zeit verbringt der Gefangene allerdings einsam in seiner Zelle, aber das Gefühl der Verlassenheit, welches das eigentlich
deprimirende Element ist, kann darum ihn doch nicht beherrschen, denn unmittelbar vor seiner Thür ist Leben, und wenn irgend welche Hilfe
nöthig ist, bedarf es nur eines Griffs an die Schelle, um den Aufseher, sei es Tag oder Nacht, herbeizurufen.
Die ungestörte Stille, in der er
im Allgemeinen seine Arbeit verrichten und seine Mußestunde verbringen
muß, ist ihm aber etwas durchaus nothwendiges. Zerfahrenheit des Sinnes, Mangel an Selbstbesinnung ist so sehr die Signatur unseres Zeitalters, besonders in den größeren Städten, daß wahrlich vielen, namentlich jungen
Menschen eine rechte Wohlthat geschähe, wenn sie auf eine Zett in die Einsamkeit gebracht würden, um in ruhigem Nachdenken richtige Anschau«
ungen über sich selbst und die Erkenntniß der nothwendigen Ziele wie der rechten Mittel für ihr Leben zu gewinnen.
Für alle die Verurtheilten,
bei welchen sich, sei es auö dem Charakter des Verbrechens selbst, sei eS
aus sonstigen Nebenumständen, eine falsche Richtung des ganzen sittlichen Geisteslebens ergiebt, ist es darum, soweit die Möglichkeit einer sittlichen
Wiedergeburt noch vorhanden erscheint, eine aus dem Prinzip der Selbst erhaltung mit Notwendigkeit sich ergebende Pflicht des Staates, ihnen in
der Stille der Zelle Gelegenheit zu geben, über ihr Leben vornehmlich über die Ursache ihres Falls nachzudenken.
Das Gericht, welches sich an
dem Verbrecher vollzogen hat, ist ein kräftiger Anstoß, seine Gedanken in die rechte Richtung zu treiben.
Oft genug haben Leute, besonders bei
ihrer Entlassung, wo sie nichts mehr gewinnen und verlieren konnten,
mir eS ausgesprochen, daß diese Zeit der Selbstbesinnung für sie eine wahre Wohlthat gewesen sei.
Wie sehr sich die Einzelhaft aber nach allen
Seiten hin zum Strafmittel eignet, zeigt sich auch in folgendem Umstande. Für denjenigen, welcher der Reue in sich Raum gegeben und den An
fang eines neuen Lebens gewonnen hat,
verliert sie ihre Schrecken und
er kann sie geduldig ertragen, so daß es eine ganz unnöthige Furcht von Dr. Mittelstädt ist, daß
eine Haft,
welche längere Zeit dauert, als
zur sittlichen Erneuerung des Verbrechers nöthig gewesen ist, schädlich
wirken und das gewonnene wieder zerstören könne.
Andererseits ist es für
den unruhigen Geist eines bereits entarteten Verbrechers ein besonders hartes Strafübel, eine Strafe von längerer Dauer in Einzelhaft verbüßen
zu müssen.
So ist die durch äußern Zwang dem Individuum abgenöthigte Ver einsamung keineswegs wie Dr. Mittelstädt will, ein todter, unfruchtbarer Zustand, sondern ein wesentliches Hilfsmittel für die Regeneration des
sittlich Kranken, mit der man die ungestörte Ruhe wohl in Parallele stellen kann, welche dem leiblich ernstlich erkrankten Menschen zur Genesung durch
aus nöthig ist, wenn sie auch oft nicht allein ausreicht ihm zur Gesundheit
zu verhelfen.
Das soll sie auch hier nicht, denn es sind in der Kirche,
Schule und im Verkehr mit den Beamten, wie in der Zucht der Haus ordnung und der regelmäßigen Arbeit weitere kräftige Factoren gegeben,
deren Zusammenwirken erst das volle Resultat erzielen soll.
Einzelhaft soll nach Dr. Mittelstädt in ihrer Jsolirung Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 1.
Doch der
des Menschen
3
Dr. Mittelstädt und die Einzelhaft.
34
allerlei anhaften, was diese günstigen Einwirkungen aufhebt und alle An
strengungen fruchtlos macht. Dr. Mittelstädt sagt: „Die fortdauernde Entwöhnung vom großen Getriebe der Welt und den kleinen Kämpfen um das Dasein schützt frei lich auch vor der Welt Versuchungen und den Begierden der Selbstsucht.
Aber sie erzieht nicht für das Mmschenleben, sondern sie verzieht.
Zu
lange auf den eignen Dunstkreis angewiesen, verweichlicht Körper und
Geist, entwickelt sich leicht die selbstgefällige Ueberschätzung der eigenen Kräfte, der Charakter, der nur in der rauhen Luft der Außenwelt sich festigen kann, verkümmert in feiger Unbeholfenheit und das Gesammter-
gebniß ist eine trübselige, schwächliche Existenz moralischer Treibhausluft. Daher neben den zahlreichen Fällen greifbarer geistiger Erkrankungen in
der Einzelhaft die regelmäßige Erscheinung einer heuchlerischen, trügerischen Besserung des Sträflings in der Zelle, die eben nur ein Product der
Zelle ist, nur in ihren Mauern schattenhaft gedeiht und sofort sich auf
löst, sobald die Luft der
(S. 32).
Freiheit den Gefangenen wieder durchweht"
Bei dieser Aeußerung und manchen sonstigen Aussprüchen Dr.
Mittelstädts wurde ich lebhaft an eine Stelle aus Stanleys Buche: „Wie
ich Livingstone fand" erinnert, wo er sich darüber bitter beklagt, daß ver
schiedene Londoner Geographen, die Forschungen Livingstones und anderer Reisenden vollständig ignorirt, oder deren Angaben als unglaubwürdig dargestellt haben,
nicht paßten.
weil dieselben zu ihren selbstgebildeten Vorstellungen
Auch ihm erscheint als unwichtig, was die Leute vom Fach
in dieser Beziehling für Erfahrungen gemacht haben, sind sie nach seiner
Ansicht doch überhaupt nicht im Stande über die Frage ein unbefangenes Urtheil abgeben zu können.
Während er auf der einen Seite freilich die
Sache so darstellt, als ob die ganze öffentliche Meinung für die Einzel
haft begeistert wäre, schreibt er an anderer Stelle: (S. 16) „Nur die Leute der Gefängnißwissenschaft selbst, die Theoretiker und Techniker vom
Gewerbe, wollen von ihren schönen Lehrsätzen und Einrichtungen nicht lassen.
Zwar etwas kleinlaut herabgestimmt in der breiten Emphase ihrer
Predigten, aber festgeklammert an den Besitzstand deS Bestehenden richten
sie ihre Hoffnungen und Verheißungen auf die endliche volle Verwirk
lichung des Systems.....................
Und da die rathlose, von tausendfachen
öffentlichen Sorgen verhetzte Gegenwart den Gefängniß-Experten und Ge
fängniß-Reformern keinen positiven Gedanken anderer Richtung entgegen zustellen vermag, gehen die Dinge sonder Ruh und sonder Freude vor
läufig in den alten Geleisen weiter.
Es ist hoch an der Zeit, daß un
befangene Köpfe sich der Mühe einer kritischen Revision des vernünftigen
Gehalts heutiger Strafrechtspflege unterziehen!"
Nachdem bereits in Betreff der angeblichen zahlreichen geistigen Er
krankungen so viel statistisches Material veröffentlicht und noch neuerdings auch diese Frage in dem Buche von Streng über'das Zellengefängniß in
Nürnberg erörtert worden ist, sollte man diese unbegründete abergläubische Beschuldigung endlich fallen lassen.
Heuchlerische Besserung findet man
sicherlich in anderen Gefängnissen und als Folge der Anwendung anderer
Strafmittel mehr als in den Zellengefängnissen; nirgends kann der Ge
fangene so genau beobachtet werden, nirgends kann er Betrug und Heu chelei, Selbstbetrug mit eingeschlossen, so schwer durchführen wie hier. Die Einzelhaft müßte schon sehr schlecht eingerichtet sein und die Beamten außerordentlich kurzsichtig, wenn gerade hier die Heuchelei in umfangreichem
Maße betrieben werden sollte.
Aber auch die moralische Treibhausluft
mit ihrem verweichlichenden Einfluß ist in Wirklichkeit nicht vorhanden. A priori läßt sich das construiren, daß in der Einzelhaft eine mora
lische Treibhausluft existiren muß,
allein die Praxis sieht gewöhnlich
anders aus als eine auf synthetischem Wege gefundene Theorie.
Was
Dr. Mittelstädt immer wieder aus dem Auge läßt, ist die wirkliche Ge staltung der Jsolirhaft, und wenn er entrüstet ausruft (S. 35):
„So
lange es gewiß ist, daß die Einzelhaft nur einen relativ höheren Werth
vor der gemeinsamen Haft, daß ist vor einer willkürlich zur Vergleichung
gesetzten zufälligen Menscheneinrichtung besitzt, daß alle ihre übrigen Vor züge, Segnungen, Schönheiten auf Unwahrheiten, Selbsttäuschung, den unhaltbarsten Generalisationen beruhen, wird man das thatsächlich herr
schende System
der Jsolirgefängnisse vom Standpunkte der Menschen
besserung und Menschenerziehung als ein häßliches Zerrbild bezeichnen müssen," so kann das auf einen Sachverständigen nicht mehr Eindruck
machen, als wenn ein bekannter Abgeordneter im Abgeordnetenhause gegen das Moabiter Zellengefängniß zu polemisiren pflegte und war nie darin
gewesen.
Bietet sich nicht auch dem Zellengefangenen innerhalb des engen
Kreises, in dem sich sein Leben abwickelt, genug Gelegenheit Entsagung,
Selbstbeherrschung, Festigkeit sich anzueignen; draußen kann er feige dem Kampfe seines Innern ausweichen, hier muß derselbe ausgefochten werden.
Hier muß er lernen, auf die Befriedigung mächtig gewordener Begierden
zu verzichten und den Eigensinn fahren zu lassen.
Haben es nicht Hundert
und aber Hundert mit der That bewiesen, daß die Luft der Zelle mit
ihrer eisernen Zucht sie nicht verweichlicht, sondern gestählt hat für den Kampf deS Lebens!
Wenn man allerdings die Chinarinde darum ver
werfen will, weil sie nicht jedem Fieber immer noch Einhalt thun kann,
dann mag man auch die Einzelhaft verwerfen, weil sie nicht jeden ver
kommenen, sittlich ganz erstorbenen Menschen zu regeneriren im Stande ist.
36
Dr. Mittelstädt und die Einzelhaft.
Daß der Zellengefangene nicht auf seinen eigenen geistigen Dunst kreis angewiesen ist, weiß nun allerdings auch Dr. Mittelstädt, aber die
Wirksamkeit der erziehlichen Factoren, der Kirche, Schule, der Lectüre, der Arbeit, deö Verkehrs mit den Beamten ist ihm so unbedeutend, daß sie die Schäden, welche die Einsamkeit in sich bergen soll, nicht aufwiegen. Er möchte sich die Einzelhaft noch gefallen lassen, wenn sie mit einer
starken religiösen Einwirkung verbunden wäre, und eS ist ihm zuzugestehen,
daß allerdings im Allgemeinen nur auf religiösem Boden eine gründ liche Besserung des Gefangenen erwachsen kann.
Selbst die bürgerliche
Rechtschaffenheit des Entlassenen ist nur dann gesichert, wenn sie auf Gottes
furcht und Gottvertrauen gegründet ist; ohne dieses kann der blinde Egois
mus nicht gebrochen, und der Kleinmuth in der Noch nicht überwunden werden.
Glücklicherweise ist aber die religiöse Einwirkung auf die Ge
fangenen in unserer Zeit nicht beschränkt oder gar ausgeschlossen.
Mag
eS richtig sein, daß man hier und da gut thäte in der Auswahl der Ge fängnißgeistlichen noch etwas sorgsamer zu sein und ihnen dann etwas
mehr Spielraum zu lassen, mag eS sein, daß unter manchen Staats- und Weltleuten, wie Dr. Mittelstädt behauptet, ein Einverständniß darüber vorhanden ist, daß religiöse Missionsarbeit innerhalb der Gefängnißpflege durchaus verwerflich sei und der Gefängnißgeistliche zwar aus alter Ge wohnheit und in billiger Berücksichtigung individueller Geschmacksrichtungen
der Gefangenen noch geduldet werden möge, seine Stellung aber mit Vor sicht zu begrenzen und der weltlichen Gefängnißordnung bescheiden zu subordiniren sei, — denn die bureaukratische Selbstgenügsamkeit ist auch bei
sonst trefflichen Männern oft groß genug, sie in manchen Beziehungen zu blenden, — so steht doch das fest, daß überall noch die Stellung des
Gefängnißgeistlichen der Art ist, daß er ungehindert seinem Berufe nach
gehen kann, die schlafenden Gewissen zu wecken, die Verirrten zurechtzu weisen, die Verzagten aufzurichten.
Daß dies in umsichtiger und nüch
terner Weise gehandhabt werden muß, um allen Anlaß zur Heuchelei zu meiden, ist ja eine selbstverständliche Sache.
Mindestens ebenso falsch wie
dieser Einwurf ist eS aber, wenn" von Dr. Mittelstädt behauptet wird,
weder die evangelisch-lutherische Kirche, zerfahren und zerbröckelt, wie sie sei,
noch auch die katholische, welche durch ihre undeutsche Befehdung des StaateS einer häßlichen Verweltlichung in Haupt und Gliedern verfallen, könne
diese Aufgabe lösen.
Nicht welterfahrene Klugheit, nicht gewandte Bielge-
schäftigkeit, nicht die imponirende Autorität einer geschlossenen überall mit
Ehrfurcht betrachteten Kirche kann eine Menschenseele umwandeln, sondern
allein die still wirkende Macht deS Evangelii, die Macht der Wahrheit, welche ihre Bezeugung an jedem Herzen findet, das noch den Durst nach
Wahrheit und dauerndem Frieden in sich trägt.
Nicht auf den Charakter
der Kirche, welcher der Geistliche angehört, kommt eS vornehmlich an, sondern
vielmehr auf seinen eigenen.
Wo er, mit rechter Treue gegen seinen Beruf
und mit warmer Liebe zu den Unglücklichen, seinen Pflichten nachgeht,
wird er auch den Zugang zu den Herzen finden und eS wird sich ihm
daS Wort zu Gebote stellen, wie eS für jeden einzelnen sich eignet.
Und
die Zahl der Zellengefangenen, 250—300 für einen Geistlichen, ist nicht
so groß, daß er nicht jedem mit dem Worte GotteS nahe treten könnte, vorausgesetzt natürlich, daß die Strafen nicht zu kurz sind. Von den übrigen geistigen Factoren, welche bet der Einzelhaft in
Betracht kommen, erwähnt Dr. Mittelstädt die Lectüre gar nicht, welche,
wenn sie sorgfältig geleitet wird, von hoher Wichtigkeit ist.
Die That
sache, daß die Einzelgefangenen wöchentlich mit geeigneter geistiger Nah
rung versorgt werden, sollte allein genügen, daS Nebelbild, welches uns Dr. Mittelstädt als die Einzelhaft vorstellt, zu zerstören und zu zeigen,
wie ungerecht seine Angriffe vielfach sind.
Ueber die große Bedeutung
der Schule geht er mit jener Geringschätzung hinweg, welche eS ihm leicht
macht mit allen ihm entgegenstehenden Instanzen schnell fertig zu werden.
Wenn ich aber als ein kleines Kennzeichen anführe, daß in unserer Jsoltrschule die Analphabeten in wenigen Monaten lesen und schreiben zu ler
nen pflegen, so wird dies genügen um nachzuweisen, daß, wenn die Schule incl. Gesang- und Religionsunterricht wöchentlich auch nur 4—6
Stunden, je nach dem Bildungsgrade der Gefangenen, umfaßt, ihre Wirk samkeit doch nicht unterschätzt werden darf.
der Schule die Thätigkeit des Lehrers
Auch ist mit der Abhaltung
nicht zu Ende.
Wie auf dem
Lande der Lehrer, wenn er rechter Art ist, gewöhnlich bald zu einer Ver trauensperson auch für die Eltern seiner Schüler wird, so bildet sich zwischen dem tüchtigen Lehrer, welcher ein Herz hat für seine Schule und
seine Leute, auch hier in der Regel bald ein Vertrauensverhältniß, welches dem mahnenden Worte Zugang verschafft und Nachdruck verleiht.
Hinsichtlich
der Arbeit können wir hier den Vorwurf auf sich be
ruhen lassen, daß die Zwangsarbeit nicht in den Rahmen des modernen Strafvollzuges paffe; es ist für mich diese Behauptung eben nur ein
neuer Beweis, daß Dr. Mittelstädt zum großen Theil nicht mit der Wirk lichkeit rechnet.
Werth ab.
Aber er spricht der erzwungenen Arbeit jeden sittlichen
Er thut so als ob eine anfänglich vorhandene Abneigung
immer ewig bestehen bliebe, als ob nicht die aus näherer Bekanntschaft mit der Sache hervorgegangene neue Erkenntniß einen auf das Verhältniß
zur Sache rückwirkenden Einfluß ausüben müsse,
als ob nicht der Ge
fangene, wenn er den günstigen, kräfttgen Einfluß wahrnimmt, welchen
eine richtig gewählte und zugemefsene Beschäftigung auf Seele und Leib
auöübt, die Arbeit selbst mit der Zeit
kann ihm
schätzen lernen müßte.
aber nicht zugestanden werden.
Das
Es widerlegt sich auch von
selbst dadurch, daß eine große Anzahl auch solcher Gefangenen, welche durch arbeitsscheue Genußsucht zu ihrem Verbrechen getrieben worden sind, nach einiger Zeit anfangen,
ihre Mußestunden nicht mehr mit Unter»
haltungSlectüre oder müßigen Träumen auszufüllen, sondern mit ernster selbstgewählter Arbeit.
Die ausdauernde Anstrengung, welche z. B. der
gleichen Leute nicht selten auf die Erlernung fremder Sprachen,
oder
sonstige Erweiterung ihrer Kenntnisse wenden, ist oft bewundernSwerth.
In Bezug aber auf die' übertragene Gefängnißarbeit ist sogar die weit überwiegende Mehrzahl bestrebt, mehr zu leisten als daS Tagespensum Was sie so an Mehrarbeit leisten tritt doch in die Kategorie
beträgt.
der freiwilligen Arbeit.
Ob die gewerblichen Fähigkeiten, welche der Ge
fangene im Gefängniß erlernt hat, genügend sind, ihm sein weiteres Fort
kommen zu sichern, hängt von der mehr oder minder geschickten und rück sichtsvollen Einrichtung des Arbeitsbetriebes ab. Daß es sehr wohl mög
lich ist, beweist mir eine ganze Anzahl von Beispielen aus der Erfahrung welche
auch jene Behauptung widerlegen, daß der Entlassene nicht im
Stande sei, seine erworbenen Fähigkeiten zu verwerthen, da ihm daS Getriebe des Arbeitsmarktes fremd geworden. Diejenigen z. B., welche
hier die Bildhauerei oder Strumpfstrickerei erlernt haben, finden fast
immer in der Freiheit bald Beschäftigung, wenn bei den ersteren die Ausbildung auch keine allseitige geworden ist.
Es ist übrigens Aufgabe
der bürgerlichen Gesellschaft ihren kranken Gliedern zur Genesung dadurch mitzuhelfen, daß sie ihnen die Gründung einer neuen Existenz erleichtert, so gut wie man öffentliche Krankenhäuser für die leiblich Kranken baut. Trotz aller
von ihm selbst erhobenen Einwendungen gesteht Dr.
Mittelstädt selbst zu, daß in Bezug auf die Erziehung des Gefangenen
der Gefängnißbeamte seinem Sträfling gegenüber außerordentlich günstig situirt sei, aber eS fehlten die Educatoren; die heutigen Strafanstalts beamten,
für ihren Beruf nicht vorgebildet und ohne Verständniß für
denselben, könnten nach dieser Seite keine erfolgreiche Thätigkeit ausüben. In
dieser Allgemeinheit
ist
diese Beschuldigung jedenfalls ungerecht.
Selbst wenn aber auch dieser Vorwurf in einzelnen Fällen begründet sein
sollte, so beweist derselbe doch nichts gegen das System selbst, es läßt sich auS einer solchen Thatsache weiter nichts herleiten,
als daß der Staat
die Pflicht hat, dieser Sache eine noch größere Sorgfalt zuzuwenden, als
es bisher geschehen ist. Alle die Einwendungen, welche Dr. Mittelstädt gegen die Einzelhaft
erhoben hat, sind also entweder überhaupt unbegründet oder lassen sich
doch
beseitigen.
Daß
auch wir nicht alle Verurtheilten in die Zelle
sperren wollen, haben wir bereits ausgesprochen,
aber gegenüber den
jenigen Verbrechern, welche der Staat um seiner Selbsterhaltung willen bessern muß, und die Aussicht auf Möglichkeit einer Besserung bieten,
ist eS das einzige Mittel, welches den ganzen Zweck der Strafe als er reichbar in Aussicht stellt.
Wenn auch ohne Frage eine solche Erschütte
rung deS ganzen Ichs, wie es z. B. die Prügelstrafe mit sich bringt, Ansatz zu einer Umwandlung werden kann, so ist die Wahrscheinlichkeit jedenfalls weit größer, daß das angeregte Nachdenken in dem unruhigen, anspruchsvollen Gewühl des Lebens nicht
anhalten und fruchtbar sein
wird, — daS wird in der Regel nur in der ungestörten Einsamkeit ge schehen können.
Alle oben berührten erziehenden Elemente können nur
hier in Wirksamkeit treten, und eS heißt sich die Hand vor die Augen halten,
wenn man ihre Wirksamkeit leugnen will.
Endlich ist eS nicht
gering anzuschlagen, daß der Gefangene in seiner Zelle sein Ehrgefühl sich bewahren und stärken kann.
Seine Strafe vollzieht sich weder in der
Gemeinschaft roher Verbrecher, welche jede Regung deö Ehrgefühls bet
ihren Genossen zu verspotten pflegen, noch vor den Augen eines theilnahmlosen Publikums.
Er fühlt den Druck der Strafe ohne verbittert
zu werden und den letzten Rest der Selbstachtung zu verlieren. Freilich alle günstigen Einflüsse der Einzelhaft werden nur bet einem
gewissen Prozentsatz von Erfolg gekrönt sein können, denn eine geistige
Wiedergeburt kann nicht erzwungen werden; wie groß derselbe aber sein wird, hängt zu einem sehr großen Theile von der fürsorgenden und be
hütenden Theilnahme der Gesellschaft ab, in welche der Gefangene nach
seiner Entlassung hinaustritt.
Von dieser Seite aus hat ein jeder die
dringende Pflicht der Gefängnißftage seine volle Theilnahme zuzuwenden, um sie in der Fürsorge für die Entlassenen bethätigen zu können und wer
von hier aus das Interesse erst gewonnen hat, wird auch dem Straf vollzug seine Aufmerksamkeit nicht entziehen können. ES kann nicht verschwiegen werden, daß die Fürsorge für die ent
lassenen Gefangenen eine Aufgabe ist, welche mit der, die beste Art deS
Strafvollzugs zu schaffen, unmittelbar zusammenhängt und fast von gleicher Wichtigkeit ist.
Was hilft es, wenn die Strafe an dem Verbrecher ihre
ganze Schuldigkeit gethan, hat und er durchdrungen von guten Vorsätzen die Strafanstalt verläßt und er findet überall verschlossene Thüren, nie
mand will ihn beschäftigen.
Das Herz blutet einem, wenn man sehen
muß, wie sich ein Mann während einer längeren Strafzeit mit dem Auf gebot aller Kräfte gemüht hat, so viel zu verdienen, daß er sich Kleidung
40
Dr. Mittelstädt und die Einzelhaft.
und Handwerkszeug wieder anschaffen kann; wie er auf jede Annehmlich
keit, die er sich aus seinem Arbeitsverdienst hätte verschaffen können, ver zichtet hat, um das kleine Betriebskapital nicht zu schmälern, und nachher ist alle seine Mühe umsonst, weil eS doch nicht auSreicht oder weil er keine Arbeitgeber findet.
Denn leider ist es ja im allgemeinen so,
daß
man eS dem Verbrecher sehr hart anrechnet, wenn er wieder rückfällig
wird, kommt er aber mit der Bitte ihm Arbeit zu geben, so wird er abgewiesen, weil man keine bestraften Leute beschäftigt und auch noch ge nug ehrliche Menschen arbeitslos sind.
Abgesehen davon, daß bei näherer
Betrachtung die Ehrlichkeit mancher unbestraften Menschen außerordentlich
schwer von der Unehrlichkeit mancher bestraften Personen zu unterscheiden ist, so scheint doch die Antwort auf die Frage, wer hat dringendere An
sprüche auf Theilnahme und Pflege, der Gesunde oder der Kranke? sehr
einfach zu sein.
Was sich so als eine erste Pflicht der Nächstenliebe er
weist, ist nicht minder Gebot der Selbsterhaltung.
WaS soll aus dem
Verbrecher werden, welcher sich die Möglichkeit abgeschlossen sieht, eine neue Existenz
in der bürgerlichen Gesellschaft zu erringen.
Entweder
greift er zum Selbstmord, oder er, der bisher in verhältnißmäßig harm loser Weise sich vergangen hatte, wird ein erbitterter Feind der Gesell
schaft, die ihn erbarmungslos ausgestoßen hat. ES ist nicht zu verkennen, daß insbesondere von einzelnen edlen Männern, doch, auch von manchen
Vereinen anerkennenSwertheS auf diesem Gebiete gethan ist, aber wie ge
ring ist die Hilfe gegenüber der Größe der Noth.
ES ist hier ein Punkt,
welcher den Gemeinsinn aller guten Bürger in Anspruch nimmt.
ES ist
auch nicht genug, daß für eine nothdürftige äußere Existenz der Unglück
lichen gesorgt wird, .sondern sie müssen auch fühlen können, daß man ein
Herz für sie in der Brust trägt, sie müssen mit Liebe, Geduld und ernster Umsicht geleitet werden.
Wenn auf diesem Gebiete eine herzenswarme
Wohlthätigkeit reger wird, ist ein nicht geringer Theil der socialen Frage gelöst nnd die Zahl der Rückfälligen wesentlich vermindert.
Die Deutschenhetze in Ungarn. (Aus Ungarn.)
Unter allen Verfolgungen, welche neuerdings das Deutschthum außer dem Reich erlitten hat, ist keine unmotivirter als die welche in Ungarn
von den Magyaren in Szene gesetzt wird.
Denn die Cultur und Bildung,
die diesen zu Theil geworden, verdanken sie den Deutschen.
Seit Monaten
sind die Blätter voll von der Deutschenhetze, die in Ungarn in ähn
licher Weise über das Deutschthum hereingebrochen wie seiner Zeit die
Verfolgung der Protestanten im Lande.
Es wird wohl Niemand meinen,
die Sperrung des deutschen Theaters in Pest sei die alleinige Ursache ge wesen,
daß die deutsche Publicistik
endlich erwachte aus dem faulen
Schlummer und sich erinnerte, daß eS auch ihre Pflicht sei, für das be drohte Recht in die Schranken zu treten.
Jene Sperrung des Theaters
war der letzte Tropfen, der das Faß überlaufen machte.
Darum aber
darf jetzt, wo die Concession dem Theater zwar gegeben wurde, aber die Eröffnung unter immer neuen Vorwänden stets weiter hinauSgeschoben
wird, nicht abgelaffen werden von der allgemeinen Theilnahme an den
Schicksalen deS Deutschthums in Ungarn und das um so weniger, weil die Deutschenhetze in Ungarn noch fortbesteht, weil sie uttt keinen
Zoll breit nachgelassen hat.
Die Vorgänge der letzten Monate, abgesehen von der Theaterge schichte, liefern den vollgültigen Beweis.
Ja mit einer fieberhaften Hast
wird vielmehr auf allen Gebieten die gewaltsame Magharisirung fort gesetzt, selbst auf solche Zweige deS öffentlichen und privaten Leben- aus
gedehnt, die bisher davon verschont waren.
Die „Gesellschaft der Schrift
steller und Künstler" in Pest hielt den Gegenstand der Magharisirung deS Handels für so wichtig, schäftigte.
daß sie sich damit im Oktober eingehend be
Man meint TollhäuSler vor sich zu haben, wenn man liest,
welche Ziele sie ins Auge fassen. laut werden wie die:
Konnten doch allen Ernstes Wünsche
daß bei Eisenbahn, Telegraph, Post nur die mit
magyarischen Ortsnamen bezeichneten Sendungen
angenommen werden
dürften, ja eS wurde die Forderung gestellt, eS sollten alle Kaufleute ge
zwungen werden, führen.
ihre Bücher und
Correspondenzen magyarisch
zu
Und daS sind nicht etwa Gedanken, die durch AuSlachen aus der
Welt geschafft werden; dieselbe Gesellschaft beschloß, in der Presse eine
Agitation zu Gunsten dieses Ziels, der Magyarisirung des Handels, zu
eröffnen und regte an, in jeder Stadt einen MagyaristrungSverein inLeben zu rufen.
Wie gern übrigens die ungarische Regierung auf der
artige Pläne eingeht, dafür auch ein Beispiel.
Die Pester Mühlenin
dustrie ist die einzige in Ungarn, die eine Bedeutung besitzt, doch gegen
wärtig einen Kampf um daS Dasein führt, da der Absatz ihrer Erzeugnisse nach Deutschland durch die hohe Fracht und die amerikanische Concurrenz
fast unmöglich wird.
Vor einiger Zeit bekamen nun die Directoren der
Pester Mühlen die Einladung zu einer vertraulichen Conferenz im königl.
ungarischen Handelsministerium, in der sie Mittheilung erwarteten über die Begünstigungen, die man für die Mühlenindustrie vorbereite.
Die
Geladenen erhielten aber, zu ihrem Erstaunen, nachdrückliche Winke — ihre Mühlen zu magyarisiren, magyarische Arbeiter anzustellen u. dgl. m. DaS „Pesti Naplo" aber nahm sich sogleich der ganzen Agitation an: die Regierung nehme keine Offerte an, zahle keine Rechnung, schließe keine
Geschäfte ab außer in magyarischer Sprache und weise nichtmagyarische
Eingaben zurück. So cynisch wird verkündigt, daß der ungarische Staat nicht allen
dort wohnenden Völkern gehöre, sondern eine Domäne sei der herrschen
den Rasse! Die Regierung selbst scheut sich nicht, als ihr höchstes Verdienst bet jeder Gelegenheit die Magyarisirung zu rühmen.
DaS Leibblatt TissaS,
der „Ellenör", erklärte unlängst, die Gesetzgebung und Regierung Un
garns habe die Grundlagen der Magyarisirung geschaffen und keine un garische Regierung habe soviel dafür gethan wie die Tissas.
Und ebenso
verkündigte Trefort der Cultusminister unlängst, als er den Rechenschafts bericht über die Schulen gab, er habe so viel für Magyarisirung gethan wie keiner seiner Vorgänger.
Wenn das officiell vom Minister gesagt
werden darf, braucht es dann noch eine Bestätigung dafür, daß in Un
garn nicht regiert wird, sondern magyarisirt? WaS würde Europa dazu sagen, wenn der Türke den Unterthanen der Türkei die türkische Sprache aufzwingen wollte?
Ist etwa der Deutsche
und Slave in Ungarn weniger werth als der türkische Rajah? Daß die ungarische Regierung unter dem Schein municipaler Autonomie
alles selbständige municipale Leben unterbindet und tödtet, ist schon oft
gezeigt worden.
Es gibt keinen bedeutenden Ort in ganz Ungarn, wohin
nicht magyarische Beamte hineingeschmuggelt worden wären, die der Re gierung
als
willkommen
MagyarisirungSwerkzeuge
sind.
Denn
alle
„Wahlen" deS MuntcipiumS sind reiner Humbug, indem ja nur „ge wählt"
werden darf, wen die Regierung zum Candidaten haben will.
So konnte Tissa unlängst in der BerwaltungS-Enquete darauf Hinweisen, daß beim gegenwärtigen „System" der überwiegende Theil der KomitatSbeamten magyarisch sei auch in nichtmagyarischen Komitaten.
Dabei ist
aber bezeichnend, daß in dieser Enquete sehr gewichtige Stimmen sich da
für aussprachen, daß die Ernennung der Beamten einzuführen sei, weil auf diese Weise das magyarische Interesse am meisten gewahrt werde.
Also selbst auf dem Gebiet der Verwaltung scheut mqn sich nicht, die
Magyarisirung als Ziel hinzustellen, wo doch vernünftiger Weise ganz andere Zwecke maßgebend sein sollten.
ES ist bezeichnend, daß grade in
vorwiegend deutschen und nichtmagyarischen Komitaten auch gegen das Gesetz Forderuügen gestellt und dem MagyariSmuS Opfer gebracht werden,
die in civilisirten Staaten unerhört sind. Nach dem „Gesetz über die Gleichberechtigung" (!) soll in jeder
KomitatSversammlung die Protokollsprache magyarisch sein;
indeß kann
daneben das Protokoll auch in einer andern Sprache geführt werden, die % der Versammlung wünscht, doch der magyarische Text ist der authentische,
den in der Versammlung mancher Komitate nicht 20 Menschen (mit Aus nahme der Beamten) verstehen.
Die Einladungen zu den KomttatSver-
sammlungen, die Mittheilung der Tagesordnung werden im Hermann städter Komitat entgegen dem Gesetz nur magyarisch dem einzelnen zugestellt und alles Remonstriren hat nichts genützt.
Außerdem wird jeder
Beschluß der KomitatSversammlung einfach illusorisch durch das Rekurs recht, das jedem Einzelnen zusteht.
Der Minister entscheidet auf Grund
eines solchen Rekurses sowie in dem Fall, daß der Obergespann gegen einen
„Beschluß" eine Vorstelllmg macht, ohne daß Rekurs und Vor
stellung der KomitatSversammlung auch nur zur Aeußerung mitgetheilt würden und zwar hebt der Minister den „Beschluß" der Versammlung auf und befiehlt die Durchführung deS genauen Gegentheils" des „Be schlusses", nämlich was der Rekurs oder die Vorstellung eines Einzelnen
verlangt. Das ist die Autonomie in Ungarn!
Daß dabei wieder die magya-
risirenden Interessen über alle Maßen begünstigt werden, braucht nicht erst gesagt zu werden. ES sei hiebei gestattet die Aufmerksamkeit der Leser auf eine kleine
Stadt in Siebenbürgen zu lenken; waS dabei geschildert wird, mag
manchem kleinlich dünken, aber bedenkt man daß eS typisch ist für die
gegenwärtigen rechtlosen Zustände, so wächst die Bedeutung deS Mitge-
theilten.
Die Stadt Mühlbach, im Hermannstädter Komitat gelegen, mit
4000 Einwohnern deutscher und romänischer Nationalität, hatte früher eine deutsche Vertretung, weil bei der ziemlich gleichen Anzahl der Deut schen und Romänen (die Deutschen haben bei Wahlen ungefähr 10 Stimmen mehr als die letztern) der Besitz hauptsächlich in deutschen Händen ist.
Hieher bringt der Hermannstädter Obergespann per fas et nefas zum Bürgermeister einen Romänen, einen blinden Anhänger der Regierung,
mit der Aufgabe dem Deutschthum dort den Garaus zu machen.
Es ge
lingt, indem man sächsische Wähler streicht obwohl sie berechtigt sind, und
Romänen als Wähler aufnimmt trotz ihrer offenkundigen gesetzlichen Nicht berechtigung, eine romänische Gemeindevertretung zu Stande zu bringen
und der tolle Hexentanz beginnt.
Man protestirt natürlich gegen die Will
kürlichkeiten bei den Wahlen, eö ergeht keine Entscheidung, man klagt, man thut, was das Gesetz vorschreibt, man weist nach, daß Romänen in der Wahl
liste seien, die längst gestorben seien und für die andere ihre Stimme abge geben hätten, daß viele von den Gewählten nicht lesen und schreiben können,
was das Gesetz verlangt; eö kommt vom Obergespann keine Entscheidung.
Und der neue Bürgermeister,
der nebenbei, wider gegen das Gesetz,
Advokat in Hermannstadt ist, nur selten in Mühlbach gesehn wird, mit der ungesetzlichen romänischen Vertretung beginnt ein Parteiregiment, von
dem man in europäischen Staaten keine Vorstellung hat.
AuS Stadt
mitteln werden an den und jenen Parteigänger „Entlohnungen" gegeben. Niemand weiß warum, ganze Einnahmeposten nicht verrechnet, bei der
Wahl zur sächsischen Nationsuniversität (d. i. die frühere politische Ver
tretung deS Sachsenlandes, jetzt Verwaltungsbehörde des sächsischen Na tionalvermögens) wird
wieder durch allerlei Umtriebe der
Bürgermeister von Mühlbach
„gewählt"
u. s. w.
unterstützt der Hermannstädter Obergespann
Und
berüchtigte
alles
oder läßt
das
eS we
nigstens geschehen, um gegen das Deutschthum Mühlbachs eine Partei, die seinen Winken folgt, zu haben.
So überraschte eS gar nicht mehr,
äks von der ungesetzlichen Vertretung Mühlbachs die jährlichen als Stif tung dem deutsch-evangelischen Gymnasium der Stadt auszuzahlenden
1200 st. (d. i. 2400 Mark) der deutschen Anstalt genommen und der rumänischen zugewiesen wurden. Alles in Allem, eS ist System in der Unterdrückung.
Uns scheint
eS nöthig, so im Einzelnen zu zeigen, was die „magyarische Freiheit" bedeutet, wie das Deutschthum unter seinem Druck zu leiden hat!
Grade die jüngsten Tage haben wieder ein lautredendes Beispiel ge bracht.
Nach dem Gesetz (§§ 7, 8, 9 deS 44. Art. von 1868 und § 6 des
4. Art. von 1869) ist bei den Gerichten erster Instanz der Partei ge stattet, die Muttersprache bei Klagen zu gebrauchen.
Der Präsident deS
Hermannstädter Gerichts (die Richter werden alle von der Regierung er
nannt) hat kürzlich (am 17. December) publicirt, daß hinfort von Advo
katen nur magyarische Eingaben angenommen werden, daß Protokollver handlungen u. s. w. nur in magyarischer Sprache geführt werden dürfen. ist die Folge davon?
Was
Der Angeklagte weiß nicht den Wortlaut
seiner Anklage, nicht den seiner Vertheidigung, er versteht nicht daS Ur theil, das in fremder Sprache ihm verkündigt wird zu Ehren der fünf
Millionen Magyaren, die neben 10 Millionen Slaven, Walachen, Deut schen in Ungarn wohnen.
Das ist ja das Schlimme bei der herrschenden
rechtverachtenden Doctrin in Ungarn, daß man von Staatswegen daS
einfache Dasein irgend einer, nicht magyarisch auftretenden Lebensäußerung als „staatsfeindlich" als „unpatriotisch" verschreien darf.
Vor einigen Jahren hat bekanntlich Tissa Siebenbürgen neu einge
theilt,
eine Verletzung der gesetzlich und vertragsmäßig gewährleisteten Noch in keinem der neugeschaffenen Komitate
Einheit des SachsenlandeS.
ist ein KomitatShauS gebaut worden, vom Hermannstädter Komitat wird
eS verlangt.
Im Jahre 1878 beschloß die Komitatsversammlung,
HauS zu bauen.
ein
Auf den Rekurs einiger Mitglieder, die in einer die
Absicht der Komitatsversammlung verdächtigenden Weise gegen den Beschluß
an den Minister gingen, hob der Minister den Beschluß auf, denn eS
werde zu lange dauern bis der Bau vollendet sei und forderte eine rasche Beschaffung deS KomitatShauseS.
auf ein und beschloß nun,
Die Versammlung ging willfährig dar
ein fertiges HauS anzukaufen.
Anderthalb
Jahre ließ der Minister den Beschluß liegen, bis er ihn plötzlich eben
falls aufhob, als auch gegen diesen von einem Mitglied der Versamm lung Rekurs ergriffen worden war und befahl — die Versammlung solle beschließen, ein HauS zu bauen! ist.
Das ist ein Zustand, der doch unerhört
Der Minister verlangt jetzt das, was die Versammlung vor drei
Jahren beschlossen und was er aufgehoben hatte. Am 10. December fand die Komitatsversammlung statt, die in Anbetracht alles vorhergegangenen be
schloß, eine Repräsentation an den Minister zu richten, worin sie nach-
wetst, daß der Versammlung daS Recht über die Art der HauSerwerbung nicht genommen werden könne.
bestimmt,
Denn der Minister hat sogar den Platz
wohin gebaut werden solle.
fertigte Anklage, welche
ES ist eine herbe aber gerecht
die Repräsentation
erhebt:
„Wir
sind
un
wohl bewußt, daß unsere Absichten und Gesinnungen von anderer Seite
durch Berichte dargestellt werden, die unS unbekannt sind und deren Irrig
keit oder Richtigkeit wir zu beurtheilen nicht vermögen.
Auch hat unS die
Erfahrung belehrt, daß unser Wort bet Ew. Excellenz nur gering
wiegt, indem der autonome Wille dieses Komitats fast in allen wichtigern
Angelegenheiten nicht durch die meist unberücksichtigt bleibenden Beschlüsse
deS gesetzlichen Vertretungskörpers,
Berufungen und Rekurse Einzelner zur Geltung
sondern durch
gelangt, so
daß
mit größerer Aussicht auf Erfolg Rekurse eingebracht als Be schlüsse gefaßt werden."
Bei solchen Zuständen, daö kann Niemand leugnen, ist von einer
Es muß aber auch die ganze Ver
KomitatSautonomie keine Rede.
waltung einer DeSorganisirung erliegen, wenn Alles von oben her vom
Minister befohlen werden soll.
Daß die Magharisirung sich nun auf die Mittelschulen zu werfen im Beginn steht, ist in den letzten Monaten in der deutschen Presse oft betont worden und auch in den Preuß. Jahrb. (Bd. XLVI) ist Akt davon ge
nommen.
Der Gesetzentwurf, welcher demnächst nach den Mittheilungen
öffentlicher Blätter verhandelt werden soll, will um es kurz zu sagen alle
Gymnasien und Realschulen, deren geringster Theil in Ungarn StaatSanstalten sind, magyarisiren.
Es soll dazu die vermehrte Staatsauf
sicht dienen, die von gutem Klang in den „liberalen" Kreisen Europas, das Vorurtheil für sich hat.
Aber grade hier müssen die Deutschen im
Reich sich frei machen von den Phrasen und Parteischlagworten des Augenblicks.
wornach
Eine vermehrte Staatsaufsicht in Ungarn,
der
Minister Lehrzeit und Lehrbücher, Lehrgegenstände, Umfang und Ausmaß
Schulen wo auf die magyarische Sprache so viel Zeit
derselben festsetzt.
und Kraft verwendet werden soll, daß Alles andere darunter leidet, be deutet eben nichts anders als Magyarisirung. gesetzlich
gewährleisteten Rechte
werden, geht u. a.
schlagend aus
getreten
einer Schrift hervor, die eben in
bürgen und die denselben drohende Gefahr.
Auf eine Prüfung
Eine Rechts- und Cultur
dieses Rechtsbodens
richtsausschuß gar nicht eingelassen.
gegenüber all den
mit Füßen
„Die deutsch-evangelischen Mittelschulen in Sieben
Leipzig erschienen ist:
frage."
Daß dabei wieder die
der Confessionen
hat sich
der Unter
ES ist wieder wie Hohn, wenn
geltend gemachten Bedenken, dieser Ausschuß ein
fach den Gesetzentwurf
damit motivirt,
teresse sprächen für die Annahme.
Cultur und nationales In
Er gesteht damit zu, daß magyari-
sirende Ziele, denn nur das ist bei ihnen das nationale Interesse, damit
verfolgt werden.
Und doch sollte grade auch um deS ungarischen Staates
willen die Decentralisation deS
halten werden.
Denn
gesammten Schulwesens im Auge ge
während die straffere Centralisirung unter die
Staatsgewalt in andern Staaten nothwendig sein mag,
ist ohne viel
Nachdenken klar, wie sehr eine solche in Ungarn auch dem Staate nicht
heilsam wäre. DaS Grundmotiv der MagharisirungSwuth und der Deutschenhetze
ist ein geheimer Gedanke, der in jedes Magyaren Brust eigentlich mehr oder minder offen lebt, die Hoffnung auf ein unabhängiges Un
garn.
Daß damit aber alles deutsche Leben vernichtet wäre in den Län
dern der StefanSkrone, das darf nicht bezweifelt werden.
Jene Zukunfts
musik klingt jetzt schon zuweilen laut aus magyarischen Blättern heraus.
Der in Klausenburg erscheinende „ Ellenzek" proklamirte unlängst eine Verbindung der Polen, Magyaren und Rumänen gegen Deutsche
und Slaven.
Mit naiver Kühnheit behauptet er:
„Der Mongolen,
der Türken Kriegsscharen zerschellten an diesen drei Nationen" und fährt dann fort:
„Der Romäne kam in türkische, der Magyare in deutsche,
der Pole in russische Knechtschaft.
Der Romäne wurde frei, der Magyare
würde sich befreien können, der Pole schmachtet noch in Ketten.
An diesen
drei Nationen müssen sich die Wogen der germanischen und slavischen Flut brechen. . .
Die Frage unseres nationalen Daseins kann man weder an
die Zukunft der teutonischen noch der slavischen Stämme knüpfen, sondern
wir müssen unsern Schutz außerhalb dieser beiden Faktoren, ja sogar im Gegensatz zu ihnen suchen und finden."
So schreibt der Ellenzek
und was das auf sich hat, zeigt die Verbrüderung, die mit den Polen gefeiert wurde anläßlich der Aufstellung eines Denkmals für den Revo
lutionsgeneral Bem in MaroS-BafarhelY.
Nicht nur die berufene Pester
und Klausenburger UniversitätSjugend jubelte den Polen zu, sondern weit
tiefer ging die Bewegung. WaS verlieren nun die Deutschen in Oesterreich und im Reich bei
der Vernichtung deS Deutschthums in Ungarn? ES ist nicht ein blos ideales Interesse, das sie zu vertheidigen haben, obwohl ihnen die Schamröthe ins Gesicht steigen müßte bei dem Gedanken,
daß sie kalt und theilnahmloS so lange zugesehen haben, bis über zwei
Millionen Deutsche von einer uncivilisirteren Völkerraffe einfach mit Ge walt eingestampft werden.
Oesterreich und mit ihm Deutschland hat im
Orient höchst reale, wirthschäftliche Interessen zu vertheidigen.
Der Zu
gang zum Orient aber wird immer mehr versperrt, je mehr das Deutsch thum in Ungarn vernichtet wird; dieses allein kann die große Handels
straße für die österreichisch-deutschen Jntereffen offen halten.
Darum ist
eS nicht das Aufwallen einer vielleicht edeln aber unpraktischen Gefühls politik, welche gegenwärtig
gegen den Deutschensturm in Ungarn
sich
wendet, sondern die Erkenntniß, daß eS sich hier zugleich um eine reale und wirthschäftliche Frage handle.
Die öffentliche Meinung
darf
48
Die Deutschenhetze in Ungarn.
nicht müde werden zu verlangen, daß im ungarischen Reichstag das
Deutsche
ebenso
gesprochen werden
dürfe
wie das Magyarische und
Kroatische, daß die deutschen Schulen nicht angetastet werden, daß die Gerichte auch deutsche Klagen annehmen, daß nicht auch gegen das Gesetz in Komitaten, weil sie deutsch sind, alles Recht der Nichtma
gyaren einfach für null geachtet werde.
Es ist ein große- Unglück, wenn ein innerlich noch unreifes, halb-
barbarifcheS Volk sich die äußern Formen des parlamentarischen Regi ments und des Culturlebens aneignet und unter diesen seine Barbarei rei walten läßt.
DaS ist in Ungarn heute der Fall, wie in der Türkei.
Lermolieff, Raphael und Pinturiechio. Gleichzeitig mit meiner kritischen Studie fiter das Verhältniß Ra phaels zu den historischen Malereien PinturicchioS in Siena ist ein Buch
von Ivan Lermolieff über „die Werke italienischer Meister in den Galnieen von München, Dresden und Berlin"*) gedruckt wordm, das jedenfalls zu den lehrreichsten Publicationen gehört, die wir seit Jahren auf dteseüt Gebiete gehabt haben.
Der Berfafser beliebt eine deutsche und' eine
russische Maske vorzunehmen, als ob man nicht nebenbei an Ohren und
Händen die Diagnose üben würde, die er uns selber lehrt, und seine trefflichen Kenneraugen hindurchblicken sähe.
Bei der reichen Aussaat,
die hier dem deutschen Acker vertram wird, darf eS nicht Wunder nehmest, wenn hie und da ein leichteres Korn abseits auf den Weg gefallen, wö irgend ein Gelbschnabel darnach pickt ehe es aufketmt. Lermolieff geht bet Gelegenheit der umbrifchen Meister zu Berlin in
wichtigen Fragen auf Pinturicchio und Raphael ein.
Er hat das große
Verdienst für die Erklärung des Raphaelifchen Bildungsganges entschieden
auf Timoteo Diti als ersten Lehrer hingewtesen zu haben, und ich freue
mich neben meiner vollsten Zustimmung auch eine Bestätigung Mittheilen zu können, die ich aus urkundlichen Notizen zu Urbino gewonnen: Timoteo
muß mit Evangelista di Piandemeleto, dem Schüler deS Giovanni Santi, der unmittelbar nach dem Tode dieses Meisters als mastro depintore
auftrttt, nach feiner Rückkehr asts Bologna gemeinsame Werkstatt gehalten haben, wahrscheinlich als Nachfolger im Santtschen Atelier; diese beiden Maler waren also die nächsten, wenn nicht die einzigen, bet welchen der jMge Sohn Santts von 1495 bts zu seinem Eintritt bei Perugtno dir erste Anleitung empfangen.
Außerdem stand Raphael wie wir annehuieü
müssen, solange er in Perugia, CittL di Castello und Umgegend thätig war, mit Urbino in persönlichem Verkehr, hielt sich mehrfach dort aijf,
Wie auch aus einer neuen vom Avv. Alippt gefundenen Urkunde von 15ÖT hervvrgdht**). •) Leipzig. G. A. Seemann. 1880. **) Vgl. die urbinatische Zeitschrift Raffaello. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 1.
1880. FaSc. 8. S-113 ff.
4
Dagegen veranlaßt mich LermolieffS Ansicht über das sogenannte venezianische Sktzzenbuch Raphaels genauer als es in meiner Darstellung
der sienesischen Gemeinschaft mit Pinturicchio zu geschehen brauchte, auf
einige Zeichnungen dieser Folge zurückzukommen.
ES wird die Meinung
aufgestellt, die größte Zahl dieser Venezianer Skizzen gehöre keinem andern als dem Bernardino Pinturicchio.
Beweisende Kraft giebt Verfasser dieser
Ansicht, deren Auftreten man über kurz oder lang erwarten durfte, nur
dadurch, daß er die nahe Beziehung mehrerer Blätter zu Malereien nach weist, welche theils Pinturicchio selbst, theils Perugino „in den Jahren 1480—1482 (?)" in Rom ausgeführt haben.
Die wichtigsten unter ihnen
sind diejenigen, die er als Studien Pinturicchioö zu einigen Fresken der Capella Sistina bezeichnet, während ich die Gewandstudien als Uebungs-
blätter nach den in PeruginoS Werkstatt offenbar vielfach benutzten Cartons
zu erkennen glaubte*). Will man mit dieser Begründung abrechnen, so muß vorher die eben
falls von Lermolieff aufgestellte Behauptung erörtert werden, wonach zwei dieser Wandgemälde „die Taufe Christi" und die „Reise MosiS" in Composition und malerischer Ausführung vollständig dem Pinturicchio zuzu-
theilen
wären.
Ich
kann
nur
freudig
zustimmend
meine
eigenen
Beobachtungen wiederholen, wenn als erstes Moment „die Ueberfüllung der Composition" ins Feld geführt wird, ein „Fehler, in den Pinturicchio sehr ost, Perugino fast nie fällt".
Aber ich glaube, man darf rein nach
dekorativem Gleichgewicht bemessene Disposition der Massen nicht ohne Weiteres mit der Erfindung der Composition zusammenwerfen.
Nur die
letztere in ihrer Ursprünglichkeit hätte Zugkraft für die Bestimmung des wahren Autors.
Die Ueberfüllung ist hier, ebenso wie ich dies in Siena
nachgewiesen, durch Einpfropfen von Zuschauern entstanden; dieses aber kann erst nachträglich bet der Ausführung geschehen sein, etwa aus un künstlerischer Connivenz gegen Gönner, die sich abconterfeit wünschten, oder
auS Jnclination zu direkten Entlehnungen auS der Wirklichkeit.
Beide
Symptome sprechen für Pinturicchioö Mitwirkung; doch muß die Frage offen bleiben: wie würde die Composition auSsehn, wenn wir uns diese
Statistenmassen gelichtet dächten, hier und da einen störenden Kopf her aushöben, allzu compakteS Gedränge lockerten?
Laufen nicht dann die,
auch jetzt noch wohl bemerkbaren Hauptlinien, in welchen die Gestalten
aufgereiht sind, radienförmig von der äußeren Peripherie nach dem Centrum, resp, punto di vista, im Hintergründe zusammen?
Steht nicht hier der
Himmelsbote, der die Handlung bedingt,-gebieterisch in der Mittellinie?
*) Raphael und Pinturicchio S. 35.
Ebenso wie diese Linie drüben zwischen Johannes und Jesus hindurch vom
segnenden Gottvater herab auf die erhobene Rechte des Täufers, oder wie sie bei der „Schlüsselverleihung" auf das Shmbol der bindenden und
lösenden Macht trifft.
DaS aber sind innere Qualitäten, die wir beim
Pinturicchio nicht finden, CompositionSgesetze die Perugino grade damals
in auffallender Weise befolgt.
(R. u. P. S. 23 f.)
Ebenso muß man die Behauptung LermolieffS restringtren, wenn er „die poetischen landschaftlichen Hintergründe" als sicheres Merkmal von
PinturicchioS Autorschaft hinstellt. Völlig einverstanden, daß jene Chpreffen
und Palmen, die wohl hier zuerst in besonders schönen Prachtexemplaren vorkommen, nebst den Vögeln, die von einem Falken verfolgt durch die Luft schießen, untrügliche Zeichen der Mitwirkung PinturicchioS find*),
möchte ich zugleich darauf Hinweisen, daß er sie jedenfalls Benozzo GozzoltS
Anregung verdankt, mit dem er überhaupt höchst charakteristische Eigen
schaften und materielle Kunstmittel gemein hat.
Handelt eS sich aber um
LandschaftSmaleret als solche, so dürfte bei Perugino viel eher und in
höherem Sinne davon die Rede sein.
Ich will hier nicht näher auf die
Unterscheidung der umbrischen Stimmung bes jenem und dem von Vasari
als maniera de’ Fiamminghi bezeichneten Geschmack an (nebensächlichen) Dingen der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit eingehen, da ich in anderm
Zusammenhang Gelegenheit dazu haben werde.
Nur soviel sei gesagt,
daß die Uebersetzung „Landschaften" für paesi, — e vi ritrasse Roma, Milano, Genova, Fiorenza, Videzia e Napoli — d. h. für Städtean
sichten doch sehr kühn ist, und das Prädicat „ein Landschaftsmaler ersten Ranges" bei aller Anerkennung für die hübschen Hintergründe, die auf
mehreren der Pinturicchio verdungenen Malereien vorkommen, doch ziemlich
irreführend sein dürfte**). Die Hand des Pinturicchio verräth sich dagegen in der malerischen
Ausführung hier und da mit unverkennbarer Evidenz.
So ist von ihm
auf der Taufe Christi der Gottvater im Cherubkrayz mit den ganz fio renzomäßigen Engeln, die beiden Predigtscenen mit den Volksmassen zu den Seiten des Mittelgrundes.
Wiederum aber hat nicht er, sondern
Perugino die Gestalten Christi und des TäuserS gemalt, welche der Freund
VerrocchioS niemals einem Gehülfen überlassen hätte***).
Einige Porträts
zur Linken können nur vom Meister selbst herrühren, während wir rechts *) Sie werden seitdem ständige Requisiten seiner Scenen im Freien, sind hier übrigengroßentheil» a secco ausgemalt l **) Verstehe ich den Versaffer wegen der Mitwirkung de- Matteo Balduzzi in der Libreria recht (S- 370 tont.) so traut er grade die schönsten der Fernstchten dort dem Pinturicchio nicht selber zu; widerspräche sich also selber. ***) Vgl. die Zeichnung Perugino- im Louvre und Lermolieff S. 308.
4*
anerkennenSwerthe Leistungen von Pinturicchio constatircn müssen.
In der
„Reise Mosis" sind wie das Volk im Mittelgrund auch die Hirtenscene Pinturicchios Eigenthum; sie erinnern stark an ein Bildchen Narciß am Quell, das sich unter dem Titel prima maniera di Raffaello in der
Galerie Penna zu Perugia befindet.
Auch einige theilnahmlose Zuschauer
bei der Beschneidung sind vortreffliche Beispiele seiner Tüchtigkeit, doch geringer
an Zahl
als drüben bei der Taufe Christi.
Daß
aber der
mächtige Engel in der Mitte, wie die Frauengestalten und Kinder im Vordergrund ebenfalls vom Pinturicchio gemalt sein sollen, kann ich selbst
einem so erfahrenen Kenner der italienischen Malerei gegenüber nicht zu gestehn.
Mögen diese beiden Fresken auch noch so sehr verräuchert und eS giebt denn doch
verputzt sein,
unverwischbare Kennzeichen,
welche
Perugtnos Arbeit von der Pinturicchios unterscheiden. Perugino gehört doch
einer bestimmten Gruppe von Florentinern an, die Lermolieff selbst im Anschluß an RumohrS feinsinnige Bemerkung S. 379 aufzählt;
er ist
grade um diese Zeit frisch beeinflußt von den Bestrebungen der Verrocchioschen Werkstatt.
Er modellirt seine Gestalten und Köpfe mit einer Sorg
falt und Weichheit, die das Studium nach plastischen Vorbildern, die
Technik des Verrocchio, des Lionardo und Lorenzo di Credi verrathen. Er bringt dies mit einem bräunlichen Ton der Schatten zu Stande, die
wir aus Lionardos unvollendeten Arbeiten kennen; gegen solche Leistungen
Peruginos fallen die besten Bemühungen PinturichioS immer platt, grau und kalt aus.
Man vergleiche nur das herrliche Jünglingsbild in den
Uffizien, das dort Lorenzo di Credi heißt, aber von Lermolieff und Andern
schon früher mit Recht als Perugino bestimmt wurde*), mit diesen Köpfen
z. B. in der Taufe mit dem zweiten links von Christus, der zu seinem älteren Nachbar herumblickt.
Diese drei und jene Künstlet auf der
Schlüsselverleihung sind die herrlichsten Bildnisse, die dem Pietro je ge
lungen!
Die kräftige Modellirung hier nimmt bei seinen Frauen und
Kindern eine zarte Weichheit an, die Pinturicchio ebenso wenig eigen ist.
Die schwellende Fülle der Formen, die sich auch bei den innern GestchtStheilen, z. B. an den Mundwinkeln, Augenlidern bemerkbar macht, wäre
für Pinturicchio unerhört:
seine schönsten Madonnen und Kinder haben
immer feste Contouren, scharf geschnittene Nasen, Augen, Brauen und Lippen, nichts was an Verrocchio erinnerte.
Seine Frauen sind nie
üppig, seine Kinder nie blühend, sondern mager, eckig, hektisch wie er selbst.
Der kleine Sohn des Moses auf dem Schooß, der mitfühlende
Genosse finden Ihresgleichen auf den Gemälden Peruginos, z. B. dem
*) Nr. 1205.
Photogr. Brogi 6176.
aus der Certosa von Pavia in die londoner Nationalgalerie gekommenen
oder dem leider entstellten in der Galerie Pitti, oder unter den besten
Kindern der Robbia viel eher als unter den von Lermolieff genannten
Beispielen, die sich zu diesen ähnlich wie die Putten des Mino da Fiesole auönehmen.
und Freiheit,
Der Engel mit dem Schwert ist vollends von einer Kraft welche direct zu den Gestalten der „Schlüsselverleihung"
hinüberweist, deren echt peruginische Herkunft Niemand bezweifeln kann.
Ich vermag meine Ueberzeugung nur dahin auszusprechen, daß die ursprüngliche Erfindung und Zeichnung dieser beiden Compositionen un
bedingt dem Pietro Perugino verbleiben muß, ebenso wie die Ausführung der Hauptpersonen, wogegen dem Pinturicchio ein beträchtliches Stück der Malerei, besonders in Nebendingen und Porträts zufällt. Darnach wird sich der Standpunkt schon wesentlich modisicirt haben,
wenn eS sich nun um eine Prüfung der von Lermolieff herangezogenen Zeichnungen handelt.
Zuerst die Gewandfiguren aus der Schlüsselüber
gabe, deren letzte Herkunft aus dieser Zeit ich auch nachgewiesen.
Lermolieff
nimmt an, daß Meister Pietro sich nach einer eigenen flüchtigen Skizze von seinem Gehülfen Bernardino diese Kleiderstudien fertigen ließ. Ueberrascht es uns schon,
wenn dem „armen verkannten" Pinturicchio diese
untergeordnete Hülfsarbeit zugemuthet wird, während er vorher zwei be
deutende Fresken selbständig ausgeführt haben soll, so erscheint mir eine solche Garzonenübung vollends überflüssig, wenn uns sofort gesagt wird,
daß die Ausführung dieser Gestalten al fresco d. h. die eigenhändige
Mache PeruginoS die „Verschiedenheit seiner Auffassung und Empfindungs weise" offenbare, d. h. doch daß er sich über die ängstlichen Vorbereitungen
deS Gehülfen einfach hinweggesetzt.
Sollte der Meister den Genossen, der
mit ihm arbeitete so wenig gekannt haben, um nicht zu wissen, was er von ihm erwarten dürfe und was er ihm nicht nach seinem Sinn machen werde?
Nun, das sind Hypothesen, die angesichts der authentischen Ma
lerei Jedermann recht künstlich vorkommen müssen; halten wir uns an die
Blätter selbst!
Die Figuren sind so befangen, ängstlich gewissenhaft, daß
sie unS für Bernardino, der doch schon selbständiger bei der definitiven
Ausführung mitwirkte, ja recht Tüchtiges leistete, viel zu schülerhaft er
scheinen.
Wo sie mit dem Fresko in der Stellung übereintreffen ist dies
so genau, daß sie nur nach dem Carton PeruginoS gemacht sein können.
Wo ihre Haltung abweicht, oder gar a rovescio, also vielleicht gepaust ist, verlieren sie sofort jedes zwingende Verhältniß zu diesem Wandgemälde,
da sie in der That dutzendweis in allerlei Variationen auf den späteren Arbeiten PeruginoS, PtnturtcchioS, der ganzen Schule vorkommen. Als interessantes Beispiel dieser Art, das zugleich über ähnliche
Relationen der venezianischen Skizzen belehren kann, will ich nur eine
getuschte Zeichnung erwähnen, die sich bei Herrn v. Beckerath zu Berlin be findet.
Sie hat jedenfalls Beziehung zu dem Fresko der Schlüsselübergabe
und zwar zu der Jüngergruppe links hinter Christus, die sie von der Gegen
seite nimmt. Wer Perugino und Pinturicchio um 1483 kennt, wird sehen, daß sie weder von dem Einen noch von dem Andern damals gefertigt sein kann.
Sie steht ohne Frage dem Perugino näher, aber jenem Ma
nierismus, dem er nach seiner definitiven Rückkehr in Perugia verfiel.
Wenn ich nach dem schwächlichen Charakter deö Ganzen, den
Köpfen und den dünnen,
matten
unter dem hohen Spann stark ausgekehlten
Füßen urtheilen darf, so halte ich die Zeichnung für eine Studie des Giovanni Spagna und zwar aus der Zeit, die uns durch jene Anbetung
des Kindes in der Pinakothek des Vatikan repräfentirt wird*).
ES ist
offenbar eine der bekannten Umgestaltungen ein für alle Mal componirter Gruppen, diese in bestimmter Abhängigkeit von Pietro'S Carton zu dem Fresko
der Sistina.
Nach diesem Belege kann ich nun in den Vene
zianer Zeichnungen nur Uebungen eines Anfängers erkennen, der zur An eignung des Schulguts und Charakters, zum Erlernen genauer Ver größerung und Uebertragung, oder andrer technischer Dinge in dieser Art
nach den Vorlagen des Meisters exerciren mußte.
Das nämli'che Verhältniß scheint mir auch
bet den Blättern zu
walten, die Lermolieff mit der Reise MosiS und mit der Taufe Christi
in Verbindung gebracht hat.
Sie stimmen alle mit dem ausgeführten
Fresko zu genau und zwar in den Zufälligkeiten überein, während sie in
der Linienführung, Modellirung und bergt, inneren Eigenschaften durchaus nicht die Freiheit und Meisterschaft zeigen, die grade an diesen Theilen
der Wandmalerei hervorleuchten.
Die Frauengestalt mit gebeugtem Knie
scheint nur deö Motivs wegen nachskizzirt.
Der Kopf, den Lermolieff als
Studie zu dem der Zipporah giebt, hat hier weder die große Formgebung *) Bei dieser Gelegenheit bekenne ich mich auch zu dem ketzerischen Glauben LermolieffS, daß an Perugino« Auserstehung im Vatican nicht Raphael, sondern vorwiegend lo Spagna mitgearbeitet hat. Die« ist aber schon die Periode, in welcher die Be rührung mit dem jungen Urbinaten wirksam wurde. Ich rechne hierher eine schöne Zeichnung, welche in den Uffizien Ercole Grandi heißt. Born steht ein junger Mann in voller Rüstung etwa« nach recht« gewendet, unter direktem Einfluß der streitenden Engel Signorelli« in Orvieto, hinter ihm seine fantini. Verglichen mit Raphaels Tuschzeichnung zum ersten Fresko der Libreria zeigt stch die Ver wandtschaft sowohl wie der Mangel der feineren Qualitäten. Zu dem genannten Blatte (Braun, Florenz 642) gehören als untergeordnete Reproductionen: Louvre, Jnconnu, Braun 510 und Venedig, Gerino da Pistoja, Braun 24, sowie der von Paffavant richtig als nmbrisch erkannte Stich „Guarino Meschino" P. G. V. S. 195 Nr. 115. Vgl. übrigens auch die in der Exposition des Desseins de Maitres anciens, Paris 1879 fälschlich als Giovanni Santi bezeichnete Auferstehung (Braun 93) und Zeitschrift für bild. Kunst VIII. S. 302 ff.
Perugtrw'S, der ihn gemalt hat, noch den schmalen Typus der Frauen Pinturicchio S, sondern die Härte eine- Anfängers und die runde Schädel
form, die wir z. B. bei dem jungen Raphael finden; das Arrangement
im Ganzen ist durchgehendes Schulgut: mit demselben Recht könnten wir diesen Kopf nur von der Gegenseite in Raphaels Sposalizio hinter Maria
constatiren. Auch den andern Beispielen z. B. denen, die sich auf Fresken in S. Maria del Popolo beziehen sollen, dürste bei genauer Confrontatton wenig überzeugende Kraft verbleiben*).
Indessen ich möchte keinen Augenblick den Schein erregen, als maße
ich mir an,
über die Herkunft des sogenannten raphaeltschen Skizzen-
bucheö urtheilen zu wollen: nur die Bemerkung sei gestattet, daß Lermo
lieff die Sache viel zu leicht genommen und zu schnell ein abschließendes
Urtheil gefällt haben dürfte. Zunächst muß durch genaue Messung und Untersuchung
der ein
zelnen Blätter festgestellt werden, ob sie und wie viel zu dem Sktzzenbuch gehört haben mögen.
Selbst wenn die Mehrzahl der Zeichnungen diese äußere Zusammen gehörigkeit annehmbar macht, würde es mir gar nicht abenteuerlich erscheinen,
wenn in einem solchen taccuino, das etwa Raphael gehörte, nicht blos auch die Hand seines Vaters
oder Nachzeichnungen nach Werken deS
Giovanni Santi**), sondern auch Skizzen von und nach seinen Lehrern oder Genoffen, mit denen er arbeitete, befindlich wären. „Zu jenen Zeiten war ja unter den Zunftgenossen das gegenseitige Geben und Neh
men allgemeiner Gebrauch" sagt Lermolieff sehr richtig***).
Jemehr man
aber dieses für die historische Erkenntniß der Künstlerethik von damals
sehr bedeutsame Axiom beherzigt, desto mehr wird man sich klar halten, daß die Frage mit ausschließlicher Proklamirung eines andern Autorfür das venezianische Skizzenbuch ebenso wenig befriedigend erledigt ist wie
bisher.
*) Die nicht näher motivirte Datirung dieser nicht allein für Ginliano della Rovere, sondern zum Theil für den Cardinal von S. Clemente Domenico della' Rovere gemalten Capellen laffe ich außer Spiel, obgleich ich triftige Gründe zu haben glaube, sie um ein volles Jahrzehnt später anzusetzen. **) Hierzu rechne ich z. B- da« Porträt des knieenden devote (Paff. 72. Lermol. I.) und das Abenteuer mit dem Löwen (Paff. 33). ***) Er widerlegt damit selbst seine moralischen Bedenken gegen die Gemeinschaft Ra phaels mit Pintnricchio in Siena. Die Idee, Vasari habe die Notiz von Raphaels Antheil blos erstunken und erlogen, etwa aus Tendre für Perugino oder gar Ra phael als storentinisch gebildete Meister wird doch sehr illegitim, wenn Vasari aus drücklich erklärt ed alcuni echizzi ne eono, di man di Raffaello, nel nostro Libro (Bd. III. 494) und wenn er Raphael grade erst von Siena aus zum ersten Mal nach Florenz wandern läßt!
Lermosieff, RMael upb Pin^ricchip,
56
Lermolteff hricht die Besprechu.ng der einjelnen BMer ab, uy „seine Leser nicht M langweilen"!
So blechen die beachtenswerthen
Skizzen nach den berühmten Männern in der Bibliothek des herzoglichen Schlosse- zu Urbino ganz unerwähnt.
Weiß man von einem Aufenthalt
Pinturicchtps daselbst? — Da die Gemälde, deren ein Theil in Parts,
ein andrer im Pal. Barberini zu Rom befindlich ist, unverkennbar ein Gemisch von dem Stil des Justus van Gand und dem des Giovanni
Santi aufweisen, wäre doch eine Berücksichtigung der Skizzen nach diesen Bildnissen unerläßlich.
Ein ähnlicher Widerspruch bleibt, daß Lermolteff das Graztenbtld bet Lprd Ward für echt erklärt, das doch so genau wie nur möglich mit
der antiken Gruppe in Siena stimmt, —
Siena dagegen
hinstellt.
einen Besuch
Raphaels iy
als „pure Erfindung des sientschen LokalpatriotiSmuS"
Am wenigsten kann aber der Kunstwissenschaft mit der biete«
torischen Abfertigung der bekannten Zeichnung zum ersten Fresko der 81»
bxeria gedient sein.
Wenn Lermolieff (S. 319) die
unterscheidenden
Merkmale der Handschrift Raphaels anerkennt und benutzt, so weiß ich
nicht, wie es möglich war, den fünfzeiligen PassuS von seiner Hand auf dem Florentiner Blatt zu übergehen. Ich halte es wenigstens mit dem Gewissen eines „ernsteren Kunstforschers" für eher vereinbar, diesen oder seyen Lokalwechsel im Leben eines Künstlers zuzulassen, als der jüngeren Generation, die gern und dankbaren Sinnes von einem gediegenen Bei
spiel lernen möchte, einen derartigen Begriff von der Machtvollkommen heit eines Kunstkenners zu geben*)! *) Soeben lesen wir in einer Besprechung des neuerschienenen Leben Raphaels von E Müntz (Paris, 1881), welche das Decemberheft der Gazette des Beaux-ArtS bringt (@. 654), es habe sich «in Raphaels Anwesenheit in Siena im Jahre 1504 constatirendes Aktenstück gefunden. RachltLglich bei der Torrectur zugesetzte Anmerkung.
Rom, den 10. November 1880.
Schmarsow.
Die Leitung des Manövers.
Kaum ein Gebiet mülschlicher Wirksamkeit ist heut in so hohem
Grade populär, als das Heerwesen^ schon vermöge der Popularität, d. h:
der Allgemeinheit deS Kriegsdienstes.
In weitm Kreisen finden mill-
tärische Fragen aufmerksame Beachtung, wir dürfen htnzusügen — häufig schnellfertige Beurtheilung.
Haben doch die Meisten durch eigene Erleb
nisse oder persönliche Beziehungen Einblick gechan in das Getriebe der
Wehrkraft.
Die äußeren Formen des Kriegswesens sind überdies einfach:
ein Jeder weiß, wie er sich feiner Haut wehren soll und was es sagen will, dem Gegner zu Leibe zu gehm; er wird eS vorziehen, ihn von der Sette als von vorn anzupacken.
Es will daher mitunter zulässig
er
scheinen, die Grundsätze, welche für die Handlungen der Einzelnen maß-gebend bleiben, bet Verwendung der Mafien von Streitern gewissermaßen
zu vervielfältigen; der Fehler, welcher in einer solchen Rechnungsweise
meist beruht, ist hin und wieder sogar bei unglüMcheu Anordnungen von Feldherren zu Tage getreten.
Um so mehr hat der Late Entfchuldkgung,
wenn er beisptelsweise vergißt, daß das Anrücken der Vordersten einer langen Heeressäule bei weitem noch nicht gleichbedeutend ist mit dem Auf
treten der Gesammtheit derselben. Manche technische Vorgänge deS alltäglichen Dienstes sind außerhalb
deS HeereS wenig gekannt.
So ist unter Anderem das Verständniß für
dm Gang und die Methode der Ausbildung der Truppen und. ihrer Führer nicht sehr verbreitet.
Auch über die Art, wie die Bilder deS
Krieges zur Darstellung gebracht werden können, sind die Anschauungen
dmchauS nicht genau. Ein Mittel, die Lösung militärischer Fragen unter Ftxirung krtegS-
ähnlicher Verhältnisse herbeizuführen, ist die Durcharbeitung von. Auf trägen, welche sich aus einer bestimmten Situation ergeben mit Hülfe der Karte oder draußen an Ort und Stelle.
Zu derartigen Uebungen ge
hören taktische Aufgaben, das Kriegssptel und die sogmanntm General-
Die Leitung des Manövers.
58 stabsreisen.
Die Schulung der Truppen wird erstrebt durch die Feld
dienstübungen in größerem Maßstabe, durch die Manöver.
Seit länger als einem Jahrzent werden die großen Herbstübungen
der einzelnen Heeresverbände in Deutschland von zahlreichen Fremden aus gesucht und studiert.
Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß der kriegsähn
liche Charakter der Manöver wesentlich mitgewirkt haben mußte, wenn
die preußische Armee nach einer langen Friedenszett sachgemäß vorgebildet 1866 im Felde auftrat. Alle größeren europäischen Armeen
haben nach dem französischen
Kriege eine erhöhte Sorgfalt auf die Abhaltung dieser Uebungen ver wendet.
Nicht daß eS an solchen zuvor gefehlt hätte, sie hatten vielfach
sogar in großem Maßstabe stattgefunden.
Meist waren dies jedoch Be
wegungen von Truppenmassen, welche entfernt von ihren gewöhnlichen
Standorten in Lagern vereinigt wurden und wiederholt "auf dem näm
lichen Felde Gefechtsbilder, unter einer bestimmten Annahme der ent sprechenden Vorgänge beim Gegner, zur Darstellung brachten. diese Uebungen
ES bieten
eine Belehrung, welche die Truppen nicht entbehren
können, um das Zusammenwirken großer Verbände im Kampf sich zu veranschaulichen.
Dieses „Gefechtsexerciren", wie man eS wohl zu be
zeichnen pflegt, fand auch von jeher in der preußischen Armee eine ge
bührende Anwendung.
Hier hatte man indeß daneben seit den Tagen
König Friedrichs das Element der eigenmächtigen Wahl der Hanblungen für beide Gegner, sowie des Wechsels der Oertltchkeit in Geltung gesetzt. Unter Manövriren versteht der Soldat Maßregeln treffen, um auf den Gegner zunächst lediglich durch Bewegungen einen Zwang auszuüben.
Da die Entwickelung deS Kampfes bedingt wird durch die Lage, in welcher die streitenden Theile bei Beginn der Waffenwirkung auf einander treffen,
bildet die Anordnung des Vormarsches, die Verschiebung der Kräfte einen
wesentlichen Theil der Ueberlegungen der Führer.
Hier liegt daS Gebiet,
auf welchem die letzteren unter völlig kriegsähnlichen Berhältniffen heran gebildet werden können.
Der Name Manöver umfaßt daher diejenigen
Uebungen größerer Truppenverbände gegeneinander, bei welchen Unkenntniß
über die Maßnahmen des Gegners herrscht und wo wenigstens bis zum
Zusammenstoß die Verhältnisse deS wirklichen Krieges treu nachgeahmt werden können. In einem erweiterten Sinn bedeutet das Manöver thatsächlich auch
eine Uebung des Kampfes größerer Massen.
WaS die Manövergefechte im
Gegensatz zu den erwähnten „GefechtSexerciren" auSzeichnet, ist wiederum
die freie Bethätigung deS Entschlusses beider Gegner auch während der
Phasen des Gefechts.
Welche Einschränkungen die Natur der FrtedenS-
übung gebietet, ist leicht zu ersehen. Das Manöver bildet daher die Schule sowohl für die Führer wie
für die Truppe.
Zwar bleibt die einzelne KampseShandlung, welche die
Truppe ausführt, dieselbe im kleinen wie im größeren Verbände, allein
es bringt Vortheil, wenn jeder Mann die Ueberraschungen und Wande lungen erkennen lernt, welche den Gang eines größeren Gefechts beein-
flussen. AuS dem bisher Gesagten geht bereits hervor, daß es irrthümltch wäre zu glauben, der AuSgang des militärischen Schauspiels, welchem
alljährlich die Umwohnenden mit bekannter Vorliebe zuschauen, unterliege im Einzelnen wie im Ganzen einer höheren Festsetzung oder der Verab redung der Gegner.
Die Nothwendigkeit das Manöver von langer Hand vorzubereiten,
sowie Unterbringung und Vertheilung der Lebensmittel durch eine Ver einbarung mit den örtlichen Verwaltungsbehörden sicher zu stellen, ferner
die Rücksicht auf Herbeiführung eines Gefechts an Punkten, wo die Boden form ein solches lehrreich und die Beschaffenheit der Aecker eS nicht zu
kostspielig macht: dies Alles erfordert freilich die Innehaltung eines Plane bei dem Verlauf des Manövers.
Den Gang der Uebungen in diesem
Sinn zu regeln ist die Aufgabe des „Leitenden", welcher unpartheiisch
über den manövrirenden Truppenabtheilungen steht.
Der Grund auf welchem der gesammte Hergang sich entwickelt, ist ein in der Vorstellung beruhendes Verhältniß zweier feindlichen Heere.
Diese angenommene Kriegslage wird den Gegnern mitgetheilt.
Die
„General- und Spezial-Jdee" — auch einer von den vielen unschönen und überflüssigen Kunstausdrücken, die so leicht zu verdrängen wären*) — soll die beiden Führer in den Stand setzen, ihre Anordnungen den Zielen und Interessen entsprechend zu wählen, welche ihrer Parthei untergelegt werden. Während der Herbstübungen treten nach und nach immer größere Verbände
einander gegenüber, damit die Führer aller Grade in die Lage kommen
verantwortlich Entschlüsse zu fassen.
Je kleiner die auftretenden Abthei
lungen sind, desto schwieriger wird eö, eine Kriegslage zu erfinden, welche eine genügende innere Wahrscheinlichkeit bietet, um jedem Führer eine
deutliche Vorstellung der ihn umgebenden Verhältnisse zu geben.
Der
Leitende wird daher meist den Zusammenhang der Truppe mit. einer seit
wärts oder rückwärts befindlichen größeren Heeresabtheilung
fingiren.
Dies kann mit wenig Worten geschehen, denn eS genügt für jeden zu *) Allgemeine und besondere Kriegslage.
wissen, woher er kommt und wo er Verstärkung oder Anschluß finden Ferner muß die Aufstellung und Verfassung der thatsächlich zum
kann.
Handeln gelangenden Truppen charakterisirt und diejenigen Nachrichten
über den Gegner gegeben werden, welche auch in Wirklichkeit bekannt sein
dürften.
Für größere Körper, (Divisionen,
Corps) wird die Aufgabe
weiter gefaßt sein, wie für einzelne Detachements. nach
einem
Diese werden oft
formulirten Auftrag handeln, welcher die Bewegung
Truppen in einer bestimmten Richtung erhalten soll,
der
damit wirklich ein
Zusammenstoß eintritt, sobald von den Führern sinnentsprechende Anord nungen getroffen werden.
Man sieht, daß die Leitung eS in der Hand
hat den Verlauf ungefähr zu regeln.
Die gegebene Kriegslage wird
z. B. beide Theile bestimmen, vorzugehen, oder der eine wird zur Abwehr
stehen bleiben.
Da ferner die ganze Anordnung davon ausgeht, daß die
beiden Gegner bestimmte Oertlichkeiten erreicht haben, so wird der Zu sammenstoß auch gewöhnlich in der beabsichtigten Gegend erfolgen.
Trotz
dem bleibt für die Entschlüsse der Führer, je nach dem Maaße des ihnen
gewährten Spielraums, ein Zwang grundsätzlich ausgeschlossen. kleineren Abtheilungen bereits ein Auftrag bestimmt ertheilt,
Ist bei
z. B. An
griff, so bleibt eben die Art der Ausführung überlassen. Auf Grund der erhaltenen Mittheilungen entwerfen die beiden Führer
Allerdings sind ja im Frieden die Stärkeverhältnisse
ihre Anordnungen.
gegenseitig bekannt, jedoch bleibt es immer ungewiß, an welcher Stelle
man den Gegner stark antrifft, und schließlich giebt es in der häufigen Anwendung von Truppen, die durch Flaggen „marktrt" werden,
einen
Zwang für beide Theile sich vor Ueberraschungen zu hüten.
Damit der Leitende im Stande sei, die kommende Entwickelung an nähernd zu erkennen, werden ihm vor Beginn der Uebung die von bei
den Seiten erlassenen Befehle gemeldet, so daß Gelegenheit bleibt, Miß verständnisse aufzuklären und Abänderungen z. B. der Aufbruchszeit vor
zunehmen.
Wird daö Eingreifen des Leitenden in diesem Sinn nöthig,
so bietet demselben meist der Hinweis auf das „angenommene" Verhältniß zur Hauptarmee, oder die Mittheilung neuer Nachrichten über den Feind die Handhabe, um die ausgegebenen Befehle durch die Führer selbst ab
ändern zu lassen.
Ein solcher Hergang entspricht auch den Verhältnissen
deS Krieges vollkommen,
wo häufig in der Nacht Meldungen über den
Gegner oder Befehle von höherer Stelle eingehen, welche die Disposition für den folgenden Tag umwerfen oder abändern.
Bis hierher, bis zum Erlaß des ersten Befehls wird demnach unbe dingt der Wirklichkeit entsprechend gearbeitet und damit ist ein wesent
licher Zweck erreicht.
ES wird die Fähigkeit der Führer geprüft und ge-
übt, Verhältnisse, wie der Krieg sie giebt, schnell und sicher aufzufassen,
zu beurtheilen und der gewonnenen Ansicht gemäß zu handeln. Aus den Anordnungen, welche hüben und drüben getroffen werden, entwickelt
sich nunmehr eine
vollkommen
ES handelt sich
neue Lage.
weiter darum, die Maaßregeln praktisch zu erproben und zu entscheiden, welcher Theil seine Absicht zur Durchführung bringt.
Stoßen die vordersten Abtheilungen aufeinander, so Führer die Befehle zur Einleitung eines Gefechtes,
vermögen die
zur Heranziehung
der Massen nach bestimmten Punkten auf Grund derselben Ueberlegun-
gen zu erlassen, welche in Wirklichkeit anzustellen sind.
Die Anforderun
gen der letzteren stets zu wahren, ist die besondere Aufgabe des Leitenden.
Es wird sich bei den Ausführenden leicht das Bestreben hervordrängen,
den Gegner durch „Manöver" z. B. weit
ausgeholte Umgehungen
zu
bezwingen, welche man im Kriege bei der Unkenntniß über die Verhält nisse beim Gegner schwerlich wagen würde.
Dieser Ausartung der Frie
densübung muß entgegengetreten werden und vorzugsweise das frontale Gefecht, als das schwierigere, zur Darstellung gelangen.
Es kann allerdings nicht ausbleiben, daß hin und wieder sich Un natürlichkeiten ergeben.
Wollte man allzu ängstlich hierüber wachen, so
würde die Möglichkeit Massenbewegungen zu lehren, erheblich eingeschränkt sein.
Zuvörderst entspricht eS schon nicht der Wirklichkeit, daß an jedem
der aufeinanderfolgenden Tage Kämpfe zur Darstellung kommen, bis zur vollen Entscheidung durchgeführt werden.
Schwächere dann sich dem
welche
Im Kriege sucht der
Gegner schnell zu entziehen.
Ebenso wird
häufig in einem Gefecht von denselben Truppen eine Reihe von Bewe gungen ausgeführt,
welche in Wirklichkeit vielleicht
HeereStheilen zufallen würde.
neu
auftretenden
Durch die Manöver sollen indeß auch die
Unterführer geübt werden, sich in die Verhältnisse des Kampfes hinein zu denken und
in schnell wechselnden Auftritten selbstständig und zweck
entsprechend zu handeln.
Es gilt bei Bewegungen im Feuer die Waffen
wirkung
in Rechnung zu bringen, die Bodenform zur Deckung zu be
nutzen,
gegen plötzlich dargebotene Blößen des Gegners einen schnellen
Vorstoß zu führen, geschickt dem Feinde sich zu entziehen, kurz mannigfache Erfahrungen zu sammeln, welche den Vorgängen während eines wirklichen
Gefechts wenigstens nahe kommen.
In dem Verlauf des Manövergefechts treten jedoch bald Momente
ein, in welchen die Entscheidung mittelst der Waffengewalt durch einen anderen Faktor ersetzt werden muß.
Zunächst ist der Verlauf deS Kam
pfes ein unverhältnißmäßig schnellerer als in der Wirklichkeit.
Bis zu
einem gewissen Grade liegt daö im Interesse der Uebungen, denn die
Die Leitung des Manövers.
62
Quartiere müssen im Frieden sehr viel weiter auseinander liegen, als im
Kriege, wo man bivuakirt oder doch leicht eine Brigade in einem Dorf übernachtet, welches hier nur von wenigen Compagnien belegt ist.
Zeit zum Gefecht ist knapp bemessen.
Die
Um so weniger darf der Leitende
eS dulden — wie bereits oben angedeutet — daß noch Zeit durch wett auSgeholte Umgehungen verloren werde.
Ein weiterer Grund für die
schnellere Abwickelung des Manöverkampfs liegt in der größeren Leich
tigkeit des UeberblickS und der BefehlSertheilung.
Die einzelnen Führer
werden unwillkürlich sich weiter vorn aufhalten, als sie im Kriege im In teresse des Ganzen eS thun dürfen und die abgesendeten Befehle werden
mit geringen Ausnahmen rechtzeitig und an der richtigen Stelle eintreffen.
Diesen und ähnlichen Mängeln wird schwer durchweg abzuhelfen sein.
Die
Personen, welchen obliegt in diesem Sinn über die Kriegsähnlichkeit der
Uebungen zu wachen, sind die dem Leitenden unterstellten Schiedsrichter. Auf bestimmte Abschnitte des Gefechtsfeldes vertheilt, haben sie die Auf
gabe, den Anmarsch, die Entwickelung, die Bewegungen der Truppen im Feuer zu beobachten, sowie die Waffenwirkung und eventuellen Verluste
zu schätzen. Aus dieser Abwägung ergiebt sich als Resultat ihr Schiedsspruch,
welcher dem Angreifer den Sieg zutheilt oder ihn wieder zurückweichen heißt.
Um die Einwirkung der Verluste und die Schwächung der Streit
kraft zu charakterisiren, findet zuweilen ein Urtheil statt, welches einzelne Truppenkörper auf längere oder kürzere Zeit außer Gefecht setzt.
Dieö
geschieht jedoch nur dann, wenn dieselben in eine besonders gefährdete
Lage gerathen sind; in der Regel werden die Verluste als auf beiden
Seiten sich, ausgleichend betrachtet.
Auf diese Weise können allerdings
die Führer der beiden kämpfenden Theile in die Lage kommen, gegenüber
den plötzlich wechselden Verhältnissen neue Befehle auSgeben zu müssen. Die Schwierigkeit, welche hierfür im Kriege die häufig eintretende Lockerung
der Truppenverbände bereitet, kann natürlich nicht zum Ausdruck gebracht werden, wohl aber diejenige Ausübung der Führerschaft, wie sie ange
strebt werden muß.— Sehr schwierig ist
schauung
zu
bringen.
es die Waffenwirkung der Artillerie zur An Eine
Batterie
beispielsweise
feuert
auf
eine
bis zu 2000 Schritt entfernte Truppe, ohne daß diese in ihrer For
mation oder Bewegung die geringste Notiz
davon nimmt.
Um den
Schiedsrichtern einigen Anhalt zu geben, hat man neuerdings versucht das jedesmal gewählte Ziel durch eine farbige Tafel anzugeben, welche in der
Batterie aufgerichtet wird.
Eine rothe Tafel bedeutet: die Batterie zielt
auf Infanterie; schwarz und weiß, auf Cavallerie.
Fehlt die Tafel so
feuert Artillerie 'gegeneinander. die sie nicht fühlt, zu ignoriren.
Die Truppe ist geneigt die Feuerwirkung,
Die Schiedsrichter haben daher in dieser
Beziehung große Aufmerksamkeit und Strenge zu üben. Ist das Gefecht soweit gediehen, daß auf den meisten Stellen die Truppen nahe einander gegenüberstehen und daß in Wirklichkeit der Aus gang von der Energie der Kämpfer abhängen würde, so befiehlt der
Leitende ein Hornsignal zu geben, welche« sämmtlichen Truppen Halt ge
bietet.
Er fällt dann die Entscheidung über den GesammtauSgang des
Gefechts und charakterisirt die durch dasselbe geänderte Situation.
ES
kann in der That vorkommen, daß der AuSgang eines Zusammenstoßes
den Leitenden überrascht oder eine Lage herbeiführt, welche die Fortführung
des Manövers am nächsten Tage, entsprechend dem geplanten Gesammtverlauf, unmöglich machen würde.
Auch für diese Wendung ist derselbe
jedoch mit Mitteln ausgerüstet, auf die Parteien zu wirken, ohne direkt
in die Handlung einzugretfen.
Er kann die Entwickelung beliebig weiter
gehen lassen, um die Zweckmäßigkeit der von beiden Seiten getroffenen
Anordnungen durch die Ereignisse selber ins rechte Licht zu stellen und ist in jedem Moment in der Lage durch eine Meldung oder einen fingirten
Befehl auf die Entschließungen der beiden Führer einzuwirken; der Ver
folger beispielsweise wird dann vom Gegner ablassen.
Auf ein neues
Signal setzen sich die Truppen wieder in Bewegung, der unterlegene
Theil weicht, daS Gefecht beginnt von neuem, um allmählich abgebrochen zu werden.
Schließlich nehmen beide Theile unter dem Schutze der Vor
posten ihre Ruhestellungen ein.
Auf diese Weise wird für mehrere Tage
die Kontinuität der Handlung bewahrt.
Es gelingt in der That bis zu einem hohen Grade die kriegsgemäße
Ursprünglichkeit bei den Manövern zu wahren und das freie Urtheil der
Betheiligten zu üben.
Der Leitende bedarf jedoch einer bedeutenden Er
fahrung, Gewandtheit und.Phantasie, um die Manöver so zu gestalten,
daß die Wirklichkeit annähernd treu zur Darstellung gelangt. Wenn das deutsche Heer in Bezug auf die Anlage und Durchführung der Manöver gegen die benachbarten Mächte noch einen Vorsprung be sitzt, so beruht dieser auf der langeingewurzelten Erfahrung.
Unsere
Führer sind gewöhnt die Erscheinungen und Verhältnisse deS wirklichen Krieges sich genau zu vergegenwärtigen.
Die übrigen europäischen Armeen
haben jedoch gleichzeitig mit der bedeutenden Steigerung ihrer Rüstungen auch den Uebungen ihrer Heeresverbände eine größere Ausdehnung und
Mannigfaltigkeit gegeben.
Wie unbekannt das Wesen der preußischen
„Manöver" früher geblieben war, zeigten unter Anderem die Nachrichten über die ersten Versuche dieselben nach dem Kriege in Frankreich einzu-
Die Leitung des Manövers.
64
bürgern, wo man bis dahin nur die paradeförmigen Uebungen der kaiser
lichen Armee im Lager von CHLlons gepflegt hatte.
Die Fortschritte un
serer Nachbaren aus diesem Gebiet der kriegerischen Ausbildung können
jedoch nicht ausbleiben und müssen unS auf demselben zu stetiger Weiter-
entwiMung anspornen.
Die jährlich wtederkehrende Manöverzeit übt
nach wie vor den eigenthümlichen Reiz deS wechselvollen FeldlebenS auf die Truppen aus.
Unser Streben muß darauf gerichtet bleiben, diesen
Reiz dmch naturgemäße Gestaltung der Uebungen frisch zu erhalten und
diese thatsächlich stets zu einer Vorschule für daS moderne Gefecht zu machen, welches die Anforderungen an die Leistungen jedes Einzelnen so bedeutsam gewandelt und vermehrt hat.
Gustav Freytags Ahnen. Der Doppelsinn der Ueberschrift ist beabsichtigt.
In der Widmung
zum ersten Band der „Ahnen", November 1872 sagt Freytag:
„die-
Werk soll eine Reihe ftei erfundener Geschichten enthalten, in welchen die Schicksale eines einzelnen Geschlechts
erzählt werden.
ES beginnt mit
Ahnen aus früherer Zeit und wird, wenn dem Verfasser die Kraft und
die Freude an der Arbeit dauern, allmälig bis zu dem letzten Enkel fort
geführt werden, einem frischen Gesellen, der noch jetzt unter der deutschen Sonne dahin wandelt, ohne viel um Thaten und Leiden seiner Vorfahren
zu sorgen." Der Schlußband der „Ahnen" berichtet nun von drei Nachkommen Jngo'S, von denen der eine, Victor König, ungefähr um das Jahr 1816
geboren, Sohn eines Arztes in einer kleinen schlesischen Stadt, erst an einer Provinzial-Universität dann in Berlin studirt hat, Theaterstücke und
dramaturgische Studien geschrieben, Vorlesungen gehalten, schließlich im
Jahr 1848 ein liberales Blatt gegründet hat. Da nun das alles Umstände sind, welche sich im Leben G. Frey tags wieder finden und von welchen das Publikum vollständige Kunde hat,
so muß man voraussetzen, der Dichter habe eS absichtlich auf diese Fährte geleitet, in ihm die Idee erregt, er selber betrachte sich als den Erben
von Ingo, Jngraban, Jmmo, Ivo, u. s. w. stellen wollte,
Wer aber sich demnach vor
im letzten Band der „Ahnen" auS Freytags wirklichem
Leben etwas zu erfahren, würde stark fehl greifen: abgefehn von den an
geführten Umständen haben Victor König und Gustav Freytag weiter nichts gemein, als daß sie beide gute und gescheute Menschen sind; alles sonst ist grundverschieden: grundverschieden namentlich die Stellung zum
Berliner Barrikadenkampf von 1848, wie ich auS persönlicher Kenntniß bezeugen kann. WaS hat also der Dichter mit jener vorgeschobenen Parallele beab
sichtigt?
In der meisterhaften Kritik des „Ingo" von W. Scherer, welche die Preußischen Jahrbücher 1873 brachten, heißt eS zum Schluß: Preußischr Jahrbücher. iBb. XLVII. Heft 1.
5
„daS Ge-
schlecht der Ahnen stammt aus Schlesien; ich bin neugierig, ob das ver triebene nicht in der Person eines Colonisten dahin zurückkehrt^" Vermuthung hat sich vollkommen bewährt; weniger die zweite:
Diese „Wäre
daS Werk vor zwanzig Jahren unternommen, so hätte es vermuthlich mit einer Auswanderung nach Amerika geschlossen; heute haben wir Colonisten-
Arbeit, die uns näher liegt; waS mit der Schlacht bei Straßburg von 357 begann, das könnte in dem wiedergewonnenen Straßburg von 1870 schließen." Ich hatte dasselbe geglaubt, Freytag hat aber einen früheren Schluß vorgezogen.
Er bricht seine Erzählung ungefähr mit dem Jahr 1854 ab,
mit der Zeit, wo er selber in die Gegenden übersiedelte, die den Haupt schauplatz seiner Geschichten bilden.
Die Rückkehr des Geschlechts der schlesischen Vandalen in ihre alte Heimath, die Colonisation dieser Ostmark, schon in den „Bildern aus ver
deutschen Vergangenheit" vortrefflich dargestellt, das ist also das eine und wohl entscheidende Motiv jener Parallele zwischen dem Erben Jngo's und
dem Dichter desselben.
Daß der Senior der Vandalen auf irgend einer
deutschen Universität gewissermaßen die Gefolgschaft seines Ahnen wieder aufnimmt,
ist mehr ein Scherz;
gewichtiger erscheint das Motiv, daß
Männer von dem Charaktertypus des Ingo u. s. w. in unserm „tintenklexenden Säculum" statt des Schwerts die Feder ergreifen, sogar in der
modernsten Form des Journalismus.
Dies ist daS allgemeine was ihm
vorschwebt; auf die Individualität, wollte er wohl sagen, kommt es gar nicht an:
„wenn ihr keine passendere findet, so will ich mich meinetwegen
selber hergeben.
Ohnehin hat das Blut der Ahnen die zwingende Ge
walt verloren, wir stehn nicht mehr unter dem Bann der Vergangenheit,
wir sind die Söhne unserer eigenen Thaten, und in unserm Denken und
Wollen spricht die Gesammtheit des Volks."
So darf ich vorläufig die Ahnenproben der Familien König und
Ingersleben bei Seite lassen.
Dagegen scheint es mir nicht ohne Inter
esse, eine andere Stammtafel herzustellen, die für die Helden der letzten Erzählung Victor König, Henner von Ingersleben und Captain Desalle
vielleicht wichtiger ist als die Abstammung von Ingo, Jngraban, Jmmo Ivo, Georg König u. s. w. Kunz von der Rosen,
Die Ahnen, die ich im Sinne habe, heißen:
Georg Saalfeld, Graf Waldemar, Bolz, Finck,
Markus Fabius. Jene
Ahnenreihe war in gewissem
Sinn eine absteigende, vom
Helden und Göttersohn Ingo ging es durch Zaunkönige, SpielmannS-
könige, auch wohl durch einige Strolche zu schlichten Kaufleuten, schließlich zu Journalisten.
Die Ahncnreihe dagegen, die ich im Sinn habe, ist eine aufsteigende: die Helden, die dem Dichter in seiner Jugend vorschwebten, haben im Lauf
seiner Entwicklung immer mehr Fleisch und Blut, immer mehr geistigen
Inhalt gewonnen.
Deshalb darf man aber diese Jugendbilder nicht ge
ring schätzen: gerade ihrer größeren Einfachheit wegen sind sie für Frey
tag'S Charakteristik ein bedeutender Fingerzeig. Ich weiß wohl, daß in der Charakteristik eines Lebenden immer etwas
Bängliches liegt, weil sie an den innersten Lebensnerv zu klopfen scheint. Indeß hat sie ihre Berechtigung, namentlich einer Persönlichkeit gegen
über, die so durchgreifend gewirkt hat wie G. Freytag, und der Schluß der „Ahnen" bildet eine Etappe in seiner literarischen Laufbahn, bei der
man wohl still halten und sich umsehn darf. Freytag'S Schriften haben einen Erfolg gehabt wie kaum ein an
deres Werk in unserer modernen Literatur:
vom Backfisch an bis zum
alten Professor, vom schlichten Bürgersmann bis zum Fürsten hinauf, Jeder hat irgendwie Stellung dazu genommen.
In allen einzelnen Zweigen
feines Schaffens hat er Rivalen, im Converfationöstück, in der idealen Tragödie, im socialen Roman, in der ästhetischen Kritik, in der Geschicht schreibung, wenn er auch überall dem Besten sich an die Sette stellen kann:
aber überblickt man das Alles zusammen, so hebt und trägt eins das
andere, und es kommt das Bild einer literarischen Existenz heraus, die schwer ihres Gleichen hat.
Es wurde ihm
Gelegenheit geboten
wie
keinem andern Dichter, die Höhen und Tiefen der Gesellschaft kennen zu
lernen: er ist mit Schauspielern und sonstigen Künstlern wie mit allen Classen des ehrbaren Bürgerstandes umgegangen, mit den höchsten Spitzen der Gelehrsamkeit wie mit dem Hof und der Aristokratie; er ist als an
gesehener Nachbar in Siebeleben den Bauern näher getreten, ja, damit ihm nichts fehle, hat er auch den Feldzug von 1870 mitgemacht und
— wie ich nicht von ihm, sondern von einem jungen Officier weiß —
mitunter selbst ein gefährliches Abenteuer aufgesucht. In all diesem läge noch nicht das eigentlich Merkwürdige.
So ab
geschlossen sind die Stände nicht mehr, daß sie nicht aus ihrem eigent
lichen Beruf heraus, sich nach einer belebenden Ergänzung umsähen; ein geistreicher Dichter, der sonst nur die guten Formen hat, wird bet Bür gern und Gelehrten, in der Aristokratie und bei Hofe willkommen sein. Das Eigene bei Freytag ist, daß er allen diesen Kreisen nicht wie ein
Fremder gegenübersteht, den man zuläßt oder um den man wirbt, um sich zu unterhalten oder über seine Künste belehren zu lassen, sondern wie
einer der dazu gehört.
Er ist mit Landwirthen Landwirth, mit Kauf
leuten Kaufmann, mit Gelehrten von der strengsten Observanz der eben-
bürtige Gelehrte, und unter vornehmen Leuten der vornehme Mann.
Man
kann von ihm sagen wie Tallehrand von ThierS: il n’est pas parvenu
mais il est arrivö.
Und
das Alles ohne die äußeren Zeichen einer
acceptirten socialen Stellung, vollkommen als freier unabhängiger Mann!
Freilich ist er Coburgischer Hofrath, aber — eS ist ja jetzt Gras darüber gewachsen und man darf wohl davon reden — er wurde es nur, weil es für den Herzog von Coburg das einzige Mittel war, ihn (1853) gegen die Verfolgungen der damaligen preußischen Reaction zu schützen.
Als vornehm
gilt
auf die Dauer nur, wer vornehm ist.
Diese
Persönlichkeit, die Frehtag den Platz in der Gesellschaft verschafft hat,
spricht sich auch in seinen Schriften auS:
Wenn man ein Buch von ihm
zur Hand nimmt, so rückt man sich erst zurecht, wie man thut, wenn man
gute Gesellschaft erwartet. Freytag hat in Breslau und Berlin studirt und sich dann in Breslau für deutsche Philologie habilitirt.
Er hat nach einigen Jahren seine
Stellung aufgegeben: ein sicheres Zeichen, daß er keinen zwingenden Beruf
dazu spürte; und ein paar Jahre blieben seine germanistischen Studien Dann aber wurden sie wieder ausgenommen und entschieden über
liegen.
die ideale Richtung seines Lebens: die Art, wie er nicht nur die Literatur, sondern die Geschichte und überhaupt die Welt ansah, beruht wesentlich
auf Anregungen, die er aus den Studien seiner Universitätszeit, namentlich aus den Schriften der Brüder Grimm empfing.
Vorläufig wurde er durch das Interesse am Theater in eine andere Bahn gelenkt.
Als ich Freytag kennen lernte, Herbst 1847, waren „die Brautfahrt" und „die Valentine", bereits aufgeführt, der Waldemar war fertig.
Die
„Journalisten" erschienen 1854, die „Fabier" 1860. Das erste dieser Stücke ist darum merkwürdig, weil es einen Aus
gangspunkt verräth, auf den man bei seinen späteren Schriften gar nicht
gefaßt wäre: die Romantik.
getreten,
und dem
er auch den Waldemar gewidmet hat, freilich
dem Tory".
Tiecks
„als Whig
Die „Brautfahrt" enthält nicht jene Romantik,
ersten Werken
doch wieder anzieht. auf
Er war in Berlin dem alten Tieck näher
der seinen dramatischen Versuchen große Theilnahme schenkte
Goldgrund,
in
den Leser, finster und
unheimlich
die in
abstößt
und
ES ist abgeklärte Romantik, heitere, lustige Bilder
möglichst
ungemischten
warmen
Farben
auSge-
führt; zierliches Tournier und Rtngelstechen, aber eigentlich nur zum Scherz; zierliche Galanterie mit Gemüth, eine Welt, in der die Sonne
nicht unterzugehen scheint;
und in der Mitte dieses heiteren Lebens der
Hanswurst, der scheinbar alle Gefühle und Ideen ironisch von sich ab-
wehrt,
im Grund
aber tiefer empfindet als all die anderen zusammen:
Hanswurst nur als Maske.
Kunz von der Rosen war durch die Le
genden des sechszehnten Jahrhunderts gegeben, er spricht aber zugleich eine Neigung des Dichters aus, die auch später häufig hervortritt, mit unter in Momenten wo man eS gar nicht erwartet, in Momenten des
ehrbarsten VortragS;
nicht umsonst sagt einmal in den „Journalisten"
Professor Oldendorf zu seinem Collegen Bolz „ich bitte dich, sei nur jetzt
kein HanSwurst!" Diese Welt von bleibendem Sonnenschein und dauern der Gemüthstreue, in welcher der Spaßmacher denn doch seinen Platz
findet, ist diejenige, man sieht's aus der Brautfahrt, die dem jungen
Dichter vorleuchtete. In eine andere Atmosphäre versetzen uns die beiden folgenden Stücke, „Valentine" und „Waldemar", geschrieben und zum Theil auch aufgeführt vor dem Sturm von 1848. anfing sich
Es war die Zeit, wo das deutsche Theater
von der gemeinen Fabrikarbeit loszumachen und mit mehr
oder minder Ernst sociale Probleme zu verarbeiten;
Hebbel standen in ihrer Blüthe.
Laube,
Gutzkow,
Wenn sich auS dieser Periode wenig
erhalten hat, bet dem man mit reiner Befriedigung verweilen könnte, so sind die damaligen Versuche noch immer von Interesse, weil man daraus erfährt, was in den Köpfen der Stimmführer vorging.
Freilich kam die
Arbeit dieser GährungSzeit fast immer darauf heraus, Menschen zu schil
dern, die nicht recht wußten, waS sie wollten, und daher auS einer Stim mung in die andere übersprangen. Freytag'S Stücke hoben sich gegen die seiner Mitbewerber sehr vor-
theilhäft ab, theils durch die gebildete edle Sprache,
kunstvolle Führung der Intrigue. Aufführung, wurde ich
theils durch die
Als ich sie zuerst sa^, in einer guten
auf das lebhafteste und angenehmste angeregt.
Einige Jahre darauf, wie ich sie wtedersah, kamen mir die Farben sehr verblaßt vor, und eS schien dem Publikum ebenso zu gehn.
DaS Jahr
1848, auf welche Seite man sich auch stellen mochte, hatte die Empfin dung doch anders gestimmt, und man hielt eS nicht mehr für rathsam,
Probleme spielend zu lösen, Gegensätze vertuschen zu wollen, die sich ein mal nicht vertuschen ließen. „WaS ich achte? — In unserer schwachen auflösenden nervösen Zeit sehr wenig!
Und die Kraft die Deine Güte mir zutraut, wozu soll ich
sie gebrauchen? Zu Thaten? Welche Männerthaten räthst Du mir an?
Sieh Dich um, Hugo!
Gebrüll,
Geschwätz, Klagen — Nirgend eine
große, frische, fortreißende That! Wäre ich ein Spanier oder Tektosage, so wäre ich der Anführer einer schwarzen, höllenheißen Bande von Schel
men geworden, die den Teufel als Schutzpatron verehrt; da ich aber das
Glück habe, der höchst
civilisirte Graf Waldemar Schenk zu fein, so
begnüge ich mich, den Gang der Welt zu verlachen!
desten Hengste und Nummern.
Ich reite die wil
setze im Roulette seit zehn Jahren nur
Wenn mein Pferd vor einer Hecke bäumt,
einzelne
oder ein Weib
mir zornig den Rücken kehrt, so habe ich doch Augenblicke wo ich lebe.
Sind es auch keine Thaten, so sind es doch Aufregungen."
Daß ähnliche Figuren der Zeit nicht fehlten,
lehrt schon das Bei
spiel deS Fürsten Pückler, der seinen Trieb nach Abenteuern ruchloser noch als Graf Waldemar befriedigte, übrigens die Sache nicht so tragisch
nahm, und trotz aller Ausschweifungen bei guter Verdauung erst als hoher Achtziger starb.
Auch darin ist er mit Waldemar verwandt, daß er eine
gewisse Gutmüthigkeit, ja unter Umständen Sentimentalität
läugnen konnte.
nicht ver-
In der „Galerie aus Rahel's Umgang" sind noch ver
schiedene andere Charakterköpfe der Gattung skizzirt.
Daß aber die Figur
typisch wäre grade für das Jahr 1847, kann man nicht sagen. vor dem Waldemar äußerte sich Carl Moor ganz ähnlich:
66 Jahre
„Mich
ekelt
vor diesem tintenklexenden Säculum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen!" und was weiter darauf folgt.
Trotz seines wilden
und wüsten Lebens hat freilich Carl Moor von vorn herein das Ziel vor Augen, mit welchem Graf Waldemar schließt, eine sittliche Ehe und eine geordnete Existenz.
Aber dies Ziel wird ihm durch gewissenlose Intriguen
entrückt, und er endet als Chef einer schwarzen höllenheißen Bande von
Schelmen, die ihm freilich Gelegenheit giebt, seinen verwegenen Muth noch gewaltiger an den Tag zu legen als die spätern Vandalen.
Auch Carl Moor ist keineswegs der erste seines Stammes.
Vorher
hatte Klinger in „Sturm und Drang" mehrfach solche Kraftgesellen dar
gestellt, denen das spießbürgerliche Leben Deutschlands eine Qual war,
und die, um die Ellenbogen frei zu haben, einen Heereszug in die Prärien Amerika'S unternahmen.
Es kommt bei diesen poetischen Bildern weniger
die Nachbildung der Wirklichkeit in Betracht als das Interesse der Dichter
an Gestalten, die sich über daS Alltagsleben erhoben und gegen dasselbe
protestirten. DaS verwandte Interesse deS jüngeren Dichters ist unleugbar: er
billigt das Treiben Waldemars ganz und gar nicht,
aber er interessirt
sich für ihn und sucht in ihm eine freilich mißleitete Kraft, deren Trag
weite er wohl überschätzt. Da er keine rettende That für ihn findet, sucht er ihn unS wenigstens gemüthlich näher zu bringen: Wüstling in eine rührende Neigung.
er verstrickt den
Wenn Waldemar sich nicht zur
Leidenschaft aufschwingen kann, so rafft er sich insofern zur Thätigkeit auf, als er die Hindernisse wegräumt, die seiner Heirath mit dem Gärtner-
Mädchen entgegenstehn. — Diese Hindernisse liegen nicht in den Vorurtheilen
seines Standes.
Waldemar ist vollkommen unabhängig von der guten
Meinung seiner Standesgenossen,
und wenn die Atmosphäre der Vor
nehmen und der Halbwelt durch die Macht der Gewohnheit einen gewissen Reiz auf ihn ausübt, so wird er durch ihre Voraussetzungen weder inner
lich noch äußerlich bedingt, er kann sich ihnen entziehn sobald er Lust hat.
Und er thut eS: was dann freilich aus der Ehe zwischen dem abgelebten Weltmann und dem schlichten Mädchen, das in ihrer sittlichen Art doch ziemlich fertig ist, werden soll, das entzieht unsern Blicken der fallende
Vorhang. Die „Valentine" behandelt einen verwandten Gegenstand.
Zwei frei
geschaffene Seelen begegnen sich: die Valentine hat den Ehrgeiz Fürstin
zu werden, und duldet darum Berührungen der Hofwelt, die sie eigent lich anekeln sollten;
Georg Saalfeld oder eigentlich Georg von Winegg
unternimmt es, durch eine geschickte Intrigue sie diesen Banden zu ent reißen.
Er hat in dieser thatenarmen Zeit, um wenigstens eine Aufregung
zu finden, sich in ein demagogisches Unternehmen eingelassen, dann in
Amerika einem Jndianerstamm angehört, und sucht nun ein Abenteuer in der vornehmen Welt, nicht aus Leidenschaft für die Valentine, die er
noch gar nicht kennt, sondern aus Neugier und romantischem Interesse. Durch ein seltsames Spiel des Zufalls wird er in Conflicte gebracht, die ans Tragische streifen, die aber endlich durch einen Wetteifer der Groß-
muth zum glücklichen Ausgang gebracht werden.
Der Ausgang hätte sich
freilich früher finden lassen, wenn der Eindruck, den das Stück auf alle
Unbefangenen macht: die
öffentliche Meinung
in dieser
gänzlich ver
kommenen Welt verdiene kein Opfer, sich bei den Betheiligten früher ein gestellt hätte: der dargestellte Gemüthsconflict erscheint auch als momentaner
unberechtigt.
Bei aller Anmuth dieser Stücke befriedigt der AuSgang nicht, denn man erwartete doch wohl, daß der Ueberschuß an Kräften, in welchen daS tragische Motiv der Helden lag, entweder einen geeigneten Tummelplatz
finden, oder sich in einem harten Zusammenprall ausgeben würde. Diesen richtigen Ausgang hat Freytag in zwei verwandten Figuren
der späteren Zeit gesucht,
in Conrad Bolz und in Fink.
Bei Bolz ist
die Verwandtschaft etwas entfernter, er ist ein Bürgerlicher, und in seiner
Jugend ganz und gar nicht an große Verhältnisse gewöhnt; aber die Nei gung
zum Spiel mit dem Teufel theilt er mit Georg Saalfeld,
mit
Waldemar, mit dem späteren Jngraban, und der Stand der Journalisten
giebt ihm Gelegenheit,
dieser Neigung freies Spiel zu lassen und doch
einem guten Zweck zu dienen, denn er wirkt wie Victor König bei allem
Uebermuth nach bester Ueberzeugung für das Wohl des Vaterlandes. demselben Resultat kommt Fink. wie Saalfeld
und Waldemar
Zu
Ein unbändiger übermüthige^ Mensch findet er nach mehrjährigen Abenteuern
und Irrfahrten den Weg, auf dem er seine Kraft würdig bethätigen kann:
eine deutsche Ansiedelung im halbfeindlichen Lande.
Wie Fink eine Brust
wehr gegen die Polen aufwarf, so später Jngraban eine Brustwehr gegen die Sorben.
Wenn ein CharakterthpuS
bei
einem Dichter häufig
nimmt man leicht an, er wolle sich selbst schildern.
wiederkehrt,
DaS trifft doch nicht
So weit man über diese Dinge überhaupt urtheilen darf: in
immer zu.
Freytag steckt so wenig von Waldemar, Saalfeld, Fink und Bolz, als in Schiller von Carl Moor und Fieöco.
Es waren Figuren,
wie sie
nach dem Vorgang Lord Byrons die deutsche Jugend träumte, sie auch
wohl in der Wirklichkeit suchte, Mädchen sich ein Ideal, bildet.
Ideale in dem Sinn, wie ein junges
Bei Dichtern geht indeß das Interesse an
solchen Figuren, denen sie nachzufühlen streben, tiefer, die Ausarbeitung der einen weckt die Lust nach der andern, sie suchen dann eigne verwandte
Empfindungen zu wecken.
Freiheit war überhaupt das Lieblingswort der
Zeit, und die höchste Freiheit scheint ja wohl die Fähigkeit, sich die prak tischen und schaffen.
moralischen Bedingungen seiner Existenz nach Willkür zu
Wo ist dies Ideal zu finden? — Jenseits der civilisirten Welt!
Georg und Waldemar sind die Ahnen von Bolz und Fink.
Im Lauf
der fünf bis zehn Jahre, die dazwischen liegen, hat sich das Bild, das zuerst dem Dichter vorschwebte,
bekleidet,
mehr
und
mehr mit Fleisch und Blut
mehr und mehr an Bildung gewonnen.
sich der Dichter erarbeitet.
Diesen Gewinn hat
Er hat es mit seinem journalistischen Beruf
streng genommen, er hat gegen das Schlechte in Sitte, Politik und Litteratur mit Ernst angekämpst, das erhaltene und neu auftauchende Gute warm aner
kannt, und eben dadurch seine eigene Bildung vertieft. Wenn er in dem Lust
spiel „die Journalisten" die Verpflichtungen dieses Standes mit einer gewissen Wehmuth und Resignation beschreibt, so hatte er insofern Recht, als dieser Beruf im normalen Leben nur ein Durchgang sein darf: aber
eö war für ihn ein gesegneter Durchgang, und noch als gefeierter Dichter und Geschichtschreiber hat er nicht verschmäht, wenigstens aus der Ferne
sich an diesem Wirken zu betheiligen. Die Valentine hatte zuerst dem Dichter zahlreiche Freunde und Ver
ehrer verschafft, die Wirkung wurde dann geringer; Waldemar hatte gleich von vorn herein gegen Widerspruch zu kämpfen.
wannen sofort die Menge und leben
Die Journalisten ge
heut nach 26 Jahren noch ebenso
lustig als damals, ja man kann voraussehen, daß sie sich noch lange frisch
Die Führung nnd der Stil scheint mir bei allen drei
erhalten werden.
Stücken gleich gut, der Unterschied des Erfolgs liegt doch wohl am Stoff. Seit dem Jahr 1848 sind wir Alle politisch
raffinirten Edelmuths,
für Probleme
angehaucht,
wie sie in Valentine und Waldemar dargestellt
werden, haben wir kein Interesse mehr, kaum noch ein Verständniß.
Da
gegen berührt uns die frische lustige Art, wie uns in den „Journalisten" das politische Treiben vorgeführt wird, noch heute so wohlthuend wie da
mals.
Ja, waS ich beim Erscheinen des Stücks mit Unrecht als einen
Mangel empfand, daß die politischen Gegensätze sich nur ganz unbestimmt abzeichnen, und daß die Bolz, die Schmock, die Bellmaus an Wunder
lichkeit lange nicht die Charakterköpfe erreichen, die der wirkliche Journa lismus groß zieht, das hat sich nachher gerade als das lebenerhaltende
Princip des Stücks erwiesen: jede stärker hervortretende Parteifarbe, jede schroff realistische Zeichnung der Figuren würde den Stempel einer Zeit an sich tragen, die uns heute schon Vergangenheit wäre; die leichten Umrisse aber auszufüllen fühlt jeder Schauspieler von Talent den Beruf.
Nach
dem glänzenden Erfolg der Journalisten waren diese Schau
spieler durchweg sehr unzufrieden, daß Freytag sich vom Theater abwandte;
ich glaubte damals schon und glaube noch heute, daß er den für sein Ta lent richtigen Weg gefunden hat:
seine Richtung ist episch,
nicht
dra
matisch. „Soll und Haben" 1855 hat einen Beifall gefunden wie kein an
deres Buch
der
ganzen Periode, und
ich freue mich herzlich darüber.
Wenn Freytag auch manches Bedeutendere geschrieben hat, dieser Roman das anmuthigste und abgerundetste.
so
ist
doch
Es mag sein, daß bei
mir persönliche Eindrücke dazukommen, da ich das Entstehen dieses Ro-
mans-bis in's Kleinste mit erlebte,
aber ich habe noch heute den näm
Die Dichtung geht Einem ein wie ein
lichen Eindruck wie damals.
frischer, kräftiger Trunk von edlem Wein.
Ich muß lachen, wenn ich an
die Anfechtungen zurück denke, die das Buch zuerst zu überwinden hatte. Freytrag
wollte mir eine Freundlichkeit erweisen,
und
fand die
schmeichelhafteste Form: er nahm eine Stelle auS meiner Litteraturgeschichte
zum Motto: „der Roman soll das Volk da suchen, wo eS zu finden ist, bei seiner Arbeit."
DieS Motto war wie ejn rother Lappen, über den
die Gegner blind herfielen.
Man rief uns zu: Ihr wollt nur Kaufleute
gelten lassen und keine Lyriker!
Euch ist nur die Arbeit des Comptoirs
etwas werth und allenfalls die Pflugschaar! Wie kommt Ihr denn dazu, etwas drucken zu lassen? Geht doch in den Laden und verkauft Rosinen,
oder auf die Tenne nnd drescht Korn!
Von anderer Seite wurde wieder gefragt:
was
ist denn
an der
ganzen Sache Neues? Kaufleute sind ja auch sonst schon geschildert wor
den, z. B. eben von Hackländer in „Handel und Wandel". — Diese Bemerkung ist vollkommen richtig, und Freytag hat sich niemals einge bildet, den Kaufmannsstand als Dichter gleichsam erfunden
zu
haben.
Hätte das Buch weiter kein Verdienst gehabt, so würde man auch von dieser Seite über dasselbe nicht viel Wesens gemacht haben.
Aber weil
es an und für sich ein reizendes, geistreiches und lebenswarmes Buch war,
darum wirkte die Tendenz, die in der That in ihm lag, mit einer Kraft
wie kaum ein anderes litterarisches Ereigniß. Diese Tendenz richtete sich gegen die Romantiker und Jungdeutschen,
aber sie richtete sich
gegen die
zugleich — und das entging den
Gegnern, das hat der Dichter vielleicht selbst nicht gemerkt — indirekt
gegen seine eigenen Bilder, gegen die Brautfahrt, gegen die Valentine und Waldemar. Der französische Roman in der Mitte deS vorigen Jahrhunderts,
Cröbillon, Prsvost u. s. w. — beschäftigte sich fast ausschließlich mit der Classe, die in der guten Gesellschaft das Wort führte, den Rentiers wo
möglich auS dem Stande der Marquis, die weder äußerlich noch innerlich an irgend eine Lebensbedingung gebunden waren, die als gebildete Müssig gänger nichts weiter zu thun hatten als Frauen zu verführen oder sich
verführen zu lassen. Diese französische Romanform gewann in Deutschland eine thümliche Bedeutung durch den „Wilhelm Meister".
eigen
Bei den Franzosen
deS RococozeitalterS war die Herrschaft des Rentiers in der Gesellschaft
Thatsache, der Roman hatte sie nur abzubilden; in Deutschland dagegen, wo die Rentiers selten waren, fühlte sich jeder Einzelne unter dem Zwang
der Standesvorurtheile gleichsam verkrüppelt an Geist wie an Körper.
Der
Bürger, der nach menschlicher Bildung strebte, und der im Grund den
ganzen Fortschritt der Litteratur vertrat, ward überall durch seine Unbe holfenheit gehemmt; er sah mit bewunderndem Neid auf den Adel, dem
eS erlaubt war, seine Persönlichkeit harmonisch
auszubilden;
gleichem Neid auf die Vagabunden, Zigeuner und
wenigsten- nicht von Spießbürgerei erdrückt waren.
mit fast
Schauspieler, die
Die bürgerliche
Sittlichkeit, die allem Hoherz, und Freien Erstickung drohte, wurde damals
in Deutschland als eine Last empfunden.
So sträubt sich Wilhelm Meister
gegen Werner, und wenn zum Schluß des Romans die Oekonomie einige
Geltung gewinnt, so stammt das auS einer Zett, wo Goethe die Richtung
seiner Jugend bereits überwunden hatte. Der Wilhelm Meister begann mit einer blinden Verehrung deS noch
unreifen Bürgersohns vor der adeligen Bildung.
Im weiteren Verlauf
deS Romans aber ergab sich die Nothwendigkeit, diese ebenfalls einseitige
adelige Bildung durch Aufnahme bürgerlicher Elemente zu ergänzen.
Die
Abschließung der Stände soll ganz aufhören, Heirath zwischen Adeligen und Bürgerlichen erregt nicht den mindesten Anstoß mehr. DaS Ideal dieses Romans wie das der goldenen Zeit überhaupt
war, eine Gesellschaft zu finden, die durch ihre Unabhängigkeit von den gemeinen Lebensbedürfnissen befähigt war, sich an dem Schönen und Rei zenden aller Art zu erfreuen, um durch allseitige Bildung sich den Ge schmack für den freien Genuß zu erwerben; eine Gesellschaft als deren na türlicher Vorsitzender der „ Oheim" betrachtet werden konnte.
Ihren
nächsten Pflichten wollten sie sich keineswegs entziehen, aber diese mußten
durch individuelle Neigung vermittelt werden.
Solchen Kreisen begegnen
wir im Grunde schon in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter", später in den „Wahlverwandtschaften" und den „Wanderjahren".
Ihre
Bildung sollte sich auch darin zeigen, daß sie die harten Reibungen, den Kampf der Interessen und Gesinnungen möglichst von sich abwrhrten; sie
betrachteten sich wie die Weltbürger des achtzehnten Jahrhunderts, nur in einer idealeren Form; sie hatten als solche, als gebildete Freimaurer, die Romantik eines geheimen Ordens der Lebensphilosophen. Das Prinzip wurde nun von der romantischen Schule festgehalten; am lehrreichsten sind vielleicht TiekS Einleitungen zum „PhantasuS".
Die
geistvollen Herrn und Damen, die sich dort sammeln, reden von nichts
als von Shakespeare und Calderon, von Mozart und Beethoven, von der
Antike und der Mystik.
Ihre Unterhaltungen sind oft geistreich, immer ab
lehnend gegen ernste Interessen der Wirklichkeit; eS ist eine Gesellschaft
von Dilettanten, die sich allenfalls auch um das Gemeine kümmern wollen, aber nur so weit es ihnen behagt, da freie Naturen sich jedem innern wie
äußern Zwang zu entziehen wissen.
Die Berliner Salons
Diese Richtung dauert noch ziemlich spät fort.
z. B. der Rahel suchen die Pariser SalonS des vorigen Jahrhunderts zu erneuern,
nur
daß
im
neunzehnten Jahrhundert
sich um die schönen Künste zu kümmern haben.
auch
die Marquis
Auch den Romanen der
Gräfin Hahn Hahn und anderer Dichterinnen aus dem Zeitalter Friedrich
Wilhelms IV. schwebte ein ähnliches Ideal vor. Nun war freilich diese Welt des gebildeten Genusses erst durch Na poleon' aufgescheucht worden, dann erschrak sie über die Juli-Revolution.
Gleichwohl wollte sie ihre alte Form nicht aufgeben, nur zog sie auch Politik und Religion vor SalonS wurde Heine:
ihr Forum.
Der Prophet dieser jüngeren
man lernte von ihm, anscheinend mit Idealis
mus und doch zugleich mit Ironie sich über die Dinge ergehen; sich an
den Tagesfragen zu betheiligen, ohne doch sich ihnen hinzugeben.
Das ist
der Character der sogenannten jungdeutschen Schule.
Das merkwürdigste Buch dieser Richtung, die „Ritter vom Geist"
erschien nach 1848.
Mit ungemeinem Scharfsinn wird hier über alle
möglichen Fragen der Religion und Politik diScutirt, ohne daß auch nur
das Geringste dabei herauskäme, aber der Verfasser glaubt ganz sicher,
mit diesen Discussionen etwas gethan zu haben.
Man darf Gutzkow nicht
allein verantwortlich machen; hält man z. B. Radowitz'S Unterhaltungen über Staat und Kirche daneben, es ist derselbe geistvolle Stil, dasselbe
frucht- und zwecklose Raisonnement — und dabei wollte Radowitz ein wirk licher Staatsmann sein.
Eine Reaction konnte nicht ausbleiben.
Der gebildete und geschmack
eine sehr dankenswerthe Erfindung unserer
volle Dilettantismus war
classischen Zeit, denn ohne ein geistvoll genießendes Publicum blüht auch keine echte Dichtung auf.
Aber der Dilettantismus hatte seine Kreise zu
weit gezogen, und seitdem er in ernsthaften, das Mark angreifenden Fragen mit sprechen wollte, durfte man sich das nicht weiter gefallen lassen.
Die
Dichter der Dorfgeschichten hatten bereits sehr wohlthätig dahin gewirkt, wenigstens eine bestimmte Schicht des wirklichen Lebens dem Dilettan
tismus zu entziehen, aber auch sie standen unter dem Bann der älteren Dichtung, und z. B. Auerbach'S Roman „Neues Leben" hätte allenfalls von einem Ritter vom Geist geschrieben sein können. In dieser Beziehung sprach Freytag in „Soll und Haben" das er
lösende Wort.
Einmal.
Das wirkliche Leben kann nicht von Dilettanten
geleitet werden, sondern nur von Menschen, die mit Leib und Seele an die Sache gebunden sind, von Menschen des kategorischen Imperativs, die
ihre Pflichten, ihr Verhältniß zu den Dingen nicht nach Belieben ab schütteln können.
Sodann.
Nur Menschen dieser Art sind geeignete Fi
guren für die Gattung der Poesie, die sich ernsthaft mit Cultur-Problemen
beschäftigt, für den Roman; Dilettanten und ihre Schicksale mögen der leichteren Novelle überlassen bleiben. Für die Engländer war das nichts Neues: nie ist es einem englischen Romanschriftsteller eingefallen, Personen zu Helden zu wählen, die nichts weiter zu
thun
hatten als
über „Shakespeare
Gläser" geistreich zu phantasiren.
und
die
musicalischen
Aber für Deutschland war eS, mit
dieser Energie ausgesprochen, in der That etwas NeueS:
Die deutschen
Romanhelden hatten mit ihrer Lösung von den Mächten der Wirklichkeit zugleich den inneren Halt verloren; unabhängig vom bindenden Gesetz, waren sie abhängig von zufällig wechselnden Stimmungen geworden; ihr
Knochenbau war angefressen.
ES liegt in FrehtagS Princip noch manches Andere.
Die Fortschritte
deS öffentlichen Lebens, dies wird den Rittern vom Geist entgegen ge halten,
müssen von den
sittlichen und
Privatlebens getragen werden;
der
intellectuellen Fortschritten
Staat
wird
des
nicht eher vorwärts
kommen, als bis jeder Bürger gelernt hat, vor seiner eigenen Thür zu
kehren.
Man soll mit seinem Credit nie über sein Vermögen hinaus
gehn: man soll z. B. — und das können Valentine und Waldemar sich
merken — nicht eher nach Feinheit und Größe in den Empfindungen
streben, bevor man nicht auf Grundlage der gemeinen Sittlichkeit festen Fuß gefaßt hat. Die heilsamen Folgen dieser Grundsätze zeigen sich
Kunstform.
auch
in der
Freytags frühere Helden hatten ihr Centrum verloren und
suchten es vergebens wieder zu finden; die Figuren des Romans dagegen
stehn fest in ihren Schuhen, und sind individuell interessant, doch zugleich typisch.
Wer kennt nicht den Baron und die Baronin Rothsattel aus
eigener Erfahrung?
Hirsch und Bernhard Ehrenthal; Beitel Itzig und
Schmeie Tinkeles? den Kaufmann mit seinem Comptoir, die reizenden Backfische aus der adeligen Tanzstunde? ja wem wäre nicht einmal Leonora
und Sabine begegnet!
Die Figuren sind typisch und doch in keiner Weise
trivial; man freut sich über die künstlerische Feinheit, mit welcher der Dichter in bekannte Physiognomien neues Leben zu bringen weiß.
Der Inhalt
des Romans
ist gewissermaßen
ein
Gegenbild
Wilhelm Meister: der Kampf des BürgerthumS gegen den Adel, mit entschiedener Parteinahme für das Bürgerthum.
des aber
Die Vorzüge des
Adels beruhn auf der Stellung einer herrschenden Klasse im Staat; die
Ehre wird ihm bereits durch seinen Stand vermittelt, dessen Sitte er sich fügen, dessen Würde er in seiner Person vertreten muß; durch den Esprit de corps, der, wo der individuelle Charakter und die individuelle Bildung nicht ausreicht, mit Regel und Maß aushilft.
Er wird durch beständige
Betheiligung am höheren Staatsleben namentlich an den Kriegen, durch
befestigten Grundbesitz, der ihm eine sichere Heimath giebt, durch ununter brochene Tradition, die ihm die Vergangenheit als Gegenwart zeigt, zu einem gesteigerten Nattonalgefühl geweckt.
Er leidet endlich wenig unter
den Einseitigkeiten eines bürgerlichen Berufs. Diese Vorzüge sind in ihrer vollen Ausdehnung nur denkbar, wenn
man eine fortwährende Scheidung zweier Stände annimmt: ein Zustand, der auf die Dauer unmöglich ist.
Wie die Wissenschaften, Künste und
die verschiedenen Zweige der GewerbSthätigkeit sich auSdehnen und ver
vielfältigen, wird nur auf einem bestimmten Kreis der Thätigkeit Macht
und Einfluß gewonnen, und wo die herrschende Klasse fortfahren wollte,
ausschließlich zu herrschen und zu genießen, würde sie bald aufhören die herrschende Klasse zu sein.
Die bürgerliche Arbeit ist die Grundlage der
modernen Gesellschaft; wer in ihr sich erhalten will, muß in der Weise
des Bürgerthums auf Erwerb denken, d. h. folgerichtig und mit Ausdauer arbeiten.
Das verkennt auch der Baron Rothsattel keineswegs; warum geht
er also zu Grunde? — Er ist doch bereit, die Behaglichkeit und die gemüthvollen Erinnerungen seines angeerbten Landguts dem modernen Fort schritt zu opfern, seinen erfrischenden WaldeSduft durch die rauchenden
Essen der Fabrik anzukränkeln. Der Baron geht unter, nicht blos durch seine eigenen Fehler, son
dern durch die seiner Ahnen.
Der Adel ist zu einer blos genießenden
repräsentirenden Klasse herab gesunken, er hat verlernt zweckmäßig zu
wirken.
Der gute Wille des Einzelnen rettet ihn nicht.
Der Baron geht
unter, weil er ein Geschäft unternimmt, daS er nicht selber ausführen kann; er geht unter, weil er in seiner vornehmen Art, Gleichberechtigte
unter dem Bürgerstand nicht zu dulden, an solche Werkzeuge gewiesen ist, die sich ihm unterthänig zeigen und ihn betrügen.
Der unreelle Handel der Ehrenthal und Beitel Itzig ist die Schmarotzer
pflanze, die aus dieser ungesunden thatlosen Selbstsucht der Vornehmen aufwächst.
So faßt es von vornherein der große Kaufmann auf, der dem
fallenden Hause die rettende Hand versagt, so muß eö zuletzt selbst der gutmüthige Anton verstehn, der nach bitteren Erfahrungen sich dieser vor nehmen Welt völlig entftemdet.
Der Adel geht zu Grunde, und mit ihm
die adelige Sitte, das adelige Behagen; im Rauch der Fabriken geht viel Schönes und Edles tot deutschen Leben verloren. Wie denkt sich nun Frehtag den Ausgang? — Wenn in der Welt
nichts übrig bliebe als T. O. Schröter, Anton, Sabine, Jordan u. f. w.,
so würde ihr nicht blos viel Freude und Farbe fehlen, sie würde auch
langsam vorwärts kommen; die bloße Gewissenhaftigkeit
obgleich uner
läßlich ist nicht productiv. — Zum Erben der alten Parteien scheint Fink
bestimmt zu sein: er hat die Verwegenheit der alten Junker, er hat in Amerika gelernt, gewaltig zuzugreifen; bei T. O. Schröter hat er dagegen
erkannt, daß bei jedem Unternehmen nur das Reelle bleibend gedeiht: er wendet die Lehren der Volkswirthschaft auf das adelige Geschäft deS Acker baus an, aber er verlernt nicht die Waffen zu führen, er erscheint wie
ein Typus eines modernen Adels, der die bürgerliche Schule durchge macht hat.
Der Roman hat eine ganze Schule hinter sich:
Baron Tuchheim
bet Spielhagen, Baron Artm bei Fanny Lewald, Axel von Rambow bei
Fritz Reuter gehen an demselben Gebrechen zu Grunde tote Baron Roth sattel; französische, russische., englische Dichter beschäftigen sich mit dem
selben Problem. Freytag schilderte den Verfall des Adels nach Erfahrungen, die vor
dem Jahre 1855 liegen.
Wir haben in den letzten Jahren Erfahrungen
gemacht, die ihm nur zu sehr Recht zu geben scheinen.
Ein Bruchtheil
selbst des höheren Adels hat sich bei Geschäften betheiligt, die durch ihre innere Jnsolidität den Ruin vieler Familien herbeiführten; ein großer Theil des Adels hat ferner, weil er -durch eigene Kraft nicht vorwärts
kam, Staatshülfe als sein angeborenes Recht in Anspruch genommen und
damit seine Stellung im Staat verschoben. Gleichwohl sehen wir heute den Fall mit anbeten Augen an als im
Jahre 1855.
Damals schien der Bürgerstand darauf hingewiesen, sich
zur herrschenden Stellung im Staat aufzuschwingen, gleichviel ob manches
Schöne dabei zu Grunde ging. Man hört die Meinung ^ioch heute immer wieder, aber sehr beachtenöwerth sind Stimmen wie die von Spielhagen,
der, früher eifriger Demokrat, in seinen späteren Romanen mehr und
mehr die Vorzüge des Adels hervorhebt.
Wer sich dem Eindruck der
Wirklichkeit nicht verschließt, wird eine gewiffe Befangenheit in den Vor stellungen von 1855 nicht verkennen.
Es war freilich die schlimmste ReactionSperiode.
Die conservative
Partei, die sich hauptsächlich doch auS dem Adel recrutirte, hatte sich in
Grimm über den Schnitt in's Fleisch, mit dem sie Hansemann
bedroht,
Theorien hingegeben, die alles Verständniß deS modernen Lebens auSschlosien.
Die herrschende Politik dieser Jahre war zugleich boshaft und
kleinlich, was sich freilich nicht selten zusammen findet. Mit dieser Partei
konnte an kein Pacttren gedacht werden, und gerade der idealistische, auf strebende Theil deS Bürgerthumö mußte die Kluft für unauSfüllbar ansehen. Der Wandel in den Ansichten stammt nicht blos davon her, daß die
Männer, von denen die Erhebung von 1866 und 1870 auSging, geborene Junker waren, sondern aus der Einsicht, gegen die man sich vergebens
wehrt: daß sie nur von Junkern auSgeheu konnte. Die gewaltige Natur kraft des leitenden Staatsmannes, wie nicht minder seine Schwächen sind
trotz der ganz exceptionellen Individualität zugleich die Kräfte und Schwächen seines Standes.
Der Gegensatz gegen Adel und Bürgerthum wird nie
aufhören, aber er wird sich hoffentlich als Wetteifer gestalten, und so
wenig wir daran denken werden, uns dem Adel unterzuordnen, so wenig
werden wir die Nothwendigkeit verkennen, innerhalb deS modernen StaatSkebenS ihm den Platz zu finden, den er zum Wohl des Staats be
haupten darf.
Der Kampf kann mit ehrlichen Waffen ausgeführt werden, Licht und
Luft sind gleich vertheilt.
Von der gedrückten Stellung deS Bürgers
gegen den Edelmann, wie sie Wilhelm Meister noch vorfand, ist keine
Rede mehr; das Recht ist ein gemeinschaftliches geworden, die Exemptionen haben bis auf einen geringen Rest aufgehört; die Universität, der Beamten
stand bis auf die höchsten Spitzen steht dem Bürger offen wie dem Edel
mann, die allgemeine Dienstpflicht ist eine Wahrheit geworden, und der Bürger dringt reichlich auch in die Armee ein.
Auch das letzte äußer
liche Vorrecht' des Adels, die ausschließliche Hoffähigkeit, ist durch die
Praxis vielfach durchlöchert.
Nicht mehr auf idealen und Ehrbegriffen,
sondern höchstens auf Interessen beruht der Kampf, und diese lassen eine vernünftige Ausgleichung zu.
Wenn durch das Eindringen der nord-amerikanischen Cultur ein un
ruhiger SpeculationSgeist auch in die deutschen Geschäfte eindrang, wenn JustuS Möser'S bekannter Ausspruch:
Handels!"
„Unsicherheit ist
die Seele des
heute nicht mehr so paradox klingt wie vor hundert Jahren,
so ist daS eine Gefahr, die beide Stände fast gleichmäßig bedroht, und Freytag'S Lehre „Solidität ist die Seele des Geschäfts", münzt sich auf beide.
Fragt man nun, welche von beiden Figuren, Fink oder Anton, die
Meinung deS Dichters am stärksten vertritt? so entscheide ich mich ohne
Bedenken für den letzteren.
Der kategorische Imperativ der Pflicht auch
in den kleinen Angelegenheiten deS Lebens ist Freytag'S festgegründete
Ueberzeugung. Deshalb ist er nicht etwa Anton, so wenig als Fink: der Sohn deS dürftigen CalculatorS ging aus kleinen Verhältnissen hervor,
und sein Horizont, so weit er ihn auch durch Lectüre und Nachdenken auSdehnt, behält immer etwas Begrenztes, während Freytag durch seine Universitätsstudien gleich zu Anfang einen freien Blick in'S Große ge
wann und dann erst der bürgerlichen Sitte näher trat.
Die Frage: wie unterscheidet sich adeliges Empfinden und Wollen
von dem bürgerlichen? hat ihn dauernd beschäftigt.
Fabier" 1860 hat er sie von einer unternommen.
In der Tragödie „die
höheren Warte aus zu beleuchten
Der Consul Caeso FabiuS und der Bürger Spurius
JciliuS vertreten die beiden Stände, und zwar nach deS Dichters Mei nung, ebenbürtig, wenn auch im entgegengesetzten Sinn. Ein furchtbares Verbrechen ist begangen, an die geheiligte Person eines Volkstribunen ist
mörderische Hand gelegt; die Uebelthäter sind die Angehörigen des er lauchten Stammes der Fabier. darum.
Nur Spurius und der Consul wissen
Der berechnende Kaufmann sucht die Sühne in einer Aenderung
deS Gesetzes: er verlangt das Recht deS ConnubiumS zwischen Patriciern
und Plebejern.
Er wird dazu noch durch ein persönliches Motiv bestimmt:
fein Sohn liebt ein Edelfräulein aus dem Fabierstamm.
Der Consul
dagegen, aufgewachsen in streng idealen, Ehrbegriffen, weist diesen Handel zurück: der Hauptübelthäter, sein eigener Sohn, soll altrömisch die Strafe
erdulden.
Aber zugleich tritt das adelige Standesgefühl hervor: er soll
nicht gerichtet werden nach dem gemeinsamen Recht deS Markts, sondern im heimlichen Famtliengertcht; damit wäre der eigentliche Sinn der Strafe,
die Oeffentltchkeit, ausgeschlossen. Aber auch in diesem beschränkten Sinn gelingt ihm sein Vorhaben nicht, der eigene Stamm weigert ihm den Ge horsam und will die unnatürliche Rbmertugend, die Verurtheilung deS Sohnes durch den Vater, nicht gelten lasten.
Damit nun die Sühne
nicht ausbleibe, greift der Consul zum Ungeheuren: der ganze Stamm
hat sich versündigt, der ganze Stamm soll auögerottet werden, freilich wie
es einem edlen Geschlecht ziemt, im Heldentod für'S Vaterland.
Sich
selber weiht er dem Untergang, und mit größerem Recht als er sich deut
lich macht: denn da er willkührlich den Schuldigen dem öffentlichen Recht entzog, hat er bewirkt, daß das Verbrechen ungesühnt blieb.
Auf der
anderen Seite hat er durch die unerhörte That den Adel In der Stadt
wieder populär gemacht und dadurch die alte Verfassung gesichert; der Kauf
mann, der „wählt, was ihm nützt", und daher von verschiedenen Motiven
bestimmt wird, muß dem Gewaltigen weichen, der „finsterm Zwange folgt". So wenigstens war die erste Version, nach meinem Empfinden die
poetisch richtige.
Wenn Frehtag bei der spätern Bearbeitung den Spu
rius sein Stück durchsetzen läßt, so hat das für das prattifche Leben wohl
feine Berechtigung, aber eS verschiebt den großen Sinn der Tragödie. Idealer kann man das Problem nicht fassen als es Frehtag gethan.
Auch im übrigen ist das Stück sehr bedeutend; in meinen Augen — ich will nicht sagen der beste — aber der interessanteste Versuch seit
dem „Prinzen von Homburg" also seit einem halben Jahrhundert. Sprache ist vornehm und dabei eigenartig.
Die
Schiller's Idee, für die mo
derne Tragödie den Chor wieder zu gewinnen,
ist geistreich und zweck
voller als es Schiller gethan, durchgeführt; es ist ein ernster rühmlicher Schritt zur Veredlung der modernen Bühne.
Gleichwohl ist es vielleicht das einzige Werk Freytags, welches einen
geringen Erfolg davon getragen hat: der Schillerpreis versagte sich ihm und die Bühnen wußten eS nicht zu halten. Zum Theil liegt die Schuld
an dem Schlendrian der theatralischen Convenienz. theils
an
das bürgerliche Rührstück theils
Die Schauspieler,
an die Deklamation
der
Schiller'schen Schule gewöhnt, fanden die Zumuthung lästig, so wuchtige und doch nicht gerade wohMngende Worte auszusprechen, wie sie das Stück verlangte. Preußische Jahrbücher. $t. XLVII. Heft l.
6
Aber auch der Dichter ist nicht ohne Schuld.
Die Sprache selbst
ist nicht unanfechtbar: in den großen Scenen ist die Stimmlage erhöht,
fällt aber in andern wieder in den imitativen bürgerlichen Ton, ohne doch wie bei Shakespeare zum wirklichen Contrast vorzudringen.
Diese
unharmonische Mischung wird noch auffallender durch die über Gebühr ausgedehnte Genremalerei. Dazu aber wurde der Dichter durch die eigenthümliche Art seines
Schaffens
oder
vielmehr Erfindens verführt.
Er hat seine Fabel aus
einzelnen Anekdoten des Livius sehr geistvoll combinirt, aber ihm fehlte
der Muth,
sie nun nach Shakespeare'S Vorgang in rein
Weise auszuspinnen.
menschlicher
Er legte ihr eigenthümliche Rechtsverhältnisse zu
Grunde, die er theils modernen Forschungen entnahm, theils auf eigene Hand construirte. Um diese nun dem Theaterpublikum deutlich zu machen, mußte er den Gegensatz
der Zeitalter stärker betonen, und zu diesem
Zweck gab er dem ausmalenden Culturzustande einen größeren Raum als
die Bühne erträgt.
Damit beeinträchtigte er zugleich,
worauf es doch
hauptsächlich ankommt, die Durchsichtigkeit der Seelenbewegungen.
Die
Wortkargheit des ConsulS wird freilich durch seinen Charakter und durch
daS römische Costüm erklärt, aber es bleibt doch ein dürftiger Ersatz für den fehlenden unmittelbaren Einblick in seine Motive, daß wir uns von
seinem Gegner JciliuS über dieselben belehren lassen müssen; wir können die Frage nicht abwehren: wie kommt der kluge aber nüchterne Bürgers
mann dazu, den „finstern Zwang" zu verstehn, der in dieser vornehmen
Seele haust? — — —
WaS ist vornehm?
—
Frehtags neuer Roman
„die ver
lorene Handschrift" 1862—1863 giebt auf diese Frage eine überraschende Antwort. Wieder der Gegensatz des aufstrebenden und soliden BürgerthumS
gegen die halb abgelebte unsolide vornehme Welt. Diesmal gilt es nicht
dem Adel sondern dem Hof.
Wir werden in die Residenz eines größeren
deutschen Mittelstaats eingeführt, den wir zuerst nach der Lokalschtlderung südlich von Leipzig, etwa im Thüringischen suchen müssen, bei dem aber schon die Bezeichnung „Sachsenvolk" auf den Norden weist.
Es ist kein
wirklicher Hof gemeint, sondern nur ein möglicher, aber doch einer, den
man sich um die Zeit von 1860 soll denken können. Ueber die Treue in der Darstellung deS HoflebenS kann ich aus eigener Anschauung nicht urtheilen, Sachverständige versichern mich, sie
sei über alles Lob erhaben.
Wie sollte auch dem Dichter eine Darstel
lung mißlingen, deren Gegenstand ihm seit 16 Jahren intim bekannt war? DaS Bild der Prinzessin Sissy ist so reizend und liebenswürdig, daß man
mit Vergnügen an ihre Existenz glaubt;
der Fürst, der freilich einem
Menschen deS 19. Jahrhunderts starke Dinge zumuthet, ist in kurzen aber starken Zügen so kenntlich gezeichnet, lassen.
daß man
ihn wohl muß gelten
Daß freilich die Verirrung eines Kleinfürsten mit dem Cäsaren
wahnsinn eines Weltherrschers in Parallele gestellt wird, will nicht recht
einleuchten. Die hervorragende Figur deS HofeS ist der Oberhofmetster, vom Dichter augenscheinlich mit Vorliebe behandelt. Ein würdiger alter Herr,
an allen europäischen Höfen und in allen europäischen Welthändeln zu Hause, ungefähr wie der verstorbene Baron Stockmar, aber, abweichend
von ihm, von streng conservativer Gesinnung, alten Adels- und Hofsitte;
ein fester Vertreter der
ehrerbietig in seinen Formm, aber uner
schrocken gegen despotische Willkühr, und Manns genug, ein Regtmmt zu stürzen,
von welchem er eine Schädigung deS
monarchischen Princips
fürchtet.
Dieser wahrhaft vornehme Mann nun erllärt den Erbprinzen Benno,
den künftigen Fürsten, für eine wahrhaft vornehme Natur, welchen Ehren titel er der Prinzeß abspricht.
Die Prinzeß ist lebenslustig und nimmt
keinen Anstand, um eine gemüthliche Regung zu befriedigen für, den Augenblick Regeln bet Seite zu setzen, die dem wahrhaft Vornehmen in Fleisch und Blut übergegangen sind.
Sie ist geistvoll und hat Energie;
Prinz Benno ist schwächlich, schüchtern in Urtheil und Wollen, auch in
seinem Verstand nicht gerade glänzend auögestattet: aber er ist nach dem
Urtheil deS Oberhofmeisters eine vornehme Natur, welchem Ausspruch der andere eines Hofmarschalls entgegensteht: „er kauft sich eine Butter
maschine, weil eS ihm Vergnügen macht zu drehn". Oder meint es der Dichter vielleicht so, daß beides ungefähr auf das
nämliche herauskommt? daß die Vornehmen der Zukunft, die künftigen Fürsten sich unter andern auch durch die Fähigkeit legitimiren, mit An stand gleichgülttge Geschäfte zu verrichten? Sollen nach der Meinung deS Romans die Geschicke der Nation am besten von denen geleitet werden, die schüchtern und zaghaft sind in ihrem Willen? ES wäre das. ganz gegen Freytag'S sonstige Auffassung von dem
Beruf eines VolkSköntgs.
Und doch waren die Jahre,
in denen der
Roman erschien, mit einer so bittern Leidenschaft gegen fürstliche Etgen-
macht erfüllt, daß diese Auslegung eines Worts, das noch dazu an be deutender Stelle steht, nicht ganz unglaublich scheint. Wie dem auch sei, über der Conflictszett ist längst GraS gewachsen;
die folgenden Jahre haben gezeigt, daß der Fürst sich an die Spitze eines gewaltigen KriegSheerS stellen muß, unbeugsam gegen mächtige Feinde;
6*
daß auch in den innern Angelegenheiten des Landes, in dem hastigen Ge dränge der Parteien, die feste Ueberzeugung des Herrschers sich Geltung
zu erzwingen hat.
Ein Kaiser Benno wäre eine völlige Anomalie in der
deutschen Geschichte.
Der alte Fürst freilich ist ein schlimmer Gesell; unsere Geschichte zeigt unS so manche der Art, und ganz sind die Lebensbedingungen noch
nicht vorüber, welche derartige Charaktere aufkommen lassen. Zeit
ist längst vorüber, wo eine solche Figur typisch
Aber die
werden konnte.
Wäre ein Fürst von dieser Richtung wirklich vorhanden, so würde alle
Welt mit Fingern auf ihn zeigen; jedenfalls würde man bei der Oeffentlichkeit unseres Lebens
an einer Universität wie Leipzig
davon Kunde
haben, und ein angesehener Professor dieser Universität würde sich nicht einfallen lassen, seine junge Frau in den Pavillon eines solchen Fürsten
einzuquartieren.
Die äußere Wahrscheinlichkeit in
einem Roman ist sonst nicht
so
wichtig wie man wohl annimmt; sie erhält aber Gewicht, wenn durch sie daS moralische Urtheil über die handelnden Personen beeinflußt wird.
Die Unbesonnenheit des Professors scheint tadelnSwerth und soll eS nach
der Absicht deS Dichters sein: durch die Unwahrscheinlichkeit der Voraus setzung aber wird daS Urtheil irre geführt. Das Bürgerthum, welches gegen die adelige Welt vordrängt, wird
diesmal hauptsächlich durch den Gelehrtenstand vertreten: die meisterhafte Schilderung desselben ist ein Werk,
durch welches sich der Dichter den
wärmsten Dank der Nation verdient hat.
Wir haben allen Grund, aus den Stand unserer Wissenschaft stolz zu sein, auf den Fortschritt, den wir seit hundert Jahren gemacht haben.
Ich
spreche nicht von den Fortschritten im einzelnen, die schon alle Bewunde rung verdienen: die Hauptsache ist, daß die spröde Trennung der Wissen schaften von einander so wie der Wiffenschaften im Allgemeinen von der
Dichtung und den ideellen Mächten des Lebens, über welche Goethe und Schiller sich wiederholt so
bitter beklagten, völlig aufgehört hat.
Heute versäumt der gründliche Gelehrte bei der strengsten exacten For schung nicht mehr Fühlung mit den andern Wissenschaften, Fühlung auch mit der Poesie zu suchen, und was man in den Zeiten unserer classischen
Dichtung ausschließlich den Philosophen überließ: er giebt sich Rechenschaft von den höchsten Zwecken seines Arbeitens, von dem Zusammenhang der
selben mit der Idee des Göttlichen.
Was Herder anbahnte, indem er die
Geschichte mit der Naturwissenschaft in Verbindung setzte, waS dann die Brüder Grimm in genialer Divination im Detail fortführten, waS die
Hegel'fche Philosophie auf dem Wege der Abstraction zu erreichen strebte.
das ist heute Gemeingut aller derer, die auf der Höhe der Wissenschaft stehn.
Heute kann man nicht mehr arbeiten ahne zu denken, nicht mehr
denken ohne sich daS Verhältniß des Gedankens zur Empfindung klar zu machen. Dies in einer Whandlung auszusprechen, ist nicht schwer; sehr schwer dagegen, es in einem Bilde auch denjenigen deutlich zu machen, die nur
in der Vorhalle stehn.
Je öfter man die „Verlorene Handschrift" an
sieht, desto mehr bewundert man die Feinheit, mit welcher der Dichter, ohne doctrinair und pedantisch zu werden, nicht blos die Technik deö Ar beitens aufweist, sondern den geistigen Inhalt der Arbeit selbst.
„ES sind nicht Schatten, die der Wahn erzeugte."
Der Kreis, in
dem wir Jahre hindurch in Leipzig verkehrten — ich nenne nur Haupt, Jahn und Mommsen — öffnete dem Dichter die geheimste Werkstätte dieser geistigen Arbeit.
Bekanntlich gab Moritz Haupt den ersten Anlaß
zur Conception des RomanS: er erzählte in einer lustigen Abendstunde von einer Handschrift des Livius, die noch irgendwo im Holländischen
versteckt sein sollte, und wir schmiedeten abenteuerliche Pläne, derselben habhaft zu werden.
Freytag machte auS dem LtviuS den TacituS, weil
der Inhalt der Historien und Annalen dem, was er nebenbei darstellen
wollte, dem Cäsarenwahnsinn die geeignetste Unterlage bot. UebrigenS darf man in dem Professor Felix Werner nicht etwa ein
Portrait Haupt'S suchen, wenn ihm auch manche Züge entlehnt sind: ich
sage daS ausdrücklich,
weil man wiederholt in der „verlorenen Hand
schrift" nach Copien gesucht hat.
ES ist, soviel ich weiß, keine einzige
darin, mit Ausnahme von Speihahn und Breihahn und der Hutmacher-
Wohnung am Eingang deS Rosenthals, in welcher ich in den Jahren 1848 und 1849 mit Freytag zusammen wohnte.
Freytag wollte Typen
geben, und dazu benutzte er einzelne Züge aus dem Treiben der Uni versitäten überhaupt wie aus der Physiognomie einzelner Bekannten.
Freilich kam eS ihm darauf an, von dem idealen Bild unserer deut schen Wissenschaft auch die Kehrseite zu zeigen.
Sehr sinnig deutet die
Einleitung auf den Kampf zwischen dem Sonnenlicht echter und ehrlicher
Arbeit mit den trügerischen vom Monde beleuchteten Nebelbildern subjek tiver Einfälle hin. Dieser Kampf ist nicht blos ein äußerlicher, er drängt sich mitunter in das Innere des Menschen ein. Der Character des modernen echten Gelehrten ist Strenge und Ge wissenhaftigkeit in der Arbeit. Diese Strenge artet zuweilen in unbillige
Härte gegen Schwächere, in Ueberhebung aus, die beschämt zu werden
verdient.
Ich glaube, daß die Beschämung Felix Werners ursprünglich
noch stärker beabsichtigt war.
Noch ein zweiter Abweg unseres Arbeitens liegt nahe: das Streben,
der Wissenschaft neue Gebiete zu erobern, verleitet mitunter zu einer Jagdlust, die andere ebenso wichtige Aufgaben des Menschenlebens übersieht.
Wenn die Verirrung deS Professors in der Unklarheit der politischen Verhältnisse, in welche er verstrickt wird, nicht so deutlich heraustritt, so
ist sie doch eine der wichtigsten Tendenzen des Buchs. ES hängt damit noch ein anderer Mangel der gelehrten Bildung
zusammen.
WaS der Professor zuerst bei einem Feste der Landwirthe,
dann seiner Gattin über die Bedeutung der Volksseele vorträgt, ist Frey tag'S eigenste Ueberzeugung, und der rothe Faden, der sich sowohl durch
die „Bilder der Deutschen Vergangenheit" wie durch die „Ahnen" hin
durch zieht; ist es aber ausreichend, das Räthsel des Lebens, ich will nicht
sagen zu lösen, aber eS auch nur einem natürlich empfindenden Gemüth
näher zu bringen? — Ilse, religiös erzogen, erschrickt über diese Lehre;
sie verfällt in eine schwere Krankheit; waS aber weiter daraus wird, ob die Gegensätze sich auSgleichen, oder ob sich der Eine zur Ueberzeugung
deS Andern bekehrt,
ob ferner dadurch daS Leben selbst in ein anderes
Fahrwasser gelenkt wird, das erfahren wir nicht.
Ilse ist in ihrer Erscheinung eine der schönsten Figuren, die Freytag
geschaffen hat;
ein wahrer Zauber der Poesie breitet sich über sie auS.
Der Dichter scheint aber keineswegs in ihr ein Musterbild haben schil dern wollen: der Obersthofmeister würde sie nicht für eine „vornehme
Natur" gelten lassen, denn sie nimmt sich heraus, nach Eingebungen ihres Herzens über ihr eigenes Schicksal wie über das Schicksal Anderer ver
fügen zu wollen.
In wie weit sie das mißleitet, in wie fern also auch
in ihr eine Schuld liegt, darüber wünschte der Leser mit Recht weitere
Aufklärung.
Ilse ist zugleich eine symbolische Figur; die Phantasie, in welcher der Germanist Fritz Hahn, deS Professors Freund,
bei ihrem Anblick
auSbricht, ist vorbildlich für FreytagS spätere Arbeiten. — Das uralte Wesen auS der Sachsenzett hatte sich an diesem Ort nur wenig geändert.
Und er sah den Felsen und die schöne Ilse von
Bielstein, wie sie vor Menschengedenken gewesen waren.
Damals war
der Stein einem Heidengott heilig, schon damals hatte ein Thurm darauf
gestanden, und die Ilse hatte darin gewohnt, mit ihren gescheitelten blon den Haaren, im weißen Linnengewand, einen Pelz von Otterfell darüber.
Damals war sie Priesterin und Prophetin gewesen für einen Stamm wilden Sachsenvolks.
Und wo jetzt die Kirche stand, war die Opferstätte
gewesen, und das Blut der gefangenen Feinde war von dort herunterge rieselt in das Thal.
Und
wieder später hatte ein christlicher Sachsenhäuptling dort sein
BalkenhauS gebaut, und wieder hatte dieselbe Äse darin gesessen zwischen
den hölzernen Pfosten, auf dem erhöhten Raum der Frauen, und sie hatte die Spindel gedreht oder den Männern schwarzen Meth in die Schaale
gegossen. Und wieder Jahrhunderte später war das gemauerte Haus mit stein umfaßten Fenstern und einem Wartthurm auf dem Felsen errichtet wor
den als Nest eines räuberischen Junkers, und die Ilse von Bielstein hatte
wieder darin gehaust in einer sammtnen Haube, die der Vater auf deS Königs Heerstraße den Kaufherrn geraubt hatte, und wenn daS HauS von
einem Feinde berannt wurde, stand die Ilse unter den Männern auf der Mauer, und spannte die große Armbrust wie ein Rettersknecht.
Und wieder viele hundert Jahre später hatte sie in dem Jagdschloß
eines Fürsten gesessen, bei ihrem Vater, einem alten Kriegsmann aus der Schwedmzeit.
Damals war sie spießbürgerlich und fromm geworden, sie
kochte Beeren zu Muß und ging hinunter zum Pfarrer in das Conventikel, sie wollte keine Blumen tragen und schlug mit dem Finger in der
Bibel nach, welchen Mann ihr der Himmel bescheeren würde. Und jetzt stand dasselbe Sachsenkind seinem Freunde gegenüber, hoch und kräftig an Leib und Seele,
aber immer noch ein Kind des Mittel-
alters, gefaßt und still, mit gleichmäßigem Ausdrucke des fchhnen Ange sichts, der nur wechselte, wenn einmal plötzliche Leidenschaft durch das
Herz fuhr; ein Gemüth wie im Halbschlaf, ein so einfaches Gefüge des Geistes, daß man zuweilen nicht wußte, war sie sehr klug oder einfältig.
Und an ihrem Wesen hing
etwas von allem, was die Ilse seit zwei
Jahrtausenden gewesen: ein Stück Alraune, Methspenderin, ReiterStochter,
Pietistin.
ES war die altdeutsche Art und die altdeutsche Schönheit, aber
daß sie jetzt noch das Weib eines Professors werden sollte, das dünkte
dem bekümmerten Doctor gegen alle Gesetze ruhiger geschichtlicher Ent wickelung. — In dieser Aneinanderreihung verwandter Bilder deutet sich bereits die Art an, wie Freytag später den Fortgang der deutschen Geschichte dar
zustellen unternahm.
Es schwebte ihm vor, einen und den nämlichen Typus
durch den Fortgang der Zeiten zu verfolgen, und nachzuwetsen, wie über
einstimmende oder verwandte Herzensconflicte durch die Voraussetzungen bestimmter Culturverhältnisse verschieden gefärbt werden.
Wenn in den
„Ahnen" die nämliche Situation — die Beziehung des Helden zu Eltern, Herren und Dienern, zu Geliebten und Freunden, zu Lehrern, Priestern und
Spielleuten, sich häufig wiederholt, es ist das keineswegs Armuth der Er findung, sondern beabsichtigter ParalleliSmuS.
Schon im Jahre 1853, als Freytag nach Siebeleben übersiedelte, hatte
er sich eine ziemlich reiche Sammlung seltener Druckschriften, hauptsächlich
aus der Zeit des dreißigjährigen Kriegs angeschafft, von welchen er ein zelne interessante Abschnitte mit allgemein historischen Einleitungen in dem
Grenzboten veröffentlichte. Ich glaubte damals, es wären Vorstudien für eine Reihe historischer Romane, und wenn Freytag daS zuerst nicht Wort haben wollte, so hat er sich, nachdem die „Bilder aus der deutschen Ver
gangenheit" vollendet waren, dazu entschlossen.
So sind denn aus dieser
Sammlung zwei Werke hervorgegangen, die einander ergänzen, und die beide daS historische Gefühl des deutschen Volks auf das segensreichste befruchtet haben. Man kennt die Rundschau aus die drei Jahrhunderte, die dem Jahr
1860 vorausgingen, auf das Jahr 1560, 1660 und 1760: farbenvolle, reiche Rundbilder, in denen daS, worauf eS ankommt, glücklich getroffen
ist.
In diesen Rahmen fügen sich dann Detailschilderungen auS dem
16. und 17. Jahrhundert ein; das Mittelalter und die neue Zeit wurde
erst später bearbeitet.
Bei diesen historischen Darstellungen denke ich unwillkürlich an Guizot und Thierry, beide Schriftsteller ersten Ranges.
Guizot giebt eine zu
sammenhängende Culturgeschichte und zwar, wie eS sich für Vorlesungen ziemt, mit vorwiegend lehrhaftem Zweck; Thierry übersetzt die Berichte
eines der reichsten Geschichtschreiber aus dem 7. Jahrhundert, ohne an den Thatsachen
etwas zu ändern, in die Sprache der
modernen Em
pfindung.
Freytag geht nicht vom Allgemeinen sondern vom Einzelnen auS, er giebt zeitgenössische Aufzeichnungen, die ihn zuerst seltsam berührt, dann aber sein historisches Verständniß gefördert haben, mit voller Treue wieder,
und erläutert in geistreichen Einleitungen, wie sich in dieser schlichten Auf zeichnung die Volksseele auSspricht. „ES sind zuweilen unbedeutende Momente auS dem Leben der Kleinen.
Aber tote uns jede Lebensäußerung eines fremden Mannes, der vor unser Auge tritt, sein Geist, seine ersten Worte, daS Bild einer geschlossenen
Persönlichkeit geben, ein unvollkommenes und unfertiges Bild, aber doch
ein Ganzes" (beiläufig sehr charakteristisch für die Art, wie Freytag be obachtet) „so hat jede Aufzeichnung in welcher das Treiben deS Einzelnen
geschildert wird, die eigenthümliche Wirkung, mit plötzlicher Deutlichkeit
ein Bild von dem Leben deS Volkes zu geben, ein sehr unvollständiges und unfertiges Bild, aber doch auch ein Ganzes, an welches eine Menge
von Anschauungen und Kenntnissen, welche wir in unS tragen, blitzschnell anschießen wie die Strahlen um den Mittelpunkt eines Krystalls.
AuS
einer der Zeit nach geordneten Reihe dieser Berichte werden wir die Be
wegung und allmälige Umwandlung einer höher» geistigen Einheit wahr
nehmen." Freytag sucht mit Vorliebe solche Documente auf, die sich recht naiv aussprechen, in denen Absicht und Bewußtsein wenig hinzugethan haben;
Aufzeichnungen von Männern, die etwas seitab vom Strom der allgemeinen Bildung ausgewachsen sind, in denen die Volksseele sich noch nicht zur Reflexion geklärt hat: was in solchen ungebildeten Gemüthern vorgeht, zeigt das eigentliche Material,
Geschichte zu arbeiten hat.
mit welchem der große Weltproceß der
Höchst charakteristisch ist z. B. für das Refor
mationszeitalter der Bericht des armen Schülers, der sich in seinem Ge
wissen darüber abquält, daß er den „um Gottes willen" versprochenen Ablaß nicht umsonst erhalten soll.
Einen ganz andern Ton schlagen die Einleitungen an, in denen ein geistvoller philosophisch erzogener Mann von der Höhe unserer Bildung auf die Jahrhunderte herabblickt.
Manchem Leser ist der Ton zu vor
nehm: eS ist aber eine gerechte Reaction gegen die saloppe Art vieler
unserer Tagesschriftsteller, die nach dem ersten besten Wort greifen, und
anmuthig zu sein glauben, wenn sie blos nachlässig sind.
Die Sprache
geht zurück, verfällt in'S Platte und Triviale, wenn der Schriftsteller sich nicht bemüht, sie zu adeln, zu vertiefen und ausdrucksvoller zu machen.
Darin verdanken wir Freytag sehr viel.
Einen würdigen Vorgänger hat
er an Schn aase, dessen kulturhistorische Uebersichten deS Mittelalters in
seiner Kunstgeschichte sich gar wohl neben den Bildern auS der deutschen Vergangenheit sehen lassen dürfen. Diese schöne Form deckt sich aber mit dem geistigen Inhalt. Klarer als ein Andrer hat unter den Neuern Freytag ausgesprochen, was das
letzte Ziel ist, dem seit Herder unsre Wissenschaft zustrebt. „ES ist Aufgabe der Wissenschaft daS schaffende Leben der Völker zu erforschen.
Hier sind die Seelen der Völker die höchsten geistigen Ge
bilde, welche der Mensch zu erkennen noch befähigt ist.
In jeder ein
zelnen suchend, jeden erhaltenen Abdruck der vergangenen nachspähend,
auch die Splitter der zerstörten beachtend, alles Erkennbare verbindend,
sucht sie als letztes Ziel das Leben deS ganzen Menschengeschlechts auf der Erde als eine geistige Einheit zu erfassen, mehr ahnend und deutend als begreifend.
Während frommer Glaube die Idee deS persönlichen
Gottes mit unbefangener Sicherheit über das Leben der einzelnen Men schen stellt, sucht der Diener der Wissenschaft das Göttliche bescheiden in
großen Bildungen zu erkennen, welche, wie gewaltig sie den einzelnen überragen, doch sämmtlich am Leben deS Erdballs haften.
Aber wie
klei» er sich ihre Bedeutung auch gegenüber dem Unbegreiflichen, in Zeit und Raum Endlosen denken möge, in diesem immerhin engen Preise liegt
alles Große, das wir zu erkennen fähig sind, alles Schöne, das wir je gesehen, und alles Gute, wodurch wir je unser Leben geweiht.
Für das
aber, was wir noch nicht wissen und zu erforschen bemüht sind, nuermeßliche Arbeit.
Und diese Arbeit ist,
eine
das Göttliche in der Ge
schichte zu suchen. Ueberall erscheint uns der Mensch durch Sitte und Gesetz, durch die
Sprache und den ganzen gemüthlichen Inhalt seines Wesens als kleiner Theil eines größeren Ganzen.
Wie der Mann, entwickelt auch das Volk
seinen geistigen'Gehalt im Lauf der Zeit eigenthümlich.
Aus Millionen
Einzelnen besteht das Volk, in Millionen Seelen fluthet die Seele des
Volks dahin;
aber das unbewußte und bewußte Zusammenwirken von
Millionen schafft einen geistigen Inhalt,
bei welchem der Antheil des
Einzelnen oft für unser Auge verschwindet.
Welcher Mensch hat die
Sprache erschaffen? daö älteste Recht erfunden? —
Nicht einer! es war
ein gemeinsames geistiges Leben, welches in Tausenden, die zusammen lebten, aufbrach. — Jeder Mensch trägt und bildet in seiner Seele die geistige Habe deS Volks. . .
So darf man wohl, ohne etwas Mystisches
zu meinen, von einer Volksseele sprechen. Und sieht man näher zu, so erkennt man mit Verwunderung,
daß
die Entwickelungsgesetze dieser höhern geistigen Persönlichkeit sich merk würdig von denen unterscheiden, welche den Mann frei machen und bil
den.
Für sich und seine Zwecke lebt der Mensch, frei erwählend,
ihm schade oder nütze; verständig formt er sein Leben,
was
vernünftig be
urtheilt er die Bilder, welche aus der großen Welt in seine Seele fallen.
Aber nicht mehr bewußt, nicht so zweckvoll und verständig wie die Wissen schaft des Mannes arbeitet das Leben deS Volks.
Das Freie, Verstän
dige in der Geschichte vertritt der Mann, die Volkskraft wirkt unablässig mit dem dunkeln Zwang einer Urgewalt,
und ihre geistigen Bildungen
entsprechen zuweilen in auffallender Weise den Gestaltungsprozessen der stillschweigenden Naturkraft, die auS dem Samenkorn der Pflanze Stiel,
Blätter und Blüthen hervortreibt. Das Leben einer Nativn verläuft in einer unaufhörlichen Wechsel
wirkung des Ganzen auf den Einzelnen und des Mannes aus das Ganze. Jedes Menschenalter, auch das kleinste, giebt einen Theil seines Inhalts
ab an die Nation, in jedem Manne lebt ein Theil der schöpferischen Ge-
sammtkraft,
er trägt Seele und Leib aus einer. Generation in die an
dere, er bildet die Sprache fort,
er bewahrt das Rechtbewußtsein,
alle
Resultate seiner Arbeit kommen dem Ganzen wie ihm selbst zu Gute. —
Millionen leben so, daß bet Inhalt ihres Daseins still und unbemerkbar mit dem großen Strom zusammenrinnt.
Nach allen Richtungen aber ent
wickeln sich aus der Menge bedeutende Persönlichkeiten, die als gestaltende
größern Einfluß auf das Ganze gewinnen.
Zuweilen erhebt sich eine ge
waltige Menschenkraft, welche in großen Gebieten aus eine Zeitlang das übermenschliche Leben des Volks beherrscht und einer ganzen Zeit daS
Gepräge eines einzelnen Geistes aufdrückt.
Dann wird für unser Auge
daS gemeinsame Leben, welches durch unser Haupt und unser Herz dahin
strömt,
fast so vertraut, wie uns die Seele eines einzelnen Menschen
werden kann; dann erscheint die ganze Kraft deS Volks auf einige Jahre
im Dienst eines Einzelnen, ihm wie einem Herrn gehorchend.
DaS sind
die großen Perioden in der Bildung eines Volks."--------Diese großen Perioden des Volks, die Perioden der Helden sind auch die glänzenden Perioden in Freytags Darstellung:
eine Reihe herrlicher
Charakterbilder, die freilich nicht blos daS Erhabne, sondern auch das Tragische des HerrenthumS enthalten. „Dreigetheilt erscheint uns die Laufbahn aller geschichtlichen Helden,
denen daS Schicksal ward, sich auszuleben.
Im Anfang bildet sich die
Persönlichkeit des Mannes, mächtig beherrscht vom Zwang der umgebenden
Welt.
Auch unvereinbare Gegensätze sucht sie zu verarbeiten, aber aus
dem Innersten der Menschennatur erhärten sich unter dem Zwang deS Charakters allmälig Gedanken und Ueberzeugungen zum Willen, eine That bricht hervor, der Eine tritt in den Kampf mit der Welt.
Daraus folgt
eine andre Zeit kräftiger Action, schneller Fortbildung, großer Siege.
Immer größer wird die Einwirkung deS Einen auf die Welt, mächtig zieht er die ganze Nation in seine Bahnen, er wird ihr Held, ihr Vorbild, die Lebenskraft von Millionen erscheint zusammengefaßt in Einem Mann. Aber solche Herrschaft einer einzelnen geschlossenen Persönlichkeit erträgt
der Geist einer Nation nicht lange.
Wie stark eine Kraft, wie groß die
Zielpunkte seien, Leben, Kraft und Bedürfnisse der Nation sind vielsei
tiger. Der ewige Gegensatz zwischen Mann und Volk wird sichtbar: auch die Seele des Volks ist endlich, aber dem Einzelnen gegenüber erscheint
sie schrankenlos.
Den Mann zwingt die logische Consequenz seiner Ge
danken, alle Geister seiner eigenen Thaten zwingen ihn in eine fest ein gehegte Bahn: die Seele des Volks bedarf zu ihrem Leben vereinbare
Gegensätze, ein unablässiges Arbeiten nach den verschiedensten Richtungen. Vieles, was der Einzelne nicht in sein Wesen aufzunehmen vermochte, er
hebt sich znm Streit gegen ihn. Die Reaction der Welt beginnt. Zuerst schwach von mehreren Seiten, in verschiedener Tendenz, mit geringer Be
rechtigung, dann immer stärker, immer siegreicher.
Zuletzt beschränkt sich
der geistige Inhalt des einzelnen Lebens in seiner Schule, und krhstallisirt
zu einem einzelnen Bildungselement deS Volks.
Immer ist der letzte
Theil eines großen Lebens erfüllt mit einer heimlichen Resignation, mit Bitterkeit und stillem Leiden." — ES ist das Schema, nach welchem Frehtag in den Einleitungen das
Leben der eigentlichen Helden der Menschheit zergliedert.
Er ist überall
bedeutend; das Höchste aber erreicht er in der Charakteristik Luther'S, die
aus der Tiefe des Gemüths geschöpft, mit historischer Weisheit verklärt ist.
Sie ist nach meinem Gefühl nicht blos das Schönste, was Freytag
geschrieben, sie gehört zu den edelsten Perlen unserer Literatnr.
Ein kleineres Bild möchte ich hervorheben, Wendung wegen, das Bild Friedrich des Großen.
seiner eigenthümlichen „Sehr ungerecht haben
ihn die beurtheilt, welche ihm ein kaltes Herz zuschrieben.
Nicht die
kalten Fürstenherzen sind es, die am meisten durch ihre Härte verletzen.
Solchen ist fast immer vergönnt, durch gleichmäßige Huld und schicklichen Ausdruck ihre Umgebung zu befriedigen.
Die stärksten Aeußerungen der
Nichtachtung liegen in der Regel dicht neben den herzgewinnendeu Lauten einer weichen Zärtlichkeit. . .
Friedrich hatte ebenso sehr das Bedürfniß,
sich das Leben zu idealisiren, als den Drang, sich und Andern ideale
Stimmungen unbarmherzig zu zerstören. . .
Er besaß in hohem Grade
jene eigenthümliche Kraft, welche die gemeine Wirklichkeit nach idealen
Forderungen des eigenen Wesens umzubtlden strebt; eS war ihm Bedürf niß, mit dem ganzen Zauber eines beweglichen Gefühls das Bild seiner Lieben sich zuzurichten, und das Verhältniß, in das er sich frei zu ihnen
gesetzt hatte, auszuschmücken. Es war immer etwas Spiel dabei. Wurde
ihm einmal in empfindlicher Weise der Unterschied zwischen seinem Ideal
und dem wirklichen Menschen fühlbar, so ließ er den Menschen fallen. Solche Gabe wird doppelt verhängnißvoll für einen König, dem Andere so selten sicher und gleichberechtigt gegenübertreten. Friedrich wurde dies Be
dürfniß nach idealen Verhältnissen durch seinen durchdringenden Scharf
sinn gekreuzt, und durch eine unbestechliche Wahrheitsliebe,
gegen jede Illusion unwillig sträubte.
welche sich
Sein Scharfsinn zeigte sich auch
als wilde Laune, welche schonungslos, sarkastisch und spottlustig verwüstet...
Im Alter wurde es in ihm stiller und kälter; gegen wenige Vertraute
öffnete er in einzelnen Augenblicken das Innere, dann bricht der Schmerz
eines Mannes hervor,
der
an den Grenzen des Menschlichen
ange
kommen ist." —
Mit diesen glänzenden Charakterbildern können die Portraits großer
Gestalten in den „Ahnen" nicht wetteifern.
Luther kommt bei seinem
flüchtigen Auftritt in „Markus König" fast genrehaft heraus, seine Phy-
siognomie, die in Kleist's „Kohlhaas" sich viel deutlicher auSprägt, wird
beinah durch den Rahmen der Veste Koburg in Schatten gestellt. Charakteristiken der Kaiser Heinrich II.
Die
und Friedrich II. im „Nest der
Zaunkönige" und in den „Brüdern des deutschen HauseS" sind geistreich gedacht und mit Feinheit auSgeführt; man gewinnt zum Urtheil über sie
vielmehr Anhalt als auS berühmten Geschichtswerken: aber eS fehlt ihnen
die sinnliche Sicherheit, sie kommen uns nicht persönlich nah wie sämmt
liche Figuren W. Scotts, Ludwig XI., Maria Stuart, Cromwell u. s. w. Im Urtheil greift Freytag stets aus dem Bollen, aber bei der Zeichnung streift sein historisches Gewiflen zuweilen ans Zaghafte: er möchte alle
Nuancen, die ihm aus der Geschichte bekannt sind, verwerthen, und das raubt ihm den Muth zum breiten Pinsel,
den eine große Gestalt doch
verlangt. Viel glücklicher ist er in der Zeichnung frei erfundener Figuren, wie deS verschmitzten Königs Bisino im „Ingo", der unS über die KönigS-
kunst ebenso seltsame als ergötzliche Aufschlüsse giebt,
hältniß zur
und deffen Ver
stolzen Gisela sich als ein typisches darstellt.
Vortrefflich
für daS Verständniß der ReformationSzeit ist die Gegenüberstellung deS
Markus König, der im festen Glauben an die Macht der guten Werke ein sorgfältiges Conto über seine Rechnung im Himmel führt, und dem dürftigen Magister, welcher sich der neuen Lehre zuneigt und unter der wunderlichen Tracht daS Herz auf dem rechten Fleck hat.
Alle Genre
bilder in den „Ahnen" kommen deutlich und ergötzlich heraus, die Klosterleute, die Strolche an der Weichsel, die ehrsamen Rathsherren in Thorn, die Spießbürger in der kleinen schlesischen Landstadt.
Der Thüringer
Wald, wo die Söhne Jngo'S Hausen, wird unS in all seinen Verzwei
gungen vertraut. Diese eigentlichen Helden der „Ahnen", von Ingo an bis zu Georg König — die spätern haben nur noch wenig Familienähnlichkeit — sind nicht ganz daS was der Dichter gedacht, worauf er den Leser durch seinen Ton vorbereitet hat.
Wie treu er bei seinen Stttenschilderungen sich an
die alten Quellen gehalten, wie er nebenbei und zwar mit voller Be
rechtigung, die homerische Art ins Deutsche übertragen hat, daS ist von Scherer in der schon erwähnten meisterhaften Recension nachgewiesen.
Den Ton dagegen hat der Dichter selbst erfunden.
Er wollte für daS
vierte Jahrhundert, wie Willibald Alexis im „Roland von Berlin" für daS 15., eine Sprache schaffen, die an daS Alterthum anklingt.
Wenn
ich diesen Versuch im „Ingo" ebenso wenig billigen kann als im „Roland
von Berlin", so muß ich ausdrücklich hinzusetzen, daß dies Urtheil ein
subjektives ist: gerade der Stil deS „Ingo" hat sich bei Lesern jeder Art,
bei hochgebildeten Professoren und bet Backfischen, glänzend durchgesrtzt. Ich habe mir die redliche Mühe gegeben, aber mein Ohr will sich diesem seltsamen Ineinander von Prosa und Rhthmus nicht fügen, Meine Aufmerk
samkeit wird von dem Gegenstand abgezogen, ich muß beständig versuchen,
waS ich höre, in gemeines Delltsch zu übersetzen; und weil der Ton sich zuweilen grade da erhöht, wo die Empfindung kalt bleiben könnte, ge
winne ich für daS Verständniß weniger als ich verliere.
Wenn König
Bisino treuherzig die Worte ausspricht, seine Gattin möchte nicht so vor
nehm sein, dann würde er sie prügeln und wieder lieb haben, so weiß ich
doch, wohin und woher! — Ohnehin ist in den folgenden Erzählungen die Tonlage die nämliche, die Frehtag sonst in seiner, freilich stets vor
nehmen Prosa anwendet.
Der Ton deS „Ingo" stört mich auch darum, weil der Charakter des Helden ihn keineswegs
erheischt.
Abgesehn von seinen
gymnastischen
Leistungen ist er in seiner ganzen Art so gesittet und musterhaft, so der feinsten sittlichen Controverse fähig, daß er in jedem Roman W. Scotts seinen Platz finden könnte; nichts von der Wildheit einer Zeit die denn
doch immer eine barbarische war.
Wenn man nach seinen Ahnen sucht, denkt man fast ebenso an Anton Wohlfahrt wie an Georg Saalfeld.
Des letzteren Ritterlichkeit und Auf
opferung würde er Valentinen gegenüber gewiß nie verläugnen, aber er
würde auf dem Schlitten hinter Leonore sich gerade so sittig betragen wie sein schlesischer Vorfahr, gerade so sittig wie seine Nachkommen Jngraban und Georg König, die mit Resignation sich dem Willen ihrer Geliebten fügen.
DaS ganze Geschlecht, abgesehn von einigen jugendlichen Eulen
spiegeleien, entscheidet sich in jedem ernsteren Conflict nach sittlichen Prin cipien, die wir noch heute ehren. Freytag wollte daS Punkt,
der
wohl als deutsche Art zeigen.
überhaupt noch
Berücksichtigung
Dies ist der
verdient.
Sowohl
die
„Bilder aus der deutschen Vergangenheit" wie die „Ahnen" tragen einen
Stempel des Patriotismus, wie wir ihn bei wenigen deutschen Schrift stellern finden.
Sonst sind wir Virtuosen in der Anerkennung fremder
entgegengesetzter Volkscharaktere:
mit welchem Geist, mit welchem Feuer
hat z. B. Jacob Burckhardt uns das Wesen der italienischen Renaissance
eingeschmeichelt! er macht uns in den Retzen dieses Lebens so zu Hause, daß wir bereit wären, die äußerst gemüthlose Lucretia Borgia interessant zu sinken und ihr einen Besuch abzustatten.
Bei Freytag dagegen lernen
wir, halb mit Stolz, halb mit Beschämung, was in der deutschen Art
Herrliches liegt, und es fehlt nicht viel, so würde er uns auch in der Fredegunde
Spuren
deutschen
Gemüths
nachweisen.
Er
trägt
das
mit
einem
Geist und
mit
einer
Bildung vor,
daß
wir
gern ihm
folgen.
„In der Seele des jungen Volks lebten unvertilgbar die idealen Forderungen an das Leben. Die Sehnsucht eines reichen VolkSgemütheS,
Liebe und Treue in der Welt zu finden, und daS Bedürfniß, edle Em pfindung in öde Wirklichkeit hinauszutragen, blieb ein Grundzug der ger
manischen Nation.
In diesem Sinne war auch der lasterhafte Germane
selten ein verworfener Mann.
Die Leidenschaft stachelte ihn, übermäch
tige Versuchung, die Noth seines bedrängten Lebens und die ordnungs lose Welt.
Aber in sich trug er ein lebhafte- Bild von dem was
sein sollte, und den stillen Wunsch nach gerechtem Thun.
er
Der Frevel,
welchen er übte, war vielleicht wilder und schrecklicher als bei dem Mann
aus Byzanz und Rom, aber in ihm pochte mahnend das Gewissen, lebendig
fühlte er den Zusammenhang zwischen seinem Unrecht und den Folgen,
welche auf ihn zurückfielen, und plötzlich packte auch den verhärteten Böse wicht die Reue.
Die Seele des Germanen wurde nicht in glei
cher Weise wie die des Südländers durch die Leidenschaft der
Stunde und die Macht der Situation ausgefüllt; immer blieb
etwas in ihm übrig, was die Bewegung zu beherrschen suchte und über den Augenblick hinweg Vergangenes und Zukünftiges erwog." —
Ein Spiegel, in den wir gern sehen mögen? Verschönert er nicht
ein wenig? Ich möchte wissen, was Franzosen und Italiener zu dieser Darstellung sagen werden, die ihnen mittelbar manche Eigenschaften ab
zusprechen scheint, deren sie sich denn doch auch rühmen mögen. — Gleich
viel! Die Hauptsache ist richtig, und da wir uns mit unserm „Gemüth" etwas wissen, ist es sehr dankenSwerth, uns klar zu machen, was wir
eigentlich darunter verstehen. Schöner und eindringlicher ist eS von Nie
mand gesagt worden als von Freytag. Seine Darstellung stützt sich fast durchweg auf Forschungen der Brüder
Grimm, aber er hat für die Sache den prägnanten Ausdruck gefunden, der dem modernen Ohr leichter angeht.
Ihn verstehn wir unmittelbar, bei
Grimm muß man sich manches erst in die geläufige Sprache übersetzen. — Wie geistvoll hat er Grimm'S Theorie der Thierfabel in'S Allgemeine
gewendet. „Für schwere Kämpfe, die das Volk um fein Leben zu bestehen hatte, und für große Wandlungen, die unter bittern Schmerzen ihm zu Theil werden, war ihm von der Macht, die feines Schicksals waltete, überreich
eine Gabe zugetheilt worden, alles was ihn umgab, beschäftigte, bewegte, nach dem Bedürfniß seines Herzens einzubilden und umzuformen.
Bei
Gustav Freytaz'S Ahnen.
96
allem waS der Deutsche wahrnahm, frug er, was eS bedeute? hinter
jeder Erscheinung empfand er ein geistiges Leben, alles was sich lebend regte, suchte er sich vertraulich zu machen, indem er ihm etwas von dem
eigenen Gemüth andichtete.
Es ist wahr, jedes junge Volk übt diese
Poesie, durch welche eS sich die reale Wirklichkeit verständlich macht und die ungeheure Arbeit der Naturgewalten in das menschlich Erträgliche
umformt; eS ist wahr, kein Volk kann daS Leben ertragen, wenn eS diese
Kunst nicht zu üben versteht, denn Glaube und Sitte, alles Selbstgefühl
deS Wissens und Könnens beruhen im letzten Grunde nur darauf. Aber kein Geschlecht der Menschen, von dem unS Kenntniß geblieben ist, hat diese Poesie deS Denkens und Umbildens so warmherzig, so emsig und
dabei so kindlich geübt als wir Deutsche."
Mit dieser Richtung deS Gemüths ist nun freilich auch ein Mangel
„In der einzelnen Erscheinung ahnt der Deutsche daS LebenS-
vorhanden.
gesetz, aber nur im individuellen Leben vermag er das Gemeingültige zu
faffen.
WaS dem Römer in sehr früher Zeit gegeben war, kurz, scharf,
bestimmt den allgemeinen Rechtsgrundsatz hinzustellen, mit unbeugsamer
Logik und Willenskraft alle Consequenzen desselben zu ziehn, daS war dem Deutschen ganz unheimisch, ja unmöglich.
Staat faßte er ganz individuell.
Auch daS Verhältniß zum
Es gab im ganzen Mittelalter keine
schriftliche Aufzeichnung der Rechte und Pflichten, keine Regeln, weil im wirklichen
Leben
das
Gemeingültige garnicht
in
seiner Berechtigung
empfunden und überall durch persönliche Verhältnisse überwuchert wurde."
Wir werden unsere deutsche Anlage zu schätzen haben,
aber nicht
etwa bei ihr stehen bleiben wollen; neben der deutschen Bildung fordert auch die europäische ihr Recht, wenn wir unS theoretisch wie praktisch auf
der allgemeinen Wahlstatt deS Lebens orientiren wollen.
Unsere Eigen
art gehl unS doch nicht verloren, auf unsere Unarten brauchen wir uns nicht zu steifen. — Dieser Gedanke scheint der geheime Faden zu sein, der bei Freytag die Ahnenreihe mit einander verknüpft: wirksam bleiben
sie immer, aber ihre Macht wird geringer, wie daS Volk tn's ManneSalter eintritt. „In ganz anderm Sinn ist im Mittelalter der Einzelne ein Theil der
Volkökraft, als jeder von unS.
In Gemüth und Sitte, in Sprache,
Glauben, Recht und Poesie erscheint uns die Kraft des Individuums noch ge
bunden.
Sicherheit vor dem Verderben, Förderung seines Leben erhielt
der Einzelne nur durch engen Anschluß und Unterordnung unter Genossen;
erst in ihr empfand er die Berechtigung seiner Existenz.
Die reiche
Spruchweisheit des Mittelalters beruht auf demselben Bedürfniß, gemein
same Ordnung und gültige Formel zu finden, welcher sich das innere
So kam überall das Leben des Indi
Leben des Einzelnen unterordnet.
viduums erst in der Gemeinschaft zum vollen Ausdruck.
Und als eigen
thümliche Schönheit der jungen Volksseele empfinden wir zuweilen die Verbindung
eines lebhaften FreiheitSgefühlS mit gehorsamer Unterord-
nung; sie erscheint uns in einer Zeit voll von lyrischem Einzelleben viel leicht benetdenswerth.
bewußten Resignation,
Aber im Mittelalter fügte man sich nicht mit der
welche uns nöthig ist, oder mit der werthvollen
Freudigkeit, welche wir unsern Nachkommen wünschen: eS trieb die bittre Nothwendigkeit die innere Arbeit und Unfreiheit der Individuen zur Ein
ordnung in den Zwang der Gesellschaft." Schon durch das Christenthum kam ein fremdes Element in das
deutsche Leben.
„Während der Deutsche in der Wanderzett an seine Hel
den die poetische Forderung einer finstern alterthümltchen Größe stellte, kam in die Seelen ein neuer Inhalt, für welchen die Poesie des Volks noch
keinen Ausdruck hatte. Nicht mehr dauerten sie in der starren Festigkeit ihrer Sagenhelden, in denen Noth und Kampfeszorn gradlinig dahin strömten. Der starre Sinn bog sich unter dem Druck der Wirklichkeit; die ideale
BolkSsitte, welche einst Bielen Gedanken und Thun gerichtet hatte, verlor in der wilden Zeit einen Theil ihrer zwingenden Gewalt.
Aber in dem
Verlust war auch ein hoher Gewinn: viele werden schlechter, die Guten vermochten jetzt brav zu werden.
Durch die Seelen der wirklichen Menschen
zog in entscheidendender Stunde häufig ein fremder Accord, Trauer, Ent
sagung, Sehnsucht nach besserm Leben, ein weiches Schmerzgefühl über die Nichtigkeit alles irdischen Treibens.
Während der Verwilderung und
gehäufter Frevelthat wurde in dem Volk der Boden bereitet für einen
neuen Glauben." So tritt von Jahrhundert zu Jahrhundert das Fremde bildend und umgestaltend in unser Wesen ein, bis uns endlich die eigenen Ahnen wie
fremde Gestalten erscheinen.
Mit dieser Betrachtung schließt Victor König
das Buch. „Unsere Phantasie mag mühelos, auch wo die beglaubigte Kunde fehlt,
noch weiter rückwärts in die Vergangenheit fliegen.
Vielleicht wirken die
Thaten und Leiden der Vorfahren noch in ganz anderer Weife auf unsere Gedanken und Werke ein, als wir Lebende begreifen.
Aber eS ist eine
weise Fügung der Weltordnung, daß wir nicht wissen, wie weit wir selbst
daS Leben vergangener Menschen fortsetzen, und daß wir nur zuweilen erstaunt merken, wie wir in unsern Kindern weiter leben.
WaS wir uns
selbst gewinnen an Freude und Leid durch eignes Wagen und eigne Werke,
das ist doch immer der beste Inhalt unseres Lebens, ihn schafft sich jeder Lebende an.
Und je länger daS Leben einer Nation in den Jahrhunderten
Preußische Jahrtücher. Bt. XLVII. Heft 1.
7
Gustav Freytag'S Ahnen.
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läuft, um so geringer wird die zwingende Macht, welche durch die Thaten
der Ahnen auf das Schicksal der Enkel ausgeübt wird, desto stärker aber die Einwirkung des ganzes Volks auf den Einzelnen und größer die Frei
heit, mit welcher der Mann sich selbst Glück und Unglück zu bereiten vermag."
Die Macht der Ahnen wird schwächer, je weniger wir uns ihrer er innern, je mehr das Familienleben die Tradition verliebt, je reicher das
allgemeine Leben sich entfaltet.
Aber eben damit hört auch die Volksseele
auf, eine zwingende Macht zu sein: wer sich gewöhnt, mit Homer, Dante
und Shakespeare zu Tisch zu sitzen, achtet weniger auf das Reden seiner Nachbarn.
Der Weltbürger des vorigen Jahrhunderts war ein Zerbild;
aber eS wäre gefehlt, ihm im 19. Jahrhundert den reinen Nationalen entgegenzustellen. Julian Schmidt.
Die auswärtige Lage beim Jahreswechsel. (Politische Correspondenz.)
Berlin, 8. Januar 1881. In der Gesammtlage Europa's ist in dem Laufe deS Jahres 1880
keine wesentliche, für die Zukunft des Welttheils oder der einzelnen Staaten
entscheidende Wendung eingetreten, welche diesem Zeitabschnitt in der Geschichte des
könnte.
neunzehnten
Jahrhunderts
dauernde
Beachtung
sichern
Manche Befürchtungen, welche bet dem Beginn des JahreS
Völker und Regierungen ergriffen hatten, haben sich als übertrieben oder
als unberechtigt herausgestellt, neue Wolken sind am Horizont aufgezogen,
und sind vorübergegangen, ohne daß das drohende Gewitter zum Ausbruch gekommen wäre.
sein.
Von Stillstand oder Stagnation kann nicht die Rede
Die Geschichte des Jahres 1880 zeigt auf allen Gebieten eine sehr
lebhafte Bewegung, welche, mag sie vorwärts, mag sie rückwärts gehen,
dem Anstoß folgt, den das Jahr 1879 gegeben hat.
Die europäische
Politik des letzten Jahres hat sich, vielfach sprungweise, aber konsequent auS
derjenigen des JahreS 1879 entwickelt, welcher der Abschluß des deutsch österreichischen Bündnisses
den
Stempel aufdrückte.
Was dieses
Bündntß für die beiden Nachbarstaaten wie für die anderen Großmächte
Europa's bedeutet, ist im Laufe des letzten JahreS deutlicher und schärfer
hervorgetreten, nachdem die diplomatischen Sondirungen, welche in die letzten Monate deS JahreS 1879 fielen, jeden Zweifel an dem Umfange
der Verabredungen, welche Fürst Bismarck bei seinem Besuche in Wien
getroffen, beseitigt hatten.
DaS deutsch-österreichische Bündniß hat eine
ganz neue Phase in der deutschen Politik eingeleitet.
Deutschland hatte
bis dahin den Machtfragen gegenüber, welche an die Gestaltung der euro
päischen Türkei anknüpfen, eine vorwiegend passive Haltung eingenommen, indem eS sich darauf beschränkte, zwischen den streitenden Interessen zu
vermitteln, um zu verhüten, daß der Conflict mit der ultima ratio der Kanonen gelöst werde.
Daß Deutschland als solches an der Entwickelung
der orientalischen Dinge nicht-interessirt sei, ist mehr als einmal von compe-
7*
tentester Stelle aus als leitendes Axiom unserer Politik bezeichnet worden. Das deutsch-österreichische Bündntß dagegen setzt voraus, daß wenigstens
im Großen und Ganzen die Interessen der beiden Mächte im Westen wie im Osten Europas identisch sind.
Nur unter dieser Voraussetzung
ist ein Bündniß, welches nicht für den Augenblick, sondern auf die Dauer abgeschlossen wird, gerechtfertigt.
Seither ist denn auch die deutsche Politik
in den Ortentfragen aus der früheren Zurückhaltung hervorgetreten und
selbst die Gegner gestehen zu, daß Deutschlands Einfluß, so sehr auch das
Berliner Cabinet jedes demonstrative Vorgehen vermeide, der maßgebende
sei.
Dieses Hervortreten Deutschlands aus der früher geübten Zurück
haltung war auf der einen Seite geboten durch die Entfremdung, welche in der Zeit feit dem Berliner Congreß zwischen den Cabinetten von Peters burg und Berlin eingetreten war.
Andererseits aber mußte diese Wir
kung ihrerseits Ursache weitergehender Wirkungen sein.
Von dem Augen
blick an, wo die österreichische Orientpolitik der Unterstützung Deutschlands nicht von Fall zu Fall, sondern der vertragsmäßig garantirten Unter
stützung sicher war, befand sich Rußland, solange es nicht im Falle der Noth
einen neuen Krieg
wagen wollte, gänzlich außer Stande,
der Balkanhalbinsel active Politik zu treiben.
auf
Rußland war aus dem
siegreichen Kriege gegen die Türkei innerlich geschwächt hervorgegangen.
Gerade beim Beginn des Jahres 1880, nach den Attentaten von Moskau
und der Explosion im Winterpalais, welche durch die beispiellose Ver
wegenheit der Verschwörer die moralische Autorität der Regierung nahezu
vernichteten, war Rußland zu jeder Action nach Außen unfähig. Die Ein setzung der Exekutiv-Commission unter dem Vorsitz des Grafen LoriS-Meltkoff,
der sich mit langsamer, aber jeden Fehlschlag vermeidender Energie nach und nach in den Besitz der gesammten regulären Regierungsgewalt setzte, machte in Rußland selbst den Eindruck einer rettenden That.
Die Geschichte
Rußlands während deS Jahres 1880 deckt sich vollständig mit derjenigen
des Erstarkens und des Ueberhandnehmens deS Einflusses deS Grafen
LoriS-Melikoff, der unterstützt von dem Großfürsten-Thronfolger dem krän kelnden Kaiser Zugeständniß auf Zugeständniß abnöthtgte.
rakteristisch, daß in dem Maße,
ES ist cha
in dem die russische Verwaltung wieder
in normale Wege einlenkte, daS Wuthgeschrei der russischen Presse gegen den deutschen Nachbar an Intensität verlor.
Heute wird eS uns in der
That schwer, die Momente zu reproduciren, welche in den ersten Monaten deS JahreS die Befürchtung hervorriefen, daß der Nachbar im Nord-
osten und der Nachbar im Westen sich über Deutschland hinweg die Hände
reichen möchten, um gleichzeitig für den Berliner Vertrag und den Frank furter Frieden Rache zu nehmen.
Der Sturz Waddington'S (Ende De-
cember 1879) hatte der englisch-französischen Intimität den Todesstoß versetzt; die Einsetzung des Ministeriums Frehcinet, welches dem Einfluß
des gemäßigten, linken Centrums auf die Leitung der Geschäfte ein Ende
machte und der Republik der Republikaner dm Weg bahnte, schien weniger dem Bedürfniß der inneren, als den in Gambetta personificirten Aspira
tionen der auswärtigen Politik zu entsprechen.
Der Entwurf des neuen
deutschen MtlitairgesetzeS, der gerade damals bekannt wurde, verstärkte diesen
Eindruck.
Heute wird manch' einer versucht sein, die Achseln zu zucken über
die damals herrschenden Befürchtungen. Aber eS ist doch sehr die Frage,
ob die Verstärkung der deutschen Militairmacht nicht einen sehr wesent lichen Antheil an der friedlichen Entwickelung der Verhältnisse hat; oder vielmehr, eS ist gar nicht ftaglich, daß dem so ist.
Je unzweideutiger
Deutschlands Regierung und seine gesetzliche Vertretung die Größe der Opfer anerkannte, welche das neue Gesetz der Nation auferlegte, um so
entmuthtgender für unsre Gegner war der Entschluß, für eine Reihe von Jahren auch diese neue Last zu der alten auf die Schultern zu nehmen, um Deutschland auch einer Coalition seiner Nachbarn gewachsen zu machen.
Frankreich stand unmittelbar vor dem Abschluß seiner großartigen HeereSorganisatton, die am 14. Juli, dem zum Nationalfest erhobenen Jahres
tage der Erstürmung der Bastille, durch die Verleihung der republikanischen Fahnen ihre Weihe erhielt.
Aber ehe eS noch dazu kam, hatte die An
nahme des MilitairgesetzeS im Reichstage, durch welches im Kriegsfalle
das Effektiv der Armee nach wenigen Jahren schon um 250,000 Mann
verstärkt wird, der Hoffnung ein Ende gemacht, Deutschland werde auf die Dauer außer Stande sein, auf dem Gebiet der militairischen Macht
entfaltung mit Frankreich gleichen Schritt zu haltm. Auf das deutsche Militärgesetz findet in Wahrheit das Argument Anwendung,
dessen
sich
zur
Zett
angesichts
der
mangelhaften Wir
kungen des Zolltarifs von 15. Juli 1879 die Vertheidiger der deutschen Zollpolitik bedienen, daß die Erschwerung des Imports wenigstens das Vertrauen der deutschen Industrie gekräftigt habe.
Das Milttärgefetz
hat auf die politische Lage Europa's, auf das Verhältniß der großen Militärmächte zu einander bereits schwerwiegenden Einfluß
geübt, ehe
auf Grund desselben die deutsche Armee auch nur um eine Compagnie
vermehrt wurde.
Und diese Wirkung wird, soweit Frankreich in Betracht
kommt, keineswegs dadurch abgeschwächt, daß fast gleichzeitig mit der Vollen
dung der französischen Heeresorganisation der eiserne Festungsgürtel in der Hauptsache wenigstens vollendet worden ist, mit dem Frankreich seine Ostgrenzen gegen eine neue Invasion sicher zu stellen bestrebt ist.
Man
hat sich nicht damit begnügt, die Grenzfestungen auszubauen, zu erweitern
Die auswärtige Lage beim Jahreswechsel.
102
und zu vermehren; eine dreifache Kette von Festungen in engster Verbin dung mit den Eisenbahnen sperrt jetzt die Ostgrenze von Longwh bis
Belfort.
Deutschland aber hat keinen Grund, auf diese enormen Leistungen
der französischen Militärverwaltung mit besorgten Augen zu sehen.
In
Deutschland denkt niemand an einen Angriff auf den französischen Nach bar.
Wir können nur befriedigt sein, wenn das Gefühl erhöhter Sicher
heit gegen Angriffe von Außen die französische Nation gegen die Wieder
kehr der panikartigen Kriegsbefürchtungen sicherstellt, welche seit 1871 von Zeit zu Zeit ohne äußeren Anlaß wiederkehrten.
Die deutsche Politik hat
längst und gern auf die Anwendung des stolzen Wortes: Oderint, dum
metuant verzichtet, vorausgesetzt, daß die französischen Staatsmänner dar
auf verzichten, jede internationale Frage nur unter dem Gesichtswinkel der Revanchepolitik zu behandeln. Auch in dieser Hinsicht ist zweifellos eine Aenderung in dem Ver halten Frankreichs im Laufe des letzten JahreS eingetreten.
In dem
Maße als die aufregenden Erinnerungen der Kriegsjahre verblaßten, mußte
eine große Nation, welche doch hat
als den Wiedergewinn
auch noch andere dauernde Interessen
eines
Grenzgebiets,
auf
das
sie
keinen
Rechtstitel hat als den der Eroberung, es unerträglich finden, die Rolle
deS gänzlich Unbethetligten zu spielen.
Die Politik Englands auf und
fett dem Berliner Congreß hatte Frankreich zu dem Bewußtsein gebracht,
daß seine Politik des absoluten „dösintöressement“ in den internationalen Fragen
eine
mindestens
bedenkliche sei,
daß
Andere
kein
Bedenken
tragen würden, den Platz zu occupiren, den eS selbst anzunehmen ver schmähte.
AuS dieser schiefen Stellung gab eS nur einen mit der Erhal
tung des Friedens verträglichen Ausweg: die Pflege der den Staaten
Mttteleuropa'S gemeinsamen Interessen in Gemeinschaft mit Deutschland und dem diesem verbündeten Oesterreich-Ungarn. Es gab freilich noch einen anderen Weg, um zur Geltendmachung des
französischen Einflusses in der europäischen Politik zu gelangen, wenn die Leiter der französischen Politik unter allen'Umständen entschlossen waren, die Hand deS Fürsten Bismarck zurückzuweisen.
Aber dieser Weg führte,
wenn auch auf einem Umwege zu einem neuen Kriege mit Deutschland. Solange Lord Beaconsfield an der Spitze der englischen Regierung stand, war freilich Frankreich einer Versuchung in dieser Richtung nicht ausge
setzt, da England unter der Herrschaft der Tories an der Hoffnung fest hielt, das deutsch-österreichische Bündniß seinen Interessen im Orient nutzbar
zu machen.
Ein Bündniß Frankreichs und Rußlands war eine Unmög
lichkeit, da dasselbe unter allen Umständen seine Spitze zugleich gegen England und gegen Deutschland-Oesterreich gekehrt hätte.
Der'Sturz
Lord Beaconsfield'S führte sofort zu einer völligen Verschiebung der Lage.
Gladstone, von dem man nicht weiß, ob seine Antipathie gegen Oesterreich oder gegen Deutschland größer ist, beeilte sich, Frankreich auf daS Glatteis der griechischen Frage zu führen. Daß der Versuch mißlang, ist bekannt.
Daß er mißlingen konnte,
obgleich Gambetta daS griechische Abenteuer für ganz geeignet hielt, der
französischen Nation das volle Bewußtsein ihrer Kraft wiederzugeben, ist
charakteristisch für die innere Lage deS Landes. Präsident Grövh hatte im December 1879 nur nach langem Widerstreben in den Rücktritt Wad
dingtons und die Bildung des Ministeriums Frehcinet eingewtlligt, weil er bei der Zusammensetzung des Senats in der Bildung eines Ministeriums, in welchem die im Senat den Ausschlag gebende Partei — das linke
Centrum — gar nicht vertreten war, den Keim unheilvoller Zerwürfnisse erblickte; vor allem aber weil er fürchtete, daS Ministerium Frehcinet
werde sehr bald durch ein radikales Cabinet abgelöst werden.
Gr^vy gab
erst nach, als Gambetta sich verbindlich machte, daS Ministerium Frehcinet
„jusqu’au bout“ zu unterstützen.
Leider erwies sich der Conseilpräsident,
der zugleich daS Portefeuille deS Auswärtigen inne hatte, dieser Unterstützung nicht würdig.
Kaum wurden die Unterschriften deS Schlußprotokolls der
Berliner Conferenz über die griechische Grenzfrage trocken, so entbrannte zwischen der auS der Umgebung des Kammerpräsidenten inspirirten Presse und den Blättern, die ihre Informationen aus dem auswärtigen Amt be
zogen, ein heftiger Krieg.
Die Organe des auswärtigen Amts wendeten
sich an den englischen „Verbündeten" mit der bündigen Erklärung, daS
französische Volk sei nicht gewillt, sich auf orientalische Abenteuer einzu lassen und in der griechischen Frage Herrn Gladstone die Kastanien auS dem Feuer zu holen.
Und es fand sich,
daß Frehcinet die Auffassung
der weit überwiegenden Mehrheit der Nation vertrat.
Der
Minister
deS Auswärtigen hatte sich in dieser Frage freilich der Unterstützung der jenigen Partei zu erfreuen, welche in der inneren Politik die Minister wie
Gambetta mit gleichem
Hasse verfolgte:
der Radikalen nämlich,
die
Gambetta als Opportunitätspolitiker auf das Äußerste verfolgten, obgleich gerade er eS gewesen, der durch seine Rede vom 20. Juli das Ministerium
gezwungen hatte, den an dem Communeaufstand Betheiligten volle Amnestie
zu gewähren und dadurch der von den Radicalen seit Jahren betriebenen
Agitation ein Ende zu machen.
Gambetta selbst hatte schwerlich gehofft,
durch diese Maßregel die Radicalen zu versöhnen.
Aber daS Wtederer-
scheinen all' der fragwürdigen Gestalten auS den Tagen der Pariser Com
mune kam nicht der Politik des Kammerpräsidenten, sondern derjenigen des Präsidenten Grsvh zu Gute, und zwang die gemäßigten Elemente der
Die auswärtige Lage beim Jahreswechsel.
104
das Ministerium zu unterstützen.
republikanischen Partei,
Unglücklicher
Weise wurde Herr Freyctnet das Opfer der römischen Diplomatie; deren
Doppelzüngigkeit der belgische Minister Fr^re- Orban eben erst in scho nungslosester Weise enthüllt hatte.
Frehcinet ließ sich
auf Unterhand
lungen mit der Curie ein, welche die Ausführung des MärzdekretS gegen die nicht autorisirten Congregationen überflüssig machen sollten; in Wirk
lichkeit aber nur dazu führten, den zutraulichen Minister in unheilbarer
Weise zu compromittiren.
DaS war der Hebel, dessen Gambetta sich be
diente, um den auswärtigen Minister zu beseitigen, der es gewagt hatte,
dem Commandanten der französischen Flottenabtheilung, welche zu der internationalen Flottendemonstration abgesandt wurde, die Instruction zu ertheilen, unter keinen Umständen an einer militairischen Action theilzu nehmen.
Vielleicht aber hätte Gambetta dieses Verbrechen noch eher ver
ziehen, als daß Frehcinet es wagte, gegen seine am 9. August bei dem
Festpunsch deS Cercle de commerce et de l’industrie in Cherbourg ge
haltenen Rede öffentlich zu Protestiren.
Wenn die Rede von Cherbourg
nicht ein vorbedachter Appell an die Revancheideen war, so wirkte sie we nigstens als ein solcher. Gerade die Wendungen, welche in diesem Sinne
verstanden werden konnten, wurden von der Versammlung mit frenetischem Beifall ausgenommen.
„Der große Ersatz, sagte Gambetta u. a., kann
nur auS dem Recht hervorgehen; wir oder unsere Kinder können sie er
hoffen, denn die Hoffnung auf die Zukunft ist Niemandem untersagt."
Und weiter: „Wenn unsere Herzen schlagen, so schlagen sie nicht für ein düsteres Ideal blutiger Abenteuer; sondern sie schlagen, damit das, waS
von Frankreich übrig geblieben, ganz bleibe, und damit wir auf die Zukunft rechnen können, um zu erfahren, ob eine den Dingen innewohnende Ge rechtigkeit, die ihren Tag und ihre Stunde hat, besteht." Die Versamm lung in Cherbourg applaudirte; aber Frankreich erzitterte bei dem Ge
danken an das Ideal blutiger Abenteuer, welches Gambetta beschworen hatte.
Acht Tage später sagte Präsident Grsvh in seiner Ansprache an
den Maire von Dijon:
„Wir lassen uns weder zur Ungeduld, noch zur
Gewaltthätigkeit Hinreißen; die glückliche Aera, in die wir eingetreten sind,
wird sich nicht schließen".
Und am 20. August hielt Herr von Frehcinet
bei dem Bankett in Montauban eine Rede, in der er zunächst gegen die „beunruhigenden Gerüchte" protestirte und über die auswärtige Lage sich also vernehmen ließ: „Frankreich ist auS der Jsolirung herausgetreten,
in welche uns die Ereignisse versetzt hatten, und eS hat seinen Platz in
der allgemeinen Politik wieder eingenommen.
Aber die Distanz von da
bis zu einer abenteuerlichen Politik ist groß und wir werden sie nicht
überschreiten."
Vier Wochen später hatte Herr von Frehcinet aufge-
hört, Ministerpräsident und Minister deS Auswärtigen zu sein, aber sein Nachfolger war nicht ein Vertrauter Leon Gambetta'S, nicht Challemel Lacour, der sich auf dem Londoner Botschafterposten durch die LebenSgewohnheiten eines Pariser Libertins nahezu unmöglich gemacht hatte, sondern der greise Barthslemy St. Hilaire, weiland CabinetSrath deS Präsidenten ThterS, der erste französische Minister seit 1870, der es bis
jetzt ungestraft gewagt hat, öffentlich seiner Bewunderung für den deutschen Reichskanzler Ausdruck zu geben. ES muß zur Zeit unentschieden bleiben,
ob Gambetta'S Einfluß in der That zurückgedrängt ist oder ob er nur klug lavirt, so lange die Zeit der Neuwahlen und seine Zeit noch nicht gekommen ist.
Für beide Annahmen lassen sich eine Reihe von Argu
menten beibringen;
aber daS Eine ist zweifellos: die Politik Grövh'S
wird von der Majorität des Landes, wie sie sich zuletzt bet den GeneralrathSwahlen am 1. Aug. 1880 documentirt hat, rückhaltlos gebilligt. Die
Neuwahlen zur Deputirtenkammer sind bis zum Herbst d. I. verschoben; Ende deS Jahres oder spätestens Anfang 1882 folgt die thetlweife Er
neuerung des Senats, welche nach dem Resultat der letzten GeneralrathSwahlen zu urtheilen, der republikanischen Regierung auch hier die Ma jorität sichern wird.
Eine Candidatur Gambetta'S gegen Grövy und in
der offenbaren Absicht, den Präsidenten, dessen Mandat erst im Jahre
1886 abläuft, vor der Zeit zu beseitigen, könnte bei der jetzigen Sachlage nur dann einen Sinn haben, wenn es sich darum handelte,
„der den
Dingen innewohnenden Gelenkigkeit" nachzuhelfen oder wenn Präsident Grsvy in den Reibungen, welche bet dem Uebergewtcht der entschieden
republikanischen Majorität in der Deputirtenkammer und der von dem linken Centrum abhängigen Majorität deS Senats unvermeidlich sind,
seine Popularität einbüßen sollte.
Indessen habeZ gerade die Vorgänge
der letzten Session erkennen lassen, daß ein mäßiger Grad von Klugheit auf der Einen, von Patriotismus auf der Andern Seite genügt, zu ver
hindern, daß diese Reibungen in offenen Kampf ausarten, bei dem der Senat trotz der Stärkung der gemäßigten Strömung, welche die noth wendige Folge des wüsten Treibens der Radikalen ist, den Kürzeren ziehen
müßte.
Angesichts der Entwickelung der inneren Politik, wie sie hier in Kürze gekennzeichnet worden, ist es verständlich, daß Frankreich, nachdem eS, wie Herr von Freycinet sich auSdrückte, aus seiner Jsolirung hervorgetreten
war, sich genöthigt sah, seine Stellung im europäischen Concert an der Seite Deutschlands zu nehmen.
Die nothwendige Consequenz war die
Jsolirung Gladstones. Die Niederlage der Gladstone'schen Politik, wie sie sich in der ftied-
Die auswärtige Lage beim Jahreswechsel.
106
lichen Lösung der Dulcigno-Frage dokumentirte, wäre fteiltch auch dann nicht zu vermeiden gewesen, wenn die Politik der englischen Regierung sich
unabhängiger von derjenigen seines französischen Nachbars hätte bewegen
können.
Als die Entwickelung der Dulcigno-Frage kriegerische Even
tualitäten im Orient in den Vordergrund rückte,
mußte Gladstone eS
erleben, daß selbst seine Freunde an dem Beruf Englands,
Geld und
Blut für die Demüthigung der Türkei einzusetzen, irre wurden.
Bei den
Neuwahlen im letzten Frühjahr hatten die Liberalen mit großem Erfolg Lord Beaconsfield vor den Wählern angeklagt, daß er durch seine Politik
England der Gefahr eines Krieges mit Rußland aussetze; als wirksamstes Argument hatte sich die Ausdeutung erwiesen, daß Lord Beaconsfield die englische Politik der freien Hand durch ein Bündniß mit Oesterreich zu opfern gewillt sei.
Jetzt schien ein Krieg gegen die Türkei im Einver-
ständniß, wenn nicht im Bunde mit Rußland in Aussicht, der auf alle
Fälle den russischen Interessen auf der Balkanhalbinsel zu Gute kommen mußte.
Schon damals wäre die Stellung Gladstone's eine sehr precäre wenn nicht der rechte Flügel der liberalen Partei, die alten
geworden,
WhiggS die Allianzvorschläge der TorieS zurückgewiesen hätten. Der Eindruck der moralischen Niederlage der englischen Orientpolitik
wurde indessen sehr bald paralhsirt durch die rapide Verschlimmerung der irischen Zustände. Die irische Frage ist so alt, wie die englische Herr schaft über die grüne Insel; sie wird auch nicht von der Tagesordnung
verschwinden, solange eS der Gesetzgebung nicht gelingt, der Landbevölke
rung ein wenn auch beschränktes Recht auf Grund und Boden einzu
räumen.
Alle Versuche der letzten Jahrzehnte, die irische Frage einer
Lösung entgegenzuführen,
englischen Ausnutzung
erwiesen sich
Großgrundbesitzes des
irischen
Schranken gesetzt werden.
sollte
als erfolglos;
nicht
„ Pächters"
angetastet;
aber
durch
Recht des
das
der
willkürlichen
schützende
Die Bill vom Jahre 1870,
Cautelen
deren Urheber
Gladstone war, hatte daS in der Nordprovinz Irlands, Ulster unter den
dort angesiedelten Pächtern englischer und schottischer Abkunft bestehende Gewohnheitsrecht,
kraft dessen die Grundherren den Pächtern ein be
schränktes MitbesitzungSrecht an Grund und Boden,
oft bis zu einem
Viertel deS Betrages des Bodenwerthes und für den Fall der Kündigung
des Pachtvertrages einen Anspruch
auf Geldentschädigung
hatten, auf das ganze Land ausgedehnt.
eingeräumt
Zugleich wurde den Pächtern
ein Recht auf Entschädigung für alle Verbesserungen zugesprochen, welche sie auf dem Pachtgrlinde eingeführt hatten.
Ausgenommen blieb nur der
Fall, daß die Kündigung des Pachtvertrages in Folge der Nichtzahlung
des Pachtgeldes erfolgte. Die Gladstone'sche Bill vom Jahre 1880 wollte
diese Clausel beschränken durch die Bestimmung, daß die Entschädigung
dem Pächter auch dann zustehe, wenn er nachweise, daß seine Zahlungs unfähigkeit die Folge einer Mißernte sei. die Bill ab.
Das Oberhaus lehnte aber
Mr. Gladstone hatte, als er zur Herrschaft gelangte, auf
die Erneuerung des Gesetzes zur Erhaltung des Friedens in Irland ver zichtet, vielleicht in der Hoffnung, auf die Großgrundbesitzer in Irland einen Druck auszuüben.
Das Votum des Oberhauses goß natürlich Oel
in'S Feuer der agrarischen Bewegung.
Unter der Herrschaft der Land-
ligä, die nach Art der mittelalterlichen Vehmgertchte jeden Pächter be droht, der eS wagt, die Pacht zu entrichten, ist die letzte Spur von Sicher
heit der Person und des Eigenthums in Irland ausgetilgt.
Aber die
Führer der Bewegung haben bis jetzt den Ausbruch eines offenen Auf standes verhindert, in der richtigen Berechnung, daß die Regierung nach
gewaltsamer Wiederherstellung der Ruhe im Stande sein würde, durch
Einführung des Rentenshstems die zu Boden
liegende Landbevölkerung
zur Wiederübernahme des alten Jochs zu zwingen.
Die AuSnahmemaß-
regeln, welche die neueste Thronerbe in Aussicht stellt, werden schwerlich hinreichen, den Bann der Landltga zu brechen, aber so lange diese das Heft in der Hand hat, werden die „Pächter" weder Pacht noch Rente
zahlen, mag die letztere auch noch so mäßig sein. Zu den irischen Verlegenheiten gesellte sich in den letzten Monaten deS Jahres der Aufstand der Basuttos in Südafrika und last, not least, die Empörung der von holländischen Bauern im Jahre 1848 gegründeten
Transvaal - Republik, welche im Jahre 1877 unter dem wohlklingenden
Vorwande der Gründung einer südafrikanischen Conföderatton im Interesse
deS Christenthums und der Civilisation den englischen Besitzungen einver leibt worden ist.
Wie wenig die liberale Regierung daran denkt, diese
Maßregel wieder rückgängig zu machen, zeigt die Erklärung der letzten
Thronrede, der Aufstand im TranSvaal-Lande müsse nothwendiger Weise eine Vertagung der Absicht der Regierung zur Folge haben, den europäi schen Colonisten vollständige locale Autonomie ohne Benachtheiligung der
Interessen der Eingeborenen (sic!) zu gewähren. Dagegen verkündet die Thronrede den definitiven Entschluß der Re gierung, auf die letzte Position, welche England auf Grund deS Friedens
von Gundamak noch in Afghanistan inne hat, auf Candahar zu verzichten,
da ihr die Opfer, welche die Fortdauer der Besetzung fordert, und die
Gefahr neuer Kämpfe gegen die kriegerischen Stämme Afghanistan'S mit
den Interessen, welche England in diesem Vorlande Indiens zu wahren hat, nicht im Einklänge zu stehen scheinen.
freiwillige
Rückzug
der
englischen
Auf alle Fälle wird dieser
Truppen das Prestige
der
engli-
Die auswärtige Lage beim Jahreswechsel.
108
schen Macht in Mittelasien und vielleicht auch in Indien nicht gerade er höhen.
So ist die englische Macht in Europa, in Afrika und in Asien auf
die Defensive zurückgedrängt und nur die finanzielle und politische Schwäche Rußlands wird diesen Rivalen verhindern, die günstige Gelegenheit zur
Wiederaufnahme seiner orientalischen Pläne zu benutzen. Um 'so günstiger ist die Lage für eine endliche Lösung der letzten Frage, welche den Frieden der Türkei und in Folge dessen auch Europa'S bedroht: der griechischen Grenzfrage, zu deren Lösung wiederum Frankreich, dieses Mal im Einverständniß mit Deutschland und Oesterreich-Ungarn,
durch den Vorschlag einer schiedsrichterlichen Entscheidung die Initiative ergriffen hat.
k.
Notizen. Die
jüdische
Einwanderung
densein einer regelmäßigen jüdischen bis
vor Kurzem
fast
allgemein
als
I. G. Hoffmann theilte diese Ansicht.
Bewegung noch:
in Deutschland.
Das
Einwanderung von Osten
unzweifelhaft
betrachtet.
Vorhan
her wurde Nicht
blos
Auch der amtliche „Rückblick auf die
der Bevölkerung im preußischen Staate von 1816—1874" sagt
„Die jüdische Bevölkerung im preußischen Staate vermehrt sich großen-
IheilS durch Einwanderung, und zwar aus dem russischen Reiche und der öster reichisch-ungarischen Monarchie." sache kaum bestritten.
Selbst in jüdischen Kreisen wurde die That
Der streng-jüdische Verfasser des Sendschreibens „Das
Judenthum und seine Aufgaben im neuen Deutschen Reich" (Leipzig 1871) for
derte (S. 20) „Beseitigung deö jüdischen Proletariats auf der ganzen
Erde,
insbesondere aber in den mit ihrem Schnorrerthum jetzt Deutschland über schwemmenden osteuropäischen Ländern der Halbcultur". Neuerdings hat eine Schrift von Dr. S. Neumann, unter dem zuversichtlichen Titel „die Fabel von der jüdischen Maffeneinwanderung" (Berlin 1880), diese Ansicht zu widerlegen
versucht.
Der Verfasser giebt zu, daß in Preußens alten Landestheilen im
Jahre 1871 unter je 100,000 Einwohnern etwa hundert Juden mehr wohnten
als im Jahre 1822; er weist sodann nach, daß diese starke Vermehrung noch
zurückbleibt hinter dem Ueberschusse der jüdischen Geburten, und schließt daraus, daß der jüdischen Einwanderung in Preußen eine noch stärkere jüdische Aus
wanderung gegenüberstehen müsse.
Nach seinen Tabellen sind in den Jahren
1843—71 aus Preußen 36,702 Juden mehr ausgewandert als eingewandert; der Ueberschuß der Auswanderung betrug also im Jahre etwa 1265 Köpfe.
Bis hierhin ist dem Verfasser sein Beweis gelungen. absolute Zahl der jüdischen Ein- und Auswanderer?
Wie groß war aber die Auf diese Frage weiß
Herr Neumann nur durch Vermuthungen zu antworten, da die amtliche Statistik das Glaubensbekenntniß der Ein- und Auswanderer nicht mehr angiebt.
Und
doch kommt auf diese Frage schlechthin Alles an; denn die socialen Wirkungen
einer starken fremdländischen Einwanderung werden durch das Wiederabströmen der Zugezogenen nicht aufgehoben; es liegt vielmehr auf flacher Hand, daß die
jenigen Elemente des Judenthums, welche Deutschland nach Verlauf einiger Jahre wieder verlassen, am wenigsten geneigt sein werden sich zu germanisiren. —
Meines Wissens hat bisher nur eine deutsche Stadt, Leipzig, diese verwickelten
socialen Verhältnisse einer genauen statistischen Beobachtung gewürdigt: und hier
110
Notizen.
ergeben sich Zahlen, welche keineswegs geeignet sind, die Annahme einer regel
mäßigen jüdischen Einwanderung aus Osteuropa als eine „Fabel" erscheinen zu lassen.
Im Jahre 1875 lebten in Leipzig 2551 Juden.
Von diesen waren
nur 527 — 20,5 % in Leipzig geboren (außerdem noch 27 in anderen Theilen des Kgr. Sachsen); dagegen 160 in Schlesien, 201 in Posen, endlich 704 in
Rußland, Oesterreich-Ungarn und anderen Ländern Osteuropas (241 in Galizien,
237 in Rußland u. s. f.).
Also mehr als ein Viertel (an 28%) der jüdischen
Bevölkerung Leipzigs ist aus Osteuropa eingewandert.
Und der weitaus größte
Theil dieser Einwanderer muß erst während der jüngsten Jahre zugezogen sein; denn die Leipziger jüdische Gemeinde zählte im Jahre 1847 erst 33 selbständige
Mitglieder, im Jahre 1877 aber 310.
der Stadt Leipzig XI, 40.
(Mittheilungen des statistischen Bureaus
Hasse, die Stadt Leipzig 1878.
S. 149.)
Die
Dinge liegen durchaus nicht so einfach wie Herr Neumann und seine liberalen Bewunderer glauben.
Wir bedürfen noch umfassender statistischer Erhebungen,
bevor die Angelegenheit spruchreif werden kann. H. v. T.
Verantwortlicher Redacteur:
H. v. Treitschke.
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Bernhardi, von Th., Vermischte Schriften. Zwei Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Bände.
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Gneisenau. Vierter Band. 1814.1815. Fünf ter (Schluß-) Band. Don Hans Delbrück. Fort setzung des gleichnamigen Werkes v. G.H.Pertz. a Mk. 10. broch., Mk. 11 geb.
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Voigt, G., die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Hu manismus. In zwei Bänden. Erster Band. Zweite umgearbeitete Auflage. Preis: Mk. 8
Rüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm in. 1798-1823*). Am 16. November 1797 war Friedrich Wilhelm III. seinem Vater in der Regierung gefolgt.
Die Rheincampagne hatte ihm vielfach Ge
legenheit geboten den General v. Rüchel kennen zu lernen und hatte dieser
während der Belagerung von Landau unter seinem speciellen Befehl ge standen.
Die Tüchtigkeit, wie der grade, offne Sinn des vielerfahrenen
Mannes hatten den jungen Fürsten so sehr für denselben eingenommen,
daß wir Rüchel schon zu Anfang des Jahres 1798 in des Königs Nähe finden.
Es ist bekannt, wie schwierig di» Verhältnisse waren, so wohl nach außen wie nach innen, unter denen Friedrich Wilhelm III. den Thron
bestieg.
Statt eines gefüllten Schatzes, wie Friedrich II. ihn seinem Nach
folger hinterlassen hatte, überkam er eine bedrückende Schuldenlast, die
jede freie Bewegung hemmte.
Dem Reiche waren nicht allein Provinzen
verloren gegangen, sondern unklare Verhältnisse und Verwicklungen aller
Art verdunkelten den politischen Horizont. ES fehlte dem jungen König, der erst 27 Jahr war, weder an dem
redlichen Willen, noch an der Begabung für seinen Beruf.
Er besaß
einen sichem Blick und fand leicht die richtigen Mittel und Personen her
aus, wo er sich selbst vertrauend, einen eignen Entschluß faßte.
Sein
edleS Herz, voll Liebe für seine Unterthanen, war ganz dazu geschaffen ihn
zum Vater deS Vaterlandes zu machen, als welchen er noch jetzt in dank barer Erinnerung in seinem Volke fortlebt. Aber eine Erziehung, die ihn nicht genügend zu der hohen Stellung,
für die er berufen war, vorbereitet hatte, die Entfernung von allen Ge
schäften, in der er während der Lebenszeit seines Vaters absichtlich von dessen zum Theil unwürdigen Rathgebern gehalten, ward, hatten diese
vortrefflichen Eigenschaften mangelhaft entwickelt.
Bei seiner WahrheitS-
*) cf. Preußische Jahrbücher Bd. 44 Heft 6, Bd. 45 Heft 1 und 2. Preußische Jahrbücher Bd. XLVII. Heft 2.
8
112
Rllchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798 —1823.
liebe, die ein Hauptzug seines Charakters war, und welche er auch da
nicht verleugnete, wo es die Beurtheilung seiner selbst galt, fühlte er deutlich, was ihm fehlte.
schlossenheit,
DaS gab ihm eine Unsicherheit und Unent
die ihn mehr,
als dies
für daS Heil deS Vaterlandes
wünschenswerth war, auf die Rathschläge seiner Umgebung hören ließ.
Auch fehlte eS ihm an dem nöthigen Selbstvertrauen, welches ein Regent nicht wohl entbehren kann.
ES blieb erst den Jahren deS Leidens und
der Kämpfe Vorbehalten, seinen Charakter zu entwickeln und zu stählen und ihn zu dem zu machen waS er später war. Friedrich Wilhelm III. begann sogleich nach Antritt seiner Regierung, die ihm unumgänglich nothwendig scheinenden Verbesserungen, ohne, daß
ein Wechsel in dem Regierungsshstem eintrat, wie man erwartet hatte. In so kriegerischen Zeiten war eS natürlich, daß er zunächst seine
Fürsorge der Armee zuwandte und für diese Aufgabe suchte er mit Vor liebe Rüchels Rath und Hülfe, wie wir auS verschiednen Gutachten und
andern Schriftstücken ersehn, die sich unter den nachgelassenen Papieren
deS Generals befinden.
ES ist unter anderm eine Instruction vorhanden
auS den ersten Monaten, nachdem der Thronwechsel stattgefunden hatte, welche Rüchel im Auftrag deS Monarchen für eine Commission entworfen, die unter dem Vorsitz deS Marschall von Möllendorf zusammentreten sollte
um „Allerhöchst seine (deS Königs) Ideen über die Verbesserungen in der Armee" zu prüfen.
Das Memoire, das,
wie aus der Aufzeichnung RüchelS zu ent
nehmen ist, ganz von des Königs eigner Hand geschrieben gewesen sein muß, ist leider nicht mehr vorhanden, würde indeß auch wahrscheinlich,
gleich der vorliegenden Instruction,
von zu ausschließlich militärischem
Interesse sein, um an diesem Ort mitgetheilt werden zu können. Rüchels Garnison war seit dem Januar 1798 Potsdam, wo der
König ihn zum Chef des Regiments Garde, zum Commandanten des ge dachten OrteS und zum Inspecteur der dazu gehörenden Armee-Jnspection ernannt hatte.
Die Trennung von seinem alten Regiment wurde ihm
schwerer, als die von Anklam selbst, wo er so wenig heimisch gewesen
war, daß seine Familie nie dort einen bleibenden Aufenthalt genommen hatte. Von der Verehrung die seine Kriegscameraden ihm zollten, zeugt eine große, sehr schön geprägte, goldene Medaille, welche ihm bei seinem
Abgänge zur Erinnerung eingehändigt wurde. Sie zeigt auf der Vorderseite RüchelS Brustbild mit der Umschrift
Ernst, Wilhelm Philipp von Rüchel König!. Preuß. General Major auf
der Rückseite den Römer CurtiuS, der sich, um die Götter mit seiner
Vaterstadt zu versöhnen in den Abgrund stürzt, mit der Umschrift: „den
Tod für's Vaterland nicht scheuend", und darunter „Opfer der Liebe seines
ehemaligen Regiments"*). Noch hatte er erst kurze Zeit die ihm von deS Königs Huld über tragene neue Stellung bekleidet, als ihm, zugleich zum General Lieutnant ernannt, das ganze Militär-BildungSwesen unterstellt ward.
Die Leitung
der militärischen Erziehungsanstalten hatte er, wie vor dem Kriege, so auch gleich nach seiner Heimkehr aus demselben, noch in Anklam stehend,
übernommen. Dies geht aus verschiedenen vorhandenen Aktenstücken hervor.
Diese Thätigkeit entsprach so sehr RüchelS Begabung und Neigung, daß seine Bemühungen hier bald mit dem größten Erfolg gekrönt wurden.
Unter seiner Leitung erhob sich die schon von Friedrich dem Großen ge stiftete Ecole militaire, zu einer Akademie der KrtegSwifsenschasten.
Auch sonst ließ er sich die Weiterbildung der jungen Officiere ange legen sein, in Anschluß an die Aufgaben aus seiner ersten Dienstzeit. Rüche! pflegte während seines Aufenthaltes in Potsdam mehrere Mal
wöchentlich einen Kreis talentvoller junger Cameraden um sich zu ver sammeln, denen er Vorttäge über Kriegskunst hielt, und die er auf alle mögliche Weise zu eignem Forschen und Studieren ermunterte.
CS galt
für eine besondere Auszeichnung, dieser Bereinigung anzugehören, aus welcher, wie zugleich aus den auf seine Anregung gebildeten FüsilierRegimentern, wie man
behauptet, die hervorragendsten Officiere der
Armee später hervorgegangen sind. In wiefern Rüche! auch mit der Stiftung der militärischen Gesell
schaft in Zusammenhang stand, muß hier unentschieden bleiben, aus Mangel an authentischen Nachrichten.
Gewiß ist, daß er 1803 Präses derselben
gewesen ist, denn eS befindet sich unter seinen Papieren eine Rede, die er als solcher an dem ersten Jahrestag ihrer Stiftung, am 24. Januar
gedachten Jahres, gehalten hat. die Wahl des 24. Januars,
Sie muß also 1802 entstanden sein und
Friedrichs des Großen Geburtstag, läßt
mindestens auf eine Mitwirkung RüchelS dabei schließen. Einen treuen und überaus begabten Mitarbeiter auf diesem Felde seiner Thätigkeit hatte er an Scharnhorst, dessen Uebertritt in den preu
ßischen Dienst, ebenso wie die Berufung zum Director der Ecole militaire er veranlaßt hatte. Diese beiden bis an ihren Tod eng verbundenen Männer
halfen so die Armee für die kommende Epoche mit tüchtigen Heerführern
versorgen. Mehrere Briefe, der Ueberrest einer großen Anzahl, zeugen von dem
nahen Verhältniß, in dem sie zu einander gestanden, wie von der wachsen« *) Ist im Besitz der Familie.
Rüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798—1823.
114
den Vertraulichkeit der beiden gleichaltrigen Männer, die mehr und mehr
den Rangunterschied in den Hintergrund treten ließ.
Diese Briefe hier
abzudrucken, wird deßhalb unterlassen, weil sie wie andere auS den Rüchel-
schen Papieren, in einem Heft „AuS RüchelS Nachlaß"*) (1878 Berlin. Fr. Schneider) der Oeffentlichkeit übergeben sind, auf das wir verweisen.
Als Commandant von Potsdam wird RüchelS Einfluß auf die Garnison
von seinen Zeitgenossen rühmend erwähnt.
Er soll eS in seltenem Maße
verstanden haben, einen ächten kriegerischen Geist zu wecken, den Geist
der Zucht und der Ordnung zu pflegen. Die
von
Frankreich
störende Einwirkung
ausgehende
Zeitströmung
blieb
nicht
ohne
auf das Verhältniß zwischen Militär und Civil.
Die Excesse zwischen beiden mehrten sich in erschreckender Weise.
solchen Gelegenheiten griff Rüchel mit eiserner Strenge durch.
Bei Nicht
blos der bürgerliche Angreifer wurde bestraft, auch der Soldat, wenn er nicht rücksichtslos die Ehre des Postens, für die er aufzukommen hatte,
vertheidigte.
Ueberhaupt war Rüchel, wie wir das schon früher wäh
rend des Krieges sahen, so auch jetzt im Frieden streng innerhalb des Dienstes; meinte aber deßhalb um so freundlicher und nachsichtiger außer
halb desselben sein zu können, so daß dann das kameradschaftliche Ver
hältniß ganz in den Vordergrund trat.
Einen schnellen sichern Blick zeigte er im Erkennen fähiger Leute und benutzte dann seinen ganzen Einfluß, die Wege solcher zu ebnen.
Den
meisten der später berühmt gewordenen Männer hat er in dieser Art
seinen Beistand geliehen.
Von Scharnhorst hörten wir eS schon; Gnei-
senau**) spricht es selbst auS in einem Brief an Rüchel, wie viel er ihm verdankt.
Sehen wir die Listen seiner früheren Adjutanten, der Männer
die sonst in seiner Umgebung waren, durch, so begegnen wir lauter be kannten, ja berühmt gewordenen Namen.
ES machte für ihn keinen
Unterschied, weß Standes sie waren, obgleich er selbst für seine Person den Vorzug nicht unterschätzte, einem Geschlecht anzugehören, welches eine alte ruhmreiche Geschichte hatte und der Nachkomme solcher zu sein, die
in langer Reihe treue Diener der Krone gewesen waren. RüchelS bekannte Freigebigkeit vermehrte sein Ansehn und versöhnte auch Potsdams Bürger, bei denen er mehr gefürchtet als beliebt war,
mit dem sonst so strengen Commandanten.
Er gab, so lange er hatte,
und oft so reichlich, daß er selbst dadurch in Verlegenheit gerieth.
ES
wird erzählt, daß einst seine Gemahlin, nicht lange nachdem er sein Ge*) Leider sind diese, wie viele andere Briefe in Fonque'S Händen verloren gegangen, ohne daß er sie zur Bearbeitung seiner sehr lückenhaften Biographie benutzt hätte. **) Vergleiche da« oben angeführte Heft „AuS Rüchel» Nachlaß".
Nüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798 — 1823.
115
halt empfangen hatte, sich zu ihm begab um den ihr für die Haushaltung bestimmten Theil zu holen.
Lachend zeigte er ihr die leere Schatulle.
Als er das bedenkliche Gesicht, der bis in ihr hohes Alter für unge wöhnlich ordnungsliebend und tüchtig geltenden Hausfrau sah, sagte er
mit freundlich bittendem Blick und bewegter Stimme:
„Ma chere, ich weiß, du findest Rath, aber eS wurde mir von so vielen hungernden Kindern erzählt, daß eS mir war, als hätte ich ihnen
das Brod von dem Munde gestohlen, da ich der Rollen Geldes gedachte, die mir eben ausgezahlt waren."
Dies trug sich 1805 zu, wo eine so große Theuerung der nöthigsten Lebensbedürfnisse im Lande war, daß außergewöhnliche Maßregeln, auch
von Seiten der Behörden, ergriffen werden mußten, um der Noth zu steuern.
Auch unter RüchelS Papieren finden wir eine CabinetSordre vom
23. Juni 1805 datirt, die in Folge eines hierauf bezüglichen Antrags
RüchelS ertheilt ist.
ES handelt sich um Beschaffung von Kornbedarf für
die ihm untergebenen Anstalten, ebenso für die Einwohnerschaft Potsdams. Trotz seines lebhaften Temperaments und seiner angebornen Heftig
keit, die ihn weniger bei großem Verdruß als bei kleinem Aerger über
mannte, soll Rüche! nicht leicht die Grenzen, welche das persönliche Ehr
gefühl eines Cameraden, auch des jüngsten Fähnrichs, einzuhalten gebot, überschritten haben.
Wenn es dennoch einmal geschah, war er sogleich zu
jeder Genugthuung bereit.
Meist genügte bei solcher Gelegenheit eine
Entschuldigung wegen der großen Verehrung, die er genoß. Für Potsdams Geselligkeit soll das Haus des Commandanten einen alles belebenden Mittelpunkt gebildet haben.
Hier waltete an der Seite
des Gemahls die treue, sorgsame Hausfrau, die in seltener Begabung eS
jedem Gaste heimisch und behaglich zu machen verstand; und ihre beiden lieblich Heranwachsenden Töchter vermehrten in jugendlicher Heiterkeit die Anziehungskraft des nach den verschiedensten Seiten hin ausgezeichneten
Kreises, der den General umgab. Er selbst war stets der liebenswürdigste Wirth und Gesellschafter.
Nie soll er einen Verdruß aus seiner amtlichen Stellung mit hinüberge nommen haben in den häuslichen Verkehr.
Auch verschwand hier jeder
Rangunterschied und dennoch umgab ihn eine ruhige Würde, die eS auch
solchen,- denen eS sonst vielleicht an dem nöthigen Tact gebrach, erleichterte, die passenden Schranken einzuhalten.
So wenig es Rüchel seinen Vorgesetzten gegenüber — und die längste Zeit seines Lebens hindurch war dies kaum ein Anderer wie nur der
König selbst — an der pflichtmäßigen Ehrerbietung fehlen ließ, so war er dennoch nicht für das Hofleben geschaffen.
Pertz in seiner LebenSge-
116
Rüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798—1823.
schichte von Stein sagt über Rüchel „ein kleiner, feuriger Mann, von
originellem Geiste, kräftigem, edlem und patriotischem Charakter, der bei mehr Nachgiebigkeit, Schonung und Gewandtheit, bei Zügelung seiner leicht bei Kleinigkeiten auflodernden Heftigkeit einen großen Einfluß auf
den König gehabt haben würde."
Steins Biograph mag mit diesem Ur
theil der Wahrheit nachgekommen sein, wenn auch der König dem Ge
neral, von dessen Treue und Hingebung er überzeugt war,
stets bei
Uebereilungen dieser Art, eine großmüthige Nachsicht bewiesen hat, der
Rüchel in dankbarer Liebe oft zu gedenken pflegte.
So lange er in des
Königs Nähe war, hat er auch des Königs Vertrauen besessen; erst als
Napoleons Wille ihn aus derselben verbannte, gelang es denen, die ihm
übelwollten, ihm dasselbe dauernd zu rauben, bis es bei RüchelS Be gegnung mit dem Könige in Berlin nach den Freiheitskriegen ihm wieder geschenkt wurde und einen Sonnenstrahl auf die letzten Tage deS durch
den Kummer vor der Zeit hinfällig gewordenen Greises warf. Seine besondere Gönnerin und Beschützerin war die Königin und es
hätte sich in mancher Beziehung Nüchels Schicksal wohl anders und schöner
gestaltet, wenn die hohe, vielbeweinte Frau nicht so früh ihrem Gemahl, ihren Kindern und ihrem Volk entrissen worden wäre.
Sie hat den König
wohl oft besänftigt, wenn des Generals ungestüme Art ihn mit Recht verletzt hatte oder ihm doch unbequem geworden war.
Denn auch auf
Rüchel hätten jene ehrenden Worte Anwendung finden können, Friedrich Wilhelm IV. über einen Edelmann
edler Mann war:
welche
äußerte, der zugleich ein
„Er hat die gute, alte Adelsmanier, seinem Könige,
seines Gleichen und seinen Untergebenen die Wahrheit nach bestem Wissen
zu sagen, sogar wenn man sie nicht gern hört*)." In Potsdam, wo die königliche Familie damals sich gern und oft aufhielt, war sie kein seltener Gast im Rüchelschen Hause.
DaS glück
liche Familienleben dort, dem eigenen so ähnlich, zog daS Herrscherpaar an und die königlichen Kinder fanden Jugendgenossen an den, freilich um einige Jahre älteren Töchtern des Generals.
Dieser Verkehr und dies Zusammensein muß sich namentlich dem Gedächtniß deS jungen Kronprinzen tief eingeprägt haben.
später gern von diesen Tagen und hat
Er erzählte
der ihren Vater überlebenden
jüngsten Tochter deS Generals eine warme Theilnahme bewahrt, welche
er auch auf deren Gemahl und selbst auf die der Ehe entsprossenen Kinder *) In einem eigenhändigen Brief dieses Königs an den General der Infanterie von Rüchel-Kleist, Schwiegersohn deS Helden dieser Erzählung. Derselbe starb 1848 als Gouverneur von Danzig geehrt durch das besondere Vertrauen seines könig lichen Herrn. Der Edelmann dem der Ausspruch Friedrich Wilhelm IV. gilt, ist Graf Dohna damals eommandirender General des 1. Armee-Corps.
übertrug.
Das Haus, in welchem früher der Commandant seine Dienst
wohnung hatte, ward später zu gleichem Zweck dem Oberpräsidenten von
Brandenburg eingeräumt.
lichen Veränderungen.
Es unterlag im Laufe der Zeit manchen bau
AIS nun Friedrich Wilhelm IV., nachdem er König
geworden, dort wieder ein ehrender Gast war, verlangte er, wie die Frau
Oberpräsident erzählt, den Balkon zu sehen, auf dem er in ftüherer Zeit
so häufig mit den beiden Fräulein von Rüchel gestanden habe.
Derselbe
war beinahe vergessen, und diente der Raum, der zu ihm führte, zum
Futtergelaß.
Endlich erkannte man nach des Königs Beschreibung die Lo
kalität. Die Vorstellungen der Dame waren vergeblich; der hohe Herr ließ
sich nicht zurückhalten und bahnt sich in der ihm eigenthümlichen, schnell
entschlossenen Art einen Weg über Haufen von aufgeschüttetem Hafer und allerhand Gerümpel.
Auf den Balkon heraustretend, stand der König
eine Weile in Gedanken verloren und sagte mit bewegter Stimme: „Eine schöne, fröhliche Zeit war es damals in Potsdam.
Lieblichere
Frauenbilder, als jene Mutter mit ihren Töchtern sah ich nie wieder.
Der General Rüchel war
ein glücklicher Mann, aber auch ein edler!
Preußen hat nicht Biele aufzuweisen, die ihm gletchkommen. Doch nicht nur in diesem königlichen Herzen lebte RüchelS Andenken
fort, mancher Officier, der später zu Ehre und Ansehen gelangte, hat eS
gesegnet.
Allen seinen Einfluß bot er auf, einen sonst tüchtigen jungen
Mann auS einer Verlegenheit zu retten, in die ihn jugendlicher Ueber-
muth oder unbedachte Geldausgaben gestürzt hatten.
Meist erreichte er
seinen Zweck, verlor dann aber seinen Schützling auch später nicht auS den Augen und suchte durch eine vortheilhafte Versetzung die Angelegen heit bei weniger nachsichtigen Vorgesetzten in Vergessenheit zu bringen.
Nicht eine geringe Anzahl Männer sind so der »Armee erhalten worden, die dem Vaterlande in Zukunft erhebliche Dienste geleistet haben.
erhielt Rüchel den schwarzen Adlerorden.
1802
Die gnädige Art der Verleihung
erfreute ihn ebensosehr, wie die edle Gabe selbst.
So viel Anerkennung das segensreiche Wirken des Generals auch immer fand, so viel Liebe und Achtung ihm auch zu Theil wurde, so konnte es nicht fehlen, daß ein so entschiedener und auch schroffer Cha
rakter, der rücksichtslos daS einmal für Recht erkannte verfocht, sehr ver schiedenartige Beurtheilung erfuhr und neben vielen Freunden sich auch
manche Feinde erwarb. weckt.
Auch hatte sein schnelles Emporkommen Neid er
Dies schrieben solche, die ihm übel gesinnt waren, mehr auf Rech
nung von Connexionen, als auf die seiner militärischen und sonstigen Be
gabung.
Im Gegentheil behauptete man, daß sein Einfluß vielfach von
schädlicher Wirkung auf die Armee gewesen sei, da er die Kriegskunst als
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Rüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798 —1823.
etwas Stabiles betrachte und die Regeln, nach denen die Schlachten im
siebenjährigen Kriege geschlagen waren, und die ihm der königliche Lehr meister selbst eingeprägt hatte,
als Universalmittel zum Siege ansehe.
Diesem Urtheil widersprechen aber die vielen Vorschläge, Skizzen, Me
moiren über militärische Gegenstände, die sich ausnahmslos mit durch
greifenden Veränderungen und Verbesserungen beschäftigen, und die noch in großer Zahl vorliegen.
Keine Einrichtung, keine Waffengattung ist
in ihnen unberücksichtigt geblieben.
Wir finden schon aus dem Jahr 1782, also noch unter der Regie rung Friedrich II., ein Projekt zur Errichtung einer leichten Infanterie. Diese Art Aufsätze, die verschiedensten Gegenstände betreffend, mehren sich
und seine Vorschläge gewinnen an Umfang je höher Rüchel steigt, und je
mehr sein Einfluß zunimmt.
Viele CabinetsordreS, welche die Unter
schrift Friedrich Wilhelms II. tragen, noch viel mehr auS der Regierungs zeit Friedrich Wilhelms III. sind Erwiderungen
oder ertheilen Aufträge,
hervorgerufen durch Eingaben des Generals oder anderer sachverständiger Männer, die der Beurtheilung desselben unterbreitet werden. Am 15. Januar 1803 ertheilt der König unter andern den beiden
General-LieutenantS von Rüchel und von Tempelhof*) den Auftrag, einen Plan des Obersten von Massenbach über Umgestaltung des Quartier
meister-Stabes zu prüfen.
Vom 4. Mai desselben Jahres lautet eine
Cabinetsordre, die von Verbesserungsvorschlägen RüchelS handelt: „Meine lieber General-Lieutenant von Rüchel!
Ich danke Euch sehr
für die Mittheilung der mir unterm 8. d. MtS. eingereichten pro Me
moria über die permanenten gemischten Divisionen der Franzosen, so wie über die Formation der Linien-Jnfanterie in 3 oder 2 Glieder und über
die Vertheilung der Artillerie nach dem Vergleich alter und neuer Art.
Ich werde dasselbe bei Muße durchlesen und bin im Voraus überzeugt, daß Eure darin aufgestellten Urtheile Meinen Beifall erhalten werden.
Ich bin Euer wohlaffectiontrter König Frd. Wilh."
Die Idee der Bildung einer Landmiliz, die später, durch Andere weiter ausgebildet und ausgeführt, ein Hauptfactor zu den glücklichen Er
folgen der Befreiungskriege wurde,
beschäftigt Rüchel schon seit dem
Jahre 1796, wie Aufsätze aus verschiedenen Zeiten beweisen. Zu Anfang scheint eS, als sähe er große Schwierigkeiten in der Zu sammensetzung der Armee, die er als verbesserungsbedürftig und vielfach
veraltet anerkennt.
Später söhnt er sich mehr und mehr mit dem Gedanken
*) Das Gutachten des Letzteren ist vorhanden, während daß des Ersteren leider fehlt.
aus und sucht nach Mitteln und Wegen zu seiner Ausführung, bis be stimmt formulirte Vorschläge daraus werden.
So befindet sich eine Instruction, theils von Rüchels eigener Hand, theils von der des damaligen Majors
seinen Papieren.
von Knesebeck*) geschrieben, in
Sie war für den Letzteren bestimmt zu einer ihm von
Rüchel, bei dem er damals Adjutant war, aufgetragenen Arbeit über diese
Sache und es werden darin die eigenen Ansichten und Vorschläge deS Generals ziemlich ausführlich dargelegt.
Nicht ohne große Mühe konnte
die ziemlich unleserliche Handschrift**) entziffert werden, und so interessant
der Inhalt auch ist, muß doch an diesem Ort die Mittheilung beanstandet werden, da der Gegenstand zu ausschließlich militairisch ist. Hier sei indeß der Schluß eines anderen Aufsatzes einzufügen erlaubt,
der aus einer späteren Zeit stammt. der Landmiliz oder Landwehr.
Auch er handelt von der Errichtung
Damals war eben schon -das Alte zer
fallen und für die im 'Werden begriffenen Verhältnisse, bildete das Be
stehende für RüchelS Pläne keine Schranken mehr.
Früher erschien eS ihm
Pflicht an Vorhandenes anzuknüpfen und nicht ohne weiteres niederzu reißen und zu zerstören, was irgend verbesserungsfähig war.
Jetzt, wo
alles übereinandergestürzt war, hatte ihn die Hoffnung, daß dies möglich
fein würde, verlaffen, nicht aber der Glaube, daß unter Sturm und Regen die Saat eines neuen Frühlings keimen würde.
Diesen Zeitpunkt zu
beschleunigen, betrachtete er als seine Lebensaufgabe, von dem Augenblick an, wo er auf Napoleons Geheiß den Staatsdienst verlassen mußte.
Wie
viele andere, so stammt auch das erwähnte Schriftstück aus dieser Zeit und wird dort in Betreff der Erfolge der französischen Waffen gesagt:
„Man hat in unsern Tagen den glücklichen AuSgang eines Krieges
viel zu sehr nur den Talenten des Anführers zugeschrieben, während viele- Andere mit in Rechnung gezogen werden muß.
Mehr als Alles
ist eS der Geist, der in der Nation lebt und der sowohl den Befehls haber, als die ganze Armee, welche sich nur als einen Theil der durch die Liebe zu König und Vaterland Vereinten anzusehn hat, begeistern und
durchdringen muß, um die welche kämpfen, wie die welche durch große Opfer für die Bedürfnisse Jener sorgen und die Lasten deS Krieges tragen,
zu einem großen Ganzen zu vereinen.
Deßhalb würde, ohne alle Frage,
ein Volksheer stets die größte Aussicht haben, Siege zu erringen."
„Die Armee besteht aus einer großen Zahl Individuen, von denen *) Der spätere General Feldmarschall. Derselbe war schon in Potsdam Rüchels Ad jutant, doch war er damals noch nicht Major, so muß das Schriftstück aus dem Sommer 1806 stammen was auch aus einem Briefe Rüchels hervorgeht. Siehe „Rüchels Nachlaß". **) Die Rüchelsche nicht Knesebecks.
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Rüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798—1823.
ein Jedes das ©einige zu dem Gelingen des vom Feldherrn ersonnenen Planes beitragen muß, wenn der Erfolg ein günstiges Resultat haben soll. Wer wollte da entscheiden, wer am meisten dazu beigetragen hat? Bei Jedem, der ein Theil dieses großen Ganzen ist, wird eS vor Allem auf Charakterfestigkeit und das auf'S äußerste gespannte Gefühl für Ehre und Pflicht ankommen. Das ebenso sehr bei dem letzten Soldaten, als bei dem, welcher an der Spitze steht." „Der große, unsterbliche Friedrich siegte in den beiden ersten Schle sischen Kriege weniger durch seine militairischen Talente, als durch seinen Unternehmungsgeist. Nur der Sieg von Hohenfriedberg war eine Frucht seines Genies." „Selbst int Siebeltjährigen Kriege hat das Glück und sein Entschluß, zu siegen oder zu sterben, einen größeren Antheil an dem glücklichen Erfolge gehabt als sein Feldherrntalent. Jene Eigenschaften gereichen ihm ebenso sehr zur Ehre als dieses, was er unbestritten gleichfalls in höchstem Maaße besaß. Der Geist der ihn beseelte, er der zugleich König und Held war, ging auf das Volk, auf die Armee über und versetzte sie in eine Begeisterung, in der es zu großen Thaten keiner fremden Einwir kung mehr bedarf. Dem Muth, der Hingebung, der Ausdauer der Völker wird nur zu oft die ihnen gebührende Anerkennung versagt bei der Be urtheilung des glücklichen Erfolges eine» Krieges. Nur der übereinstim mende Entschluß der Nation und des Heeres, zu siegen oder zu sterben, wird über das Gelingen auch des besten Kriegsplans entscheiden. Wir sind gewohnt, den größten Theil des Ruhmes eines Sieges nur dem Feld herrn zu überlassen, wie wir, und hier mit mehr Berechtigung, die sich nach verschiedenen Richtungen äußernden Kräfte der Natur, zu einem ein zigen Wesen personificiren." „Wir haben angefangen die Kunst deS Krieges höher als die mili tairischen Tugenden zu achten. Das aber war die Ursache deS Verfalls und deS Untergangs der Völker in allen Zeiten." „Tapferkeit, Genügsamkeit, Aufopferung, Standhaftigkeit, Einfachheit und Sittenreinheit, sind die Grundpfeiler der Unabhängigkeit und des Flors eines Volkes. Wo diesen Tugenden unser Herz nicht mehr nach eifert, sind wir verloren auch im Laufe großer Siege." Nach dem was bisher über Rüchel, feine Denkungsart und seine Thätigkeit mitgetheilt worden ist, muß das Urtheil, welches E. von Höpfner in feinem Werk über den Krieg von 1806 und 1807, und mit ihm manche Andere über Rüchel gefällt haben, befremden. Es wird ihm auch vor geworfen, den Geist der Ueberschätzung und der Franzofen-Verachtung in der preußischen Armee genährt zu haben. Er haßte sie allerdings
gründlich ebenso wie Scharnhorst das von sich bekennt*), aber als Feinde
unterschätzte er sie nicht.
dies unter andern.
Auch die vorhin mitgetheilte CabinetSordre zeigt
Wie würde er sonst ihre HeereSetnrichtungen zum Ge
genstand ernster Studien machen? Außerdem sind uns gar viele schrift
liche Äußerungen von ihm bewahrt, wie die Urtheile der berühmtesten Männer jener Zeit.
Alle bezeugen, daß er wohl die Gefahr, in der daS Vater
land schwebte, erkannt hat und eS nicht von seiner Seite an Mahnungen zur Umsicht und Voraussicht, auch im Fall eines unglücklichen Ausgangs,
gefehlt hat. Ebenso stammt von Höpfner die oft wiederholte Beschuldigung, daß
bei ihm und seinem Anhänge der berechtigte Respect vor dem großen
Könige zum Unglück geworden sei, da er die Augen gegen die Wahrheit verblendet habe, daß die preußische Wehrverfassung sich überlebt habe.
So dankbar eS anerkannt werden muß, daß Höpfners gründliche hi storische Forschungen den Verunglimpfungen ein Ziel gesetzt haben, die
den General Rüchel schuldlos in Bezug auf das Unglück von Jena ge troffen haben, so hat er ihm sonst nicht die ihm gebührende Gerechtigkeit
widerfahren lasten.
Er beruft sich
in seinem Urtheil auf Clausewitz.
Dieser sonst so vorurtheilSfreie Mann ist aber nie, so viel uns bekaünt, in nähere Berührung mit Rüchel gekommen, und es muß daher ange
nommen werden, daß er aus einer andern Quelle schöpfte und überhaupt
zu einer Zeit, wo Rüchel, fern von jeder Berührung mit der Außenwelt, vielleicht überhaupt schon nicht mehr lebte.
ES ist möglich, daß er seine
Informationen von Jemand erhielt, der an den Kränkungen, welche Rüchel
in seinem Alter erfuhr, nicht unschuldig war, und dem deßhalb daran lag, seine Verdienste herabzusetzen**).
Wäre die Behauptung wahr, daS des Generals Rüchel Begabung nur mittelmäßig gewesen, dagegen sein Ehrgeiz so wie seine Eitelkeit un
begrenzt, wie erklärt sich da die hervorragende Stellung, die er unter drei preußischen Königen etnnahm? Man müßte mit ihm zngleich die meisten
hervorragenden Männer seiner Epoche verurtheilen, die seinen Rath, seine
Belehrung, seine Freundschaft suchten.
ES muß doch auffallen, daß
Männer wie Scharnhorst, Gneisenau, Blücher, Stein, Hardenberg***) ihn sehr hoch achteten, seine Begabung und seine Tüchtigkeit anerkannten
und in näheren Beziehungen auch dann zu ihm blieben, als ihm nach dem Tilsiter Frieden daö Glück den Rücken wandte. *) Siehe in „RüchelS Nachlaß" den Brief Scharnhorsts an Rüchel. •*) Siehe Blüchers Brief an Rüchel in „Aus RüchelS Nachlaß". ***) Verschiedene Briefe von diesen Allen, die neben der Bedeutung für RüchelS Beur theilung auch von großem geschichtlichen Werth sind in dem Heft „AuS RüchelS Nachlaß".
Rüchel unter der Negierung Friedrich Wilhelm III. 1798 —1823.
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Wäre Rüchel eine so unbedeutende Persönlichkeit gewesen, so hätte
eS Napoleon gewiß unter seiner Würde gehalten, seine Entfernung aus der Nähe des Königs mit unter die Friedensbedingungen zu Tilsit aufzu
nehmen. Was RüchelS schriftliche Auslassungen betrifft, so können wir diese
nicht durchweg gegen den Vorwurf der Wunderlichkeit und Unverständ
lichkeit vertheidigen.
Die Fülle der Gedanken macht nicht selten den Stil
schwerfällig und die vielen Fremdwörter, namentlich in dem was er in früheren Jahren geschrieben hat, berühren unangenehm. Leopold von Ranke
behauptet mit Recht,
RüchelS Stil bedürfe häufig eine- Interpreten,
dennoch ist seine Ausdrucksweise sehr verschiedenartig, je nach dem Stoff, den er behandelt und überrascht sogar oft durch seine Schärfe und Klar heit, namentlich da wo der General referirt, drückt er sich fast knapp und kurz aus und sicher nicht undeutlich.
Als Beweis für diese Behauptung
kann der kurze Lebenslauf aus RüchelS eigner Feder dienen, welcher die
Einleitung zu jenem oft angeführten Hefte bildet*). UebrigenS verdanken die ungünstigen Urtheile über ihn ihre Ent
stehung meist einer Periode, wo es zur üblen Gewohnheit geworden war, das Unglück, welches daS Vaterland getroffen hatte, einzig dem Heere
und besonders seinen Anführern zuzuschreiben.
Wie viel Schuld daran
die unheilvolle Politik trug, die damals verfolgt wurde, ist bekannt und
hieran hat wenigstens Rüchel bis zum Jahr 1805 keinen Theil gehabt. Erst als die Verwirrung und Verlegenheit auf'S Höchste gestiegen war, berief man, neben den leitenden Staatsmännern, auch mehrere höhere
MilitairS zur Theilnahme an dem Ministerrath.
Er wird zum ersten
Mal bei einer Conferenz genannt, die am 19. September 1805 nach Char
lottenburg berufen wurde.
Unmittelbar darauf, am 20. September, ver
ließ Rüchel die Mark Brandenburg, um das ihm übertragene Amt eines Gouverneurs der Provinz Preußen und GeneralinspectorS der dortigen
Truppen zu übernehmen.
Wenn auch die nächste Veranlassung zu dieser
Sendung sowie zu den jetzt beginnenden Rüstungen die Verletzung der
preußischen Grenze seitens Rußlands war, so hoffte man doch, daß Preußen sich den Mächten anschließen werde, die jetzt zum Kriege gegen Frankreich sich verbündeten. Dem Traktate, welchen das nordische Kaiserreich mit Eng
land abgeschlossen hatte, war Oesterreich am 9. August 1805 beigetreten. Allein Preußen konnte nicht zur Entscheidung kommen, es unterhandelte bald mit einer, bald mit der andern Partei, im Grunde aber entschlossen,
die Neutralität nicht aufzugeben, wodurch eS denn wirklich an den Rand des
*) Aus Rüchel» Nachlaß.
Verderbens gerieth.
Obgleich der Minister Hardenberg seit dem Herbst
1804 Haugwitz ersetzt hatte, hatte dieser seinen Einfluß nicht verloren und wurde Ende August wieder nach Berlin berufen, nachdem er von Schlesien
aus, wo er sich auf seinen Gütern aufhielt, ein Memoire an den König gesandt hatte, in dem
er den
„Neutralitätssystem festzuhalten,
entschiedenen Rath ertheilte,
an dem
es bewaffnet und imposant zu machen
und die Nachbarschaft einzuschließen."
Auch Rüchel wurde durch das Schwanken des CabinetS in seiner
neuen Stellung gehindert.
Seine energischen Maßregeln standen in zu
grellem Gegensatz mit dem Bestreben der Regierung eS mit keiner Partei
zu verderben.
Mehrere CabinetSordreS
sind bemüht, seinen Eifer zu
dämpfen und zur Behutsamkeit zu mahnen, obgleich dieselben die Zweck mäßigkeit seiner Anordnungen anerkennen.
Hätte er damals freie Hand
gehabt, so wäre daS für die Kriegführung von 1807 sehr Vortheilhaft ge wesen, denn eS wäre für die Armirung der Festungen und für Kriegs
bedarf besser gesorgt worden; wie auch von Zeitgenossen anerkannt wird,
daß daS wenige was man vorbereitet fand, der Wirksamkeit Rüchels vor Ausbruch des Krieges 1806 zu verdanken war. Plötzlich veränderte sich indeß die Situation.
Durch die rücksichts
lose Verletzung des preußischen Gebietes von Seiten der Franzosen sah sich der König gezwungen, endlich den Vorstellungen der verbündeten Mächte
nachzugeben, welche der Kaiser von Rußland durch sein persönliches Er
scheinen in Berlin am 30. Oktober unterstützte.
Schon am 4. Oktober
waren sämmtliche Anträge Frankreichs zurückgewiesen. kam mit den
Stande.
Am 3. November
beiden verbündeten Kaisern zu Potsdam ein Vertrag zu
Die Wahl des Bevollmächtigten, der Napoleon das Ultimatum
des Königs überbringen den Mann der Neutralität.
sollte, fiel leider auf den Grafen Haugwitz, Erst am 11. November erhielt er seine Voll
macht, am 13. erst den französischen Paß.
Mit Begeisterung folgte Rüchel dem Rufe seines Kriegsherrn, der ihm den Befehl über eine Heeresabtheilung übertrug, welche in Hannover,
welches vorübergehend in Preußens Hände gekommen war, zusammengezogen wurde.
Endlich war die Zeit gekommen, wo der Bann sich lösen sollte,
der schon so lange auf jedem patriotischen Herzen lastete.
Frankreich, das
übermüthige Frankreich, das nur Verträge schloß, um sie nach einer kurzen Spanne Zeit zu brechen, sollte sich jetzt überzeugen, daß das theure Vater
land, der Staat Friedrichs deS Einzigen, noch in alter Größe und Kraft
dastand und sich eines wortbrüchigen Feindes erwehren konnte. Bor allen Andern fühlte Rüchel sich freudig durch diese Aussicht ge
hoben.
Wie oft hatte er den König bestürmt, nicht so lange zu warten.
Rüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798—1823.
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bis Napoleon ihn mit Krieg überziehen würde, sondern sich seine Zett
zu wählen, da ein Kampf nicht zu vermeiden wäre. Jetzt bot die Verletzung des preußischen Gebiets durch Bernadotte
einen gerechten Anlaß.
Das kriegsbereite Heer stand an den Grenzen,
deS Befehls zum Angriff gewärtig. Aber auch jetzt sollten dem kurzen Sonnenblick freudiger Hoffnutig
bittere Stunden der Enttäuschung folgen.
Unthätig mußte Rüchel in Gotha
stehend zusehn, wie Oesterreich im ungleichen Kampf unterlag, ehe noch die Russen dem Bundesgenossen zu Hülfe kommen konnten.
Er hatte
vergeblich noch einmal gewagt den König zu einem Entschluß zu bestimmen,
indem er ihm einen kühnen Angriffsplan vorlegte, von dem er sich den
besten Erfolg versprach.
Graf Haugwitz war in das Lager Napoleons
befohlenermaßen langsam gereist, damit bei Ueberreichung deö Ultimatums auch die Mobilmachung vollendet sei, und der Krieg beginnen könne.
Bald
nachdem er angekommen, ward die Niederlage der Oesterreicher entschieden,
und Haugwitz, statt seiner Ordre gemäß das Ultimatum zu überreichen, unterschrieb ohne dazu bevollmächtigt zu sein, den Vertrag von Schönbrunn. Was half es nun, daß Rußland jetzt wie früher Oesterreich seine
Hülse anbot und daß seine Heere inzwischen dem Kampfplatz näher gerückt waren? Der König konnte sich nicht entschließen, seinen Minister zu deS-
avouiren.
Der Vertrag wurde ratificirt.
Preußen ließ sich seine Will
fährigkeit, wie bekannt, mit Hannover bezahlen. Eine spätere Sendung Haugwitz nach Parts mit Vorschlägen zu einer
für Preußen möglichst günstigen Auslegung jenes Vertrages, hatte nur die Folge, daß Napoleon demselben noch viel härtere Bedingungen hin
zufügte.
Denn ihm war es gelungen, durch ein freundliches Schreiben
an den König diesen so weit zu täuschen, daß er, um die bei dem trau rigen Zustand der Finanzen allerdings sehr drückenden Kosten-zu sparen,
eine Demobilisirung der Armee angeordnet hatte.
Man glaubte auch
wohl, dadurch, wie durch die gleichzeitige Benachrichtigung nach Rußland,
daß keine Kriegseventualität mehr vorhanden sei, und deßhalb auch kein Grund für die russischen Truppen weiter vorzurücken, sich den französischen Machthaber günstig zustimmen.
Wieder erschien Haugwitz in Berlin mit einem Vertrag, bei dessen
Unterzeichnung er von neuem seine Instructionen überschritten hatte und vermehrte dadurch die Entrüstung, die ohnehin sein Benehmen in dieser
ganzen Angelegenheit erweckt hatte.
Der König theilte wohl Anfangs
diese Gefühle, wußte aber doch, nachdem er eine Rathsversammlung von
Staatsmännern und höheren MilitairS berufen hatte, nichts anders in dieser mißlichen Lage zu thun, als den Vertrag zu unterzeichnen.
Selbst
die Generale konnten, sowie die Verhältnisse jetzt lagen, zu keinem Kriege rathen, und nur diese Wahl blieb, wenn der Tractat nicht unterzeichnet
wurde.
RüchelS Aufregung und Entrüstung zeigt sich deutlich für die, welche seine Schreibweise näher kennen, in der Wunderlichkeit des Stils seiner
motivirten Unterschrift, sie lautet. „Rüchel: da alle beide große glückliche Tempo'- von un- nicht er
griffen worden sind, eine glücklichere Situation für Preußen zu erzeugen,
da die Truppen schon auseinander gezogen sind und die Alltirten nach
Hause, die Franzosen in Hannover auf keinen Fall geduldet werden können, die Schwierigkeiten deS CommerzeS sich moderiren lassen, Rußland schwerlich
deßhalb den Krieg machen wird nach den Äußerungen deS Kaisers Alexander; so scheint dies beschlossene Resultat als eine natürliche Folge der ersten
manquirten Handlungen nothwendig ä, Condition, daß die Franzosen
ihre Truppen aus dem deutschen Reich ziehn (durchaus) .und die Art der Erfüllung einer künftigen Defensiv-Alliance nicht übertreten, außer der mensch
lichen Klugheit noch in der Hand der Vorsicht."
Den 24. Februar 1806.
Mit den trübsten Vorahnungen war Rüchel in das neue Jahr ge treten die sich ja leider alle erfüllen sollten I
Zu einem seiner Adjudanten
hatte er damals geäußert, „zum letzten Mal hat der schwarze Adler seine
Flügel über uns geschwungen und uns zu Thaten gemahnt, diese Gelegen
heit wird nie wiederkommen."
Auch schon zu Ende deS vorangehenden Jahres und während seiner Anwesenheit in Gotha hatte eine tiefe Niedergeschlagenheit das sonst so
fröhliche, leicht Hoffnung fassende Gemüth deS Generals ergriffen, davon
zeugt auch ein Brief an den Herzog von Braunschweig, den er am 13. Januar 1806 von dort aus, kurz vor dessen Sendung nach Rußland,
schrieb:
„Einliegend
einige
an Ew. Herzogliche Durchlaucht eingelaufene
Schreiben wovon das eine unentsiegelt ist, weil ich solches für einen Privatbrief halte.
Unter dem eingetretenen Spiel des Schicksals halte ich es für ein großes temporelleS Glück, daß wir die Art Nachbaren aus Hameln und Hannover los werden. Wahrscheinlich werden wir die Ordres zu den Truppenmärschen den
22. dieses allhier erhalten und aus Rücksicht auf die Verpflegung unge säumt ausführen.
Ich wünsche Ew. Herzoglichen Durchlaucht die glücklichste Reise — die
glücklichsten Erfolge bet der unbedingt wichtigen Expedition. Möge Ew. Herzogliche Durchlaucht ruhen unter den freundlichen
126
RIichel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798 — 1823.
Palmen, wenn Ihr thatenreiches Leben, nach meinen Wünschen erst spät,
den großen Weg zur Unsterblichkeit wandelt. Daß gebe Gott vor dessen Thron wir uns wahrscheinlich 'wiedersehn werden, dann werden alle Irrthümer sich auflösen und alle Gegensätze ver söhnen.
Mit tiefster Ehrfurcht E. v. Rüchel.
Auch Rüchel kehrte, sobald die Truppenmärsche begonnen, nach Berlin
zurück, wo er jener zuletzt erwähnten Rathssitzung beiwohnte.
Er erkl^'te
später, daß er nie in seinem Leben mit schwererem Herzen seinen Rai «n unter ein Schriftstück gesetzt habe, als unter dieses Protokoll.
War er nun schon gegen den Herzog von Braunschweig verstimnit,
dem er einige Mitschuld bei der schwankenden Politik beimaß, so war
er es natürlich noch viel mehr gegen den Grafen Haugwitz, welchen er ebenso wie Lucchesini für die bösen Genien Preußens erklärte.
Nachdem
der Graf von jener Pariser Mission nach der Hauptstadt zurückgekehrt war, nahm er die ihm von dem Grafen dargebotene Hand, in öffentlicher Gesellschaft, nicht an, sondern wandte ihm den Rücken zu, indem er ihn auch sonst völlig ignorirte.
Ja, unter den Augen des Monarchen weigerte
der General sich an der königlichen Tafel den ihm angewiesenen Platz neben jenem einzunehmen.
Unter diesen Verhältnissen, die um so peinlicher waren, als wie das
unter den obwaltenden Umständen nicht anders sein konnte, Haugwitz an Hardenbergs Stelle getreten war, suchte Rüchel natürlich seinen Aufenthalt in Berlin möglichst abzukürzen.
Er war eben im Begriff nach Königsberg
abzureisen, denn seine dortigen dienstlichen Verhältnisse hatten nur eine zeitweilige Unterbrechung erfahren, als ihn ein Befehl des Königs zurück hielt.
Er ward so gezwungen, die Geschäfte des Gouverneurs der seinem
Befehl unterstellten Provinz von dort aus, so gut es gehen wollte, zu be sorgen, während er auch mit andern Aufträgen beehrt wurde, die erneuete
Zeichen von des Herrschers Vertrauen und Huld waren. Später erhielt er Erlaubniß, mit Mitnahme von zwei Adjutanten, die preilßischen Angelegenheiten von seinem Gute Hasseleu in Pommern
aus, zu besorgen.
Es liegen verschiedene Schriftstücke von dort datirt
vor, wie auch Schreiben aus Preußen die dahin adressirt sind.
So theilt
von Auerswald, Königsberg unterm 31. März 1806, dem Gouverneur ein Protocoll mit, das in Betreff der Sicherung des Pillauer Hafens gegen feindliche Schiffe durch eine Commission ausgenommen wurde.
Aber auch jetzt, wie im Herbst des verflossenen Jahres, wurde das energische Handeln Rüchels zu dem er, wie durch seine eigene Einsicht,
auch durch die Commandeure der dort stehenden Truppen und durch die Behörden gedrängt wurde, nicht immer gebilligt.
Die Unterhandlungen,
die das Cabinet nach verschiedenen Seiten hin unterhielt, nöthigten zur Vorsicht.
Mehrere CabinetSschreiben, in diesem Sinn abgefaßt, sind in
dem oft erwähnten Heft „aus Rüchels Nachlaß" abgedruckt.
Der für Rüchel durch diese und
ähnliche Verhältnisse erwachsende
Verdruß wie besonders der Kummer über die verzweifelte Lage, in der sich das Vaterland befand, welches er durch die übelgeleitete Politik an den Rand deS Verderbens gebracht sah, hatte seine Gesundheit erschüttert, und den ©einigen Anlaß zu großer Besorgniß gegeben, da sic ein Nerven
fieber befürchteten.
Der König erwähnt diese Krankheit mit großer Theil
nahme und Bedauern in einem Schreiben vom 31. Mai 1806.
Neben den preußischen Angelegenheiten scheint Rüchel auch die Pro vinz Hannover im Auge behalten zu haben, als den Punkt, woher zunächst Er war der Meinung, daß dies Danaer-Geschenk in einer
Gefahr drohte.
oder der andern Art der Anlaß zu Verwicklungen werden würde.
Ein
Brief Hardenbergs an ihn, wie es scheint, eine Antwort auf Erkundigungen nach den hannoverschen Verhältnissen, ist vom 30. April 1806 datirt.
Noch bis Anfang August des Jahres 1806 blieb Rüchel, der in
zwischen genesen war, in Hasseleu,
als ihn eine Stafette am 9. August
nach Berlin rief.
Wir finden ihn am 14. dort, denn von dem Tage ist eine Eingabe datirt, die er als „Skizze des Augenblicks" bezeichnet.
Er schreibt darüber
an Hardenberg. Berlin den 15. August 1806. Die Abschrift des MemoireS, welches ich während meinem kurzen
hiesigen Aufenthalt und dem Wirrwar in dieser Nacht schrieb und heute
dem Könige selber vorlas und darauf übergab, vertraue ich Ihrer Hand, meine würdigste Excellenz, da ich höre, Sie sind eben angekommen und meine Extra-Pferde schon seit zwei Stunden parat stehn, um per Potsdam und Hannover zur Armee abzureisen.
Sie ersehen daraus alles mit einem
Blicke. — Höfliche affirmative Antworten in genere, jedoch ohne einen
freundlichen Blick, habe ich erhalten und bin einigermaßen getröstet, wenn die Tendenz bleibt, die ich verlasse.
Haben Sie die Güte und nehmen,
aber eigenhändig, von diesem fehlerhaften Exemplar eine Abschrift, die
zeigen Sie Stein, wenn er kömmt, damit er sieht, daß ich mein Wort hielt.
Dann aber zerreißen Sie Ihr Exemplar und schicken mir das neue
durch sichere Gelegenheit.
Ich denke, wir meinen es wirklich gut Adieu! Ihr Freund Rüchel.
Skizze des Augenblicks am 14. August 1806. „Der Vorhang ist aufgezogen. Schneller als man glaubte, doch sichtbar genug, um jedem Denkenden aller entgegengesetzten Parteien die überklare Preußische Jahrbücher. $b. XLVII. Heft 2.
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Rllchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798 — 1823.
128
Ueberzeugung nur zu deutlich aufzudrängen, daß die jetzige Regierung von Frankreich keines Systems fähig ist, welches sich eine gewisse Grenze steckt, die da endlich einmal, sei eS auch nur auf einen mäßigen Zeitraum, die
Ruhe der Völker sichert, sondern daß solches mit seinen vagsten Bahnen
bis ad Indefinitum fortschreitet, wenn nicht ein anderes Schicksal oder
die Gewalt ihnen Grenzen setzt.
Frankreichs jetzige Tendenz ist nicht blos
die, bei der Despotie über das südliche Deutschland stehen zu bleiben, so unangenehm, so völkerrechtswidrig,
so nachtheilig und
gefährlich diese
Despotie an und für sich auch schon ist; sondern Frankreich greift Preußen an das Herz, es bedroht Hessen und Sachsen wider die heiligsten seiner
Versicherungen.
ES bedroht das nördliche Deutschland, um Preußen von
jeder deutschen Mitkraft völlig zu isoliren, um ganz Deutschland in eine französische Provinz zu verwandeln, die da als Sklaven in seinem Dienste für die fernere Ausbreitung seiner Universal-Monarchie arbeiten sollen,
auf die Art mit seinen Kriegsheeren in der Mitte des Friedens Preußens Herzen, seiner Residenzstadt, sich zu nähern, wo es dann mit und ohne Prä
text, in jedem Augenblicke Preußen überfallen und gleichfalls unterjochen
kann, zu gleichem Zweck, damit auch dieses Reich, dessen Heere umsonst
der Schrecken von Europa waren, gezwungen würde, endlich selbst wider seine letzten ihm übrig bleibenden Freunde für den Willen Frankreichs zu
fechten, zu unserem eigenen Untergange. Dies sind die traurigen, ob zwar von manchen Staatsmännern vor
hergesagten, in unterschiedenen meiner eigenen Memoires erörterten Folgen der Unterlassung unserer thätigen Theilnahme an dem Schicksal Europas,
dem Preußen
allerdings zu seiner Zeit eine glückliche Wendung geben
konnte, wenn es die Augenblicke benutzte, welche ihm das Schicksal verlieh, und durch seine aktive Kraft sich in Europa Vertrauen, Ansehen und Freunde erwarb.
So wahr dies ist, so isolirt wir auch jetzt stehn, so
entsteht dennoch die Frage: kann und darf Preußen diesen letzten Verlust
des ganzen nördlichen Deutschlands überhaupt, in specie aber den von Sachsen und Hessen, wenn wir unsre Existenz lieben, dulden oder nicht?
Unsere geographische Lage, gesunde Vernunft, die Kenntniß von dem jetzigen
ewig fortschreitenden französischen Systeme sagt mit aller Bestimmtheit: Nein!
Wir können es nicht, ohne unseren gewissen gänzlichen Ruin für
immer, ohne daß Preußens Namen gebrandmarkt werde bei der Welt und Nachwelt.
Also den Krieg, den alle Vorsicht nicht vermieden, sondern vielmehr also herbeigeführt hat, Energie und männliche Entschlossenheit ohne Rück sicht auf Folge? für jetzt
Die einzige Möglichkeit, den nördlichen Krieg vielleicht
in einen Waffenstillstand von einigen Jahren zu verwandeln,
könnte
sein,
wenn Frankreich sich
mit
dem Kaiserthum des
südlichen
Deutschlands begnügte, eine reinere Demarkation zwischen sich und Preußen
zöge,
Preußen
effectiv das Protektorat über daS nördliche Deutschland
einräumte, und für allen Dingen seine Truppen aus Deutschland gänzlich in das Innere von Frankreich zurückzöge: dann würde dennoch das Bild einer neuen stillen Rüstung entstehen, und unsere Verkettungen vielleicht mehr begründet werden können, mit Rußland, Oesterreich, Dänemark,
Sachsen, Hessen, England und auch vielleicht Schweden.
Aber die Frage
entsteht nun, ist dieses von einer Regierung der Art zu erwarten, oder
überhaupt zu hoffen, durch bloße Worte oder diplomatischen Wust?
Vernunft zweifelt!
Vielleicht sind wir schon
Die
in diesem Augenblick zu
nachthetlig surprenirt für eine erste glückliche Kampagne, und nur die
ernsten kriegerischen Maßregeln können einzig beschützen unsern Heerd und unsere Ehre.
Hierzu sind nun die ersten Schritte militärisch geschehn, so wie meinem einseitigen Urtheil es scheint, mit vieler Vernunft und Zweckmäßigkeit. Die ferneren Schritte können nur geleitet werden durch das Gesetz der
Nothwendigkeit, durch scharfe Beobachtung und Schnelligkeit und durch die Zeit, die uns ein so schneller Gegner zu unserer Versammlung übrig läßt.
Sachsen und Hessen festhalten, insoweit eine menschliche Kraft solches über
zeugend diplomatisch und militärisch vermag, dies bleibt ein Gegenstand
der allergrößten Wichtigkeit.
Außer den festen Ueberzeugungen, die ihnen Ew. Königliche Majestät auf das Allerbündigste für ihre Erhaltung und Vertheidigung selbst mit aller Ihrer Aufopferung geben, wird ein verständiger Officier als MilitärGesandter, und das Approchement unserer Truppen zu dieser für uns günstigen Stimmung das ihrige beitragen.
Das Approchement für Sachsen
geschieht durch das Heranrücken unserer schlesischen Truppen, und daS Ver
trauen, welches der Kurfürst setzt in die Person des Fürsten von Hohen lohe, der sie kommandirt hat.
Der Major Graf Götzen und der preußische
Gesandte würde diese gute Stimmung bis zu der Vereinigung mit unseren Kriegsherren möglichst zu unterstützen suchen. Mit Hessen ist das schwieriger
wegen seiner exponirten Lage und dem schwankenden Charakter seines Kur fürsten.
Vorläufig hätte er den General von Blücher ä portöe in Pader
born, wenn er glücklich noch dort hinkommt, sich mit ihm zu vereinigen,
und zur Reserve die hannoversche Armee.
Weil es aber in dem Laufe
des Krieges nicht möglich ist, ewig Hessen unter allen Umständen zu decken, so wenig als sein eignes Land, so würde der dorthin gehende Officier z. B.
der Major von Knesebeck alle ersinnlichen vernünftigen Vorstellungen dieses
Begriffes in feine Verhandlungen legen.
Nüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798—1823.
130
Zu dem Vertrauen von Sachsen und Hessen, von Europa wird bei
tragen, wenn die Berliner und Potsdamer Garnison so schleunig
als
möglich vorrücken, um interimistisch eine Kurtine zu bilden zwischen Han
nover und Sachsen, welches Corps dann seine Wirkung vereinigt nach derjenigen Seite, wo solches die Operation nothwendig macht. Dingen
Für allen
aber, daß Ew. Majestät mit Ihrer Person mit diesem Heere
gehen, vorläufig bis auf den Centralpunkt von Magdeburg mit denjenigen Personen, die zu der Führung der Geschäfte von Nöthen sind, denn in
der Entfernung von der Armee sind schlechterdings nie zweckmäßige Befehle zu ertheilen.
So wird in einer leider späteren Zukunft die westpreu
ßische Reserve von Cüstrin nach den nöthigen Punkten wohl geleitet werden.
Der Charakter unserer Operation, wenn nur erst einiges Tableau
da ist, muß sein ein wirksamer Bewegungskrieg: mit Corps zu observiren, en mässe angreifen und entscheidend schlagen zu können.
Giebt die Vor
sicht Glück, so können noch Evenements für uns eintreten durch ernste Theilnahme anderer Puissancen, die für uns glücklich und günstig sind.
Denn das Glück pretirt sich nur dem Kühnen.
Sind wir anfangs bei
zu schwachen Kräften unglücklich, so ist die Ehre doch gerettet, und wahr scheinlich noch Rußland, so spät es auch ankommen kann und mag, unser
letzter und wuchtiger Freund.
Auf jeden Fall ist Rrißland ä port6e, den König von Schweden zu zügeln, falls er sich nicht besinnt; oder auch Oesterreich int Zaume, zu
halten, falls wider alles menschliche Denken auch von ihm ein heimtückischer Streich sich entspinnen könnte.
Von England bedürfen wir wohl eine
Geldunterstützung, deren Neigung vielleicht herbeizuführen bei alle dem noch in dem Reiche der Möglichkeit liegt. Alle diese Presumtionen der Theilnahme der andern Mächte, solche
mag früher oder später, oder von einigen auch gar nicht erscheinen, und
mit ihr ein fester Bund zu einer stärkeren Sicherheit, müssen von uns, und zwar schleunig, herbeigeführt werden.
rasten, nicht einen
Wir müssen nicht ruhen und
einzigen Augenblick verlieren,
geschweige denn
Stunden und Tage damit wir uns selbst sagen können, wir haben
unsere Schuldigkeit gethan.
Nach einem mit der äußersten Klugheit
und Wärme abgefaßten Publikande, mußte schleunig an diese alle eine Meldung geschehn, und die übrigen Höfe von Petersburg, von Wien, von Kopenhagen, von London; sie eingeladen werden zum Beistände und sie
ersucht werden, kriegserfahrene Officiere in das Hauptquartier des Königs
zu senden, um sich von dem Gange der Operation selbst zu überzeugen;
so zum Beweis könnte sich österreichischer SeitS dazu der General von Stutterheim vorzüglich eignen.
Das Geschütz aus dem Berliner Arsenal wird wohl schon so ziemlich bei der Armee und in den Festungen sein, indessen, ob wir solches zwar nicht hoffen wollen, können in dem Fortgang der Sachen, weil jetzt schon
die Sensation nachtheilig sein werde, zur schicklichsten Fortbringung der
nützlichsten Staatötheile einige Reserve-Dispositionen, ganz im Stillen, durch einen sachkundigen patriotischen Mann vorbereitet werden.
Aber so nothwendig, so unumgänglich nothwendig alle diese Gegen stände auch, zu der allgemeinen Kette der Konsiderationen gehören, wenn
das große Hazardspiel keine Lücke behalten soll; soll ich die Wahrheit zu dem Könige meinem Herrn reden, oder aus Menschenfurcht schweigen?
Doch die Wahrheit in einem so wichtigen Moment nicht reden wollen, wo die Erhaltung oder Unterjochung des Staats auf dem Spiele steht, wäre Hochverrath gegen den König und das Vaterland; sie sei also ge
sagt, diese unangenehme Wahrheit! — Einige der nächsten Staats diener um Ew. Königlichen Majestät höchste Person besitzen nicht das Ver
trauen der Nation, sondern das Mißtrauen, die Verachtung von den Un terthanen, von Deutschland, von Europa.
Ohne die Wirkung auf den
Geist, auf die Gemüther der Menschen, auf. das allgemeine Vertrauen,
reift keine Handlung zu einer großen That, der Graf Haugwitz besitzt dieses Vertrauen nicht, dies weiß die Welt, so wenig als der Geheim-
Kabinelsrath Lombard, so schön er auch schreibt und so angenehm er auch witzelt.
Ich bitte, ich beschwöre Ew. Königliche Majestät aus reinem
Herzen, verachten Sie nicht die Stimme des Publikums, die Sie sonst
ehrten und die in diesem Theil durch mich lediglich zu Ihnen redet, um Ihres eignen Ruhms und Ihrer eigenen Glückseligkeit, ja Erhaltung
willen, und wählen sich zwei Minister der auswärtigen Angelegenheiten,
die das Vertrauen der Nation und der Welt haben, so wie sie der Staat
von Anbeginnen her und selbst unter Friedrich dem Großen gehabt Hai. — Hardenberg und Keller würden diese Männer sein; und deklariren Aller
höchst dieselben auch diese Wahl, nicht sofort in diesem Moment, so haben Sie doch die Gnade, solches von dem Augenblick an zu thun, wo der Krieg mit Frankreich ernstlich losbricht und beginnt.
Sekretair findet
sich in jedem Augenblick.
Ein
Ein französischer
einziger Kabinetsrath,
Beyme, oder wer es sei, ist durchaus, bei aller Arbeitsamkeit zu wenig
für das große Geschäft, muß stets passiren für einen über seine Gebühr
Einfluß habenden Mann, und die Ehre Ew. Königlichen Majestät leidet dabei so unumstößlich wahr, als ich zu Ihnen rede, und jeder redliche ein
sichtsvolle Mann stimmt meiner Aussage, meinen Wünschen bei.
In den
jetzigen Zeiten ist das nicht genug; es muß auf den niedergeschlagenen Geist, auf das sinkende Vertrauen der Nation mächtig gewirkt werden.
Rüche! unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798—1823.
132
Herr Beym? selbst hat diesen Vorschlag einmal gewünscht; ziehen Ew.
Königliche Majestät einen Mann von Rang, Ansehen, Ehre, Festigkeit
und Vertrauen anjetzt mit in Ihren Rath.
Schulenburg hat leider das
Schicksal, sich mehrmals zu entfernen, wenn der Wirbel der Zeiten droht. Minister vom Stein ist dieser Mann von großen Ressourcen und männ
licher Kraft.
Ew. Königliche Majestät wecken Ihre brave Ration auf und
An dem General Pfull haben Ew. Majestät
verleihen ihr neues Leben.
einen vortrefflichen Analytiker zur Mithülfe der großen Operation.
Dieses alles wollte, ich schärfer zergliedern in meiner Einsamkeit;
allein Krankheit und Chagrin versagten mir die Kräfte.
Jetzt ist der Fall
der Roth vorhanden, und die Sache leidet keinen Aufschub.
Meine gute
redliche Absicht übrigens werden Ew. Königliche Majestät, ich hoffe es,
niemals verkennen,
v. Rüchel."
Wie der Inhalt dieser Vorstellung an den König fern von dem Uebermuth und der Siegesgewißheit ist, die man sich gewöhnt hat Rüche! nach zu sagen, so sind es auch verschiedene Briefe aus dieser Zeit, die er an
die Seinen geschrieben hat.
Am 15. August klagt er seiner Gemahlin,
wie trübe alles in Berlin, sei.
Die Contenence sei verloren, er hoffe
nicht die Courage, obschon er selbst zuweilen fürchte, auch diese zu ver
Er wünscht sich, daß eö ihm
lieren, Angesichts der traurigen Zustände.
gelingen möchte, seine Augen gegen Alles um sich her verschließen zu können, und nur auf seine militairische Aufgabe zu sehn, welche die sei, zu siegen
oder zu sterben.
Ein Feldherr, der nicht des Sieges gewiß sich fühle,
sei schon halb geschlagen. vertraue.
Er klagt, daß der König so wenig sich selbst
Weil die Entschlossenheit fehle, könne er selbst so wenig Hoff
nung fassen.
Dann wünscht er sich verstecken zu können vor all dem
Jubel und den Aeußerungen thörichter Zuversicht. — Weiter schreibt er, daß man noch eigentlich nicht an den Krieg glaube und thue doch alles
um ihn jetzt hervorzurufen, wo nichts so vorbereitet sei, wie es nöthig sei
und wie eS im vorigen Herbst gewesen.
Es würden überdies nur halbe
Maßregeln ergriffen, dir die beste Armee zu Grunde richten müßten*). *) Hardenberg urtheilt ähnlich über die damalige Situation und daß Rüchel wohl der Mann dazu gewesen wäre, die Armee einheitlich zu leiten, daß er aber damals nicht den nöthigen Einfluß beim König beseffen hätte.
(Fortsetzung folgt.)
Karl Wilhelm Göttling und sein Verhältnis zu Goethe. Der von Kuno Fischer herausgegebene Briefwechsel*) zwischen Goethe
und K. W. Göttling ist in mehr als einer Beziehung erfteulich.
Der
Dichter, dessen Verdienst um die richtige Würdigung des klassischen Alter thums gar nicht hoch genug geschätzt werden kann, zeigt sich hier in freundlich
entgegenkommendem Wohlwollen gegen einen jungen Philologen, dem er die Bibliotheksverwaltung in Jena anvertraut hat und dann (1825) die ehrenvolle Aufgabe stellt, bei der großen Ausgabe seiner Werke der (Aus gabe letzter Hand) den Text sorgfältig durchzugehn, zu korrigieren und über
zweifelhafte Stellen den Verfasser zu befragen.
Neben der hierauf be
züglichen Correspondenz kommt aber auch mancher andere Punkt der Alter thumswissenschaft zur Sprache.
Die von Goethe für GöttlingS Arbeit
gesandten Gaben „metallischör Art", helfen bald darauf den jenaischen Professor reisefertig für Italien machen und er berichtet von da auS seinem
Gönner in der vollsten Freudigkeit über die im „gelobten Lande" empfan
genen Eindrücke, zum Dank dafür, daß einem im Schulstaube fast er stickten Professor von Jena dadurch zu reiner Luft verholfen und seinem Leben ein Hintergrund gegeben sei, der ihn im Alter nicht verderben lassen werde.
Seine vier langen Retsebriefe sind ein sprechender Beleg dafür,
wie dem empfänglichen Gelehrten wesentlich auch durch den Dichter die Augen geöffnet waren für die Natur und die Kunstschätze deö Südens. Aus seinen Darstellungen aber spricht zugleich eine kernig frische und freie
Persönlichkeit zu un6; die wohl Anspruch auf das Gedächtniß der Nach
lebenden hat. In sehr verschiedener Weise vermag ein hervorragender Lehrer und
Forscher auf seine Schüler zu wirken.
Bahnbrechende Entdeckungen oder
die Gewöhnung an eine Arbeitsmethode, welche zu bedeutenden Ergebnissen
der eignen Studien führt, werden dem UniversitätSdocenten am sichersten *) München Bassermann 1880.
Karl Wilhelin Göttling und sein BerhältniS zu Goethe.
134
die Bewunderung seiner Hörer verbürgen und ihn befähigen eine eigne Schule zu begründen.
Dessen hat sich Göttling nicht rühmen können.
Bahnbrechend sind seine Arbeiten nirgends.
Selten vermag er durch
zwingende Beweisführung zu überzeugen und nachhaltige Förderung hat die Philologie durch seine Schriften nicht erfahren.
Auch sichere Methode
des Forschens ist seinen stets anregenden und geistvollen Arbeiten kaum nachzurühmen. — Aber es giebt noch eine andere Wirksamkeit des Lehrers, die nicht minder wichtig ist: eS ist der unmittelbar persönliche Einfluß, durch den er jugendliche Gemüther zu gewinnen und mit Liebe für die
Wissenschaft zu entzünden vermag.
Diese Kraft geistiger und gemüthlicher
Anregung nun muß Göttling in ungewöhnlichem Maße besessen haben.
Zeugniß davon haben sehr glaubwürdige Freunde und Schüler abgelegt. Unter den ersten steht Kuno Fischer voran.
Als er unmittelbar nach
G's. Tode die von dem Verstorbenen veranstaltete Sammlung seiner aka
demischen opuscula mit einem warm und schön geschriebenen Vorwort be
gleitete, rühmte er ihn als „einen der vortrefflichsten unb innerlich reichsten Menschen, die man sehen konnte und die in der Nähe kennen zu lernen
schon darum eine Wohlthat ist, weil man solche Menschen nicht kennen
lernt, ohne von ihnen zu empfangen und geistig erquickt zu werden."
Er
schilderte, wie Göttling im Alterthum eine Heimath gefunden habe und von dem Wohlgefühl dieser Heimath durchdrungen gewesen sei, wie sich
das in sprudelndem Humor, in herzlichster Fröhlichkeit äußerte und mit gemüth-
und phantasievoller Innigkeit verband.
Weil er aber die Ge
genstände seiner Studien im eigenen Innern durchlebte, sei ihm jene außer
ordentliche Anziehungskraft eigen gewesen, mit der er fast ein halbes Jahr
hundert in der Stadt wirkte, welche schon der Schauplatz seiner Kindheit gewesen war.
Jedenfalls hat er hier dem philologischen Studium einen
neuen Aufschwung gegeben und der Greis genoß später als eine Art gei stiges Haupt der Universität bis zu seinem Tode 1869 allgemeinster Ach tung und Verehrung..
Zu Göttlings Schülern aber gehörte Ghmnasialdirector Lothholz
in Stargard, der seiner Pietät gegen den einstigen Lehrer in einem bio
graphischen Aufsatz Ausdruck gab, den das dortige Ghmnasialprogramm von 1876 brachte.
Wir können Göttling's Leben hier bis zum Antritt
der Jenaer Professur verfolgen.
Er war 1793 in Jena geboren, wo
bereits sein Vater Professor war und sich durch seine Kenntnisse — er lehrte Chemie — bis zu seinem Tode 1809 Goethes Anerkennung erwarb.
Dann
erhielt der Sohn in Weimar seine Ghmnasialbildung, wo
u. a. Passow und Joh. Schulze seine Lehrer waren.
Angeboren war
ihm ein starkes Gefühl für Selbständigkeit und Freiheit; sein Charakter
entwickelte sich zu vollster sittlicher Festigkeit.
Mit lebendiger Theilnahme
an der großen vaterländischen Sache machte er als reitender Jäger den Feldzug von 1814 mit; ein frischer Zug patriotischer Begeisterung blieb fortan in der Brust des Heimgekehrten lebendig.
So dichtete er kräftige
Lieder, die wohl auch jetzt noch im Kreise der studirenden Jugend ange stimmt werden (z. B. Stehe fest, o Vaterland; Rheinwein nur aus Römer
bechern trinket u. «.).
Ein wenig ergriff ihn auch die Deutschthümelei der
Er hatte den Turnvater Jahn persönlich kennen gelernt; er erwärmte
Zeit.
sich für die Herrlichkeit deö deutschen VolksthumS und schrieb einige ger
manistische Abhandlungen. lungenliede.
So suchte er nach dem Geschichtlichen im Nibe
Wenn er aber in den Nibelungen und Wölsungen der Sage
durch kühne Combination die Ghibellinen und Welfen nachweisen wollte,
widersprach ihm Wilhelm Grimm und warf ihm die luftige Hypothese um; aber er erkannte zugleich an, daß Göttling mit schöner Liebe zur Sache, mit
Leben und Geist geschrieben habe*). Bald darauf führte die Wirksamkeit an einem Gymnasium ten viel
seitigen Mann in das ihm gemäßere Gebiet des klassischen Alterthums zurück.
Von der gesegneten Wirksamkeit, durch die er in Rudolstadt die
burschikosem Treiben zugewandte Jugend für Griechenthum und deutsche Litteratur zu begeistern und idealem Streben in liberaler Weise zu ge winnen wußte, legen die Bekenntnisse eines Mannes Zeugniß ab, welcher
später ganz andere Bahnen eingeschlagen und mit fanatischem Hasse alle
freiere humanistische
Bildung verfolgt hat.
Heinrich Leo's Bericht ungeheuchelte Liebe
Trotzdem
spricht sich
in
und Verehrung für den
früheren Lehrer aus, mit dem er auch nachher in freundschaftlicher Ver
bindung geblieben ist. — Weniger erquicklich als das Rudolstädter Schul amt gestaltete sich für Göttling das Directorat eines neu gegründeten Gymnasiums in Neuwied.
Daß die preußische Regierung dem jüngst ge
wonnenen Rheinlande die Wohlthat
gründlicher Gymnasialbildung zu
wenden wollte, war löblich; aber sie machte einen Fehler, den die Ge schichte deö Schulwesens nur zu oft zu verzeichnen hat, sie dotierte das
Gymnasium zu schlecht.
Die Meinung von der Lebensfähigkeit der idealen
Güter war so hoch, daß man die realen Vorbedingungen einer genügenden finanziellen Ausstattung der Schule zu gering schätzte.
Dazu kam nun
eine Sinnesweise in den Kreisen des rheinischen Publikums, von der man
ja nicht glaube, daß sie seitdem ausgestorben wäre.
Instinktiv witterte
ein gewisser Bestandtheil unseres Volks in der Verbreitung der Bildung,
welche auf das Alterthum, vor allem das hellenische, begründet und für *) Leipziger Litteraturzeitung 1817, Nr. 86.
Karl Wilhelm Göttling und sein Verhältnis zu Goethe.
136
die moderne, namentlich für die deutsche Litteratur und Geistesentwickelung bestimmend geworden ist, eine Macht, welche immer mehr mit dem faulen Schlendrian der Alltäglichkeit aufräumen möchte und das Recht idealer
Güter gegen die ausschließliche Herrschaft der materiellen Interessen verficht.
Nur diese letzteren aber wußten die Bürger von Neuwied zu würdigen. Der Haß gegen die Zumuthung des neuen Ghmnasialdirectors, daß die
Jugend vor allem auch tüchtig Griechisch lernen solle, nahm ganz eigen
thümlichen Ausdruck an.
Die griechischen Buchstaben verdürben die deutsche
Handschrift, schrieen die Philister.
Als der Magistrat unentbehrliche Geld
mittel für die neue Schule hergeben sollte, versuchte er das an die Be dingung zu knüpfen, es möge der griechische Unterricht nicht mehr für alle
Schüler verbindlich sein.
Siegreich gegen solche Stimmung des Publikums
durchzudringen war unmöglich.
GöttlingS trefflicher Mitarbeiter, der
Historiker Friedrich Körtüm, später bis 1858 Professor in Heidelberg,
und er selbst baten schon nach zweijähriger Thätigkeit das rheinische Schul
collegium um ihre Entlassung.
gemacht.
Der erstere hatte sich auch sonst mißliebig
Als ein Beamter sich in seiner Gegenwart wegwerfend über
E. M. Arndt äußerte — den ja die Regierung 1819 wegen zu freier
Gesinnung seines Amts enthoben hatte, — gab Kortüm dem Herrn eine tüchtige Ohrfeige.
Nun erhielt er ohne Anstand seinen Abschied.
Director freilich mußte noch einige Monate aüShalten.
Der
Erst August 1821
konnte auch er sein Amt niederlegen, um sich nach mehrmonatlichem Aufent
halt in Paris in seiner Vaterstadt Jena zu habilitieren. Ohne Nutzen wird der Aerger, den das Scheitern des Neuwieder Unter
nehmens Göttling brachte, für ihn nicht gewesen sein. Eine Abhandlung, welche er im Neuwieder Gymnasialprogramm 1819 über den Zweck humanistischer Bildung („die Gegenstände des Gymnasialunterrichts") erscheinen ließ,
beweist, wie sehr ihn gerade der Gegensatz gegen die abweisende Stim mung der Bevölkerung zu gründlichem Nachdenken über das Recht der
klassischen Studien in unserer Zeit angeregt hatte.
Noch heute liest mau
die kräftigen, schlagenden Worte gern, die er damals sagte und die für das kernig frische Wesen des Mannes bezeichnend sind.
Wie richtig war
eS zum Beispiel, wenn er aus dem Religionsunterrichte „das halbphilo
sophische Schwätzen" verbannt wissen wollte, das in seiner Langweiligkeit bloß von narkotischer Kraft sei; wenn er in den alten Sprachen, im Deutschen und der Mathematik die für die Jugend wichtigsten Lehrgegenstände er kannte.
Von den ersteren behauptet er mit gutem Grunde, sie seien über
Wind und Wetter der Modethorheit hinaus; es sei ein schlimmes Zeichen für wahrhafte Bildung, wenn über zu vieles Griechisch- oder Lateinlernen
an Gymnasien geklagt werde.
Ein Gymnasium „will nicht betrachtet sein
als eine Sammlung von Leuten allerlei Gewerbes und Treibens, nicht als eine Menagerie von jungen Theologen, Aerzten, Jliristen, sondern es
will allen diesen ohne Ausnahme einen gleich haltbaren Grund der Bildung
verschaffen."
Wenn man verlange, daß der Unterricht auf das später zu
ergreifende Fach besondere Rücksicht nehme, könne man mit gleichem Rechte fordern, der Lehrer solle den Schülern hübsch nebenbei die Buchhalterei
oder das Pflügen beibringen.
So bestimmt ist Göttling dagegen, daß sich
im wissenschaftlichen Jugendunterricht „der Brotgeruch des künftigen bürger lichen Erwerbes" spürbar mache.
Sehen wir ihn bald darauf durch Goethe's Vertrauen geehrt, so
mögen ähnliche Meinungsäußerungen recht wohl dazu beigetragen haben. Denn daß „das Studium der griechischen und römischen Litteratur immer fort die Basis der höheren Bildung bleiben" müsse, war ja auch des
Dichters Ueberzeugung.
Aber er wäre auch trotz seiner Vorliebe für
die Naturwissenschaft mit dem verdammenden Urtheil einverstanden ge wesen, welches jener über den gewöhnlichen Unterricht in der Naturge
schichte fällte, über die Darlegung des Nützlichen der Natur in systemati
schem Vortrage,
über die „geripphafte Nomenclatur", in welche dieser
Unterricht so oft ausarte, vor allem auch über den Versuch, dem Gegen
stand „eine religiöse Beziehung zu geben durch allerlei gutmüthige Hin
deutungen auf die Allmacht und Güte Gottes, welche die Kraken des Nord meers versorge wie die Mülben des Moders". — Persönliche Beziehungen zu Goethe begannen, als Göttling in Jena
außerordentlicher Professor geworden war und nun September 1824, —
nachdem auch Knebel den etwas zaghaften dazu ermuthigt hatte, — seine Ausgabe der Politik des Aristoteles dem Manne zueignete, „dem sich die
wahrhafte Universalität des aristotelischen Geistes befreundet gefühlt haben
würde", wie keinem Manne der neueren Zeit.
Wenn er dann in dem
Dedicationsbriefe darauf hinwies, Aristoteles habe nach seiner philosophi
schen Weise nicht gleich Plato das Ideal einer Staatsverfassung aufstellen
können, sondern nur die verschiedenen bestehenden Verfassungen dargestellt und gezeigt, „daß nur durch ein Mittel die wahrhaft gute Verfassung, die Aristokratie, im Leben darzustellen möglich sei, nämlich durch Erziehung", so wird Goethe der die Knaben vor allem zu Dienern erzogen wissen
wollte, solcher Idee gewiß innerlich zugestimmt haben. Mit diesem Schreiben beginnt nun der eben erschienene Briefwechsel.
Dazu hat das Goethe-Archiv 28, Göttlings Schwester 57 Briefe beige steuert, die zusammen freilich erheblich geringeren Umfang haben, als die
des Philologen.
Gedruckt war bisher nur Goethe's letzter Brief an Gött
ling, worin er ihm September 1831 seine Freude ausspricht, daß er das
Karl Wilhelm Göltling und sein Verhältnis zu Goethe.
138
ihm angebotene Rectorat
der Schulpforte
abgelehnt habe*).
AuS den
Antworten Goethe's überzeugt man sich schnell, daß manches in Göttlings Briefen fehlt.
dem
Auf jenen ersten folgte ein Besuch GöttlingS bei Goethe,
er Vertrauen
eingeflößt haben muß.
Denn nun bittet ihn der
Dichter sich der eben begonnenen Ausgabe letzter Hand philologisch an
zunehmen. DaS gab zu regem Meinungsaustausch Veranlassung.
Zur Kritik
über das ihm gesandte Manuskript aufgefordert, hat Göttling die ihm er
theilte Erlaubnis in verlorenen Briefen offenbar mehrfach benutzt und mit
seinen Bemerkungen dem alten Herrn wiederholt Anschauungen herzlicher Zustimmung abgewonnen.
So muß er über Dichtung und Wahrheit ein
„die Betrachtung
treffendes Wort gesagt haben; denn Goethe erwidert:
über die Selbstbiographie ist sehr wichtig und erfreulich.
Es wäre schön
zu untersuchen, ob nicht Protestanten mehr als Katholiken zu Selbstbio
graphien geneigt sind.
Diese haben immer einen Beichtvater zur Seite
und können ihre Gebrechen hübsch einzeln los werden, ohne sich um eine
fruchtbare Folge zu bekümmern; der Protestant im entgegengesetzten Falle trägt sich selbst die Fehler länger nach unb ihm ist es doch um ein sitt
liches Resultat zu thun."
Daneben gehn sprachliche Bemerkungen.
Aus
drücke wie „hantiren" und „die davon heulenden Wölfe" (in dem Zigeuner-
liede des Götz) bittet Goethe dem Oberdeutschen und Dichter freundlich
nachzusehn.
Der Flexion
„köstlichen Sinnes"
erklärt er sich nicht ent«
schlagen zu können; er nennt das eine Idiosynkrasie.
Der Grammatiker
hatte ihm also bewiesen, daß es heißen müsse „köstliches Sinnes".
Aber
immer mehr hat sich seitdem der Sprachgebrauch für das Falsche entschieden. Im Jahre 1827 erschien der I. Band der II. Auflage von Niebuhrs römischer Geschichte.
Gleich nach der ersten Lectüre hatte Goethe über
den Eindruck, den das Buch auf ihn gemacht, einige Zeilen für Niebuhr
auf ein Blatt geschrieben; er hatte eS in wenigen Tagen, Abenden und Nächten von Anfang bis zu Ende durchgelesen, nachdem er schon der ersten Ausgabe die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Triumph
Kritik".
der Wahrheit und erfreute sich
Er erkannte darin einen
an diesem „Musterbilde der
Nun machte ihm Göttling bemerklich, es wäre doch schön, wenn
über das Buch auch in der Zeitschrift für Kunst und Alterthum Bericht
erstattet würde,
„wenn" schrieb er, „die Geschichte eines Mannes, der
Ew. Excellenz Geiste gewiß verwandt genannt werden kann, auch öffent liche Anerkennung von Ew. Excellenz erhielte". — Doch fühlte Goethe
sich nicht im Stande, sich „auf den Grad zu sammeln, um über diesen
*) Goethe in amtlichen Verhältnissen von Bogel S- 400.
Gegenstand etwas wahrhaft Würdiges" zu sagen, und ersuchte Göttling um eine Besprechung des Buchs für die Zeitschrift.
Der kam der Auf
forderung nach und erhielt darauf einen Brief, der begann: „Ew. Wohl
geboren haben mir durch die Entwickelung des Niebuhrschen Werkes ein großes Geschenk gemacht; sie ist völlig nach meinen Wünschen und über meine Erwartnng; dabei so vollkommen klar und schön, daß man glaubt, man habe sie selbst schreiben können."
Bald darauf rüstete sich Göttling zu seiner italienischen Reise. Goethe schreibt ihm:
„auf die Reise freue ich mich in Ihrer Seele.
Wenn ich
einen Freund auf eine solche Fahrt sich bereiten sehe, ist es mir, als wenn
ich selbst einpacken müßte ihn zu begleiten."
Darauf ging der Professor
Anfang März 1828 über München nach Venedig.
Schon in der bairi
schen Residenz machte er an sich die Entdeckung, daß er sich in den Ge
mäldegalerien nicht recht heimisch fühlte, während ihm bei braven Sculpturarbeiten stets wohl wurde.
Wenn er das zum Theil auf die „furchtbare
Monotonie der greulichen christlichen Mythologie" schob, so empfand er auch hierin sehr ähnlich wie Goethe.
So nennt er denn die Glyptothek
eine einzige, wahrhaft königliche Anstalt.
Abendgesellschaft die Celebritäten des
Bei Thiersch sah er in einer
damaligen München:
Schelling,
Boisseröe, Cornelius rc.; dann hospitirte er in einer Vorlesung des christ
lichen Mystikers Görres und versichert, er habe nie einen widerlicheren Vortrag widerlicherer Dinge gehört als dessen deutsche Geschichte, und der Docent habe den fatalen Eindruck noch durch beständiges Spucken, Kratzen des Kopfes und Rücken der Halsbinde verschlimmert.
Kein Wunder, wenn
sich die 500 Zuhörer, die er anfangs hatte, bald auf 50 verringerten.
H. Thiersch erzählt in der Biographie seines Vaters, Görres sei in einem Colleg über Universalgeschichte in einem
ganzen Semester nur bis zur
Sintflut gekommen. Von München ging GöttlingS Reise durch den Schnee der tiroler
Alpen.
Bald klangen die ersten italienischen Laute an des Reisenden Ohr.
Bedenklich genug sahen ihm in den Gaststuben die Maulthiertreiber und Vetturine aus, welche mit verdächtigen Gesichtern den scheußlichsten Stockfisch
verzehrten; aber mit diesen Gesichtern befreundete er sich bald, „denn zu einem Mantel, den der erbärmlichste Schuft mit einer gewissen Gravität umwirft, stehn sie gut".
An den Italienerinnen aber gefiel ihm, daß sie
die schöne Sitte haben, sich nicht zu schnüren „wie Felleisen". hing Werther und Lotte über seinem Bette.
In Padua
In Venedig schaffte ihm ein
Brief Goethe's Zutritt zum Grafen Cicognara, dem Schöpfer der academia delle belle arti.
Dort fand sich eine Gesellschaft zusammen; eine Gräfin
Albrizzi, die als die donna letterata der Stadt galt, bedauerte, daß
Karl Wilhelm Götlling und sein Verhältnis zu Goethe.
140
Se. Excellenz v. Goethe sich neüerdings nur 24 Stunden in Venedig auf
gehalten habe; es sei ihr aber sehr schmeichelhaft gewesen, Nsit einem Be suche Sr. Excellenz beehrt worden zu fein.
In plumper deutscher Ehr
lichkeit constatierte Göttling, daß Goethe seit fast 40 Jahren nicht dort gewesen sei; auf einen Wink des Grafen aber •stimmte er noch rechtzeitig
der liebenswürdigen Unverschämtheit zu. — Vier Wochen später war er in Rom.
„Wahrhaftig, das sind hei
ligere Plätze/' ruft er aus, „als alle Kirchen, die aus dem Raube des Heidenthums erbaut sind."
Ein einsichtiger Führer war ihm für die To
pographie wie für die Kunstwerke Eduard Gerhard.
Beim Anblick der
Peterskirche regte sich in dem deutschen Protestanten ein gewisser Trotz
gegen das große Gebäude, dessen Bau dereinst mittelbar den Protestan tismus hervorgerufen hatte und das nun seine zwei krummen Arkaden wie
ein paar große Krebsscheeren dem Ankommenden entgegenstreckt.
Dann
entzückte ihn das eben fertig gewordene Modell des Alexanderzugs in Thorwaldsens Werkstätte, während ihm Raphaels Fornarina nicht recht gefallen
wollte.
Er nennt sie eine Dame mit dickem Unterleibe, dünnen Ober
armen und unzweckmäßigem Busen.
Im folgenden Monat führte den Reisenden sein Weg nach Sicilien
und Malta.
Neben der südlichen Vegetation imponirte ihm das Besondere
in der Form der sicilischen Berge, die ihm alle wie geköpfte Riesen vor kamen.
Als er eine Klosterbibliothek in Messina besuchte und sich über
zeugte, daß dort schöne Handschriften alter Klassiker völlig ungekannt und unbenutzt lägen, fühlte er sich als rechtschaffener Bibliothekar versucht, einen Petronius für die Bibliothek in Jena vor den Augen der unwissenden Mönche verschwinden zu machen — aber die Gefälligkeit und Gutmüthigkeit
der feisten Brüder entwaffnete ihn.
Gewaltig war der Eindruck der Tempel-
und Theaterruinen von Selinunt und Segest; und in der dortigen Wildniß ward er lebhaft an Goethes Lied erinnert: „in Höhlen wohnt der Drachen
alte Brut," „wie man denn" schreibt er „gar bald inne wird, daß man
zwar dieses Lied des Dichters in Deutschland recht lieb gewinnen kann, daß
man es aber erst in Italien ordentlich verstehn lernt, z. B. was es heißt: die Mhrte still und hoch der Lorbeer steht."
Auf der Rückkehr erfuhr er
in Neapel Karl Augusts Tod; das trübte ihm dort den Aufenthalt. In Rom aber beruhigte ihn der Anblick alles Großen und Herrlichen der ewigen
Stadt; „mir wird klar" schreibt er, „wie das Andenken an große Männer
nie vergeht Denn gestaltlos schweben umher in Persephoneias Reiche massenweis' Schatten vom Namen getrennt;
Wen der Dichter aber gerühmt, der wandelt gestaltet,
Einzeln, gesellet dem Ehor aller Heroen stch zu.
Dann folgen noch lebendige Bilder
aus Pompeji,
Rom und Florenz.
Bei Canovas Venus empfindet Göttling lebhaft den Unterschied von der
„Dort hat sich bei mir nichts geregt als was sich bei einer
mediceischen.
Princessin des Palais Rohal regt, ein Trieb sich fortzupflanzen; hier aber ist mehr, es ist jungfräuliches Wesen, aber nicht geziertes der neuen Zeit, sondern ein reines, freies, ungekünsteltes."
Heimgekehrt, schreibt Göttling aus Jena, er habe sich darmlf gefreut daS ihm liebgewordene Geschäft der Werke wieder aufzunehmen.
„Vieles
lerne ich erst jetzt verstehn und lieben in E. Excellenz Werken, seitdem
ich mir durch Italien einen honetten Hintergrund in mein Leben geschafft habe."
Goethe erwiedert u. a.:
„Nun aber möchte ich Ihnen recht lebhaft und gründlich auSdrücken, wie ich an dem Gewinne theilnehme, den Sie so glücklich nach Hause ge
bracht haben.
Ihr Gleichniß vom Hintergründe gefällt mir sehr wohl.
Denn wenn wir auf unseren thüringischen Wegen vor uns hingehen und
eben nicht ganz reizende Landschaften im Auge haben, so dürfen wir uns nur umdrehen um Dioramas und Panoramas zu erblicken, ewig klarer und
untrüblicher Art, die uns immer wieder in die heiterste Stimmung ver
setzen." Der Philologe ging demnächst wieder an seine Arbeit der Revision und
Correctur.
Er machte die Entdeckung, daß ihm in den Wanderjahren
— von denen damals nur der erste Theil existirte — noch ein ganz neuer
Genuß erblühte.
In dem Aerger der Neuwieder Geschäfte hatte er für
das Buch nicht die rechte Empfänglichkeit gehabt, war auch durch Pust-
kuchenS falsche Wanderjahre abgeschreckt worden; jetzt zog die Erzählung ihn auf daS lebhafteste an, die keine Seite des menschlichen Lebens un berührt lasse.
Bei der Darstellung der Gebirgspinnerei in der Geschichte
Lenardos bestätigte er die Wahrheit der Darstellung, da er sich einmal in Leuck überzeugt habe, daß eS wirklich in den Spinnstuben jener ein fachen ehrlichen Gebirgsvölker so hergehe.
theilung erfreute,
Wie sehr Goethe diese Mit
sieht man daraus, daß er sie zwei Tage nach dem
Empfang wörtlich in einen Brief an Zelter aufnahm.
ling auch den Anfang vom zweiten Theil des Faust.
Bald erhielt Gött
Höchlichst erbaut
davon äußerte er dem Dichter den Wunsch, Faust möge vom Teufel doch
auch an den Hof des heiligen Vaters gebracht werden, ein überraschender, aber für Goethe nicht brauchbarer Einfall. — Ueber Goethes in der neuen
Ausgabe bald folgende italienische Reise bemerkt Göttling: „gar anmuthig
ist eS, wie der Reisende diesseits der Alpen meist immer nach Wind und
Wetter sieht, während er sich jenseits gar herrlich mit der Erde beschäftigt
142
Karl Wilhelm Göttling und sein Verhältnis zu Goethe.
und höchst selten vom Himmel spricht, während die Masse der Reisenden nicht genug vom schönen italienischen Himmel erzählen kann."
Abgesehen von. den auf den Inhalt Goethischer Dichtung bezüglichen
Bemerkungen enthalten nun Göttlings Briefe noch eine Reihe von Correcturen deS Textes, die, wo sie rechtzeitig kamen, benutzt werden konnten,
zum Theil aber, wo sie Druckfehler der Taschenausgabe betrafen, erst der später erscheinenden Octavauögabe zu gute kamen*).
jetzt nicht mehr.
Neues, bieten sie
Eben so wenig liegt Veranlassung vor, genau darauf
einzugehen, wie dem Augsburger Setzer Gleichmäßigkeit in der Ortho graphie mühsam abgerungen und manches Unrichtige (allmälig statt all
mählich, pythagoräisch statt pythagoreisch, ionisch für jonisch u. s. w.) be seitigt wurde. Wer heut die Ausgabe letzter Hand darauf ansieht, überzeugt sich
leicht, daß sie kein Muster von Correctheit ist.
Den Aufgaben aber, die
Göttling zugewiesen waren, genügte dieser offenbar mit voller Gewissen
haftigkeit.
Daher waren die Aeußerungen freundlichsten Dankes, die sich
durch Goethes Briefe ziehen, wohlverdient.
Auch sonst wissen wir, daß er
dem Bibliothekar in Jena volles Vertrauen und Anerkennung zollte. den Acten findet sich ein Vermerk von ihm, worin eS u. a. heißt:
In
„DeS
Bibliothekars Dr. Göttling Thätigkeit ist zu rühmen, die er bewiesen, um das Andenken abgeschiedener Professoren zu erhalten. ... Denn nichts
ist
wünschenswerter, als die Erhaltung der Gestalt eines verdienten
Mannes**)." Solchem Zwecke dient daS eben erschienene Buch in mehr als einer
Beziehung.
DaS sichert dem Herausgeber den Dank seiner Leser.
*) So ist von den Druckfehlern der Wanderjahre, die Göttling in der Taschenausgabe rügte, nur der erste in der OctavauSgabe uncorrigirt geblieben; vermuthlich, weil seine Bemerkung zu spät kam. Alle andern sind in der OctavauSgabe bereit« Ver beffert. Demnach hat also Göttling doch einiges Verdienst um die Eorrectheit des Textes. **) Vogel a. a. O. S. 55.
Karlsruhe.
G. Wendt.
Die Selbstverwaltung im Vormundschastsrecht. Das Vormundschastsrecht hat den Zweck für diejenigen Personen, welche für sich selbst nicht zu sorgen im Stande sind, in Ermanglung von
natürlichen Vertretern, eine Leitung und Vertretung zu beschaffen. Im ältesten römischen Recht war die Vormundschaft Sache der Fa
milie,
der Staat hielt eS noch nicht für seine Aufgabe, für die persön
lichen Angelegenheiten seiner schutzbedürftigen Glieder zu sorgen.
All
mählich aber tauchte die Idee auf, daß diese Sorge doch im Sntqreffe des
Staates läge, und so nahm er die Leitung der Vormundschaft in die Hand und schuf Garantieen für eine gute Verwaltung des Mündelvermögens.
Auch das deutsche Recht sah ursprünglich die Vormundschaft als
Recht und Pflicht der Familie an, wenn es auch schon früh den Königs schutz als Aufsicht kannte. Seit der Reception des römischen Rechts in
Deutschland wurde die staatliche Aufsicht auch hier bet weitem vermehrt;
eS wurde Pflicht des Vormunds, dem Staate Rechenschaft von seiner Ver waltung abzulegen.
Am konsequentesten ist dann die Theorie von der Sorge des Staats für die Erziehung der Minderjährigen und die Erhaltung mögens im preußischen Landrecht durchgeführt,
ihres Ver
welches die Leitung der
Vormundschaft fast ausschließlich den Gerichten übertragen hat.
Entgegen
gesetzt diesem System legt das rheinische, d. h. französische Recht den Schwerpunkt in den aus Verwandten des Mündels gebildeten Familtenrath.
Zwischen diesen Theorieen hatte das neue preußische Vormundschasts recht die Wahl, und eS hat einen Mittelweg eingeschlagen, indem eS in
erster Linie nahe Verwandte, insbesondere die Mutter, oder von diesen
Ernannte zu Vormündern beruft und auch bet Führung der Vormund schaft in wichtigen Angelegenheiten der Vermögensverwaltung die Mit
wirkung von Verwandten verlangt, die Erziehung aber, ganz abgesehen davon, wem im einzelnen Falle die Vormundschaft übertragen ist, nur
unter Aufsicht des Vormundes, ganz der Mutter überläßt.
Das Vor
mundschaftsgericht ist über diesen Personen nur zur Beaufsichtigung des Preußische Jahrbücher.
XLVII. Heft 2.
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Ganzen berufen.
Daneben kennt die preußische BormundschaftSordnung
auch das Institut des FamilienratHS, aber in wesentlich anderer Form,
alS das französische Recht, da sie einen solchen nur in besonderen, im
Gesetze vorgesehenen Fällen, nicht bei jeder Vormundschaft in Wirksam keit treten läßt.
AuS der verschiedenen Stellung, die der Staat in den einzelnen
Rechtsgebieten betreffs der Vormundschaft einnimmt,
Differenzen betreffs
der Frage, wer
folgen nun
auch
das eigentliche vormundschaftliche
Organ ist, ob der Vormund oder eine Behörde.
Es soll hier ganz außer
Acht gelassen werden, daß die verschiedenen Staaten zu diesem Zwecke auch verschiedene Behörden berufen haben, wie es ja auch bei Berathung der jetzigen preußischen Vormundschaftsordnung erst wieder streitig gewesen ist, welcher Behörde die Leitung, bezüglich die Beaufsichtigung der Vormund
schaft zukommen soll, ob wie es größtentheils der Fall gewesen, den Ge richten, oder etwa Gemeindebehörden.
Im französischen Recht ist daS
eigentliche Organ der Vormundschaft der Familienrath, im römischen und
gemeinen Rechte der Vormund, nur unter Leitung und Aufsicht des Ge richts.
Das preußische Landrecht hat ebenfalls, obwohl das vielfach be
stritten worden ist, den Vormund und nicht die Gerichte als die vormund
schaftlichen Organe hingestellt:
„Diejenigen, welchen der Staat die Sorge
für seine Pflegebefohlenen in Ansehung aller ihrer Angelegenheiten aufge
tragen hat, werden Vormünder genannt", heißt es im § 3 Tit. 18 Th. II. A. L. R.
Sie sind nach § 235 1. c. als Bevollmächtigte des Staats an
zusehen und sind nach § 236 1. c. allerdings schuldig, sich bei Führung ihres Amts nach den Vorschriften der Gesetze und den besonderen An
weisungen des sie dirigirenden und Vormundschaftsgerichts sorgfältig
beständig unter Aufsicht haltenden
zu achten verpflichtet.
Steht hiernach
auch dem Gerichte die Direktion zu, und weist ferner das Gesetz auch genau an, in welcher Weise mit dem Vermögen der Mündel verfahren werden soll, führt schließlich das Gericht im Resultat auch die Verwaltung
des Mündelvermögens, so ist das zunächst handelnde vormundschaftliche Organ doch der Vormund. Vielleicht war die Gebundenheit des Vormundes an die im Gesetz vorgeschriebenen Schranken eine zu lästige, die möglichen vorkommenden
Fälle nicht genügend berücksichtigt; die preußischen Gerichte waren, wie
auS den Motiven zur Vormundschaftsordnung hervorgeht, mit dem be stehenden Rechte nicht einverstanden, und um nun diese Mängel zu be seitigen, wurde in der neuen Vormundschaftsordnung als erstes Princip
hingestellt, daß nicht mehr der Staat, bezüglich feine Gerichte, sondern die Vormünder selbständig die Verwaltung des Mündelvermögens zu
führen hätten.
Das Vermögen bleibt hiernach in der Hand des Vor
munds, er hat dasselbe nach seinem besten Ermessen anzulegen und zu verwalten und ist dabei nur an gewisse Schranken, die im Gesetz näher
bezeichnet sind (cfr. § 39 der Vormundschaftsordnung), gebunden.
Ein
Gegenvormund und über diesem wieder das Vormundschaftsgericht hat nur die Beaufsichtigung der Vormundschaft; das Letztere ist also ohne jede
Initiative und hat nur zu prüfen, ob der Vormund innerhalb der gesetz lichen Schranken geblieben ist.
Die Selbstverwaltung, die sich in der
hmtigen Gesetzgebung mehr und mehr Geltung verschafft, ist somit auch in das Vormundschaftsrecht eingedrungen, schwerlich aber im Jntereffe der
Sache und zum Heile der Mündel. Für das persönliche Wohl der Mündel, also insbesondere für die
Erziehung ist eine Zwischeninstanz zwischen dem Vormund einerseits und dem Gericht andererseits in dem Institute der Waisenräthe eingesetzt,
welche Gemeindebehörden sind und dem Gericht, im Falle ein Einschreiten erforderlich ist, Anzeige zu erstatten, auch das Vorschlagsrecht der Vor münder und Gegenvormünder haben.
Es läßt sich nicht verkennen,,daß
diese durch die BormundschaftSordnung eingeführte Neuerung für alle Betheiligte von großem Interesse und für die Mündel sehr heilsam ist.
Die
Vormünder deS Landrechts hatten dem Gericht alljährlich Erziehungsbe richte betreffs ihrer Mündel einzureichen, und oft genug mag es dabei vorgekommen sein und ist vorgekommen, daß die Vormünder,
in dem
Glauben, ihre Mündel befänden sich noch, wie im letzten Bericht ange geben, an demselben Orte und in derselben Stellung, einfach ihre letzt jährigen Angaben wiederholten, ohne daß dieselben noch der Wirklich keit entsprachen.
Der Richter, und nicht nur in den großen Städten,
sondern auch an kleineren Orten, betreffs der auf dem Lande zu führenden
Vormundschaften, war gar nicht in der Lage, die Richtigkeit der Angaben aus eigener Anschauung zu prüfen, die Berichte dienten daher nur zur unnützen Anfüllung der Akten.
Anders jetzt, wo die Behörde gesetzlich
verpflichtet ist, über die Erziehung zu wachen.
Daß aber eine Gemeinde
behörde vielmehr dazu angethan ist, sich um persönliche Angelegenheiten
zu kümmern, als der Richter, kann wohl keinem Zweifel unterliegen.
Nur
wird der Staat dafür Sorge tragen müssen, daß den von ihm dazu be stimmten Behörden ihre Pflichten auch bekannt gemacht werden.
bloße Veröffentlichung
einer solchen Gesetzesbestimmung
Die
in der Gesetz
sammlung nützt in diesem Falle nichts; sonst würde es nicht vorkommen,
daß noch in diesem Jahre, also fünf Jahre nachdem die Vormundschafts ordnung in Geltung ist, Waisenräthe existiren, die von den ihnen als
solchen obliegenden Verpflichtungen keine Ahnung haben und glauben, ihr 10*
Amt bestünde einzig und allein darin, auf Verlangen geeignete Personen zur Uebernahme von Vormundschaften vorzuschlagen.
Hat sich diese Ein
richtung aber erst einmal eingebürgert, so wird sie gewiß im Interesse
der Mündel von den segensreichsten Folgen begleitet sein, da die Ge meindevertreter den Gliedern der Gemeinde am nächsten stehen und somit sich um die persönlichen Angelegenheiten derselben zu kümmern, am ehesten
in der Lage sind. Anders steht es aber mit der Verwaltung des Mündelvermögens. Das allgemeine Streben nach Selbstverwaltung hat hier dazu geführt,
den Vormund von der Leitung des Vormundschaftsgerichts möglichst zu
emancipiren, ihn als allein handelnd und verwaltend hinzustellen.
Das
Losungswort von der Befreiung der staatlichen Bevormundung ist aber
nirgends weniger angebracht,
als im Vormundschaftsrecht.
Der ganze
Zweck der Vormundschaft ist die Sorge des Staates für die des Schutzes Bedürftigen, in der Hauptsache die minderjährigen Waisen.
In seinem
eigenen Interesse hat der Staat für dieselben zu sorgen, und deshalb muß
der Schutz, den er ihnen angedeihen läßt, auch ein derartiger sein, daß
er von Wirksamkeit ist.
In persönlicher Beziehung hat die Vormund
schaftsordnung hier das Richtige getroffen, indem sie der Mutter in erster
Linie die Erziehung ihrer Kinder überläßt; kein Anderer ist ja wie diese
im Stande, die Erziehung, wenigstens in der großen Mehrzahl der Fälle, zu leiten.
Anders in vermögensrechtlicher Beziehung.
Hier ist wieder
in den meisten Fällen die Mutter das ungeeignetste Organ.
Denn ganz
abgesehen davon, daß dieselbe hinsichtlich ihrer eigenen und der Vermö gensangelegenheiten ihrer Kinder häufig in Collision kommt, ist eine Frau nicht dazu angethan, ein Vermögen zu verwalten.
Die Vormundschafts
ordnung hat trotzdem der Mutter, sofern sie Vormünderin ihrer Kinder ist — zu welchem Amte sie ein Recht hat — auch die Verwaltung des
Vermögens überlassen; ja sogar ist sie von der den übrigen Vormündern auferlegten Verpflichtung, Rechnung über ihre Verwaltung zu legen, be freit,
lange,
also noch viel unumschränkter, als jeder andere Vormund.
So
wie dies nach dem Landrecht der Fall war, die Vermögensver
waltung in der Hauptsache dem Gericht oblag, war eine Bestellung der
Mutter zur Vormünderin ihrer Kinder gewiß nur praktisch und geradezu wünschenöwerth, da sie am sichersten dem Gericht über ihre Kinder Aus kunft zu geben vermochte; anders nach der Vormundschaftsordnung, nach
welcher ihr so bedeutende Rechte etngeräumt sind.
Der Staat stellt sich
damit auf den Standpunkt, daß er nur subsidiär für das Wohl der
Minderjährigen Sorge zu tragen habe, daß in erster Reihe diese Sorge der Familie obliege.
Aber so sehr ja auf der einen Seite daS Interesse
der Familie an der Sorge für die Kinder als berechtigt anerkannt werden
muß, so sehr muß doch andererseits die mögliche Gefahr, die den Mündeln
daraus erwachsen kann, in Betracht gezogen werden, und unseres Er achtens muß diese letztere Rücksicht bei der Frage nach der Führung und
Leitung der Vormundschaft überwiegen.
Die Beaufsichtigung der Mutter
durch den Gegenvormund und durch das Gericht, von der noch die Rede
sein wird, fällt gegenüber den Befreiungen der Mutter noch weniger in'S
Gewicht, als bei den übrigen Vormündern.
Denn auch die Aufsicht, die
diesen durch das Gesetz gegeben ist, ist zum Schutze der Mündel nicht
ausreichend.
ES mag hierbei noch ganz außer Acht bleiben, in wievtelen
Fällen die den Vormündern gewährte freie Verwaltung zu Veruntreuungen geführt hat — dem Verfasser fehlen hierüber die nöthigen statistischen
Nachrichten —, aber auch, wenn diese Fälle, waS nach den Zeitungs nachrichten
nicht
wahrscheinlich
ist,
noch
so
selten vorkommen,
schon
diese wenigen schädigen Mündel, deren Schutz dem Staate obliegt und
unter Umständen sehr erheblich.
Was nützt in diesen Fällen die nachher
eintretende Bestrafung des Vormundes dem Mündel, wenn er um fein
Vermögen gekommen ist, was nützt ihm der Anspruch auf Schadenersatz
gegen den Vormund, wenn dieser kein Vermögen hat!
Der Staat kann
natürlich geschädigten Mündeln gegenüber nicht allgemein für haftbar er klärt werden, wenn er, resp, seine Beamten ihre Schuldigkeit gethan haben.
Diese Fälle der Untreue der Vormünder also ganz bei Seite gelassen,
sind von nicht geringerer Erheblichkeit diejenigen Fälle, die in den kleinen Städten und auf dem Lande am häufigsten vorkommen, in denen Vormünder
aus Unüberlegtheit und besonders aus Unerfahrenheit in Vermögensan gelegenheiten ihre Mündel ohne jede böse Absicht schädigen.
Man kann
von keinem Menschen verlangen, daß er, um vulgär zu sprechen, über seinen Horizont hinausgehe, und dieses Verlangen wird durch die Bor mundschaftsordnung an die meisten Vormünder der letztgedachten Kategorie
gestellt.
Leute, die selbst niemals ein irgendwie namhaftes Vermögen ge
habt und sich kaum um
andere Dinge,
als um die in ihren vier
Pfählen sich ereignenden gekümmert haben, sind nicht geeignet, selbständig
Mündelvermögen von nur einiger Erheblichkeit zu verwalten, in solchen Dingen aus eigener Initiative handelnd vorzügehen.
Insbesondere die
Landbevölkerung ist — man wird dies, und wenn man auf noch so fort
geschrittenem Standpunkte steht, anerkennen müssen — in dieser Beziehung
noch ungemein zurück und noch lange nicht reif zu solcher Selbständigkeit, die doch nur den Mündeln schließlich zum Schaden gereichen kann.
Die
Landbevölkerung steht noch fast durchweg auf dem Standpunkte, daß das Gericht die Behörde sei, die alle ihre Interessen wahrzunehmen habe,
ohne daß sie deshalb auch nur einen Schritt selbst zu thun brauche, und oft genug kommt es vor, daß die Landleute die einfachste ihn^n zugesandte
Verfügung nicht verstehen und sich auch selbst für nicht fähig dazu erklären.
Es mag richtig sein, daß die Vorschriften des Landrechts über die Verwaltung des Mündelvermögens viele Belästigungen im Gefolge gehabt haben; dies ist aber nicht zu verwundern, wenn man auf die Zeit der
Redaktion des Gesetzbuchs sieht, in welcher der Geldverkehr nicht der war, wie der unserer Tage.
Allein vor Allem blieb dem Mündel sein Ver
mögen sicher und intakt; es ließen sich keine neuen Unternehmungen damit anfangen, sondern Alles mußte im alten Zustande nur konservirt werden,
aber welcher Zustand im Interesse des Mündels als der wünschenöwerthere
erscheint, das kann wohl kaum fraglich sein. Vormundschaftsordnung vor, in welcher
Nun schreibt freilich die
Weise Mündelgelder
angelegt
werden sollen; allein nichts destoweniger achten die Vormünder auf diese
in ihren Bestallungen noch dazu abgedruckten Bestimmungen in vielen
Fällen gar nicht; insbesondere werden die Vorschriften betreffs der pu-
pillarischen Sicherheit bei Hypotheken sehr häufig außer Acht gelassen und dadurch den Mündeln unter Umständen großer Schaden zugefügt.
Landbevölkerung versteht diese Bestimmungen einfach gar nicht.
Die
Am liebsten
legen die ländlichen Vormünder die Mündelgelder bei den städtischen oder Kreissparkassen an, und gerade diese Art der Belegung ist nach der Vor
mundschaftsordnung so gut wie ausgeschlossen, da sie nur statthaben soll,
wenn die Gelder nach den obwaltenden Umständen in der sonst vorgeschriebencn Weise
nicht
stattfinden
kann.
Es
hieße aber gegen den
Geist des Gesetzes handeln, wollte man der bloßen Unerfahrenheit der Vormünder wegen, nur einigermaßen beträchtliche Summen bei den Spar kassen dulden.
Zu unzähligen Malen kommt eö daher in der Praxis vor,
daß daS eben erst in solcher Weise angelegte Geld wieder gekündigt und
von Neuem in vorschriftsmäßiger Weise untergebracht werden muß.
Zur Sicherung der Mündel schreibt nun die Vormundschaftsordnung vor, daß Vormünder, welche für den Mündel ein erhebliches Vermögen
zu verwalten haben, vom Bormundschaftsgericht zur Stellung einer Sicher heit
angehalten werden können;
allein diese scheinbar die Mündel so
sichernde Bestimmung wird vollkommen illusorisch dadurch, daß wer zur Stellung einer Sicherheit angehalten wird, die Vormundschaft einfach ab
lehnen karm.
Durch das Princip der Selbstverwaltung sind
aber be
sonders in den kleinen Städten und auf dem Lande die einigermaßen dazu geeigneten Leute so mit Ehrenämtern überhäuft, daß jeder froh ist,
ein neues Amt und noch dazu ein verhältnißmäßig so beschwerliches, wie die Vormundschaft ist, ablehnen zu können, und so braucht man nur das
Verlangen nach einer Kaution zu stellen, um der Niederlegung des Amtes sicher zu sein.
Der Richter ist demnach in den meisten Fällen gar nicht
in der Lage, die gewünschte Sicherstellung deS Mündelvermögens herbei zuführen.
Zur Controle und Beaufsichtigung des Vormundes ist durch die Vor mundschaftsordnung ferner das Institut des GegenvormundeS eingeführt,
der darauf zu achten hat, daß die Vermögensverwaltung ordnungsmäßig geführt wird und
in bestimmten, besonders vorgesehenen Fällen seine
Genehmigung zur Vornahme von Handlungen deS Vormundes zu ertheilen hat.
Die Anlegung der Mündelgelder soll zudem auch im Einverständnisse
mit dem Gegenvormund erfolgen. meisten Fällen nichts.
Auch diese Sicherung nützt in den
Die Untreue deS Vormundes kann der Gegen
vormund ebensowenig verhindern wie der Richter, oben gedachten Fällen,
und in den übrigen
in welchen eine schlechte Verwaltung durch den
Vormund zu befürchten ist, nützt die Beaufsichtigung des GegenvormundeS nichts, da die Auswahl für die Personen der Gegenvormünder keine größere
ist, als die für die Vormünder, und jene daher von einer Vermögens verwaltung ebensowenig verstehen, als diese.
Die Haftbarkeit deS Vor
mundes und GegenvormundeS kann, wenn dieselben unvermögend sind,
dem Mündel natürlich gar nichts nützen.
Wer aber bürgt überhaupt
dafür, daß der Gegenvormund in vorgeschriebener Weise den Vormund
kontrolirt? Sehr viele Vormünder und Gegenvormünder sind gar nicht einmal im Stande, die im Gesetz vorgeschriebene Verwaltungsrechnung
zu legen; sie lassen sich dieselbe durch sog. Winkelkonsulenten oder an dere
Personen
Namen.
anfertigen und unterschreiben sie höchstens
mit ihrem
Vielfach erinnert sich bei dieser Gelegenheit auch erst der Gegen
vormund seines Amtes und muß zur Prüfung der Rechnung noch von Gerichts wegen angehalten werden.
Die bei der Schaffung dieses In
stituts leitend gewesene Idee, daß der Gegenvormund eine stetige Controle
über den Vormund ausübe, welche bei der richterlichen Beaufsichtigung
nicht erwartet werden könne, hat sich sicher nicht bewährt, da sie sich nicht
verwirklicht hat.
Wie die Motive zum Gesetz ganz richtig sagen, kann
die richterliche Beaufsichtigung nicht eine stetige in dem Sinne sein, daß
der Vormund nicht in der Lage wäre, gegen den Willen des Richters eine Verwaltungsmaßregel vorzunehmen.
Abgesehen von den Fällen, wo
der Vormund die vorgeschriebene Genehmigung des Gerichts zur Vor
nahme einer Handlung einholt, ist der Richter nur in der Lage, bei Prü fung der meist jährlich einzureichenden Verwaltungsrechnung den Vormund
zu kontroliren, und diese Kontrole kann in vielen Fällen zu spät kommen. Das Vormundschaftsgericht hat gesetzlich das Recht, anzuordnen, daß
Werthpaptere des Mündels, welche auf den Inhaber lauten oder an den Inhaber gezahlt werden können und Kostbarkeiten, bei der Reichsbank oder andern dazu bestimmten Behörden in Verwahrung genommen oder außer Kurs gesetzt werden.
Diese Bestimmung reicht zur Sicherung der
Mündel aber auch nicht aus, da einmal das Vormundschaftsgericht von
der Anlegung der Mündelgelder erst bei Legung der Verwaltungsrechnung etwas erfährt, und inzwischen schon Unheil angerichtet sein kann, insbe
sondere auch vollkommen unzulässige Werthpapiere angeschafft sein können
— die Haftung des vermögenslosen Vormundes nützt dem Mündel eben nichts —, und diese nun erst wieder in der Regel mit Verlust durch ge
setzlich zulässige und sichere Papiere ersetzt werden müssen, und da ande rerseits auch häufig Hypotheken, die der vorgeschriebcnen Sicherheit nicht
entsprechen, angeschafft werden und erst wieder zum Schaden des Mündels
gegen sichere Hypotheken eingetauscht werden müssen. ES läßt sich ja nicht verkennen, daß die Vormundschaftsordnung sehr viele Vorschriften zur Beaufsichtigung der Vormünder gegeben hat, und daß noch mehr derartige Vorschriften zu einer sehr großen Belästigung der
Vormünder führen, werth ist.
die auch an und für sich nicht gerade wünschenö-
Will man trotzdem die Vermögensverwaltung durch die Vor
münder, wie sie die Vormundschaftsordnung im Gegensatz zum Land recht eingeführt hat, nicht aufgeben, so wird man, da doch das Wohl der Mündel in erster Linie berücksichtigt werden muß, doch noch weiter gehen und vielleicht eine Ergänzung der Beaufsichtigung in der Rich tung einführen müssen,
daß man dem Vormund verbietet, Gelder hy
pothekarisch für den Mündel anzulegen, bevor die Sicherheit der Hypo theken Seitens des Vormundschaftgerichts geprüft ist.
Die für die Mündel
nachtheilige Kündigung und anderweite kostspielige Eintragung wird da
durch in Wegfall kommen.
Man wird dann aber auch dem Grundbuch
richter verbieten müssen, Hypothekeneintragungen für Mündel vorzunehmen, ehe vom Vormunde die Genehmigung deS Vormundschaftsgerichts vorge
legt wird.
Und sodann wird die Vorschrift von der Hinterlegung der
Werthpapiere bei der Reichsbank generalisirt werden müssen und den Vor mündern zur Pflicht gemacht werden, die Depotscheine zu den Vormund-
schaftSakten einzureichen. Der Verfasser hat mit vorstehenden Zeilen nur eine Anregung geben wollen, den Gegenstand nochmals genau zu prüfen; in der einen, oder anderen Weise wird sich, nachdem erst mehr Stimmen aus der Praxis
hervorgetreten sein werden, eine 'Besserung deS gegenwärtigen Zustandes
herbeiführen lassen. Baruth.
Dr. Koffka.
Zur geographischen Literatur. Den Erwartungen entsprechend, welche der erste Band von Professor Dr. F. Ratzel's neuestem Werke „die Vereinigten Staaten von NordAmerika" erregt hatte, ist nunmehr der zweite anS Licht getreten.
Die
eigenartigen Vorzüge der bisherigen Schriften des Verfassers über Schöp fungsgeschichte, Vorgeschichte des europäischen Menschen, zoologische For schungen, Natur- und Culturschilderungen, sind hinreichend bekannt.
Tiefe
der Auffassung, künstlerische Darstellung und Reichthum des Stoffes in einem auf geographischem Gebiete selten erreichten Grade wechselseitiger
Durchdringung hätten allein schon genügt, auch dem vorliegenden Werke einen hervorragenden Platz zu sichern.
Wenn nun aber die folgende Be
sprechung desselben noch weiter gehend nicht umhin kann, sich dahin zu
äußern, daß Professor Ratzel die wissenschaftliche Darstellung der Erdkunde im Fortschritt auf einer neuen Bahn erscheinen läßt, so wird mit Recht die Begründung dieses Urtheils erwartet werden. C.'Ritter'hatte dem ersten Band seiner Erdkunde die berühmte „Ein
leitung" als methodisches Grundgesetz für seinen Neubau vorausgeschickt und die Beschreibung von Afrika als Vorbild für wettere praktische Ver wendung folgen lassen.
Den von ihm für die Behandlung des Gegen
standes hergestellten Maßstab, der im Uebereifer der lockenden Bewältigung
eines fortwährend massenhaften Zuwachses verlegt oder abhanden gekommen
schien, hat F. Ratzel wieder hervorgeholt.
Rechnung tragend der rapiden
Erweiterung der Kenntniß des irdischen Horizontes und der mächtigen in die
Umgestaltung der menschlichen Thätigkeit eingreifenden Hebel, hat er, indem er wucherndem Uebermaß und dürftigem Untermaß in den Anleihen bei an
deren Wissenszweigen gleichmäßig begegnet, den von Ritter gepflanzten Baum
der geographischen Erkenntniß mit einer frischen Blüthenpracht übergossen und so den ersten eigentlichen Fortschritt, weniger über den Gründer hinaus, als aus dessen Geist heraus, vollführt.
Ritter hatte das von ihm vorge
fundene sterile Feld der Geographie in einen schattigen Park umgewandelt,
Ratzel hat die inzwischen verwilderten Partien gelichtet und für stattliche Neupflanzungen gesorgt.
Die vielfach, mit nicht immer stichhaltigen Gründen, angefochtenen
Bezeichnungen der älteren Ritter'schen Schule als „historischer", „politischer", „teleologischer" haben ihre Dienste gethan.
Die Erneuerung und Wieder
geburt der Erdkunde im Sinne der charakteristischen
Erscheinungen der
heutigen Zeit verlangt dem angemessen auch ein neues Wort.
„Culturgeographie".
Cs heißt
Unter diesem Titel hat der zweite Band von
Ratzel's neuem Werke eine ähnliche Bedeutung wie vordem Ritter's Afrika,
nämlich die eines Ferments für eine neue zeitgemäße Auffassung des Gegen standes.
Diese Erscheinung voll zu würdigen, genüge die Berührung
ihres Zusammenhanges mit Ritter's und seines großen Borgängers Strabo
geographischen Leistungen. Die Geographie ist immer auf gleichem Wege zu Stande gekommen.
Durch Reisende, durch Handels- und Kriegsunternehmungen wurden un bekannte Gegenden aufgedeckt, bekannte wurden genauer bekannt.
Was da
Einer mit eigenen Augen und Ohren gesehen und gehört, oder von Augen-
und Ohrenzeugen in Erfahrung gebracht hatte, bildete in schriftlicher Auf zeichnung jene erste und unmittelbare Berichterstattung über Natur- und
Kunsterzeugnisse, über die Bodenbeschaffenheit und die Zustände der Be
wohner, welche, von den Griechen „Historie" genannt, in ursprünglicher Einheit alle jene ersten Kenntnisse umfaßte, die später, in besondere Wissens
zweige getrennt, als Geographie, Geschichte und Naturbeschreibung aus gebildet wurden.
Nach dieser ältesten Bedeutung des Wortes Historie ist
der Halikarnassier Herodot der altehrwürdige Aufzeichner solch erster geo graphischer Anfänge.
Diese Art von Berichterstattung ist es, die nicht auSstirbt, so lange der Erdboden Entdeckern und Forschern Stoff bietet, die auch bis auf unsere Tage, abgesehen von den Raum- und Kenntnißerweiterungen, die selbe geblieben ist.
Der Wissenschaft stets neue Nährstoffe zuführend ist
sie, bei noch nicht erfolgter Sonderung ihres Inhaltes, selbst nicht Wissen schaft und gestaltet sich dazu erst durch eine „systematische", nach bestimmten Gesichtspunkten geordnete Zusammenstellung alles dessen, was sie über
den natürlichen und über den Culturbestand der Erdoberfläche aussagt. Zu dergleichen Schriften lieferte die Bibliothek zu Alexandria den dortigen Gelehrten reichliches Material.
EratostheneS gilt als der erste
dieser systematischen Geographen, während Claudius Ptolemäus das Ende
der klassischen Zeit mit einem Sammelwerke, dem sogenannten „Ptolemäischen Weltsystem", bereicherte.
DaS Verdienstvolle der systematischen
Erdbeschreibung bestand darin, daß ihr Inhalt, weil er, unterstützt durch Ent
würfe von Gradnetzen und Landkarten sich besonders zur Gedächtnißauffassung
eignete, Gemeingut werden und Jahrhunderte hindurch bleiben konnte.
Er
In ein höheres Stadium tritt die Erdbeschreibung mit Strabo.
steht insoweit auf dem Boden der systematischen Geographen, als er gleich
ihnen das in der ursprünglichen Berichterstattung Vorgefundene übersichtlich
wiedergibt, aber nicht ohne zugleich den auf eigenen ausgedehnten Reisen
gesammelteri Borrath unmittelbarster Erkundung auf das Vortheilhafteste
zu verwerthen.
Denn beim Vergleichen eigener und fremder Beobach
tungen über dieselben Dinge mußte der Reiz, den hierbei theils die Ge nugthuung der Uebereinstimmung, theils die Untersuchung des Gegentheils
zu gewähren Pflegt, das Urtheil für die Aufstellung und Durchführung
der Grundsätze schärfen, die einer wtffenschastlichen Darstellung unerläßlich sind.
Kühn setzte er deshalb gerade an die Spitze deS sein Werk ein
leitenden Capitels den gewichtigen Ausspruch: „Nach meiner Ueberzeugung
gebührt vornehmlich der Geographie eine philosophische Behandlung." Mit dieser Forderung an sich selbst wie an seine Nachfolger war mit
einem Schlage der Geographie ihr wissenschaftliches Gepräge verliehen. Unter dieser Weihe hat er gleichzeitig mit der Vollendung deS römischen Weltreiches seinen Inbegriff der damaligen Kenntniß der bewohnten Erde
zum Abschluß gebracht und damit ein Werk geschaffen, welches als Richt schnur die dahin einschlagenden Studien für alle Zeiten zu beeinflussen nicht aufhören wird.
Wo in älterer Zeit seiner gedacht wird, hat er den
Ruhm, kurzweg „der Geograph" im eminenten Sinne zu heißen, auch wird er von Neueren als „der genaueste Schriftsteller des Alterthums" gepriesen. Betheiligt wie er ist sowohl an der unmittelbaren Berichterstattung, als
an deren systematischen Wiedergabe und an der Grundlegung ihrer den kenden, d. i. philosophischen Betrachtung, vereinigt er in sich die drei
wesentlichen Stufen der geographischen Darstellung.
Mit dem Studium
Strabo'S sich zu befassen, fehlte unter den Stürmen des Mittelalters aller
Sinn, kaum daß sein Buch in einigen Abschriften erhalten blieb, während
des Ptolemäus festes Grad- und Namengerüste, zwar trocken und ge schmacklos, aber praktisch desto brauchbarer, den bequemen Stützpunkt für
späteren Zuwachs abgab.
Eine ähnliche registerhafte Einförmigkeit haftete
auch nach den Anstößen, welche von den großen oceanischen Entdeckungen
auSgegangen waren,
den späteren
geographischen Werken
mehr
oder
minder an. Anders wurde eS erst mit der Wiederaufnahme der Beschäftigung
mit Strabo, nach Ritter's Ausdruck, „dem größten Geographen des Alter
thums", der, wie der unermüdliche Förderer der Erdwissenschaft, O. Peschel, einst erklärte, „zu staunender Bewunderung hinreißt".
Unter dem Zauber
der Schilderungen, die der alte Grieche von der damals bekannten Erde entwirft, nahm Ritter seine Aufgabe unter dem Titel „die Erdkunde im
Verhältniß zur Natur und Geschichte deS Menschen" in Angriff, indem er offenbar gleich seinem großen Vorbild von der Erkenntniß durchdrungen
war, daß auch er „ein bedeutendes eines Philosophen würdiges Unter
nehmen vor sich habe".
Aus den Resultaten dieses Unternehmens ist eins ganz besonders hervorzuheben, da es für ein wesentliches Kennzeichen der wissenschaftlichen Repräsentation gehalten werden muß.
So lange nämlich
der Inhalt
eines Wissenszweiges überwiegend dem Schwanken auseinandergehender,
noch nicht im Prinzip einiger Verhandlungen preisgegeben ist, mangelt er des vollen Ansehens, den er vor dem Begriff der Wissenschaft haben soll.
Daher ist es die Tendenz jeder „Disciplin", dem Sinn dieses Wortes
entsprechend, sich aus der Breite der Discussion zu Zwecken deS Unter
richts in Hand- und Lehrbüchern zu verdichten.
Denn nicht bändereiche
Werke allgemeinen Inhaltes für das große lesende Publikum, sondern die für die studirende Jugend aller Grade übersichtlich ausgearbeiteten Hülfs
mittel, vom starken akademischen Compendium bis zum magern Abriß sind
eS, welchen insbesondere die Aussaat und die Ernte der Wissenschaft an vertraut wird.
Gute Lehr- und
Schulbücher sind die
unzweifelhafte
Signatur der reifenden Wissenschaft. Vor Ritter hatte die Geographie auf Universitäten überhaupt keinen
Lehrstuhl und auf den Schulen war sie höchstens der Aschenbrödel neben anderen Unterrichtsfächern.
Aber mit seinem Auftreten ging aus den von
seinem Geist berührten Männern „die Rittersche Schule" hervor, und mit
ihr eine Anzahl gediegener Lehrbücher, welche den Grundgedanken der Ein leitung zum ersten Band der Erdkunde nach allen Richtungen verarbeiteten.
Ratzel, dessen unmittelbare Reiseberichte, wie diejenigen Herodot's, sich
ebenmäßig über Erdbildung, Natur und Geschichtliches erstrecken, dessen
Zusammenstellung eigener und fremder Beobachtungen den Vergleich mit
allen bisherigen Leistungen in dieser Gattung aushält, wird auch den An forderungen der Wissenschaft gerecht, indem er, wie Strabo und Ritter, die Veränderungen, welche die Menschenhand an der Erdoberfläche bewirkt
hat, in ihrem Zusammenhang mit der Entwickelung deS menschlichen Selbst
bewußtseins bekundet.
In diesen Beziehungen steht er den Genannten
im allgemeinen gleich.
Er geht jedoch über sie hinaus, insofern ihm als
dem Spätergekommenen vergönnt war, die inzwischen mehr geläuterte und durch große Entdeckungen erweiterte Kenntniß der Erdwelt mit dem Cultur«
geographischen Gedanken neu zu befruchten. Alle Schöpfungen der Wissenschaft werden durch das jedesmalige
Zeitbewußtsein und durch die herrschende Weltanschauung beeinflußt.
Die
Aera der antiken partialen Orientirung über Natur und Mensch, dem-
nächst innerhalb der universalen christlichen Weltanschauung die Aera vor wiegend geistigen Ringens, und dann eine Aera von erdumfassenden Schöpfungen vorwiegender Handarbeit — diese drei großen Epochen irdi
schen Seins und Geschehens spiegeln sich in der anthropologischen Auffassung der Erdwelt ab, in Strabo, in Ritter und in Ratzel.
„Culturgeographie mit besonderer Berücksichtigung der wirthschaft-
lichen Verhältnisse"
Ratzel'schen Buches.
— so
lautet der Titel des zweiten Bandes des
Titel sind Worte.
„Worte", sagt man, „haben Re
volutionskräfte", feien es zerstörende, seien eS aufbauende.
Wird mit
Rücksicht auf den gewaltlosen Fortschritt der Wissenschaft der mildere Aus druck „Reformkräfte" bevorzugt, so ergibt sich die paffende Anwendung für unsern Zweck von selbst.
Die Erde zeigt ein neues Antlitz.
Netze von eisernen Nervensträngen
durchziehen sie über und unter ihrer Decke, neue Weltstraßen durchkreuzen
sich auf dem festen Boden der Länder, wie auf dem flüssigen der Gewässer und werden mährchenhaft durchflogen in den Siebenmeilenstiefeln deS Dampfes und der elektrischen Botschaften, der Säckel und der Wünschelhut
deS FortunatuS werden greifbar, jener in dem Schaffen der Großindustrie,
dieser in der annähernd sich vollziehenden irdischen Allgegenwart deS Menschen und der Traum von einer Universalsprache geht in Erfüllung
in den wuchtigen Thatsachen ungeahnter Erfindungen und Entdeckungen, kraft deren Nationen und Kontinente im großen Stil sich verständigen. Die Menschheit arbeitet an einem neuen Costüm. ihr zu eng geworden.
Das bisherige ist
Kund deS von unserem Autor errichteten Wahr
zeichens ist nunmehr die Erde die Culturwerkstätte der Menschheit.
DaS
Arbeitsprogramm zeigt nach wie vor denselben erhabenen Endzweck, mag eS sich um Jdealisirung der irdischen Wirklichkeit oder um irdische Ver
wirklichung des Idealen handeln.
Denn beide Wege sind eins, ob der
Anfang das Ziel im Auge hat, oder ob das Ziel den Anfang bestimmt;
jener ist der mehr bewußte und sichtbare, dieser der mehr unbewußte und
unsichere.
Ihre Einheit ist die in Wechselwirkung sich vervollkommnende
Hirn- und Handarbeit, erscheinend nach eines Dichters Wort als „ein Bund, den der Menschengedanke mit der Erde eingeht".
Referent ist der Bezeichnung Culturgeographie sehr selten, und zwar nur ganz vereinzelt, begegnet.
Zuerst hatte sie ihn überrascht in einer von
I. G. Kohl's Schriften und wurde von ihm dem dritten Theil seiner 1845 In erster Auflage veröffentlichten „Philosophischen Erdkunde" an die Spitze
gesetzt.
Wenn Professor I. L. Tellkampf später in einer kritischen Be
sprechung der neuen Auflage dieser zrim erstenmal ausgeführten Cultur
geographie mit dem Zusatz erwähnt „welche durch die Weite des Horizontes
und durch die Schärfe des. vergleichenden UeberblickS zu dem Originellsten
und Kühnsten gehört, was in dieser nicht speculativen Wissenschaft ge schrieben ist", so ist Referent angesichts der Vorzüge des
vorliegenden
Meisterwerkes weit entfernt, jenes Maß der Anerkennung anders denn als eine Form wohlwollender Zustimmung
sich anzuziehen.
Abgesehen
von der verschiedenen Absicht der Auffassung ist jene ältere Arbeit zunächst eine genetisch geordnete Rundschau über die in der allgemeinen Erdkunde
zerstreuten Culturmomente, diese aber, die Culturgeschichte der Vereinigten Staaten, ist die geniale Beherrschung einer strotzenden Fülle frisch put«
sirenden Lebens in einem Großstaate der Neuen Welt,
jene ein mehr
methodischer Vorläufer, diese ein reicher, prachtvoller akademischer Güterzug des geographischen Wissens, jene mehr Anlage, diese ein ausführliches Werk mit der Aussicht auf nachhaltige Wirkung. Was nun den Inhalt und seine Anordnung im vorliegenden Falle angeht, so mußte er bei dem ungewöhnlichen Umfang des Werkes so
wohl
aus
Gründen
der
Handlichkeit
wie
lichung auf zwei Bände vertheilt werden.
der
successiven Veröffent
Diese sind, jeder
sonderem Titel, unter einem gemeinsamen verbunden.
keit ist eine mehr äußerliche.
Beide müssen, wie Stamm und Krone,
wie die Pole der Magnetnadel,
Wechselbeziehung
mit be
Ihre Selbständig
nur als beid-einige in ihrer steten
beurtheilt werden,
als gerade der eine von zweien.
monistische Beide ist das Ganze.
nicht aber jeder einzelne für sich
Die dualistischen Zwei sind Stücke, das Der erste Band umfaßt die Natur,
der zweite die Cultur des drittgrößten zusammenhängenden Staatsgebietes der Erde. Weshalb der Titel des ersten Bandes „Die physikalische Geographie"
und den „Naturcharakter des Landes" auseinanderhält, leuchtet vielleicht nicht sofort ein, ist aber bei der Reichhaltigkeit des Stoffes durch die
Rücksichtnahme auf leichtere Verständlichkeit mehr als gerechtfertigt.
ES
mag hierbei immerhin stillschweigend zugleich ein mehr inneres Motiv
wirksam gewesen sein.
Denn während die Darstellung der physikalischen
Beschaffenheit überwiegend daS Ergebniß objectiv-wissenschaftlicher Fest
setzung sein soll, wird dagegen die Schilderung deS landschaftlichen Cha rakters soviel subjektive Färbung zulassen, wie sie einer durch Schönes
und Erhabenes erregten Stimmung inhaftet, und wird damit den Anhauch der Kunst verrathen.
Nebenbei sei bemerkt, daß, wie sich denn überhaupt
Meisterschaft des Könnens und Kunst aufeinander berufen, von einer Kunst
der geographischen Darstellung mit demselben Rechte gesprochen werden kann, wie z. B. von der Kunst der Geschichtschreibung. die geographische Literatur neben dem
Inzwischen hat
in Rede stehenden wohl wenige
andere Werke aufzuweisen, worin Kunst der Darstellung und Wissenschaft in gleichem Grade sich heben und beleben.
Da hier vor allem beabsichtigt wird, den Standpunkt des Verfassers in seiner Reformbedeutung möglichst klar zu stellen, so wird sich die Be
sprechung alles dessen enthalten, waS nicht dazu dient, die Einsicht in die methodische Gliederung des Ganzen zu vermitteln.
ES sei deshalb nur
kurz erwähnt, daß sich der „allgemeine Theil" deS ersten Bandes in sieben Abschnitten über Begrenzung und Umriß, geologischen Bau, Oberflächen
gestaltung, Ströme, Flüsie und Seen, Klima, die Pflanzenwelt und die Thterwelt verbreitet und daß der „schildernde" Theil diesen Inhalt in
dreißig großartigen Landschaftsbildern zu lebendiger Anschauung dringt.
Wer sich den Genuß bereiten will, das eine oder andere dieser Bilder mit den darauf bezüglichen Seiten des ersten Theiles zu vergleichen, wird
sich überzeugen, wie wohl der Autor gethan hat, die künstlerische Einheit und Rundung derselben nicht unter die Vielheit von physikalischen Einzel
heiten zerstückelt zu haben.
WaS bei einer kleinen Monographie ein
Fehler gewesen sein würde, wird hier zum Vorzug.
Auf das sorgfältigste
ausgearbeitete Tabellen, bestehend in einer Vergleichung der geologischen
Formation in Nordamerika und Europa, in einer Höhentafel und — da
mit auch der dünne und
durchsichtigste Bestandtheil der Erdrinde, der
Luftkreis, nicht leer ausgehe — in einer meteorologischen Statistik, be schließen das Capitel der „Nachträge", während ein Dutzend elegant auS-
geführter, meist kartographischer Abbildungen an den zugehörigen Stellen dem Text einverleibt sind.
Betreffs der Anleihen, welche die Erdkunde bei der Naturwissenschaft
zu machen hat, ist in neuester Zeit über daS Zuviel und das Zuwenig lebhaft hin und her verhandelt worden, je nachdem die Einen den phy sikalischen Bestand, die Anderen den historischen als den eigentlichen Kern der Erdkunde betrachten.
Diese wichtige Frage, ob die Erde des Men
schen wegen da ist, oder der Mensch um der Erde willen, wird im zweiten Band zur Entscheidung gebracht.
Hier wird wohlgeordnet nach taktischen
Regeln der Logik die gesammte Culturstreitmacht des Menschen in fünf
großen Zügen vorübergeführt:
„die natürlichen Bedingungen, die Be
völkerung, die wirthschaftlichen Verhältnisse, Staat und Gemeinde; Kirche und Schule; das geistige Leben; die Gesellschaft, die Einzelbeschreibung der Staaten und Territorien" — Alles in so übersichtlicher Gliederung,
daß der große Unterschied zwischen der seither üblichen Darstellung der
sogenannten politischen Geographie und der Art und Weise, wie Ratzel denselben Stoff bewältigt hat, nicht deutlicher in die Augen springen kann.
In dieser lichtvollen Fassung der Culturzustände ist der Inhalt des
zweiten Bandes im voraus maßgebend für den ersten gewesen, insofern die unvermeidlichen Griffe in den Bereich der Natur nicht zu Uebergriffen
auSarten konnten.
Denn Natur und Mensch, Erdboden und dessen Be-
wirthschaftung, stehen in dem Verhältniß, daß die Culturgeographie nur daS als natürliche Bedingung der Culturentwickelung verwenden darf, was zur Begründung derselben durchaus erforderlich ist.
Umgekehrt wird aber
auch der Inhalt der physikalischen Erdkunde, die im Vorblick auf die An
sprüche der Culturbetrachtung
einer richtigen Beschränkung unterworfen
war, maßgebend für diese, entsprechend der Einsicht, daß die Erde die Verheißung des Menschen und die Idee der Menschheit der Urgrund alles
Irdischen ist, daß Erde und Menschheit als organische Einheit, also die Erde selbst als Organismus aufgefaßt werden müsse. Wer die Selbständigkeit seiner Wissenschaft zu wahren gedenkt, wird
dazu am besten im Stande sein, wenn er, zugleich mit ihren Grenzen die Gegengrenzen trennend, auch in den Nachbargebieten nicht fremd ist, ein
Vortheil, dessen sich der Verfasser in bevorzugtem Maße erfreut, insofern
er den Ruf eines vollbürtigen Naturforschers genießt.
Von genauer Ab
grenzung kann nicht die Rede sein, da geistige Gebiete sich den Farben
im Spectrum ähnlich verhalten.
Wenn also geographische Lehrbücher auf
tauchen, die theilweise auch für geologische, astronomische und anderweitige Specialitäten gelten könnten, so liegt Erklärung und Abweisung nahe.
Erst im Begriff der Culturgeographie ist das Verhältniß der beiden
Seiten richtig gestellt.
Ihre ursprüngliche korrelative Gleichberechtigung
des natürlichen Daseins wird durch jenes sinnige Wort:
„die Natur ist
die Egeria des Menschen" nur scheinbar zu Gunsten der ersteren verschoben. Erhält doch die Natur diese Bedeutung mittelbar nur dadurch,
daß der
Mensch, indem er in ihrer Umgestaltung für seine Zwecke ein äußeres Spiegelbild seines inneren Wesens erblickt, zum Selbstbewußtsein und zu
selbsteigener Berathung sich erhebt.
weiß
Von den Offenbarungen der Natur
diese selbst nichts, wohl aber werden die von ihr ausgehenden
Culturmomente zu Offenbarungen im Menschen, d. h. in seiner mit dem Naturverständniß gleichen Schritt haltenden Selbsterkenntniß.
Der Mensch
denkt bewußt der Natur nach was in ihr vorgedacht ist, prägt ihr seine
Gedanken, in Culturwerken veräußert, auf und gibt ihr in sichtbarer Form zurück, was er von ihr empfangen hat, ohne daß er damit aufhörte, durch sie ferner, freilich in anderer Richtung, bestimmt zu werden.
Denn die
Abhängigkeit der Bewohner eines Bodens, den Culturanlagen bedecken
oder bedeckt haben, besteht fortan mehr in geistigen Impulsen und ist eine andere als diejenige, in welcher frühere Bewohner von einer noch gar
nicht oder wenig von der Menschenhand berührten Natur gestanden haben.
Soweit erscheinen Erde und Mensch coordinirt, abgesehen davon, daß die Erdwelt überhaupt nur denkbar ist in Beziehung auf den Menschen,
der Aufschluß und Kunde über sie gibt, nicht nur über das, was sie von Natur war, sondern auch über das, was er aus ihr gemacht hat.
Wird
aber auch das in Betracht gezogen, was, unter Benutzung der von ihr
ausgehenden Triebkräfte, der Mensch aus dem Menschen macht, so liegen
darin Hindeutungen auf ethische Ziele, die keinem Zweifel Raum kaffen,
worin die Culturgeographie ihren eigentlichen Schwerpunkt zu finden hat.
ES war des Verfassers Absicht, das Ganze solle „eine wiflenschaftltch gehaltene Geographie der Vereinigten Staaten ausmachen und solle
den Charakter eines praktischen NachschlagebucheS neben dem eines wissen schaftlichen Handbuches' tragen," Damit hat er, auch ohne es ausdrück lich zu erklären, an dem Beispiel eines einzelnen Staates das methodische
Verfahren für die künftige Bearbeitung von Lehrbüchern der allgemeinen Geographie thatsächlich vorgezeichnet, indem er einfach dem Wege, den die
Sache selbst genommen hat, nachgeht.
Denn der Boden, womit er beginnt,
ist als irdische Raumbedingung derselbe, wie der, womit er aufhört.
Der
Anfang ist die Naturbeschaffenhett, angeblich ohne Beziehung auf den
Menschen, das Ende ist ein Staatengebtlde.
Zwischen Anfang und Ende
verläuft eine Entwickelung in aufsteigender Linie.
Demnach schreitet die
Darstellung von der Umgestaltung des Bodens je nach festen und flüssigen Formen weiter zu den klimatischen Unterschieden, zu den organischen Pro-
ducten, zum Auftreten deö Menschen, zur allgemeinen Statistik der ihm
dienstbar gewordenen Natur, zu deren allseitigen Bewirthschaftung, zu den Verkehrsmitteln bis zum Staat als dem Inbegriff der organischen
Gliederung aller Richtungen der menschlichen Thätigkeit.
Indem der Verfasser mit der Einzelbeschreibung der Staaten und Territorien endigt, ist er wieder bei dem Grund und Boden, von dem
er ausgegangen war, angelangt.
Der Kreislauf hat sich geschloffen.
Er
gleicht aber nicht der leeren Einerleiheit der geometrischen Figur, sondern
ist vielmehr die mit Resultaten encyklopädischer Wissenschaftlichkeit erfüllte Einheit. Aus der wilden Natur eines zwischen Oceanen und den Extremen des
Klima'S ausgedehnten Länderraumes ist binnen wenig Jahrhunderten ein
im Innern und nach Außen fest abgegrenzter Staatenbau, die große Welt schule für unabsehbare künftige Cultursiege, hervorgegangen.
Diesen Ver
lauf im Zusammenhang zu erzählen und den Proceß seines Werdens aufzudecken, überläßt die Geographie dem Geschichtschreiber und dem Phi
losophen, betrachtet eS aber als ihre Obliegenheit, ihn als Princip der Anordnung durch die Darstellung des vorhandenen Natur- und CulturPreußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft r.
11
Zur geographischen Literatur.
160
bestände- durchscheinen zu lassen.
Mit feinem Takt dieser Befugniß ge
nügend hat Ratzel, ohne sich an der Selbständigkeit anderer Disciplinen
zu vergreifen, es verstanden, der von ihm vertretenen Wissenschaft in der
vorwiegend culturgeographischen Ausstattung einen erneuten Halt zu sichern. Der Charakter der Gegenwart spricht sich gebieterisch in der Hoch
haltung
deS
Aufschwunges einer
großartigen Technik aus,
in deren
Ausstellungsspiegeln er sich selbst erblickt, und so auch sich selbst gründ licher verstehen und erkennen lernt.
Der Hinweis auf den Kernpunkt,
daß die Wissenschaft in Uebereinstimmung mit dem Zeitbewußtsein, dem sie selbst mit zur Geburt verholfen hat, auch dessen Rüstung als Titel
trägt, hat hoffentlich seine Absicht erreicht.
Möge er dazu beitragen, daS
allgemeinere Interesse einer Erscheinung zuzuwenden,
deren Bedeutung
darin beruht, daß die Erdkunde, indem sie statt der bisherigen Gesichts punkte den der Culturgeographie in den Vordergrund stellt, nicht nur Er
weiterung, sondern auch festere Begründung erfährt. Kritisches Eingehen auf das Einzelne ist hier nicht angezeigt und
wird, im Verhältniß der zu näherer Begründung nöthigen Studien, kaum schon seitens der Fachkreise zu erwarten sein. Beziehung Verschiedenes auf dem Herzen.
Auch Referent hat in dieser Da er „Drüben" ein kleines
Stück Culturgeographie praktisch jahrelang durchgemacht und neuerdings
den geistigen Abhub des Bleibenden in diesen Erfahrungen, als einen
Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Cultur, in seiner „Philosophie der
Technik" veröffentlicht hat, so liegt eS ihm nahe, sich in Betreff etlicher
Punkte später mit dem Verfasser auseinander zu setzen. Ratzel'S Buch ist, wie hiermit zum Schluß rühmend hervorgehoben wird, im vornehmen Sinne des Wortes ein typographisches Prachtwerk. Die Verlagshandlung von R. Oldenbourg in München hat auch in diesem Falle es verstanden, in der Form der Ausstattung den Vorzügen des In haltes würdig zu entsprechen.
Ernst Kapp.
Lessing. 15. Februar 1881.
Hundert Jahr ist er todt, und doch kommt eS uns vor, als hätten wir ihn persönlich gekannt, mit ihm verkehrt, und feierten seinen TodeStag
nur wie eines jüngst Dahingegangenen, mit herzlichem Andenken und mit dem Bedauern, daß es unS nicht mehr verstattet sein soll, von ihm über
alles was uns durch den Kopf geht Belehrung zu empfangen, oder auch
harmlos und lustig mit ihm zu plaudern.
So nahe stehn uns feine
Schriften, so sehr sind wir gewöhnt mit ihm zu denken und zu empfinden.
Von wie wenigen unserer großen Schriftsteller kann man das sagen! Wie fremd sind uns z. B. Klopstock und Wieland geworden! ja Männer,
die uns geistig so nahe stehn, die ebenso so stark, vielleicht noch stärker den eigentlichen Nerv unseres Lebens berührt haben: ich nenne z. B. Kant, Justus Möser und Herder!
Welche Mühe kostet eS uns, ihre Gestalt zu
vergegenwärtigen, den Zusammenhang ihrer Ideen zu überblicken!
Lessing
dagegen glauben wir vollständig zu kennen, und kennen ihn zum Theil
wirklich sehr gut.
Danzel'S Arbeit ist musterhaft, GervinuS' Darstellung,
so viel man auch gegen das Einzelne einwenden mag, bezaubernd, und
von den Unzähligen, die über Lessing geschrieben haben, scheint jeder von seinem Hauch wenigsten- einigermaßen angeweht zu sein.
Solche Popularität hat indeß auch ihre Bedenken.
Wenn man sich
eine Gestalt greifbar zu componiren versteht, so bildet man sich wohl ein,
sie
entspräche vollkommen dem Original,
obgleich denn doch manches
Wesentliche fehlt und manches willkührlich hinzugefügt ist.
Ein Irrthum
ist schon GervinuS begegnet und wird von den meisten Späteren nachge
sprochen: der Irrthum nämlich, daß Lessing in all seinen Händeln — und sein Leben bestand aus einer Reihe von Händeln — in jedem Punkt
Recht gehabt hat.
Das führt zu dem weiteren Irrthum, die Urtheile und
Sentenzen, mit denen er feine Polemik abzurunden liebte, als geprägte Münzen der Wahrheit auszugeben und jeden Widerspruch als unerlaubt
abzuweisen.
Dabei kommt man nicht blos in Verlegenheit, offenbar wider11*
Lessing.
162
sprechende Sätze für gleichwerthig anzupreisen — Lessing pflegte selbst zu sagen:
einer Uebertreibung gegenüber müsse man nach der andern Seite
hin übertreiben! — sondern man verkennt auch Lessings Begriff von der
Wahrheit.
ES war keineswegs falsche Bescheidenheit, was Lessing be
stimmte, seinen Leser zur schärfsten Controlle seiner Sätze zu ermahnen,
sondern die Erkenntniß, daß alle Wahrheit eine dialektische ist. Lessing hät sich wiederholt mit der größten Verachtung über das
Bestreben ausgesprochen, Schwarm zu machen; er hat wiederholt erklärt, daß ihm die philosophische Vertheidigung einer unphilosophtschen Ansicht
lieber sei als die unphilosophische Vertheidigung einer philosophischen An sicht.
Gleichwohl hat er, ohne eS zu wollen, Schwarm gemacht; eine
Menge mittelmäßiger Menschen, die ihn gründlich zu kennen glaubten,
weil ihnen sein Aeußeres bekannt war, hingen sich an seine Rockschöße. Gegen diesen Schwarm hat Herder wiederholt zu kämpfen gehabt, Jakobi
und später Friedrich Schlegel thaten eS nach Lessings Tod gegen daS
Ende des vorigen Jahrhunderts in Aufsätzen, die damals großes Aufsehn
erregten und großen Anstoß gaben.
DaS Positive, daS sie ermittelt zu
haben glaubten, hat sich nicht als stichhaltig bewährt, aber ihre Kritik war vollkommen berechtigt und verdient noch heute beachtet zu werden.
Denn
sie zerstörte ein aus dem Handgelenk verfertigtes Portrait, und nöthigte
Lessings Verehrer, daS scheinbar Ausgemachte in echt Lessing'schem Sinn
wieder in Frage zu stellen, und nach dem bestimmenden Kern seines Wesens zu suchen.
Der Versuch ist noch heute nicht umsonst, denn daS alte
Scheinportrait ist von Neuem wieder aufgetaucht.
Ich habe keinen Zweifel,
daß eS am heutigen Tage unzählige Mal wieder aufgefrischt werden wird; darum halte ich eS für wichtig, auch die Kehrseite zu zeigen.
ES ist verhängnißvoll für die Würdigung eines Schriftstellers, wenn
sich ein einzelnes Stichwort von ihm zu stark dem Gedächtniß einprägt.
So kennt Jeder Schillers Wort:
„Geben Sie Gedankenfreiheit!" und:
„An'S Vaterland an'S theu're schließ Dich an"! und so ist Schiller der
Dichter der Freiheit und des Vaterlandes. aller Munde:
Ebenso ist Lessings Wort in
„thut Nichts, der Jude wird verbrannt!"
Wenn eS sich darum handelte, Scheiterhaufen aufzurichten, so wäre
eS abgeschmackt, erst zu fragen wie sich Lessing dazu verhalten würde. Ebenso abgeschmackt, zu fragen, auf welche Seite er sich stellen würde,
wenn man, ohne gerade an Scheiterhaufen zu denken, das Borurtheil des deutschen und des christlichen Pöbels gegen die Juden zur Leidenschaft an fachte und zur Verfolgung hetzte.
Man braucht nicht erst Lessing zu sein,
um hier auf daS Härteste und Rücksichtsloseste zu verdammen.
Aber man muthet Lessing mehr zu.
Die politische Knechtschaft der
Juden, wie sie zu Lessings Zeit noch bestand, hat vollständig aufgehört, dagegen besteht das gesellschaftliche moralische Vorurtheil gegen die Juden noch fort.
ES ist eine historisch um so merkwürdigere Thatsache, da sie
sich nicht von gestern oder vorgestern herschreibt, sondern runde 3000 Jahre Jede historische Thatsache verlangt eine kritische Prüfung.
dauert.
ES
muß festgestellt werden, einmal, worin jenes Borurtheil eigentlich besteht?
und dann, auS welchen Gründen eS hervorgegangen ist?
Gesetzt nun,
Jemand, dessen recht eigentlicher Beruf eS ist, historische Thatsachen zu prüfen, unterzöge sich dieser Aufgabe, und käme zu dem Resultat: die
Schuld deS Vorurtheil» läge nicht blos an denen, die eS hegen, sondern auch an denen, auf die es sich bezieht:
könnte man wohl gegen diesen
Versuch moralisch etwas einwenden? selbst in dem Fall, daß die Deduktion wissenschaftlich nicht haltbar wäre?
Man wendet in der That moralisch etwas ein.
Freund! heißt eS;
waS Du da sagst, ist nicht uneben; Vieles ist sogar vollkommen richtig, dennoch bist Du tadelnSwerth.
Denn erstens giebst Du Aergerniß.
ES
leben unter unS so viele gute, edle hochachtbare und gescheute Juden, die nur den Einen Fehler haben, krankhaft empfindlich gegen Alles zu sein, waS gegen die Juden gesagt wird.
Zwar erklärst Du selber, bei dem,
waS Du NachthetligeS über die Juden aussagst, sehr viele Ausnahmen zu
machen: aber gerade die Bessern, die Du auSnimmst, werden das als eine doppelte Beleidigung empfinden und Dir den Rücken kehren.
thun Recht daran. Zweck:
Und sie
Zweitens giebst Du dieses Aergerniß ohne ersichtlichen
Du legst die Hand auf die Wunde, und erregst Schmerzen, ohne
ein Heilmittel zu geben.
Drittens endlich bestärkst Du den christlichen
Pöbel, der Dich zwar nicht liest, aber doch davon reden hört, in seinen
Vorurthetlen. Doppelt aber bist Du zu tadeln, da Du als Lehrer der Wissenschaft
verpflichtet bist, im Sinn Lessings Toleranz zu üben. Wir wollen uns einmal vorstellen, daß Lessing diese Einwendungen
vernähme.
Zuerst würde er seinen Ohren nicht trauen.
„Wie?
Ein
Lehrer der Wissenschaft soll die Verpflichtung haben, Toleranz zu üben?
und zwar Toleranz in dem Sinn, wie sie ein einzelner Schriftsteller ge
lehrt, der bei allem guten Willen doch auch wohl irren konnte?
Ich habe
mir bis jetzt eingebildet, dem Lehrer der Wissenschaft liege keine andere
Verpflichtung ob, als treu und nach besten Kräften die Wahrheit zu suchen
und sie laut und vernehmlich zu verkündigen." „Ich soll dem Lehrer der Wissenschaft verboten haben, Aergerniß zu
geben?
Wer in der Welt hat denn größeres Aergerniß gegeben als ich?
da ich erst den Rationalisten meine Briefe und dann den Orthodoxen die
Wolfenbüttler Fragmente und meine Dupliken an den Kopf warf. als
die
Juden
standen
mir
wahrhaftig
die
Rationalisten
Näher
die
und
Orthodoxen, mir, dem Sohn eines rechtgläubigen Pastors, dem Erben
einer ganzen Predigerfamilie, der ich mich hundertmal und mit vollster
Ueberzeugung über den unendlichen Werth des Christenthums und der christlichen Kirche ausgesprochen habe.
Haben sich die Rationalisten und
die Orthodoxen an meinen Fragmenten geärgert? — ES scheint so; grob
genug gegen mich sind sie gewesen.
Haben sich die Feinde des Christen
thums durch mein Auftreten in ihren Vorurtheilen bestärken lassen? ist möglich, man möge mich darum verketzern.
Es
Aber abgesehn davon, daß
ich darauf rechnete, zur Heilung der Schäden unserer Kirche beizutragen,
indem ich die Hand darauf legte, war für mich der kategorische Imperativ, die Wahrheit zu sagen und sie so zu sagen, daß sie Jeder versteht.
Mich
zum Papst der Toleranz zu machen und von mir zu verlangen, ich solle
Jeden verketzern der Aergerniß giebt: — das meine Herren, geht mir gegen den Strich."---------
Ich sehe aber nicht ein, warum ich Lessing erst Worte in den Mund legen soll, die er hätte sagen können, da er eS selber wirklich und besser
gesagt hat.
Man schlage den vierten Anti-Goetze auf und lese darin
Folgendes. „Wer, ehe er zu schreiben beginnt, vorher untersuchen zu müssen glaubt, ob er nicht vielleicht hier einen Schwachgläubigen ärgern, da einen
Ungläubigen verhärten könne, der entsage doch nur allem Schreiben! Ich mag keinen Wurm vorsätzlich zertreten, aber wenn es mir zur Sünde gerechnet werden soll, daß ich ungefähr einen zertrete, so weiß ich
mir nicht anders zu rathen, als daß ich mich gar nicht rühre; kein- meiner
Glieder aus der Lage bringe, in der es sich einmal befindet; zu leben aufhöre.
Jede Bewegung im Physischen entwickelt und zerstört, bringt
Leben und Tod; bringt diesem Geschöpf Tod, indem sie jenem Leben bringt. Soll lieber kein Tod sein und keine Bewegung? Oder Tod und Be wegung?" —
Was hat es für einen Zweck, die Hand auf eine Wunde zu legen, wenn man kein Heilmittel anzugeben weiß? — Vielleicht ist gerade dies Handauflegen das Heilmittel.
In geistiger Beziehung gewiß.
Und der
Versuch, das historische Borurtheil gegen die Juden kritisch zu zersetzen, ist gerade ein Mittel, es dem Pöbel aus den Händen zu reißen.
Was heißt Borurtheil?
Ein Schluß aus Induktion: wenn ich bei
zwanzig Menschen derselben Gattung die
nämlichen Eigenschaften ange-
ttoffen habe, so schließe ich beim einundzwanzigsten unwillkürlich, daß die
selben Eigenschaften wieder da sein werden.
Ueber den Pöbel ist dies
Vorurtheil so mächtig, daß er ihm folgt, auch wenn der Augenschein ihn eine- besseren überführen sollte; der Gebildete glaubt dem Augenschein und sagt sich; der Einundzwanztgste hat diese Eigenschaften nicht.
Versteht
er dann Schlüsse zu bilden, so wird er hinzu setzen: folglich müssen diese Eigenschaften doch nicht unzertrennlich mit der
Gattung verknüpft sein.
Wenn man z. B. allen Deutschen nachsagt, sie seien Säufer und Spieler, so wird man das zurücknehmen, sobald man die genügende Anzahl Deutscher gefunden hat, die eS nicht sind; ebenso wird man im entsprechenden Fall die
Behauptung, daß alle Juden Wucherer sind, zurücknehmen.
Freilich wird
man dabei noch das Vorurtheil beibehalten dürfen, daß im Charakter der
Deutschen die Neigung zu Spiel und Trunk, im Charakter der Juden die
Neigung zum Wucher stecke. Ein Gespenst verschwindet, sobald ich dreist darauf loSgehe; ein Bor
urtheil wird aufgehoben oder in engere Grenzen zurückgeführt, sobald ich eS im Einzelnen zergliedere.
Das Vorurtheil wucherte kräftig fort, so
lange man, um nicht Aergerniß zu geben, eS in feiger Scheu den Juden
versteckte; eS wird sich mehr und mehr mäßigen, je gründlicher darüber zwischen den Gebildeten der beiden Parteien diScutirt wird.
Ob der Pöbel
davon hört, ist ganz gleichgültig; für den sind andere Maaßregeln da als die DiScusston: wohlgemerkt der jüdische wie der christliche Pöbel; und daß
beide gleich schlimm sind, hat sich in diesen Tagen gezeigt. Die DiScussion hat aber noch einen höheren Zweck: auf den Kern
der Sache zu dringen.
Von tausend Borwürfen, die den Juden gemacht
werden, kann der Einzelne immer sagen: sie treffen mich nicht.
Aber Einer
Schuld, obgleich persönlich unschuldig, kann er sich nicht entziehn: einem
Stamm anzugehören, in dem seit drei Jahrtausenden Race und Religion
zusammenfallen, der sich schmeichelte, das aüSerwählte Volk Gottes zu sein, der jede Vermischung mit andern Völkern ablehnte, der in dieser Jsolirtheit
fortfuhr, als seine politische Existenz aufgehört hatte, als er genöthigt war, sich der Sprache und den Gesetzen anderer Völker anzubequemen.
Ein Phänomen, wie in der Art in der ganzen Weltgeschichte kein
zweites vorkommt!
Es zeugt von einer ungeheuren bewundernswürdigen
genetischen Lebenskraft. Aber in dieser Stärke liegt auch das Schicksal des Volks: gerade diese spröde Lebenskraft deS Einen Volks hat das Miß
wollen der andern Völker herausgefordert, und fordert eS noch heraus. Der Einzelne freilich hat fein Schicksal nicht gemacht, nicht nach seiner
Wahl ist er Jude geworden, aber zu tragen hat er das Schicksal als ob
er es selber gewählt hätte, so wie Jeder das Schicksal seines eignen ihm angeborenen Charakters zu tragen hat. —
Wie kann nun die Versöhnung eintreten? — Die politische Gleich-
Lessing.
166
berechtigung ist errungen und eS darf nicht daran getastet werden; die gesellschaftliche Gleichberechtigung wird durch kein Gesetz gefördert oder be einträchtigt.
Aber jedem gebildeten Juden muß die Möglichkeit geboten
werden, gesellschaftlich auf gleichem Fuß mit seinen germanischen Mit
bürgern zu stehn, sobald er erkennt, daß auch er etwas gut zu machen hat, daß eS eine Vermessenheit ist, den Werth anderer Menschen nach ihrer
Stellung zur Judenfrage abzuschätzen, auch einem, den er sonst in jeder
Beziehung achten und verehren muß, wenn
die Tischgemeinschaft zu kündigen,
er sich einmal mißliebig über die Juden
ausgesprochen; sobald
er zu der Einsicht kommt, daß diese nervöse Empfindlichkeit schon gegen daS Wort „Juden" oder „Semiten" oder „Anhänger der mosaischen Con-
fession" nichts anderes ist als der alte durch Jahrtausende lange Gene rationen vererbte zurückgetretene Wahn,
daS auSerwählte Volk Gottes
zu sein.
Und hier rufe ich freudig den Dichter des Nathan zu Hilfe, den man viel citirt, aber wenig im Zusammenhang liest.
Die Tendenz deS Nathan ist, nachzuweisen, daß auch aus dem Juden thum heraus ein vollkommen weiser, tugendhafter und idealer Charakter
erwachsen könne; nachzuweisen ferner, waS dem Dichter nicht minder wichtig war, daß eS einem solchen Charakter wohl gelingen könne, die Borurtheile
gegen die Juden zu überwinden und sich eine gleichberechtigte Stellung in der Gesellschaft zu gewinnen; wohlgemerkt beides, ohne daß er aufhört Jude zu sein.
Daß Lessing diese Absicht gelungen, zeigt den reifen dramatischen Dichter.
Der Charakter NathanS ist wirklich ein Meisterstück, ebenso wie
der gegenspielende des Tempelherrn.
In einem älteren Versuch, dem
Lustspiel „die Juden", war dieselbe Absicht völlig mißlungen, denn der
Tugendhafte, der sich zuletzt als Jude entpuppt, hätte ebenso gut ein ver
kappter Baron, oder ein verkappter Weinreisender oder Gott weiß was
sein können, denn er hat gar keine individuellen Merkmale.
In Nathan
dagegen, wenn man seine Sprache, seine Bewegung, die ganze Art seiner Gedanken-Verbindungen aufmerksam verfolgt, erkennt man die Art seines
Stammes gar wohl heraus.
Es wäre ästhetisch nicht zu rechtfertigen,
wenn der Schauspieler diese Merkmale stärker weniger aber ist zu rechtfertigen,
auftragen wollte; noch
wenn er sie gänzlich unterdrückt und
den Nathan zu einem Heros macht, der auf die Andern von oben herab
blickt. Es soll nicht blos der Angehörige einer besonderen Religion, sondern der Angehörige eines unterdrückten Stammes, der klug rechnende Handels mann dem stolzen Krieger und Ritter gegenüber gestellt werden; gerade
von diesem soll gezeigt werden, daß er diejenigen, die auf ihn von oben
herab sehen, blos durch seinen Geist nöthigt, die Augen vor ihm niederzu
schlagen.
Lessing dachte an seinen Freund Mendelssohn, den unansehnlichen
halb verwachsenen Mann.
Gleich ihm hat Nathan eine Freude daran,
durch Witz und Scharfsinn die Andern zu necken und in Verlegenheit zu
bringen, so Daja, Alhafi, den Tempelherrn, selbst den Sultan.
Durch
seine ganze Lage an Behutsamkeit gewöhnt, hält er mit seinen eigensten Gedanken und Empfindungen zurück; er zeigt gleichsam nur die Außen
seite, um durch diese zu wirken.
Dem Hochmuth der Andern setzt er nicht
einen entsprechenden Hochmuth oder Trotz entgegen; er faßt sie bei ihren
eigenen Ideen und Empfindungen, um sie zu sich herüber zu leiten.
Keines
wegs kehrt er, wie seine modernen Verehrer ihm empfehlen, denjenigen, die sein Volk lästern, ihn aber ausnehmen, den Rücken.
Als der Tem
pelherr ihm zuruft: -------------- Wißt Ihr, Nathan, welches Volk Zuerst das auSerwählte Volk sich nannte? Wie? wenn ich'dieses Balk nun zwar nicht haßte,
Doch wegen feines Stolzes zu verachten
Mich nicht entbrechen könnte?
Als der Tempelherr so das Judenthum lästert, ruft ihm Nathan keines
wegs zu: du willst die Inquisition wieder einführen! hebe dich weg von mir! wir können nicht an einem Tische sitzen!
Er sagt vielmehr Folgendes:
----------------- Ha, Ihr wißt nicht, wie viel fester
Ich nun mich an Euch drängen werde! — Kommt Wir müssen, müssen Freunde sein!
Mein Volk so sehr Ihr wollt.
Verachtet
Wir haben beide
UnS unser Volk nicht auserlesen.
Sind
Wir unser Volk?
So konnte Nathan sprechen, weil er, ganz anders als Mendelssohn, die Vorurtheile seines Stammes wirklich überwunden hatte, und die rela tive Berechtigung jener Einwände begriff, während Mendelssohn dein Göt
tinger Professor Michaelis eine mißliebige Kritik der „Juden" volle dreißig
Jahre nachtrug, und, was daS characteristische ist, im Groll sie seinem Gedächtniß falsch einprägte.
Auf ihn, auf Mendelssohn bezieht sich viel
leicht, was der Tempelherr später zu Saladin sagt: „Der Aberglaub', in dem wir ausgewachsen,
Verliert, auch wenn wir ihn erkennen, darum Doch seine Macht nicht über nnS.
ES sind
Nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten.
Der Aberglauben schlimmster ist, den seinen Für den erträglichem zu halten, dem allein Die blöde Menschheit zu vertraun, bis Sie helleren Wahrheitstag gewöhne.---------
Dieser Aberglauben, wie eS der Tempelherr und mit ihm Lessing nennt, war der Aberglaube Mendelssohns, der doch die besten seiner Ueber
zeugungen auS der allgemeinen europäischen in ihrer letzten Begründung christlichen Bildung geschöpft hatte.
Daher betrachtete er das Christen
thum im Stillen mit Ueberhebung, und eS war ein Laut, der ihm wider
Willen entschlüpfte, wenn er nach der Lectüre deS Nathan
schrieb:
an Lessing
„Im Grunde gereicht er der Christenheit zur wahren Ehre! —
Auf welcher hohen Stufe muß ein Volk stehn, in welchem sich ein Mann zu dieser Höhe der Gesinnung aufschwingen konnte!
Wenigstens wird
Leider scheint noch heute diese Nachwelt
die Nachwelt so denken müssen." nicht gekommen zu sein.
Wie stellt sich nach Lessingö Auffassung Nathan zu seiner Religion? — „Welch ein Jude!" ruft einmal der Tempelherr mit Beifall; „und der
so ganz nur Jude scheinen will!"
AlS der Sultan von ihm ein Ur
theil über den Werth der drei offenbarten Religionen
er zu sich selbst:
und ganz und gar nicht Jude,
also darauf
verlangt, sagt
„So ganz Stockjude sein zu wollen, geht schon nicht,
geht noch minder."
hin geprüft werden,
Was er sagt, muß
ob eS Verstellung
oder
aufrichtige
Meinung ist. Der Sultan hat ihm eine Falle gestellt, und Nathan, der das merkt,
sucht eine Ausflucht in der bekannten Fabel von den drei Ringen, die Lessing im Boccaccio fand und die ihm zuerst die Idee seines Stücks eingab.
Das erste Stadium seiner Darstellung ist: die eine von den drei
Religionen ist die richtige; aber welche? Das kann durch objective Gründe nicht ausgemacht werden, darin muß jeder den Ueberlieferungen seiner
Väter traun.
So rechtfertigt Nathan, daß er Jude bleibt.
Lessing hat
in seinen Briefen wiederholt ausgesprochen, daß eS seine Meinung nicht
wäre, daß vielmehr jeder die ihm überlieferten Begriffe von Gott an
seiner eigenen Vernunft zu prüfen habe.
Nun aber das zweite Stadium.
Durch die Spannung des Sultans
kommt in Nathans Gedanken ein höherer Flug; er führt die drei Reli
gionen vor den Richter, und dieser verlangt, daß sie ihre Wahrheit an ihren Früchten nachweisen sollen: wenn keine von ihnen im Stande ist, alle
Menschen in Liebe zu vereinigen, so ist keine die wahre, so sind die An hänger aller betrogen; da sie aber Alle im guten Glauben handeln, so
möge jeder versuchen, innerhalb der ihm angewiesenen Sphäre sich mög
lichst bis zum rein Menschlichen durchzubilden, bis endlich ein höherer Richter das neue bleibende Evangelium verkündigen wird.
Die Idee, daß innerhalb jeder einzelnen Religion eine Annäherung an das Ideal des Reinmenschlichen möglich
sei, ist Lessings wirkliche
Meinung, jedoch nicht ganz in dem Umfang, wie sie hier und sonst im Eiser der dramatischen Action vorgetragen wird.
Nathan hat, als er von den Christen das schändlichste Unrecht erdul dete, an einem Christenkind eine edle That gethan.
Der Klosterbruder
ruft aus: „bei Gott, Ihr seid ein Christ! Ein besserer Christ war nie!" Darauf antwortet Nathan:
„Heil unS!
Denn was mich euch zum
Christen macht, das macht euch mir zum Juden!"
geschickte Bolte.
Das ist zuletzt doch eine
Der Klosterbruder wollte nicht sagen: So handeln die
meisten Christen! Sondern: so handelnd erfüllst du die höchsten Gebote
des Christenthums! Und in der That lehrt das Christenthum: Segnet die Euch fluchen! thut wohl denen die Euch hassen!
Bon einem solchen Ge
bot sagt das Judenthum Nichts. In seiner innersten Ueberzeugung coordinirte Lessing keineswegs die
beiden Religionen als gleichwerthig. In der „Erziehung des Menschengeschlechts" wird das alte Testament
als ein Lehrbuch für ein kindisches Volk dargestellt, welches seinen Werth
verlieren mußte, so bald eine reifere Bildung deS Herzens nach höheren Offenbarungen verlangte.
Eine höhere Offenbarung, freilich nicht die
höchste, enthielt das neue Testament; so bald es erschien, hörte die all
gemein menschliche Berechtigung deS alten auf. auf Abwege gerathen.
Ja schon ftüher war eS
„Jedes Elementarbuch ist nur für ein gewisses
Alter; das ihm entwachsene Kind länger dabei zu verweilen ist schädlich, denn dann muß man mehr hinein legen als darin liegt, mehr hinein tragen als es fassen kann; man muß der Anspielungen und Fingerzeige
zu viel suchen und machen, die Allegorien zu genau auSschütten, die Bei spiele zu verständlich deuten, die Worte zu stark pressen. DaS giebt dem
Kinde einen kleinlichen, schiefen, spitzfindigen Verstand, daS macht eS geheimnißreich, abergläubisch, voll von Verachtung gegen alles Faßliche lind
Leichte. — Die nämliche Weise, wie die Rabbiner die heiligen Bücher behandelten.
Der nämliche Charakter, den sie dem Geist ihres Volkes
dadurch ertheilten!"---------
Hätte Lessing heute so geschrieben, so würde man ihm vorgehalten haben, daß er durch dieses Aergerniß gegen das Gebot der von Lessing
verkündeten Toleranz verstieße. LessingS wirkliche Meinung war: in jeder Religion kann man zum
reinen Ideal der Menschheit Vordringen, aber die eine macht eS leichter als die andere.
Und das gilt noch heute.
Man macht den Juden viele falsche Vor
würfe, z. B. Mangel an Muth;
ein thörichter Vorwurf, der sich nur
daraus erklärt, daß jeder Stamm eine andere Farbe des Muths zeigt.
Aber einen Uebelstand der modernen jüdischen Bildung wird Niemand ableugnen: sie erschwert daS ruhige gesunde Selbstgefühl. entwickelten, zart organisirten Naturen!
es gar nicht.
Grade bei fein
Denn vom gemeinen Juden gilt
Jenen liegt eine bestimmte Form deS Ehrbegriffs, durch
Generationen vererbt,
in der Natur; eine andere haben sie durch die
europäische Gesittung überkommen.
Beides deckt sich keineswegs, sie müssen
den Leitton erst suchen, und so lange sind sie unsicher, leicht geneigt, den von Auswärts überkommenen Ehrbegriff nervös zu übertreiben.
Stimmung ihnen zuzurufen:
die Ehre verlangt,
In solcher
dem Beleidiger deS
Stammes den Rücken zu kehren, heißt nicht, sie auf den rechten Weg
leiten.
Für die correcte Durchführung dieses Problems fehlt im Nathan eins, die bestimmte Zeichnung des sittlichen Bodens, auf dem es sich abspielen
soll.
Das Zeitalter Saladins ist nicht blos genannt,
es gehört wesent
lich zum Verständniß und zum Urtheil über die Motive der einzelnen
Personen.
Vieles aber will nicht stimmen.
Der Patriarch verweist dem
Tempelherrn mit dem blos singirten „Problems", ob ein Jude ein Christen mädchen confessionslos erziehen dürfe, an daS Theater, wo man dergleichen
pro et contra zu behandeln pflege: wo sollte der Tempelherr ein solches
Theater wohl in Jerusalem aufsuchen?
zeichnet: so wie
Ueberhaupt ist der Patriarch ver
er drückt sich kein Fanatiker auS;
er spielt in daS
Publikum hinein, um ihm mit jedem Wort deutlich zu machen, was für
ein geriebener Hallunke er fei.
Man rühmt wiederholt feine Klugheit,
trotzdem vertraut er dem Klosterbruder, den er doch durchschauen muß, fortwährend Geheimnisse an, die ihm selber an Kopf und Kragen gehn. Daja soll eine bigotte Christin sein, gleichwohl findet sie es ganz unbe
denklich, daß ein Tempelherr, der daS Gelübde der Keuschheit abgelegt, ihre Recha heirathet und mit ihr in'S Abendland zurückkehrt: es fällt daS um so mehr auf, da wir aus dem ersten Entwurf deS Stücks ersehn,
daß dies Bedenken dem Dichter nicht entgangen war.
Der Patriarch
verspricht dem Tempelherrn, wenn er sich seinem Dienst ganz widmen wolle, den Besitz RechaS und den dazu nöthigen Dispens vom Papst.
Man sieht daraus zugleich, daß ursprünglich der Tempelherr in seiner Anzeige NathanS weiter gehn sollte als später berichtet wird. Endlich fällt die Idee NathanS, Recha auch in den Formen religionslos
zu erziehn, zu sehr aus dem Costüm.
Was er ihr für Ideen beibrachte,
war seine Sache, aber an das Gesetz, daS doch den bei weitem größeren
Theil des Lebens ausfüllte, mußte er sie binden, sonst wären die Juden von Jerusalem schneller über ihn gekommen als der Patriarch: Mendels sohn konnte es thun, in seiner Familie waren auch bald sämmtliche Con-
fessionen vertreten, es gab Herrnhuter, Katholiken und Juden; aber das war im Zeitalter Friedrich des Großen.
An sich würde gegen dies Jneinanderspielen zweier Zeitalter nichts zu erinnern sein: in Saladin könnte man ein Stück vom alten Fritz finden, im Tempelherrn ein Stück von Lessing; im Nathan den ganzen
Mendelssohn, im Alhafi einen Berliner Schachfreund, endlich im Patriarchen den Hauptpastor Göze.
Nur stimmen zu diesem aufgeklärten Zeitalter,
dessen Farbe sämmtliche Figuren tragen, nicht die Scheiterhaufen, die man doch nicht entbehren kann, um Nathan in das Licht zu stellen, das ihm
zukommt. — ES hat Zeiten gegeben, wo Lessing hart mit den Rationalisten rechtete,
weil sie in das historisch gegebene Christenthum ihre eigne Vernunft hin
eintragen wollten, wo er sich mit den Orthodoxen gegen sie verbündete; dann wieder Zeiten, wo er eben diese Umwandlung des Ueberlieferten in Vernunftsätze als schlechthin nothwendig darstellte.
Diese Beziehung auf
die geistigen Interessen des Tages traten um so schroffer hervor, da
Lessing selten oder nie daran dachte, die wirklichen oder scheinbaren Wider sprüche in einem zusammenfassenden Lehrgebäude auszugleichen.
In dem Bestreben, der gemeinen Vorstellung gegenüber für die un ruhige Polypragmosyne Lessings den eigentlichen Brennpunkt zu finden,
kamen sowohl Jakobi als Schlegel zu dem Resultat, er sei eigentlich ein
philosophischer Kopf gewesen, und darin liege seine tiefere Bedeutung für die deutsche Litteratur; beide waren sogar nicht abgeneigt, in seiner philo sophischen Richtung etwas Mystisches zu finden.
Unzweifelhaft hat Lessing
überall, wo er einen philosophischen Gegenstand berührte, treffende und
wesentliche Gesichtspunkte gefunden, so in Bezug auf die Aesthetik des Aristoteles.
Aber diese Gelegenheiten boten sich selten und Lessing, der
ganz Schriftsteller war, der selber erklärte, seine Gedanken entwickelten
sich erst im Schreiben, will nach dem beurtheilt sein, was er wirklich ge
leistet hat, nicht nach dem, was er hätte leisten können. Jakobi glaubte, aus einem Gespräch, in dem er doch mehr selber
vortrug als den Andern zu Wort kommen ließ, entnehmen zu müssen, daß Lessing ein Spinozist gewesen sei. gesprochen.
Dem wird noch heute zuweilen nach
Ich finde aber, daß in dieser Streitfrage Mendelssohn voll
kommen im Recht war, die Aussage Jakobi's ganz obenhin zu behandeln.
Schon in dem, was Jakobi selbst mittheilt, finden sich handgreifliche Un
richtigkeiten.
Er nimmt z. B. an, und glaubt auch darin Lessings Mei
nung zu treffen, daß die prästabilirte Harmonie eine Erfindung Spinoza's sei, während Lessing diese Ansicht (Lachmann B. 11 S. 112) vollständig widerlegt hatte.
„Leibniz", sagt er mit Recht, „will durch seine Harmonie
daS Räthsel der Bereinigung zweier so verschiedener Wesen als Leib und
Seele sind auflösen; Spinoza hingegen sieht hier nichts Verschiedenes, sieht
also keine Vereinigung, sieht kein Räthsel, das aufzulösen wäre."
Wenn sich Lessing Jacobi gegenüber zu Spinoza zu bekennen schien, so wollte er damit nur seine völlige Lossagung von dem gemeinen Kirchen glauben recht stark betonen; übrigens war er wie das ganze Zeitalter,
wie namentlich sein Freund Mendelssohn, dem in dieser Angelegenheit die Priorität zukommt, durch die Wölfische Schule gegangen und hatte sich
dann zu der eigentlichen Quelle, zu Leibniz gewandt.
Er studirte Leibniz'
Werke nach allen Richtungen hin; wo er auf ihn zu sprechen kommt, ge
schieht eS im Ton der höchsten Verehrung, was bet Lessing nicht gerade
häufig ist, und mit fast völliger Billigung.
In einer Antwort auf eine
1776 von Wieland gestellte Preisaufgabe über das Verhältniß der Schwär merei zur Philosophie (Lachmann 11. S. 467) sagt er u. a.:
„Wer war
mehr kaltblütiger Philosoph als Leibniz, und wer würde sich die Enthu siasten ungerner haben nehmen lassen als Leibniz? Denn wer hat so
viele Enthusiasten besser genutzt als eben er? siasten gleich wohl mehr verhaßter?
Und wer ist den Enthu
Wo ihnen sein Name schon aufstößt,
gerathen sie in Zuckungen; und weil Wolff einige von Leibnizen'S Ideen, manchmal ein wenig verkehrt, in ein System verwebt hat, das ganz gewiß nicht Leibnizen'S System gewesen, so muß der Meister ewig seines Schü lers wegen Strafe leiden.
Einige wissen zwar sehr wohl, wie weit Meister
und Schüler von einander abstehn, aber sie wollen eS nicht wissen.
Es
ist so bequem, unter der Eingeschränktheit des Schülers den scharfen Blick
des Meisters zu verschreien, der immer genau wußte, ob und wie viel eine unverdaute Vorstellung Wahrheit enthalte."
Das war Frühjahr 1776
geschrieben, also zur Zeit seiner völligen Reife, nur vier Jahre vor seiner
Unterredung mit Jacobi.
Am Schluß der Schrift, in welcher Lessing am meisten den Schleier wegzliziehen scheint, der sein geheimes Denken verhüllt, in der „Erziehung
des Menschengeschlechts," spricht er von der ewigen Fortdauer und Trans formation der Seelen: ein wenn man will bildlicher Ausdruck, der wenn
man für ihn die abstracte Form sucht, unbedingt auf Leibniz'S Monaden zurück führt.
Diese Lehre war dem System Spinoza'» entgegengesetzt,
denn für Spinoza gab es nur Eine Substanz, während Leibniz eine un
endliche Zahl substantieller d. h. ewiger geistiger Wesen behauptete. Freilich würde sich Lessing ebenso wenig einen Leibnizianer genannt
haben als einen gläubigen Anhänger irgend eines andern Philosophen; er war eben ein freier Denker, und weit entfernt, sich in einem eigenen oder fremden philosophischen System fertig eingerichtet zu glauben.
Kurze
Zeit nach seinem Tode erschien die „Kritik der reinen Vernunft".
ES
wäre sehr interessant, zu wissen, wie sich Lessing dazu gestellt haben würde,
eS aber errathen zu wollen wäre mißlich.
Bisher hatte Lessing von Kant,
so weit sich übersehen läßt, nichts gelernt, so nahe sich die Gebiete ihrer Forschungen auch berührten, Kant dagegen verdankt Lessing viel, namentlich
in seiner Religionsphilosophie. Mit LessingS Tod gewinnt die deutsche Prosa ein vollständig neues
Ansehn.
Während der Herrschaft der Wolfischen Philosophie setzte man
die methaphhsische letzte Begründung der Denkformen als bekannt voraus, und die besten Schriftsteller, Lessing voran, drückten sich in der Sprache
des gemeinen Mannes auö; das ging nicht mehr, seitdem Kant das Volk nöthigte, sich umzudenken, gerade die Grundlagen der bisher auf Treu
und Glauben angenommenen Wahrheit kritisch zu prüfen: wer nun noch
gelten wollte, mußte sich der neuen Kunstausdrücke bedienen. Gerade darum ist noch heute Lessing im Durchschnitt populärer alS viele sehr bedeutende
spätere Prosaiker.
Bei seiner universalen Beschäftigung mit den entlegensten Gebieten der Wissenschaft, für welche sich die Stellung eines Bibliothekars so recht
eignete, war eS doch Eine Wissenschaft, deren er sich als Schlüssel zu allen andern bediente, die Philologie.
Die Methode seines Forschens auf dem
Gebiet der Theologie, der Aesthetik, der Geschichte war die philologische
im höheren Sinn.
Selbst wo er sich an das Jenseits wagte, suchte er
sich erst philologisch über das was man eigentlich zu fragen habe zu
orientieren. Zur philologischen Methode gehört u. a., daß man den Gegner erst vollkommen aushört, daß man erst genau zu erfahren strebt, was er
will, sei es auch dem ersten Anschein nach noch so unverständig, ehe man urtheilt.
Dies Bedürfniß und diese Fähigkeit, zu hören, ist es, was man
bei Lessing mit Recht Toleranz nennen darf: sie will aber keineswegs so
viel sagen alS Nachsicht im Endurtheil, wenn das Verhör geschlossen ist. Nun kommt aber bei LessingS wissenschaftlichen Schriften nicht blos
die Methode des Forschens, sondern die Methode der Darstellung in Be tracht.
Lessing war ein bedeutender Gelehrter, aber er war mehr Schrift
steller als Gelehrter, und das ist vielleicht der Hauptgrund, warum von
so manchen eingeschnürten Fachleuten seine Gelehrsamkeit nicht für voll angenommen wurde.
Freilich war er immer mit ganzem Herzen bei der
Sache: was er zu erweisen suchte war ihm heilige Ueberzeugung; aber
zugleich hatte er bei allen seinen Schriften einen künstlerischen Zweck, oder wenn man will, ein künstlerisches Bedürfniß; die Form, in der er seine
Sache vortrug, beabsichtigte freilich, seiner Ansicht leichteren Eingang zu verschaffen; aber — er hätte sie auch ohne das gewählt.
Die Methode seiner Forschung war die philologische, die Methode seiner Darstellung die dramatische.
Schon bei einer seiner älteren ge
lehrten Schriften fiel dem Philologen ReiSke der dramatische Gang auf,
und Goeze warf ihm einmal geradezu seinen dramatischen Stil vor.
„Was
kann ich dafür", antwortete Lessing, „daß ich nun einmal keinen andern habe? Daß ich ihn nicht erkünstle, bin ich mir bewußt, auch bin ich mir bewußt, daß er gerade dann die ungewöhnlichsten CaScaden zu machen
geneigt ist, wenn ich der Sache am reifsten nachgedacht habe: er spielt mit der Materie um so muthwilliger, je mehr ich erst durch kaltes Nach
denken derselben mächtig zu werden gesucht habe.
Sie wollen doch nicht
behaupten, daß Niemand bestimmt und richtig denken kann, als wer sich des eigentlichsten, gemeinsten, plattesten Ausdruckes bedient?
Daß den kalten,
symbolischen Ideen auf irgend eine Art etwas von der Wärme und dem Le ben natürlicher Zeichen zu geben suchen, der Wahrheit schlechterdings schade?" Diese Wahrnehmung berechtigt uns, wie ich glaube, bei Lessing den
Kern seines schriftstellerischen Wirkens da zu suchen, wo er aller Welt vor Augen liegt.
Lessing begann mit dem „jungen Gelehrten",
er schloß
mit dem
„Nathan", dazwischen liegt die „Minna von Barnhelm" und die „Emilia",
die „Hamburger Dramaturgie" und der „Laokoon", dessen Deductionen
sich anscheinend auf die Poesie überhaupt, in der That aber vorzugsweise auf die dramatische Poesie beziehn.
Er hat das französische Theater todt
geschlagen, den Shakespeare zu Ehren gebracht, dem Publikum die Augen
für die dramatischen Gesetze des Aristoteles
geöffnet.
Mit all diesen
Werken hat er Epoche gemacht und würde, wenn er nichts anderes geleistet,
eine der hervorragenden Größen unserer Litteratur sein.
schon
Aber
dieser Eindruck verstärkt sich noch sehr durch seine prosaischen Schriften. Goethe sagt einmal von seinen Genossen aus der Frankfurter Zeit,
unter ihren Händen hätte sich alles was ihnen vorkam dramatisch ge staltet.
Das hörte bei Goethe später auf, wo sein Dialog zuweilen sogar
etwas Schwerfälliges hat.
Bei Herder fehlte das Talent gänzlich; wo
er Rede und Gegenrede versucht, verwirrt er sich und findet keinen AuSgang.
Bei Lessing findet sich der dramatische Trieb und
daS dramatische
Talent von Anfang bis zu Ende seines Lebens, von der Kritik deS Lange schen Horaz Ibis zu den Anti-GoezeS.
Donatschnitzer aufzuzählen, ist sonst
ein ziemlich langweiliges Geschäft, aber Lessing weiß eS in Scene zu setzen: er präsentirt den unglückseligen Lange dem Publikum von allen Seiten, er redet ihn an, verhöhnt ihn, und das Publikum wird angenehm
unterhalten.
Gerade so macht
er eS zwanzig Jahre später mit dem
Superintendenten Räß, mit dem Hauptpastor
Goeze u. s. w.
Seine
Gegner müssen auf die Bühne und einen Tanz- aufführen.
Er diSputirt
nicht blos mit „seinem Nachbar", er ruft auch den „Leser" heran; auch dieser muß mitsprechen,
und in dem buntesten Durcheinander des Ge
sprächs weiß der Vorsitzende, ohne langweilig zu werden, immer den lei tenden Faden fest zu halten:
wir genießen , alle Annehmlichkeiten eines
müßigen Spaziergangs und kommen doch vorwärts nach dem vorgesteckten In diesem Grade hat kein Deutscher die Kunst deS Dialogs be
Ziel.
Einmal schickt er' den Hauptpastor auf die Kanzel, und läßt ihn
sessen.
von dort herabdonnern, während er unten steht und seine Glossen macht. Wahrhaft bezaubernd ist er, wenn er auf den Spott und die Verhöhnung
daS sittliche Pathos folgen läßt und den Gegner mit Keulenschlägen bear beitet: der Zorn ist durchaus nicht gemacht, er kommt aus dem Herzen, aber ein vollkommen sicherer dramatischer Verstand wacht darüber, daß jedes Stichwort im rechten Tempo eintritt.
Wie ost hat man versucht,
daS nachzumachen, aber es klang in der Regel, als wenn ein Esel sich
bemühte die Laute zu schlagen.
Zuweilen ist es eine reine Virtuosenleistung. reizende
Gespräch
im
gar kein Inhalt steckt. mit äußerstem
wird
man
„Testament
Wer
hat nicht die
Behagen gelesen!
freilich
Johannis", Fragt
im Verständniß der
Ich erinnere an das in
welchem
eigentlich
„Freimaurer - Gespräche"
man,
waS
darin
steht,
so
Freimauerei wenig gefördert;
man erfährt nur, daß die Staaten, die Religionen, indem sie vereinigen, auch trennen, daß diese Trennung in wohlgesinnten und einsichtsvollen
Männern das Bedürfniß hervorruft, wieder eine weltbürgerliche Vereini
gung zu suchen, in der die Unterschiede der Staaten, Religionen u. s. w. nicht gelten; daß aber dieser Vereinigung, eben weil sie andere ausschließen muß, derselbe Krebsschaden anhaftet wie den Staaten, Religioney u. s. w.
Dasselbe hätte sich in einfacher trockener Prosa viel eindringlicher auSführen lassen — aber wer wollte für diese trockene Prosa daS Sprühfeuer
des Witzes hingeben, mit welchem uns Lessing überschüttet!
Lessing ist also dramatischer Dichter auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten, und wie man im wirklichen Drama nicht jedes Wort, das von irgend einer der betreffenden Personen gesprochen wird, als die Herzens meinung deS Dichters ansehn darf: so muß man auch bei Lessings Dia logen — und hier komme ich auf den Punkt zurück, von dem ich auSge-
gangen war — bei dem einzelnen Wort, ehe man es als geprägte Münze äuögiebt, sehr wohl erwägen, wie weit im Augenblick der Schriftsteller
selbst dabei fertig zu sein glaubt.
Wenn am Schluß jenes schönen Ge
sprächs über das „Testament Johannis" der Hauptredende an den Aus spruch des „guten Mannes" erinnert:
Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 2.
„Wer nicht wider unS ist, der ist
12
für UNS!" — „Sie kennen ihn doch, den guten Mann?" — so antwortet der Mitsprechende nicht uneben:
„Recht wohl!
ES ist eben der, der an
einem anderen Orte sagt: Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich!" —
Und so dürfte wohl auch der Dichter des Nathan der Intoleranz seiner
für die Toleranz begeisterten Hamburger Freunde gegenüber gar wohl in einer humoristischen Predigt im Stil AorickS den Orthodoxen vertheidigen, der, mitleidig für den Einzelnen, dennoch gegen die Gemeinschaft der nach seiner Ueberzeugung böswillig Irrenden das Anathema nicht zurückhielt.
Halb war es Scherz, aber nur halb: wahre Toleranz, d. h. wahrhaft geistige Freiheit, muß auch die Intoleranz in ihrer relativen Berechtigung begreifen.
„Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist oder zu sein vermeint, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth deS Menschen. Denn nicht durch den
Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz... Wenn Gott in seiner Rechten alle
Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahr heit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke
und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein." Wie prachtvoll nimmt sich dieser Satz aus im Feuer der dramatischen Action! In demselben Sinn sagt Faust: „eS irrt der Mensch, so lange
er strebt!" und weiter: „werd' ich beruhigt je mich auf das Faulbett legen, so sei eS gleich um mich gethan!" — Indeß bei näherer Ueberlegung steigen
Zweifel auf.
Wie meint es Lessing?
Kommt eS der Wissenschaft- also
dem Menschen, der sich der Wissenschaft hingiebt, nicht grade darauf an, daS positiv Richtige zu erkennen?
Lessing denkt zunächst mehr an die metaphysischen Wahrheiten, die sich nach KantS späterem Ausdruck auf das „Ding an sich" beziehen; hier die
höchste Wahrheit zu finden, ist dem Sterblichen versagt; auf immer ver
sagt, wie man bei mancher seiner Aeußerungen annehmen sollte.
Gleich
wohl hören wir, im Feuer einer dramatischen Action („Erziehung deS
Menschengeschlechts"): „Soll das menschliche Geschlecht auf die höchste Stufe
nie kommen? — Laß mich diese Lästerung nicht denken. Allgütiger!.. Nein, sie wird gewiß kommen, die.Zeit der Vollendung ..." — also die Zeit, von der Faust sich vermißt, zu erklären: „dann sei die Zeit für mich vorbei!"
In welchem von diesen beiden Sätzen ist Wahrheit? — In beiden! aber eine subjektive Wahrheit: es giebt Momente, in denen die eine, Momente, in denen die andere Empfindung berechtigt ist; eine oder die
andere aber als gangbare Waare einzuheimsen, muß auch der orthodoxe
Anhänger Lessings sich versagen.
Julian Schmidt.
Hermann Lotze.
Die Berufung Hermann Lotze'S von Götttngen nach Berlin giebt mir Veranlassung, noch einmal auf die hohe wiffenschastliche Bedeutung
dieses Mannes htnzuweisen*), dessen Lehren noch nicht tat Entferntesten ihrem wahren Werthe entsprechend gewürdigt sind, obwohl sie an Tiefe
und Sorgsamkeit der Begründung, an innerer Klarheit, an vorurthetlS-
losem Scharfsinn und Weite deS Umblicks meiner Ansicht nach das über ragen, waS die Gegenwart an ähnlichen Bestrebungen aufzuweisen hat. Lotze hat kein System im bisherigen Sinne aufgestellt, aber er hat
die philosophische Forschung auf eine Höhe gehoben, welcher jene früheren Formen systematischer Welterklärung überhaupt nicht mehr genügen können. Er hat die Periode der Systeme tat bisherigen Sinne überwunden, indem
er die Philosophie aus einer Wissenschaft der Begriffe in eine Wissen schaft des Wirklichen umwandelte, indem er das Wirkliche, was wir
unmittelbar erleben als den letzten realen Inhalt der Begriffe auf« wies, aus welchen die metaphysischen Grundanschauungen zu formuliren, die Werthe des Vorhandenen nach unmittelbarer Schätzung zu bestimmen
und in letzter Instanz die Zwecke deS JndividuallebenS und der Weltent
wickelung zu ermitteln sind.
Er hat dadurch der Philosophie eine allge
meinverständliche reale Basis gegeben, welche denselben Mitteln der Unter
suchung und Erkenntniß zugänglich ist, als alles übrige unmittelbar ge
gebene Erfahrungsmaterial; er hat dadurch die Philosophie, welche bisher zum großen Theil noch der Tummelplatz unklarer Meinungen und will
kürlicher Systembildungen war, zu einer den übrigen Wissenschaften voll kommen ebenbürtigen Stellung erhoben.
Wir können das eigenthümliche Verdienst und den charakteristischen
Grundzug der Lotze'schen Philosophie nicht prägnanter bezeichnen, als daß *) Die mit dem Inhalte der Lotze'schen Schriften weniger vertrauten Leser verweise ich auf einen früheren Aussatz in den Preußischen Jahrbüchern (Bd. XXXVI. S. 283—308, 422—442 und 469—489), wo ich eine allgemeinverständliche und überfichtliche Darstellung der Lotze'schen Philosophie zu geben versuchte.
12*
wir sagen: er hat uns das Verständniß des Unmittelbaren er
öffnet.
Um dies recht zu verstehen und die Wichtigkeit dieses neu eröffneten Verständnisses entsprechend zu würdigen, müssen wir uns die Schwierig
keiten vergegenwärtigen, welche der Ausbildung des philosophischen Er
kennens von jeher entgegenstanden.
Das unmittelbar Erlebte war nicht
der erste Gegenstand des menschlichen Nachdenkens.
Die erste Bildung
unserer Vorstellungen und Begriffe fällt vielmehr in eine Zeit, wo wir noch nicht fähig sind, die dabei mitwirkenden Factoren gesondert für sich
zum Bewußtsein zu bringen und ihren relativen Werth für Zweck und
Inhalt des Erkennens zu ermessen.
Die philosophische Untersuchung kann
erst dann beginnen, wenn wir eine gewisse Stufe unserer geistigen Aus
bildung
erlangt haben, und in diesem Stadium unserer Entwickelung
treten die Produkte unserer eigenen Geistesthätigkeit uns bereits wie fertige
selbständige Realitäten, als Dinge und zusammenhängende Ereignißreihen entgegen, welche, auf unbegreifliche Weise gegeben, uns ihrem Wesen nach
zunächst völlig unbegreiflich erscheinen.
Wir scheiden unser eigenes Ich
von einer uns umgebenden Außenwelt, ohne zu bedenken, daß dieselbe bis
in alle Einzelnheiten ihres anschaulichen Bildes Product unserer eigenen Geistesthätigkeit und nur dadurch entstanden ist, daß wir Erregungen des
eigenen Innern nach Grundsätzen und Zwecken verknüpften, welche gleich
falls VersahrungSweisen und Zwecke unseres eigenen Ich sind.
Es ist
nicht meine Absicht, hier die besonderen Gestaltungen im Einzelnen auf
zuführen, welche die auf solcher phänomenalen Grundlage unter dem Ein flüsse jener Vorurtheile entstandenen philosophischen Probleme in der Ge
schichte der Philosophie
erfahren haben.
Dieselben mußten durch die
Einsicht des subjektiven Ursprungs jener Grundlage eine fundamentale
Umgestaltung erleiden, da von dem neuen Standpunkte aus die concrete Welt der Dinge nun nicht mehr als das ursprünglich Wirkliche, sondern
zunächst als Vorstellung und Erscheinung im erkennenden Subjecte sich
darstellte, und deßhalb unmittelbar nur aus der Natur, den BerfahrungSweisen und Zwecken dieses verstanden werden konnte.
Kant war der erste, der die grundlegende Wichtigkeit dieses wahren Sachverhalts für alle spätere philosophische Forschung erkannte und in
seinem KriticismuS die durch solche Erkenntniß nöthig gewordene refor matorische Bewegung
des philosophischen Denkens
einleitete.
Aber er
constatirte doch nur das Factum der Subjektivität deS Erkennens, ohne
dessen innere Nothwendigkeit aus der Natur des erkennenden Subjectes
und dem Begriffe der Wechselwirkung desselben mit anderen Wesen dar zulegen und ohne deßhalb die wahre Bedeutung der unmittelbaren Geistes-
erlebnisse als nothwendiger und zureichender AusgangSbasiS alles philo sophischen Erkennens sachgemäß zu würdigen.
Er glaubte vielmehr auS
jenem Sachverhalte nur die Unmöglichkeit aller metaphysischen Erkenntniß
folgern zu müssen, weil sein Denken von dem alten Gegensatze der Er scheinung und deS Dinges an sich und von dem Vorurtheile, daß das Wesen des letzteren das eigentliche Ziel des Erkennens und die innere
Welt der Erscheinungen höchstens zum Abbilden jenes bestimmt sei, noch
zu sehr beherrscht war, als daß er auf den Gedanken hätte kommen können, der Thatbestand ddr inneren Erlebnisse repräsentire an sich selbst schon
einen so bedeutsamen Inhalt und so bedeutsame Momente deS Geschehens,
daß daraus der Werth deS Wirklichen und das Ziel deS Weltprocesses
erkannt werden könnte.
Das Wesen der Dinge an sich steht daher in seiner Auffassung in keinem angebbaren Zusammenhänge mit der inneren Welt der Erscheinungen.
Die sinnlichen Empfindungen,
die Kategorieen deS Denkens,
die An
schauungen von Raum und Zeit, das Sittengesetz und die Ideen der Ver
nunft haben in seiner Auffassung eine rein subjektive Bedeutung und daS wahre Wesen deS erkennenden Subjectes selbst steht ihm, der
Erkenntniß unerreichbar, in nebelhaftem Dunkel hinter der lichten. Welt
der Erscheinungen. Aber der metaphysische Erkenntnißdrang seiner genialen Zeitgenossen und Nachfolger durchbrach alsbald die von Kant aufgerichteten Schranken.
Bedeutungslosigkeit des subjectiven Erkennens für das wahre Ge
schehen und das wahre Wesen der Dinge an sich einmal zugegeben, war es nur noch ein Schritt bis zur völligen Leugnung des ganzen trans
scendenten Gebietes und bis zu dem Glauben an die Allbedeutsamkeit des subjectiven Geisteslebens, dessen Schwerpunkt man noch dazu blos in der
intellectuellen Sphäre enthalten wähnte.
Fichte zog
sequenz und Hegel und Schelling suchten den
diese kühne Con
wesentlichen Inhalt und
Zweck des gesammten Weltprocesses theils in der bloßen Entwickelung der logischen Idee, theils gar in einem bloßen Rhythmus des Geschehens nach gewissen Verhältnissen von rein formaler, höchstens einer unklar symboli schen Bedeutung.
So hatte die einseitige Deutung, welche Kant dem reformatorischen
Grundgedanken der Subjectivität alles Erkennens geben zu müssen glaubte, zunächst nur die Folge, daß das speculative Erkennen sich ganz von dem Boden des Wirklichen loslöste, daß die Philosophie immer mehr in reine
Begriffsentwickelung
auSartete.
Diese verkehrte Richtung
konnte dem
philosophischen Bedürfnisse auf die Dauer um so weniger genügen, als der großartige Aufschwung der Naturforschung und der Technik das Be-
stehen einer von dem subjektiven Geistesleben unabhängigen Wirklichkeit
des Seins und Geschehens immer offenbarer darlegte.
Der Zuversicht
und Begeisterung, mit welchen die Systeme Fichte's, Hegel's und Schelling'S
bei ihrem Entstehen begrüßt wurden, folgte eine lange Periode der Er
nüchterung, ein philosophisches Interregnum, indem auch das zwar viel fruchtbare Anregungen in sich bergende, aber dennoch unzulängliche und allzu trockene System Herbart'S sich keine allgemeinere Anerkennung zu verschaffen vermochte.
Der Boden, auf dem jene stolzen Gedankengebäude
sich erhoben, wurde zum Brachlande, auf dem bald das Unkraut materiali
stischer und pessimistischer Theorieen wuchernd emporschoß und selbst dem tiefer rmd weiter Blickenden vielfach die klare Umschau erschwerte. Erst in der allerneuesten Zeit scheint daS speculative Interesse sich
wieder in weiterem Umfange zu regen.
Man sucht den wahren Sinn
deS Kant'schen Reformgedankens tiefer zu erfassen und
entsprechender zu
verwerthen.
Niemand hat diese Aufgabe erfolgreicher in Angriff genommen als Lotze, der zu Kant in einem ähnlichen Verhältniß steht wie Newton zu
Kepler.
Wie jener durch die Entdeckung deS Gravitationsgesetzes den
Entstehungsgrund unb inneren Zusammenhang der von diesem über die
Bewegung der Himmelskörper als thatsächlich vorhanden ^constatirten Ge setze darlegte, so gelang es Lotze, den von Kant hervorgehobenen Thatbe
stand der Subjectivität deS Erkennens in seiner gesetzlichen Nothwendig keit als eine Folge deS allgemeinen Gedankens der Wechselwirkung nach
zuweisen, von welcher das Erkennen, insoweit eS durch äußere Anreize bedingt ist, nur einen Specialfall bildet. Die gesammte neuere Philosophie seit CartesiuS
bis zu den rein
idealistischen Systemen der nachkantischen Periode dreht
sich um
daS
Problem der Wechselwirkung, dessen Wichtigkeit um so mehr erkannt wurde,
je mehr sich daS philosophische Nachdenken auf Anregung der Naturfor schung der Erklärung der thatsächlich beobachteten Vorgänge deS Lebens zuwandte.
Lotze hat dieses Problem zuerst scharf präcisirt und einer an
nehmbaren Lösung entgegengeführt.
Die Wechselwirkung kann nicht darin
bestehen, daß die Zustandsänderung des einen Wesens a auf das andere
b unmittelbar wirklich übergeht, denn ein Zustand deS Wesens a kann sich nicht von diesem loslösen, einen Moment für sich sein, die Richtung auf b finden und dort eine correspondirende Zustandsänderung deS an
deren Wesens b werden.
Der sogenannte influxus physicus ist eine
den metaphysischen Begriffen deö Wesens und Geschehen- widersprechende Vorstellung.
Ebensowenig genügt die occasionalistische Erklärung,
daß
dem Zustande deS a ein correspondirender Zustand in b nach einem das
Geschehene in beiden Wesen für den besonderen Fall oder nach einer all
gemein verbindlichen Regel ordnenden göttlichen Machtgebote blos that sächlich folge.
Nur dadurch kann die Thatsache der Wechselwirkung er
klärt werden, daß alle durch sie verbundene Wesen als Momente des
FürsichseinS einer einzigen einheitlichen Substanz betrachtet werden, welche den wesenhaften Kern der Wirklichkeit aller Einzelwesen bildet. standsänderung deS einen Wesens a ist dann zugleich
jenes ganzen
Jede Zu
eine Bewegung
einheitlichen substantiellen Weltgrundes, welche in allen
übrigen Wesen, daS ist in allen übrigen Momenten deS FürsichseinS jener einen Weltsubstanz, schwächer oder stärker wiederklingt und mithin zugleich als correspondirende Zustandsänderung des Wesens b hervortritt, welches
auf solche Art die Einwirkung von a erleidet. Da nun daS Erkennen, insoweit eS durch äußere Anreize bedingt ist,
nur einen Specialfall der Wechselwirkung deS erkennenden Subjectes mit anderen Wesen bildet, so folgt aus der Betrachtung des wahren.Hergangs
jener, daß dasselbe nur in dem Jnnewerden der durch Einwirkungen an
derer Wesen erregten Zustandsänderungen
de» erkennenden
Subjectes
selbst und in Verknüpfungen solcher unmittelbar erlebter ZustandSände-
rungen bestehen könne.
Die Thatsache der Subjectivität deS Er
kennens, welche Kant nur als ein unerklärbarer Mangel er schien, welcher nur dem menschlichen Erkennen anhafte, stellte
sich hier in ihrer gesetzlichen Nothwendigkeit als eine Folge deS metaphysischen Grundbegriffs alles Geschehens und Wir kens dar.
Da der Hergang des Erkennens hiernach nicht in einem Ueber
setzen dessen, waS außer uns geschieht,
in eine innere Welt der Vor
stellung bestehen kann, sondern nur im Ausgestalten und Verstehen dessen, was wir unmittelbar in uns erleben, so kann daS Kriterium der Wahr
heit nicht in einer Congruenz unserer Vorstellungen der Gegenstände
und Ereignisse mit diesen selbst bestehen, denn wir können den Act der Vergleichung beider mit einander nicht vollziehen, da wir der außer unS vorgestellten Gegenstände und Ereignisse nicht habhaft werden können, sondern nur in der inneren Folgerichtigkeit der Vorstellungen
selbst,
ihrer
richtigen Eingliederung in daS
Gesammtshstem unseres
Wissens und der rechten Werthschätzung derselben rücksichtlich ihrer Be
deutung für daS Ziel der Weltentwickelung.
Die Wahrheit unserer Vor
stellungen, Urtheile und Schlußfolgerungen kann eben deßhalb in letzter Instanz nur durch das Gefühl unmittelbarer Evidenz offenbar wer
den, welches vermöge unserer ursprünglichen geistigen Naturanlage mit dem
Jnnewerden jener Folgerichtigkeit und rechten Werthschätzung verknüpft ist.
Um die volle Bedeutung dieses Sachverhalts zu würdigen und den Schein der Unzulänglichkeit zu beseitigen, der ihm anfänglich anhaftet,
müssen wir daran erinnern, daß wir uns mit unserer Subjectivität dem Ganzen der Welt gegenüber nicht gleichsam auf einer abgeschlossenen Insel befinden, sondern, daß wir selbst mit zu dem Ganzen der Welt gehören,
daß auch in uns das absolute Weltwesen in gewisser wenn auch noch so beschränkter Weise mit seinem ganzen Wesen für sich ist, und daß alle
Momente unseres subjectiven Geisteslebens mit dem Ganzen des Welt-
prozesseS in einem durchgängigen gesetzlichen Zusammenhänge stehen. ES folgt daraus,
daß wir durch fortschreitende Geistesarbeit
und
Verdeutlichung dessen, waS in unS vorgeht, der bedeutungsvollsten Mo mente des Wirklichen ihrem Inhalt und Werthe nach uns bewußt werden
können, daß ferner alle unsere Vorstellungen,
insoweit sie ihrer Ent
stehung, ihrem Inhalt, ihrer Richtung und ihrem Verlaufe nach durch
Wechselwirkung mit den anderen Wesen bedingt sind, sich
bis in das
kleinste Detail hinein nach den correspondirenden Erlebnissen in jenen an
deren Wesen richten, und daß endlich selbst die Formen, in denen wir die empfangenen Eindrücke im Anschauen und Denken verknüpfen, die Rich tungen und Ziele, nach denen wir die solchergestalt entstandenen Vor stellungen und Begriffe weiter zu einem zusammenhängenden Weltbilde
ausgestalten, ihrem Inhalt, ihrer Qualität und Intensität nach mit den
vorgestellten Dingen und Ereignissen, sowie mit den Beziehungen dieser zu unS und unter einander in einem ganz bestimmten gesetzlichen Zu sammenhänge stehen.
Die Fruchtbarkeit dieser der wahren Sachlage entsprechenden Auf fassung wird recht offenbar, wenn wir dieselbe mit der unvollkommneren Ansicht KantS vergleichen. Während z. B. die Totalanschauungen deS Raumes und der Zeit
bei Kant ihrer Entstehung nach unbegreiflich sind und außer aller Be ziehung zu dem wahren Wesen der Dinge an sich und dem wahren Ge
schehen stehen, erklärt unS Lotze die Genesis jener Totalanschauungen aus
der aprioristischen Wahrnehmung der zwischen
allen Raumverhältnissen
und den kausalen und teleologischen Zusammenhängen alles Geschehens
obwaltenden Gesetzlichkeit, indem er unS zugleich darlegt, wie alle Raum und Zeitverhältnisse nur als der vorstellungsmäßige Ausdruck der wahren
realen Beziehungen zwischen dem wirklichen Wesen und des realen Zu sammenhanges aller geschehenden Ereignisse betrachtet werden können. Die ursprünglich in unserer Vorstellung Vorgefundenen Elemente der Raumanschauung, die Vorstellungen einer größeren oder geringeren Ent
fernung der vorgestellten Dinge von unS selbst und unter einander, ent-
stehen nach Lotze'S Auffassung nur dadurch, daß wir die wirtlichen in haltlichen Beziehungen derselben zu unS und untereinander nach ihrer abgestuften Intensität gemäß einer ursprünglich gegebenen und
nach der Art ihrer Entstehung nicht weiter erklärbaren Anlage unserer Natur eben als räumliche Entfernungen von bestimmter Größe aufzu
fassen genöthigt sind.
Die ursprünglich in unS Vorgefundenen Elemente
der Zeitanschauung, die Vorstellungen deS vor und nach, entstehen in ganz
analoger Weise nur dadurch, daß wir die zwischen den
erlebten
Einzelmomenten deS Geschehens wirklich bestehenden causalen und teleologischen Beziehungen nach einer gleichfalls ursprünglich
gegebenen und in der Art ihrer Entstehung nicht weiter aufklärbaren Naturanlage unseres Geistes eben als zeitliche Verhältnisse des vor und nach auffassen.
Nur durch solche besondere geistige Veranlagung werden
wir in den Stand gesetzt, von unS und unter einander verschiedene Wesen
und deren reale Beziehungen zu unS und unter einander überhaupt vor stellen und
die erlebten Einzelmomente unseres Daseins zusammen mit
den sie verursachenden und den aus ihnen folgenden Erlebnissen überhaupt
zil dem anschaulichen Begriffe deS Geschehens und der Veränderung zu sammenfassen zu können.
Jene wirklichen in den Raumverhältnissen der Vorstellung nur wtedererschetnenden realen Beziehungen der Wesen zu uns und unter einander
können an sich nur in Wechselwirkungen bestehen und die mathemati schen Gesetze, welche von den Raumverhältnissen, den idealen Abbildern jener Beziehungen, gelten, könnten den ihnen beiwohnenden Charakter der
Allgemeinheit und Nothwendigkeit nicht haben, wenn nicht eine correspon-
dirende ausnahmslose Gesetzlichkeit zwischen allen denkbaren Wechselwir kungen aller realen Wesen thatsächlich obwaltete.
Diese Gesetzlichkeit der
realen Beziehungen der wirklichen Wesen ist der Grund der mathemati schen Gesetze, durch deren Abstraction und stillschweigend erweiterte An
wendung auf alle denkbaren Fälle die Totalanschauung des Raumes ent steht.
Die letztere ist daher daS ideale, in
eine einzige An
schauung zusammengezogene Abbild der Zusammengehörigkeit aller Wesen und der alle Wechselwirkungen zwischen ihnen be
herrschenden Gesetzlichkeit. Der zeitliche Ablauf der verschiedenen Ereignißreihen, das ideale
Abbild der causalen und teleologischen Beziehungen der einzelnen Momente des in ihnen sich vollziehenden Geschehens, würde gesondert für sich ver laufen und beziehungslos zu dem zeitlichen Ablauf aller übrigen Ereignißreihen bleiben, wenn nicht alles Geschehen überhaupt, alle in sich selbst
zusammenhängende Ereignißreihen, auch wiederum unter einander ohne
Ausnahme durch causale und teleologische Beziehungen verbunden wären. Nur wenn eS einen einheitlichen Weltzweck giebt, der alles Geschehen in
der Richtung auf ein einheitliches Ziel verbindet und alles Geschehen mit Rücksicht darauf in causalem Zusammenhänge steht, können wir auch die
Vorstellungen jener Ereignißreihen sämmtlich ihrem zeitlichen Verlaufe nach auf einander beziehen und den Rhythmus des Geschehens in ihnen
mit einander vergleichen.
Durch Abstraction des Gedankens solcher allge
meiner Beziehbarkeit aller Ereignisse auf einander und seine stillschweigend erweiterte Anwendung auf alle denkbaren Fälle bildet sich in uns die
Totalanschauung der Zeit, in welcher alle Ereignisse zu verlaufen scheinen. Die
Totalanschauung der
bild
oder
keit,
der Zweckbestimmtheit
Zeit
ist daher
die Gesammtanschauung und
das ideale
Ab
der Zusammengehörig
allgemeinen Gesetzlichkeit
alles Geschehens.
Sind daher Raum und Zeit auch nur wirklich als Totalanschau ungen in den Wesen, welche mit einander zu demselben Weltganzen ver bunden sind, so stehen sie diesem doch nicht beziehungslos gegenüber, da
sehr wichtige und bedeutungsvolle reale Momente jenes Weltganzen in ihnen einen zutreffenden und charakteristischen Ausdruck finden.
Während ferner die Kategorien des Denkens bei Kant, völlig be ziehungslos zu dem wahren Wesen der Dinge an sich, nur bestimmt er
scheinen, die inneren Erlebnisse deS erkennenden Subjectes zu einem Welt bilde von blos subjectiver Bedeutung mit einander zu verbinden, wird
das Verhältniß des Denkens zum Sein in Lotze's Auffassung durch den
Grundgedanken erklärt, daß beide für einander bestimmt sein sollen. Deßhalb erscheinen ihm die Formen und Gesetze des Denkens nicht „als
bloße Sonderbarkeiten menschlicher Geisteseinrichtung", sondern „beständig
und durchgehends auf das Wesen des Wirklichen berechnet".
„Nur ein
Geist," so bemerkt er sehr treffend, „der im Mittelpunkte der Welt und
alles Wirklichen stünde, nicht außerhalb der einzelnen Dinge, sondern sie alle durchdringend und mitseiend, nur ein solcher möchte eine Anschauung
der Wirklichkeit besitzen, die, weil sie nichts erst zu suchen brauchte, unmittelbar das völlige Abbild derselben in ihren eigenen Formen des Seins und der Thätigkeit wäre.
Der menschliche Geist dagegen, um dessen Denken allein
eS sich für unS handelt, steht in diesem Mittelpunkte der Dinge nicht, sondern hat seinen bescheidenen Ort irgendwo in den letzten Verzweigungen
der Wirklichkeit.
Genöthigt, seine Erkenntniß durch Erfahrungen, die sich
unmittelbar nur auf einen kleinen Bruchtheil des Ganzen beziehen, stück-
weiS zusammenzubringen und von hier aus vorsichtig zu der Atiffassung
dessen vorzudringen, waS nicht in seinen Gesichtskreis fällt, hat er wahr-
scheinlich eine Menge von Umwegen nöthig, die der Wahrheit selbst, die
er sieht, gleichgültig, aber ihm, der sie sucht, unvermeidlich sind.
Wie
sehr wir mithin die ursprüngliche Beziehung der Denkformen aus daS
Ziel der Erkenntniß, die Natur der Dinge, voraussetzen mögen: darauf müssen wir unS doch gefaßt machen, manche Bestandtheile in ihnen an
zutreffen, die daS eigene Wesen deS Wirklichen nicht sofort abbilden, zu
deffen Erkenntniß sie führen sollen; ja eS bleibt die Möglichkeit, daß ein sehr großer Theil unserer Denkbemühungen nur einem Gerüste gleicht, daS keineswegs zu den bleibenden Formen des Baues gehörte, den eS
ausführen half, das im Gegentheil wieder abgebrochen werden muß, um den freien Anblick seines Ergebnisses zu gewähren*)."
Die reale Bedeutung
deS Logischen ergiebt sich hieraus mit einer solchen Evidenz, daß dadurch der alte Gegensatz von Denken und Sein als aufgehoben betrachtet werden
DaS Denken steht zu dem wirklichen Sein und
den wirklichen
Thatsachen in einem bestimmten gesetzlichen Verhältnisse.
Dasselbe setzt
darf.
als selbstverständlich voraus, daß eine allgemeine Zusammengehörigkeit
aller Ereignisse stattfinde, es setzt insbesondere voraus „daß die Welt der vorstellbaren Inhalte nicht atomistisch in lauter singulare Bestandtheile
zerfalle,
davon jeder unvergleichbar mit anderen wäre", daß vielmehr
„Aehnlichkeiten, Verwandtschaften und Beziehungen zwischen ihnen so statt finden daß das Denken, Allgemeines bildend, Besonderes ihm unterordnend
und einander nebenordnend, durch diese seine formalen und subjectiven Bewegungen mit der Natur deS sachlichen Inhalts zusammentrifft**)".
„Ohne die Gesammtheit des Wahrnehmbaren durch den Gegensatz von Dingen und Eigenschaften zu gliedern, ohne die Annahme einer Abfolge
von Wirkungen aus Ursachen, ohne die bestimmende Macht endlich des Allgemeine über daS Besondere, ist uns jede Auffassung der umgebenden
Wirklichkeit völlig unmöglich." Die Wissenschaft der Logik hat durch Lotze'S geistvolle Behandlung einen ganz neuen Aufschwung genommen, indem er „daS allgemeine Be
streben deS Denkens, das in der Vorstellung Zusammenseiende auf Zu sammengehöriges zurückzuführen" richtig erkannte und
die Aufgabe
der Logik darin setzte, „sich die den RechtSgrund der Zusammengehörigkeit
oder Nichtzusammengehörigkeit der Vorstellungen
enthaltenden Nebenge
danken zum Bewußtsein zu bringen."
Schon dieser flüchtige Ueberblick läßt ersehen, welche hochwichtige und bedeutsame Aufschlüsse über das wahre Wesen deS An sich der Dinge und *) System der Philosophie. I. Theil, Logik, Drei Bücher vom Denken, vom Unter suchen und vom Erkennen von Hermann Lotze. Leipzig. Hirzel 1874. **) S. 547 1. c.
des ihnen allen gemeinsamen Weltgrundes sich aus einer sachgemäßen Würdigung der unmittelbaren Geisteserlebnisse ergeben.
Da auch das
subjektive Geistesleben mit zu dem Ganzen der Wirklichkeit gehört und mit diesem durch stete Wechselwirkung verbunden
ist, so kann dasselbe nicht als bloßer Schein betrachtet werden, der zu
sammenhanglos mit dem wahren Sein und Geschehen, nur eine subjektive Bedeutung beanspruchen könnte.
Das Empfinden, Denken, Fühlen und
Wollen, die Gesammtheit dessen, was wir unmittelbar erleben, repräsentirt
vielmehr ein wirkliches Geschehen, eine Wirklichkeit von eigenem specifischen Inhalt und Werth; wir erleben im Empfinden, Denken, Fühlen und Wollen
unmittelbar, wie einem Seienden zu Muthe ist, waS Sein und Geschehen an sich bedeutet.
Wir können daher die letzten metaphysischen Begriffe
des Seins und Geschehens nur aus diesen unmittelbaren Erlebnissen schöpfen, indem wir den gemeinsamen Charakter derselben in Allgemeinbegriffen
zusammenfassen, deren wahre Bedeutung wir nur erleben, deren Sinn wir nur verstehen können, wenn wir uns die Erinnerung des Erlebten
vergegenwärtigen.
Der allgemeine wesentliche Grundzug aller inneren
Erlebnisse ist aber die lebendige Rückbeziehung auf uns selbst im Be wußtsein, daS Fürsichsein. Wesen aller Realität:
Das Fürsichsein ist daher das wahre
Realität ist Fürfichsein.
Da nun die Erfahrung über Entstehung, Art und Ablauf der Er eignisse in unS, daS Auftreten der unzähligen Eindrücke, unter deren Mit wirkung wir zli dem Bil^e einer uns umgebenden Außenwelt gelangen,
zu der Annahme nöthigen, daß jene Eindrücke nicht durch Sponta neität unseres eigenen Wesens, sondern durch Wechselwirkung mit
anderen Wesen hervorgebracht seien, Wechselwirkung aber nicht zwischen absolut selbständigen, sondern nur zwischen solchen Wesen stattfinden kann,
deren Realität lediglich in einer Art des Fürsichseins einer einzigen ein heitlichen Weltsubstanz besteht, so kann nur diese als der reale WesenS-
grund unseres eigenen Wesens und deS Daseins aller übrigen Wesen be trachtet werden.
Aber auch das Wesen dieser einheitlichen Welt
substanz selbst kann
dem soeben
entwickelten metaphysischen
Grundbegriffe alles Wirklichen gemäß wiederum nur als in der
lebendigen Rückbeziehung auf sich selbst bestehend, nur als
Fürsichsein eines lebendigen Wesens gedacht werden. Kant entgingen alle diese wichtigen Consequenzen, da er die eigene Bedeutung und den Erkenntnißwerth der unmittelbaren Geisteserlebnisse unterschätzte und deßhalb die Subjektivität deS Erkennens, deren Grund
er sich nicht erklären konnte, einfach als einen Mangel ansah, der alles philosophische Erkennen unmöglich mache.
Aber wenn ihm auch deßhalb
das Wesen der Dinge unerkennbar schien, so hatte er nichtsdestoweniger daS bestimmte Gefühl, daß eine Welt der Dinge an sich bestehe, in welcher der wahre Werth des Lebens und das eigentliche Ziel deS sittlichen Han
delns zu suchen sei.
Besonders auf ethischem Gebiete trat daher die ver
hängnißvolle Scheidung der Erscheinungswelt von der wahren Welt der
Dinge an sich in bemerkbarer und einflußreicher Weise hervor.
Die Glück-
seligkeitslehre der Aufklärungsperiode, welche damals die Gemüther be herrschte, schien ihm dadurch charakterisirt, daß daS ihr vorschwebende Ziel, die Erreichung der Glückseligkeit deS sinnlichen Wohlbehagens blos in der
Erscheinungssphäre belegen sei.
Er behielt theils deßhalb, theils auch
wohl aus dem äußerlichen Grunde, weil eS ihm an einem zutreffenden
Ausdrucke für den höheren Werth deS Sittlichen fehlte und er doch daS lebhafte Bedürfniß fühlte, feine eigene Ansicht dem trivialen Optimismus
der Glückseligkeitslehre gegenüber möglichst scharf zu präcisiren, die be
griffsmäßige Identification von Glückseligkeit und sinnlichem Wohlbehagen unbedenklich bei und glaubte, daß das sittliche Handeln durch Zwecke hö
herer Art bedingt und seinem Wesen nach auf transscendentem Ge biete belegen sein müsse. Nicht der Inhalt jener höheren Zwecke, sondern
nur der formale Wiederschein desselben im Sittengesetz schien daher
dem in der Erscheinungssphäre befangenen menschlichen Erkennen erfaßlich und wurde von Kant für genügend gehalten, daS sittliche Handeln zu motiviren, während der wahre Grund solcher Motivation, die Achtung vor
dem Sittengesetz, in ihrer gefühlsmäßigen Werthschätzung von ihm wohl gewürdigt aber nicht ausdrücklich als das die wahre verbindliche Kraft
des sittlichen Handelns enthaltende Werthgefühl anerkannt wurde.
Da
Kant ferner die sittliche Freiheit irrthümlich mit der absoluten Freiheit
indentificirte, in der Erscheinungswelt aber alle Ereignisse dem Causali-
tätSgesetze unterworfen sind und innerhalb derselben daher für die ab solute Freiheit kein Raum war, so glaubte er auch den Entschluß zum
sittlichen Handeln in das transscendente Wesen des den seelischen Erschei nungen vorausgesetztermaßen zu Grunde liegenden Dinges an sich verlegen
zu müssen.
Da ihm endlich die begriffsmäßige Scheidung von Glückselig
keit und Sittengesetz nur für die Sphäre der Erscheinungswelt nothwendig, die höhere Gerechtigkeit vielmehr zu fordern schien, daß das sittliche Han
deln doch in letzter Instanz zur Glückseligkeit führen müsse,
so versuchte
er durch die Aufstellung der Postulate der practischen Vernunft eine Wieder
vereinigung jener beiden Begriffe auf transscendentem Gebiete herbeizuführen. Ueberall tritt daher bei Kant das Bedürfniß einer Ergänzung sowohl
des theoretischen Wissens als des practischen Handelns durch die Erkenntniß
des in der transscendenten Sphäre belegenen wahren Wesens der Dinge an sich hervor, während doch dasselbe in seiner Auffassung von dem Ge
biet des subjectiven Erkennens principiell durch eine unübersteigliche Kluft geschieden ist.
Die Sinnlichkeit und der Verstand sind nach jener Auf
fassung die beiden Organe, mittelst deren das Erkennen sich der Erschei
nungswelt bemächtigen soll.
Die Welt der Dinge an sich soll nur durch
die Ideen der Vernunft ihrer wesentlichen Bedeutung noch erfaßt werden,
indem jene die unabweislichen Voraussetzungen enthalten, welchen daS Wesen der Dinge an sich genügen müsse, wenn eS eine Sittlichkeit über
haupt geben solle.
Aber dieselben erweitern nicht daS Gebiet des eigent
lichen Erkennens; eS wird nur gewissermaßen als sittliche Pflicht hinge stellt, an ihre Wahrheit zu glauben, wir sollen leben und denken, als ob
die Welt der Dinge an sich jenen Bernunftideen genüge, ohne begreifen
zu können, wie und wo solches möglich sei.
So leidet die Kant'sche Auf
fassung in Folge der gerügten Mängel an einem Dualismus von Glauben
und Wissen, welcher auf die Dauer unhaltbar war.
Unerklärt blieb und
unerklärlich wurde innerhalb des Gesichtskreises der Kant'schen Forschung die inhaltreiche vielgestaltige Welt der Dinge an sich, unerklärlich der Zu
sammenhang derselben mit dem höchsten Weltzwecke; daS Streben nach solcher Erkenntniß erschien hoffnungslos, der KriticismuS endete in einem großartigen Formalismus, der die Keime der angeregten Ideen und neuen Gesichtspunkte nur fixirte, aber das Streben nach ihrer Ausgestaltung
und Entwickelung zugleich hemmte uud ihr freies Wachsthum verhinderte. Erst Lotze ist es gelungen, jene Schranken, welche die Kant'sche Re form des philosophischen Denkens nach allen Richtungen hin umgeben,
vollständig zu durchbrechen und jene Reform selbst zu einem fruchtbaren
Abschlusse zu führen. Wie daS wahre Wesen eines Organismus z. B. einer Pflanze oder
eines Thieres nicht in dem Keime besteht, aus dem sie entstanden sind, sondern in der durch das Wachsen und Leben desselben unter den Ein wirkungen der Außenwelt vollentwickelten Gestalt, so besteht das wahre Wesen aller Individuen nicht sowohl in ihrem substantiellen
Kerne, in
ihrem ursprünglichem Was, sondern in dem, wozu sie sich durch die Ar beit des Lebens unter den erziehenden Einflüssen ihrer Umgebung zu voller Reife entwickelt haben.
Die erstere Frage nach dem substantiellen Kerne
der Dinge, nach der Art, wie eS die schaffende Weltsubstanz gemacht habe,
daß die Dinge so sein und wirken können, wie sie sind und wirken, könnte
nur dann die Principale Wichtigkeit beanspruchen, welche Kant, dem Vor urtheile der bisherigen philosophischen
Forschung folgend, ihr beilegte,
wenn eS unsere Aufgabe währe, die Welt zu schaffen, anstatt den Sinn
der Geschaffenen zu verstehen.
Da es uns, nachdem wir und alle anderen
Wesen wenn auch auf eine uns unbegreifliche Art einmal da sind, nur noch auf daS Letztere ankommen kann, so entgeht unS durch diese man
gelnde Einsicht in die Art unserer Entstehung nichts, was nicht reichlich aufgewogen würde durch die Fähigkeit, nun, da wir uns zu dem was wir sind entwickelt haben, des ganzen Reichthums unseres inneren Lebens in
unmittelbarer Erfahrung inne werden zu können.
In diesem, in dem
was wir unmittelbar erleben, offenbart sich uns das wahre Wesen unseres
Ich.
Wir erleben unmittelbar in unS, was Sein, Wirken, Leiden, Fühlen,
Denken und Wollen bedeutet, welchen Sinn, Inhalt und Zweck das Leben
habe, und diese Selbstoffenbarung des eigenen Wesens, welche sich durch die fortschreitende Arbeit deS Lebens und Erkennens zu einer mehr oder
weniger umfassenden Weltansicht erweitert, ist nicht blos Erscheinung,
welche auf ein Sein hindeutet, welche zur Abbildung und Reproduction
eines hinter der Erscheinung belegenen noch wahreren Seins bestimmt wäre, sondern offenbart unö das Wirkliche selbst in seiner wahren an
sich seienden Gestalt, wie eS in unserem Fürsichsein unmittelbar zur
Realität gelangt.
Die Aufgabe deS Erkennens ist nicht, aus dem inner
lich Erlebten als einem Scheine das wahre Sein eines solchen Schein erregenden Wirklichen ülittelst irgend welcher Erkenntnißtheorie zu ent-
räthseln, sondern das innerlich Erlebte seinem wahren Zusammenhänge
und Werthe nach zu würdigen und von ihm zum Zwecke unseres Lebens und Erkennens Gebrauch zu machen.
Wenn das Wirkliche sich uns in
Farben,
Klängen und Gerüchen offenbart,
Schein,
der uns das Wirkliche in verkürzter oder verstümmelter Weise
so sind diese nicht Ftwa ein
zur Anschauung brächte, sondern sie sind eben die Art, wie das Wirkliche selbst in uns wirklich wird.
In jenen einfachen sinnlichen Empfindungen,
in den Vorstellungen, welche wir daraus bilden, in der bunten vielge staltigen Welt der phänomenalen Dinge und Ereignisse liefert der Welt proceß uns dasjenige Material, welches wir zur Erfüllung unserer LebenS-
bestimmung
gebrauchen.
Dieses Material kann gewiß
so wie eS unS
erscheint, nicht außer und zwischen den anderen Wesen noch einmal in
derselben Weise und Form für sich wirklich sein, aber die realen erzeu genden Bedingungen desselben stehen zu diesem — wenigstens in ihrem relativen Werthe für unS — nur in dem untergeordneten Verhältniffe
eines Mittels zu seinem Zwecke.
Wir sehen, hören und riechen nicht
deshalb, um nach den Ursachen dieser subjektiven Erlebniffe in einer vor
ausgesetzten Außenwelt zu forschen, sondern um unser Herz an dem Ge
sehenen und Gehörten zu erfreuen oder xS sonstwie zum Zwecke unserer Lebensführung zu verwenden.
Den Inhalt, Werth und Zweck aller Dinge und Ereignisse und in letzter Instanz des ganzen Weltprozesses zu erforschen und zu verstehen, ist die wahre Aufgabe und daS höchste Ziel des Erkennens, denn „das Werthvolle ist das wahrhaft Seiende".
Da aber das, was für werth
oder unwerth zu halten fei, verschieden ist nach der Natur, Stellung und Bildung des erkennenden Subjectes, so wäre eine gegenseitige Verstän
digung
über daö höchste Ziel des Erkennens
gewisse Interessen constant
nicht möglich,
und geeignet wären,
Maßstäbe der Vergleichung darzubieten,
wenn nicht
allgemein anerkannte
wenn uns nicht in dem, was
die sittliche Bestimmung durch den Ausspruch des Gewissens gebeut, eine Werthkategorie von allgemeiner und nothwen diger Geltung gegeben wäre.
Nur aus der Natur dieses höchsten
unmittelbar gegebenen Wirklichen,
aus den Voraussetzungen
Gewissens,
des
der Vernunft und des religiösen Gefühls, nicht
aus unklaren Ideen über die Substanz der Dinge, nicht aus gewissen formalen Verhältnissen des Geschehens oder gar aus unvollständigen wir
metaphysischen
Allgemeinbegriffen
dürfen
unsere Ansichten über Ziel und wesentlichen Inhalt deS
gesammten Weltlebens schöpfen, wenn wir uns nicht in ganz
haltlose und nichtige Phantasien verirren wollen. Die verbindliche Kraft des Sittengesetzes besteht allein in dem un
bedingten Werthe, welchen wir dem Ziele unserer sittlichen Bestimmung
beimessen.
Einen unbedingten Werth kann eS nur geben, wenn das
Ganze des Weltprocesses
durch einen einheitlichen Zweck bestimmt und
alles Geschehene mit Rücksicht auf diesen Zweck gesetzlich und einheitlich
geregelt ist, denn wenn eS unberechenbare Momente deS Geschehens gäbe,
welche den Plan der Weltentwickelung wiMürlich durchkreuzen und ver ändern könnten, so wäre der Werth des zu erreichenden Zieles kein un
bedingter und absoluter.
Unbedingt kann der Werth der sittlichen Be
stimmung auch nur dann sein, wenn wir durch deren Erfüllung daS höchste
Ziel der Weltentwickelung irgenwie zu fördern vermögen. Da nun Zwecke und Werthe nur in lebendigen persönlichen Wesen existent werden können,
so kann eS einen höchsten Weltzweck und eine Sittlichkeit nur geben, wenn
das eine absolute Weltwesen, welches die Realität aller Einzelwesen in sich schließt, selbst lebendige Persönlichkeit, wenn eS Gott ist und der ganze Weltproceß in allen Zügen durch das Ziel deS göttlichen Lebens
bestimmt und geregelt ist, wenn wir selbst göttlichen Wesens und eben dadurch fähig sind,
als
thätige
Glieder deS Ganzen zur Erreichung
jenes höchsten Zieles durch Erfüllung unserer Lebensbestimmung mitzu wirken.
So eröffnet uns das von Lotze zuerst seiner vollen Bedeutung nach erschlossene Verständniß deS Unmittelbaren eine lichtvolle Perspective über
daS Ganze der Weltentwickelung und unsere Stellung in demselben, über die inhaltliche Natur Gottes und aller Wesen, welche die Grundlagen
der Ethik und Religionsphilosophie auf dem Boden der gege benen LebenSwirkltchkeit erkennen läßt und zugleich den Schlüffe!
zum Verständniß aller Einzelprobleme deS Wissens und Lebens darbietet. Was die letzteren anlangt, so tritt die grundlegende Wichtigkeit der
Lotze'schen Philosophie am Deutlichsten auf demjenigen Gebiete hervor, welches die Geister augenblicklich am meisten beschäfttgt, weil eS unS erst
durch den Forschungseifer der neueren Zeit in umfangreicherem Maaße
erschlaffen ist, und weil die Ergebniffe dieser Forschuttg einerseits für die gesammte Gestaltung deS modernen Lebens von höchster Bedeutung waren,
andererseits
aber der hergebrachten Form
der sittlichen und religiösen
Vorstellungen am Meisten zu widersprechen schienen, nämlich auf demje nigen der Naturwissenschaften.
DaS Wesen der Materie schien
dem
Geiste undurchdringlich, ihre Existenz unvereinbar mit dem Gedanken der
Gotterfülltheit deS Universums.
Auch das Walten einer unabän
derlichen gesetzlichen Nothwendigkeit alles Geschehens schien dem religiösen Glauben zu widersprechen, daß der ganze Weltproceß geistigen Ursprungs und auf die Realistrung von Zielen gerichtet sei, welche nur
im Geiste erlebbar und nur dem Geiste verständlich sein können.
Jene
starre Nothwendigkeit erschien wie eine fremde, die göttliche Freiheit und die Freiheit aller Einzelwesen einschränkende Macht, unerklärlich in ihrem
Ursprünge, aber allmächtig in ihrer Behandlung alles Geschehens, wie daS fatum der Alten.
ES
entstanden die Gegensätze von Causalität
und Finalität, von Geist und Materie, welche die Gestaltung der
neueren Philosophie seit CartesiuS wesentlich beeinflußten und besonders
durch die
alten Borurtheile verschärft wurden, daß man einerseits den
specifischen Charakter der Geistigkeit sich ganz unabtrennbar dachte von einer gesetzlosen Willkür absolut freien Handelns und andererseis, wie schon erwähnt, in der Erkenntniß deS substantiellen KerneS, des Stoffes, aus dem die Dinge gemacht seien, den Schlüssel aller Weisheit finden zu
müssen glaubte.
Je mehr daher das Interesse an den Naturwissenschaften
sich in den letzten Jahrzehnten *ausbreitete, je überraschender und staunenSwerther ihre Erfolge sich darstellten, um so mehr drängte sich jener Ge
danke hervor, daß wahre Realität allein der Materie zukomme und daß die Naturgesetze die einzige Macht seien, welche alles Geschehen beherrsche, daß der Materialismus den allein consequenten Abschluß aller philo
sophischen Forschung bilde und alle Erscheinungen deS geistigen LebenS
Preußische Jahrbücher. St>. XLV1L Heft 2.
aus
der Materie und deren Kräften erklärt werden müßten.
Obwohl
Niemand von den zahlreichen begeisterten Anhängern dieser neuen Lehre angeben konnte, worin daS eigentliche Wesen der Materie und deren
Kräften bestehe und, wie eS möglich sei, daß Gesetze für sich bestehen und
die Kräfte der Materie beherrschen könnten,
so
unklar mithin auch die
metaphysische Grundlage deS Materialismus war, so schien doch die Lösung
deS Welträthsels, welche er darbot, so einfach, überraschend und allgemein verständlich, so war doch daS Ansehen, welches ihm aus der beifälligen
Zustimmung vieler berühmter Naturforscher erwuchs, so bedeutend, daß
er vielfach wie ein Evangelium begrüßt wurde, dessen Verbreitung in der
That die gesammte Lebens- und Denkweise erfolgreicher beeinflußte, als
es wohl jemals einör rein theoretischen Lehrmeinung gelungen ist. Niemand hat die Verkehrtheit dieser neuen Lehre tiefer aufgedeckt als Lotze; niemand auch zugleich den Dualismus jener alten Gegensätze,
durch deren mißverständliche Erweiterung sie entstanden war, durch Auf
klärung des wahren Sachverhalts gründlicher und überzeugender beseitigt als er.
DaS allgemeine Bild, welches wir uns von der Materie durch Ab-
stractton von den unseren Vorstellungskreis erfüllenden, aus Combinationen
der verschiedenen Sinneseindrücke entstandenen concreten Erscheinungsbil dern der uns scheinbar umgebenden Dinge und Stoffe entwerfen, hielt
schon vor der eindringenden Untersuchung der Naturforschung nicht Stand und löste sich auf in eine Vielheit unendlich kleiner oder vielmehr ganz
unausgedehnter Kraftmittelpunkte oder Atome, welche als letzte Elemente
des Wirklichen betrachtet wurden.
Kraftwirkungen können
aber
nicht
zwischen solchen als leblose Wesen ohne Innerlichkeit gedachten Wesen stattfinden, sondern nur in ihnen, sofern sie als lebendige Wesen, als
Momente des
FürsichseinS der
einen Weltsubstanz betrachtet
werden.
Wollen wie daher die Atome als reale Wesen, und ihre Wirkungen auf unS nicht blos als Erregungen ansehen, welche das absolute Weltwesen in allen Seelen übereinstimmend ausübt — eine Annahme, welche wenig
Wahrscheinlichkeit für sich hat — so können wir sie nur ähnlich den Seelen als Momente des FürsichseinS jener einen Substanz, mithin als, wenn auch noch so niedrig veranlagte geistige Wesen auffassen, deren Zu
standsänderungen von ihnen als innere Erlebnisse empfunden werden, welche den Grund deS Wechsels ihrer inneren realen Beziehungen, ihrer scheinbaren Anziehungen und Abstoßungen bilden.
So gelang eS Lotze,
durch die erschlossene tiefere metaphysische Einsicht in daS wahre Wesen
deS Wirklichen zunächst den Gegensatz von Geist und Materie zu beseiti
gen, indem er nachwieS, daß das wahrhaft Wirkliche nur der lebendige
Geist Gottes und das Reich der lebendigen Wesen sei, die er geschaffen
hat.
Auch den Gegensatz von Causalität und Finalität hob er dadurch
auf, daß er diese als den alleinigen denkbaren Grund jener darlegte. Ge? setze können nicht wie vorweltliche selbständige Mächte für sich extstiren und daS Geschehen beherrschen, sie existiren nur in dem Geiste deS Ge
setzgebers und dem Willen derjenigen Wesen, welche ihnen gehorchen, sei
eS aus freiem Antriebe oder dem unbewußten Zwange ihrer Naturanlage blindlings folgend.
Gesetze können daher nur gedacht werden als Aus
drücke der inneren Consequenz eines auf ein vorausbestimmtes Ziel ge richteten Willens*).
Soll daher der vorausgesetzte Causalzusammenhang
alles Geschehens eine Wahrheit sein, so kann er nur als Ausdruck der inneren WillenSconsequenz des einen absoluten Weltwesens begriffen wer
den, welches der Grund aller Wirklichkeit ist.
Nur wenn der gesammte
Weltproceß auf ein einheitliches Ziel gerichtet ist, kann es daher eine
solche universelle innere Consequenz alles Geschehens, eine alles Geschehen
umfassende Causalität geben. Der Zweckbegriff ist der wahre und letzte Grund der Causalität, während der Weltzweck umgekehrt nicht realisirt werden,
auch von einer sittlichen Bestimmung der zu dessen Erreichung mitwirken den Einzelwesen und von unserer sittlichen Freiheit nicht die Rede sein
könnte, wenn nicht eine solche durchgängige Berechenbarkeit, Treue und
Beständigkeit der bei allem Handeln und Geschehen in Betracht kommen den Factoren bestände, welche den jedesmaligen Erfolg alles Handelns
und Geschehens vorauszusehen gestattete.
Causalität und Finalität
sind daher Correlate, die sich ihrem Wesen nach gegenseitig
bedingen, nicht Gegensätze, die einander ausschließen. Ebensowenig besteht, wie auS dem Gesagten unmittelbar folgt, ein
unaufheblicher
Gegensatz zwischen Causalität und
wahrer sittlicher
Freiheit, d. h. der Fähigkeit, sich nach sittlichen Motiven selbst zu be
stimmen, da ein sittliches Handeln ohne mögliche Voraussicht seiner Fol gen insoweit undenkbar ist, als die sittlichen Motive eben durch solche
Voraussicht bedingt sind.
Es ergiebt sich auS alledem, daß die Aufklärungen, welche uns die Naturwissenschaften über daS Wesen und die Wirksamkeit der Materie,
sowie über das Gelten einer auSgebreiteten Gesetzlichkeit deS Geschehens verschaffen, unseren sittlichen und religiösen Idealen nicht widerstreiten
daß sie vielmehr nur bestätigen, was unS schon durch die sittliche und re-
*) Ich habe diesen Gedanken in meiner Abhandlung „Die Lehre Spinoza'S und der Materialismus" (Fichte'sche Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik Bd. 74 S. 223 Nr. 6) nach Lotze'S Vorgänge specieller auszuführen gesucht, auf welche ich der Kürze halber verweise.
ligiöse Veranlagung unseres Geistes und die mit dieser gegebenen Vor aussetzungen offenbart wurde, daß nämlich der gesammte Weltproceß ein teleologisch bestimmter und der Endzweck desselben durch die umfaffende
Intelligenz und Güte eines alle Realität in sich schließenden lebendigen persönlichen Gottes gesetzt sei. ES kann nicht anders sein. Alle besonderen ErschetnungSgebiete stehen
mit dem Ganzen in einer so engen Beziehung, daß es nur des richtigen
Standpunkts und der rechten Beleuchtung bedarf, um die Widersprüche als hinfällig erkennen zu lassen, welche sich daraus gegen die Voraus setzungen der Vernunft und des Gewissens zu erheben drohen.
Nur wo
diese Bedingungen sachgemäßer Beurtheilung fehlen, wo man von übel
gewählten Standpunkten aus und unter Verkennung der wahren Ziele und Werthe des Lebens eine philosophische Gesammtübersicht zu gewinnen
sucht, muß sich daö wahre Verhältniß der Dinge und Ereignisse zu ein ander und zu dem Ganzen der Welt verschieben, und man gelangt dann
natürlich zu abnormen Resultaten, welche jenen Voraussetzungen wider streiten.
So zeigte sich's beim Materialismus, so ist eö noch augenfälliger bei der jetzt in die Mode gekommenen Lehre des Hartmann'fchen Pessi mismus.
Der Grundfehler der letzteren besteht eben darin, daß ihr
Urheber seinen Spekulationen trotz entgegenstehender Versicherung nicht die Gesammtheit der unmittelbaren Lebenserfahrungen, sondern die aus der Beobachtung dieser einseitig abstrahirten Allgemeinbegriffe des Wollens
und Vorstellens zu Grunde legt, welche nichts Wirkliches mehr bedeuten. Das wirkliche Wollen und das wirkliche Vorstellen sind nicht von ihren Subjecten losgelöste, für sich bestehende Momente deö Geschehens, sondern
lebendige Zustände des Vorstellenden und Wollenden und als solche Be
wegungen deS ganzen Geistes, welcher vorstellt und will.
ES ist ein
und derselbe ganze lebendige Geist, dessen ganzes Wesen in jeder dieser Thätigkeiten auf besondere Weise zum Ausdruck kommt.
Wir können da
her das Wesen beider Thätigkeiten gar nicht anders verstehen und definiren als aus dem ganzen Geiste, dessen Natur sich in ihnen offenbart. Wie die einfachste Selbstbeobachtung lehrt, können wir nichts wollen, dem wir
nicht irgend einen gefühlten Werth beilegen, und dieser gefühlte Werth, nicht die abstracte Vorstellung eines rein thatsächlichen Zustandes ist eben der alleinige Grund, weßhalb wir wollen.
Wollen kann daher nur ein
Wesen, weiches für sich ist und eigene Interessen hat, die es zum Wollen anzuregen vermögen.
Ebenso lehrt die Erfahrung, daß wir nicht- vor
stellen, waS nicht unser Interesse und damit den Willen, die Vorstellung desselben festzuhalten und nach bestimmter Richtung hin zu vervollständigen
oder sie zu unterdrücken, in irgend welcher Weise erregt.
Erst im Ge
fühl, wozu im weiteren Sinn auch die sinnliche Empfindung
gehört, offenbart sich daher das inhaltliche Moment des Le
bens, auS welchem erst die Antriebe des Wollens und VorstellenS ent stehen. DaS Wollen und Borstellen sind nur die Grundformen, in denen wir die allein in der Gefühlssphäre belegenen Werthe des Lebens realisiren, sie sind nicht die alleinigen Grundfunctionen des Lebens und
können eS nicht fein, da Formen nicht denkbar sind ohne einen Inhalt, dessen Form sie sind.
Diese verkehrte Aufstellung der Grundprincipten
enthält bereits den KrankheitSkeim des Pessimismus in sich, der die Werthe des Lebens verkennt,
Leichtfertigkeit
weil
er sie principiell negirt.
Nur diese ftivole
in der Feststellung der wichtigsten Bestimmungen
seiner
Lehre konnte Hartmarzn verleiten, die Thatsache des Werdens und der Veränderung in ihrer positiven Bedeutung ganz zu verkennen und in ihr
nur etwa- Nichtseinsollendes, die Negation deS Satzes der Identität zu erblicken, deffen Aufrechterhaltung durch die Weltvernunft geboten fei, und
den Ungedanken zu fassen, daß der ganze Weltproceß ein Uebel und daß daS Ziel der Weltentwickelung auf die Vernichtung alles Bestehenden ge
richtet sei*).
Bedenken wir die weite Verbreitung, welche diese und ähnliche auS einseitigen und beschränkten Gesichtspunkten hervorgegangene, den wahrm
Interessen der Sittlichkeit, der Religion und der Cultur überhaupt wider streitenden Lehren gefunden haben, so kann die hohe Bedeutung einer auf
umsichtiger und vorurtheilSloser Würdigung
der unmittelbar gegebenen
Lebensthatsachen erwachsenen Metaphysik nicht länger zweifelhaft bleiben. Kein Philosoph der Gegenwart hat sich um die Herstellung solcher Metaphysik so großartige Verdienste erworben als Lotze. Wir hegen den sehnlichsten Wunsch, daß der erweiterte Wirkungs
kreis, der sich ihm in Berlin darbieten wird, auch zur Verbreitung und
Würdigung seiner Lehren beitragen möge, welche es verdienen, zum Ge
meingut aller Gebildeten erhoben zu werden. *) Ich werde diese hier nur flüchtig angedeuteten Bemerkungen demnächst in einer noch nicht gedruckten Schrift ausführlicher begründen und verweise, um das ge fällte Urtheil zu rechtfertigen, einstweilen auf meine Recension der „Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins" in den Göttinger gel. Anz. Stück 16 Jahrgang 1879 S. 483—502 und auf meine Abhandlungen in den Preußischen Jahrb. Bd- XLIII Hest 4 S. 375, Bd. XLIV S. 602 und Bd. XL VI S. 380.
Hugo Sommer.
Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische FinanzReform durch Regulirung der Gemeinde-Steuern und der Communalsteuer-Gesetzentwurf". Von einem Mitgliede des Abgeordnetenhauses.
Die politischen Schriften von Rud. Gneist werden sich wegen der Schärfe ihrer Dialektik und der reichen historischen Beziehungen, in welche sie die Fragen des Tages setzen, der Beachtung und Anerkennung auch
bei denen erfreuen, welche den praktischen Folgerungen des Verfassers nicht beizustimmen vermögen.
ES gilt dies auch von der neuesten Schrift „Die
Preußische Finanz-Reform
durch Regulirung der
Gemeinde-Steuern".
Gneist tritt in derselben den bezüglich der Communalsteuergesetzgebung von
der Regierung und der Commission des Abgeordnetenhauses bisher fest
gehaltenen
Grundsätzen
entgegen.
Seine Vorschläge präjudiziren und
widerstreiten zugleich der von der Regierung vorgeschlagenen Steuerreform.
Bereits im Jahre 1877 hatte er bei der Generaldebatte über das Communalsteuergesetz den wesentlichen Kern seiner Vorschläge
vorgetragen.
Dieselben fanden indessen in der Commission des Hauses keinen Anklang.
Nur von einem Mitgliede wurde die allgemeine Real- bezw. Liegenschafts steuer als regelmäßige Prinzipale Communalsteuer befürwortet, das be
zügliche Amendement aber mit allen Stimmen gegen die des Antragstellers abgelehnt.
In den beiden folgenden Sessionen ist dieser Gedanke von
keiner Seite wieder ausgenommen worden.
Alle drei Commissionen ent
schieden sich vielmehr für die Richtigkeit des in der Regierungsvorlage festgehaltenen Prinzips der obligatorischen angemessenen Verbindung der
Personalsteuer mit der Rfalsteuer für die Gemeindebesteuerung, sowie für
das System der Zuschläge, und zwar: für die Personalsteuer als absolute Regel, für die Realsteuern als Regel unter Zulassung besonderer Communalrealsteuern mit ministerieller Genehmigung. Gegenwärtig nun hat Gneist seine Vorschläge von Neuem ausge
nommen mit bedeutend ausführlicherer Motivirung und in vervollständigter, spezifizirterer und theilweise veränderter Weise, wobei namentlich neu:
daß, soweit die kommunale Liegenschaftssteuer nicht ausreicht, noch eine von
allen Einwohnern zu tragende Schulsteuer treten solle. — Allein auch in
der jetzigen Form und Motivirung kann man den Gneist'schen Vorschlägen nicht beistimmen.
In der nachstehenden Auseinandersetzung soll nur auf
die wesentlichsten hervortretenden Punkte aufmerksam gemacht werden.
Vorweg mögen zur Richtigstellung der ganzen Sachlage folgende Be merkungen Platz finden:
Gneist schreibt Seite 78:
der Entwurf vom
3. November 1879 statuire principaliter Einkommensteuern, eventualiter und mehr aushülfsweise auch Heranziehung der Grund- und
Gebäudesteuern, jedoch zu einem geringeren Antheil rc. — Und S. 133
schreibt er: es werde wohl bei dem jetzt sehr gewöhnlichen Verhältniß
bleiben, so daß neben 200 Prozent Einkommensteuern die Realsteuern mit 50 resp. 25 Prozent nachhtnken.
Hier scheinen in mehrfacher Hinsicht
Mißverständniffe abzuwalten, namentlich kann leicht das Mißverständniß/ als ob durch den § 2 des Entwurfs der Grundbesitz nicht genügend heran
gezogen werde, durch die Gneist'sche Darstellung hervorgerufen werden. Der § 2 bestimmt zunächst die absolute obligatorische Verbindung der Klassen- und Einkommen- mit der Grund- und Gebäudesteuer.
Zuschläge
zu der ersteren dürfen nicht ohne Heranziehung der letzteren erhoben werden, und umgekehrt, so daß gar keine Rede davon sein kann, daß die Per
sonalsteuer principaliter, die Realsteuer eventuell elntreten solle.
Weiter bestimmt der § 2:
Hierbei ist in den Landgemeinden die
Grundsteuer, in den Stadtgemeinden die Gebäudesteuer mindestens mit der Hälfte und höchstens mit dem vollen Betrage, in den Landgemeinden
die Gebäudesteuer, in den Stadtgemeinden die Grundsteuer mindestens mit */4, höchstens mit s/4 desjenigen Prozentsatzes heranzuziehn, mit welchem
die Klassen- und Einkommensteuer belastet wird. — Unter Zustimmung der Aufsichtsbehörde können diese Minimalsätze auf die Hälfte ermäßigt
werden und mit Zustimmung des ProvtnzialrathS auch eine gänzliche Frei
lassung der Grund- und Gebäudesteuer auf bestimmte Zeit erfolgen. Die letzteren beiden, an die Zustimmung der Behörden geknüpften
Ausnahmen von der normalen Regel waren nothwendig für diejenigen Gemeinden, in denen der Grundbesitz verarmt resp, gar nicht mehr leistungs
fähig ist; es liegt darin kein Aufgeben deS normalen Prinzips, sondern eine nicht zu umgehende Rücksichtnahme auf die Leistungsfähigkeit deS
Grundbesitzes der Gemeinde.
Die Liegenschaftssteuer, welche keine Rück
sicht auf die Leistungsunfähtgkeit deS Grundbesitzes nimmt, ist eben des
halb unmöglich; wir werden darauf zurückkommen. Macht man sich nun klar, was die tm § 2 statuirten Bruchtheile in -Wirklichkeit besagen und welches Resultat sie bei der factischen An wendung ergeben, so zeigt sich Folgendes:
198
Die Vneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform rc."
Wenn man die jetzige Einschätzung der Grundsteuer zu 10% des ReinertageS nach der notorischen allgemeinen Annahme als gleich 5%
des actuellen Reinertrags der ländlichen Grundstücke resp, des Reinein
kommens deS unverschuldeten Besitzers von dem Gute setzt, und ein Zu schlag von 100% der Klassen- und Einkommensteuer (— 3% des Ein
kommens) als Communal - Persknalsteuer ausgeschrieben wird, so soll die
Grundsteuer nach § 2 mit der Hälfte dieser 100%, also mit 50%, als normales Minimum mitherangezogen werden, und eS zahlt dann der un verschuldete Grundbesitzer außer jenen 3% noch 2%% seines wirklichen
Einkommens als Grundsteuerzuschlag, zusammen 5% %.
Bei nur 25%
Zuschlag zahlt er immer noch im Ganzen 4% %, bei 100% Zuschlag im Ganzen 8 % seines Einkommens, gegen die 3 % des Rentiers oder Arbei ters jeder Art. — Ist aber der Gutsbesitzer, wie durchschnittlich anzu
nehmen, bis zur Hälfte des Werths seines Guts verschuldet, so beträgt die Grundsteuer 10% seines wirklichen Einkommens und er zahlt dann
bei 50, resp. 25 und 100% Zuschlag zur Grundsteuer:
statt jener 5%
resp. 4% und 8% im Ganzen 8% resp. 5% und 13% seines Einkom
mens, gegenüber den 3 % des Rentiers. Von der nebenhergehenden Zahlung
der Staatsgrundsteuer, welche im Allgemeinen wenigstens theilweise den Charakter einer Rente angenommen hat, mag hierbei abgesehn werden.
Bei der Gebäudesteuer, welche 4% deS MiethswerthS beträgt, würde das Facit sich ein wenig günstiger für den Hauseigenthümer gestalten; ist
aber der Hausbesitzer — und dies dürfte vielfach die Regel sein, über
den halben Werth des Hauses hinaus verschuldet, so kommt die Sache
mit dem ländlichen Grundbesitzer so ziemlich in'S Gleiche. Uebersetzt man sich auf diese Weise die relativen Verhältnißzahlen der Steuern in die Zahlen der praktischen Wirklichkeit, so gewinnt die Sache
natürlich ein ganz anderes Ansehn.
Wenn bei der abstracten Vergleichung
der Steuern unter sich die von allen Einwohnern, auch von den Grundbe sitzern getragene und beim Versagen der andern Steuern noch auSdehnungS-
fähige Personalsteuer als die allgemeine Prinzipale Communalsteuer zunächst hervortritt, um die sich die Realsteuern und andern Steuern ergänzend grup-
piren, so ist das Bild zutreffend.
In Wirklichkeit aber stellt sich nach dem
Gesetz die Sache so, daß, soweit der Grundbesitz überhaupt angespannt werden kann, die Last der Grundbesitzer die größte und in rascher Progression
steigende ist, — (über die obligatorische Mitheranziehung des Gewerbes herrscht noch Streit,) — so daß bei 100% Zuschlag zur Grund- und Ge bäudesteuer schon die relative Höhegrenze des Mißverhältnisses heraustritt, und bei 150% Zuschlag in sehr vielen Gemeinden auch bereits die absolute
Höhegrenze der Leistungsfähigkeit des Grundbesitzes erreicht sein wird.
Auf diese wirkliche Belastung der Grundbesitzer aber kommt es allein an.
Die irrthümlichen Ansichten über Communalbesteuerung, und das
Streben, den Grundbesitz immer noch stärker heranzuziehen, entstehen haupt
sächlich aus zwei Ursachen:
erstlich, weil man aus den bloßen Berhält-
nißzahlen, aus den Bruchtheilen und Prozenten, in denen die Steuern neben einander gestellt werden,
leicht ein unrichtiges Bild der ganzen
Sachlage gewinnt, — und zweitens daraus, daß man leicht in den Fehler verfällt, die Immobilie (das Gut, das HauS) zu personificiren und eS als ein beliebig hoch zu besteuerndes Subject zu betrachten, während man
es allein mit dem Besitzer, dem steuerzahlenden Menschen, zu thun hat,
und mindestens die durchschnittliche, ja sogar schon die weniger als durch schnittliche Leistungsfähigkeit der gemeindlichen Grundbesitzer die natürliche Begrenzung auch der Realbesteuerung bildet. Die Commission deS Abgeordnetenhauses war sich vollkommen klar
darüber, daß ein Zuschlag von 7a—7i des Zuschlagsatzes der Personal steuer die Grundbesitzer im Durchschnitt bereits hoch und resp, bis zur durchschnittlichen höchsten Grenze belaste.
ES kam nur in Frage, ob der
Satz von 7,—7i nicht schon zu hoch gegriffen sei, und von Vertretern der westlichen Provinzen wurde namentlich in Rücksicht der Lage deS
Grundbesitzes in vielen dortigen Städten auch dringend die Herabsetzung der regelmäßigen Latitude auf 7« oder wenigstens auf 7- verlangt.
Die
Commission nahm jedoch an, daß die ungesunde Lage deS Grundbesitzes
in den dortigen Städten keineswegs eine richtige Basis der gesetzlichen Norm bilde, solche ungesunde Verhältniffe vielmehr mit allen Mitteln in
gesundere Bahnen zu leiten seien, übrigens aber für derartige exceptionelle Verhältniffe die im Gesetz mit Zustimmung der Behörden gewährte Mög
lichkeit der Erleichterung deS Grundbesitzes genüge.
Andererseits wurde
von der Commission auch der noch vielfach in Hannover und in vielen östlichen Landgemeinden bestehenden Gewohnheit, nach welcher der Grund besitz allein die Gemeindelasten aufbringt, im Gesetz Rechnung getragen,
wenn auch nicht unbedingter Weise und in der Voraussicht, daß die Zeit
und die Veränderung der Verhältnisse von selbst zu der vom Gesetz in's
Auge gefaßten normalen Bahn hinüber leiten würden. DaS Gesetz und
die Commission kann hiernach gewiß nicht der
Vorwurf treffen, daß sie der möglichst starken Heranziehung des Grund besitzes zu den Gemeinde-Abgaben nicht volle Rechnung getragen hätten. Wenn Gneist ferner S. 67 ff. die in Städten aufkommenden Per
sonal- und Realsteuern zusammenstellt, so ist natürlich in den Realsteuern die von den Grundbesitzern bezahlte Perfonalsteuer nicht einbegriffen.
Und
wenn er sagt, daß über die Gründe des allmähligen Zurückweichens der
Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finauz-Reform rc."
200
Realsteuern bezw. des UeberwuchernS der Personalsteuern die Statistik keine Auskunft geben könne, Und er diese Erscheinung lediglich auf den
bewußten oder unbewußten Egoismus der einflußreichen Grundbesitzer zu rückführt, (die nur hinsichtlich der Schule verständige liberale Ideen haben),
so ist es sehr fraglich, ob nicht die Statistik der Verschuldung der Grund besitzer in den größeren Städten
genügenden Aufschluß
geben würde.
Ohne Zweifel steigt bei dem schnellen Anwachsen der größeren Städte der Prozentsatz der wenig bemittelten Hauseigenthümer und Bauunternehmer
sehr stark, und namentlich bei Schwankungen der Conjuncturen und Rück
schlägen wird die Lage eines großen Theils der Hauseigenthümer so prekär, daß, um nicht massenhaftes Unheil herbeizuführen,
von einer weiteren
Anspannung des Grundbesitzes Abstand genommen werden muß.
In
dm übrigen Gemeinden aber vollzieht sich der Uebergang zur Mitheran ziehung der Personalsteuer naturgemäß mit dem Untergang
der alten
Realgemeinde in die Einwohnergemeinde. UebrigenS wird noch jetzt in vielen Städten, auch in den östlichen
Provinzen, über allzustarke Heranziehung des Grundbesitzes geklagt; na mentlich gelangte vor drei Jahren von einer ganzen Reihe neumärktscher Städte ein solcher Schmerzensschrei an das Abgeordnetenhaus. ES ist nun zu untersuchen, ob die Gneist'schen Vorschläge principiell
richtiger sind als die Grundsätze des Gesetzentwurfs und praktisch Besseres liefern.
Wir glauben, beide Fragen mit „nein" beantworten zu müssen,
mit dem Hinzufügen, daß die eigentliche Absicht des Dr. Gneist, die
Communalsteuer als Besitzobjectsteuer zu fixiren, von ihm nicht erreicht worden, sondern ihm in der Ausführlmg unter den Händen zerronnen und zu Wasser geworden ist.
Gneist verlangt eine von allen Liegenschaften innerhalb der Gemeinde gleichmäßig zu erhebende Steuer nach dem jährlich abzuschätzenden Pachtresp. MiethSwerth der ländlichen Grundstücke resp. Wohngebäude,
mit
erhöhter Abschätzung der Grundstücke und Anlagen deS Großgewerbebetriebs
nach der Zahl der Arbeiter und der verwendeten Dampf- und Wasserkraft. Die Liegenschaftssteuer ist bei getheiltem Besitz zur einen Hälfte vom Eigenthümer, zur andern Hälfte vom Miether, Pächter oder nutzenden
Inhaber zu erheben.
Die Gemeinden und die ihnen beitretenden GutS-
bezirke, welche diese Steuer annehmen, erhalten vorweg als Prämie 25% der Grund- und Gebäudesteuer zur Deckung ihrer Gemeindebedürfnisse.
Außerdem wird den Grundbesitzern, welchen durch die Regulirung eine höhere Belastung als bisher erwächst, die Hälfte dieses Mehrbetrages auf
die StaatS- Grund und Gebäudesteuer angerechnet. — Kann der Jahres-
Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform rc."
201
bedarf der Gemeinde durch die Liegenschaftssteuer (und einige indirecte
Steuern) nach Ermessen der Aufsichtsbehörde nicht ohne Ueberbürdung des Grundbesitzes gedeckt werden, so ist eine besondere Schulsteuer durch Zu
schläge bis zu 40% der Klassen- und Einkommensteuer gestattet. — Früher hat Gneist behauptet, daß im Großen und Ganzen die Leistungen der Gemeinde sich als Niederschläge in dem Grund- und Ge bäudewerth wiederfinden.
Diese unrichtige, mindestens sehr übertriebene
Behauptung ist in der gegenwärtigen Schrift nicht wiederholt; eS wird
der besondern Vortheile, die der Grundbesitz aus der Gemeinde und ihren
Einrichtungen zieht, nur vorübergehend gedacht.
Dagegen wird das Haupt
gewicht auf den realen Gemeindeverband, auf die hervorragende Bedeutung
des Grundbesitzes für die Gemeinde gelegt, und betont: daß die Commune ihrem Wesen nach nicht ohne feste Mark und nicht ohne dauernde Ver bindung mit dem festliegenden Vermögen des GemeindebeztrkS zu schaffen
sei; daß der Staat, der sich auf den Communalverbänden aufbaue, eS nicht
länger den einzelnen Gemeindebeschlüssen überlassen könne, ein Gemeindesystem nach individuellen Vorstellungen von Leistung und Gegenleistung für jeden Verband zurechtzulegen, — daß vielmehr das Gemeindeleben unseres
Staates auf die feste, gleichmäßige Besteuerung der Liegenschaften gebaut sei und bleiben müsse, wenn die Gemeinde ihre Bestimmung als Nachbarver band und unentbehrliche Grundlage des Staatsbaus erfüllen soll. Kein Geld
beitrag nach der persönlichen Habe habe jemals diesen Verband zu ersetzen und daS Bewußtsein einer Gemeindeangehörigkeit zu erzeugen vermocht rc. Wir bestreiten natürlich in keiner Weise die hervorragende Bedeutung
deS Grundbesitzes für das Gemeindeleben wie für den Staat als conservativer Factor und fester Fond im Wechsel und in der Verwirrung aller
Art, und als Träger besonderer hervorragender Pflichten gegen die Ge
meinde und den Staat.
Daß aber die Communalbesteuerung lediglich
auf die Jmmobiliarsteuer basirt sein müsse,
erscheint von vorn herein
nach dem Wesen der heutigen Gemeinde nicht richtig.
Die alte Realgemeinde deckte sich auch nach den Gemeinheitstheilungen
wesentlich noch mit der Personalgemeinde.
Nachdem aber zuerst in den
Städten der alte Bürgerverband zur wetteren Einwohnergemeinde geworden,
nachdem auch auf dem platten Lande Handel, Gewerbe, Fabriken betriebm werden,
bergbauliche Unternehmungen große
Ortschaften hervorgerufen
haben u. s. w., haben wir mit beiden gegebenen Factoren zu rechnen: mit der persönlichen und der realen Gemeindeangehörtgkeit.
Den persönlich
der Gemeinde Angehörigen als solchen zu leugnen, wäre gesetzlich unmöglich;
ihn innerhalb der Gemeinde nur als steuernden Staatsbürger zu betrachten, wäre prinzipiell unrichtig.
Die Personalsteuer nach der Leistungsfähigkeit
ist nicht Correlat der bloßen Unterthanenschaft, auf Grund deren man die
Nothwendigkeit der personellen Gemeindebesteuerung läugnet, und die
an sich nur eine gleiche Kopfsteuer begründen würde; auch nicht Correlat
der Pflicht deS Unterthanen, dem der Staat als Machthaber entspricht,
sich, soweit das Vermögen reicht, soviel abnehmen zu lassen, als der Staat verlangt.
Nach unseren heutigen Begriffen sagen wir vielmehr: Die Per
sonalsteuer nach der Leistungsfähigkeit ist das Correlat der persönlichen
Staats- resp. Gemeindeangehörigkeit und der dem Einzelnen gewährten Entwickelungsfreiheit unter dem Schutze des StaatS und der engeren Ge
meinde, in der der Einzelne zunächst wurzelt und wächst, indem er von der Gesammtheit der Gemeindeangehörigen und der gemeindlichen Ein richtungen Vortheil zieht.
Dafür zahlt er mit Recht seinen Beitrag zu
diesen Einrichtungen nach dem Maaße, als es ihm und seinen Vorfahren,
deren Resultate er in sich vereinigt, geglückt ist, vermöge der gewährten Entwickelungsfreiheit
zu
prosperiren.
Namentlich hat der
preußische
Staat eS stets als eins seiner vornehmsten und fundamentalsten Prin
zipien betrachtet und festgehalten: auf allen Gebieten, vorbehaltlich der nothwendigen Schranken, die möglichste Entwickelungsfreiheit zu gewähren und dafür als Correlat die äußerste Hingebung für das gemeine Wesen
zu fordern; darauf beruht unsere ganze Stärke.
Und diesen für uns in
der That allerwichtigsten Grundsatz für die Gemeinde nicht anwenden zu wollen, wäre ein um so größerer praktischer Fehler, als erfahrungsmäßig ein Jeder der Regel nach für die Gemeinde, für seine engere Heimath,
größere pekuniäre Opfer zu bringen bereit ist, als für den Staat, theils aus größerer Liebe und Anhänglichkeit für die engere Heimath, theils
weil das reciproke Verhältniß hier stärker hervortritt, weil Jeder die Früchte seiner Beisteuern schneller wiederkommen sieht und er zugleich die Ver
wendung seiner Beisteuern besser controliren kann.
Diese Personalsteuer,
deren adäquatester, wenn auch nicht ganz vollkommener Ausdruck die Ein. kommensteuer ist, ist aber nicht blos die uns als allgemeine Communal-
steuer nächstliegende, sondern sie ist auch die natürlich ausdehnungsfähigste, weil alle Ertragserhöhungen, sei eS aus bloßer Arbeit oder aus Ver
bindung von Capital und Arbeit, auch beim Grundbesitz, zunächst in dem
Einkommen deS steuerzahlenden Menschen zur Erscheinung kommen und naturgemäß zunächst in der Einkommensteuer besteuert werden. So sehr wie innerhalb der Gemeinde die Bedeutung deS Grundbesitzes
als des festen Kerns und conservativen Moments betonen, so ist doch
dieses Moment der Festigkeit und Stetigkeit nicht das einzige in der Ge meinde und ihrer Besteuerung in Betracht kommende; eS handelt sich vielmehr mindestens ebensosehr, in den meisten Fällen noch viel dringender
um die Herbeiführung der höchsten Kraftentwickelung, und diese ist durch die einseitige Besteuerung des Grundbesitzes nicht möglich.
Diese würde
vielmehr leicht eine bedeutende Hemmung der Kraftentwickelung, Stagnation und Schwäche in die Gemeinde hineinbringen.
Nur durch das harmonische
Zusammenwirken aller Kräfte wird im Staate wie in der Gemeinde die höchste Kraftentwickelung erreicht; jede Einseitigkeit ist auf die Dauer identisch
mit Schwäche.
Die Gemeinde ist naturgemäß und muß sein: die Ver
einigung aller Gemeindeangehörigen zur Erreichung der gemeinsamen wirth-
schaftltchen und höheren Zwecke mit gemeinsamen Mitteln und mit äußerster Hingebung für das gemeine Wesen. Nur auf der Basis der vollen Gemeinsam
keit auf allen Gebieten werden die Gemeinden die Höhe der Kraft erreichen, welche sie befähigt, tüchtige Stützen und Pflanzstätten deS Staats zur Erreichung
der hohen und großen Aufgaben zu sein, welche der Staat allein nicht zu bewältigen im Stande ist.
Dazu reicht der Grundbesitz allein nicht aus,
und eine an den Grundbesitz geknüpfte Liegenschaftssteuer thut es auch-nicht. Daß der Grundbesitz, mit Ausnahme weniger Provinzen, bei uns
viel zu schwach ist, um die nothwendige Communalbesteuerung zu tragen, hat der Geh. Ob. Reg.-Rath Herrfurth in den Beiträgen zur Finanzstatistik, in dem Heft, „die Einnahmen und Ausgaben rc. in den Gemeinden
mit mehr als 10,000 Einwohnern" Seite 137ff. genau statistisch nachge wiesen.
ES wird auf die dortige vortreffliche Ausführung verwiesen und
mag daraus hier nur hervorgehoben werden, daß der Gesammtbetrag der
Grund- und Gebäudesteuer nur etwa 74 der sämmtlichen Gemeindeab
gaben und etwa 7ä der eigentlichen Communalsteuern im engeren Sinne decken würde.
Bei der vollen Ueberweisung der Grund-, Gebäude- und
Gewerbesteuer mit 74,7 Millionen Mark würden zur Deckung der com-
munalen Ausgaben immer noch etwa 200% Zuschläge zu diesen Steuern erhoben werden müssen, ohne daß für Kreis- und Provinzialsteuern etwas
übrig bliebe.
(Diese Zahlen sind auf der Basts des Jahres 1876 auf
gestellt; die Verhältnisse im Ganzen aber würden auch jetzt ähnliche sein.)
Die Gemeindesteuern belaufen sich in der Mehrzahl der Fälle zwischen
300 und 1400% der Grund- und Gebäudesteuer, in den 170 größeren Gemeinden bei der Hälfte auf mehr als 700%, bei dem vierten Theile auf weniger als 500%, bei dem fünften Theile auf mehr als 1000% der Grund- und Gebäudesteuer. — Auch der Mehrertrag durch eine Liegen
schaftssteuer, den Herrfurth auf 100 bis höchstens 200% der Grund- und Gebäudesteuer berechnet, würde in der Sachlage nichts wesentliches ändern.
Betrachten wir nun die Gneist'sche Liegenschaftssteuer genauer. Bereits von Anderen, neuerdings von BilinSky, ist an Stelle der
Communal-Personalsteuer, welche in der Form von Zuschlägen zur StaatsKlassen- und Einkommensteuer auftreten muß, wenn nicht eine wesentliche Benachtheiligung der einen oder der andern Steuer (in der Regel der Staatssteuer) eintreten soll, als besserer Ersatz die MiethSsteuer vorgeschlagen worden. Auch Gneist bringt sie uns unter dem Namen einer Objectsteuer. Diese MiethSsteuer erscheint jedoch als Remplayant der Einkommen steuer als eine schlechte und verwerfliche Steuer. Denn während die Ein kommensteuer allen Quellen deS Einkommens sorgfältig nachgeht, gewährt die MiethSsteuer nur den einen höchst unsichern, häufig unzutreffenden und oft ganz verkehrten Maaßstab für das Einkommen und dessen Schätzung wie für die Leistungsfähigkeit des Steuernden; — sie trifft besonders hart die Verheirathcten und Familienväter; sie wirkt überhaupt progressiv nach unten; je kleiner das Vermögen, desto größer die Quote desselben, die auf die nothwendigsten Lebensbedürfnisse verbraucht wird; sie zwingt die Leute in kleinere, schlechtere, ungesundere Wohnungen hinein. Um dieser Progression nach unten zu begegnen, schlägt BilinSky eine gesetzliche Pro gression nach oben für die MiethSsteuer vor. Aber man würde auf diese Weise grade daS Uebel, welches man den Zuschlägen vorwirft, daß sie nämlich die Härten, Mängel und Mißverhältnisse der Hauptsteuer ver vielfältigen, in erhöhter und potenztrter Weise der von vorn herein mit besonders schweren Mängeln und Mißverhältnissen behafteten Miethssteller zulegen. Umgekehrt glaubt Gneist jenen Uebelstand auf die leichteste Weise durch eine gleitende Scala nach unten beseitigen zu können. Der Eigenthümer soll die größere, der kleine Miether die degressiv kleinere Quote der Jmmobiliensteuer tragen. Auch dieser Versuch ist erfolglos; denn da der kleine Miether regelmäßig.der schwächere Theil ist, so würde, waS er an Steuer erspart, ihm vom Eigenthümer an Miethe mehr auf erlegt werden. Es bleibt nicht abzuweisen, daß die MiethSsteuer in einer der Leistungsfähigkeit nicht entsprechenden Weise drückt. Alle Be denken sollen nun damit beseitigt werden, daß dem Miether vorgehalten wird, die MiethSsteuer sei weder eine höchst unzutreffende mittelbare Ein kommensteuer noch die abscheulichste aller Verbrauchssteuern, (weil auf daS nothwendigste Lebensbedürfniß gelegt,) sondern glücklicherweise eine normale Objectsteuer, die von jedem Besitzer, also auch vom Mitbesitzer getragen werden muß; — bei welchem Glück nur daS einzige Unglück ist, daß diese Objectsteuer nicht wie die normale Objectsteuer deS HauSeigenthümerS eine Ertragsteuer ist, die aus dem Ertrage des Objects getragen wird und soweit sie nicht auf den Miether abgewälzt wird, schon den früheren Eigenthümern aufgehalst wurde, sondern die auS dem sonstigen Einkommen, dem mobilen Kapital, der „persönlichen Habe" deS objectiv besteuerten
Miethers zur Befriedigung seines nothwendigsten Lebensbedürfnisses be zahlt werden muß.
(Man vergleiche dazu die oben erwähnte Gneist'sche
Motivirung der Liegenschafts-Steuer: Kein Geldbeitrag nach der persön lichen Habe kann den realen Verband ersetzen und daS Bewußtsein der Gemetndeangehörigkeit erzeugen.)
Abgesehen von dieser totalen Verschie
denheit der von dem Eigenthümer resp, seinem Mitbesitzer getragenen Steuer
erscheint eS dem Miether sicherlich auch sehr sonderbar, daß er, der nach dem A. L.-R. doch auch nur unvollständiger Besitzer ist und faktisch doch nur ein temporäres Recht an einer fremden Sache erworben hat, als
gleicher Interessent wie der vollständige Besitzer und Eigenthümer behandelt werden soll, und daß der Letztere den Hauptvortheil der gemeinsamen gleichen
HauSbesteuerung in dem steigenden Werth seines Hauses davontrage, er, der Miether aber dann zum Lohne in der Miethe naturgemäß erhöht werde.
Die ganze Besitzsteuer des Miethers beruht auf einer Selbsttäuschung; sie ist nichts anderes als die Personalsteuer in verschlechterter und unge
rechterer Form; und die Miether, wenn man ihnen den juristischen Mantel der Mitbesitzerschaft abnimmt, entpuppen sich einfach als der wesentlichste
Theil der übrigen persönlichen Gemeindeangehörigen außer den Grund
besitzern.
Nur in den Städten Emden und Ottensen erscheint die dortige
MiethSsteuer als eine Objectsteuer; in Frankfurt am Main ist sie ein Mittel
ding zwischen Object- und Personalsteuer.
1872 bez. 16. April 1878.)
(Vgl. die Regulative v. 12. März
In den altländischen Provinzen aber ist die
MiethSsteuer stets alS eine persönliche mittelbare Einkommensteuer auf gefaßt und namentlich in Berlin, sowohl von Seiten der Stadtvertretungen wie regierungsseitig ausdrücklich für eine persönliche Steuer erklärt worden;
(Vgl. die allerhöchste Declaration v. 3. April 1838 (Ges.-S. S. 254) und
das Berliner Miethssteuer-Regulativ v. 16. September resp. 15. November 1858 § 10;) für Danzig und Halle ist aus den betreffenden Regulativen eine gleiche Auffassung zu entnehmen.
In dem
engeren und kleineren
Rahmen einer direkten Aufwands- oder Verbrauchssteuer, als supplemen
täre Steuer, mag die MiethSsteuer ihren Platz finden und passiren.
In
der jetzigen bei uns üblichen Höhe und ebenso in der von Gneist gewollten Weise aber trägt die MiethSsteuer entschieden den Charakter einer Ein
kommensteuer in ungerechterer und schlechterer Form.
Man wird sich daher
dafür entscheiden bei der Einkommensteuer zu bleiben; ihre noch mangel hafte Einschätzung — übrigen- sicherlich nicht mangelhafter wie die schwie rige Einschätzung zur Liegenschastssteuer — läßt sich verbessern;
aber
jedenfalls wird dies desto rascher und wirksamer erfolgen, wenn Staat und Commune daS gleiche Jntereffe an dieser Verbesserung haben.
Wen» Gneist ferner die Gewerbesteuer „als erhöhte Liegenschaftssteuer"
206
Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform »c."
mitheranzieht, so ist darauf hinzuweisen, daß die Gewerbesteuer doch wesent
lich dem mobilen Capital auferlegt ist und daß sie in Rücksicht der mit besteuerten Arbeit zugleich einen personellen Character hat.
Am schwersten und offensten aber durchbricht Gneist sein
eigenes
Prinzip mit der eventuellen Schulsteuer bis zu 40% der Klassen- und
Einkommensteuer.
Die Schule wird als der hohe transcendente Zweck be
zeichnet für den alle Einwohner der Gemeinde zu steuern haben; ja, dann müssen consequent eben Alle für diesen Zweck überhaupt und ganz und
gar steuern, der höhere transcendente Zweck der Schule, soweit die Lie
genschaftssteuer nicht zureicht, ist ein innerer Widerspruch.
Steht
aber fest, daß für die höheren Zwecke alle Einwohner zu steuern haben,
so finden sich nicht blos neben der Schule gleichartige höhere Zwecke, son dern eS zeigt sich auch, daß, wie Gneist selbst sehr richtig S. 98 bemerkt, die wirthschaftlichen Zwecke derart mit höheren Zwecken innig verwoben
und vermischt sind, daß eine Trennung nicht möglich ist und ein Zwecksteuer-Stystem nur den größten Hader und Zwiespalt in der Gemeinde Hervor
rufen, dem eigentlichen Zweck der Gemeinde, der Vereinigung, nur entgegen wirken würde.
ES zeigt sich wiederum praktisch richtig die oben deducirte
Definition der Gemeinde: Vereinigung aller Gemeindemitglieder zu den ge meinsamen wirthschaftlichen und höheren Zwecken mit gemeinsamen Mitteln.
Hervorgegangen ist bei Gneist diese Anschweißung des Nothbehelfs
der Schulsteuer jedenfalls daraus,
daß
seine früheren Vorschläge durch
den Hinweis auf die unzureichende Leistungsfähigkeit des preußischen Grund besitzes sogleich hinfällig wurden.
Aber auch durch diese, den schwersten
prinzipiellen Widerspruch enthaltende Zufügung
der kleinen Schulsteuer
erreicht Gneist noch immer nicht, etwas durchaus Lebensfähiges und überall Zutreffendes in seiner Liegenschaftssteuer geschaffen zu haben.
Frage bleibt unbeantwortet:
Denn die
Was soll bei dieser Liegenschaftssteuer werden
in all den Gemeinden, in denen der wirkliche Grundbesitz gänzlich oder annähernd leistungsunfähig ist, wie uns ja diese Zustände in einer Menge
von Petitionen namentlich auch aus den westlichen Provinzen geschildert sind.
Die Miether tragen nur die Hälfte der Gneist'schen Liegenschafts
steuer, die andere Hälfte fällt bei dem verarmten Grundbesitz ganz oder
größtentheils aus; die kleine Schulsteuer und die unbedeutenden indirecten Steuern reichen gegenüber den hohen Communalbedürfnissen nicht auS;
was soll nun werden? Sollen zu aller Noth, Elend, Streit und Wirr
warr unserer Zeit noch massenhafte Subhastationen auf Grund einer prak
tisch unzureichend angelegten Communalsteuer kommen? Auf diese Fragen ist in den Gneist'schen Vorschlägen keine Antwort zu finden.
Daneben
wird aber auch der Zweck, auf den alle die allgemeinen Motivirungen
der Liegenschaftssteuer doch eigentlich hinauslaufen, nämlich die vornehm liche starke stetige Heranziehung der wirklichen Grundbesitzer, durch die Gneist'schen Vorschläge entweder gar nicht erreicht, der Grundbesitzer viel mehr gegen sonst und gegen den Communalsteuergesetz-Entwurf erheblich
erleichtert, oder es bleibt beim Alten. — Soweit vermiethet wird, zahlt der wirkliche Grundbesitz ungefähr die gleiche Communalsteuer wie die
übrigen Einwohner; (nur der große Gewerbtreibende zahlt noch außerdem
Communalgewerbesteuer;) während nach dem Com.-Steuer-Ges.-Entwurf der Grundbesitz bei weitem höher herangezogen wird.
Insofern der Haus
besitzer zugleich Miether im eigenen Hause ist, soll er vermuthlich nach Gneist einen entsprechenden Bruchtheil mehr an Communalsteuer als die andern Einwohner zahlen, die ihm aber dadurch ersetzt wird, daß er, so
weit er höher als früher belastet wird, zur Hälfte einen Erlaß der StaatS-
Jmmobiliarsteuer erhält, und diese Vergütung müssen die andern Ein
wohner durch erhöhte Staatspersonalsteuer tragen.
Der Ausfall, den die
StaatScasse an Jmmobiliarsteuer überhaupt erleidet, muß natürlich vom ganzen Lande getragen werden, und dabei müssen die vielen Gemeinden, namentlich Landgemeinden, mit wohlhabendem Grundbesitz und hohen Real
abgaben, den größten Theil für die zurückgekommenen größeren Städte tragen.
Der ländliche Grundbesitzer, wenn er einen Pächter hat, theilt sich
nach Gneist die Communalsteuer mit diesem.
Der selbstwtrthschaftende
Grundbesitzer muß zur Belohnung seines Fleißes und seiner Intelligenz die volle Communalsteuer allein tragen und wird für seinen Fleiß wo
möglich noch in der Steuer erhöht.
Soweit nicht vermiethet oder verpachtet wird, bleibt eS insofern beim Alten, als in den Gemeinden, wo die Realgemeinde noch überwiegt, die Grundbesitzer den überwiegenden Theil der Lasten tragen, mit der Maaß
gabe, daß diejenigen Gemeinden, welche unnöthigerweise die Gneist'sche LiegenschastSsteuer annehmen, ein ebenso unnöthigeS Geschenk mit 25%
der Staats-Grund- und Gebäudesteuer erhalten.
Herrfurth sagt sehr treffend: da, wo die Verhältnisse günstig liegen,
wo der Grundbesitz wohlhabend, die Realabgaben hoch, die Communalbedürfniffe gering sind, braucht man eigentlich gar kein System; die Sache
macht sich dort gewissermaßen von selbst. Wo aber die Realabgaben niedrig, der Grundbesitz verschuldet, die Communalbedürsnisse hoch, da versagen die Recepte, welche Alles auf den Grundbesitz wälzen wollen, ihre Wirkung. Wenn nun bei der ganzen neuen Einrichtung die PreiSgebung von mehr als % der Grund- und Gebäudesteuer, vielleicht dieser ganzen Steuern,
in Aussicht genommen ist, so kann man sich schon von der Kostensette auS
schwerer Bedenken nicht entschlagen. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIL Heft 2.
Haben wir darum mit ungeheuren 14
208
Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform ic."
Mühen und Kosten und ungeheuren Entschädigungssummen die Einrich tung und Ausgleichung jener Steuern herbeigeführt, um jetzt dafür eine
ähnliche Steuer einzutauschen, deren jährliche Einschätzung jährlich neue Mühen und Kosten verursacht und die im Resultat in der Sachlage nicht viel ändern kann? — Erwägt man ferner, daß die dem Besitz noch be
sonders neben der allgemeinen Personalsteuer auferlegten Steuern ins besondere der großen socialen Pflicht Genüge leisten sollen, welche der Besitz im Allgemeinen gegenüber der nicht besitzenden Bevölkerung hat,
so erscheint eS fehlerhaft, diesen Gedanken bei dem ganzen einen Theile deS Besitzes, dem Immobiliarbesitz, bei dem allgemeinen gesellschaftlichen
Verbände deS StaatS nicht zum Ausdruck zubringen, während nach Gneist doch die dem mobilen Capital im Gewerbe auferlegte Gewerbesteuer er
halten bleiben soll und man derselben consequent noch eine dem einfachen Capital auferlegte besondere Capitalremensteuer zugefügt sehen möchte.
Die Staats-Jmmobiliarsteuer wird dem Grundbesitz zurückgegeben zur Be
streitung der Communalsteuer, welche großentheilS als ein Aequivalent anzusehen ist und angesehen wird für die besonderen Vortheile, welche der Grundbesitz aus dem bloßen Anwachsen der Gemeinde und den gemeind
lichen Einrichtungen zieht, und welcher zugleich erhöhte Geltung und Ehre deS Grundbesitzes in der Gemeinde entspricht; die ganze Sache kommt
dadurch in eine schiefe Lage.
Dann aber ist auch die PreiSgebung der
ganzen eingebürgerten, theilweise zur festen Reallast gewordenen StaatS-
Jmmobiltarsteuer im Interesse der Sicherung der Finanzlage deS StaatS
auf Grund einer festen Basis direkter Steuern nicht zu billigen; der theil weise Ersatz durch höhere Anspannung der Personalsteuer würde auch den Uebelstand mit sich führen, die Härten und Mißverhältnisse der Steuer
progressiv zu steigern.
Endlich: muß der Staat die Grund- und Ge
bäudesteuer ganz oder größtentheils an die Gemeinde abgeben, so würde nicht blos sein Interesse an diesen Steuern, sondern auch an der damit
verbundenen, mit unserm öffentlichen und Privatrecht eng verwachsenen
Kataster-Einrichtung sehr gelähmt werden.
Schon in der ersten Com
mission wurde deshalb die Ueberweisung höchstens der halben Grund- und
Gebäudesteuer an die Communal-Verbände als diejenige Eventualität, mit
der man zu rechnen habe, in'S Auge gefaßt. Ist nun durch die vorstehenden Ausführungen als nachgewiesen an-
zusehn, daß die Gneist'sche Liegenschaftssteuer als Prinzipale Communal
steuer nicht zu acceptiren, vielmehr die Personalsteuer als allgemeine Com munalsteuer unter Ergänzung durch die Realsteuern beizubehalten ist, so ist nur noch zu untersuchen: ob die Zuschläge zu den StaatSrealsteuern
oder besondere Communalrealsteuern, bez. eine combinirte Communalrealsteuer als Regel den Vorzug verdienen.
Die Unrichtigkeit des ersten Gedankens, welcher zu einer solchen all
gemeinen Communalrealsteuer hinleitet, ist schon oben berührt worden. ES erscheint angeblich unzulässig und verkehrt, daß die Leistungsfähigkeit und das Budget einer Gemeinde davon abhängen soll, ob dieser oder jener
große Besitzer reich oder arm ist, ob er am Orte wohnt oder nicht, ob die Bauern verschuldet sind oder nicht rc.
Eine feste gleichmäßige, den
Erträgen nachgehende Liegenschaft-- oder allgemeine Realsteuer, von der
man sich großen Erfolg verspricht im Gegensatz zu der unvollkommenen StaatS-Grund- und Gebäudesteuer und der im Ertrage wechselnden Per
sonalsteuer soll Alles in'S Gleiche bringen.
Allein, wie schon der alte
Hofmann (Lehre von den Steuern S. 106) bemerkt:
„die todte Sache
kann nicht steuern, sondern nur der lebende Mensch."
Der Mensch aber
kann nicht steuern, wenn er nichts zu geben hat, und es kann der Zweck
der Jmmobiliarsteuer nicht sein, die Grundstücke der Gemeinde massenhaft zur Subhastation zu bringen.
Den reichen Mann aber als solchen ab
sichtlich nicht zu besteuern, um das stolze Bewußtsein zu haben, unabhängig von ihm zu sein, und dafür die ärmeren Besitzer schärfer heranzuziehen, ist eine Ansicht, welche den Gemeinden schwerlich einleuchten dürfte. Es liegt eben der ganzen Anschauung eine unbewußte Personificirung des Guts zum
Grunde, wobei man glaubt, das Gut statt des Besitzers schrauben zu können. Sodann ist darauf hinzuweisen, daß man, wie auch Gneist S. 120
bemerkt, aus bekannten Gründen davon Abstand
genommen hat und
nehmen muß, die höhere Belastung des Besitzes durch höhere prozentuale Heranziehung desselben bei der Einkommensteuer zur Geltung zu bringen.
Die höhere Leistungsfähigkeit des Besitzes gelangt bei der allgemeinen Einkommensteuer genügend zum Ausdruck, und im Uebrigen wird von Staatswegen durch besondere Besitzsteuern nach einem mäßigen Durchschnittsertrage in Bausch und Bogen der allgemeinen socialen Pflicht des
Besitzes gegenüber der nicht besitzenden Bevölkerung Rechnung getragen. — Bet der Gemeindebesteuerung kommt für die höhere Belastung des Be
sitzes zwar noch der Grund hinzu, daß die besonderen Vortheile, die na mentlich der Grundbesitz und das Gewerbe aus der Gemeinde und ihren
Eimichtungen ziehen, dabei ihren Ausdruck finden sollen.
Wenn indessen
auch in der Gemeinde die höhere Leistungsfähigkeit deS Besitzes an sich ebenfalls durch die Communal-Personalsteuer gedeckt wird, so liegt auch
hier im Allgemeinen kein Grund zur Verschärfung der Realsteuer vor.
Soweit der höhere Ertrag deS Besitzes auf der Thätigkeit des Be sitzers beruht, kann er entschieden, außer in der Einkommensteuer, nicht
noch einmal in einer Erhöhung der Realsteuer Ausdruck finden; es würde dies eine nicht zu billigende Doppelbesteuerung sein, die sich die Besitzer auch nicht gefallen lassen würden.
liegende Gründe,
Besondere lediglich
in dem Object
welche bei der StaatSsteuer nicht berücksichtigt sind,
würden zwar im Allgemeinen eine Erhöhung der Realsteuer herbeiführen;
aber einerseits sind diese objectiven Gründe schwer von den subjektiven, Thätigkeit, Fleiß, Geschick rc. deS Besitzers zu trennen, — namentlich ist dies bei der gewerblichen Thätigkeit der Fall — andererseits würde
eS meist fraglich fein, ob die zu erzielende Erhöhung mit den Nachtheilen, die die jährlichen Einschätzungen mit sich führen, im Verhältniß steht. — Allen Besonderheiten von Leistung und Gegenleistung aber in der Gemeinde Rechnung zu tragen, würde eine Unmöglichkeit sein. Hinsichtlich des Moments der ruhigen Stetigkeit und Gleichmäßigkeit haben die Zuschläge zu der gleichbleibenden Hauptsteuer den entschiedenen
Vorzug vor der jährlichen neuen Steuer.
Wenn das Schwanken unb die
Verschiedenheit der jährlichen Zuschläge je nach dem jährlichen Budget und Bedürfniß der Commune als ein erheblicher Uebelstand von Gneist
angemerkt wird, so würde die jährliche Liegenschaftssteuer doch auch je nach
den jährlichen Bedürfnissen der Commune höher oder niedriger gestellt werden müssen; ohne Noth wird man keine hohe Steuer erheben.
Und
dazu die jährlichen Einschätzungen mit stets neuen Mühen, Kosten und
Schwierigkeiten, die den Hader und die Zwietracht in der Gemeinde jähr lich erneuern.
Eine solche Gemeinde kommt gar nicht mehr zur Ruhe.
Neben den bereits vorhandenen Einschätzungen zur Klassen- und Ein
kommensteuer, neben den vielfachen Wahlen und den Selbstverwaltungs pflichten, würden weitere jährliche Einschätzungen, bei denen jede neue
Berücksichtigung einzelner sachlicher Momente wieder neue Vergleichungen der Verhältnisse in der ganzen Gemeinde, neuen Streit und neue Be
schwerden hervorrufen, die Plage und den Krieg Aller gegen Alle leicht zu einem bedenklichen Grade steigern und es würde grade das Gegentheil
der gewünschten Ruhe und Stetigkeit in der Gemeinde erreicht werden. Betrachten wir speziell die einzelnen Realsteuern, so wird bei den länd
lichen Grundstücken der geringste Anlaß zur Ersetzung der Grundsteuer durch eine besondere Steuer vorhanden sein. Lauf einiger Jahre aus.
Die Ernten gleichen sich im
Die sämmtlichen Grundstücke sind nach gleichem
Maaßstabe, wenn er auch seine Mängel haben mag, abgeschätzt.
Eine
jährliche Abschätzung nach dem Ertrage mit Rücksicht auf die Thätigkeit
deS Besitzers ist, wie oben bemerkt, ausgeschlossen; besondere andere Gründe eine- besseren Ertrages sind davon schwer in getrennter Weise festzustellen
und zu taxiren.
Die von Gneist proponirte jährliche Abschätzung nach
dem Pachtwerth aber ist abgesehen von einzelnen Grundstücken, Wiesen «c. fast eine landwirthschaftliche Unmöglichkeit zu nennen.
Eine Pachtung ist
de regula und rationell nur auf eine Reihe von Jahren, 6, 12, 18 Jahre möglich; mindestens müßte sie auf eine Düngungsperiode von 3 oder wenigstens 2 Jahren erfolgen, sonst würde kein Pächter mehr düngen, son
dern jeder den Boden möglichst äuSsaugen.
Ein Pachtwerth für ein Jahr
ist daher rationell nicht möglich festzustellen.
Der relativ höhere durch
schnittliche Pachtwerth im Verhältniß zur Grundsteuer aber wird bereits bei den Einschätzungen zur Einkommensteuer berücksichtigt. — Hiernach liegt
bet den ländlichen Grundstücken kein Anlaß vor, eine jährliche besondere
Realsteuer als Regel sestzustellen.
Eher wäre dies bei den Wohngebäuden angezeigt mit Rücksicht auf die nur alle 15 Jahr erfolgenden Einschätzungen zur Gebäudesteuer.
Allein
in den meisten Landgemeinden und in den kleineren Städten- wo nicht vermiethet wird oder der MiethSwerth entweder nicht oder im Ganzen
gleichmäßig steigt, wäre kein Grund vorhanden, eine besondere HauSsteuer statt der Zuschläge zu wählen; höchstens wäre etwa nach einer gewissen Zeit nach der periodischen Gebäude-Steuer-Revision eine periodische neue
Einschätzung in manchen Gemeinden angemessen, und eine regelmäßige be
sondere HauSsteuer nur in größeren Städten, wo der MiethSwerth ungleich
steigt und Schwankungen unterworfen ist, am Orte.
DteS aber würde
immerhin nicht genügen, eine besondere Gebäudesteuer als Regel aufzustellen. Das Problem einer geschickten und zutreffenden Communal-Gewerbe-
steuer ist bis jetzt weder von den Gemeinden noch von der Regierung gelöst, und dürfte auch durch die Gneist'schen Vorschläge, bez. durch den
von ihm vorgeschlagenen Abschätzungsmodus, welcher große Lückeri offen läßt und große Ungleichheiten hervorrufen würde, nicht gelöst fein.
Eine
neue, auf Grund des im Gewerbe angelegten Capitals und des GeschäftSUmfanges angelegte Staatsgewerbesteuer würde einerseits gerade zu Zu
schlägen besonders geeignet sein, andrerseits würde , sie zwar für eine be
sondere Communal-Gewerbesteuer eine gute Basis abgeben, aber die für die Gemeinde spezifisch hervortretenden Momente würden in den Ge
meinden
nach
ihren
besonderen Verhältnissen
allzu
verschieden
sein,
oder allzu verschieden aufgefaßt, auch durch andere entgegenstehende Mo mente vielleicht paralhsirt und compensirt werden, so
daß eine allge
meine Norm für eine als Regel aufzustellende Communal-Gewerbesteuer
außerordentliche Schwierigkeiten haben würde.
Ohne feste Merkmale aber
könnte eine Communal-Gewerbesteuer nicht als Regel hingesteüt werden.
Eine combinirte Communal-Real- oder sog. Liegenschaftssteuer nach dem Ertrage würde nur dem Namen nach, nicht re vera die verschiedenen
Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform rc."
212
Realsteuern in eine zusammenschmelzen.
Eine nicht nach dem Ertrage,
sondern nach dem sonstigen Werth des in dem unbeweglichen und beweg
lichen Besitz steckenden Capitals aufzuerlegende allgemeine Realsteuer aber
würde allzuwenig Rücksicht auf die naturgemäße Deckung der Steuer aus dem Ertrage des Objects nehmen und hinsichtlich der Abschätzung sehr viel
größere Schwierigkeiten bieten ja vielfach auf gänzlicher Willkühr beruhen. ES muß nach dem Allen daS Prinzip des Communal-Steuergesetz-
Entwurfs als richtig anerkannt werden: daß die Zuschläge zu den Realftenern die Regel bilden, besondere Communalsteuern aber mit ministerieller
Genehmigung zugelassen sind, und zugleich die Lücken, welche die großen
Steuern lassen, durch kleinere ergänzende Steuern (unter welchen namentlich
die Bausteuer hervorzuheben) auszufüllen sind. Gneist hat zur Begründung und Empfehlung seiner Ansicht noch auf
folgende drei Momente Bezug genommen:
1. soll durch seine LiegenschaftSstcuer die Jncommunalisirung der Gutsbezirke wesentlich erleichtert und herbeigeführt werden;
2. ist auf die unerträgliche Grundsatzlosigkeit der jetzigen Communal-
besteuerung hingewiesen;
3. würde durch die Liegenschaftssteuer die schwierige Frage der Be steuerung der Forensen, juristischer Personen, Actiengesellschaften rc. auf
leichte Weise geregelt werden. Es mögen hierzu nur noch folgende Bemerkungen gestattet sein.
ad 1.
Die Frage der gänzlichen Beseitigung der Gutsbezirke tritt
keineswegs, wie Gneist behauptet, jetzt zum letzten Male an uns heran, sondern sie wird zum letzten Male an unS herantreten, wenn es sich um die von Gneist ganz ignorirte Aufhebung des Patronats handelt.
Ohne
diese würde jedenfalls eine völlige Gleichstellung der Gutsbezirke mit den Gemeinden nicht herbeigeführt.
Abgesehen hiervon aber erscheint eS über
haupt zweckmäßiger, statt der vollen Jncommunalisirung zunächst die Bil dung größerer Verbände zur Tragung der Armen-, Wegebau- und Schul
last, womöglich in Congruenz mit den AmtSverbänden, in'S Auge zu fassen; dies dürfte die leichtere und zweckmäßigere Art der Assimilirung der GutSbezirke mit den Gemeinden sein, während die Zusammenschweißung eines
GutSbezirkS und einer Gemeinde sehr häufig ein unnatürliches Gebilde
und gegenseitige Lähmung statt größerer Kraftentwickelung zur Folge haben dürfte.
Die Ueberweisung der Grund- und Gebäudesteuer bis zum halben
Betrage an diese Verbände, insofern man sich überhaupt definitiv für die Form der Ueberweisung ausspricht und die directe Ueberweisung an die
Commune und Gutsbezirke nicht angängig erscheint, würde unzweifelhaft
Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform ic."
213
die zweckentsprechendste sein, da nur auf diese Weise die wirksamste, zutref
fendste und nachhaltigste Erleichterung der Gemeindelasten wie des schwer
belasteten Grundbesitzes bei einer Ueberweisung zu erreichen, während dies bei der Ueberweisung an die Kreise in viel geringerem Grade der Fall ist.
ad 2.
Die Grundsatzlosigkeit in der jetzigen Communalbesteuerung
ist durchaus zuzugeben, aber wie oben gezeigt, das Gneist'sche Remedtum dagegen nicht brauchbar, während der CoMm.-St.-Gesetz-Entwurf und die
Commissionsbeschlüsse dem Uebel nach Möglichkeit steuern; von verschie
denen Seiten ist dem Gesetz sogar der Vorwurf gemacht, daß es viel zu
scharf eingreife und der freien Bewegung der Gemeinden nicht genügenden Spielraum lasse.
Wenn Gneist aber behauptet, daß in dem Entwurf die
Grundsatzlosigkeit fortdauere, so ist zu entgegnen: die Gneist'sche« Vor schläge sind selbst ein schlagender Beleg dafür, daß gerade auf dem Ge
biete der Communalbesteuerung mit der konsequenten Durchführung ein seitiger Theorien und Prinzipien nicht durchzukommen ist, daß sich einer
solchen
alsbald
das Hinderniß der nothwendigen Berücksichtigung
an
derer eingreifender Prinzipien und praktischer Verhältnisse entgegenstellt,
deren harmonische und zweckentsprechende Verbindung die alleinige Auf gabe des Gesetze« sein kann und muß, — wie denn die höhere Entwicke
lung unsers ganzen staatlichen Lebens auf dieser harmonischen Verbindung der früheren einseitigen oder ungeschickt verbundenen Prinzipien beruht.
Diese allerdings schwierige Aufgabe ist unserer Ansicht nach im Comm.St.-Gesetz in
zutreffender Weise gelöst.
Mit einem Male ist freilich
den tief eingewurzelten Gewohnheiten und Besonderheiten, die zum Theil
jetzt nicht als nachtheiltg und unpassend empfunden werden, zum Theil
auf nicht leicht zu beseitigenden localen VerhäÜnissen basiren, ohne schroffe
Härte nicht ein Ende zu machen.
AuönahmSweiS nachlassende und über
leitende Bestimmungen waren daher mit der nöthigen Präcaution tat Gesetz nothwendig.
Die bewußte feste Leitung und Handhabung deS Gesetzes
von oben, an welcher nicht zu zweifeln, muß natürlich, wie bei jedem
Gesetz, zur Durchführung der als richtig erkannten Grundsätze die uner läßliche Hülfe gewähren.
ad 3.
Die Besteuerung der Forensen, juristischen Personen, Aktien
gesellschaften rc. ist in dem Gesetzentwurf im Wesentlichen derart geordnet,
daß grade dieser Theil die größte und wesentlichste Billigung gefunden
hat, und sogar seine gesonderte Emanation als Gesetz gefordert wurde.
Ueber einige spezielle Punkte ist der Streit allerdings noch nicht völlig abgeschlossen, eine Einigung auch hierüber aber jedenfalls möglich und zu erwarten. Allerdings steht die Commission mit den Theoretikern, welche
hartnäckig die Einkommensbesteuerung einer juristischen Person für ebenso
Die GneisVsche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform re."
214
der Definition des Begriffs „Einkommen" znwiderlaufend erachten, wie die Einkommensbesteuerung eines einzelnen VermögenStheilS bei den Forensen, auf einem grundsätzlich verschiedenen Standpunkt. Die Definition: „Einkommen ist die Summe der wirthschaftlichen Güter, die in einer ge
wissen Zeit zu dem ungeschmälert fortbestehenden Stammgut einer Person
neuhinzutreter«, die sie also für ihre persönlichen Bedürfnisse verwenden kann, ohne in ihrer wirthschaftlichen Lage zurückzugehen", wurde von der
Commission für keineswegs einwandsfrei, namentlich aber insofern über
die natürliche Grenze des wörtlichen Begriffs „Einkommen" hinausgehend gehalten, als in dem letzten unzweifelhaft die Verwendung zu irgend welchem Zweck nicht einbegriffen ist.
ES wurde für kein Hinderniß er
achtet, daß der Begriff des Einkommens aus einzelnen Vermögenstheilen
fich mit dem Begriff des Reinertrages deckt, und die besondere Einkom mensbesteuerung einzelner Vermögenstheile für begriffsmäßig zulässig und
praktisch
ausführbar gehalten,
ebenso wie die Einkommensbesteuerung
fingirter Personen, wie solche Besteuerung ja auch theilweise bei uns seit
geraumer Zeit besteht. Beidem.
Die sachliche Nothwendigkeit drängt aber auch zu
Sowohl die Leistungsfähigkeit der Gemeinden wie eine Vermei
dung der Prägravation der
übrigen Gemeindeeinwohner verlangt die
gleiche Besteuerung der juristischen Personen und Forensen, soweit sie den
DaS Einkommen
physischen Gemeindeangehörigen verdrängen und ersetzen.
der Actionäre insbesondere ist mit Sicherheit nur bei der Actiengesellschaft selbst zu treffen.
Die Jmmobtliarbesteuerung aber deckt den Bedarf der
Gemeinden nicht und die Erhebung
besonderer Beiträge Seitens der
juristischen Personen würde eine mehr oder weniger auf Willkühr be ruhende und ebenfalls unzulängliche Maßregel sein.
Die Einkommens
besteuerung der Forensen und juristischen Personen ist daher nicht zu um
gehen.
Wenn auch dieselbe mit Mängeln behaftet bleibt, — die andern
Arten der Besteuerung unterliegen noch schwereren Einwendungen. Wir glauben, in Vorstehendem auf daö Wesentlichste, was bei einer
Vergleichung der Gneist'schen Vorschläge und des CommunalsteuergesetzentwurfS hervortrttt aufmerksam gemacht zu haben.
Auf die Einzelheiten
der an Ideen wie an Kenntniß ungemein reichen Gneist'schen Schrift ein-
zugehen, würde ebenso wie eine weitere Ausführung der diesseitigen An sichten über den diesen Zeilen gestellten Zweck einer kurzen, übersichtlichen
Darlegung des den Gneist'schen Vorschlägen gegenüber für richtig zu er achtenden Gedankenganges hinausgehen.
Verantwortlicher Redacteur: H. v. Treitschke. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.
S.-S.
Die Landung in England. Bon den beiden Unternehmungen, ap welche der erste Napoleon die längsten und sorgfältigsten Vorbereitungen gesetzt hat, ist die eine: der Uebergang nach England, nicht zur Ausführung gekommen, die andere: der Krieg gegen Rußland, gescheitert.
Nicht ganz frei, nicht ganz auS
eigener Initiative hat Buonaparte, damals Erster Konsul, den Gedanken des UebergangS gefaßt, ist er an dessen Ausführung getreten.
Mehr als
ein Mal hatte sich schon die alte Monarchie mit diesem Uebergang beschäftigt.
Ludwig XIV. hatte 10,000 Mann nach Irland geworfen, die dort mit den Jakobiten am Bohne von Wilhelm III. und dem Marschall Schomberg ge
schlagen worden waren.
Als man sich späterhin in Frankreich nach dem ver
lustreichen Frieden von Paris mit dem Gedanken der Revanche an England trug, beschäftigte Ludwig XV. seine geheime Diplomatie mit der Aus kundschaftung der englischen Küsten zu diesem Zwecke.
Im amerikanischen
Kriege im Juli des Jahres 1779 standen 40,000 Mann Franzosen unter Rochambeau und dem Marschall von Broglie bei Havre bereit, nach Eng land übergesetzt zu werden; 66 französische und spanische Linienschiffe er
schienen im Kanal, denen England in jenem Moment nur 36 Linienschiffe
entgegenzustellen hatte; das Unternehmen scheiterte an dem Zwist des spa nischen mit dem französischen Admiral. ES war siebzehn Jahre später,
daß das Directorium der franzö
sischen Republik die Absichten Ludwig XV. und Ludwig XVI. sehr ernst
haft wieder aufnahm.
Die Zustände Irlands luden dringend dazu ein.
Seit der Erhebung der vereinigten Provinzen Nordamerika's befand sich
Irland in steigender Gährung und Bewegung gegen den grausamen Druck, unter welchem die Bevölkerung der grünen Insel mit Ausnahme der angli kanischen Kolonie seufzte, gegen die Ausbeutung Irlands zu Gunsten eben
dieser Kolonie, zu Gunsten der Fabrikation und deS Handels Englands.
Damals hatte man sich genöthigt gesehen, Irland die ersten Concessionen zu machen: die Zulassung katholischer Schulen, die Erwerbung von Grund-
eigenthum durch Katholiken waren genehmigt, dem Handel Irlands war Preußisch« Jahrbücher. Bd.Xl.VII. Hest Z.
15
Raum, dem irlschen Parlament, das freilich ausschließlich den Anglikanern gehörte, Initiative gewährt worden.
Der Ausbruch der Revolution in
Frankreich hatte die Erregung Irlands gesteigert. Pitt's:
Die Zugeständnisse
daS Wahlrecht zum irischen Parlament, der Zugang zur Advo
katur, zu niederen Stellen deS Civil- und Militärdienstes für die Katho
liken verwandelten sich in deren Händen in Waffen gegen England.
Die
Dissenters traten mit den Katholischen zusammen; in der Genossenschaft
der „vereinten Iren" stellten sie sich den „Oranienmännern" entgegen. Die Eifrigsten der „vereinten Iren" fanden die Stütze, welche sie suchten, in Frank
reich; Wolf Tone's und Eduard Fitzgeralds Missionen hatten Erfolg.
Nach
der Niederwerfung der Vendse und Bretagne wurde die Armee des General Hoche, der diese vollbracht, am 15. Dezember 1796 zu Brest auf 17 Linien
schiffen und 13 Fregatten eingeschifft.
Von dieser Flotte erreichten 15 Linien
schiffe und 10 Fregatten die Bantrybai; die Ausschiffung hatte begonnen,
6500 Mann waren am Lande als ein Sturm die Schiffe auseinander, das
Linienschiff, daS Hoche trug, nach la Rochelle zurückwarf.
Auf dringenden
Betrieb der Agenten der vereinten Irländer, die ihre Kräfte bereits auf
mehr als hunderttausend Bewaffneter anschlugen, wurde die Expedition
im Herbst des nächsten Jahres wiederholt.
Diesmal war eS die hollän
dische Flotte, die daS Landheer hinüberführen sollte.
Admiral Duncan
warf sie bei der Kamper Düne mit Verlust von 8 Linienschiffen zurück (11. Oktober 1797), wenige Tage bevor der Friede von Campo Formio dem
Kriege auf dem Festlande ein Ende machte. Nach diesem Friedensschluß war daS Directorium von dem Gedanken
erfüllt, sämmtliche Streitkräfte gegen England zu wenden, den Krieg gegen England durch einen großen Schlag zu beenden. am Kanal zusammengezogen.
80,000 Mann wurden
Das Directorium verkündete: „England und
Frankreich können nicht neben einander bestehen, unsere siegreichen Truppen schwingen ihre Waffen, Scipio
steht an ihrer Spitze; die Armee von
England ist versammelt und Buonaparte ihr Befehlshaber".
Und als nun
General Buonaparte am 5. December nach Paris heimkehrte, die Urkunde des Friedens in der Hand, die Trophäen des italienischen, des steirischen Feldzugs hinter ihm, da empfing ihn der derzeitige Vorsitzende deS Direk
toriums, Barras, mit der Aufforderung, sein Werk zu krönen, daS Kabinet von London zu züchtigen. „Der Ocean, so sagte er, wird stolz sein. Sie zu tragen;
er erröthet unter den Ketten, die England ihm angelegt hat, er ruft brüllend den Zorn der Erde auf gegen den Thrannm, der ihn unterdrückt.
Pom-
pejus verschmähte eS nicht, die Seeräuber zu vernichten. Gehen Sie, Bürger General, größer als dieser Römer, den Riesen des Weltmeers zu zerschmettern
(10. Dec.)."
Buonaparte zog eS vor, England in Aegypten zu treffen.
Er
hätte in Irland 279,000 bewaffnete Männer (so viel ergeben die bei Fitz
gerald gefundenen Listen) zu seiner Unterstützung bereit gefunden.
Wäh
rend er mit dem besten Heere und der besten Flotte Frankreichs nach dem
Nil steuerte, kam auf der grünen Insel, wenige Tage nachdem er unter Segel gegangen war, am 23. Mai 1798 der Aufstand zu vollem Ausbruch. Obwohl Verrath aus den Reihen der Iren sämmtliche Anführer der Re
gierung in die Hand geliefert, fand Lord Cornwallis schwere Arbeit. schwache Abtheilung,
Die
1100 Franzosen, welche unter General Humbert
bei Killala landete, traf erst ein, als die Iren auf dem Vinegarhtll über wältigt waren.
Dennoch erhob sich das Landvolk von Neuem; Hutchinson
und Lake wurden mit dem Verluste ihres Geschützes geschlagen; erst dem
Bicekönig Lord CornwalliS selbst, der 20,000 Mann frischer Truppen her anführte, gelang eS, den Aufstand vollends zu Boden zu schlagen.
Die Tage von Marengo und Hohenlinden setzten dem Kriege der zweiten Coalition das Ziel.
Buonaparte, nunmehr Erster Consul, sah nach
dem Frieden von Lüneville kein anderes Mittel zur Bekämpfung Englands als das, welches das Direktorium nach dem Frieden von Campo Formio zu ergreifen gedacht, dem er sich damals versagt hatte.
Er befahl die
Zusammenziehung von 100,000 Mann am Kanal und den Bau einer
Flottille von flachen Fahrzeugen zu Boulogne.
Die Gefahr erschien in
England so dringend, daß Nelson, der eben Dänemark zum Austritt auS
dem Bunde der bewaffneten Neutralität gezwungen, aus der Bucht von Reval zurückbeordert wurde, das Commando gegen die Flottille von Bou logne zu übernehmen.
Die beiden Angriffe, die er am 4. und 16. August
1801 gegen diese versuchte, scheiterten vollständig.
Dies Mißlingen wirkte
beschleunigend auf den Abschluß der Präliminarien zwischen Frankreich und England.
Malta war längst genommen, die Kapitulation Belliard'S
in Kairo (23. Juni) hatte England auch über die Zukunft Aegyptens be ruhigt. Am Tage nach der Unterzeichnung der Präliminarien, am 2. Oktober wußte man in London, daß auch der Rest des französischen HeereS am
Nil in Alexandria kapitulirt habe. So war auch der Seekrieg beendet — beendet unter unerwartet gün
stigen Bedingungen für Frankreich.
Es erlangte im Frieden von AmienS
die Rückstellung sämmtlicher Kolonieen, die in zehn langen Kriegsjahren
verloren gegangen waren.
Auch die letzte, die sich nicht in Englands
Händen befand, zurückzugewinnen, sendete der Erste Konsul sofort eine an sehnliche Expedition, eine Landarmee von 25,000 Mann, die weiterhin auf
40,000 Mann verstärkt wurde, nach Domingo, diese Perle der französischen
Kolonieen der Herrschaft Toussaints zu entreißen.
Der Seehandel Frank
reichs begann nach so langer Unterbrechung die alten Pfade über den 15*
Ocean wieder zu suchen; die französische Kriegsflotte brauchte Jahre, um
wieder auf einen Fuß gebracht zu werden, daß sie der englischen begegne« mochte.
Solche Gunst der Umstände verstand der Erste Konsul nicht zu benutzen,
die dringendsten Gebote der Lage fanden bei ihm kein Gehör.
War der
Friede von AmienS in seinen Augen auch nur ein Waffenstillstand — ohne die Dauer von Jahren war solcher werthlos für ihn.
Und dennoch war
seine Unterschrift unter dem Friedensinstrument von AmienS nicht trocken,
als er neuen Hader mit England begann.
Er konnte eS nicht verwinden,
daß ihn England vor St. Jean d'Acre gehemmt, daß Aegypten verloren war; daß England Malla trotz des Friedens zurückzustellen zögerte, empörte ihn.
Freilich waren die Vorbedingungen nicht erfüllt, die der Friede
vorschrieb,
freilich war Er auf dem Festlande über den Frieden von
Lüneville weit hinausgegangen, freilich hielt er Holland trotz desselben besetzt und besetzte eben die Schweiz.
an!
Aber was ging das Festland England
Erst sechs Monate waren nach der Zeichnung des Friedens vergangen,
als er Talleyrand dem englischen Kabinet erklären ließ (diese Note fehlt
in der Correspondenz Napoleons):
„WaS will England, will England mit
un» Krieg führen? Was kann England unS anhaben?
England kann
uns blockiren, wir werden das Festland blockiren und England wird seiner SeitS blockirt sein.
Und wenn der erste Consul nun alle flachen Fahr
zeuge vereinigt, England in beständiger Furcht vor der Invasion leben
läßt?
WaS könnte ein Genie an der Spitze Frankreichs nicht vollbringen?
Er hat bisher nur Staaten zweiten Ranges umgestürzt, er könnte auch
größere über den Haufen werfen.
Sollte England Bundesgenossen auf
dem Continent finden, so würde dies nur den Ersten Consul zwingen, Europa
zu erobern (23. Oft. 1802).
Die Note zeichnet sehr deutlich den Gang, den
Bonaparte'S Politik wirklich genommen hat im Voraus; den Frieden zu erhalten, war sie nicht besonders geeignet. Dem Vertreter England'S in Paris,
Lord Whitworth, sagte er: „Ich will Euch lieber im Faubourg St. Antoine sehen alS auf Malta.
Die Landung in England ist eine große Verwe
genheit, sie hat hundert Chancen gegen eine, zu miSlingen, aber ich bin
bereit, sie zu wagen, wenn Ihr mich dazu zwingt."
Im Moniteur ließ
er veröffentlichen: eS sei eine Kleinigkeit, Aegypten wieder zu nehmen, 6000 Franzosen genügten dazu, und in dem Jahresbericht über die Lage
Frankreichs an den gesetzgebenden Körper am 20. Februar 1803 sagte er: 500,000 Franzosen müßten bereit sein und würden bereit sein, die Ehre
Frankreichs zu vertheidigen und zu rächen.
Es ist wahrscheinlich, daß
diese Katarakten von großen Worten Drohungen waren, die England be
stimmen sollten: Malta zu räumen, die Emigranten auszuweisen und die
Presse zu zügeln, deren Sprache ihn verletzte.
Das Kabinet Addington
nahm die Erklärungen Buonaparte'S ernsthaft; am 13. Mak 1803 verließ Lord Whitworth Paris.
Buonaparte war überrascht und in der übelsten Lage.
Die Handels
schiffe Frankreichs, die fröhlich aus allen Häfen ausgelaufen, waren verloren, mindestens abgeschnitten; verloren die Aussicht auf Herstellung einer England
gewachsenen Flotte, verloren die große Expedition nach Domingo.
Schon
vor dem WiederauSbruch des Kriegs war sie in Nachtheil gerathen.
Die
verrätherische Gefangennahme und Wegführung Toussaints, die Herstellung
der Sklaverei hatte die Schwarzen zur äußersten Wuth gereizt; die Truppen
Buonaparte'S, in die Hafenstädte zurückgeworfen, vom gelben Fieber decimirt, wurden nun hier von englischen Schiffen auch von der See her angegriffen, mindestens blockirt.
Im Oktober 1803 mußte der Ueberrest vor dem Ge
schwader des Admirals Hood die Waffen strecken.
Bon der Flotte waren
nur die Linienschiffd entkommen, wenige nach Frankreich, die übrigen retteten
sich fünf nach Ferrol, eins nach Cadtx.
40,000 Soldaten, 8000 Matrosen
waren verloren, immense Geldsummen vergebens aufgewendet.
Aber die
Meinung Frankreichs stand dem Ersten Conful zur Sette, sie hielt sich an
den offenkundigen Vertragsbruch, die Behauptung Malta'-; die Flotille stand in bestem Ansehen und Vertrauen seit Nelson vor Boulogne ge
scheitert war; die Departements, die Städte Frankreichs Überboten sich in Anstrengungen flache Fahrzeuge zu bauen, die Flotille zu verstärken.
Die
Stimme Frankreichs drängte den Ersten Consul nachdrücklich auf dem Wege weiter, den er selbst durch seine Drohungen gewiesen, sie forderte den Uebergang. Und auf welchem andern Wege hätte Bonaparte England treffen
sollen?
Der Seekrieg mußte in den Landkrieg verwandelt werden, der
Buonaparte'S Genie Spielraum gab, der seiner Ueberlegenheit volle Ent
faltung gestattete.
Doch hatten auch noch andere Gedanken neben der Verwandlung deS Seekriegs in den Landkrieg bei Buonaparte Raum. Wurden die Streitkräfte
Frankreichs Englands Küsten gegenüber gesammelt, so stellte man England jeden Falls unter die Drohung einer bevorstehenden Landung.
Englands
Heeresverfassung machte ihm diesen Druck außerordentlich empfindlich.
ES
werden dadurch Gegenanstalten nöthig, die über den Rahmen der Streit mittel Englands weit hinauSgehen, diese werden zu um so höheren Ausgaben
zwingen, je weniger Englands Armeeorganisation auf solche Erweiterung be
rechnet ist.
Die Aussicht auf eine Invasion zwingt England, Irland stark
zu besetzen, die übrigen Streitkräfte aber auf der eigenen Insel zusammen zu halten.
Dadurch wird ihm der Schutz seiner Kolonieen erschwert, in
noch höherem Maß der Angriff auf Kolonieen des Gegners.
Noch mehr
fällt ins Gewicht, daß die englische Flotte mit ihren besten Kräften an
den Kanal gebunden wird.
Vertheidigte man nicht Frankreichs Kolonieen,
wenn man Englands Flotten hier fest hielt?
Paralhsirte man nicht die
Land- und Seestreitkräfte Englands für die Aktion auf allen anderen Punkten, wenn man große Uebergangsmittel sammt einer starken Armee am Kanal versammelte? Am wenigsten lag dem Ersten Konsul dabei der
Gedanke fern, daß diese am Kanal versammelte Armee auch anderswo gebraucht werden könne.
War es nicht der größte Vortheil, die Streit
kräfte Frankreichs vereinigt in der Hand zu haben, sie hier am Kanal zu organisiren, zu discipliniren, abzuhärten, um sie dann überraschend auf
einem gegebenen Punkte des Festlandes zu gebrauchen? Hatte er nicht den
Feldzug von 1800 dadurch entschieden, daß er mit Truppen aus noch weiterer Ferne, die er eben zur Pacifikation der Bretagne und Vendäe gebraucht hatte, überraschend in den Ebenen jenseits der Alpen, im Rücken
der Oestreicher erschienen war? Trotz voller Anspannung viel Zeit, der
aller Kräfte erforderte
es jedoch Zeit,
Flotille im Kanal die Dimensionen zu geben, welche
England über den Ernst der Absichten keinen Zweifel ließen, welche an dern Falls den Erfolg sichern konnten und sollten.
Napoleon hielt sehr
große Mittel und günstige Chancen unerläßlich.
Die Häfen
mußten
für eine gewaltige Zahl von Fahrzeugen erweitert, diese waren wie die
gesammte Küste von Havre bis Ostende gegen Angriffe der zu sichern, die voraussichtlich
alles daran setzen mußten,
Engländer
den Ueber-
gang in der Geburt durch Zerstörung der Uebergangsmittel zu ersticken.
Damit war eine KriegSpause gegeben, die Napoleon in eine höchst pein
liche Lage setzte; er mußte die Streiche, welche England gegen die Han delsmarine und den Handel Frankreichs, gegen die Expedition in Do
mingo, gegen die Kolonieen Frankreichs und Hollands führte, ohne Er
widerung ertragen; um so peinlicher, je empfindlicher alle diese Streiche trafen. Sicherlich nicht unerwünscht kam es dem Ersten Konsul, daß die Auf
merksamkeit Frankreichs während dieser aufgezwungenen sich länger und länger
hinziehenden Kriegspause durch die Zettelungen und Verschwörungen der Emigranten von England her beschäftigt wurde. versichert hat, keine Gefahr dabei.
Er lief, wie er selbst
Seine Polizei hatte diese Verschwörung
unter Augen; sie hatte sie zwar nicht hervorgerufen, aber sie leitete die
selbe durch einen falschen Bruder, den sie den Emigranten zugesellt hatte.
Die Ergreifung Pichegru's, sein Tod im Gefängniß, die Gefangennahme und Hinrichtung Georges Cadoudals, der Prozeß gegen Moreau, die Ent führung und Hinrichtung Enghiens, die Errichtung des Kaiserthrons, „um
den Institutionen Frankreichs Dauer zu geben und die Verschwörer zu
entmutigen", waren wohl geeignet, die Blicke Frankreichs von den Schlägen abzuziehen, welche die englische Aktion der Jnaktion Frankreichs zu fügte. Aber je höher die Stufe war, die der Erste Konsul mit dem Kaiser thron bestieg, um so weniger durfte die erste so lange verzögerte KriegSthat des neuen Charlemagne mißlingen. Der Uebergang war zunächst vom Herbst 1803 auf das Frühjahr 1804 verschoben worden. In diesem Frühling standen nun wohl 600 schwere Geschütze in den Batterieen der Häfen und an der Küste zum Schutze der Rüstung, aber diese selbst war immer noch nicht vollendet. Der Ueber gang wurde wiederum vom Frühjahr auf den Herbst, vom Herbst auf das Frühjahr 1805 vertagt. Endlich in den ersten Märztagen dieses Jahres ergingen die entscheidenden Befehle für die Ausführung des Uebergangs; er sollte nun definitiv im Juli oder August 1805 vollzogen werden. Am 18. Juli lief Admiral Verhuelen mit der batavischen Flotille von Ostende her glücklich in den Hafen von Ambleteuse ein; die Vereinigung der Flotille war damit vollzogen; die Zahl der Fahrzeuge erfüllt, die 132,000 Mann — mit den beiden Flügelcorps im Texel unter Marmont und in Brest unter Augereau 170,000 Mann — an die Küste Englands tragen sollten. Napoleon wollte in der Lage sein, den Erfolg zu zwingen, ein Mal gelandet, die Entscheidung in kürzester Frist herbeizuführen. Der Uebergang der Hauptarmee sollte von vier Häfen aus, die unter dem selben Winde lagen, erfolgen. Jene 132,000 Mann sollten sich zu vier Fünftheilen auf 1240 Kanonenschaluppen, Kanonenbooten und Penichen hinüberrudern, 625 Transportschiffe folgten in zweiter Linie. Die Ruder fahrzeuge waren sämmtlich für den Zweck des Uebergangs besonders conftruirt und eingerichtet; sie bedurften nicht mehr als 6 bis 7 Fuß Wasser tiefe, sie waren ohne Kiel gebaut, damit sie auf den Strand laufen, damit die Landung auch bei der Ebbe bewirkt werden könne. Die Kanonen schaluppen trugen je eine Compagnie und vier Schiffsgeschütze, die Kanonenboote je eine Compagnie, ein Schiffsgeschütz und ein Feldgeschütz, für welches zwei Pferde im Mittelraum untergebracht wurden, die Penichen je eine halbe Compagnie, keine Geschütze. Die Avantgarde General Lannes, das Grenadiercorps und die Division Gazan (14,000 M.) sollte sich von Vimereux aus, ausschließlich auf Penichen (216) hinüberrudern. Der rechte Flügel Davoust, 32 Bataillone 26,000 Mann, sollte von Ambleteuse aus auf der batavischen Flotille auf 306 Ruderfahrzeugen und HO Transport schiffen übergehen; das Centrum von Boulogne aus, 52 Bataillone 40,000 Mann auf 540 Ruderfahrzeugen und 169 Transportschiffen; von Staples aus der linke Flügel Neh 28 Bataillone 22,000 Mann auf 180 Ruderfahrzeugen und 110 Transportschiffen. Die Reserve 27,000 Mann
sollte in dritter Fahrt folgen; das CorpS Marmonts 25,000 Mann war auf der holländischen Flotte eingeschifft; eS sollte vom Texel aus hinüber.
Die Flotte Frankreichs nicht blos, auch die Spaniens, über welche Napoleon seit dem Oktober 1804 ebenso unbedingt verfügte wie über seine eigene sollten im Kanal vereinigt den Uebergang deS Landheeres auf
der Flotille decken. Bord disponibel:
Für diese Operation waren an Schiffen von hohem 21 Linienschiffe unter Admiral Ganteaume in Brest,
2 Linienschiffe unter Vice-Admiral Magon in la Rochelle, 5 Linienschiffe
in Rochefort und ebensoviel in Ferrol,
11 Linienschiffe unter Admiral
Villeneuve in Toulon; zusammen 44 Linienschiffe.
Dazu kamen
an
spanischen: 7 Linienschiffe unter Salcedo in Carthagena, 6 in Cadix unter
Graviua, 8 in Ferrol unter Grandellana, zusammen 21 Linienschiffe; mit den
französischen
65 Linienschiffe.
Aber diese
gesammte Streitmacht
Frankreichs und Spaniens war von englischen Flotten in den genannten
Häfen blockirt, und wenn nicht blockirt mindestens beobachtet. Napoleons Befehle in den ersten Märztagen 1805 gingen demnach
dahin, daß sämmtliche Linienschiffe nebst den Fregatten der blockirten Häfen
während der Stürme der Frühjahrsnachtgleiche, die die Blockadegeschwader zwingen würden sich in gebührender Entfernung von der Küste zu halten, die Blockade zu brechen und auszulaufen hätten.
Dann sollten sie den
Kurs auf die Antillen nehmen, und bei Martinique ankern. theilung,
Jede Ab
die bei den Antillen ankommt, wartet hier eine gewisse Zeit
auf die übrigen; ist diese Frist verstrichen, tritt sie den Rückweg an, sie kreuzt auf diesem, um die Abtheilungen sicher zusammen kommen zu lassen,
noch zwanzig Tage auf der Höhe von St. Jago.
Vereinigt erscheinen
dann die Flotten plötzlich im Kanal, während die englischen Flotten in der Meinung, daß es auf die Wegnahme Jamaika's abgesehen sei, noch in Westindien oder fern auf dem Ocean sind.
Ist auch bei St: Jago nicht
Alles vereinigt, so laufen die Geschwader, die bei einander sind, Cadix an,
bevor sie im Kanal erscheinen.
Wenn Alles gelang, so kamen jene
65 Linienschiffe sämmtlich zur Deckung des Uebergangs in den Kanal,
denen England schwerlich die gleiche Streitmacht entgegenstellen konnte. Wenn Alles gelang!
Aber von welchen Zufällen, von welchen Unbe
rechenbarkeiten des Wetters und des Windes, von welchen Unberechenbar keiten des Erfolges und Mißerfolges war das geforderte Zusammentreffen und Zusammenwirken, das Gelingen dieser sehr weit ausgreifenden, sehr genialen aber doch auch
sehr abenteuerlichen Combinationen abhängig.
Von dem Augenblick an, da Napoleon, gegen die ursprüngliche Absicht, im
Sommer 1804 beschlossen hatte, den Uebergang nicht blos unter sehr
günstigen Chancen — das war seine Meinung von vornherein — sondern
auch nur unter Deckung der Linienschiffe zu wagen, war die Ausführung
mehr als problematisch geworden. England
am
sah
nicht
ohne Unruhe auf
anderen Ufer deS Kanals.
die gewaltigen
Besorgniß hatte im
Diese
Rüstungen
Frühjahr
zuvor (Mai 1804) Pitt an das Ruder des Staates zurückgeführt, der
dann alsbald den Anstalten zur Abwehr einen kräftigen Impuls
gab.
Irland war nun von 40,000 Mann in Zaum gehalten und geschützt, auf
der Südküste Englands standen 41,000 Mann.
Dazu war eine Miliz
armee von 48,000 Mann in England und Schottland ausgehoben worden.
Es hatten sich 300,000 Freiwillige gemeldet, von denen etwa die Hälfte
bewaffnet war.
Aber obwohl die Wahl der Häfen, in denen Napoleon
seine Flotille versammelt hatte, deutlich zeigte, daß er nirgend anders als zwischen der Insel Wight und Dover landen konnte, waren die 89,000 Mann
der Linie und Miliz weit auseinander auf der Südküste verzettelt und auf die Freiwilligen war in rangirter Schlacht nicht sehr zu zählen. Gelang die Landung auch nur mit 70—80,000 Mann, so konnte Napoleon nach einer glücklichen Schlacht in vier Märschen in London und damit im
Besitz der Werfte und Arsenale, im Besitz sämmtlicher Ausrüstungsmittel Englands für Marine und Landheer sein. Die Hoffnung Englands stand auf seinen Flotten.
In der Themse
mündung lagen 12 Linienschiffe bestimmt, die holländische Flotte, die im Texel lag, abzuwehren, ein zweites Geschwader 7—8 Linienschiffe ankerte
mit einer Anzahl Fregatten und Briggs, mit einigen hundert Kanonen
booten, die man der französischen Flotille gegenüber gerüstet, bei Spithead. Den Hafen von Brest blockirte Lord Cornwallis mit 19 Linienschiffen;
vor Rochefort und la Rochelle kreuzte Kommodore Stirling mit 5 Linien schiffen.
Die spanischen Häfen Corunna, Ferrol und Cadix beobachtete
Admiral Calder mit 10 Linienschiffen.
Zwischen Carthagena und Toulon
kreuzte Nelson mit 12 Linienschiffen. Der Seekrieg halte in den Landkrieg verwandelt werden sollen und
der Seekrieg stand nun doch im Vordergründe.
Der Uebergang, d. h. der
Landkrieg war von dem Gelingen oder Mißlingen der Flottenoperation
abhängig.
Am 30. März 1805 gelang es dem Admiral Villeneuve, aus
Toulon auszulaufen, Nelson kreuzte auf der Höhe von Sardinien.
Von
Billeneuve's Ausfahrt unterrichtet, steuerte Nelson In der Meinung, es sei
auf Aegypten abgesehen dorthin.
Unangefochten erreichte Villeneuve Car
thagena; aber Admiral Salcedo verweigerte den Anschluß seiner Schiffe:
die Ausrüstung
derselben
sei
nicht
vollendet.
Unangefochten passirte
Villeneuve die Straße von Gibraltar, zog die Schiffe Gravina'S aus Cadix an sich (11. April) und warf am 13. Mai mit 18 Linienschiffen auf der
Rhede von Martinique Anker. Er fand hier die 5 Linienschiffe des Admiral
Sie waren in Fofge
Missiessy von Rochefort nicht mehr vor.
einer
früheren Combination bereits im Januar ausgelaufen und nach langem
vergeblichen Harren bereits auf der Rückfahrt.
Dagegen trafen am 4. Juni
die beiden Linienschiffe von la Rochelle bei ihm ein, die am 1. Mai dort ausgelaufen waren.
Ihr Befehlshaber Vice-Admiral Magon brachte neue
Instruktionen für Villeneuve.
Ganteaume habe bis zum 1. Mai nicht auS-
laufen können, Villeneuve solle nicht über den 20. Juni auf ihn warten, vielmehr dann die Rückfahrt antreten, den Kurs auf Ferrol nehmen, um die dort liegenden 13 französischen und spanischen Linienschiffe, die eben
falls keine Gelegenheit zum Auslaufen gefunden, an sich zu ziehen, mit diesen vereinigt, Ganteaume deblockiren, um dann 54 Linienschiffe stark im Kanal zu erscheinen. Villeneuve wartete nicht bis zum 20. Juni.
Vier Tage nach MagonS
Ankunft, am 8. Juni erhielt er Nachricht, daß Nelsons Flotte 9 Linienschiffe
auf Barbadoes steuernd erblickt worden sei.
Nelson war nachdem er von
der falschen auf die richtige Fährte gekommen, durch einen hartnäckigen Westwind volle
14 Tage hindurch gehindert worden,
die Straße von
Gibraltar zu passiren. Auf die Kunde seiner Annäherung lichtete Villeneuve augenblicklich die Anker (9. Juni) und nahm der neuen Instruktion gemäß
den Kurs auf Ferrol.
Drei Tage nach Villenerive'S Abfahrt war Nelson
bei Antigua von dieser unterrichtet. ins Mittelmeer zurücksegele.
Er zweifelte nicht, daß Villeneuve
Er nahm
auf der Stelle den Kurs auf
Gibraltar; eS trieb ihn gewaltig diese Schiffe, vor denen er zwei Jahre hindurch unablässig gekreuzt, denen er vergebens über den Ocean gefolgt
war endlich auf offener See zu erreichen.
Indem er die Rückfahrt an
trat, sendete er den besten Segler seiner Avisoschiffe, die Brigg CuriouS nach Portsmouth, der Admiralität Bericht vom Stande der Dinge zu bringen.
Rascher
als Villeneuve's schwerfällige Schiffe erblickte der Capitän deS
Curious am 19. Juni die lange Linie der feindlichen Flotte.
Sie segelte
ostwärts, aber der Kurs den sie hielt, zeigte ihm, daß sie nicht auf die
Straße von Gibraltar sondern auf Cap Finisterre steuere.
Nach glück
lichster Fahrt landete der Curious am 7. Juli in Portsmouth, die Admi
ralität war am nächsten Tage unterrichtet. Augenblicklich erging an Com
modore Stirling vor Rochefort der Befehl, zum Admiral Calder vor Ferrol zu stoßen, mit diesem vereinigt auf der Höhe von Finisterre zu kreuzen, der französischen Flotte den Weg zu verlegen.
Bereits am 15. Juli waren
Stirling und Calder vereinigt. Villeneuve hatte nur noch vierzig Meilen nach Ferrol zurückzulegen als
er am 22. Juli Calders Flotte auf seinem Wege erblickte.
Nach
einem hitzigen Kampf, in welchem Villeneuve trotz der Ueberlegenheit seiner
Schiffszahl zwei Linienschiffe verlor, gelang es Villeneuve durchzudringen; südwärts steuernd lief er in die Bucht von Vigo ein.
Nachdem er hier
fünf Tage ankernd die Schäden der Schlacht ausgebessert erreichte er un
behelligt von Calder am 2. August Ferrol.
Damit war ein ansehnlicher
Theil der französisch-spanischen Seemacht, 31 Linienschiffe vereinigt. hatte bis dahin Glück genug gehabt.
Der Gegner war averttrt und auf der Hut. am 20. Juli,
er konnte sich
Man
Aber das Schwerste war übrig. Nelson erreichte Gibraltar
nun jeden Augenblick
mit Calder
ver
einigen; mit ihren durch zweijährige Kreuzfahrten abgehärteten und geübten
Mannschaften waren sie auch
mit
24 Schiffen den
31
Linienschiffen
Villeneuve'S vollkommen gewachsen. Die Dinge standen zur Entscheidung.
Untersuchen wir, welche Ent
schlüsse Napoleon in diesem Momente gefaßt hat.
Er hatte bis dahin in
den Entwürfen zum Uebergang in auffallender Weise geschwankt und ge wechselt, so fremd solche Unsicherheit sonst seiner Art war.
Im Herbst 1803
schreibt er: la Manche est un fossö, qui sera franchi lorsqu’on aura l’audace de le tenter (25. November).
War das wirklich in diesem
Augenblick seine Meinung, sie ist es nicht geblieben.
Sicher ist, daß er
zunächst mit der Flotille allein überzugehen dachte, wenn er auch später behauptet hat,
er habe sie nur darum mit 3000 schweren Geschützen
armirt, um den Engländern die Meinung zu geben, daß sie im Stande sei, sich selbst den Weg über den Kanal zu öffnen, und hierdurch deren Aufmerksamkeit von den Bewegungen seiner Flotten abzulenken.
Der
Marineminister Decrös und mit ihm die erfahrensten Seeleute Frankreichs
waren der Ansicht, daß der Uebergang mit der Flotille allein unausführbar sei, Decrös hat dieser Ansicht Ausdruck gegeben.
Sämmtliche Befehle
Napoleons vom Mai bis zum Herbste des Jahres 1803 haben aus schließlich die Flotille im Auge, erst im September taucht der Gedanke
auf, den Uebergang der Flotille dadurch zu erleichtern, daß gleichzeitig die
Flotte von Brest ein ansehnliches Truppencorps auf die irische Küste
werfe; ein Gedanke der dann im November und December dieses Jahres festere Gestalt gewinnt.
Der Uebergang war damals für den Februar
oder März des Jahres 1804 in Aussicht genommen.
Die direkte Mit
wirkung der Flotte wurde erst im Frühjahr, Mai oder Juni, 1804 be
schlossen.
Damit trat das Unternehmen in eine ganz neue Phase; der
Uebergang wurde von dem Gelingen der Operationen der Flotte, von einer wenn auch nur temporären Ueberlegenheit der französischen Flotte
d. h. von höchst ungewissen Erfolgen des Seekrieges abhängig gemacht.
Das damit geforderte Zusammenwirken der Flotte und der Flotille ent-
hielt zudem einen Widerspruch in sich.
Die flachen Ruder-Fahrzeuge der
Flotille bedurften der Windstille, die Flotte konnte
ohne Wind nichts
leisten. ES war in jenem Moment, unmittelbar nach der Annahme der Kaiser
würde Napoleons Wunsch, die eben erstiegene Stufe durch eine That des höchsten Glanzes zu bezeichnen, England zu demüthigen bevor er sich die Krone aufsetzte. Admiral Latouche-Tröville sollte mit der Flotte von Toulon
die Blockade brechen, das Geschwader von Rochefort, 5 Linienschiffe, deblockiren
und dann Irland umsegelnd oder direkt in den Kanal einlaufend den Uebergang decken. Latouche-Träville erhielt am 2. Juli Befehl, am 29. Juli
auszulaufen; er werde dann im September im Kanal sein, dessen Nächte
lang genug und dessen Wetter nicht zu schlecht sei.
Eine spätere Ankunft
würde in übleres Wetter führen und deshalb nutzlos sein.
Trotzdem wurde
dann der Abfahrtstermin um vier Wochen hinausgeschoben, da bei der
Flotille noch nicht Alles in Ordnung sei. Latouche-Tröville'S Tod (20. Aug.) ließ diesen Plan dann überhaupt nicht zur Ausführung kommen.
im September durch eine dritte Combination ersetzt. der Flotte von Toulon,
Er wurde
Villeneuve läuft mit
Missiessh mit der Flotte von Rochefort Ende
Oktober auS; jener steuert nach Surinam, dieser nach den Antillen um
möglichst viel englische Schiffe dorthin zu ziehen; sind die englischen Streit kräfte dadurch zerstreut, so läuft Ganteaume mit der Flotte von Brest am 2. December aus, landet Augereau's Corps auf Irland und steuert dann
um Irland oder um Schottland herum in den Kanal, um den Uebergang der Flotille zu decken.
im Februar 1805
Demnach sollte dieser nunmehr im Winter etwa
ausgeführt werden.
Die Ausrüstung der Touloner
Flotte verzögerte sich bis spät in den December.
Das Projekt selbst ge
dieh nur bis zum ersten Schritt der Ausführung.
Missiessh lief mit den
Schiffen von Rochefort am 11. Januar 1805 aus,
Villeneuve am 18.,
seine Flotte wurde jedoch beim Auslaufen so stark beschädigt, daß er sich
alsbald zur Rückkehr nach Toulon genöthigt sah. Inzwischen hatte England der eigenthümlichen Neutralität Spaniens
ein Ende gemacht.
Napoleon hatte beim Ausbruch
mit
zweckmäßiger
England
für
gehalten,
von
des neuen Kriegs Spanien
statt
der
15 Linienschiffe, die es nach dem Vertrage von St. Ildefonso Frankreich
im Kriegsfälle zu stellen verpflichtet war, eine jährliche Beisteuer von 72 Millionen Franks zu begehren.
Spanien zahlte.
Diese Art von Neu
tralität gab England um so größeren Anstoß, als auch die französischen
Kaper in den spanischen Häfen Schutz fanden und jene nach Ferrol ge flüchteten französischen Linienschiffe hier hergestellt und neu ausgerüstet wurden.
Der Krieg zwischen England und Spanien kam im Oktober 1804
zum Ausbruch, an die Stelle der Subsidien Spaniens trat die spanische
Flotte.
Ganz neue Kombinationen verdrängten die bisheriges Entwürfe.
Vom Januar 1805, d. h. seitdem die Mitwirkung der spanischen Flotte fest
stand, beschäftigte Napoleon der Gedanke, die Herrschaft Englands in Indien über den Haufen zu werfen; auf den spanischen Schiffen in Verbindung mit
der Flotte von Toulon sollten 36,000 Mann nach Ostindien geführt und
dort gelandet werden.
Es hieß dies nicht mehr und nicht weniger als
den Uebergang nach England aufgeben und wie Napoleon 1798 den Zug nach Aegypten an die Stelle des ihm zugedachten UebergangS nach England unternommen hatte, so jetzt den Zug nach Indien an die Stelle deS Kampfes
im und jenseit des Kanals setzen.
In den ersten Tagen des März 1805
fiel dann auch dieser Entwurf wieder zu Boden, um durch jenen OperationSplan für die französisch-spanischen Flotten ersetzt zu werden, dessen Aus
führung wir bereits bis zum entscheidenden Stadium verfolgt haben. Nicht mindere Schwankungen und Widersprüche als die Conceptionen
des Kriegsplans zeigen Napoleons Angaben über die Zeit, die die Ueberfahrt der Truppen in Anspruch nehmen,
für welche die Deckung der
Flotte erforderlich sein werde. Am 7. Dezember 1803 sind es zwölf Stunden, am 2. Juli 1804 schreibt er Ganteaume: „Soyons mattres du dötroit six
heures et nous sommes mattres du monde.“
Am 23. November sagt
er demselben: „acht günstige Nachtstunden werden das Geschick deS Welt
alls entscheiden."
Am 8. Mai 1805 sind es 3 bis 4 Tage, während deren
seine Flotten Herr im Kanal sein müßten, am 9. Juni hat sich diese Frist
auf sechs Stunden vermindert, am 16. Juli verlängert sie sich wieder auf 4 bis 5 Tage, am 20. und 26. Juli sind es drei Tage, am 4. August ruft er DecröS zu: douze heures mattres du Canal, et l’Angleterre
a v6cu; am 22. August hatte sich die Frist wieder auf 24 Stunden ge stellt.
Thiers giebt wiederholt seine Meinung dahin ab, daß die Land
armee von Boulogne d. h. jene 132,000 Mann mit 400 Geschützen in zwei bis drei Stunden eingeschifft werden konnten, daß 48 Stunden genügt
haben würden sie aus den Häfen und an die englische Küste zu bringen. Unglücklicher Weise ist Napoleon selbst ganz anderer Meinung gewesen. Nachdem er den Uebergang definitiv aufgegeben hat, gesteht er ein, daß
es unmöglich gewesen sei, während einer Fluth mehr als 100 bis 150 Fahr zeuge der Flotille aus den vier Häfen zu bringen (13. September 1805).
Demnach waren sieben bis acht und überdies ziemlich windstille Tage er
forderlich, die 2000 Fahrzeuge der Flotille in See zu bringen, ganz abgesehen
von den Reserveschiffen, die gegen zehntausend Pferde zu verladen hatten; dazu tritt ferner die UeberfahrtSzeit und die Zeit, die die Landung an der englischen Küste erforderte.
Die englische Flotte hat im Jahre 1854
trotz aller Vorbereitungen und Einübungen, trotz von Varna mitgeführter Prahmen einen vollen Tag gebraucht, um 1100 Pferde auf die ^üste der
Krim zu bringen. Die Operation des Uebergangs erforderte mindestens vierzehn Tage. Napoleon selbst hat dies auch vollständig eingeräumt.
„Meine Flotten", sagt er am 13. September 1805 dem Minister DecröS „mußten vierzehn Tage Herren des Kanals sein, wenn der Uebergang möglich sein sollte." Und wenn nun alles zusammentraf und der Ueber gang trotz Allem glücklich von Statten ging, wenn die englische Armee
geschlagen wurde, wenn Napoleon in London einzog — wären die Flotten Englands nicht von allen Seiten herbeigeeilt, hätte dann nicht eine zweite
Schlacht von Abukir Napoleon in eine noch schlimmere Lage zurückver
setzt als jene, in der er sich nach dem 2. August 1798 in Aegypten be funden hatte?
Nichts ist gewisser als Napoleons ernsthafte Absicht, unter gewissen
Umständen nach England überzugehen und nichts gewisser, als daß er gleich zeitig den Continentalkrieg gewollt, vorbereitet und zum Ausbruch gebracht hat.
Wollte er nichts als
den Uebergang nach England, so
mußte er vor Allem Bedacht nehmen, die Jsolirung, in der sich England beim Ausbruch des Krieges befand, fortdauern zu lassen. Er that das Gegentheil, er wendete alles an, England fest ländische Alliirte zu pressen, um im gegebenen Augenblick einen Krieg auf dem (Kontinent zur Hand zu haben.
Das deutsche Reich, die deutschen
Mächte, Rußland, wurden durch immer weitergreifende Uebergriffe in Un ruhe gesetzt und verletzt, durch Uebergriffe, die sich mit dem Wachsen der Rüstung gegen England steigerten und gerade in dem Moment, als der
Uebergang definitiv erfolgen soll, den Gipfel erreichten. Während die Vorbereitungen zum Uebergang in vollstem Zuge waren, schreibt er einmal Talleyrand: je ne suis pas assez fou pour passer la Manche, si je ne suis pas entierement rassure du eöte du Rhin (August 1804). Er hatte dafür gesorgt und sorgte dafür, hier nicht ruhig
zu sein.
Wenn er mit dem Ausbruche des Krieges gegen England den
Frieden mit dem deutschen Reiche brach und Hannover okkupirte, so mag man das dadurch gerechtfertigt finden, daß er England zunächst nicht an ders zu treffen wußte, während Frankreich auf das schwerste getroffen
wurde; so mochte er auf die Ohnmacht des heiligen römischen Reichs und die Schwäche der derzeitigen Politik Preußens zählen; er konnte sich schwerlich
verbergen, daß er durch diese Okkupation, durch die Vernichtung des deutschen Seehandels, durch die Mißhandlungen Bremens, Hamburgs und Lübecks Preußen in eine Lage dränge, die es früher oder später zum Alliirten Eng lands, zum Gegner Frankreichs machen mußte.
Der Vertrag Frankreichs und Rußlands vom 11. Oktober 1801 ver
pflichtete Napoleon; den König von Sardinien für den Verlust Piemonts
zu entschädigen, das Königreich Neapel nicht anzutasten.
Mit dem Aus
bruch des Krieges gegen England ließ Bonaparte nicht nur Ancona im
Kirchenstaate besetzen, er ließ St. Chr mit 18,000 Mann in Neapel ein
brechen.
„Ich will Eure Staaten nicht nehmen", sagte er dem Ver
treter Neapel'S, „es genügt mir, daß sie meinen Absichten gegen England dienstbar sind."
Neapel hatte nicht nur die Okkupation zu
dulden; es hatte die Besatzungsarmee auf seine Kosten zu unterhalten. Die Ergreifung des Herzogs von Enghien durch französische Truppen auf deutschem Gebiet nahmen daS Reich, Oesterreich und Preußen still
duldend hin; den Protest, den Alexander von Rußland als Garant des Te-
schener Friedens einlegte, erwiderte Napoleon gerade in dem Augenblick, als die Ausführung deS Uebergangs für den Herbst 1804 angeordnet wurde,
mit einer tödtlichen Beleidigung des russischen Kaisers unter dem Hinzufügen, daß Rußland den Krieg haben könne, wenn die letzten russischen Campagnen wären nicht
es ihn wolle;
dazu angethan, ihn denselben fürchten zu lassen, mit der Abbe
rufung seines Gesandten aus Petersburg. Und als dann Rußland die Frage
stellte, ob Napoleon die Verpflichtungen deS Vertrages von 1801 zu er füllen gedenke,
erfolgte ein so schroffes, durch neue Insulten gewürztes
„Nein", daß auch der russische Geschäftsträger aus Paris abgerufen wurde (August 1804).
Gleichzeitig forderte Napoleon von Oesterreich die Aner
kennung deS Kaisertitels nicht nur in bestimmter Frist, sondern auch an
bestimmtem Ort; sie müsse ihm binnen drei Wochen und zwar in Aachen d. h. in der alten Krönungsstadt der deutschen Kaiser übergeben werden, im anderen Falle werde er seinen Gesandten aus Wien abrufen
und diese Abberufung werde andere Folgen haben als der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Rußland, 300,000 Mann ständen bereit
(3. August 1804).
Die Bemühungen Alexanders, mit Preußen und Oesterreich zum Ein vernehmen gegen Frankreich zu gelangen, die zu den Defensivverträgen
vom 24. Mai und 6. November 1804 führten, die
Unterhandlungen,
welche Kaiser Alexander hierauf in London einleitete, blieben Napoleon
schwerlich
ganz verborgen.
Jedenfalls
machte ihm Pitt
Januar 1805 eine belehrende Mittheilung.
hierüber im
Napoleon hatte eS für ange
messen erachtet, den Schritt, den er nach Aufrichtung deS Consulats Eng land gegenüber gethan, nach seiner Kaiserkrönung zu wiederholen.
In
einem an König Georg gerichteten Schreiben gab er sehr vag formulirten
Wünschen für Herstellung des Friedens Ausdruck.
Pitt erwiderte: König
Die Landung in England.
230
Georg vermöge nicht in Verhandlungen einzutreten, bevor er sich mit den Mächten deS Festlands, mit denen er in vertraulicher Verbindung stehe verständigt habe, insbesondere mit dem Kaiser von Rußland.
Diese Er
widerung ging merklich über die Linie der Wahrheit hinaus; eins aber
zeigte sie deutlich, daß England Aussicht habe, auf dem Festlande Bundes genossen zu gewinnen; und wenn Napoleon hierüber noch etwa Unge
wißheit geblieben wären, die Forderung, die Pitt im folgenden Monat
(Februar 1805) ins Unterhaus brachte:
Bewilligung von nicht weniger
als b'/r Millionen Pfund zu geheimen Zwecken, mußte seine letzten Zweifel
zerstreuen. Es war um die Zeit, da Napoleon den letzten OperationSplan für seine
Flotten feststellte, die Befehle zur Ausführung desselben ertheilte, daß er diese Gewißheit erhielt.
War er definitiv entschlossen, den Uebergang auf
jede Gefahr hin auszuführen, so mußte er jetzt wenigstens auf dem Fest lande innehalten.
Er wußte sehr
gut,
daß Oesterreich
damals kaum
weniger friedfertig gestimmt war als Preußen, daß Alexanders Drängen Er war sehr sicher, sein Unternehmen
in Wien ungeneigtes Ohr fand.
gegen England ungestört ausführen zu können, wenn er Oesterreich
nicht weiter provocirte, und gerade in diesem Moment that er
den Schritt, der wenn irgend einer Oesterreich in die Waffen bringen mußte.
Indem er Villeneuve und Ganteaume die Befehle
zum Auslaufen gab, brach er offen den Frieden von Lüneville, der die Unabhängigkeit der cisalpinischen Republik feststellte, erklärte er die Verwandelung derselben in das Königreich Italien und die Vereinigung des
Königreichs Italien mit Frankreich.
Die Consulta in Mailand hatte den
betreffenden Antrag stellen müssen.
Wie oft, wie erbittert, in wie langen
Kriegen hatten seit den Tagen Karl des Fünften Oesterreich und Frankreich
um den vorwaltenden Einfluß in Italien gerungen; jetzt sollte Oesterreich nicht nur Oberitalien und Frankreich in Einer Hand sehen; mit dem
Namen des Königreichs Italien war ausgesprochen, daß Frankreichs Ge
walt über ganz Italien ausgedehnt werden solle; damit war auch der Besitz Venetiens, das der Friede von Lüneville Oesterreich gelassen, in Frage
gestellt und bedroht.
Napoleon ging weiter.
Während er die Vereinigung seiner Flotten
im Kanal erwartete begab er sich nach Italien, um sich die Eisenkrone der
Lombarden aufs Haupt zu setzen.
Von der Klausel der Vereinigung beider
Kronen für die Dauer deS Krieges gegen England, unter welcher dieselbe
zuerst angekündigt worden, war nicht mehr die Rede (28. Mai).
Dem
Abgesandten Neapels, der Glückwünsche zur Krönung brachte, dem Prinzen
Cardito, erwiderte er, daß er der Königin von Neapel (der Tante veS
Kaisers Franz) nicht soviel Land lassen werde, um ihr Grab zu bauen; und als ob dies nicht genüge, erging ein Rundschreiben an alle Vertreter Frankreichs:
Falls sich die Königin von Neapel nicht besiere, werde daS
englische Schiff auf der Rhede sie nicht retten.
Die französisch-italienischen
Truppen wurden in zwei Lagern zusammengezogen,
30,000 Mann bei
Alessandria, ebenso viel hart an der Grenze Oesterreichs am Ufer der Etsch bei dem getheilten Verona, daS damals links der Etsch Oesterreich,
rechts der Etsch Frankreich gehörte.
Jene führten in Napoleons Gegenwart
die Schlacht bei Marengo
diese
auf,
wiederholten
die Schlacht
bet
Castiglione, durch welche er im August 1796 den ersten Entsatzversuch
Mantua'S abgewtesen hatte.
Dem General Vincent, der ihn Seitens
Oesterreichs an der Grenze Venetiens zu begrüßen abgeordnet war, sagte er: man spreche von einer Coalttton zwischen Oesterreich und Rußland; er fürchte den Krieg nicht und verstehe denselben zu führen.
So zwang
er nach Rußland auch Oesterreich in das Lager Englands hinüber.
Nicht minder bezeichnend ist die Zurückweisung aller Vermittelungs versuche und die Art, in der dies gerade in dem entscheidenden Mo
ment geschah.
Kaiser Alexander beabsichtigte eine Ausgleichung zwischen
Frankreich und England mittelst Abordnung eines besonderen Unterhänd lers; Novosiltzow war für diese Mission auSersehen.
Der König von
Preußen erbat aus Alexanders Veranlaffung die für diesen erforderlichen
Pässe.
ungestörter Ausführung des Ueber-
Wollte Napoleon Frist
gangeS gewinnen, so lag nichts näher, als die angebotene Verhandlung
anzunehmen.
Napoleon wieS dieselbe zurück, indem er sie vertagte: da
die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Rußland abge
brochen seien, könne Rußland die Stellung eines Mediators nicht bean
spruchen; auch wenn er hierüber hinweg sähe, sei ein Erfolg von dieser
Unterhandlung doch nicht zu erwarten; er wolle den Abgeordneten Alexan ders zwar empfangen, jedoch erst Ende Juli in Paris.
Die dies Schreiben
an Friedrich Wilhelm III. begleitende Note sprach deutlicher:
Kaiser
Alexander sei von England verführt; eS sei dem Golde Eng lands nicht schwer geworden, diesen corrumpirten Hof zu be
stechen;
es
werde
früher
oder später
zum Kriege
kommen,
Frankreich sei darauf vorbereitet (4. Juni 1805). Neue Annexionen in Italien folgten: das Gebiet von Genua, der ligurischen Republik, ver
größerte Frankreich um vier Departements; Parma, Piacenza, Guastalla
und Lucca traf dasselbe LooS.
Die Annexion Genua'S entschied Alexanders Entschluß; er rief seinen
Unterhändler, der schon Berlin erreicht hatte, zurück; er ratificirte den mit England vereinbarten Vertrag, der von seinem Minister bereits am
Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 3.
16
11. April gezeichnet war.
Auch Oesterreich'S Entschluß wurde durch die
Annexion Genua'S, durch
eine kategorische Forderung Alexanders
schieden.
ent
Am 7. Juli erklärte sich Kaiser Franz bereit, mit Rußland in
die bewaffnete Mediation zwischen Frankreich und England einzutreten,
befahl er die Mobilmachung der österreichischen Armee. AIS Napoleon am 8. Juli Mailand verließ, um den Moment der
Vereinigung seiner Flotten im Kanal nicht zu verfehlen — er erwartete
deren Erscheinen Ende Juli oder Anfang August, hatte er Rußland und
Oesterreich auf die Seite Englands gedrängt, war der Krieg auf dem Continente in Bereitschaft gestellt.
Wie zögernd und schwer sich Oesterreich
entschlossen, wesentlich um Napoleons AllSgreifen gegenüber die Anlehnung
an Rußland nicht für immer zu verscherzen, war ihm nicht verborgen;
er hatte eS in der Hand, durch Eingehen auf die Mediation, durch geringe Concessionen Oesterreich zu beruhigen und zurückzuhalten.
Ueberblickt man die lange Reihe der kecken Griffe Napoleons auf dem
Festlande gegen die bestehenden Verträge seit dem WiederauSbruch des Krieges gegen England, so kann es nicht befremden, daß die gesammte Diplomatie nicht an den Ernst der UebergangSabsichten Napoleons glauben
mochte; am wenigsten die preußische, welche, zum Unheil Preußens, in jenen Jahren in der Lage war, am besten über Stimmungen und Vorgänge in den regierenden Kreisen Frankreichs unterrichtet zu sein.
1803 berichtete Lucchesini:
Schon im Oktober
Napoleon denke auf einen Krieg gegen
Oesterreich, der ganz andere Chancen biete, als der Uebergang
na ch England. Er bleibt unbeirrt dabei: es sei mit allen Vorbereitungen am Kanal nur auf ein Schreckmittel für England abgesehen, nur darauf abgesehen, England zu ermüden; die eigentliche Absicht sei gegen Oester
reich gerichtet.
Als Napoleon den entscheidenden Schritt gegen Oesterreich
gethan, die Vereinigung der Kronen Italiens und Frankreichs ausgesprochen
hat (17. März 1805), sagt Lucchesini: Eurer Majestät Neutralität ver sichert, zählt Napoleon auf sehr rapide Siege gegen Oesterreich, bevor Ruß
lands Streitkräfte herankommen; daß Oesterreich seiner Seits nicht vor
August angreifen könne, hält Napoleon für gewiß. Graf Philipp Cobenzl, Oesterreichs Vertreter in Paris, war etwas
geneigter an Ernst gegen England zu glauben; doch sagte Kaiser Franz schon im Sommer 1803 dem Gesandten Napoleons in Wien mit naiver Offenheit oder Überlegtester Schlauheit:
„wenn der Erste Consul den
Uebergang nach England nicht ausführt, wird er sich auf uns zurück
werfen*)".
Erst seit Mitte Juli des Jahres 1805, insbesondere seit Na-
*) Thiers Consulat et l’Emp. 5, 392.
poleonS Rückkehr aus Italien in der zweiten Hälfte dieses Monats giebt Lucchesini zu, daß eS mit dem Versuch des UebergangS möglicher Weise Ernst werden könne.
„Die Bewegungen in den Lagern", so berichtet er
am 13. Juli, „und der Marsch neuer Truppen an die Küste erneuern die
alten Gerüchte vom Uebergange nach England.
Ich sehe mit Erstaunen,
daß die früherhin Ungläubigsten durch die Dreistigkeit und Kühnheit der
Versuche Napoleons (man hatte eben in Paris Kunde, daß Villeneuve Martinique erreicht habe) erschüttert sind."
Und
„Die Truppenmärsche an die Küste mehren sich.
einige Tage später:
In allen Lagern haben
Uebungen der Einschiffung stattgefunden, niemals ist die Einschiffung so ernsthaft betrieben worden.
Man will mit den Flotten vom Texel und
Brest etwas unternehmen; die Flotille
soll demonstriren."
glaubt Lucchesini noch nicht an den Uebergang. fort:
Auch jetzt
Am 23. Juli fährt er
„Napoleon wird nach Boulogne gehen: er beabsichtigt wenigstens
die Franzosen zu überzeugen, daß er den Stoß wagen will, der seit zwei
Jahren als Schreckmittel Englands dient.
Die Aufmerksamkeit der Eng
länder wird an demselben Tage auf verschiedene Punkte gezogen und so
versucht werden 25,000 Mann nach Irland zu werfen — oder mit der Flotille zu landen.
Alle die Napoleon in St. Cloud gesprochen haben,
sind mit der Ueberzeugung zurückgekehrt, daß
er einen
coup d’6clat
machen will." Lucchesini war nicht schlecht unterrichtet.
Auch nach Thiers' Erzählung
sagte Napoleon Cambac^räS in diesen Tagen: ich werde die Welt durch die
Größe und Schnelligkeit meiner Streiche in Erstaunen setzen.
In der
That war Napoleon der Ausführung des UebergangeS niemals so nahe
gewesen als in diesen Tagen.
Er erwartete das Eintreffen Vtlleneuve'S
in Ferrol gegen Ende Juli: die Befehle die am 16. Juli für ihn dorthin
abgingen, lassen deutlich erkennen, wie Napoleon die Lage ansah.
„So
bald Villeneuve in Ferrol und mit den dortigen Schiffen vereinigt sei, habe er Rochefort und Brest zu deblockiren.
Sodann habe er mit den
Geschwadern von Rochefort und Brest oder mit dem einen oder dem an dern denselben, Irland oder Irland und Schottland zu umsegeln, um so dann im Texel mit der holländischen Flotte zusammenzustoßen, mit dieser
dann die Ueberfahrt im Kanal zu decken.
Habe Villeneuve jedoch Ver
luste erlitten oder träten unvorhergesehene Ereignisse ein, so solle er, nach dem er seine Vereinigung mit den Schiffen in Ferrol bewirkt, mit der
gesammten Flotte in den Hafen von Cadix einlaufen."
Eine doch höchst auffällige Weisung.
Nichts natürlicher und vor
sichtiger in der That als das MtSlingen des großen Entwurfs in Rech
nung zu stellen und einen geeigneten Zufluchtshafen für solchen Fall an-
16*
zuwetsen, aber zugleich doch ein unwiderleglicher Beweis, daß Napoleon auch auf ein MiSlingen der Deckung des UebergangeS durch die Flotten,
d. h. auf den Verzicht auf den Uebergang, vorbereitet und gefaßt war. Aber wie kommt er dazu, dem Admiral noch im letzten Moment feine
ohnehin sehr schwierige Aufgabe noch weiter zu erschweren, indem er ihm die Umsegelung Irlands und Englands, die Vereinigung mit der holländi
schen
Flotte im
Texel vorschreibt?
Der Befehl vom 16. konnte am
25. Juli in Ferrol fein,, war Villeneuve bereits dort und segelfertig, führte
er ihn auf der Stelle auS, so konnte er, auch wenn kein Zwischenfall etntrat, wenn er wirklich Rochefort und Brest deblockirte und deren Schiffe
an sich zog (was keines WegS leicht war, derselbe Wind der ihn an diese
Häfen führte, erschwerte den in denselben ankernden Schiffen das Aus
laufen) auf dem nunmehr vorgeschriebenen Wege nicht vor Ende September
im Texel sein; jeden Falls war damit die Ausführung des UebergangeS
wiederum von der Mitte deS August auf die Mitte des Oktober hinauSgefchoben. Aber dies war nebensächlich. Der dominirende Gedanke der Combination war doch der, die Flotten überraschend in den Kanal zu bringen.
Man wußte in Paris vor dem 12. Juli und Napoleon wußte
eS besser als die Pariser, daß Nelson in Verfolgung Villeneuve's nach den Antillen steuere; gaben der Aufenthalt Villeneuve's in Ferrol, die Kämpfe von Rochefort und Brest Nelson nicht Zeit, von Westindien zurück
zusegeln, Villeneuve zu erreichen, so mußte doch die durch den neuen Operationsplan vorgeschriebene Umsegelung der brittischen Inseln den Eng ländern unzweifelhaft Frist gewähren, alle ihre Flotten im Kanal zu ver
einigen, bevor Villeneuve den Texel erreichte.
Die Grundlage des ganzen
Entwurfs fiel damit zu Boden, das Gelingen bei solcher Verzögerung wurde so gut wie unmöglich.
Napoleon blickte in diesen Julitagen nicht nur auf den Ocean.
An
demselben Tage, an dem er jenen Befehl an Villeneuve diktirte, wies er
seinen Stellvertreter in Italien, den Vicekönig Eugen an, mit der Verproviantirung der italienischen Festungen zu beginnen und dieselbe der
gestalt anzuordnen, daß sie bis Ende September vollendet sei; die ita lienische Armee (er hatte diese seit April successiv verstärkt) allmählig zu vereinigen (16. Juli); St. Chr in Neapel Verstärkung zu senden, damit
sich dieser im gegebenen Moment dort auf die Hauptstadt stürzen könne.
In Frankreich dirigirt er die schwere Kavallerie, die gesammte Infanterie, die an dem Uebergang nicht Theil zu nehmen bestimmt ist, nach Mainz. Wegen anderweiter Besetzung Hannovers werden gleichzeitig Unterhandlungen mit
Preußen eingeleitet; für den Fall der Verwendung des dortigen Okkupationscorps an der Donau war Ersetzung desselben geboten, wenn Hannover
England nicht wieder in die Hand fallen sollte.
Noch vor dem Ende des
Monats folgte das Angebot Hannovers an Preußen gegen den Abschluß
einer Allianz mit Frankreich.
Daß diese Allianz Oesterreich zurückhalten,
dem Festlande den Frieden bewahren werde, lag nahe genug zu versichern,
wenn eS nicht überdies durch Hardenberg an die Hand gegeben worden
wäre. Kam es noch zum Uebergang, so konnte Preußens Uebertritt zu Frankreich allerdings für die Hemmung Oesterreichs nützlich und wirk
sam sein. Am 26. Juli ersah Napoleon auS den englischen Zeitungen,
daß
Villeneuve in den ersten Tagen des Juni Martinique verlassen habe,
aber zugleich hatte er ihnen die höchst fatale Nachricht zu entnehmen, daß der durch Nelson von den Antillen entsendete CuriouS am 9. Juli in
England gelandet sei. zu treffen.
Man war demnach dort in der Lage, Gegenanstalten
Er nahm an, daß Magon Villeneuve bei Martinique nicht mehr
erreicht habe, daß Villeneuve der früheren Instruction gemäß auf Cadix steuern. Er sandte ihm dorthin Befehl, die dort inzwischen gerüsteten Schiffe
an sich zu ziehen, aber nicht länger als vier bis fünf Tage dort zu verweilen, sich dann nach Ferrol, von da mit den dortigen Schiffen vereinigt gegen
Brest zu wenden, danach im Kanal zu erscheinen.
Die Eskadre von
Rochefort fei inzwischen selbständig ausgelaufen (am 18. Juli), Villeneuve
werde sie in Cadix treffen, wohin dieselbe befehligt sei.
Bon der Um
segelung Irlands und Schottlands ist in diesem Befehl vom 26. Juli nicht
wieder die Rede. Lucchesini berichtet am 2. August nach Berlin:
Die Zeitungen in-
juriiren Oesterreich und Rußland, es scheint, daß Napoleon den Krieg pro vociren will.
In Boulogne angekommen, erläßt Napoleon von hier auS
am 3. August eine höchst kategorische Aufforderung an Oesterreich: abzu
rüsten; unmotivirte Zusammenziehungen an den Grenzen deS Nachbars
kämen
in
aller
4. August nach
Welt
einer
der
Kriegserklärung
großen Revue
über
gleich,
während
die Armee
er
am
von England
Decrös schreibt: „die Engländer wissen nicht was ihnen am Ohr hängt". Tallehrand aber sagt er:
„Mit der Note vom 3. hat das Drama be
gonnen"; und seine Minister versicherten Lucchesini, der Krieg gegen Oester
reich sei beschlossene Sache (6. August), der Kaiser werde unverzüglich 100,000 Mann von Boulogne nach Straßburg führen (9. August).
Am
siebenten August brachten die englischen Zeitungen Napoleon die ersten Nachrichten von Villeneuve's Kampf bet Vigo. wenigstens keine
Er sah, daß seine Flotten
Niederlage erlitten hatten, was dann am folgenden
Morgen (8. August) Villeneuve's Bericht aus Vigo bestätigte. Ziel, die spanische Küste, war erreicht.
Das nächste
müssen Napoleon die Aussichten auf weiteres Gelingen
Dennoch
seiner Flotten nicht glänzend erschienen sein.
Jeden Falls lag vor, daß
die Engländer vorbereitet und auf der Hut waren; es stand nicht fest, daß die Deblockirung Ferrols Nelsons Eskadre zu
gelingen werde, jeden Augenblick konnte
Calders Schiffen stoßen, ihrer Vereinigung war
Villeneuve kaum gewachsen.
Tags zuvor, am siebenten August, war Na
poleon der Vorschlag Oesterreichs zugegangen: an die Stelle der Unter handlung NowosiltzoffS eine allgemeine Verhandlung über die Fragen treten zu lassen, welche Europa beunruhigten.
Lag Napoleon daran, den Krieg
auf dem Festlande hintanzuhalten, Frist für den Uebergang zu gewinnen,
so mußte er den Vorschlag Oesterreichs mit beiden Händen ergreifen. einer scharf gefaßten Note ließ
er ihn sofort zurückweisen.
In
Er befahl
BessiöreS: den Theil der Garde, der noch in Paris stand, nicht nach Boulogne abmarschieren zu lassen, ihm den General Dessolles zu senden, der
Moreau'S Stabschef im Donaufeldzuge deS JahreS 1800 gewesen war (8. August).
An der Pariser Börse sanken die Curse, seitdem sich hier
in den letzten Tagen deS Juli die Meinung verbreitet hatte, der Ueber gang solle tn'S Werk gesetzt werden.
„Beruhigen Sie die Geldleute. mit Sicherheit geschehen kann.
Napoleon schreibt Barbs MarboiS:
Es wird nichts gewagt werden, was nicht Meine Angelegenheiten stehen zu gut,
um Ruhe und Glück meines Volkes zu vielen Zufällen preiszugeben.
werde landen,
aber ich werde nur unter allen
Ich
angemessenen Chancen
landen." Villeneuve'S glückliche Ankunft in Ferrol vernahm Napoleon durch dessen Bericht vom 2. August, den er am 11. August empfing.
Es war
ein guter, anscheinend doch höchst hoffnungsreicher Schritt Wetter zur Er füllung des großen OperationöplanS. Zugleich zeigte Lauriston, Napoleon'S
Adjutant, den er Villeneuve beigegeben, an, daß „dieser fortfahren werde,
wie er begonnen."
Gravina schrieb freilich dem Minister Decrss: „Wir
haben eine sehr langsame Ueberfahrt gehabt; eS sind 60 Tage ver flossen, seitdem wir Martinique verlassen.
Der Feind hat sich ralliirt;
wir werden angegriffen, wenn wir auslaufen; selbst wenn wir siegten,
haben wir vor Brest noch ein Mal zu schlagen (3. Aug.)".
Napoleon muß die Aussichten für das Erscheinen der Flotten im
Kanal nicht minder unsicher und nicht minder ungünstig angesehen haben wie der spanische Admiral; er muß wie dieser angenommen haben, daß
die englischen Flotten vor Ferrol vereinigt seien; er sagt am Tage nach
der Ankunft dieser Berichte Tallehrand: Wenn die Oesterreicher nicht Tirol verlassen, so fange ich Krieg an (12. August), und eröffnet
ihm sodann:
„DaS mit unserer Note vom 3. August begonnene Drama
ist mit der Note vom 7. August fortgesetzt worden, die dritte Note muß eS zum Schluß bringen.
Mein Entschluß ist gefaßt, ich will Oester
reich angreifen und im November in Wien sein.
Sagen Sie
Philipp Cobenzl, ich hätte die Feindseligkeiten gegen England bereits sus-
pendirt; ich ginge nicht mit 150,000 Mann nach England, so lange Oester
reich gerüstet sei.
Oesterreich müsse binnen vierzehn Tagen
abrüsten,
binnen vierzehn Tagen seine Truppen auS Tirol und Venetien zurück ziehen (13. August)." An CambacöröS, dem am weitesten in seine Geheim nisse Eingeweihten schreibt er desselben TageS: entwaffne Oesterreich nicht, so werde er ihm eine Visite mit 200,000 Mann machen.
Der Würfel war geworfen. sprechen ließ, war der Krieg.
Die Sprache, die Napoleon Talleyrand
Talleyrand übergab die Note am 14.; der
Termin war demnach vor Ende August abgelaufen.
Daß Oester
reich auf dies Commando abrüsten werde, war Napoleons Meinung nicht;
die Antwort, so sagt er selbst, „wird uns nur schöne Phrasen bringen." Lucchesini berichtet, die Officiere in den Lagern von Boulogne sprächen
nur noch vom Marsch nach Deutschland, die Corps seien eingetheilt, die
Befehlshaber ernannt (16. August). In der That hatte Napoleon am 13. August mit dem Seekriege, dem
Uebergang nach England gebrochen und sich an den Landkrieg gegen Oester
reich gebunden — um so auffälliger der Befehl, den er desselben Tages an Villeneuve nach Ferrol erläßt.
Einigen Lobsprüchen für die Schlacht
vor Vigo folgt die Weisung: auszulaufen und den Feind dreist anzu
greifen, wenn er nicht stärker als 24 Linienschiffe sei. dieser Befehl
werde den Admiral nicht mehr in Ferrol
äußerster Spannung erwarte
er ihn im Kanal.
Er hoffe,
finden; mit
„Wenn Sie nur drei
Tage, nur 24 Stunden hier erscheinen, ist die Macht vernichtet, die Frank
reich seit sechs Jahrhunderten unterdrückt."
Den Marineminister wies er
an: „Villeneuve Vorwürfe darüber zu machen, daß er eine kostbare Zeit in Ferrol verliere", so wie über allerlei Nebendinge, die der Admiral auf
den Antillen versehen haben sollte, worauf es jetzt am wenigsten an kommen konnte.
Welchen Sinn hatte dieser Befehl, der frühstens am 22. August in Ferrol sein konnte? Daß Napoleon in der That glaubte, der Befehl werde
Villeneuve dort noch antreffen, geht nicht sowohl daraus hervor, daß er ihn dorthin schickte, als daraus, daß derselbe die Weisung enthält, zur Erzwingung der Ausfahrt zu schlagen, wenn der Feind nicht mehr als 24 Schiffe zähle.
Nelsons und Calders Flotten vereinigt, zählten mehr als 24 Linienschiffe.
Napoleon kannte die Zahl genau, er sagt Decr^S am 14. August: wenn
sie auch vereinigt wären, würde der Mangel an Proviant sie bald wieder
Was konnten ihm Villeneuve'S Auslaufen, und
zur Trennung nöthigen.
feine möglichen Erfolge noch nützen, nachdem er sich für den Krieg gegen Oesterreich gebunden? Die Oesterreich gestellte Frist lief am 28. August
ab; Villeneuve konnte, wenn er nach Empfang des Befehls augenblicklich auslief, die feindlichen Flotten angriff — vorausgesetzt, daß sie nicht über
24 Segel zählten — wenn er sie schlug, so glücklich schlug, daß er keine
Havarieen auSzubessern hatte, nicht vor Mitte September vor Brest er scheinen, wo dann alles noch ein Mal vom Ausgange der neuen Schlacht
abhing, die er hier gegen CornwalliS, dessen Blockadegeschwader voraus
sichtlich durch die Flotte
von Spithead verstärkt war, wenn nicht auch
Calder und Nelson zur Stelle waren, zu schlagen hatte, abhing.
That
sächlich lagen die Dinge so, daß Nelson sich nicht mit CalderS Flotte ver einigt hatte (Calder hatte das Commando wegen nicht ausreichenden Erfolgs
bei Vigo an Collingwood übergeben müssen), er war in richtigem Gefühl, an der entscheidenden Stelle sein zu müssen, von Gibraltar aus direkt
nordwärts gesteuert, und vereinigte sich am 15. August auf der Höhe von Oueffant mit der Flotte des Lord Cornwallis. Napoleon mag überrascht gewesen sein, daß am 20. August eine Meldung Villeneuve'S in Boulogne eintraf, welche anzeigte, daß er bereits am 11. August mit 29 Linienschiffen ausgelaufen sei.
Der Bericht Lau-
ristons meldete positiv: „wir gehen nach Brest".
Dem Marinemtnister
sagte Villeneuve: er kämpfe gegen den Nordwind.
„Meine Schiffe segeln
schlecht, wir werden viel zu thun haben, wenn wir zwanzig Linienschiffen
begegnen.
Nelsons und Calders Geschwader scheinen vereinigt zu sein.
Ich weiß noch nicht, was ich thun werde.
Gelange ich nach Brest, so muß
ich dort wieder Lebensmittel einnehmen."
Villeneuve war ausgelaufen, ohne den Feind vor dem Hafen zu
finden, er war auf der Fahrt nach Brest.
Napoleon sah sich wieder auf
den Seekrieg, auf den Uebergang nach England gewiesen.
Ganteaume er
hielt Befehl, sich zum Auslaufen und zur Unterstützung Villeneuve'S be
reit zu halten, als am 22. August ein weiterer Bericht auf der Höhe von Kap Ortegal am
13. August von Villeneuve erstattet,
einlief:
eS sei
gegen den Nordwind nicht vorwärts zu kommen, zugleich bringe ein Handelsschiff die Nachricht, daß 25 feindliche Schiffe gegen ihn heran
segelten (die Nachricht war falsch).
Er werde unter diesen Umständen die
Fahrt nach Brest kaum fortsetzen können; eS sei möglich, daß er sich nach
Cadix wenden müsse.
In Besitz dieses Berichts verlangt Napoleon die
Meinung seines Marineministers, was zu thun sei, wenn Villeneuve in
Cadix bleibe; seines Erachtens würde er dort Lebensmittel einnehmen, die spanischen inzwischen zu Cadix und Karthagena gerüsteten Schiffe an
sich ziehen können, um dann mit diesen tm Kanal zu erscheinen.
Erwiderung Decrös' kannte er im Voraus:
Die
Zwei Monate Lebensmittel
seien zu wenig, d'Estaing'S Eskadre habe 70 bis 80 Tage von Cadix nach Brest gebraucht.
Die Herbststürme nahten, eS sei zu spät im Jahre,
daS Projekt demnach zu verschieben. Napoleon hatte eS bereits aufgegeben, wenn er auch noch am 22. August
Ganteaume die Weisung
geschickt hat,
den Befehl über Villeneuve'S
Flotte zu übernehmen, Falls er nach Brest komme.
Er wartete nicht auf
die Kunde, ob Villeneuve Brest oder Cadix erreicht habe; er warf feine
Armee an die Donau.
Die Oesterreicher ahnen nicht, -sagt er Tallehrand,
wie schnell meine 200,000 Mann pirouettiren werden (25. August).
Er
hatte den Uebergang bereits am 7. August aufgegeben, als er die Unter
handlung
welche Oesterreich
vorschlug, ablehnte und den
Marsch der
Garden nach Boulogne inhtbirte, d. h. am 7. und 8. August.
Er hatte
ihn aufgegeben, sobald ihm der Kampf bet Vigo gezeigt hatte, daß die
Engländer Vorkehrung gegen die Vereinigung, seiner Flotten getroffen, daß
ein überraschendes Erscheinen derselben im Kanal nicht mehr zu erwarten war. Immerhin konnte ein außerordentlicher Glücksfall eintreten.
Auf ein falsch
verstandenes Signal: die Flotten kämen, (die englischen waren gemeint)
waren noch ein Mal 60,000 Mann an Bord der Flotille gegangen*).
Je
länger er am Kanal verweilte, je tiefer er in dies Projekt verwickelt schien, um so überraschender konnte er die Armeen Oesterreichs treffen.
Mit
den Truppenmärschen zu eilen hatte er keinerlei Grund, er wußte sehr gut, wie sehr Oesterreich in der Rüstung zurück war und je weiter, je dreister
die österreichische Armee gegen den Rhein herankam um so gewisser war er im Vortheil.
Die Dinge waren gegangen, wie sie mußten.
Auf den Uebergang
durch seine Drohungen, durch die Meinung Frankreichs, durch seine Lage, durch die Unmöglichkeit England anders zu treffen hingedrängt, hatte er
daneben von vorn herein den Ausweg des Continentalkrieges vorbereitet
und festgehalten.
Je näher er der Ausführung deS UebergangS kam, um
so deutlicher zeigte sich, welche unübersehbare Gefahren hier
zu über
winden, wie unsicher der Erfolg war, — wie viel leichter, wie ungleich gefahrloser der andere Weg war,
wie viel sicherere Erfolge der höchst
sorgfältig vorbereitete Krieg gegen Oesterreich bot. krieg über den Uebergang davon.
So ttug eS der Land
Aber der Verzicht auf den Uebergang,
das Aufgeben eines so prahlerisch verkündeten Unternehmen-, an welchem dritthalb Jahre ununterbrochen gearbeitet worden war, *) Lucchesini'S Bericht vom 30. August.
der vergebliche
Aufwand so immenser Anstrengungen von Hunderttausenden, der vergeb
liche Aufwand so vieler Millionen durften dem Kaiser nicht zur Last fallen.
Die zureichendste Deckung deS Kaisers war erreicht, wenn der Flottenführung die Schuld, die ganze Schuld zugeschoben wurde; jeder Vorwurf glitt am
sichersten von Napoleon ab und fiel mit erdrückender Schwere auf den unglücklichen Admiral, wenn man denselben mit der äußersten Ungeduld,
mit athemloser Spannung bis zum letzten Augenblick, bis zur Grenze der Möglichkeit erwartet zu haben schien.
Diesem Zwecke dienen alle nach
dem 7. August an Villeneuve, Ganteaume und Decrös erlafienen Befehle, die fingirten Zornausbrüche gegen Villeneuve.
Das ist die Wahrheit der Legenden, die bei Bignon, bei Thiers, bei Sögur zu lesen sind.
Die schönste derselben: wie Napoleon als er
erfahren, daß Villeneuve in Ferrol sei, in großartiger Anstrengung den
wildesten Zorn bezwungen, Dar» befohlen habe, die Feder zu ergreifen und nun in Einem Zuge den Feldzugsplan gegen Oesterreich diktirt habe;
auf Tag und Stunde wie in diesem vorgesehen, sei die große Armee in München und Wien gewesen — diese Fabel bedarf am wenigsten der Wider
legung.
Napoleon
widerlegt.
Napoleons Befehle wiesen Villeneuve nach Ferrol. selbst die Gläubigen der englischen
Expedition
Zudem hat sehr
scharf
Nach Metternichs Versicherung sagte er diesem im Mai 1810:
„Niemals wäre ich thöricht genug gewesen, die Landung in England zu
unternehmen; den Fall allein ausgenommen, daß eine Revolution in Eng land ausgebrochen wäre.
gegen Oesterreich.
Die Armee von Boulogne war stets die Armee
Ohne Verdacht zu erregen, konnte ich sie nirgend an
ders plactren, irgendwo mußte sie formirt werden: in Boulogne erfüllte
sie den doppelten Zweck, vereinigt zu sein und England mit Besorgniß zu erfüllen.
Kam es dort zu einem Aufstand so hätte ich ein Detaschement
meiner Armee zu dessen Unterstützung hinübergeworfen und wäre Euch
nicht weniger auf den Hals gefallen; meine Armee war für diesen Behuf echelonntrt (Memoiren 1, 45)." ES ist nicht die ganze Wahrheit, die Napoleon in diesen Worten
ausgesprochen hat.
Nicht ganz frei in das Projekt des Unternehmens ein
getreten, hat er sich allerdings von vorn herein einen Ausweg vorbereitet;
je weiter er in den Vorbereitungen zum Uebergang kam, um so größere Dimensionen schienen erforderlich, um so schwieriger erschien daS Gelingen. Fest stand aber, daß der neue Kaiser nicht scheitern durfte, wenn er Kaiser
bleiben solle.
So wurde schließlich alles auf einen großen GlückSfaü, auf
die Vereinigung der Flotten im Kanal gestellt.
Als dessen Eintreten höchst
unwahrscheinlich wurde, hat Napoleon keines Wegs ungern auf den Ueber gang verzichtet, um den wohl vorbereiteten sicheren Erfolg an die Stelle
241
Die Landung in England.
des unsichersten, verwegensten WagniffeS zu setzen.
Die Schuld der Unter«
lassung fiel auf den Admiral. Auch ThierS, trotz Allem was er in der Darstellung des UebergangSprojelleS zur Glorificirung feines Helden aufzuwenden für nöthig befunden
hat, ist die Wahrheit nicht verborgen geblieben.
sich selbst aufS Gründlichste widerlegt, auS:
Er spricht sie, indem er
„ES gab zwei Wege, sagt
er (5,40), England zu überwältigen, der eine sich Brust an Brust mit ihm
im Kanal zu soffen, der andere Englands Alliirten auf dem Kontinente zu zerschmettern.
Im Grunde war der zweite Weg leichter, er schien sicherer
und wenn weniger direkt doch nicht minder wirksam." poleonS Meinung.
Das war auch Na«
Er hat jenen nicht beschritten, er hat den scheinbar
leichteren vorgezogen; daß er der wenigst sichere war, hat der AuSgang
bewiesen.
Max Duncker.
Die irische Landftage. Bon
Ludwig Freiherrn von Ompteda.
Seit den letzten fünf Monaten bietet uns Irland ein Schauspiel
welches wohl in jedem anderen zivilisirten Lande seines Gleichen sucht.
In vielen Theilen der Balkaninsel ist zwar die Sicherheit für Leben und Eigenthum nur unvollkommen, aber selbst in diesen Außenschlägen euro päischer Kultur giebt eS doch keine allgemeine organisirte Verschwörung zu dem ausgesprochenen Zwecke: das Gesetz deS Landes mit Füßen zu
treten. In Irland befindet sich eine solche Verschwörung seit dem vorigen
Sommer in erfolgreichster Thätigkeit. „Das englische Gesetz ist gebrochen!" so sagt jetzt mit Stolz der irische Bauer im Süden und Westen, in einem großen Theile des Ostens und
auch bereits in einigen nördlichen Districten der Insel.
Dieses „englische Gesetz" bedeutet vor allem:
die Gesammtheit des
geltenden Rechtes über Grundbesitz und Pachtverhältnisse. Beide Institute haben dort eine völlig eigenthümliche Entwickelung
genommen, die bereits vor Jahrhunderten begonnen hat und heute noch nicht zum Abschlusse gekommen ist.
Bei dieser Entwickelung wirken eine
Reihe verschiedenartigster, treibender und hemmender Momente mit:
Geschichte Irlands
die
als eines eroberten Landes, seine Behandlung als
eine englische Kolonie, die Rassenverschiedenheit zwischen Engländern und Iren, die ftühere politische Stellung beider als Herrscher und Beherrschte,
ihr religiöser Gegensatz als Katholiken und Protestanten. Für eine Erörterung der, jetzt wieder brennenden irischen Landfrage ist eS daher wohl nicht unzweckmäßig, meinen Lesern zunächst einige An
gaben auS der Geographie des Landes ins Gedächtniß zurückzurufen und ihnen dann eine kurze Skizze jener älteren geschichtlichen Hergänge vorzu
führen.
Denn beides muß
man sich vergegenwärtigen um die jetzige
Lage der dortigen Dinge zu verstehen.
I.
Etwa- irische Geographie. Wenn man sich die Oberfläche der Grünen Insel als ein Oval vor stellt, dessen Spitzen nach Norden und Süden weisen und dessen Länge sich
zur Breite wie 5:2 verhält, wenn man dann über diese- Oval ein lie gende- Andreaskreuz zieht, so fallen in die vier Au-schnitte ziemlich zu
treffend die vier Provinzen Irland-.
Im Norden: Ulster; im Osten,
am irischen Kanal«: Leinster; im Süden: Munster; im Westen, am atlanti
schen Ozean: Connaught.
Jede dieser Provinzen zerfällt in mehrere Graf
schaften. Die Bevölkerung der Insel beträgt etwa- mehr al- 5*/3 Millionen
Davon sind etwa 4V, Millionen Katholiken, 700,000 Anglikaner,
Seelen.
500,000 schottische Presbyterianer, 65,000 verschiedene Dissenter.
Der
Flächengehalt Irlands Beträgt etwa 1500 geographische Quadratmeilen oder 8 Millionen Hektaren.
Hievon sind nicht anbaufähig.................. 0,9
Mill. Hektaren — 2,5Mill.
Acres
anbaufähig, aber nicht angebaut
1,9
„
„
— 4,75
„
„
Wiesen und Weiden....
2,8
„
„
—7
„
„
„
„
—6
„
„
Ackerland.............................. 2,4
In Prozenten ausgedrückt betragen: Wiesen, Weiden undSümpfe
....
50 Prozent
Ackerland............................................................... 25
„
Wald....................................................................... 1
„
Torfmoore..........................................................13
„
Wasserflächen........................................................... 5
„
Städte und Ortschaften.....................................6
„
Die Bodenbildung Irlands ist eine wellige Tiefebene, mit Seen, Sümpfen und Torfmooren.
Nur. im Westen, namentlich in der Provinz
Connaught erheben sich steile nackte Felsgebirge.
wöhnlich reich an natürlichen Wasserstraßen.
Das Land ist unge
Es enthält etwa 150 Quadrat
meilen Torfmoore, bedeutende Steinkohlenlager und reiche bauwürdige Erzgänge. Das Klima der Smaragdinsel ist sprichwörtlich:
naß und kühl.
Im Süden und Westen steigt der durchschnittliche jährliche Regenfall bis
zu 50 englischen Zollen (130 Centimeter); im nördlichen und östlichen Theile beträgt er gegen 35 Zoll (79 Centimeter). nur 20 Zoll (52 Centimeter).
keit gesättigt.
Im östlichen England
Die Atmosphäre ist fast stets mit Feuchtig
ES fehlt das heiße Sommerwetter, dagegen' auch die Winter
kälte; das ganze Jahr hindurch herrscht eine durchschnittliche Frühlings-
Die irische Landfrage.
244
Die vorwaltenden Südwestwinde sind sehr heftig.
temperatur.
Obst geräth nicht da das Holz nicht reift.
Edleres
Dagegen überwintern im
Süden die Agaven und Kamelien, Myrthen und ArbutuS im Freien.
Der Weizen geräth nur sehr ausnahmsweise in Irland; er giebt
viel Stroh aber leichtes schlechtes Korn.
namentlich auf kräftigem Boden. baut.
Auch der Hafer ist mislich,
ES wird fast nur schwarzer Hafer ge
Dagegen ist das Klima vorzüglich geeignet für Gras und alle
Den Kartoffeln ist eS bekanntlich bereits seit einer
Futtergewächse.
Reihe von Jahren verderblich geworden.
Der Boden leidet fast überall
an Nässe; im Untergründe steht Torf. Diesen natürlichen Verhältnissen entsprechend ist die GraS-
und
Viehwirthschaft in Irland sehr verbreitet und gewinnt fortwährend an Ausdehnung.
Hierauf drängen zudem in neuester Zeit die hohen Vieh-
und Futterpreise, die niedrigen Kornpreise, die Auswanderung und die Steigerung der Arbeitslöhne in vielen Gegenden, mehr und mehr hin.
ES wuchsen im Jahre:
1857.
1873.
Getreide, Kartoffeln und Futter im Wechsel auf
2,8 Mill. 1,9 Mill. Acres
GraS auf
13 19 4^1Dr'ill73^8'Mill. Acre«.
Kartoffeln wurden gebaut: 1858:
auf.............................1,16 Millionen Acres
1873:
auf....................... 0, 9
Nur im Nordosten und Osten der Insel ist daS Klima dem Ackerbau
günstiger, indem dort die sogenannten ewigen Weiden nicht auSdauern. Die Viehbestände werden angegeben zu: 500,000 Pferden; 4 Mill.
Stück Rindvieh; 4,2 Millionen Schafe; 1,2 Millionen Schweine.
Ihr
Gesammtwerth wird geschätzt auf 40 Millionen Pfd. Sterling. Erheblich ist nur die Leinenindustrie; sie existirt nur im Norden, in und um Belfast: 930,000 Spindeln und 80,000 Stühle. —
II. Rückblicke auf Irlands Geschichte.
Die ersten feindlichen Berührungen zwischen England und Irland
fanden bereits im Jahre 1169 statt.
Zu dieser Zeit zerfiel die Insel
in fünf Königreiche nebst einem Oberkönige für Krtegszeiten.
In diesen
fünf Reichen lebte die keltische Bevölkerung unter der Herrschaft einer Unzahl von kleinen Häuptlingen.
Hader und Fehde gehörte zu den ver
fassungsmäßigen Institutionen des Landes.
Endlich rief ein vertriebener
Reichsfürst, der König von Leinster — er hatte die schöne Frau seines Nachbars entführt — die Intervention des Königs von England, Hein-
rrchS II an.
Dieser besaß allerdings bereits einen Rechtstitel auf die
Insel.
Eine päpstliche Bulle hatte ihn im Jahre 1156 mit Irland be
lehnt.
Nach heftigen Kämpfen befestigten sich die Engländer im östlichen
Theile der Insel.
Ihr Gebiet nahm in den folgenden Jahrhunderten
abwechselnd zu und ab.
Unter Heinrich VII, im Anfänge des sechszehnten
Jahrhunderts, war der Bestand auf dem niedrigsten Punkte angekommen. Unter Heinrich VIII und Elisabeth machte die Eroberung der Insel wieder reißende Fortschritte und kurz nach der Thronbesteigung Jakobs I (1603) erschienen die beiden letzten besiegten Häuptlinge von Ulster, O'Donnel und
O'Neil in Whttehall um ihrem Oberherrn zu huldigen.
Die Unterwerfung Irlands war nur durch die wildeste und rück sichtsloseste Grausamkeit erzwungen worden, durch Massenmord und Hun-
gerSnoth.
„Die Ernten wurden Jahre lang systematisch zerstört; die
Menschen lebten von Feldkräutern; man fand Haufen von Leichen deren Mund grün war von ihrer letzten Nahrung: Nesseln und Sauerampfer; viele Gegenden, namentlich der Süden, waren beinahe vollständig ent völkert."
Der vierhundertjährige Kriegszustand hörte jetzt auf.
ES war den
Engländern ferner nicht mehr verboten: „Irländerinnen zu heiraten, ihre
Kinder von den Frauen irischer Häuptlinge und Gutsherren säugen zu lassen, und den Irländern englische Waaren zu verkaufen." Jedoch wurde Irland auch ferner ganz offen wie ein erobertes, erst
zu kolonisirendeS fremdes Land behandelt.
Alle alten nationalen Ein
richtungen waren geschwunden. Die englischen Kolonisten hatten zwar ein Parlament in Dublin, die Beschlüsse desselben mußten jedoch, nach der
PoyningS- Akte, vorher durch den Geheimen Rath in London genehmigt
sein.
Die englische Gesetzgebung wurde über ganz Irland erstreckt.
Dem
nach waren die englischen Kolonisten allerdings nur Engländer „zweiter
Klasse", aber sie konnten sich ohne den Schutz des Mutterlandes nicht
halten.
„Sie entschädigten sich", sagt Macaulay „indem sie die Einge
borenen unter ihre Füße traten."
Die gesammte Verwaltung war in den
Händen geborener Engländer oder englischer Kolonisten;
tischen Bevölkerung ingrimmig verhaßt.
beide der kel
Unter Elisabeth waren etwa
600,000 AcreS, unter Jakob I etwa 800,000 Acres Land confiözirt und in englische Hände übergegangen. —
Uebrtgens hatte eine Königliche Verordnung im Jahre 1612 alle Stammes unterschiede zwischen Engländern und Irländern abgeschafft
„in der Absicht, daß sie in ein Volk zusammenwachsen, wobei aller frühere Hader und alle Zwietracht zwischen ihnen gänzlich vergessen und vertilgt werden solle". —
Die englischen Herrscher suchten die neue Reformation der eng
lischen Kirche auch in Irland durchzuführen.
Die Irländer jedoch blieben
Die Ursache dieser Standhaftigkeit war nur
ihrem alten Glauben treu.
zu einem Theil ihre unentwickelte Kultur. Als wir Deutsche Protestanten wurden
standen wir zugleich gegen die römische Fremdherrschaft auf.
Die verhaßten Fremdherren der Irländer aber waren die protestantischen
TudorS.
Früher kämpften Kelten gegen Sachsen, jetzt auch noch Katho
liken gegen Protestanten.
ES war ein ReligionS- und Rassenhaß.
Mit
den Irländern vereinigten sich viele alte englische Kolonisten die irisch
geworden waren und sprachen; sogenannte „degenerirte" Engländer. ,Die Sieger entrissen der alten Kirche ihr gesammteS Vermögen und statteten da mit eine zahlreiche protestantische Hierarchie von 4 Erzbischöfen, 18 Bischöfen
und vielen Pfarrern ohne Gemeinden aus.
Dabei blieb es.
Eine Be
kehrung der Besiegten durch Belehrung wurde nie ernstlich versucht. Die Bibel wurde nicht in die Landessprache übersetzt. —
Nach wenigen Jahren brach ein blutiger Aufstand in der nördlichsten Provinz Irlands, in Ulster auS.
Die großen Besitzungen der rebellischen
Häuptlinge O'Neil und O'Donnel nebst ihren Gefolgschaften wurden ein gezogen, die Eingeborenen starben und verdarben.
mit Tausenden protestantischer,
Bald
war Ulster
englischer und schottischer, Einwanderer
bevölkert.
DaS Land bekam jetzt wieder ein Parlament. zig geschlossenen Burgflecken das Wahlrecht.
Jakob I. verlieh vier
In jedem wählten die Ge
meindevorstände, bestehmd auS dreizehn Protestanten, je zwei Abgeordnete
zum irischen Unterhause. — Im Jahre 1641 befand sich der König Karl I in der Vorbereitung zum Kampfe mit seinem Parlamente. auch in Irland.
der
Der Funken der Rebellion zündete
Die Veranlassung dazu gab die Thätigkeit eines von
englischen Regierung niedergesetzten „Ausschusses zur Untersuchung
mangelhafter Ansprüche". Der König konfiSzirte durch diesen Gerichtshof in drei Landschaften über zwei Millionen Acres Land.
Die erkennenden
Richter erhielten Sporteln: vier Schillinge von jedem Pfund Sterling des Werthes aller Ländereien die sie der Krone zusprachen.
Der damalige
Regent von Irland, Lord Strafford, rühmte sich öffentlich dieser praktischen
Maßregel.
„Er habe auf diese Weise die Richter dahin gebracht: die
Sache zu betreiben als wäre sie ihr eigenes persönliches Geschäft." Darauf brach der Bürgerkrieg auS.
In Ulster sollen damals binnen
vierzehn Tagen 20,000 Engländer ermordet sein.
Da die protestantischen
Sachsen sich auf die Seite des Parlaments stellten, so vergaßen die kel
tischen Katholiken alle Unbill die der König ihnen soeben noch angethan
und hingen seiner verlorenen Sache mit verzweifelter Beharrlichkeit an. Nach seinem Tode (1649) übertrugen sie ihre Treue auf Karl II. Im Jahre 1650 erschien Cromwell selbst in Irland und unterwarf
binnen wenigen Monaten die ganze Insel so vollständig wie sie noch nie mals in den Kämpfen mehrerer Jahrhunderte unterworfen gewesen war.
Er schlug die Iren mit der Schärfe des Schwertes wie einst Israel die Kanaaniter.
Ganze Städte wurden öde und wüst.
Dann verschiffte er
gegen 80,000 Menschen nach den westindischen Inseln. entflohen auf den Kontinent.
Viele Tausende
Alle irischen Katholiken sollten nach Con-
naught (im Westen der Insel) und nach Clare (im Südwesten) zusammen gedrängt werden.
DaS geräumte Land wurde abermals mit kalvinistischen
Sachsen bevölkert. —
Karl II (1658—85) befahl ein Kompromiß zwischen seinen früheren
rebellischen englischen Unterthanen in Irland und zwischen seinen getreuen
katholischen Irländern, wonach die „ Cromwellianer" ein Drittel ihres Besitzes den früheren Eigenthümern wieder herausgeben mußten.
Die
anderen zwei Drittel wurden ihnen dagegen durch Parlamentsakte gesetzlich garantirt. (Act of Settlement 1660.) Die Ausführung dieser Maßregel war eine äußerst willkürliche.
Unter anderem fielen dabei für den Herzog von
Aork (später Jakob II) 80,000 Acres ab, welche die irischen Katholiken
nicht zurück erhielten.
Der Posten des Lord Lieutenants von Irland wurde
damals auf etwa 40,000 £ jährliche Einkünfte geschätzt. —
Unter Jakob II (1685 bis 1689) bahnte sich eine Umwälzung des Verhältnisses zwischen den beiden Bevölkerungen Irlands an, welche zu
nächst den Katholiken und Kelten für kurze Zeit die Oberhand verlieh, dann aber mit ihrer definitiven Niederwerfung endigte.
Der König wollte,
in seinem kurzsichtigen Fanatismus, sich in Irland eine ergebene recht
gläubige Macht bilden, um mit dieser dann seiner ketzerischen Gegner in England Herr zu werden.
regeln.
ES erfolgte eine Reihe gewaltsamer Maß
Die Protestanten wurden, als das Land bereits unmittelbar vor
dem Bürgerkriege stand, durch des Königs Statthalter Lord Thrconnel
entwaffnet; dann wurden sie aus allen Staats- und Gemeindeämtern ver
drängt.
Etwa sechstausend alte gediente Soldaten wurden auS der irischen
Armee entlassen und durch ungediente katholische Offiziere und Soldaten ersetzt.
Man bedrohete die Protestanten mit Aufhebung der Act of Settle
ment von 1660, auf welcher ihre Besitztitel beruheten. Durch diese unsinnigen Maßregeln wurden die reicheren, gebildeteren,
standhafteren, zur Selbstregierung erzogenen und auf den starken Rück
halt im Mutterlande bauenden zweihunderttausend Kolonisten zur Nothwehr
gegen die Million armer, unwissender, halbwilder Eingeborner, unter ihren Prmßisch« Jahrbücher. Bd. XLV1I. Heft 3.
17
Letztere konnten sich
verarmten und verkommenen Häuptlingen, getrieben.
nur auf ihren Rassenhaß und auf die trügerische Parteinahme des schwachen
und falschen Königs stützen. Die Feindseligkeiten begannen in völlig ähnlicher Weise wie wir sie auch jetzt in den
englischen Zeitungen verfolgten.
Brand, Raub und
Plünderung, Mord, Vernichtung der Heerden und — keine Justiz mehr!
Die vom Könige beabsichtigte Umwandlung war im besten Wege und fast vollzogen als — der Prinz von Oranten in Torbah landete (1689) Jakob floh nach Frankreich und die Revolution in Irland brach offiziell auS. Wilhelm III. nahm zwar auch den Titel König von Irland an, aber dieses
Königreich war damals faktisch vollständig von der Oberherrschaft der
dortigen englischen Kolonisten emanzipirt.
Viele vorr diesen waren ent
flohen; die Zurückbleibenden verschanzten sich in befestigten Landhäusern» Bald jedoch waren die Protestanten im Süden und Westen niedergeworfen.
Im Norden waren sie auf zwei feste Plätze in der Provinz Ulster be schränkt : Londonderry und Enniskillen.
Der heldenmüthigen Vertheidigung
dieser beiden Orte ist in der englischen Geschichte eine verdiente Erinne
rung bewahrt geblieben.
Der jakobitische Lord Lieutenant in Irland griff
jetzt, auf Befehl des Königs in St. Germain, zu den äußersten Mitteln. Er rief die ganze irische Nation zu den Waffen.
Wohl niemals wurde
einem solchen Aufrufe vollkommener entsprochen.
Die Flagge auf dem
königlichen Schlosse in Dublin erhielt das Motto: „Jetzt oder nie! jetzt
und für immer!" Es galt für die „Vier Fünftel" keltischer und katholischer
Einwohner: daS eine Fünftel protestantischer Engländer, welchem „Vier Fünftel" des Landes gehörte, zu vernichten.
Bald standen 100,000 Men
schen unter Waffen; die kleinere Hälfte von ihnen mittelmäßige Soldaten,
die größere Hälfte Banditen. Die Zerstörung von Eigenthum,
welche
durch
diese Räuberban
den verrichtet wurde, war unglaublich. Nach dem Bericht des fran zösischen Gesandten d'Avaux, der den König Jakob II nach Irland be
gleitete, wurden binnen sechs Wochen: 50,000 Stück Hornvieh und gegen 400,000 Schafe getödtet. Jetzt erschien Jakob selbst in Irland, auf französischen Schiffen, mit
vierhundert Offizieren und einer Geldunterstützung von 112,000 S.
Der
ordentliche Krieg begann und die jakobitische Armee überschwemmte bald
ganz Ulster. In dieser äußersten Noth zeigten die angelsächsischen Kolonisten ihre bedeutenden Eigenschaften.
„Sie hatten" sagt Macaulay, „alle Fehler und
Tugenden eines herrschenden Stammes.
Sie waren, gegenüber der unter
worfenen Klasse, hochmüthig unverschämt herrschsüchtig und grausam."
Jetzt kamen ihre guten aristokratischen Eigenschaften zur Entwickelung und Geltung: Unerschrockenheit, Umsicht, Fähigkeit sich selbst zu helfen,
Edelmuth, Zähigkeit des Entschlusses, Aufopferung. Die gemeinsame Noth entwickelte den Egoismus zum Patriotismus. Der Kampf um die beipen festen Plätze dauerte mehrere Monate lang. Inzwischen tagte ein katholische- Parlament in Dublin. ES arbei
tete mit riesenhafter Energie um die Act of Sentlement und alle EigenthumSwechsel auS dem letzten Jahrhundert ohne jede Entschädigung rück gängig zu machen. Eine Proskriptionsliste wurde aufgelegt und bald von den verschiedenen Mitgliedern des Parlamentes mit beinahe dreitausend Namen bedeckt. Prüfung des einzelnen Falles fand nicht statt. Mehr als 2400 protestantische Grundbesitzer verloren damals ihre Güter wieder an Katholiken. Endlich kam Hülfe aus England. Londonderry wurde entsetzt. Ennis killen befreite sich selbst durch einen heldenmüthigen Ausfall. König Äakob
zog sich mit seiner Armee nach Dublin zurück und verrieth für seine eigne Person Neigung zu einer weiteren rückgängigen Bewegung auf den Kon
tinent. Der Marschall Schomberg landete mit einer kleinen englischen Armee in Ulster und deckte den Norden während deS Winters. Im nächsten
Juni (1690) erschien König Wilhelm III selbst mit einem größeren Heere. Er schlug seinen Schwiegervater und die irische Armee am Boynefluß und drang bis in den Süden vor. Im August machte er einen vergeb lichen Versuch: Limerick, im äußersten Südwesten, zu erobern und kehrte darauf nach England zurück. Marlborough erhielt den Oberbefehl. Nur über den Westen erstreckte sich noch König Jakobs Gewalt. Am 1. Oktober 1691 kapitulirte Limmerick. Der Civtlvertrag über diese Kapitulation ist für unsere Frage von hervorragender Wichtigkeit insofern, als darin den Katholiken daS Versprechen gegeben wurde: sie sollten in der Ausübung ihrer Religion soviel Freiheit genießen als mit dem Gesetze vereinbar, oder soviel als sie unter der Regierung Karl'S II. genossen hätten. Ferner verbürgte man ihnen den gleichen Schutz deS Gesetzes für ihr Leben und Eigenthum wie jedem andern Unterthan. Zu
lassung zu öffentlichen Aemtern oder Wahlbürgerrecht war ihnen nicht versprochen. — Damals wanderten 18,000 Jakobiten aus. alle katholischen Höfe und Länder Europas, wo und „O" vor ihrem Namen erkennbar sind. neuem und in Irland war Friede. Mehr als ohne allgemeinen Aufstand. Die Oberherrschaft
Sie verbreiteten sich über sie noch an dem „Mac" DaS Volk huldigte von ein Jahrhundert lief ab der Kolonisten war jetzt 17*
eine absolute.
Sie saßen allein im Parlamente, denn der Suprematseid
und die Erklärung gegen die TranSsubstantiation schloß die Katholiken thatsächlich auS.
Aber dieser Friede war nicht die Ruhe der Zufrieden
heit.
„Es war" sagt Macaulay, „gänzliche Stumpfheit und Gebrochen
heit.
DieseSmal hatte der Stoß des englischen Schwertes die Irländer
in's Herz getroffen."
Dennoch klagten die Protestanten bald wieder über
zu große Begünstigung der alten Eigenthümer. Wie wurde nun der Civil-Vertrag von Limerik auSgeführt?
Er wurde fast in jeder seiner Bestimmungen auf das schamloste verletzt. Und zwar systematisch, durch ein vollständiges wohl überlegtes und be
rechnetes System von Strafgesetzen.
„Die Penal Laws" — so schilderte
sie Burke in seiner leidenschaftlichen Beredtsamkeit — „waren ein Trieb
werk von kluger und
überdachter Erfindung und so wohl geeignet zur
Unterdrückung, Verarmung und Erniedrigung eines Volkes und selbst zur
Herabwürdigung der menschlichen Natur in ihm, als jemals eines aus dem verderbten menschlichen Scharfsinne hervorgegangen ist".
AuS dem reichen Inhalte dieser Gesetze will ich nachstehende — mir anfangs selbst kaum glaubliche und deßhalb in verschiedenen Quellen sorg
sam kontrollirte Einzelheiten hervorheben.
1.
Kein Katholik konnte seiner katholischen Ehefrau ein Wttthum
auösetzen, oder letztwillig über sein Grundeigenthum verfügen. setz theilte seinen Landbesitz gleichmäßig unter seine Söhne.
Das Ge Wurde die
katholische Ehefrau protestantisch so fiel ihr die Erziehung der Kinder zu und der Mann mußte ihr dafür ein angemessenes Einkommen aussetzen.
2.
Wurde der älteste Sohn eines katholischen Grundbesitzers pro
testantisch so machte er dadurch seinen Vater zum „gebundenen Nutznießer
auf Lebenszeit".
Der protestantische Sohn wurde unbeschränkter Eigen
thümer. 3.
Die Katholiken konnten ein Grundstück weder unter Lebenden noch
„von Todeswegen" erwerben.
Wenn ein Katholik ein Grundstück für Geld
gekauft hatte so konnte jeder Protestant ihm dasselbe abnehmen ohne das
Kaufgeld zu erstatten.
4. pachten.
Kein Katholik durfte ein Grundstück auf länger als 31 Jahre
Jeder Protestant konnte ihm diese Pachtung ohne Entschädigung
abnehmen. 5.
Kein Katholik durste ein Pferd besitzen daS mehr als 5 £ werth
war! Jeder Protestant konnte jedem katholischen Eigenthümer jedes Pferd für 5 £ abnehmen!!
6.
bannung.
Kein Katholik durfte Unterricht ertheilen, bet Strafe der Ver
7.
Jede- Kind welches in Irland eine katholische Schule besuchte
oder im Auslande erzogen wurde, verwirkte dadurch sein gesammteS sub jektives EigenthumSrecht und seine Erbfähigkeit.
8.
Keiti Katholik konnte Soldat (geschweige denn Offizier) werden.
Ebensowenig: Richter, Sheriff, Anwalt, Gutsverwalter, selbst Wildhüter. Er konnte nicht Mitglied der politischen Gemeinde sein.
Er hatte weder
aktives noch passives Wahlrecht zum Parlamente (1727). Demnach wurden die irischen Katholiken, nachdem sie systematisch von
den Eroberern ausgeplündert waren, nun ebenso systematisch einer, gesetz lich genau geregelten, Verfolgung unterworfen die den Zweck hatte: sie ihrem Glauben abtrünnig zu machen. Die Protestanten besaßen jetzt aus
schließlich alle Wege zu Ehre und Wohlstand.
Um so inniger klammerten Während 71 nun folgender
sich die Katholiken an ihren Glauben an.
Jahre hatten jene Strafgesetze 4055 Konvertiten geschaffen.
Nach die
sem Verhältnisse hätte es — wie Arthur Ioung berechnet hat — noch
4000 Jahre gedauert bis Irland auf „dem gesetzlichen Wege" protestan tisch geworden wäre.
Warum war der alte Glaube so mächtig? zwischen zwei feindlichen Stämmen bezeichnete.
Weil er die Scheidung
„Er war das Symbol
des NationalgetsteS"; sagt Lecky in seiner Geschichte der Aufklärung. „Sein Fortbestand beweist die Lebenskraft eines politischen (Partei- und Raffen-) Gefühls."
Daher milderte auch der Widerruf dieser Verfolgungsgesetze In keiner
Weise den konfessionellen Eifer der Irländer. — Indessen
gewährten,
sobald
äußerlich Ruhe und Friede hergestellt
waren, die reichen natürlichen Hilfsquellen des Landes rasch die Kräfte für das erneuete Aufblühen. Die Lage der guten westlichen Häfen Irlands in relativer Nähe von Nordamerika entwickelte einen lebhaften Kolonialhandel. — Die englischen
Kaufleute klagten bald über „freie Konkurrenz"! Im Jahre 1663 machte das englische Parlament ein Gesetz, nach welchem keine europäische Ware
in eine englische Kolonie anders importirt werden durfte als aus eng
lischen Häfen und auf Schiffen, in England gebauet und mit englischer Bemannung.
Nach einer ergänzenden Akte von 1696 dursten keine Pro
dukte aus anderen Kolonien direkt nach Irland importirt werden. — Seit dem Jahre 1665 war irisches Rindvieh eine steigende Quelle deS Wohlstandes für die Insel geworden.
klagten über „freie Konkurrenz".
Die englischen Rindviehzüchter
Im Jahre 1680 wurde ein Gesetz er
lassen, kraft dessen aus Irland nach England kein Hornvieh keine Butter
und kein Käse importirt werden dursten. —
Dann verlegten sich die irischen Landwirthe auf die Schafzucht.
In
wenigen Jahren hatte sich eine Wollindustrie entwickelt die zu exportiren begann. Jetzt klagten die englischen Wollfabrikanten über „freie Konkur
renz". ES wurde ein Ausfuhrzoll auf irische Wollwaren gelegt. Er wirkte nicht hinreichend und im Jahre 1699 wurde die Ausfuhr irischer Wollwaren irgendwohin verboten.
Die Industrie wurde erstickt und
erstarb; 25,000 Menschen wurden erwerblos. Das Leinengewerbe war in Irland uralt, es existirte seit dem 15. Jahr
hundert. Im Jahre 1700 hatte sich diese Industrie zu hoher Blüthe ent wickelt. Aber 1705 erschien ein englisches Gesetz: „die Irländer durften zwar ihr Leinen nach den Kolonien verschiffen, ihre Schiffe durften aber
keine Rückfracht nach Europa nehmen". DaS war eine freundliche Rück sicht gegen das verbündete Holland. Die irische Fischerei ist sehr ergiebig. WaS Wunder, daß im An
fang des achtzehnten Jahrhunderts die Fischer in Folkstone nnd anderen Plätzen am Kanale das Parlament mit Klagen bestürmten: „die Iren fingen zu viele Heringe bei Waterford und Wexford und ruinirten damit ihnen den englischen Markt". — Im Jahre 1778, unter den Erschütterungen deS amerikanischen Bürger krieges trat die erste Milderung der „Strafgesetze" ein. Die Katholiken konnten nun Land in Zett- oder Erbpacht nehmen, aber nicht als freies Eigenthum erwerben. Im Jahre 1782 wurde ihnen gestattet: volles Ei genthum an Grundstücken zu erwerben und Schulen zu eröffnen. Der neue Wettbewerb der Katholiken im Pacht- und Kaufgeschäfte steigerte den Werth deS Grundeigenthums in Irland sehr erheblich. Im Jahre 1792 wurde den Katholiken gestattet: Anwälte, städtische
Freibürger und Obersten in der Armee zu werden. Zugleich wurde ihnen
das aktive und passive Wahlrecht für das Parlament zurückgegeben. Die Ideen des Jahrhunderts hatten unter den protestantischen Irländern einen mehr nationalen und weltlichen Geist zur Herrschaft gebracht. Die neuen französischen Ideen begannen nun aber auch unter den irischen Katholiken immer stärker Wurzel zu fassen. Im Jahre 1786 ent
stand bereits der geheime Orden der „Right Boys". Seine katholischen Mitglieder verpflichteten sich eidlich: „den Zehnten an die protestantischen Pfarrer nicht mehr zu zahlen. Erst im Jahre 1793 wurde ein — allerdings obsolet gewordenes — Gesetz abgeschafft welches die Katholiken zwang: die protestantische Kirche
zu besuchen. Darauf machte sich, 1796, der Bund der „United Jrishmen" geltend. Er zählte damals bereits: 100,000 Mitglieder. Im Jahre 1797 zählte
er deren: 500,000.
Der angebliche Zweck war:
nach der neuesten französischen Doktrin.
Freiheit und Gleichheit
Das eigentliche Ziel war: Irland
in eine freie und unabhängige Republik zu verwandeln.
Bereits 1798
brach der Aufstand auS; er miSglückte weil seine rein politischen, doktnnären Zwecke von der großen Masse nicht verstanden wurden.
Heerd
waren hauptsächlich die Städte.
Sein
Dennoch kamen 30,000 Men
schen um.
Im Jahre 1801 wurde die Vereinigung des irischen Parlamentes mit dem englischen durchgeführt. Wie später der große Repealer O'Connel
behauptete:
„durch ein Zusammenwirken von Schrecken, Tortur, Gewalt,
Betrug und Bestechung".
Namentlich scheint der letztgenannte Hebel mit Energie angesetzt zu sein. Die Bestechungen sollen sich — nach O'Connel — auf etwa 3 Mtlionen S belaufen haben.
Allein die Kaufgelder für wahlberechtigte Burgflecken
seien 1,25 Millionen £ gewesen.
Dazu Ernennungen von PairS, Regi-
mentSschefS, Oberrichtern und Bischöfen. —
Seit dieser „Union" hatte Irland an der politischen Entwickelung Groß
britanniens integrirenden Theil; namentlich an der Emanzipation der Ka
tholiken (1829) und der Reformbill (1832). ES folgte später O'ConnelS
Bewegung für Wtederauflösung der Union von 1801.
In dieser trat
jedoch die Landfrage als solche nicht abgesondert hervor; die damaligen
Forderungen waren mehr rein politische.
Ich darf daher wohl hier den
Faden der äußeren Geschichte Irlands fallen lassen und gehe über zur
Betrachtung der
III. Geschichtlichen Entwickelung der irischen Landverhältnisse.
Der irische „Peasant Tenant" ist eine wirthschaftliche Figur die fast in jedem anderen Lande Europas ebenfalls aufgetreten ist.
Wir sehen in
ihm den „Bauer deS Landes" ohne erbliches Recht, ohne getheiltes
Eigenthumsrecht.
Er ist kein Bauer nach Meterrecht, kein bäuerischer
Aftervasall, kein — mehr oder weniger persönlich unfreier — Grundholde,
kein ErbenztnSmann: er ist aber andererseits auch kein bäuerlicher „kon traktlicher" Pächter.
Die Gesammtheit der bäuerlichen Grundstücke einer zusammengehö
rigen Mehrheit von Haushaltungen war wohl in ältesten Zeiten fast überall im Kommunionbesitze: eine „Gemeinheit", wie noch heute in Ruß
land. Von Zeit zu Zeit wurden die Grundstücke nach Bedürfniß zur Nutz nießung vertheilt. Die einzelnen Feldlagen deS artbaren Landes waren in Ackerstücke
(acres) zerschnitten und jeder Haushalt bekam in jeder Lage sein Feld-
stück zugewtesen.
Diese Zerstreutheit der Ackerstücke war überall ein karak-
teristisches Kennzeichen deS „Bauernlandes".
Zu dem Eigenthümer des
Landes — ihrem Oberherrn — standen diese bäuerlichen HauShalter in keinem kontraktlichen Verhältnisse.
Sie saßen seit undenklicher Zeit
auf dem Lande, lebten davon, konnten nicht davon getrennt werden.
Die
lange Gewohnheit hatte ihre Dienste und Leistungen fixirt, aber auch nicht
minder ihren „Landgebrauch".
land".
Daneben hatte der Gutsherr sein „Hof
Im Laufe langer Jahrhunderte hatte, in den meisten Ländern,
der „Landgebräucher" ein erbliches beschränktes Eigenthumsrecht erworben.
Endlich gestattete ihm das Gesetz, den Antheil deS Gutsherrn an seiner
bäuerlichen Hofstelle — das Obereigenthum — diesem abzukaufen.
So
war der Verlauf in Deutschland, so in England bei den „Copyholders“.
Neben diesen letzteren bildet in England der „Tenant farmer“, der bäuer
liche Pächter eine besondere, der Zahl nach jetzt und schon seit langen Zeiten, weit überwiegende Klasse.
Er sitzt auf dem Hof lande (desmene)
deS Gutsherrn, stand von jeher zu diesem in einem rein kontraktlichen Verhältnisse und war ein persönlich freier Mann (libere tenens). moderneren englischen bäuerlichen Pächter finden sich auch in Irland. gehören jedoch nicht zum Urbestande der Einwohnerschaft.
Diese
Sie
Sie sind kontrakt
liche Kolonisten die an die Stelle der verjagten ursprünglichen irischen Bauern gesetzt waren.
Aber warum hatten sich diese letzteren nicht in Irland zu erblichen beschränkten Eigenthümern entwickelt?
Jene englischen Pächter fanden sich bis zum sechszehnten Jahrhundert nur innerhalb des Bezirkes der englischen Eroberung.
Außerhalb desselben
erhielt sich das ursprüngliche nationale System: der Häuptlinge, ihres „septs“ — ihrer Sippe — und des gemeinsamen StammeS-EigenthumS
beider am Lande.
Dieses System war in England durch die normannische
Eroberung (1066) und die Gründung des LehnSstaateS beseitigt worden.
Die irische „Sippe" hatte, gleich dem schottischen Clan: BlutSgemeinschaft, sie führte einen gemeinsamen Namen.
lichen Bienenschwarm.
Sie glich einem mensch
Der Häuptling war die gewählte Königin.
Die
einzelnen Hausstellen, homesteads, lagen in Haufen von vier oder sechs, in Quarters, Quartieren zusammen. Vier solcher Haufen bildeten zusammen
ein townland (Zaunland).
Letzteres — die Ortschaft — ursprünglich
120 Acres — 50 Hektaren enthaltend, war wohl die Einheit des GesammteigenthumS.
Sämmtliche townlands bildeten die „Sippe".
Diese Verfassung bestand nachweislich beinahe eintausend Jahre.
Im
sechsten oder siebenten Jahrhundert war Irland getheilt in: 184 Septs, welche 5,520 Townlands
enthielten deren jedes in Quarters zu sechs
HomesteadS zerfiel.
Im Jahre 1598 zählte man 6814 TownlandS mit
109,000 bis 163,000 HomesteadS. Nach dem irischen Herkommen wurden die Ländereien unter sämmt
liche Männer deS Sept gleichmäßig
vertheilt.
Bei
einem Todesfälle
erbten nicht die Söhne, sondern der Häuptling machte eine neue Ber
theilung des gestimmten Septlandes und gab jedem volljährigem Manne seinen Theil.
Daher war aller Besitz unsicher und der ewige Wechsel
eine hauptsächliche Ursache der wtrthschastlichen Barbarei.
Der lebenslänglich gewählte Häuptling deS SeptS hatte außer
dem ein ausreichendes Hofland auf welchem auch die HauSstellen feiner Dienerschaft lagen.
Zugleich bezog er von jedem Mitgliede seiner Sippe
die verschiedensten Leistungen und Dienste.
Er überließ seinen Stamm-
Bettern sein überflüssiges Jungvieh und ihren Frauen seine Kinder — zur Aufzucht: Beziehungen, durch welche das Gefühl der Stammesgemeinschaft
wesentlich belebt wurde. Zwischen diesen Sippen-Häuptlingen und den Königen stanpen dann
wiederum ebenfalls gewählte „Landeshäuptlinge". So lebten die Iren noch zur Zett Jakobs I (1603) in tausendjäh rigen tief eingewurzelten nationalen Ueberlieferungen.
Persönliches Eigen
thum am Lande war ihnen fremd, ebenso GutSherrltchkeit und Gutsunter-
thänigkeit.
Und dieselbe Neigung deS Bienenlebens, des Schwärmens
und unregelmäßigen zerstreueten EtnntstenS auf dem alten Septlande, zeige'n die Eingeborenen noch heute, trotz allen nationalen englischen Gesetzen und Kultur-Mandaten. — Im Jahre 1570, unter der Königin Elisabeth, erging nun ein Gesetz, nach welchem die irischen „Landgüter" zu Lehn aufgetragen und dann durch
königlichen Lehnbrief den Landeshäuptlingen als freies Eigenthum (de-
mesne) versichert werden sollten.
Dadurch wurde der bisherige Ober-
Häuptling alleiniger freier Eigenthümer deS gefammten SeptlandeS.
Alle
Unterhäuptlinge gingen anscheinend leer aus, alle anderen Mitglieder der Sippe waren besitzlose und jederzeit entsetzbare Bauern (tenants at will)
geworden.
Durch diese Unsicherheit deS Landgebrauches ging die wirth-
schaftliche Entwickelung deS Landes womöglich noch mehr rückwärts als vorwärts. Unter Jakob I erkannte man diesen Fehler.
Rechte der Unterbesitzer zur Geltung zu bringen.
Man beschloß jetzt: die ES wurde daher bei
jeder LehnSauftragung von Seiten eines der großen Landeshäuptlinge sein
freies Hofland von dem Grundbesitze feiner Gefolgschaften getrennt; ebenso in diesen daö Hofland deS SepthäuptlingS.
Sämmtliche Naturalleistungen
der Septmitglieder wurden in feste Rente verwandelt.
Auf diesen Grund-
256
Die irische Landfrage.
lagen wurden allen Betheiligten ihr privativer Besitz zugewiesen, der bäuerliche mit den Ablösungsrenten belastet.
Wäre diese, wohlthätige und wahrhaft erleuchtete Maßregel zur Durch
führung gelangt, hätte sie Zeit gehabt sich einzulebm, so wären heute die irischen Grundherren die absoluten Eigenthümer ihrer Hofländereien, die irischen Bauern aber wären jetzt freie — abgelöste und konsolidirte — Grundbesitzer.
Aber der Lauf der Geschichte war ein wesentlich anderer.
Zunächst
lebten sich die eingeschränkten Häuptlinge nicht in daS neue Verhältniß
ein.
Sie hatten ihre persönliche Herrschaft und daS süße „Gewohnheits
recht der Willkür" verloren.
Auch bei den Hintersassen ließ sich ein tausend
jähriges Herkommen nicht mit einem Federzug vernichten.
Bald brach der große Aufstand der O'Neils und O'DonnclS in Ulster
aus.
Die Provinz wurde mit kleineren englischen und schottischen Guts
herrn kolonisirt.
Nach den Rechten der soeben erst neu geschaffenen irischen
Freisassen fragte Niemand.
Zwar verpflichteten sich die Kolonisten, nur
englische oder schottische Pächter aufzunehmen.
Indessen — nach wenigen
Jahren saßen die alten irischen Bewohner wieder in ihren alten Bienen körben — jetzt aber ohne Kontrakt und völlig rechtlos. Dann kam die große Rebellion von 1641, und die Neubesiedelung
ganz Irlands, mit Ausnahme des Westens, durch Cromwell. In der Theorie war nach 1650 die ganze irische Nation nach Connaught
verbannt.
Aber in der Praxis blieb wiederum ein sehr großer Theil der
Bauern zurück, jedoch nicht mehr als freie Eigenthümer sondern vlS Pächter
— ohne Kontrakt, — als tenants at will, nach Willkür des Gutsherrn. So lebten die alten Landgebräucher sich wieder ein, aber eS fehlte zwischen ihnen und dem neuen Eigenthümer das uralte persönliche Band der Sippe.
Nach der Rebellion ward eine neue Regulierung des Besitzes vor
genommen, durch einen
Regierungskommissär.
Dieser fand die einge
Denn eS schließt
borenen Bauern fast noch überall auf ihrem Lande.
der Bericht Sir William PetthS mit folgender Generalabschätzung deS
Landes der Gutsbesitzer:
7,500,000 Acres gutes Land 1 9,000,000 Acres — jähr-) $ 900 000 1,500,000 „ schlechtes Land > liche Brutto-Rente — I
£
Davon Königszins...............................................................
.
bleibt.................................................................................
Davon der Kirchenzehnte */5 —........................................
90,000
£ 810,000
£ 162,000
bleibt jährliche Nettorente......................................................... £ 648,000
Davon der Antheil der „TenantS" und der Werth
ihrer Gebäude und Verbesserungen ■'/, =
.
.
£ 216,000
bleibt die reine Rente der Gutsherren 8/a = .
.
£ 432,000
.
Danach betrachtete Sir William die alten „Tenants" nicht als Pächter
sondern als Antheilhaber am Grundbesitze.
Er dringt zugleich daraus,
daß die „Tenants" ermuthigt werden sollten: ihre Gebäude zu ver
bessern und sich neue zu bauen. Er schätzt die damalige Einwohnerzahl auf: 1,100,000 Seelen. lebten in etwa 200,000 Haushaltungen.
Bon
Sie
diesen Häusern hatten
16,000 mehr als einen Schornstein; 24,000 einen Schornstein;
die
übrigen 160,000 waren schmutzige Hütten ohne Rauchfang, Fenster und „Es sei unmöglich,
Thüren, schlimmer als die der „wilden Amerikaner".
darin marktgängige Waare an Butter und Käse herzustellen" — und dabei trieben diese kleinen Bauern
fast ausschließlich Weidewirthschaft.
„Man muß diese 600,000 Irländer dahin bringen", sagt Sir William „daß
sie mit den englischen Gutsherren feste Zeitpachtkontrakte eingehen, damit sie nicht länger von deren Laune und Willkür abhangen".
Die Gutsherren folgten dem, Zuge.
von Sir William Petty empfohlenen
Sie betrachteten ihre Hintersassen als Zeitpächter und schroben deren
bisherige feste Renten (quit rents) zu vollen marktgängigen Pachtrenten
(rack rents — scharf zusammengerechte oder
geraffte Renten) empor.
Dadurch eigneten sich die Grundherren jenen Drittels-Antheil der TenantS
-an dem Gutslande mehr oder weniger vollständig zu. ES war daS Unglück der Irländer daß damals, im siebenzehnten Jahrhundert, in England die Idee der persönlichen Freiheit bereits
vollständig herrschte.
Hätte die Kolonisirung Irlands einige Jahrhunderte
früher, im Mittelalter, stattgefunden, so wären die irischen Bauern Leib
eigene oder Hörige geworden; sie würden dann herkömmliche erbliche Be sitzrechte erworben haben und jetzt „abgelöst" sein.
So aber machte daS
Gesetz deS siebzehnten JahrhunderS sie zu Pächtern; eine freie Stellung welche wett über ihre Kulturstufe hinausragte.
Dann überließ man sie —
hülflos — dem wirtschaftlichen Spiele der freien Wettbewerbung, das heißt: der Ausbeutung durch den Stärkeren und — ihrem Verderben. —
Im achtzehnten Jahrhundert schoben sich nun, nach und nach, zwischen
den großen Gutsherrn, mit Tausenden von Acres, und den kleinen Pächtern mit 5 bis 15 Acres: Zwischenpächter — „Mittelmänner" — ein. In einem
Briefe aus dem Jahre 1775 heißt es: „in den meisten Theilen des Landes sind die Grundstücke sechsmal (six deep) verafterpachtet und der eigent
liche Bebauer wird auf das Aeußerste auögequetfcht.
Unter diesen letz
teren saßen auch vielfach, als arme Arbeiter, die direkten Nachkommen der alten Häuptlinge und Eigenthümer.
Ihre Erinnerungen waren jedoch
noch so lebhaft, ihre Erwartungen einer besseren Zukunft so zäh, daß sie
regelmäßig über ihr Recht auf ihren alten Besitz von einer Generation
Die irische Landfrage.
258
ES war die respektable Art von
zur anderen testamentarisch verfügten.
doktrinären Legitimisten denen „aus tausend Jahren Unrecht kein Tag
Recht werden kann".
Auch die alte Weise der steten Neuvertheilung war
thatsächlich, wenigstens analog, betbehalten.
Dadurch waren im Jahre 1775
die 160,000 Hausstellen von 1650 auf: 6 bis 700,000 Hausstellen an
gewachsen. So sehen wir, daß der unermeßliche und — nach unseren Begriffen —
sehr unlogische Wust, den man das englische Recht zwischen Guts herrn und
nennt, niemals in Irland zu voller
„TenantS"
und zwar:
Wirksamkeit gelangte,
weil dieses ganze RechtS-
institut auf die dortigen thatsächlichen Verhältnisse nicht paßte.
Abraham Lincoln sagte einmal: Ein Gesetz welches gegen die be stehenden Thatsachen verstößt, gleicht „einer päpstlichen Bulle, gegen einen
Kometen geschleudert". —
IV. Irische Landgesetzgebung im neunzehnten Jahrhundert. 1. Encumbered EstateS Act.
Nach
den
schweren
Schicksalen
die
Irland
in
der
Zeit
von
1846—1848 getroffen hatten, sah man die Nothwendigkeit ein, den mit Hypotheken überlasteten und
vermöge ihrer rechtlichen Gebundenheit*)
hülfloS daniederltegenden und verkommenen Landgütern durch käuflichen
Uebergang an neue, helfen.
mit Kapital versehene Eigenthümer wieder aufz:,-
Man setzte deshalb einen Gerichtshof ein in welchem diese Ver
käufe — auf Antrag der Gläubiger oder auch des Besitzers — vollzogen
wurden.
Wenn wir uns
den Zustand der
englischen Besitztitel, des
„Entail und Settlement" sowie des Hypothekenwesens vergegenwärtigen,
so werden wir die Schwierigkeiten ahnen können mit denen dieses Ge
schäft verbunden ist.
Dasselbe wird noch jetzt fortgesetzt.
Bis zum 30. De
zember 1880 waren durch jenen Gerichtshof Landgüter für 52 Millionen £ verkauft.
Große Komplexe wurden getheilt.
Man nimmt an daß die
bezahlten Preise etwa den halben Werth der verkauften Güter darstellen. Ueber die unerwarteten Wirkungen dieser, mit großen Hoffnungen be
grüßten, Maßregel werden wir später noch einiges hören. —
*) Ich bitte, der Kürze halber, über diese und ähnliche, im Nachfolgenden berührten, Fragen des englischen „Landrechts" meinen Aufsatz in dieser Zeitschrift (Oktober und November 1880): „Landgesetze und Landwirthschaft in England" zu ver gleichen.
2.
Landlord und Tenant Act von 1860.
Die englisch-irischen Gesetzgeber hatten bereits seit einiger Zeit er kannt: daß daS englische Landgesetz für Irlands Verhältnisse, sowie sie sich
durch die Thätigkeit deS Gerichtshofes der verschuldeten Güter nach und nach umgestalteten, mehr und mehr unanwendbar geworden sei.
Namentlich drängten die praktischen Geschäftsleute, die ihr Kapital in
den verkauften Gütern angelegt hatten, auf eine Klärung und Verein fachung der Gesetzgebung; auf Wegräumung aller feudalen Ueberbleibsel; auf freies Feld für die beglückende Einwirkung heS „free trade“, für das freie Spiel der wirthschaftlichen Kräfte und der Gesetze von „Angebot und
Nachfrage".
„Denn" sagten diese Kapitalisten,
„der traurige Zustand
Irlands lag und liegt nur in dem Mangel an Kapital und Geschäfts
sinn der alten Gutsherren.
Bei richtiger Auffassung ist daS Interesse deS
EigenthümerS und deS Bebauers am Lande völlig identisch.
Wir, die
Männer der volkswirthschaftltchen Intelligenz, wir müssen und werden die Lage unserer GutSeingesefsenen schon aus eigenem Interesse verbessern."
Damals galten die absoluten Volkswirthe als Propheten und jeder mann glaubte an die Erfüllung ihrer Offenbarungen.
Was war das Resultat?
Die neuen Gutsherren wollten vor allem
ihre Kapitalanlage gut verzinst sehen und — setzten durchgängig alle Pachten in die Höhe. — Dieser wirthschaftlichen Operation stand indessen daS bestehende alte nationale Landrecht vielfach im Wege. Denn eS steckten darin noch mancherlei
feudale Traditionen, namentlich vielerlei Illusionen der Pächter zu Gunsten deS überlebten Systems des getheilten Eigenthums.
Man schuf daher die
Landlord und Tenant Act von 1860. Ueber diese Schöpfung kann ich kurz sein.
Sie enthielt ein durchaus
strenges System der locatio conductio, in der modernisirten Nachbildung deS ftanzösischen Code civil.
Es
ist im Ganzen ein elegantes Stück
Jurisprudenz, aber leider völlig doktrinär.
Das Verhältniß der Eigen
thümer und Pächter wurde jetzt ein rein vertragsmäßiges. Band war in diesem Gesetze völlig gelöst.
DaS feudale
Der „Verpächter" hatte jetzt
gegen den Pächter ebensoviel Anspruch auf persönliche Rücksichten oder po
litische Unterstützung als der Ladenbesitzer gegen seine Kunden.
Aber der
„Pächter" hatte auch gegen den „Verpächter" nicht mehr Anspruch auf Theilnahme und Unterstützung als gegen den Krämer bei dem er seinen
Thee kaufte.
Der Gutsherr unterschied sich von seinem Bäcker und Flei
scher nur durch die Sorte von Ware die er feilhielt.
Landpachten war
jetzt unter der Wohlthat des „free trade“ ein Ding
chartern oder eine Droschke miethen.
wie ein Schiff
Die geschäftsmäßigen Beziehungen
der Parteien hatten dadurch jede wünschenöwerthe formelle Durchsichtigkeit
gewonnen. — Nach und nach traten jedoch auch einige kleine Nachtheile deS neuen Systems zu Tage.
Der Verpächter hob seinen Zins, der Pächter bezahlte
seine Pacht: auf welcher Seite aber lag jetzt die sittliche Verpflichtung zur
Nachsicht,
zum Nachlasse, zur Nachhülfe?
den harten Winter zu schleppen?
und Anstalten bei?
Wer hatte die Armen durch
Wer sprang den mildthätigen Vereinen
Wer gab den Platz für den Bau einer neuen Kapelle
unentgeltlich her? Hierzu kam: die schriftlichen Kontrakte waren, nach der bekannten*)
englischen Kostspieligkeit jeder Rechtspflege,
unverhältnißmäßig
theuer.
Die mündlichen Verträge und die stillschweigenden thatsächlichen Abkommen
mit den Jahrespächtern waren nicht minder gültig. Schriftliche Meliorations
kontrakte waren ebenfalls nicht vorgeschrieben.
Es waren also eine Reihe
übler Schlupflöcher durch die neue Gesetzgebung den alten Gewohnheiten und MiSbräuchen offen gelassen.
Diese und viele ähnliche schädliche Folgen der neuen Gesetzgebung von 1860 berührten nicht darauf, daß sie an sich schlecht gewesen wäre, sondern lediglich darauf daß sie auf soziale und wirthschaftliche Zustände angewandt werden sollte für welche sie durchaus nicht paßte.
Denn die überwie
gende Majorität aller Pächter war völlig unfähig, ein freies Kontraktsver
hältniß einzugehen.
Es fehlte ihnen dazu das Kapital; sie arbeiteten, lebten
und hungerten auf ihren Hofstellen.
Wurden sie hinausgesetzt so verhun
gerten sie. DaS „Land" hat bekanntlich einen monopolistischen Karakter durch
die Begränztheit seines Angebotes.
Da Irlands Industrie keine Arbeiter
gebraucht, da auch nicht alle ländlichen Arbeitskräfte allsömmerlich nach
England gehen können, so klammerten sich die armen kleinen Pächter an
ihre Pachtungen fest und bezahlten — oder gelobten, wenn ihnen mit
Kündigung gedrohet wurde jeden ihnen abgeforderten noch so unvernünftig
hohen Pachtpreis.
Die neuen, energischen und geschäftskundigen Eigen
thümer kündigten daher regelmäßig alle Jahreöpachtungen behus „Regu-
lirung der Rente".
Dann erfreuten sie sich der befriedigenden Verzinsung
ihres Kaufsschillings in gutsherrlicher Ruhe, oder sie verkauften wieder
mit erheblichem Vortheile, nach Maßgabe deS Betrages der erhöheten — fiktiven — Rente.
UebrigenS
*
blieb dieses Gesetz auf der bedeutenden Mehrheit aller
Preußische Jahrbücher.
Novemberheft 1880.
S. 470 ff.
Güter wo noch die alten Gutsherren saßen — ein todter Buchstabe um den sich niemand kümmerte.
Zugleich traten auch vielfache Kündigungen der kleinsten Pächter
ein um und
die Pachtkomplexe zu vereinigen, oder auch bet Todesfällen
uneinigen Erben.
Alle
diese Kündigungen
jedoch brachten den
„TenantS" das Recht des neuen Gutsherrn, sie hinauszusetzen, zum unheimlichen Bewußtsein. Daneben schwebten sie in der Furcht: der billige und humane alte Gutsherr könne sterben, das Gut im Landed EstateS Court zerschlagen und In kleinen Abtheilungen an umwohnende
Krämer und Rentiers verkauft werden — von allen die gierigsten Ver pächter und schlechtesten Gutsherren.
So hatte das große Prinzip der „wtrthschaftlichen Freiheit im Land verkehre" nicht nur keine Besserung in Irland gebracht, seine Kodifikation hatte sogar die bäuerliche Bevölkerung in gesteigerte Aufregung geschreckt. ES gab daher nur zwei Wege.
Entweder den vorgeschrittenen Codex
von 1860 nicht anzuwenden bis sich nicht die Bevölkerung zu ihm hinauf
entwickelt habe.
Oder retrograde Gesetzgebung zu Machen, um die be
rechtigte Unzuftiedenheit zu besänftigen. —
3. Die Entstaatlichung der protestantischen Staatskirche in Irland. Nach der fenischen Bewegung von 1865—68 beschloß Mr. Gladstone
Maßregeln welche die Wurzeln alles Uebels in Irland gründlich und de
finitiv beseitigen sollten.
Er demonstrirte, als geschickter Baumfäller, in
seinem sprichwörtlich gewordenen Gleichnisse vom Upaöbaume: daß diese
Giftpflanze englischer Züchtung drei Wurzeln habe: die StaätSkirche, das Land, die Schule.
Die schlimmste Wurzel sei das protestantische Ueber«
gewicht. Nach der Praxis eines erfahrenen BaumroderS beschloß er diese
drei Wurzeln — einfach abzuschlagen. Jahre 1869 erging
Minima non curat Praetor.
Im
ein Gesetz wodurch daS gesammte Grundvermögen
der StaatSkirche eingezogen und dieselbe mit den nöthigen Kapitalen und Renten auSgestattet wurde.
Die kirchlichen Einkünfte waren etwa
700,000 L gewesen, der reine Kapitalwerth der Güter wurde auf 5 Mil
lionen & geschätzt.
Den bisherigen TenantS wurde ein Vorkaufsrecht im
Landed EstateS Court eingeräumt.
So entstanden etwa 6000 kleine bäu
erliche Eigenthümer. Von diesen sitzen etwa 5000 in Ulster wo fast alle
Kirchengüter lagen. Die konservativen Gegner dieser Maßregel wenden ein: „Gehen wir
davon auS daß die bisherige legislative Union der beiden Länder aufrecht erhalten werden soll, so haben wir durch die Entstaatlichung der Kirche
Die irische Landfrage.
262
die einzigen sicheren Freunde geopfert die wir in Irland besaßen.
Wir haben auSgeführt was im Jahre 1690 das irische Parlament ver gebens versuchte.
Man konnte die protestantische Kirche reformiren,
die
sich übrigens in den letzten Jahrzehnten wesentlich selbst reformirt hatte.
Niemand jedoch forderte die radikale Entstaatlichung und wir haben nur
daS Spiel der römischen Hierarchie gespielt". — 4. Die irische Landakte von 1870.
Die oben in Aussicht gestellte rückläufige Gesetzgebung fand ihren
Ausdruck in Gladstones irischer Landakte von 1870.
Das Gesetz verfolgt
drei verschiedene Zwecke: A. dem irischen Pachtbauern Sicherheit in seinem Pachtverhältnisse und, beim Abzüge, Entschädigung für seine Meliorationen
zu geben; B. in Irland einen Stand bäuerlicher Eigenthümer zu schaffen; C. die Pachtgewohnheiten in der Provinz Ulster gesetzlich zu fairen.
A. Sicherung der irischen Pachtbauern in ihrem Pachtverhältnisse.
„Dauernde Sicherung eines zweiseitigen, durch Zeitablauf erlöschenden oder jährlich kündbaren Kontraktes" war in der praktischen Ausführung entschieden ein schwieriges Kapitel.
Sollte die englische liberale Regierung
anerkennen: free trade in
Land sei die eigentliche Ursache der Aufregung unter den irischen Bauern?
Sollte die Regierung Vorschlägen:
die Rechte der Gutskäufer zu be
schneiden, welche ihr Kapital unter staatlicher Garantie in dem
vom
Landed EstateS Court verkauften Grundbesitze angelegt hatten?
MemalS war in Großbritannien und Irland dem kontraktlichen Bebauer des Landes, dem tenant farmer, irgend ein Miteigenthumsrecht anerkannt
worden! Die neuen Eigenthümer hatten ihren Besitz im Landed EstateS Court als freies, völlig unbeschwertes Eigenthum erworben.
Ihr Recht: die volle
marktgängige Rente zu fordern, oder: ihr Grundeigenthum, durch Kündi
gung, von den kleinen Jahrespächtern „klar" zu machen, war beim Kaufe ausdrücklich anerkannt worden.
Somit konnte das Gesetz seinen Zweck
nicht offen aussprechen, nämlich: dem Tenant einen vermögensrechtlichen
Antheil am Grund und Boden selbst — zuzuweisen.
Offen wurden
daher dem Pächter keine neuen Rechte gegeben, oder dem Gutsherrn bis herige genommen.
Aber auf Umwegen, „hinten herum", erreichte man dennoch diesen Zweck:
man setzte dem Gutsherrn eine Strafe auf die Ausübung
seiner gesetzlichen Rechte.
DaS neue Gesetz sagte im Grunde: „Dein Recht, deine Pächter hinaus
zusetzen, ist zweifellos; wir wollen es Dir aber so kostspielig machen, daß Dir die Lust, eS auSzuüben, wohl vergehen soll."
Man nannte dieses:
„ein Verfahren, durch welches schlechte Gutsherren gezwungen werden
sollten so zu handeln wie gute Gutsherren auS freien Stücken handeln würden".
Eigentlich aber war es eine Einrichtung, durch welche die An
nehmlichkeit, Pächter fortzuschicken, ein Monopol der reicheren Gutsbe
sitzer wurde. Die TenantS erhielten also in dem Gesetze von 1870 keinerlei aus drückliches positives Recht am Lande; ihr Recht war gewissermaßen latent.
Aber eS wurde stet, sobald der Gutsherr, kraft seines gesetzlichen Rechtes, sein Land wieder in Besitz nehmen wollte und dadurch den Pächter „störte" (disturbed).
ter- frei:
In diesem Augenblicke wurde daS negative Recht deS Päch die Rückgabe des Pachtlandes zu verweigern bevor er vom
Gutsherrn Entschädigung für die Störung (Compensation for distur-
bance) erhalten habe. Diese Entschädigung für Störung wird nach folgenden Regeln ge
Jeder kontraktliche Pächter mit weniger als 31 Jahren Pachtzeit
leistet:
und jeder Jahrespächter, dessen Pachtobjekt zu einem Steuerkapttale von nicht mehr als 100 £ eingeschätzt ist, soll (in der Voraussetzung, daß er da- Pachtgeld bezahlt hat und auch sonst nicht kontraktbrüchig ist) für
seinen Verlust durch Ablauf oder Auflösung de- Pachtverhältnisses mit
folgenden Höchstbeträgen entschädigt werden:
Steuerkapital d. Pachtobjekts jährl. ff
ff
10 £ u. weniger — 7jährig. Pachtgeld.
ff
30 £ „
ff
5
„
ff
ff
ff
40£„
ff
4
„
ff
ff
ff
ff
ff
ff
ff
ff
50 £ „
ff
3
„
ff
II
ff
ff
ff
100 £ „
ff
2
„
ff
ff
ff
ff
„ über 100 £ „
II
1
„
ff
Das Maximum darf jedoch im einzelnen Falle niemals 250 £ über
schreiten. Aus dieser Skala ergiebt sich zweifellos: daß man nicht den Verlust
deS Pächters durch die Betriebsstörung hat entschädigen wollen. Dem widerstreitet das Maximum von 250 £, und nicht minder die höchste Entschädigung für daS kleinste Pachtobjekt.
Ferner erscheint eS sonderbar, daß man einem Pächter eine desto höhere Entschädigung giebt, je höher er in der Pachtrente stand.
Wenn
z. B. A. für ein, zu 10 £ eingeschätztes Pachtobjekt 15 £ bezahlt und B. für ein gleich hocheingeschätztes Pachtobjekt 5 £, so
ist doch offen
bar B'S Interesse an dem Pachtgeschäfte entschieden werthvoller als das Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIL Heft 3.
18
von A.
Trotzdem aber bekommt A.:
105 S. Entschädigung, B. dagegen
nur 35 £.
Die Ermäßigung jener Renten innerhalb der einzelnen Höchstbeträge ist den Grafschaftsgerichten überlassen.
Diese jedoch präsumiren stets für
den höchsten Multiplikator und lassen nur den Gutsherrn zum herab mindernden Gegenbeweise zu.
Dabei erhält derjenige abziehende Pächter
welcher Gebäude und Feldinventar zurückläßt, nicht mehr als der Weide
pächter der Grünland ohne Gebäude gepachtet halte. Unter den verschiedenen, gewiß vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten
und zum Theile zweckwidrigen — wenn nicht widersinnigen —, Folgen welche diese Skala in der Praxis hervorrief, will ich zum Schlüsse dieser Betrachtung nur noch eine, in nachstehendem Beispiele vorführen.
Die Skala drängt nämlich den rechnenden Eigenthümer unter anderem
auch dazu:
kleine Pachtungen mit größeren zu verschmelzen und kleine
Pächter von größeren auspachten zu lassen. Ein Gutsherr hat vier Pächter.
zu 10 £ eingeschätzte,
Pachtung
und
A., B. und C. haben jeder eine,
bezahlen jeder
12 £ Pachtrente.
Pächter D. bezahlt für einen zu 71 £ eingeschätzten Pachtkomplex 90 £. Der Gutsherr stört diese vier Pächter.
Dann muß er bezahlen: an
A., B., C.: jedem 84 £; an D.: 180 £; zusammen: 432 £. D. ist jedoch
wohlhabend und übernimmt die Entschädigung der drei anderen abziehenden Pächter.
Dafür werden ihre Pachtungen mit der seinigen verschmolzen.
D. bewirthschaftet alsdann ein Pachtobjekt, welches zu 101 £ eingeschätzt ist und bezahlt 126 £.
Will später der Gutsherr den D. entschädigen,
so erhält er den gesammten Komplex von D. zurück für 126 £.
Also
gegen obige 432 £ ein Gewinn von 306 £. Ich habe bereits früher bemerkt daß ein großer Theil der kleinsten
Pachtbauern die Afterpächter eines „Mittelsmannes" sind.
dem Gesetze gegenüber, ist eine besonders ungünstige.
Ihre Lage,
Sie haben einen
Anspruch auf Entschädigung weder gegen den Eigenthümer noch gegen den
Vorpächter, der ja selbst „gestört" ist.
Folgender Fall wird die Sonder
barkeit des Gesetzes auch für dieses wichtige Verhältniß erläutern. A. verpachtet 99 Acres, geschätzt zu 99 £ jährlich, an 11 JahreSpächter. Jeder von diesen bezahlt 12 £ Pacht im Ganzen 132 £. Er stört sie und muß jedem 84 £ im Ganzen 924 £ Entschädigung zahlen.
Derselbe A. verpachtet 101 Acre,
Jahrespüchter für 132 £. jetzt den Vorpächter B.
geschätzt zu 101 £, an B. als
B. macht daraus 11 Afterpachten.
A. stört
Alsdann hat dieser sich mit seinen 11 Unter
pächtern in eine Entschädigung von 132 £ zu theilen.
Der Eigenthümer
A. spart durch die Verpachtung in einem Komplexe 792 £. —
DaS Gesetz sichert ebenfalls dem Pächter eine Entschädigung für
Meliorationen zu.
AuS diesem Kapitel dürfte eS vielleicht genügen,
folgende Punkte zu erwähnen:
a.
Der Anspruch auf Vergütung
von Meliorationen ist ausge
schlossen bei Pachtkontrakten von mindestens 31 Jahren.
b.
Er
ist
verzichtbar
bei
Pachtungen
von
mindestens
50 £
Schätzungsrente.
e.
Fordert ein Pächter unter
10 £
Schätzungsrente (Nr. 1 der
Skala) mehr als fünfjährige Pachtrente für Störung — oder fordert ein
solcher über 10 £ Schätzungsrente (Nr. 2), mehr als vierjährige Pacht rente — so bekommt er Vergütung nur für Gebäude und Neubruch. B.
Bildung eines Standes kleiner bäuerlicher Eigenthümer.
Die auf diese Frage bezüglichen Artikel des Gesetzes sind in England
unter dem Namen: die „Bright Clauses" bekannt, weil sie hauptsächlich
auf die Anregung Mr. John Brights, des bekannten OuäkerS und großen Baumwollenspinners in Rochdale, damals und jetzt wieder Mitglied des KabinetS, wo er Führer des äußersten linken Flügels ist, in das Gesetz ausgenommen wurden. Der Inhalt und Zweck dieser „Clauseln" war:
daß der Gutsherr veranlaßt werden soll, dem Tenant das freie Eigen
thum seines Pachtkomplexes zu verkaufen, daß dieser Verkauf durch den Landed EstateS Court bewerkstelligt werden soll,
daß daS Kaufgeld beim Gericht deponirt werden soll, als Sicherheit für alle Ansprüche Dritter am Kaufobjekte. —
Die Praxis hat nun, zum allgemeinen Erstaunen, gezeigt, daß diese Bestimmungen vollständig
ihren Zweck verfehlten, selbst dann wenn
Käufer und Verkäufer beide guten Willens waren das Geschäft zu machen. Die Ursache liegt hauptsächlich darin, daß ein Verkauf im Landed
EstateS Court alle nicht im gerichtlichen Kaufbriefe anerkannten Ansprüche Dritter unbedingt beseitigt.
ES ist diese strenge Ausschließung eine große
Wohlthat bei dem wunderlichen Zustande des englischen Pfandrechtes*) aber sie erfordert auch die peinlichste und umsichtigste Sorgfalt der Be
hörde.
Diese hat also gewissenhaft nach den Ansprüchen Dritter (Nach
baren, Gläubiger, Anwärter) zu forschen. Geld.
Das kostet jedoch eine Menge
Die Summen wachsen meistens über jedes Verhältniß zum Werthe
*) Preußische Jahrbücher.
Oktoberheft 1880.
S. 417.
Die Parteien müssen sie vorschießen, d. h.
der kleinen Kaufobjekte hinaus. der Käufer muß sie tragen.
Es sind außerdem noch eine Menge andere
Schwierigkeiten in Betreff der Vertheilung der Zehnten und mannigfacher Annuitäten vorhanden.
Genug, diese gut gemeinten und klug erdachten
Bright Clauseln paßten wieder einmal nicht in die irischen Verhältnisse und blieben ein todter Buchstabe. Ein anderer Weg im Gesetze, um bäuerliche Eigenthümer zu schaffen,
erwies sich praktischer.
Wenn ein Gut im Landed EstateS Court verkauft
wird so kann die „Behörde für öffentliche Arbeiten" jedem Tenant der
sein Pachtgut kaufen will, zwei Drittel des Kaufgeldes vorschießen.
DaS
Darlehn wird mit 5 Prozent in fünfunddreißig Jahren abgetragen.
Hier
von soll häufig Gebrauch gemacht fein. — Die Akte von 1870 hatte also unzweifelhafte den irischen bäuerlichen
Pächtern eine Reihe mehr oder minder verwerthbarer Vortheile zugewendet.
Und dennoch erschollen^ die Klagen dieser Pächter schon nach zehn Jahren wieder lauter denn je zuvor! Weshalb? Die Ursachen, weshalb daS wohlmeinende Gesetz ein ver
fehltes war, sind kurz folgende: 1.
Die Gesetzgeber wollten auf indirektem Wege dem Pächter einen
Antheil am Grundstücke verschaffen — realisirbar: sobald der Pächter abzog.
2.
Die irischen Pächter wollten aber vor allem überhaupt nicht
abziehen, weder mit noch ohne Entschädigung, sie wollten fest sitzen, so lange sie die Pacht bezahlten.
3.
Die Kostspieligkeit des „ AuS-der-Pacht-setzenS"
Gutsherrn als Prohibitivzoll wirken.
sollte auf die
Prohibitivzölle wirken bekanntlich
nicht gegen reiche Leute; sie wirken auch nicht wenn die Waare so selten
und dabei so stark begehrt ist daß sie trotz dem, durch den exorbitanten
Zoll gesteigerten, Marktpreise dennoch willig Käufer findet.
Meistens be
zahlt also nicht der Gutsherr für daS „Stören" sondern der neue Pächter. 4.
Hieraus erklärt sich der allgemeine Haß gegen die neuen Pächter
der auch jetzt wieder einen großen Theil der agrarischen Verbrechen und Ge
waltthaten hervorruft. 5.
Wie wir gesehen haben, drängte die wunderbare Entschädigungs
skala den Eigenthümer dahin: sich möglichst der kleinen Pächter zu ent ledigen.
Also auch hier der Gegensatz von demjenigen waS diese wünschen
und bedürfen. 6.
Meliorationen vergüten ist eine bet Gutsbesitzern regelmäßig
sehr unbeliebte Finanzoperation.
Sie werden daher dahin streben: Pacht-
kolyplexe von mehr als 50 £ jährlichem Schätzungswerthe zu bilden, denn
bei diesen ist eS dem Pächter gestattet, gültig auf Meliorationen zu verzichten.
7.
Auf allen größeren und gut verwalteten Gütern hat daher die
Zahl dieser größeren Pachtkomplexe seit 10 Jahren erheblich zugenommen, und überall findet sich der Verzicht auf Meliorationen in den gedruckten
Normalbedtngungen, namentlich in den sogenannten „Leinster LeaseS".
8.
Der latente Anspruch der kleinen Pächter auf Entschädigung für Während der guten Jahre (bis 1878)
„Störung" machte sie kreditfähiger.
kontrahirten sie nun massenhafte Schulden, bei Landbanken und Leihan
stalten die eigens für diesen Zweck „gegründet" waren.
Diese wohl
thätigen Institute gaben das Geld gegen 3—12 Monats-Wechsel, die von den Nachbaren stets gegenseitig acceptirt wurden, zu nicht viel über
— 10 Prozent.
Als dann hinterher die mageren Jahre kamen war der
Kredit der Pächter erschöpft, und 1879, als sie daS Geld wirklich bedurften,
So ist der irische Tennant jetzt
war keines mehr für sie zu haben.
schlimmer daran als vor 1870, wo er keine Schulden machen konnte,
weil ihm Niemand borgte. 9. Das Gesetz wollte den Eigenthümer dahin drängen: Pachtkon trakte aus 31 Jahre zu bewilligen.
Aber was ihn dahin drängen sollte,
daS drängte den Pächter davon ab.
Dieser rechnete als Jahrespächter
auf eine lange — unbestimmt lange — Pachtdauer und sah am Schlüsse
derselben seine Entschädigung für „Störung" und für Meliorationen.
So
kam es dahin daß die Pächter das Anerbieten eines Kontraktes auf 31 Jahre
als eine verkleidete Kündigung betrachteten und fürchteten. —
c. Gesetzliche Fixirung der Gewohnheiten in Ulster.
Die nördliche Provinz Ulster war, wie wir gehört haben, nach dem großen Aufstande der O'Neils und O'DonnelS durchgängig mit englischen
und schottischen Kolonisten besiedelt.
Bei diesen neuen Gutsherren hatten
sich im Laufe der Zett eine Reihe von Gewohnheiten in ihren Beziehungen
zu ihren Pächtern festgesetzt.
Dieses Herkommen wird unter dem Kollektiv
namen: „Ulster Tenant Right" begriffen. DaS Ulster'sche Pächterrecht hatte
indessen nicht eine einheitliche Form angenommen, sondern eS hatte sich, innerhalb gemeinsamer Grundzüge, auf den verschiedenen Gütern in seinen Einzelheiten verschieden ausgestaltet.
Vor der Akte von 1870 hatten diese
Gewohnheiten keine gesetzliche Gültigkeit.
Auch diese Akte hat sie nicht
definirt, sondern sie machte „daS Herkommen auf dem Gute" zur inte»
grirenden Clausel jedes Pachtvertrages.
Wir können diese „Ulster Gewohnheiten" unter folgende Gesichtspunkte zusammenfassen: 1.
Der Pächter bleibt andauernd in seiner Pachtung, solange er
richtig wirthschaftet und bezahlt; vorbehältlich einer Revision der Rente. Letztere tritt ein: a. bei kontraktlicher Pachtperiode — nach deren Ablauf; b. bei Jahrespachtungen — von Zeit zu Zeit.
Die Steigerung der Rente
soll dem Gutsherrn seinen „billigen und angemessenen"
Antheil am
erhöheten Werthe deS Landes sichern; sie soll aber nicht durch Auflegung einer „Raff-Rente" deS Pächters Antheil (interest) verzehren.
2.
Der Pächter will nicht in der Pacht bleiben, dann darf er
seinen Antheil am Lande an einen Nachfolger übertragen.
Der Gutsherr
hat nur die Einsprache: diesen Mann will ich, auS guten Gründen, nicht als Pächter haben.
Die Entschädigung deS abziehenden Pächters wird
auf verschiedene Weise festgestellt: Schätzung durch den Gutsherrn — so
und sovieljährigeS Pachtgeld — öffentliche Versteigerung — eventuell im
Wege deS Rechtsstreites. 3.
Will der Gutsherr daS Grundstück in eigene Bewirthschaftung
nehmen, so muß er ebenfalls den Pächter angemeffen entschädigen.
Letzterer
darf auf dem Pachtgute bleiben bis er die Entschädigung in Händen hat. Der wesentliche Punkt in diesen Ulster Gewohnheiten ist zweifellos die Art und Weise in welcher die „billige und angemessene" Rente er
mittelt werden soll.
(Für den technischen Ausdruck: „fair rent“ giebt eS
meines Wissens kein völlig deckendes einfaches deutsches Wort).
Sie wird
durch Veranschlagung ermittelt, entweder durch einen Schätzer von Pro fession oder durch einen Vertrauensmann.
Der nahe liegende Einwand gegen diese Gewohnheiten ist: daß der jedesmalige neue Pächter einen großen Theil seines Betriebskapitals fest legen muß und jedenfalls seine Befähigung zu energischer und vortheilhafter Bewirthschaftung um diesen Betrag schwächt.
wird geltend gemacht,
daß
Gegen diesen Einwand
eine solche Kapitalanlage sich als mächtige
Triebfeder zum Fleiße und zur Sparsamkeit erwiesen habe. Zweifellos aber gewährten diese Gewohnheiten dem Pächter einen hohen Grad von Sicherheit.
„besitzenden"
Die Sitte und die öffentliche
Meinung eines fleißigen und intelligenten Pächterstandes zwangen dem Gutsherrn dieses Tenant Right unwiderstehlich auf.
Es läßt sich kaum
verkennen daß hier thatsächlich eine Art gemeinsamen Eigenthums, ein
unfertiges getheiltes Eigenthum vorhanden ist.
DeS Pächters An
theil am Lande steht sehr häufig dem deS EigenthümerS im Preise gleich,
denn vielfach wird ein sehr hoher Monopolwerth der Pachtgelegenheit (goodwill) in der Entschädigung vergütet.
Ein Freigut ist äußerst selten
käuflich zu haben, daher werden gesicherte „Pächterantheile"
übermäßig
bezahlt. Man nimmt an, daß unter dieser Gewohnheit die Pachtrenten in
Ulster nicht gelitten haben.
Auch soll der Preis des Landes selbst sn
jetziger Zeit dort wenig gesunken sein. —
Jedoch leidet auch in diesem Kapitel daS Gesetz von 1870 an zwei bösen Grundfehlern.
A.
Es bestätigt die „Ulster Gewohnheiten".
Eine Legaldefinition
ist nicht gegeben, eS wird daher im Streitfälle das partikuläre Gewohn heitsrecht des einzelnen betreffenden Gutes vom Richter zum Beweise ver
stellt werden müssen.
Dieser liegt regelmäßig dem Pächter ob; auf kleinen
Gütern ist er höchst schwierig zu erbringen.
Stets ist das Verfahren
kostspielig. B. Da die Pachtrente nicht fixirt ist, so hat durch deren Stei gerung der Grundherr ein Mittel, des Pächters verkäuflichen Antheil will
kürlich zu verkleinern.
scheiden.
Auch hierüber muß im Streitfälle der Richter ent
Erklärt dieser die beabsichtigte Steigerung für „angemessen",
so wird natürlich der Nachfolger sein Gebot für des abziehenden Pächters Antheil entsprechend abmtndern. —
V.
Skizze der jetzigen sozialen und wirthschaftltchen Lage der irischen Landbevölkerung.
Die nachstehende Skizze habe ich aus einer Reihe verschiedenartigster Quellen: Bücher, Zeitungen und Zeitschriften zusammengestellt, die wesent
lich unter Berücksichtigung der verschiedenen Parteistandpunkte und der praktischen Bekanntschaft der Schriftsteller mit Land und Leuten ausge wählt wurden.
bemerkung
Ich bitte um die Erlaubniß, nach dieser allgemeinen Vor
meine geehrten
Leser mit einer
durchgängigen Benennung
meiner Quelle für die einzelnen Angaben zu verschonen.
Es dürfte kaum
einen praktischen Werth haben, wenn ich stets: „Times, Mr. Bence JoneS,
Mr. Charles Ruffel, Fortnightly Review, Spectator, Pall Mall Gazette u. s. w." in die Darstellung einstreuete. 1. Grundherren und Pächter.
Die Zahl der ländlichen Grundbesitzer in Irland, über 1 Acre Flächen gehalt, beträgt etwa — 19,600 Köpfe. Das ländliche Grundeigenthum beträgt etwa — 19,600,000 Acres
(einschließlich Sümpfe und unkultivirbare Flächen) also auf den Kopf rund:
1000 Acres.
Hiervon gehören:
2000 Eigenthümern: 13,000,000 Acres = 66
% der Gesamtfläche.
110
„
„
3,585,000
„
= 22,5%
„
74
„
„
3,108,000
„
=16
%
„
24
„
„
1,800,000
„
=
9,5%
„
Die Zahl der ländlichen Pächter über 1 Acre wird angegeben auf:
600,000 Köpfe.
Läßt man von dem gesammten ländlichen Grundeigen-
thume: die Torfmoore daS Unland und den Wald außer Betracht, so bleibt ein landwirthschaftlicheS Areal von 15,600,000 Acres, mithin auf
jeden ländlichen Pächter im Durchschnitte: 26 Acres. Man darf daher wohl sagen daß die Zahl der Grundetgenthümer*)
weit kleiner als wünschenSwerth, dagegen die Zahl der Pächter — namentlich in Anbetracht der vorherrschenden Weidewirthschaft — zu groß, der Durch-
schnittSgehalt der Pachtkomplexe zu klein sei.
Vorzugsweise findet dieses
ungünstige Verhältniß im Westen (Connaught) und im südwestlichen Theile
von Munster statt.
Die gesammte Brutto-Pachtrente der irischen Landeigenthümer wird auf etwa: 10 Millionen £ im Jahre geschätzt. — Die Times schickte im November v. I. einen fachmännischen Spezial-
korreSpondenten nach Irland um von dort über die landwirthschaftlichen Zustände aus eigener Anschauung zu berichten. Er suchte die verschiedenen
Verhältnisse — große und kleine Güter, gute und schlechte Wirthschaften — in den verschiedenen Theilen Irlands auf.
Seine Berichte machen den
Eindruck der Einsicht und Unparteilichkeit.
Sie lassen sich etwa zu fol
gendem Gesammtbilde zusammenfassen. Eine Reihe von Ursachen hat dazu mitgewirkt, die Lage der irischen Landwirthschaft zu verschlechtern und zu gefährden.
schlechte Ernten, schlechte Preise der Feldfrüchte.
Schlechte Sommer,
Wie in Großbritannien
so sind auch in Irland viele Pächter ruinirt; man schätzt ihre Zahl etwa
auf ein Fünftel; also gegen 140,000 Insolvente.
Die Viehstände sind verringert, der Kredit — seit 1870 zu reich lich — ist jetzt verschwunden, die Geldleiher drängen!
So fragen denn
die entmuthigten Pächter — und ihre Freunde — nach den Ursachen ihrer Schwierigkeiten und ihres Niederganges.
Man tadelt die Gutsherren: daß sie ihre Pflichten verletzen und weite Strecken wüst liegen lasten, daß sie ihren Pächtern nicht auf- und
vorwärtshelfen, daß sie die Pachtrenten über „Grisfith'S Schätzung" er
höhen, daß sie ihren Gütern entfremdet leben. *) Preußische Jahrbücher.
Novemberheft 1880.
S. 450.
Man tadelt die Pächter: daß sie apathisch, faul und nachlässig sind,
daß sie gutes Land schlecht entwässern und bestellen, daß sie unbrauchbare
Geräthe haben und in schmutzigen Hütten leben. Der Staat wird getadelt: daß er nicht durch Gesetzgebung die Kultur des wüsten Landes erzwingt, daß die erlassenen Gesetze nicht den erwar teten Erfolg für die irischen Pächter herbeiführten. —
Die Gutsherren in Irland zerfallen, noch mehr als anderswo, in
verschiedene Klassen, von verschiedenem Werthe. ES giebt dort eine stattliche Reihe sehr großer Eigenthümer; — leider,
muß man sagen, immer noch zu wenig — deren Besitzungen ganz nach
modernen englischen System bewirthschaftet werden.
dem
herr erster Klasse
Der Guts
residirt zwischen seinen Pächtern und verwendet
Mittel und Kräfte zur Erfüllung der ihm gestellten wichtigen Aufgabe. Die Pächter befinden sich wohl, die fleißigen und nüchternen unter ihnen
kommen vorwärts. — Aus vielen derartigen Schilderungen will ich ein Beispiel kurz herausheben.
Der Earl of Fitzwilliam hat seine Besitzungen im Südosten der Insel, etwas südlich von Dublin.
Sein Areal beträgt: 91,600 Acres. Die Brutto-Pachtrente: 50,000 £ — Griffith'S Schätzung: 47,700 £. —
Ich muß mich hier selbst unterbrechen um bei „Griffith'S Schätzung" Augenblick
einen
einzigen
zu
verweilen.
Man wird jetzt schwerlich in
englischen Zeitung einen Bericht
lesen können ohne die Bezugnahme
einer
über irische Landverhältnisse
„ Griffith’s valuation “
auf:
zu
finden.
Es verhält sich damit folgender Maßen:
Mit den neuen Armenge
setzen (1840) wurde auch in Irland eine neue Armensteuer auf Grund
eigenthum eingeführt.
Im Jahre 1852 erfolgte nun für diesen Zweck,
nach verschiedenen früheren, eine letzte Abschätzung des gesammten Areals
unter der Leitung von Sir Richard Griffith.
Um das Werthverhältniß
jener Schätzung zu der jetzigen Bodenrente zu veranschaulichen, wird eS wohl genügen wenn ich folgende damalige „Normalpreise" nenne:
Butter:
65 s. 1880: 100 s.
der Centner, 1852:
Ochsenfleisch:
„
Hammelfleisch:
„
Schweinefleisch: „
„ „
ii
105 „
„
195 „
„
123 „
„
216 „
„
96 „
„
144 „
Die Schätzung wurde von S r Richard Griffith selbst bezeichnet
alS:
beinahe erreichend die N ente der
großen Eigenthümer,
da
gegen 25 bis 30 Prozent unter der Rente der kleineren Eigenthümer.
Reklamationen wurden damals fast gar nicht erhoben, die Käufer des
Emcumbered Estates machten ihre Rechnung stets mit 25 Prozent Zuschlag
272
Die irische Landfrage.
auf Griffith'S Schätzung.
Diese sollte grundsätzlich nur eine relative
Taxe sein. Die bäuerlichen Käufer welche unter den „Brigth Clauses" der Akte von 1870 ihre Pachtungen kauften und von der Regierung zu diesem Zwecke Darlehne erhielten, beklagten sich wenn bei der Beleihung der Grund
stücke nicht'30 Prozent zu „Griffith'S Baluatton", als wirklicher Werth
des Pfandobjektes geschlagen wurden. — In der jetzigen Bewegung ist nun „Griffith'S Baluation" als all
gemeines Feldgeschrei für die Pächter auSgegeben.
Sie durften im
vorigen November nur diesen Theil ihres Pachtgeldes offeriren, bei Ver
meidung schwerer Ahnung von Seiten des lokalen Zweigvereins der Land League. — Ich kehre nun wieder zum Earl of Fitzwilliam zurück.
Pachtrente steht etwa 4 Prozent über Griffith'S Schätzung. und öffentlichen Lasten betragen: 6200 S.
Seine Brutto-
Die Steuern
Die allgemeinen Verwaltungs
kosten: 3570 £.
Trotzdem hat Earl Fitzwilliam im Jahre 1879 nur 13,000 S. Netto einnahme auf sein persönliches Conto buchen können.
Die Zahl der Pächter ist: 1623; davon bezahlen:
unter 20 £
1070
50 „
351
20 bis
50
„
100 „
107
100
„
200 „
56
200
„
300 „
22
über 300 „
17
Drei Viertel der Pächter sind Katholiken, die großen sind fast sämmt lich Protestanten. Von dem GutSareale liegen vier Fünftel in Gras.
Die Pachtkomplexe
betragen durchschnittlich 60 Acres; als die beste Größe gelten 100 bis
150 Acres. Kleine Pächter, unter 10 Acres, sind im allgemeinen schlechter daran als die Arbeiter.
Die größeren Komplexe sind jetzt auf 31 Jahre verpachtet; die klei
neren sind Jahrespachtungen. Pachtgeld-Remissionen wurden gegeben:
1844—59:43,000 £
1859-69 : 22,300 „ 1859—79:11,500 „
76,800 £
Die jetzigen Restanten belaufen sich nur noch auf etwa 5000 £. Die Wechsel in den Personen der Pächter betragen alljährlich 20
bis 30, einschließlich der Todesfälle.
werden, mit Opfern, fortgeschafft.
Alle Trunkenbolde und Faullenzer
Die Unterstützungen für auSwandernde
Gutsinsassen beliefen sich: von 1833-47 auf
4,500 L
von 1847—56 auf 19,000 £ 23,500 £
Almosen und andere Unterstützungen: 1844-56:11,500 £
1856- 59 :
2,057 „
1859—69 :
7,500 „
1869—79:
7,771 „
28,828 £ Für Schulen:
1844—59: 8,861 £ 1859—69 :
5,198 „
1869—79: 4,763 „ 19,822 £
Im Ganzen stehen diese Kapitel mit etwa jährlich
12,000 £ zu
Buche. Für landwtrthschaftliche Meliorationen wurde ausgegeben:
1844—59 : 42,676 £ 1859—69:116,700 „
1869—79:116,000 „
275,430 £ also beinahe die sechsjährige Bruttorente. —
Die Neubauten und Unterhaltungen kosteten: 1844—59 : 77,000 £
1859—69 : 66,000 „
1869—79 : 84,700 „ Seit 1858 wurden 140 neue Arbeiterhäuser gebaut.
Ausgabe: 8,500 £.
Die Pachtkontrakte enthalten hier und auf vielen Gütern der Gegend
die Bedingungen der „Leinster LeaseS"; so genannt weil sie auf den muster
haft bewirthschafteten Gütern des Herzogs von Leinsten zuerst aufgestellt wurden.
Diese Normalbedingungen enthalten durchaus nichts was man
nicht in England, Frankreich und Deutschland als vernünftig und selbst
verständlich ansehen würde, — nichts, wodurch sich ein guter Pächter be schwert fühlen könnte.
Trotzdem hat sich ein großes Geschrei dagegen
erhoben und die „Leinster LeaseS" sind eines der Agitationsmittel der Land League geworden. —
Auf allen diesen großen Gutskomplexen, welche alö Wirthschaften
erster Klasse bezeichnet werden können, treten gewisse gemeinsame karakteristische Symptome hervor:
Die
größeren Pächter
proSperiren
besser
die kleinen;
als
fleißigen mit hoher Pacht besser als die faulen mit niedriger.
treiben dann Politik und eifern gegen die schlechte Regierung.
die
Diese
Am besten
stehen diejenigen welche grade hinreichendes Areal für 1 oder für 2 Pferde und für die Arbeitskräfte ihrer Familie bewirthschaften; bei den kleinsten
Pächtern sind Meliorationen nicht beliebt, weil sie nicht als Tagelöhner
Die Gebäude sind überall vom Guts
dabei mit Hand anlegen wollen.
herrn gebauet.
Die Pächter machen keine Meliorationen, es fehlt ihnen Alle Gutsherren streben nach allmähliger
dazu Kapital und Intelligenz.
Zusammenlegung der kleinen Pachtkomplexe.
Afterpacht und Theilung
der Pachtkomplexe ist streng verboten. —
Im Südwesten und Westen der Insel findet man häufiger auch größte Komplexe die nicht im Zustande erster Klasse sind.
Der größte Be
sitzer im Südwesten ist der Lord Kenmare, mit 236,000 Acres; Grifsith's
68,800 £.
Schätzung:
haben
Hier
sich
vorzugsweise
pächter mit Kontrakten auf mehrere Lebenszeiten eingenistet.
die Zwischen
Eine Masse
armer kleiner Afterpächter wird von diesen „Middlemen" mit 200 Pro zenten und mehr Pachtaufschlag auSgepreßt.
Diesem Krebsschaden ist nicht
so rasch abzuhelfen.
Trotzdem hat der Gutsherr hier 300 neue Arbeiter
wohnungen erbaut
und
in
25 Jahren
71,000 £
für Meliorationen
Verkommene Pächter werden mit 3 bis 6 jährigem Pacht
ausgegeben.
gelde entlassen, wovon sie allerdings meistens den größten Theil bereits
schulden. —
Noch einige Worte von einem
im Südwesten, Mr. Herbert.
10,500 £;
jetziger
auf 50 bis
Werth:
200 Acres
anderen Gutsherrn erster Klasse
Er besitzt: 50,000 Acres. Schätzung:
verdreifacht. gebracht.
Sämmtliche
Ueberall
Mr. Herbert ist stets mitten im Geschäfte;
stehen
Pachtungen sind
stattliche Häuser.
er revidirt fleißig, daß nicht
Schweine und Hühner im Zimmer wohnen und daß der Dunghaufen nicht vor der Hausthür angelegt wird.
Zuweilen fordert er von der Haus
frau einen Besen und zeigt ihr dann, wie man Spinnweben auskehrt. Als durch den Bau einer Eisenbahn der Verkehr auf der Heerstraße nach ließ, meinten die daran liegenden Pächter: „Die Quälerei mit der Rein
lichkeit sei jetzt wohl nicht mehr nöthig, es sehe es ja doch Niemand Fremdes
mehx". — Mr. Herbert steht im Sommer zwischen vier und fünf Uhr auf, dann -ersteigt er einen, sein Areal dominirenden Hügel und beobachtet teleSkopisch: welche Pächter schon im Felde sind? Die Langschläfer werden
häufig durch ein Geschenk von einem halben Dutzend Schlafmützen geehrt. —
Eine andere, geringerwerthige Klasse von Gutsherren sind
diejenigen die wenig leisten aber auch von ihren Pächtern wenig fordern. Leichtlebige stockirländische Landjunker, eifrige Fuchsjäger, unwissend und nachlässig.
Gleichgültig gegen Theilung und Afterpacht waren sie früher
populäre Männer.
Seit jedoch an der Wettbewerbung auf ihrem Markte
der halbe Erdkreis Theil nimmt sind sie im Kampfe um'S wirthschaftliche
Dasein zurückgeblieben und wenn sie jetzt sich weigern „Griffith'S Schätzung" statt beS bedungenen Pachtgeldes anzunehmen, dann — ist es mit der Po Sie werden geschmäht wegen ihrer „miserabelen Wirth
pularität zu Ende.
schaft" sowie die vorige Klasse wegen ihrer „Tyrannei" verschrieen wird.
Wir kommen jetzt zu einer noch weit bedenklicheren und schädlicheren Klasse von Gutsherren: den „AbsenteeS". Man muß darunter alle die
jenigen begreifen welche nicht auf ihrem Grundbesitze leben und für den selben wirken. Häufig ist nicht einmal ein verantwortlicher auf dem Gute wohnender Agent vorhanden und die Beziehungen zwischen Gutsherrn Gut und Pächtern beschränken sich auf Eintreiben der Pachtrente.
Na
türlicher Weise wird die Gleichgültigkeit und Vernachlässigung von Seiten deS EigenthümerS durch die Bebauer des Landes noch übertroffen.
ES
ist selbstverständlich schwer, die Zahl der AbsenteeS mit einiger Genauig
keit festzustellen.
Im Jahre 1871 wurde sie angenommen zu:
1443 außerhalb Irland lebenden Gutsbesitzern mit und 4496 in Dublin lebender Gutsbesitzer mit
.
5939 AbsenteeS mit...........................................
.
3,205,000 Acres 4,075,000
„
7,280,000 Acres.
ES wären das 36 Prozent der Gesammtfläche.
Der Durchschnitt
des Areals auf den Kopf der erstern Klasse ist 2140 Acres — der zweiten Klasse 900 Acres.
Es sind also hier wesentlich die kleineren Besitzer
vertreten.
Die Landagenturen für diese Abwesenden bilden ein schwung haftes
Geschäft vieler Attorneys in den Städten.
So vertreten die
Herren Hussey und Townsend in Cork: 88 Güter mit 3000 Pächtern.
Sie heben
jährlich
etwa
250,000 £ Pachtgelder.
der Pächter hat einen Kontrakt.
durchschnittlich in schlechtem Stande. verkaufen, (free sale).
rente.
Nicht
ein
Fünftel
Die niedrig verpachteten Güter sind Die Pächter dürfen ihr Pachtrecht
Sie bekommen regelmäßig die fünfjährige Pacht
Nach den Erfahrungen dieser Herren sind die größten Eigen
thümer die besten Gutsherren.
Ist der Verpächter mit Hypotheken schwer
belastet, oder nur ein lebenslänglicher Nießbraucher, oder ein General
pächter mit Kontrakt auf mehrere Lebenszeiten, oder ein Geistlicher, oder eine alte Dame: so machen sie möglichst wenige Meliorationen.
Pächter macht überhaupt gar keine.
Der
Zu der Klasse der Absenters gehört nothwendiger Weise auch dir todte Hand.
Zwei akademische Korporationen, das College of PhhsicianS
und das Trinith College, beide zu Dublin, wurden namentlich als Be
sitzer vernachlässigter Güter mit verfallenen Gebäuden, ausgesogenem Bo den und ausgedehnter Verpachtung an „Middlemen, öffentlich angegriffen.
Sie suchten nachzuweisen, daß sie doch in den letzten Jahren manches ver
wendet hätten.
Adhuc sub judice lis ist.
Unter dieser Klasse von AbsenteeS nimmt die Kürschnergtlde in Lon don, mit gegen 35,000 Acres, und die Tuchhändlergilde daselbst, mit 27,000 AcreS, in Ulster einen hervorragenden Platz ein. —
Die
neuen Gutsherren,
welche
binnen der letzten
25 Jahre
ihren Besitz im „Gerichtshöfe der verschuldeten Güter" gekauft haben, lassen sich füglich in zwei Klassen zerlegen. Intelligente gebildete that
Erstens: gute moderne Landwirthe.
kräftige Männer, welche Güter
von mäßigem Umfange gekauft haben,
welche neue Kulturmethoden und Viehraffen erführen und fleißig drainiren.
Sie sind ein Gewinn für daS Land.
Vielleicht nicht sehr liebenswürdig;
vermuthlich den Verehrern des alten Schlendrians recht unbequem.
Ein
strebsamer, tüchtiger Pächter jedoch wird besser mit ihnen fahren als mit
dem Krautjunker oder dem Absentee.
Lord Cloncurry, einer von ihnen,
hatte jährlich 4000 £ für Tagelohn bezahlt.
vertrieben.
Er wurde kürzlich gewaltsam
Anscheinend ist der Land League weder ein Beispiel ver
besserter Wirthschaft genehm noch ein reichlicher Verdienst für die Arbeiter. Zweitens: schlechte
neue
Gutsbesitzer.
Kleinere
Kapitalisten,
reich gewordene Krämer, erfolgreiche Sachwalter die tat Landed EstateS
Court
gekauft
haben,
die nun ihren Besitz
ganz
vom kommerziellen
Standpunkte auS betrachten und vor allem dem großen Grundsätze deS „free trade“ huldigen: auf dem
dem theuersten verkaufen. folgender
Gestalt:
billigsten Markte einkaufen —
auf
Sie karakterisirte ein irischer Oberrichter
„Tyrannen, die stets
ihr
formelle- Recht auf daS
äußerste verfolgen, die ihren unglücklichen TenantS den
auSpressen, die ihre Stellung nur als ein
letzten Heller
kommerzielles Geschäft in
der schärfsten Bedeutung des Wortes behandeln". — „Ihre Pächter fürch ten sich, Preise für Kulturverbesserungen davon zu tragen weil sie vor
aussehen daß sie werden im Pachtgelde gesteigert werden." händler sind gradezu die Pest deS Landes geworden.
Diese Land
Sie sind es, die
stets im Hader mit den Pächtent liegen, durch Steigerungen Kündigungen und Aneignung der von jenen gemachten Verwendungen. Agitatoren den werthvollsten Zündstoff für die
geliefert.
Sie haben den
gegenwärtige Erregung
Durch die Entstaatlichung der irischen protestantischen Kirche (1869)
und den Verkauf ihrer Güter sowie durch die Landakte von 1870 ist eine neue Klasse von etwa 6000 bäuerlichen Eigenthümern geschaffen. Die meisten von ihnen sollen bis jetzt ihre Annuitäten richtig bezahlt und noch dazu Kapitalien für Meliorationen angeliehen haben.
ES wäre dieses
eine erfreuliche, landwirthschaftliche wie soziale Erscheinung. 2. Der irische Nationalkarakter. Um die Lage der Dinge auf der Grünen Insel im allgemeinen zu
beurtheilen, um namentlich sich ein annähernd zutreffendes Bild von der Anarchie zu bilden welche dort zur Zett durch die Thätigkeit der LandLeague und durch die bisherige Unthätigkeit der Regierung organistrt ist;
um endlich in der Fluth der, für die jetzige agrarische Krankheit in Irland vorgeschlagenen Heilmittel nicht völlig steuer- und
kompaßloS einherzu
treiben: — für diese, uns noch bevorstehenden Betrachtungen scheint eS mir unerläßlich: den irischen Nationalkarakter, dieses wunderliche Gemisch von
anscheinend völlig widerstreitenden und unvereinbarlichen Seiten, etwas näher zu beleuchten. Ich schlage vor, über diese komplexe Materie zwei Zeugen zu ver nehmen welche ich für gut unterrichtet und wenngleich nicht unparteiisch,
dennoch für so entgegengesetzt in ihren Standpunkten halte, daß in ihren Schilderungen
Licht
und
sich vielfach
Schatten
gegenseitig
berichtigen
werden. Mein erster Zeuge ist Mr. Stansfield; M. P. seit 20 Jahren Mitglied früherer liberaler Ministerien, ein „Radical", zur Zeit Mitglied der großen „Königlichen landwirthschaftlichen Kommission", übrigens Richter. Als Mitglied jener Kommission hat er Irland im vorigen Herbste mehrere
Wochen hindurch bereist und studirt.
Er sprach sich kürzlich in einem
öffentlichen Vortrage folgender Maßen aus:
Das irische Volk hat gewisse Fehler und Schwächen welche gerade auf uns Engländer besonders unsympathisch wirken.
Dennoch ist eS ein
Erwägen wir die dortige Armuth, die
edles und liebenswürdiges Volk.
HungerSnöthe, den Mangel an Industrie, an Fabriken und Handel, den AntogoniSmuS der Raffen und Bekenntnisse: so müssen wir anerkennen
daß da- irische Volk von der herrschenden Klasse, sowohl in Irland selbst als in England, misregiert ist.
Aber ebensowenig hat eS das irische Volk
verstanden: sich selbst zu leiten.
Im Oktober wollte dort Jedermann
nichts weiter erreichen als die drei F'S.
gehend gehandelt werden).
(Bon diesen wird später ein
Nebenbei vielleicht eine Erweiterung der „Brigh
ClauseS".
In den kurzen fünf Wochen welche Mr. Stansfield in.Irland
zubrachte, war die Land League bis zu absoluter Entsetzung der Grund herren vorgerückt.
„Die Irländer sind demnach ein impulsives Volk ohne
genügende Stetigkeit des Denkens, zu Uebertreibungen geneigt. Es mangeln ihnen Sammlung, Mäßigung und ausreichendes Urtheil in demjenigen was sie jeweilig treiben und erstreben.
Aus diesen Schwächen hat sich
jetzt dort ein Terrorismus entwickelt der Leben und Eigenthum gefährdet." — Soweit Mr. Stansfield. — Umfassender und gewichtiger ist die Aussage meines zweiten Zeugen:
Er ist ebenfalls ein Engländer und war in seiner
Mr. Bence Jones.
Jugend ein Londoner Barrister.
Vor vierzig Jahren erbte er ein ver
nachlässigtes. und verkommenes Gut in Irland, in der Nähe von Cork.
Durch
angestrengte unausgesetzte intelligente Thätigkeit
eine rentable Musterwirthschaft gemacht.
hat
er daraus
In allen öffentlichen Angelegen
heiten genießt er wegen seiner Bereitwilligkeit und Einsicht eines vorzüg
lichen Rufes.
Schon seit Jahren schrieb Mr. Bence JoneS über irische
agrarische Fragen in englischen Zeitschriften.
Seit einigen Monaten ist
er ein durch ganz England bekannter Mann wegen des furchtlosen hart näckigen und erfolgreichen Widerstandes den er dem Terrorismus der Land
League, namentlich dem jetzt sogenannten „Boycotten" geleistet hat. Dieser Mann der Praxis und der vierzigjährigen Beobachtung hat
jetzt seine früheren und neuesten Schriftstücke in ein sehr interessantes Buch vereinigt unter dem Titel:
„Eine Lebensarbeit in Irland, von einem
Gutsherrn der bestrebt war seine Pflicht zu thun".
Ich will versuchen
alles was er in diesen Aufsätzen über den irischen Nationalkarakter sagt
zu einem Bilde zusammenzustellen, wie folgt: „Der Ire ist keineswegs das kindliche unschuldige unbehülfliche Wesen
zu dem man ihn hat machen wollen.
Er ist der schlaueste und schärfste
Handels- und Geschäftsmann (bargainer) in Europa.
Die Juden können
in Irland nicht aufkommen; (1871: 285 Juden); denn es giebt dort Nie manden zu übervortheilen.
beweglichen Sinn.
Das Volk hat daneben einen lebhaften leichten
Es ist gutherzig träumerisch phantasieretch; — laut
in seinen Lustbarkeiten, reizbar.
Der Irländer ist witzig und listig, von
instinktmäßiger rascher Auffassung; er giebt sich jedoch häufig, aus Be rechnung, stumpf und einfältig.
und abergläubisch. Jahre 1871: 33%.
Dabei ist er unwissend und roh — bigot
(Die Zahl der Analphabeten über 6 Jahre war im Von den Katholiken waren Analphabeten: 39%;
von den Methodisten 6,5%; von den Presbyterianern: 9,5%; von den
Anglikanern:
14,2%).
Es steckt in ihnen eine „Alte-Weiber-Ader".
Jeder kommt, wenn ich in einer Schwierigkeit bin,
um theilnehmend
mit mir zu klagen und
mir jeden beunruhigenden Klatsch vergrößert
zuzutragen.
DaS Land leidet an drei Grundübeln:
Lügen — Trunk —
Schulden.
Der Mangel an Wahrhaftigkeit ist die vorwaltende Landessünde.
Hier
ist die Heimath. der Uebertreibung, der Leichtgläubigkeit und deS Mangels
an gesundem ruhigen Urtheile.
Jede Zahlenangabe muß man stets mit
2 dividiren. Vermöge der allgemeinen Geriebenheit durchschauet jeder Irländer seinen Nachbarn unb~ stößt sich nicht an den Widerspruch zwischen dessen Worten und Handlungen.
Daher folgen sie auch in politischen Bewe
gungen dem notorischen Schwindler.
Ein jeder beabsichtigt, sich schon bei
Zeiten davon zu machen nachdem er sein PrivatprofitcheN in'S Trockne
gebracht hat.
Niemand spricht gern eine unangenehme Wahrheit aus. Niemand erwartet die Herrschaft
Daher allgemeine Unzuverlässigkeit. von Wahrheit und Recht.
Gewinnt ein Irländer einen Prozeß so bedankt
er sich beim Richter für „gütige Beihülfe". Zu den wichtigsten Landesinstitutionen gehört der „Freund unter den
Geschworenen".
Wegen der für Berurtheilungen erforderlichen Einstim
migkeit der Jury arbeitet jeder Anwalt vor allem darauf hin, einen Ge schworenen dahin zu bringen daß er Widerstand leistet.
Zu diesem Zwecke
wird in jeden gleichgültigen Civilstreit irgend eine Parteifrage hineinge
zerrt: Religion, Politik, Gutsherrlichkeit.
Will der Irländer einen Dritten
als Vertrauenswerth empfehlen so sagt er: „Jack ist nicht der Mann, der
für nichts lügen würde".
Der Irländer hat immer noch die Tugenden
der alten Sippen-Gemeinschaft.
Treue gegen die eigenen Versippten, Ver-
rätherei und Lüge gegen jeden Fremden, d. h. gegen die Well im allge
meinen.
Damit hängt ihre Neigung zur Parteibildung zusammen.
Ueber
jede Frage bilden sich „FaktionS" die dann sofort wie Lawinen anschwellen und sich bei jeder Gelegenheit leidenschaftlich bekämpfen.
In Tipperary
war vor einigen Jahren eine berühmt gewordene „Faktion" zwischen den
Zweijährigen und den Dreijährigen.
Was war die Ursache? Auf einem
Hofe auf der Grenze zweier Kirchspiele stand ein Zuchtstier von dem das eine Kirchspiel behauptete: er sei zu einer gewissen Zeit zweijährig ge wesen — daS andere: dreijährig.
Da keiner wich so prügelten sie sich
erst zu Hause, dann rauften und stachen sie an jedem Markttage und nicht
minder an den Feiertagen nach der Messe.
Die Zwei- und Dreijäh
rigen verbreiteten sich über mehrere Grafschaften.
mächtig, die Geistlichkeit donnerte vergebens.
Die Polizei war ohn
Der Streit flackerte mehrere
Jahre lang stets von neuem irgendwo wieder auf. — Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLVI1. Heft 3,
19
Den Irländern fehlt die persönliche Unabhängigkeit des KarakterS. Jedermann hat Furcht.
zu imponiren. nung.
Jedermann sucht im Streite durch Rodomontaden
Die Majorität der Bevölkerung wünscht Frieden und Ord
ES giebt jedoch zu viele „Politiker" von Profession die von der
allgemeinen Unzufriedenheit leben.
Indessen betreibt der Irländer seine
Auflehnung gegen daS Gesetz stets mit einer gewissen Feigheit. nicht schießen wenn er weiß daß wieder geschossen wird.
Er wird
AlS während
der Fenierzeit die Habeas-CorpuS-Akte in Irland suSpendirt wurde waren
sofort alle Dampfer nach England hinüber mit austretenden Vaterlands befreiern gefüllt. Andererseits ist in den geheimen agrarischen Verbrechen bereits eine
fortschreitende Civilisation unverkennbar.
Früher wurde der misliebige
„neue" Pächter oder Agent mit seiner ganzen Familie in seinem Hause
Jetzt schneidet man nur noch ihm persönlich die Ohren ab.
verbrannt.
Alle diese guten und schlechten Eigenschaften kann man in London an den irischen M. P'S. studiren.
Sie sind die „creme de la creme“
ihrer Nation. —
Dem irischen Pächter fehlen die wesentlichsten Eigenschaften für einen bäuerlichen Eigenthümer.
In guten Zeiten drängt er sich leichtsinnig
zum Angebote eines hohen Pachtgeldes.
In schlechten Zeiten hoffen sie
durch übertriebenes, oft verstelltes Jammern und Heulen einen Erlaß zu erwirken.
Selbst der faule und unbrauchbare Pächter ist ein „gerissener"
Handelsmann; fein Dichten und Trachten geht auf unreelle Profitchen aus.
Vor einigen Jahren besuchte mich ein junges englisches M. P. um Ich wies ihn zu einer meiner Pächterinnen die
Lokalstudien zu machen.
stark im Rückstände war und allernächstenS gekündigt werden sollte.
Frau jammerte und heulte erbärmlich.
Die
Aus seinen eingehenden Fragen
aber mußte sie nachträglich geschlossen haben: er sei einer der Beamten deS Sheriff.
Kaum hatte er das Haus verlassen so rannte sie ihm nach
mit der Versicherung: in ihrer Kasse". und Pfennig.
„daS ganze rückständige Pachtgeld liege vorräthig
Dann brachte sie eS mir, in großer Hast, auf Heller
Ich schickte dem Herrn eine Postkarte nach mit der Bitte:
er möge mich doch ja im nächsten Jahre wieder besuchen.
Von Natur und aus eignem Triebe ist der irische Landwirth nicht fleißig und leistungsfähig.
Rücken".
Er ist ausreichend klug, hat aber „keinen festen
Die verarmten bäuerlichen Eigenthümer werden dann daS Be
triebskapital der politischen Agitatoren. Allerdings ist der agrarische Pauperismus in Irland, namentlich in
Connaught und im Südwesten von Munster, immer noch vorherrschend.
CS kultiviren immer noch 2 bis 300,000 kleinste Pächter schlechten Boden.
Sie bearbeiten ihn häufig nur stellenweise und mit dem Spaten. Geräthe sind trostlos.
Die
Vor dreißig Jahren kannte man dort nur ein
hölzernes pflugartiges Werkzeug, und kein Rad mit Speichen.
So
halten sie sich in guten Jahren eben über Wasser, in schlechten verhungern
sie, wenn sie nicht ein Dritter futtert. Pachtkündigungen im Jahre 1880: Familien
Köpfe
.
554
2748
.
.
687
1355
.
.
671
3447
.
.
Quartal I
.
.
„
II
.
„
in
.
„
iv
.
198
945
2110
8495
Davon jedoch wurden wirklich entsetzt nur 960 Familien mit 4500 Köpfen, also auf 600 Pächter: 1.
Die übrigen wurden wieder angenommen oder als Verwalter (caretakers) ihrer früheren Pachthöfe auf diesen belassen.
Der Abfall des Quartals IV erklärt sich zunächst wohl daraus, daß
im Jahre 1879 MiSernte war, im Jahre 1880 dagegen eine der reichsten Ernten seit Menschengedenken. ES ist hiebei allerdings zu berücksichtigen, daß im Quartal IV jede
geordnete Rechtspflege und jeder Rechtsschutz aufgehört hatten.
„Der ganze Zustand VeS Landes", mit diesem Worte möchte ich Mr. Bence JoneS schließen lassen „ist unentwickelt, die Irländer stehen noch
in der Kindheit".
Ich meine jedoch:
drängt sich dem Leser nicht unwillkürlich die An
sicht auf, daß die von Mr. Bence JoneS geschilderten Fehler der Irländer: Lüge, Unselbständigkeit, Feigheit, Leichtsinn, Trägheit, mangelndes Gefühl
der eignen Verantwortlichkeit, — wesentlich die Eigenschaften einer unter
drückten, miSregierten Nation find; mögen dieselben auch jetzt durch erb
liche Aneignung: angeborene Fehler geworden sein. — 3.
Da« irische Armengesetz.
Die Frage des Pauperismus, die wir in den vorstehenden Zeilen be
rührt haben, leitet uns unwillkürlich auf daS englische Armengesetz und seine Wirksamkeit in Irland hin.
Im Jahre 1838 wurde die Grundlage der jetzigen irischen Armen
gesetzgebung gelegt: durch die Bildung größerer Armenverbände, durch die Erbauung eines Werkhauses in jedem Verbände und durch das Prinzip:
daß nur im Werkhause Unterstützung gegeben werden dürfe. 19*
Zugleich
Die irische Landfrage.
282
wurde für jeden Verband eine Behörde: die Armenpfleger, errichtet, mit Befugniß zur Umlegung von Armensteuer über den Verband. Im Jahre 1844 wurde für England und Schottland die Unterstützung auf zwei verschiedenen Wegen zugelassen: im Werkhause, und in der Wohnung des Armen; letztere wird in England: „Außer-HauS- (d. h.
Werkhaus) Unterstützung" genannt.
Diese Erweiterung deS Gesetzes ist nicht vollständig auf Ir land ausgedehnt.
Hier giebt eS auch heute gesetzlich nur WerkhauS-
Unterstützung für die gesunden und arbeitsfähigen, aber ar beitslosen, Armen.
Dagegen ist im Jahre 1847, nachdem während
der Hungersnoth viele Armenpflegschaften auf Grund des Gesetzes jede
HauSunterstützung verweigert hatten, diese zugelassen für:
Alte, Kranke
Wittwen mit 2 Kindern, Arbeitsunfähige.
Arbeitsfähige Arme bekommen erst dann Unterstützung — direkt oder durch Beschäftigung — wenn sie in's WerkhauS gegangen sind, eS sei denn,
dieses wäre gefüllt oder durch Krankheiten infizirt. In der „Fortnightly-Review" vom 1. Januar 1880 weist nun ein
Geistlicher, Dr. Neilson Hancock nach, daß und warum diese einschränkende
Bestimmung des irischen Armengesetzes eine reiche Quelle der gegenwär tigen agrarischen Aufregung und der Agitation sein müsse.
Ich will versuchen, seine umfangreiche Abhandlung in die folgenden
Sätze zu kondensiren. Im Sommer 1879 erhielten Armenunterstützung:
1.
Personen
in Irland
.
90,382
.
in Schottland .
nach dem Verhältnisse
in England und
seiner Bevölkerung
Wales
2.
.
.
154,348; also mehr: 63,966. 171,638;
zu der Irlands
„
„
81,256.
Hätte Irland ebenso reichlich unterstützen dürfen wie die anderen
Theile deS Königreichs, so wäre viel Zunder für die Agitation verloren gegangen.
Mr. Parnell hätte dann nicht mit Erfolg
über den Satz
predigen können: die Armen Irlands müssen in Zukunft die erste Last auf der Pachtrente werden.
3.
In England können in der Nothzeit die Armenpfleger die volle
erforderliche Armensteuer auferlegen.
In Irland nur die Hälfte.
Uebrige muß freiwillig aufgebracht werden.
OaS
ES ist das offenbar eine un
gerechte Begünstigung der AbsenteeS. 4.
In Connaught, namentlich in der Grafschaft Majo, lebt die
Mehrzahl der kleinen Pächter in Wirklichkeit als Arbeiter.
1878
beförderte
die
Midland
Great
Western-Eisenbahn
Im Jahre
von
dort
Im Jahre 1879:
27,000 Arbeiter nach England.
nur 20,000.
für jene Gegend ein Ausfall von 100,000 £.
war
DaS
Von ihrem Ver
dienste in England während drei bis vier Sommermonaten bezahlten jene kleinsten „Hüttenpächter" ihre Pachtrente.
Alle diese Arbeiter wissen nun,
daß in England jeder Bedürftige in seinem Verbände zu Hause unter stützt wird.
In Irland aber müssen sie, als arbeitsfähige Arme, als
Familienväter, zuvor in'S Werkhaus gehen.
In Buttevant
erschienen im Jahre 1879 sechsundsechzig Arbeiter,
mit der Bitte um Unterstützung durch Beschäftigung, vor den Armen
Diese beschlossen: Pläne und Anschläge für Ausführung nütz
pflegern.
licher Arbeiten machen zu lassen.
Die Sechsundsechzig baten, ihnen in
zwischen HauSunterstützung zu gewähren.
Die Armenpfleger:
verlangt, daß Ihr die Unterstützung im Werkhause erhaltet.
„DaS Gesetz Geht dort
hin, dann wird euere Familie zu Hause unterstützt". Die Arbeiter: „Wir können unsre hungernden Familien nicht zu Hause sitzen lassen".
WaS geschah? Die Armenpfleger zeichneten eine Liste und bezahlten freiwillig die Unterstützung auS eigener Tasche.
Die AbsenteeS bethei-
ligten sich an dieser freiwillig-nothwendigen Steuer nicht.
5. um die
DaS eingeschränkte Armengesetz ist ein höchst wirksames Mittel irischen Güter von insolventen Pächtern
„zu Hären".
solche Gutsübervölkerung liegt dem Grundherrn auf der Tasche.
Eine
Er kündigt
und zeigt alsdann den bevorstehenden Abzug der gekündigten Familien den
Armenpflegern an, damit diese rechtzeitig für den Unterhalt sorgen.
„weggeklärten" TenantS gehen mit ihren Familien in'S WerkhauS.
Die
Früher
deckte man den Renitenten die Dächer ihrer Hütten ab, jedoch ist dieser
Grad der Selbsthülfe jetzt unter das Strafgesetz gestellt. 6.
In Irland können die Geistlichen nicht Armenpfleger werden.
In England und Wales sind sie wählbar, in Schottland sind sie geborene Mitglieder.
Dagegen sind die Geistlichen stets die thätigsten Mitglieder
der freiwilligen Armenflege.
Diese Bestimmung trifft alle Geistlichen,
ist aber hauptsächlich gegen die katholischen gerichtet, denn andere würden — äußer im protestantischen Ulster — überhaupt bei den Wahlen nicht
in Frage kommen. — 7. ES giebt in Irland 163 Armenbezirke; in jedem ist ein Werk hauS.
Viele dieser Anstalten sind sehr groß, namentlich in den Städten.
Cork beherbergt 2500 Menschen in seinem Werkhause; Dublin in seinen
zwei Häusern noch mehr. und sterben. Werkhäusern.
Hier werden Generationen geboren, heirathen
Viele gesunde junge Leute wohnen mit ihren Eltern in den Der Trunk grassirt dort stark.
Die irische Landftage.
284
4. Englische Nationalanschaunngen und ihre schädliche» Wirkungen für Irland.
Für die Abrundung vorstehender Skizze der irischen Landbevölkerung dürften noch einige Worte über die schädlichen Wirkungen gewisser eigen
thümlicher
englischer Nationalanschauungen auf Irlands Zustände nicht
unwesentlich sein. Ich entnehme dieselben einem Aufsatze in der Fortinghtlh Review (Januar 1, 1881) von Str John Campbell.
Der Verfasser, ein Liberaler,
Jurist, brachte fast sein ganzes Leben in hohen Stellungen in Indien zu. Er hat dadurch eine nicht gewöhnliche Weite der Anschauung gewonnen. Er sagt:
„Die Engländer sind das abergläubischste Volk von der Welt.
es giebt auch anderen Aberglauben außer dem religiösen.
Denn
Sie haben eine
abergläubische Verehrung für ihre Gesetze, für ihre volköwirthschaftlichen Prinzipien, für ihre agrarischen Verhältnisse."
„Da nun die Engländer sich in diesen — und manchen anderen — Punkten von der übrigen Welt unterscheiden, so — schließen die Engländer
In dieser Weise sind sie mit Irland Sie gaben Irland englische Gesetze: freie Presse — freies
— hat die übrige Welt Unrecht.
verfahren.
Wahlrecht — und englische
Geschworengerichte.
Aber sie gaben den
Irländern nicht, was diese vor Allem bedurften: ihr Land. Zu dem nationalökonomischeu Aberglauben der Engländer gehört auch
der Satz: daß alle Uebel in der Welt durch Zuleitung von Kapital geordnet und geheilt werden können.
Sie leiteten, durch den Encumbered
EstateS Hof, Kapital zu und glaubten: nun werde in Irland das tausend jährige Reich beginnen.
Aber die Irländer sind so verderbt und verdreht, daß selbst „Kapital" sie nicht kuriren konnte.
„Kontrakte" gefielen ihnen nicht.
Käufer die
„Zinsen halten" wollten, gefielen ihnen noch weit weniger.
So wurden
sie unruhig und jetzt sind sie Aufrührer.
Und in diesem gesetzlosen Treiben schützt sie der größte aller eng lischen Aberglauben: die Einstimmigkeit der Jury.
Früher wur
den, zur Abstellung dieses Uebelstandes, die irischen Juries gefälscht. Seit dieses Auskunftsmittel aber durch das Gesetz verboten ist, steht eS
dort um so schlimmer!
ES giebt in Irland überhaupt keinen geordneten
Rechtsschutz mehr! — (Schluß folgt.)
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem fiebenjährigen Kriege. i. Der erste Vertrag zwischen einem Hohenzallernfürsten und
einem
russischen Zaren ist 4m Jahre 1517 unterzeichnet worden, aber der erste feste Jnteressenbund zwischen Preußen und Rußland wurde erst nach zwei
hundert Jahren geschlossen.
Im Jahre 1713 capitulirte die schwedische
Die russische Macht,
Festung Stettin an ein russisches Belagerungsheer.
die in jenem Jahre das ganze continentale Gestade der Ostsee von Inger
manland bis Kiel militärisch umspannte, schien durch die Besitznahme der
Odermündungen den eisernen Ring schließen zu wollen.
Aber im Schwedter
Vertrage vom 6. Oktober 1713 übergab Rußland die eroberte Festung dem
Sequester des Königs von Preußen, der bisher in dem Kampfe zwischen
Rußland und Schweden sich neutral verhalten hatte, der in diesem Kampfe die Entscheidung geben konnte.
Das Opfer, durch das Rußland die preu
ßische Freundschaft erkaufte, bewies wie unentbehrlich ihm dieselbe zur Be
gründung seiner europäischen Machtstellung war.
Rußland erkannte die
norddeutsche Macht als gleichberechtigt neben sich an und theilte mit ihr
die Vorherrschaft am baltischen Meere. Auf der Basis dieses CompromisseS haben sich die Beziehungen zwischen den beiden Staaten weiter entwickelt.
Ein Keim zu Zwistigkeiten
aber lag in der gleichzeitigen Verbindung Rußlands mit Oesterreich.
In
dem Rußland für seine orientalische Politik ebenso mit Oesterreich rechnen
mußte, wie mit Preußen für seine westeuropäische Politik, indem Preußen und Oesterreich aber seit lange in politischem Gegensatze standen, lag eS in der Natur der Dinge, daß Rußland in diesen Gegensatz htneingezogen
wurde und zu ihm Stellung nehmen mußte, zumal seit der Gegensatz mit
der Thronbesteigung Friedrichs II. in eine acute Krists trat. Als König Friedrich Wilhelm I. die Augen schloß, war in Peters
burg der österreichische Einfluß vorwiegend.
Eine der ersten politischen
Maßnahmen deS neuen Königs war, ein intimeres Verhältniß zu Ruß-
286
Preußen und Rußlaud im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
land. Wiederherzustellen.
Es gelang ihm, noch im Jahre 1740 eine Defensiv-
allianz mit dem Petersburger Hofe abzuschließen,
ohne daß
indeß der
österreichische Einfluß in Petersburg gebrochen worden wäre.
In dem
Kriege um Schlesien standen die russischen Staatsmänner und die Her zogin von Braunschweig, die für ihren unmündigen Sohn Iwan nach
dem Tode der Kaiserin Anna die Regentschaft führte,
mit ihren Shm-
pathieen auf der Seite Oesterreichs, und vielleicht hätte Rußland noch offen zu Ungunsten Preußens in den Krieg eingegriffen, wäre nicht im
Dezember 1741 unter Mitwirkung französischer Einflüsse der junge Kaiser
gestürzt und die Prinzessin Elisabeth, die Tochter Peters des Großen, auf den Thron gehoben worden.
Mit Elisabeth erneuerte König Friedrich
im März 1743 die preußisch-russische Defensivallianz; ein reges politisches Einvernehmen aber stellte sich erst in der zweiten Hälfte dieses Jahres
her, als nach der Entdeckung von Palastintriguen gegen die neue Herr scherin, an denen der österreichische Gesandte betheiligt gewesen sein sollte, eine sehr gereizte Spannung zwischen der Zarin und der Königin Maria
Theresia eintrat.
Der preußische Einfluß schien in den folgenden Monaten
am russischen Hofe allmächtig; die Braut, welche Elisabeth ihrem Neffen
und Thronfolger, dem Großfürsten, Peter, verlobte, verdankte ihr glän zendes Loos der Empfehlung des Königs von Preußen: eS war Sophie Auguste von Zerbst, die nachmalige Kaiserin Katharina II.
DaS Ziel,
das König Friedrichs Politik in dieser Zeit in Rußland verfolgte, war, für den neuen Krieg, den er gegen Oesterreich vorbereitete, sich wo nicht der Bundesgenossenschaft der Zarin, so doch ihrer wohlwollenden Neu
tralität zu versichern.
Zu diesem Zwecke hätte er die Entfernung des
VicekanzlerS Grafen Alexei Bestushew gewünscht, mit dessen zahlreichen
Feinden am russischen Hofe der preußische Gesandte, Freiherr von Mar-
defeld, in Verbindung trat.
Aber in dem Augenblicke,
wo Mardefeld
seinem Ziele ganz nahe zu sein glaubte, gelang eS dem Vicekanzler, seinen gefährlichsten Gegner, den von der Kaiserin einst hoch begünstigten fran zösischen Gesandten La Chetardie, zu schmählichem Falle zu bringen: Che-
tardie wurde mit ZwangSpaß über die Grenze geschafft, während Bestu
shew gleichsam zum äußeren Zeichen seines Steges die seit einiger Zeit
nicht verliehene Würde eines Großkanzlers erhielt.
Noch zögerte die Zarin,
trotz der Ausweisung des französischen Diplomaten, entschieden auf die
Seite der Gegner Frankreichs und Preußens zu treten.
„In den nächsten
sechs Monaten hat Ew. Majestät von der Kaiserin nichts zu fürchten, aber auch nichts zu hoffen", schrieb Mardefeld am 23. Juli 1744 nach Berlin.
Wenn der französisch-preußische Einfluß am russischen Hofe den
englisch-österreichischen eine Zeit lang noch zu bekämpfen vermochte, so war
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
287
er doch sichtlich im Niedergänge, während der letztere beständig stieg.
Im
Herbst 1745 hatte sich die Situation so vollständig verändert, daß nach
der Kriegserklärung Friedrichs II. gegen Sachsen der russische Gesandte in Berlin eine Note überreichte, durch welche die Kaiserin erklärte, daß
sie im Falle der Eröffnung der Feinseligkeiten gegen Sachsen ein HülfScorpS zu Gunsten des Dresdner Hofes agiren taffen werde.
König Frie
drich hat die russische Drohung unbeachtet gelassen; auf die Nachricht von dem Plan der Sachsen und Oesterreicher zu einem Winterfeldzuge gegen
Berlin betrat er das sächsische Gebiet und die überraschende Schnelligkeit seiner Waffenerfolge nöthigte seinen Feinden den Frieden auf, ehe daS
russische Corps die preußische Grenze erreichen konnte. Die russischen Truppen machten Halt; bis in den Sommer von 1746 hinein gewärtigte Friedrich II. ihren Angriff und zugleich die Wieder aufnahme der Feindseligkeiten durch Oesterreich.
Petersburg in
AIS sein Gesandter in
seinem Auftrage von dem Großkanzler eine Aufklärung
wegen der russischen Truppenconcentrattonen erbat, wurde ihm eine nichts sagende Antwort zu Theil*).
Der Angriff unterblieb, aber die russischen
KriegSvorbereitungey wurden nicht sistirt.
Die Truppen blieben in den
Grenzbezirken versammelt und wurden.verstärkt; jeden Herbst wurden sie
in Winterquartiere diSlocirt, um mit jedem jungen Jahre zu neuen De
monstrationen zusammengezogen zu werden.
DaS währte ein volles Jahr
zehnt, bis zum Ausbruch deS siebenjährigen Krieges.
Man pflegt als Hauptursache des Zerwürfnisses zwischen den Höfen von Berlin und Petersburg, das zu der Betheiligung Rußlands an der europäischen Coalition gegen Preußen führte, den Haß der Kaiserin Eli sabeth gegen Friedrich den Großen zu nennen.
Wenn aber schon ein
einzelner als Urheber des preußisch-russischen Zwistes genannt werden soll^ so war der Krieg vielmehr daS Werk des Kanzlers Bestushew, der die
Kaiserin nur schrittweise, ganz allmältg, in seine Pläne gegen Preußen hineingezogen hat.
Elisabeth von Rußland hatte nichts von der Leidenschaft und Energie, womit
Maria Theresia
den Krieg
gegen Preußen
diplomatisch
und
militärisch vorbereitete, noch auch von jener dämonischen Frivolität, wo
mit die Pompadour das Frankreich Ludwigs XV. in diesen Krieg trieb; in dem weiblichen Triumvirat, das sich gegen den König von Preußen verschwor, nimmt die Zarin ohne Frage den letzten Platz ein.
Sie bis
zur Theilnahme an dieser Verschwörung zu bringen, mußte vieles voran gegangen sein, denn einst hatte man ihr die Lust und Fähigkeit zum Ca*) Vcrgl. Politische Correspondenz Friedrichs deS Großen 5, 74—77. 144.
288
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
baliren vollständig absprechen wollen: zu einer Verschwörung sei ihre Hoheit
zu dick, schrieb vor ihrer Thronbesteigung ein englischer Diplomat*) mit des
Shakespearischen Cäsar gegen die
hageren Leute mit dem hohlen Blick.
Gutartig, weichherzig, empfänglich,
Anspielung auf die Abneigung
von der Natur freigebig ausgestattet, eine majestätische Erscheinung, die
alle Damen ihres Hofes verdunkelte, eine graziöse Erscheinung trotz ihrer Körperfülle, zugleich leutselig, verbindlich und gewinnend**), im Gespräch warm und lebhaft, war die Tochter Peters des Großen auch keineswegs einsichtslos oder geistig unbedeutend***); sie hat, sagt ein preußischer Ge sandter, „diese Art Esprit die bei den Frauen ziemlich häufig ist: eindrin
genden Verstand, Lebhaftigkeit der Einbildungskraft, und wenig Tiefe". Aber vor allem, sie ermangelte nicht bloß jeder Initiative deS Entschlusses,
sondern wie cs schien überhaupt der Fähigkeit zur Entschließung, eine der
Naturen, die geleitet und geschoben werden wollen, um sich dann in der Richtung des einmal empfangenen Impulses gleichsam maschinenmäßig fortzubewegen.
Seit lange in ein sybaritischeS Leben versunken, haßte sie
alles, was sie in demselben stören konnte, waS auch nur die kleinste An
spannung deS Willens von ihr forderte, ihrer beschaulichen Bequemlich
keit die kleinste Bemühung zumuthete. nehmung", schreibt
„ES ist eine sehr schwere Unter
ein anderer Diplomat^),
„die Kaiserin zu einem
Beschlusse zu bringen, und ein sehr leichtes, das Beschließen zu verhin dern.
Jenes kann kaum das ganze Ministerium, dieses aber das schwächste
Mitglied zu Stande bringen." Dieser Schlaffheit, diesem trägen Beharrungsvermögen seiner Sou
veränin hatte es Graf Bestushew vornehmlich zu danken gehabt, wenn es in den ersten Jahren seiner Amtsführung den mächtigen Einflüssen, die auf seinen Sturz hinarbeiteten, nicht gelungen war, die Kaiserin zu
dem lästigen Schritte eines Ministerwechsels zu vermögen.
War damals
Bestushew's Routine in der Politik noch sehr gering gewesen, so war er
seitdem der Kaiserin in dem Maße unentbehrlicher geworden, als er sich mit den Geschäften vertrauter gemacht hatte.
Zugleich pflegte er, wie der
*) Finch, bei Raumer, Beiträge zur neueren Geschichte 2,167. **) „La peraonne de son royaume qui a le plus de politesse et de savoirfaire“ nennt sie Graf Finckensteiu 1. October 1748; ihre äußeren Eigenschaften unterscheiden sie „des le premier abord d’entre toutes celles qui composent sa cour“. ***) „L’Imperatrice reunit dans sa personne les Charmes du corps et de l’esprit. Elle a de la penetration, est enjouee, populaire, a des manieres polies et engageantes, et s’acquitte de tout avec une gräce engageante.“ Generalrelation des preußischen Gesandten Mardefeld 1747. Bergt, dazu den Eng länder Finch bei Raumer 2, 170 und den Franzosen d'Alion bei Zevort Le marquis d’Argenson S. 174. t) Hanbury Williams. Bei Raumer 2, 320.
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
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preußische Gesandte Mardefeld versichert, sich deS Kunstgriffes zu bedienen, die arbeitsscheue und denkfaule Fürstin durch weitläuftige Berichte zu lang weilen und ungeduldig zu machen, um sie schließlich dahin zu bringen,
daß sie alles, was er ihr vorlegte, unterzeichnete: nur zu der Unterschrift einer Kriegserklärung oder eines Todesurtheils werde sie sich nie verstehen,
meinte der preußische Gesandte 1747, denn vor jeder Vergießung von Blut schaudere sie zurück.
Nach der Schilderung, die Mardefeld von
Bestushew entwirft, war der Kanzler beschränkt und träge, rachsüchtig und
verläumderisch, heimtückisch ohne Verstellungsgabe, habgierig und bestech lich ohne Erkenntlichkeit, ein ehrgeiziger Projektenmacher ohne Folgerich
tigkeit deS Denkens und ohne staatsmännische Einsicht, endlich ein „Erzpoltron, der vom Trunk erhitzt sein muß, um ein festes Auftreten zu
affectiren."
„Indem er sich von Mittag bis zum Abend anfeuchtet, setzt
Mardefeld hinzu, so bemerkt man oft genug ein Räuschchen an ihm." Eine wenig schmeichelhafte Charakteristik, aber doch kein Zerrbild, denn auch die Vertreter der Rußland befreundeten Mächte berichten kaum weniger
ungünstig über den Charakter des russischen Premierministers*). Immerhin
stellt Mardefelds Nachfolger dem Minister das Zeugniß aus, daß er sehr arbeitsam sei und bisweilen ganze Nächte bei der Arbeit zubringe, und
jedenfalls hat Mardefeld die Capacität Bestushews wohl stets zu gering angeschlagen, wie er denn auch den Einfluß dasselben anfangs sehr unter
schätzt hatte.
König Friedrich urtheilte Ende 1745, der Hauptfehler Mar
defelds sei die falsche Annahme gewesen,
daß alles
gut gehen werde,
wenn die Kaiserin und ihre persönlichen Günstlinge gewonnen seien.
Die
anderen Gesandten hätten diese vernachlässigt und sich an den Minister
angeschlossen; dadurch hätten sie ihr Spiel gegen Mardefeld gewonnen**).
In seiner Geschichte des siebenjährigen Krieges macht der König seinem Gesandten den Vorwurf, aus schlecht angebrachter Sparsamkeit oder auf
die Eingebung seiner persönlichen Feindschaft während deS Kriegs zwischen Preußen und Sachsen die Auszahlung einer großen Summe unterlassen *) Auf sich beruhen lasse ich die Notiz bei Klaczo, Deux Chanceliers, S. 100, daß Bestushew während seiner siebzehnjährigen Amtsthätigkeit das Stottern simulirt habe, sodaß die Gesandten nach den Conferenzen nie gewußt was er wirklich ge sagt, daß er sich taub gestellt, um sich wichtige Dinge mehrere Mal wiederholen lassen zu können, daß er diplomatische Noten in entscheidenden Fällen mit eigner Hand aber mit unleserlichen Zügen geschrieben habe, um, wenn sie deshalb zurück kamen, den Umständen nach den Sinn ändern zu können. Mardefeld weiß von diesen Dingen nichts; er sagt von seinen Erfahrungen in dieser Beziehung nur: „II pretexte eouvent un döfaut de memoire, qu’il a excellente, pour que les ministres etrangers lui remettent par eerit les propositions qu’ils lui ont faites... II y a une sensible difförence entre les röponses qu’il donne d’abord de son chef et celles qu’il fait apres avoir consulte Wesselowski et Funck.“ **) Politische Correspondenz 4, 359.
290
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
zu haben, die ihm als Gratifikation für den Kanzler angewiesen worden
sei; die Wirkung sei gewesen, daß Bestushew seinen Haß gegdn Mardefeld auf alles,
was preußisch hieß,
ausgedehnt habe*).
Dem Könige
war, als er die Geschichte des siebenjährigen Krieges schrieb, entfallen, daß Mardefeld in -dieser Angelegenheit nach gemessenen Befehlen gehandelt hat.
Nach den Beweisen von Uebelwollen, die Rußland gegen Ende
deS zweiten schlesischen Krieges ihm gegeben hatte, glaubte Friedrich keine
Veranlassung zu haben, nach dem Dresdner Frieden, der zum lebhaftesten Verdrusse des russischen Kanzlers
abgeschlossen worden war, demselben
eine Summe auszahlen zu lassen, die er ihm nur für den Fall der Neu
tralität Rußlands hatte zusagen lassen**).
Und wenn der König später
die Feindseligkeit Bestushews gegen Preußen erst seit dieser Enttäuschung seiner Habgier datirte, so trifft dies nur insofern zu, als erst von diesem
Zeitpunkte an der Haß des russischen Ministers unversöhnlich geworden zu sein scheint; wenigstens sagte Mardefeld später (1747), daß er wenige Tage vor dem Frieden von Dresden nahe daran gewesen sei, den Grafen zu gewinnen.
Sonst aber war dessen Mißgunst gegen Preußen damals
bereits alt eingewurzelt.
Mardefeld in Petersburg
Den ersten Anlaß dazu sollte, wie demselben
erzählt
wurde,
König
Friedrich Wilhelm I.
gegeben haben, der dem Grafen als er russischer Resident in Hamburg war, den preußischen Orden von der Generosität verweigert hätte.
Wenn
Bestushew in den Anfängen der Regierung Elisabeths sich trotzdem die Pflege der Beziehungen zu Preußen angelegen sein ließ und persönlich das
Vertrauen des preußischen Gesandten zu gewinnen suchte, so darf nicht
übersehen werden, daß der Minister nach dem preußisch-österreichischen Frieden von 1742 den Anschluß Preußens an das englische System er wartete: in deS Kanzlers Ergebenheit an die Sache Englands ist der feste Pol feines politischen Verhaltens zu erkennen.
WaS aber dictirte ihrm
die Sympathien für England?
Graf Bestushew hat es nicht unversucht gelassen, seine Politik und
speziell seine wachsende Feindseligkeit gegen Preußen aus dem russischen
Staatsinteresse zu moiiviren.
Noch vor Ausbruch deS zweiten schlesischen
Krieges schreibt er am 11. August a. St. 1744***):
„Der König von
Preußen ist der nächste und der mächtigste Nachbar unseres Reiches und des*) Oeuvres de Prüderie 4, 19. Es handelt stch nicht um 40,000 Thaler, wie an dieser Stelle gesagt wird, sondern um 100,000; vergl. Politische Correspondenz 4, 357. Vorher hatte Bestushew bereits beträchtliche Summen aus Mardefelds Hand genommenn. **) Vergl. Politische Correspondenz 5,12. ***) Martens, Recueil des traites et conventions conclus par la Russie Bd. 5, Petersburg 1880, S. 337.
halb natürlich sein gefährlichster Nachbar, selbst wenn sein Charakter nicht
so unbeständig, länderwuchertsch, unruhig und unwürdig wäre.
Unsere
Gefahr wächst mit der Macht deS Königs von Preußen, und wir würden nicht vorauszusehen vermögen was uns von einem so mächtigen, leicht
fertigen und wetterwendischen Nachbaren alles geschehen kann.
DaS In
teresse und die Sicherheit deS Reiches fordern, unsere Bundesgenossen
nicht tat Stiche zu lassen, d. h. die Seemächte, denen Peter I. stets Rück
sicht zu tragen suchte, den König von Polen als Kurfürsten von Sachsen und die Königin von Ungarn, die durch ihre territoriale Lage naturgemäß
identische Interessen mit Rußland haben."
Unter diesem Gesichtspunkte
begnügte sich der Leiter der russischen Politik nicht mit abwehrenden Maß
regeln, sondern.that frühzeitig die vorbereitenden Schritte zu einem An
griffskriege.
Schon im Herbst 1744 war seine Absicht, die Kaiserin zu
vermögen, Preußen dem Könige Friedrich abzunehmen und es den Polen
zu geben, wogegen diese PleSkow und Smolensk nebst Zubehör an Ruß
land abtreten sollten*).
Nachdem die russischen Truppen auf ihrem Marsch
gegen die preußischen Grenzen Anfang 1746 hatten Halt machen müssen, unterzeichnete Bestushew am 2. Juni dieses Jahres die Petersburger Alliaitz
zwischen Rußland und Oesterreich, mit jenem berüchtigten vierten geheimen
Artikel, von dem noch näher die Rede sein wird und der diesem Vertrage einen offensiven Charakter gegen Preußen gab.
Der Kanzler entwickelte
die Ansicht „daß die russische Regierung sich gegen Friedrich II. nicht blos
sicher stellen, sondern sich mit den Feinden deffelben verbinden müsse, um
seinen Einbrüchen einen Damm entgegenzusetzen, seine Attentate auf das durch Jahrhunderte geheiligte politische System Europa's' zu verhindern." „Die Interessen und die Sicherheit deS Reiches erheischen eS gebieterisch,
daß Akte die danach angethan sind uns von einem Tage zum andern zu schädigen, nicht mit Gleichgültigkeit angesehen werden, und wenn das Haus
des Nachbaren Feuer fängt, so müßte ich im Interesse der eignen Sicher heit beim Löschen helfen, selbst wenn der Nachbar mein größter Feind
wäre; wieviel mehr bin ich dazu verpflichtet, wenn eS mein Freund ist**)." Ein Jahr nach dem Zustandekommen des russisch-österreichischen Bündnisses schloß Preußen am 29. Mai 1747 nach mehrjährigen Verhandlungen eine
Devensivallianz mit Schweden; ursprünglich, Anfangs 1744, als preußischschwedisch-russische Tripelallianz Entente jetzt,
geplant,
sollte die preußisch-schwedische
nach der völligen Umwandlung der Beziehungen zwischen
Preußen und Rußland, den stockholmer Hof der Abhängigkeit von Rußland *) Bericht deS englischen Gesandten Tyrawly, Raumer 2, 200. **) Martens, Recueil etc. 1,145; 5, 357.
Petersburg
8. October 1744,
bei
292
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
entziehen, in der er seit dem Frieden von Äbo gestanden hatte.
In einem
zusammenfassenden Rückblicke auf Bestushew'S nordische Politik sagt König Friedrich später: „Die wahre Ursache der Gereiztheit des Kanzlers Bestu
shew gegen Schweden leitet sich vornehmlich daher, daß er im Grunde
seiner Seele Schweden in der Unterordnung unter Rußland zu sehen wünscht, in der Polen sich befindet.
Zu dieser Unterordnung glaubte er
im Anfänge der Regierung seiner Kaiserin bereits das Fundament gelegt
zu haben.
Als er aber dann sah, daß Schweden seit dem Abschluß seiner
Allianz mit Preußen, unter Beitritt Frankreichs, sich der russischen Herr schaft hat entziehen wollen, wurde er in furchtbarer Weise aufgebracht;
in der Erkenntniß, daß Schweden ihm entgangen sei und daß es nicht
leicht sein werde, dort das Uebergewicht wieder zu gewinnen, kam er auf den Gedanken, die Besorgniß vor einer in Schweden angeblich beabsich tigten Verfassungsänderung vorzuschützen, vornehmlich um sich eine eini
germaßen beträchtliche Partei unter den Schweden zu bilden,
dieselbe zu
stützen und dann bei Gelegenheit irgend eines stürmischen Reichstages
das jetzige schwedische Ministerium zu fällen*)".
Allerdings, wenn Rust
land den Anspruch erhob und eine politische Nothwendigkeit für sich darin
erblickte, seinen Einfluß über den skandinavischen Norden auszudehnen, so mochte Graf Bestushew darüber klagen, daß die preußische Macht in der
durch die schlesischen Kriege gewonnenen Ausdehnung Rußland aus der
ihm in Europa gebührenden Machtsphäre zurückdränge.
Und Preußens
Feinde versäumten nicht, in Petersburg die Flamme zu schüren, die Ueber
zeugung wach zu halten, daß Rußland durch ein vorgelagertes starkes
Preußen zu dem Range einer „asiatischen Macht"**) herabgedrückt werde. Aber die Höfe, die durch solche Insinuationen Rußland in der Vor stellung von der Gefahr der preußischen Macht zu bestärken suchten, ver mochten selbst doch den Argwohn nicht von sich zu weisen, daß die Em
phase, mit der Bestushew seinem Axiom Ausdruck zu leihen liebte, eine
gemachte sei, daß des Kanzlers antipreußische Politik auf ganz anderem
Grunde als auf staatsmännischer Ueberzeugung beruhe.
Rußlands Alliirte
gewannen den Eindruck, daß es dem Kanzler sowohl wie seiner Souve
ränin „eigentlich um nichts so sehr zu thun war als um Geld, welches zu ganz anderen Zwecken als zur Kriegführung verwendet werden sollte."
Die Kaiserin wolle die Subsidienzahlungen ihrer Alliirten zu Bauten und
zur Bestreitung der Ausgaben verwenden, welche ihre verschwenderische Lebensweise verursache, Graf Bestushew habe seine Bereicherung im Auge. *) Jmmediaterlaß an den Gesandten Chambrier in Paris, Potsdam 28. October 1749. **) Bergt, die Instruction für den englischen Gesandten William-, 11. April 1755, bei Raumer 2, 286.
Preußen und Rußland nn Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
293
Wie es dann mit der Kriegsführung auSsah, darüber schienen beide ihren Alliirten um so sorgloser zu sein, als sie wohl wußten, daß Rußlands
geographische Lage ihm die beste Schutzwehr gegen einen feindlichen An griff gewähre, daß sie somit einen solchen selbst von Preußen nicht zu befürchten hätten*).
DaS Urtheil der Alliirten Rußlands dürfte zutreffend fein, zutreffender
jedenfalls, wie wir noch sehen werden, als das des preußischen Diplo maten der im Herbst 1748 schrieb:
„Bestushew fürchtet und scheut die
preußische Macht, und schon allein diese Erwägung wird ihn stets zurück
halten, zum Aeußersten zu schreiten, wofern er nicht sein Spiel vollständig
sicher sieht**)."
Rußland glaubte sich gegen Preußen gedeckt, war aber
grade deshalb allzeit bereit zu Bündnissen und zu Kriegen gegen Preußen,
die an Subsidien und „Cadeaux" ausländisches Gold in die Staatskassen
und Privattaschen strömen ließen.
Bald sollte es dahin kommen, daß Graf
Bestushew bet dem Gesandten einer der Bundesmächte die Erhöhung der
Subsidien als eine Art persönlicher Begünstigung der Kaiserin befürwortete und daß der Gesandte auf diesen zarten Wink bei seinem Hofe die An weisung von 50,000 Pfund Sterling für die kaiserliche Privatchatulle
beantragte***).
Für seine Person bezog Bestushew von England fort
dauernd eine jährliche Pension, ohne gemeint zu sein, dadurch der gelegentüchen Forderung oder Erpressung außerordentlicher Geschenke präjudiciren zu lassen.
Aber die Geschichte ist dem „ entehre Chancelier “ f)
auch die Gerechtigkeit schuldig, daß er gegen die Guineen sich nicht wie erst gegen die prenßischen Thaler und dann gegen die österreichischen Gulden
undankbar erwiesen, daß er mit der englischen Politik treulich alle Schwen kungen durchgemacht hat, um schließlich mit England auf der Seite desselben
Königs von Preußen zu stehen, dessen Gemeingefährlichkeit für Europa
und Rußland der überzeugungstreue Mann mit so beredter Feder demonstrirt hatte. Kurz, was Bestushew, bevor es zu dieser Lösung kam, von Berlin her fürchtete, können füglich nicht wirkliche Gefahren für Rußland gewesen
sein.
Wohl aber mochte er persönlich für sich die Rache des Königs von
Preußen fürchten, der bei einer Wiederannäherung zwischen den beiden Höfen der Stifter des eingetretenen Zwistes naturgemäß zum Opfer fallen zu müssen schienf-f). *) **) ***) t) tt)
Wußte doch Bestushew nur zu gut daß schon früher
Arneth, Maria Theresia 4, 367. Fmckensteins Generalrelation. Bericht Williams', 11. August 1755, bei Raumer 2, 295. So feiert ihn Martens, Becueil Bd. 5, S. V. »Bestushew suppose que je suis vindicatif “ schreibt Friedrich H., Politische Eorrespondenz 5, 315.
294
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
der König seinen Rücktritt gewünscht hatte.
Der Kanzler habe authen
tische Beweise in den Händen, schreibt 1747
ein
sächsischer diploma
tischer Agent*), daß der französische und preußische Hof „direkte an seinem
Untergange gearbeitet", und werde auS einem daher eingewurzelten ewigen
Haß selbigen Höfen jederzeit conträr sein.
Immerhin waren die Anhalts
punkte, die Bestushew 1744 für die Umtriebe deS preußischen Gesandten
gegen seine Stellung gewonnen, nicht so handgreiflich gewesen, daß er
denselben wie den Vertreter Frankreichs, Marquis de La Chetardie, ohne Weiteres hätte deS Landes verweisen dürfen.
Diesem klugen, schneidigen,
sarkastischen Axel von Mardefeld, den der französische Minister d'Argenson einen der gewandtesten Diplomaten deS damaligen Europa's nannte**),
kam auf seinem Posten eine zwanzigjährige Erfahrung, die genaueste Ver trautheit mit den russischen Zuständen zu Gute; je geschickter und ver
borgener, anders als der durch seine früheren Erfolge berauschte Chetar die, er seine Minen gelegt hatte, für um so gefährlicher mußte er dem
Kanzler gelten.
Aber erst Ende 1745 hatte es Bestushew erreicht, daß
die Zarin MardefeldS Abberufung fordern ließ.
Den Grafen Finckenstein,
den der König von Preußen ein halbes Jahr nach MardefeldS Rückkehr
im Februar 1747 zu seinem Gesandten ernannte, beauftragte er mit einem letzten Versuche, den Kanzler zu gewinnen.
Charakteristisch ist die An
weisung, die der alte Mardefeld seinem Nachfolger zu diesem Zwecke mit auf den Weg gab:
„DaS einzige Mittel, zum Ziele zu gelangen, wäre
nach meiner Ansicht, dem Minister große Summen und eine jährliche
Pension anzubieten, was er, eigennützig wie er ist, schwerlich zurückweisen dürfte.
Ich meine daß Graf Finckenstein gut thun wird, sich' direct an
ihn selbst zu wenden, und wenn er in dem Prolog der Complimente, welcher regelmäßig derartigen Anerbietungen vorangeht und in welchem
man die Achtung und Freundschaft deS Souveräns auSkramt,
es für
nöthig hält alle Schuld auf mich zu schieben und mich anzuklagen, durch meine gehässigen Berichte den König verhindert zu haben, seiner Neigung gemäß ein volles Vertrauen zu Bestushew zu fassen, so willige ich von
ganzem Herzen ein und werde es gut heißen."
Graf Finckenstein über
zeugte sich nach seiner Ankunft in Petersburg alsbald, daß der Versuch,
den Kanzler noch umzustimmen, jetzt aussichtslos sei. Ebenso aussichtslos und zugleich zu gefährlich schien eine Wieder
holung deS Versuches, den allmächtigen Minister, dessen Stellung Fincken stein mit der eines türkischen GroßvezierS vergleicht, zu stürzen.
Eine Zeit
lang waren die Blicke und Hoffnungen der Gegner deS Kanzlers innerhalb *) Bei Herrmann 5, 203. **) D’Argenson, Mömoires (ed. Rathery) 4, 439.
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
295
und außerhalb Rußlands auf den Vicekanzler Woronzow gerichtet ge wesen, der als ehemaliger Page der Kaiserin, als eines ihrer Werkzeuge
bei der Thronumwälzung von 1741, vor allem aber als der Gemahl einer nahen Verwandten und intimen Freundin der Kaiserin, ein Mann von großer Bedeutung schien.
Bestushew dankte ihm zum Theil sein Glück;
Woronzow erzählte später dem Grafen Finckenstein, daß er jenen mehr als einmal auf den Knien vor sich gesehen, in Augenblicken wo die Furcht
vor einer plötzlichen Gefahr ihn habe zittern lassen. In der Katastrophe des MarquiS Chetardie scheint Woronzow als Helfershelfer feines College»
ein falsches Spiel gespielt zu haben;
Graf Finckenstetn, zu jener Zeit
preußischer Gesandter in Schweden, hörte dort, daß Woronzow in dem selben Augenblicke wo er sich, bei dem ftanzösischen Diplomaten als in
timer Freund einschmeichelte, sich mit Bestuschew zu seinem Verderben ver schworen habe*), und Finckenstein hat auch als er während seiner Mission
in Rußland in vertraute persönliche Beziehungen zu Woronzow getreten
war, diese Anklage aufrechterhalten**).
Kaum war Bestushew nach Che-
tardie's Ausweisung zum Großkanzler ernannt, als sein bisheriger Gönner Woronzow in politischen Gegensatz zu ihm trat oder wenigstens den Ver tretern Preußens und Frankreichs gegenüber sich diesen Anschein gab; als
er 1745 mit seiner Gattin zur Herstellung seiner Gesundheit eine Reise in daS
südliche FrankrKch unternahm, hieß eS, der wahre Zweck den Woronzow mit seiner Reise verbinde sei seine Kenntnisse auSzubtlden, um nach der Rückkehr an die Spitze der Geschäfte zu treten und Bestushew in das
Nichts zurücksinken zu lassen, auS dem er nie verdient hätte aufzutauchen***).
In Potsdam wie in Versailles wurden der Graf und die Gräfin von MaSlow, denn unter diesem Jncognito reiste daS Paar, gleichmäßig ge
feiert; in Potsdam verstand es der Graf auf der Rückreise im Juli 1746
den ungünstigen Eindruck den sein befangenes Auftreten bei dem ersten Besuche hinterlassen hatte durch die Rückhaltslosigkeit zu verwischen, mit der er sich
über Bestushew
äußerte-f).
Aber nach Petersburg zurück
gekehrt, mußte Woronzow sich überzeugen, daß er den Boden unter seinen Füßen verloren habe.
tegenff),
Obgleich
geistig dem Großkanzler gewiß
nahm er den Kampf gegen denselben nicht auf.
über-
Die preußi-
*) Bergl. Politische Correspondenz 3, 340 Anm. **) „Le comte de Woronzow fut sa dupe et ne contribua pas peu ä la catastrophe du marquis de La Chetardie“ (Finckensteins Generalrelation). ***) Bericht des französischen Gesandten d'Alion, Petersburg 11. Januar 1746, bei Zevort, Le marquis d’Argenson S. 177. t) Politische Correspondenz 5, 142. 143. tt) Finckenstein sagt von Woronzow in seiner Generalrelation: „II a beaucoup de bon eens, et au defaut d’un esprit brillant il a Pavantage de penser avec justesse et avec solidite.“ Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 3. 20
296
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
schen Diplomaten schoben seine Passivität auf seine Kränklichkeit, seinen
Mangel an Selbstvertrauen, Muth und Entschluß, seine Furcht, durch ein
gewagtes Spiel die eigne Stellung zu verlieren.
Ende April 1749 klagte
er dem damaligen Vertreter Preußens, daß seine Tage gezählt seien, daß
sein College seinen Sturz beschlossen habe; man werde ihn als Gesandten an einen fremden Hof schicken oder ihm eine Würde in der Provinz über tragen*).
Daß seine Stellung neben Bestushew ihre großen Schwierig
keiten und Gefahren hatte, steht wohl in der That außer Zweifel**). Gleichwohl wird auf die Freundschaftsversicherungen, in denen Woronzow sich den preußischen Gesandten gegenüber erging, kein allzu großes Gewicht
zu legen sein, denn nach wenigen Jahren treffen wir ihn im Lager der Feinde Preußens: auch Woronzow, berichtet der englische Gesandte Williams
am 4. Juli 1755***), „hat seinen Irrthum eingesehen und ist jetzt über zeugt, Rußland müsse auf den König von Preußen höchst eifersüchtig sein, als auf seinen natürlichsten und furchtbarsten Feind."
Den entscheidendsten Erfolg Bestushew'S und die dauernde Sicherung seines Einflusses bezeichnete Anfang 1747 die Vermählung seines Sohnes
Andreas mit der Gräfin Awdotja Rasumowski, der Nichte des allmäch
tigen Oberjägermeisters, Grafen Alexei Rasumowski.
Kaiserin Elisabeth
hatte den schönen Bauernsohn aus der Ukraine in seiner Verborgenheit
entdeckt, an ihren Hof gezogen, mit Titeln und Würden überhäuft, zu ihrem Günstling gemacht.
„Die Natur die alle körperliche Qualitäten
auf ihn gehäuft, welche einem Herkules von Chthera noth sind, versagte ihm die Gaben des Geistes", so spottete Mardefeld über Rasumowski, und zwar mit Grund; aber alles bet Hofe huldigte diesem „Kaiser der Nacht" (empereur nocturne).
Bestushew bald, die Gegner
Im Bunde mit Rasumowski gelang es
die sich noch zwischen ihn und die Sou
veränin stellen konnten, zu verdrängen.
Der letzte welcher dem Kanzler
zum Opfer fiel, war Graf Lestocq, der kaiserliche Leibarzt.
Einst im
Höhepunkte seines Einflusses hatte man ihn den „Herrgott der Deutschen"
genannt!); den Nationalrussen war er von je ein Abscheu gewesen.
Die
Kaiserin, die seiner Verschlagenheit die Krone verdankte, hatte ihn bei
ihrer Thronbesteigung zum Minister ernannt und ihm lange Zeit ihr Ver
trauen bewahrt, weniger aus Dankbarkeit, als weil sie seiner ärztlichen Beihülfe nicht entrathen zu können meinteü). Seine Freunde beklagten *) Bericht Goltz', Moskau 1. Mai 1749. **) Der dänische Gesandte Graf Lynar berichtet am 24. März 1750 über Woronzow: „II n’y a Sorte d’embüches qu’on n’ait dressees ä ce ministre, saus avoir pu reussir ä le culbuter.“ Hinterlassene Staatsschriften 1, 263. ***) Bei Raumer 2, 290. t) Belicht de« sächsischen Residenten Pezold, 13. April 1743, bei Herrmann 5,184. ft) Mardefeld'S Generalrelation.
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
297
daß er sich in der einen famosen Revolutionsnacht von 1741 an Muth
und
Thatkraft
vollständig
erschöpft
zu haben
scheine*).
Mardefeld,
der ihn auf daS Genaueste kannte, schildert ihn als begabt, wüthig, stand
haft und der Sache des KönkgS von Preußen unbedingt ergeben; aber er bedürfe eines Leiters der ihm Schmeicheleien im Gleise halte.
die Wahrheit sage oder ihn durch
Den Grafen Bestushew, den Lestocq in
den ersten Monaten der Regierung Elisabeths leicht hätte stürzen können, behandelte er von oben herab, auch als des Kanzlers Einfluß bereits fest
begründet war, trotz aller Warnungen seiner Freunde.
Lestocq verletzte
die Zarin, indem er auch ihr gegenüber einen herrischen Ton sich herauSnahm**).
Er hatte ihre Gunst längst verscherzt, während ihr doch ein
Rest von Schamgefühl eine Weile noch verbot,
Rache seiner Feinde auszuliefern.
ihren Wohlthäter der
Aber Ende 1748 erhielt Graf Lestocq
die Knute und ward nach Sibirien geschickt. Noch am 5. December 1747 urtheilte König Friedrich über Bestu-
shew'S Aussichten:
„Die Zeit dieses Gewaltmenschen wird nicht auf die
Länge dauern können, nach allem Anschein wird er sich den Hals gebrochen haben, bevor ein oder höchstens zwei Jahre verstrichen sind***)."
im Sommer darauf schrieb er:
Aber
„Bestushew könnte gegen die Kaiserin
selbst conspiriren, sie könnte eS wissen, und er würde sich doch auf dem
Platze behaupten f)."
Die Kaiserin, sagt Graf FinckensteinS Gesammtrelation über
seine
Mission in Rußland (1. Oktober 1748), hatte die größten Verpflichtungen
gegen Frankreich, und der Kanzler hat daS Mittel gefunden sie dieselben vergessen zu lassen.
Sie hatte Achtung und Freundschaft für den König
von Preußen, und der Kanzler hat verstanden ihr Kälte und Mißtrauen einzuflößen.
Sie wollte den Schweden wohl und liebte den schwedischen
Kronprinzen, und der Kanzler hat eS so gut gemacht, daß sich diese Ge
sinnungen in Haß und Entrüstung gewandelt haben.
Sie verabscheute
den Hof zu Wien, und der Kanzler ist zum Ziel gelangt sie völlig öster reichisch zu machen.
Sie schauderte vor dem Worte ZinSstaat, und eS ist
ihm nichts desto weniger gelungen sie bis zur Annahme von Subsidien von England und Holland zu bringen.
Sie hatte das Haus Holstein
lieb und haßte den dänischen Hof, und der Kanzler hat die Kunst besessen ttCe diese Gefühle umzumodeln und nach seinem Sinne zu kehren. Im Jahre 1750 war Bestushew soweit vorgeschritten, daß er sich
*) **) ***) t)
Finckenstein'S Geoeralrelation. Mardefeld's Generalrelation. Politische Correspondenz 5, 538. An Finckenstein, 16. Juli 1748.
298
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
den Anschein geben durfte, als sei er eS, der die Differenzen mit Preußen
beklage, als weiche er nur der Animosität der Kaiserin. wenig
in die Karten
statter*),
gesehen hat", bemerkt
„Aber wer ein
ein neutraler Berichter
„der kann nicht zweifeln daß der Kanzler nicht ungern sieht,
wie diese Animosität mehr und mehr wächst".
Fragen wir nach den Mitteln deren Bestushew sich bediente um seine Kaiserin gegen den König von Preußen einzunehmen, so unterliegt eS keinem Zweifel, daß die Jmportirung und Colportage herabsetzender Aeußerungen
über die Person der Zarin, die
ausgedehntestem Maße
aus
Potsdam
zu diesem Zwecke hat
stammen sollten,
dienen
müssen.
in
Man
beobachtete als eine charakteristische Eigenschaft Elisabeths daß nichts ihre
Aufmerksamkeit zu fesseln vermöge, wenn es nicht etwas enthalte „so ihre Gloire und Person angehet**)".
Durch persönliche Aufmerksamkeiten und
Verbindlichkeiten, durch Rathschläge und Warnungen im Interesse der Sicher heit ihrer Person und ihres Thrones, hatte König Friedrich das Ver
trauen und die Zuneigung der Kaiserin sich gewonnen, durch persönliche Einwirkungen auf die schwache Frau von entgegengesetzter Seite verlor er daS eingenommene Terrain.
Friedrich hat in einer Aufzeichnung ver
trautester Natur, in seinen 1746 entstandenen, nur für seine Nachfolger
bestimmten Memoiren über die schlesischen Kriege, die Kaiserin allerdings nicht geschont; was er in Gesprächen und in der Tischlaune, an der Ta
felrunde zu Sanssouci, über Elisabeth gesagt haben mag, entzieht sich der historischen Controle; er selbst hat sich wiederholt mit Entschiedenheit da gegen verwahrt, der Kaiserin in seinen Aeußerungen zu nahe getreten zu sein, und eS scheint beachtenSwerth daß in den zahlreichen Gedichten, die der
König 1750 für einen kleinen Kreis von Freunden drucken ließ und in
denen andere gekrönte Häupter Europas mehr als einen Hieb bekommen, die Kaiserin von Rußland fast nie erwähnt wird; nur einmal, in An lehnung an die Stelle in der AeneiS***), wo die Furie der sanften Gattin
des LatinuS den Sinn verwirrt, spricht Friedrich von der neuen Amate, der die höllische Zwistgöttin daS Herz vergiftet habe-s); aber verletzender
Spott wird mit dieser Anspielung nicht verbunden, und grade der Ver
gleich mit den starken Stellen der Memoiren des Königs legt die An nahme nahe, daß er in seinen Versen sich mit Bewußtsein der Person der *) Der dänische Gesandte Lynar.
Hinterlassene Staat-schriften 1,431.
**) Vergl. den Bericht des sächsischen Residenten Pezold vom 12. April 1745, bei Herr mann 5,195. „Diese ihre Gemüthsbeschaffenheit macht sich vornehmlich der König von Preußen zu Nutzen."
•**) Buch 7, 341 ff.
t) Oeuvres de Fr6d6ric 10, 34.
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
gegenüber Zurückhaltung
Zarin
zum
Gesetz gemacht hat*).
299
Weniger
glimpflich freilich als mit ihrer Person verfährt die Poesie deS Königs mit dem Reiche der Kaiserin, dem „Schlupfwinkel der Bären", dem „Abbild
des TänaruS", mit ihren Unterthanen, den Hyperboreern, dem Barbaren schwarm aus Sibirien, als Sclaven fechtend und als Tartaren fliehend,
und zumal mit ihrem ersten Berather, dem verabscheuungswürdigen Mi nister, der Geißel Rußlands, dem Ungethüm dessen furchtbarer Arm auf
Moskau lastet**).
ES
mag
dahingestellt bleiben,
wieviel von diesen
Versen bis zum Ohre der Feinde des Dichters gelangt ist; aber sicher
ist eS, daß Bestushew und seine Kreaturen und daß die ftemde Diplomatie am russischen Hofe eS an systematischen Einflüsterungen gegen den König
von Preußen nicht haben fehlen lassen, und eS war vielleicht kein Zufall, daß die Preußen feindlich gesinnten Mächte wiederholt solche Vertreter nach Rußland schickten die zuvor in Berlin accreditirt gewesen waren***)
und die also für die epigrammatischen Bosheiten welche sie auf Rechnung des Preußenkönigs setzen mochten, um so größere Glaubwürdigkeit in
Anspruch nehmen konnten.
In welchem Sinne Bestushew die Berichte
der Gesandtschaft in Berlin gefärbt wünschte, daS erhellt aus den Zumuthungen die er und die Graf Bernes, der österreichische Gesandte in Berlin, an den dortigen Vertreter Rußlands, den Grafen Keyserlingk,
stellten.
Baron Pretlack, der österreichische Gesandte in Petersburg, schrieb
seinem College« in Berlin, daS russische Ministerium sehe den Schaden ein, den KeYserlingkS Berichte bei der Zarin machten und habe deshalb
demselben
„auf das deutlichste und nachdrücklichste wohlmeinend zu er
kennen" gegeben, daß er „deS Königs Thun und Lassen nicht so obenhin
sondern weit
gefährlicher angeben solle".
Sofort nahm Graf BerneS
Veranlassung, Keyserlingk der sichereren Wirkung halber in „eine ausdrück
liche Conversation" zu ziehen.
AIS Keyserlingk, so sind BerneS Worte
„mir mit seinen bekannten PrincipiiS wieder angezogen kam, man müsse den Höfen ihrö habende Zwistigkeit vielmehr benehmen als vermehren und
alles auf gütlichem und friedlichem Fuße zu unterhalten suchen, habe ich mich
endlich determiniret zu sagen, daß gewiß kein Mensch dergleichen
PrincipiiS zu folgen verlangte und man könnte solche hierselbst nicht brauchen-f)".
Nach einer Mittheilung, die dem Könige durch den von ihm
*) Auch die Stelle im Palladien (Oeuvres 11, 242), welches der König 1750 zwar drucken ließ aber nicht vertheilte, gilt doch nicht sowohl der Person der Kaiserin als den russischen Zuständen. **) Oeuvres 10, 34.147. 156. ***) Oesterreich den Marquis Botta und die Grafen Rosenberg und BerneS, Dänemark den Obersten de CheuffeS, England Hyndford, Guy Dickens und Hanbury Williams. t) Schreiben PretlackS an BerneS, Petersburg 6. Juli 1747. Bericht BerneS' an Maria Theresia, Berlin 22. Juli 1747. Diese Aktenstücke sind dem Könige von
300
Preuße» und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
erkauften Secretär des Grafen BerneS zugetragen wurde, hätte Kehferltngk
dem Oesterreicher unmuthsvoll entgegnet, er gedenke als Ehrenmann und als treuer Diener seiner Kaiserin zu handeln und kein Mensch werde eS
ihm abgewinnen, daß er seine Berichte mit Lügen auSstaffiren und seinen
Hof durch Erfindungen allarmiren sollte. Wenn Zumuthungen dieser Art Cavalieren gemacht wurden, so läßt sich ermessen, mit welchem Hochdruck auf ein paar Heiducken eingewirkt
sein wird, die aus der unmittelbaren Dienerschaft des Königs von Preußen in den russischen Hofdienst übernommen waren und nun von den verächt
lichen und beschimpfenden Reden, die der König über die Zarin geführt haben sollte, nicht genug zu erzählen wußten; natürlich war dafür gesorgt,
daß der Bedientenklatsch durch das Organ geschäftiger Kammerfrauen bis zum Ort seiner Bestimmung gelangte**), und wo konnte diese Ohrenbläserei
auf fruchtbareren Boden fallen, als bei einer Fürstin, die ohnehin als
andächtige Tochter der Kirche in dem philosophischen König einen ReligionSspötter sah, als die Gesalbte des Herrn auf dem Scheitel dieses Ungläubigen den Weihetropfen des
heiligen OelS
vermißte und
als
Kennerin der Liebesfreuden dem Cölibatär von Sanssouci die Vernach lässigung seiner ehelichen Pflichten verargte**)?
UeberdieS verstand eS nun Bestushew mit großer Findigkeit Differenz punkte zwischen den beiden Höfen zu entdecken und an das Licht zu ziehen,
untergeordnete Kleinigkeiten zu Haupt- und StaatSactionen aufzubauschen. Die erfundene Behauptung^ daß Preußen die Garantie Rußlands für den Dresdner Frieden nicht gewünscht habe***), mußte die Handhabe geben, Preußen durch den österreichischen Legationssecretär Weingarten mitgetheilt worden. Veröffentlicht 1757 in der preußischen StaatSschrist „Refutation de l’ouvrage intitulS Remarques sur les manifestes de guerre du roi de Prasse“. Mit theilungen aus dieser Quelle u. a. schon in des Königs Erlassen an Finckenstein 22. und 29. Juli 1747, Politische Correspondenz 5, 441. 446. *) Vergl. den Bericht des dänischen Gesandten Graf Lynar 8./19. December 1750, Hinterlassene Staatsschriften 1, 430. **) Lynar a. a. O.: „Sa Majeste Imperiale n’aime dejä guere le Toi de Prasse, parce que, suivant ses idees et comme eile s’explique, ce Prince n’a point de religion, qu’il ne fait aucun cas de la Reine, qu'il ne veut pas vivre avec eile, qu’il n’a pas ete sacre, defaut qu’on regarde ici comme tres essential, et qu’il a encore d’autres qualitös qui deplaisent souverainement.“ ***) In einer russischen Note vom 23. December a. St. 1746 wird behauptet; daß wie Ihre Majestät die römische Kaiserin zu der Zeit als der Dresdnische FriedeuStractat negociiret wurde, um demselben einen besonderen Articul, mittelst welchen der hiesige (russische) Beitritt und Garantie gemeinschaftlich auverlanget werden sollte, anzu hängen ausdrücklich vorstellen lasten, Ihre Majestät der König in Preußen darauf gar nicht entriren wollen." Daraufhin wurde der preußische Gesandte in Wien, Graf O. PodewilS, beauftragt, von dem Grafen Harrach, der die Verhandlung in Dresden geführt hatte, ein Zeugniß zu erbitten. PodewilS berichtete, Wien 26. April 1747; „Je dis au comte de Harrach que Votre Majeste, connaissant sa probite et sa candeur, S’en remettait sans hesiter ä son
in einer Reihe diplomatischer Noten den Ton gereizter Empfindlichkeit
anzuschlagen.
Zu, noch ärgerlicheren Auseinandersetzungen führte das
Schicksal eines preußischen OfficiorS, der auf einer Urlaubsreife als liv ländischer Vasall „wegen verschiedener von ihm begangener Verbrechen" in Rußland festgenommen und Jahre lang in Gewahrsam gehalten wurde,
sowie die Weigerung der Kaiserin, einem im russischen CadettencorpS dienenden Schlesier den von ihm verlangten Abschied zu gewähren; und endlich erließ, wie dies nur bei Beginn eines Krieges zu geschehen pflegte, die Kaiserin Avocatorien an ihre in ausländischen Kriegsdiensten stehenden Unterthanen, obgleich eine ausdrückliche Bestimmung des Nhstädter Friedens
von 1721 den Lievländern und Esthen, deren mehrere im preußischen Heere dienten, das Recht zum Eintritt in ftemde Kriegsdienste gewähr
Besondere Empfänglichkeit bei der bigotten Kaiserin aber
leistet hatte.
fand ihr Kanzler, als er im Interesse des Seelenheils der Soldaten griechischer Confesfion, die einst die Kaiserin Anna dem Könige Friedrich
Wilhelm I. als Rekruten überlassen hatte, in Berlin deren Zurücksendung Wenn Elisabeths Vorgängerin ihre Leibeigenen dem Könige
fordern ließ.
von Preußen ohne Bedingungen geschenkt hatte, so glaubte jetzt Friedrich die Zurücksendung mit gutem Grunde verweigern zu dürfen**), die sogar
eine Unbilligkeit gegen diese Veteranen in sich zu schließen schien:
längst
nicht mehr im activen Kriegsdienste, hatten sie sich in Preußen verheirathet
und eine bürgerliche Existenz begründet, die sie nun selbst nicht aufzugeben wünschten**).
Friedrichs Minister riechen ihm zum Entgegenkommen in
dieser Frage.
Wenn eS dem Könige darauf ankomme, so hielt Mardefeld
ihm vor***), die Kaiserin von Rußland persönlich zu verpflichten, dann
werde eS ihm sicher durch die Heimsendung der alten russischen Soldaten gelingen. stellungen.
MardefeldS Nachfolger in Petersburg wiederholte diese Vor
Der König erwiederte ihm: „Gesetzt ich gewönne die persön
liche Freundschaft der Kaiserin, wozu würde sie mir bienen?"!)
Immer
wieder betont er, daß er nicht mit der Kaiserin, sondern mit ihrem ersten Minister zu thun habe.
„Alle Politessen", sagt er gelegentlich!!), „so
wir dem peterSburgischen Hofe gethan haben, sind von keinem besonderen
*) **)
***) t) tt)
tömoignage sur cette affaire. Oe ministre me dit qu’il etait pret ä le rendre, lorsqu’on lui demanderait; que dans tonte la negociation il n’avait jamais ete question de Faccession ni de la garantie de la Russie.“ Podewils' Bericht wurde am 6. Mai an den preußischen Geschäftsträger Warendorff geschickt, zur Mittheilung an den Grafen Woronzow. Vergl. Politische Correspondenz 5, 525. 526. Wie neuerdings auch von russischer Seite anerkannt wird; vergl. B. v. Köhne, Ein Porträt Friedrichs d. Gr. rc., Russische Revue Jahrgang 1880, Heft 8, S. 161. In seiner Gesammtrelation. Vergl. auch Politische Correspondenz 5, 354. 12. März 1748. 17. Februar 1748.
302
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
Effect gewesen und haben uns nichts geholfen".
Er befahl seinem Ge
sandten*), dem Grafen Woronzow, der trotz seiner Eifersucht auf Be
stushew einst gleichfalls zu einem entgegenkommenden Schritte rieth, ganz offen zu sagen, man habe alle schonenden Rücksichten und Aufmerksam
keiten
für Rußland gehabt die Rußland sich nur wünschen gekonnt, so
lange Rußland durch gewisse Rücksichten auf Preußen die Gegenseitigkeit
beobachtet habe; seitdem aber Rußland sich in einer Weise gegen Preußen aufgeführt habe, daß eS fast die gewöhnlichsten und gebräuchlichsten Schick-
lichkeitSregeln außer Auge lasse, bleibe nicht der geringste Grund vorhanden,
der Preußen zu dem gewünschten entgegenkommenden Schritte veranlaffen könne.
Also in consequenter Anwendung deS Princips der Gegenseitigkeit
vernachlässigte der König die Pflege der Beziehungen zu Rußland jetzt mit Bewußtsein.
Er glaubte zu wissen, daß man in Rußland „ihn mehr
scheue, als er je Rußland gefürchtet habe**)", und er fand eS für gut, dem
feindlichen Nachbaren das Gefühl seiner Ueberlegenheit lassen.
durchblicken zu
Auch Graf Finckenstein empfahl und billigte diese Tactik, nachdem er
die Verhältnisse am russischen Hofe näher kennen gelernt hatte.
„Ich begreife
in der That, schrieb der Gesandte am 20. Januar 1748, daß es gefährlich
sein würde, diesen Leuten zu wohl werden zu lassen***) und ihnen keine Empfindlichkeit wegen aller ihrer Unarten zu erkennen zu geben".
Der
König antwortete ihm (5. Februar 1748) „Ich erlaube Ihnen von Herzen
gern, sich auf das hohe Pferd zu setzen, so oft und wann immer Sie eS für dienlich halten".
Mit Befriedigung schreibt er dem Gesandten ein
anderes Mal (2. Juli 1748) „Rußland wird sich nicht rühmen können daß
ich ihm dieselben Auszeichnungen und Caressen erwiesen hätte, mit denen eS durch andere Mächte gefeiert wird; im Gegentheil bin ich vor dem
Petersburger Hofe bis jetzt nicht den geringsten Schritt zurückgewichen". Schon unmittelbar nach dem Dresdner Frieden hatte er für seine Politik
gegen Rußland den Grundsatz aufgestellt, daß eS das
beste sei
„den
Bären in seinem Lager zu lassen und ihm nicht selbst weiß zu machen, als ob man seiner nöthig habe oder ihn fürchtefi)".
Jetzt nach einem Zeit
raum von zwei Jahren, am 12. März 1748, schrieb er in einem seiner vertraulichen Erlasse an Finckenstein:
„Ich kann mir nicht vorstellen welch
großes Bedürfniß wir von Rußland hätten: ebensowenig kenne ich die aus
gezeichneten Dienste, die meiner Dynastie von Rußland erwiesen sein sollen.
Glauben Sie mir,
alles wohl gerechnet, so haben wir das
*) 6. December 1749, an Finckensteins Nachfolger Goltz. **) 20. October 1747. Politische Correspondenz 5, 509. ***) „De mettre ces gens-ci trop ä, ieur aise.“
t) Politische Correspondenz 5, 11.
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem Yebenjährigen Kriege.
moSkowitische Reich nicht nöthig
303
und können sehr wohl ohne dasselbe
leben." DaS Gefühl der Stärke das sich in diesen Worten ausspricht, gaben dem Könige seine Beziehungen zu den beiden großen Westmächten.
Für
sein Verhältniß zu England und Frankreich und dem entsprechend für sein
Verhältniß zu Rußland lassen sich innerhalb deS Zeitraums vom Dres
dener Frieden bis zum Ausbruch deS siebenjährigen Krieges drei Phasen unterscheiden; die erste endet mit dem Sommer 1748, die zweite mit dem Sommer 1755 und die dritte und kürzeste bildet das dem Kriege voran
gehende Jahr.
In der ersten Periode hält sich König Friedrich ungefähr
in der Mitte zwischen den beiden einander feindlich gegenüberstehenden
Mächten, bald mehr zu Frankreich, bald mehr zu England hinnetgend. Als er im August 1745 durch die Convention von Hannover seine schon vor Ausbruch des zweiten schlesischen Krieges gestörten Beziehungen zu England hergestellt hatte, sagte er, statt eines Bundesgenossen werde er
künftig deren zwei haben*).
Unmittelbar nach dem Doppelfrieden mit
Oesterreich und Sachsen, an dessen Zustandekommen die englische Diplotie einen gewissen Antheil hatte, hätte er ein Zusammengehen mit Eng
land dem mit Frankreich vorgezogen;
der preußische Gesandte, der einen
Monat nach dem Frieden an den sächsischen Hof ging, erhielt die In
struction, sich gegen den dortigen Vertreter Englands weniger reservirt zu halten, als gegen den Gesandten König Ludwigs XV.**)
Wenige
Wochen darauf hatte König Friedrich die Genugthuung, daß der Versuch Georgs II. zu einer Neubildung deS englischen CabinetS im Sinne einer
großartigen continentalen Actionspolitik, kläglich Fiasko machte: zwei Tage nur konnte Georg den Mann seines Vertrauens halten, Lord Granville, einen ausgesprochenen Gegner des Königs von Preußen; insgesammt über
nahmen die bisherigen Räthe
der Krone wieder ihre Portefeuilles***).
Als dann im November 1746 Lord Harrington, der StaatSsecretär der die Convention von Hannover unterzeichnet hatte, aus dem Ministerium auSschied, und Lord Chesterfield die Leitung der auswärtigen Angelegen
heiten übernahm, glaubte Friedrich II. Symptome einer Erkaltung deS englischen CabinetS in seiner Politik
gegen Preußen wahrzunehmen fi);
aber seine Hoffnung auf eine dauernde Befestigung seiner Beziehungen
zu England wurde lebhafter als je, als im Frühjahr 1748, kurz vor Ab schluß der Friedenspräliminarien, nach längerer Pause ein englischer Ge*) **) «**) t)
Politi che Politi che Politi che Politische
Correspondenz Correspondenz Correspondenz Correspondenz
4, 322. 5,15. 5, 38—45. 5, 270.410.
Preußen und Rußland im Jahrzehnt Var dem siebenjährigen Kriege.
304
sandter, Sir Heinrich Legge, in Berlin erschien und den Auftrag zur Anbahnung einer Allianz mitbrachte, die von englischer Seite schon 1746
angeregt worden war*), deren Abschluß aber König Friedrich damals bis
zur Herstellung des europäischen Friedens hatte verschoben wissen wollen. Als Legge in Berlin angemeldet war, schrieb der König an seinen Ge
sandten in Wien (2. März 1748): „Die besten Hilfsquellen, die ich gegen den bösen Willen der Oesterreicher haben kann, sind meine eignen Kräfte, die Maßregeln die ich ohne Unterlaß treffen werde, um mich in einen
Zustand zu setzen, in welchem ich nichts zu fürchten habe, und ein gutes
Einvernehmen mit den Seemächten."
So hat denn dqr König auch in
Hinblick auf Rußland während dieses ersten halben Lustrums nach dem
dresdener Frieden mit dem Rückhalte gerechnet, den er an England zu haben hoffte; denn er sagte sich, daß dem englischen Hofe sein eigenes
Interesse verbiete, einen russischen Angriff auf Preußen zuzulaffen oder gar zu begünstigen und so zu dem mitteleuropäischen Kriege eine Verwicke
lung im Norden hinzulreten zu lassen**); ja er war zugleich der Ansicht
daß man in England nicht ungern einen mächtigen Fürsten in Deutsch land sehe, der im Nothfall das Haus Oesterreich in seinen Schranken
halten könne***).
Daß an der Allianzverhandlung zwischen den Höfen
von Wien und Petersburg die englische Diplomatie und
daß an den
russischen Rüstungen und Truppendemonstrationen das englische Gold nicht
unbetheiligt waren, beruhigte den König, statt ihn in Aufregung zu setzen; denn dieser Umstand, so sagte er, verbürge ihm, daß die militärischen
Vorkehrungen Rußlands nicht offensiver Natur, sondern nur dazu bestimmt
seien, Preußen in Schach zu halten und seinen Wiedereintritt in den Krieg zu Gunsten Frankreichs zu verhinderns).
Ebenso beruhigte es den König
daß die 30,000 Russen, die Anfang 1748 als Hilfscorps für den wiener
Hof auf weiten Umwegen durch Polen, Mähren, Böhmen und Franken nach dem Rheine zu marschirten, im Solde der Seemächte standen, denn
darin sah er eine Garantie, daß sich dieses Truppencorps nicht plötzlich
zum Angriffe gegen Preußen wenden werde. Worte:
Hören wir Friedrichs eigne
„Es steht fest, daß die Russen, ohne durch die Subsidien einer
fremden Macht unterstützt zu werden, nicht im Stande sind, mit Aussicht
auf Erfolg sich mit den Oesterreichern gegen mich zu verbinden" (27. Ja nuar 1748).
„Der Wiener Hof kann nichts gegen mich unternehmen ohne
die Mitwirkung Englands, denn die Russen allein sind dazu nicht stark
*) **) ***) t)
Politische Politische Erlaß an Politische
Correspondenz 5, 33. 49.141. Correspondenz 5, 140. 145. den Grafen Otto Podewils in Wien, 27. Januar 1748. Correspondenz 5,159.162.179.
Preußen unb Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
genug
ohne fremde Geldbeisteuer" (9. Dezember 1747*).
305
„Trotz alles
bösen Willens des Kanzlers, fürchte ich wenig von Rußland, solange eS
Subsidien von England bezieht, weil ich hinreichend unterrichtet bin, daß in der augenblicklichen Lage Englands Interesse daran betheiligt ist, mich nicht mit Rußland handgemein zu sehen.
Ebenso wenig setzen mich die
freigebigen Spenden in Unruhe, die der Kanzler von dem Hofe zu Wien empfangen mag, wenn nur gleichzeitig England dem Petersburger Hofe Subsidien zahlt und ihn dadurch in einer Art von Abhängigkeit hält, denn
noch einmal, ich bin überzeugt, daß da- gegenwärtige englische Ministerium mir nicht in dem Grade übel will, daß eS mich im Kriege mit Rußland
sehen möchte" (18. September 1747**).
WaS der König an dieser Stelle
nur für die augenblickliche Lage sagt, stellt er ein andere- Mal ohne solche
Einschränkung hin, wenn er sich nicht denken kann, daß selbst nach dem allgemeinen Friedensschlüsse der König von England den wiener Hof bis
zu dem Grade sollte begünstigen wollen Rußland für einen Offensivkrieg gegen Preußen Geld zu zahlen (25. Juli 1747***).
Noch allgemeiner
formulirt diese politische Berechnung schon ein Brief vom 1. August 1746:
„So lange Rußland mit England gut steht, und England mit mir, wird der wiener Hof niemals zu seinem Ziele gelangen f)." An einen Versuch, die Stellung des Grafen Bestushew zu erschüttern,
dachte König Friedrich 1748 nicht mehr.
„Ein Ministerwechsel in Ruß
land wäre mir gegenwärtig vollständig gleichgültig", schrieb er am 20. Mai an Finckenstein; „so lange ich mit England auf gutem Fuße bleibe, habe
ich von Rußland nichts zu fürchten." Noch während dieses Sommers sollte die ganze politische Conjunctur
sich wandeln. *) **) ***) t)
Politische Politische Politische Politische
Reinhold Koser. Torrespondenz Correspondenz Eorrespondenz Correspondenz
5, 540. 5, 478. 5, 443. 5,153.
Ein Wort zur Verständigung über die jetzigen Studentenverhältnisse.
Während an vielen Orten die zum großen Theil in höheren Lebens
stellungen befindlichen
früheren
Mitglieder studentischer Verbindungen
den Interessen derselben eine Theilnahme zeigen, welche ohne deren Billi
gung undenkbar sein würde, wird von anderer Seite das Bestehen arger Mißbräuche im jetzigen Universitätsleben behauptet.
Zwar kann es nicht
Wunder nehmen, wenn der Abgeordnete Reichensperger, welchen theologische Conviktoristen mehr anmuthen mögen als Corpsstudenten oder Burschen schafter, kürzlich in einer Parlamentsrede das
jetzige Universitätsleben
so ziemlich als ein Uebergangsstadium zum Untergange beurtheilte, aber auch von amtlicher Stelle wurde das Vorhandensein von Mißständen an
erkannt und in der Schlesischen Zeitung hat vor Kurzem ein Mann, der
— wenn wir den Autor richtig vermuthen —, jetzt in einem höheren
Staatsamte stehend und als Autorität in seinem Fache wohlbekannt, seiner Zeit Schläger und Becher Wohlgemuth geschwungen hat, wenn auch ohne
Verurtheilung der althergetrachten studentischen Lebensweise, doch mit ernster
Mahnung auf schärfer hervortretende Schwächen des Studentenlebens hin
gewiesen.
In der That sind auch jene, noch jetzt an den Interessen ihrer
jüngeren Verbindungsgenossen Antheil nehmenden Männer („alte Herren" nach dem technischen Ausdruck) im Wesentlichen darüber einig, daß Man
ches nicht so ist wie eS sein sollte, und man braucht, um dies zu erkennen,
kein sauertöpfischer Ascet, kein Frömmler oder Bücherwurm zu sein, aber andererseits darf man sich auch der Einsicht nicht verschließen, daß, unge rechnet die von Hauff so begeistert geschilderte Poesie der Burschenzeit,
in dem Verbindungsleben ein tüchtiger Kern steckt und daß, was für
Viele nicht paßt, für viele Andere unschädlich oder nützlich sein kann. Bei Beurtheilung der ganzen Frage muß der wissenschaftliche Stu dienplan der einzelnen Fakultäten außer Erörterung bleiben und können die etwaigen Excesse in Großstädten, welche von jungen Leuten aller andern
Fächer ebenso oddr wohl in noch höherem Grade begangen werden, nicht
Ein Wort zur Verständigung über die jetzigen Studentenverhältnisse.
in Betracht kommen;
307
eS handelt sich nur um das eigentlich studentische
Treiben, Herr Reichensperger irrt unseres Wissens, wenn er die Verbindungs
studenten — er sprach von den Studenten im Allgemeinen, meinte aber wohl diese — der Gegenwart für fauler hält als die vor 30 oder 40 Jahren.
Den jetzigen Philologen und Medizinern ist so wenig wie den
früheren unbekannt, daß sie bei Zeiten sich einem wirklichen Studium
widmen müssen, wenn sie die Prüfungen bestehen wollen, sie könnten ohne Schaden für Corps und Burschenschaft fleißiger sein, wie sie auch früher hätten fleißiger sein können, aber noch jetzt erweisen nicht wenige unter ihnen bessere Resultate als die Mittelmäßigkeit und auch eine große Zahl solcher, die sich den eigentlich studentischen Vergnügungen fern halten,
kommt mit genauer Noth an daS vorgeschriebene Ziel und bleibt zeitlebens
in untergeordneten Verhältnissen.
Die Juristen entwickelten schon vor
30 Jahren den geringsten oder am spätesten den nothwendigen Fleiß und haben auch heut auS mancherlei Gründen die relativ geringste Neigung
sich mit regem Eifer in die Pandekten zu stürzen.
ES wäre höchst er
wünscht, wenn sie sich früher und energischer ihrem Fachstudium hingeben wollten, wenn sie eher daran dächten, daß im Examen die Falcidische Quart ungleich wichtiger ist als die eleganteste Tiefquart, aber der Schaden in
dieser Beziehung ist kein unersetzlicher, er kann durch strengere Anforde rungen im Examen, durch Aufmerksamkeit der Eltern wesentlich herab gemindert werden; ob ein ganz veränderter Studienplan der angehenden
Juristen, welcher die Verbindungen sicher nicht schädigen würde, eine bessere Ausbildung zur Folge haben würde, kann hier unerörtert bleiben.
Wenn wir die traurige Thatsache nicht leugnen können, daß mancher
hoffnungsvolle Verbindungsstudent zu Grunde geht, so dürfen wir auch nicht verschweigen, daß dies oft genug nicht wegen, sondern trotz der Ver
bindung geschieht, weil der junge Mann nicht blos die Ermahnungen seiner
Eltern, sondern auch die seiner Genossen und älteren Freunde in den Wind schlägt. Auf der anderen Seite haben wir aber die Wahrnehmung gemacht, daß eine auffallend hohe Zahl früherer Verbindungsstudenten
(zufällig haben wir eS vorzugsweise bei Corpsstudenten beobachtet) über
das Ziel der gewöhnlichen Mittelmäßigkeit hinausgelangt;
namentlich in
höheren Beamtenstellen finden sich viele „alte Herrn", während dieselben
in der reinen Wissenschaft weit schwächer vertreten sind. Der letztere Um
stand ist leicht erklärlich. Die Männer, welche als Gelehrte, in der reinen Wiffenschast, Hervorragende- leisten, haben zwar nicht immer, aber doch
in den meisten Fällen für ihr Fach- schon von der ersten Studienzeit an eine solche Vorliebe, daß die Interessen irgend einer Verbindung daneben
Ein Wort zur Verständigung über die jetzigen Studentenverhältniffe.
308
keinen Platz finden, während zahlreiche fähige Jünglinge kurz nach dem
Abiturientenexamen noch keine solche ausschließliche Neigung fühlen und Wenn
sich zunächst begeistert dem akademischen Lebensgenuß hingeben.
nun ein verhältnißmäßig großer Bruchtheil derselben später zu sicheren Lebensstellungen gelangt, so liegt der Grund weniger darin, daß die Corps
studenten häufig aus wohl situirten Familien stammen, als vielmehr we
sentlich in der Schneidigkeit des Charakters, in der rücksichtslosen Hingabe an ein Prinzip, welche angeboren oder, wenn das dieser Eigenschaft ent
behrende Mitglied nicht in mehr oder weniger rauher Weise eliminirt werden will, erworben werden muß.
Der Corpsstudent — dies gilt auch
von einigen anderen Verbindungen — lernt bald in seiner Gemeinschaft, in dem dreifarbigen Bande ein Ideal 'finden, dessen Ehre seine Ehre, für welches er Opfer zu bringen, seine Person einzusetzen bereit ist.
Anschauungsweise überträgt sich auch auf spätere Verhältnisse.
Diese
Ebenso
rückhaltlos, wie er als Student sein jugendliches Ideal vertreten hat, ver folgt er später das vorgesteckte Ziel und welches er als daS richtige erfaßt hat.
giebt sich dem Prinzip hin,
Bor der Durchführung deS Kon-
viktswefenS betheiligten sich auch katholische Theologen an diesen konfessions
losen Verbindungen; die unS bekannten sind nicht nur würdige, überzeugungötreue, rasch zu höheren Aemtern gelangte Priester geworden, wir
könnten auch mehrere
Namen von Solchen
nennen, die sich in
dem
jetzigen Kirchenkonflikt zwar nicht durch Bitterkeit, aber durch entschlossenes Handeln bemerkbar gemacht haben. Geschah dieß auch im Sinne des uns
sehr unsympathischen UltramontaniSmuS, so führen wir doch die Thatsache als charakteristich für daS erwähnte Drangeben der Person an.
wichtige wesen.
Eine nicht un
Rolle bei dieser Ausbildung deS Willens spielt das Mensur
Duelle sind verboten, noch mehr, sie können unter Umständen
eine Narrheit oder ein Frevel sein.
Von den Studentenduellen ist daS
nicht zu behaupten; sie sind eine Uebung mit einer nicht ungefährlichen Waffe,
aber eine Verstümmelung oder Tödtung kommt so selten und unter so be sonderen Umständen vor, daß diese Fälle bei Beurtheilung der ganzen Ein
richtung nicht in Betracht gezogen werden dürfen.
Vorzugsweise werden die
sogenannten Bestimmungsmensuren als unsinnig und verwerflich verdammt; der Student soll sich nur schlagen, wenn eine Beleidigung vorhergegangen ist.
Damit muß man die Studentenpaukereien überhaupt verneinen.
Wer
den sie wie die übrigen Duelle als „nothwendiges Uebel" angesehen, so
möge auf jeder Universität ein Ehrengericht eingesetzt werden, welches sich
mit den Ehrenhändeln befaßt;
entscheidet es für den Zweikampf, so ist
die Schlägermensur mit Binden und Bandagen lächerlich, dann müssen
sich die jungen Leute auf Pistolen schlagen, bis „ein Theil kampfunfähig
Ein Wort zur Verständigung über die jetzigen Studentenverhaltniffe.
ist".
309
Die Mensur der Studenten gehört der Regel nach in eine andere
Kategorie; steift, wie schon gesagt, eine Waffenübung, zu deren Vornahme so wenig wie zu einem Turnier erforderlich scheint, daß Einer den Anderen
vorher beleidigt hat; wir schätzen eS als einen Gewinn, daß der frühere „dumme Junge" feit vielen Jahren abgeschafft ist, und finden in diesem Sinne keine Thorheit darin, daß ein paar junge Leute sich pauken, die sich
vielleicht erst beim Antreten auf der Mensur vorgestellt werden; wir zwei
feln auch daran, daß, wie von anderer Seite tadelnd hervorgehoben worden, bisherige Freunde auf bloße Bestimmungsmensur mit einander losgehen
werden; der Fall dürfte mindestens äußerst selten sein, in der Regel be steht Freundschaft oder näherer Umgang nur unter Mitgliedern derselben
Verbindung.
Um nicht mißverstanden zu werden
bemerken
wir auS-
drücklich, daß wir nicht entfernt gesetzliche Straflosigkeit des Studenten duells wünschen, aber es hat so große Vorzüge, daß uns angezeigt erscheint
eS mit Ausnahme besonders gearteter Fälle, welche vor den Strafrichter gehören, wie bisher zu ignoriren und im Prinzip nicht mit neuen Maß regeln dagegen einzufchreiten.
Erfahrungsmäßig giebt die Gewöhnnung
an den scharfen Schläger eine gewisse Sicherheit, ein Selbstgefühl, welches, mit den gesellschaftlichen Formen des gebildeten Menschen gepaart, nicht die schlechteste Mitgabe für das spätere Leben ist.
Der studentische Ge
brauch wird nicht übel mit dem Erforderniß des Mannesmuths zusammen gefaßt in einer noch jetzt gesungenen Parodtrung eines bekannten LiedeS: Wer die Folgen ängstlich znvor erwägt, Der duckt sich, wo man die Tiefquart schlägt.
In neuerer Zeit ist jedoch die eine Seite dieser Art Zweikämpfe
übertrieben hervorgekehrt worden.
Wie wir von sehr kompetenter Seite
hören, wird das Fechten zu wenig als Kunst betrieben, es wird zuviel gerauft, eS wird schlechter geschlagen als früher. Die überaus zahlreichen Verwundungen bei den einzelnen Paukereien bestätigen dieß.
Verlangte
man früher von dem Studenten, daß. er muthig auch einem überlegenen
Gegner Stand hielt, so legte man doch auch Werth darauf, daß er sich möglichst im geschickten und rationellen Gebrauch der Waffe vervollkomm
nete. Jetzt soll der Student lediglich seinen Muth zeigen.
Bezeichnend dafür
ist das Wort, welches ein junger Mann nach einer solchen Affaire aus
gesprochen hat.
aber ein Fehler.
„Habe ich nicht wieder sehr gut dagestanden?"
Hier liegt
Daß bei den „Schwadronshieben" mehr Verwundungen
vorfallen als nöthig, darauf legen wir kein großes Gewicht, aber das
ausschließliche Geltenlassen der, wir möchten sagen, passiven Courage, die Hiebe mit anständiger Miene in Empfang zu nehmen, ist ein Abweg.
Zur Ausbildung der Charakterstärke, der Entschlossenheit gehört nicht blos.
310
Ein Wort zur Berständigung über die jetzigen Studentenverhältnisse.
daß man sich in Gefahr begiebt und erträgt, was man nicht ändern kann,
sondern auch, daß man den Gegner kaltblütig und wenn auch loyal, also ohne tückisches Lauern das von je für unanständig galt, doch mit Geschick zu
überwinden oder seinen unvermeidlichen Sieg möglichst einschränken lernt.
Wir meinen die Männer, die vor 20 bis 30 Jahren auf Universität gefochten und später geholfen haben den Landesfeind niederzuwerfen, haben
bewiesen, daß Anwendung der erlaubten Hilfsmittel mit selbstlosem Dran
geben der eigenen Person sehr wohl vereinbar ist. Ein Uebelstand aber, welcher im höchsten Grade bedenklich erscheint, ist der gradezu unsinnige Luxus, der auf mehreren Universitäten jetzt ge
trieben wird.
ES gilt nicht mehr, Gentleman, sondern reicher Gentleman
zu sein und über der Sucht reich zu scheinen, werden Schulden angehäuft und ganze Familien in bitteren Kummer gestürzt.
Wohlberechtigt war
vor Jahren der früheren Rohheit und saloppen Haltung gegenüber das Be streben in Kleidung, Benehmen und Vergnügungen anständig aufzutreten, jetzt ist der junge Student Plutokrat, Dandy in den elegantesten Kleidern
und aufs sorgfältigste vom Friseur, bei dem er nicht selten abonnirt ist, aufgestutzt.
Auf der Eisenbahn wird erster Klasse gefahren, nur ausnahms
weise kann man sich die zweite erlauben, zu Dreien oder Vieren kann man eine Droschke anständiger Weise nicht benutzen.
Der „Fremdenpump"
ist eine Last, unter welcher die Corps zu erliegen drohen;
auf manchen
Universitäten ist es selbstredend, daß die fremden Studenten, welche hin gekommen sind, um eine P. P.- (Pro patria-) Suite auszumachen, auf Kosten der befreundeten Verbindung im ersten Hotel untergebracht und
auf das luxuriöseste bewirthet werden.
Wir haben selbst gesehen, daß Ver
bindungen an einem Corso der Geburts- und Geldaristokratie sich auf
brillant ausgestatteten Wagen betheiligten.
Bis jetzt haben die in Godes
berg alljährlich zusammenkommenden „alten Herren" sich vergeblich bemüht
den Studenten klar zu machen, daß diese Lebensweise die Verbindungen
ruiniren muß, daß, wenn keine gründliche Wandelung geschaffen wird, nur die wenigen Söhne ganz reicher Leute auf Universität werden als Stu
denten leben können.
Wer es wohl meint mit den deutschen Studenten,
wer sich freut in der Erinnerung an die eigene lebensfrische Jugendzeit und eine gleiche seinen jüngeren Freunden, seinen Söhnen wünscht, der
möge sich um Abstellung dieses Uebelstandes bemühen.
Um anständig
und heiter zu sein braucht man nicht als Modejournal herumzulaufen
und Sekt zu trinken.
Als der Zobten-Commers durch die fast überreiche
Fülle von Witz und guter Laune, die dabei sprudelte, berühmt war, als die „Hoftage" den Breslauer Corps, auf deren einem zum ersten Male die blühende Parodie auf den Tannhäuser aufgeführt wurde, zu den ge-
Ein Wort zur Verständigung über die jetzigen Studentenverhältnisse.
311
suchtesten Festen gestörten, lebte man gewaltig einfacher als jetzt;
freilich
verbietet jetzt schon eine geringe Mitgliederzahl derartige, in der That glänzende Repräsentation
des studentischen Geistes, aber eben der Mit
glieder könnten mehr sein, wenn die Kosten der ganzen Lebenshaltung
geringere wären.
Die Lage ist
ernst genug, aber wir hoffen doch,
der gute Geist der deutschen Studenten wird auch jetzt siegen, wie er
über die Rohheit zu Anfang dieses Jahrhunderts und über die späteren politischen Thorheiten gesiegt hat.
Mag größerer Fleiß erwünscht sein,
mögen manche Fehler und Schwächen bedenklich erscheinen, werthvoll ist nicht nur für den Einzelnen der frohe Lebensgenuß im Kreise treuer,
gleichgestimmter Freunde, ein» theure Erinnerung für das ganze Leben, sondern für unschätzbar halten wir die warme, frische Begeisterung für ein Ideal, mag es dem Fremden auch nur als ein buntes seidenes Band erscheinen, und das Hochhalten der Ehre, welches bet manchen Schlacken
und Auswüchsen das Alles durchdringende Lebensprinzip ist.
Gerade die
absolute Ehrenhaftigkeit, welche freilich in dem das Vermögen überstei
genden Aufwande ihren gefährlichsten Feind hat, ist die unbedingte For derung und Voraussetzung zahlreicher Verbindungen und ein höchst werth
voller Schutz in den mannigfachen Gefahren deS späteren Lebens.
Die
Wege der Menschen sind verschieden. Eines schickt sich nicht für Alle, aber
was so Vielen dienlich ist, möge erhalten und womöglich gefördert werden.
Preußische Jahrbücher. 93b. XLVII. Heft 3.
21
Notizen. „Peter der Große"
von Prof. Brückner und
die Kritik dieses
Werkes im „Gött. Gel. Anz." von Prof. Schirren.
Obwohl ich durchaus kein Freund langer Einleitungen bin, besonders dann nicht wenn sie, wie es oft vorkommt, eine Art von Entschuldigungen sind, die
der Verfasser dafür vorbringt, daß er überhaupt verfaßt habe, so fühle ich hier
doch das Bedürfniß Einiges zur Erklärung, ja Rechtfertigung an Persönlichem
vorauszuschicken.
Ich war immer der Meinung daß Bücheranzeigen ein noth
wendiges Uebel seien und Kritiken blos dann eine Berechtigung hätten, wenn sie
streng wissenschaftliche seien, weshalb ich denn auch den Widerspruch wohl em
pfinde, die genannte Kritik im „G. G. A." anerkennen, ihren Abdruck in der Tagespresse aber bedauern und ihre Wirkung auf das Laienpublikum bekämpfen
zu müssen.
Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß ich einstmals dazu mich Hin
reißen lassen könnte, sogar das Aergste zu leisten, nämlich eine Gegenkritik zu
schreiben und noch dazu eine durchaus unwissenschaftliche.
Und doch ist es so,
da ich beabsichtige Einiges nicht so sehr für den Herrn Prof. Brückner als den Verfasser des obengenannten Buches, als gegen den Herrn Prof. Schirren als
Kritiker dieses Buches zu sagen.
Und zwar zu sagen ohne jeglichen Anspruch
nicht bloß auf eine Wissenschaftlichkeit die derjenigen des Herrn Prof. Schirren,
sondern auch auf eine solche, die den Kenntnissen des Herrn Prof. Brückner irgend ebenbürtig wäre.
Herr Prof. Brückner hat sein Buch sowohl an die
Gelehrten als an die Laien gerichtet, und da, wie sich's gebührt, die Gelehrten
in der Person des Herrn Prof. Schirren zuerst das große Wort gesprochen haben, so sei es nun auch dem andern Theil der von dem Verfasser Beschenkten
gegönnt, seinen Dank — oder Undank abzustatten. — Was würde wohl jeder Laie, dem die Kritik des Herrn Prof. Schirren zu
Gesicht kommt, fortan von dem Buche des Herrn Prof. Brückner sagen? Was
müßte Jeder sagen?
Müßte er nicht sagen „es ist ganz aus mit ihm" — wie
der Koch sprach als er dem Hahn den Kopf umdrehte? Kann es wohl für
Einen, der nur ganz wenig Vertrauen zu Herrn Prof. Schirren hegt, noch
fraglich sein, daß dieses Buch von Anfang bis zu Ende nichts tauge, daß es hieße sich selbst ein wissenschaftliches Unrecht anthun, wenn man nun noch es
unternähme zwei Seiten von diesem ganz erbärmlichen Buch zu lesen? Hat man je ein mehr todtgeschlagenes Werk gesehen als dieses, in welchem der Verf.
meinte einen „Beitrag zur Weltgeschichte im umfaffenderen Sinne" geliefert zu haben? Niemals! Im sehr gelehrten „Gött. Anz." hat es gestanden, unter-
zeichnet von dem noch mehr gelehrten Spezialforscher des nordischen Krieges: daß das Buch von einem Ende zum andern von historischen Unrichtigkeiten
wimmle und den Gegenstand falsch darstelle.
Es ist ganz und gar aus, man
rede nicht mehr davon! Ich bin so sehr als irgend Einer überzeugt davon, daß in der Wissenschaft
von heute es keinen Mann giebt, der so competent zum Richter über dieses Buch wäre als der Herr Prof. Schirren.
Niemand kann aufrichtigere Hochachtung
vor der Forschungskraft und dem Wissen des Herrn Professors hegen als ich, der ich seit der Zeit, wo ich als Schüler durch den glänzenden Geist Schirrens
hingerissen ward, stets einige Gelegenheit hatte den unermüdlichen Forschungen meines hochverehrten Lehrers auf dem Gebiete des nordischen Krieges und der livländischen Geschichte äußerlich zu folgen.
Ich wage also kein Jota an den
Nachweisen über geschichtliche Irrthümer, die er gegen Herrn Prof. Brückner in Menge vorbringt, anzuzweifeln.
Aber was folgt aus all diesen Irrthümern?
Folgt daraus wirklich daß das Buch lieber hätte ungeschrieben, und da das Unglück nun einmal geschehen, daß es ungelesen bleiben sollte, wie jeder Laie
sich sagen muß, nachdem er den dicken schwarzen Strich gesehen, den HerrProf. Schirren mit fester Hand darüber hingezogen hat?
Für mich folgt das
nicht daraus. —
Ich stimme gewiß mit meinem verehrten Lehrer darin überein, daß von
etwa 6000 Büchern, welche Deutschland jährlich zu verdauen bekommt, eine gute Hälfte lieber könnte ungeschrieben bleiben.
H. Prof. Brückner nicht zu dieser Hälfte legen.
Aber ich würde das Buch des
Es giebt sehr viele Bücher,
welche von der strengen Wissenschaft mit vollem Recht verdammt werden, aber von der unwissenschaftlichen Menge nicht nur gern, sondern auch mit großem Nutzen gelesen werden.
Zu diesen Büchern gehören nicht bloß Erzeugnisse
der sogenannten schönen Litteratur, sondern auch Erzeugnisse,
wissenschaftlichen Titel an sich tragen.
die den streng
Wenn nur diejenigen Werke gelesen
zu werden verdienten, welche von gelehrten Richtern der heutigen Wissen
schaft für übereinstimmend mit der heutigen Forschung und Erkenntniß erklärt wurden, so wären die meisten wisienschaftlichen Werke, die bis vor einem Jahr zehnt herausgegeben wurden, verbotene Speise.
Und doch wird der gelehrte
Kenner des nordischen Krieges mir nicht das Lesen der Werke eines Leo oder
Rotteck verargen wollen.
Sind nun etwa die,Irrthümer, in welche ein Leo
nach dem damaligen Stande der Forschung in seinen Werken verfiel, weniger
irreleilend als Irrthümer deren sich ein heutiger Historiker schuldig macht? Ob jectiv angesehen sind jene offenbar eben so wirkend wie diese; jene sind vielleicht
vielfach in gewissem Sinne nothwendig entstandene Irrthümer gewesen, diese vielleicht nicht nothwendige; jene kann man dem alten Leo nicht anrechnen, diese
dem Prof. Brückner wohl.
Hiebei jedoch handelt es sich um subjective Verant
wortung, nicht um objectiven Werth. Und in soweit es sich in Rücksicht auf un
sern Gegenstand um die subjective Verantwortung des Herrn Prof. Brückner
handelt, will ich und darf ich kein Wort in das von Herrn Prof. Schirren
Gesagte Hineinreden. Das ist das Feld der Wissenschaft von dem ich mich zurück halle. An objectivem Werth jedoch spreche ich als Laie für das Buch des Dorpater
Forschers einen nicht ganz geringfügigen Theil an. nicht
Denn jene Irrthümer sind
solche daß sie die Wahrheit in ihren hauptsächlichen Zügen verdeckten.
Und wer von uns wäre in der Lage an seine Brust zu schlagen und zu sprechen:
ich schrieb niemals etwas, wovon ich nichts verstand? Sollte mein verehrter
Lehrer aber ein Solcher sein, so weiß ich nicht,
ob ich mehr die Höhe seines
wissenschaftlichen Ernstes bewundern, oder mehr die Enthaltsamkeit bedauern soll, welche ihn abhielt uns manche Früchte seines Geistes und Fleißes darzu
bieten, blos weil er dabei fürchtete daß hin und wieder eine nicht ganz tadellos reife Frucht mit unterlaufen könnte. — Ich
bin
keineswegs gesonnen mich zum wiffenschaftlichen Anwalt des
Brücknerschen Buches aufzuwerfen.
ein andrer Gelehrter führen*).
Die Vertheidigung mag der Verfasier oder
Vielmehr verkenne ich nicht, daß auch für den
Laien das Buch Vieles enthält was nicht ganz dem Anspruch gerecht wird, den
er stellen darf.
Auch ein ungeübtes Auge wird finden daß der Stoff sich nicht
immer einer klaren, systematischen Verkeilung und Verarbeitung erfreut.
Der
von moderner Geschichtschreibung genährte Geschmack wird finden, daß der Herr Verfasser in nicht ganz glücklicher Weise zwei Methoden der Darstellung oder
zwei Schulen oder wie man es sonst nennen will, mit einander zu verschmelzen versucht habe.
Er reiht den Stoff aneinander wie man vor einem Dahl
mann und Ranke es bei uns zu thun gewohnt war, und doch sucht er das Gewand allgemeiner Gesichtspunkte anzulegen, wie wir es in neuer Zeit ge Er arbeitet oft mit den Werkzeugen des Compilators,
wohnt sind.
und
doch nimmt er die Manier an, welche seit Ranke für modern und wissen schaftlich
stilvoll gilt.
Es ist meist die Manier,
nicht die Methode, und
was man von dieser Methode der geschichtlichen Darstellung im Uebrigen
auch denken mag, so wird man die eine Forderung immer stellen müssen, daß sie nicht nur in der äußern Form, sondern des Geistes auftrete.
und genießbar.
Nur
dann
stets auch in dem Gehalt
ist di^se Art der Darstellung berechtigt
Wie oft haben wir, Dank dem von Ranke und seiner Schule
eingeführten Geschmack, Bücher zu lesen bekommen, welche so thaten als enthielten
sie immer neue, weite Gesichtspunkte, als funkelten sie überall von Geistes blitzen, deren Licht ohne viel Commentare große Gebiete des Wissens aufhellten, und die dabei so geistlos waren, daß all ihre von Größeren abgelauschten zu sammenfassenden Urtheile und kühnen Hindeutungen bei näherer Betrachtung nur
den Werth einer Reihe von Gedankenstrichen hatten.
Auch Herr Prof. Brückner
ist nicht frei von der herrischen Geschmacksforderung nach geistreichen Ueber-
raschungen
oder doch wenigstens nach dem Schein derselben.
Er sucht für
Vieles höchst gewagte Erklärungen und findet oft Beziehungen, wo wenig Andere
*) was, wie wir erfahren, inzwischen seitens des H. Verfassers in der „Rig. Ztg." geschehen ist. — D. Red. der „Pr. Jahrb." —
welche entdeckt hätten.
Mir scheint daß die Persönlichkeit Peters des Großen
den Stoff zu einer weit eingehenderen und ausdrucksvolleren Characteristik deffelben hätte ergeben können, als der geehrte Vers, im Laufe seines Werkes und zuletzt
in einem eigenen Kapitel uns darbietet.
Dabei aber verliert er sich oft in Be
trachtungen, die nur geeignet sind, die Characteristik seines Helden zu verdecken. „Wer ein Staatswesen zu lenken bestimmt war, sagt er (S. 149), mochte gut daran thun sich im Lenken eines Fahrzeuges zu üben; wer einen Staat formen
sollte, konnte nur dabei gewinnen wenn er ein Boot oder ein Haus zimmern
gelernt hatte."
Was gewinne ich vom Lesen dieser Worte? Soll ich etwa
glauben daß Peter bei seiner Leidenschaft für das Schiffezimmern einen großen
politischen Hintergrund hatte?
Soll ich glauben daß dieser mit auffallenden
technischen Liebhabereien und Talenten, wie man sie grade bei den Ruffen so oft findet, ausgestattete Jüngling, deffen Körper und Geist sich nur wohl fühlten
wenn die Axt tüchtig geschwungen werden konnte oder nach der Arbeit des TageS ein tüchtiger Schluck gethan ward, daß diese so einfach angelegte Natur zur
Axt griff um dabei sich politisch zu bilden? Wäre die tüchtige bäuerische Art,
der gute russisch-bäurische Verstand und jene Liebhaberei Peters nicht eher "für
eine Erklärung seiner Lieblingsbeschäftigung genügend, als weltumfaffende Pläne? Ich habe von größeren Politikern und unternehmenderen See- und Landhelden
gehört als Peter war, die zum Heldenthum gelangten ohne je die Axt geschwungen zu haben.
Oder was soll ich mir dabei denken, daß seine „Leidenschaft für körper
liche Arbeit" „einen tiefern Sinn durch die Beziehung auf die orientalische
Frage" göhabt haben soll, wie es anderswo heißt? Es ist gefährlich mit großen
Gesichtspunkten im Kleinen umzugehen. Und der Berf. läßt sich nur zu oft Hin reißen unseren Blick auf solche Beziehungen auch in Fällen hinzulenken, wo ich
wenigstens gar keine solche Beziehungen zu sehen vermag. So dünkt mich auch das
Verhältniß Peters zu Alexei in ziemlich persönlichen und engen Beziehungen be gründet gewesen zu sein, während der Verf. sich entschließt dasielbe aus hohen poli tischen Gründen zu erklären und zuletzt auf sehr historischem Wege dazu gelangt
die historische Nothwendigkeit für den Untergang Alexeis aufzubauen (S. 308).
Oder warum „mußte" Rußland „als Zögling Europas zunächst den etwaigen Invasionen asiatischer Barbaren einen Riegel vorschieben, sodann als Pionier
europäischer Cultur weiter ostwärts vordringen" (S. 473)? Und warum „mußte" es, nur um eine Seite früher, „schon um der Sicherung der im Verkehr mit
Europa gewonnenen Ergebnisse willen auch nach Asien hin fortschreiten? (S. 472.) Warum?
Und warum dieses Muß? Wie war es denn „selbstverständlich" daß
„Turkmenen, Sarten, Kalmücken u. s. w. Rußlands Unterthanen werden würden" ?
(S. 476.) Ich sehe die Sache noch heute nicht einmal für „selbstverständlich" an, vielweniger damals als Rußland noch kaum am Kaspisee angelangt war. In dessen gehört dieses kräftige historische Begründen mit zu jener Schreibweise, die sich, wie ich meine, vielfach an unrechter Stelle bei unsrer Geschichtschreibung
eingebürgert hat.
Es gehört zu der Methode der „großen Gesichtspunkte", die
so beliebt ist und sich dadurch auszeichnet, daß sie sich mit Gewandtheit zwischen
Notizen.
316 Geist und Phrase hindurchschlägt.
Jenes leere Phrase zu sein.
Bald scheint dem Leser Dieses geistvoll, bald
So setzen sich denn auch gewisse Redeformen in
der Manier der historischen Schule fest, die unter Umständen angebracht, unter
Umständen es aber auch nicht sind.
Dazu rechne ich z. B. die seit Ranke so
beliebte Wendung „man sieht", u. s. w. häufig.
Herr Prof. Brückner braucht sie sehr
Was bekommt „man" da nicht Alles „zu sehen"! Unter Anderem daß
gewisse Verhältnisse in der Verwaltung Peters „an die Leiturgieen und Nau-
kratieen der alten Griechen erinneren", was mir leider zu „sehen" nicht möglich
ist weil ich mit diesen sehr beachtenswerthen Einrichtungen nicht bekannt bin. Doch diese Wendungen gehören eben mehr zum Stil, zur äußeren Form dieser
Schreibart, welche darauf ausgeht lebhaft darzustellen.
Dazu bedarf es denn
auch der kurzen Sätze, und wessen Sache der knappe Satzbau nun einmal nicht
ist, der bemüht sich oft die Kürze auf mechanischem Wege herzustellen.
Wenn
man Bindeworte durch Punkte ersetzt, so ist die Sache gemacht, man ist kurz, wenn auch nicht immer prägnant.
Indessen, wie ich schon andeutele: Ich mache
diese Manier weniger dem Herrn Prof. Brückner als einer ganzen Geschmacks
richtung sowol in unserm Publicum als in unserer Gelehrtenwelt zum Vorwurf. Und wenn ich mir erlaube diesen Einwand zu erheben, so bin ich mir bewußt
daß grade dieses Gebiet der äußeren Form der Darstellung es ist, auf welchem auch der Laienwelt das Recht des Urtheils und der Wünsche zusteht.
Denn was
dem Gaumen des Gelehrten recht schmackhaft erscheinen mag, kann oft der Magen des Laien durchaus nicht verdauen. Umgekehrt vermag ich und, wie ich glaube mancher andere Leser, vieles von dem recht wohl zu genießen, was Herr Prof. Schirren gewiß mit Recht
zu den Ursachen zählt aus denen das vorliegende Buch seinem Gesammturtheil nach „nicht durchaus mißrathen", dem Einzelurtheil nach aber doch so erfüllt
von Fehlern ist, daß der wahrheitsdurstige Laie, der die Kritik liest, es leicht für eine Sammlung von Mißverständnissen halten könnte.
Es mag einen so
nordischer^kriegskundigen Mann als der Kritiker ist, schwer verletzen zu lesen, daß die russische Flotte i. I. 1116 zu weiter nichts in der Ostsee kreuzte, als um die Mächte zur Anerkennung der Erwerbung Livlands zu nöthigen; daß
sie von Herrn Professor Brückner in die Ostsee geschickt wird ohne alle Be ziehungen zu englischer, holländischer, dänischer Seemacht, ohne Antwort auf die Fragen nach dem Wie, nach den Voraussetzungen u. s. w.
Aber das kann
schwerlich das Verständnis dem Laien erschweren, der niemals auf den Gedanken
kam jene Fragen aufzuwerfen noch auch von der richtigen Beantwortung der selben wesentliche Erleuchtung erlangen wird.
etwa das Verschweigen
Ebenso kühl dürste der Laie
einer zarischen Gegendeclaration gegen die dänische
Declaration von 1716 hinnehmen, oder die Versäumniß des Verfassers, ihn
über den ganz besonderen Sinn eines zarischen Briefes an Scheremetjew auf geklärt zu haben, oder er möchte wohl auch ohne viel Verdruß darüber im Un klaren bleiben, ob der Zar Peter seinen Unterthanen befahl ihren Hanf zu fäl schen oder nicht zu fälschen. —
Es könnte nun den Anschein gewinnen als ob ich ein Laienpublikum von
ganz besonderer Bescheidenheit der Ansprüche verträte, oder aber von unverant wortlicher Flüchtigkeit gegenüber dem Ernst der Wissenschaft.
Indessen meine
ich nur ein Publikum zu vertreten, welches nicht blos ohne alle Ahnung von dem Wissen des Herrn Prof. Schirren, sondern auch von sehr geringer Ahnung
Wiewohl diese Geschichte für
von der russischen Geschichte unter Peter I. ist.
den Herrn Prof. Schirren „im Ganzen bereits zu fest steht als daß sie leicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden könnte", so bekenne ich mich zu dem Ver
dacht, daß ein großer Theil des deutschen Publikums mit diesem Zar am liebsten und ehesten den singenden Zimmermann in Verbindung bringt.
Meines Wissens
giebt es noch kein deutsches Buch über Peter, das allgemeine Verbreitung ge funden und die Kenntniß dieser Geschichte in große Kreise getragen hatte.
Ich
wäre dem Herrn Prof. Schirren daher sehr dankbar wenn er mir eine bessere
Monographie über Peter als diese vorliegende empfehlen könnte, wobei ich na türlich annehme, daß er mich nicht anweisen werde auf die dunklen Brunnen
der Usträlow oder Solowjew.
So lange nun aber mir nichts Vollkommeneres
zugänglich ist, fühle ich auch für dieses Unvollkommene, was Hr. Prof. Brückner Ich wiederhole daß ich diese
mir anbietet, mich zu einigem Danke verpflichtet.
Stellung zur Sache nur als Laie einnehme und einnehmen darf.
Wissenschaft ist ja unerbittlich streng.
Denn die
Auch hätte ich nichts gegen die Kritik des
Herrn Professor Schirren zu sagen gehabt wenn dieselbe innerhalb der heiligen
Räume geblieben wäre, welche der „Gött. Gel. Anz." zu bewohnen pflegt und
nicht von dorther auf die breite Straße der Tagespresse herausgetreten wäre, wie es geschehen ist.
Denn eben daß dieses Buch, weil es vor dem Urtheil des
Herrn Professor Schirren „nicht in Ehren besteht", „überall nichts taugt", will
mir nicht ganz einleuchten so lange mir nicht der Nachweis geführt wird, daß der Verfasser den Zaren Peter und seine Zeit in den Hauptzügen falsch dar gestellt habe.
Ich halte es keineswegs für unmöglich, ja ich wünsche sogar sehn
lichst, daß ein Kenner wie Herr Professor Schirren den Zaren Peter grundlegend
anders darstellte als wie Herr Prof. Brückner die „Größe" und die staatsmännische
Begabung und Kraft seines Helden uns glaubwürdig zu machen unternimmt; allein vorläufig hat Herr Professor Schirren grade in dieser Richtung weder
die Darstellung des Verfassers ersetzt noch auch in ihren grundlegenden Zügen entkräftet, vielleicht eben deshalb nicht, weil das Buch in Rücksicht aus den that
sächlichen Stoff allem Neuen möglichst fern bleibt.
Trotz aller Mängel meine
ich also, daß das Buch doch verdient in weiteren Kreisen gelesen zu werden.
Und ich fürchte, daß wenn Herr Professor Brückner über den gesummten Stoff
hätte verfügen können, den, wie.ich nicht zweifle, Herr Prof. Schirren zur Ge
schichte Peters des Gr. besitzt, ich weniger als jetzt in der Lage mich befände sein Buch mit Nutzen zu lesen, oder aber vielleicht — überhaupt gar kein Buch zll lesen bekommen hätte. —
E. von der Brüggen.
Verantwortlicher Redacteur:
H. v. Treitschke.
Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.
Fiorenza. Anmerkungen zu einigen Gedichten Dante's und Michelangelo'-.
1.
Dante'S Hölle liegt die Anschauung zu Grunde,
daß ein
finstrer
Abgrund sich austhut, aus dem, je tiefer man hinuntersteigt, immer neue Abgründe stch eröffnen.
DaS Purgatorium dagegen ist als ein Gebirge
gedacht, auf dessen letzter sonniger Höhe das Paradies sich ausbreitet. Mitten im Ozeane steigt auf.einer Insel der Berg der Erkenntniß empor.
Abhang zu Abhang gilt eS ihn zu erklimmen. werden
die Seelen
Bon
Zum Fuße dieses Berges
hinübergefahren und beginnen die mühselige Arbeit,
den Weg emporzufinden. Ich denke mir, daß die Alpen dem Dichter das Material hierfür geliefert haben.
Unter einer Schaar von Seelen, die über das Gewässer hinüberge führt, dem Berge der Erkenntniß zu den Strand entlang ziehen, findet Dante seinen gestorbenen Freund Casella. in seine Arme schließen.
Vergebens will er die Schattengestalt
Endlich, um irgend ein Zeichen doch seiner wirk
lichen Gegenwart zu empfangen, bittet er ihn, ihm etwas zu singen; und nun, während der Zug der Schatten stillhält und dem Gesänge lauscht,
beginnt Casella Dante's
eigne Canzone Amor ehe nella mente mi
ragiona „Die Liebe, die zu mir im Geiste redet".
Biele werden diese
Anfangsworte wiffen. Wenige aber die Canzone vollständig gelesen haben. Was dürfte sie unsern Gedanken nach anderes sein als ein Liebesgedicht? Mit sehnsuchtsvollen Worten redet leise
Im tiefen Herzen mir der Gott der Liebe Bon wunderbaren Dingen,
Die die Gedanken in Verwirrung bringen: So schmeichelhaft ist Alles was er spricht. Und wie ich lauschend selber mich bethöre Versuch' ich nachzusprechen was ich höre;
Vergebne Mühe! ich vermag es nicht.
Und weiter, aus der folgenden Strophe die Verse, in denen die Geliebte beschrieben wird: Preußische JahMcher. Bd. XLV1I. Heft«.
22
Bei Des Die Und
ihrem Anblick scheinen Athemzüge Paradieses sanft mich zu umfächeln, Liebe selber schenkt' ihr dieses Lächeln was ihr Auge sagt, ist keine Lüge.
Die übrigen Theile der Canzone aber lassen nun Wohl erkennen, daß es sich nicht so einfach um eine geliebte Frau und nichts weiter in ihr handle.
Und nun hören wir Dante selber im Convito den tieferen
Sinn des Gedichtes erklären:
Die Geliebte ist die Philosophie, der er
nach Beatricens Tode sich ergeben hatte; die Augen sind die Beweisgründe;
das Lächeln ist die Kunst der Ueberredung; Amor ist das wissenschaftliche
Scheint damit nicht Alles zerstört?
Studium, die Liebe zur Wahrheit.
Man sollte denken, der Dichter habe im hohen Alter vielleicht diese pedan
tische Deutung in ein feuriges Liebesgedicht hineinzulegen versucht, das aus dem Gedächtnisse der Welt nicht mehr Herauszureißen war.
Dante aber dachte nicht an dergleichen. von Anfang an, wie er sagt.
Das Gedicht war so gemeint,
Auch wußte er, was er der Phantasie seiner
Leser zumuthen durfte. —
Soweit wir die Dichtung und bildende Kunst zurückverfolgen, be gegnen wir Allegorien und Personificationen.
Die Welt scheint ohne sie nicht
fertig werden zu können. Die Griechen bedienen sich ihrer in eigenthüm licher Weise, die Römer anders, die Franzosen sind größere Virtuosen in
ihrer Verwendung als irgend eine andere Nation, bis in unser eigenes Jahrhundert hinein herrschen sie. Schiller dichtet seinen Hymnus an „die
Freude", Goethe an die „Dichtung", die ihm ein Gewölk erscheint, während er im zweiten Theile des Faust die furchtbare Gestalt der „Sorge" ein
führt; heute ist sosehr der Geschmack an diesen Figuren und die Fähigkeit sie zu bilden abhanden gekommen, daß wenn es noch neuer Beweise bedürfte, es sei für die Menschheit eine Phase durchaus neuer Entwicklungen ein
getreten, dies mit als Beweis dafür ausgesprochen werden könnte. Und so muß heute denn schon darauf hingewiesen werden, wie diese
Gestalten zu verstehen seien.
Daß wir nicht inhaltslose ornamentale Fi
guren in ihnen zu erblicken haben und daß ihnen eigenes Leben und höchst
realer Inhalt von Dichtern tonnte.
und bildenden Künstlern
verliehen werden
Wie ächt sitzt Dürer's „Melancholie" auf dem Boden da inmitten
ihrer Attribute!
Nicht weniger real
als Dürer's Madonnen, die als
wahrhaftige Deutsche Hausfrauen erscheinen.
Melancholie
die
sruchtlos
trübe
Ueberzeugend ist bei seiner
Gedankenarbeit
ausgedrückt,
die
ihr
Antlitz überschattet und wie einen Schleier über die ganze Darstellung legt.
Redeten wir sie an, sie würde uns tiefsinnige Antwort geben. Auch Dante war ihre Gestalt nicht unbekannt.
Eins seiner Sonette, von schmerzlichem,
fast Deutschem Humor erfüllt, läßt sie vor uns auftreten.
Dante nennt sie
nur, kein beschreibendes Wort ist zugefügt, aber hier wie überall wohnt
Dantes Worten die Kraft bei, im Geiste des Lesers plastisch nachzuarbeiten
und die Gestalt in ihm aufzuwecken als erinnerte er sich ihrer als einerschön erblickten. Krankheit der Geliebten.
Es kam einmal zu mir Melancholie Und sprach: ich bleib ein bischen bei dir heute, Und mit ihr kamen noch zwei andre Leute: Schmerz und Verzweiflung. Welche Compagnie!
Und ich: macht, daß ihr fortkommt!
Aber sie
Erzählte da ein Langes und ein Breites, Und mitten im Gespräch, da kommt von weitem Noch Amor an, und, lieber Himmel, wie!
Schwarz angezogen wie gebeugte Erben, Ein kohlschwarz Hütchen auf den blonden Haaren, So stand er da und schluchzte mit der Zunge. Und ich: Was bringst du Böses, armer Junge? Und er: Ach, habt ihr's denn noch nicht erfahren? Ach, unsre arme Frau, die will ja sterben.
Der Titel ist von mir zugesetzt worden.
Wie ernst und gewichtig sehen wir die Gestalt der Melancholie an der Thüre des Dichters stehen.
Bemerken wir auch, mit welcher Kunst
Dante seine Composition, bildmäßig betrachtet, allmählig zusammenfügt. Er verfährt, als wolle er die Gruppe langsam und so sichtbar als möglich
vor uns entstehen lassen.
Zuerst erblickt man die Melancholie und den
Dichter, dann treten die Begleiterinnen herzu, dann endlich Amor. sere Phantasie arbeitet mit.
Un
Und wie lebendig dieser Amor: der antike
kleine Amor in italiänische Kinderkleider gesteckt, mit einer neuen Sprache
und mit neuen Gedanken ausgestattet*). *) Fraticelli (II Canzoniere di Dante, 3. Aufl. S. 274) erklärt das Gedicht für unächt. Er vermöge nicht zu begreifen, wie man zwei Jahrhunderte lang diese pessima poesia Dante habe zuschreiben können. Es dürfte uns hier wenig verschlagen, ob Fraticelli Recht hätte und das Sonett, statt von Dante selbst bekzurühren, nur aus seiner Schule stammte, allein, sowohl was den Inhalt als die Art der Erzählung anlangt, ist mir ein anderer Autor als Dante kaum denkbar. Die Kunst, eine halb märchenhafte Situation hinzuskizziren, mit Worten, deren jedes weitere immer auch eine Erweiterung der Erzählung bringt, z. B. daß der letzte Vers den letzten Effekt in sich birgt, ist Dante eigenthümlich und konnte kaum nachgeahmt werden. Man vergleiche, wie sehr die Führung des Sonettes dem der Vita nuova entspricht [Jo mi sentii svegliar dentro allo core, das ich weiter hinten in einer Uebersetzung nachfolgen lasse, c. XXIV, Fraticelli S. 92], wo Dante in derselben Weise eine Begegnung mit Amor dar stellt und wo wiederum die letzten Worte den höchsten geistigen Accent enthalten. Man vergleiche es ferner mit Cavalcando l’altr’ier in un cammino (Vita nuova,
322
Fiorenza.
So einfach war es nun aber nicht, Amor neu zu bilden. richtet, wie er dabei zu Werke ging*).
Dante be
Die Liebe, explicirt er,, sei doch
nur ein Begriff, ein lebloses Etwas: wie der Dichter denn sie sehen und
lächeln lassen
könne.
Indessen warum,
wenn die in antikem
Latein
schreibenden Dichter**) dieser Gestalt sich bedienten, die italiänisch reimen
den nicht dasselbe Recht haben sollten.
Dante war ein großer Neuerer.
Nur in lateinischer Sprache durfte seiner Zeit so gedichtet werden, daß
man als Dichter höherer Ordnung einträte und neben den wirklichen
Dingen***) auch nicht Wirkliches, ließe.
d. h.
ideale Gestaltungen erscheinen
Wir wissen, wie zu Dante's Zeit das antike Kaiserthum aufhörte
und die Bürger der modernen Städte die jüngere, maaßgebende Gene
ration zu liefern begannen.
Man verlangte Neues im nationalen Sinne.
Die alten blutleeren Schatten sollten zusammensinken.
Man wollte von
c. X. S. 62), wo Amor in abito leggier di peregrino erscheint und plötzlich ver schwunden ist. Diese drei Sonette scheinen zusammengehörig zu sein. Man möchte in der That das unsrige für ein Paralivomenon der Vita nuova halten. Fraticelli druckt in seinen Anmerkungen die Verse 8—11 besonders ab, um sie vorzüglich als pessima poesia zu brandmarken. Guardai e vidi Amore, ehe venia Vestito di novel d’un drappo nero E nel 8iio capo portava un cappello E certo lacrimava pur davvero. So in der dritten Auflage (die zweite kenne ich nicht); in der ersten steht statt novel nuovo, und zwar hat Allacci, welcher das Sonett zuerst drucken ließ und einzige Quelle dafür ist, nuovo. Nuovo allerdings würde den Vers unmöglich machen, novel dagegen, wie Fraticelli stillschweigend umänderte, paßt hinein. Certo und davvero scheinen eine inhaltlose Tautologie, aber wir brauchten nur anzunehmen, es habe in dem Allacci vorliegenden Texte forte gestanden, um sie zu beseitigen. Die vier Verse enthalten dann nichts bedenkliches mehr. Zu come un greco vergl. Ducange unter graecizare sowie Canz. XXI bei Fraticelli: Jam audivissent verba mea Graeci. Vielleicht liegt in dem, was hier gemeint sein könnte, auch die Erklärung für das, was Inf. 26, 70ff. nicht ganz klar ist. Denn vorauf geht da das schivi (v. 74)? Warum würden die Griechen nicht antworten? Philalethes schließt daraus auf Unkenntniß des Grie chischen bei Dante. Es scheint, daß Dante im Allgemeinen gegen die Griechen eingenommen war, in denen er vielleicht die durch Verrätherei siegreichen uralten Feinde der lateinischen Razu um-
kleiden.
Welker spricht in seinen „Betrachtungen über die bildende Kunst"
(AuS Anlaß von Schellings Rede über daS Verhältniß der bildenden Künste zur Natur) vom „Geiste der Hellenen"*).
Am Abschlusse seiner
Ged»ankenreihen sagt er: „Mit dem Collektivum Hellenen müssen wir unS immer einem Individuum in der Vorstellung nähern, in dem wir das
Eigenste, Hervorstechendste und Bleibendste hervorheben und zusammen
verbinden. " Der Ausdruck „nähern" ist vortrefflich.
Welker war gewiß weit ent
fernt, eine künstlerisch gestaltete „Gräcia" der eignen oder der Phantasie
seiner Leser aufzudrängen.
Empfindung nicht heraus:
Er tritt aus der Sphäre der bloßen historischen
aber er nähert sich einer Anschauung.
Er
constatirt, daß, wenn man in der Richtung dieses historischen Denkens fort
schreiten wolle, man
endlich zum Anblicke eines Individuums gelangen
würde. Für Welker lag hier keine innere Nöthigung vor, in dieser Richtung weiterzugehen, aber setzen wir einen Künstler an die Stelle des Ge
lehrten und der Fortschritt ist vollbracht.
1827 war Europa erfüllt von
begeisterter Theilnahme an den Kämpfen Griechenlands das feine Freiheit
zurückeroberte.
Der Heldentod des Morco BotzariS fand einen Wiederhall
von Trauer in allen Ländern.
In David d'Angerö' Phantasie erwachte
der Gedanke, ihm ein Grabmal zu errichten.
Sein schönstes Werk ist so
entstanden: ein Griechenmädchen, das auf dem Grabstein deS Helden lie gend mit dem Griffel Botzaris' Namen darauf schreibt.
Ein Abbild deS
nach Jahrhunderten wiederaufblühenden Volkes wollte der Bildhauer geben.
Halb kindlich noch in den unverhüllten schlanken Formen, aber mit ge
dankenschwerer Stirn; nackt, um die Hülflosigkeit deS jugendlichen Volkes anzudeuten; noch unfertig gleichsam, aber alles versprechend für die Zu
kunft: so, sagt David d'AngerS, habe er Griechenland darstellen wollen**).
Nicht eine officielle Personification in Gestalt einer Graecia sollte ge schaffen werden, sondern ein Bild dessen, waS die Begeisterung deS Augen
blicks in des Künstlers Seele hervorgerufen hatte.
So auch stand Dante und Michelangelo der Inbegriff dessen vor der *) Setule, S. 111. •*) David d’Angers par H. Jouin, I, 173, Sinnt. 3. Vgl. auch das auf S. 141 dieses schönen und wichtigen Buches Gesagte.
Fiorenza.
360
Seele was Florenz ihnen war.
Nur zuweilen in menschliche Formen einge
hüllt, eine Frau, eine Geliebte. So denken auch wir heute. Unsere officiellen gemeißelten oder gegossenen Germanien, Borussien, Bavarien, mögen sie
noch so schön oder colossal sein, werden mit unserem patriotischen Gefühl meist nur wenig zu thun haben.
Wir sehen dergleichen nicht vor uns
wenn wir im Geiste das Vaterland anreden.
Trotzdem können wir den
Begriff des personificirten Vaterlandes nicht entbehren. Die letzte Personification im Sinne der Fiorenza Dante'S und Michelangelo'S hat Leopardi in seiner Ode All’ Italia geschaffen. O du, mein Vaterland! da stehn sie vor mit Die Mauern noch, die unsre Väter bauten, Die Säulen, Heiligthümer und die Bögen, Durch die ste triumphirend einst gezogene Und wohin schwand ihr Ruhm? Wehrlos, die nackte Stirne ohne Lorbeer Und waffenlos die Brust — ah, welche Wunden' Wie blutig, bleich erblick ich dich! Zum Himmel Seh' ich empor: di« Welt frag ich: wer hat Dir, schönes Weib, das angethan? Sprecht aus Wer trägt die Schuld? Wer that es? Wer hat mit Ketten deine beiden Arme Belastet furchtbar? Das Haar im Sturme fliegend, schleierlos Sitzt auf dem Boden ste, trostlos, und Niemand Bekümmert ihre Schmach. Das Antlitz beugt sie wieder zu den Knien, Verbirgt es drin und weint. D, mein Italien, Wohl hast du Grund zu weinen! Du, geboren Die Völker zu besiegen! —
Es konnte kein bloßes Spiel mit künstlerischen und literarischen Er-
innnerungen sein, aus denen heraus Leopardi die menschliche Form wählte, um seine höchsten Gedanken an das Vaterland zu umkleiden.
beginnt mit realen Anschauungen.
Leopardi
DaS Land, bedeckt von den Ruinen
und Erinnerungen des ruhmvollen Alterthumes liegt vor ihm ausgebreitet,
Italiens Geschicke schweben in großen Bildern ihm vor Augen vorüber: plötzlich redet er eS als Frau an —: wer hat dir, schönes Weib, das an gethan?
Der bloße Begriff krhstallisirt in einem gegebenen Momente be
geisterter Anschauung zu menschlicher Gestaltung. März 1881.
Herman Grimm.
Die irische Landftage. Bon
Ludwig Freiherrn von Ompteda. (Schluß.)
VL Die erbliche Anarchie. Ich leitete diese Arbeit mit dem Satze ein:
„Seit etwa fünf Monaten bietet Irland der Welt ein Schauspiel welche« wohl in jedem anderen zivilisirten Staate seines Gleichen sucht."
Ich möchte den Gang meiner Darstellung jetzt fortleiten durch den Satz: Eine Parallele zu Irlands Gegenwart liefert nur Irlands eigene elende Geschichte. — Auf den nächstfolgenden Seiten will ich meine Leser nicht mit einer
Blumenlese aller Morde, Brandstiftungen und Viehverstümmelungen be
lästigen welche die englischen Zeitungen seit etwa fünf Monaten täglich ihren entsetzten Lesern gebracht haben.
Jedoch scheint eS mir zum Thema
dieser Arbeit über die irische Landfrage zu gehören wenn ich versuche: die
Vorgeschichte,
die Zwecke,
Greuel kurz vorzuführen und
die
Mittel
dieser politisch-agrarischen
alsdann die Haltung der Regierung
gegenüber dieser pathologischen Erscheinung zu betrachten. 1. Die Vorgeschichte.
Die irische Anarchie ist eine erbliche organische Krankheitsanlage ge worden — man kann sagen: sie ist, wie in bestimmten Familien das
Podagra, eine erbliche Disposition welche je nach Lebensweise und sonstigen
Anreizungen, mehr öder minder häufig und heftig als akute Krankheit auS-
bricht.
Sie ist daher in gewissem Sinne, für die gegenwärtige Generation
Irlands, eine „berechtigte Eigenthümlichkeit". —
Wir haben unter Nr. II die äußere Geschichte Irlands bis zur Union
der beiden Parlamente (1801) verfolgt.
In den ersten dreißig Jahren
nach diesem großen Staatsakte stand Irland fast stets unter Zwangs- oder
Ausnahmegesetzen.
Diese Gesetze haben mit geringen Modifikationen den
übereinstimmenden Inhalt:
„Volksversammlungen und Waffenbesitz sind
verboten, das Kriegsgesetz kann distriktsweise proklamirt werden, die Polizei
behörden können verhaften ohne sofortige gerichtliche Prozedur".
Der Er-
theilung dieser letzteren exekutiven Befugniß entspricht praktisch die Sus
pension der HabeaS Corpus Akte. — Die HabeaS Corpus Akte war während
jener dreißigjährigen Periode zehn Jahre lang suSpendirt. Bis zum Jahre 1829 arbeitete die katholische Bewegung.
wurde den Tories die Emanzipationsakte abgerungen.
und O'Connel begann
machte kühn
im Jahre 1831
Dann
Der Erfolg
die Bewegung
gegen die Zehnten. Zehntsammler wurden ermordet, in milderen Fällen
verloren sie nur ihre Ohren. —
Im Jahre 1833 kam
eine neue ZwangSakte.
Die
agrarischen
Verbrechen standen zu jener Zeit auf jährlich 9000; sie fielen in den nächsten Jahren um etwa zwei Drittel.
Der Schrecken herrschte damals
in Irland genall wie jetzt. Im Jahre 1835 wurde ein Gesetz erlassen welches die, von den Katholiken„der Geistlichkeit der englischen Staatskirche zu entrichtenden Zehnten erleichterte. — Dieses Agitationsmittel war dadurch erschöpft. —
Die allgemeinen Wahlen von 1835 leitete O'Connel unter dem Drucke
des „Bohcottens":
„Wer für den Knight of Kerry stimmt, dem soll ein
Todtenkopf, mit gekreuztem Bein darunter, über seine Hausthür gemalt werden."
Gegen die Wahl eines anderen konservativen Kandidaten wurde
von einem katholischen Priester in folgender Weise abgemahnt:
„Wenn
für jenen Mann irgend ein Katholik stimmen sollte, so will ich für diesen
Wähler am Throne des Allmächtigen Gnade in jener Welt erflehen; aber in dieser verlange ich keine Gnade für ihn." —
Sobald die Wahlen zu Ende waren fand die neue Whigregierung die Aufregung in Irland so hochgehend daß ein neues Zwangsgesetz er lassen wurde
welches von 1835 bis 1840 lief.
Die agrarischen Ver
brechen sanken von 10,200 Fällen im Jahre 1837 auf 4,000 im Jahre 1840.
Bis 1845 stiegen sie wieder auf 8,100 Fälle. —
Darauf arbeitete von 1841 bis zum Jahre 1844 O'ConnelS Repealbewegung.
Als ihre nächste praktische Wirkung begann im Jahre 1843 eine
weitverbreitete Verweigerung der Pachtzinsen. — Als 1846 die Theuerung und Hungersnoth auftrat erhielten die Grund besitzer von der Regierung Vorschüsse zu Meliorationen und zur Urbar machung der 4,5 Millionen Acres anbaufähiges Wüstland.
Im Ganzen
wurden damals 10 Millionen L Staatsgelder für Irland verwendet.
Im Jahre 1847 starb O'Connel.
Eine extreme Partei „Jnngirland" Sie erstrebte Losreißung von England und nannte sich selbst „the physical force party“ im Gegensatz zu den überflügelten O'Connelliten, der „moral force party“. trat unter Smith O'Brien auf.
In demselben Jahre wurde eine sehr scharfe „Verbrechen- und Gewaltthatenakte" erlassen. Beide Parteien in England waren einig daß längeres Zusehen ihnen eine moralische Mitschuld aufladen würde.
„Damals wußte man, was unsere modernen Radikalen von Birmingham noch nicht gelernt haben: daß Gewalt ein wirksames Mittel ist, freilich kein Heilmittel. Auch die Zwangsjacke ist kein Heilmittel für einen Tob süchtigen, aber sie ist nothwendig wenn er ein offenes Rasirmesser schwingt.
Die Heilmittel müssen dann nachfolgen."
ES begannen nun die Jahre der großen Hungersnoth 1846—1848, deren Schilderung nicht zu meiner heutigen Aufgabe gehört. Diese HungerSnoth rief eine gründliche wirthschaftliche und soziale Umwälzung
hervor.
BiS dahin beruhete des Irländers Existenz auf der selbstgcbauten
Kartoffel.
Die Landwirthschaft war völlig Naturalwirthschaft.
beiter wurde ausschließlich in Deputat gelohnt.
Der Ar
Jetzt bedurfte er baares
Geld, und grade dieses konnte der Arbeitgeber nicht leisten. ES begann die Auswanderung der Arbeiter und der ihnen gleichstehenden kleinsten Pächter nach Amerika. Die Tagelöhne stiegen von 1840: 3 und 4 s. die Woche, auf 1880: 9 bis 12 s. die Woche. Die Landwirthschaft wandte
sich der Viehzucht zu. Die große Auswanderung hat Irlands Bewohner von etwa 9 Mil lionen auf etwa 5'/, gelichtet und das unglückliche Land genoß von 1850 bis 1865 eine ruhige Periode deS Auflebens und Gedeihens. Die Zahl der Protestanten zu der der Katholiken stellte sich jetzt wie 2:5. Darauf tauchte die Verschwörung der Fenier auf. Es war ein amerikanischer Bund mit republikanischen Zwecken. Im Allgemeinen be schränkte sich, da er reinpolitische Zwecke verfolgte, seine Wirksamkeit auf die großen Städte. Die Landbevölkerung verstand die Bewegung nicht.
Die Habeas Corpus Akte war wieder von 1865 bis 1869 suspendirt. Trotz der Entstaatlichung der irischen protestantischen Kirche im Jahre 1869 und trotz Mr. Gladstones Land Akte von 1870, bedurfte es im Jahre 1871 wieder einer scharfen „Friedens-Bewahrungs-Akte."
Aber auch diese genügte nicht. Der Terrorismus begann sogar die große Midland-Eisenbahngesellschaft zu „boycotten". Damals hießen die Rädelsführer: Bandmänner. Namentlich war die Grafschaft Westmath und Umgegend der Schauplatz ihrer Thaten.
Lord Hartington, damals
Staatssekretär für Irland, erwirkte eine Verschärfung des vorigjährigen
Gesetzes unter dem Namen der Westmeath-Akte und erklärte, gegen über den weichmüthigen Gegnern jeder energischen Bethätigung der Re
gierungsgewalt, mit dem ihn auszeichnenden männlichen Freimuthe: „Ich kann nicht einsehen, wie gerechte und billige Gesetzgebung Einfluß auf die
Gesinnungen von Menschen haben sollte, die ihr besonderes Gesetz für sich haben; und nicht etwa ein gerechtes Gesetz sondern ein ungerechtes, will
kürliches und barbarisches." — Die Westmeath-Akte blieb zwei Jahre in Wirksamkeit.
wesentlich durch ihren moralischen Druck.
Sie nützte
Die Aufrührer und Aufruhr
lustigen erkannten bald daß eS der Regierung bitterer Ernst war.
Führer hatten wiederum rechtzeitig das Land verlassen.
Biele
Nur vier Men
schen waren festgesetzt.
Wäre diese Westmeath-Akte im Oktober 1880 noch in Wirksamkeit
gewesen und hätte man sie auf einige Bezirke des Westens ausgedehnt so
würde — nach dem Zeugnisse zuständiger Beobachter — der Geist der Ungesetzlichkeit damals mit Leichtigkeit unterdrückt sein.
Menge ist in Irland furchtsam und leicht lenkbar.
Denn die große
Mr. Bence JoneS ist
sogar der Ansicht: daß eS damals genügt haben würde, einige Dutzend Unruhestifter je auf einen Monat in die Tretmühle zu schicken. Leider aber wurden die Irländer durch Mr. Gladstones und namentlich Mr. BrightS
unvorsichtige Reden zu der irrigen Ansicht verleitet: diese beiden Minister seien Gegner der Gutsherren und nicht unzufrieden über die Gelegenheit, ihnen schaden zu können.
Von dem übrigen England gewannen sie aus
den prahlerischen Reden der Agitatoren die Auffassung: man fürchte sich dort vor ihrer imponirenden Kraftenttyickelung. 2.
Die Zwecke der Anarchie.
DaS Feldgeschrei welches seit dem vorigen Sommer Irland durch
läuft:
„DaS englische Gesetz ist gebrochen" — wurde ausgegeben von
der „Irischen Land-League".
Diese Verbindung wurde bereits vor
etwa einem Jahre in der Grafschaft Majo von zwei alten Feniern ge
gründet, Devoy und Davitt.
Letzterer war seiner Zeit zu einer längeren
Freiheitsstrafe verurtheilt; er geht jetzt als „ticket of leave man“ frei und unangefochten umher*).
Er ist ein Verschwörer von Profession.
Da der reinpolitische, republikanische FenianiSmuS unter der irischen Landbevölkerung nicht Wurzel fassen wollte, so wurde statt der offenen
Rebellion der
„verfassungsmäßige Weg"
eingeschlagen um die irischen
*) Inzwischen ist er wieder festgesetzt um den Rest seiner Strafe zu verbüßen. — (1. April 1881.)
Bauern zunächst für eine wirthschaftlich-soziale Umwälzung zu gewinnen: Befreiung von Pachtrente und Verjagung der Gutsherren:
„der engli
schen Garnison".
Die Land-League beherrscht jetzt Irland durch ihre unzähligen ört
lichen Zweigvereine. An die Spitze dieser Gesellschaft trat später Mr. Parnell.
Er
ist aus guter Familie und durch seine Mutter halb Amerikaner; 34 Jahre
alt, hat in Cambridge studirt; M. P. ist er seit 1875; vor drei Jahren trat er zur katholischen Kirche über. Spitze der „Home Rule" Partei.
Im Parlamente steht er jetzt an der
In seinen und seiner Anhänger viel
fachen Reden sind die nächsten Zwecke der Land League ausreichend
dargelegt: „Wir wollen lieber die Reform erkaufen als erkämpfen.
Sollte das
erste nicht heute, so muß das zweite morgen geschehen. Jeder Irländer ist verpflichtet: für diese große Frage mit Gut und Blut einzutreten. —
Die sechshunderttausend irischen Pächter sehen jetzt ein daß sie stärker sind
als ihre zehntausend Gutsherren.
Ist erst das „Land" unser Eigenthum,
dann haben wir den Grundstein zu unsrer irischen Nationalität gelegt und dann erst werden wir unseren gebührenden Platz unter den Nationen der
Erde einnehmen." Bis zu diesen Ansprüchen hat sich Mr. Parnell erst
im
vorigen
Herbste gesteigert, nachdem er von seiner Rundreise unter der irischen Bevölkerung
in den
Bereinigten Staaten zurückgekehrt war.
Vorher
predigte er nur die Forderung einer „vernünftigen Herabsetzung der Pacht rente durch ein unparteiisches Gericht". Später wurde das Gericht be seitigt und man dekretirte den Gutsherren und Pächtern ganz allgemein:
„Griffiths Schätzung".
Im Parlamente sprach Mr. Parnell zunächst mit äußerster Milde und Mäßigung.
Er drehete und deutelte in der unbefangensten Weise
an seinen aufrührerischen Agitationsreden, als auf bedauerlichen Misverständnifsen beruhend.
Als jedoch durch die Verhandlungen des, so kläglich im Sande ver laufenen, Staatsprozesses zu Dublin der nackte Wortlaut seiner irischen
Reden bekannt wurde, da trieb man ihn mit diesen Widersprüchen in die Enge und so konnte er nicht umhin, am 18. Januar d. I. ein offeneBekenntniß über die Endziele der Land League im Parlamente ab
zulegen: „WaS den Borwurf betrifft daß ich die Integrität des Reiches an fechte" sagte er in der zehntägigen Adreßdebatte, „so kann ich über diesen
Punkt hier aufrichtiger reden als in Irland, weil ich dort für dasjenige
strafrechtlich verfolgt werden würde was mir hier der Edelmuth und der
Gerechtigkeitssinn (fair play) der ehrenwerthen Mitglieder zu sagen ge
statten wird.
ES waltet in Betreff meiner Thätigkeit ein Misverständniß
ob. Allerdings habe ich in Irland oft gesagt:
„die indirekte Folge der
Landbewegung würde die Zerstörung der englischen Misregierung sein und die Wiederherstellung eines irischen Parlamentes. — Ich ver
stehe sehr wohl" fuhr er dann beruhigend fort,
„daß dieser Ausdruck
meiner Ansicht die im Hause herrschende Idee erweckt hat: „ich wolle die
Landagitation benutzen um die englische Herrschaft in Irland gewaltsam
zu zerstören".
Ich habe jedoch in jenen Reden immer nur folgende Atl-
sicht auSführen wollen:
Wenn den irischen Gutsherren, die ungerechten
Rechte genommen werden können, welche sie unter dem „englisch-gemachten"
Gesetze besitzen, d. h. wenn es gelingt, ihnen ihr Land abzunehmen und
es dem Pächter zu überweisen — alsdann wird in Irland keine Klasse mehr bleiben die an der Aufrechterhaltung der englischen Herrschaft ein
Interesse hat.
Dann wird Irlands legislative Unabhängigkeit
auf friedlichem Wege wieder hergestellt werden. — Ich will zu gleich hier aussprechen — was ich in Irland nicht aussprechen möchte: —
daß, wenn die Umstände diesen Erfolg wahrscheinlich machen, es die Pflicht jedes JrländerS ist: — hiefür sein Blut zu vergießen.
Ich halte es
jedoch für strafbar: Irland in einen ungleichen und aussichtslosen Kampf
zu stürzen.--------- Danach habe ich also niemals die Grenzen einer „kon stitutionellen Agitation" überschritten. unterschied in Irland aufheben.
Ich will zunächst nur den Klassen
Dann wird, so glaube ich, für Irland das
Recht, seine eigene Gesetze zu machen, ausführbar sein. — Wir werden
Freunde mit England bleiben, und zwischen beiden Ländern wird das Band der Krone bleiben." — Soweit Mr. Parnells Enthüllungen.—
Der Führer der konservativen Opposition im Unterhause Sir S. Northcote erwiederte:
„man habe nun endlich ein deutliches Zugeständniß
der eigentlichen Absichten jener Herren vor sich. — „Umsomehr" fuhr er
fort, „müssen wir jetzt verlangen, daß die Regierung Maßregeln ergreife:
um Gesetz und Ordnung wieder zur Herrschaft zu bringen. — Was die Form anbetrifft, so sprach das ehrenwerthe Mitglied für Cork (Parnell), als ob er eine gleichberechtigte Gewalt sei, welche sich an die
Gewalt der Krone und des Parlamentes wendet." — Die Land League ist also nur ein Mittel in den Händen der
Home Ruler.
Ihre jetzigen ostensiblen agrarischen Zwecke sind nicht
Selbstzwecke, sondern Mittel um die englische Herrschaft in Irland zu
brechen.
Das Endziel der Bewegung ist:
der Union von 1801.
„Repeal", Wiederaufhebung
3.
Die Mittel.
Die Waffen der Land League sind: Mord, Brandstiftung, Tortur an
Menschen,
„Boycotting".
grausame Verstümmelung
des Viehs und vor allem:
Die Geschichte des Capitain Boycott, eines Engländers
der in Connaught als „Gentleman-Farmer" und als Güterdirektor des Lord Erne lebte, darf ich wohl als bekannt voraussetzen.
Er war nur ausersehen um an ihm
sönlich lag nichts besonderes vor.
„ein Exempel zu statuiren".
Gegen ihn per
Uebrigens findet diese „Jsolirung" Anwen
dung gegen jede, der Land League misliebige oder unbotmäßige Person:
gegen Gutsherren, Agenten, „Landpacker" (neue Pächter), gegen Pächter die über Griffith's Schätzung bezahlten; gegen Geschworene, Zeugen, Ge
richtsboten, Anwälte, Eisenbahnen, Dampfschiffe und Zeitungen;
gegen
die Verproviantirung der englischen Kriegsschiffe in Shanon, — zuletzt gegen jedermann der nicht Beiträge für die Agitation zeichnet.
Neu ist
das Mittel allerdings nicht; es ist einfach dem Arsenale der katholischen
Kirche entnommen: die große soziale Exkommunikation. Selbstverständlich setzt sich jeder Wirth, Ladenbesitzer, Handwerker und Arbeiter, Fuhrmann und Telegraphenbote, der den Bann des Ver-
fehmten bricht, wiederum seinerseits den größten Gefahren für Gut, Leib und Leben aus.
Die Exkommunikation muß, um durchgehend zu schrecken,
ansteckend wirken. In jener angeführten Rede preist Mr. Parnell die günstige Wirkung
der Land League auf das gesetzliche Verhalten der Bevölkerung.
„Die
Zahl der agrarischen Verbrechen habe sich in den letzten Monaten erheblich
vermindert." „Sehr natürlich", erwidern die Gegner; „das System hat bereits so
meisterhaft gewirkt daß jeder Geist des Widerstandes, selbst das Bedürfniß:
erlittene Mishandlungen zu verlautbaren, vollständig erstickt ist." — Die irischen Tenants sahen
daß die Land League siegte und daß
deren Gerichtshöfe unbedingte Autorität genossen.
Sie sahen,
es war
Vortheilhaft und zugleich ungefährlich, mit den Agitatoren zu gehen. Letztere gewannen die Ansicht,
Dublin sich vor ihnen fürchte.
daß die Regierung in London und
Und sie hatten allen Grund dazu.
Mr. John Bright, ein Mitglied des Kabinets, hielt in Birmingham
Reden die als taktlos und für einen Minister gradezu pflichtwidrig be zeichnet werden müssen.
Mit sehr freier Behandlung der Thatsachen ver
wandte er seine glänzende Rednergabe in einer Weise die nicht wohl anders wirken konnte als: die Feindseligkeiten der irischen Pächter gegen
die Gutsherren, und diejenige Irlands gegen Regierung und Parlament Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 4.
25
Die irische Laydsrage.
368
in England, auf'S Heftigste zu entflammen.
Andere Mitglieder der Re
gierung: Chamberlain und Mundella, sekundirten ihm.
Die Irländer mußten nach
allem diesen glauben:
daß sie unter
schwerem Unrechte litten und daß sie völlig auf dem richtigen Wege seien um ihren agrarischen Beschwerden abzuhelfen.
zeigt ihnen ja ihre eigene Geschichte: daß fast alle
Und leider!
Verbesserungen ihrer Zustände England durch Aufstände und Drohungen abgerungen waren. — ES ist nicht leicht, die Stellung der katholischen Geistlichkeit
zu der jetzigen
anarchischen Bewegung zu bestimmen.
Von oben hex
erfließt milder Tadel der Exzesse unter Anerkennung der gerechten Be schwerden.
Der ältere Theil der örtlichen Geistlichkeit hat sich passiv der
Land League angeschlossen oder sie empfinden das Uebelwollen ihrer Pfarr
kinder.
Direkt thätig tritt der jüngere Theil auf:
eS ist dieselbe un
reife nnd unschmackhafte Frucht am Baume der Bildung des katholischen Klerus die wir als „Hetzkapläne" kennen. 4. Die Haltung der Regierung.
Die Größe des Uebels wurde in England, von der Regierung und
ihren hochliberalen und radikalen Anhängern, bis zu Anfang des MonatS Dezember 1880 geleugnet. stone:
Am Lord Mahor'S Feste erklärte Mr. Glad
„er warte noch auf den Nachweis der Thatsache
daß
Feinden
in Irland nicht ge
Dann begannen die Kabinetsberathungen.
Gerüchte von Meinungs
das ordentliche
Gesetz seinen
wachsen sei!" verschiedenheiten traten auf.
Mr. BrightS, Mr. Chamberlains Ansichten:
„Gewalt sei kein Heilmittel gegen Gesetzlosigkeit", (sobald der gesetzliche Zustand der legislatorischen Abhülfe bedürfe) konnten unmöglich mit denen
der alten WhigS: Lord HartingtonS und Sir W. Harcourts, zusammen
gehen.
Die Opposition sagte laut: die Liberalen hätten sich bei den
letzten Wahlen in Birmingham
und anderen großen Fabrikstädten die
Stimmen der dortigen irischen Homeruler durch gewisse Konzessionen ge
sichert welche die Regierung jetzt
am freien Handeln hinderten.
wegen habe sie auch die Friedens-Bewahrung-Akte,
Des
(welche der uner
laubten Bewaffnung entgegentrat) im Sommer 1880 nicht erneuern lassen. Die Organe der Regierung variirten jeden Tag das Thema: „Ueber
treibung" und: „Gewalt ist kein Heilmittel".
ES sei ein von den Guts
herren künstlich hervorgerufener „panischer Schrecken". Im Dezember wurden die Winterassisen in Connaught,
Munster
und Leinster eröffnet und hier kam durch die einleitenden Ansprachen der
Vorsitzenden Richter als volle Wahrheit genau dasjenige zu Tage, waS bis jetzt als übertreibende Zeitungskorrespondenzen bezeichnet war.
Verantwortlichkeit verstärkte das Gewicht
Sprache offizieller
gemäßigte
dieser Enthüllungen.
Die
Das Verbrechen herrschte, daS Gesetz war machtlos.
In der Grafschaft Galway (Connaught)
Hier nur ein Beispiel auS vielen.
waren seit dem letzten Juli, wo die „FriedenS-BewahrungS-Akte" er
losch,
angezeigt:
296 schwere
Fälle;
vor
die Geschworeyen
konnten,
da Beweismittel nicht herbeizuschaffen waren, nur verwiesen werden: 12 Fälle. In Mayo 236 und 12. In beiden Grafschaften verweigerten
493 Personen, auS Gunst oder Furcht, jedes Zeugniß.
2295.
Im ganzen Jahre
Davon konnten nicht verfolgt werden:
1880 fielen vor: 2590 Verbrechen.
Mehr als 150 Personen leben mit polizeilicher Schutzwache, mehr
als 1400 werden zu ihrer Sicherheit überwacht.
„Wenn auch nur ein
Zehntel dieser Anzeigen gegründet ist", sagte der Richter, „so kann kein
ehrlicher und vernünftiger Mann leugnen, daß der Zustand des Landes
Die wirkliche Freiheit existirt nicht mehr; statt
ernster Hülfe bedarf.
ihrer herrscht eine unerträgliche Tyrannei.
Rechtsverwaltung ist gelähmt.
DaS Leben ist gefährdet, die
Unehrlichkeit und Gesetzlosigkeit schänden
daS Land."
Sehr schlagend für die Wirkung der Land League ist folgende Ver
gleichung der Zahl ihrer Meetings mit denjenigen der agrarischen Ver
brechen in den Jahren 1879 und 1880:
Quartal I:
42 Meetings
293 agrarische Verbrechen.
31
II:
247
,,
„
III: 137
„
354
ff
ff
„
IV: 392
„
1670
ff
ff
„
,,
1879. 1880.
1879. 1880.
Meetings.
Verbrechen.
.
.
.
22
117
147
351
.
.
.
44
83
109
125
Connaught
.
.
71
213
471
961
Munster
.
.
26
160
136
990
Leinster Ulster .
.
Die Regierung befand sich im Zustande vollster Lähmung und Hülslosigkeit.
Sie hatte eine Truppenmacht von etwa 25000 Mann in Irland
zusammengezogen und die Polizeimannschaften waren bedeutend verstärkt.
Beide Organe patrouillirten im Lande umher aber — mit dem Säbel in der Scheide.
Sie bewegten sich gewissermaßen auf einer engen Straße
zwischen zwei dichten Schutzhecken verfaffungSmäßiger Garantien. diesen Hecken herrschte statt der Königin Victoria der König Mob.
25*
Hinter
Der Sekretär für Irland, Mr. Forster, erließ ein wohlausgearbeitetes
Zirkular an die sämmtlichen Polizeibehörden, in denen sie aufmerksam ge macht wurden: „daß, auf Grund verschiedener älterer Gesetze aus der Zeit
der George, die jetzt in Irland stattfindenden Ausschreitungen strafbar feien." Die Beamten
entgangen;
erwiederten:
„dieser Umstand sei ihnen keineswegs
die Regierung habe sie jedoch nicht mit der erforderlichen
Kraft ausgerüstet um wirksam einzuschreiten." Ein Friedensrichter wurde als Zeuge gegen Mr. Parnell im StaatS-
processe geladen.
Er erwiderte:
-„ich muß es ablehnen, als Zeuge gegen Mr. Parnell auszu
sagen, da ich nicht in der Lage bin: die einzige Regierung zu beleidigen welche jetzt hier
zu Lande herrscht.
Sollte ich unter Strafe geladen
werden, so werde ich im Gerichtshöfe öffentlich gegen den Zeugnißzwang
protestiren aus dem Grunde: daß mein Leben sehr wahrscheinlich, mein Ich würde mindestens „boy-
Eigenthum ganz gewiß gefährdet sein würde.
cottet" werden.
vom Lord Lieutenant zu dem
Ein großer Grundeigenthümer war
Ehrenamte des High Sheriff in seiner Grafschaft ernannt.
es ab:
Er lehnte
1) da er gegenwärtig wegen des herrschenden Justiziums keine
Pachtrenten mehr beziehe; 2) da die Gefahr und Verantwortlichkeit des
Postens zu bedeutend sei, nachdem die Regierung zugelassen habe daß das
Land in einen Zustand von Anarchie und Rebellion versinke." Mr. Parnell erwiderte auf alle Klagen über Terrorismus: „In Ir
land herrscht keine Einschüchterung.
Es ist nur die bis dahin latente
öffentliche Meinung der Majorität frei geworden.
Und diese öffentliche
Meinung erklärt sich gegen Zeugnißablegen und Pachtzahlen.
Jetzt erst
kann der unverfälschte „moralische Muth" zur Geltung kommen!" —
„Irland" sagt ein Korrespondent der Times, Freiheit, vermöge welcher niemand thun
„ist das Land der
kann was er will, sondern
jedermann thun muß, was ein .anderer will."
Endlich, im December, erwachte die Regierung aus ihrem lethargischen Zustande des „GehenlassenS", zum Bewußtsein ihrer ersten und höchsten
Pflicht:
der
Selbsterhaltung
des
ihr
anvertrauten
Landes.
Selbst Mr. Gladstone war endlich entnüchtert von dem Rausche in den ihn sein unerwarteter Wahlerfolg, noch mehr aber seine eigenen Reden
in Midlothian versetzt hatten.
Sein Kollege, Mr. Bright, erregte sogar
die tiefste sittliche Entrüstung der Home Ruler durch seine Erläuterung:
„er habe niemals die Nothwendigkeit repressiver Maßregeln bestritten; er habe nur verlangt daß diesen in derselben Sitzung eine durchgreifende Reform der begründeten Beschwerden folge".
Das Parlament trat am 6. Januar 1881 zusammen.
Die Thronrede forderte für die Krone:
1) erweiterte Machtbefug
nisse, die nothwendig seien, nicht allein um Gesetz und Ordnung aufrecht zu erhalten, sondern auch um den Unterthanen Schutz für Leben und sowie
Vermögen
die persönliche Freiheit des Handelns zu sichern. —
2) Vorbehältlich dieser ersten und gebieterischen Verpflichtung wird em pfohlen: das irische Landgesetz von 1870 weiter zu entwickeln, sowohl in auf die Lage der Pächter als auf Bildung eines Standes
Beziehung
bäuerlicher Eigenthümer. — Zur Ausführung des ersten Satzes hat jetzt die Regierung zwei Bills
eingebracht: 1.
Maßregeln zum Schutze von Personen und Eigenthum in Irland.
Dieser Vorschlag enthält praktisch:
die Suspendirung der Habeas-
Corpus-Akte bis zum 30. September 1882.
Die Engländer besitzen eine
konstitutionell-abergläubische Scheu, das Wort „Suspendirung" offen aus zusprechen.
Der Lord-Lieutenant kann danach jede Person, welche hoch- oder
landeSverrätherischer Handlungen sowie der
Gewaltthätigkeit
und Ein
schüchterung verdächtig ist, festsetzen und ohne Urtheil und Recht bis zum
Ablaufe des Gesetzes, also längstens 18 Monate gefangen halten. 2.
Eine Friedens-Bewahrungs-Bill gegen Handel mit — und Besitz
von Waffen.
ES ist dasselbe Gesetz, dessen Verlängerung die Regierung
im vorigen Sommer verschmähete.
Nöthig dürfte es sein, „denn", sagte
der Oberrichter Fitz-Gerald, „es giebt gegenwärtig kaum einen Irländer, der nicht im Besitze einer Flinte oder eines Revolvers ist". Die konservative Opposition sicherte der Bill ihre Unterstützung zu.
Die Gegner der Maßregel zählen demnach kaum vierzig Stimmen. Trotzdem ist nicht abzusehen: wann diese Vorschläge werden Gesetze werden.
Die schwerfällige hilflose Maschine der Geschäftsordnung im
Parlamente hat den Home Rulern erlaubt, selbst die Adreßdebatte durch
zehn Tage hinzuschleppen. Es ist ihnen ferner möglich gewesen, über eine Vorfrage, in Betreff der Präzedenz jener Bills auf der Tagesordnung, eine Sitzung bis auf
22 Stunden und eine zweite bis auf 41 Stunden Dauer zu verlängern,
bis die kleine Minorität sich fügte. Diese Vorgänge machen immerhin eine Berathung der Zwangsgesetze
von einigen Wochen nicht sehr unwahrscheinlich — falls nicht das Parla ment einen unerwarteten Ausweg findet, um diesem böswilligen Unfuge
der „Obstructionisten" den Lebensfaden abzuschneiden*). — *) Es ist bekanntlich inzwischen gefunden in der „Erklärung der Dringlichkeit" welche dann Abstimmung ohne weitere Debatte zur Folge hat.
Die irische Landfrage.
372
Ze länger indessen der Aufschub gedauert hat, desto härter wird in Irland der Kampf sein.
Das neue scharfe Zwanggesetz wird wiederum
durchgreifend und anhaltend angewandt werden müssen.
Zugleich aber wird die Regierung, unter Mitwirkung aller staats erhaltenden Parteien, mit Ernst und wirklichem guten Willen an die Re
formen der Landgesetzgebung herantreten müssen, welche — in irgend welcher Form und Ausdehnung — offenbar nothwendig sind um jenen gewerbsmäßigen politischen Agitatoren den Boden für ihre Wühlereien und für ihren demonstrativen Terrorismus zu entziehen.
Lebensaufgabe
Es ist eine
für England, aus Irlands sozialem Körper den
alten
Krankheitsstoff zu entfernen welcher die Ursache ist von dem stets wieder ausbrechenden Fieber der erblichen Anarchie. —
VII. Reform des agrarischen Rechtszustandes. — Bäuerliche Eigen thümer. — Die drei F's. Eine wahre Hochfluth von Literatur über die Reform der Agrarge
setzgebung, enfsprechend der Stärke des allgemeinen Gefühls: wie schmerz
lich die irische TageSfrage brenne — hat sich in den letzten Monaten über die englischen Leser ergossen.
halten
wohlgemeinte,
mehr
Bücher, Zeitschriften, alle Zeitungen ent
oder
minder einsichtige Rathschläge, von
Praktikern und Theoretikern, von irländischen Gutsherren und Volkswirthen
der Manchesterschule: über das, waS geschehen müsse und was nicht ge schehen dürfe, um Irland zu einem wirthschaftlich gesunden, einem zu
friedenen
und
damit politisch
konservativen
Mitgliede
des dreieinigen
Jnselreiches zu entwickeln. Fast alle diese Heilkünstler knüpfen ihre Betrachtungen an die Land
akte von 1870 und fast alle — so scheint es mir — sind stärker in der Kritik, in der Darlegung dessen: was nicht geschehen dürfe — worin jene
Akte gefehlt habe — wieweit ihre Vervollständigung durch die bevor stehende Gesetzgebung nicht gehen dürfe — als daß man bestimmt for-
mulirten und zugleich praktisch durchführbaren Vorschlägen begegnete.
Selbst die „Königliche Kommission", welche zur Untersuchung der agrarischen Misstände Irlands niedergesetzt war, hat in ihrem, soeben ver öffentlichten, vorläufigen Berichte an die Königin sich mehr darauf be
schränkt: den Stand der Streitsache darzulegen, als bestimmte Vorschläge
zu konkludiren.
Die in Aussicht gestellte RegierungSbill wird noch zurckgehalten bis die beiden Zwangsbills angenommen sein werden.
Wann sie also das Licht deS Tages erblicken wird, weiß nur — Mr. Parnell. —
Fast sämmtliche Vorschläge beschäftigen sich mit einer wichtigen und
unumgänglichen Vorfrage: der Auswanderung. Diese Vorfrage bezieht sich auf den ganzen Westen der Insel.
Hier drängt sich auf armem, sumpfigen oder felsigen Boden eine ver kommene und verwilderte Bevölkerung zusammen, wie man sie roher in irgend einem auch nur halbkultivirten Lande nicht findet. Die Regel ist hier, daß des „Hüttenpächters" Familie ihren Wohnraum mit Kühen, Schweinen und Hühnern theilt.
In Lumpen gehüllt bearbeiten sie mit
dem Spaten zerstreuete Flecke halbrohen Bodens.
Es ist eine Kartoffel-
existenz, gemildert durch Wanderarbeit. Meistens sind diese armen Wesen die Nachkommen jener irischen Be völkerung die im Jahre 1650 gegen die Westküste gedrängt wurde. Hier vegetirten sie, sich selbst überlassen, int Elende weiter und auch jetzt wird
das ewige Einerlei ihrer perennirenden Armuth nur durch schärfere Hungerjahre unterbrochen. Diese primitiven Ureinwohner kann man weder zu freien Eigen thümern, noch zu Erbenzinsbauern, noch zu Pächtern machen. Denn viele
von diesen Hüttenpächtern bewirthschaften überhaupt kein Land welches man ihnen etwa schenken könnte. Hier also kann nur eine Auswanderung ganzer Familien im großen Maßstabe helfen, zu welcher die englische und kanadische Regierung sich
die Hände reichen sollen. Einen Anfang dazu hat bereits seit zwei Jahren ein energischer Menschenfreund, der Pater Nugent in Liverpool gemacht. Er sammelte Geld, charterte Schiffe und befrachtete diese in Galway mit Auswanderern. Hunderte von Familien hat er bereits nach Quebec übergeführt. Von dort schafft sie die canadische Regierung frei nach Manitoba, wo sie — nach
den Erfahrungen alter Hungerflüchtlinge von 1848 — Aussicht haben, in kurzer Zeit zufriedene Weizenbauern zu werden. Die irische Geistlichkeit
befördert die Auswanderung nach Manitoba wo die katholische Kirche herrscht, während sie der Wanderung in die großen Städte Nordamerikas widerstrebt, wo ihre anvertrauten Schafe sehr leicht in die Irre ge rathen. — Nach Erledigung dieser Vorfrage stehen wir vor der großen prin
zipiellen Alternative in der Reform der irischen Landverhältnisse. Frage steht so: will man die jetzigen Tenants ausbilden: 1. zu Eigenthümern (peasant propietors) oder
Die
Die irische Landfrage.
374
2. zu gesicherten Pächtern auf
unbestimmte
Dauer
(System
der
drei F'S.). 1. Umwandlung der Tenants in bäuerliche Eigenthümer.
ES wird erinnerlich sein daß einige Kapitel deS Gesetzes von 1870,
nämlich
die sogenannten „Bright Clauses"
den Zweck verfolgten:
der
Tenant solle dem Grundherrn das freie Eigenthum seines Pachtgutes ab kaufen, der Staat solle hiezu zwei Drittel des Kaufgeldes (in gewissen
Fällen) gegen Annuitäten vorschießen. Mr. Bright selbst hat allerdings erklärt: er habe mit diesen Clauseln nicht eine allgemeine, durchgängige Umwälzung der Eigenthumsverhältnisse
Sonderbarer Weise jedoch begegnen sich in dem Wunsche nach
beabsichtigt.
ausgedehntester Anwendung dieses Auskaufens der jetzigen Gutsherren die
beiden extremsten Ansichten.
Mr. Parnell will sich nur mit Abschaffung
der Gutsherren genügen lassen.
erkaufen als erkämpfen".
Er will allerdings diese Reform „lieber
Einstweilen sucht er, für diesen Zweck, einiger
maßen auf die Rentabilität der Güter zu drücken, um die Eigenthümer
„zahm zu kriegen".
Andrerseits zeigen sich die Eigenthümer im Süden
und Westen — neuestens auch im Norden — dem Plane des freiwilligen Verkaufes sehr geneigt.
„Es giebt nur ein Ding, welches im Stande ist,
Irländer zu leidlichem Einverständnisse zu bringen; das ist: die Aussicht, ihre Streitigkeiten mit englischem Gelde auszugleichen."
Der hauptsächliche Vertreter jener Auskaufsprojekte ist Lord Dufferin,
der jetzige englische Botschafter in Petersburg; er ist großer Grundbesitzer im äußersten Norden von Ulster, bei Belfast.
Er will für diese Ope
ration ein Kapital von 50 Millionen & verwenden und berechnet, daß
die
jetzigen,
dagegen
einzubehaltenden,
Staatsausgaben
für
Irland:
100 Millionen repräsentiren. Die Sicherheit der Annuitäten soll durch eine Art von Gesammtbürgschaft des Townland — nach Art der russischen Ablösung — herge
stellt werden. Andere Schätzungen schlagen allerdings die Kaufsumme für die iri
schen Landgüter auf 300 Millionen £ an.
Die Times
erklärt jedoch:
„es würde ungerechtfertigt
sein, die
Steuerzahler des vereinigten Königreichs die Kosten dieser Reformen tragen
zu lassen.
Auch beabsichtige die Regierung nichts derartiges.
Der Staat
würde durch eine solche Maßregel in die schwierige und verantwortliche
Stellung des Gutsherrn von Irland schlüpfen, die Gutsherren würden leise, mit dem öffentlichen Gelde in der Tasche, davonschlüpfen.
Das Ende
der Sache würden Annuitäten über den Betrag der jetzigen, angeblich
schon unerschwinglichen, Pachtrente sein, allgemeine Rückstände — und end lich: fernere umfassende Remissionen. —
„Diese Idee ist großartig und schön", sagt Mr. Bence Jones, „aber alle Gewalt der Erde kann nicht Land verbessern ohne Kapital, das
heißt: ohne Intelligenz, Arbeitskräfte, Werkzeuge.
tien
verfügen in Irland nur die Gutsherren."
Ueber diese drei Agen
—
„Machen wir die
Pächter morgen zu Eigenthümern so ist ihr Land in wenigen Jahren tief
verhypothezirt und kommt unter den Hammer." — „Die jetzt beliebte Be rufung auf die Stein-Hardenbergschen Reformen paßt nicht.
Denn unsere
Tenants waren bisher keine beschränkte Eigenthümer.
Wollte man
sie nun, ohne diese Lehrzeit, sofort zu unbeschränkten machen, so würde man würde nur den
ihnen die nothwendige Vorbereitung
fehlen und
agrarischen Pauperismus verewigen.
Die Gewohnheiten,
Eigenschaften
und Karakterschwächen eines ganzen Volkes werden durch die äußere ge
setzliche Umwandlung seiner Zustände nicht verwandelt." Noch ein anderes, nicht finanzielles Bedenken wird gegen die Besei
tigung der Gutsherren geltend gemacht: „Wie denkt man sich die Selbst verwaltung
eines Volkes von lauter kleinen bäuerlichen Landwirthen?
Sie sind wie das Bündel Pfeile.
sie nicht vorwärts koinmen. Dorfverfassung.
Vereinigt sind sie stark, einzeln können
Durch ganz Europa und Asien existirt die
Sie liefert die Maschinerie für gemeinsame Thätigkeit.
In Irland ist die ländliche Gemeinde längst verschwunden. herr steht an der Stelle dieses Organismus.
Kohäsion.
Flureintheilung,
Wege-
Der Guts
Die Bevölkerung hat keine
und Wasserrechte
und
eine Menge
anderer Dinge würden endlose Streitigkeiten Hervorrufen, und es würde
kein Mittel geben um ein zufälliges Agglomerat benachbarter Menschen zur Ausführung gemeinsamer Zwecke zusammen zu fassen."
2. Sicherung der Pächter auf unbestimmte Zeit.
Die drei F'S
Der vorläufige Bericht der „Königlichen Kommission" befürwortet: „es
solle die Gesetzgebung
der zweifellosen Thatsache Rechnung tragen
und von dem Grundsätze ausgehen: „eS herrscht in Irland die traditionelle
Anschauung, daß der Bebauer einen Eigenthumsantheil an dem Boden
hat, den er bewirthschaftet"; — man dürfe dieser Thatsache die gesetzliche Anerkennung nicht länger versagen, die ihr durch die Landakte von 1870
noch nicht gewährt worden sei." Sie fassen dann ihre Vorschläge in folgenden drei Gesichtspunkten zusammen:
1.
fixity of tenure — fester Pachtbesitz,
Die irische Landfrage.
376
2. fair rent — festgestellle, angemessene Rente,
3. free sale — freier Verkauf des Pachtrechts. Jedermann spricht jetzt in Großbritannien nur von den „dtei F's";
das Schlagwort hat sich leicht in jedes Gedächtniß eingeprägt und ist eine Parole geworden der auch die große, weniger Urtheils- und gedankenfähige,
Menge leicht folgt.
UebrigenS ist der Kunstgriff nicht
sprechen
dort von
neu.
Die
Volksschulmänner
reading, writing, reckoning.
den drei R's:
ES
existirt ein Buch über die drei P's der konservativen Partei, ihre: principles, policy, practice.
Die Sittenprediger eifern gegen die drei Ver
führer der Jugend: billiards, beer and birds’eye (ein schlechter Taback).
Am Bekanntesten ist wohl die Formel der drei F'S für die Höhe engli scher Frauenschönheit: fair, fat and forty. 1.
Fester Pachtbesitz.
„Der Pächter soll seiner Pachtung dauernd sicher sein, so lange er daS Pachtgeld richtig bezahlt und sich auch übrigens
Ungehörigkeiten nicht zu Schulden kommen läßt."
gewisse erhebliche
Dieses ist die vorherr
schende Ansicht; eine weiter gehende Meinung möchte den Pächter zum
Erbenzinsmann oder zum erblichen Untereigenthümer, mit beweglicher Rente, machen. 2.
Festgestellte angemessene Rente.
Bei allen jährlichen Pachtungen, wo also nicht ein modernes rein kontraktliches Verhältniß zu Grunde liegt, soll die Pachtrente auf Antrag
eines oder beider Theile durch ein Gericht auf Grund unparteiischer Ein schätzung festgestellt werden und zwar als „angemessene billige Durch
schnittsrente", bei welcher beide Theile bestehen können.
Die Präsumtion
soll für die bestehende Rente gelten. 3.
Freier Verkauf des Pachtrechtes.
Wir haben diesen Punkt bereits bei Betrachtung der Ulster-Gewohn heiten kennen gelernt.
verschieden.
Die Standpunkte sind auch hier dem Grade nach
Die prinzipiellen FreetraderS wollen: freien Verkauf an den
Höchstbietenden. Die einsichtigen praktischen Landwirthe wollen: Feststellung
des Kaufgeldes nach dem Pachtgelde und Einspruchsrecht des Eigenthümergegen die Person des neuen Pächters.
Im Berichte der Königlichen Kommission heißt es: „Die drei F's sind von vielen Zeugen, die wir vernommen haben, eifrig befürwortet, aber keiner von ihnen hat verkennen können, daß sie
in ihren Folgen Ungerechtigkeiten gegen die Gutsherren mit sich bringen."
Ueber die drei F'S wogt nun der Streit selbstverständlich am heftigsten, und mit Recht, denn hier liegt der Kern der Schwierigkeiten in der ganzen irischen
Landfrage.
Schon Lord Palmerston sagte:
„Pächter-Recht ist
Eigenthümer-Unrecht. “ Ich will versuchen, die wesentlichsten Einwendungen gegen die drei
F's in den folgenden Gruppen zusammenzufassen.
1.
Die drei F's verwandeln ein bisher zweifelloses freies
Eigenthum in eine prekäre schwankende dingliche Rente.
Wer
daher im Landed Estates Court Grundbesitz gekauft hat und dort einen
klaren und gesetzlich geschützten Besitztitel (Parliamentary title) erhalten
zu haben glaubte, der ist in eine Falle gegangen, welche ihm von der Regierung selbst gestellt war. — Hierauf wird bedauernd erwidert: die
Eigenthümer müssen dem allgemeinen Wohle ein Opfer bringen und ihre
Entschädigung liegt in ihrer demnächstigen vollkommenen Sicherheit nach dem diese Frage damit „definitiv" erledigt sein wird.
Darauf die Gutsbesitzer: desselben Definitivums hat uns Mr. Glad stone im Jahre 1870 auch schon versichert; — die ganze Maßregel ist
weiter nichts als ein Uebergang zu unsrer Pensionirung als Gutsherren und
zu unsrer Degradirung zu Erbenzinsherren — die später abgelöst werden. 2.
Dauernde angemessene Durchschnittsrente und freier
Verkauf sind mit einander unverträglich.
Indem das Gesetz dem
jetzigen Pächter die Rente feststellt, giebt es ihm am Eigenthum einen
werthvollen Antheil für den er in den meisten Fällen nichts "geleistet^hat. Wenn er aber diesen werthvollen Antheil
an seinen Nachfolger durch
Meistgebot verkauft, so muß dieser zu dem „mäßigen" Pachtgelde seine
Zinsen für den Kaufpreis schlagen; also:
wird wieder
eine, durch Wettbewerb
Unterschied ist nur folgender:
des neuen Pächters Leistung
aufgetriebene
„Raffrente".
Der
früher steckte der Gutsherr die Erhöhung
der Pachtrente in die Tasche — jetzt der frühere Pächter.
3.
Eine
„billige
Durchschnittsrente"
für eine
längere
Periode kann man überhaupt nicht feststellen, solange man nicht
auf eben diese Zeit hin: das Wetter, die Preise und den Arbeitslohn er
messen kann.
Es wird daher in ungünstigen Jahren Remissionen geben,
zu denen ein, außer Aktivität gesetzter Gutsherr weder geneigt sein wird noch auch moralisch verpflichtet erscheint.
4. Feste Pachtverhältnisse, wenn gesetzlich eingeführt, werden auf allen Gütern die jetzigen schlechten Zustände und alle schon jetzt zu kleinen Pachtungen verewigen. Gute Guts
herren werden ihrer Meliorationen beraubt und verwenden ferner kein Kapital mehr für Verbesserungen. Die „Blutsauger", d. h. diejenigen, deren Pachtrenten nicht unter dem Marktpreise stehen (also auch nicht ge
richtlich herabgesetzt werden würden) und die AbsenteeS würden bei der Maßregel am besten fahren. Der Ruf nach festem Pachtbesitze stammt auS der jetzigen durchgängigen Niedrigkeit aller Pachtrenten. Aus diesem Grunde wird auch auf das Verkaufsrecht des Pachtbesitzes so hoher Werth gelegt. Käme es demnächst zur Feststellung der „angemessenen" Pacht rente so würden die unparteiischen Einschätzer die Annehmlichkeiten des BoycottenS bald kennen lernen. 5. Die Zahl der Gutsbesitzer, welche ihre festen Renten
im Auslande verzehren, würde sich sehr vermehren. Jagdzeit werden sie noch residiren.
auswandern.
Nur zur
Ihr Kapital und ihre Zinsen werden
DaS geringe Licht an Wissen Unabhängigkeit und Thätig
keit, welches jetzt in Irland schimmert, wird völlig erlöschen. Und dann wird das Geschrei gegen die auswärts lebenden Pensionäre der Pächter
erst recht laut ertönen. 6. Verewigung des Pachtrechtes ist sehr angenehm für die jetzigen Pächter, nützt aber allen denen nicht, die gern Pächter werden möchten.
Es werden daher wieder Untertheilungen und After
verpachtungen, es wird eine wilde Konkurrenz in den Preisen der PächterAntheile entstehen.
7. Die drei F's sind keine Hülfe, vielmehr das Gegentheil, für die 450,000 ländlichen Arbeiter und ihre Familien welche jetzt der Fürsorge deS Gutsherrn anheimfallen. Man darf ferner nicht vergessen daß etwa 300,000 ländliche Pächter nur dadurch existiren, daß sie zugleich für An dere im Tagelohn arbeiten, und daß nur etwa 140,000 Pächter aus
schließlich auf ihrem Pachtlande arbeiten. 8. Keine Gesetzgebung kann folgende natürliche Grundübelstände be seitigen, welche angeborene Krankheitsursache Irlands bilden. Sie kann nicht die westlichen Küstenstriche den Einwirkungen
deS
atlantischen OzeanS entziehen.
Sie kann die Höhe des jährlichen Regenfalls nicht herabsetzen. Sie kann Canada und den Westen der Vereinigten Staaten nicht verhindern, massenhaft billiges Korn und Vieh zu erzeugen und auSzu-
führen. Sie kann die übermäßige Fruchtbarkeit der Bevölkerung nicht bändigen
und den daraus nothwendig entstehenden wilden Wettbewerb um kleine und kleinste Pachtungen. —
Es ergiebt sich aus diesen Andeutungen wohl hinlänglich, daß der
Weg den die englische Regierung zu gehen hat, unsicher und dornenvoll ist, daß die Aufgabe welche sie zu lösen hat — die Frucht dreihundert
jährigen Unrechts — eine gewaltige ist und daß diese Aufgabe jetzt ge
löst werden muß, gründlich und schließlich, soweit Menschen überhaupt etwas Abschließendes zu schaffen vermögen.
Jedenfalls muß die irische Frage behandelt werden: frei von natio nalem Vorurtheil von Parteifeindschaft und von religiösem Haß, wenn sie Irland von seiner nationalen Krankheit: der erblichen Anarchie, end
lich befreien soll.
Dem Kranken aber, wie dem wohlmeinenden einsichtigen und pflicht getreuen Arzte werden unsere Sympathien nicht
versagt bleiben,
wenn
uns auch heute seine neueste Heilmethode noch nicht genau bekannt ist.
Wiesbaden, 1. Februar 1881.
Die diplomatische und die Consularvertretung des Deutschen Reiches. DaS deutsche Volk hat sich vor wenigen Wochen fteudig und in ge hobener Stellung des TageS erinnert, an welchem vor einem Decennium
die Wiederaufrichtung des KaiserthumS und die Gründung des nationalen
Einheitsstaates ausgesprochen und der Welt verkündet wurde.
Zehn Jahre
sind indeß dahingegangen nicht ohne daß der innere Ausbau des Gebäudes
auf manches Hinderniß gestoßen und daß noch jetzt manch scharfer Gegen satz sich der Weiterführung und Vollendung desselben hemmend in den
Weg stellt.
Auf einem Gebiet indeß darf sich Deutschland ungetrübt des
Glanzes und des Ansehens erfreuen, welche ihm die neu errungene Ein
heit als Morgengabe in den Schooß gelegt.
Dieses Gebiet ist dasjenige
seiner Machtstellung im Kreise der anderen Nationen, des Platzes, den es im Rath der Völker einnimmt, des Einflusses, den es auf die Ange legenheiten der Welt übt.
Ueber alles Erwarten schnell hat sich diese
letztere daran gewöhnt, die neueste Großmacht gewichtige Entscheidungen in die Wagschale werfen und durch ihre Stimme dem Frieden Europas
Festigung und Bestand geben zu sehen. In voller Würdigung der Größe und Schwierigkeit der Aufgaben,
die ihr nach dieser Richtung hin gestellt, so wie der Fülle und Mannichfaltigkeit der Interessen, welche von ihr nach außen wahrzunehmen, hat die deutsche Reichsregierung es von Anfang an, als eine ihrer vornehm-
lichsten Pflichten empfunden, ihrer Vertretung in
fremden und
fernen
Ländern ganz besondere Sorgfalt zuzuwenden. Dem Gesichtspunkt entsprechend, daß den internationalen Beziehungen
im Leben der Völker und Staaten auf dem Gebiet der öffentlichen Moral,
des Rechts und der materiellen Interessen dieselbe Pflege zutheil werden muß wie der Vertretung und Wahrung der Rechte der Individuen, ist der Organismus der Verwaltung der
einer Weise ausgestattet worden,
auswärtigen Angelegenheiten
in
welche sowohl der Machtstellung und
Würde eines der ersten Großstaaten wie den weitverzweigten Interessen
des über die ganze Erde verbreiteten Deutschthums
nach
Möglichkeit
Rechnung trägt.
Die Gliederung des ansehnlichen und stattlichen Appa
rats, welcher im Ausland functionirt, und dessen Fäden von dem Mittel punkt der Reichshauptstadt bis zu den vorgeschobensten Punkten der ganzen
Culturwelt reichen, ist entsprechend der Natur der Beziehungen eine zwei fache, je nachdem die Politik oder der Handel, der Verkehr und sonstige
staatswirthschaftliche Interessen demselben
ihr Gepräge verleihen.
Der
Politik, d. h. der Verständigung über alle Angelegenheiten, welche die
Stelluug der Staaten zueinander, ihre Gruppirung in großen europäischen
Fragen, die Gestaltung ihrer Machtverhältnisse, den Gang ihrer nationalen Entwickelung u. s. w. betreffen, sind in erster Linie die Botschaften, Ge
sandtschaften
und Ministerresidenturen
zu dienen bestimmt.
In ihren
Händen liegt der laufende Geschäftsverkehr auf diesen Gebieten,
neben
welchen sie zugleich die Augelegenheiten ihrer Staatsangehörigen zu ver
treten haben.
Es liegt im Wesen der modernen Staatenbildung und im
Geist der Verträge, auf denen das politische System der Jetztzeit ruht, daß den vornehmsten dieser Vertretungen, d. h. den die Person eines Souveräns repräsentirenden Botschaften, hauptsächlich die schwere und ver
antwortungsvolle Bürde zufällt, über der Erhaltung eines gewissen Gleich gewichts unter den Großmächten zu wachen und die Regeln und Grund
sätze festzustellen, nach denen besonders wichtige Fragen von völkerrecht
licher Bedeutung zu behandeln sind.
Zu dem Ressort der Gesandtschaften
und Viinisterresidenturen gehört die Pflege der allgemeinen politischen Be ziehungen zwischen dem Reich und den nur von einem kleineren Jnteressenkreis berührten Staaten, sowie
die Wahrnehmung der Rechte der
eigenen Staatsangehörigen in jenen Ländern.
Deutschland unterhält gegen
wärtig 6 Botschaften zu Paris, London, Wien, St. Petersburg, Rom und Konstantinopel, von denen die zu Paris und St. Petersburg 3, die übrigen 2 diplomatische Beamte außer dem Botschafter zählen.
Jeder Botschaft
(mit Ausnahme der in Konstantinopel) ist außerdem ein höherer Offizier
zugetheilt, dessen Aufgabe darin besteht, die Armee und die militärischen Verhältnisse deS Landes, in welchem er sich befindet, aufmerksam zu beob achten.
In St. Petersburg hat sich, aus der Zeit der preußisch-russischen
Waffenbrüderschaft in den Befreiungskriegen herstammend, noch der Posten
eines Militärbevollmächtigten erhalten, es ist dies ein der Person deS russischen Souveräns beigegebener höherer Militär, der als Vermittler
in allen auf Militär-, Hof-, Familien- und Privatangelegenheiten bezüg lichen Geschäften zwischen den beiden Monarchen von Rußland und Preußen
dient, der daher eine besondere Vertrauensstellung einnimmt und so zu sagen ganz zum russischen Hof gehört.
In Zetten der politischen Span
nung und der Controverse zwischen den Leitern der auswärtigen Ange-
Die diplomatische und die Consiilarbertretunri deS Deutschen Reiches.
382
legenheiten hat das persönliche Berhältniß der Herrscher, dessen Träger der Militärbevollmächtigte ist, Gegensätze zu
oft dazu beigetragen,
die vorhandenen
mildern und einen versöhnlichern und freundlichern Ton
in die officielle Sprache der beiderseitigen Cabinete zu bringen.
Bon den
13 deutschen Gesandtschaften mit außerordentlichen Gesandten und bevoll mächtigten Ministern an der Spitze kommen 9 auf Europa (Athen, Bern, Brüssel, Bukarest, Kopenhagen, Haag, Lissabon, Madrid, Stockholm)',
4 auf die andern Welttheile (Peking, Washington).
Rio de Janeiro,
Tokio sJedos,
Militärische Mitglieder besitzen von den Gesandtschaften
nur die zu Bern und zu Brüssel.
Der nächstfolgenden Rangklasse ge
hören die Ministerresidenturen an, die an solchen Punkten bestehen, wo
eS weniger auf die Pflege internationaler Beziehungen als vielmehr auf eine würdige Bertretlmg und Wahrnehmung der commerziellen und Pri
vatinteressen von Reichsangehörigen ankommt.
In Europa ist nur ein
Ministerresidentenposten, und zwar für Serbien, seit dem vorigen Jahr creirt worden, um den in den untern Donauländern wohnenden Deutschen einen diplomatischen Vertreter an die Seite zu geben.
Indeß darf die
Erhebung der Ministerresidentur zu Belgrad, zum Range einer Gesandt schaft, wohl nur als eine Frage der Zeit gelten.
Die größere Zahl der
Ministerresidenten ist in Südamerika zu finden; die Sitze derselben sind Buenos Aires für die Argentinische Republik, Caracas für Venezuela,
Lima für Peru,
Chile.
Santa Fä de Bogota für Columbien,
Außerdem
Santiago für
sind in Mexico und in Tanger (für Marokko) nicht
sowohl wegen der dort wohnenden Deutschen als wegen der Nothwen
digkeit, die Handels- und Schifffahrtsverhältnisse daselbst im allgemeinen im Auge zu behalten, Ministerresidenturen eingesetzt worden. Um die Vertreter Deutschlands auch äußerlich in einer der Würde
des Reiches und der von ihnen eingenommenen hohen und angesehenen Stellung entsprechend auszustatten, und ihnen Gelegenheit zu geben den Pflichten der gesellschaftlichen Repräsentation in gebührender Weise nach zukommen, ist den Botschaftern zu Petersburg und London ein Jahres
gehalt von 150,000 Mark, denjenigen zu Wien, Paris, Constantinopel
ein solches von 120,000 M. und dem zu Rom ein Gehalt von 100,000 M. zugebilligt worden. Von den Gesandtenposten ist der zu Washington am höchsten, d. h.
mit 63,000 M. dotirt, dann folgen die zu Peking mit 60,000 M., zu Madrid
mit
54,000 M.,
zu
Brüssel,
Haag,
Rio de Janeiro
mit
48,000 M., Stockholm mit 40,000 M.
Die übrigen Vertreter von Gesandtschaften beziehen 36,000 M. und sind in den meisten Fällen im Genuß von freien Dienstwohnungen.
Eine zweite Categorie von Organen des auswärtigen Dienstes bilden
die Generalconsulate und die Consulate.
dadurch von den letzteren,
Die ersteren unterscheiden sich
daß sie entweder vorwiegend mit politischen
Geschäften betraut oder an für HandelSzwecke ganz besonders wichtigen Punkten
eingesetzt
oder zur Ueberwachung und Leitung
mehrerer kauf
männischer Consulate und einheitlicher Zusammenfassung der Thätigkeit
derselben errichtet sind.
Wenn man die deutschen Generalconsulate nach
diesen drei Gesichtspunkten classificiren will, dann würden die zu Alexan drien, Pesth, Sofia und Warschau vornehmlich zu der ersten Categorie,
die zu London, Constantinopel,
beiden
Sydney, Shangai und Odessa zu den
anderen Klassen zu zählen sein.
Die Consulate zerfallen ihrer
Organisation nach in Berufs- oder besoldete unb in Wahl- oder kauf Die Verbindung beider Arten von Consulaten bietet
männische Consulate.
manche Vortheile dar und hat sich in mehr als einer Beziehung bewährt. Die Berufsconsuln
vermögen durch ihre genaue Bekanntschaft mit den
deutschen Verhältnissen und Interessen durch besondere Vorbildung und ihre autoritative Stellung die vaterländischen Vortheile kräftig zu ver
folgen, und das politische Ansehen des Staates, den
sie zu vertreten
haben, während die meist dem Handelsstande angehörigen Wahlconsuln, besonders in den Fällen, wo eS sich um kommerzielle Geschäfte oder spe
cielle Bekanntschaft mit den wirthschaftlichen Verhältnissen eines Platzes handelt, das Feld
ihrer Wirksamkeit finden.
Die sogenannten
Vice-
Consulate sind an Orten von untergeordneter Bedeutung etablirt.
Nach
an Plätzen
ihres
eingeholter Erlaubniß
können die deutschen Consuln
Amtsbezirkes Consularagenten, als ihre Gehülfen, bestellen; dieselben sind aber keine selbständigen Organe des Reiches, und haben nur das Mandat, dem Consul bei Ausübung seiner Funktionen zur Hand zu gehen. Dem hier vorstehend kurz skizzirten Wirkungskreis gemäß sind die
Consuln im eigentlichen Sinne des Wortes die Förderer und Beschützer deS bürgerlichen und Erwerbslebens der im Ausland lebenden Deutschen,
sowie die berufenen Vermittlet in allen
wirthschaftlichen.
In
ihren
Händen liegt besonders die Pflege und Ausbildung der Handelsverbin
dungen und die Fürsorge für Vermehrung und Ausbreitung deS deutsch kaufmännischen Geschäftes.
Mit dem zunehmenden Aufschwung, den Handel, Wandel, Wohlstand und Credit in dem letzten Jahrzehnt erfahren, und mit der Erweiterung der Interessensphäre, der Vervollkommnung der Transportmittel, der Ver
vielfältigung der Verkehrswege, war auch die Nothwendigkeit gegeben,
daS deutsche Consularwesen auf eine höhere Stufe der Entwickelung zu heben.
Im Jahre 1870 492 Vertreter in seinen Reihen zählend, hat es
Preußische Jahrbücher. Bd.Xt.VII. Heft 4.
26
384
Die diplomatische .und die Consularvertretniig des Deutschen Reiches.
deren jetzt 694 entsprechend der bedeutend gesteigerten Frequenz der über seeischen und anderen kommerziellen
und Schifffahrtsverbindungen, für
welche nachstehende Daten einen kurzen Beleg abgeben werden: Inner halb der Jahre 1872 bis 1878 hat sich die deutsche Einfuhr von 3468 Millionen auf 3722 Millionen, die Ausfuhr von 2500 Millionen auf
2900 Millionen Mark Waarenwerth erhöht.
Hand in Hand mit dieser
Steigerung des Umsatzes ging auch die Vermehrung der Handelsflotte. Im Jahre 1871 zählte die deutsche Kauffahrtei 4520 Fahrzeuge, darunter 147 Dampfer, 4372 Segelschiffe mit 39,000 Mann Besatzung; am 1. Ja
ergaben sich bei einer
nuar 1879
Zählung 4800 Schiffe,
von denen
350 Dampfer und 4450 Segler mit zusammen 32,000 Schiffsbesatzung Es hatte also innerhalb von acht Jahren eine Zunahme um
waren.
200 Dampfschiffe stattgefunden. Wesentlicher fast als diese höhere Schiffs zahl, waren die durchgreifenden Verbesserungen die das Material der Navigation im Sinne vermehrter Schnelligkeit und Dauerhaftigkeit erfuhr. Die Eisenconstrllctionen im Schiffsbau wurden häufiger, namentlich wurden
die großen transatlantischen Dampferlinien nur noch von eisernen Dampf schiffen befahren.
Zugleich trat ein auffallender Rückgang der Segel
schifffahrt im Vergleich Raumgehalt
der
zur Dampfschifffahrt ein.
Der durchschnittliche
eisernen Segelschiffe stieg von 596 bis 674 Register
Tons innerhalb drei Jahren, derjenige der hölzernen blieb bis auf eine
unbedeutende Steigerung auf gleicher Höhe.
Auch die Zahl der Reisen
deutscher Schiffe in das Ausland wies eine viel regere Betheiligung der deutschen Flagge am Handel zwischen den außerdeutschen Handelsplätzen
nach.
Die stärkste Bewegung in dieser Beziehung war nach und von den
Häfen Ostasiens, sowie nach denen der La Platastaaten gerichtet und zwar
gingen 1878 — 773 Fahrzeuge mit 369000 Tonnengehalt (gegen 530 mit 226,000 Tonnengehalt im Jahre 1877) nach China — und 420 mit
272,800 Tonnengehalt (gegen 389 mit 246,000 Tonnengehalt im Jahre 1877) nach Brasilien.
Das
deutsche
Reich
ist
gegenwärtig
durch
11
Generalkonsulate,
36 Consulate und 3 Viceconsulate, zusammen durch 50 politische oder Berufsconsulate, im Ausland vertreten.
und der vorhandenen Mittel,
Nach Maßgabe des Bedarfes,
soll die Zahl der Berufsconsulate stetig
vermehrt, und sollen diejenigen Plätze mit denselben besetzt werden, an welchen kaufmännische oder Verkehrsinteressen solche Vertretung erwünscht
erscheinen
lassen.
Außerdem zählt Deutschland
gegenwärtig 644 kauf
männische Consuln resp. Viceconsuln und 84 Consularagenten.
Für die
größere Zahl der Berufs- und kaufmännischen Consulate ist je ein Amts bezirk abgegränzt, innerhalb dessen dieselben ihre Amtsfunktionen, sowohl
385
Die diplomatische und die Consnlarvertretung des Deutschen Reiches.
die bürgerlicher und civilrechtlicher,
als
die politischer und wirthschaft-
licher Natur üben. Zu der geographischen Vertheilung der deutschen Consulate
gehend,
über
zeigt sich, daß die größere Zahl derselben auf Europa kommt.
In erster Linie steht dabei Groß-Brittannien, als dasjenige Land, dessen weit verzweigte und reich entwickelte Handels-, Industrie-,
Credit- und
Geldverhältnisse die vielfältigsten Beziehrmgen nach außen mit sich bringen. Ueber die Fläche des Vereinigten Königreiches sind im Ganzen 73 Con
sulate vertheilt; nur eines derselben ist ein politisches, das zu London mit Rücksicht auf den Umfang und die Wichtigkeit der dort engagirten
Interessen.
Außerdem sind in England 47, in Schottland 18, in Irland
deren 8 eingesetzt,
und zwar zum überwiegenden Theil, und nur mit
Ausnahme von sechs Fällen, in Hafen- und Küstenstädten.
Jedoch sind
in den vorstehend vorgegebenen Gesammtsummen auch die, auf den GroßBrittannien benachbarten Inselgruppen errichteten
Consularvertretungen
(Normannische, Orkney-, Shetlands-, Scillyinseln) milgezählt. Der Zahl nach folgt auf das Vereinigte Königreich das Gebiet der skandinavischen Halbinsel,
ebensoviel
in welchem 33 Consulate in Schweden' und
in Norwegen bestehen, von denen je eins (für Schweden in
Stockholm, für Norwegen in Christiania), Berufsconsulate sind.
beiden Ländern zur Ausbreitung
gelangten deutschen
Interessen
Die in
haben
neuerdings in Folge der, durch Ueberproduktion an Holz und Eisen herbei
geführten Stagnation, der niedrigen Getreidepreise und des verringerten
Bedarfes von Artikeln des deutschen Imports, einen Rückschlag
erlitten.
Ja die Verluste, welche dem deutschen Handelsstande in letzter Zeit aus
den Transaktionen mit Schweden erwuchsen, waren ziemlich bedeutende, was um so mehr hervorzuheben ist, als den Handeltreibenden der Vorwurf
gemacht werden muß, durch eigene Schuld den größten Theil dieser Ver
luste selbst herbeigeführt zu haben.
Ein unzweideutiger Beweis von der
Stockung in dem wirthschaftlichen Verkehr mit Deutschland war auch die niedrige Zahl der in Stockholm eingelaufenen deutschen Schiffe (100) etwa
die Hälfte der sonst gewöhnlichen Frequenz. vertreter Deutschlands
in Schweden ist dort
Nach Ansicht der Consularerst eine Weltausstellung
nöthig, um das Publikum über den Werth deutscher Gewerbeerzeugnisse zu
belehren und die Fortschritte der deutschen Industrie zu Tage zu legen. Nach Schweden und Norwegen folgen Spanien und Rußland was die numerische Stärke der Vertretung
betrifft.
In jedem der beiden ge
nannten Länder sind 34 Consuln angestellt, von denen in Rußland sieben,
zu St. Petersburg, Warschau, Kowno, Kiew, Moskau, Helsingfors, Odessa, in Spanien nur einer, zu Barcelona, berufsmäßige Vertreter sind. Kowno
Die diplomatische und die Consnlarvertretung des Deutschen Reiches.
386
ist die ansehnlichste Stadt des Niemen- oder Memelflußgebietes, weil es
am Einfluß der schiffbaren Wilia und an der großen russischen Westbahn liegt. Dadurch wird es der Stapel- und Depotplatz von Getreide, Holz, Wolle, Flachs, Hanf, Häuten, die aus weitem Umkreis her gelegt, und von deutschen Händlern ausgesucht werden.
dort nieder
Eine Flußschiff
fahrt, an welcher sich 8—900 Fahrzeuge aus der Provinz Preußen be
theiligen, vermittelt rege Geschäftsverbindungen nach Danzig, Königsberg und Memel hin und verfrachtet die genannten Artikel in drei bis vier
maliger Fahrt nach
den angeführten Ostseehäfen.
Kiew darf als der
Hauptplatz für die deutschen Interessen im südwestlichen Rußland gelten, und als Mittelpunkt für die in den Gouvernements Bessarabien, Podolien,
Bolhhnien und Tschernigor
ansäßigen Landsleute.
Odessa
ist vermöge
seiner Getreideausfuhr und der dort mündenden Eisenbahnen ein Handels platz ersten Ranges.
Der Import deutscher Waaren, von denen namentlich
landwirthschaftliche Maschinen ein gern gesehener Artikel sind, fängt dort an stark von der Concurrenz amerikanischer und englischer Fabrikate dieser
Art zu leiden,
weil die von deutschen Häusern versandten Gegenstände
nicht auf Bedingungen und Verhältnisse deö russischen Landbaues zuge Ebenso thut der Mangel an directen Dampferlinien zwischen
schnitten sind.
großen deutschen Seeplätzen und Odessa, welche der deutschen Rhederei einen guten Verdienst gewähren könnte, dem deutschen Handel nach dem
Schwarzen Meer Eintrag. Dem Consulat in Odessa deutschen
Handel
berührender
fällt noch die Beobachtung andrer, den Interessen
des
großen
internationalen
dasselbe an Eisenbahn- und Dampfschifflinien
Waarenverkehrs zu,. da
liegt welche Norddeutschland mit den nach Persien und Kleinasien führenden
Verkehrsstraßen verbinden. siedlern im
Dazu tritt noch die Pflicht den deutschen An
südlichen Rußland, wo namentlich
viel deutsche Techniker,
Constructeure, Eisenbahn- und Telegraphenbeamte wohnen, Schutz und Beistand zu gewähren.
Moskau ist der Sitz einer sehr zahlreichen deut
schen Colonie; dieselbe zählt etwa 5000 Reichsangehörige,
im Ganzen
aber 25,000 Personen die sich der deutschen Sprache bedienen, und russische Unterthanen deutscher Nationalität sind, außerdem deutsche Oesterreicher und Schweizer.
Der Großhandel Moskau's ist fast ausschließlich in deut
schen Händen concentrirt und die deutsche Industrie hat hier einen Markt,
wie fast an keiner andren Stelle in Europa.
Maschinen für den Eisen
bahnbetrieb und die Landwirthschaft, alle Maschienen für die Wollindustrie,
Werkzeuge und Messerwaaren aus Solingen und Chemnitz, Baumaterialien (Cement) aus Stettin,
Wolle aus Berlin und Bremen,
dem Elsaß finden hier gute Abnehmer.
Wollgarn aus
Die diplomatische und die Consularvertretung des Deutschen Reiches.
387
Einen gesuchten Absatzartikel bilden ferner deutsche Kurzwaaren, unter
denselben vornehmlich Bänder und Litzen aus Barmen-Elberfeld,
dann
Bijouterien, Neusilbersachen, Draht, Messing, Kupfer, Papeterieleder rc.
Einen der wichtigsten Jmportgegenstände bilden auch Farbstoffe, besonders Alizarin,
fast ausschließlich
sind bei diesem Import Barmen, Höchst,
Frankfurt a./M., Ludwigshafen
betheiligt.^
Der Werth des
Gesammt-
importes von Farben und Chemicalien aus Deutschland wird auf 40 bis
50 Millionen Rubel beziffert, und derjenige aller delltschen Produkte und Erzeugnisse überhaupt auf 100 Millionen.
Bei der Einfuhr von Droguen
ist hauptsächlich Lübeck betheiligt und Hopfen, der bei der in Rußland
steigenden Vorliebe für Bairisch Bier, in großen Quantitäten consumirt wird, senden Nürnberg und Bamberg. — Der Markt von Moskau ist mithin, wie aus dem Vorstehenden ersichtlich, ein Concentrations- und Sammelpunkt ersten Ranges für die Erzeugnisse der deutschen Industrie,
und für die Consularvertretung daselbst, einer der lohnendsten und dank
barsten Wirkungskreise. Barcelona das, wie schon gesagt, einzige Berufsconsulat auf der phrenäischen Halbinsel, ist wenn auch nur von wenig Deutschen bewohnt,
ein von den deutschen Eisen- und Stahlfabrikanten gern aufgesuchter Platz; ganz besonders ist es der vaterländischen Eisenbahnindustrie dort gelungen, mit Erfolg gegen England, Frankreich, Belgien concurrirend aufzutreten, so daß eS scheint als ob das gewerbfleißige und geschickte Catalonien, nicht
mehr das deutsche Fabrikat entbehren will.
Ebenso wie in Moskau, wird
auch in Barcelona der Handel mit Droguen von Deutschland fast mono-
polisirt, ebenso bietet sich für chemische und pharmaceutische Produkte in
Barcelona stets gute Consumtion. — Nur sechs von den 33 Consulaten, sind in Binnenstädten, die übrigen kommen auf die volksreichen ansehn lichen Plätze Andalusien's, Sevilla, Granada, Cordova, Leres. —
Die italienisch-deutschen Verkehrs- und kaufmännischen Beziehungen
vermitteln 29 Consulate, von denen eines zu Genua, und eines zu Messina Berufsconsulate sind. — Messina wird als Zwischenstation, in Verkehr mit Algier, Tunis, Aegypten angesehen, demnächst ist es ein Hauptaus
gangspunkt für Südfrüchte, Seiden-CoconS und Schwefel; der deutsche
Import besteht in Stockfisch und in Leder; man schätzt die Betheiligung Deutschlands bei diesem Import auf 10 Procent, wobei Mainz und Worms
etwa mit der Hälfte betheiligt sind.
Im Ganzen hat die deutsche Rhederei
hier nicht viel Frequenz, namentlich seitdem der Schwefelexport nach Deutsch land sehr abgenommen. einen
politisch
wie
Die abgetrennte Lage, und die Nothwendigkeit
administrativ
selbständigern
Landestheil näher
zu
beobachten, sind bei der Errichtung dieses Consulates wohl am meisten
388
Die diplomatische und die Cousulardertretuuq des Deutschen Reiches.
maßgebend gewesen.
Genua ist erst vor kurzer Zeit aus einem Wahl- in
ein Berufsconsulat verwandelt werden.
Die deutsche Rhederei hat sich
jetzt daselbst einiger Dampferlinien nach Südamerika bemächtigt, und ver schifft AuSwandrer nach dort, auch ist die deutsche Flagge durchschnittlich in den letzten Jahren durch einige sechzig Fahrzeuge vertreten gewesen. —
Ein regelmäßiger und feststehender Import von deutscher Seite hier, fehlt; hin
und wieder Eisenbahnschienen,
einzelne
Sendungen westphälischer
Steinkohle, und etwas Sprit, das waren bisher die, wenig bekannt ge wordenen Einfuhrobjekte deutscher Provenienz in Genua.
Genua ist im
Hiublick auf die lebhaftere Frequenz welche die Verbindung des deutschen
mit dem italienischen Schtenennetz durch den Gotthardttunnel
für den
deutschen Transit und Rhedereiverkehr hier zur Folge haben dürfte,
einem Wahl- in ein politisches Consulat umgewandelt worden.
aus
An kauf
männischen Vertretern sind 27 über Italien vertheilt. — In Frankreich
unterhält Deutschland 17 Consuln;. zwei derselben sind Berufsbeamte mit dem Sitze in Marseille, resp, in Havre.
Die merkantilen Beziehungen
Deutschlands an der französischen Mittelmeerküste, sind nicht sehr viel
fältig, der Eingang deutscher Kauffahrteifahrer erhebt sich selten über die Zahl 70, von denen die Hälfte Dampfer — von denselben fiel bis vor
kurzer Zeit der Hamburger Rhederfirma Slomann der Hauptantheil am
Verkehr zu, der Rest kam von mecklenburgischen und oldenburgischen Häfen. Havre ist ein Platz, an welchem der deutschen Schiffahrt und dem Handel ein nicht unbeträchtlicher Jnteressenkreis eingeräumt ist.
Bei der
Gesammteinfuhe war es z. B. in den letzten Jahren mit 40 Millionen, bei der Ausfuhr mit 30 Millionen Kilo Waaren betheiligt. — Jmportirt
wurde vornämlich Getreide, Mehl, Hülsenfrüchte, Häute, Zink, Hanf — das Ausfuhrgeschäft bezog sich namentlich auf Caffee, Baumwolle, Farb
hölzer, Häute, Cigarren — dem Volumen dieser Gütermasse entsprach die
Zahl der Fahrzeuge deutscher Flagge.
Im Ganzen liefen im Jahre 1879
in Havre, 138 deutsche Dampfer und 130 Segler an, eine ansehnliche
Frequenz bei welcher allerdings der Umstand zu berücksichtigen, daß dieser
Platz Station auf der Linie der Hamburgisch-Amerikanischen Packetfahrt Actiengesellschaft, sowie für die Kosmoslinie und den Bremer Llohd ist. —
Unter den kaufmännischen Consulaten in Frankreich nimmt Bordeaux eine bemerkenswerthe Stellung ein. — In früheren Jahren durch die
Ausfuhr von etwa 15 Millionen Liter Wein nach Deutschland, zu den Seeplätzen Hamburg, Bremen, Stettin, Lübeck, Königsberg in engeren
Beziehungen stehend, sieht sich Bordeaux plötzlich in Folge der von der
Reblaus angerichteten Verheerung, in diesen einträglichen und soliden Ver bindungen
bedroht.
Die Abnahme des, zur Versendung
gekommenen
Die diplomatische unb die Consularvertretmig deö Deutschen Reiches.
389
Quantums ist ganz bedeutend — als ein Aequivalent dafür darf die Ein
fuhr von deutschem Sprit in großen Quantitäten betrachtet werden, welcher zu Cognac umgearbeitet wird. Bordeaux ist, vermöge des nach Deutschland gerichteten Weinhandels, und ebenso der Liqueurfabrikation die es mit Hülfe des deutschen Importes betreibt, die Heimathstätte einer ziemlich großen Anzahl Deutscher etwa
400 Individuen geworden; ein Theil derselben hat dort Grundbesitz er worben, und pflegt den Weinbau, ein anderer steht kaufmännischen und
industriellen Geschäften vor, ein dritter repräsentirt Agenturen und Com missionen deutscher Firmen.
Die Frequenz der deutschen Schiffahrt, be
zifferte sich im letzten Geschäftsjahr auf etwa 120 Fahrzeuge.
In Dänemark sind deutscherseits 16 Consuln angestellt, unter denen sich nur ein politisches Consulat, zu Kopenhagen befindet. — Die zwischen
Dänemark
und Deutschland
wirthschaftlichen Beziehungen,
bestehenden
fangen in Folge der zunehmenden Concurrenz Englands auf dem däni schen Markt an,
an Umfang zu verlieren, wenngleich von den fremden
Kauffahrteischiffen die Kopenhagen besuchten etwa 82 Procent, d. h. im letzten Jahr 767 Fahrzeuge und von den Ladungen 55 Procent aus deut
schen Häfen kamen.
Namentlich
ist es die deutsche Flagge welche den
dänischen Markt mit Colonialwaaren versieht, während deutsche Händler gern die landwirthschaftlichen Produkte,
vornämlich lebendes Vieh
und
Fettwaaren, von dort zu cxportiren suchen. Aus Dänemark folgt Holland, der Zahl der bestellten Consuln nach.
Im Ganzen giebt es deren dort neun.
Den größten und gemeinnützigsten
Wirkungskreis unter ihnen haben die zu Rotterdam und zu Amsterdam
residirenden Vertreter.
Das erstere das einen regen Besuch von deut
schen Dampfern erhält, von denen es einige 90 durchschnittlich in den
letzten Jahren berührten, hat hauptsächlich dadurch Beziehungen zu Deutsch land, daß es Einschiffungspunkt für Auswanderer ist.
Die europäische Türkei und Griechenland sind mit sieben resp, acht
Consulaten versehen — die Consulate in Griechenland sind ausschließlich Wahlconsulate; während auf die sieben der Türkei, drei politische, und
zwar zu Constantinopel, Serajewo und Sofia kommen.
Constantinopel kommt als Handelsplatz für Deutschland nur wenig
in Betracht; Droguen, Färb- und Apothekerwaaren auch wohl Papier und Spiritus finden dort noch einen, nicht sehr ausgedehnten Markt, ebenso
ist die deutsche Rhederei nur schwach vertreten; etwa 14—15 deutsche Kauf
fahrteifahrer zeigten alljährlich dort die Flagge in den letzten Jahren, und diese geringe Frequenz hat sich neuerdings noch vermindert.
Dem dortigen
Consulat fällt außerdem noch die Pflicht zu, die Thätigkeit eines Theiles
390
Die diplomatische und die Consularvertretung des Deutsche» Reiches.
der übrigen Konsulate in der Türkei zusammen zu fassen und eine Cen tralstelle für dieselbe abzugeben,
sowie nachdem in dem Ottomanischen
Staatswesen manche Veränderungen politischer und administrativer Natur vorgegangen, die Neugestaltung der wirthschaftlichen Verhältnisse zu beob
achten und denselben aufmerksam zu folgen. Das zu Sofia neuerrichtete Generalconsulat soll Deutschland bei der
Regierung des Fürstenthums Bulgarien politisch und kommerziell vertreten und überall dort eintreten, wo deutsche Interessen unter dem verwickelten,
von Widersprüchen
und Gegensätzen
erfüllten staatlichen EntwickelungS-
prozeß jenes Landes auf dem Spiele stehen.
Ueber Rumänien sind fünf Consulate vertheilt, von denen zwei, die zu Galatz
und Jassy von berufsmäßigen Vertretern verwaltet werden.
Beide Plätze sind rege Verkehrsstationen des Handels der unteren Donau
länder und Märkte für jene Landschaften, die in Bezug auf die Ergänzung ihres Bedarfes an Steinkohlen, Colonialwaaren und Jndustrieerzeugnissen
auf die Wasserwege des dortigen Stromgebiets angewiesen sind.
An der
dort stattfindenden Jmportbewegung nimmt auch der deutsche Handel seit
dem letzten russisch-türkischen Kriege in wachsendem Umfang Theil.
Als
die Objekte desselben findet man namentlich Gold-, Stahl-, Messingfabrikate,
dann Strumpf-, Leder-, Luxuswaaren, Parfumeriesachen, auch Gummi-, Posamenterie-
und
baumwollene
Manufakturgegenstände.
—
Die
in
Belgien (sechs), Portugal (sechs) und der Schweiz (drei) bestehenden Con sulate haben eine geringere Bedeutung, da sie weder größeren deutschen Niederlassungen eine Stätte gewähren, noch Anknüpfungspunkte für deutsche
Interessen darbieten.
Eine Ausnahme davon macht Antwerpen, woselbst
eine etwa 20,000 Köpfe starke deutsche Colonie besteht, welche die dortigen
Importe an Kaffee, Wolle, Petroleum in Commission nehmen und nach
Deutschland verhandeln.
Und noch ansehnlicher ist das Getreidegeschäft,
das von den Deutschen auf dem dortigen Markt gemacht wird.
Diesen
Beziehungen entspricht auch der deutsche Schifffahrtsverkehr Antwerpen's — der Hafen dieser Stadt wurde in den letzten Jahren von durchschnittlich
360 Fahrzeugen unter deutscher Flagge besucht. Einen theilweise noch ausgedehnteren und vielseitigeren Wirkungskreis als in europäischen, finden die Vertreter des ConsulardiensteS in solchen überseeischen Plätzen, die zu Mittel- und Knotenpunkten deS transatlan
tischen deutschen Handels-
und
Schiffahrtsverkehres geworden, und an
denen entweder größere deutsche Niederlassungen entstanden, oder von der
deutschen Rhederei regelmäßige Beziehungen angeknüpft sind.
Der Consul
wird hier in noch höherem Grade zum Organ der heimischen Erwerbs-
Interessen und namentlich des Kaufmannsstandes, den er durch aufmerk-
Die diplomatische und die Consularvertretung des Deutschen Reiches.
391
same Beobachtung der Produktions-, der national-ökonomischen, der Geld-, Verkehr- und Creditverhältnisse, Aufschluß und Direktionen über Bedürf
nisse und die Geschmacksrichtung der Einwohner; über die Art der anzu knüpfenden Beziehungen, über die Märkte des Landes, die Verkehrswege
im Innern, die Steuer- und Zollverhältnisse, und über Alles was dazu
beitragen kann, lohnende und einträgliche Verbindungen zwischen demselben und der Heimath zu eröffnen, zu unterrichten und in laufender Kenntniß
zu erhalten vermag.
Gleichzeitig wird er hier im fremden Welttheil zum
Mittel- und Sammelpunkt, um den sich das deutsche Element schaart. Sowohl der Zahl der Consulate, als der Bedeutung ihres geschäft
lichen Wirkungsfeldes nach, steht Amerika den anderen Welttheilen voran, und zwar sind es die über das Gebiet der Vereinigten Staaten von NordAmerika vertheilten Vertreter, in deren Händen die Pflege und Erhaltung
der Verbindungen und Interessen ruht, welche hier etwa 9 Millionen deutsche Ansiedler theils mit dem Mutterlande unterhalten, theils auf ame
rikanischem Boden zu wahren haben.
Bemerkt sei hierbei wie der ohne
Unterbrechung fortdauernde Strom der deutschen Auswanderung, der in
der ersten Hälfte des Jahres 1880 allein 150,000 Personen über den Ocean sandte, die in den Küstenplätzen Nordamerikas an das Land stiegen,
den dort bereits bestehenden Niederlassungen stets neue Elemente zuzu führen, und dem Deutschthum Nordamerikas noch weitere Ausdehnung zu geben scheint.
Nach keinem überseeischen Lande haben sich innerhalb der
letzten Jahre die auswärtigen Beziehungen Deutschlands so vervielfältigt, als nach den Bereinigten Staaten hin — allerdings mit der Maßgabe,
daß Deutschland jetzt auf dem nordamerikanischen Markt mehr als Käufer, wie als Verkäufer auftritt und daß der Export Nordamerika's sich in stei gendem Maaße dem deutschen Gebiet zuwendet.
Gleichwohl hat die Ein
fuhr aus Deutschland in den letzten 20 Jahren eine Zunahme um 112% erfahren, und würde einen noch größeren Aufschwung genommen haben,
wenn die Vereinigten Staaten nicht, in dem Streben nach Kräftigung der einheimischen Industrie, den schwer zu übersteigenden Wall eines Schutz
zolles errichtet hätten. Eine ungefähre Vorstellung von dem Umsatz, den die Hauptplätze der Vereinigten Staaten in Deutschland haben, wird ein Blick auf den Import
amerikanischer Waaren, wie er nach den bezüglichen Ausweisen im Jahre 1878 beispielsweise stattgehabt, geben. allein an Rohbaumwolle,
In jenem Jahre wurden z. B.
Brodstoffen, frischem Fleisch, Petroleum und
Baclmwollenwaaren nahezu für 38 Millionen (genau für 252,496,200 Mark)
auf deutsche Märkte gebracht. Von den 17 Consulaten im Gebiet der Union sind die zu New-Iork,
Die diplomatische uub die Cousulardertretuug des Deutschen Reiches.
392
Chicago, Cincinnati, St. Francisco und St. Louis Berufsconsulate. —
New-Aork ist die Haupt-Ein- und AuSgangöpforte des von Deutschland kommenden und nach dort gehenden Handels, und der Knoten- und Ver einigungspunkte der transatlantischen und der amerikanischen Schiffahrts
linien. — 923 Schiffe, davon 260 Dampfer, betrug in den letzten Jahren die Durchschnittsfrequenz der deutschen Kauffahrtei und der Post und Per
sonenbeförderung daselbst. — St. Francisco, das Hauptemporium an dem Stillen Ocean, ist mit einem Consulat versehen, weil das deutsche Element dort
in geschäftlicher Beziehung geradezu überwiegend, und das ganze
Engrosgeschäft in deutschen Händen ist.
Die Schiffahrt unter deutscher
Flagge ist allerdings nur sehr gering (15—20 Fahrzeuge), die Eisenbahn
vermittelt den größeren Theil des Waarenimportes, der vornämlich in Spiegel- und Fensterglas, dem begehrtesten Artikel deutscher Provenienz
daselbst, dann in Flachs, Seiden, Leder, Gummi, Eisenwaaren, Wein, Quincallerien u. s. w. besteht. — Die Ausfuhr zur See nach Deutschland belief sich an Werth auf etwa 70,000 Dollars und umfaßte eingemachte
Früchte, präservirtes Fleisch, Mehl, Honig, Weizen, Wein, Wolle.
Chicago ist der größte Stapelplatz und Markt für die landwirthschaftlichen Produkte der nordwestlichen Staaten und Territorien der Union;
hier münden die aus allen Richtungen des Nordwestens kommenden weit verzweigten Eisenbahnlinien, während nach Osten vom Frühjahr bis zum
Herbst die Wasserstraßen über die Binnenseen, die Canäle von New-Aork und Canada, nach dem Hafen von New-Aork und nach Montreal offen stehen.
Die Haupterwerbsthätigkeit der dort lebenden und der nach dort
Handel treibenden Deutschen ist die Gewinnung von Fleischwaaren, sowie die Züchtung lebenden Viehes. — Speck,
Schweinefleisch und Schmalz
werden hier von 10 bis 12 deutschen Firmen zugerichtet, die sich außerdem auch mit dem Verkauf von Rindvieh, Schweinen und Schafen rc. befassen.
In den Schlächtereien und Pökelkammern dieser Häuser sollen in einem Jahre bis zu 3 Millionen Schweine bearbeitet werden, ein Objekt das einen ungefähren Werth von 43 Millionen Dollars repräsentirt.
Auch
die Präparation von, in Büchsen zu versendendem Rindfleisch ist eine der
hier gangbaren Geschäftsbranchen, welche deutsche Unternehmer beschäftigt. — Chicago ist außerdem noch
ein Hauptsitz der Gewerbethätigkeit des
Westens — der Gesammtwerth der industriellen Erzeugnisse der Stadt wird neuerdings annähernd auf etwa 237 Millionen Dollars veranschlagt,
die Ausfuhr derselben erreicht aber nicht diejenige der landwirthschaftlichen Produkte nach Europa, zu welcher, wie die betreffenden Tabellen zeigen,
auch Hafer und Maismehl, Tabak, Baumwolle, Leder, Pelze rc. gerechnet werden. — Cincinnati ist mit einem Consul besetzt, weil es der Mittel-
Die diplomatische und die Coilsularvertretung deö Deutschen Reiches.
393
punkt der dicht mit Deutschen besetzten Distrikte der Staaten Ohio, In
diana, Kentukh, West-Virginia, die ein zusammenhängendes Wirthschafts gebiet bilden und gleiche ökonomische Interessen haben.
Die vielfach Zielpunkte für die deutsche Schiffahrt und den Handel
bildenden großen Hafenplätze Baltimore, Boston und Philadelphia sind Der erstere ist ein beliebter
nur mit kaufmännischen Consulaten besetzt.
Ankunftshafen für deutsche Auswanderer, die dort in den letzten Jahren
zu 3—4000 Personen ankamen; die Frequenz deutscher Handelsschiffe be trägt etwa 140—150 pro Jahr,
der
und
Werth
des durch deutsche
Schiffe vermittelten Geschäftsumsatzes etwa 9 Millionen Dollars — der größte Theil davon kommt auf Getreide.
Der zunehmende Getreide-Export,
an dem sich auch der deutsche Kaufmann in reger Weise betheiligt, giebt
Baltimore einen lebhaften und steigenden Aufschwung.
Diese Zilnahme
der Ausfuhr ist indeß nicht allein der Lage jenes Platzes, sondern den besseren Einrichtungen, die er bietet, zuzuschreiben.
Es bedarf hier nur
einer Umladung des Getreides, während in den übrigen Plätzen immer noch mehrmalige Verladung erforderlich ist.
Boston liefert neben Getreide
auch Petroleum nach Deutschland und zwar sind in den letzten Jahren auch
nichtdeutsche Schisse mit dieser Waare befrachtet und abgesandt worden. — Philadelphias deutsch kaufmännisches Geschäft wird hauptsächlich nach Bremen hin gemacht; bis jetzt war die deutsche Kauffahrteiflagge daselbst durch etwa 80 Schiffe im Jahr vertreten.
Als eine von den Consuln im
Gebiet der Union gemachte Wahrnchmung muß noch der Hinweis darauf bezeichnet werden, daß die Zollverwaltung der Vereinigten Staaten gegen
wärtig mit großem Mißtrauen gegen deutsche Importeure erfüllt ist, weil es wiederholt vorgekommen, daß dieselben den Versuch gemacht, die ame rikanischen Zollgesetze zu umgehen.
Ueber das aus 27 einzelnen Staaten bestehende mexikanische Staats gebiet, sind 18 Wahlconsulate vertheilt.
Der Wirkungskreis derselben
hat sich in dem Maße erweitert, als der Großhandel Mexieo's in deutsche
Hände übergegangen ist.
Eine der wichtigsten Aufgaben die den deutschen
Consularvertretern daselbst gegenwärtig gestellt, ist der Schutz des vater ländischen Manufacturwaarengeschäftes der immer heftiger andringenden
französischen Concurrenz gegenüber,
sowie auch das Frontmachen gegen
die von den großen mexikanischen Bank- und Creditinstituten deutschen
Unternehmungen gegenüber an den Tag gelegte Opposition.
französischen Bestrebungen sind
es
Neben den
auch nordamerikanische, die sich in
Mexico zu regen beginnen und aufmerksam von den deutschen Vertretern beobachtet und im Auge behalten werden müssen.
Der Handelsstand von
New-Aork und besonders der von Chicago und New-Orleans, hat in den
Die diplomatische und die Consularvertretuug des Deutschen Reiches.
394
letzten Jahren mehrere Deputationen nach Mexico gesandt mit dem Auf trag, sich dort durch den Augenschein über die mexicanischen Verhältnisse
Schon hat der Eingang von amerikanischen Artikeln, be
zu informiren.
günstigt durch das
Bestehen
mehrerer
Dampferlinien zwischen
beiden
Ländern, ansehnlich zugenommen. Ein weiteres Anwachsen ist mit Sicherheit
zu erwarten.
Mexico ist unzweifelhaft ein fruchtbarer lohnender Boden für deutschen Unternehmungsgeist.
Die angesehene Stellung die der deutsche Handel
dort einnimmt, kann, nach dem Urtheil competenter Richter, auch behauptet
werden, wenn das Beispiel der Gründer des deutschen Handels in Mexico
befolgt wird.
Umsicht, Fleiß, Ausdauer und das strenge Einhalten ge
mäßigter Grundsätze, haben denselben den Erfolg in die Hand gegeben.
Der Handel Deutschland's ist von den Vertretern desselben in Mexico noch nicht einmal ausgebeutet, geschweige denn erschöpft worden.
Es giebt
viele deutsche Waaren die in Mexico kaum gekannt sind, und die sich dort
mit Gewinn absetzen ließen.
Im einzelnen betrachtet, sendet Hamburg
Eisen und Stahlartikel, Papier, Stearinkerzen, Möbel, auch Bier, Textil-
In Vera Cruz, Tampico
und Kurzwaaren, auch Farbholz nach Mexico. und Acapulco machen deutsche Häuser
(meist Hamburger,
Frankfurter,
Rheinische) auch ansehnliche Commissionsgeschäfte mit englischen Waaren. In Brittisch-Nordamerika (Canada) sind 10 kaufmännische Consulate,
in dem englischen Central-Amerika (Brittisch-Honduras) nur eines.
Mit
beiden Gebieten sind die Verkehrsbeziehungen gering und eine Wahrneh
mung deutscher Interessen nur in vereinzelten Fällen erforderlich.
Die
Staaten Central-Amerika's sind in neuerer Zeit in vermehrtem Maaße
der Sitz deutscher Niederlassungen geworden,
und haben mehrfach das
Streben gezeigt, zu dem deutschen Reich durch den Abschluß von Handels-,
Schiffahrts- und treten.
Freundschaftsverträgen in ein näheres Verhältniß zu
Neben 9 in Hafen- und Küstenplätzen stationirten Wahlconsuln ist
vor einigen Jahren ein Berufs-Consulat (General-Consulat) in Guatemala
hauptsächlich auf Wunsch der Hansestädte errichtet worden, das bei den häufigen inneren Umwälzungen der Staatsordnung die Aufrechthaltung
der staats- und völkerrechtlichen Verträge, unter deren Schutz die Reichs
angehörigen daselbst stehen, zu überwachen hat.
Verschiedene Vorgänge
haben gelehrt, daß Wahlconsuln, die den Landesbehörden nicht unabhängig gegenüberstehen, nicht ausreichten, um die Autorität und daö nationale Ansehen dortselbst kräftig zu wahren.
In Brittisch-Westindien (Bahamainseln — Jamaica) bestehen sieben deutsche Consularvertretungen.
Zahlreichere
deutsche Gemeinden
und auch regere geschäftliche Be-
Ziehungen als hier, werden in dem Spanischen Westindien angetroffen,
das mit 11 Consulaten besetzt ist, unter diesen das wichtige Berufsconsulat
in der Havannah.
Die schwankenden politischen Zustände, welche die Be
gründung einer festen und gesicherten Staatsordnung auf Cuba in Frage stellen und dem Handelsstand den festen Bodeit sicherer Erwerbsverhältnisse entziehen, haben zur Einsetzung eines politischen Vertreters in der Havannah
geführt.
Das Geschäft, welches deutsche Firmen früher hier in Tabak
machten, hat unter der Ungunst der vielen Erschütterungen des StaatslebenS auch wesentlich gelitten.
Es spricht sich dies namentlich auch in der ge
ringen Frequenz der Schiffahrt aus, die im Ganzen höchstens 40 deutsche
Fahrzeuge zählt, davon sind 30 Dampfer, welche auf den transatlantischen Linien des Bremer Lloyd und der Hamburgisch-Amerikanischen Packetfahrt-
Actiengesellschaft den Dienst versehend, dort einlaufen, um Passagiere und Waare an Bord zu nehmen.
Aehnlich wie hier gestaltet sich der Wirkungs
kreis deö zu Curayao installirten Consulates, das wegen der vielen Rei
bungen, die zwischen Venezuela und der niederländischen Colonialregierung
vorkommen, häufig für deutsche Interessen eintreten muß.
In den beiden westindischen Republiken St. Domingo und Hayti sind im Ganzen 7 Consularvertretungen, darunter ein Berufsconsulat zu
Port-au-Prince, welches den übrigen sechs dort vorhandenen kaufmännischen Consuln zum Mittel- und Stützpunkt dienen soll.
Die dominikanische
Republik ist in den letzten Jahren von den sonst hier an der Tagesordnung stehenden Revolutionen mehr verschont gewesen und dieser Umstand hat
nicht verfehlt, dem Handel mit (Safe, Tabak und Cacao, deren Produktions stätte die Insel ist, einen einträglichern Markt zi« schaffen.
Zu bemerken
ist, daß die Erhöhung der Tabakszölle in Deutschland einen unverkenn
baren Einfluß auf den dominikanischen Handel geübt hat; die Behandlung
des Tabaks ist jetzt eine viel sorgfältigere seitens der Producenten geworden und Bremen und Hamburg die Hauptabnehmer, sehen namentlich darauf,
daß die Ladungen nicht gepreßt zur Ablieferung kommen und verlangten den theueren Transport per Dampfer.
Für die Erzeugnisse des deutschen
Gewerbfleißes bietet St. Domingo kein Absatzfeld.
Die enormen Credite,
welche die Republik in früheren Jahren genoß, sind in Folge der schlechten Tabakspreise und
der
fortwährenden Revolutionen mehr oder weniger
zurückgezogen und üben einen lähmenden Einfluß auf das Importgeschäft Die Durchschnitts-Schiffahrt unter deutscher Flagge belief sich auf 5 bis
8 Schiffe im Hafen von St. Domingo. — Noch trüber ist das Bild, das die Plätze von Hayti und die dort angeknüpften deutschen Beziehungen in neuester Zeit boten.
Die mit kurzer Unterbrechung andauernden Bürger
kriege und Partheizwistigkeiten verminderten die Einfuhr, schmälerten in
396
Die diplomatische nhb die Consnlarvertretiing des Deutschen Reiches.
Folge dessen auch die Zolleinkünfte des Staates, und erschwerten den dort
etablirten Häusern die Erlangung von Waarencrediten in Europa. Unter solchem Druck litten naturgemäß auch der Anbau und die Pflege aller
Erwerbszweige.
Der Ackerbau lag gänzlich darnieder, die Baumwollen-
cultur wurde völlig vernachlässigt, die Anpflanzung des CafsS zeigte sicht
liche Vernachlässigung.
Die Einfuhr auS Deutschland und speciell Ham
burg, welche Port-au-Prince erhält, bezifferte sich ihrem Werthe nach auf etwa 182,000 Pesos, und bestand meist in Getränke» und Provisionen.
Die Verbindung mit Deutschland und speciell mit Hamburg, wird mittelst der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actiengesellschaft, und zwar durch einige dreißig Dampfer pro Jahr unterhalten, welche die nördlichen Häfen der Insel regelmäßig berühren und den Verkehr zwischen den verschiedenen Plätzen wesentlich erleichtern.
Außer Cafe, dessen durchschnittlicher Jahres
ernteertrag zwischen 60 und 70 Millionen Pfund schwankte, liefert Hayti noch Blauholz, Baumwolle, Gllmmi, Häute, Cacao und Schildpatt in der
Hauptsache, in den Handel.
Die bedeutende Verminderung der nach
Hamburg (an Bord der Hamburger Dampfer) in der letzten Zeit ge sandten Caffsquantitäten, erklärt sich durch die große Concurrenz der sieben verschiedenen Dampferlinien, welche Port-au-Prince regelmäßig besuchen.
Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters*). Die jüngst erschienene große Arbeit von Georg Schanz, welcher un vergleichlicher Fleiß und die sorgfältigsten Untersuchungen zu Grunde liegen,
ersetzt nicht nur Alles, was bisher in englischer Handelsgeschichte und nicht
zum Wenigsten in England selber geleistet worden ist, sondern verdient vollends auch unter dem Reflex der Verhältnisse der Gegenwart in hohem Grade die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Der Historiker
mehr rückwärts schauend als in der Absicht Normen für die Zukunft zu entdecken und aufzustellen wird
sich das in
diesem
Werke zugeführte
großartige Material anzueignen und nach den Ergebnissen einer umfassenden,
methodischen Untersuchung die Ansichten, die er sich bis dahin hatte, zu prüfen und vielleicht mannigfach zu ändern haben.
gebildet
Aber auch
der Politiker wird auS den nunmehr gewissenhaft und einsichtsvoll ent
wickelten Hergängen, aus einer gewaltigen Fülle urkundlicher Beilagen gar manche Lehre für die Gegenwart entnehmen können.
Wie in anderen
Stücken wird man doch auch fernerhin zilmal in allem, was Handel und Verkehr betrifft, immer wieder auf das Beispiel des einerlei, ob hoch ge priesenen oder gründlich verhaßten England zurückkommen.
So sei eS
mir denn gestattet aus dem reichen Schatz, der uns so eben erschlossen
worden, einige der wesentlich historischen Momente hervorzuheben und da mit, wie mir vielleicht auch durch eine gewisse Beziehung zu der Arbeit
nahe liegt, dieselbe einem weiteren Kreise bestens zu empfehlen. ES ist bekannt, wie nach dem kläglichen Ausgange der hundert Jahre
lang gegen Frankreich geführten Eroberungskriege und vollends, nachdem
die Dynastie Anjou und die alten Adelsgeschlechter Englands
in dem
*) Englische Handelspolitik gegen Ende des Mittelalters mit besonderer Berücksichtigung des Zeitalters der beiden ersten Tudors Heinrich VII. und Heinrich VIII., ge krönte Preisschrist von Dr. Georg Schanz, a. o- Professor der Staatßwissenschaften in Erlangen. 2 Bände. Leipzig, Verlag von Duncker und Humblot 1881. Das Werk erhielt am 11. März 1879 den ersten Preis der Beneke'schen Stiftung durch die Philosophische Facultät in Göttingen.
398
Englands Handelspolitik am AuSgang des Mittelalters.
dreißigjährigen Kriege
der
beideil Rosen sich
untereinander vernichtet
hatten, Heinrich Tudor in allen Stücken deS öffentlichen Daseins, der
Verwaltung, des Rechts, der Verfassung als Restaurator eintrat.
Aber,
indem er die monarchische Gewalt wieder in das Centrum des StaateS
rückte und erbitterte Feinde seines Throns drinnen und draußen geschickt
abwehrte, hat unter einer solchen Einwirkung sein Volk zum ersten Mal die seltene Wohlthat insularer Enthaltung und Sicherheit empfinden lernen.
Sein Sohn Heinrich VIII. beharrte im Ganzen, auch wenn eS bisweilen nicht so schien, bei der Politik des Vaters,
verschaffte aber, indem er
thatenfroh im Kampf der Weltmächte und der geistigen Kräfte seiner Zeit
für und wider Partei ergriff und öfter sogar mit instinctmäßiger Sicherheit die Seiten zu wechseln wagte, dem Reiche die Fähigkeit wieder activ in die europäischen Dinge einzugreifen.
Indeß erst, wenn man die Handels
politik beider Herrscher zergliedert, die jeder in seiner Weise hervorragende Naturen waren, läßt sich erkennen, daß Heinrich VII. sich keineswegs so passiv verhielt, wie eS bisweilen den Anschein hat, sondern daß er viel
mehr recht eigentlich die Grundlinien, das feste Geleise gezogen hat, in welchem
der rührigere Sohn mitunter fast zu ungestüm und wechselnd
wie ein Proteus vorwärts schritt.
Um jedoch die höchst bedeutende Um
wandlung, die sich unter beiden vollzog, ganz zu ermessen ist ein Rückblick hauptsächlich auf die commerciellen Beziehungen erforderlich, wie sie sich unter den Anjou-Königen des Mittelalters gestaltet hatten.
Angelsachsen und Normannen bewegten sich durchaus im Ackerbaustaat, in welchem unleugbar auch die Wurzeln der Institutionen haften bleiben. Aber der Wasserwege mußten sie sich von vornherein versichern, wenn sie
nicht von der Welt abgeschnitten oder gar in ihrer Gewinn bringenden
Landwirthschaft beständig von dem Einbruch raubgieriger Feinde bedroht sein wollten.
Es ist sehr bezeichnend, wie lange die Produkte der Vieh
zucht: Wolle, Häute, Leder und nebenher etwa auch daS alte Zinn des SüdwestenS und einiges Getreide die einzigen Ausfuhrartikel bildeten, und wie fast eben so lange der einheimische Händler die fremden gewähren
ließ, wenn sie kamen um solche Gegenstände gegen Tausch und Zahlung
auf ihren Schiffen abzuholen.
Noch hatten die Wikingerzüge ihr Ende
nicht erreicht, als vor allen die Leute aus den Ländern des Kaisers zu
diesen Zwecken bereits werthvolle Privilegien in dem großen Themsehafen besaßen.
Um die Zeit dann, als solche Vergünstigungen den Kaufleuten
von Nord- und Südeuropa zuerst regelrecht in Form von Statuten er weitert wurden, fehlt auch in der Magna Charta Johanns nicht die Be stimmung, wonach „alle Kaufleute in England frei und sicher aus- und
eingehn, dort verweilen und wieder gehn dürfen zu Lande und zu Wasser
um M kaufen und zu verkaufen ohne alle unrechtmäßigen Zölle
(sine
omnibus malis toltis), lediglich nach den alten bewährten Ordnungen, außer zur Kriegszeit und wenn sie einem Lande angehören, das mit uns Krieg führt."
doch fast,
Die Paragraphen 41 und 42 des großen Freibriefs klingen
als wenn Kaufleute überhaupt nur Ausländer sein könnten.
Ein solcher Rechtsschutz aber war um jene Zeit gegenüber der Ausschließung aller Fremden, welche nach dem Naturrecht höchstens nur Gäste sein konnten,
gegenüber der von jeher besonders starken Abneigung der insularen Be
völkerung wider jeden Ausländer (alienus, foreigner) nur durch Con cession von Seiten deS Königs zu gewinnen, die, wie gleichzeitig auch an anderen Stellen Europas, juerft einzelnen Kaufleuten, in der Folge dann
ganzen. Städten und Ländern ertheilt worden ist.
Die Anomalie gar,
daß fremde Handeltreibende in das englische Recht ausgenommen wurden
und doch die eigenen Streitigkeiten nach ihrem heimischen Recht austragen durften, war nur möglich kraft eines vom Könige in Gemeinschaft mit
den bevorrechteten Ständen statutrten Beschlusses, allerdings im eigenen, wohl verstandenen Interesse derselben.
Allein im langen Kampfe um die
Verfassungssätze der Charta gediehen stetig der große Rath deS Reichs imb die Gemeinen im Parlament.
Da regte sich denn auch der einhei
mische Kaufmann und gewann nach und nach die Mitentscheidung darüber,
welche Zölle zu Recht, welche nicht zu Recht gelten sollten. Rittern bewilligte er vor allen sie dem Könige.
Neben den
Darüber begann er aber
auch den Fremden die übergreifenden Freiheiten zu beneiden,
sie wo
möglich zu umschreiben, damit Ausländer nicht den Stadtbürgern völlig
gleich würden und ihnen selbst im Kleinhandel und Gewerbe das Brod vom Munde nähmen.
Die Härte und der Ungestüm, womit das geschah,
waren in der langen, schwachen, mit Privilegien an den fremden Kaufmann geradezu verschwenderischen Regierung Heinrichs III. groß gezogen worden.
Während des ganzen 14. Jahrhunderts handelte es sich alsdann darum
zwischen König und Ständen wie in vielen anderen Dingen so auch in der Handelspolitik durch Compromiß ein einträglicheres Verhältniß
schaffen.
zu
Durch die Acte vom Jahre 1303 hatte der große Eduard I.
gegen Zuschlagzölle von Seiten der
Magna Charta entschieden
fremden Kaufleute die Sätze der
im Sinne deS freien Handels verwirklicht.
Unter Sohn und Enkel lief das Bürgerthum Englands um so heftiger Sturm wider eine solche Auslegung
des
Gästerechts.
Während vom
Thron her die Ausländer immer wieder bevorzugt wurden und sogar immer noch
neue werthvolle Privilegien erwarben,
suchte der englische
Kaufmann, den Stubbs in seiner Verfassungsgeschichte neben dem Juristen
vortrefflich als Halbstand bezeichnet, jedesmal wem» das Staatswesen von Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1I.
1.
27
Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters.
400
heftigen Zuckungen ergriffen wurde, mit aller Gewalt daran zu rütteln.
Schon ließ sich mit Sicherheit voraussehen, daß in die noch so starke Schanze dereinst erfolgreich Bresche gelegt werden würde.
ralen Anläufen von oben und
Zwischen libe
municipalem Widerstand der
engherzig
Bürger, die nicht nur Deutsche und Italiener, sondern auch Gascogner, Jahrhunderte hindurch des Königs Unterthanen, und selbst bisweilen gleich
berechtigte Städte des eigenen Landes zurückdrängen wollten, gieng es auf und ab, bis ztl Ende der Regierung Eduards III. und während der stür mischen Jahre seines Enkels Richard II. die Aussichten der Nicht-Engländer
zum ersten Mal ernstlich bedroht erschienen. Hier kann nur kurz daran erinnert werden, wie diese bis dahin im
Einzelnen zri ihren Vorrechten gelangt waren.
Im Mittelpunkt standen
von Anfang an die Niederlande, Flandern, Brabant, Hennegau, Holland, wie sie, auS Nicderlothringen losgelöst, in der Ausbildung municipaler Rechte,
in commercieller und industrieller Entwicklung den Engländern
um Generationen weit voraus waren.
Allein diese waren nicht nur durch
ihre Rohprodukte, welche sene für ihren Gewerbfleiß nicht entrathen konnten, auch auf die gegenüber liegenden Küsten, sondern beide eben durch die
bequeme Seeverbindung und gemeinsame gegen Frankreich gerichtete poli tische Interessen auf einander angewiesen, bis die Engländer im 14. Jahr
hundert anfiengen ihre Wolle selber zu verarbeiten, auf dem Festland da gegen unter der rasch emporsteigenden Großmacht Burgund die industriellen
Kreise nach arbeiteten.
Schutz rufend den neuen Concurrenten
energisch entgegen
Die alte freihändlerische Richtung in den flandrischen
und
brabantischen Städten bekam somit einen harten Stand, wenn sie ihren
Territorien den damals in Europa einzigen Vorrang als Universalstapel platz behaupten wollte.
Die Beziehungen Italiens zu England waren aus den finanziellen
Ansprüchen der päpstlichen Curie erwachsen.
Florentiner und Luccheser
Bankhäuser wurden zumal in London seßhaft, gewannen bald auch Ein
fluß auf den dortigen Waarenumsatz und wurden, als sie um die Mitte
des 14. Jahrhunderts in die Kriegsschulden des Königs verwickelt worden, vorübergehend von den Genuesen abgelöst.
Mittlerweile jedoch kam im
Mittelmeer vorzüglich gegen Genua Venedig empor und knüpfte mit seinen meist vom Staate selber regelmäßig entsendeten Galeeren die erste directe
Seeverbindnng zumal mit Southampton.
Dieser rasch aufblühende Han
delsverkehr erfreute sich seit Eduard III. gleichfalls der besonderen Gunst der Krone, bis die Eifersucht der englischen Bürger in der zweiten Hälfte
des 15. Jahrhunderts an dem Hause 9)ott eine Stütze fand und die den Fremdlingen ans der Adria gewährten Vorrechte zurückzudrängen anfieng.
Niemand aber war seit frühster Zeit mehr begünstigt als der deutsche Kaufmann.
Die Kölner und Westfalen besaßen außer ihren Freibriefen
vorzüglich seit Richard von Cornwall und Eduard III., der gegen Hinter legung seiner Kronjuwelen bei ihnen die bedeutendsten Anleihen machte,
uralte eigene Niederlassungen, vor allen den Stahlhof, ihr Handelshaus in London.
Allein zu den Städten der Westsee waren unter Lübecks
Führung die von der Ostsee und nach längerem Ringen zwei Hansen der
Deutschen in dieselben Rechte und dasselbe Eigenthum eingetreten. Waren
sie auch besonders im Auslande auf Eintracht angewiesen, so kamen doch die alten Risse immer wieder zum Vorschein und wurden um so bedenk licher, seitdem der englische Kaufmannstand zum ersten Male die Könige
aus dem Hause Lancaster gerade gegen diese Deutschen auf seine Seite her
überzog.
In die Ostsee hinaus, vorzüglich nach dem mächtig aufstrebenden
Danzig, hatten die Engländer selber bereits einen unabhängigen Handel gerichtet, um die für die Schiffahrt unentbehrlichen Rohprodukte des öst
lichen Europa direct zu beziehn.
Schon glaubten sie nahe daran zu sein
in den preußischen Städten dasselbe Recht der Niederlassung zu gewinnen
wie jene bei ihnen, als in Krieg und Frieden unnachgibig und selbstsüchtig der monopolistische Geist der Hansen sie von sich stieß.
Wohl kam gerade
hieran im Lause des 15. Jahrhunderts die Achillesferse deS mächtigen
Städtebundes an den Tag, zumal seitdem der OrdenSstaat von Polen durch
brochen wurde, doch wurde ja gleichzeitig England von den Rosenkriegen zerklüftet.
Und als endlich im Jahre 1474 die langjährigen Streitigkeiten
Int Utrechter Vertrag ausgeglichen wurden, so hatten sich die Hansen ihre Rechte nicht nur bestätigen, sondern für die Zukunft sogar erweitern lassen,
während der englische Handel dagegen von ihnen höchstens der Theorie,
dem Buchstaben nach zugelaffen wurde.
Diese Abmachung jedoch bedeckte
ihre Blößen nicht mehr, da der Bund selber entschieden kränker wurde, zu gleicher Zeit aber einige große Staatswesen, darunter auch England selber sich zu consilidiren begannen.
Daß dessen Kaufhandel und Schiff
fahrt hierüber wie in den baltischen Gewässern so namentlich auch in dem
alten Wettlauf um die Skandinavischen Länder, wo die Hansen so lange den Vorsprung
gehabt, neuen Aufschwung nahmen, lag in der Natur
der Sache. Das Verhältniß endlich zu den oceanischen Ländern Südeuropas
war vielfach ein anderes.
Hier kam die Rivalität mit den germanischen
Seefahrern nur wenig in Betracht.
Alle vielmehr begegneten sich, han
delten und rangen miteinander hauptsächlich wieder in den flandrischen Weltemporien.
Unverkennbar jedoch drangen die Engländer, seitdem sie
ebenfalls die castilischen und aragonesischen Häfen befuhren, im 15. Jahr-
27*
402
Englands Handelspolitik am Ausgang deS Mittelalters.
hundert auf Gleichberechtigung mit den Spaniern, welche bis zu der In vasion CastilienS durch den Schwarzen Prinzen, der ersten näheren Be rührung
Englands mit der
iberischen Halbinsel,
allein in der Hand gehabt hatten.
den Seeverkehr fast
Ein ausgesprochen freundliches Ver
hältniß bestand eigenthümlich früh mit Portugal, ehe freilich dies atlan
tische Reich durch feine überseeischen Entdeckungen zu wunderbarer mari timer Größe aufstieg.
In Frankreich hatten allein die Städte von Picardie und Artois an
den Begünstigungen der flämischen Hansa Theil gehabt, welche von frühen Tagen her in England besondere Vorrechte genoß.
Dann bestanden wohl
am Längsten vortheilhafte Handelsbeziehungen zwischen der Bretagne und England, so lange jene auf eigenen Füßen blieb, mit Guienne und Gas cogne, so lange die Lancasters mit Hilfe der Waffen die alte Personal
union zu behaupten vermochten.
Als aber die französische Krone ihr Reich
zurückgewann, insonderheit jene Küstengebiete der Reihe nach der Monarchie einverleibte, da nahm auch der alte dynastische und nationale Gegensatz
zu dem Jnselreich nicht nur eine neue Wendung, sondern hatten trotz den hohen geographischen Vorzügen, welche den Nachbarländern fast gemeinsam
waren, alle Anwandlungen zu einer Ordnung des directen Verkehrs ge
radezu ein Ende.
Man blieb wesentlich auf dem Kriegsfuß und stand
höchstens zusammen um das
Seeräuberthum, welches
von
Bretonen,
Osterlingen auf den zwischen liegenden Gewässern
Schotten,
getrieben
wurde, auszurotten.
Wie man sieht, waren also bis dahin die Anstrengungen der Eng
länder, einen activen und directen Verkehr anzubahnen, auf der weiten
Linie vom finnischen bis zum adriatischen Meere von sehr verschiedenartigen, nur wenig sichere Aussicht erweckenden Erfolgen begleitet.
Man darf
wohl fragen, wie weit die Mittel, deren man sich hierzn bediente, etwa die Schuld trugen.
Zunächst hatten die englischen Kaufleute und die Londoner vor allen
eö sich selber zuzuschreiben, wenn selbst unter Heinrich IV., seinem Sohn und Enkel, deren Thron mehr als zuvor an die Entscheidungen des Par
laments gebunden war, engherzig monopolistische Gelüste ihnen die eigene
Landsmannschaft, namentlich die Tuchmacher in den kleineren Ortschaften
und auf dem platten Lande, entfremdeten und diese sogar bewogen den Fremden bei Vertheidigung ihres von jenen bestrittenen Gästerechts bei zustehen.
Nichtsdestoweniger, besonders in den wirren Zeiten des letzten
Lancasters,
wuchs die Erbitterung und vermehrten sich auch außerhalb
Londons die Angriffe gegen das Zusammenwohnen, die Innungen, den
Klein- und Großhandel der fremdländischen Händler und Gewerbtreibendeu,
denen von allen Seiten Unredlichkeit bei Verkauf und Einkauf, in Einfuhr
und Ausfuhr vorgeworfen und durch die städtischen Behörden zahllose Be lästigungen aufgebürdet wurden, bis es endlich gelang, jene, mochten sie
Haushalter sein oder nicht, dauernd oder nur vorübergehend sich in England
aufhalten, meist doppelt so hoch wie die Eingeborenen in die von StaatS wegen auferlegte Kopfsteller einzuschätzen.
Treffend hatte das zuerst im
Jahre 1436 erschienene Büchlein von der englischen Staatskunst*) ausge
sprochen, das überhaupt einer Politik deS Schutzes laut und überzeugungSvoll das Wort redete,
indem eS keck gegen die verhaßten Nebenbuhler
loszog: Denn laßt sie hier ins Wirthshaus zieh«; wo nicht,
Befreie man auch uns von dieser Pflicht Bei ihnen. Wollen sie's nicht zugestehn, So zwingt sie hier dazu; ihr werdet sehn: ES kommt davon mehr Bortheil und Gewinn Als zu beschreiben ich im Stande bin.
Außerdeln aber wurden von längerer Zeit her bereits andere Hebel an gesetzt um den Bann abzuwälzen, unter welchem der eigene Verkehr so lange schmachtete, und sich selber zu kräftiger Initiative aufzuschwingen.
Wohl gab es seit der Mitte des 14. Jahrhunderts eine erkleckliche Anzahl
wirklich reicher Kaufleute, die sich unter allen politischen Wechselfällen der nächsten beiden Jahrhunderte namhaft vermehrte.
Indeß an eine wirksame
Abwehr der großen Ueberzahl der so unendlich bevorzugten Rivalen war
doch nur zu denken, wenn es gelang den mittelalterlichen Verhältnissen gemäß im Auslande ebenfalls in Corporationen zusammengeschlossen auf-
zutrelen.
Das geschah denn auch in zwei denkwürdigen Ansätzen, welche
kurze Erwähnung verdienen. Etwa seit dem Ausgang des 13. Jahrhunderts, denn zur festen Datirnng fehlen die Urklinden, war von der Krone und nicht von der Kauf mannschaft, damit die heimischen Ausfuhrgegeustände nur nach bestimmten
Orten des In- und Auslandes zum Verkauf gebracht würden, eine Stapel
innung mit eigenen Vorständen und Befugnissen errichtet worden. erste
und der dritte Eduard
vor
Der
allen wollten durch Gewährung deS
Stapels an Plätzen wie Brügge, Dortrecht, Antwerpen die Herren derselben zu Bundesgenossen gewinnen.
Späterhin wurde derselbe in Calais be
festigt, das, nachdem es im Jahre 1346 als Frucht deS Siegs bei Crecy
den Franzosen entrissen worden, zwei Jahrhunderte lang gleichsam als
die
erste und einzige Kroncolonie ausgebeutet worden ist.
Doch nahm
*) The Libell of English Policye 1436 Text und metrische Uebersetzung von Wilhelm Hertzberg mit einer geschichtlichen Einleltung von Reinhold Pauli, Leipzig Verlag von S. Hirzel, 1878.
404
Englands Handelspolitik am AuSgang des Mittelalters.
die Regierung öfter das Institut wieder ganz nach England zurück, wo
dann immer noch durch althergebrachte Bevorzugung der Fremden den
Unterthanen der Ausfuhrhandel geradezu entzogen wurde.
Nach Auffassung
deS Königthums war der Stapel also wesentlich ein Organ der obersten
Finanzpolitik, in welchem die durch dasselbe berechtigten Kaufherren wieder holt auch als Bankhalter der Herrscher fungirten.
Indeß die Selbstver
waltung, in welcher jene Innung wurzelte, das Stapelrecht, das sich an ihr heranbildete, boten dem englischen Kaufmann, welcher der Corporation
nicht angehörte, aber drinnen und draußen um so heftiger auf Emanci
pation von der so lange zum Vortheil deS Auslands von oben geübten Bevormundung hinarbeitete,
das Muster, sich ähnlich, aber aus freien
Stücken zu unbehindertem Kampf mit den Gegnern zu organisiren. tauchte dann unter dem stolzen Namen
der
So
Merchant Adventurers
(wagende Kaufleute) eine neue Einigung auf, die, durch kein Stapelrecht
weder an feste Bahnen noch an bestimmte Orte gebunden, zunächst da eindrangen, wo man ohne Unterschied allen Engländern Zutritt gewährte, weshalb denn schwerlich ihr Ursprung auf ein bestimmtes Jahr im 14.
oder 15. Jahrhunderts noch auf bestimmte Orte zurückgeführt werden kann. Ohne auch an eine bestimmte Londoner Gilde gebunden zu sein, handelten die Merchant Adventurers, vielmehr auf mehrere gestützt, nach Spanien und Preußen, nach Island und Italien.
Vorzugsweise aber führte ihren
Namen die große Vereinigung derer, welche sich in den freihändlerischen Stadtstaaten der Niederlande vielfach unbehindert tummelten. Insbesondere
zu Anfang deS 15. Jahrhunderts scheinen sie sich durch Uebersiedelung von Brügge nach Antwerpen von der auch für sie geltenden Obedienz deS
Stapel-Mahors gelöst zu haben und unter einem eigenen Consulat vor zugsweise an dem Vertriebe der englischen Tuchwaaren in den Nieder
landen, wie allem Widerstreben zum Trotz emporgekommen zu sein.
bis nach Preußen hinaus
Im Laufe deS 16. Jahrhunderts errichteten sie
dann über die zerfallende Hansa der Deutschen triumphirend ihre Nieder lassungen in Emden, in Hamburg wie in der Ostsee.
So wurden sie
von Stufe zu Stufe die Träger einer nationalen Handelspolitik, bis die
monopolistische Richtung, welcher auch sie verfallen sollten, bittertsten Feinde unter den eigenen Landsleuten erweckte.
oft die er
So lange sie
indessen mit den Staatsprivilegien der Stapler zu ringen hatten und nur langsam eine eigene Organisation entwickelten, mußten sie sich mehrfach
gegen König und Parlament ihren Weg bahnen, gewannen dafür aber
stetig an Anhang in der Heimath.
der Zeit in dem mächtigen London andere immer mehr abschlossen.
ES war natürlich, daß sie sich mit
enger zusammen und damit gegen
Auch wenn sie mittels des Tuchhandels
von der Themsestadt aus Kaufhandel und Gewerbe der Kleinstädte majo-
risiren wollten, einen großen Proceß verloren und selbst in Gefahr schwebten,
aufgelöst zu werden, obschon das Gesetz ihnen Schranken setzen mußte, so waren die Könige doch weit entfernt davon einer Gesellschaft, die sich um
Ausbreitung des englischen ActivhandelS die größten Verdienste erwarb, den Untergang zu bereiten.
Es kam vielmehr darauf an auch den Klein
bürgern und Kleinstädtern Raum und Luft, dieselben Vortheile offen zu
halten, welche die Reichen in ihren Corporationen davon trugen.
Immer
mehr aber gewann die Einigung der abenteuernden Kaufleute an eigenen
Machtmitteln.
Die Politik der Tudors zlimal verstand eS, sie klug für
und wider auszuspielen, als so manche alte Zustände umschwangen und namentlich auch die veraltete Institution der Stapler den Zwecken, die sie
erreichen sollte, nicht mehr entsprach.
DaS traf zusammen mit dem Begiiln einer rationellen SchtffahrtSgesetzgebung.
Nur langsam hatte sich auf Grund seiner besonderen ma
ritimen Lage die Seemacht Englands
entwickelt.
Nachdem vor Alters
einmal Richard Löwenherz auf bewaffneten Schiffen ins Morgenland ge steuert war und den Seedienst seines Volkes der Macht der Krone ent sprechend hatte ordnen wollen, dauerte es lange, bis der Staat den Schutz
der Küsten und die Sicherung der Fahrt auch nur auf den heimischen Meeren in seine Hand bekam.
litätSamt heran.
Erst seit Eduard I. wuchs ein Admira-
Stolz nahmen die Könige wohl die Superiorität über
die See in ihre Titel auf.
Allein ihr vornehmster Rückhalt blieb neben
den alten, wenig entwickelten Seebaronien der Cinque ports Schiffahrt und Rhederei der Privaten, die in den endlosen Kämpfen mit Franzosen,
Spaniern und Schotten, wie sie daö 14. und 15. Jahrhundert großentheils erfüllten, entschieden mehr mitgenommen wurden, als daß sie an
Zahl und Bedeutung hätten gedeihen können.
Nach einigen tastenden,
aber meist verfehlten Schritten unter Richard II. und Heinrich IV., durch Navigationsgesetze der englischen Flagge wirksamen Schutz zu verleihen,
betrieb Heinrich V., der Eroberer Frankreichs, nicht nur wie einst Richard I.,
auf den in der That die ältesten seerechtlichen Bestimmungen zurückweisen,
die Begründung einer Kriegsflotte, sondern war ernstlich darauf bedacht, seiner seefahrenden Bevölkerung die Wege in die Fremde hinaus zu öffnen. Denn nie hat unter uns ein Fürst gewaltet, Der auf dem Meer so kraftiglich geschaltet; Hätt' er bi« heut gelebt in diesen Reichen, So nennte mau ihn König sonder Gleichen.
So feiert sein Andenken der patriotische Dichter des Büchleins von der
englischen Staatskunst, aber freilich nachdem die kurze Herrlichkeit bereits
Englands Handelspolitik am AuSgaug des Mittelalters.
406
vorüber war und wie alles Uebrige zusammenbrach, als Schiffe aller Na tionen die englischen Gewässer nach Gutdünken durchfurchten und sogar in
dem engen Sunde freche Freibeuter ihr Unwesen trieben.
Vergebens rief
derselbe Pamphletist: Wahrt drum die See ringsum in jedem Fall; Denn sie ist Englands rechter Schirm und Wall. Denn England ist vergleichbar einer Stadt, Die rings umher die See als Mauer hat. Schützt dann die See den Wall um unser Land,
Und England ist geschützt durch Gottes Hand.
Seine Stimme verhallte im Sturm des Thron- und Bürgerkriegs, in welchem auch die vier das Reich umgebenden, von ihm als Eigenthum
betrachteten Meerestheile vollends friedlos wurden.
Wie jämmerlich klingt
es, wenn Eduard IV. einmal eine Acte früherer Könige nur auf die Daper
von drei Jahren zu erneuern wagte, wonach seine Unterthanen mit ihren Frachten englische Fahrzeuge bevorzugen sollten.
Das wurde anders, als Heinrich VII. sich auf den Thron schwang
und sofort begann die Schiffahrt mit neuen Gesichtspunkten aus vollstän
digem Untergang emporzuheben.
In den Schiffahrtsacten von 1486 und
1489 wurde vorgeschrieben, daß Weine aus Guienne und Gascogne, Waid
von Toulouse nur in Schiffen,
welche
englisches Eigenthum und zum
größten Theil mit Engländern bemannt sind, eingeführt werden dürfen.
Auf das Sorgfältigste bekümmerte sich derselbe Fürst um die gesammte
Nautik wie um den Bau von Kriegsfahrzeugen.
Nur stand seine pein
liche Sparsamkeit der Errichtung einer starken Kriegsflotte eben so hin
derlich im Wege wie der Ausbeutung der in seinen Diensten zuerst ent deckten
nordamerikanischen Gestade.
Sein Sohn Heinrich VIII. schien
dann wieder durch freigebige Ertheilung von Licenzen an fremde Fracht
führer ein durchaus entgegengesetztes System ergreifen zu wollen.
Im
Wettstreit mit dem Parlament giengen die freihändlerischen Neigungen des
Königs auf und ab, bis mit dem Jahre 1531 die entscheidende Wendung eintrat.
Sie war die Folge der activen Betheiligung an den Welthändeln,
welche dieser König wieder ausgenommen, und die in dem Augenblick, als
er gegen Papst und Kaiser England auch kirchlich auf die eigenen Füße zu stellen begann, von ihm gebieterisch verlangten sich ernstlich zur Wehr
zu setzen.
Um Schiffahrt und Seedienst, welche noch schwer darnieder
lagen, die -ganze Rhederei, welche allgemein verarmt war, wieder zu beieben und in die tüchtigste Waffe des Jnselreichs zu verwandeln, wurden zunächst die von Richard II. und Heinrich VII. erlassenen Statute aufs
Neue eingeschärft, wobei freilich immer noch die fremden mit den eng lischen Schiffern selbst in der Küstenfahrt concurriren konnten, weil die
letzteren
es gar zu sehr auf hohe Frachtgelder abgesehen hatten.
Um
daher fernerhin einer Vereitelung der großen Absicht vorzubeugen, hatte der sühne Minister, welcher damals dem Könige in dem gesammten Staats
wesen neue Bahnen einschlagen half, Thomas Cromwell, ein Gesetz zur Erhaltung der Flotte ausgearbeitet, welches endlich ein bestimmt ailSge-
sprochenes Ziel anstrebte.
Es wies in seinen Motiven auf die einst so
große Zahl eigener Schiffe, auf die hohe Bedeutung einer mächtigen Pri vatflotte
im Dienste der Defensive und Offensive des Lande», auf die
Marine als Quelle des Wohlstands hin, da sie einer Menge Menschen nicht nur an Bord, sondern in vielen Zweigen des gewerblichen Verkehrs
Beschäftigung und Gewinn bringe. Aber es galt außerdem den Kaufhandel
vor Uebervortheilung durch habgierige Schiffsherren zu schirmen, welche ohne Frage die Hauptschuld trugen, wenn bis dahin der ftemden Flagge
immer noch zu privatem Nutzen der Vorzug gegeben wurde. Und so wurde
denn ein Maximaltarif für eine Reihe von Waaren und Frachtgütern vor geschrieben, wonach allein aus dem Londoner Hafen nach Flandern, Danzig,
Bordeaux, BiScaya, Portugal, Südeuropa u. f. w. oder von dort zurück
nach England verladen werden sollte.
Auch sollte fortan jede Fahrt mit
Angabe deS Namens und des Bestimmungshafens der Schiffe in Lombard
street angemeldet und nur denjenigen fremden Kaufleuten gleiche Zollbe rechtigung mit den einheimischen gewährt werden, welche sich bei Verladung
ihrer Güter englischer Schiffe bedienen würden oder nachweisen könnten, daß solche schlechterdings nicht zu haben gewesen.
Diese Sätze riefen- in
aller Welt einen ungeheuren Lärm hervor, da sie die Handelsgewohnheiten der meisten seefahrenden Nationen empfindlich trafen.
Repressalien.
Es fehlte nicht an
Auch hat die wechselvolle Regierung Heinrichs VIII., als
sie genöthigt war wiederholt nach anderen Bundesgenossen auözuschauen,
das Prämienshstem bald diesem bald jenem wieder zum Opfer bringen müssen.
Allein in der Hauptsache blieb der Weg der Emancipation mit
Erfolg beschritten.
Dazu hatten der Scharfblick und die Thatkraft des
Königs es von Anbeginn nicht an geeigneten Stützen fehlen lassen.
Schon
im Jahre 1513 nämlich hatte er nach dem Vorgänge älterer korporativer Einungen Officiere und Mannschaften seiner Kriegsflotte in eine Gilde incorporirt und diese im folgenden Jahre mit den Privatbrüderschaften
aller englischen Seefahrer verschmolzen.
Das Trinity House bei London
und einige Abzweigungen in anderen Häfen seines Reichs wurden mit der Oberaufsicht über Leuchtthürme und Lootfenwesen, vor allen aber mit der Befugniß betraut, die Matrosen zu prüfen und unter dem Admiralitäts gerichtshof in vielen Streitigkeiten zu entscheiden.
Von hier aus wurde
allen Interessen der Schiffahrt eine Aufmerksamkeit und ein Einfluß ver-
408
Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters.
schafft, die bis heute ins Unendliche erweitert nicht abgerissen sind, wogegen
die Vorbilder von Venedig und Sevilla, welche Heinrich und seinen Be rathern sicherlich nicht fern lagen, bald in den Hilitergrund treten sollten. Derselbe Monarch lebte und webte in der Entwicklung der nationalen See
macht.
Er hat nicht geruht, die Wasserwege vor Versandung zu schützen,
die Zugänge zu den herrlichen Häfen seines Reichs durch mächtige Wasser
bauten zu sichern.
Immer wieder finden wir ihn persönlich auf den Kriegs
werften der Themse oder in Portsmouth, wo von Jahr zu Jahr gezimmert und gerüstet wurde, ein itach neuem Akuster entstehendes Fahrzeug oder eine vollständig bemannte und mit allem Zubehör versehene Flotte vor
dem Auslaufen prüfen.
Im October 1525 gab es
bereits 26 Schiffe,
die alle erst imtct ihm gebaut worden, die Mehrzahl so groß und stattlich,
daß die Berichte der Venetianer, Spanier und Franzosen in jenen Jahren nicht genug davon zu erzählen wissen.
Die Ausbildung tüchtiger Offiziere
hat ihm Zeit seines Lebens am Herzen gelegen.
Schon haftete an einigen
Familien der beneidete Ruhm namhafte Seehelden hervorgebracht zu hahen.
Und als dann zehn Jahre später durch denselben Thomas Cromwell die
Klöster in Stücke zerschlagen wurden, so kam ein bedeutender Theil der Beute der Vermehrung der nationalen Wehrkraft zu gut.
Ueber ein halbes
Hundert vorzüglicher Fahrzeuge mit starkem Geschütz, mit einer Bedienung
jedweder Art um in Sturm und Schlacht muthig Trotz zu bieten,
ver
schaffte dem souveränen Willett RachachtlUtg und unter ihrem starken Schutz beim auch dem einheimischen Kaufhandel, wenn auch noch so widerwillig,
Respect von Seiten vieler Nebenbuhler, die ihm von alten Zeiten her weit
überlegen gewesen.
Langsam und mit Mühe hatte sich seit.Ausgang des
14. Jahrhunderts die Politik des Schutzes hindurch gearbeitet um auf den
Grundlagen, die sie nunmehr gewann, bald kühn den Kampf mit der spa nischen Weltmacht aufzunehmen und später mit der NavigationSacte des
17. Jahrhunderts, dem Werke vor allen Oliver Cromwells, und dem
MercantiliSmus des 18. die Beherrschung aller Akeere an sich zu reißen.
Es waren daher bereits dieselben Mittel, kraft bereit seit Ausgang
des Mittelalters Handel und Schiffahrt den früheren Inhabern von Nord
und Süd streitig gemacht und ihnen sehr bedeutende Gebiete Schritt für Schritt abgewonnen werden konnten.
der beiden ersten Tudors
Eben wieder an die Gesetzgebung
lassen sich die entscheidenden Momente an
knüpfen.
Als Heinrich VII. die Regierung antrat, bildeten immerdar noch die
"Niederlande den BUttclpunkt des europäischen Handelsverkehrs. der hervorragende Bestandtheil der
Sie waren
burgundischen Herrschaften, welche,
kürzlich durch Hcirath an den Erben des Hauses Habsburg übergegangen,
dem Emporstrebcn Frankreichs bereits das vornehmste Gegengewicht boten.
Alsbald geschahen denn auch Versuche die schwer geschädigten Handelsbe ziehungen zu ordnen und allen feindlichen und dynastischen Anzettelungen
zum Trotz nach allerlei Schwankungen unter Zug und Gegenzug auf dem Wege völkerrechtlicher Verständigung, welche hier zuerst bedeutsame Fort schritte machte, ein folgenreiches Vertragsverhältniß airzubahnen.
An sich
scheint der sogenannte Intercursus magnus vom 24. Februar 1496 kaum mehr zu sein als eine neue und etwas bessere Redaction alt hergebrachter Vereinbarungen und gegenseitig beobachteter Gewohnheiten.
Auf mehreren
Tagfahrten, auf welchen dieselben im Einzelnen festgestellt wurdeil, kamen nun aber die merkantilen Gegensätze vollends zur Sprache und drohten bei den in den Niederlanden damals mächtig anwogenden, vorzüglich wider
die freie Weltbewegung des Tuchhandels der Engländer gerichteten proteclionistischen Bestrebungen in einen förmlichen Zollkrieg auszuarten, in welchem thatsächlich Bruch und Wiederaufnahme der Verhandlungen län gere Zeit einander ablösten.
Indeß die zähe Ausdauer des Königs von
England und die unermüdliche und energische Mitwirkling der Merchant
Adventurers griffen fest in einander um der eigenen Ausfuhr, vor allen
von Tuch und Wolle, ein weiteres Operationsfeld zu erobern.
Die Kauf
mannschaft von Antwerpen erkannte, wie sehr es in ihrem Interesse lag im Gegensatz zu Brügge, Middelburg und anderen flandrischen und seeländischen Plätzen die rührige englische Kaufmannszunft an ihre frisch ge deihende Stadt zu fesseln.
und
Zwar traten auch hier noch einmal politische
andere Händel störend dazwischen.
Doch gelang es dem schlauen
Tlldor, als zu Anfang des Jahrs 1506 Erzherzog Philipp auf der Fahrt nach Spanien seine Küste betrat, ihm eine Erneuerung des Vertrags von
1496 abzunöthigen, nach welcher zwar derselbe Tarif an den Zollhäusern
von London, Brügge, Antwerpen, Middelburg und Bergen angeheftet werden sollte, in Wahrheit aber die Engländer nunmehr die niederländi schen Märkte mit ihrem Tuche überschwemmen und der dort schwer kranken
Industrie zu großer Befriedigung der eigenen einen beinah vernichtenden Streich versetzen konnten.
Wohl wurde die Ausführung des Vertrags,
den man in Flandern den Intercursus malus schalt, kurz darauf durch
den raschen Tod des jungen Königs von Castilien, Erzherzogs von Oester reich und Herzogs von Burgund, und durch die Ungeneigtheit seiner Re gierung gekreuzt, den Tractat zu ratificiren.
Wohl mußte Heinrich VII.
bei weiteren Verhandlungen in sehr bedeutende Ermäßigungen willigen,
er vermochte aber dennoch seinen Unterthanen den Genuß niedriger Zölle und damit eine beträchtliche Freiheit des Verkehrs auf einem der aller-
wichtigsten Gebiete des Auslandes zu retten.
Englands Handelspolitik am AuSgang des MittelLlterS.
410
Da faßte nun bald nach feinem Regierungsantritt der achte Heinrich
den Gedanken die großen Vortheile des TractatS vom 9. Februar 1506
zurückzugewinnen. Rückschlägen,
Das wurde denn auch trotz allen Hemmungen
und
wie sie seine Stellung zwischen Frankreich und Spanien-
Burgund unvermeidlich mit sich brachte, das Ziel und der Kern seiner niederländischen und geradezu seiner allgemeinen Handelspolitik.
Weder
durch die Eifersucht der Dynastien noch der Völker, durch endlose Kniffe und Kunstgriffe von hüben und drüben ließen er und seine klugen Be
vollmächtigten sich beirren.
Der Abbruch des gejammten diplomatischen
Verkehrs stand wieder einmal vor der Thür, als der große Sieg Franz I. bei Marignano und die glänzende Eroberung Oberitaliens durch die Fran zosen Heinrich VIII. und die Regentschaft von Burgund schleunig zusammen
führten und jenem nunmehr der Handelsvertrag vom Jahre 1506 mit allen seinen Privilegien auf fünf Jahre gewährt wurde.
Da erhielten
denn die Engländer alsbald auch ihr Haus in Antwerpen zu unbeschränktem Besitz zurück um von dort aus über alle Concurrenz hinweg eine Thätig keit zu entfalten, die in den Jahren 1518 und 1519 für den Ertrag ihrer
Zölle so ergibig wurde wie späterhin kein anderes in der Regierungszeit dieses Königs.
Wolsey, damals bereits der leitende Minister, der kluge
Repräsentant der im Weltkampf zwischen Karl V. und Franz I. vermitteln
den, vielleicht gar den Ausschlag gebenden Macht, versäumte denn auch Nichts um eine Verlängerung des Provisorium zunächst auf weitere fünf Jahre herbeizuführen um dasselbe mit Benutzung der politischen Lage wo
möglich in ein Definitivum zu verwandeln.
Allein bald durch Theil
nahme am Kriege mit Frankreich und dann seit 1525 durch Entfremdung
vom Kaiser in Folge seines Sieges bei Pavia und des langsam heran ziehenden Zerwürfnisses zwischen der Clirie und Heinrich VIII., der sich
nunmehr dem Könige von Frankreich zuwendete, wurde doch die ganze Situation sehr wesentlich verändert/
Vergebens suchten die Niederlande,
mit denen überdies Differenzen wegen des Geldwesens
bestanden, sich
Neutralität zu verschaffen, vergebens zeigten sie eine ungewöhnliche Nach-
gibigkeit gegen die barschen Forderungen der Engländer.
Während der
Spanier Mendoza über die politische und commercielle Frage noch weiter
verhandelte, kam eine englisch-französische Allianz wider Karl V. zu Stande. Da verlegte nun Wolsey, wie früher so oft geschehn, den Stapel aller englischen Ausfuhr nach Calais, das Thor, den Schlüssel des JnselreichS, wie die Italiener den Ort noch immer nannten.
Eine königliche Prokla
mation lud um die Märkte Brabants und Flanderns zu entvölkern die
Kaufleute aller Welt unter gleichen Freiheiten dorthin.
Allein es war
doch eine höchst zweischneidige Waffe, die man schwang.
Denn fast auf
der Stelle nahm in jenen Territorien, sobald ihnen das englische Tuch
entzogen worden, die Fabrication des eigenen aus tiefem Niedergang einen bedeutenden Aufschwung; hatte man doch die spanische Wolle zur Ver
fügung, so daß die englische getrost mit einem hohen Eingangszoll belegt werden konnte.
Darüber entsprangen wie gleichzeitig aus einer bösen Miß
ernte und hohem Steuerdruck Unwille und Erbitterung in der englischen Bevölkerung, welcher die Betheiligung am Kriege und nun gar auf Seiten Frankreichs sehr unliebsam erschien.
Dem Kaufmann war der Ausschluß
vom Centrum deS europäischen Verkehrs unerträglich; der Landmann, schon längst von einem
allgemeinen Umschwünge der Agrarverhältnisse
und neuerdings von verheerenden Seuchen unter den Schafen betroffen,
ergieng sich in den heftigsten Klagen; das Großgewerbe stellte die Arbeit ein; Handwerker und Arbeiter hungerten.
Selbst ein so gewaltiger Mi
nister wie Wolsey sah sich daher in Kurzem gezwungen bei der Regentin
in Brüffek um einen separaten Vergleich anzuhalten.
Am 15. Juni 1528
trat Waffenruhe ein um die Maßregeln, so weit noch möglich, von beiden
Seiten rückgängig zu machen und den Intercursus wieder aufzurichten. Der alte Zustand, das Provisorium mit fünfjährigen Fristen kehrte denn auch zurück, sobald der Kaiser im Jahre 1529 zu Cambrai mit England
wie mit Frankreich Frieden machte.
Die energische Staatsverwaltung
Thomas Cromwells, der in jüngeren Jahren die merkantilen Verhältnisse in Antwerpen und Venedig hatte kennen lernen, war hierauf freilich wenig
geeignet diesen Zustand in einen dauernden zu verwandeln.
Denn bei
allem Entgegenkommen 'der niederländischen Regierung, bei Bewahrung
des Friedens selbst während des dritten spanisch-französischen Kriegs, bei
ernster confessioneller Entfremdung machte sich in den Städten von Flan dern und Brabant doch das steigende Bedürfniß nach Schutz deS Gewerbes und des Verkehrs geltend, während England die feinigen nicht nur von
aller Abhängigkeit zu lösen, sondern mittels der nationalen Schiffahrt der
freien Bewegung deS Gegners einen vernichtenden Stoß zu trachtete.
versetzen
Cromwell wollte den Tuchmarkt ganz nach England verlegen,
der englischen Flotte ein stetiges Uebergewicht verschaffen.
Er ist darüber
gescheitert, wie er bei einer schroffen Rückwendung seines Herrn in der
Kirchenpolitik Macht und Leben einbüßte.
gelang Englands Verkehr vom machen,
Wenn es nun aber auch nicht
niederländischen völlig
unabhängig
zu
aus der von Heinrich VIII. und den Merchant Adventurers
an dieser Stelle gewonnenen Position waren sie schlechterdings nicht wieder
zu verdrängen.
Die ältere, so viel bedeutendere HandelSmacht sah im
Commercium, in Industrie und Seewesen einen ebenbürtigen Rivalen aufsteigen, der, von den bedenklichen Rissen in der spanisch-burgundisch-
Englands Handelspolitik am Ansgang des Mittelalters.
412
deutschen Weltmacht Vortheil ziehend, in seinem Wachsthum nicht mehr zu
hemmen war. Mochten die letzten Lebensjahre des gewaltigen Fürsten einen gewissen Nachlaß der Kräfte verrathen, mochte nicht Älles glücken, was er in Krieg und Frieden in die Hand genommen, in den auswärtigen wie in den inneren Dingen, in seiner kirchlichen wie in seiner Handels
politik hatte er Wege vorgezeichnet, deren manche alle Erschütterung über
dauerten, welcher nach ihm Tudors und Stuarts ausgesetzt sein sollten.
Daß diese Erfolge von ganz ähnlichen Erscheinungen auf dem südund dem nordeuropäischen Handelsgebiete begleitet waren, lag in der
Natur der Sache.
So mag hier denn in aller Kürze auf den bedeutsamen
Umschwullg in den Beziehungen zu denjenigen hingewiesen werden, welche sich bis dahin den vornehmsten Antheil im Verkehr mit Britannien ge
sichert zu haben meinten. Als unter Heinrich VII. der englische Activhandel sich auch nach dem Mittelmeer zu richten begann, Pisa als geeigneter Stapelort für die Wolle
ausersehn und mit Florenz ein Handelsvertrag geschlossen wurde, schnitt Venedig den Engländern durch Zollerhöhung die directe Beziehung der begehrten Malvasierweine ab.
Hierauf übte der König nicht nur durch
Besteuerung der Zufuhr aus venetianischen Galeeren Vergeltung, sondern
unterdrückte den Zwischenhandel, welchen dieselben zum Nachtheil seiner
Schiffahrt zwischen englischen und niederländischen Häfen betrieben. lang wurden dann durch die Kriege der Liga
Jahre
von Cambrai und der
heiligen Liga die Galeeren am regelmäßigen Besuch der atlantischen Ge
stade verhindert.
Als aber seit 1517 die Staatsgaleeren ihre Fahrten
wieder anfnahmen, als auch wegen der Weinzölle neu verhandelt wurde, sind beide Theile schließlich in ihren Hoffnungen auf einen günstigen Ver lauf ohne sich von entgegengesetzten Standpunkten
von Grund aus enttäuscht worden.
abdrängen zu lassen
Auf den stets einseitigen Verkehr der
Venetianer wirkten die spanisch-französischen Kriege,
der Vorzug, den
Venedig, da die Engländer natürlich mit ihrer Wolle schwierig waren, der directen Einfuhr seiner Artikel in den Niederlanden statt nach Sout hampton gab, ganz besonders störend aber der Scharfblick Thomas Crom
wells ein. stadt.
Im
Er erkannte bereits das unausbleibliche Sinken der Lagunen
Jahre 1533 ist dann auch die letzte
englischen Gewässern erschienen.
officielle Flotille in
Das alte System nur zu empfangen
und nur zu holen ohne dem Gebenden auf dem Wege deS Vertrages ein
Gleiches zu gewähren hatte sich als völlig unergibig erwiesen.
Cromwell
dagegen hatte seinen Landsleuten die ersten Consulate int Mittelmeer er richtet , da sie sehr wohl begriffen, wie ersprießlich es war die begehrten
Rohstoffe der Heimath in den eigenen Fahrzeugen zu verladen und dafür
die herrlichen Produkte des Südens, deren Monopol den Venetiancrn wegen der Hergänge im fernen Orient wie im fernen Occident entglitt, selber nach Hause zu bringen.
Und mit der Hansa, welche so lange die maritime Vormacht Nord europas gewesen,
verhielt es sich kaum anders,
seitdem Polen und die
skandinavischen Reiche erstarkten und der spanische Weltmarkt sich zusammen schloß, vor jenen in der Ostsee, vor dieser in der Westsee der lose Städte bund abznbröckeln begann.
Heinrich VII. hat den Privilegien der Hansen
nur feindselige Gesinnung gezeigt, in seiner Gesetzgebung ihnen jede Fort setzung ihrer Ausnahmestellung verweigert, sie in endlosen, wiederholt zu
Antwerpen geführten Verhandllingen hingehalten, ihnen den Zwischenhandel
nach den Niederlanden ernstlich geschmälert und, wie er sich den Dänen,
den Inhabern des Sundes, näherte, das ganze baltische System durch ein Handelsbündniß durchbrochen, das er mit der Stadt Riga eingieng, die selber doch noch der Hansa angehörte.
Sein Sohn wandte dieser und den alten
Verträgen Anfangs wieder seine Gunst zu.
Um so erbitterter aber wurde
und blieb die Stimmung des englischen Volks gegen die Stahlhofskauf leute, namentlich als sie wegen Förderung des Lutherthums auch der Staatsbehörde verdächtig wurden.
Mehrere Congresse, zu denen man in
Brügge zusammentraf, befestigten doch nur die Erkenntniß, wie sehr von beiden Seiten seit Jahrzehnten die Schwierigkeiten herangewachsen waren,
und daß eine Verständigung auf den bisherigen Grundlagen geradezu un
möglich wurde.
Die Danziger,
welche unter Connivenz der polnischen
Krone fast über Lübeck hinaus noch eine Weile Schiffahrt und Handel in
der Ostsee hatten leiten wollen, waren lange Zeit fast unleidlich mit Eng land gespannt.
Dieses aber fand in der kurzen Episode, als Wullenwever
verwegen von dem demokratisirten und protestantisirten Lübeck auö die Vorherrschaft der Hansa über den skandinavischen Norden zu elektrisiren trachtete, als Heinrich VIII. selber im Gegensatz zu Kaiser Karl V. sich
vorübergehend den deutschen Protestanten zuneigte, Verbündete in Hamburg
und Lübeck.
Er gewährte darüber den alten Privilegien des deutschen
Kaufmanns trotz dem steigenden Groll seiner Unterthanen den dringend
erforderlichen Schutz.
Bis zuletzt haben ihn seine kirchenpolitischen Rück
sichten genöthigt, dem tobenden Verlangen nach Austreibung der Hansen ein taubes Ohr zu leihen und ihnen sogar noch in der Schiffahrtsacte
von 1540 einen Vorbehalt zu sichern.
Die Deutschen freilich hatten die
Achtung vor Bewahrung ihrer mittelalterlichen Vorrechte längst verscherzt, seitdem sie hartnäckig anderthalb Jahrhunderte hindurch den Engländern jede Gleichberechtigung in den Ostseehäfen verweigert hatten.
Auch ein
Gelingen der Dictatur Wullcnwevers hätte schwerlich den alten Respect
414
Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters.
wieder aufrichten können.
So
hatten denn die beiden ersten Tudors
bereits die Mittel und Wege ergriffen,
durch welche unter Eduard VI.
und Elisabeth denen, die am Längsten und festesten in England bevor
rechtet gewesen, die allerdings bereits stark entwertheten Privilegien ent zogen werden konnten.
An dem Gange dieser überall parallelen Entwicklung werden nun die
Principien vollends deutlich, welche diese Herrscher befolgten, auf welche
in zwei Richtungen noch einmal der Blick fällt.
Zuerst wurde das
Fremdenrecht schrittweise ein
anderes.
Schon
Eduard IV. und Richard III. hatten die Fremdencolonien bekämpft, aus
dem Auslande stammenden Kaufleuten den unbehinderten Umsatz und gar die Verarbeitung ihrer Waaren zu legen, den fremdländischen Gewerks
mann den englischen Gildern einzugliedcrn, überhaupt die Sonderstellung
dieser Leute den eigenen Bürgern zulieb unter die einheimischen Institu tionen zu beugen gesucht.
Allein die Selbständigkeit der Londoner, welche
den Markt auch der anderen englischen Städte an sich reißen und das Bürgerwerden der Ausländer zu unterdrücken trachteten,
brach ebenfalls
zusammen, als Heinrich VII., der Wiederhersteller einer tief erschütterten Staatsordnung,
sich wenig geneigt zeigte etwa ihnen allein aufzuhelfen.
Für. ihn stand der fiscalische Gesichtspunkt des Reichs obenan.
Nur aus
diesem Interesse setzte er die Niederlassungen der Fremden auss Spiel. Ungestüm dagegen forderten die Bürger der Großstadt jenen den Klein
handel, die Bereitung der Waaren, das Handwerk aller Art,
darunter
auch Tücherei und Brauerei, wodurch die Güte aller Waare verschlechtert
würde, zu legen.
Niemand sollte das Bürgerrecht kaufen dürfen, wenn
er nicht als englischer Unterthan geboren sei.
Als die Londoner gar alle
von den sogenannten Galehmen gekaufte oder an sie verkaufte Waaren ohne Weiteres confisciren wollten, schritt der König wider das eigenmächtige
Verfahren ein, indem er nicht zuließ, daß bereits nach alter Gewohnheit in Umsatz gebrachten Gütern der Vertrieb
versagt würde.
Auch Hein
rich VIII. widerstand allen Anläufen der mächtig entzündeten Eifersucht,
welche den zahlreichen Franzosen, Italienern, Spaniern, Flemingen, Deut schen uud Schotten nunmehr auch den Verkehr aus dem platten Lande ent
reißen und das Wohnen in den von den korporativen Freiheiten ausge
schlossenen Vororten Londons unmöglich machen wollten.
Offenbar hatten
jene zahlreichen Eindringlinge einen beträchtlichen Theil des Gewerbes an sich gebracht, während die ländliche Arbeiterbevölkerung, durch die Ein
hegungen des Großgrundbesitzes vertrieben, Industrie Versorgung suchte. welche an dem
So waren
„bösen Maitagc"
ebenfalls in der städtischen
es gewaltige sociale Motive,
des Jahres 1517 blutige Excesse der
Londoner Arbeiter gegen die fremden Mitbewerber und in der längst vor handenen Spannung die unausbleibliche Krisis heranführten.
Wie scharf
nun auch Wolseh gegen die Uebelthäter einschritt, so sah er sich doch ge nöthigt, dem mächtigen Drange in der Bürgerschaft Rechnung zu tragen.
ES geschah das im Jahre 1523 durch ein Gesetz, das die fremden in den
Vorstädten sitzenden Gewerbtreibenden den englischen Zünften unterordnete,
daS Gewerbe überhaupt in die Hände der einheimischen bringen, aber dabei doch die in vielen Stücken überlegene Geschicklichkeit des Auslands
auch fernerhin verwerthen wollte.
Allein ein solcher Compromiß und
namentlich seine Ausführung konnte nimmermehr auf die Dauer befriedigen. Die einzelnen Gewerke wiederholten ihre Beschwerden aufs heftigste, bis
endlich im Jahre 1528 die Sternkammer nach vorhergegangener Enquste
durch ein Decret das Statut von 1523 erweiterte.
Nicht nur den Zünften
sollten die fremden Handwerker unterworfen sein, sondern mochten sie das Bürgerrecht erwerben oder nicht, sie sollten alle Lasten der Einheimischen tragen und dem Könige Treue schwören.
Das Ziel war, sie entweder
ganz mit der einheimischen Bevölkerung zu verschmelzen oder aber zu zwingen endlich das Reich zu verlassen.
Im Jahre 1540 wurde das Gesetz durch
Aber immer noch standen Umgehungen,
Parlamentsacte wieder erweitert.
Licenzen, alte Privilegien, vor allen das Finarizbedürfniß und die Eigen
macht der Krone im Wege.
Kriege wurden bevorzugt.
Diese und jene, selbst Franzosen mitten im
Hütete sich der König den fremden Kaufleuten
die altgewohnten Rechte mit einem Schlage zu entreißen, so verfuhr er kaum anders mit den Gewerbsleuten.
Nur schrittweise, wie man sieht,
gestattete er seinen Unterthanen aus eigener Initiative die Schranken in
beiden Richtungen vorzurücken.
Indeß schon handelte eö sich nicht nur um
Verschärfung des seit Jahrhunderten umstrittenen Fremdenrechts, sondern
um Beseitigung auch der letzten Reste hansischer und anderer ausländischen
Freiheiten, denen, wenn der englische Staat endlich als einheitlich geschlossene
wirthschaftliche Macht dem Anslande entgegen trat, neben der ebenbürtig werdenden Selbständigkeit der Nation die Berechtigung entschwand.
Hand in Hand mit diesem Hinausdrängen fremder Concurrenz gedieh
nun aber endlich, wohin gleichfalls seit längerer Zeit verschiedene Ansätze zielten, der Schutz der nationalen Industrie.
Seit dem vierzehnten Jahr
hundert war in England die Tuchfabrication in die Höhe gekommen. Seit
Anfang des 15. lag sie mit der niederländischen im Kampf.
Obwohl die
kteinen Territorien auf der Festlandsküste auch verschiedene HandelSgrundsätze verfolgten, so wuchs doch recht eigentlich in der Heimstätte deS Frei
handels gegen das Ueberströmen englischer Waare eine heftige Opposition heran.
Während aber Schlag und Gegenschlag, Absperren und Zulassen
Preußische Jahrbücher. Bd.Xl.VlI. Heft 4.
28
416
Englands Handelspolitik am AnSgang des Mittelalters.
auf beiden Seiten einander ablösten, ohne doch das Eindringen der eng lischen Arbeit jemals wieder ;u beseitigen, geriethen in Englanh Producent und Bearbeiter der Wolle in heftige Reibung.
An dem wichtigsten Roh-
product des Landes hatten die Könige lange in enger Einigung mit den Stapelkaufleuten Preis und Zoll regulirt.
Die Industriellen dagegen
wollten zumal die besseren Wollsorten im Lande fest halten, statt dessen
aber ihr Tuch überall absetzen.
Die Merchant Adventurers waren ganz
die Leute um hierbei die Hand zu bieten.
Wie dreißig Jahre früher das
Büchlein von der englischen Staatskunst auf Beherrschung der See ge damit der eigene Export behauptet würde, so forderte unter
drungen,
Eduard IV. ein anderes, jenes Vorbild nachahmendes Pamphlet*),
da
Speise, Trank und Kleidung die unentbehrlichen Bedürfnisse eines jeden
seien, zum Besten der Spinner, Weber, Walker, Färber eine entsprechende Gesetzgebung.
Es geschahen denn auch einige Schritte, allein wie immer
nur für kurze Perioden, um die Ausfuhr der besseren Wollen, deS Woll
garn und ungewalkten Tuchs
zu hemmen.
Italienern nicht mehr die Wolle zu sortiren.
Richard III. gestattete den Heinrich VII. führte ein
neues Verkaufssystem ein und suchte auch das Halbfabricat „zur Ermuthi-
gung der Handwerker, welche Scheeren und Rauhen besorgen," im Lande festzuhalten.
Sein Sohn nahm dann, auch in dieser Beziehung an den
Vorgang der Vorzeit anknüpfend, die Verkehrsfreiheit wieder auf, die denn auch während der ersten 22 Jahre seiner Regierung thatsächlich vorherrschte,
bis jene Seuche untern den Schafen und Cromwells protectionistische Rich tung im Gegensatz zu den Maklern und Aufkäufern auf zehn Jahre we
nigstens den Tuchmachern und den damit zusammenhängenden Gewerken bei
sprang.
Das Gesetz Heinrichs VII. indeß, welches die Ausfuhr unge
rauhten, ungeschorenen, ungewalkten Tuchs verbot, blieb aufrecht und wurde
sogar von eigenen Jnspectoren streng überwacht.
Um die Wette, aber
vergebens liefen die Hansen und die Merchant Adventurers dawider
Umsonst hoben sie hervor, da das Tuchgeschäft in hoher Blüthe
Sturm.
stehe, könne man getrost der Arbeit des Auslands die letzte Zubereitung gönnen.
Noch freilich war keine Acte dauernd und ohne absichtliche Lücke.
Licenzen umgiengen dieselbe zum Vortheil der Kaufleute, zum Nachtheil des Gewerbes.
Im Interesse des Fürsten blieb bis zu einem gewissen Grade
die Ausfuhr zugelassen und war sogar der Verkauf des breiten weißen
Wolltuchs an Fremde geregelt.
Im Ganzen aber gaben Wolle und Tuch
stets den Maßstab des Schutzes auch für alle übrigen Artikel der Agri-
*) Unter dem bemerkenswerthen Motto: Anglia propter tuas naves et lanas omnia regna de salutare deberent, bei Wright, Political poems and songs II, p. 283.
cuttur und des Gewerbfleißes an,
nach welchem in England Producent
und Handwerker immer rühriger in Wettstreit mit dem Auslande ge treten waren. Man sieht hiernach, aus sehr verschiedenen Motiven entsprangen die
Beschränkungen der Alls- und Einfuhr. sequenz.
Viele Statute
wurden nur
Nirgends eigentlich herrschte Con auf Zeit verkündet und erloschen
völlig. Die wichtigsten freilich kehrten wieder und wurzelten endlich dauernd.
Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts hatten sich die Gedanken an Schutz Er trat in innige Wechselwirkung mit der Consolidirung des
befestigt.
Reichs, beide in deutlichem Gegensatz zu dem übrigen europäischen Ge
meinwesen.
Administrativ und volkswirthschaftlich stützte er sich auf den
beständig anwachsenden politischen Einfluß des Königthums.
Gerade die
jenigen Könige, welche keine Selbstverjüngung des alten Adels duldeten, das überwiegende Ansehn
der Kirche brachen,
die Gelüste freistädtischer
Entwicklung unterdrückten, mußten sich nach Anwandlungen, welche bereits Eduard IV. und Richard III. gehabt, wie es im Bedürfniß der Politik
lag, die Kaufleute und die Gewerbtreibenden befreunden.
Und in der
That, sie hatten gewaltige Aufgaben zu bewältigen, vor allen auch wirth-
schaftlich zu retten.
Unter den schlimmsten Nachwirkungen der Bürger
kriege, die ein ganzes Menschenalter gewüthet hatten, waren der unauf haltsame Verfall der Landstädte und der kleinen Ortschaften, die Verdrän
gung der Industrie in wenige Großstädte, wo Ausländer concurrirten, der
Nothstand unter Kleinbürgern und Handwerkern wahrlich nicht der ge ringste.
Ganze Generationen endlich wurden durch die gewaltige Agrar-
umwälzung, welche in den Einhegungen und der Koppelwirthschaft ganz
neue Probleme der Gütererzeugung hervorrief,
arbeitslos und brotlos.
Da trat denn Heinrich VII. fast unverzüglich mit einem Wirthschafts
programm auf, an dessen Durchführung die von ihm ausgehende Dynastie
allen Wechselfällen drinnen und draußen zum Trotz unablässig weiter gear beitet hat.
Höchst bezeichnend
legt sein berühmter Biograph,
Francis
Bacon, dem Lord Kanzler Morton bei der im Jahre 1487 an das Par lament gerichteten Anrede die Worte in den Mund: „Des Königs fester
Wille ist eö, dem Lande Ruhe und Frieden zu sichern.
Dieser Friede
soll euch nicht bloß Blätter erzeugen, unter deren Schatten ihr ruhig und
ungestört sitzen könnt, sondern er soll euch Früchte
Wohlstands und UeberflnsseS tragen.
des Reichsthums,
Deshalb bittet der König euch, eure
Aufmerksamkeit auf die Manufakturen und den Handel des Königreichs zu lenken.
Er wünscht euren Beistand behufs Unterdrückung des Wuchers,
auf daß daS Geld wieder auf den Handel und die Gewerbe verwendet werde, ferner behufs Maßregeln, welche dem englischen Volk in Künsten
28*
418
Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters.
und Gewerben Arbeit verschaffen, das Königreich unabhängiger vom Aus
land machen, die Unthätigkeit beseitigen und den Abfluß des Geldes für fremde Manufacte verhindern.
Aber hiebei dürft ihr nicht stehen bleiben,
sondern müßt weiter Vorsorge treffen, daß der Erlös jeglicher Waare,
welche vom Continent eingeführt wird, zum Ankauf englischer Artikel ver
wendet werde, damit nicht ein allzu ausgedehnter Handel der Fremden den Metallschatz des Königreichs zerstöre und vermindere."
Solche Ge
danken, einmal im Schwünge, kamen nicht wieder zur Ruhe.
Sie ge
wannen sehr populären Klang und immer ausdrucksvollere Fürsprache, in
welcher Staatsmänner und Prädicanten einer neuen Richtung mit Männern aus dem Volke wetteiferten.
In einigen der von Thomas Cromwell ge
leiteten Administration eingereichten Denkschriften*) heißt es bezeichnend:
„Der ganze Wohlstand des Staatsbürgers entspringt aus der Arbeit und der Thätigkeit des gemeinen Volkes.
Aufgabe des Königs ist es, zu er
wägen, welche Gaben Gott seinem Reiche geschenkt hat und wie das Volk entsprechend der Natur und der Beschaffenheit derselben in Arbeit gesetzt
werden kann.
Die Lenker und Leiter des Staats müssen als gute Staats
männer fortwährend darüber nachdenken, auf welche Weise man dem Volk
Arbeit geben, seinen unruhigen Geist beschäftigen und Alles, was außer
halb des Königreichs gemacht wird, im Königreiche fertigen könne.
Das
Verfallen der Handwerke mit seinen schädlichen wtrthschaftlichen Folgen, der Ruin der Städte, das Stehlen und Betteln, die Armuth, der Mangel an Geld wurzeln in der geringen Achtsamkeit, die man der einheimischen
Arbeit schenkt.
Alle nicht nothwendigen Waaren des Auslands und alle
diejenigen, die man im Jnlande fertigen kann, muß man ausschließen, selbst wenn man für daS einheimische Product etwas mehr zahlen muß. Der Luxus, der so gerne die fremden Artikel bevorzugt, ist schädlich und
zu verpönen.
Die Rohprodukte Englands, vor Allem die Stapelwaaren,
muß man im Lande behalten und im Lande verarbeiten, nicht aber die Fremden
auf Kosten der Einmischen bereichern.
Auch
andere Maaß
regeln müssen eventuell zur Erreichung des Ziels getroffen werden, wie die Reduktion der Wollpreise, die Verlegung des Tuchstapels nach London, die Gleichstellung der fremden Kaufleute mit den einheimischen bei den
Tuchzöllen, die Verpflanzung einer Reihe von Industrien nach England."
Wie viele der unter Heinrich VIII. erlassenen Statute geben sich als versuchsweise Ausführung dieser in weiten Kreisen des Volkes immer *) Auszüge bei Schanz I, S. 470 hauptsächlich aus: Drei volkswirthschaftliche Denk schriften auS der Zeit Heinrichs VIH. von England, zum ersten Mal heraus gegeben von Reinhold Pauli, Abhandlungen d. Kgl. Gesellsch. d. Wiffensch. zu Göttingen XXIII. 1878.
Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters.
419
lauter erhobenen, von seinen Vertretern immer fester formulirten Forde rungen kund.
Blieb auch die praktische Verwirklichung im Einzelnen noch
lange hinter den Erwartungen zurück, waren Umfang und Dauer der
Schutzgesetze auch noch so beschränkt, in der Hauptsache und ganz beson der- mittels der Ausfuhr des vorzüglichsten heimischen Fabrikats hatte
die Handelspolitik der beiden ersten TudorS der nationalen Arbeit eine breite Bahn nach dem Festlande eröffnet.
Nur ein selbständiger Wille
an der Spitze, der erleuchtete Absolutismus dieser Herrscher war dazu fähig, die unendlich aus einander strebenden und sich vielfach kreuzenden
Interessen der Unterthanen, mit denen außerdem Münz- und Geldwesen,
Preise und Löhne, der Credit im Großen und Kleinen unendlich ver schlungen waren, in fester Hand zusammen zu fassen und den bet der Re
gierung wie im Volke mächtig
anklingenden nationalen Gedanken als
Banner tat politischen, religiösen, wirtschaftlichen Kampfe frei flattern zu lassen.
ES ist nicht von ungefähr, daß durch ein fast wieder souveränes
Königthum in demselben Jahrhundert, welchem England seine Befreiung
von der römischen Kirche verdankt, nicht nur die Mitwirkung der herr schenden Klaffen in Personal und Tendenz eine andere zu werden begann,
sondern auch die ersten Keime des Merkantilismus auffproffen, desjenigen
Systems, dem Handelsmacht, Seemacht, Industriemacht der Zukunft ent
stammen sollten. Göttingen tat März.
R. Pauli.
Die neueste Erwerbung der Berliner Gemäldegalerie, „Neptun und Ampbittite" von P. P. Rubens. Wenn der ausübende Künstler sowohl als der kunstsinnige Laie den Jugendbildern der großen alten Meister gegenüber sich meist gleichgiltig
oder gar ablehnend verhält, so ist dies nur naturgemäß, da Beide die selben nur soweit anerkennen und überhaupt kennen werden, als sie sie zu
sehen gewohnt sind; den Künstler in seiner Entwicklung zu verfolgen, na mentlich in den Anfängen zu entdecken, wird in der Regel Aufgabe der Specialforschung bleiben müssen.
Daß der neue vom Grafen Schönborn in Wien erworbene Rubens, der namentlich durch Schmutzers großen Stich vom Jahre 1790 in wei teren Kreisen bekannt ist, hier in der Galerie von verschiedenen Seiten, namentlich in Künstlerkreisen jenem Schicksal der Jugendbilder verfallen
würde, hatte die Galerieverwaltung nicht erwartet; denn dieses Bild ist
durchaus kein eigentliches Jugendbild mehr: Rubens hatte, als er eS aus führte, schon die beiden Epochen seiner langen Lehrzeit hinter sich, die nieder
ländische unter den Augen seiner Lehrer und die italienische mit den Ein flüssen der Antike und der klassischen wie der gleichzeitigen italienischen Maler.
Die erste Periode von Rubens' hervorragender selbständiger
künstlerischer Thätigkeit, aus welcher der Neptun ein durchaus charakteristi
sches Werk ist, vertritt also offenbar nicht die Art, in welcher unsere mo
dernste koloristische Kunstrichtung Rubens liebt und anerkennt.
Wer dieses
Gemälde nicht für ächt hält, streicht eine ganze Periode in der Entwicklung des
Meisters, in welcher er — und zwar ganz eigenhändig, da er damals erst
anfing, Schüler in seinem Atelier heranzubilden, — eine beträchtliche Zahl von Gemälden schuf, die uns zum Theil sogar urkundlich beglaubigt sind.
Jenen Angriffen gegenüber sei es gestattet, aus dem Bilde selbst den
Nachweis seiner Aechtheit wie der völlig eigenhändigen Ausführung durch Rubens zu führen.
Die Beibringung der äußeren Zeugnisse für die Her
kunft des Bildes, welche bei dem Beweis der Aechtheit immer erst in zweiter Linie stehen werden, muß einer anderen Stelle Vorbehalten bleiben.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst kurz den Gegenstand des Bildes.
Auf einer
schmalen Landzunge oder
einer Insel
thront Neptun,
durch den Dreizack in seiner Rechten unzweifelhaft gekennzeichnet.
blaues Gewand hat er über die Schenkel geworfen.
Sein
Unter dem Felsen,
auf welchem der Gott sitzt, quillt in breitem Strome Wasser, die Gabe
des Neptun, hervor.'
Neben ihm zur Rechten steht ein nacktes junges
Weib, welches den rechten Arm um seinen Nacken legt; ihr leuchtend rothes Gewand, das der Wind zurückgeweht hat, flattert hinter ihrem
Rücken.
Ein Triton ist vor ihr aus dem Wasser aufgetaucht und hebt
mit beiden Händen eine Rtesenmuschel zu ihr empor, aus deren Inhalt:
Perlen, Korallen, Muscheln, sie mit der Linken einen Korallenzweig aus
wählte.
Neben dem Triton ruht
in den Fluthen, auf ein Crocodil
sich lehnend, eine hellblonde Nereide von üppigen Formen.
Ein kleiner
Amor ist beschäftigt, der jungen Göttin ein Perlband um den Arm zu legen.
Links hinter dieser Gruppe steht ein Neger mit einer Muschel auf dem Rücken,
aus welcher Wasser strömt; vor demselben sitzend ein anderer Flußgott, auf seine Urne gestützt.
Links am Ufer ein Löwe, den ein Tiger anfaucht;
zuäußerst links wird ein Nashorn sichtbar; rechts
brüllend aus dem Schilfe auf.
tallcht ein Nilpferd
In der Ferne das Meer; am Strande
ein paar Wasservögel, anscheinend Ibis.
Ueber dem Ganzen ist ein dunkel
braunes Segel ausgespannt, der Gruppe Schutz vor der Sonne bietend.
Man pflegt die jugendliche weibliche Gestalt neben Neptun gewöhnlich Amphitrite, als die bekannteste seiner Gattinen, zu benennen; auf Schmutzer'S Stich ist sie als Thetis bezeichnet.
Umgebung
Aber mit beiden Benennungen ist die
nicht recht zusammenzureimen: das Nilpferd, das Nashorn,
der Löwe, die beiden Ibis, wohl auch — nach der damaligen Kenntniß — der Tiger weisen ebenso sicher auf Afrika wie der als Neger gebildete
Flußgott zweifellos den Niger, der vor ihm sitzende gebräunte Flußgott
sehr wahrscheinlich den Nil darstellen soll.
Nun war Neptun nach einem
Mythus, den uns Apollodor, Nonnos u. A. überliefern mit der Libye ver mählt.
Auf sie würde der Ort wie die Umgebung völlig passen.
Auch
kann Rubens diesen Mythus sehr wohl gekannt haben, da ihm beide Schrift
steller in lateinischen Uebersetzungen zugänglich waren und er bekanntlich mit der Archäologie seiner Zeit aufs beste vertraut war. Das Bild stellt uns also, wie wir danach mit einiger Wahrschein
lichkeit
aussprechen
Libye dar.
dürfen,
die
Vermählung
des
Neptun
mit
der
Die Diener des Gottes bringen seiner jungen Gattin die
Schätze des Meeres zur Morgengabe dar; und die gewaltigsten Thiere
der Reiche, welche das Götterpaar regiert, sind wie zur Huldigung um dasselbe versammelt.
Doch
die Darstellung
eines bestimmten Mythus,
selbst einer bestimmten mythologischen Begebenheit zugegeben, werden wir nach Rubens' Denk- und Anschauungsweise einen allgemeineren Gedanken
allegorisch darin verkörpert denken müssen, etwa den Segen 4>er Ueber-
schwemmungen des Nils für Aegypten oder die Vermählung des Meeres
mit Afrika. In der ComPosition als solcher wird auch der Laie Rubens keinen
Augenblick verkennen; ja in Bezug auf die Composition ist das Bild ein Meisterwerk, selbst unter den Gemälden eines Rubens.
Die Gruppirung
der Aufbau in den Linien wie in den Farbenmassen, die Vertheilung des
Lichts, die Zusammenstellung und Gegenüberstellung der Figuren unter
sich wie mit den Thieren sind aufs tiefste durchdacht.
Trotz der liebevoll
durchgebildeten Details kommt die Hauptgruppe zunächst zur Geltung. Die Majestät des Herrschers, der Gegensatz von männlicher Kraft und weiblicher Anmuth, von schüchterner Zurückhaltung in der jungen Ver
mählten und.naiver sinnlicher Lust in der Najade, zwischen der mensch
lichen Gestalt und den Thieren, zwischen belebter und unbelebter Natur
sind in wirkungsvollster Weise zum Ausdruck gebracht.
Welche Kühnheit,
neben die zarten Formen eines jugendlichen weiblichen Körpers eines der mißgestaltetsten Ungeheuer der Schöpfung, ein brüllendes Nilpferd, zu stellen!
Und doch dient auch dieses nur dazu, die Composition noch mehr zu be
leben, der leuchtenden Färbung der Hauptgruppe mehr Relief zu geben. Wie man in den Formen und in der Zeichnung des Bildes Rubens nur einen Augenblick hat verkennen können, ist mir unverständlich, es sei denn, daß man ein gewisses Maßhalten in der Form, ein Anlehnen
an die Antike und an die klassischen italienischen Meister für der Art des
Rubens widersprechend hält.
Jedenfalls tragen diese Eigenthümlichkeiten
zur Schönheit des Bildes bei und machen diese grade dem großen Pu blikum zugänglich, welches an den vollen Formen der Rubens'schen Ge stalten späterer Zeit so sehr Anstoß zu nehmen pflegt, daß es darüber weder
zum Genuß noch zum Verständniß dieser Werke kommen kann.
diese strengere Formengebung steht auch durchaus nicht
Aber
vereinzelt da;
vielmehr ist sie Gemeingut der früheren Werke des Meisters, in welchen er noch unter der directen Nachwirkung seines italienischen Aufenthalts steht.
„Aber in der Zeichnung sind grobe Fehler; man sehe nur den linken
Arm der Libye" — so wirft man ein und glaubt damit einen Haupt grund gegen die Aechtheit oder doch gegen die eigenhändige Ausführung durch Rubens vorgebracht zu haben.
Ja, jener Arm ist in der Zeichnung
verfehlt; der Kopf der Libye sitzt in wenig glücklicher Weise auf einem kurzen Halse, die Stellung der Beine ist nicht gelungen — freilich mehr
eine Schuld
in der Wahl des Modelles.
Aber welches Gemälde des
großen Meisters wäre in dieser Richtung wohl völlig correct? nur unsere „Befreiung der Andromeda" darauf an.
Man sehe
Würde Rubens im
Stande gewesen sein, nahezu 2000 Gemälde (darunter die größere Hälfte ganz eigenhändig) zu schaffen, die an Bildfläche den Umfang der Deco-
rationömalereien selbst der flüchtigsten Barockmaler,
wie des Giordano
gen. Fa presto, weit hinter sich zurücklassen, würden seine Gemälde den Eindruck
der unmittelbaren Wiedergabe seiner großartig
schöpferischen
Phantasie machen können, würden sie das Momentane in Leben und Be
wegung wiedergeben, wenn der Künstler zu jeder Pose einen Act hätte
zeichnen oder wenn er seine Bilder sämmtlich hätte perspectivisch aufreißen
wollen?
Die „Correctheit" der Zeichnung ist von den größten Meistern
stets dem unbefangenen Ausdruck in der Bewegung nachgesetzt worden, und
gewiß mit Recht.
Einzelne Schwächen und selbst Fehler in der Zeichnung kann man also gern im Bilde zugeben: damit ist noch nichts gegen die Originalität
desselben gesagt.
Man urtheile vielmehr nach dem Ganzen der Zeichnung:
die Figur des Neptun, der Rücken des Triton, der Oberkörper der Libye, die verschiedenen Thiere — abgesehen vom Nashorn, welches der Künstler nicht selbst kannte, und für das er Dürer'S bekannten Holzschnitt benutzte, —
sind so trefflich gezeichnet, so meisterhaft modellirt, daß sie darin über das Können auch der besten seiner Schüler weit hinausgehen; der Vergleich
mit den Werken eines Diepenbeeck, Mol, JordaenS, selbst van Dyck in demselben Saale der Galerie wird jeden Unbefangenen leicht davon über
zeugen.
Die überraschende Lebenswahrheit in der Darstellung des Nil
pferdes ist sogar als Grund gegen die Autorschaft des Rubens ins Feld
geführt: dasselbe sei offenbar nach der Natur gemalt, Rubens aber könne ein Nilpferd nie gesehen haben, da ein solches erst nach seinem Tode zum ersten Male nach Europa gekommen sei.
gemacht hat,
Nun der, welcher diesen Einwand
kennt offenbar Rubens' Nilpserdjagd in der Augsburger
Galerie nicht, und weiß nicht, daß dieselbe unter Rubens' Namen durch einen seiner ältesten Stecher, durch Soutman vervielfältigt worden ist.
Die Färbung des Bildes steht der Zeichnung nicht nur gleich, sie
übertrifft sie noch und ist, wie jene, durchaus charakteristisch für Rubens. Seine glänzenden Farben und die Helligkeit des Lichts, mit welchen die selben übergossen sind, lassen das Bild selbst neben der benachbarten hei
ligen Cäcilie bestehen, wenn auch diese geistreiche Improvisation, die der
Künstler für seine eigene Einrichtung, muthmaßlich für sein Musikzimmer schuf, die eigenthümliche Wärme und den blumigen Ton der Farbe seiner letzten Zeit voraus hat.
Die Färbung wird, wie in jedem guten Figuren
bilde, durch die Carnation bestimmt, welche nach der Eigenart der früheren
Zeit des Meisters durch den Gegensatz der rothen Reflexe und der blauen Halbschatten im Fleisch ihre eigenthümliche Lebenswahrheit und Leuchtkraft erhält. In den positiven Farben, dem tiefen Roth deS GetbandeS der Libhe nnd dem kühlen Blau in Neptun'S Gewände, erhalten die gleichen
Farben im Fleisch ihren Rückhalt; diese bewirken, daß die Carnation nicht bunt und hart erscheint.
Die fahlen gelblichen und schwärzlichen
Farben der Thiere, das tiefe bräunliche Segel vollenden das Farbenconcert des Bildes, dessen Harmonie und Leuchtkraft der Reinheit und Kraft
der Farben gleichkommt.
Durch das Segel, welches über einen Theil der
Gruppe Schatten verbreitet, hat der Künstler ein anziehendes Helldunkel
mit dem hellen Sonnenschein, der aus dem Bilde ausstrahlt, zu ver
einigen verstanden. Alles das sind Eigenthümlichkeiten, die in ähnlicher Meisterschaft, in
ähnlicher Macht sich in keinem Gemälde irgend eines Schülers, geschweige eines Nachahmers finden — man
vergleiche unsere „Galathea"
von
Thulden oder die „Flucht der Clölia" von Diepenbeeck, letztere sogar nach
einer Composition des Rubens —, die aber auch den von seinen Schülern im
Atelier des Meisters ausgeführten Gemälden nicht im gleichen Maße eigen sind, wie ein Blick auf das liebenswürdige Bild der vier Kinder oder
auf die „Krönung Mariä" an derselben Wand überzeugend darthun wird.
Aber die Behandlung — ja, da sind wir bei dem Punkte angelangt, bei dem
alle Bedenken
anknüpfen.
Alle jene Schönheiten zugegeben
(und kein Unbefangener vermag sich denselben völlig zu verschließen), nie und nimmer hat Rubens so sehr durchgeführt, niemals ist seine Behand
lungsweise so
„zahm", sein Farbenauftrag
theilen die Wortführer jener Zweifel.
Ex
so ohne „Witz" — so ur
ungue leonem.
Gewiß!
Aber diese Behandlung ist genau so charakteristisch für Rubens, bezeugt die Aechtheit des Bildes und die eigenhändige Vollendung desselben durch
den Meister ebenso sehr als die Färbung, die Carnation und die Compo sition — freilich für eine ganz bestimmte, für eine frühe Epoche seiner
Thätigkeit.
Nicht eines, sondern eine ganze Reihe von Gemälden, meist in
zweifellosester Weise bezeugt, lassen sich anführen, die in gleicher oder ganz
ähnlicher Art behandelt und durchgeführt sind; und unter denselben grade eine Anzahl Gemälde, welche in der Wahl und Auffassungsweise deS Gegen standes wie nach der malerischen Ausführung sich als eine zusammenge hörige Gruppe
darstellen,
zu welcher auch unser „Neptun und Libhe"
gehört. Vorweg sei bemerkt, daß wir unabhängig von der Zeit der Ent stehung
unter den Werken des Rubens schon aus zwei rein äußerlichen
Gründen eine Reihe ausnahmsweise durchgeführter wie abweichend behan-
Der eine Grund ist die Benutzung der Leinwand
bellet Gemälde finden.
statt der von Rubens bevorzugten Holztafel: während der mit Oel getränkte Kreidegrund der Holztafel dem Meister eine sehr flüssige Primabehandlung
gestattete und die Frische und Leuchtkraft der Farben in wunderbarer Weise conservirte, bedingte der kalte graue Grund, mit welchem Rubens
(wie auch in unserm Bilde) die Leinwand überzog, eine mehr deckende Malweise und einen etwas kühleren Ton der Färbung.
begegnen wir aber
Insbesondere
einer Durchführung, die bis zu einer dem Meister
sonst völlig fremden Berläugnung der Pinselführung geht, in denjenigen Gemälden, in welchen der Künstler seinem Auftraggeber etwas ganz be
sonderes
Vollendetes
liefern
wollte.
Schon
Sir
Josuah
Reynolds,
unter den Künstlern einer der glühendsten Verehrer und besten Kenner
der alten Meister, macht hierauf ausdrücklich aufmerksam.
Von bekannten
Gemälden dieser Art nenne ich das Bildniß der Elisabeth von Frankreich, Gemahlin Philipp's IV., im Louvre; die Kinder mit dem Fruchtkranz in der
Münchener Pinakothek; die Findung deS Erichtonios beim Fürsten Liechten
stein in Wien; Simone, der die Efigema findet, im Belvedere zu Wien (ein Bild, das Rubens 1625 an den Herzog von Buckingham mit dem Bemerken verkaufte, die Figuren seien ganz von seiner Hand); die Bild
nisse eines Franziskanergeistlichen und des Cardinalinfanten Ferdinand in der Münchener Pinakothek;
namentlich aber
ebenda das
große jüngste
Gericht, Rubens' umfangreichstes Gemälde. Bei den meisten dieser Bilder,
namentlich aber bei dem letzten sind insbesondere in Künstlerkreisen die Zweifel an der Eigenhändigkeit, wenn nicht gar an der Aechtheit sehr ver
breitet.
Und doch besitzen wir grade für dieses Bild, welches Rubens
1617 für den Herzog Wolfgang von der Pfalz-Neuburg vollendete und
mit dem ganz außerordentlichen Preise von 3500 fl. bezahlt erhielt, das
eigene Zeugniß des Künstlers, daß er es eigenhändig ausführte.
Doch davon abgesehen ist die sorgfältige und doch ganz eigenhändige Durchführung eines der Merkmale für die erste selbständige Epoche des
Künstlers, unmittelbar nach seinen Studienjahren in Italien, d. h. etwa für die Jahre 1609—1612.
War Rubens vor seiner Reise nach Italien
unter dem Einflüsse seiner Lehrer noch schwer und kühl in der Färbung,
glatt und vertrieben in der Behandlung, metallisch in den Lichten — wie in der „Verkündigung"
im Belvedere —, so sehen wir ihn in Italien
eine Zeit lang dem überwältigenden Eindruck der großen italienischen Meister unterliegen: vor Allen (neben der Antike) dem Michelangelo und Giulio
Romano in der Formengebung und Erfindung, dem Tizian und Tintoretto im Colorit und leuchtung.
in der
Färbung, dem Caravaggio in der Be
So — um nur aus deutschen Galerien einige Beispiele zu
nennen —
im
Darstelllmg
„trunkenen Herkules"
und
der „Glorification Herzogs
Gonzaga" in der Dresdener
Vincenz von
im „Seneca"
sowie
und
im
Galerie,
in
„Martyrium
der
gleichen
des
heiligen
Laurentius" in der Pinakothek, in der „Venus" und in der „Grablegung" bet
Fürst
Liechtenstein
Wien u. s. f.
in
Erst in den letzten Jahren
in Italien gelingt es dem Künstler, sich durch diese
seines Aufenthalts
Studien zu einem völlig eigenartigen Stile durchzuarbetten.
In der ersten
Entwicklung dieser selbständigen Kunstweise, die sich, wie oben schon er
wähnt, etwa zwischen den Jahren 1608 und 1612 vollzieht, zeigt Rubens
noch den Einfluß der Antike wie der italienischen Meister in den maß volleren Formen, einer gewissen Einfachheit und vornehmen Ruhe in der Composition, heller meist prächtiger Färbung bei vollem, ziemlich kühlen
Tageslicht,
leuchtendem Colorit mit den eigenthümlich rothen Reflexen
und blauen Halbschatten,
einem sorgfältigen, fast gleichmäßig deckenden
und noch vielfach vertriebenen Farbenauftrag,
einer fleißigen, zuweilen
sogar verhältnißmäßig etwas trockenen Behandlung.
Im Vollbesitz aller
künstlerischen Mittel, im gewaltigen Schaffensdrang und in Folge der
vielen großartigen Bestellungen geht Rubens sehr bald zu einer breiten,
oft skizzenhaften Behandlung über, bei ganz flüssiger Pinselführung, geist reicher Benutzung der braunen Untermalung, wärmerem Ton und stär kerem Helldunkel.. Fast ein Jahrzehnt bleibt er dieser Behandlungsweise
treu.
Die „Befreiung der Andromeda" und das schöne Köpfchen seines
eigenen Knaben sind charakteristische. Beispiele dafür in unserer Galerie.
Während Rubens sodann im Anfänge der zwanziger Jahre mit Hülfe zahl reicher Schüler
die großen Btldercyklen für die Jesuitenkirche in Ant
werpen und für die Galerie des
Luxembourg,
sowie
als
Vorlagen
für Gobelins wie die Geschichte des DeciuS Mus u. a. schafft, wivd seine
Pinselführung
auf Harmonie als
pastoser, auf Ton
Breite und Meisterschaft der
deckender,
die
Färbung
reicher,
ausgehend, selbstverständlich
Behandlungsweise.
Die
bei
mehr gleicher
„Auferweckung
deS Lazarus" und (mehr als Skizze) die kleine neu erworbene „Pietü" gehören
in
diese
Periode.
Der
letzten
Zeit
bürgerlichen
Familien
glücks in seiner zweiten Ehe, nach Abschluß seiner diplomatischen Laufbahn,
entspricht eine letzte und zugleich die höchste Entwicklung seiner künstle rischen Eigenart:
Die Färbung ist so reich und blumig und dabei von
einem so goldigen Ton durchdrungen, daß es uns wie Sonnenschein aus
diesen Bildern entgegenschimmert; daS Colorit ist ganz leuchtend und ver schmolzen; die Umrisse erscheinen nur unbestimmt, die Schatten hell durch das Licht, welches Alles zu durchdringen scheint; der Farbenauftrag ist
körnig und fast durchweg gedeckt, obgleich der Künster offenbar möglichst naß
Die Behandlung entspricht seinen künst
in naß zu malen bestrebt war.
lerischen Intentionen: bald ist eine Idee, ein Effect in wenigen großen
Zügen alla prima zum Ausdruck gebracht, bald hat der Künstler sein Bild Jahre lang con amore wieder und wieder übergangen; er schuf nur noch nach seinem inneren Bedürfniß und zu seiner künstlerischen Befriedigung.
Unsere Galerie besitzt in den Figuren auf der „Jagd der Diana", na mentlich aber in der „heiligen Cäcilie" schöne, charakteristische Beispiele dieser letzten Periode deS Rubens.
Kehren wir von diesem Ueberblick über die künstlerische Entwicklung des Meisters zu unserem Bilde zurück.
Wir hatten dasselbe — wie wir
sahen — in die erste Zeit nach seiner Rückkehr von Italien zu setzen, wahr
scheinlich in daS Jahr 1609 oder 1610, deren charakteristische Eigenthüm lichkeit daS Bild Zug für Zug trägt.
An verwandten, gleich oder ganz
ähnlich behandelten Bildern derselben Zeit, die uns meist durch Docu mente bezeugt sind, fehlt es keineswegs, wie man behauptet hat.
Ich
nenne vornämlich Bilder öffentlicher Galerien, da dieselben am leichtesten
zugänglich sind, und da die gleichzeitigen Altarbilder mehrfach aus Rücksicht auf den Platz, für den sie bestimmt waren, eine von diesen Bildern wie auch unter sich abweichende Behandlung zeigen. Zu Dresden der „heilige Hiero
nymus", ausnahmsweise mit dem Monogramm des Künstlers bezeichnet; aus den letzten Jahren seines Aufenthalts in Italien und daher noch sehr sorgfältig
durchgeführt,
matt
der
in
und
Färbung
im
kühl
Ton.
AuS derselben Zeit unser heiliger Sebastian, in der leuchtenden Fär bung entschieden von Caravaggio beeinflußt.
begegnen
führung:
Schlöffe
wir
das zu
großen
verschiedenen
Reiterbildniß
Windsor
und
deS
das
Gleich nach seiner Rückkehr
Bildnissen
von
fleißiger
Statthalters Erzherzog
schönere,
höchst
Durch
Albrecht
anziehende
im
Portrait
deS Künstlers mit seiner Gattin Isabella, geb. Brant, in der Pinakothek
zu München.
Ferner eine Reihe von heiligen Familien und Madorrnen,
in Blenheim, St. Petersburg u. s. f., die Kreuzesaufrichtung in Antwerpen
sowie, unserm Bilde dem Gegenstände nach näher verwandt, eine Anzahl mythologischer
Darstellungen:
Venus und
Adonis in der
Ermitage;
Jupiter und Callisto in der Casseler Galerie (bezeichnet und datirt 1613); BoreaS und Oreithyia in der Galerie der Akademie zu Wien; der groß
artige „Raub der Proserpina" in Blenheim (leider vor einiger Zeit ver
brannt); die Findung des Erichthonios bei Fürst Liechtenstein — hier ist
die
aufrecht stehende Tochter des Cecrops fast dieselbe Figur wie die
Gattin des Neptun auf unserem
meist
gemeinsam
München,
Gemälde —; eine Reihe kleinerer,
mit Jan Brueghel gemalter Bilder im
Paris u. s. f.;
namentlich
aber
Haag,
mehrere Gemälde,
in
welche
mit den unsrigen auch inhaltlich so sehr verwandt sind, daß sie wie
zu einem Cyklus gehörend erscheinen.
Es sind dies „Neptun und Kybele"
in der Ermitage und die „vier Welttheile" im Belvedere.
Ersteres unter
dem angegebenen Titel von P. de Jode und im XVIII. Jahrhundert von Vangelisti im Kabinet Caulet d'Hauteville, anscheinend nach einer nicht unwesentlich veränderten Wiederholung deS Bildes, als „Vermählung des
Meeres mit der Erde" gestochen, führt in der Ermitage die irrthümliche
Bezeichnung „Tigris und Abundantia"; van Hasselt, welcher angiebt, das Bild sei für Palazzo Chigi in Rom gemalt, betitelt es „Triumph des Tiber
stromes".
Ein ganz ähnliches Bild soll sich nach Angabe desselben Katalogs
auch in der Galerie zu Madrid finden. Eine mäßige Schulwiederholung des
Bildes der Ermitage, die mit dem Stiche von de Jode noch mehr überein stimmt, indem hier der Tiger fehlt, besitzt Lord Lyttelton in Hagley Hall,
Worcestershire.
Smith, welcher dieses Bild ebensowenig kannte als
den
Neptun beim Grafen Schönborn, nennt es irrthümlich eine Wiederholung
des letzten Bildes. Die Zweifler an der Aechtheit desselben sind nun noch einen Schritt weiter gegangen: sie haben in unserm Bilde eine Copie des Bildes
bei Lord Lyttelton vermuthet.
Im Grundgedanken mit dem „Neptun und
Libye" übereinstimmend, zeigt auch diese Composition dieselbe Auffassung
und Modellirung der Formen, die gleich sorgfältige Durchführung und Klarheit der Färbung.
Der Umstand, daß es noch nicht so farbenprächtig
und nicht so leuchtend ist, macht es wahrscheinlich, daß das Bild um
ein oder zwei Jahre früher, unmittelbar nach der Rückkehr aus Italien gemalt ist.
— DaS zweite Gemälde, die berühmten „vier Welttheile",
dargestellt in den
Götterpaaren der vier
Hauptströme,
die,
wie
in
unserem Bilde, unter einem dunklen Segel im trauten Verein zusammen sitzen, bezeichnet wieder einen Fortschritt unserm Bilde gegenüber, indem die Behandlung bei
gleicher Auffassung
in der Formengebung leichter,
flüssiger, die Köpfe schon individueller gehalten sind.
Ein viertes Gemälde,
die „Geburt der Venus", das sich diesen Bildern unmittelbar anschließt,
ist unS nur in Soutman's Stich und
einer Schulcopie in Potsdam
erhalten. Das aptsrov p.ev v3wp, die Versinnlichung von Macht und Segen
des Wassers in der dem Künstler geläufigen Verkörperung durch schöne menschliche Gestalten, ist der grundlegende Gedanke dieser drei Bilder, welchen der phantasiereiche Meister in drei ganz verschiedenen Formen
auszuprägen wußte.
Gemeinsam ist
diesen
drei Gemälden
auch
ein
äußerlicher Punkt, welcher wieder auf ihre etwa gleichzeitige Entstehung
in den ersten Jahren nach Rubens' Rückkehr aus Italien hinweist,
die
Freude an der Darstellung der Thterwelt, speciell der wilden Thiere
In den in Italien
und die Meisterschaft in der Wiedergabe derselben.
entstandenen Werken des Rubens begegnen wir denselben nur selten, dies der Fall ist, wie im Hieronymus zu Dresden,
und wo
Bei seiner
noch die Anschauung.
Künstler eine große
Menagerie
Rückkehr
fehlt
nach Antwerpen muß
der
Seinem Naturell
angetroffen haben.
entsprach es, daß ihn die Schönheit der Formen wie der Farbe und vor Allem
wilde
die
Leidenschaftlichkeit
den
in
Fürsten
welt gewaltig packte und zur Darstellung anreizte. wir
den
zwischen
Jahren
1610 und
1617
der
Thier
In der That sehen
eine Reihe
großartiger
Schöpfungen, welche den Kampf des Menschen mit den wilden Thieren
zum Vorwurf haben, oder in denen letztere in Begleitung deS Menschen erscheinen, auS des Meisters Hand wie aus seiner Werkstatt hervor So
gehen.
die
berühmte Wolfsjagd
vom Jahre
1612
beim
Lord
Ashburton in London, die Löwenjagd in München, die Schweinshatz aus der Galerie des Königs von Holland, jetzt bei Mr. Adrian Hope in London, dasselbe Bild in Dresden, skizzenhafter und daher anziehender
— der Vergleich beider Bilder bestätigt wiederum,
was ich oben über
die Durchführung der Gemälde des Rubens gesagt habe; — ferner (der
Ausführung nach theilweise auf Schülerhände zurückzuführen) die Löwen jagd in Dresden und die Jagd auf Nilpferd und Krokodill in der Augs burger Galerie.
Rubens
als
Sodann gehört hierher namentlich das berühmte, von
„eigenhändig"
an Lord Dudley
Carleton
verkaufte Ge
mälde des „Daniel in der Löwengrube", beim Herzog von Hamilton im Hamilton Palace: in Wahrheit mehr ein großartiger Löwenzwinger, in
dem der nackte Daniel sich etwas unglücklich ausnimmt; noch sorgfältiger
durchgeführt als unser „Neptun", aber farbloser und kühler und fahler
im Ton. Einem der neun prächtigen Löwen liegt dieselbe Studie zu Grunde, wie dem Löwen auf unserem Bilde; diese ist uns noch in einem köst
lichen Blatte mit Zeichnungen nach Löwen in allenmöglichen Stellungen in der Albertina zu Wien erhalten.
Tiger und Leoparden als Begleiter
deS Bacchus und seiner Schaar finden wir auf den bekannten Bacchanten zügen
in
München,
St. Petersburg
und
Blenheim,
eigenhändigen
Schöpfungen etwa aus den Jahren 1614 bis 1617; einer der Tiger auf einem dieser Bilder ist wieder dem Tiger auf unserem Bilde ganz ähnlich.
Später hat der Künstler offenbar die Freude an der Darstellung deS aufgeregten Thierlebens verloren;
wo wilde Thiere noch bei ihm
vorkommen, pflegen sie von der Hand seiner Schüler ausgeführt und
höchstens vom Meister
„retouchirt" zu sein; so in unserer „Jagd der
Diana", etwa aus dem Jahre 1632. Ich erwähnte bereits gelegentlich, daß verschiedene der Gestalten und
Thiere auf unserem Bilde
auch auf anderen Gemälden — und zwar
immer auf etwa gleichzeitigen und ganz eigenhändigen Gemälden — gleich
oder ganz ähnlich vorkommen.
Dem füge ich noch hinzu, daß auch der
Neptun in der Haltung dem Daniel auf dem Bilde in Hamilton Palace ganz ähnlich ist, sowie daß Rubens die auffallende,
für reiche Ent
wicklung deS Muskelspiels günstige Stellung der Beine mit besonderer
Vorliebe in Bildern jener frühen Zeit wählt; theilen"
und
im
Doppelbildniß
Geistesarmuth
so in den „vier Welt
Künstlers
und
seiner
Gattin
Daß eine solche Benutzung derselben Modelle und
in der Pinakothek. Studien, freilich
deS
stets
beweist,
in zweckentsprechender sondern
bei
der
Veränderung keineswegs
unerhörten
Leichtigkeit
und
Schnelligkeit des Schaffens durchaus natürlich und berechtigt erscheint —
Rubens erlaubte sich sogar, Gestalten und ganze Compositionen fremder
Meister, wie Tizian, Caravaggio u. s. w. zu benutzen —, ist jedem mit
Rubens' Werken Verlauten ebenso bekannt wie die Thatsache, daß sich
dies grade in den eigenhändig vom Meister durchgeführten Gemälden findet.
Die Erhaltung des Bildes ist völlig tadellos.
Die große Hellig
keit wie die positive Wirkung der Localfarben, welche manche Beschauer auf die Vermuthung gebracht hat, das Bild sei stark geputzt worden, ist ein
charakteristisches Merkmal fast aller Bilder des Meisters, die in den Jahren
1609 bis 1612 entstanden sind.
Auch das zweimalige Anstücken der Lein
wand geschah durch den Meister selbst: das erste Mal wahrscheinlich, weil damals ein Stück von der gewünschten Breite nicht zu haben war, das zweite Mal aus künstlerischen Rücksichten um der Composition in der Höhe
mehr Raum zu geben.
Daß dieser Umstand allein schon für ein Ori
ginalwerk und gegen eine Copie spricht, brauche ich nicht weiter auözuführen.
In unserem Bilde war
jene außerordentliche Helligkeit der
Färbung vielleicht auch mit bedingt durch den Platz, für welchen eS be stimmt war, ein Umstand auf welchen Rubens, wie wir aus seinen Briesen
wissen,
mit Recht ein ganz außerordentliches Gewicht legte.
Bei der
definitiven Ausstellung des Bildes in der Galerie wird daraus jedenfalls
Rücksicht genommen werden.
Der Einwurf,
das Bild sei von einem späteren Nachahmer, etwa
gar erst au6 dem vorigen Jahrhundert, braucht wohl nicht ernsthaft ge
nommen zu werden.
Man braucht nur auf die kleine, fast ganz treue
Copie deS Bildes in der Galerie zu Gotha zu verweisen,
Technik nach noch aus dem XVII. Jahrhundert stammt.
die ihrer
Der Vergleich mit
diesem Bilde zeigt in schlagender Weise die Originalität und Eigenhän
digkeit unseres Bildes und beweist auch zum Ueberfluß, daß jene An-
stückungen der Leinwand ursprüngliche sind.
Um kurz das Resultat zusammenzufassen: an der Aechtheit, an der
Eigenhändigkeit der Ausführung,
des BildeS ist nicht zu zweifeln.
an der trefflichen Erhaltung
Dasselbe fügt sich nach Zeichnung,
Färbung, Beleuchtung und Behandlung durchaus in die Reihe der Werke des Rubens aus den ersten Jahren >:ach seiner Rückkehr aus Italien
ein; nach Gegenstand Auffassung und künstlerischen Qualitäten gehört es zu einem Cyklus gleichzeitig entstandener Gemälde, welche fast sämmtlich
durch
Stiche aus der
Zeit des Rubens bezeugt sind;
endlich
existirt
keine Wiederholung, die unserem Bilde die Originalität streitig machen
könnte, vielmehr besitzt die Galerie zu Gotha eine kleine Copie aus dem XVII. Jahrhundert,
ein Zeugniß
mehr für die Originalität unseres
Bildes. — Die Frage der Werthschätzung
die Frage heraus:
des Bildes
läuft also auf
ist Großartigkeit der Composition und Gestaltung,
ist Pracht und Harmonie der Färbung, Retz des Helldunkels, Lebens wahrheit und Leuchtkraft des ColoritS nichts zu achten, handlung nicht breit, nicht geistreich andeutend, nicht
wenn die Be
„witzig" ist? —
Rubens selbst war nicht dieser Ansicht, wie wir sahen; und am Ende
des vorigen Jahrhunderts,
als Schmutzer seinen Stich anfertigte (und
dies geschah nicht etwa im Auftrage des speculattonssüchtigen Besitzers, wie man behauptet hat, sondern, wie aus Schmutzer's Stecherwerk leicht
zu ersehen ist,
weil sich der Künstler zu Rubens besonders hingezogen
fühlte und daher die in Wien befindlichen. Meisterwerke desselben stach),
bewunderte man das Bild sogar grade wegen seiner außergewöhnlichen Durchführung, wegen jener „zahmen" Behandlung; ohne diese fand ein
Rubens sonst keine Gnade vor der Anschauung der Künstler jener Zeit!
Nun da glaube ich können wir getrost die Zeit das Urtheil reifen lassen:
wie die Vergangenheit, selbst die allerletzte sich aussprach, wie noch heute
im Ausland die Stimmen der Kunstfreunde und Künstler sich aussprechen,
so wird auch in Zukunft das Urtheil über das Bild in Berlin lauten. Jedenfalls wird die Galerieverwaltung, unbeirrt durch die Stimmungen des
rasch wechselnden Kunstgeschmacks nach wie vor nach den Bedürfnissen der Galerie, welche die Entwickelungsgeschichte der Malerei veranschaulichen soll, wie nach den Gesetzen der Schönheit und des Geschmacks in der Vermeh
rung der Sammlung fortfahren.
Daß sie die koloristische Richtung in ihrer
Berechtigung nicht vernachlässigt, dafür braucht — von dem Ankauf der
Sammlung Suermondt ganz zu
schweigen — nur auf eine Reihe der
neuesten Erwerbungen wie das Martyrium der heiligen Agathe von Tiepolo, die kleine Pieta von Rubens, die Bilder von Pieter de Hooch, Frans Hals,
Bellotto, de Heem, Kalf u. a. m. hingewiesen zu werden. Ist es ohne Zweifel die Pflicht einer Galerieverwaltung, bei der Vermehrung der Sammlung
Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1I. Heft 4.
29
Die neueste Erwerbung der Berliner Gemäldegalerie,
432
auf die Strömungen des Kunstgeschmacks und der modernen Kunst innerhalb
ihrer Berechtigung Rücksicht zu nehmen, so ist es doch ebensosehr auch ihre Aufgabe,
sich von der Einseitigkeit
und
Ausschließlichkeit aller solcher
wechselnden Strömungen frei zu halten — freilich keine erfreuliche Auf
gabe, da man dabei, wie wir mehrfach erfahren mußten, Gefahr läuft, von
der Tagespresse als angeblicher Ignorant an den Pranger gestellt zu werden.
Daß aber ein Benutzen vorübergehender Vorurtheile und Antipathien auch pecüniär für eine öffentliche Sammlung seine Vortheile bringen kann, dafür brauche ich mich aus unserer Praxis nur auf zwei Erwer bungen der Galerie aus der Sammlung Munro in London zu beziehen,
deren Versteigerung 1878 im Allgemeinen übertrieben hohe Preise, selbst für geringe und falsche Bilder erzielte:
Das große Altarbild von G. B.
Tiepolo, das Martyrium,dcr heiligen Agathe darstellend, erreichte nicht ganz 100 Pfd. Sterl., weil der Gegenstand dem englischen Publikum zu
.shocking“ war; und der heilige Sebastian von Rubens, ein urkundlich
von diesem an den englischen Gesandten, Sir Dudley Carleton, ver kauftes und
von ihm dabei noch Größe und Gegenstand beschriebenes
ausdrücklich
als eigenhändig bezeichnetes Gemälde, ging noch für eine
etwas geringere Summe fort, des Meisters fast ein
stimmig
weil man in London dieses Jugendwerk für eine Schülerarbeit erklärte.
Die
Marmorstatue des jugendlichen Johannes von Michelangelo, der fast seit einem Jahre in den Räumen des Museums ausgestellt ist, ohne daß die hie
sige Presse m. W. ein Wort darüber verloren hätte, würde im Preise für un sere Museen unerschwinglich gewesen sein, hätten nicht die Bildhauer auf
dem Michclangelo-Congreß in Florenz 1875 fast einstimmig gegen die
Aechtheit der Statue sich ausgesprochen.
Dieses schöne Jugendwerk deS
gewaltigsten unter den Bildhauern der christlichen Zeit ist so zugleich ein
interessantes Denkmal richtiger Ausnutzung solcher Vorurtheile und Irr thümer in den Kunstanschauungen des Tages.
Die heftigen Angriffe verschiedener Berliner Zeitungen gegen daS Bild haben demselben jedenfalls eine Aufmerksamkeit seitens des Publikums zuge
zogen, wie bisher keinem anderen Ankauf der Gemäldegalerie.
Ich glaube,
die Galerieverwaltung wird das schließlich nicht einmal zu bedauern haben; denn die Schönheiten deS Bildes sind zu augenfällig und zu leicht ver ständlich, als daß sich ihnen das Publikum auf die Dauer sollte verschließen
können, und daß es nicht zu der Ueberzeugung kommen sollte, die Galerie sei durch diesen Ankauf um ein schönes und für den Maler charakteristi
sches Meisterwerk bereichert worden.
Und ist dieser künstlerische Werth
deS Bildes anerkannt, so wird auch der Preis von 200,000 Mark nicht
mehr angefochten werden können.
Ein hervorragendes Werk von Rubens
ist feit Jahrzehnten, seit die Preise für Kunstwerke sich so außerordentlich
gesteigert haben, nicht zum Verkauf gekommen, eS sei denn daß sich die
Angabe bestätigt, Lord Ashburton habe seine Wolfsjagd, ein Gemälde, das der Zeit der Entstehung wie bet Behandlung nach unserem Bilde ganz nahe steht, für eine halbe Million KrancS nach Paris verkauft. Zwei gute Brustbilder von Rubens erstand das Brüffeler Museum vor
einigen Jahren um 135,000 Francs.
Das unter dem Namen „cbapeau
de paille“ bekannte Bildniß zahlte Sir Robert Peel schon im Jahre 1823 mit 82,500 Francs.
Einige Bilder, welche unter Rubens' Namen in den
letzten Versteigerungen (Demidoff und Wilson) Preise von 35—85,000 Francs erzielten, waren nur Copien oder Atelierarbeiten, wie denn überhaupt
auf diesen Versteigerungen, obgleich einzelne Gemälde von Rembrandt, Hobbema, Hals u. A. auf 80—150,000, ja auf 200,000 Francs ge steigert wurden, kein tadellos erhaltenes Bild ersten Ranges sich befand.
Berlin 1. April 1881.
Bode.
Das neue Zeitalter der Attentate, daS der moderne Radikalismus
über Europa heraufführt, zeichnet sich vor seinen Vorgängern durch die
nackte Häßlichkeit des politischen Verbrechens aus.
Unter den zahlreichen
Fürstenmördern der Epoche der Religionskriege finden sich doch einige, deren glühende Schwärmerei das Herz besticht und selbst den Nüchternen
leicht zu dem alten Irrthum verleiten mag, als ob ein heldenhafter Zug in der Seele jedes ungewöhnlichen Missethäters lebe.
Aber was anders
als Ekel und Abscheu läßt sich empfinden vor der öden Nichtigkeit jener
verlebten, glaubenlosen Mordgesellen, die in unseren Tagen die Brand fackel
über Frankreichs Hauptstadt
schwangen, die ihre Hand
erhoben
gegen den Wiederhersteller des deutschen Reichs, die den menschenfreund
lichsten der russischen Kaiser, den Befreier von Millionen Leibeigner wie ein gehetztes Wild aus einer Falle in die andere lockten, bis er endlich ihren feigen Waffen unterlag?
Unter den denkbar gefährlichsten Verhältnissen besteigt Czar Alexan der III. den Thron; selbst die Aufgabe, welche einst dem jungen Ludwig XVI. oblag,
einer
war kaum schwieriger.
Der neue Kaiser sieht sich bedroht von
mächtigen Verschwörung, die das Handwerk der Zerstörung als
Selbstzweck betreibt und mit ihren unsichtbaren Fäden offenbar bis in die Nähe des Thrones, vielleicht in den Kreis der kaiserlichen Familie
selbst hineinreicht.
Die Mittel der Ueberwachung und Unterdrückung reichen
allein nicht mehr aus; aber auch der Weg der Reformen scheint fast ver sperrt.
Alle Völker Westeuropas haben erst die Vorschule der altständischcn
Institutionen und der communalen Freiheit durchlaufen bevor sie zu dem modernen Repräsentativstaate übergingen.
Rußland dagegen hat niemals,
seit dem Einbruch der tartarischen Eroberer, irgend eine Form gesetzlicher
Landesvertretung gekannt.
Jene Landesversammlungen
des
sechzehnten
und siebzehnten Jahrhunderts, deren eine das Haus Romanow auf den Thron erhob, waren allesammt Geschöpfe der Roth, völlig, formlos und
unrechtmäßig; darum ließen sic auch gar keine Spur in dem Gedächtniß
der Nation zurück.
Jeder noch so bescheidene Versuch, die Nation zur
Theilnahme an der Leitung
des Staates
heranzuziehen,
erscheint
auf
diesem Boden als eine radikale Neuerung, ohne Wurzeln im historischen Leben.
Da das Bürgerthum eine verschwindende Minderzahl bildet und
die dumpfe Masse der Bauern
aller politischen Gedanken baar ist,
so
müßte der Schwerpunkt der reichsständischen Körperschaft — wie immer
man
sie sich denken mag — unvermeidlich bei dem Adel liegen, und
grade dieser Stand hat geringes Interesse an den Reformen, deren das Reich vor Allem bedarf.
Beseitigung der zahllosen unnützen Pensionen
und Sinecuren; Beschränkung der polizeilichen Willkür und strenge Controle über den Staatshaushalt, so daß die veröffentlichen Budget-Anschläge einigermaßen mit der Wirklichkeit übereinstimmen und das Volk wieder
Vertrauen gewinnt zu der Rechtschaffenheit der Regierung; Säuberung des
Beamtenthums im Heere und im Civildienste, wobei sich unausbleiblich Herausstellen muß, daß der Fleiß, das Talent und die Ehrlichkeit der ver haßten Deutschen dem Staate unentbehrlich sind; Ausbildung der neuen
kreisständischen Institutionen, deren Wirksamkeit bisher durch die Unlust des BeamtenthumS und des Adels verkümmert wurde; Pflege deö Volks
unterrichts und gründliche Umgestaltung der höheren Lehranstalten, deren hohle Scheinbildung heute dem Nihilismus den Boden düngt; Fortführung
der agrarischen Gesetze, so daß der altslavische Gemeinde -Communismus
aufgehoben und der Bauer ztim freien Eigenthümer wird: — dies Alles sind Reformen, deren Nothwendigkeit ein einsichtiger absoluter Herrscher
offenbar leichter einsehen kann als ein aristokratischer Reichstag.
Es ist
das große Räthsel der russischen Zukunft, ob die wilde Zerstörungslust de.r Nihilisten der Krone die Zeit gönnen wird, den über lang oder kurz un
vermeidlichen Uebergang zur reichsständischen Monarchie durch solche Maß regeln ruhig vorzubereiten.
Eine daheim so schwer bedrängte Regierung kann nicht wünschen sich
in kriegerische Abenteuer zu stürzen.
Allem Anschein
nach
wird
der
Petersburger Hof wieder einlenken in die Bahnen des Dreikaiserbünd nisses, die er niemals hätte verlassen sollen.
Die Doctrin der Pansla-
visten von dem unausbleiblichen Kampfe des SlaventhumS und des GermanenthumS ist ja doch nichts weiter als die neu jener ländergierigen alten Cabinetspolitik, natürlichen Feind des Nachbars
betrachtete.
aufgeputzte Weisheit
die jeden Nachbar
Für
als den
einen Staat der sich
nicht selber mit geheimen Eroberungsplänen trägt, bleibt ein starker und friedfertiger Nachbar der willkommenste aller Bundesgenossen.
Durch die
Freundschaft der beiden anderen Kaisermächte wird Rußland unangreifbar
und in den Stand gesetzt, seine ganze Kraft den Arbeiten der inneren
Die drei Ostmächte sind heute auch darum auf ein
Reform zu widmen.
ander angewiesen, weil sie einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen haben: jene heimathlose Verbrecherbande, welche die Grundlagen unsrer gejammten
Gesittung bedroht.
Bereits hat der Deutsche Reichstag die Reichsregierung
ersucht, durch internationale Verhandlungen dahin zu wirken, daß der politische Mord von allen Mächten als das was er ist, als ein gemeines Verbrechen behandelt werde.
Schon die Theilnahme der Polen an diesem
Beschlusse beweist, daß dem Reichstage nichts ferner lag als die Absicht, das Ashlrecht Englands und der Schweiz irgend zu beschränken.
Die Zeiten
Metternichs sind vorüber; alle Parteien ohne Ausnahme wissen heute aus
schmerzlicher Erfahrung, daß unser von gewaltigen inneren Gegensätzen zerrissener Welttheil einer friedlichen Zufluchtstätte für geschlagene poli
tische Kämpfer bedarf.
Die Absicht war lediglich, einen Rechtsgrundsatz
zur allgemeinen Anerkennung zu bringen, der dem sittlichen Bewußtsein
christlicher Völker unzweifelhaft entspricht und in die Gesetzgebung der meisten Staaten schon längst ausgenommen worden ist.
Gleichwohl ist es
überaus fraglich, ob dieser gerechte und maßvolle Vorschlag die Zustim mung der europäischen Mächte finden wird.
In England wird voraus
sichtlich die insularische Selbstgenügsamkeit, in der Schweiz die republi
kanische Phrase stärker sein als das Gefühl für die gemeinsamen Pflichten der civilisirten Staaten, und am Allerwenigsten wird die französische Re
publik, die vor Kurzem noch den Kaisermörder Hartmann unter ihren Schutz nahm, ihre Hand bieten zur Verfolgung des politischen Mordes.
In dem Verhalten der Franzosen seit der Katastrophe des 13. März zeigt sich keine Spur von dem Takte und der Gewandtheit, deren unsere
Nachbarn sich so gern rühmen.
Es schien wirklich, als ob alle Parteien,
wetteifernd in Verblendung, ihr Bestes thäten um den Erben Alexanders II.
von einem französischen Bündniß abzuschrecken.
Während die Männer
der Commune die Schreckenskunde aus Petersburg mit wieherndem Ge
lächter begrüßten, drängten sich die Organe der gemäßigten Parteien mit
plumpen Schmeicheleien, die den neuen Czaren fast noch mehr verletzen
mußten, an Kaiser Alexander III. heran und sprachen die Hoffnung aus, nunmehr werde Rußland den Franzosen die Kastanien des RachekriegeS
aus dem Feuer holen. blieben; das außer Frage.
Die Folgen solcher Thorheit sind nicht ausge
ersehnte französisch-russische Bündniß
steht vorläufig ganz
Trotzdem scheint der Weltfriede noch keineswegs gesichert;
denn der Augenblick rückt näher, da der Führer der Kriegspartei, Herr
Gambetta die so lange erstrebte Herrschaft über Frankreich antreten muß, wenn er sich
nicht
Mac Mahon ist
vernutzen
die
will.
Nebenregierung
Seit dem Sturze des Marschalls
Gambettas
für die rechtmäßige
Staatsgewalt immer unerträglicher geworden.
Soeben wieder hat der
künftige Dictator den Präsidenten der Republik zur Nachgiebigkeit ge
zwungen in jenem seltsamen, uns Deutschen kaum begreiflichen Streite um die Listenwahl.
Wie anders spiegelt sich doch das Bild der politischen Freiheit im Geiste der verschiedenen Nationen wieder!
klagten
von jeher
die Unterdrückung
Alle germanischen Völker be
der Minderheit als
die häßliche
Schattenseite deö Repräsentativshstems; Hare und Mill und viele deutsche Theoretiker haben sich abgemüht an Vorschlägen zur Beseitigung dieses Uebelstandes; in einzelnen Staaten Nordamerikas ist bereits ein neues Wahlverfahren eingeführt worden, das der Minderheit zu ihrem Rechte
verhelfen soll. heit als
In Frankreich dagegen gilt die Vernichtung der Minder
der Triumph der Freiheit.
Immer sobald die Nation einen
neuen politischen Gedanken ergriffen hatte, strebte sie unaufhaltsam jede Kraft, welche dieser Idee widerstand, zu unterdrücken; nur in der unbe
dingten, folgerechten Einheit findet der nationale Geist seine Befriedigung.
Wie das pays legal des Bürgerkönigthums die Bauern und den Adel mundtodt machte, wie der Bonapartismus das gebildete Bürgerthum von
dem politischen Leben ausschloß, so scheint den heutigen Gewalthabern der Sieg der Republik nur dann gesichert, wenn die Partei Gambettas mit
überwältigender Mehrheit das Abgeordnetenhaus beherrscht.
Für diesen
Zweck bietet die Listenwahl unter der Leitung der gambettistischen Präfekten das sichere Mittel, und sie wird, da das Ministerium bereits nachgegeben
hat, wahrscheinlich auch von den Senatoren und Deputirten angenommen
werden, zumal wenn man öffentlich über den Gesetzentwurf abstimmt; denn
so schwer lastet die Macht Gambettas schon auf den ängstlichen Gemüthern, daß viele Gegner des Entwurfs sich scheuen ihre Ueberzeugung öffentlich
zu bekennen.
Wird die Listenwahl eingeführt und dann der Mann der
Zukunft in sechzig Departements zugleich auf den Schild gehoben, so steht
ihm der Weg zur Gewalt offen; aber schon heute scheint es sehr zweifelhaft, ob der Dictator, einmal am Ruder, noch im Stande sein wird den hoch
gespannten Erwartungen der Nation zu genügen.
Gewiß lebt die Hoff
nung auf den Rachekrieg in den Tiefen jedes französischen Herzens, und
Dank den maßlosen Verleumdungen unserer Oppositionspresse wird die innere Festigkeit des Deutschen Reichs von den meisten Franzosen unter
schätzt; aber die Furcht vor der Ueberlegenheit des deutschen Heeres ist noch immer unvermindert, und selbst einem Gambetta wird es nicht leicht fallen die Nation zu einem aussichtslosen Kriege fortzureißen, wenn nicht zuvor die Gruppirung der europäischen Mächte sich vollständig verschoben hat. Bisher hat der Prätendent zwar in allen Fragen des inneren StaatS-
lebens regelmäßig seinen Willen durchgesetzt, aber die auswärtige Politik des Landes nicht zu bestimmen vermocht.
Seine kriegerischen Reden vom
letzten Herbst erweckten mehr Bestürzung als Beifall.
Unbekümmert um
Gambettas Widerspruch rüstet sich die'Regierung heute zum Kampfe gegen Tunis:
ein wohlberechtigtes, durch Frankreichs natürliche Interessen ge
botenes Unternehmen, das die geheimen Pläne der Kriegspartei durchkreuzt.
Die Haltung der Republik gegen das Ausland ist während- der letzten drei Jahre musterhaft besonnen geblieben, sie hat wesentlich dazu beigetragen, daß
die unaufhaltsame Zersetzung des osmanischen Reichs bisher ohne Störung
des allgemeinen Friedens verlaufen ist. Heute stehen die orientalischen Dinge abermals vor einer Krisis. Die unglücklichen Griechen ernten jetzt die Früchte ihrer alten Unterlassungssünden.
Berleitet durch Englands treulose Zu
reden und durch ihren ligenen Haß gegen Rußland haben sie während des letzten Türkenkrieges den Augenblick versäumt,
da ein großer Erfolg in
sicherer Aussicht stand, und stehen nun vor der peinlichen Wahl, ob sie sich mit einem halben Gewinne begnügen oder ohne Bundesgenossen einen
fast hoffnungslosen Kampf gegen die türkische Uebermacht wagen sollen. Alle Rücksichten der Klugheit sprechen für den Frieden, für die Annahme der wohlgemeinten Vermittelungsvorschläge der Großmächte.
Die kleine
Nation ist seit ihrer Befreiung zu einem friedlichen Handelsvolke ge worden, sie besitzt nicht mehr die kampfgewohnten Klephten des Unab hängigkeitskrieges und hat guten Grund die Erfüllung ihrer vollberechtigten
größeren Ansprüche auf eine günstigere Zeit zu vertagen, wenn sie heute ohne Schwertstreich den größten Theil von Thessalien und ein Stück von Epirus gewinnen kann.
In dem Verfahren der Großmächte liegt eine
Anerkennung der Rechte des Hellenenthums, die für Griechenlands Zukunft
fast noch werthvoller ist als der Landgewinn selbst; Europa betrachtet den Sultan nicht mehr als einen legitimen Herrscher, sondern verlangt von ihm die Abtreiung einer Provinz an einen Nachbarn, mit dem er nie
Krieg geführt hat — lediglich weil die Fremdherrschaft in Thessalien un
erträglich geworden ist. nach
so
Aber wer darf sagen, ob es noch möglich ist,
schweren Geldopfern
und Rüstungen die aufgeregte nationale
Leidenschaft der Hellenen zurückzuhalten?
Bricht der Krieg im Thale des
Peneus aus, so kann die Flamme deS Aufruhrs vielleicht auch in das wundersame Staatsgebilde, das sich Ostrumelien nennt, Hinüberschlagen und der Kampf um die letzten Trümmer deS Türkenreichs von Neuem
beginnen. — Erst die Nachwelt wird ganz erkennen, wie viel wachsame Umsicht, wie viel weise Mäßigung der Leiter der deutschen Politik hat aufbieten müssen um in einer solchen Zeit, da der Dauphin der französischen Republik beständig
lauernd auf dem Sprunge steht und im Osten eine nene Staatengesell schaft emporsteigt, unserem Laterlande durch ein Jahrzehnt den Frieden zu
erhalten.
Sie wird es nicht glauben wollen, daß in solchen Tagen eine
starke Partei ihre ganze Weisheit in dem Rufe „fort mit Bismarck!" zu
sammenfassen konnte.
Aber die Mehrheit der Nation stimmt in den
Schlachtruf des Parteifanatismus nicht ein.
Die conservative Strömung,
die seit drei Jahren unser Volk durchzieht, hält noch immer an, mit un gebrochener Kraft.
Es bedeutet nicht viel,
daß der Reichstag von den
Steuervorlagen der Regierung vermuthlich nur die Börsen- und vielleicht auch die Stempelsteuer annehmen wird.
Der Reichskanzler selbst legt auf
diese Entwürfe offenbar nur geringes Gewicht.
Den Mittelpunkt seiner
Steuerreformpläne bildet das Tabaksmonopol, und mit diesem Gedanken beginnt die öffentliche Meinung sich mehr und mehr zu befreunden. drei Jahren schrieben wir in diesen Blättern:
Vor
„Nur wenn mit voller
Sicherheit erwiesen wird, daß keine andere Form der Tabaksbesteuerung
für uns ein ausreichendes Ergebniß verspricht, nur dann läßt sich das radikale Mittel des Monopols vertheidigen*)." damals verlangten, ist seitdem erbracht worden.
Der Beweis, den wir
Jedermann giebt zu, daß
die neue Tabakssteuer, trotz ihrem geringen Ertrage, nicht mehr erheblich
erhöht werden kann; so wird denn, da nirgends ein anderer ausführbarer Vorschlag aufgetaucht ist, zur Herstellung des Gleichgewichts im Reichshaus halte schließlich nichts Anderes übrig bleiben als jenes radikale Mittel.
Inzwischen hat die Regierung zwei wichtige Erfolge errungen.
Der
katholische Clerus beginnt den Widerstand gegen das Staatsgesetz aufzu-
geberi.
In zwei Bisthümern ist bereits auf Grund der Mai- und Juli
gesetze die regelmäßige kirchliche Ordnung wiederhergestellt; und die Sprache der beiden neuen BiSthumsverweser läßt nichts zu wünschen übrig.
Hält
der Staat mit zäher Geduld an seinem guten Rechte fest, weist er uner
bittlich, wie soeben noch in Trier, jeden Winkelzug der Ultramontanen zurück, so kann die Beilegung des langen Streites nicht ausbleiben.
Die
allffällig veränderte Haltung des Centrums beweist, daß Papst Leo XIII.
nicht gewillt ist in die Fußtapfen seines Vorgängers zu treten. — Auch die Hansestädte haben endlich beschlossen, den Eintritt in das deutsche Zoll gebiet mindestens in Erwägung zu ziehen.
Noch läßt sich nicht mit Sicher
heit erkennen, ob dieser ersten Nachgiebigkeit die Vereinigung folgen wird. In: schlimmsten Falle bleibt dem Reiche noch ein letzter, vollkommen recht
mäßiger Weg um den Anschluß der Städte zu erzwingen.
Da die Be
stimmung der Zollgrenzen dem Bundesrathe allein zusteht, wie dem Kaiser *) Preußische Jahrbücher 10. Marz 1878.
das Dislokationsrecht über die Garnisonen, und der Reichstag in solchen
Fällen lediglich die Kosten zu bewilligen hat, so ist der BundeSrath un zweifelhaft berechtigt, die Hauptzollämter in Hamburg und Brechen aufzu
heben und den beiden Städten zu überlassen, wie sie sich ihre Freihäfen selber sichern wollen.
ES wäre ein Jammer, wenn unter Bundesgenossen
Bei gutem Willen hüben
der Gebrauch so scharfer Waffen nöthig würde.
und drüben muß die Verständigung gelingen; dem Reichstage wird kein Geldopfer zu schwer dünken um unseren beiden größten Häfen den Bestand
ihres freien Zwischenhandels zu sichern. Mit der Novelle zur Gewerbeordnung
und dem Gesetze über die
Uufallsversicherung versucht die Reichsregierung endlich die Versprechungen
einzulösen, welche bei der Berathung des Socialistengesetzes von allen
Parteien im Wetteifer gegeben wurden; sie versucht den berechtigten Be
schwerden der arbeitenden Klassen abzuhelfen, die Arbeiter emporzuheben aus dem Zustande der Hilflosigkeit und Vereinzelung, dem sie unter der
Herrschaft des freien Wettbewerbs so leicht verfallen.
Begreiflich genug,
daß die Urtheile über die Reichsversicherungsanstalt noch weit auseinander
gehen; der Gedanke ist neu und kühn, er widerspricht manchen tief einge
wurzelten socialen Gewohnheiten.
Bei reiflicher Prüfung wird sich doch
herausstellen, daß der Plan der Regierung im Wesentlichen das Rechte
trifft.
Der Schutz gegen Unfälle eignet sich nicht für eine gewinnbringende,
spekulative Geschäftsthätigkeit;
und zwingt der Staat die Unternehmer
und die Arbeiter zur Versicherung, so. ist er auch verpflichtet, das Ver
sicherungsgeschäft selbst zu besorgen — mindestens zur Aushilfe, wenn die Kraft der Privat-Unternehmungen nicht ausreicht.
Die Frage, wie
weit die Wirksamkeit des Staates unmittelbar in das sociale Leben ein
greifen dürfe, kann nicht für alle Staaten in der gleichen Weise beant wortet werden.
Die Doctrin darf sich nicht anmaßen, dem Staate ein-
für allemal ein Bis hierhin und nicht weiter! zuzurufen;
die Grenze
seiner Thätigkeit bestimmt sich nach dem Maße der geistigen Kräfte,
worüber er verfügt, und nach dem Ansehen, dessen er genießt.
Der
deutsche Staat besitzt das beste Beamtenthum der Welt, und trotz aller
Parteikämpfe ist den Massen das Vertrauen zu seiner Gerechtigkeit und seinem Wohlwollen noch nicht abhanden gekommen; darum darf er auch ohne Gefahr sich an manche socialpolitische Aufgaben wagen, deren Lösung andere Völker der Gesellschaft selbst überlassen.
Die Reichsregierung gesteht selbst, daß sie mit diesem Gesetze nur den ersten Schritt gethan hat auf formen,
dem Wege der socialpolitischen Re
die in den nächsten Jahren unsere Gesetzgebung überwiegend
beschäftigen werden.
Zur Zeit des norddeutschen Bundes und noch in
den ersten Jahren des deutschen Reichs, so lange die freie Bewegung der
wirthschaftlichen Kräfte unserem zersplitterten und gebundenen Volke erst errungen werden mußte,
erschien der Liberalismus als die produktivste
Partei und stand im Vordergründe unseres nationalen Lebens.
Heute,
da die Nation die Uebelstände des Systems der freien Concurrenz zu
erkennen anfängt, tritt die Macht des Liberalismus naturgemäß zurück. Seine freieren Köpfe beginnen ihre alte Doctrin zu prüfen und nähern
Wer aber zu solcher Selbst
sich dadurch den conservativen Anschauungen.
kritik nicht fähig ist, wird irr an der verwandelten Zeit und verfällt der pessimistischen Verbitterung.
Bei solcher Verstimmung blüht der Weizen
der unfruchtbarsten aller Parteien, der Fortschrittspartei; wer sich irgend ent täuscht und geärgert fühlt wendet sich diesem Banner zu. nisten
sind schon
in die Trabantenschaar
Die Secessio-
des Fortschritts
eingetreten;
die erklärten Feinde des Reichs, die demokratischer Particularisten der süd deutschen Volkspartei schließen sich der Politik der reinen Verneinung an;
die Sonderinteressen der Hansestädte, die doch sicherlich mit dem Libera lismus nicht das Mindeste gemein haben, finden im Lager der Fort schrittspartei und ihrer Genossen die wärmsten Verehrer.
Liberale warnen bereits vor den Gefahren
Selbst gemäßigte
einer unitarischen Politik,
während auf der anderen Seite manche conservative Particularisten ehr lich ihren Frieden mit dem Reichskanzler geschlossen haben, weil sie ein
sehen, daß allein das Reich uns Deutschen den Bestand fester politischer Ordnung verbürgt.
reits ausgegeben;
Das Feldgeschrei für den neuen Wahlkampf ist be
es lautet:
für oder wider eine starke Reichsgewalt?
für oder wider den Reichskanzler?
Wer auf diese Fragen keine runde
Antwort findet wird zur Seite geschoben.
Wir stehen mitten in der Neubildung der alten Parteien und müssen
den Staub der Verleumdungen und der Anklagen, der in solchen Uebergangszeiten die Luft zu verfinstern pflegt, gelassen ertragen.
Eine voll
ständige Neugestaltung unseres zerfahrenen Parteiwesens bleibt freilich un möglich, so lange die confessionelle Politik des Centrums sich als eine unberechenbare Größe zwischen die rein politischen Parteien einschiebt; und
die
letzte Stunde des Centrums kann erst schlagen, wenn
der Streit
zwischen Staat und Kirche durch einen ehrlichen Waffenstillstand beendigt
ist.
Aber ein großer Schritt vorwärts ist eS doch, daß die Fortschritts
partei heute
alle Kräfte der partikularistischen und der
demokratischen
Anarchie um sich versammelt und also die treuen Anhänger des Reichs
auf den rechten Weg weist.
Die Parteien der Opposition verschießen ihr
Pulver zu früh; eine so grundlose Verstimmung, wie sie heute durch die
Reiseprediger des Fortschritts künstlich genährt wird, kann in einem ver-
Zur Sage.
442 ständigen Volke nicht
lcvige währen.
Die Reichsregierung
aber wird
sicherlich nicht so unklug sein, jetzt schon die Einberufung des Reichstags für den Oktober zu versprechen. Nach dem bestehenden Verfas/ungsrechte
behält sie freie Hand, die Sturmfluth der radikalen Phrase verlaufen zu
lassen und die Wahlen bis in den Winter zu verschieben.
Wählt sie den
Zeitpunkt richtig, so wird es sich zeigen, daß die Nation nicht gewillt ist zu den unfruchtbaren Doktrinen der Conflicts-Epoche zurückzukehren. 10. April.
Heinrich von Treitschke.
Notizen. Das Haus Wittelsbach und Geschichte.
28. Juli 1880
seine Bedeutung in der deutschen
Festrede zur Feier in
des Wittelsbach'schen Jubiläums,
am
der k. b. Akademie der Wissenschaften gehalten
von
I. von Döllinger.
(Nördlingen, Verlag der C. H. Beck'schen Buch
handlung, 1880.)
Erfreulich und dankenswerth erscheint es, daß Döllinger die Festrede,
welche er als Präsident der k. b. Akademie der Wissenschaften zur vorjährigen
Feier der siebenhundertjährigen Verbindung Bayern's mit dem Hause Wittelsbach gehalten, weiteren Kreisen durch den Druck zugänglich gemacht hat.
Die Auf
gabe, an solcher Stelle und bei solcher Gelegenheit das geschichtliche Urtheil darüber festzustellen, was das erlauchte Geschlecht für Deutschland im Verlauf
der Zeiten und Schicksale des Vaterlandes zu bedeuten habe, war, ernst ge nommen, wie dies bei Döllinger nicht anders sein kann, ganz besonders delicat
und schwierig: sie konnte nicht würdevoller gelöst werden.
Der greise Festredner
giebt in gedrängter Kürze (ans 34 Druckseiten) das vollständige Bild der Ent
wicklung der Beziehungen des Wittelsbacher Hauses zu Reich und Nation.
Es
geschieht dies mit unbestechlicher Wahrheitsliebe und in vornehmer Unbefangen
heit.
Nichts ist darin verschwiegen oder bemäntelt.
Daß eines dunkeln Punktes
in der fürstlichen Familiengeschichte zweimal gedacht wird — das zweite mal
nicht ohne Absichtlichkeit —, geht beinahe zu weit. Stellung
Was Döllinger über die
der beiden getrennten Zweige des Geschlechts zur Reformation des
16. Jahrhunderts und deren politischen Folgen vorträgt, bezeugt die vollkommne Freiheit des Historikers von confessioneller Voreingenommenheit; dieser Abschnitt
der Festrede muß mit tiefer Genugthuung und mit Hochachtung erfüllen. —
Um so befremdlicher ist eine Abirrung vom Pfade geschichtlicher Wahrheit gegen das Ende der Festrede.
Ich meine damit nicht die Polemik auf S. 30 in Be
treff des Rheinbundes; ich wende nichts ein gegen die Worte „auf wie Viele und wieweit zurück vertheilt sich die Schuld!"
Döllinger würde sogar Recht
behalten, wenn die Leiter des bayrischen Staates damals invita Minerva ge handelt hätten, wie er es zwar nicht zu verstehen giebt, doch dahingestellt sein läßt, während das Gegentheil notorisch ist.
Auch will ich nicht allzuschwer be
tonen, daß nach Döllinger im Rieder Vertrag der König von Bayern „nicht ohne große Opfer an Gebiet"
rechtzeitig that, was die Lage erheischte: der
Vertrag vom 8. Oktober 1813 garantirte bekanntlich den ungeschmälerten Terri
torialbestand und bei etwanigen Abtretungen vollständigen Ersatz.
Aber, je
444
Notizen.
höher der Festredner als Gelehrter und als Charakter dasteht, desto verwerf licher erscheint der Wortlaut dessen, was auf S. 31 über Bayerns Verhältniß
zur Stiftung des deutschen Bundes der historischen Wahrheit ins Angesicht ge
sagt ist: „Dann aber mußten König und Volk in Ergebung das traurige Ge
schenk der Bundesverfassung hinnehmen, welches die europäischen Mächte für Deutschland, damit es nicht allzu stark und allzu einig werde, ersonnen hatten."
Waren dem Präsidenten der bayerischen Akademie der Wissenschaften Klüber's Acten des Wiener Congresies unzugänglich? Die europäischen Mächte, bis auf
Oesterreich und Preußen, waren ausgeschlossen von den Arbeiten über eine neue Verfassung Deutschlands
Die zuerst von Preußen aufgestellten Entwürfe
einer Bundesverfassung waren von Oesterreich auf das Aeußerste abgeschwächt worden.
Ein Minimum dessen, was noch eine nationale Verbindung vorstellen
konnte, stieß auf Bayerns entschiedenen Widerspruch.
Um Bayern zum Ein
tritt in den Bund zu gewinnen, wurde am Vormittag des 8. Juni 1815 die letzte Hand zur Verunstaltung des Verfassungswerks angelegt.
Und das deutsche
Volk hat dann „mit Ergebung das traurige Geschenk der Bundesverfasiung
hinnehmen müssen", das in Folge der von Bayern gestellten conditio sine qua non noch trauriger geworden war, als es Oesterreich gewünscht hatte, damit „Deutschland nicht allzu stark und allzu einig würde." Das steht actenmäßig fest. Wie war es möglich, daß Döllinger in diesem wichtigen Punkt ohne Sachkenntniß sein Urtheil fällte? Die hohe Unparteilichkeit der ganzen
Festrede berechtigt und verpflichtet, solchen lapsus calami illustrissimi mit Be dauern kenntlich zu machen.
—i—
Berichtigung. S. 308 Zeile 4—5 nicht „sicheren Lebensstellungen", sondern „höheren Lebens stellungen"; S. 310 Zeile 5 muß hinter „Wir meinen" ein Komma stehen; S. 310 Zeile 2 von unten nicht „den Breslauer Corps", sondern „der u. s. w."
Verantwortlicher Redacteur: H. v. Treitschke. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.
Die Entstehung des Volksbuches vom Dr. Faust.
i.
Dr. Georg Faust.
Man führt daS Puppenspiel, durch das Goethe in Straßburg zur
ersten, gleich alle Theile seiner großen Schöpfung umfassenden Conception
des Faust angeregt wurde, auf Marlowe'S Tragödie zurück.
Marlowe
hatte für sein Stück die englische Uebersetzung des 1587 zuerst gedruckten
Faustbuches benutzt, dessen Autor man nicht kennt.
Die internationale
Verbreitung des Faustbuches entsprang dem Umstande, daß es in eine
Zett fiel, wo an Zauberei und Hexerei allgemein geglaubt wurde und daß,
obgleich darin von geistigen, geistlichen und übernatürlichen Dingen die
Rede ist, weder die katholische noch die protestantische Geistlichkeit an seinem
Inhalte Anstoß genommen zu haben scheint.
Die „Historie von D. Fausten" besteht auS mehreren Theilen und diese aus Capiteln.
Man fühlt beim ersten Durchlesen die verschieden
artige Behandlung der einzelnen Partien und eS drängt sich die Beobachtung
auf, daß ein ursprünglich einfacher Kern mit Zusätzen umgeben worden
sei.
Scheidet man diese: eine Anzahl zusammenhangSloS aneinanderge
reihter Abenteuer, für welche sämmtlich die Quellen in der gleichzeitigen
Litteratur bereits nachgewtesen worden sind*) auS, so gewinnt die Fabel, besonders auch in örtlicher Beziehung, gerundete Gestalt.
Ein junger
Theologe ergiebt sich naturwissenschaftlichen Studien, ruft den Teufel an, schließt einen Contract mit ihm und wird nach Ablauf desselben fortgeholt.
Obgleich daS Volksbuch die Arbeit eines protestantischen Autors ist, hat seine Struktur weder mit Protestantismus noch mit Katholicismus
etwas zu thun. Der den Dr. Faust verführende Teufel ist confessionSloS. Nirgends liegen die Umschwünge und Effecte auf kirchlichem oder theolo gischem Gebiete.
Auch wird aus den LebenSumständen des historischen
Dr. Georg Faust, aus dessen Persönlichkeit der mythische Dr. Johannes *) Vgl. die Arbeiten von Düntzer, von Reichlin-Meldegg in Scheibles Kloster, u. A. Preußische Jahrbücher
Bd. XLV11. Heft 5.
30
Faust des Volksbuches geschaffen ward, nichts benutzt, das sich auf die
Reformation oder die Reformatoren bezöge, die heranzuziehen wohl Ge
legenheit gewesen wäre.
Daß dieser Dr. Georg Faust der eigentliche Held
deS Volksbuches sei, wird eingestanden.
Denn ohne sich um die abwei
chenden Vornamen zu kümmern giebt der zweite Druck von 1587 neben
dem in der ersten allein genannten Geburtsorte Roda in Thüringen noch Kundlingen an, woher Dr. Georg Faust, der auS Luthers, MelanchtonS und
Anderer Erwähnung überall bekannt war, stammen sollte.
Diesem histori
schen Georg Faust ist in neuerer Zeit scharf nachgespürt worden und die
betreffende Litteratur bekannt.
Zuerst erscheint er 1506 bei TrithemiuS, dem Abte von Sponheim,
der selber im Gerüche der Zauberei stand. einen Schwindler.
TrithemiuS erklärt ihn für
Fand der Doctor trotzdem jedoch später bei Franz
von Sickingen eine Zeitlang Aufnahme oder auch bei Speierschen und Erfurtischen geistlichen Herren Anerkennung, so muß der Grund hierfür
doch in etwas gelegen haben, das zu seinen Gunsten sprach.
Ebenso
spricht dafür in gewissem Sinne, daß MutianuS, Melanchthon und EraS-
muS, obgleich sie sich gegen ihn aussprechen, ihm offenbar doch eine ge
wisse Bedeutung zugestehen.
Gegen einen bloßen Gaukler und Land
streicher würden große Gelehrte nicht so heftig vorgegangen sein. MutianuS nennt
ihn
einmal
„HelmitheuS
HedebergensiSDüntzer
verbessert
„HemitheuS" und will durch das ausfallende und nebenan untergebrachte l
zugleich „Hedelbegensis" gewinnen.
HedebergensiS aber scheint ächt zu
sein. TrithemiuS' Familenname war „von Heidenberg". wohl,
um Tritheim einen Stich zu geben,
MutianuS wollte
Faust als Halbgott ä, la
Heidenberg charakterisiren.
Georg Faust macht den Leuten nirgends Hexenstücke vor.
TrithemiuS'
Brief, worin er sein Zusammentreffen mit ihm erzählt, war an den
Mathematiker Wirkung in Hasfurth gerichtet, der seinerseits Fausts An kunft mit Spannung entgegensah. voraus.
Es gehe ihm ein bedeutender Ruf
Und wenn Faust in Erfurt sich rühmte, Plato und Aristoteles
aus dem Kopfe hersagen zu wollen, so muß er mit der classischen Litteratur
irgendwie zu thun gehabt haben.
Bedenken erregt unter den verbürgten Nachrichten, die diesen Faust
betreffen, eigentlich nur der Titel, unter dem er sich bei TrithemiuS 1506 in Gelnhausen eingeführt hatte. recht berichtete:
Er nennt sich darauf, wenn TrithemiuS
Magister Georgius Sabellicus Faustas junior,
necromanticorum,
magus secundus,
pyromanticus, in hydra arte secundus.
chiromanticus,
fons
agromanticus,
In Erfurt dagegen soll er sich
den Titel philosophus philosophorum beigelegt haben.
Man fragt sich.
unter welchen Umständen konnte ein fahrender Gelehrter überhaupt darauf
kommen, sich mit diesen Ansprüchen zu introduciren? Auf Zauberei und Umgang mit Dämonen leiten die Worte nicht ge rade hin, er rühmt sich in ihnen mehr dessen was er wisse, als dessen waS er durch übernatürliche Hülfe etwa zu thun vermöge. Aber eS würde feiner Zeit ein gewiffer Grad von Kenntniß der Zauberet und von Be
kanntschaft mit Dämonen acceptiert worden sein ohne daß der, dem sie nachgesagt wurde, darum als ein Mensch dagestanden hätte, der sich dem Teufel ergab. Bei TrithemiuS allerdings ging die böse Nachrede soweit, daß er sich besonders reinigen mußte. An den Verkehr mit Dämonen und an die Hervorbringung außer ordentlicher Dinge durch ihre Macht wurde im Sinne des Augustinus im 15. und 16. Jahrhundert geglaubt. MephostophileS auS einer Ver stellung von p-T] To ? cpiXtov zu erklären, hat deshalb etwas für sich, weil in der damaligen Naturgeschichte der Dämonen eine besondere Claffe derjenigen figurierte „qui lucem oderint*)“. TrithemiuS stellte seinen Glauben an Prophezeiungen und -böse Geister so wenig in Abrede als Luther, oder als Melanchthon den feinigen an vorbedeutende Träume. TrithemiuS hielt eS schon deshalb für angezeigt, -In der Zauberei Be scheid zu wissen, weil an ihn als Geistlichen die Aufgabe herantreten könne, einen Zauberer mit seinen eigenen Waffen zu bekämpfen. Ob Zauber gegen Verzauberung angewandt werden dürfe, war eine strittige Materie.
An Verzauberung wurde geglaubt. Die Wissenschaft war damals um geben von dämmerigen unbekannten Gebieten, die noch Niemand exploriert
hatte. Marsilio Ficino, der streng religiöse Gesinnung mit platonischer Philosophie vereinigte, schrieb nieder waS ihm ein gleichzeitiger Grieche über das Wesen der Dämonen mitgetheilt hatte, und berichtet umständlich von sich selber, wie er in Florenz einen bösen Geist aus einem Haufe bannte. Frau von. Berlepsch, welche Luther auf der Wartburg be
suchen wollte, hörte NachtS dort das Rumoren der Teufel. Hätte Dr. Georg FaustuS deshalb mit solchen Dingen zu thun gehabt, so war
dergleichen seiner Zeit mit wissenschaftlichen Range wohl vereinbar. Indessen, ich wiederhole, eS leitet jener Titel, den Faust sich beilegt, nicht eigentlich darauf hin. TrithemiuS berichtet in seiner Sponheimer Chronik**) von einem an
dern Italiener — denn auch Dr. Faust, wenn Sabellicus seine Herkunft angiebt, mußte ein Italiener sein, mochte immerhin Knltllngen als sein Geburtsort angegeben werden — welcher 1501 am Hofe des Königs von
*) Marstl. Ficin. Opp. Ed. Basil. 1940 ff. **) Vgl. auch BnlaenS Hist. Univers. Paris.
1673.
VI, 5.
Frankreich erschien und Alles zu wissen behauptete, was menschlicher Ver stand überhaupt zu wissen im Stande sei.
Er führt den Namen Johannes,
betitelt sich philosophus philosophorum oder auch „Mercurius, Bote
der Götter" (wobei ich daran erinnere, daß der Rabe welcher die Feder zur Unterschrift des Contractes mit dem Teufel bringt, im Faustbuche den
Namen Mercurius führt).
Er behauptet, vom Himmel gesandt zu sein,
und findet Glauben beim Könige, der ihn von seinen gelehrten Aerzten prüfen ließ.
Möglicherweise hat dieser Italiener Johannes und philosophus philo sophorum dem
Faust des Volksbuches (dessen Autor in TrithemiuS'
Schriften wohl bewandert war) zum Vornamen Johannes verhelfen, viel wichtiger aber ist die Art feines Auftretens überhaupt für das Fausts,
der in einer Zeit, in der die hereinbrechende Cultur des Alterthumes den
ganzen geistigen Zustand aus den Fugen brachte, sich in ähnlicher Weise, wie eS scheint, eine Carriere als Philosoph auf eigne Gefahr zu schaffen
versuchte. Bekannt ist die Rolle, welche im -Quattrocento die wiederaufgenom
mene platonische Philosophie in Italien spielte, deren Anhänger sich bis zur Gründung einer platonischen Serie außerhalb der Kirche steigerten.
(Wenigstens ist der Vorwurf erhoben worden.)
Nun sehen wir in den
Zeiten deS römischen KaiserthumeS, gleichzeitig mit dem späteren Plato nismus, auf den es dem Quattrocento vielleicht mehr ankam als auf den ursprünglichen Platons selber, sich die Kyniker erheben und in ihrer Weise
den Platonikern entgegenstellen.
Ich beziehe mich auf Bernays' letztes
inhaltreiches Heft, Lucian und die Kyniker.
Möglich, daß das Studium
Lucians auch im Quattrocento ähnliche Gegensätze hervorrief.
Die Kyniker
deS Alterthumes nannten sich Boten Gottes*), abgesandt, um die Mensch heit zur Einfachheit zurückzuführen.
Sie setzen Alles auf ihre Person
allein und suchen sich rückhaltölos Gehör zu verschaffen.
ES kommt ihnen
nicht darauf an, Schule zu machen, sondern da wo sie gerade auftreten
mit allen Mitteln daS Feld zu behaupten.
Möglich daß der Italiener
Johannes und der Dr. Georg Faust bewußte Nachzügler dieser antiken
Kyniker, als Vertreter deS gewiß uralten Gegensatzes waren. Düntzer ist der Meinung, daß wenn Dr. Georg Faust in seiner
langen Titulatur sich Faustus junior nenne, FaustuS hier Nur als ein
Beiname zu fassen sei. Herkunft bezeichne.
Sabellicus sei der eigentliche Name, der seine
Auch Goethe hat das ausgenommen, denn in seinem
zweiten Theile heißt es: der Necromant aus Norcia, der Sabiner. Ist neben
*) Bernays, S. 41. Anm.
Georg „FaüstuS junior" also nur ein Beiname, so wäre festzustellen, wer der FaustuS major sei,
auf den sich junior bezieht.
Simrock hat den
Buchdrucker Johanne- Fust als solchen erkennen wollen, aber mit dieser Vermuthung keinen Anklang gefunden, da seine Annahme, es sei die Buch druckerei in Frankreich Anfangs für Teufelswerk gehalten worden, in der
That unrichtig ist. Faust giebt sich wie wir sehen auch übrigens die zweite Stelle: er nennt sich, magus secundus, in arte hydra secundus: wen hat er hier
im Sinne, dem er sich freiwillig unterordnet*)?
Wir können magus einfach mit Zauberer übersetzen, können es aber auch als Namen
fassen,
und hier ergäbe sich der historisch-mythische
Simon MaguS als Magus primus, in welchem Jemand, der sich in eine gewiffe Opposition zum Christenthume setzt, wohl seinen höhergestellten College» erblicken durfte.
Simon MaguS hatte sich in Rom vor Nero
in die Luft zu fliegen unterfangen, und war vom Teufel emporgeführt und herabgestürzt worden**). Nehmen wir Simon als den Magus major des Dr. Faust, so sähen wir nun auch, warum diesem später angedichtet worden
ist, er habe in Venedig in die Luft fliegen wollen und sei vom Teufel dann auS der Höhe herabgestürzt worden.
In arte hydra secundus aber
nennt Faust sich neben Pythagoras, welcher wie Augustinus erzählt***), in der Hydromantie erfahren war.
Durch Augustinus auch gelangen wir nun zu dem FaustuS major.
2. Der FaustuS des Augustinus.
Der Verfasser des FaustbucheS war so wenig im Stande, sein Ma
terial zu beherrschen, daß eS zuweilen den Anschein hat, als seien vor handene Papiere abgedruckt worden wie sie gerade dalagen.
Bei geringer
RedactionSmühe hätte er das Zusammengehörige wenigstens äußerlich
zueinander in Beziehung setzen können.
Aber diese Mühe hat man ent
weder gespart oder aber eS ist auS Unbekanntschaft mit dem literarischen
Müier so kunstlos verfahren worden.
Zu Marlowe'S Verdiensten gehört,
aus diesem Wüste daS effektvoll Zusammenpassende heraüszuwählen und
zu den einzelnen Acten seiner Tragödie abzurunden.
Der Schluß dieser Tragödie zumal bietet eine äußerst wirksame Ab-
*) Auch Johann v. Eyck nennt sich inschriftlich neben seinem älteren Bruder in arte secundus. **> Vgl. Gutenberg, Geschichte und Erdichtung, von A. v. d. Linde, S. 295. **♦) De civ. Dei, VII, 35.
Wechslung ernster und komischer Scenen dar.
Faust tafelt mit den Stu
denten in seinem Studierzimmer, Teufel die frische Schüsseln zutragen,
gehen über die Bühne.
Wagner stellt seine einsamen Betrachtungen dar
über an, daß es mit dem Doctor zu Ende gehe. Sein Hab und Gut habe
Faust ihm vermacht und prasse nur mit den Studenten um sich selbst zu vergessen.
Jetzt tritt Faust mit den jungen Leuten auf.
von Tisch und sind voll Uebermuth.
Sie kommen
Faust solle ihnen das größte Schön
heitswunder der Welt, die Helena, zeigen, und auf seine Beschwörung führt Mephisto unter den Klängen von Musik die Schönheit über die
Bühne.
Dann, nachdem die Studenten ihr Entzücken ausgesprochen, ver
lassen sie ihn und Faust bleibt mit Mephisto allein zurück. Jetzt ein Versuch, ihn in letzter Stunde noch zur Umkehr zu bewegen.
Es tritt auf ein „Alter Mann", nichts weiter ist gesagt, und beginnt ihm mit beweglichen Worten Vorstellungen zu machen. der Zauberei
lassen.
Er beschwört ihn, von
abzulassen und sich allein auf die Gnade Gottes zu ver
Erschüttert hört Faust die lange Rede an und verspricht Besserung,
worauf der Alte ihn verläßt und worauf schließlich Mephisto dann doch
wieder den guten Vorsatz in's Gegentheil verkehrt.
Diese Scene muß auf
der Bühne ungemeine Wirkung gethan haben.
Im Faustbuche gehört das Capitel, in dem dieser Bekehrungsversuch erzählt wird zu denen, welche außer Zusammenhang mit der allgemeinen Handlung stehen. „ein
Aber auch hier ist es ein „alter Mann", ohne Namen,
christlicher frommer
gottesfürchtiger
Schrift, auch ein Nachbar Dr. Fausts".
Arzt
und
Liebhaber
der H.
Im Faustbuche lädt dieser den
Dr. Faust zu sich zu Tische und vermahnt ihn, indem er mit vielen Be
legen der Bibel die Zauberei als ein Greuel vor Gott darstellt.
Die
dramatische Wirkung welche Marlowe aus dieser Episode zieht, fällt hier
fort, und die Fortsetzung, wie Faust den alten Mann zu hassen beginnt und sich mit Hülfe des Teufels
an ihm zu rächen versucht, (S. 187)
scheint zu den Verlängerungen zu gehören, an denen der Roman auch
sonst nicht arm ist. Die Quelle für diese Episode finden wir in den Confessionen des Augustinus, und zwar in einem Zusammenhänge, der uns überhaupt auf den Inhalt dieser wunderbaren Selbstbiographie hinweist. Augustinus war einfacher Leute Kind.
Seine Schuljahre und die
Anfänge seiner docierenden Thätigkeit spielen sich in seiner Vaterstadt
Tagaste ab.
Augustinus' Leben wird denen die sich mit Kunstgeschichte
beschäftigen in ganz eigenthümlicher Weise nahe gerückt.
In der Mitte
des Quattrocento, als die antiken Dinge noch mit voller Unbefangenheit
im Costüme der eigenen Zeit dargestellt zu werden, hat Benozzo Gozzoli
in einer Reihe von Scenen, recht eigentlich: in vielen Bildern, den Lebens
lauf deS Augustinus in S. Agostino zu Gimignano auf die Wände ge
malt.
Er tritt uns da entgegen als habe er leibhaftig in das Zeitalter
der Reformation hineingeragt.
Wir sehen ihn von den frühsten Zeiten
ab, wo er vom Schulmeister ausgenommen und bestraft wird, in Carthago,
in Rom, in Mailand u. s. w. bis zu seinem Ende. Augustinus erzählt von den bösen unb leidenschaftlichen Gedanken
die ihn als Kind und jungen Mann erfüllten, und wie es seinen Eltern nicht- gelungen sei, ihn zum Christenthllme herüberzuziehen.
Sein mit un
gestümer Kraft nach eigener speculierender Thätigkeit drängender Geist
brachte ihn vielmehr auf die Bücher der Manichäer, und die oft glänzenden Resultate ihrer auf Vorberechnung der menschlichen Schicksale gerichteten
Bemühungen ihn zum Glauben, daß in dieser Richtung das wahre Heil
zu finden sei.
Augustinus glaubte eine Zeit lang mit den Manichäern
den Grund aller materiellen und sittlichen Erscheinungen aus den Bewe gungen der Gestirne ableiten zu dürfen, deren Lauf die Erscheinuugen
vorherbestimmten und den freien Willen des Menschen überwältigten.
Im
dritten Capitel des vierten Buches fährt er dann zu berichten fort, er sei einem Arzte, einem Greise, dessen Namen er hier nicht nennt, damals
nähergetreten und habe Genuß an seinen lebhaften und geistreichen Unter
weisungen gefunden.
Zwischen ihnen sei zur Sprache gekommen,
was
Augustinus in den Büchern der Bianichäer suche, und der alte Mann habe ihn in gütiger, väterlicher Weise ermahnt, sich von diesen Dingen
loszumachen.
Erfolg hätten seine Worte damals nicht bei ihm gehabt, was
Augustinus sich später zum Vorwurfe macht*). Die Uebereinstimmung des betreffenden Capitels im Fakistbuche mit
dieser Erzählung wird Niemand
leugnen.
Der Verfasser
des Faust-
bucheS muß die Confessionen des Augustinus vor Augen gehabt haben.
Warum auch nicht?
Wir brauchen nur nachzurechnen, wieviel Ausgaben
der Werke des Augustinus in'S Jahrhundert der Reformation fallen und
wie verbreitet die Kenntniß seiner Schriften war.
Er und Hiernonymus
sind die beiden Kirchenväter gewesen, an denen Erasmus und Luther, jeder
*) VI, 3. — Erat eo tempore vir sagax medicae artis peritissimus atque in ea nobilissimus.--- Quia enim factus ei eram familiarior et ejus sermonibus adsiduus et fixus inhaerebam. Ubi cognovit ex colloquio meo, libris genethliarorum me esse deditum, benigne ac paterne monuit, ut eos abjiciam, cet. Faustbuch. S. 181. Ein Christlicher frommer Gottesförchtiger Artzt, vnd Lieb haber der H. Schrifft, auch ein Nachbawr deß D. Fausti, als er sahe, daß viel Stu denten jren Auß und Eingang, als ein Schlupfwinkel, darinnen der Teuffel mit seinem Anhang, vnd nit Gott mit seinen lieben Engeln wohneten, bei dem D. Fausto hatten, nahm er jme für, D. Faustum von seinem Teuffelischem gottlosen Wesen abzumahnen rc.
in seiner Weise, für den großen Kampf zu Gunsten der individuellen Freiheit in Glaubenssachen sich begeisterten.
Ein Theologe, oder auch ein nur
oberflächlich theologisch angehauchter Schriftsteller ihrer Zeit,
der diese
beiden Autoren nicht aufzuschlagen verstanden hätte, ist kaum denkbar. Thun sich so nun aber die Schriften des Augustinus und zumal seine
Confessionen als Quelle deS FaustbucheS auf, so muß FaustuS, Bischof
der Manichäer, dessen Bekanntschaft Augustinus so dringend wünschte und gegen den er später so eifrig geschrieben hat, schon deshalb in Betracht
gezogen werden, weil die Uebereinstimmung seines Namens mit dem des Dr. Faust die Möglichkeit weiterer Analogien offen hält.
Das große LebenSereigniß war für Augustinus das Zusammentreffen
mit diesem Manne, auf den er viele Jahre gewartet hatte, und dessen liebens würdige, geistreiche Art ihn Anfangs bezauberte.
Augustinus war jener
Zeit, unserer Terminologie nach, Privatdocent an der Universität zu Car-
thago.
Er vertallschte diese Stellung später mit einer ähnlichen in Rom,
weil ihm die Sitten der Carthagischen Studenten nicht mehr zusagten und ihm gesagt worden war, daß eS in Rom erträglicher zugehe. an beiden Stellen Vorlesungen über Rhetorik.
Er hielt
Bald mußte er dann die
Entdeckung machen, daß FaustuS' Wissen begrenzt sei.
Augustinus hatte
eine gründliche classische Bildung empfangen und merkte daß diese FaustuS
abgehe.
Dies erkältete aber nur seinen Eifer für die Person, nicht für
die Sache.
Die Hartnäckigkeit, mit der er lange am Manichäismus fest
hielt, zeigt, einen wie logisch denkenden, auf das demonstrirbare sich rich tenden Geist Augustinus hatte.
Erst in der höchsten inneren Bedrängniß
ging ihm auf, es müsse geglaubt werden wo nicht mehr begriffen werden
könne. Vergleichen wir nun. Der Faust des Volksbuches kommt als Sohn von Bauersleuten, guten, gläubigen Christen, in einem kleinen Orte in der Nähe einer Uni
versität zur Welt.
Zum Theologen bestimmt, führt ihn der angeborene
„Vorwitz" zu mathematischen,
astronomischen, nigromantischen Studien.
Immer weiter dringt er vor, bis er endlich Mephisto begegnet. Die innere Aehnlichkeit des Faustbuches mit dem Beginn der Con
fessionen ist so auffallend, daß der Gedanke sich aufdrängt, eS habe der
Verfasser des ersteren gleichsam als Gegenstück zu Augustinus, bei dem sich Alles endlich zum Guten lenkt, die Geschichte deS Manichäers Faust
selbst schreiben wollen, bei dem der Teufel zuletzt den Sieg davonträgt. Dies würde die Frage aufrufen, wieweit in den Gesprächen Fausts mit Mephisto Dinge vorkommen, welche den zwischen Augustinus und den Manichäern waltenden Streitigkeiten entsprächen.
ES ist schwer jedoch, hier
auf ein brauchbares Resultat zu kommen, weil das Faustbuch, so unge reimte Lehren enthält, daß die Absicht vorausgesetzt werden muß, man
habe all diesen Unsinn absichtlich hergestellt, um consessionell unschuldig und unschädlich zu erscheinen.
Auch gesteht die Vorrede zu, man habe alles
ärgerliche aus dem Buche herausgebracht*). der ManichäiSmuS trotzdem durchzubrechen.
An einigen Stellen scheint Die Manichäer wollen nichts
von der Ehe wissen**): hierauf bezieht sich die Sorge Mephisto'- (S. 31)
Faust von dem Gedanken an eine Heirath abzubringen.
Die Manichäer
vertreten die aristotelische Lehre von der Ewigkeit der Materie, wie die Welt
nie geschaffen sei und niemals untergehen könne:
die Lehre, gegen welche
de- Augustinus elftes Buch der Konfessionen gerichtet war, wo er die
Frage beantwortet, was Gott denn gethan habe ehe er die Welt geschaffen hatte und als noch keine Zeit war.
DaS Schönste und Tiefste, was je über
Zeit und Ewigkeit gesagt worden ist.
Wir finden die Ansicht von der
Ewigkeit der Materie im Faustbuche (S. 75) reproduciert, wo die Welt „uuerboreu und unsterblich" genannt wird und wo um diese Stelle recht hervorzuheben
die Randbemerkung in den Text eingerückt worden
„Teuffel, du leugst, Gottes Wort lert anders hievon".
ist:
Offenbar war
der Drucker des Buches sich bewußt, daß geistlicherseits an dieser Stelle besonderer Anstoß genommen werden könne, und suchte sich durch das ein
gedruckte Marginale zu sichern.
Ja eS wird am Schluffe des Capitels,
als wettere Garantie gegen den Borwurf, dergleichen überhaupt vor
gebracht zu haben, hinzugesetzt, Faust habe sich von dieser Erzählung nicht überzeugen können, sich vielmehr dem Geiste gegenüber auf das erste Ca
pitel der Genesis berufen, auf das der Geist selber nicht viel zu erwidern
im Stande gewesen sei. —
Suchen wir den Punkt zu bestimmen, zu dem uns unsere Beobach tungen bis jetzt gelangen lassen. Der Verfasser des Volksbuches hat die Absicht, die Sensation machende
Geschichte
eines Zauberers zu erzählen.
Er wählt
die
Person
deS
Dr. Georg Faust, der in der theologischen zeitläuftigen Litteratur eine
Rolle spielte.
Er benutzt, um die Reihe der dem Dr. Georg Faust an-
gedichteten Hexenstücke zu vermehren, Trithemius' und Anderer Bücher,
*) In der Zueignung sagt Spieß (der Drucker und Verleger deS Volksbuches), die Historie sei ihm „neulich durch einen guten Freund ans Speier mitgetheilt Und zugefchickt worden", in der Vorrede, er habe „mit Rath etlicher gelehrter und verstendiger Leut" das schreckliche Exempel vor Augen stellen wollen, auch sei „mit Fleiß umgangen und ausgelassen worden" „bie formae conjnrationum, und waS sonst darin ärgerlich sein möchte, und allein daS gesetzt, waS jedermann zur War nung und Besserung dienen mag". **) Aug. Opp. Ed. Par. 1586. I, 342. 6, D. Zum Folgenden 346.
in denen dergleichen zu finden war.
Zur Grundlage des Ganzen aber
wird, als Pendant dessen gleichsam, was Augustinus in den Confessionen
von sich selbst erzählt, der Lebenslauf eines Wittenberger Universitäts lehrers gemacht, und die Teufelslehre der alten Manichäer benutzt, um in den Unglauben des Romanhelden ein gewisses System zu bringen.
Manichäismus und Teufelsdienst waren dem Zeitalter der Reformation identisch.
Wir werden nun aber sehen, daß die dem Verfasser deS Faust-
bucheS offen stehende Litteratur hiermit noch nicht abschließt.
3.
Faustus in Paris. Die dem Dr. Georg Faust, von denen die persönlich mit ihm zu sammengetroffen sein wollten, angedichteten Zaubereien, reducieren sich auf
sehr Weniges.
Genau genommen ist nur die einzige Geschichte hier an
zuführen, die Johannes Gast aus den eignen Erlebnissen erzählt (Düntzer, 44) und die in ihrer Einfachheit kaum ein Abenteuer zu nennen ist.
Gast will einmal mit Dr. Georg Faust in Basel im großen Collegium
gespeist haben, wobei dieser dem Koche Vögel zum Braten gegeben habe, von denen Gast nicht gewußt, wo Faust sie gekauft oder wer sie ihm ge geben hätte, wie sie jedenfalls damals in Basel nicht verkauft worden, auch keine dergleichen in der Gegend dort gesehen worden seien.
So einfach und ohne Pointe konnte man das für das Faustbuch nicht brauchen, in ausgedehnter Form jedoch kehrt die Geschichte unter verschie
denen Gestalten darin wieder.
Man schlug Anderes hinzu.
Von Trithe-
mius war erzählt worden*), er habe einmal ein Gericht Fische einfach
aus dem offenen Fenster hereingenommen und aufgesetzt: dem Dr. Faust müssen im Volksbuche deshalb die unbekannten Vögel auf Befehl zum Fenster hereinfliegen, um gebraten zu werden, rc.
Wie aber kommt Gast überhaupt dazu, als etwas Besonderes zu er zählen, daß irgend Jemand in Basel unbekannte Vögel zum Braten ge
geben habe? Jeder Fremde,
der von auswärts zugereist kommt, kann
fremde Vögel mitbringen ohne dadurch etwas zu thun, was ihn in den Geruch der Zauberei bringt. Fausts Befehl plötzlich
Wären, wie im Volksbuche, die Vögel auf
erschienen,
oder
wären sie hinterher gebraten
auS der Pfanne fortgeflogen oder dgl., so war etwas zu verwundern dabei.
Und doch giebt die Geschichte gerade in ihrer einfachen Form und
dadurch, daß sie nach Basel verlegt wird, Gelegenheit, nun einen dritten Vertreter
deS Namens Dr. Faustus noch einzuführen, der zugleich für
*) Pirckheimer sollte das dem Melanchthon erzählt haben.
Widmann, III, 101.
ein Element eintritt, das im Fanftbuche eine bedeutende Rolle spielt, und für das weder die Erlebnisse des Dr. Georg Faust noch die des Bischof
Faust die Unterlage bieten: das erotische. Dr. Johannes Faust des Faustbuches buhlt mit der Helena Homers und mit andern Weibern und hat
der die Gestalt einer schönen Frau annimmt, zur Geliebten. Hierfür brauchen wir eine Quelle. Wir werden bei der Bekanntschaft des dritten Dr. Faust nun auch eine zweite noch finden, aüS zuletzt den Teufel selbst,
der die Sage, daß Faust durch die Luft geflogen sei, geschöpft sein konnte. Dieser dritte Faust ist wiederum ein Italiener und der Schauplatz
seines Lebens und Wirkens Paris. Wurde später durch die protestantischen Theologen Deutschland zu dem eigentlichen Universitätslande gemacht, wo die großen Fragen zum
gelehrten Austrage gelangten, so war bis dahin Frankreich die Stätte der liberalen theologischen Bewegung gewesen. In Paris strömten die Studenten aus allen Ländern zusammen. Erasmus gravitiert am stärksten nach Paris. Hier wurde am leidenschaftlichsten gelernt und gelehrt und hier sind die ersten Ketzer verbrannt worden. Unter den jüngeren Docenten der Pariser Universität, welche Erasmus bei feiner Studienzeit dort antraf, war einer der hervorragendsten Faustus Andrelinus aus Italien, kurzweg Faustus von ihm genannt. Ein Humanist, der durch die Protection eines hohen Herrn nach Frankreich gelangte. Faust's Hauptruhm war in Erasmus und der liberalen Stu
denten Augen, ein Feind der „Mönche" zu sein, welche die hergebrachte Scholastik vertraten. 1518 starb Faustus Andrelinus und Erasmus hat ihm durch einen Nachruf, sowie durch die Aufnahme einiger sowohl von
Faust herrührender als an ihn gerichteter Briefe in seine Sammlung, ein dauernderes Denkmal gesetzt als Andrelinus selbst sich durch seine Schriften zu errichten im Stande war*). Denn was an Gedrucktem von ihm vorhanden ist, sind entweder schlechte Elegien oder trockene Gelehr samkeit. Persönlich muß Faust eine starke Wirkung ausgeübt haben. Aus Eraömus Aeußerungen bei seinem Tode leuchtet hervor, daß wenn sein Lebenslauf zu vielen Bedenken Anlaß gegeben haben mochte, die Genialität des Mannes darüber hinwegsehen ließ.
Faust war berühmt.
Er war stark im Disputieren. Er herrschte lange in Paris. Wenn von EraSmus selber behauptet wurde, daß er mit dem Teufel im Bunde stehe,
so wäre nichts natürlicher gewesen, als wenn nach dem Tode Fausts in
*) Epi st. Ed. Lugd. 1518, S. 403: Periit apud Gallos Faustus qui diu regnavit Lutetiae. 1519, S. 535. 1521, S. 689: Lutetiae licuit Fqusto profiteri quoslibet poetas, usque ad naenias Priapeas, idque more, ne quid aliud dicatn, Faustino.
Paris von den Mönchen das Gleiche behauptet worden wäre.
WaS uns
heute in Fausts Elegien besonders entgegentritt, ist die derbe realistische
Sinnlichkeit, deren Stärke dem eigenen Jahrhundert, das in diesen Dingen doch nachsichtig war, auffiel.
In der frühsten Correspondenz deö EraSmuS nun, welche noch ins 15. Jahrhundert fällt,
befinden sich einige scherzhafte BilletS aus den
Zeiten seines Zusammenlebens mit Faust in Paris. Erasmus zu Tische ein.
ErasmuS fragt, was
Dieser lädt sich bei
er ihm vorsetzen solle.
„Ein höchst frugales Essen verlange ick, erwidert Faust, nichts als Fliegen und Ameisen."
„Was für Räthsel sind das, antwortet ErasmuS, meinst
Du daß ich ein OedipuS sei, um sie selbst zu rathen, oder daß ich eine
Sphinx im Bann habe, um mir ihre Auflösung zu verrathen.
Es kommt
mir freilich int Traume so vor, als seien mit Fliegen kleine Vögel und
mit Ameisen Kaninchen gemeint.
Nun aber Scherz bei Sette, ich muß
meine Einkäufe machen und bitte um eine Antwort ohne Räthsel." einen Oedipus habe ich Dich nie gehalten, antwortet Faust.
„Für
Setze mir
kleine Vögel vor und lassen wir die Kaninchen auf sich beruhen." Und vor diesem MittagSessen bereits, als EraSmuS Paris einmal
verlassen hatte, eine kleine Correspondenz zwischen ihm und FaustuS, aus
dem Jahre 1499.
„Es ist hier ein ganz anderer Kerl aus mir geworden,
meldet EraSmuS aus England.
Ich jage, ich reite, ich weiß mich bei Hofe
zu benehmen, meinen Diener zu machen, zu lächeln rc., freilich ohne alle
natürliche Anlage dazu.
Sei dem, wie ihm wolle, ich komme vorwärts und
auch Du, wenn Du vernünftig bist, machst Dich auf den Weg hierher.
WaS kann Dir daran liegen, mit Deiner feinen Nase in dem Pariser
Gestank alt zu werden? Teufel gehen.
Dein Podagra hält Dich fest, möge
eS zum
Wenn Du wüßtest, wie gut eS sich in England lebt, Du
flögest durch die Luft hierher, und wenn Dein Podagra Dich halten wollte,
gingest Du als DaedaluS durch die Lüfte davon. Beschreibung anfangen?
Womit soll ich meine
ES giebt reizende Mädchen hier, schön, liebens
würdig, gefällig, besser als Deine Musen, mit denen Du jetzt zu thun
hast.
Dabei herrscht hier die Sitte, daß beim Kommen und Gehen ge
küßt wird; wo man sich begegnet, vor allen Dingen ein paar Küsse, die
ganze Luft ist hier von Küssen voll.
Wenn Du von dieser sanften, appe
titlichen Waare einmal gekostet hättest, würdest Du Dein Leben nirgends
anders als hier zu beschließen wünschen*)."
*) Diese Briefe find schon in den früheren Briessammlungen des EraSmuS, der von .1538 z. B., enthalten. Faust'S Epistolae proverbiales hat Beatus RhenanuS '(1508 bereits in zweiter Auflage) herausgegeben. In seinen Amores vergleicht sich Faust selber einmal dem Ikarus. Sonst enthalten fie wenig Bezügliches.
Hier also hätten wir ersten« das Nest der Bögel" von denen Gast berichtet.
„unbekannten kleinen
Nun ist eS klar, warum diese gerade
in Basel gebraten sein sollten, der europäisch bekannten Residenz des
EraSmuS von Rotterdam: man hatte geglaubt, das Essen mit FaustuS habe in Basel stattgefunden.
Und nicht minder liegt für das Durchdie-
luftfliegen hier eine Herkunft und Bestätigung vor.
Bor allen Dingen
aber lieferten die englischen schönen Mädchen, um derentwillen EraSmuS Faust durch die Lüfte zu sich zaubern will, verbunden mit den eigenen
chntschen Liebesgedichten Fausts dke Möglichkeit, diesen im Fäustbuche als
Dem TrithemtuS war nachge
einen verbuhlten Menschen darzustellen.
sagt worden, er habe vor Kaiser Max die Jungfrau Maria erscheinen lassen*):
daraus war hald eine Helena hergestellt.
Auch daS Pariser
Studentenleben bot eine Befestigung des Wittenberger UniversitätSbodenS, auf dem der Faust des Volksbuches auftreten mußte, und EraSmuS, der trauernd zurückbleibende Freund, vielleicht das Urbild Wagners. Waren die Schriften des Augustinus dem 16. Jahrhundert geläufig,
so waren es die des EraSmuS nicht weniger.
In viel weitere Kreise
noch drangen diese ein.
Sie waren eine der Hauptquellen, aus der La
teinisch gelernt wurde.
FaustuS AndrelinuS und seine Correspondenz mit
EraSmuS
Verfasser
waren
dem
des
Faustbuches
gewiß
bekannt und
dürfen zu der Litteratur gerechnet werden, die dafür benutzt worden ist. 4.
Der Dr. Johannes Faust deS Volksbuches.
Wäre heute die Aufgabe gestellt worden, aus dem Materiale, welches Georg Faust, der Bischof Faust und FaustuS AndrelinuS bieten, einen im
Zeitalter der Reformation spielenden Sittenroman zu bilden, Genug
der Aufbau deS Ganzen keine Schwierigkeiten bieten.
so würde
Indivi
duelles wäre da anzubringen gewesen, und weder Spannung noch Zu sammenhang würde der Arbeit mangeln.
KeinenfallS aber hätte man
den Schwerpunkt in das Verhältniß zum Teufel gelegt, wie im Faust buche geschah, das
in seiner Composition recht als ein Product seiner
Zeit dasteht.
Die Gestalt eine« Gelehrten der sich dem Teufel verschreibt, tritt uns zuerst im alten Drama Theophilus entgegen: ein Geistlicher, dem
der Ehrgeiz keine Ruhe
läßt, schließt ein Bündniß
mit dem Teufel,
aus dessen Krallen ihn am letzten Ende die himmlische die Wendung,
zu
der
Goethe zurückgekehrt ist.
Gnade rettet:
Der Contract,
den
*) Scheible, Kloster II, 280, aus August Lerchheimer Christliche Bedenken und Er innerung vor Zauberei. 1586.
Dr. Faust mit dem Teufel schließt, mag von hier genommen sein.
übrigen bietet sich nichts Gemeinsames.
Im
Dafür, daß die Gestalt eines
Faust durch die Jahrhunderte die Menschheit gleichsam begleitet habe, so
daß
sie mit
einer
gewissen Nothwendigkeit
treten mußte, finde ich nirgends den Beweis.
immer wieder hervor
Was den späteren Typus
des Don Juan anlangt, so fehlt bei diesem die Verführung und der Con-
Und wenn man den Kaufmann deS Naogeorg und was damit zu
tract.
sammenhängt, citieren wollte, so findet sich hier nur die dramatische Aus beutung der Gewissensangst deS sterbenden Sünders. die Ars moriendi anführen,
Ebensogut ließe sich
wo Engel und Teufel um die Seele des
Mir scheint, was die eigentliche Fabel anlangt, der
Menschen streiten.
Faust des Volksbuches eine originale Schöpfung zu sein. Wäre die katholische Schulcomödie des 16. und 17. Jahrhunderts in
größerem Maaßstabe gedruckt worden, so würden sich dagegen was die litterarische Form anlangt, in der uns das Volksbuch erscheint, allerlei
Conjecturen aufstellen lassen. Wir hören von einer in München aufgeführten
jesuitischen Schulcomödie „Luther", bei der am Schlüsse Luthers
Bild
verbrannt wurde*). Luther hatte für die Katholiken seinen eigenen mythi schen Lebenslauf.
Man vergleiche Luthers sogenanntes Hochzeitsgedicht**):
zu welchen Scenen diese Dinge ausgebeutet werden konnten!
Man be
merke auch, mit welch scharfem Auge die Katholiken Luthers sogenannte freiwillige Beichte,
über seine nächtliche Disputation mit dem Teufel,
herausfanden, der sich in Person ihm gestellt und zur Beseitigung der Was hätte sowohl dem katholischen als dem
Messe gebracht hatte***).
protestantischen Deutschland des 16. Jahrhunderts näher gelegen als ein
Bolksschauspiel,
in dem
wir, ganz
im Allgemeinen,
den Abfall vom
wahren Glauben und die endliche Strafe dafür vor Augen sähen? junger
Theologe citiert
den Teufel,
zwischen Genuß und Reue,
ergiebt sich
ihm,
Ein
kämpft lange
arbeitet sich immer tiefer in die Netze der
Hölle und wird endlich in sie hinabgezogen.
Läge ein Drama dieses In
haltes vor, so würde es als ein historisch nothwendiges Product der Epoche
betrachtet werden.
Sollte ein solches Drama vorhanden gewesen sein?
ES war oben von der stylistischen Ungleichheit des Faustbuches die
Rede.
Es theilt sich in einen
einfacheren Kern und in ornamentales,
*) Wißbadisch Wisenbriinlein, Frkfrt. 1610. Hist. XXXI. **) Bulaeus VI, 191. ***) Luther berichtet über diese nächtliche Disputation mit dem Teufel in seiner Schrift „Bon der Winckel-Messe und der Pfafsen-Weihe" 1533. Altenb. Ausgabe VI, 86 b ff. Darüber wie die Katholiken dieses Selbstbekennmiß Luthers ausbeuteten, siehe Vita et res gestae Lutheri Autore Casp. Vlenbergio, Cöln 1622, S. 134. (Das darin gegebene Citat der Jenenser Ausgabe stimmt nicht.)
abenteuerliches, der äußerlichen Behandlung nach leicht zu unterscheidendes Rankenwerk.
Suchen wir jetzt nun diesen Kern in denjenigen Capiteln,
in welchen die den eigentlichen Fortschritt des Romanes enthaltenen Um
schwünge enthalten sind, näher zu umschreiben und herauszuheben.
Zuerst würden bei dieser Operation diejenigen Partien fortfallen, die, wie wir vorweg annehmen dürfen, vom Autor des Faustbuches überhaupt gar nicht herrühren, sondern dem Romane wahrscheinlich vom Buchdrucker
angehängt sind.
Sie bieten keine Continuation, sondern abgerissen an
einandergereihte anekdotische Abenteuer, • deren litterarische sich bis zur plattsten Ungeschicktheit steigert. Situation auSgebeutet. nur wiederholt.
Behandlung
Wie wenig wird hier eine
Zuweilen wird dieselbe Geschichte anders gewandt
Wie völlig tritt hier die Absicht,
das Sündliche der
Zaubereien und des Umgangs mit Dämonen zri zeigen, zurück:
Faust
erscheint als Hexenmeister gewöhnlichen Schlages, dessen Triumph darin besteht, sich nach verübtem Streiche straflos davonmachen zu dürfen. Es fielen ferner fort die Capitel, welche Faust als Helden geogra phischer Luftreifen erscheinen lassen, in denen nur catalogische Notizen ge geben werden, in roher Nachahmung der Luftreise bei Lucian.
die Erzählung meist so dürr, daß jeder Reiz verschwindet*).
Hier ist
Es fallen
weiter fort die Expedition in die Hölle und zu den Gestirnen und das
dazugehörige alberne Zeug, bei fortwährender Wiederholung der gleichen ärmlichen Umstände. ES characterisieren sich ferner als unorganische Zusätze eine Anzahl Capitel, die nur Verbreiterungen sind, hervorgegangen aus
dem Fortspinnen der Disputationen mit dem Teufel, und denen jedes disputatorische Ziel fehlt, oder die, in noch roherer Form, als Responsa
des DoctorS an das Publikum oder des Teufels an den Doctor,
auf
Fragen naturphilosophischen Inhaltes erscheinen, ohne sonst mit der Er
zählung etwas zu thun haben.
Was von dieser zuletzt übrig bliebe, theilt
sich nun in zwei Hälften: in bloß berichtende Capitel und in solche, welche die eigentlich dramatisch
entscheidenden Momente der Geschichte FaustS enthalten:
gehaltene Darstellungen, die sich in eben dieser dramatischen
Form von den nur dialogisch zugeschnittenen Theilen unterscheiden.
Diese dramatisch gehaltenen Capitel also nun setzen wir zusammen,
roh wie die Reihenfolge sie aufeinanderfolgen läßt, und eS ergiebt sich eine theils auszugsweise gegebene, theils in theatralischer Darstellung er
scheinende fünfstetige Handlung, die am Schlüsse des Romanes so direct
*) Man bemerke die Scenen in Rom (S. 103). Die Verhöhnung des PabsteS ist im spottenden Sinne früherer Jahrhunderte ohne consessionellen Gegensatz. Ucberhanpt ist die Reise im katholischen Sinne arrangiert nnd zwar wiederum in dem früherer Zeiten.
460
Die Entstehung des Volksbuches vom Dr. Faust.
in die theatralische Form fällt, daß das Stück sich wie vor unsern Augen
abspielt. Folgendes Schema des Drama's etwa käme so zum Vorschein.
Erster Act. Faust tritt auf im Spesser Walde und beschwört den Teufel (S. 6).
Der graue Mönch erscheint (S. 10).
Sie disputieren.
Sie markten über
die Bedingungen, unter denen Faust sich ergeben will.
Und nun ächt
dramatisch: Faust sagt dem Geiste ab: man hält ihn für gerettet: da be sinnt er sich doch anders und bestellt ihn noch einmal zu sich (S. 14).
Zweiter Act.
Die Disputationen mit dem Teufel, in denen der Teufel ausweichende
Antworten geben will und Faust ihn nöthigt Rede zu stehen (S. 15).
Der
Vertrag, der mit dem eigenen Blute unterzeichnet wird (S. 22).
Nun
die verschiedenen höllischen Erscheinungen, die Vorstellung der Geister und
ihre Verwandlungen (S. 77).
Und als Aktschluß wieder ächt theatralisch:
Faust wünscht zu wissen, wer das Ungeziefer erschaffen habe, worauf der
Geist antwortet, die Teufel könnten sich auch in dergleichen verwandeln. Faust lacht und will es sehen und nun erfüllt sich das Gemach mit Ameisen, Egeln, Kuhfliegen, Grillen, Heuschrecken rc., die alle über ihn herfallen und
ihn von der Bühne treiben*) (S. 82). Dritter Act.
Faust als Zauberer in voller Machtfülle.
Er läßt vor dem Kaiser
die historischen Gespenster erscheinen (S. 137).
Er zaubert dem Ritter das
Geweih an die Stirn (S. 133).
Tische nehmen (S. 103 ff.).
(S. 145)**).
Er läßt dem Pabste die Schüsseln vom
Aktschluß:
er fliegt durch die Luft davon
Sein Diener fällt herunter und wird gefangen.
Vierter Act. ES sitzen in Wittenberg Fausts Zuhörer zusammen und haben nichts
rechtes zum Abendessen,
als plötzlich (vielleicht aus der Höhe herunter
fahrend) Faust erscheint und prächtiges Essen und Trinken herbeizaubert
(S. 165 ff.).
Nun die Musik und der Tanz der Affen.
treten der schönen Helena.
Dann das Auf
DaS Auftreten des Alten Mannes (S. 181).
Fausts zweiter Contrakt mit dem Teufel (S. 185).
Sein Testament
*) Ich erinnere auch hierfür an die Ameisen und Fliegen bei Erasmus. Ueber Beelzebub als Deus muscarum vgl. Bonaventura. Opp. XI, 254. Ed. Par. **) War in Leipzig Faust dargestellt, wie er durch die Luft davonfliegt, so war ebenda selbst FlaciuS (der Schüler Luthers) öffentlich auf die Wand gemalt zu sehen, wie er auf einem Bocke in die Unterwelt abreitet. Eisengrein, Centenarius I. Petri Nacherentini Carmen ad cathol. Lectorem. 1566. Nuper Apellaea (tnemini) qui rite tabella Pictue, setigero descendit ad infima capro Tartara. (Lipsenses opus hoc pinxere Magistri). Meister ober Magister?
(S. 201).
Das Gespräch mit dem Diener.
Sein Wehklagen (S. 205ff.)
Die Erscheinung des Geistes, der ihn verhöhnt.
Monologische Klage und
Vorausahnung der Höllenqual (S. 205 ff.). Fünfter Act, oder, wenn man will, Schluß des vierten. Fausts Ende und seine Entführung in die Hölle (S. 216 ff.).
Der vierte Act bereits ist vom Verfasser des Volksbuches so wenig in Erzählung verwandelt worden, daß die sich vordrängende Rede und die
oft nur angedeutete Handlung fast wie der Auszug eines Dramas erscheinen. Nur daß, was zusammenhängende Bühnenhandlung sein sollte, zu ein zelnen Abenteuern auseinandergerissen und durch unwesentliche Zusätze auf verschiedene Tage vertheilt, scheinbar außer Conttnuität gesetzt wird.
Ich weise auf diese seltsame Vermischung ausführlicher Expectorattonen
mit auszugsmäßig
gehaltenen Angaben der Handlung besonders hin.
Diese letzteren sind um so auffallender,
als der Verfasser sich nicht be
wußt gewesen zu sein scheint, wie inhaltsreich er hier ost schreibt.
Man ver
gleiche zum Beispiel die Erscheinung der Helena (S. 171), wie kurz und prägnant und voll dramatischen Lebens hier die Erzählung vorgeht, mit
der dicht darauf folgenden Geschichte von den zwo Personen, so D. FaustuS
zusammenkuppelt (S. 189), wie da Alles seinen gleichmäßigen epischen
Verlaus hat, der sich nirgends zum Scenischen steigert, oder mit der darauf
folgenden von dem blühenden Garten, den Faust mitten im December
hervorzaubert, wo wir das höchst lebendiger Behandlung fähige Abenteuer
kahl heruntererzählt finden, ohne daß eine Steigerung oder auch nur eine
gewiffe Erwartung zu erregen versucht worden wäre.
Die Dinge werden
trocken rapportiert, eines nach dem andern, während bei der Erscheinung
der Helena Alles voll Leben ist.
Wie Faust da erst mit seinen Künsten
prahlt, dann die Studenten Helena zu sehen begehren, er endlich ihrem Verlangen nachzukommen verspricht, nun den Befehl giebt, daß Keiner ein Wort sage oder von seinem Platz ausstehe oder gar Helena anrühre, dann zur Stube herausgeht und als er wieder erscheint, Helena ihm aus dem Fuße folgt.
Nun wird beschrieben wie schön sie sei, wie sie durch ihre
Coquetterie die Studenten außer sich bringt, die kaum an sich halten können, und wie Faust Helena dann fortführt.
Wie er darauf, als er zurückkommt,
nun da sie wieder sprechen dürfen, von den Studenten bestürmt wird, er müsse sie ihnen noch einmal zeigen, am nächsten Tage, damit sie wenig
stens einen Maler mitbringen könnten —:
man sieht das vor sich wie
auf. dem Theater und glaubt die Personen sprechen zu hören!
Und nun
plötzlich das Erscheinen des alten Mannes, dessen Rede, Fausts Zerknir schung, sein Jammern, der Hohn aus Mephistopheles Munde, dann die
erneute Wehklage Fausts und als Schluß die resignierte Erwartung des Prnißischc Jahrbücher. Bd.Xl.VII. Hefts.
31
letzten Ausganges.
Ueberall in diesen Scenen reicher Inhalt und fast
jedes Wort eine Steigerung für die theatralische Darstellung. steht hier sogar nicht auf der Höhe seines Originales.
durch Mephisto
Marlowe
Er läßt Helena
über die Bühne führen und beutet den Gegensatz der
Studenten, die immer dicht am Losbrechen sind, und Helena's, die durch
herausfordernde Künste dies hervorrufen zu wollen scheint, während Fanst
auf der einen Seite die Studenten zu beschwichtigen sucht, zugleich selbst aber von ihrer Schönheit hingerissen ist, nicht genug auS.
Der Verfasser
deS FaustbucheS scheint überhaupt nicht gewußt zu haben, wie kostbar der
Bühneneffect ist, den er beschreibt. Hat diese Comödie existiert und dem Verfasser des Faustbuches vor
gelegen? Oder hat dieser selbst zuerst ein Drama schreiben wollen' und ist dann zu der breiteren Form eines Romanes übergegangen?
Ich ent
halte mich hier nicht blos der Aufstellung von Vermuthungen, um nichts
Unvorsichtiges vorzubringen, sondern ich gestehe, daß mir deren nicht auf gestiegen sind.
Ich habe nach vielen Seiten Nachforschungen angestellt,
ohne noch zu einem Resultate gelangt zu sein.
Allerdings was den bisher
angenommenen Zusammenhang des Deutschen Volksschauspieles mit dem Stücke Marlowe'S anbetrifft, glaube ich bereits aussprechen zu dürfen,
daß das Deutsche Volksschauspiel weder auS Marlowe'S Stück noch aus dem Romane herzuleiten, sondern als eine selbständige Arbeit zu be trachten sei.
Vielleicht, daß eS, in entstellter Form, das enthielt, was
als ursprüngliches Material dem Autor des Volksbuches vorlag?
5. Goethe'S Faust. Ueberblicken wir die Elemente, welche zusammenkamen, um eine Ge stalt zu bilden, deren Existenz dem europäischen Publikum in eminenter
Weise von Anfang an einleuchtete, so erstaunen wir, wie verschiedenartige Schicksale und Gedanken sich im Rahmen einer elenden Puppencomödie endlich zueinanderfanden, auS der sie wie ein Funken der ein großes Feuer
entzündete, Goethe entgegensprangen.
Wie populär zu Goethe'S Zeiten
der Faust in Deutschland gewesen sei, zeigt neben den bekannten übrigen
Zeugnissen ein Brief Voltaire's an den Herzog von Braunschweig, vom Jahre 1767, in dem er von Rabelais und von Anderen handelt welche
angeklagt seien, von der christlichen Religion schlecht gesprochen zu haben.
Voltaire schreibt: „Ich kenne Ihren berühmten Dr. FaustuS nur aus dem Lustspiele, dessen Held er ist und daS in allen Provinzen Ihres Vater
landes gespielt wird.
Ihr Dr. FaustuS erscheint darin als in beständigem
Verkehr mit dem Teufel stehend.
Er schreibt ihm, die Briefe werden an
Bindfaden durch die Lust befördert, und er empfängt Antworten. Wunder thaten kommen in jedem Acte vor und schließlich wird FaustuS vom Teufel
geholt.
Man sagt, daß er aus Schwaben gebürtig sei und unter Maxi
milian I. lebte.
Wahrscheinlich ist es ihm beim Kaiser ebenso schlecht als
beim Teufel gegangen."
Man möchte sagen, Voltaire habe ein Gefühl von der Wichtigkeit dieser Persönlichkeit gehabt.
Und man kann sich weiter deS Gedankens
nicht erwehren, als sei Goethe, als ihn daS Volksstück so im Innersten traf und seine Phantasie bewegte, zugleich ein Gefühl zugetragen worden
von den ungeheuren geistigen Bewegungen, als deren Symbol dieses Collectivwesen genommen werden konnte.
treten uns mit Faust entgegen.
Augustinus, EraSmuS, Luther
Und zugleich ist eS doch wieder nur ein
wunderlicher Zufall, daß der Manichäer FaustuS, der Landstreicher Georg FaustuS und der Professor FaustuS AndrelinuS durch die gleichlautenden
Namen dazu gelangten, sich zu einer neuen idealen Person zu vereinigen,
die von Stufe zu Stufe litterarisch herunterkommend, schließlich vom ersten Dichter unserer Zeit dann wieder zum Träger einer Gedankenwelt gemacht wird, deren Bedeutung für die Welt von Jahr zu Jahr sich steigert.
Und zwar dies Wunder auch nur möglich, indem
durch sechzig Jahre
hindlirch die eigenen Schicksale Goethe'S in den Character Fausts gleichsam
Der Manichäer liefert die philosophisch-
mithtneingeschmolzen werden.
theologische Grundlage, der gelehrte Landstreicher Faust daS Abenteuer liche, der Pariser Professor Faust daS Erotische, Goethe selbst giebt den Gedankeninhalt des eignen Jahrhunderts hinzu.
Und aus all dem ent
steht eine Person, die wir als Individuum heute für sich nehmen, eine neue Schöpfung, wie in jedem neugeborenen Kinde ,bte geistigen und kör
perlichen Strömungen vieler Vorfahren zusammenfließen, so daß sein eigen Schicksal durch soviel vorhergehende Schicksale bedingt, unfrei und um-
nöthigt erscheint, und das doch zugleich ein neues, freies Geschöpf ist, dem eigene Wege nach allen Seiten hin offenstehen.
Ich wüßte nichts vorzubringen, das uns anzunehmen erlaubte, es seien die Persönlichkeiten deS Manichäers FaustuS und des FaustuS von
Paris Goethe bekannt gewesen. einmal kennen, scheinen uns
habe er sie hineingearbeitet.
Alle drei Gestalten aber, sobald wir sie
aus Goethe'S Faust entgegenzutreten als In Goethe'S Faust haben wir zugleich mo
dernes Dasein, Colorit und Scenerie der Reformationszeit und Zurück greifen auf die antike Welt.
Goethe'S Faust.
ES sind auch manichäische Elemente in
Der Kampf der Engel deS Lichtes und der Finsterniß um
die Menschenseele ist manichäisch. Mir schien als ich Baur und Flügel über
den Manichäismus nachlaS, aus deren Büchern er mir ja viel umfassender 31*
entgegentreten mußte als aus dem was mir anfangs nur Augustinus ver
rathen konnte, an manchen Stellen die Aehnltchkett mit Goethifchen Phan
tasiegestaltungen in so auffallender Weise zu walten, daß ich an nähere Bekanntschaft zu glauben geneigt war.
Das „zwei Seelen wohnen ach
in meiner Brust" klingt manichäisch und bei dem „Erdgeiste" an die Lehre
der Manichäer zu denken, läge verführerisch nahe.
Ganz der Gedaitken-
welt des Augustinlls entsprechend ist bei Goethe die Vermischung aller Mythologien und aller Zeitalter.
Augustinus' Bestreben war, die ge-
sammte Gedankenwelt seiner Zeit neu zu organisiren: es sollte nichts da sein, weder in der Mythologie, noch in der Geschichte, noch in der Philo
sophie der früheren Jahrhunderte, das er nicht gleichsam von der alten
Stelle rückte um ihm einen neuen Platz anzuweisen. Wir haben noch nicht angefangen, Goethe'S Faust auch auf das hin zu betrachten, was nicht darin steht, d. h. das Gedicht als eine bewußt abgxgränzte Zusammenfassung von Ideen.
Ueberrascht hat in neuester Zeit die
Entdeckung, daß die Tragödie in vollem Maaße für die Bühne practitabel sei, und doch ist waS uns vorgeführt worden ist erst nur ein Auszug dessen
waS dem Dichter sicherlich in ganz anderen Effecten vorgeschwebt hat und waS auch spätere Bemühungen noch einmal in anderer Gestalt bühnenhaft zur Erscheinung bringen werden.
Wir stecken heute noch zu tief in der Welt drin, welche Goethe im zweiten Theile des Stückes allegorisch und symbolisch darstellen wollte; auch hier werden spätere Zeiten erst den richtigen Standpunkt gewinnen.
Wir ahnen nur, wie Goethe alles was wir mit so großem Respect heute
noch unter „Historie" verstehen, ironisch als bloße Phantasmagorien auf faßte, gut genug, um hergelaufenen Hexenmeistern den Schauplatz zu liefern, auf dem sie sich bethätigten; während die eigentliche Geschichte doch nur
im Emporwachsen der Menschheit zu höheren Einsichten und in der ge steigerten Theilnahme an dem bestehen kann, waS als unsterblich über die
vergänglichen Schicksale der Individuen weit hinauSragt.
Wir würden
Goethe'S Faust zu wenig thun, wenn wir ihn nur für das nähmen, als
daS seine bunt wechselnden Erlebnisse ihn erscheinen lassen, und eS wird
noch eine Zeit kommen, wo die Erklärer dieses Gedichtes sich mehr mit
werden, als mit dem was bloß an
dem was in ihm liegt beschäftigen
ihm
hängt.
weiß ich nicht.
Wieweit Augustinus'
Schriften
Goethe
bekannt
waren,
Er beschäftigte sich in seinen frühsten Zeiten schon mit den
Kirchenvätern auf Anregung des Fräuleins von Klettenberg*).
Augustinus in der Farbenlehre.
*) Dichtung und Wahrh. XV.
Er citiert
Er hat im Sommer 1781 Herders
In Hempels AuSg. III, 436.
Die Entstehung des Volksbuches vom Dr. Faust.
465
Theologische Briefe vor*), in denen von Augustinus als Autobiographen die Rede ist.
Indessen schon 1778 hatte Herder in seiner Schrift „Vom
Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele" auf Augustinus hinge wiesen und Goethe konnte von hier die erneute Anregung empfangen haben,
ihn zu lasten.
Was ich in diesem Aufsatz gebe, ist der Auszug einer größeren Ar
beit, mit der ich seit Jahren beschäftigt bin, die jetzt aber im vollen Umfange auszuführen, die Zeit mangelte.
stücke nur, weil
Ich veröffentliche diese Bruch
ich möglicherweise überhaupt nie dazu komme,
mehr
zu geben. *) Ich verdanke diese und die folgende Notiz Herrn Dr. Suphan.
1. Ostertag 1881.
Herman Grimm.
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
ii. Die Verhandlungen für jene Allianz zwischen Preußen und England, in der König Friedrich int Frühjahre 1748 die sicherste Garantie gegen die feindseligen Plane Oesterreichs und Rußlands finden zu können glaubte,
gelangten nicht über daS Stadium des vorbereitenden Meinungsaustausches
hinaus.
Die Sendung des Ritters Legge nach Berlin hatte Friedrich
durch die Ernennung eines seiner bewährtesten Diplomaten, des Geheimen
Raths von Klinggräffen, zum Gesandten am englischen Hofe erwidert.
Klinggräffen übergab seine Creditive im Juni 1748 in der Sommer residenz Georgs II. zu Herrenhausen; zu der nämlichen Zeit begab sich der Herzog von Newcastle auf den Continent, dem im Februar der seinem
Monarchen wenig genehme Lord Chesterfield seinen Platz als erster StaatS-
secretär des Auswärtigen geräumt hatte.
Vor seiner Abreise aus London
hatte Newcastle am 14. Juni eine Unterredung mit dem preußischen Ge schäftsträger Michell;
er drückte demselben seine Freude darüber aus,
Klinggräffen in Hannover zu finden und dort an die Neubefesttgung der
Freundschaftsbande zwischen den Souveränen Hand anlegen zu dürfen; aber er setzte hinzu, daß er von einer Clausel in seinen Instructionen nicht schweigen wolle, die ihn anhalte, daS mit Preußen abzuschließende Bündniß
auf die bisherigen Alliirten Englands auszudehnen und namentlich dem
Hofe zu Wien den Beitritt offen zu halten*).
Nicht gewillt, in Preußen
zukünftig, wie bisher in Oesterreich, seinen vornehmsten Alliirten zu sehen oder gar zwischen Preußen und Oesterreich zu wählen, verlangte die eng lische Politik von Preußen schlechthin die Rückkehr zu dem „alten System" wie eS Wilhelm III. gegen Frankreich begründet hatte, den Wiedereintritt
in die große europäische Coalition
gegen Frankreich.
König Friedrich
schrieb an Klinggräffen, indem er ihm die überraschende Meldung aus *) Bericht Michell's, London 14. Juni 1748.
London mittheilte (24. Juni), so wenig Feuer und Wasser zusammen be stehen könnten, so wenig sei eS ihm möglich, sich mit Oesterreich zu ver binden; die einzige Verpflichtung, die er in Bezug auf den Wiener Hof
gegen England eingehen könne, sei daS Versprechen, die Oesterreicher, so lange sie selbst Frieden halten wollten, nicht anzugreifen.
Eine Allianz,
die nach Friedrichs Absicht dazu dienen sollte, Preußens defensive Stellung
gegen Oesterreich zu stärken, mußte vollständig, illusorisch für ihn werden, sobald dasselbe Oesterreich im Bunde der Dritte sein sollte. In Hannover angelangt,
ließ sich Newcastle durch Georg II. und
seine hannöverschen Räthe immer tief in einen Jdeenkreis hineinziehell,
in welchem für den Gedanken an eine aufrichtige Allianz mit dem ver haßten brandenburgischen Nachbaren kein Raum war.
Zu einer staats
männischen Erfassung des englischen Standpunktes, den Chesterfield und
Harrington gegenüber den welfischen Velleitäten des Trägers der Krone eingenommen hatte, vermochte sich ihr beschränkter, eitler und flüchtiger
Nachfolger nicht zu erheben.
Newcastle'S Briefwechsel ans diesen Wochen
mit seinem in London zurückgebliebenen Bruder Heinrich Pelham*), dem ersten Lord des Schatzes, ist in hohem Maße dafür belehrend, wie anders
der Wind in Hannover wehte als jenseits der Nordsee.
Sehr bald neigte
König Friedrich zu der Ansicht hin, daß das anfängliche Entgegenkommen
Englands vor allem den Zweck gehabt habe,
einen moralischen Druck
auf Oesterreich auszuüben und dessen Beitritt zu den zwischen England und
Frankreich
vereinbarten
Friedenspräliminarien
herbeizuführen**).
Denn das einseitige Vorgehen der beiden Westmächte bei der Feststellung
dieser Präliminarien, das Fait accompli, durch das England dem öster reichischen Hofe, seinem' bisherigen Waffengenossen, statt des früher in
Aussicht gestellten Aeqclivalents für das verlorene Schlesien jetzt bei der
schließlichen Abrechnung neue Opfer an Land und Leuten zumuthete, hatte in Wien begreiflicher Weise auf das Aeußerste verstimmt. Die Tactik Englands und Frankreichs beim Abschluß der Aachener
Präliminarien schien für ihre Politik in der nun beginnenden Friedens
zeit vorbildlich werden zu sollen; in der Nachgiebigkeit mit der sich die beiderseitigen Alliirten Oesterreich und Spanien nach einigem Schmollen dem Rathschlusse der beiden Vormächte gefügt hatten, schien eine Auffor derung für letztere zu liegen, ihr Uebergewicht auch in der Folge auszu
beuten.
Indem nun Frankreich und England ausgesöhnt waren und ent
schlossen schienen, Hand in Hand dem Continent Gesetze vorzuschreiben verlor Preußen seine politische Stärke, die seit dem Regierungsantritte
*) Coxe, The administration of Pelham. **) Erlaß an Finckenstein in Petersburg, Stettin 10. Juli 1748.
468
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
Friedrichs II. stets gewesen war Frankreich gegen England und England
gegen Frankreich unentbehrlich zu sein.
Zu diesem durch die allgemeine
politische Configuration naturgemäß herbeigeführten Umschläge traten noch
Spannungen augenblicklicher und persönlicher Art.
Die Ergebnißlosigkeit
jenes Annäherungsversuches zwischen Preußen und England hatte, wie es zu geschehen pflegt, auf beiden Seiten nur eine um so schärfere Oereiztheit hinterlassen, während die Empfindlichkeit des C.abinetS von Versailles
sich für die nicht unbemerkt gebliebene zeitweilige Cursänderung der preu ßischen Politik durch eine ostentative Kälte rächte.
Graf Saint-Ssverin,
Frankreichs Bevollmächtigter auf dem Aachener FriedenScongresse, der als
der Begründer und Vertreter des Einvernehmens mit England galt und jetzt eben einen Sitz im Ministerrathe bekommen hatte, gab dem Gesandten König Friedrichs ebenso wie dem Vertreter von Schweden, Baron Scheffer, zu verstehen, daß ihm die Besuche der beiden Diplomaten trotz jahrelanger
Bekanntschaft in der gegenwärtigen Situation nicht willkommen sein könnten; offenbar mit Rücksicht auf die Wiederherstellung der Beziehungen Frank
reichs zu den Höfen von London und Wien*).
Hatten also die Personen
die dem Könige von Preußen nahe standen, Unrecht, wenn sie den Aachener
Frieden als das unvortheilhafteste Ereigniß hätte treffen können**)?
betrachteten,
das Preußen
Der König selbst verhehlte sich die gefahrvolle
Jsolirtheit seiner Lage keinen Augenblick.
Er gewann es über sich, auf
die auS Paris einlaufenden ungünstigen Berichte die Maßregeln gegen
das englische Cabinet zu suspendiren, zu denen er sich im Interesse der
während des Krieges durch die englischen Kaper geschädigten preußischen
Kauffahrer entschlossen hatte***).
dische Kronprinzessin,
Er beschwor seine Schwester, die schwe
ihren Plänen zur Herstellung der absoluten Re-
gierungSform in Schweden zu entsagen, zu denen er die Prinzessin selbst
vordem angeregt hatte, als im Frühjahre 1748 der. Kern der russischen
Streitmacht, jenes rheinwärtS ziehende HülfScorpS von 30,000 Mann, gegen Frankreich engagirt schien: jetzt,
nach der plötzlichen Abwandlung
der europäischen Verhältnisse, hielt er eS für dringend geboten, jede Her
ausforderung Rußlands zu vermeiden. Um so mehr mußte es ihn beunruhigen, als grade in diesem Augen blicke Rußland sich zu rühren begann und zu einer großen offensiven
Action schreiten zu wollen schien. Wir wissen aus den Mittheilungen, die ein schwedischer Forscher aus *) Bericht des Baron Chambrier, Paris 20. Dec. 1748. **) „La paix qui etait tont ce qui pouvait arriver de plus desavantageux au Boi.“ Ulrike von Schweden an den Prinzen von Preußen; Zeitschrift für Preu ßische Geschichte Bd. 18, 32. ***) Erlaß an Klinggräffen in London, 31. December 1748.
den Acten des dänischen Geheimarchivs gemacht hat*), daß Ende 1748 durch den russischen Gesandten in Kopenhagen dem dänischen Hofe die
Eröffnung gemacht worden ist, Rußland beabsichtige den Kronprinzen von Schweden, Adolf Friedrich von Holstein-Gottorp, den Schwager des Kö
nigs von Preußen, von der Thronfolge auszuschließen und eine Neuwahl zu
Gunsten des
Prinzen Friedrich von Hessen,
deS Schwiegersohnes
Georgs II. von England, durchzusetzen; der dänische Hof wurde aufgefor
dert, mit Rußland gemeinsame Sache zu machen. Graf Bestushew war sich der Tragweite seiner Politik, wie seine Er
öffnungen an das Wiener Cabinet aus jenen Tagen beweisen**), wohl bewußt.
Nach dem Separatartikel der preußisch-schwedischen Defensivalltanz
von 1747 war Preußen für den Fall eines Attentats auf die in Schweden
bestehende Thronfolgeordnung seinem Alliirten zur HülfSleistung
„mit
allen Kräften" verbunden; für den Fall eines Conflicts zwischen Preußen
und Rußland aber, wie er bei Ausführung der Pläne Bestufhew'S unver meidlich geworden wäre, bestimmte der berüchtigte vierte Geheimartikel der
Petersburger Allianz von 1746, daß die Kaiserin Maria Theresia alsdann ihrer Verzichtleistung auf Schlesien und Glatz quitt und zum Angriffe
gegen Preußen verpflichtet sein sollte. König Friedrich ist in den Zusammenhang der Verhandlungen seiner Gegner nicht vollständig eingedrungen;
aber nach den ihm zugehenden
Informationen sah er doch hinreichend klar, um sich deS ganzen Ernstes der Situation bewußt zu werden***).
Anfang März 1749 schien ihm der
Krieg unvermeidlich; aber indem er, Feldherr und Kriegsminister in einer
Person, schon den Aufmarsch vorbereitet, bewahrt er sich den Hellen Blick und Lie sichere Hand des Staatsmannes, der noch in der zwölften Stunde
den Frieden zu erhalten strebt.
Im Gegensatz zu der zuwartenden Hal
tung, die Friedrich während der letzten Jahre eingenommen hatte, sehen wir chn mit virtuoser Sicherheit eine diplomatische Campagne im größten
Stil eröffnen, um durch eine Reihe kühner und unerwarteter Züge die Gegner aus ihrer vortheilhaften Stellung zu setzen.
Ein Rundschreiben,
das Mitte März den Vertretern Preußens im Auslande zuging, beauftragte
dieselben mit einer Erklärung, die auf ganz Europa wie ein kalter Strahl wirkte:
„Da anjetzo in einigen benachbarten Landen verschiedene unge
wöhnliche Bewegungen verspürt und ganz außerordentliche KrtegSrüstungen und solche Veranstaltungen getroffen werden, daß man nicht unbillig be*) Bergt. Malmström Sveriges Politiska Historia 3, 323. **) Bergt. A. Beer, Aufzeichnungen des Grasen Bentinck, S- OHL ***) Daß die Thronfolge in Schweden dem Prinzen Friedrich von Hessen zugedacht »erde, erfuhr Friedrich am 10. Februar 1749 durch einen Bericht KlinggräffenS, London 28. Januar.
470
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dein siebenjährigen Kriege.
sorget sein muß, daß leicht in bevorstehendem Frühjahre der Ruhestand im Norden gestöret werden könne, so haben Se. Königl. Majestät der
Nothdurft zu sein erachtet, sich ebenmäßig in solche Verfassung
setzen,
damit Dero Armee gleichfalls im Stande sein möge, aller Gefahr, so bei gegenwärtigen Umständen Ihren Landen und Unterthanen unvermuthet zugezogen werden könnte, vorzubauen und abzukehren."
Der Schluß der
Erklärung, die am 15. März auch an der Spitze der Breslauer Zeitungen erschien, betonte den
Mobilmachung.
defensiven
Charakter,
die Friedenstendenz dieser
Gleichzeitig (18. März) richtete der König ein Hand
schreiben an den König von England, das denselben aufforderte, seine
Bemühungen mit denen Preußens zur Aufrechterhaltung deS Friedens zu vereinigen — eine ungemein glückliche Eingebung, insofern der König von
England und sein Ministerium genöthigt wurden, Farbe zu bekennen und
hinter den Coulissen hervorzutreten.
Die Warnungen, die König Friedrich
nach Stockholm sandte, rüttelten die schwedische Regierung aus ihrer
Schlaffheit
auf unb veranlaßten sie zu wirksamen militärischen Sicher
heitsmaßregeln; ihren Haupthebel aber setzte die preußische Politik in Ver
sailles an.
Trotz seiner jungen Liebe für den alten Gegner England ver
mochte sich das französische Ministerium dem überzeugenden Gewicht der
preußischen Argumente nicht zu verschließen und entschied sich, wenn auch zögernd und mit halbem Herzen, für eine diplomatische Pression auf das britische Cabinet im Sinne der Aufrechterhaltung des Friedens im Nor
den.
Mit jedem Tage gewann Friedrich nun mehr Terrain in Versailles.
Unter französisch-preußischer Vermittelung, begann eine Verhandlung zwi schen dem schwedischen Kronprinzen Hofe zu Kopenhagen,
als Herzog
von Holstein und dem
die noch im Sommer 1749 zu dem gewünschten
Ziele führte, den alten Zwist des dänischen Königshauses mit der Linie 'Holstein-Gottorp zu begleichen und Dänemark von der englisch-russischen
Partei zu der Frankreichs und Preußens herüberzuziehen. In Konstantinopel vermochte der französische Einfluß die Pforte zu einer Intervention am
russischen Hofe für Schweden, den alten Bundesgenossen der Osmanen, und
um mit der türkischen Macht in unmittelbare Fühlung zu treten,
weigerte sich König Friedrich nicht länger (Mai 1749), gemäß einem be reits wiederholt ausgesprochenen Wunsche Frankreichs den
Botschafter
französischen
in Konstantinopel mit der Vollmacht zum Abschlusse eines
preußisch-türkischen Bündnisses auszustatten*).
Der russische Hof, der in
*) Die Einzelheiten der diplomatischen Action von 1749, die hier übergangen werden müssen, wird man in den Bänden 6 und 7 der „Politischen Correspondenz" be legt finden, wie überhaupt dieser Aussatz im Zusammenhang der Arbeiten für jene Publication entstanden ist und, wo nichts anderes angegeben ist, auf bisher unbenntzte Acten des Berliner Archivs sich stützt.
Stockholm die herausforderndsten Noten hatte übergeben lassen,
sah sich
zu einer Recülade genöthigt; seine eigenen AMrten, England und Oester Graf Kaunitz, der nachmalige Leiter der
reich, desavouirten ihn jetzt.
österreichischen Politik, suchte den Vertreter Schwedens in Wien durch die Bemerkung zu beschwichtigen, der allerdings indecente Ton der russischen Noten sei ein Rest der Barbarei, die noch über Rußland lagere; und
der
österreichische
Hofkanzler
Graf
Ulfeld
erklärte
dem
schwedischen
Diplomaten, der Ton dieser Noten möge dem Stockholmer Hofe als Be
weis dienen, daß man sich vor Ueberreichung derselben mit der Kaiserin-
Königin nicht concertirt habe*).
Mit Genugthuung konnte König Friedrich
im Herbst 1749 auf die großen Erfolge zurückblicken, die seine Politik
seit dem Frühjahre erzielt hatte. seinen Gesandten in Wien:
Am 1. September 1749 schrieb er an
„Es ist sicher, daß das Spiel des Wiener
Hofes jetzt nicht mehr so schön ist, wie vor sechs Monaten, und wenn es
damals Vortheilhaft für denselben gewesen wäre, seine Pläne auszuführen, so ist der Moment jetzt vorüber.
Unsere Partei ist während dieser Zeit
die stärkere geworden, und wenn der Wiener Hof zu Gewaltthätigkeiten vorgehen wollte,
so würde er uns fertig finden, und unsere Batterien
völlig bereit, ihn zu empfangen wie es sich
gehört."
Dem Marquis
Balory, Gesandten Frankreichs an seinem Hofe sagte der König nicht lange darauf, alle seine Besorgnisse hätten sich zerstreut; er sei sogar der
Ansicht, daß wenn der Tod des Königs von Schweden jetzt im Augenblicke erfolgte, die Russen gleichwohl nichts thun würden:
„Voilä, mon ami,
un jeu d’echecs bien arrange**).“ Friedrich pflegte jetzt oft so rückhaltlos sich mit dem französischen
Gesandten zu besprechen, der gradezu sein politischer Vertrauter wurde,
ein Vertrauen dessen sich noch in höherem Grade Valory'S Nachfolger, der irische Emigrant Lord Tyrconnell, zu erfreuen hatte.
politische System des Königs war eben ein anderes geworden.
DaS ganze Aus seiner
Mittelstellung zwischen Frankreich und England war er, ohne einen ge schriebenen Vertrag, in eine große Coalition unter französischer Führung
getreten und somit in einen entschiedenen Gegensatz zu England. Das modificirte auch Preußens Verhältniß zu Rußland.
Hatte das
Zarenreich bis 1748 in dem Könige von Preußen den Freund Englands zu respectiren gehabt, hatte es sich dem verhaßten Nachbaren gegenüber einen moralischen Zwang auferlegen müssen, so wurde die russische Macht
jetzt durch einen stärkeren Zwang in ihren Schranken gehalten, durch die *) Bericht des preußischen Gesandten Graf O. Podewils, Wien 4. October 1749. **) Bericht des Marquis Valory, Berlin 15. Nov. 1749 (Archiv des Auswärtigen Ministeriums zu Paris).
472
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
imposante Machtaufstellung der großen Liga zwischen Frankreich, Preußen,
Schweden, Dänemark und. der Pforte, einer Einung der sich bald noch Es ist begreiflich, daß
eine Anzahl kleiner deutscher Fürsten anschlossen.
sich unter diesen Umständen die Gereiztheit des russischen Hofes gegen
Preußen noch steigerte, während König Friedrich immer geringeren Werth auf die Pflege der Beziehungen zu Rußland legte.
Die Residenz der
Zarin galt dem Könige diplomatisch als ein verlorener Posten.
Schon
Ende 1748 erhielt Graf Finck von Finckenstein, den sein Gebieter als einen seiner fähigsten Diplomaten betrachten durfte, seine Abberufung von diesem Posten; man hatte dem Grafen jede Gelegenheit der Kaiserin sich
zu nähen abgeschnitten, auch den Kanzler bekam er fast nie zu sprechen*). „Finck ist aus Rußland zurück und macht Beschreibungen um in Ohn macht zu fallen" schreibt der König am 16. Februar 1749 nach des Ge
sandten Wiederankunft befindlichen Bruder,
in Potsdam
an
seinen
damals
den Prinzen von Preußen.
in Baireuth
FinckensteinS Nach
folger, Baron v. d. Goltz, war ein jüngerer Diplomat, der bisher noch mit keiner selbstständigen Mission
betraut
selbst nennt ihn eine Novize**).
gewesen
war;
König Friedrich
Als Goltz 1750 aus Gesundheitsrück
sichten seine Abberufung erbat, begnügte sich der König mit der Ernennung
deS bisherigen BüreauchefS der Gesandtschaft, des bürgerlichen LegationSfecretärS Warendorff, zum bevollmächtigten Minister.
Ende
1750 kam
es zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und Petersburg.
Graf KehserlingkS Nachfolger am preußischen Hof, ein Herr
von Groß, dem von Paris aus der Ruf feines Preußenhaffes vorange gangen war, verließ Berlin, ohne um eine Abschiedsaudienz zu bitten, indem er bei den Einladungen zu einem Hoffeste in beleidigender Weise
übergangen zu sein vorgab.
König Friedrich eröffnete darauf den fremden
Höfen durch eine Circularnote, da ihm die Ursachen dieser schleunigen Abreise gänzlich unbekannt seien, „eS sei denn daß der russische Hof mit
ihm brechen wolle", so dulde sein Ansehen nicht länger, seinerseits einen Vertreter in Petersburg zu lassen.
So schroff sich somit das Verhältniß zu Rußland gestaltet hatte, und so unversöhnlich der Gegensatz gegen Oesterreich war und blieb, so schien es demnächst doch eine geraume Zeit lang, als ob in dem sich vorberei tenden allgemeinen Kriege der erste Schuß aus einer preußischen Muskete nicht gegen Oesterreich noch gegen Rußland werde abgegeben werden, son
dern gegen deren Verbündeten, gegen den König von England.
Wir ge
dachten schon im Vorübergehen der Schädigung, die während des letzten *) Vergl. Politische Correspondenz 5, 505. 544. **) An de» Prinzen von Preußen, 23. Juli 1749.
Krieges
der preußische Seehandel durch die englischen Kaper erlitten.
Hatte es Ende 1748 einen Augenblick gegeben, wo der König von Preußen
gegen das Cabinet von St. James den Bogen weniger straff anziehen zu müssen glaubte, so trat er, sobald er seine Position in beftiedigendster
Weise diplomatisch verstärkt sah, um so energischer für die Interessen
seiner Unterthanen
ein und
verwirklichte 1752 eine wiederholt ausge
sprochene Drohung, indem er die Einlösung der auf Schlesien eingeschrie
benen Hhpothekenforderungen englischer Gesellschaften suSpendirte und den Betrag
der noch ausstehenden englischen Guthaben bei dem Berliner
Kammergericht niederlegte.
Je empfindlicher diese Maßregel den engli
schen Geldmarkt traf, um so mehr trug sie doch andererseits dazu bei, das Jnselvolk gegen seine sonstige Gewohnheit in den rein dynastischen
Streitigkeiten seine» hannöverischen Königs mit der Krone Preußen für
das welfifche Interesse zu gewinnen.
Seit 1744 bemühte sich Georg II.
als Kurfürst von Hannover den Ansprüchen seines Hauses auf das 1744
in preußischen Besitz gekommene Fürstenthum Ostfriesland die reichSrecht-
liche Anerkennung zu verschaffen; vielleicht noch bitterer aber als das preu
ßische Wappen in Embden und Aurich kränkte den Welfenfürsten der Widerstand seines Neffen in Potsdam gegen den großen Plan, den Erz
herzog Joseph noch bei Lebzeiten seines Vaters, deS Kaisers Franz, zum
römischen Könige zu wählen.
Nicht der Wiener Hof, sondern König Georg
persönlich hatte diesen Plan angeregt, und unermüdlich arbeitete er an den
Höfen der Kurfürsten für dessen Verwirklichung, denn sein Maklerlohn
sollte die Erwerbung von Osnabrück für seinen Lieblingssohn, den Herzog
von Cumberland, sein.
Die alten Zeiten, da König Friedrichs Vater
mit seinem Schwager von England gehadert, schienen für Preußen und
England-Hannover wiederkehren zu wollen.
In Hannover traf man Vor
bereitungen zur Abwehr eines preußischen Angriffs; mehrere Jahre hin durch glaubte man sich auf denselben gefaßt machen zu müssen*).
In der
That ist ein auf Befehl deS Königs ausgearbeiteter Kriegsplan aus der Feder deS jungen Prinzen Heinrich von Preußen erhalten, in welchem
unter der Voraussetzung des Ausbruchs eines gleichzeitigen Kriegs gegen
England, Oesterreich und Rußland eine preußische Occupation deS KurfürstenthumS Hannover in Aussicht genommen wird.
Dem Plan ist von
dem Prinzen der Entwurf zu einem Kriegsmanifest gegen Georg II. bei
gefügt.
*) Der Kammerpräsident v. Münchhausen schreibt an seinen Bruder, den Chef der deutschen Kanzlei Georgs II. in London, Hannover 12. Februar 1754: „Mit jedem herankommenden Frühlinge wachet auch das Gerücht von preußischen KriegSrüstungen wieder auf." (Staatsarchiv zu Hannover.)
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
474
ES ist nicht festzustellen, ob der König seinem jüngeren Bruder die
Ausarbeitung dieses Kriegsplanes nur als eine theoretische Uebungsarbeit aufgegeben haben mag.
An sich lag ja aber die Combination, von welcher
der KriegSplan ausgeht, zu nahe, als daß der König nicht mit ihr hätte rechnen sollen.
AIS einst, schon im Anfang von 1751, Graf Podewils, der
Minister des Auswärtigen, sich mit dem französischen Gesandten über ein
Gerücht unterhielt, wonach der König von Preußen eine Verstärkung der ostpreußischen Garnisonen beabsichtigen sollte, meinte der Minister, sein Ge bieter sei weit davon entfernt, daran zu denken; beginne der Krieg, so bleibe ihm keine andere Wahl als Ostpreußen dranzugeben, seine Kräfte zu ver
einigen, sich bei seinen Nachbaren schadlos zu halten und sie zu zwingen, wie vordem in Dresden so jetzt in Hannover Frieden zu schließen*). Friedrich selbst läßt durch ein Paar überaus bemerkenSwerthe militärische Schriftstücke uns wenigstens für einen etwas früheren Zeitpunkt für jene
Krisis von 1749, einen Einblick in den Plan gewinnen, den er damals
seinen kriegerischen Operationen zu Grunde gelegt haben würde.
Eine
Ordre an den kommandirenden General von Lehwaldt in Königsberg vom 6. März 1749 beauftragt denselben mit den erforderlichen Vorkehrungen,
um im Falle eines Krieges mit Rußland alsbald die ganze in Preußen
stehende Truppenmacht, nebst aller waffenfähigen jungen Mannschaft vom Lande, über die Weichsel nach Pommern führen zu können; nur in den festen Plätzen sollten Besatzungen zurückbleiben. sichtigte der König, wie eine eigenhändig
Dort in Pommern beab
von ihm niedergeschrtebene
Ordre de Bataille ersehen läßt, eine Armee von 27 Bataillonen und
50 EScadronS unter dem Commando des Thronfolgers zu vereinigen, dem
der Feldmarschall Schwerin zur Seite stehen sollte.
armee,
Ueber die Haupt
61 Bataillone und 141 Schwadronen, deren Versammlung in
Schlesien stattfinden sollte, würde der König selbst den Oberbefehl über
nommen haben, während er ein drittes Heer, 63 Bataillone und 85
Schwadronen, unter dem Feldmarschall Keith gegen Sachsen vorrücken zu lassen gedachte.
Wenn in diesem Zusammenhänge Podewils Aeußerung,
soweit sie Ostpreußen betrifft, an Bedeutung gewinnt, so figurirt also der Angriff gegen Hannover in dem Feldzugsplane von 1749 nicht.
Das
scheint unzweifelhaft, daß dem Könige von Preußen auch später die Er
öffnung eines Krieges einseitig gegen Hannover nie in den Sinn ge kommen wäre**). *) Bericht Tyrconnell's, Berlin 2. März 1751. (Pariser Archiv.) **) Ein CabinetSerlaß an den preußischen Gesandten in Paris, George Keith, vom 3. März 1753 spricht von den „bruits calomnieux et absolument controuves qui ont couru d’une Invasion que je pröparerais de faire dans le pays d’Hanovre“.
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
475
Am liebsten hätte er das immer finsterer sich zusammenziehende Wetter
nach einer anderen Seite hin abgeleitet.
Eine Revolution im Serail,
der ein energischer und geschickter Großvezier seine Erhebung verdankte,
lenkte 1752 des Königs Blicke nach dem Bosporus.
Zwei Denkschriften,
die er Ende 1752 dem Könige von Frankreich übersandte, bezeichnen als daö wirksamste Mittel zur Erhaltung des Friedens im abendländischen Europa eine Kriegserklärung der Pforte gegen Oesterreich und Rußland,
welche die französische Diplomatie herbeizuführen
suchen müsse.
Friedrich präcisirt seinen Standpunkt in den Worten:
König
„Wir wollen den
Frieden; der Türkenkrteg ist es, der uns den Frieden verlängert und be
festigt*).« Ludwig XV. antwortete mit allgemeinen Worten des Bedauerns , über
„den tyrannischen Despotismus den Rußland sich über seine Nachbarn angemaßt habe", versprach durch fortgesetzte Warnungen die Pforte gegen
die ehrgeizigen Projekte Rußlands „echauffiren" zu wollen und empfahl
als unfehlbares Gegenmittel die Schaustellung des vollkommensten Einver
nehmens und Zusammenhaltens zwischen Frankreich, Preußen und Schweden. Für alle Pläne der Gegner den russischen Hof verantwortlich machend,
enthielt
die Antwort des französischen Königs auf die erste preußische
Denkschrift über Oesterreich kein Wort; erst die zweite Erwiderung sprach von der Politik der beiden Kaiserhöfe**).
Für Frankreich gab eS bereit-
ganz andere Jntereffen als diese Verwickelungen tat Norden und Osten, als die Verabredungen und Rüstungen der Kaiserhöfe, die den König von Preußen beunruhigen mochten.
Schon rächte sich in Nordamerika für
Frankreich die Kurzsichtigkeit, mit der man im Aachener Frieden die Festistellung der Grenzen zwischen den französischen und englischen Ansiedelungen am Ohio und Mtsstquash unterlassen hatte.
Frankreich hätte alle ernsteren
Reibereien zwischen den Colonisten vermieden gewünscht, um die Diffe
renzen auf dem Wege der Unterhandlung zu schlichten; England, daS sich mit seinen Kriegsvorbereitungen tat Vorsprunge befand, sandte 1753 an
seine Colonisten den Befehl, den französischen Rivalen bei jedem Vor
dringen im Urwalde Waffengewalt entgegenzusetzen.
König Friedrich ver
folgte alle Schritte Englands mit Aufmerksamkeit und Sorge. Anfang 1754
trat ein Ereigniß ein, in welchem er eine gewisse Garantie für die Fort dauer des Friedens sehen wollte.
Am 17. März starb Heinrich Pelham,
der englische Staatsmann der seit elf Jahren, im Besitz des wichtigsten
Portefeuilles, der anerkannte Führer der herrschenden Partei gewesen war. *) 18. December 1752. Die im Pariser Archiv befindliche Denkschrift ist während der Revolutionszeit im Moniteur (20 pluviose VII) veröffentlicht worden. **) Choisy 15. November 1752 und Versailles 14. Januar 1753.
476
Preuße» und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
Auf die Nachricht von diesem Todesfälle schreibt Friedrich II. an seinen Gesandten in Paris*):
„Ich glaube, was wir durch dies Ereigniß ge
wonnen haben, ist die Verlegenheit in die dieser Verlust den König von England und sein Ministerium setzt; sie werden gegenwärtig von neuem und unter sehr erschwerten Umständen mit der Arbeit und Mühsal für die bevorstehenden Parlamentswahlen beginnen müssen, denn allein der
selige Pelham besaß daS Geheimniß dafür, kannte die Mittel und war die
bewegende Kraft" (la
cheville ouvriere).
Zwei Monate später
(21. Mai) wiederholt der Kömg demselben Gesandten:
„Trotz allem bin
ich noch der Ansicht, daß dieses Jahr noch ruhig dahingehen wird; aber
Acht werde ich auf die Sitzungen des neuen Parlaments im Juni und vor allem im November zu geben haben, denn das ist die Zeit wo alles sich enthüllen muß, was für den allgemeinen Frieden zu hoffen oder zu
fürchten ist."
Inzwischen war bereits daS
erste Blut geflossen.
Am
28. April demolirten die Franzosen die englischen Pfahlwerke am Zusam menflüsse des Ohio.
Am 14. Juli capitulirte der zweiundzwanzigjährige
George Washington im Fort Necessith auf den großen Wiesengründen nach heißem Kampfe gegen eine französische Uebermacht.
Die englisch-
französischen Händel trieben der Entscheidung zu. Anfang April 1755 ließ Friedrich II. eines Tages den französischen
Gesandten La Touche in sein Cabinet rufen.
Der König sagte ihm:
„Ich erfahre aus sicherer Quelle daß -alle Versöhnungsversuche zwischen
Ihrem Hofe und dem von London heute nicht bloß schwierig, sondern gradezu unmöglich scheinen.
Wissen Sie, wofür ich mich in der gegen
wärtigen Lage entscheiden würde,
wäre?
wenn ich der König
von Frankreich
Sobald die Kriegserklärung erfolgt wäre, oder wenn die Eng
länder Feindseligkeiten gegen Frankreich begehen würden, wie sie dem
Gerücht nach im Mittelmeer es gethan haben sollen, so würde ich ein beträchtliches Truppencorps nach Westphalen marschiren lassen, um es so fort in daS Kurfürstenthum Hannover zu werfen"**).
An demselben Tage,
da La Touche seinen Bericht über diese Aeußerung nach Versailles ab
stattete, schrieb Friedrich in dem nämlichen Sinne an seinen Gesandten Knyphausen in Paris: der Krieg zwischen Frankreich und England scheine unvermeidlich, England wolle den Krieg allgemein machen.
„Da ist mir
nun die Idee gekommen, ob eS sich für Frankreich nicht empfehlen möchte,
vorausgesetzt, daß der König von England ihm den Krieg erklärt, alsbald
ein ansehnliches Truppencorps graben WegeS nach Hannover zu senden, dort sich festzusetzen und dann den Gegner zu fragen, ob er nicht geneigt *) George Keith; 26. März 1754. **) Bericht von La Touche, Berlin 5. April 1755.
Pariser Archiv.
Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.
ist, den Frieden wiederherzustellen."
477
Knyphausen trug diese Idee dem
französischen Minister RouillL vor, und Rouills antwortete ihm, wenn die Pläne Englands in der That offensiv
seien, so unterliege
eS keinem
Zweifel, daß man sich anschicken müsse, eine Diversion im Hannöverischen und im Gebiet der Alliirten Hannovers zu machen.
Was den Feldzug
gegen Hannover anlange, so schmeichle man sich, daß der König von Preußen nicht bloß dabei Mitwirken, sondern diesen Theil der Operationen ganz und allein auf sich nehmen werde.
Die Lage seiner Staaten
setze ihn in Stand, eine solche Unternehmung mit Schnelligkeit und Er folg auszuführen und in dem occupirten Lande werde er reichen Ersatz
für die Kosten finden, die der Krieg ihm verursachen könne*).
Auf einen solchen Vorschlag war König Friedrich nicht gefaßt ge wesen.
Er wies Knhphausen an, dem französischen Minister, falls der
selbe auf diesen Gegenstand zurückkommen sollte, in den höflichsten und schonendsten Worten zu erwidern, der König werde stets den denkbarsten
Antheil an alle dem nehmen, waS Frankreich betreffe; aber die Diversion
welche er machen sollte, würde für ihn schwer ausführbar sein.
Rouillü
möge bedenken, daß der König von Preußen jeden Sommer 60,000 Russen in Kurland auf dem Halse habe, gewiß keine Kleinigkeit; daß er außerdem
die Sachsen zu berücksichtigen habe, daß von einer dritten Seite sich tot Umsehen mindestens 80,000 Oesterreicher an seiner Grenze versammeln
könnten, daß er weder auf Dänemark noch auf die Pforte mit Sicherheit
rechnen könne, kurz daß er, ohne eine mächtige Stütze wenigstens von einer Seite her, nicht die ganze Last deS Krieges auf sich nehmen könne.
Ohne die geringste Gereiztheit durchbltcken zu lassen oder in den Ton des Borwurfs zu verfallen, sollte Knhphausen
bei
dieser Gelegenheit dem
ftanzösischen Minister doch zu verstehen geben, daß Frankreich während
deS zweiten schlesischen Kriege- die Bestimmungen deS Pariser Vertrages von 1744 unausgeführt gelassen habe.
Wolle Frankreich den König jetzt
von Neuem in eine Unternehmung von größter Tragweite verwickeln, so
müsse man Sicherheiten haben für eine wirksame Unterstützung**). Seitdem
schieden sich die Wege Preußens und Frankreichs.
Am
16. Jan. 1756 schloß König Friedrich mit England die Westminsterallianz, durch deren zweiten Artikel
er sich verpflichtete, bei einem Einmärsche
fremder Tmppen in Deutschland zur Vertheidigung Hannovers mitzu wirken.
*) Bericht Knyphausen's, Paris 25. April 1755. Sergi, dazu (Euvrea de Prüderie 4, 29. **) Erlaß an Klipphausen, Potsdam 6. Mai. Anführungen daraus bei Schäfer, Sieben jähriger Krieg, 1, 104.
Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 5.
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Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege. Als Hauptmotiv zu dem Westminstervertrag erscheint in deS Königs
Denkwürdigkeiten über den siebenjährigen Krieg*) die Rücksicht auf Ruß land, die Hoffnung, zugleich mit der englischen Allianz und dur