Preußische Jahrbücher: Band 47 [Reprint 2020 ed.] 9783112365045, 9783112365038


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Preußische Jahrbücher: Band 47 [Reprint 2020 ed.]
 9783112365045, 9783112365038

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Preußische Jahrbücher Herausgegeben

von

Heinrich von Treitschke.

Siebenundvierzigfter Band.

Berlin, 1881. Druck und Verlag von G. Reimer.

Erstes Heft. Die italienische Komödie deS 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.

(Emil

1

Feuerlein.)............................................................................................ Seite .................................................. —

25

(Aus Ungarn.) ....................................................... —

41

Dr. Mittelstädt und die Einzelhaft. Die Deutschenhetze in Ungarn.

(I. Bartz.)

(Schmarsow.)...................................



49

Die Leitung des Manövers...................................................................................



57

*.......................................



Lermolieff, Raphael und Pintnricchio.

Gustav Freytag's Ahnen.

(Julian Schmidt.) .

Die auswärtige Lage beim Jahreswechsel. Notizen.

(Politische Correspoudcnz.

H. v.T.)

(Die jüdische Einwanderung in Deutschland.

.

-.)

....

65



99



109



133

Zweites Heft. Nüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III.

1798—1823............... —

Karl Wilhelm Göttling und sein Verhältnis zu Goethe.

Lessing.

15. Februar 1881.

Hermann Lotze.

.

(Dr. Koffka.).................



(Ernst Kapp.).................................................



Die Selbstverwaltung im VormundschastSrecht.

Zur geographischen Literatur.

.

(G-Wendt.)

111

143 151

(Julian Schmidt.)............................................... —

161

(Hugo Sommer.)............................................................................. —

177

Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform durch Reguliruug der Gemeinde-Steuern und der Communalsteuer Gesetzentwurf".

(Von einem —

Mitgliede des Abgeordnetenhauses.).....................................................

196

Drittes Heft. Die Landung in EnglandDie irische Landfrage.

(Max Duncker.)..................................................... —

(Ludwig Freiherr vou Ompteda.)...............................

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

215 —

242

(Rein­

hold Koser.).............................................................................................. —

285

...



306

Notizen............................................................................................................................



312

Ein Wort zur Verständigung über die jetzigen Studentenverhältniffe

IV

Inhalt.

Viertes Heft. Fiorenza.

Die irische Landfrage.

' * ®c'tc

/ ‘

(Herman Grimm.)..........................

— 361

(Ludwig Freiherr von Ompteda.)(Schluß.) ....

Die diplomatische und die Consularvertretung deS Deutschen Reiches.

...

— 380

Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters.

...

— 397

(R. Pauli.)

Die neueste Erwerbung der Berliner Gemäldegalerie, „Neptun nnd Amphitrite"

von P. P. Rubens. Zur Lage.

.

(Bode.)...........................................................

— 420

(Heinrich von Treitschke.).........................

Notizen............................................................................................................................



434



443



445

Fünftes Heft. Die Entstehung des Volksbuches vom Dr. Faust.

(Herman Grimm.) ...

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege. (Reinhold Koser.)....................................................................................

II.



466

(Christian Meyer.)..........................................—

494

Zum Verständniß der „Deutschenhetze" in Ungarn.....................................................—

524

Altösterreichische Culturbilder.

II.

Europa uud die Tunesische Frage.

(Politische Correspondenz.)............................ — 538

Sechstes Heft. Ueber parlamentarische Regierung. Sächsisch-polnische Beziehungen

(Friedrich Thudichum.)................................. — 547

während

des

siebenjährigen Krieges zum

russischen Hof nnd insbesondere zum Großkanzler Bestuschew.

Herrmann.)

(Ernst

................................................................................................... —

558

(R. Schöne)..................................... —

590

(Julian Schmidt.)................................................................ —

606

Die diplomatische und die Consularvertretung Deutschlands. (Schluß.) . . — Der Reichstag und die Parteien. (Heinrich von Treitschke.)................................ —

625 642

Zu Schinkels hundertjährigem Geburtstag. Ranke's Weltgeschichte.

Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen. Bekannt ist die Abhängigkeit der neuerstandenen komischen Bühne in dem Italien des 16. Jahrhunderts von der altrömischen Komödie des

PlautuS und Terenz.

Die beiden großen Bühnendichter des alten Rom

wurden vielfach übersetzt und ihre Stücke aufgeführt.

Wo eine selbstän­

dige Arbeit im Fach des Lustspiels unternommen wurde, griff man gern zu einer Um- oder Ueberarbeitung der einen oder andern Komödie, die

von ihnen bereits vorlag, oder benützte wenigstens ihre Fabelstoffe, ihre

Findlings- und Menächmengeschtchten.

Ja schon die bloße Inangriffnahme

einer Lustspielaction überhaupt mußte auf Personenrollen zurückführen, die bei ihnen schon zu finden waren. ES bewährte sich nach 17. Jahrhunderten die hartnäckige Zähigkeit der Tradition, in der das Lustspielfach von keinem andern Fach menschlichen Wissens und Könnens übertroffen wird, wie auf

sie sich schon Terenz zu eigenen Gunsten berufen hatte, wenn er im Prolog

zum Eunuchen seine Menander'schen Reminiscenzen mit den Worten recht­

fertigt: „Soll nun der Gebrauch derselben Rolle verboten sein,

Wie toar1 ein rennender Sclave dann uns mehr erlaubt?

Eine wackere Hausfrau?

Eine verschmitzte Buhlerin?

Ein schmarotzender Vielfraß? Ein unterschobenes Kind? Von seinem Sclaven?

Ein ruhmrediger Soldat?

Ein betrogener alter Herr

Argwohn, Haß und Liebe?

Kurz

Es gibt in der Welt nichts, was nicht schon dagewesen wär'!"

Den Bodensatz der altrömischen Komödie tragen übrigens selbst die originalsten Erzeugnisse des 16. Jahrhunderts an sich.

Man kann die

Beobachtung machen, daß in Italien der Lockerheit der Sitten eine Werth­

schätzung des häuslichen Lebens, die man bei dem vielfach ungebundenen Umgang der Geschlechter unter einander dort nicht suchen würde, zur

Seite geht.

Der Italiener ist zu viel nach außen gerichtet, zu wenig in

sich gekehrt, kennt zu wenig eine Reflexbewegung auf das eigene Selbst, Preußische Jahrbücher. 2bt>. XLVII. Heft 1.

1

2

Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.

als daß er nicht die beste Gelegenheit, seinem Geselligkeitstrieb und seinem

Rededrang auf die Dauer Genüge zu thun, die ehliche Verbindung nach

Welch eine Prädisposition zum Lustspiel, zu

Gebühr zu würdigen wüßte.

derjenigen Darstellung, die mit glücklichem AuSgang, inSbesimdere also

auch mit gutem Erfolge von Liebeswerbungen, mit dem sichern Einlaufen

in den Hafen der Ehe verbunden ist! brunst und HeimathSlust mußte

Und wie viel Zunder von LiibeS-

gerade

das

aufgeweckte,

lebensfrohe

16. Jahrhundert dem Lustspiel entgegenbringen und damit der Versuchung anheimfallen, die ausgetretenen Pfade der mittel- und neuattischen und

der auf diese sich basierenden altrömischen Komödie wieder auszutreten!

Nicht als ob ein Ariost, ein Pietro Aretino völlig ein und dieselben Sittenzustände in ihrem Volk vor sich

gehabt und

in

ihren Stücken

wiedergegeben hätten, wie PlautuS und Terenz sie in ihrer Zeit vor sich hatten und wiedergaben!

Alles was bei den Römern hart auSsieht, hat

sich bei den Italienern erweicht.

Im alten Rom prallte die in Folge

der punischen Kriege bei der Jugend eingerissene Sittenverderbniß und die alte römische HauSzucht, die sich in der patria potestas concentritte,

aufs Härteste an einander und es bedurfte aller Kunst und Feinheit eines Terenz, mit seinen ebenso sorglichen, als nachsichtigen Vätern und mit

seinen Jünglingen, die ebenso gute Söhne als leichtsinnige Bursche sind, die Autorität des Familienhaupts und den Fortschritt der Zeit zu ver­

söhnen, im „Eunuchen" gar die Hetärenherberge und daS ehrsame Bürger­ haus baulich mit einander zu vereinigen.

Bei unseren Cinquecentisten

handelte es sich nicht mehr um das Nebeneinander des altehrwürdigen

Statuts der HauSobrigkeit und des jugendlichen SichgehenlaffenS in ge­ schlechtlichen Dingen; der Bestand des Familienlebens war nicht mehr

eine Frage der Religion, sondern nur noch des Comforts, der bequemen, geruhlichen Existenz geworden.

Aber dem socialen Bedürfniß wohnt die­

selbe Zwangskraft inne, wie sie der moralischen Forderung inhärirt.

Kurz, die legitimen und illegitimen Paarungen, die einen wegen des Drangs der Verhältnisse, die andern wegen der ziemlich gleichen Ver­

derbtheit der damaligen Generation müssen hier die gleich bedeutende Rolle spielen wie in der römischen Komödie.

UebrigenS hat die Bonhommie, womit auch das italienische Lustspiel

deS 16. Jahrhunderts Mann und Weib ehlich zusammenzuführen bemüht ist, eine Tugend, ob deren willen Luther in den Komödien ein Jncitament für die Heirathsscheuen Leute verehrt hat, nicht die Ausdehnung, die sie

z. B. bei Shakespeare hat.

Unsere Italiener lassen die subalternen Per­

sonen wohl ebenso erotisch disponirt sein, als es ihre Herrschaften sind;

sie lassen dieselben sich auch mitunter über den Unterschied ihrer einfachen,

des Zieles sicheren Liebschaften vor den umständlichen, riskierten LiebeSwerbungen ihrer Herrschaften humoristisch äußern; aber beim KehrauS werden sie nicht so menschenfreundlich bedacht, wie von dem großen eng­ lischen Dichter, beim Hochzeitmachen darf es die Dienerschaft nicht nach­

thun; grade wie Jean Paul es beklagen muß, daß das Gesinde in dem

HauS, wo es dient, sich keiner Feier seines Geburtstags erfreuen darf.

Im Zusammenhang mit der Lockerung der Sitten steht die Entwerthung des Weibes in unseren beiden Perioden der Komik.

Vom Alter­

thum ohnedem läßt sich ein Hochhalten der Frauenwürde noch nicht er­ warten.

Natürlich erfährt sie aber im 16. Jahrhundert eine besondere

Degradierung in Folge des laSciven UebermuthS, der das männliche Ge­

schlecht ergriffen hat, parallel dem Selbstgefühl der Bildung und Ver­ bildung deS Medtcäischen Zeitalters, dessen Raffinement im Punkte des Ehebruchs die altrömische Cormption im Leben und auf der Bühne noch

überbieten sollte.

Allerdings lag dem neu sich bildenden Drama der

Italiener etwas vor, was dem Alterthum noch nicht vorgelegen hatte,

nemlich die gesammte Romantik des Mittelalters mit ihrem FrauencultuS und dieselbe blieb auch, außer ihrer Verwendung in AriostS Epos (Medor-

Angelica'S Liebesseligkeit, der Schmerz der verlassenen Olympia, Isabellens

Treue gegen ihren Zerbin, Bradamante'S Heimwehrufe nach ihrem Rüdiger)

dramatisch nicht unbenützt. Zeuge davon sind Trissino'S „SophoniSbe" und Bernardo Accoltt'S „Virginia", die Vorläuferin von Shakefpeare'S „Ende

gut, alles gut".

Aber ein anderes ist der italienische Cothurn, ein anderes

der italienische Soccus.

Dieser darf und kann sich über das Leben, wie

es sich dem nächsten Blick darbietet, nicht zu viel erheben, und was bot sich da den damaligen Dichtern anders dar, als eine bornierte, ganz oder

halb klösterliche, Geist und Gemüth zurückhaltende Erziehung und eine so­ fortige selbstsüchtige Versorgung der Mädchen, die in der Ehe für dm ihnen in der Jugend angethanen Zwang durch die nächsten besten Lieb­

schaften (man höre nur Pietro Aretino darüber) sich zu entschädigen suchten,

oder gar vorher schon bei dem Mangel innerer Bewahrung, die ihnen vor Allem die Kirche nicht gewähren konnte, die Schranken der Zucht und

guten Sitte übersprungen hatten.

Ganz aber kann der Fortschritt, den

die Welt mit Christenthum, Germanenthum, Mittelalter gemacht hat, auch auf dem Terrain, das am meisten von der Ueberlieferung seit unvordenk­

lichen Zeiten zehrt, sich nicht verbergen.

Zwar muß das weibliche Ge­

schlecht auf Shakefpeare'S Lustspiele warten, um zu seinem Recht und zu seiner Ehre durch die freie Werbung der liebenden Herzen um einander

zu kommen; in Italien bleibt- nahezu bei dem PlautuS-Terenztschen Her­

kommen, daß die umworbene und umstrittene Geliebte auf der Bühne 1*

4

Die italienische Komödie des 16. Jahrhundert« in ihren Anfängen.

nicht austrttt, durch keinerlei eigentliche Initiative ihres Wollens oder

Wählens sozusagen ihren Mann stellt, nicht selber liebt und heirathet, sondern sich nur lieben und heirathen läßt.

Aber wie wir in Rom den

Conflict der antiken Vaterzucht und der modernen Verderbniß der Jugend gehabt

ersteht in Italien die straff angezogene Spannung

haben, so

zwischen den selbstsüchtigen Vergebungen der Kinder durch die Eltern und zwischen den ewigen Ansprüchen

der Gleiches zu Gleichen gesellenden

Natur, wie sie sich in dem Jahrhundert einer großen Geistesemancipatton

und in einer ihrer Zwanglosigkeit frohen Nation in vermehrtem Maße geltend machen.

Es tritt das Problem der Wahlverwandtschaften auf;

mehr als einmal kommt es vor, daß die Glieder zweier Ehepaare sich

über'S Kreuz lieben und die schließliche Paarung in der von ihnen er­

Ja es ist ein dem naiven Alterthum fast Un­

strebten Weise ausfällt.

mögliches, die geflissentliche Enthaltung in einer blos formell abgeschlossenen

Ehe, jetzt möglich geworden. Wir haben bis dahin von dem 16. Jahrhundert überhaupt gesprochen.

ES ist nicht zu verkennen, daß dieses Jahrhundert gerade für Italien in

zwei einander ungleiche, durch eine Kluft von einander getrennte Hälften, in die beiden Perioden: Restauration zerfällt.

Höhepunkt deS Humanismus und katholische

Der Contrast zwischen dem Cardinal, der die

lustigste Komödie von der Welt geliefert hat, und den Priestern, die dem

Tasso das Concept zu corrigieren hatten, zwischen der weltlichen Romantik des rasenden Roland und der geistlichen des befreiten Jerusalem drängt sich zu fühlbar auf!

Im Lustspiel ist der Natur der Sache nach der Um­

schwung der Zeiten weniger merklich; die Kugel, die einmal in'S Rollen gekommen ist, wird nicht so schnell Halt machen; die einfache Intrigue setzt

sich mit der Zeit in ein ganzes „Jntriguenlabyrinth", in einen „Jntriguen-

carneval", die joviale Prellerei in die gemeine über und die Obscönitäten laufen auch mit.

Aber in die Länge lassen sich die einzelnen Stände die

Geißel der Satire, wie sie vor Men Pietro Aretino geschwungen hatte, nicht mehr gefallen; die ernster und kirchlicher gewordene Anschauung und

Behandlung der Dinge bewirkt mehr Wahrung deS äußeren Anstandes und Vermeidung des ärgsten Skandals, so daß der fruchtbare Cecchi

(1518—1587) einen recht achtbaren Vertreter des volkSthümlichen Bürger­

lustspiels von Florenz vorstellen kann. ganz ungebundene Sensualismus

Hauptsächlich nimmt der zuvor

ein Feigenblatt vor sich.

Nicht nur

fordern die jetzt hervorgesuchten novellistischen Stosse eine reinere LiebeSleidenschaft bet den Jünglingen; eS äußert sich auch eine Scheu vor wilden Ehen.

Wenn Shakespeare'S Julia sich ihrem Romeo nicht eher hingibt,

als bis ihre Verbindung priesterlich eingesegnet ist, so will in der italient-

Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.

5

schen Komödie der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts der stehende Ver-

lobungSring dazu dienen, den Liebenden zum Quasigatten feines Mädchens vor deren Entführung zu machen.

Wir beschränken uns hier auf die Anfänge der italienischen Komödie

des 16. Jahrhunderts.

Diese Originalproducte rechtfertigen vollauf die

Bedeutung, welche die Geschichtschreiber der Komödie dieses ganzen Zeit­

raums zuweisen, „daß sie die Mutter unserer modernen Sitten-, Charakterund Jntriguen-Komödie und selbst deS rührenden Familiendrama'S sei"

(Klein, Geschichte deS Drama'S 4, 697), „daß die europäische Literatur­ geschichte der italienischen Lustspiele als der frühesten in Prosa und in

völlig realistischem Tone gedichteten nicht vergessen dürfe" (Burckhardt,

Cultur der Renaissance 1878. 2, 58).

Wie mit einem Zauberschlag ist

unter Pabst Leo X. das komische Theater in Italien in den hohen und

niedem Regionen unter Aufmunterung der Höchsten und der Hohen auf der Erde, des Pabsts und Kaisers, der Fürsten und Herzoge erstanden,

dort als Gelehrtenkomödie (commedia erudita), hier als Zunftkomödie

(commedia dell’arte).

Die letztere, mit ihren stehenden Masken und

Improvisationen auf die alte OSkische und Tarentinische Bühne zurückund kosmopolitisch auf Shakespeare's Pantalon (in „der Widerspenstigen

Zähmung"), aus Moltere'S Scopin, auf den deutschen Harlekin vorwärts weisend, verdankte ihre feste Einrichtung dem Günstling und LieblingS-

komtker Leo'S, Franz Chorea.

(Klein, 4, 902 ff.)

Diesem Plebejer zur

Seite arbeiteten ganz gleichzeitig mit einander, von einander wissend*), die aristokratischen Gründer der gelehrten Komödie:

Bibbiena 1470—1520,

Ariost 1474-1533, Machiavelli 1469—1527, Pietro Aretino 1492—1557, nicht zwar mit dem auSschließenden Primat auf der komi­ schen Bühne ihres Vaterlands, das ihnen schon zugeschrieben werden

wollte**), da über dem 16. daS 18. Jahrhundert mit Goldoni und Gozzi *) Ariost erwähnt in der 4. Satire Bibbiena als in seiner Beneficiensache am päpst­ lichen Hof thätig; den Pietro Aretino feiert er in der für die Größen seiner Zeit errichteten RnhmeShalle in Ges. 46 des Ort. für.: „und der die Fürsten geißelt ohne Gnade, der göttergleiche Aretin"; Machiavelli läßt dem Ariost durch einen Dritten unter Elogen über seinen Orlando auSrichten, er nehme es ihm übel, daß er ihn in besagtem Document unter den vielen gleichzeitigen Dichtern weggelaffen und ihm damit etwas in seinem Orlando zugesagt habe, was er ihm in seinem „goldenen Esel" nicht zufügen werde. Der Aretiner erwähnt oft scherz- oder ernst­ haft Ariost. **) E. Ruth, Geschichte der italienischen Dichtknnst 2, 582: „Das sind die 4 bezeich­ nendsten und hervorragendsten Lustspieldichter der Italiener gewesen und leider bis jetzt auch geblieben. Sie gaben den Weg an, den die Komödie ganz richtig ging, aber zum Ziel hat sie keiner der folgenden Dichter bringen können." Vorsichtiger Schloffer, Weltgeschichte für das deutsche Volk 11, 427: „Schade, daß man in Italien wegen der herrschenden Stegreifkomödie und wegen der Oper die regel­ mäßige Komödie verschmähte, welche Pietro Aretin ebenso wie Ariost und Machia­ velli, vortrefflich behandelt hat." Ranke, die römischen Päpste 3. A. 1844. 3,66 be-

Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.

6

nicht übersehen werden darf, aber jeder von ihnen mit wesentlichen Vor­ zügen, die den komischen Dichter auSmachen, ausgerüstet und jeder von

ihnen mit dem Beibringen der Stadt, in der er hauptsächlich lebte und wirkte.

Bibbiena gehört dem Rom Leo'S X., Ariost dem Hof von Ferrara,

Machiavelli der Republik Florenz, Pietro Aretino vornemlich seiner Nähr­

mutter, dem oligarchischen Venedig, an. Bernardo Dovizi, geb. 1470 zu Bibbiena in Toscana, mit Leo X.

von jeher befreundet und 1513 zum Cardinal Bibbiena erhoben, wußte

sich nicht nur als Geschäftsmann, sondern auch als Humorist diesem Pabst

unentbehrlich zu machen.

Er war dafür bekannt, daß er eS verstand,

selbst würdige Männer zu Narrentheidungen zu verleiten.

Er verfaßte

daS Lustspiel, daS seinen Namen unsterblich gemacht hat, im Jahre 1505,

einige Jahre später, als Ariost mit seinen ersten Versuchen im komischen Fach aufgetreten war.

Dieses Lustspiel war die Calandria, so benannt

von einem Einfaltspinsel, der für den Dichter die Zielscheibe seines Spottes

ist.

Die Fabel ist:

Ein Bürger von Modena hatte Zwillinge, einen

Knaben Lydio nnd ein Mädchen Santilla, einander so ähnlich, daß

wenn sie gleich gekleidet waren, man sie nicht von einander unterscheiden

konnte.

Der Vater war 6 Jahre todt, als Modena von den Türken erobert

und verbrannt wurde.

Ihre Amme und ihr Diener kleideten Santilla,

um sie zu retten, als Knaben und nannten ihn Lydio, in der Meinung,

ihr Bruder sei von den Türken umgebracht worden.

Dem war aber nicht

so: vielmehr ging der Knabe mit seinem Diener Fessenio frei aus und

kam nachher wie das Mädchen gleichfalls in die Lage, fein Geschlecht zu verstellen.

AuS dieser Geschlechtsambiguität, sowie aus dem örtlichen

Nebeneinander der beiden einander nicht kennenden Geschlechter in Rom

geht die nachherige in'S Ungemessene gehende und in einem wahren Schlamm von Obscönitäten sich fortbewegende Verwicklung hervor. Lydio

nemlich zieht in Rom, wohin er nach seinem Jugendaufenthalt in Florenz

gekommen, war, in seiner Manneseigenschaft die Fulvia, deS dortigen Bürger Calandro Ehefrau, in seiner Verkleidung als Santilla den Calandro selber an.

geblichen Lydio,

Hinwiederum gibtS bei der Santilla, dem

ein Quid pro quo um'S andere.

an­

Diesen Pflegesohn

möchte ihr Pflegevater, der Florentiner Perillo, der mit ihr nach Rom

übergesiedelt ist, seiner Tochter zur Frau geben.

Und dann erleidet der

vermeintliche Lydio, mit dem Bruder auf gleichem Terrain befindlich, stürmische Liebeszumuthungen von Fulvia, indem deren Emissäre Santilla klagt «S, daß „selbst so geistreiche Männer, wie Bibbiena und Machiavelli ihren komischen Arbeiten die volle Anerkennung der spätern Zeit nicht haben sichern können".

Fulvia nemlich muß nach vier Monaten

mit dem Bruder verwechseln.

vertrauten Umgangs mit ihrem Lydio auf einmal ihn, der sich von ihr zurückgezogen hatte, entbehren, wobei sie sich der Hilfe eines Zauberers

Ruffo, ihn wieder ihr günstig zu stimmen, bedient.

Ihr und ihres

Mannes Jagd, je auf den Gegenstand ihrer Neigung, bildet die Unter­

lage für die unzähligen Täuschungen, Verwechslungen, Verkleidungen, Verlegenheiten, Nothhilfen, mitunter auch Unwahrscheinlichkeiten und Un­ möglichkeiten in diesem Stück, in dem man nicht weiß, welches Laster diese

frivole Welt des Schwankes und der Posse mehr beherrsche, die Zügel­

loseste Lüsternheit oder die gemeinste Gewinnsucht?

Natürlich muß alles

gut ausgehen.

Vor Allem finden die solange getrennten Geschwister ein­

ander wieder.

Der Dichter thut dem saubern Grundsatz, den er seinem

Lhdio gegenüber seinem Warner, dem Hofmeister PolynikeS, in den Mund legt, daß man bei jungen Leuten das LiebeSfeuer sich trt sich selber

verzehren lassen müsse, damit Genüge, daß schließlich der echte Lhdio, den man ja von dem unechten, von Santilla, nicht auseinander kennen kann,

eine solide Ehe mit der Tochter des Perillo, Santilla aber eine solche mit dem Sohn des Calandro-Fulvia'schen Ehepaars eingeht. Die Leidensgeschichte der Fulvia ziemt eö sich, schon wegen deS über die Maßen unsittlichen Inhalts nicht weiter zu verfolgen, wohl aber die

frisch und lebendig verlaufende Calandro'S, nach der ungeachtet ihres viel kleineren Umfangs Bibbiena im Gefühle seiner Meisterschaft im Gebiete deS SchabemackS und des Aberwitzes mit Fug und Recht das Ganze be­ titelt hat.

Diesen Werber um die vermeintliche Santilla nimmt der

Diener der letzteren, also Lhdio'S, der Jntriguant Fessenio auf'S Korn.

ES handelt sich davon, Calandro zu der Geliebten, deren rasende Liebe

zu ihm er sich hat von Fessenio versichern lassen, zu bringen.

Fessenio

meint, er solle Anstands halber sich zu ihr in einem Koffer tranSportiren lassen.

Man erinnert sich aus ArtstophaneS' Wolken „des Mannes von

Lindenholz", des DithhrambikerS KinestaS, der so lang, hager und säbel­

beinig war, daß er sich, um nicht zusammen zu knicken, Brust und Rücken mit Lindenbrettem umband.

Mit dem gleichen Scharfblick des witzigen

Mechanikers verfährt Bibbiena.

Der Jntriguant macht nemlich seinem

Düpö weiß, falls der Koffer zu klein wäre, so müßte man ihn eben stück­

weise hineinlegen, müßte, wie bei Schiffstransporten, Hände, Arme, Beine,

ihm abschrauben, damit er nachher seine Glieder sich wieder ansetzte. Gleich wird auch an dem armen Calandro eine Probe gemacht, die jedoch,

ungeachtet der Zauberworte, die er seinem Peiniger nachzusprechen hat, mit einer schrecklichen Verrenkung seines Arms endigt.

So will Fessenio

eben einen größeren Koffer nehmen, wo kein Ausetnanderthun der Glied-

8

Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.

maßen nöthig werden wird.

Sein Plan ist der ersehnten Santtlla eine

häßliche Courtisane zu substituiren.

Der beabsichtigte Transport leitet sich

ein mit einem Gespräch, wo dem guten Calandro nicht weniger weiß gemacht

wird, als er werde im Koffer sterben müssen, das sei für den Koffer der natürliche Zustand, er brauche dann aber nur, um den Koffer lebend ver­

lassen zu können, aufwärts in die Höhe zu spucken und einen Ruck zu

thun.

Der Koffer setzt sich mit seinem Inhalt in Bewegung, gefolgt von

Fessenio und der eigendS abgerichteten Courtisane.

Sbirren halten den

Koffer an; Fessenio gibt vor, es sei ein Todter drin, der an der Pest

gestorben sei, der Mann des mitfolgenden Frauenzimmers, das sofort auf Commando tüchtig heulen muß; man wolle nun den Todten heimlich im

Fluß begraben.

Calandro in dem den Sbirren zulieb halbgeöffneten

Koffer das hören, herauöspringen, Sbirren und alles auseinanderstäuben

machen, den Fessenio dafür, daß er ihn ersäufen wolle, würgen ist nur Ein

Moment.

Doch Fessenio weiß

ihn zu beschwichtigen:

habe

er,

Fessenio, ja doch von ihm das Unglück abgewendet, daß er als reine Zoll­ waare auf der Dogana verkauft worden wäre, und die häßliche Dirne, die er wahrgenommen habe, sei der leibhaftige Tod gewesen, der vor den

Sbirren davon gelaufen sei.

Ja, Calandro läßt sich von ihm sogar den

Koffer, ihn auf dem Rücken zu tragen, aufhalsen, Santilla werde dann

als Sibylle schon ihn kennen und wissen, wie die Sache stehe.

So weit

gut; nur daß der Unglückliche bei der Courtisane von seiner Frau, die

eben auch etwas, ein Stelldichein mit Lydio, vorhat, ertappt wird und sich gegen deren Gekeife nur nothdürftig mit der Berühmung seines aphrodi­ sischen Gemüthes wehren kann!

Geschickt hat der Dichter seinem Tölpel,

um ihn in unserer Achtung zu heben,

einige Züge von natürlichem don

sens geliehen.

Lodovico Ariosto, geboren 1474 in Reggio im Modenesischen, in

der Luft des bühnenfrohen Ferrara aufgewachsen, von klein an auf daS dramatische Fach gerichtet, lang bevor er den rasenden Roland dichtete, mit Komödien beschäftigt^ begann mit dem Lustspiel Cassaria, daS Kästchen.

Zwei Jünglinge auS guten Häusern in Metellino, Erofilo und

Cartdoro, haben sich in zwei Mädchey, Eulalia und Corisca, die sich in dem Gewahrsam eines mit viel Humor gezeichneten MädchenkupplerS Lucramo befinden, verliebt.

Mädchen zu beschaffen.

ES gilt den Loskaufspreis für die

Erofilo kommt auf den Gedanken, eine Geldkiste,

die sein eben abwesender Vater, Crisobolo, als Depositum von einem

Freund im Hause hat, bis auf Weiteres dem Lucramo zu verpfänden. Die Ausführung dieses Anschlags leitet Erofilo's Diener, der schlaue

Bolpino (daS Füchslein).

In einer Rethenkette von lauter das Zwerchfell

erschütternden Scenen wird der Handel mit Lucramo von dem in Crisobolo'S Kleider gesteckten Tollpatsch Trappola abgeschlossen, die Kiste dem

Wucherer ausgehändigt, die Mädchen von ihm herausgegeben, Eulalia aber dem Trappola von den

in Abwesenheit deS Hausherrn sich be­

trinkenden Domestiken in der Meinung, Trappola wolle ihrem jungen

Herrn seine Geliebte entführen, abgejagt und in ein befteundetes HaüS gebracht.

Trappola ist ohne Kiste und Mädchen.

Erofilo rennt Straße

auf, Straße ab nach seinem Liebchen, Volpino bleibt auf der Stelle, darob

bangend, daß der Kuppler mit der Kiste davon gehen könnte.

Da muß

der Unstern den Alten, Crisobolo, daher führen; die vorgehabte Reise ist überflüssig geworden.

Volptno weiß es nun wohl dahin zu bringen, daß

Crisobolo dem Kuppler die Kiste wieder abnimmt, aber er kann dem Un­

fall nicht entgehen, daß Trappola im Haus von dem Alten noch in seinen Kleidern steckend getroffen wird und wohl bei dem mit ihm vom Alten

angenommenen Examen auf seine Weisung hin sich eine P)etle stumm stellt, aber doch, wo'S ihm um den Hals geht, auf einmal beredt wird,

ausschwätzt, soviel er ausschwätzen kann und dem Volptno eine Verhaftung von dem erzürnten Crisobolo zuzieht. Erofilo, Caridoro und defien Diener, der

an

des etngesperrten Volpino Stelle tretende Jntrtguant Fulcio

richten in einer nicht in allen Theilen klaren Entwirrung deS in einander

gewirrten Knäuels den ganzen Handel zurecht:

Die Kassette bleibt er­

halten, die Mädchen bleiben ihren Liebhabern, der Vater zeigt sich über alle Maßen willig, dem leichtsinnigen Sohn mit Geldopfern hinauszuhelfen,

der Kuppler wird mit einer Zahlung abgefunden, mit der er ruhig von Metellino abziehen kann. Man sieht: der Dichter hatte offenbar einen dramatisch gut verwerth­ baren Conflict tieferen GehaltS: Mädchenverkäuferei und freie Liebeswahl

vor sich und er hat neben dem, daß er seine ganze Stärke der Abwicklung

deS Handelsprocesses und seiner komischen Consequenzen zu widmen hatte, der sittlich gemüthlichen Seite der Sache nicht' alle Aufmerksamkeit ent­ zogen: die beiden Liebchen treten doch Anfangs in ihrer ganzen Verlaffenheit vor uns auf und rühren die Jünglinge der Art, daß sie Ihnen all

ihre Manneskraft für ihre Erlösung einzusetzen geloben; auch ist Erofilo'S Ruf nach der abhanden gekommenen Geliebten ergreifend.

Aber neben

dem prosaischen Proceß, der unS, die Zuschauer, beschäftigt, nehmen sich seine zeitweise eingemischten Liebesseufzer eher lächerlich, als geschmackvoll

auS.

Roman und Intrigue wollen nicht recht in einander greifen.

WaS

Wunders, wenn Ariost künftig den Roman vollends abwirft um, wenn auch

auf Kosten deS ethischen GehaltS seiner Stücke, blos der Intrigue zu dienen!

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Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.

Dies zeigt sich gleich bei der zweiten Komödie, die übrigens in Bau

und Technik seine vollendetste ist, bei den Suppositi, die Unterschobenen. Hier ist der Heldin aller ideale Duft abgestreift; sie ist zu unserem nicht

geringen Schrecken eine deflorata. Erostrato aus Catanea, reicher Eltern Kind, hält sich ursprünglich Studien halber in Ferrara auf (sein Vater

glaubt's ihm komischer Weise bis in den 5. Act hinein), wo er sich in Polinnesta, Damon's Tochter, verliebt und, um zu seinem Ziel zu kommen, mit seinem Diener Dulipo die Rolle wechselt, so daß er der

Nähe der Geliebten zulieb in den Dienst Damons tritt, Dulipo aber statt

seiner den großen Herrn

und Werber um die Hand

Erostrato, Filagono's Sohn aus Catanea,

des Fräuleins,

spielen muß.

Dulipo erfreut sich schon zwei Jahre hindurch

Der falsche

aller und jeder Gunst

seines Liebchens, dem er natürlich sich zu erkennen gegeben hat.

eine leidige Durchkreuzung ihrer Heirathsabsichten.

Da droht

Der 56 jährige Doctor

Cleandro, ein Product echten Dichterhumors, der nicht blos auf seinen alten Freierfüßen allen Hohn, sondern auch durch seine Lebensschicksale

alle Theilnahme hervorruft, bewirbt sich unter den edelmüthigsten Offerten um Polinnesta; er sucht in dieser Ehe einen Ersatz für einen Sohn, den

er fünfjährig bei der Eroberung Otranto's durch die Türken eingebüßt hat.

Um den Doctor auszustechen, kommt es für Erostrato darauf an, dem

alten Damon seinen, Erostrato's Vater, mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit und seines Reichthums zu stellen.

Da aber der Vater nicht

selber zur Stelle zu schaffen ist, so muß Dulipo, und er thuts in der

jocosesten Weise von der Welt, einen eben durchreisenden Sienesen zu dieser Vaterschaft, also zu der Rolle des angesehenen Filogono aus Catanea

pressen.

Es dauert aber nicht lang, so kommt der wirkliche Filogono,

erfragt das Haus des Sohnes, der eben nicht zu Haus ist, aber wie er hört, feit einer Stunde schon seinen angeblichen Vater bei sich einquartiert haben soll.

Die Verwirrung wächst, wo der Sienese sich zeigt und er

Filogono sein will und Dulipo, der in Ferrara vor der Welt den flotten Cavalier Erostrato macht, den alten Herrn aus Catanea nimmer erkennen

mag, sodaß es diesem angst und bange wird, Dulipo könnte seinen Sohn

gar um'S Leben gebracht haben, um, wie er es thut, jetzt dessen Rolle zu

spielen.

Der Sohn selbst ist zunächst gar nicht in der Lage, mit dem

Vater zusammenzutreffen, denn der alte Damon ist in Folge von ganz nach dem Leben geschilderten Vorgängen in der Domestikenwelt hinter das

unsaubere Verhältniß seiner Tochter mit dem Diener Dulipo gekommen

und läßt ihn — ein Akt wirklicher Gerechtigkeit gegen den Eindringling!

— festnehmen, ja er bestellt für ihn statt der Stricke, mit denen er vor­ läufig gebunden ist, Handschellen.

Eine Zusammenführung der beiden

Filogono und Comp. mit dem zur Schlichtung des Filogonoprocesses aus­

ersehenen Cleandro führt die erwünschte Aufklärung herbei, die der Dichter bei den betheiligten Respectspersonen von dem gebührenden Cerimoniell,

das uns auS der komischen Oper geläufig ist, begleiten läßt.

Der Doctor

kann auf seine Werbung verzichten; denn Dulipo entpuppt sich als sein

im fünften Jahr von seiner Seite getrennter Sohn; Damon kann bei

dem reichen Tochtermann von seinem Gewissensscrupel über die Entehrung seiner Tochter wegkommen; der Sienese ist gutmüthig genug, den Spaß, den man sich mit ihm gemacht hat, zu verzeihen; die Handschellen, die

eben für den vermeintlichen Dulipo fertig geworden sind, können füglich

rosten! Nicht leicht wird eö ein dramatisches Erzeugniß geben, das Erndte

und Saat der Art in sich vereinigt, wie die Suppositi Ariost's.

Von

den „Gefangenen" des PlautuS ist das Wiederfinden des abhanden ge­

kommenen SohneS und die glückliche Entwicklung des in niederer Stellung

ausgewachsenen jungen Menschen, hier Dulipo, dort Thndarus entlehnt

und für Shakespeare'S „der Widerspenstigen Zähmung"

ist der Sienese,

der dem würdigen Filogono substituiert wird, dem Magister, der dort den Vincentio, Vater des Lucentio, vorstellen muß, Modell gesessen.

Und

wie bei Ariost der Freier Erostrato in den Diener Dulipo und dieser sich in den stattlichen Werber Erostrato verkleidet, so tauschen auch bei Shake­ speare mit dem gleichen Erfolg der Herr Lucentio und der Diener Tranio

ihre Rollen.

Die ästhetische Todsünde freilich eines Heldenpaares

in

wilder Ehe hat der protestantisch germanische Dichter dem romanischen nirgends nachgemacht. Kein geringfügigeres Sujet und kein energischeres, plastischeres Sittenund Zeitbild neben einander, als

drittem Lustspiel.

in Lena,

der Kupplerin,

Ariost's

Man sieht wohl, der Dichter hat sich nicht blos in der

Blüthenwelt seiner üppigen Phantasie umgetrieben; er hat auch beobachtet,

er hat seine praktische Laufbahn, z. B. seinen dreijährigen Aufenthalt in

der Provinz Garfagnana, wo er Ferraresischer Gouverneur war, dazu be­ nützt, sich im Leben umzusehen und die Zustände auch der mittleren und unteren Gesellschaftsschichten kennen zu lernen.

Und wenn er vor unsern

Augen in seiner Lena ein Nachtstück aus dem Gesellschaftsleben entrollt,

wo oben Liederlichkeit und Straflosigkeit, unten Verbrechen und Armuth sich die Hand bieten, so hat er, wie Goethe zu sagen pflegte, viel von seinem Eigenen hineingelegt.

Er hatte Zeitlebens den socialen Druck,

unter dem die niederen Stände in diesem Stück seufzen, an seinem Fürsten­ hof selber zu erleiden.

Die Aufgabe, die sich der Dichter in seiner Lena gestellt hat, ist

Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.

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ähnlich, wie in der Cassaria und in den Suppositi.

Es handelt sich

nur davon, einen Liebenden nach Wegräumung des leidigen Geldpunkts

in den Besitz der Geliebten zu bringen. niedrigeren Gehaltes, als bisher.

Nur ist der LiebeShandel noch

Flavio liebt die junge Licinia und

läßt sich von ihr an die Lena, bei der sie, um Stricken und Nähen zu

lernen, aus und eingeht, wegen Ermöglichung eines Stelldicheins weisen. Die Zusammenkunft verzögert sich fast ganze 5 Acte hindurch, weil eS

dem Flavio nicht gelingen will, die fünfundzwanzig Gulden für Lena, diese Kupplerin Courtisane, die mit ihrem Mann Vielfraß, dem Pacifico, daS Geld nur gar zu gut brauchen kann, herbeizuschasfen.

Er kommt

auch zuletzt, da alle Versuche des Jntriguanten Corbolo, durch Lügen und

Ränke von Flavio's Vater, dem zähen Gutspächter Ilario, daS Geld herauszuschlagen, in mitunter komischer Weise mißlingen, nicht auf dem Wege des Kaufs, sondern erst durch einen abnormen Zufall zu seinem Zweck.

Bei einer Verpfändung, die der Vater LicinienS, der reiche Geiz­

hals Fazio, der schlimmste Mensch des ganzen Stücks, ungeachtet seines schmutzigen Verhältnisses zur Frau, über die Pacifico'schen Eheleute ver­

hängt, gelangt unter Umständen, die dem Dichter die lebendigsten socialen Schilderungen ernster und lustiger Art an die Hand geben, ein Faß, in

das der ungeschickter Weise im Haus befindliche Liebhaber gesteckt werden

muß, mit diesem seinem Inhalt in das Haus des Fazio und auf diese Art die beiden Liebenden zu dem ersehnten Zusammensein, dem am Schluß die legitime Verbindung folgt.

Das Tragische aber, was die Lena über

das gewöhnliche Lustspiel weit hinaushebt, ist, daß nicht nur dem Freier sein Liebchen, sondern auch dem armen Ehepaar Pacifico-Lena ihr ganzes

Elend, wie es in den Scherereien Fazio's und in den gegenseitigen Vor­ würfen der Eheleute zu Tage tritt, sowie dem schlechten Fazio seine bis­ herige Stellung in der Gesellschaft bleibt.

Nicht in den so geheißenen

Satiren, die, wie richtig schon bemerkt wurde, eigentlich epistolae heißen sollen, hat Ariost seinen Sarkasmus, seinen kaustischen Witz niedergelegt,

aber in seiner Lena.

Ob das Schlußduett zwischen Fazio und Lena:

Er: „und hoff' ich, daß Licinia und Flavio diesen Abend nicht die ein­

zigen verbunden werden fein";

Sie: „ich bin bereit zu Allem, was er

wünschen mag" — ein Ausfluß seiner unbezwinglichen Lüsternheit oder

Ausbruch seiner schilderten

satirischen Laune Angesichts der Unheilbarkeit der ge­

Mißstände oder beides zugleich ist,

wollen wir nicht

ent­

scheiden. II Negromante, der Astrolog, wenn man dem Verfasser glauben

darf, erst nach lOjährigem Planen im Jahre 1520 fertig geworden und

vor Leo X. in Nom aufgeführt, spielt in Cremona.

Der Borwurf ist

bei diesem Stück unter dem vom Dichter vollendeten Bühncnarbeiten (von der nicht vollendeten Scolastica sehen wir ab) der bedeutendste.

ES

handelt sich, wie später bei Machiavelli's eommedia in versi, von der

Correctur einer unnatürlichen Eheverbindung.

Cintio,

Pflegesohn

Massimo's,

hat insgeheim Lavinia,

die

Pflegetochter deS biedern Fazio, geheirathet, ist aber von seinem Pflege­

vater zur Ehe mit der Tochter von dessen reichem Freund Abondio, Emilia, förmlich gepreßt worden.

Er sucht sich in der Collision der ihm

durch die NeigungS- und durch die Convenienzheirath auferlegten Pflichten dadurch zu helfen, daß er Emilien nicht berührt, ohne sich vor dem Ver­

dachte mangelnder Virilität zu scheuen.

Feinsinnig läßt der Dichter gleich

Anfangs aus dem Munde der Angehörigen Emiliens, die eS bedauern,

daß man das Mädchen nicht dem Camill, der sie schon so oft begehrt hatte, gegeben habe, den Schluß des Stücks errathen.

Der Zug des

Herzens kommt zu seinem Recht, im Gegensatz gegen die Convenienzrück-

sichten, ohne daß die bei der ganzen HeirathSangelegenheit interessierten

Alten um das ihrige kämen.

Cintio wird von der aufgedrungenen Emilia

befreit und darf seine Lavinia vor aller Welt die seinige nennen; sein Pflegevater kann dazu seine lebhafte Einwilligung geben; denn sie enthüllt

sich als seine unter einem Gewirre von Abenteuern in Fazio's HauS ge­

kommene legitime Tochter; Camill darf seine Emilia heimführen.

Die

Verwicklung, die diesem befriedigenden Schluffe vorangeht, wird durch die Intervention eines Negromanten,

Einer Person, bewirkt.

Cagliostro und gemeiner Dieb in

Er läßt sich von den verschiedenen Parteien, je

für ihre Zwecke, bestellen und reichlich bezahlen.

Dem Massimo soll er

zu einem Cintio, der als Gatte seinen Mann stellt, verhelfen; den Cintio soll er durch Constatierung seiner ehlichen Unfähigkeit von der ihm auf-

octroyierten Frau erlösen; endlich den Camill, den er gründlich nach dem Recept behandelt, das Ariosts im rasenden Roland geäußerte Ansicht von

der Liebe als einer Narrheit an die Hand gibt, soll er in das Zimmer

der Geliebten bringen.

Gut läßt der Dichter den Schelm insbesondere

auch nach der Maxime: 2 Mücken auf . Einen Schlag hantieren; aber die Gegenpartie, bestehend aus Cintio's Diener, dem verstandesklaren Tremolo

und aus seinem wackern Gönner Fazio überlisten den Listigen und seinen

Gesellen Nibbio.

Sie lassen die Kiste,

in der Camill in's Zimmer

Emiliens gebracht werden soll, in das Zimmer Laviniens tragen, wo sich Camill von den zärtlichen Beziehungen zwischen Cintio und Lavinia über­ zeugt und seinen Beitrag zu Entwirrung des bisher verschlungenen Ge­

webes geben kann.

Des Astrologen Niedergang wird ein vollständiger,

indem ihm Tremolo seinen Mantel abzuschwindeln weiß, damit die phy-

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Die italienische Komödie d«S 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.

fische Blöße auch gleich die moralische versinnbildliche, und Nibbio seinen

Auftrag,

ihm Behufs schleunigen Abzugs sein Gepäck und waS sonst

noch mitlaufen könnte, auS dem Gasthof mitzubringen, mit einem Auf

nimmer Wiedersehen! erwidert.

Die Schlußworte:

„Wundert euch nur

nicht, wenn ihr den Astrologen nicht gar sonderlich befriedigt seht vom AuSgang der Komödie; denn Kunst, die der Natur nachahmt, duldet nicht,

daß arger Schelme böseS Thun ein andres, als ein schlechtes Ende nehme", würden unö über die poetische Gerechtigkeit des Dichters eine ungetrübte

Freude bereiten, wenn nicht der Mund, der diese Weisheit predigt, der

das Unglück seines Herrn auSbeutende Schelm Nibbio uns die Ironie

des Italieners verriethe, für dessen empirische Taxation Niederlage und Sieg des Bösen sich so ziemlich das Gleichgewicht hält.

Doch verkennen wir darob die Aristophanische Ader in unserem mo­ dernen Komödienspieler nicht gänzlich!

Es ist freilich keine großartige

patriotisch-politische Wirksamkeit, die der in kleinen Verhältnissen an einem Fürstenhof weilende Ariost mit seinen Lustspielen entfalten kann; aber er

ist redlich seiner Pflicht nachgekommen, in denselben seiner Zeit und sei­ nem Volk einen Spiegel vorzuhalten.

Er ist dem Negromantenwesen,

das sich damals von dem Mark des abergläubischen Volkes mästete, mit

Hilse besonders seines vorurtheilsfreien Tremolo furchtlos zu Leib ge­ gangen, er hat in seiner Lena ein zur Umkehr und zur Einkehr bei sich selbst aufforderndes Schauergemälde des damaligen socialen Elends ent­

worfen; er hat in all' seinen Lustspielen es nicht versäumt, Brutalität und Gewaltthat zu verdammen,

die Bequemlichkeit und Genußsucht der

höheren, sowie die Bestechlichkeit und Raubgier der niederen Beamten, die faulen Schäden einer schlechten Polizei und Verwaltung bloszulegen,

während er in den Satiren das Censoramt gegen den üppigen, gewissen­

losen Klerus nachholte.

Wenn er auch kein Patriot, wie der große grie­

chische Komiker sein konnte, so hat er doch, was in seiner eingeschränkten

Lage

alle

Anerkennung

verdient,

einen

ehrenwerthen,

unabhängigen

Charakter sich gewahrt und, wie es Goethe ihm nachrühmt, „einen Sinn

fürs wahre Gute" und

„Weisheit in erhab'nen Sprüchen" geoffenbart.

Wenn man bei dem Komiker Ariost von seiner Hauptleistung,

von

derjenigen auf dem epischen Gebiet absehen mußte, so liegt dagegen bei

Niccolo Machiavelli, dem Florentiner Staatssekretär, die Erklärung

seiner Laufbahn als Lustspieldichter,

besonders als Verfasser der Man-

dragola, in seinem berühmtesten, am meisten charakteristischen Werk, in seinem Büchlein vom principe.

Nicht nur ist eS bemerkenSwerth, daß

er, was er bei seinen diseorsi über Livius und bei seiner Florentiner

Geschichte nicht gethan hätte, diese Dichtungen, wie seinen Fürsten, als

ein hors d’oeuvre, unternommen zur Zerstreuung und zum Zeitvertreib,

bezeichnet.

Um bei der Mandragola stehen zu bleiben: es verräth sich in

ihr der gleich tiefe Blick in die Vorgänge der Seele, die gleich scharfe

Beobachtung des Ganges, welchen die Dinge, der ihnen immanenten un­

erbittlichen Logik zufolge, nehmen müssen, die gleiche Kaltblütigkeit deS Verstandes bei einem warmen, weichen Herzen, das für das Gute glüht aber das Schlimme als eine Nothwendigkeit hinnehmen muß, die gleiche Objektivität der Betrachtung aber auch Unzulänglichkeit für ideale Nor­

men, wie wir dies Alles im principe finden.

Die Mandragola behandelt einen an sich gründlich unsittlichen

Stoff.

Callimaco, ein junger Mann nicht ohne Gehalt, lernt unter

ominösen Umständen (Wette auf Damenschönheit; vgl. auch mit Beziehung

aus eine Lucrezia, Livius 1, 57 f. und PosthumuS, mit Jachtmo wettend, in Shakespeare's Cymbeline) die schönste und keuscheste aller Frauen, Ma­

dame Lucrezia, die Gattin deS Nicia Calfucci von Florenz, auswärts

kennen und heiß lieben und zieht ihr nach Florenz nach, in der Ab­ sicht, in ihren Besitz sich zu setzen.

Er hat zu dem Ende einen Parasiten

höheren Stils, den feinsinnigen Ligurio ins Vertrauen gezogen, der

ihm Hoffnung erweckt, daß, ungeachtet der notorischen Sittenreinheit LucrezienS, bei dem Verlangen deS kinderlosen Ehepaars nach Kindern sich etwas werde machen lassen.

Ein Plan, die Frau in ein Bad zu schicken,

wo Callimaco sich ihr nähern könnte, scheitert an dem Widerstreben Nicia'S, der vergehen zu müssen meint, wenn er nicht immer seinen Florenzer Dom

vor Augen hat.

Darum muß ein anderer Plan ausgeheckt werden.

Calli­

maco soll einem fremden Arzt vorstellen, dem Nicia durch Ligurio sich empfehlen lasseu und ihm eS eingeben, daß seine Frau durch einen Zauber­

trank Mandragola von ihrer Unfruchtbarkeit befreit werden könnte.

Aber

der Mann, der zuerst ihr beiwohne, müsse sterben, weil er alles Gift deS

Tranks in sich einsaugen würde; daher eS für Nicia gerathen sei einen

Gatten-Stellvertreter in der Person eines kräftigen jungen Mannes — man kann sich denken, wen Ligurio dabei im Auge hat, — zu stellen.

Nicia

wird von Callimaco, dem fremben Arzt, glücklich überredet, auf diesen

Rath einzugehen.

Mit ein paar lateinischen Brocken und Berufung auf

hohe Potentaten, deren Frauen die Mandragola geholfen habe, ist da

bald viel auSgerichtet.

Um so schwerer wird'S bei der braven Frau halten.

Man kommt unter Beirath Nicia'S selber überein, sie durch Mutter und

Beichtvater, die freilich erst selbst zu gewinnen wären, zu bearbeiten.

Die

Mutter, Sostrata, willigt aus mütterlicher Sorge für das Eheglück ihrer Tochter ein.

Fra Timoteo, pfäffisch beschränkt und verschmitzt, aber im

Vergleich mit einem anderen Frater, der Lucrezien'S Ehre nachgestellt hatte,

16 noch

Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.

ziemlich

gewissenhaft,

läßt sich in Folge

der Sache durch Ligurio von diesem überreden.

geeigneter

Behandlung

Wie schwer die reine

fromme Lucrezia bei dem Entschluß thut, der ihr von ihren besten Freunden auf Erden, von Mutter und Beichtvater, angesonnen wird, dafür nur eine Aeußerung von ihr: „Ich soll den Tod eines Menschen verschulden? Wenn

ich allein auf der Welt wäre und das menschliche Geschlecht sollte durch mich entstehen, ich glaube nicht, daß mir dergleichen gestattet wäre!" Wie

könnte sie aber auf die Dauer, gutmüthig und nachgibig von Natur, und bei der devoten Art ihrer Frömmigkeit doch in ihrer Einsicht nicht gehörig

aufgehellt, plausibeln Gründen widerstehen, als da sind: „Vielleicht kommt der junge Mensch auch davon; nur dein Leib, nicht dein Wille ist dabei

in Thätigkeit, also weit und breit keine Sünde da; deinem Mann thust du edelmüthiger Weise den größten Gefallen; du erwirbst dir das Ver­

dienst, einen Sitz im Paradiese auszufüllen."

Sie gibt sich halb frei­

willig, halb gezwungen zum Opferlamm her.

So kann die Sache nach

dem Programm vor sich gehen und Callimaco zu seinem Zweck kommen. Denn er ist natürlich der die Lame klimpernde Nachtschwärmer, der von

der lustigen Gesellschaft mit der Parole: Saint Cocu, von der sich der immer drolliger werdende Nicia auch nicht ausschließt, ergriffen und von dem Gatten selber in die Arme seiner Frau geführt wird.

Nicht minder

drollig, als die Pressung des Ehestellvertreters ist der Bericht, den Nicia über das, was derselben nachfolgt, soweit er anständiger Weise dabei war,

seinen Genossen preisgibt und tragikomisch die Hausfreundsfunction, die

er anderen Tags beim Kirchgang, der das Ganze beschließt, in seiner un­ begrenzten Dankbarkeit dem hilfreichen Arzt überträgt.

Machiavclli's Mandragola ist, was Anordnung und gleiche Verthei-

lung der scenischen Vorgänge, seine Zeichnung sämmtlicher Charaktere und

Charaktertypen, psychologische Wahrscheinlichkeit betrifft, ein Muster des

Lustspiels.

Es verbirgt sich in ihr der Meister pragmatischer Geschichts­

behandlung nicht; wo er, wie hier, selber die Thatsachenreihe fabricirt,

da weiß er, wie keiner, Eins aus dem Andern hervorgehen, auf das A

das B folgen, ohne Zuziehung anderweitiger Hilfsmittel den in der An­ lage schon vorherbestimmten Fortgang der Sache folgen zu lassen.

Man

würde ihm schweres Unrecht thun, wenn man ihn frivol nähme, wenn

man seine Absicht dahin auslegen wollte, als wollte er nur ein Jntriguenlustspiel liefern,

worin ein Leichtfuß mit seinem illegitimen Glück bei

einer Ehefrau und ein alter Hahnrei mit dem ihm gebührenden Hörner­

schmuck zu allgemeiner Belustigung aufgeführt würde.

Ein Vorwalten

der Intrigue würde schon nicht recht zu dem Mann der Thatsächlichkett, als den wir Machiavelli kennen, stimmen.

Nein, das Stück soll zu gleichen

Theilen Situations- und Jntriguenkomödie sein; es schwebt dem Dichter

ein tieferes, eine Art romantisches Motiv vor.

Mit Recht macht Klein,

der im Uebrigen noch zu viel von der unnachahmlichen Komik aller ein­

zelnen Scenen angesteckt ist, um in den Hintergrund des Stückes vorzu­

dringen, darauf aufmerksam, daß die Liebe Callimaco's mit dem Dufte der Romantik umgeben, daß er vor dem entscheidenden Akt mitten in seiner Liebesgluth, wo er ohne Liebesgenuß fast nimmer leben könnte,

nicht blos ein dumpfes Bangen vor der Schäferstunde, sondern auch Ge­

wissensregungen hat.

Aber es ist auch zu bemerken, daß Machiavelli bei

der an ihm gewohnten Sachlichkeit den genarrten Nicia mehr als das

Opfer seines gleich der Flamme Callimaco's inbrünstigen Schmachtens nach Vaterfreuden, denn als bloßen Dupä hinstellt.

Zwar sollte es dem

Dichter nicht begegnen, daß er vor der Katastrophe erst durch Ligurio dem

Callimaco den Rath geben läßt, aber er müsse nach der Lucrezien abge­ rungenen Liebesnacht ihr sich und seine Liebe zu erkennen geben und den ganzen Vorgang erklären.

Callimaco sollte das selber wissen; aber mit

unserer Auffassung der Intention des Dichters stimmt überein, einmal,

daß Callimaco in seinem Bericht über diese Nacht im mindesten nicht lasciv, sondern ernst und sowie es seine und seiner Geliebten Ehre ver­

langt, sich äußert nnd daß Lucrezia ihn feierlich als ihren Herrn und Beschützer proclamiert, ihrem Mann aber

sie sich

über Nacht

von

innerlich

ihm

kurzangebundenes Benehmen auffällt.

des andern Morgens, weil emancipiert

hat,

durch

ihr

Es ist das Evangelium von der

freien Liebe, was Machiavelli mit seiner Mandragola predigen will, ein

Evangelium, das, wenn es auch eine Seite der Wahrheit an sich hat, die

für das Bewußtsein gerade in dem aufgeweckten 16. Jahrhundert sich her­ auskehrt, in dieser Nacktheit nur von einem Romanen gepredigt werden

konnte.

Ich bekenne, nur noch einmal so wehmüthig von einer gefallenen

Unschuld bewegt worden zu sein, wie es mir hier bei der braven Lucrezia

widerfahren ist, es ist dies die Katastrophe bei der hochstrebenden Linda

in Jean Paul's Titan, die von dem blasirten Rocquairol unter der MaSke Albano's zu Fall gebracht wird.

Ein solch energisches Erregtwerden weist

auf die große Kunst des Dichters hin, der klar und nüchtern das in der menschlichen Schwäche waltende Lebensgesetz beobachtet, aber in unseren Fall, unfähig deS Glaubens an Tugend und sittliche Weltordnung, einen

Vorwurf gewählt hat, der uns ohne ideale Versöhnung entläßt. Wir können bei den übrigen Lustspielen Machiavelli's kürzer sein.

Die Clizia ist eine freie, selbstständige Bearbeitung der Casina des

Plautus, eines seiner verrufenen Stücke.

Bei Plautus verlangen Vater

und Sohn eine und dieselbe Geliebte, die Casina, und es stiftet jener Preussische Jahrbücher. Bd.Xl.VII. Hefti.

2

18

Die italienische Komödie dcS 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen-

seinen Pächter, dieser seinen Waffenträger auf, sie zur Frau zu fordern,

um nach der Hand selber die Ernte einzuheimsen.

Der Alte/ ist eine höchst

komische Figur, die sich fortwährend verschnappt, und statt deS: „er (der

Pächter) liebt, er will" mit „wir lieben, wir wollen" herausplatzt.

Die

eigentlichen Rivalen treten einander gar nicht gegenüber, (der Sohn kommt nicht einmal auf die Scene), um so mehr und um so schlagfertiger die Ersatzrivalen.

Das Loos, das im Kampfe der Parteien den Ausschlag

geben soll, entscheidet für den Pächter, beziehungsweise den Alten.

Aber

die Gegenseite erwidert die gelegte Mine mit einer Gegenmine; sie ver­

kleidet bei der Hochzeit einen handfesten Bedienten als Braut und dieser wird schon auf dem Weg in's bräutliche Haus stößig, um vollends in der Brautnacht den Alten und seinen Pächter mit Puffen und Stößen vollauf

zu regalieren.

Das Stück beschließt eine Wiedervereinigung des Alten

und seiner Ehehälfte und nur ein kurzer Epilog meldet die Verbindung deS Sohns mit dem Vkädchen, das auch nicht auf der Bühne erscheint.

Aus dem PlautuS'schen Torso, der einen recht heitern Schwank vorstellt, hat

Machiavelli einen förmlichen Roman, eine regelrechte Komödie in 5 Acten gemacht.

Er bringt seinen Nicomaco, den auf einen Irrweg sich ver­

laufenden Alten unserer gemüthlichen und komischen Theilnahme näher.

Derselbe war nach Aussage seiner Frau bis vor Kurzem, wo eine Neigung

zu seiner eben herangeblühten Pflegetochter, Clicia, in ihn hineingefahren ist, ein Mann schlecht und recht; sodann sucht er sich für daS vorgehabte Beilager eigends physisch zu stärken; er hat bei demselben alle Püffe

allein auszuhalten, was ihn vor dem von ihm vorgeschobenen Bräutigam auch noch prostitutiert.

Der Sohn Cleandro macht die Wartezeit der

Liebe regelmäßig durch und zieht uns schon darum an.

Er muß mit seinen

Ansprüchen auf die Hand der Clizia an sich halten, bis man über deren

Herkunft im Reinen ist.

Dies geschieht durch die Ankunft ihres Vaters,

deS reichen neapolitanischen Edelmanns Kamondo, der zu der Verbindung

beider seine Einwilligung gibt.

Beim PlautuS'schen Inkognito der Heldin

hat es die italienische Ueberarbeitung gelassen, doch mit der Entschuldigung, daß sie Anstands halber sich nicht selber zeige. Die commedia in versi.

In zwei Ehen Camill-Panfila und Catill-

Virginia paßt Mann und Frau nicht zu einander.

Camill liebt Vir­

ginia, die Frau des Catill und bedient sich eines Schwarms von Mittels­

personen, einer gar umständlichen Kupplerin, eines Gaumenphilosophischen Parasiten, eines berufseifrigen Dieners, einer abgeschlagenen Zofe, um bei ihr zum Zweck zu gelangen.

ES kommt, Dank der leidlichen Gattin­

treue der Virginia, in vier Acten nichts zu Stande und bildet im Grunde das Ensemble der Subalternen einen Lachchor bei dem Viel Lärm um nichts

einer Herrenliebschaft.

Camills

Ja, ein der Virginia zugedachtes Liebesbriefchen

verirrt sich zu seiner

eignen Frau, Panfila, die damit den

In der Ehe Catill-

Beweis der Untreue ihres Mannes in Händen hat.

Birginia ist nicht durch eine Liebschaft des Mannes, aber durch seine maßlose Eifersucht und durch Vernachlässigung einer an Aufmerksamkeit

gewöhnten Frau der Karren verführt.

Der Dichter gleicht diese Schwierig­

keiten dadurch aus, daß er Chremas, einen Onkel der von Camill über

In Folge seiner

Gebühr zurückgesetzten Panfila, in'S Mittel treten läßt.

Jntercession kommen gleichartige Paare zu Stande, die wärmeren Tempera­

mente Camills und Virginiens gesellen sich zu einander und ebenso die kühleren Temperamente Catill's und Panfila's,

die

wirklich auch erst

im fünften Act etwas von Zuneigung gegen einander fühlen lassen.

Die

Correctur der anfänglichen Ehebünde geht um so leichter von Statten, als

beidemal die Eheschließung blos formell geblieben war.

Dies und die

Vorführung des Gatten, wie er sein soll durch den Chremas, analog der Zeichnung der Gattin, wie sie sein soll, durch Katharina in „der Wider­

spenstigen Zähmung" von Shakespeare, verschaffen dem Stücke einen nicht

zu verachtenden ethischen Werth.

Eines solchen entbehrt die vom Dichter

ohne Namen gelassene vierte Komödie in drei Acten, von Andern il Frate

oder Fra Alberigo genannt, an Boccaccio'sche Hergänge erinnernd, lasciv muthwillig, wie die Mandragola, aber ohne deren Tiefe und Gehalt, mit

einem aller sittlichen Welteinrichtung spottenden Ausgang.

Eine Frau,

Katharina, gibt ihrem Mann Amerigo, der eine Zusammenkunft mit

der heiß begehrten Gevatterin, Alfonso's Frau, plant, die Untreue mit doppelten Zinsen heim.

Sie leiht aus Rache gegen ihren Mann einem

Mönch Alberigo, der längst um ihre Gunst gebuhlt hat, Gehör.

Amerigo

läßt sich in Alfonso's Haus zu einem Stelldichein mit der Gevatterin, die weit und breit nicht ist, locken.

Als er dorthin kommt, hat seine eigene

Frau die Stelle der Gevatterin eingenommen, bereits in den Armen des

Mönchs geruht, dreht jetzt aber den Stil gegen den in flagranti ertappten Mann, den sie mit gehörigen Gekreisch empfängt, um.

Die beiden correi

überbieten sich gegenseitig in Heuchelei und Verstellung, sie mit Betheurung ihrer ehelichen Treue, er mit frommer Paränese.

Da der Frater einen

erträglichen Frieden zwischen den beiden Ehegatten zuwege bringt, be­ sonders den Mann von dem fortgesetzten Keifen seines Weibes errettet, so fällt für ihn der Gewinn ab, daß er von nun an bei ihnen als ge­

setzlicher Hausfreund fungieren wird.

Dies der Schluß einer Posse, die

nur als Warnung vor den Uebergriffen des Klerus nicht ganz der mo­

ralischen Verurtheilung anheimfällt. Pietro Aretino, übel berüchtigten Andenkens, wird darum doch

2*

Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.

20

von Schlosser, Ruth, Burkhardt, Klein bei den großen Komödiendichtern Mit Fug und Recht: eS ist zwar auch

des 16. Jahrhunderts eingereiht.

im vorliegenden Fach nicht seine Sache, sich an Maas, Ordnung und Regel zu binden, aber er ist der geborene Plauderer, burlesk und mit dem Herzen immer auf der Zunge, voll von Erfindungen und Einfällen, nicht ohne

gewisse ihm eigenthümliche, specifische Vorzüge.

Unter diese möchten wir

rechnen daS Unicum einer Farce, die er mit seiner ersten und besten Ko­ mödie, il Marescalco, geliefert hat, und seine Erhebung gewisser stehender Lustspielfiguren zu Originalen, seine Schöpfung bedeutender, bisher nur

von Terenz geschaffener Charakterthpen. II Marescalco, der Hofmarschall, ist an und für sich schon schätzbar,

weil es daS einzige, ganz schulgerechte Stück des AretinerS ist, in dem nicht eine Handlung sich erst mit einer zweiten in den Rahmen der fünf

Acte theilen muß oder in der nicht der Gang der Darstellung durch epi­ sodische Nebenunterhaltungen, in denen daS flagellum principum gern seine satirische Laune über Gott und Welt ausschüttet, wesentlich gestört

wäre.

Wenn Aretin schreibt, der Marescalco und die Cortigiana

haben ihn nicht mehr als 10 Morgenstunden zu machen gekostet, so paßt

diese Zeitangabe wenigstens für den genialen Wurf, den er mit dem Hof­ marschall gethan hat. anderem

Wer hätte nicht schon Träume gehabt, die in nichts

als in Retardationen

einer dringenden Eile

bestanden?

Er

befand sich dabei nicht in einer epischen, sondern in einer dramatischen

Situation, weil er sich mit dem verwünschten Schicksal herumzankte, also gleichsam in der Dialektik sich übte.

Aehnlich ist's mit dem Helden der vor­

liegenden Komödie, nur daß es diesmal nicht einem Retardieren, sondern einem Avancieren der LebenSuhr gilt, der vom bösen Traum Heimgesuchte nicht der ewig Zurückgehaltene, sondern der ewig Geschobene ist.

Der

Hofmarschall des AretinerS gehört noch nicht zu seinen Originalen; dafür ist im Stück gesorgt durch einen absurden Pedanten, der selten ohne einen von dem jungen Volk der Pagen ihm hinten angehefteten

brennenden Papierstreifen erscheint.

Nein, der Hofmarschall ist ein Mann

comme il saut, gescheidt, honnett, berufsgetreu, ohne Ansprüche, nur mit

dem der Komik jederzeit eine offene Sette darbietenden Fehler behaftet, daß er nicht heiraten will. Gerade aber auf ein solches Individuum, das

die Welt in Ruhe läßt, hat's die Unruhe abgesehen, ihn packt der wüste Traum, die ganze Unseligkeit einer mit ihm

angestellten Parforcejagd.

Sein Herzog Gonzaga von Mantua verlangt von ihm absolut, daß er heiraten soll, und weil er selber keine Schritte thut, so soll er in'S Ehe­

joch hinein getrieben und gestoßen werden, ob er will oder nicht.

Immer

hat nun der Unglückliche die Meute, die des Herzogs Spruch aufgeboten

hat, hinter sich.

Alles hat sich gegen ihn verschworen, ihn in den unlieb­

samen Ehestand hineinzubrtngen: alt und jung, hoch und niedrig, Amme und Bursche, Reitknecht und Page, Christ und Jude, Cavalier und Ju­

welier; alles will sein Bestes, alles beeifert sich, auch die Hand bei der hochwichtigen Sache im Spiel zu haben, eins läßt sich vom andern an­

stecken, im Ernst oder im Spaß sich bei der Sponsalienaffatre des Hofmarschalls zu betheiligen.

Ach, der Arme hat eine Art Beistand an Meister

Ambrogio, einem abgesagten Feind deS Ehestandes, unter deffen Hörnern

er selber seufzt, aber der thut zuletzt auch beim Treibjagen mit oder stellt

sich mit mitleidigem Lächeln zur Sette.

Und vollends wie weit treibens

die um das Glück des Hofmarschalls ängstlich Besorgten, die Amme, die

bis in'S kleinste Detail das gemüthliche Behagen des heiligen Ehestandes

auSmalt, Meister Jacopo,

der dem Zögernden extra

seinen

heran­

vorführt!

Welch eine

drollige Figur der geplagte Mann mit seiner fruchtlosen,

bis an den

gewachsenen Sohn als Bild des Kindersegens

Traualtar fortgesetzten, Gegenwehr*) darbieten wird, läßt sich denken, nicht

aber wie diese rastlose Hetze, die uns gleich dem Hetzwild schwül und immer schwüler macht, endigen wird.

Der Herzog treibt seinen gnädigen

Spaß nur soweit, daß der häßliche Traum gerade noch Schaum werden kann: wo die angebliche Braut nach dem Wechsel der Ringe sich entschleiert,

da sieht das naseweise Gesicht des Pagen hervor.

Wenn an dem Schleier-

macher'schen Wort von der Analogie des träumenden und des dichtenden Fortspinnens der Phantasie etwas Wahres, wenn Leben und Bewegung die Seele des echten Drama und ein alles in regste Betheiligung ver­

setzender Mittelpunkt, wie eine interessante Hochzeit, das Erforderniß der­ selben ist, dann dürfte der MareScalco des AretinerS ein Muster von

einer Farce sein. Einer der unerfüllten Wünsche Pietro Aretino'S war die CardinalS-

würde.

Vielleicht daß er für feine durch mehrere Päpste getäuschte Hoff­

nung sich einige Genugthuung mit seiner Cortigiana, die HöflingSschule, verschaffen wollte, worin die entehrende Laufbahn, die der Purpur-

adspirant Maco von Siena durch die Höflingsschule hindurch bis zur

Bekleidung mit dem Purpur machen muß, beschrieben wird.

Nicht nur

enthält daS Buch für Höflinge, das dem Maco sein schelmischer Mentor

Andrea in die Hand gibt, eine abscheuliche Instruction zur Gesinnungs­ losigkeit, Geckenhaftigkeit, Unterwürfigkeit.

Auch die Prozedur, die Maco,

um ein Höfling zu werden, durchmachen muß, ist eine treffende Satire. *) Er erschöpft alle Mittel derselben; er schreit in derselben Verzweiflung vor der ganzen Hochzeitsgesellschaft 5, 4 hinaus: io sono aperto, wo ihn aber gleich seine Amme Lügen straft.

Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.

22

Er wird in eine Wasserkufe geworfen, um geschmeidig zu werden, er muß devotest Pillen verschlucken, er muß ein Schwizbad nehmen, um sich zum Mann vom Hofe abbrühen zu lassen.

Ein zweiter, von dem ersten ganz

unabhängiger Halbnarr ist ein Signore Parabolano aus Neapel, der

sich, ein Vorläufer Don Quixote's und seiner Dulcinea von Toboso, in Madonna Livia, die nichts von ihm weiß, geschweige will, abstract ver­

liebt hat, so daß seine geheimen Seufzer, von dem abgefeimten Rosso

belauscht, von diesem und der Kupplerin Alvigia dazu verwendet werden, ihm durch die Zusammenführung mit einem schlechten Weib, Trog na,

Frau des Bäcker Hercolano, als der angeblichen Livia ein X für ein U zu machen.

Die beiden disparaten Fäden der Erzählung weiß der ge­

wandte Dichter am Schluß zusammenzubringen, indem er mit Hilfe des enttäuschten Parabolano, dem er gleichsam das Regiment überträgt, die

verschiedenen Interessen des Lustspiels in menschenfreundlicher Weise be­ friedigt werden läßt.

Eine bedeutendere Leistung, als la Cortigiana, ist das dritte Lust­ spiel il Ipocrito, der Heuchler, so benannt, nach dem Factotum bei der

schicksals- und töchterreichen Familie eines Herrn Liseo

in Mailand.

Doch verdient es die Figur dieses Hhpokriten nicht, daß nach ihm das Stück betitelt wurde.

II Ipocrito ist zwar gehörig carikiert, ein Simulant,

Salbader, Mahlzeitjäger, Frauenbeschwätzer erster Sorte, aber zu Er­

zeugung eines vollständigen Tartüffe haben die Italiener noch zu viel Re­ spect vor der Magie, über die der Klerus verfügt.

Besser hieße das

Stück nach Liseo, in dem uns ein eigenartiger, im Verlauf der Erzählung zur Entwickelung gekommener Charakter geschenkt wird. Liseo ist ein Kreuzträger, wie wenige. Schon zu Anfang des Stückes ist er mit be­ ständiger Angst behaftet, sein von ihm in der Kindheit getrennter Zwillings­

bruder Britio könnte wieder kommen und er müßte mit diesem das Erbe

theilen.

Dann hat er nicht weniger als fünf mannbare Töchter, von denen

jede ihrm eigenen, möglicher Weise durch mehrere Bewerber oft recht ver­ wickelten Liebesroman hat, was für die Eltern Verlegenheiten genug absetzt,

er leidet dann auch gleich Petrarka unter Schlingeln von Bedienten; end­ lich kommt er mit seiner Frau in die ärgsten Ehehändel hinein, weil

der incognito erscheinende Bruder, Britio, Anlaß zu den ärgsten Miß­ verständnissen gibt.

Kurz, er kann sich, wie er seinem Hausfreund, dem

Hhpokriten, klagt, aus dem Wirrwarr seiner Verhältnisse nimmer heraus­

finden, hält sich von einem durch das Schicksal in Person Verfolgten.

Der

Hypokrit gibt ihm den Rath, sich eben aus dem Schicksal nichts zu machen. Er folgt ihm, so gut es geht.

Sein Dasein ist von nun an ein Wechsel

zwischen dem Verfolgungswahn, der nicht mehr von ihm lassen will, und

zwischen einem starken, gegen Laune und Tücke des Geschicks sich abhärtenden Willen, eine Mischung von Narrheit und Weisheit, ein erstes Auftauchen

eines in moderner Weise zerrissenen Subjects in der Culturgeschichte! DaS Einemal sieht er in seinem Brilder-Doppelgänger die leibhaftige,

ihn äffende Fortuna, das anderemal setzt er eine kaustische Apathie und Stumpfheit gegen Leid und Freude. Auch gegen Freude: eS stellt sich heraus,

daß der Junggesell Brttio in den besten Verhältnissen lebt und

nicht

daran denkt, sein Erbe vom Bruder zu verlangen; eö wickeln sich die

HeiratSaffairen, eine nach der andern, aufs Befriedigendste ab; „die fünf Töchter", proklamiert der Hypokrit, „werden heute ihre Hochzeit machen

oder erneuern"; Britio ist der theilnehmendste Bruder, Schwager, Onkel

von der Welt.

Lifeo beharrt in seinem dumpfen Brüten, das er nur mit

seinem ewigen Reftatn: Todos es nada, alles ist nichts und mit dem Kassandrawort: in zwei Stunden werde sich all der Hochzeitjubel in Gram und Grauen auflösen, unterbricht. Immerhin ein anzuerkennender Versuch,

den tragikomischen Conflict von Menschenschicksal und Menschenherz vor­

zuführen l Gehen wir über die vierte Komödie deS AretinerS, la Talanta, eine neue Auflage von Terenz' Eunuch, nur

daß

die Courtisane Talanta

noch ganz anders, als die Hetäre Thais, das Metier, Männer ein- und auszuziehen, zu äffen und zu foppen und zu guter Letzt doch noch einen Gatten zu erangeln versteht, zu der fünften und letzten, il Filosofo über. Dieselbe ist, ungeachtet sie zwei heterogene Handlungen enthält, die nicht,

wie in der Eortigiana, schließlich zusammengehen, nicht ohne Gehalt, indem

sie unS in dem Filosofo nach Lifeo, dem vom Schicksal herausgeprägten

Original, auch ein ursprüngliches, gleichsam spontanes Original darbietet. Um mit der Nebenhandlung fertig zu werden: sie gibt sein und lustig

dialogisiert unter anderem Namen und mit ausgedehnterer Staffage die bekannten Abenteuer des Pechvogel und schließlichen Glückspilz Andreuccio

wieder, die wir aus der drolligen Erzählung Boccaccio'S in Dekamerone

kennen.

Die Haupthandlung dreht sich um den Philosophen Plata-

ristotele, der eine Frau, Tessa, genommen hat, von der er aber ver­

graben in seinen Studien, keine Notiz nimmt, so daß sie in der Ver­

zweiflung die Huldigungen eines süßlichen Galan, Polidoro, annimmt.

Als der Philosoph die Lunte riecht, beschließt er, den Rivalen in sein

Studierzimmer zu locken und dort einzuschließen, um seine Frau vor ihrer

Mutter und den Domestiken zu beschämen.

Aber die Gegner bekommen

Kunde von dem Anschlag, lassen den Polidoro heraus und statt seiner einen Esel hinein, sodaß der Philosoph, als er feierlich das Zimmer öffnet,

um Tessa vor Zeugen ihrer Untreue zu überweisen, nur den Spott der

Die italienische Komödie des 16. Jahrhunderts in ihren Anfängen.

24

Uebrtgen und eine geeignete Strafpredigt von seiner Frau erndtet.

Er hat

aber eine so gesunde Natur, daß die erlittene Beschämung und die wohl­ begründeten Vorstellungen seiner Frau ihn zum Nachdenken bringen und

er sich auf seine ehelichen Pflichten besinnt, der Frau und den Ihrigen,

selbst auf die Gefahr hin, daß sie ihm nicht ganz treu gewesen sei, Ab­

bitte thut und unS mit der Hoffnung entläßt, die versöhnten Ehegatten könnten eS noch zu einer ganz leidlichen Ehe miteinander bringen.

Verdienst unseres Dichters besteht darin,

Das

in seinem Ptataristotele an­

gemessen die Züge deS Gelehrten und Menschen gemischt zu haben.

In

seiner Umnachtungsperiode nehmen seine Meditationen von selber ihren Inhalt von dem Stand, in den er formell eingetreten ist, indem sie sich auf

Gegenstände, wie Liebe, Sinnlichkeit, Procreation richten und in der Zeit seines WachwerdenS führt ihn ein angenehmes Nebeneinander von tief­

sinniger Reflexion und von nüchterner Anschauung auf das, was er seiner Frau und seiner eigenen Lebensaufgabe schuldig ist.

Kein unfeiner Zug

des Dichters ist es, diesem Sonderling, der sich zuletzt als einen Mann von

Substanz offenbart, einen recht faden Menschen zum Nebenbuhler verliehen zu haben: für Mann und Frau vergeht auf diese Weise die Seifenblase seiner Erscheinung so leicht, wie er in der Erzählung selber verduftet.

Wir haben die vier bedeutendsten Vertreter der italienischen Komödie im 16. Jahrhundert unsern Lesern vorgeführt.

„In die Denkweise der

Blüthe der italienischen Gesellschaft muß man eingeweiht sein, um die weltgeschichtliche Bedeutung zu verstehen, welche die Lehre von der Recht­

fertigung durch den Glauben, aus dem deutschen Gemüth wiedergeboren,

erlangt hat."

So

ruft Georg Voigt

in seiner

„Wiederbelebung des

classischen Alterthums" S. 412 aus, wo er die Welt des Scheins beleuchtet, in der rein humanistische Schöngeistigkeit die sittliche Ordnung verkehrt hatte.

Auch bei den vorgeführten italienischen Komikern fühlt man häufig das Bedürfniß, um nicht an der Menschheit zu verzweifeln, die ihnen gleich­ zeitige Reformation in ihrer Blüthenära ihnen gegenüber sich zu denken;

darum dürfen wir aber den Werth ihrer redlich gemeinten Vorarbeit für das Drama auf dem germanisch-protestantischen Boden uns nicht ver­

bergen.

Emil Feuerlein.

Dr. Mittelstädt und die Einzelhaft*). Don

I. Bartz.

In den maßgebenden Kreisen wie in der Sphäre der Fachmänner und weit über dieselbe hinaus schien die Frage nach der besten Art des

Strafvollzugs seit längerer Zeit prinzipiell entschieden zu sein.

Freiheits­

strafe das normale Strafmittel, Einzelhaft die normale Ausführung der

Freiheitsstrafe, diese Sätze waren fast zu Axiomen geworden, von denen namentlich der erstere eine- Beweises nicht mehr bedurfte.

zweiten wurden noch hie und da Stimmen laut.

Gegen den

Auf der einen Seite

protestirten immer noch Leute, denen bei dem Worte „Zelle" das modrige

Kerkerloch eines mittelalterlichen Burgverließes vor das Auge trat und die sich einen Gefangenen in seiner Zelle so verlassen vorstellten, wie es nicht einmal Robinson auf seiner Insel gewesen war, die sich dann auch

nicht denken konnten, wie jemand Leben in solcher Einsamkeit behalten könne, und die nicht selten glaubten, daß die armen Gefangenen dort durch

religiöse Bestürmung um den letzten Rest von Verstand gebracht würden. Auf der anderen Seite fehlte es auch immer noch nicht an Strafanstalts­ beamten, welche die Einrichtung und das Leben in einem Gefängniß mit durchgeführter Einzelhaft höchstens ganz oberflächlich kennen gelernt und

die nicht geneigt waren, die Verhältnisse, in die sie sich einmal eingelebt hatten, aufzugeben für etwas, in dessen Wesen sie sich gar nicht hinein­

versetzen konnten.

Diese hielten in dem Bewußtsein, daß doch auch in

ihren Anstalten Reinlichkeit und Ordnung herrsche, die Zellengefängnisse

für einen ganz überflüssigen, wenn nicht gar schädlichen Luxus.

Beide

Parteien zusammen waren aber nicht im Stande das siegreiche Vorschreiten der Einzelhaft aufzuhalten; was sie erreichten, waren einige Restrictionen für die praktische Ausführung in Bezug auf die Dauer der Zeit, welche *) Die Red. stellt hiermit die wichtige Frage zur DiScussion und behält stch ihre Meinung vor.

der Gefangene in der Zelle zubringen müsse, welche aber daS Prinzip

selbst nicht anfochten. geworden.

Jetzt ist die Sachlage seit einiger Zeit eine andere

Mancher einflußreiche Mann ist in seinen Anschauungen über

die Sache unsicher geworden, ja man hört, daß der Entwurf zum Straf­ vollzugsgesetz, der im wesentlichen die Einzelhaft als die normale Art des

Strafvollzugs festhielt, einstweilen ad acta gelegt sei.

Die Ursache dieses

Umschwungs ist die Broschüre des Dr. Mittelstädt in Hamburg „Gegen

die Freiheitsstrafen" (Leipzig, Hirzel).

ES hat ihr nicht an Entgegnungen

und Kritiken gefehlt, doch ist die Sache noch immer unentschieden und darum soll hier auö den Erfahrungen eines Beamten an einem Zellen-

gefängniß ein bescheidener Beitrag zur Frage nach dem Werthe der Einzel­ haft mit besonderer Berücksichtigung

jener Einwände gegeben werden,

welche Dr. Mittelstädt dagegen erhoben hat. Der frische Ton, in dem die Schrift Dr. Mittelstädt's geschrieben ist, sein energischer Unwille gegen die Oberflächlichkeit, sittliche Verschwommen­

heit und geistige Zerfahrenheit unserer Zeit, die Freimüthigkeit, mit

welcher er der öffentlichen Meinung entgegentritt, sind wohl geeignet ihm die Sympathie aller derer zu gewinnen, welche mit tiefem Schmerz er­ kannt haben, in wie hohem Grade das sittliche Bewußtsein unseres deut­

schen Volkes gesunken ist — so sehr, daß in weiten Kreisen der Satz, der Zweck heiligt die Mittel, in praxi als etwas selbstverständliches an­

gesehen wird.

Leider ist dieser Schlummer der Gewissen meist zu tief,

als daß ein solcher Weckruf viel wirken könnte, hat doch selbst die ernste

Predigt der Attentate, und die Aufdeckung der erschreckenden Progression,

in der Verbrechen und Vergehen aller Art im letzten Jahrzehnt zuge­

nommen haben, in der Art wenig gebessert, daß die einzelnen Glieder des Volkes sich auf ihre speciellen sittlichen Verpflichtungen hin ernstlich und

dauernd besonnen hätten.

Zudem hat meines Erachtens Dr. Mittelstädt

selbst viel gethan die Wirkung seiner Schrift zu hemmen, die sonst als

ein Aufruf an den geistigen Adel der deutschen Nation so wohl gemeint ist.

Seine prinzipiellen Anfeindungen der Freiheitsstrafen und speciell

der Einzelhaft sind keineswegs so fest begründet, wie es nach der Sicher­

heit scheinen möchte, mit der sie auftreten.

Nach Dr. Mittelstädt ist die Freiheitsstrafe ein Product der Neuzeit, welche, hingenommen von einem weichlich sentimentalen Humanismus und

einer gründlichen philosophischen Bildung entbehrend, den Begriff der Strafe verloren habe und nur an die Besserung deS verirrten Indivi­ duums denke.

Die Entziehung der Freiheit als Strafe anzuwenden, er­

scheint ihm ganz widersinnig, weil eine Relation zwischen Gesetzesüber­

tretung und Freiheitsstrafe nicht herzustellen sei.

Erst wenn man den

abschreckenden Charakter, welchen jede Strafe tragen müsse, wenn sie als Strafe gelten solle, aus dem Auge lasse und daS Wesen der Strafe nur

darin suche, daß sie den Verbrecher bessern solle, könne man auf die un­

glückliche Idee der Freiheitsstrafen kommen.

Die prinzipielle Frage, ob

Freiheitsstrafen berechtigt sind oder nicht, kann in diesen Zeilen nicht zum AuStrage gebracht werden, sie muß dem Forum der Juristen vorbehalten bleiben.

Wir wollen hier auch nicht mit ihm darüber rechten, in wie

weit nicht z. B. schon die Bergwerksarbeit bei den Völkern deS Alter­ thums unsern Zuchthäusern entsprochen habe.

Nur so viel soll nicht un­

erwähnt bleiben, daß nach der historischen Entwickelung des Strafvollzugs der Staat nicht etwa zu einer Zeit das BefferungSprinzip an die Stelle des Strafübels, durch welches die Verletzung der Gesetze oder der Ge­

rechtigkeit gesühnt werden soll, gesetzt, sondern daß er im Laufe der Zeit theils Privatpersonen

theils

kirchlichen Organen gestattet hat,

an der

Besserung der Gefangenen zu arbeiten, woraus sich allmählich der jetzige Zustand herausgearbeitet hat.

Andererseits liegt es im eigensten Interesse

des StaateS wie vor allem im Begriff der Strafe, daß die sittliche Um­

wandlung des Verbrechers vor sich gehe, denn nur dann wird die Ge­ rechtigkeit vor neuen Verletzungen von seiner Seite gesichert sein.

Ueber

allem Thun, über allen Bestrebungen des modernen Staates, der nicht mehr den christlichen Charakter an sich trägt, sondern über aller Religion

zu stehen glaubt, steht allein das Prinzip der Selbsterhaltung und Fort­ entwickelung.

Auch die Gerechtigkeitspflege kann von dem Staate nur auS

dem Grunde geübt werden, weil ohne Ordnung kein Gemeinwesen besteht. Der objective Ausdruck aber der staatlichen Ordnung ist daS Gesetz.

DaS

Ziel des StaateS muß eS jedoch sein, daß seine Bürger das Gesetz nicht

blos aus Furcht vor der Strafe unterlassen, sondern willig befolgen, weil er nur in diesem Falle sicher ist, daß nicht unter der täuschenden Hülle

äußerer Gesetzmäßigkeit in der Stille große Ungesetzlichkeiten verübt werden. Es ist wohl kaum nöthig an das Beispiel jener Wucherer zu erinnern,

welche es sogar verstanden haben, daS Gesetz ihren verbrecherischen Zwecken dienstbar zu machen.

So ist dem Staat und seiner Rechtssicherheit wenig

geholfen, wenn aus einem Diebe ein raffinirter Betrüger wird, welcher

sich nicht fassen läßt.

Und auch zu dem Begriff der Sühne gehört eS,

daß auf die Ausübung eines Unrechts nicht nur ein Strafübel folgt, son­ dern auch die Reue des Thäters über die begangene That.

Dieselbe ist

nur dann wirklich gesühnt, wenn der Verbrecher den Schmerz auftichtiger

Reue gefühlt hat, wenn die Majestät des Gesetzes ihn auch innerlich über­

wältigt hat.

Freilich wird es in jedem Staat eine Reihe nothwendiger

Vorschriften geben, welche nur eine durch die besondern Verhältnisse be-

dingte zufällige Nothwendigkeit besitzen und denen gegenüber im allge­

meinen sich nur eine äußerliche Erfüllung erzwingen läßt.

aber die prinzipielle Seite der Frage nicht.

Das tangirt

So erscheint die anzustre­

bende Besserung nicht mehr als Nebenzweck neben dem Hauptzwecke von

weiteren Uebertretungen abzuschrecken, sondern als ein integrirendeS Mo­ ment in dem Begriff der Strafe.

Eine Strafe, welche die Besserung

des Bestraften nicht erreicht hat, ist unvollkommen geblieben.

ES ist nicht

eine Verkennung von dem wahren Wesen der Strafe, wenn der Straf­ vollzug so gestaltet wird, daß man dadurch den Verbrecher zu bessern sucht,

sondern eine tiefere Erfassung dieses Begriffs. Alle praktischen Bestrebungen sind jedoch an die Verhältnisse in der

Wirklichkeit gebunden, und lassen sich nur so weit verwirklichen, als diese es.gestatten.

So gestehen wir Dr. Mittelstädt das gerne zu, daß bei

einer ganzen Anzahl von Vergehungen es überflüssig erscheint, den kost­

spieligen und umständlichen Apparat der Freiheitsstrafen in Anwendung

zu bringen.

Sicherlich giebt es eine ganze Anzahl von Vergehungen, wo

von einem derartigen Geisteszustand des Thäters nicht die Rede ist, daß es erst einer längeren Einwirkung bedürfte, um ihn zur Erkenntniß seines

Unrechts zu bringen.

Geldstrafen,

welche aber auf die Erwerbs- und

Vermögensverhältnisse des Betreffenden billige Rücksicht nehmen sollten, Ehren- und auch Leibesstrafen, bei denen sich gegen die brutale Art, in

der sie leider häufig ausgeführt worden sind, und die sie in Mißcredit gebracht haben, leicht Garantieen finden ließen, könnten wenigstens einen

Theil der kürzeren Gefängnißstrafen mit großem Vortheil ersetzen.

Ich

kann mir nicht vorstellen, daß unter den Männern, welche die Wirkung

der Gefängnißstrafen mit Aufmerksamkeit beobachtet haben, ein einziger sein sollte, welcher nicht auch die Ueberzeugung gewonnen hätte, daß die kurzzeitigen Freiheitsstrafen in ihrer überwiegenden Mehrheit einen durch­

aus schädlichen Charakter an sich tragen.

Sie dienen meist nur dazu die

Scheu vor der Strafe und damit die Scheu vor dem Verbrechen zu ver­ lieren.

Weder an eine Sühnung der begangenen That, noch an eine

Abschreckung des Verbrechers und seiner Umgebung, noch, und dies am

allerwenigsten, an eine Besserung ist dabei zu denken.

Das ist selbst bei

der Einzelhaft der Fall, von der gemeinsamen Haft ganz zu geschweigen. Vor

allem bei jugendlichen Verbrechern,

bei ehrlos verkommenen, ge­

werbsmäßigen Vagabonden, welche ihre Faulheit zwischen Gefängniß und

Arbeitshaus hin- und hertreibt und die die Strafanstalt wie eine Ver­ sorgungsanstalt betrachten, so wie für sogenannte Louis wäre eine ange­ messene Anwendung der Körperstrafe ficherlich zweckmäßiger als kurze Ge­

fängnißhaft, wo möglich noch in Gemeinschaft mit gleichgesinnten Genossen.

Wer durch sein Leben oder durch sein Vergehen resp. Verbrechen zeigt, daß er keine Ehre hat,

sollte um seinetwillen wie um der ehrenhaften

Leute willen, auch als ehrlos behandelt werden, denn in der Regel kann

er allein auf diese Weise zur Erkenntniß seines sittlichen Zustandes kom­

men, und ohnedies wird seine innere Frechheit nur gestärkt, wie man das hundertfach beobachten kann.

Nach meiner festen Ueberzeugung sollte

Gefängnißstrafe unter einem Jahr nur in Ausnahmefällen, unter 6 Mo­ naten überhaupt nicht erkannt werden können. Auch das ist Dr. Mittelstädt zuzugeben, daß jene ausgelernten Ver­ brecher, bei denen alle Aussicht auf eine mögliche Wiedergeburt verloren

gegangen ist, nicht in den

eigentlichen Strafgefängnissen oder Zucht­

häusern unterzubringen sind, sondern in Arbeitshäusern, vielleicht auch durch Deportation, aber nicht nach englischem oder französischem Muster,

unschädlich zu machen sind.

Im Uebrigen aber sind die Beschuldigungen,

welche er gegen die Freiheitsstrafen erhoben hat und zwar besonders noch gegen die normale Art der Freiheitsstrafen, gegen die Einzelhaft, durch­

aus unzutreffend. Eigenthümlich nimmt es sich aus, wenn Dr. Mittelstädt in seinem

offenen Briefe an den Sächsischen General-Staatsanwalt von Schwarze

(im neuen Reich 1860 Nr. 16) mit Nachdruck geltend macht,

nicht wie

lange, sondern wie man beobachtet habe, sei für die Richtigkeit der Beob­ achtungen entscheidend, während jeder Beamte eines Zellengefängnisses

aus der Schrift des Dr. Mittelstädt den Eindruck gewinnen muß,

daß

derselbe eingehendere Studien in einem Zellengefängniß nicht gemacht

hat.

Nur so erklärt es sich auch, wenn er die Anwendung der Freiheits­

strafen vornehmlich aus dem Grunde bekämpft, daß ihnen der abschreckende Charakter fehle.

Das wäre doch nur der Fall, wenn man den Verlust

eines Gutes nicht als ein Uebel empfinden würde. freien Willens,

Die Beraubung deö

des Genusses aller seiner Besitzthümer, die Entfernung

aus dem Kreise seines Wirkens und Umgangs, die LoSreißung von allen lieb gewordenen Lebensgewohnheiten, sollte nicht als ein Uebel empfunden

werden?

Gewiß

wird es von den verschiedenen Personen je nach ihrer

Charakteranlage und bisherigen Lebensstellung verschieden schwer gefühlt,

aber das wird bei jeder Strafe bleiben.

Für jeden Gefangenen aber ist

diese Entsagung, verbunden mit der Unterordnung unter die Vorschriften der Hausordnung, eine Last,

welche ihm auferlegt wird, und nur etwa

in gemeinsamer Haft oder bei kurzzeitigen Strafen, kann dort die unter­ haltende Gesellschaft, hier die Erwartung des nahen Endtermines den

Druck dieser Last wirkungslos machen. Wenn Dr. Mittelstädt als Gegenbeweis den traurigen Umstand an-

führt, daß die Zahl der Vergehen und Verbrechen in den letzten Jahren erschreckend gewachsen ist, so kann gegen die Einzelhaft schon aus dem einfachen Grunde damit nichts bewiesen sein, weil die Zahl der Zellen­

gefangenen immer noch verschwindend klein ist gegenüber der ganzen Zahl Eine allgemeine abschreckende Wirkung der Einzelhaft

der Gefangenen.

kann doch füglich erst dann erwartet werden, wenn sie allgemein einge­ führt ist und jeder Verbrecher darauf gefaßt sein muß, daß er in die

Zelle gebracht wird.

Soweit sich die Sache nach den hier in Plötzensee,

wo sowohl Einzelhaft als Gemeinschaftshaft in ziemlich großem Maßstabe

gemachten Erfahrungen beurtheilen

vertreten ist,

läßt, kann gar kein

Zweifel darüber sein, daß die Einzelhaft insbesondere auch für den be­ reits moralisch tief gesunkenen Verbrecher eine entschieden abschreckende Wirkung ausübt.

So groß ist dieselbe natürlich nicht, daß keine Rück­

fälle mehr vorkommen. verhindern.

Diese lassen sich durch kein Strafmittel ganz

War doch vor einiger Zeit ein Mensch hier inhaftirt, welcher

wegen TodtschlagS zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurtheilt gewesen

war, wovon er siebenundzwanzig Jahre verbüßt,

und der sich nach­

her doch wieder in eine Schlägerei eingelassen hatte.

Wenn aber Dr.

Mittelstädt die große Rückfälligkeit, welche im Allgemeinen herrscht, auch ohne Weiteres auf die Einzelhaft anwenden will, so ist das eine große

Ungerechtigkeit.

Leider ist die Statistik auf diesem Wege noch sehr wenig

ausgebildet. In Bezug auf die Zuchthaussträflinge ist ja angeordnet, daß über ihre Rückfälligkeit Buch geführt wird, aber doch nur so weit es sich

um eine neue Verurtheilung zum Zuchthaus handelt, ohne etwaige neue Gefängnißstrafen zu berücksichtigen.

In dieser Beziehung stehen z. B.

Moabit in Preußen, Nürnberg in Baiern durchaus günstig da neben den

Zuchthäusern mit gemeinsamer Haft.

Wenn Dr. Mittelstädt von der ge­

meinsamen Haft behauptet hätte, daß sie nicht bloß die Rückfälligkeit nicht

hindere, sondern vielmehr oft Anlaß werde zu neuen Verbrechen, wie ja selbst in der Untersuchungshaft von den Zimmergenossen schon neue ver­

brecherische Pläne geschmiedet werden,

so hätte ich nach meinen Erfah­

rungen dem nicht widersprechen können.

Dr. Mittelstädt sucht alle möglichen Instanzen gegen die Einzelhaft

in Bewegung zu setzen.

Wie er aber dabei behaupten kann, daß das

System der sogenannten vorläufigen Entlassungen, wonach ein Sträfling, wenn er drei Biertheile, mindestens aber ein Jahr von seiner Strafe ver­ büßt und sich auch gut geführt hat, unter Vorbehalt des Widerrufs ent­

lasten werden kann, kläglich FiaSco gemacht habe (S. 54), ist mir voll­

ständig unfaßlich.

Wie Dr. Mittelstädt die Zahlen, welche von Schwarze

in seiner Schrift „die Freiheitsstrafe" (Leipzig FueS' Verlag) zur Wider-

legung dieser Behauptung anführt, in seiner oben angeführten Entgegnung

„Im Neuen Reich" zu seinen Gunsten wenden will, vermag ich nicht einzusehen.

Die Zahl der in Preußen bedingt entlassenen Sträflinge

betrug 1871, 1708;

1872, 289;

1873, 179;

1874, 140, der Widerruf

erfolgte in je 80, 26, 7 und 2 Fällen, oder es erfolgte auf je 21, 4;

11,1; 25, 6; 70 Entlassungen ein Widerruf, was sich doch wahrlich nicht

als ein ungünstiges Resultat bezeichnen läßt.

Sollte eS ihm denn so

ganz unbekannt geblieben sein, daß nicht schlechte Erfahrungen, die man

auf diesem Gebiete gesammelt hätte, sondern persönliche Antipathien eS herbeigeführt haben, daß jetzt leider nur eine sehr kleine Zahl von solchen

vorläufigen Entlassungen stattfindet, und daß, wo die Genehmigung ver­

weigert wird, nicht einmal der Grund der Versagung angegeben wird? Die Erfahrungen, welche man in dieser Sache gemacht hat, sprechen

sehr entschieden zu Gunsten dieser Einrichtung.

Auch die Ergebnisse,

welche Streng in seinem trefflichen Buche über daS Zellengefängniß in

Nürnberg anführt, sind geradezu glänzend, und mit Recht hat die rhei­ nisch-westphälische Gefängniß-Gesellschaft, auf solche Resultate gestützt, mehrfach Petitionen eingeretcht, welche um eine mildere Handhabung des

§. 23 des Strafgesetzbuches bitten.

Bis jetzt sind dieselben leider ohne

nennenSwerthen Erfolg geblieben.

Aeußere Vorzüge erkennt Dr. Mittelstädt der Zellenhaft gegenüber der Gemeinschaftshaft ohne Bedenken zu.

So sagt er:

Wie viel Luft

und Licht, welche durchsichtige Ordnung und makellose Sauberkeit waltet in diesen endlosen Gängen und zahllosen Zellen (S. 15).

An anderer

Stelle redet er von dem relativen Vorzüge, welchen die Einzelhaft im Allgemeinen vor der regellosen Zusammenpferchung mannigfaltigsten Ver-

brecherthumS in den Gefängnißmauern voraus hat.

Er giebt zu, daß eS

unleugbar geringere Gefahren erbringt, ein geringeres Uebel für die sitt­

liche Gesundheit deS Ganzen ist, wenn der Strafgefangene absolut von jeder Gemeinschaft mit andern Schicksalsgenossen gesondert wird; und so

lange die Freiheitsstrafen ihre jetzige Herrschaft behaupten, wünscht er der

Einzelhaft die unbeschränkteste Entwickelung (S. 29).

Damit contrastirt

es freilich in eigenthümlicher Weise, wenn er an anderer Stelle (S. 34)

die Errichtung der Jsolirgefängnisse als die Vergeudung kostbarsten na­ tionalen Vermögens in unserm armen Deutschland bezeichnet. Bei etwas

weniger Voreingenommenheit hätte er leicht erkennen müssen, daß eS nicht blos relative Vortheile sind, welche die Zelle vor der Gemeinschafts­

haft voraus hat, sondern auch objective, welche die Einzelhaft vor allen

übrigen Strafmitteln auSzeichnet. Ein Hauptgrund dieses Umstands scheint mir darin zu liegen, daß

Dr. Mittelstädt das Prinzip der Einzelhaft falsch auffaßt. Nicht in möglichst

absoluter Isolirung ist das Wesen der Einzelhaft zu suchen, wie schon Hagele

in seinen sehr lesenswerthen „Erfahrungen in einsamer und gen einsamer

Haft" (Altona 1862) ausführt, sondern in dem Ausschluß des Verkehrs mit Verbrechern, und in der Beschränkung doch nicht in dem Ausschluß socstigen

Umgangs mit Menschen.

Nicht das ist das Ziel, daß der Mensch ganz

mit sich allein sein soll, sondern daß neben die Entziehung der Selbstbestim­ mung, worin das Wesen der Freiheitsstrafe liegen dürfte, die Entferstung

aller für eine sittliche Umwandlung hinderlichen Elemente tritt.

Wie

wenig eö bei der Einzelhaft auf möglichste Jsolirung abgesehen ist, zeigt die Fülle geistiger Anregung, welche man dem Gefangenen von den ver­

schiedensten Seiten zuzuführen bemüht ist.

Die Beschränkung geht nur

so weit, wie es auf der einen Seite nöthig ist, um die Strafe als Uebel

fühlbar zu machen, und auf der andern, um die sittliche Umwandlung des Verbrechers zu unterstützen.

Wenn Dr. Mittelstädt sagt: „Wo Geist und

Seele ein gewisses Maß, einen gewissen Inhalt von Intelligenz, Em­ pfindung, sittlicher Kultur in die Einsamkeit mitnehmen, wenn auch noch so verwildert und verschüttet durch Laster und Frevel, da ist freilich Stoff

vorhanden für die Beschäftigung des Menschen mit sich selbst, und ein Ziel für die Einkehr in das Innere.

Wo das fehlt, starrt das sich selbst

beschauende Individuum in das öde, inhaltsleere Nichts" (S. 31), — so muß man auf den Gedanken kommen, er stelle sich die jetzigen Zellengefäng­ nisse Deutschlands als unveränderte Nachbildungen jenes ersten peniten-

tiary in Pittsburg vom Jahre 1826 vor, wo die Insassen in absoluter Einsamkeit gehalten wurden.

Wie verfehlt ein solches Verfahren sei, sah

man schon schnell genug in Pcnnsylvanien selbst ein und die heutigen deut­ schen Anstalten der Art entsprechen der eben

durchaus nicht.

angeführten Schilderung

Abgesehen davon, daß auch der einfachste Mensch, dessen

Leben immer in gleichmäßigem Geleise fortgeschritten ist, doch ein Leben hinter sich hat, das, so inhaltsleer es dem Fremden erscheinen mag, ihm eine Fülle von Erinnerungen hinterlassen hat, so ist nirgends eine Ein­

zelhaft vorhanden, wo man den Gefangenen ohne alle geistige Nahrung und ohne alle Möglichkeit der Aussprache nur mit sich allein ließe.

Den

größten Theil seiner Zeit verbringt der Gefangene allerdings einsam in seiner Zelle, aber das Gefühl der Verlassenheit, welches das eigentlich

deprimirende Element ist, kann darum ihn doch nicht beherrschen, denn unmittelbar vor seiner Thür ist Leben, und wenn irgend welche Hilfe

nöthig ist, bedarf es nur eines Griffs an die Schelle, um den Aufseher, sei es Tag oder Nacht, herbeizurufen.

Die ungestörte Stille, in der er

im Allgemeinen seine Arbeit verrichten und seine Mußestunde verbringen

muß, ist ihm aber etwas durchaus nothwendiges. Zerfahrenheit des Sinnes, Mangel an Selbstbesinnung ist so sehr die Signatur unseres Zeitalters, besonders in den größeren Städten, daß wahrlich vielen, namentlich jungen

Menschen eine rechte Wohlthat geschähe, wenn sie auf eine Zett in die Einsamkeit gebracht würden, um in ruhigem Nachdenken richtige Anschau«

ungen über sich selbst und die Erkenntniß der nothwendigen Ziele wie der rechten Mittel für ihr Leben zu gewinnen.

Für alle die Verurtheilten,

bei welchen sich, sei es auö dem Charakter des Verbrechens selbst, sei eS

aus sonstigen Nebenumständen, eine falsche Richtung des ganzen sittlichen Geisteslebens ergiebt, ist es darum, soweit die Möglichkeit einer sittlichen

Wiedergeburt noch vorhanden erscheint, eine aus dem Prinzip der Selbst­ erhaltung mit Notwendigkeit sich ergebende Pflicht des Staates, ihnen in

der Stille der Zelle Gelegenheit zu geben, über ihr Leben vornehmlich über die Ursache ihres Falls nachzudenken.

Das Gericht, welches sich an

dem Verbrecher vollzogen hat, ist ein kräftiger Anstoß, seine Gedanken in die rechte Richtung zu treiben.

Oft genug haben Leute, besonders bei

ihrer Entlassung, wo sie nichts mehr gewinnen und verlieren konnten,

mir eS ausgesprochen, daß diese Zeit der Selbstbesinnung für sie eine wahre Wohlthat gewesen sei.

Wie sehr sich die Einzelhaft aber nach allen

Seiten hin zum Strafmittel eignet, zeigt sich auch in folgendem Umstande. Für denjenigen, welcher der Reue in sich Raum gegeben und den An­

fang eines neuen Lebens gewonnen hat,

verliert sie ihre Schrecken und

er kann sie geduldig ertragen, so daß es eine ganz unnöthige Furcht von Dr. Mittelstädt ist, daß

eine Haft,

welche längere Zeit dauert, als

zur sittlichen Erneuerung des Verbrechers nöthig gewesen ist, schädlich

wirken und das gewonnene wieder zerstören könne.

Andererseits ist es für

den unruhigen Geist eines bereits entarteten Verbrechers ein besonders hartes Strafübel, eine Strafe von längerer Dauer in Einzelhaft verbüßen

zu müssen.

So ist die durch äußern Zwang dem Individuum abgenöthigte Ver­ einsamung keineswegs wie Dr. Mittelstädt will, ein todter, unfruchtbarer Zustand, sondern ein wesentliches Hilfsmittel für die Regeneration des

sittlich Kranken, mit der man die ungestörte Ruhe wohl in Parallele stellen kann, welche dem leiblich ernstlich erkrankten Menschen zur Genesung durch­

aus nöthig ist, wenn sie auch oft nicht allein ausreicht ihm zur Gesundheit

zu verhelfen.

Das soll sie auch hier nicht, denn es sind in der Kirche,

Schule und im Verkehr mit den Beamten, wie in der Zucht der Haus­ ordnung und der regelmäßigen Arbeit weitere kräftige Factoren gegeben,

deren Zusammenwirken erst das volle Resultat erzielen soll.

Einzelhaft soll nach Dr. Mittelstädt in ihrer Jsolirung Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 1.

Doch der

des Menschen

3

Dr. Mittelstädt und die Einzelhaft.

34

allerlei anhaften, was diese günstigen Einwirkungen aufhebt und alle An­

strengungen fruchtlos macht. Dr. Mittelstädt sagt: „Die fortdauernde Entwöhnung vom großen Getriebe der Welt und den kleinen Kämpfen um das Dasein schützt frei­ lich auch vor der Welt Versuchungen und den Begierden der Selbstsucht.

Aber sie erzieht nicht für das Mmschenleben, sondern sie verzieht.

Zu

lange auf den eignen Dunstkreis angewiesen, verweichlicht Körper und

Geist, entwickelt sich leicht die selbstgefällige Ueberschätzung der eigenen Kräfte, der Charakter, der nur in der rauhen Luft der Außenwelt sich festigen kann, verkümmert in feiger Unbeholfenheit und das Gesammter-

gebniß ist eine trübselige, schwächliche Existenz moralischer Treibhausluft. Daher neben den zahlreichen Fällen greifbarer geistiger Erkrankungen in

der Einzelhaft die regelmäßige Erscheinung einer heuchlerischen, trügerischen Besserung des Sträflings in der Zelle, die eben nur ein Product der

Zelle ist, nur in ihren Mauern schattenhaft gedeiht und sofort sich auf­

löst, sobald die Luft der

(S. 32).

Freiheit den Gefangenen wieder durchweht"

Bei dieser Aeußerung und manchen sonstigen Aussprüchen Dr.

Mittelstädts wurde ich lebhaft an eine Stelle aus Stanleys Buche: „Wie

ich Livingstone fand" erinnert, wo er sich darüber bitter beklagt, daß ver­

schiedene Londoner Geographen, die Forschungen Livingstones und anderer Reisenden vollständig ignorirt, oder deren Angaben als unglaubwürdig dargestellt haben,

nicht paßten.

weil dieselben zu ihren selbstgebildeten Vorstellungen

Auch ihm erscheint als unwichtig, was die Leute vom Fach

in dieser Beziehling für Erfahrungen gemacht haben, sind sie nach seiner

Ansicht doch überhaupt nicht im Stande über die Frage ein unbefangenes Urtheil abgeben zu können.

Während er auf der einen Seite freilich die

Sache so darstellt, als ob die ganze öffentliche Meinung für die Einzel­

haft begeistert wäre, schreibt er an anderer Stelle: (S. 16) „Nur die Leute der Gefängnißwissenschaft selbst, die Theoretiker und Techniker vom

Gewerbe, wollen von ihren schönen Lehrsätzen und Einrichtungen nicht lassen.

Zwar etwas kleinlaut herabgestimmt in der breiten Emphase ihrer

Predigten, aber festgeklammert an den Besitzstand deS Bestehenden richten

sie ihre Hoffnungen und Verheißungen auf die endliche volle Verwirk­

lichung des Systems.....................

Und da die rathlose, von tausendfachen

öffentlichen Sorgen verhetzte Gegenwart den Gefängniß-Experten und Ge­

fängniß-Reformern keinen positiven Gedanken anderer Richtung entgegen­ zustellen vermag, gehen die Dinge sonder Ruh und sonder Freude vor­

läufig in den alten Geleisen weiter.

Es ist hoch an der Zeit, daß un­

befangene Köpfe sich der Mühe einer kritischen Revision des vernünftigen

Gehalts heutiger Strafrechtspflege unterziehen!"

Nachdem bereits in Betreff der angeblichen zahlreichen geistigen Er­

krankungen so viel statistisches Material veröffentlicht und noch neuerdings auch diese Frage in dem Buche von Streng über'das Zellengefängniß in

Nürnberg erörtert worden ist, sollte man diese unbegründete abergläubische Beschuldigung endlich fallen lassen.

Heuchlerische Besserung findet man

sicherlich in anderen Gefängnissen und als Folge der Anwendung anderer

Strafmittel mehr als in den Zellengefängnissen; nirgends kann der Ge­

fangene so genau beobachtet werden, nirgends kann er Betrug und Heu­ chelei, Selbstbetrug mit eingeschlossen, so schwer durchführen wie hier. Die Einzelhaft müßte schon sehr schlecht eingerichtet sein und die Beamten außerordentlich kurzsichtig, wenn gerade hier die Heuchelei in umfangreichem

Maße betrieben werden sollte.

Aber auch die moralische Treibhausluft

mit ihrem verweichlichenden Einfluß ist in Wirklichkeit nicht vorhanden. A priori läßt sich das construiren, daß in der Einzelhaft eine mora­

lische Treibhausluft existiren muß,

allein die Praxis sieht gewöhnlich

anders aus als eine auf synthetischem Wege gefundene Theorie.

Was

Dr. Mittelstädt immer wieder aus dem Auge läßt, ist die wirkliche Ge­ staltung der Jsolirhaft, und wenn er entrüstet ausruft (S. 35):

„So

lange es gewiß ist, daß die Einzelhaft nur einen relativ höheren Werth

vor der gemeinsamen Haft, daß ist vor einer willkürlich zur Vergleichung

gesetzten zufälligen Menscheneinrichtung besitzt, daß alle ihre übrigen Vor­ züge, Segnungen, Schönheiten auf Unwahrheiten, Selbsttäuschung, den unhaltbarsten Generalisationen beruhen, wird man das thatsächlich herr­

schende System

der Jsolirgefängnisse vom Standpunkte der Menschen­

besserung und Menschenerziehung als ein häßliches Zerrbild bezeichnen müssen," so kann das auf einen Sachverständigen nicht mehr Eindruck

machen, als wenn ein bekannter Abgeordneter im Abgeordnetenhause gegen das Moabiter Zellengefängniß zu polemisiren pflegte und war nie darin

gewesen.

Bietet sich nicht auch dem Zellengefangenen innerhalb des engen

Kreises, in dem sich sein Leben abwickelt, genug Gelegenheit Entsagung,

Selbstbeherrschung, Festigkeit sich anzueignen; draußen kann er feige dem Kampfe seines Innern ausweichen, hier muß derselbe ausgefochten werden.

Hier muß er lernen, auf die Befriedigung mächtig gewordener Begierden

zu verzichten und den Eigensinn fahren zu lassen.

Haben es nicht Hundert

und aber Hundert mit der That bewiesen, daß die Luft der Zelle mit

ihrer eisernen Zucht sie nicht verweichlicht, sondern gestählt hat für den Kampf deS Lebens!

Wenn man allerdings die Chinarinde darum ver­

werfen will, weil sie nicht jedem Fieber immer noch Einhalt thun kann,

dann mag man auch die Einzelhaft verwerfen, weil sie nicht jeden ver­

kommenen, sittlich ganz erstorbenen Menschen zu regeneriren im Stande ist.

36

Dr. Mittelstädt und die Einzelhaft.

Daß der Zellengefangene nicht auf seinen eigenen geistigen Dunst­ kreis angewiesen ist, weiß nun allerdings auch Dr. Mittelstädt, aber die

Wirksamkeit der erziehlichen Factoren, der Kirche, Schule, der Lectüre, der Arbeit, deö Verkehrs mit den Beamten ist ihm so unbedeutend, daß sie die Schäden, welche die Einsamkeit in sich bergen soll, nicht aufwiegen. Er möchte sich die Einzelhaft noch gefallen lassen, wenn sie mit einer

starken religiösen Einwirkung verbunden wäre, und eS ist ihm zuzugestehen,

daß allerdings im Allgemeinen nur auf religiösem Boden eine gründ­ liche Besserung des Gefangenen erwachsen kann.

Selbst die bürgerliche

Rechtschaffenheit des Entlassenen ist nur dann gesichert, wenn sie auf Gottes­

furcht und Gottvertrauen gegründet ist; ohne dieses kann der blinde Egois­

mus nicht gebrochen, und der Kleinmuth in der Noch nicht überwunden werden.

Glücklicherweise ist aber die religiöse Einwirkung auf die Ge­

fangenen in unserer Zeit nicht beschränkt oder gar ausgeschlossen.

Mag

eS richtig sein, daß man hier und da gut thäte in der Auswahl der Ge­ fängnißgeistlichen noch etwas sorgsamer zu sein und ihnen dann etwas

mehr Spielraum zu lassen, mag eS sein, daß unter manchen Staats- und Weltleuten, wie Dr. Mittelstädt behauptet, ein Einverständniß darüber vorhanden ist, daß religiöse Missionsarbeit innerhalb der Gefängnißpflege durchaus verwerflich sei und der Gefängnißgeistliche zwar aus alter Ge­ wohnheit und in billiger Berücksichtigung individueller Geschmacksrichtungen

der Gefangenen noch geduldet werden möge, seine Stellung aber mit Vor­ sicht zu begrenzen und der weltlichen Gefängnißordnung bescheiden zu subordiniren sei, — denn die bureaukratische Selbstgenügsamkeit ist auch bei

sonst trefflichen Männern oft groß genug, sie in manchen Beziehungen zu blenden, — so steht doch das fest, daß überall noch die Stellung des

Gefängnißgeistlichen der Art ist, daß er ungehindert seinem Berufe nach­

gehen kann, die schlafenden Gewissen zu wecken, die Verirrten zurechtzu­ weisen, die Verzagten aufzurichten.

Daß dies in umsichtiger und nüch­

terner Weise gehandhabt werden muß, um allen Anlaß zur Heuchelei zu meiden, ist ja eine selbstverständliche Sache.

Mindestens ebenso falsch wie

dieser Einwurf ist eS aber, wenn" von Dr. Mittelstädt behauptet wird,

weder die evangelisch-lutherische Kirche, zerfahren und zerbröckelt, wie sie sei,

noch auch die katholische, welche durch ihre undeutsche Befehdung des StaateS einer häßlichen Verweltlichung in Haupt und Gliedern verfallen, könne

diese Aufgabe lösen.

Nicht welterfahrene Klugheit, nicht gewandte Bielge-

schäftigkeit, nicht die imponirende Autorität einer geschlossenen überall mit

Ehrfurcht betrachteten Kirche kann eine Menschenseele umwandeln, sondern

allein die still wirkende Macht deS Evangelii, die Macht der Wahrheit, welche ihre Bezeugung an jedem Herzen findet, das noch den Durst nach

Wahrheit und dauerndem Frieden in sich trägt.

Nicht auf den Charakter

der Kirche, welcher der Geistliche angehört, kommt eS vornehmlich an, sondern

vielmehr auf seinen eigenen.

Wo er, mit rechter Treue gegen seinen Beruf

und mit warmer Liebe zu den Unglücklichen, seinen Pflichten nachgeht,

wird er auch den Zugang zu den Herzen finden und eS wird sich ihm

daS Wort zu Gebote stellen, wie eS für jeden einzelnen sich eignet.

Und

die Zahl der Zellengefangenen, 250—300 für einen Geistlichen, ist nicht

so groß, daß er nicht jedem mit dem Worte GotteS nahe treten könnte, vorausgesetzt natürlich, daß die Strafen nicht zu kurz sind. Von den übrigen geistigen Factoren, welche bet der Einzelhaft in

Betracht kommen, erwähnt Dr. Mittelstädt die Lectüre gar nicht, welche,

wenn sie sorgfältig geleitet wird, von hoher Wichtigkeit ist.

Die That­

sache, daß die Einzelgefangenen wöchentlich mit geeigneter geistiger Nah­

rung versorgt werden, sollte allein genügen, daS Nebelbild, welches uns Dr. Mittelstädt als die Einzelhaft vorstellt, zu zerstören und zu zeigen,

wie ungerecht seine Angriffe vielfach sind.

Ueber die große Bedeutung

der Schule geht er mit jener Geringschätzung hinweg, welche eS ihm leicht

macht mit allen ihm entgegenstehenden Instanzen schnell fertig zu werden.

Wenn ich aber als ein kleines Kennzeichen anführe, daß in unserer Jsoltrschule die Analphabeten in wenigen Monaten lesen und schreiben zu ler­

nen pflegen, so wird dies genügen um nachzuweisen, daß, wenn die Schule incl. Gesang- und Religionsunterricht wöchentlich auch nur 4—6

Stunden, je nach dem Bildungsgrade der Gefangenen, umfaßt, ihre Wirk­ samkeit doch nicht unterschätzt werden darf.

der Schule die Thätigkeit des Lehrers

Auch ist mit der Abhaltung

nicht zu Ende.

Wie auf dem

Lande der Lehrer, wenn er rechter Art ist, gewöhnlich bald zu einer Ver­ trauensperson auch für die Eltern seiner Schüler wird, so bildet sich zwischen dem tüchtigen Lehrer, welcher ein Herz hat für seine Schule und

seine Leute, auch hier in der Regel bald ein Vertrauensverhältniß, welches dem mahnenden Worte Zugang verschafft und Nachdruck verleiht.

Hinsichtlich

der Arbeit können wir hier den Vorwurf auf sich be­

ruhen lassen, daß die Zwangsarbeit nicht in den Rahmen des modernen Strafvollzuges paffe; es ist für mich diese Behauptung eben nur ein

neuer Beweis, daß Dr. Mittelstädt zum großen Theil nicht mit der Wirk­ lichkeit rechnet.

Werth ab.

Aber er spricht der erzwungenen Arbeit jeden sittlichen

Er thut so als ob eine anfänglich vorhandene Abneigung

immer ewig bestehen bliebe, als ob nicht die aus näherer Bekanntschaft mit der Sache hervorgegangene neue Erkenntniß einen auf das Verhältniß

zur Sache rückwirkenden Einfluß ausüben müsse,

als ob nicht der Ge­

fangene, wenn er den günstigen, kräfttgen Einfluß wahrnimmt, welchen

eine richtig gewählte und zugemefsene Beschäftigung auf Seele und Leib

auöübt, die Arbeit selbst mit der Zeit

kann ihm

schätzen lernen müßte.

aber nicht zugestanden werden.

Das

Es widerlegt sich auch von

selbst dadurch, daß eine große Anzahl auch solcher Gefangenen, welche durch arbeitsscheue Genußsucht zu ihrem Verbrechen getrieben worden sind, nach einiger Zeit anfangen,

ihre Mußestunden nicht mehr mit Unter»

haltungSlectüre oder müßigen Träumen auszufüllen, sondern mit ernster selbstgewählter Arbeit.

Die ausdauernde Anstrengung, welche z. B. der­

gleichen Leute nicht selten auf die Erlernung fremder Sprachen,

oder

sonstige Erweiterung ihrer Kenntnisse wenden, ist oft bewundernSwerth.

In Bezug aber auf die' übertragene Gefängnißarbeit ist sogar die weit überwiegende Mehrzahl bestrebt, mehr zu leisten als daS Tagespensum Was sie so an Mehrarbeit leisten tritt doch in die Kategorie

beträgt.

der freiwilligen Arbeit.

Ob die gewerblichen Fähigkeiten, welche der Ge­

fangene im Gefängniß erlernt hat, genügend sind, ihm sein weiteres Fort­

kommen zu sichern, hängt von der mehr oder minder geschickten und rück­ sichtsvollen Einrichtung des Arbeitsbetriebes ab. Daß es sehr wohl mög­

lich ist, beweist mir eine ganze Anzahl von Beispielen aus der Erfahrung welche

auch jene Behauptung widerlegen, daß der Entlassene nicht im

Stande sei, seine erworbenen Fähigkeiten zu verwerthen, da ihm daS Getriebe des Arbeitsmarktes fremd geworden. Diejenigen z. B., welche

hier die Bildhauerei oder Strumpfstrickerei erlernt haben, finden fast

immer in der Freiheit bald Beschäftigung, wenn bei den ersteren die Ausbildung auch keine allseitige geworden ist.

Es ist übrigens Aufgabe

der bürgerlichen Gesellschaft ihren kranken Gliedern zur Genesung dadurch mitzuhelfen, daß sie ihnen die Gründung einer neuen Existenz erleichtert, so gut wie man öffentliche Krankenhäuser für die leiblich Kranken baut. Trotz aller

von ihm selbst erhobenen Einwendungen gesteht Dr.

Mittelstädt selbst zu, daß in Bezug auf die Erziehung des Gefangenen

der Gefängnißbeamte seinem Sträfling gegenüber außerordentlich günstig situirt sei, aber eS fehlten die Educatoren; die heutigen Strafanstalts­ beamten,

für ihren Beruf nicht vorgebildet und ohne Verständniß für

denselben, könnten nach dieser Seite keine erfolgreiche Thätigkeit ausüben. In

dieser Allgemeinheit

ist

diese Beschuldigung jedenfalls ungerecht.

Selbst wenn aber auch dieser Vorwurf in einzelnen Fällen begründet sein

sollte, so beweist derselbe doch nichts gegen das System selbst, es läßt sich auS einer solchen Thatsache weiter nichts herleiten,

als daß der Staat

die Pflicht hat, dieser Sache eine noch größere Sorgfalt zuzuwenden, als

es bisher geschehen ist. Alle die Einwendungen, welche Dr. Mittelstädt gegen die Einzelhaft

erhoben hat, sind also entweder überhaupt unbegründet oder lassen sich

doch

beseitigen.

Daß

auch wir nicht alle Verurtheilten in die Zelle

sperren wollen, haben wir bereits ausgesprochen,

aber gegenüber den­

jenigen Verbrechern, welche der Staat um seiner Selbsterhaltung willen bessern muß, und die Aussicht auf Möglichkeit einer Besserung bieten,

ist eS das einzige Mittel, welches den ganzen Zweck der Strafe als er­ reichbar in Aussicht stellt.

Wenn auch ohne Frage eine solche Erschütte­

rung deS ganzen Ichs, wie es z. B. die Prügelstrafe mit sich bringt, Ansatz zu einer Umwandlung werden kann, so ist die Wahrscheinlichkeit jedenfalls weit größer, daß das angeregte Nachdenken in dem unruhigen, anspruchsvollen Gewühl des Lebens nicht

anhalten und fruchtbar sein

wird, — daS wird in der Regel nur in der ungestörten Einsamkeit ge­ schehen können.

Alle oben berührten erziehenden Elemente können nur

hier in Wirksamkeit treten, und eS heißt sich die Hand vor die Augen halten,

wenn man ihre Wirksamkeit leugnen will.

Endlich ist eS nicht

gering anzuschlagen, daß der Gefangene in seiner Zelle sein Ehrgefühl sich bewahren und stärken kann.

Seine Strafe vollzieht sich weder in der

Gemeinschaft roher Verbrecher, welche jede Regung deö Ehrgefühls bet

ihren Genossen zu verspotten pflegen, noch vor den Augen eines theilnahmlosen Publikums.

Er fühlt den Druck der Strafe ohne verbittert

zu werden und den letzten Rest der Selbstachtung zu verlieren. Freilich alle günstigen Einflüsse der Einzelhaft werden nur bet einem

gewissen Prozentsatz von Erfolg gekrönt sein können, denn eine geistige

Wiedergeburt kann nicht erzwungen werden; wie groß derselbe aber sein wird, hängt zu einem sehr großen Theile von der fürsorgenden und be­

hütenden Theilnahme der Gesellschaft ab, in welche der Gefangene nach

seiner Entlassung hinaustritt.

Von dieser Seite aus hat ein jeder die

dringende Pflicht der Gefängnißftage seine volle Theilnahme zuzuwenden, um sie in der Fürsorge für die Entlassenen bethätigen zu können und wer

von hier aus das Interesse erst gewonnen hat, wird auch dem Straf­ vollzug seine Aufmerksamkeit nicht entziehen können. ES kann nicht verschwiegen werden, daß die Fürsorge für die ent­

lassenen Gefangenen eine Aufgabe ist, welche mit der, die beste Art deS

Strafvollzugs zu schaffen, unmittelbar zusammenhängt und fast von gleicher Wichtigkeit ist.

Was hilft es, wenn die Strafe an dem Verbrecher ihre

ganze Schuldigkeit gethan, hat und er durchdrungen von guten Vorsätzen die Strafanstalt verläßt und er findet überall verschlossene Thüren, nie­

mand will ihn beschäftigen.

Das Herz blutet einem, wenn man sehen

muß, wie sich ein Mann während einer längeren Strafzeit mit dem Auf­ gebot aller Kräfte gemüht hat, so viel zu verdienen, daß er sich Kleidung

40

Dr. Mittelstädt und die Einzelhaft.

und Handwerkszeug wieder anschaffen kann; wie er auf jede Annehmlich­

keit, die er sich aus seinem Arbeitsverdienst hätte verschaffen können, ver­ zichtet hat, um das kleine Betriebskapital nicht zu schmälern, und nachher ist alle seine Mühe umsonst, weil eS doch nicht auSreicht oder weil er keine Arbeitgeber findet.

Denn leider ist es ja im allgemeinen so,

daß

man eS dem Verbrecher sehr hart anrechnet, wenn er wieder rückfällig

wird, kommt er aber mit der Bitte ihm Arbeit zu geben, so wird er abgewiesen, weil man keine bestraften Leute beschäftigt und auch noch ge­ nug ehrliche Menschen arbeitslos sind.

Abgesehen davon, daß bei näherer

Betrachtung die Ehrlichkeit mancher unbestraften Menschen außerordentlich

schwer von der Unehrlichkeit mancher bestraften Personen zu unterscheiden ist, so scheint doch die Antwort auf die Frage, wer hat dringendere An­

sprüche auf Theilnahme und Pflege, der Gesunde oder der Kranke? sehr

einfach zu sein.

Was sich so als eine erste Pflicht der Nächstenliebe er­

weist, ist nicht minder Gebot der Selbsterhaltung.

WaS soll aus dem

Verbrecher werden, welcher sich die Möglichkeit abgeschlossen sieht, eine neue Existenz

in der bürgerlichen Gesellschaft zu erringen.

Entweder

greift er zum Selbstmord, oder er, der bisher in verhältnißmäßig harm­ loser Weise sich vergangen hatte, wird ein erbitterter Feind der Gesell­

schaft, die ihn erbarmungslos ausgestoßen hat. ES ist nicht zu verkennen, daß insbesondere von einzelnen edlen Männern, doch, auch von manchen

Vereinen anerkennenSwertheS auf diesem Gebiete gethan ist, aber wie ge­

ring ist die Hilfe gegenüber der Größe der Noth.

ES ist hier ein Punkt,

welcher den Gemeinsinn aller guten Bürger in Anspruch nimmt.

ES ist

auch nicht genug, daß für eine nothdürftige äußere Existenz der Unglück­

lichen gesorgt wird, .sondern sie müssen auch fühlen können, daß man ein

Herz für sie in der Brust trägt, sie müssen mit Liebe, Geduld und ernster Umsicht geleitet werden.

Wenn auf diesem Gebiete eine herzenswarme

Wohlthätigkeit reger wird, ist ein nicht geringer Theil der socialen Frage gelöst nnd die Zahl der Rückfälligen wesentlich vermindert.

Die Deutschenhetze in Ungarn. (Aus Ungarn.)

Unter allen Verfolgungen, welche neuerdings das Deutschthum außer dem Reich erlitten hat, ist keine unmotivirter als die welche in Ungarn

von den Magyaren in Szene gesetzt wird.

Denn die Cultur und Bildung,

die diesen zu Theil geworden, verdanken sie den Deutschen.

Seit Monaten

sind die Blätter voll von der Deutschenhetze, die in Ungarn in ähn­

licher Weise über das Deutschthum hereingebrochen wie seiner Zeit die

Verfolgung der Protestanten im Lande.

Es wird wohl Niemand meinen,

die Sperrung des deutschen Theaters in Pest sei die alleinige Ursache ge­ wesen,

daß die deutsche Publicistik

endlich erwachte aus dem faulen

Schlummer und sich erinnerte, daß eS auch ihre Pflicht sei, für das be­ drohte Recht in die Schranken zu treten.

Jene Sperrung des Theaters

war der letzte Tropfen, der das Faß überlaufen machte.

Darum aber

darf jetzt, wo die Concession dem Theater zwar gegeben wurde, aber die Eröffnung unter immer neuen Vorwänden stets weiter hinauSgeschoben

wird, nicht abgelaffen werden von der allgemeinen Theilnahme an den

Schicksalen deS Deutschthums in Ungarn und das um so weniger, weil die Deutschenhetze in Ungarn noch fortbesteht, weil sie uttt keinen

Zoll breit nachgelassen hat.

Die Vorgänge der letzten Monate, abgesehen von der Theaterge­ schichte, liefern den vollgültigen Beweis.

Ja mit einer fieberhaften Hast

wird vielmehr auf allen Gebieten die gewaltsame Magharisirung fort­ gesetzt, selbst auf solche Zweige deS öffentlichen und privaten Leben- aus­

gedehnt, die bisher davon verschont waren.

Die „Gesellschaft der Schrift­

steller und Künstler" in Pest hielt den Gegenstand der Magharisirung deS Handels für so wichtig, schäftigte.

daß sie sich damit im Oktober eingehend be­

Man meint TollhäuSler vor sich zu haben, wenn man liest,

welche Ziele sie ins Auge fassen. laut werden wie die:

Konnten doch allen Ernstes Wünsche

daß bei Eisenbahn, Telegraph, Post nur die mit

magyarischen Ortsnamen bezeichneten Sendungen

angenommen werden

dürften, ja eS wurde die Forderung gestellt, eS sollten alle Kaufleute ge­

zwungen werden, führen.

ihre Bücher und

Correspondenzen magyarisch

zu

Und daS sind nicht etwa Gedanken, die durch AuSlachen aus der

Welt geschafft werden; dieselbe Gesellschaft beschloß, in der Presse eine

Agitation zu Gunsten dieses Ziels, der Magyarisirung des Handels, zu

eröffnen und regte an, in jeder Stadt einen MagyaristrungSverein inLeben zu rufen.

Wie gern übrigens die ungarische Regierung auf der­

artige Pläne eingeht, dafür auch ein Beispiel.

Die Pester Mühlenin­

dustrie ist die einzige in Ungarn, die eine Bedeutung besitzt, doch gegen­

wärtig einen Kampf um daS Dasein führt, da der Absatz ihrer Erzeugnisse nach Deutschland durch die hohe Fracht und die amerikanische Concurrenz

fast unmöglich wird.

Vor einiger Zeit bekamen nun die Directoren der

Pester Mühlen die Einladung zu einer vertraulichen Conferenz im königl.

ungarischen Handelsministerium, in der sie Mittheilung erwarteten über die Begünstigungen, die man für die Mühlenindustrie vorbereite.

Die

Geladenen erhielten aber, zu ihrem Erstaunen, nachdrückliche Winke — ihre Mühlen zu magyarisiren, magyarische Arbeiter anzustellen u. dgl. m. DaS „Pesti Naplo" aber nahm sich sogleich der ganzen Agitation an: die Regierung nehme keine Offerte an, zahle keine Rechnung, schließe keine

Geschäfte ab außer in magyarischer Sprache und weise nichtmagyarische

Eingaben zurück. So cynisch wird verkündigt, daß der ungarische Staat nicht allen

dort wohnenden Völkern gehöre, sondern eine Domäne sei der herrschen­

den Rasse! Die Regierung selbst scheut sich nicht, als ihr höchstes Verdienst bet jeder Gelegenheit die Magyarisirung zu rühmen.

DaS Leibblatt TissaS,

der „Ellenör", erklärte unlängst, die Gesetzgebung und Regierung Un­

garns habe die Grundlagen der Magyarisirung geschaffen und keine un­ garische Regierung habe soviel dafür gethan wie die Tissas.

Und ebenso

verkündigte Trefort der Cultusminister unlängst, als er den Rechenschafts­ bericht über die Schulen gab, er habe so viel für Magyarisirung gethan wie keiner seiner Vorgänger.

Wenn das officiell vom Minister gesagt

werden darf, braucht es dann noch eine Bestätigung dafür, daß in Un­

garn nicht regiert wird, sondern magyarisirt? WaS würde Europa dazu sagen, wenn der Türke den Unterthanen der Türkei die türkische Sprache aufzwingen wollte?

Ist etwa der Deutsche

und Slave in Ungarn weniger werth als der türkische Rajah? Daß die ungarische Regierung unter dem Schein municipaler Autonomie

alles selbständige municipale Leben unterbindet und tödtet, ist schon oft

gezeigt worden.

Es gibt keinen bedeutenden Ort in ganz Ungarn, wohin

nicht magyarische Beamte hineingeschmuggelt worden wären, die der Re­ gierung

als

willkommen

MagyarisirungSwerkzeuge

sind.

Denn

alle

„Wahlen" deS MuntcipiumS sind reiner Humbug, indem ja nur „ge­ wählt"

werden darf, wen die Regierung zum Candidaten haben will.

So konnte Tissa unlängst in der BerwaltungS-Enquete darauf Hinweisen, daß beim gegenwärtigen „System" der überwiegende Theil der KomitatSbeamten magyarisch sei auch in nichtmagyarischen Komitaten.

Dabei ist

aber bezeichnend, daß in dieser Enquete sehr gewichtige Stimmen sich da­

für aussprachen, daß die Ernennung der Beamten einzuführen sei, weil auf diese Weise das magyarische Interesse am meisten gewahrt werde.

Also selbst auf dem Gebiet der Verwaltung scheut mqn sich nicht, die

Magyarisirung als Ziel hinzustellen, wo doch vernünftiger Weise ganz andere Zwecke maßgebend sein sollten.

ES ist bezeichnend, daß grade in

vorwiegend deutschen und nichtmagyarischen Komitaten auch gegen das Gesetz Forderuügen gestellt und dem MagyariSmuS Opfer gebracht werden,

die in civilisirten Staaten unerhört sind. Nach dem „Gesetz über die Gleichberechtigung" (!) soll in jeder

KomitatSversammlung die Protokollsprache magyarisch sein;

indeß kann

daneben das Protokoll auch in einer andern Sprache geführt werden, die % der Versammlung wünscht, doch der magyarische Text ist der authentische,

den in der Versammlung mancher Komitate nicht 20 Menschen (mit Aus­ nahme der Beamten) verstehen.

Die Einladungen zu den KomttatSver-

sammlungen, die Mittheilung der Tagesordnung werden im Hermann­ städter Komitat entgegen dem Gesetz nur magyarisch dem einzelnen zugestellt und alles Remonstriren hat nichts genützt.

Außerdem wird jeder

Beschluß der KomitatSversammlung einfach illusorisch durch das Rekurs­ recht, das jedem Einzelnen zusteht.

Der Minister entscheidet auf Grund

eines solchen Rekurses sowie in dem Fall, daß der Obergespann gegen einen

„Beschluß" eine Vorstelllmg macht, ohne daß Rekurs und Vor­

stellung der KomitatSversammlung auch nur zur Aeußerung mitgetheilt würden und zwar hebt der Minister den „Beschluß" der Versammlung auf und befiehlt die Durchführung deS genauen Gegentheils" des „Be­ schlusses", nämlich was der Rekurs oder die Vorstellung eines Einzelnen

verlangt. Das ist die Autonomie in Ungarn!

Daß dabei wieder die magya-

risirenden Interessen über alle Maßen begünstigt werden, braucht nicht erst gesagt zu werden. ES sei hiebei gestattet die Aufmerksamkeit der Leser auf eine kleine

Stadt in Siebenbürgen zu lenken; waS dabei geschildert wird, mag

manchem kleinlich dünken, aber bedenkt man daß eS typisch ist für die

gegenwärtigen rechtlosen Zustände, so wächst die Bedeutung deS Mitge-

theilten.

Die Stadt Mühlbach, im Hermannstädter Komitat gelegen, mit

4000 Einwohnern deutscher und romänischer Nationalität, hatte früher eine deutsche Vertretung, weil bei der ziemlich gleichen Anzahl der Deut­ schen und Romänen (die Deutschen haben bei Wahlen ungefähr 10 Stimmen mehr als die letztern) der Besitz hauptsächlich in deutschen Händen ist.

Hieher bringt der Hermannstädter Obergespann per fas et nefas zum Bürgermeister einen Romänen, einen blinden Anhänger der Regierung,

mit der Aufgabe dem Deutschthum dort den Garaus zu machen.

Es ge­

lingt, indem man sächsische Wähler streicht obwohl sie berechtigt sind, und

Romänen als Wähler aufnimmt trotz ihrer offenkundigen gesetzlichen Nicht­ berechtigung, eine romänische Gemeindevertretung zu Stande zu bringen

und der tolle Hexentanz beginnt.

Man protestirt natürlich gegen die Will­

kürlichkeiten bei den Wahlen, eö ergeht keine Entscheidung, man klagt, man thut, was das Gesetz vorschreibt, man weist nach, daß Romänen in der Wahl­

liste seien, die längst gestorben seien und für die andere ihre Stimme abge­ geben hätten, daß viele von den Gewählten nicht lesen und schreiben können,

was das Gesetz verlangt; eö kommt vom Obergespann keine Entscheidung.

Und der neue Bürgermeister,

der nebenbei, wider gegen das Gesetz,

Advokat in Hermannstadt ist, nur selten in Mühlbach gesehn wird, mit der ungesetzlichen romänischen Vertretung beginnt ein Parteiregiment, von

dem man in europäischen Staaten keine Vorstellung hat.

AuS Stadt­

mitteln werden an den und jenen Parteigänger „Entlohnungen" gegeben. Niemand weiß warum, ganze Einnahmeposten nicht verrechnet, bei der

Wahl zur sächsischen Nationsuniversität (d. i. die frühere politische Ver­

tretung deS Sachsenlandes, jetzt Verwaltungsbehörde des sächsischen Na­ tionalvermögens) wird

wieder durch allerlei Umtriebe der

Bürgermeister von Mühlbach

„gewählt"

u. s. w.

unterstützt der Hermannstädter Obergespann

Und

berüchtigte

alles

oder läßt

das

eS we­

nigstens geschehen, um gegen das Deutschthum Mühlbachs eine Partei, die seinen Winken folgt, zu haben.

So überraschte eS gar nicht mehr,

äks von der ungesetzlichen Vertretung Mühlbachs die jährlichen als Stif­ tung dem deutsch-evangelischen Gymnasium der Stadt auszuzahlenden

1200 st. (d. i. 2400 Mark) der deutschen Anstalt genommen und der rumänischen zugewiesen wurden. Alles in Allem, eS ist System in der Unterdrückung.

Uns scheint

eS nöthig, so im Einzelnen zu zeigen, was die „magyarische Freiheit" bedeutet, wie das Deutschthum unter seinem Druck zu leiden hat!

Grade die jüngsten Tage haben wieder ein lautredendes Beispiel ge­ bracht.

Nach dem Gesetz (§§ 7, 8, 9 deS 44. Art. von 1868 und § 6 des

4. Art. von 1869) ist bei den Gerichten erster Instanz der Partei ge­ stattet, die Muttersprache bei Klagen zu gebrauchen.

Der Präsident deS

Hermannstädter Gerichts (die Richter werden alle von der Regierung er­

nannt) hat kürzlich (am 17. December) publicirt, daß hinfort von Advo­

katen nur magyarische Eingaben angenommen werden, daß Protokollver­ handlungen u. s. w. nur in magyarischer Sprache geführt werden dürfen. ist die Folge davon?

Was

Der Angeklagte weiß nicht den Wortlaut

seiner Anklage, nicht den seiner Vertheidigung, er versteht nicht daS Ur­ theil, das in fremder Sprache ihm verkündigt wird zu Ehren der fünf

Millionen Magyaren, die neben 10 Millionen Slaven, Walachen, Deut­ schen in Ungarn wohnen.

Das ist ja das Schlimme bei der herrschenden

rechtverachtenden Doctrin in Ungarn, daß man von Staatswegen daS

einfache Dasein irgend einer, nicht magyarisch auftretenden Lebensäußerung als „staatsfeindlich" als „unpatriotisch" verschreien darf.

Vor einigen Jahren hat bekanntlich Tissa Siebenbürgen neu einge­

theilt,

eine Verletzung der gesetzlich und vertragsmäßig gewährleisteten Noch in keinem der neugeschaffenen Komitate

Einheit des SachsenlandeS.

ist ein KomitatShauS gebaut worden, vom Hermannstädter Komitat wird

eS verlangt.

Im Jahre 1878 beschloß die Komitatsversammlung,

HauS zu bauen.

ein

Auf den Rekurs einiger Mitglieder, die in einer die

Absicht der Komitatsversammlung verdächtigenden Weise gegen den Beschluß

an den Minister gingen, hob der Minister den Beschluß auf, denn eS

werde zu lange dauern bis der Bau vollendet sei und forderte eine rasche Beschaffung deS KomitatShauseS.

auf ein und beschloß nun,

Die Versammlung ging willfährig dar­

ein fertiges HauS anzukaufen.

Anderthalb

Jahre ließ der Minister den Beschluß liegen, bis er ihn plötzlich eben­

falls aufhob, als auch gegen diesen von einem Mitglied der Versamm­ lung Rekurs ergriffen worden war und befahl — die Versammlung solle beschließen, ein HauS zu bauen! ist.

Das ist ein Zustand, der doch unerhört

Der Minister verlangt jetzt das, was die Versammlung vor drei

Jahren beschlossen und was er aufgehoben hatte. Am 10. December fand die Komitatsversammlung statt, die in Anbetracht alles vorhergegangenen be­

schloß, eine Repräsentation an den Minister zu richten, worin sie nach-

wetst, daß der Versammlung daS Recht über die Art der HauSerwerbung nicht genommen werden könne.

bestimmt,

Denn der Minister hat sogar den Platz

wohin gebaut werden solle.

fertigte Anklage, welche

ES ist eine herbe aber gerecht­

die Repräsentation

erhebt:

„Wir

sind

un­

wohl bewußt, daß unsere Absichten und Gesinnungen von anderer Seite

durch Berichte dargestellt werden, die unS unbekannt sind und deren Irrig­

keit oder Richtigkeit wir zu beurtheilen nicht vermögen.

Auch hat unS die

Erfahrung belehrt, daß unser Wort bet Ew. Excellenz nur gering

wiegt, indem der autonome Wille dieses Komitats fast in allen wichtigern

Angelegenheiten nicht durch die meist unberücksichtigt bleibenden Beschlüsse

deS gesetzlichen Vertretungskörpers,

Berufungen und Rekurse Einzelner zur Geltung

sondern durch

gelangt, so

daß

mit größerer Aussicht auf Erfolg Rekurse eingebracht als Be­ schlüsse gefaßt werden."

Bei solchen Zuständen, daö kann Niemand leugnen, ist von einer

Es muß aber auch die ganze Ver­

KomitatSautonomie keine Rede.

waltung einer DeSorganisirung erliegen, wenn Alles von oben her vom

Minister befohlen werden soll.

Daß die Magharisirung sich nun auf die Mittelschulen zu werfen im Beginn steht, ist in den letzten Monaten in der deutschen Presse oft betont worden und auch in den Preuß. Jahrb. (Bd. XLVI) ist Akt davon ge­

nommen.

Der Gesetzentwurf, welcher demnächst nach den Mittheilungen

öffentlicher Blätter verhandelt werden soll, will um es kurz zu sagen alle

Gymnasien und Realschulen, deren geringster Theil in Ungarn StaatSanstalten sind, magyarisiren.

Es soll dazu die vermehrte Staatsauf­

sicht dienen, die von gutem Klang in den „liberalen" Kreisen Europas, das Vorurtheil für sich hat.

Aber grade hier müssen die Deutschen im

Reich sich frei machen von den Phrasen und Parteischlagworten des Augenblicks.

wornach

Eine vermehrte Staatsaufsicht in Ungarn,

der

Minister Lehrzeit und Lehrbücher, Lehrgegenstände, Umfang und Ausmaß

Schulen wo auf die magyarische Sprache so viel Zeit

derselben festsetzt.

und Kraft verwendet werden soll, daß Alles andere darunter leidet, be­ deutet eben nichts anders als Magyarisirung. gesetzlich

gewährleisteten Rechte

werden, geht u. a.

schlagend aus

getreten

einer Schrift hervor, die eben in

bürgen und die denselben drohende Gefahr.

Auf eine Prüfung

Eine Rechts- und Cultur­

dieses Rechtsbodens

richtsausschuß gar nicht eingelassen.

gegenüber all den

mit Füßen

„Die deutsch-evangelischen Mittelschulen in Sieben­

Leipzig erschienen ist:

frage."

Daß dabei wieder die

der Confessionen

hat sich

der Unter­

ES ist wieder wie Hohn, wenn

geltend gemachten Bedenken, dieser Ausschuß ein­

fach den Gesetzentwurf

damit motivirt,

teresse sprächen für die Annahme.

Cultur und nationales In­

Er gesteht damit zu, daß magyari-

sirende Ziele, denn nur das ist bei ihnen das nationale Interesse, damit

verfolgt werden.

Und doch sollte grade auch um deS ungarischen Staates

willen die Decentralisation deS

halten werden.

Denn

gesammten Schulwesens im Auge ge­

während die straffere Centralisirung unter die

Staatsgewalt in andern Staaten nothwendig sein mag,

ist ohne viel

Nachdenken klar, wie sehr eine solche in Ungarn auch dem Staate nicht

heilsam wäre. DaS Grundmotiv der MagharisirungSwuth und der Deutschenhetze

ist ein geheimer Gedanke, der in jedes Magyaren Brust eigentlich mehr oder minder offen lebt, die Hoffnung auf ein unabhängiges Un­

garn.

Daß damit aber alles deutsche Leben vernichtet wäre in den Län­

dern der StefanSkrone, das darf nicht bezweifelt werden.

Jene Zukunfts­

musik klingt jetzt schon zuweilen laut aus magyarischen Blättern heraus.

Der in Klausenburg erscheinende „ Ellenzek" proklamirte unlängst eine Verbindung der Polen, Magyaren und Rumänen gegen Deutsche

und Slaven.

Mit naiver Kühnheit behauptet er:

„Der Mongolen,

der Türken Kriegsscharen zerschellten an diesen drei Nationen" und fährt dann fort:

„Der Romäne kam in türkische, der Magyare in deutsche,

der Pole in russische Knechtschaft.

Der Romäne wurde frei, der Magyare

würde sich befreien können, der Pole schmachtet noch in Ketten.

An diesen

drei Nationen müssen sich die Wogen der germanischen und slavischen Flut brechen. . .

Die Frage unseres nationalen Daseins kann man weder an

die Zukunft der teutonischen noch der slavischen Stämme knüpfen, sondern

wir müssen unsern Schutz außerhalb dieser beiden Faktoren, ja sogar im Gegensatz zu ihnen suchen und finden."

So schreibt der Ellenzek

und was das auf sich hat, zeigt die Verbrüderung, die mit den Polen gefeiert wurde anläßlich der Aufstellung eines Denkmals für den Revo­

lutionsgeneral Bem in MaroS-BafarhelY.

Nicht nur die berufene Pester

und Klausenburger UniversitätSjugend jubelte den Polen zu, sondern weit

tiefer ging die Bewegung. WaS verlieren nun die Deutschen in Oesterreich und im Reich bei

der Vernichtung deS Deutschthums in Ungarn? ES ist nicht ein blos ideales Interesse, das sie zu vertheidigen haben, obwohl ihnen die Schamröthe ins Gesicht steigen müßte bei dem Gedanken,

daß sie kalt und theilnahmloS so lange zugesehen haben, bis über zwei

Millionen Deutsche von einer uncivilisirteren Völkerraffe einfach mit Ge­ walt eingestampft werden.

Oesterreich und mit ihm Deutschland hat im

Orient höchst reale, wirthschäftliche Interessen zu vertheidigen.

Der Zu­

gang zum Orient aber wird immer mehr versperrt, je mehr das Deutsch­ thum in Ungarn vernichtet wird; dieses allein kann die große Handels­

straße für die österreichisch-deutschen Jntereffen offen halten.

Darum ist

eS nicht das Aufwallen einer vielleicht edeln aber unpraktischen Gefühls­ politik, welche gegenwärtig

gegen den Deutschensturm in Ungarn

sich

wendet, sondern die Erkenntniß, daß eS sich hier zugleich um eine reale und wirthschäftliche Frage handle.

Die öffentliche Meinung

darf

48

Die Deutschenhetze in Ungarn.

nicht müde werden zu verlangen, daß im ungarischen Reichstag das

Deutsche

ebenso

gesprochen werden

dürfe

wie das Magyarische und

Kroatische, daß die deutschen Schulen nicht angetastet werden, daß die Gerichte auch deutsche Klagen annehmen, daß nicht auch gegen das Gesetz in Komitaten, weil sie deutsch sind, alles Recht der Nichtma­

gyaren einfach für null geachtet werde.

Es ist ein große- Unglück, wenn ein innerlich noch unreifes, halb-

barbarifcheS Volk sich die äußern Formen des parlamentarischen Regi­ ments und des Culturlebens aneignet und unter diesen seine Barbarei rei walten läßt.

DaS ist in Ungarn heute der Fall, wie in der Türkei.

Lermolieff, Raphael und Pinturiechio. Gleichzeitig mit meiner kritischen Studie fiter das Verhältniß Ra­ phaels zu den historischen Malereien PinturicchioS in Siena ist ein Buch

von Ivan Lermolieff über „die Werke italienischer Meister in den Galnieen von München, Dresden und Berlin"*) gedruckt wordm, das jedenfalls zu den lehrreichsten Publicationen gehört, die wir seit Jahren auf dteseüt Gebiete gehabt haben.

Der Berfafser beliebt eine deutsche und' eine

russische Maske vorzunehmen, als ob man nicht nebenbei an Ohren und

Händen die Diagnose üben würde, die er uns selber lehrt, und seine trefflichen Kenneraugen hindurchblicken sähe.

Bei der reichen Aussaat,

die hier dem deutschen Acker vertram wird, darf eS nicht Wunder nehmest, wenn hie und da ein leichteres Korn abseits auf den Weg gefallen, wö irgend ein Gelbschnabel darnach pickt ehe es aufketmt. Lermolieff geht bet Gelegenheit der umbrifchen Meister zu Berlin in

wichtigen Fragen auf Pinturicchio und Raphael ein.

Er hat das große

Verdienst für die Erklärung des Raphaelifchen Bildungsganges entschieden

auf Timoteo Diti als ersten Lehrer hingewtesen zu haben, und ich freue

mich neben meiner vollsten Zustimmung auch eine Bestätigung Mittheilen zu können, die ich aus urkundlichen Notizen zu Urbino gewonnen: Timoteo

muß mit Evangelista di Piandemeleto, dem Schüler deS Giovanni Santi, der unmittelbar nach dem Tode dieses Meisters als mastro depintore

auftrttt, nach feiner Rückkehr asts Bologna gemeinsame Werkstatt gehalten haben, wahrscheinlich als Nachfolger im Santtschen Atelier; diese beiden Maler waren also die nächsten, wenn nicht die einzigen, bet welchen der jMge Sohn Santts von 1495 bts zu seinem Eintritt bei Perugtno dir erste Anleitung empfangen.

Außerdem stand Raphael wie wir annehuieü

müssen, solange er in Perugia, CittL di Castello und Umgegend thätig war, mit Urbino in persönlichem Verkehr, hielt sich mehrfach dort aijf,

Wie auch aus einer neuen vom Avv. Alippt gefundenen Urkunde von 15ÖT hervvrgdht**). •) Leipzig. G. A. Seemann. 1880. **) Vgl. die urbinatische Zeitschrift Raffaello. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 1.

1880. FaSc. 8. S-113 ff.

4

Dagegen veranlaßt mich LermolieffS Ansicht über das sogenannte venezianische Sktzzenbuch Raphaels genauer als es in meiner Darstellung

der sienesischen Gemeinschaft mit Pinturicchio zu geschehen brauchte, auf

einige Zeichnungen dieser Folge zurückzukommen.

ES wird die Meinung

aufgestellt, die größte Zahl dieser Venezianer Skizzen gehöre keinem andern als dem Bernardino Pinturicchio.

Beweisende Kraft giebt Verfasser dieser

Ansicht, deren Auftreten man über kurz oder lang erwarten durfte, nur

dadurch, daß er die nahe Beziehung mehrerer Blätter zu Malereien nach­ weist, welche theils Pinturicchio selbst, theils Perugino „in den Jahren 1480—1482 (?)" in Rom ausgeführt haben.

Die wichtigsten unter ihnen

sind diejenigen, die er als Studien Pinturicchioö zu einigen Fresken der Capella Sistina bezeichnet, während ich die Gewandstudien als Uebungs-

blätter nach den in PeruginoS Werkstatt offenbar vielfach benutzten Cartons

zu erkennen glaubte*). Will man mit dieser Begründung abrechnen, so muß vorher die eben­

falls von Lermolieff aufgestellte Behauptung erörtert werden, wonach zwei dieser Wandgemälde „die Taufe Christi" und die „Reise MosiS" in Composition und malerischer Ausführung vollständig dem Pinturicchio zuzu-

theilen

wären.

Ich

kann

nur

freudig

zustimmend

meine

eigenen

Beobachtungen wiederholen, wenn als erstes Moment „die Ueberfüllung der Composition" ins Feld geführt wird, ein „Fehler, in den Pinturicchio sehr ost, Perugino fast nie fällt".

Aber ich glaube, man darf rein nach

dekorativem Gleichgewicht bemessene Disposition der Massen nicht ohne Weiteres mit der Erfindung der Composition zusammenwerfen.

Nur die

letztere in ihrer Ursprünglichkeit hätte Zugkraft für die Bestimmung des wahren Autors.

Die Ueberfüllung ist hier, ebenso wie ich dies in Siena

nachgewiesen, durch Einpfropfen von Zuschauern entstanden; dieses aber kann erst nachträglich bet der Ausführung geschehen sein, etwa aus un­ künstlerischer Connivenz gegen Gönner, die sich abconterfeit wünschten, oder

auS Jnclination zu direkten Entlehnungen auS der Wirklichkeit.

Beide

Symptome sprechen für Pinturicchioö Mitwirkung; doch muß die Frage offen bleiben: wie würde die Composition auSsehn, wenn wir uns diese

Statistenmassen gelichtet dächten, hier und da einen störenden Kopf her­ aushöben, allzu compakteS Gedränge lockerten?

Laufen nicht dann die,

auch jetzt noch wohl bemerkbaren Hauptlinien, in welchen die Gestalten

aufgereiht sind, radienförmig von der äußeren Peripherie nach dem Centrum, resp, punto di vista, im Hintergründe zusammen?

Steht nicht hier der

Himmelsbote, der die Handlung bedingt,-gebieterisch in der Mittellinie?

*) Raphael und Pinturicchio S. 35.

Ebenso wie diese Linie drüben zwischen Johannes und Jesus hindurch vom

segnenden Gottvater herab auf die erhobene Rechte des Täufers, oder wie sie bei der „Schlüsselverleihung" auf das Shmbol der bindenden und

lösenden Macht trifft.

DaS aber sind innere Qualitäten, die wir beim

Pinturicchio nicht finden, CompositionSgesetze die Perugino grade damals

in auffallender Weise befolgt.

(R. u. P. S. 23 f.)

Ebenso muß man die Behauptung LermolieffS restringtren, wenn er „die poetischen landschaftlichen Hintergründe" als sicheres Merkmal von

PinturicchioS Autorschaft hinstellt. Völlig einverstanden, daß jene Chpreffen

und Palmen, die wohl hier zuerst in besonders schönen Prachtexemplaren vorkommen, nebst den Vögeln, die von einem Falken verfolgt durch die Luft schießen, untrügliche Zeichen der Mitwirkung PinturicchioS find*),

möchte ich zugleich darauf Hinweisen, daß er sie jedenfalls Benozzo GozzoltS

Anregung verdankt, mit dem er überhaupt höchst charakteristische Eigen­

schaften und materielle Kunstmittel gemein hat.

Handelt eS sich aber um

LandschaftSmaleret als solche, so dürfte bei Perugino viel eher und in

höherem Sinne davon die Rede sein.

Ich will hier nicht näher auf die

Unterscheidung der umbrischen Stimmung bes jenem und dem von Vasari

als maniera de’ Fiamminghi bezeichneten Geschmack an (nebensächlichen) Dingen der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit eingehen, da ich in anderm

Zusammenhang Gelegenheit dazu haben werde.

Nur soviel sei gesagt,

daß die Uebersetzung „Landschaften" für paesi, — e vi ritrasse Roma, Milano, Genova, Fiorenza, Videzia e Napoli — d. h. für Städtean­

sichten doch sehr kühn ist, und das Prädicat „ein Landschaftsmaler ersten Ranges" bei aller Anerkennung für die hübschen Hintergründe, die auf

mehreren der Pinturicchio verdungenen Malereien vorkommen, doch ziemlich

irreführend sein dürfte**). Die Hand des Pinturicchio verräth sich dagegen in der malerischen

Ausführung hier und da mit unverkennbarer Evidenz.

So ist von ihm

auf der Taufe Christi der Gottvater im Cherubkrayz mit den ganz fio­ renzomäßigen Engeln, die beiden Predigtscenen mit den Volksmassen zu den Seiten des Mittelgrundes.

Wiederum aber hat nicht er, sondern

Perugino die Gestalten Christi und des TäuserS gemalt, welche der Freund

VerrocchioS niemals einem Gehülfen überlassen hätte***).

Einige Porträts

zur Linken können nur vom Meister selbst herrühren, während wir rechts *) Sie werden seitdem ständige Requisiten seiner Scenen im Freien, sind hier übrigengroßentheil» a secco ausgemalt l **) Verstehe ich den Versaffer wegen der Mitwirkung de- Matteo Balduzzi in der Libreria recht (S- 370 tont.) so traut er grade die schönsten der Fernstchten dort dem Pinturicchio nicht selber zu; widerspräche sich also selber. ***) Vgl. die Zeichnung Perugino- im Louvre und Lermolieff S. 308.

4*

anerkennenSwerthe Leistungen von Pinturicchio constatircn müssen.

In der

„Reise Mosis" sind wie das Volk im Mittelgrund auch die Hirtenscene Pinturicchios Eigenthum; sie erinnern stark an ein Bildchen Narciß am Quell, das sich unter dem Titel prima maniera di Raffaello in der

Galerie Penna zu Perugia befindet.

Auch einige theilnahmlose Zuschauer

bei der Beschneidung sind vortreffliche Beispiele seiner Tüchtigkeit, doch geringer

an Zahl

als drüben bei der Taufe Christi.

Daß

aber der

mächtige Engel in der Mitte, wie die Frauengestalten und Kinder im Vordergrund ebenfalls vom Pinturicchio gemalt sein sollen, kann ich selbst

einem so erfahrenen Kenner der italienischen Malerei gegenüber nicht zu­ gestehn.

Mögen diese beiden Fresken auch noch so sehr verräuchert und eS giebt denn doch

verputzt sein,

unverwischbare Kennzeichen,

welche

Perugtnos Arbeit von der Pinturicchios unterscheiden. Perugino gehört doch

einer bestimmten Gruppe von Florentinern an, die Lermolieff selbst im Anschluß an RumohrS feinsinnige Bemerkung S. 379 aufzählt;

er ist

grade um diese Zeit frisch beeinflußt von den Bestrebungen der Verrocchioschen Werkstatt.

Er modellirt seine Gestalten und Köpfe mit einer Sorg­

falt und Weichheit, die das Studium nach plastischen Vorbildern, die

Technik des Verrocchio, des Lionardo und Lorenzo di Credi verrathen. Er bringt dies mit einem bräunlichen Ton der Schatten zu Stande, die

wir aus Lionardos unvollendeten Arbeiten kennen; gegen solche Leistungen

Peruginos fallen die besten Bemühungen PinturichioS immer platt, grau und kalt aus.

Man vergleiche nur das herrliche Jünglingsbild in den

Uffizien, das dort Lorenzo di Credi heißt, aber von Lermolieff und Andern

schon früher mit Recht als Perugino bestimmt wurde*), mit diesen Köpfen

z. B. in der Taufe mit dem zweiten links von Christus, der zu seinem älteren Nachbar herumblickt.

Diese drei und jene Künstlet auf der

Schlüsselverleihung sind die herrlichsten Bildnisse, die dem Pietro je ge­

lungen!

Die kräftige Modellirung hier nimmt bei seinen Frauen und

Kindern eine zarte Weichheit an, die Pinturicchio ebenso wenig eigen ist.

Die schwellende Fülle der Formen, die sich auch bei den innern GestchtStheilen, z. B. an den Mundwinkeln, Augenlidern bemerkbar macht, wäre

für Pinturicchio unerhört:

seine schönsten Madonnen und Kinder haben

immer feste Contouren, scharf geschnittene Nasen, Augen, Brauen und Lippen, nichts was an Verrocchio erinnerte.

Seine Frauen sind nie

üppig, seine Kinder nie blühend, sondern mager, eckig, hektisch wie er selbst.

Der kleine Sohn des Moses auf dem Schooß, der mitfühlende

Genosse finden Ihresgleichen auf den Gemälden Peruginos, z. B. dem

*) Nr. 1205.

Photogr. Brogi 6176.

aus der Certosa von Pavia in die londoner Nationalgalerie gekommenen

oder dem leider entstellten in der Galerie Pitti, oder unter den besten

Kindern der Robbia viel eher als unter den von Lermolieff genannten

Beispielen, die sich zu diesen ähnlich wie die Putten des Mino da Fiesole auönehmen.

und Freiheit,

Der Engel mit dem Schwert ist vollends von einer Kraft welche direct zu den Gestalten der „Schlüsselverleihung"

hinüberweist, deren echt peruginische Herkunft Niemand bezweifeln kann.

Ich vermag meine Ueberzeugung nur dahin auszusprechen, daß die ursprüngliche Erfindung und Zeichnung dieser beiden Compositionen un­

bedingt dem Pietro Perugino verbleiben muß, ebenso wie die Ausführung der Hauptpersonen, wogegen dem Pinturicchio ein beträchtliches Stück der Malerei, besonders in Nebendingen und Porträts zufällt. Darnach wird sich der Standpunkt schon wesentlich modisicirt haben,

wenn eS sich nun um eine Prüfung der von Lermolieff herangezogenen Zeichnungen handelt.

Zuerst die Gewandfiguren aus der Schlüsselüber­

gabe, deren letzte Herkunft aus dieser Zeit ich auch nachgewiesen.

Lermolieff

nimmt an, daß Meister Pietro sich nach einer eigenen flüchtigen Skizze von seinem Gehülfen Bernardino diese Kleiderstudien fertigen ließ. Ueberrascht es uns schon,

wenn dem „armen verkannten" Pinturicchio diese

untergeordnete Hülfsarbeit zugemuthet wird, während er vorher zwei be­

deutende Fresken selbständig ausgeführt haben soll, so erscheint mir eine solche Garzonenübung vollends überflüssig, wenn uns sofort gesagt wird,

daß die Ausführung dieser Gestalten al fresco d. h. die eigenhändige

Mache PeruginoS die „Verschiedenheit seiner Auffassung und Empfindungs­ weise" offenbare, d. h. doch daß er sich über die ängstlichen Vorbereitungen

deS Gehülfen einfach hinweggesetzt.

Sollte der Meister den Genossen, der

mit ihm arbeitete so wenig gekannt haben, um nicht zu wissen, was er von ihm erwarten dürfe und was er ihm nicht nach seinem Sinn machen werde?

Nun, das sind Hypothesen, die angesichts der authentischen Ma­

lerei Jedermann recht künstlich vorkommen müssen; halten wir uns an die

Blätter selbst!

Die Figuren sind so befangen, ängstlich gewissenhaft, daß

sie unS für Bernardino, der doch schon selbständiger bei der definitiven

Ausführung mitwirkte, ja recht Tüchtiges leistete, viel zu schülerhaft er­

scheinen.

Wo sie mit dem Fresko in der Stellung übereintreffen ist dies

so genau, daß sie nur nach dem Carton PeruginoS gemacht sein können.

Wo ihre Haltung abweicht, oder gar a rovescio, also vielleicht gepaust ist, verlieren sie sofort jedes zwingende Verhältniß zu diesem Wandgemälde,

da sie in der That dutzendweis in allerlei Variationen auf den späteren Arbeiten PeruginoS, PtnturtcchioS, der ganzen Schule vorkommen. Als interessantes Beispiel dieser Art, das zugleich über ähnliche

Relationen der venezianischen Skizzen belehren kann, will ich nur eine

getuschte Zeichnung erwähnen, die sich bei Herrn v. Beckerath zu Berlin be­ findet.

Sie hat jedenfalls Beziehung zu dem Fresko der Schlüsselübergabe

und zwar zu der Jüngergruppe links hinter Christus, die sie von der Gegen­

seite nimmt. Wer Perugino und Pinturicchio um 1483 kennt, wird sehen, daß sie weder von dem Einen noch von dem Andern damals gefertigt sein kann.

Sie steht ohne Frage dem Perugino näher, aber jenem Ma­

nierismus, dem er nach seiner definitiven Rückkehr in Perugia verfiel.

Wenn ich nach dem schwächlichen Charakter deö Ganzen, den

Köpfen und den dünnen,

matten

unter dem hohen Spann stark ausgekehlten

Füßen urtheilen darf, so halte ich die Zeichnung für eine Studie des Giovanni Spagna und zwar aus der Zeit, die uns durch jene Anbetung

des Kindes in der Pinakothek des Vatikan repräfentirt wird*).

ES ist

offenbar eine der bekannten Umgestaltungen ein für alle Mal componirter Gruppen, diese in bestimmter Abhängigkeit von Pietro'S Carton zu dem Fresko

der Sistina.

Nach diesem Belege kann ich nun in den Vene­

zianer Zeichnungen nur Uebungen eines Anfängers erkennen, der zur An­ eignung des Schulguts und Charakters, zum Erlernen genauer Ver­ größerung und Uebertragung, oder andrer technischer Dinge in dieser Art

nach den Vorlagen des Meisters exerciren mußte.

Das nämli'che Verhältniß scheint mir auch

bet den Blättern zu

walten, die Lermolieff mit der Reise MosiS und mit der Taufe Christi

in Verbindung gebracht hat.

Sie stimmen alle mit dem ausgeführten

Fresko zu genau und zwar in den Zufälligkeiten überein, während sie in

der Linienführung, Modellirung und bergt, inneren Eigenschaften durchaus nicht die Freiheit und Meisterschaft zeigen, die grade an diesen Theilen

der Wandmalerei hervorleuchten.

Die Frauengestalt mit gebeugtem Knie

scheint nur deö Motivs wegen nachskizzirt.

Der Kopf, den Lermolieff als

Studie zu dem der Zipporah giebt, hat hier weder die große Formgebung *) Bei dieser Gelegenheit bekenne ich mich auch zu dem ketzerischen Glauben LermolieffS, daß an Perugino« Auserstehung im Vatican nicht Raphael, sondern vorwiegend lo Spagna mitgearbeitet hat. Die« ist aber schon die Periode, in welcher die Be­ rührung mit dem jungen Urbinaten wirksam wurde. Ich rechne hierher eine schöne Zeichnung, welche in den Uffizien Ercole Grandi heißt. Born steht ein junger Mann in voller Rüstung etwa« nach recht« gewendet, unter direktem Einfluß der streitenden Engel Signorelli« in Orvieto, hinter ihm seine fantini. Verglichen mit Raphaels Tuschzeichnung zum ersten Fresko der Libreria zeigt stch die Ver­ wandtschaft sowohl wie der Mangel der feineren Qualitäten. Zu dem genannten Blatte (Braun, Florenz 642) gehören als untergeordnete Reproductionen: Louvre, Jnconnu, Braun 510 und Venedig, Gerino da Pistoja, Braun 24, sowie der von Paffavant richtig als nmbrisch erkannte Stich „Guarino Meschino" P. G. V. S. 195 Nr. 115. Vgl. übrigens auch die in der Exposition des Desseins de Maitres anciens, Paris 1879 fälschlich als Giovanni Santi bezeichnete Auferstehung (Braun 93) und Zeitschrift für bild. Kunst VIII. S. 302 ff.

Perugtrw'S, der ihn gemalt hat, noch den schmalen Typus der Frauen Pinturicchio S, sondern die Härte eine- Anfängers und die runde Schädel­

form, die wir z. B. bei dem jungen Raphael finden; das Arrangement

im Ganzen ist durchgehendes Schulgut: mit demselben Recht könnten wir diesen Kopf nur von der Gegenseite in Raphaels Sposalizio hinter Maria

constatiren. Auch den andern Beispielen z. B. denen, die sich auf Fresken in S. Maria del Popolo beziehen sollen, dürste bei genauer Confrontatton wenig überzeugende Kraft verbleiben*).

Indessen ich möchte keinen Augenblick den Schein erregen, als maße

ich mir an,

über die Herkunft des sogenannten raphaeltschen Skizzen-

bucheö urtheilen zu wollen: nur die Bemerkung sei gestattet, daß Lermo­

lieff die Sache viel zu leicht genommen und zu schnell ein abschließendes

Urtheil gefällt haben dürfte. Zunächst muß durch genaue Messung und Untersuchung

der ein­

zelnen Blätter festgestellt werden, ob sie und wie viel zu dem Sktzzenbuch gehört haben mögen.

Selbst wenn die Mehrzahl der Zeichnungen diese äußere Zusammen­ gehörigkeit annehmbar macht, würde es mir gar nicht abenteuerlich erscheinen,

wenn in einem solchen taccuino, das etwa Raphael gehörte, nicht blos auch die Hand seines Vaters

oder Nachzeichnungen nach Werken deS

Giovanni Santi**), sondern auch Skizzen von und nach seinen Lehrern oder Genoffen, mit denen er arbeitete, befindlich wären. „Zu jenen Zeiten war ja unter den Zunftgenossen das gegenseitige Geben und Neh­

men allgemeiner Gebrauch" sagt Lermolieff sehr richtig***).

Jemehr man

aber dieses für die historische Erkenntniß der Künstlerethik von damals

sehr bedeutsame Axiom beherzigt, desto mehr wird man sich klar halten, daß die Frage mit ausschließlicher Proklamirung eines andern Autorfür das venezianische Skizzenbuch ebenso wenig befriedigend erledigt ist wie

bisher.

*) Die nicht näher motivirte Datirung dieser nicht allein für Ginliano della Rovere, sondern zum Theil für den Cardinal von S. Clemente Domenico della' Rovere gemalten Capellen laffe ich außer Spiel, obgleich ich triftige Gründe zu haben glaube, sie um ein volles Jahrzehnt später anzusetzen. **) Hierzu rechne ich z. B- da« Porträt des knieenden devote (Paff. 72. Lermol. I.) und das Abenteuer mit dem Löwen (Paff. 33). ***) Er widerlegt damit selbst seine moralischen Bedenken gegen die Gemeinschaft Ra­ phaels mit Pintnricchio in Siena. Die Idee, Vasari habe die Notiz von Raphaels Antheil blos erstunken und erlogen, etwa aus Tendre für Perugino oder gar Ra­ phael als storentinisch gebildete Meister wird doch sehr illegitim, wenn Vasari aus­ drücklich erklärt ed alcuni echizzi ne eono, di man di Raffaello, nel nostro Libro (Bd. III. 494) und wenn er Raphael grade erst von Siena aus zum ersten Mal nach Florenz wandern läßt!

Lermosieff, RMael upb Pin^ricchip,

56

Lermolteff hricht die Besprechu.ng der einjelnen BMer ab, uy „seine Leser nicht M langweilen"!

So blechen die beachtenswerthen

Skizzen nach den berühmten Männern in der Bibliothek des herzoglichen Schlosse- zu Urbino ganz unerwähnt.

Weiß man von einem Aufenthalt

Pinturicchtps daselbst? — Da die Gemälde, deren ein Theil in Parts,

ein andrer im Pal. Barberini zu Rom befindlich ist, unverkennbar ein Gemisch von dem Stil des Justus van Gand und dem des Giovanni

Santi aufweisen, wäre doch eine Berücksichtigung der Skizzen nach diesen Bildnissen unerläßlich.

Ein ähnlicher Widerspruch bleibt, daß Lermolteff das Graztenbtld bet Lprd Ward für echt erklärt, das doch so genau wie nur möglich mit

der antiken Gruppe in Siena stimmt, —

Siena dagegen

hinstellt.

einen Besuch

Raphaels iy

als „pure Erfindung des sientschen LokalpatriotiSmuS"

Am wenigsten kann aber der Kunstwissenschaft mit der biete«

torischen Abfertigung der bekannten Zeichnung zum ersten Fresko der 81»

bxeria gedient sein.

Wenn Lermolieff (S. 319) die

unterscheidenden

Merkmale der Handschrift Raphaels anerkennt und benutzt, so weiß ich

nicht, wie es möglich war, den fünfzeiligen PassuS von seiner Hand auf dem Florentiner Blatt zu übergehen. Ich halte es wenigstens mit dem Gewissen eines „ernsteren Kunstforschers" für eher vereinbar, diesen oder seyen Lokalwechsel im Leben eines Künstlers zuzulassen, als der jüngeren Generation, die gern und dankbaren Sinnes von einem gediegenen Bei­

spiel lernen möchte, einen derartigen Begriff von der Machtvollkommen­ heit eines Kunstkenners zu geben*)! *) Soeben lesen wir in einer Besprechung des neuerschienenen Leben Raphaels von E Müntz (Paris, 1881), welche das Decemberheft der Gazette des Beaux-ArtS bringt (@. 654), es habe sich «in Raphaels Anwesenheit in Siena im Jahre 1504 constatirendes Aktenstück gefunden. RachltLglich bei der Torrectur zugesetzte Anmerkung.

Rom, den 10. November 1880.

Schmarsow.

Die Leitung des Manövers.

Kaum ein Gebiet mülschlicher Wirksamkeit ist heut in so hohem

Grade populär, als das Heerwesen^ schon vermöge der Popularität, d. h:

der Allgemeinheit deS Kriegsdienstes.

In weitm Kreisen finden mill-

tärische Fragen aufmerksame Beachtung, wir dürfen htnzusügen — häufig schnellfertige Beurtheilung.

Haben doch die Meisten durch eigene Erleb­

nisse oder persönliche Beziehungen Einblick gechan in das Getriebe der

Wehrkraft.

Die äußeren Formen des Kriegswesens sind überdies einfach:

ein Jeder weiß, wie er sich feiner Haut wehren soll und was es sagen will, dem Gegner zu Leibe zu gehm; er wird eS vorziehen, ihn von der Sette als von vorn anzupacken.

Es will daher mitunter zulässig

er­

scheinen, die Grundsätze, welche für die Handlungen der Einzelnen maß-gebend bleiben, bet Verwendung der Mafien von Streitern gewissermaßen

zu vervielfältigen; der Fehler, welcher in einer solchen Rechnungsweise

meist beruht, ist hin und wieder sogar bei unglüMcheu Anordnungen von Feldherren zu Tage getreten.

Um so mehr hat der Late Entfchuldkgung,

wenn er beisptelsweise vergißt, daß das Anrücken der Vordersten einer langen Heeressäule bei weitem noch nicht gleichbedeutend ist mit dem Auf­

treten der Gesammtheit derselben. Manche technische Vorgänge deS alltäglichen Dienstes sind außerhalb

deS HeereS wenig gekannt.

So ist unter Anderem das Verständniß für

dm Gang und die Methode der Ausbildung der Truppen und. ihrer Führer nicht sehr verbreitet.

Auch über die Art, wie die Bilder deS

Krieges zur Darstellung gebracht werden können, sind die Anschauungen

dmchauS nicht genau. Ein Mittel, die Lösung militärischer Fragen unter Ftxirung krtegS-

ähnlicher Verhältnisse herbeizuführen, ist die Durcharbeitung von. Auf­ trägen, welche sich aus einer bestimmten Situation ergeben mit Hülfe der Karte oder draußen an Ort und Stelle.

Zu derartigen Uebungen ge­

hören taktische Aufgaben, das Kriegssptel und die sogmanntm General-

Die Leitung des Manövers.

58 stabsreisen.

Die Schulung der Truppen wird erstrebt durch die Feld­

dienstübungen in größerem Maßstabe, durch die Manöver.

Seit länger als einem Jahrzent werden die großen Herbstübungen

der einzelnen Heeresverbände in Deutschland von zahlreichen Fremden aus­ gesucht und studiert.

Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß der kriegsähn­

liche Charakter der Manöver wesentlich mitgewirkt haben mußte, wenn

die preußische Armee nach einer langen Friedenszett sachgemäß vorgebildet 1866 im Felde auftrat. Alle größeren europäischen Armeen

haben nach dem französischen

Kriege eine erhöhte Sorgfalt auf die Abhaltung dieser Uebungen ver­ wendet.

Nicht daß eS an solchen zuvor gefehlt hätte, sie hatten vielfach

sogar in großem Maßstabe stattgefunden.

Meist waren dies jedoch Be­

wegungen von Truppenmassen, welche entfernt von ihren gewöhnlichen

Standorten in Lagern vereinigt wurden und wiederholt "auf dem näm­

lichen Felde Gefechtsbilder, unter einer bestimmten Annahme der ent­ sprechenden Vorgänge beim Gegner, zur Darstellung brachten. diese Uebungen

ES bieten

eine Belehrung, welche die Truppen nicht entbehren

können, um das Zusammenwirken großer Verbände im Kampf sich zu veranschaulichen.

Dieses „Gefechtsexerciren", wie man eS wohl zu be­

zeichnen pflegt, fand auch von jeher in der preußischen Armee eine ge­

bührende Anwendung.

Hier hatte man indeß daneben seit den Tagen

König Friedrichs das Element der eigenmächtigen Wahl der Hanblungen für beide Gegner, sowie des Wechsels der Oertltchkeit in Geltung gesetzt. Unter Manövriren versteht der Soldat Maßregeln treffen, um auf den Gegner zunächst lediglich durch Bewegungen einen Zwang auszuüben.

Da die Entwickelung deS Kampfes bedingt wird durch die Lage, in welcher die streitenden Theile bei Beginn der Waffenwirkung auf einander treffen,

bildet die Anordnung des Vormarsches, die Verschiebung der Kräfte einen

wesentlichen Theil der Ueberlegungen der Führer.

Hier liegt daS Gebiet,

auf welchem die letzteren unter völlig kriegsähnlichen Berhältniffen heran­ gebildet werden können.

Der Name Manöver umfaßt daher diejenigen

Uebungen größerer Truppenverbände gegeneinander, bei welchen Unkenntniß

über die Maßnahmen des Gegners herrscht und wo wenigstens bis zum

Zusammenstoß die Verhältnisse deS wirklichen Krieges treu nachgeahmt werden können. In einem erweiterten Sinn bedeutet das Manöver thatsächlich auch

eine Uebung des Kampfes größerer Massen.

WaS die Manövergefechte im

Gegensatz zu den erwähnten „GefechtSexerciren" auSzeichnet, ist wiederum

die freie Bethätigung deS Entschlusses beider Gegner auch während der

Phasen des Gefechts.

Welche Einschränkungen die Natur der FrtedenS-

übung gebietet, ist leicht zu ersehen. Das Manöver bildet daher die Schule sowohl für die Führer wie

für die Truppe.

Zwar bleibt die einzelne KampseShandlung, welche die

Truppe ausführt, dieselbe im kleinen wie im größeren Verbände, allein

es bringt Vortheil, wenn jeder Mann die Ueberraschungen und Wande­ lungen erkennen lernt, welche den Gang eines größeren Gefechts beein-

flussen. AuS dem bisher Gesagten geht bereits hervor, daß es irrthümltch wäre zu glauben, der AuSgang des militärischen Schauspiels, welchem

alljährlich die Umwohnenden mit bekannter Vorliebe zuschauen, unterliege im Einzelnen wie im Ganzen einer höheren Festsetzung oder der Verab­ redung der Gegner.

Die Nothwendigkeit das Manöver von langer Hand vorzubereiten,

sowie Unterbringung und Vertheilung der Lebensmittel durch eine Ver­ einbarung mit den örtlichen Verwaltungsbehörden sicher zu stellen, ferner

die Rücksicht auf Herbeiführung eines Gefechts an Punkten, wo die Boden­ form ein solches lehrreich und die Beschaffenheit der Aecker eS nicht zu

kostspielig macht: dies Alles erfordert freilich die Innehaltung eines Plane­ bei dem Verlauf des Manövers.

Den Gang der Uebungen in diesem

Sinn zu regeln ist die Aufgabe des „Leitenden", welcher unpartheiisch

über den manövrirenden Truppenabtheilungen steht.

Der Grund auf welchem der gesammte Hergang sich entwickelt, ist ein in der Vorstellung beruhendes Verhältniß zweier feindlichen Heere.

Diese angenommene Kriegslage wird den Gegnern mitgetheilt.

Die

„General- und Spezial-Jdee" — auch einer von den vielen unschönen und überflüssigen Kunstausdrücken, die so leicht zu verdrängen wären*) — soll die beiden Führer in den Stand setzen, ihre Anordnungen den Zielen und Interessen entsprechend zu wählen, welche ihrer Parthei untergelegt werden. Während der Herbstübungen treten nach und nach immer größere Verbände

einander gegenüber, damit die Führer aller Grade in die Lage kommen

verantwortlich Entschlüsse zu fassen.

Je kleiner die auftretenden Abthei­

lungen sind, desto schwieriger wird eö, eine Kriegslage zu erfinden, welche eine genügende innere Wahrscheinlichkeit bietet, um jedem Führer eine

deutliche Vorstellung der ihn umgebenden Verhältnisse zu geben.

Der

Leitende wird daher meist den Zusammenhang der Truppe mit. einer seit­

wärts oder rückwärts befindlichen größeren Heeresabtheilung

fingiren.

Dies kann mit wenig Worten geschehen, denn eS genügt für jeden zu *) Allgemeine und besondere Kriegslage.

wissen, woher er kommt und wo er Verstärkung oder Anschluß finden Ferner muß die Aufstellung und Verfassung der thatsächlich zum

kann.

Handeln gelangenden Truppen charakterisirt und diejenigen Nachrichten

über den Gegner gegeben werden, welche auch in Wirklichkeit bekannt sein

dürften.

Für größere Körper, (Divisionen,

Corps) wird die Aufgabe

weiter gefaßt sein, wie für einzelne Detachements. nach

einem

Diese werden oft

formulirten Auftrag handeln, welcher die Bewegung

Truppen in einer bestimmten Richtung erhalten soll,

der

damit wirklich ein

Zusammenstoß eintritt, sobald von den Führern sinnentsprechende Anord­ nungen getroffen werden.

Man sieht, daß die Leitung eS in der Hand

hat den Verlauf ungefähr zu regeln.

Die gegebene Kriegslage wird

z. B. beide Theile bestimmen, vorzugehen, oder der eine wird zur Abwehr

stehen bleiben.

Da ferner die ganze Anordnung davon ausgeht, daß die

beiden Gegner bestimmte Oertlichkeiten erreicht haben, so wird der Zu­ sammenstoß auch gewöhnlich in der beabsichtigten Gegend erfolgen.

Trotz­

dem bleibt für die Entschlüsse der Führer, je nach dem Maaße des ihnen

gewährten Spielraums, ein Zwang grundsätzlich ausgeschlossen. kleineren Abtheilungen bereits ein Auftrag bestimmt ertheilt,

Ist bei

z. B. An­

griff, so bleibt eben die Art der Ausführung überlassen. Auf Grund der erhaltenen Mittheilungen entwerfen die beiden Führer

Allerdings sind ja im Frieden die Stärkeverhältnisse

ihre Anordnungen.

gegenseitig bekannt, jedoch bleibt es immer ungewiß, an welcher Stelle

man den Gegner stark antrifft, und schließlich giebt es in der häufigen Anwendung von Truppen, die durch Flaggen „marktrt" werden,

einen

Zwang für beide Theile sich vor Ueberraschungen zu hüten.

Damit der Leitende im Stande sei, die kommende Entwickelung an­ nähernd zu erkennen, werden ihm vor Beginn der Uebung die von bei­

den Seiten erlassenen Befehle gemeldet, so daß Gelegenheit bleibt, Miß­ verständnisse aufzuklären und Abänderungen z. B. der Aufbruchszeit vor­

zunehmen.

Wird daö Eingreifen des Leitenden in diesem Sinn nöthig,

so bietet demselben meist der Hinweis auf das „angenommene" Verhältniß zur Hauptarmee, oder die Mittheilung neuer Nachrichten über den Feind die Handhabe, um die ausgegebenen Befehle durch die Führer selbst ab­

ändern zu lassen.

Ein solcher Hergang entspricht auch den Verhältnissen

deS Krieges vollkommen,

wo häufig in der Nacht Meldungen über den

Gegner oder Befehle von höherer Stelle eingehen, welche die Disposition für den folgenden Tag umwerfen oder abändern.

Bis hierher, bis zum Erlaß des ersten Befehls wird demnach unbe­ dingt der Wirklichkeit entsprechend gearbeitet und damit ist ein wesent­

licher Zweck erreicht.

ES wird die Fähigkeit der Führer geprüft und ge-

übt, Verhältnisse, wie der Krieg sie giebt, schnell und sicher aufzufassen,

zu beurtheilen und der gewonnenen Ansicht gemäß zu handeln. Aus den Anordnungen, welche hüben und drüben getroffen werden, entwickelt

sich nunmehr eine

vollkommen

ES handelt sich

neue Lage.

weiter darum, die Maaßregeln praktisch zu erproben und zu entscheiden, welcher Theil seine Absicht zur Durchführung bringt.

Stoßen die vordersten Abtheilungen aufeinander, so Führer die Befehle zur Einleitung eines Gefechtes,

vermögen die

zur Heranziehung

der Massen nach bestimmten Punkten auf Grund derselben Ueberlegun-

gen zu erlassen, welche in Wirklichkeit anzustellen sind.

Die Anforderun­

gen der letzteren stets zu wahren, ist die besondere Aufgabe des Leitenden.

Es wird sich bei den Ausführenden leicht das Bestreben hervordrängen,

den Gegner durch „Manöver" z. B. weit

ausgeholte Umgehungen

zu

bezwingen, welche man im Kriege bei der Unkenntniß über die Verhält­ nisse beim Gegner schwerlich wagen würde.

Dieser Ausartung der Frie­

densübung muß entgegengetreten werden und vorzugsweise das frontale Gefecht, als das schwierigere, zur Darstellung gelangen.

Es kann allerdings nicht ausbleiben, daß hin und wieder sich Un­ natürlichkeiten ergeben.

Wollte man allzu ängstlich hierüber wachen, so

würde die Möglichkeit Massenbewegungen zu lehren, erheblich eingeschränkt sein.

Zuvörderst entspricht eS schon nicht der Wirklichkeit, daß an jedem

der aufeinanderfolgenden Tage Kämpfe zur Darstellung kommen, bis zur vollen Entscheidung durchgeführt werden.

Schwächere dann sich dem

welche

Im Kriege sucht der

Gegner schnell zu entziehen.

Ebenso wird

häufig in einem Gefecht von denselben Truppen eine Reihe von Bewe­ gungen ausgeführt,

welche in Wirklichkeit vielleicht

HeereStheilen zufallen würde.

neu

auftretenden

Durch die Manöver sollen indeß auch die

Unterführer geübt werden, sich in die Verhältnisse des Kampfes hinein zu denken und

in schnell wechselnden Auftritten selbstständig und zweck­

entsprechend zu handeln.

Es gilt bei Bewegungen im Feuer die Waffen­

wirkung

in Rechnung zu bringen, die Bodenform zur Deckung zu be­

nutzen,

gegen plötzlich dargebotene Blößen des Gegners einen schnellen

Vorstoß zu führen, geschickt dem Feinde sich zu entziehen, kurz mannigfache Erfahrungen zu sammeln, welche den Vorgängen während eines wirklichen

Gefechts wenigstens nahe kommen.

In dem Verlauf des Manövergefechts treten jedoch bald Momente

ein, in welchen die Entscheidung mittelst der Waffengewalt durch einen anderen Faktor ersetzt werden muß.

Zunächst ist der Verlauf deS Kam­

pfes ein unverhältnißmäßig schnellerer als in der Wirklichkeit.

Bis zu

einem gewissen Grade liegt daö im Interesse der Uebungen, denn die

Die Leitung des Manövers.

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Quartiere müssen im Frieden sehr viel weiter auseinander liegen, als im

Kriege, wo man bivuakirt oder doch leicht eine Brigade in einem Dorf übernachtet, welches hier nur von wenigen Compagnien belegt ist.

Zeit zum Gefecht ist knapp bemessen.

Die

Um so weniger darf der Leitende

eS dulden — wie bereits oben angedeutet — daß noch Zeit durch wett auSgeholte Umgehungen verloren werde.

Ein weiterer Grund für die

schnellere Abwickelung des Manöverkampfs liegt in der größeren Leich­

tigkeit des UeberblickS und der BefehlSertheilung.

Die einzelnen Führer

werden unwillkürlich sich weiter vorn aufhalten, als sie im Kriege im In­ teresse des Ganzen eS thun dürfen und die abgesendeten Befehle werden

mit geringen Ausnahmen rechtzeitig und an der richtigen Stelle eintreffen.

Diesen und ähnlichen Mängeln wird schwer durchweg abzuhelfen sein.

Die

Personen, welchen obliegt in diesem Sinn über die Kriegsähnlichkeit der

Uebungen zu wachen, sind die dem Leitenden unterstellten Schiedsrichter. Auf bestimmte Abschnitte des Gefechtsfeldes vertheilt, haben sie die Auf­

gabe, den Anmarsch, die Entwickelung, die Bewegungen der Truppen im Feuer zu beobachten, sowie die Waffenwirkung und eventuellen Verluste

zu schätzen. Aus dieser Abwägung ergiebt sich als Resultat ihr Schiedsspruch,

welcher dem Angreifer den Sieg zutheilt oder ihn wieder zurückweichen heißt.

Um die Einwirkung der Verluste und die Schwächung der Streit­

kraft zu charakterisiren, findet zuweilen ein Urtheil statt, welches einzelne Truppenkörper auf längere oder kürzere Zeit außer Gefecht setzt.

Dieö

geschieht jedoch nur dann, wenn dieselben in eine besonders gefährdete

Lage gerathen sind; in der Regel werden die Verluste als auf beiden

Seiten sich, ausgleichend betrachtet.

Auf diese Weise können allerdings

die Führer der beiden kämpfenden Theile in die Lage kommen, gegenüber

den plötzlich wechselden Verhältnissen neue Befehle auSgeben zu müssen. Die Schwierigkeit, welche hierfür im Kriege die häufig eintretende Lockerung

der Truppenverbände bereitet, kann natürlich nicht zum Ausdruck gebracht werden, wohl aber diejenige Ausübung der Führerschaft, wie sie ange­

strebt werden muß.— Sehr schwierig ist

schauung

zu

bringen.

es die Waffenwirkung der Artillerie zur An­ Eine

Batterie

beispielsweise

feuert

auf

eine

bis zu 2000 Schritt entfernte Truppe, ohne daß diese in ihrer For­

mation oder Bewegung die geringste Notiz

davon nimmt.

Um den

Schiedsrichtern einigen Anhalt zu geben, hat man neuerdings versucht das jedesmal gewählte Ziel durch eine farbige Tafel anzugeben, welche in der

Batterie aufgerichtet wird.

Eine rothe Tafel bedeutet: die Batterie zielt

auf Infanterie; schwarz und weiß, auf Cavallerie.

Fehlt die Tafel so

feuert Artillerie 'gegeneinander. die sie nicht fühlt, zu ignoriren.

Die Truppe ist geneigt die Feuerwirkung,

Die Schiedsrichter haben daher in dieser

Beziehung große Aufmerksamkeit und Strenge zu üben. Ist das Gefecht soweit gediehen, daß auf den meisten Stellen die Truppen nahe einander gegenüberstehen und daß in Wirklichkeit der Aus­ gang von der Energie der Kämpfer abhängen würde, so befiehlt der

Leitende ein Hornsignal zu geben, welche« sämmtlichen Truppen Halt ge­

bietet.

Er fällt dann die Entscheidung über den GesammtauSgang des

Gefechts und charakterisirt die durch dasselbe geänderte Situation.

ES

kann in der That vorkommen, daß der AuSgang eines Zusammenstoßes

den Leitenden überrascht oder eine Lage herbeiführt, welche die Fortführung

des Manövers am nächsten Tage, entsprechend dem geplanten Gesammtverlauf, unmöglich machen würde.

Auch für diese Wendung ist derselbe

jedoch mit Mitteln ausgerüstet, auf die Parteien zu wirken, ohne direkt

in die Handlung einzugretfen.

Er kann die Entwickelung beliebig weiter­

gehen lassen, um die Zweckmäßigkeit der von beiden Seiten getroffenen

Anordnungen durch die Ereignisse selber ins rechte Licht zu stellen und ist in jedem Moment in der Lage durch eine Meldung oder einen fingirten

Befehl auf die Entschließungen der beiden Führer einzuwirken; der Ver­

folger beispielsweise wird dann vom Gegner ablassen.

Auf ein neues

Signal setzen sich die Truppen wieder in Bewegung, der unterlegene

Theil weicht, daS Gefecht beginnt von neuem, um allmählich abgebrochen zu werden.

Schließlich nehmen beide Theile unter dem Schutze der Vor­

posten ihre Ruhestellungen ein.

Auf diese Weise wird für mehrere Tage

die Kontinuität der Handlung bewahrt.

Es gelingt in der That bis zu einem hohen Grade die kriegsgemäße

Ursprünglichkeit bei den Manövern zu wahren und das freie Urtheil der

Betheiligten zu üben.

Der Leitende bedarf jedoch einer bedeutenden Er­

fahrung, Gewandtheit und.Phantasie, um die Manöver so zu gestalten,

daß die Wirklichkeit annähernd treu zur Darstellung gelangt. Wenn das deutsche Heer in Bezug auf die Anlage und Durchführung der Manöver gegen die benachbarten Mächte noch einen Vorsprung be­ sitzt, so beruht dieser auf der langeingewurzelten Erfahrung.

Unsere

Führer sind gewöhnt die Erscheinungen und Verhältnisse deS wirklichen Krieges sich genau zu vergegenwärtigen.

Die übrigen europäischen Armeen

haben jedoch gleichzeitig mit der bedeutenden Steigerung ihrer Rüstungen auch den Uebungen ihrer Heeresverbände eine größere Ausdehnung und

Mannigfaltigkeit gegeben.

Wie unbekannt das Wesen der preußischen

„Manöver" früher geblieben war, zeigten unter Anderem die Nachrichten über die ersten Versuche dieselben nach dem Kriege in Frankreich einzu-

Die Leitung des Manövers.

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bürgern, wo man bis dahin nur die paradeförmigen Uebungen der kaiser­

lichen Armee im Lager von CHLlons gepflegt hatte.

Die Fortschritte un­

serer Nachbaren aus diesem Gebiet der kriegerischen Ausbildung können

jedoch nicht ausbleiben und müssen unS auf demselben zu stetiger Weiter-

entwiMung anspornen.

Die jährlich wtederkehrende Manöverzeit übt

nach wie vor den eigenthümlichen Reiz deS wechselvollen FeldlebenS auf die Truppen aus.

Unser Streben muß darauf gerichtet bleiben, diesen

Reiz dmch naturgemäße Gestaltung der Uebungen frisch zu erhalten und

diese thatsächlich stets zu einer Vorschule für daS moderne Gefecht zu machen, welches die Anforderungen an die Leistungen jedes Einzelnen so bedeutsam gewandelt und vermehrt hat.

Gustav Freytags Ahnen. Der Doppelsinn der Ueberschrift ist beabsichtigt.

In der Widmung

zum ersten Band der „Ahnen", November 1872 sagt Freytag:

„die-

Werk soll eine Reihe ftei erfundener Geschichten enthalten, in welchen die Schicksale eines einzelnen Geschlechts

erzählt werden.

ES beginnt mit

Ahnen aus früherer Zeit und wird, wenn dem Verfasser die Kraft und

die Freude an der Arbeit dauern, allmälig bis zu dem letzten Enkel fort­

geführt werden, einem frischen Gesellen, der noch jetzt unter der deutschen Sonne dahin wandelt, ohne viel um Thaten und Leiden seiner Vorfahren

zu sorgen." Der Schlußband der „Ahnen" berichtet nun von drei Nachkommen Jngo'S, von denen der eine, Victor König, ungefähr um das Jahr 1816

geboren, Sohn eines Arztes in einer kleinen schlesischen Stadt, erst an einer Provinzial-Universität dann in Berlin studirt hat, Theaterstücke und

dramaturgische Studien geschrieben, Vorlesungen gehalten, schließlich im

Jahr 1848 ein liberales Blatt gegründet hat. Da nun das alles Umstände sind, welche sich im Leben G. Frey­ tags wieder finden und von welchen das Publikum vollständige Kunde hat,

so muß man voraussetzen, der Dichter habe eS absichtlich auf diese Fährte geleitet, in ihm die Idee erregt, er selber betrachte sich als den Erben

von Ingo, Jngraban, Jmmo, Ivo, u. s. w. stellen wollte,

Wer aber sich demnach vor­

im letzten Band der „Ahnen" auS Freytags wirklichem

Leben etwas zu erfahren, würde stark fehl greifen: abgefehn von den an­

geführten Umständen haben Victor König und Gustav Freytag weiter nichts gemein, als daß sie beide gute und gescheute Menschen sind; alles sonst ist grundverschieden: grundverschieden namentlich die Stellung zum

Berliner Barrikadenkampf von 1848, wie ich auS persönlicher Kenntniß bezeugen kann. WaS hat also der Dichter mit jener vorgeschobenen Parallele beab­

sichtigt?

In der meisterhaften Kritik des „Ingo" von W. Scherer, welche die Preußischen Jahrbücher 1873 brachten, heißt eS zum Schluß: Preußischr Jahrbücher. iBb. XLVII. Heft 1.

5

„daS Ge-

schlecht der Ahnen stammt aus Schlesien; ich bin neugierig, ob das ver­ triebene nicht in der Person eines Colonisten dahin zurückkehrt^" Vermuthung hat sich vollkommen bewährt; weniger die zweite:

Diese „Wäre

daS Werk vor zwanzig Jahren unternommen, so hätte es vermuthlich mit einer Auswanderung nach Amerika geschlossen; heute haben wir Colonisten-

Arbeit, die uns näher liegt; waS mit der Schlacht bei Straßburg von 357 begann, das könnte in dem wiedergewonnenen Straßburg von 1870 schließen." Ich hatte dasselbe geglaubt, Freytag hat aber einen früheren Schluß vorgezogen.

Er bricht seine Erzählung ungefähr mit dem Jahr 1854 ab,

mit der Zeit, wo er selber in die Gegenden übersiedelte, die den Haupt­ schauplatz seiner Geschichten bilden.

Die Rückkehr des Geschlechts der schlesischen Vandalen in ihre alte Heimath, die Colonisation dieser Ostmark, schon in den „Bildern aus ver­

deutschen Vergangenheit" vortrefflich dargestellt, das ist also das eine und wohl entscheidende Motiv jener Parallele zwischen dem Erben Jngo's und

dem Dichter desselben.

Daß der Senior der Vandalen auf irgend einer

deutschen Universität gewissermaßen die Gefolgschaft seines Ahnen wieder aufnimmt,

ist mehr ein Scherz;

gewichtiger erscheint das Motiv, daß

Männer von dem Charaktertypus des Ingo u. s. w. in unserm „tintenklexenden Säculum" statt des Schwerts die Feder ergreifen, sogar in der

modernsten Form des Journalismus.

Dies ist daS allgemeine was ihm

vorschwebt; auf die Individualität, wollte er wohl sagen, kommt es gar nicht an:

„wenn ihr keine passendere findet, so will ich mich meinetwegen

selber hergeben.

Ohnehin hat das Blut der Ahnen die zwingende Ge­

walt verloren, wir stehn nicht mehr unter dem Bann der Vergangenheit,

wir sind die Söhne unserer eigenen Thaten, und in unserm Denken und

Wollen spricht die Gesammtheit des Volks."

So darf ich vorläufig die Ahnenproben der Familien König und

Ingersleben bei Seite lassen.

Dagegen scheint es mir nicht ohne Inter­

esse, eine andere Stammtafel herzustellen, die für die Helden der letzten Erzählung Victor König, Henner von Ingersleben und Captain Desalle

vielleicht wichtiger ist als die Abstammung von Ingo, Jngraban, Jmmo Ivo, Georg König u. s. w. Kunz von der Rosen,

Die Ahnen, die ich im Sinne habe, heißen:

Georg Saalfeld, Graf Waldemar, Bolz, Finck,

Markus Fabius. Jene

Ahnenreihe war in gewissem

Sinn eine absteigende, vom

Helden und Göttersohn Ingo ging es durch Zaunkönige, SpielmannS-

könige, auch wohl durch einige Strolche zu schlichten Kaufleuten, schließlich zu Journalisten.

Die Ahncnreihe dagegen, die ich im Sinn habe, ist eine aufsteigende: die Helden, die dem Dichter in seiner Jugend vorschwebten, haben im Lauf

seiner Entwicklung immer mehr Fleisch und Blut, immer mehr geistigen

Inhalt gewonnen.

Deshalb darf man aber diese Jugendbilder nicht ge­

ring schätzen: gerade ihrer größeren Einfachheit wegen sind sie für Frey­

tag'S Charakteristik ein bedeutender Fingerzeig. Ich weiß wohl, daß in der Charakteristik eines Lebenden immer etwas

Bängliches liegt, weil sie an den innersten Lebensnerv zu klopfen scheint. Indeß hat sie ihre Berechtigung, namentlich einer Persönlichkeit gegen­

über, die so durchgreifend gewirkt hat wie G. Freytag, und der Schluß der „Ahnen" bildet eine Etappe in seiner literarischen Laufbahn, bei der

man wohl still halten und sich umsehn darf. Freytag'S Schriften haben einen Erfolg gehabt wie kaum ein an­

deres Werk in unserer modernen Literatur:

vom Backfisch an bis zum

alten Professor, vom schlichten Bürgersmann bis zum Fürsten hinauf, Jeder hat irgendwie Stellung dazu genommen.

In allen einzelnen Zweigen

feines Schaffens hat er Rivalen, im Converfationöstück, in der idealen Tragödie, im socialen Roman, in der ästhetischen Kritik, in der Geschicht­ schreibung, wenn er auch überall dem Besten sich an die Sette stellen kann:

aber überblickt man das Alles zusammen, so hebt und trägt eins das

andere, und es kommt das Bild einer literarischen Existenz heraus, die schwer ihres Gleichen hat.

Es wurde ihm

Gelegenheit geboten

wie

keinem andern Dichter, die Höhen und Tiefen der Gesellschaft kennen zu

lernen: er ist mit Schauspielern und sonstigen Künstlern wie mit allen Classen des ehrbaren Bürgerstandes umgegangen, mit den höchsten Spitzen der Gelehrsamkeit wie mit dem Hof und der Aristokratie; er ist als an­

gesehener Nachbar in Siebeleben den Bauern näher getreten, ja, damit ihm nichts fehle, hat er auch den Feldzug von 1870 mitgemacht und

— wie ich nicht von ihm, sondern von einem jungen Officier weiß —

mitunter selbst ein gefährliches Abenteuer aufgesucht. In all diesem läge noch nicht das eigentlich Merkwürdige.

So ab­

geschlossen sind die Stände nicht mehr, daß sie nicht aus ihrem eigent­

lichen Beruf heraus, sich nach einer belebenden Ergänzung umsähen; ein geistreicher Dichter, der sonst nur die guten Formen hat, wird bet Bür­ gern und Gelehrten, in der Aristokratie und bei Hofe willkommen sein. Das Eigene bei Freytag ist, daß er allen diesen Kreisen nicht wie ein

Fremder gegenübersteht, den man zuläßt oder um den man wirbt, um sich zu unterhalten oder über seine Künste belehren zu lassen, sondern wie

einer der dazu gehört.

Er ist mit Landwirthen Landwirth, mit Kauf­

leuten Kaufmann, mit Gelehrten von der strengsten Observanz der eben-

bürtige Gelehrte, und unter vornehmen Leuten der vornehme Mann.

Man

kann von ihm sagen wie Tallehrand von ThierS: il n’est pas parvenu

mais il est arrivö.

Und

das Alles ohne die äußeren Zeichen einer

acceptirten socialen Stellung, vollkommen als freier unabhängiger Mann!

Freilich ist er Coburgischer Hofrath, aber — eS ist ja jetzt Gras darüber gewachsen und man darf wohl davon reden — er wurde es nur, weil es für den Herzog von Coburg das einzige Mittel war, ihn (1853) gegen die Verfolgungen der damaligen preußischen Reaction zu schützen.

Als vornehm

gilt

auf die Dauer nur, wer vornehm ist.

Diese

Persönlichkeit, die Frehtag den Platz in der Gesellschaft verschafft hat,

spricht sich auch in seinen Schriften auS:

Wenn man ein Buch von ihm

zur Hand nimmt, so rückt man sich erst zurecht, wie man thut, wenn man

gute Gesellschaft erwartet. Freytag hat in Breslau und Berlin studirt und sich dann in Breslau für deutsche Philologie habilitirt.

Er hat nach einigen Jahren seine

Stellung aufgegeben: ein sicheres Zeichen, daß er keinen zwingenden Beruf

dazu spürte; und ein paar Jahre blieben seine germanistischen Studien Dann aber wurden sie wieder ausgenommen und entschieden über

liegen.

die ideale Richtung seines Lebens: die Art, wie er nicht nur die Literatur, sondern die Geschichte und überhaupt die Welt ansah, beruht wesentlich

auf Anregungen, die er aus den Studien seiner Universitätszeit, namentlich aus den Schriften der Brüder Grimm empfing.

Vorläufig wurde er durch das Interesse am Theater in eine andere Bahn gelenkt.

Als ich Freytag kennen lernte, Herbst 1847, waren „die Brautfahrt" und „die Valentine", bereits aufgeführt, der Waldemar war fertig.

Die

„Journalisten" erschienen 1854, die „Fabier" 1860. Das erste dieser Stücke ist darum merkwürdig, weil es einen Aus­

gangspunkt verräth, auf den man bei seinen späteren Schriften gar nicht

gefaßt wäre: die Romantik.

getreten,

und dem

er auch den Waldemar gewidmet hat, freilich

dem Tory".

Tiecks

„als Whig

Die „Brautfahrt" enthält nicht jene Romantik,

ersten Werken

doch wieder anzieht. auf

Er war in Berlin dem alten Tieck näher

der seinen dramatischen Versuchen große Theilnahme schenkte

Goldgrund,

in

den Leser, finster und

unheimlich

die in

abstößt

und

ES ist abgeklärte Romantik, heitere, lustige Bilder

möglichst

ungemischten

warmen

Farben

auSge-

führt; zierliches Tournier und Rtngelstechen, aber eigentlich nur zum Scherz; zierliche Galanterie mit Gemüth, eine Welt, in der die Sonne

nicht unterzugehen scheint;

und in der Mitte dieses heiteren Lebens der

Hanswurst, der scheinbar alle Gefühle und Ideen ironisch von sich ab-

wehrt,

im Grund

aber tiefer empfindet als all die anderen zusammen:

Hanswurst nur als Maske.

Kunz von der Rosen war durch die Le­

genden des sechszehnten Jahrhunderts gegeben, er spricht aber zugleich eine Neigung des Dichters aus, die auch später häufig hervortritt, mit­ unter in Momenten wo man eS gar nicht erwartet, in Momenten des

ehrbarsten VortragS;

nicht umsonst sagt einmal in den „Journalisten"

Professor Oldendorf zu seinem Collegen Bolz „ich bitte dich, sei nur jetzt

kein HanSwurst!" Diese Welt von bleibendem Sonnenschein und dauern­ der Gemüthstreue, in welcher der Spaßmacher denn doch seinen Platz

findet, ist diejenige, man sieht's aus der Brautfahrt, die dem jungen

Dichter vorleuchtete. In eine andere Atmosphäre versetzen uns die beiden folgenden Stücke, „Valentine" und „Waldemar", geschrieben und zum Theil auch aufgeführt vor dem Sturm von 1848. anfing sich

Es war die Zeit, wo das deutsche Theater

von der gemeinen Fabrikarbeit loszumachen und mit mehr

oder minder Ernst sociale Probleme zu verarbeiten;

Hebbel standen in ihrer Blüthe.

Laube,

Gutzkow,

Wenn sich auS dieser Periode wenig

erhalten hat, bet dem man mit reiner Befriedigung verweilen könnte, so sind die damaligen Versuche noch immer von Interesse, weil man daraus erfährt, was in den Köpfen der Stimmführer vorging.

Freilich kam die

Arbeit dieser GährungSzeit fast immer darauf heraus, Menschen zu schil­

dern, die nicht recht wußten, waS sie wollten, und daher auS einer Stim­ mung in die andere übersprangen. Freytag'S Stücke hoben sich gegen die seiner Mitbewerber sehr vor-

theilhäft ab, theils durch die gebildete edle Sprache,

kunstvolle Führung der Intrigue. Aufführung, wurde ich

theils durch die

Als ich sie zuerst sa^, in einer guten

auf das lebhafteste und angenehmste angeregt.

Einige Jahre darauf, wie ich sie wtedersah, kamen mir die Farben sehr verblaßt vor, und eS schien dem Publikum ebenso zu gehn.

DaS Jahr

1848, auf welche Seite man sich auch stellen mochte, hatte die Empfin­ dung doch anders gestimmt, und man hielt eS nicht mehr für rathsam,

Probleme spielend zu lösen, Gegensätze vertuschen zu wollen, die sich ein­ mal nicht vertuschen ließen. „WaS ich achte? — In unserer schwachen auflösenden nervösen Zeit sehr wenig!

Und die Kraft die Deine Güte mir zutraut, wozu soll ich

sie gebrauchen? Zu Thaten? Welche Männerthaten räthst Du mir an?

Sieh Dich um, Hugo!

Gebrüll,

Geschwätz, Klagen — Nirgend eine

große, frische, fortreißende That! Wäre ich ein Spanier oder Tektosage, so wäre ich der Anführer einer schwarzen, höllenheißen Bande von Schel­

men geworden, die den Teufel als Schutzpatron verehrt; da ich aber das

Glück habe, der höchst

civilisirte Graf Waldemar Schenk zu fein, so

begnüge ich mich, den Gang der Welt zu verlachen!

desten Hengste und Nummern.

Ich reite die wil­

setze im Roulette seit zehn Jahren nur

Wenn mein Pferd vor einer Hecke bäumt,

einzelne

oder ein Weib

mir zornig den Rücken kehrt, so habe ich doch Augenblicke wo ich lebe.

Sind es auch keine Thaten, so sind es doch Aufregungen."

Daß ähnliche Figuren der Zeit nicht fehlten,

lehrt schon das Bei­

spiel deS Fürsten Pückler, der seinen Trieb nach Abenteuern ruchloser noch als Graf Waldemar befriedigte, übrigens die Sache nicht so tragisch

nahm, und trotz aller Ausschweifungen bei guter Verdauung erst als hoher Achtziger starb.

Auch darin ist er mit Waldemar verwandt, daß er eine

gewisse Gutmüthigkeit, ja unter Umständen Sentimentalität

läugnen konnte.

nicht ver-

In der „Galerie aus Rahel's Umgang" sind noch ver­

schiedene andere Charakterköpfe der Gattung skizzirt.

Daß aber die Figur

typisch wäre grade für das Jahr 1847, kann man nicht sagen. vor dem Waldemar äußerte sich Carl Moor ganz ähnlich:

66 Jahre

„Mich

ekelt

vor diesem tintenklexenden Säculum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen!" und was weiter darauf folgt.

Trotz seines wilden

und wüsten Lebens hat freilich Carl Moor von vorn herein das Ziel vor Augen, mit welchem Graf Waldemar schließt, eine sittliche Ehe und eine geordnete Existenz.

Aber dies Ziel wird ihm durch gewissenlose Intriguen

entrückt, und er endet als Chef einer schwarzen höllenheißen Bande von

Schelmen, die ihm freilich Gelegenheit giebt, seinen verwegenen Muth noch gewaltiger an den Tag zu legen als die spätern Vandalen.

Auch Carl Moor ist keineswegs der erste seines Stammes.

Vorher

hatte Klinger in „Sturm und Drang" mehrfach solche Kraftgesellen dar­

gestellt, denen das spießbürgerliche Leben Deutschlands eine Qual war,

und die, um die Ellenbogen frei zu haben, einen Heereszug in die Prärien Amerika'S unternahmen.

Es kommt bei diesen poetischen Bildern weniger

die Nachbildung der Wirklichkeit in Betracht als das Interesse der Dichter

an Gestalten, die sich über daS Alltagsleben erhoben und gegen dasselbe

protestirten. DaS verwandte Interesse deS jüngeren Dichters ist unleugbar: er

billigt das Treiben Waldemars ganz und gar nicht,

aber er interessirt

sich für ihn und sucht in ihm eine freilich mißleitete Kraft, deren Trag­

weite er wohl überschätzt. Da er keine rettende That für ihn findet, sucht er ihn unS wenigstens gemüthlich näher zu bringen: Wüstling in eine rührende Neigung.

er verstrickt den

Wenn Waldemar sich nicht zur

Leidenschaft aufschwingen kann, so rafft er sich insofern zur Thätigkeit auf, als er die Hindernisse wegräumt, die seiner Heirath mit dem Gärtner-

Mädchen entgegenstehn. — Diese Hindernisse liegen nicht in den Vorurtheilen

seines Standes.

Waldemar ist vollkommen unabhängig von der guten

Meinung seiner Standesgenossen,

und wenn die Atmosphäre der Vor­

nehmen und der Halbwelt durch die Macht der Gewohnheit einen gewissen Reiz auf ihn ausübt, so wird er durch ihre Voraussetzungen weder inner­

lich noch äußerlich bedingt, er kann sich ihnen entziehn sobald er Lust hat.

Und er thut eS: was dann freilich aus der Ehe zwischen dem abgelebten Weltmann und dem schlichten Mädchen, das in ihrer sittlichen Art doch ziemlich fertig ist, werden soll, das entzieht unsern Blicken der fallende

Vorhang. Die „Valentine" behandelt einen verwandten Gegenstand.

Zwei frei

geschaffene Seelen begegnen sich: die Valentine hat den Ehrgeiz Fürstin

zu werden, und duldet darum Berührungen der Hofwelt, die sie eigent­ lich anekeln sollten;

Georg Saalfeld oder eigentlich Georg von Winegg

unternimmt es, durch eine geschickte Intrigue sie diesen Banden zu ent­ reißen.

Er hat in dieser thatenarmen Zeit, um wenigstens eine Aufregung

zu finden, sich in ein demagogisches Unternehmen eingelassen, dann in

Amerika einem Jndianerstamm angehört, und sucht nun ein Abenteuer in der vornehmen Welt, nicht aus Leidenschaft für die Valentine, die er

noch gar nicht kennt, sondern aus Neugier und romantischem Interesse. Durch ein seltsames Spiel des Zufalls wird er in Conflicte gebracht, die ans Tragische streifen, die aber endlich durch einen Wetteifer der Groß-

muth zum glücklichen Ausgang gebracht werden.

Der Ausgang hätte sich

freilich früher finden lassen, wenn der Eindruck, den das Stück auf alle

Unbefangenen macht: die

öffentliche Meinung

in dieser

gänzlich ver­

kommenen Welt verdiene kein Opfer, sich bei den Betheiligten früher ein­ gestellt hätte: der dargestellte Gemüthsconflict erscheint auch als momentaner

unberechtigt.

Bei aller Anmuth dieser Stücke befriedigt der AuSgang nicht, denn man erwartete doch wohl, daß der Ueberschuß an Kräften, in welchen daS tragische Motiv der Helden lag, entweder einen geeigneten Tummelplatz

finden, oder sich in einem harten Zusammenprall ausgeben würde. Diesen richtigen Ausgang hat Freytag in zwei verwandten Figuren

der späteren Zeit gesucht,

in Conrad Bolz und in Fink.

Bei Bolz ist

die Verwandtschaft etwas entfernter, er ist ein Bürgerlicher, und in seiner

Jugend ganz und gar nicht an große Verhältnisse gewöhnt; aber die Nei­ gung

zum Spiel mit dem Teufel theilt er mit Georg Saalfeld,

mit

Waldemar, mit dem späteren Jngraban, und der Stand der Journalisten

giebt ihm Gelegenheit,

dieser Neigung freies Spiel zu lassen und doch

einem guten Zweck zu dienen, denn er wirkt wie Victor König bei allem

Uebermuth nach bester Ueberzeugung für das Wohl des Vaterlandes. demselben Resultat kommt Fink. wie Saalfeld

und Waldemar

Zu

Ein unbändiger übermüthige^ Mensch findet er nach mehrjährigen Abenteuern

und Irrfahrten den Weg, auf dem er seine Kraft würdig bethätigen kann:

eine deutsche Ansiedelung im halbfeindlichen Lande.

Wie Fink eine Brust­

wehr gegen die Polen aufwarf, so später Jngraban eine Brustwehr gegen die Sorben.

Wenn ein CharakterthpuS

bei

einem Dichter häufig

nimmt man leicht an, er wolle sich selbst schildern.

wiederkehrt,

DaS trifft doch nicht

So weit man über diese Dinge überhaupt urtheilen darf: in

immer zu.

Freytag steckt so wenig von Waldemar, Saalfeld, Fink und Bolz, als in Schiller von Carl Moor und Fieöco.

Es waren Figuren,

wie sie

nach dem Vorgang Lord Byrons die deutsche Jugend träumte, sie auch

wohl in der Wirklichkeit suchte, Mädchen sich ein Ideal, bildet.

Ideale in dem Sinn, wie ein junges

Bei Dichtern geht indeß das Interesse an

solchen Figuren, denen sie nachzufühlen streben, tiefer, die Ausarbeitung der einen weckt die Lust nach der andern, sie suchen dann eigne verwandte

Empfindungen zu wecken.

Freiheit war überhaupt das Lieblingswort der

Zeit, und die höchste Freiheit scheint ja wohl die Fähigkeit, sich die prak­ tischen und schaffen.

moralischen Bedingungen seiner Existenz nach Willkür zu

Wo ist dies Ideal zu finden? — Jenseits der civilisirten Welt!

Georg und Waldemar sind die Ahnen von Bolz und Fink.

Im Lauf

der fünf bis zehn Jahre, die dazwischen liegen, hat sich das Bild, das zuerst dem Dichter vorschwebte,

bekleidet,

mehr

und

mehr mit Fleisch und Blut

mehr und mehr an Bildung gewonnen.

sich der Dichter erarbeitet.

Diesen Gewinn hat

Er hat es mit seinem journalistischen Beruf

streng genommen, er hat gegen das Schlechte in Sitte, Politik und Litteratur mit Ernst angekämpst, das erhaltene und neu auftauchende Gute warm aner­

kannt, und eben dadurch seine eigene Bildung vertieft. Wenn er in dem Lust­

spiel „die Journalisten" die Verpflichtungen dieses Standes mit einer gewissen Wehmuth und Resignation beschreibt, so hatte er insofern Recht, als dieser Beruf im normalen Leben nur ein Durchgang sein darf: aber

eö war für ihn ein gesegneter Durchgang, und noch als gefeierter Dichter und Geschichtschreiber hat er nicht verschmäht, wenigstens aus der Ferne

sich an diesem Wirken zu betheiligen. Die Valentine hatte zuerst dem Dichter zahlreiche Freunde und Ver­

ehrer verschafft, die Wirkung wurde dann geringer; Waldemar hatte gleich von vorn herein gegen Widerspruch zu kämpfen.

wannen sofort die Menge und leben

Die Journalisten ge­

heut nach 26 Jahren noch ebenso

lustig als damals, ja man kann voraussehen, daß sie sich noch lange frisch

Die Führung nnd der Stil scheint mir bei allen drei

erhalten werden.

Stücken gleich gut, der Unterschied des Erfolgs liegt doch wohl am Stoff. Seit dem Jahr 1848 sind wir Alle politisch

raffinirten Edelmuths,

für Probleme

angehaucht,

wie sie in Valentine und Waldemar dargestellt

werden, haben wir kein Interesse mehr, kaum noch ein Verständniß.

Da­

gegen berührt uns die frische lustige Art, wie uns in den „Journalisten" das politische Treiben vorgeführt wird, noch heute so wohlthuend wie da­

mals.

Ja, waS ich beim Erscheinen des Stücks mit Unrecht als einen

Mangel empfand, daß die politischen Gegensätze sich nur ganz unbestimmt abzeichnen, und daß die Bolz, die Schmock, die Bellmaus an Wunder­

lichkeit lange nicht die Charakterköpfe erreichen, die der wirkliche Journa­ lismus groß zieht, das hat sich nachher gerade als das lebenerhaltende

Princip des Stücks erwiesen: jede stärker hervortretende Parteifarbe, jede schroff realistische Zeichnung der Figuren würde den Stempel einer Zeit an sich tragen, die uns heute schon Vergangenheit wäre; die leichten Umrisse aber auszufüllen fühlt jeder Schauspieler von Talent den Beruf.

Nach

dem glänzenden Erfolg der Journalisten waren diese Schau­

spieler durchweg sehr unzufrieden, daß Freytag sich vom Theater abwandte;

ich glaubte damals schon und glaube noch heute, daß er den für sein Ta­ lent richtigen Weg gefunden hat:

seine Richtung ist episch,

nicht

dra­

matisch. „Soll und Haben" 1855 hat einen Beifall gefunden wie kein an­

deres Buch

der

ganzen Periode, und

ich freue mich herzlich darüber.

Wenn Freytag auch manches Bedeutendere geschrieben hat, dieser Roman das anmuthigste und abgerundetste.

so

ist

doch

Es mag sein, daß bei

mir persönliche Eindrücke dazukommen, da ich das Entstehen dieses Ro-

mans-bis in's Kleinste mit erlebte,

aber ich habe noch heute den näm­

Die Dichtung geht Einem ein wie ein

lichen Eindruck wie damals.

frischer, kräftiger Trunk von edlem Wein.

Ich muß lachen, wenn ich an

die Anfechtungen zurück denke, die das Buch zuerst zu überwinden hatte. Freytrag

wollte mir eine Freundlichkeit erweisen,

und

fand die

schmeichelhafteste Form: er nahm eine Stelle auS meiner Litteraturgeschichte

zum Motto: „der Roman soll das Volk da suchen, wo eS zu finden ist, bei seiner Arbeit."

DieS Motto war wie ejn rother Lappen, über den

die Gegner blind herfielen.

Man rief uns zu: Ihr wollt nur Kaufleute

gelten lassen und keine Lyriker!

Euch ist nur die Arbeit des Comptoirs

etwas werth und allenfalls die Pflugschaar! Wie kommt Ihr denn dazu, etwas drucken zu lassen? Geht doch in den Laden und verkauft Rosinen,

oder auf die Tenne nnd drescht Korn!

Von anderer Seite wurde wieder gefragt:

was

ist denn

an der

ganzen Sache Neues? Kaufleute sind ja auch sonst schon geschildert wor­

den, z. B. eben von Hackländer in „Handel und Wandel". — Diese Bemerkung ist vollkommen richtig, und Freytag hat sich niemals einge­ bildet, den Kaufmannsstand als Dichter gleichsam erfunden

zu

haben.

Hätte das Buch weiter kein Verdienst gehabt, so würde man auch von dieser Seite über dasselbe nicht viel Wesens gemacht haben.

Aber weil

es an und für sich ein reizendes, geistreiches und lebenswarmes Buch war,

darum wirkte die Tendenz, die in der That in ihm lag, mit einer Kraft

wie kaum ein anderes litterarisches Ereigniß. Diese Tendenz richtete sich gegen die Romantiker und Jungdeutschen,

aber sie richtete sich

gegen die

zugleich — und das entging den

Gegnern, das hat der Dichter vielleicht selbst nicht gemerkt — indirekt

gegen seine eigenen Bilder, gegen die Brautfahrt, gegen die Valentine und Waldemar. Der französische Roman in der Mitte deS vorigen Jahrhunderts,

Cröbillon, Prsvost u. s. w. — beschäftigte sich fast ausschließlich mit der Classe, die in der guten Gesellschaft das Wort führte, den Rentiers wo

möglich auS dem Stande der Marquis, die weder äußerlich noch innerlich an irgend eine Lebensbedingung gebunden waren, die als gebildete Müssig­ gänger nichts weiter zu thun hatten als Frauen zu verführen oder sich

verführen zu lassen. Diese französische Romanform gewann in Deutschland eine thümliche Bedeutung durch den „Wilhelm Meister".

eigen­

Bei den Franzosen

deS RococozeitalterS war die Herrschaft des Rentiers in der Gesellschaft

Thatsache, der Roman hatte sie nur abzubilden; in Deutschland dagegen, wo die Rentiers selten waren, fühlte sich jeder Einzelne unter dem Zwang

der Standesvorurtheile gleichsam verkrüppelt an Geist wie an Körper.

Der

Bürger, der nach menschlicher Bildung strebte, und der im Grund den

ganzen Fortschritt der Litteratur vertrat, ward überall durch seine Unbe­ holfenheit gehemmt; er sah mit bewunderndem Neid auf den Adel, dem

eS erlaubt war, seine Persönlichkeit harmonisch

auszubilden;

gleichem Neid auf die Vagabunden, Zigeuner und

wenigsten- nicht von Spießbürgerei erdrückt waren.

mit fast

Schauspieler, die

Die bürgerliche

Sittlichkeit, die allem Hoherz, und Freien Erstickung drohte, wurde damals

in Deutschland als eine Last empfunden.

So sträubt sich Wilhelm Meister

gegen Werner, und wenn zum Schluß des Romans die Oekonomie einige

Geltung gewinnt, so stammt das auS einer Zett, wo Goethe die Richtung

seiner Jugend bereits überwunden hatte. Der Wilhelm Meister begann mit einer blinden Verehrung deS noch

unreifen Bürgersohns vor der adeligen Bildung.

Im weiteren Verlauf

deS Romans aber ergab sich die Nothwendigkeit, diese ebenfalls einseitige

adelige Bildung durch Aufnahme bürgerlicher Elemente zu ergänzen.

Die

Abschließung der Stände soll ganz aufhören, Heirath zwischen Adeligen und Bürgerlichen erregt nicht den mindesten Anstoß mehr. DaS Ideal dieses Romans wie das der goldenen Zeit überhaupt

war, eine Gesellschaft zu finden, die durch ihre Unabhängigkeit von den gemeinen Lebensbedürfnissen befähigt war, sich an dem Schönen und Rei­ zenden aller Art zu erfreuen, um durch allseitige Bildung sich den Ge­ schmack für den freien Genuß zu erwerben; eine Gesellschaft als deren na­ türlicher Vorsitzender der „ Oheim" betrachtet werden konnte.

Ihren

nächsten Pflichten wollten sie sich keineswegs entziehen, aber diese mußten

durch individuelle Neigung vermittelt werden.

Solchen Kreisen begegnen

wir im Grunde schon in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter", später in den „Wahlverwandtschaften" und den „Wanderjahren".

Ihre

Bildung sollte sich auch darin zeigen, daß sie die harten Reibungen, den Kampf der Interessen und Gesinnungen möglichst von sich abwrhrten; sie

betrachteten sich wie die Weltbürger des achtzehnten Jahrhunderts, nur in einer idealeren Form; sie hatten als solche, als gebildete Freimaurer, die Romantik eines geheimen Ordens der Lebensphilosophen. Das Prinzip wurde nun von der romantischen Schule festgehalten; am lehrreichsten sind vielleicht TiekS Einleitungen zum „PhantasuS".

Die

geistvollen Herrn und Damen, die sich dort sammeln, reden von nichts

als von Shakespeare und Calderon, von Mozart und Beethoven, von der

Antike und der Mystik.

Ihre Unterhaltungen sind oft geistreich, immer ab­

lehnend gegen ernste Interessen der Wirklichkeit; eS ist eine Gesellschaft

von Dilettanten, die sich allenfalls auch um das Gemeine kümmern wollen, aber nur so weit es ihnen behagt, da freie Naturen sich jedem innern wie

äußern Zwang zu entziehen wissen.

Die Berliner Salons

Diese Richtung dauert noch ziemlich spät fort.

z. B. der Rahel suchen die Pariser SalonS des vorigen Jahrhunderts zu erneuern,

nur

daß

im

neunzehnten Jahrhundert

sich um die schönen Künste zu kümmern haben.

auch

die Marquis

Auch den Romanen der

Gräfin Hahn Hahn und anderer Dichterinnen aus dem Zeitalter Friedrich

Wilhelms IV. schwebte ein ähnliches Ideal vor. Nun war freilich diese Welt des gebildeten Genusses erst durch Na­ poleon' aufgescheucht worden, dann erschrak sie über die Juli-Revolution.

Gleichwohl wollte sie ihre alte Form nicht aufgeben, nur zog sie auch Politik und Religion vor SalonS wurde Heine:

ihr Forum.

Der Prophet dieser jüngeren

man lernte von ihm, anscheinend mit Idealis­

mus und doch zugleich mit Ironie sich über die Dinge ergehen; sich an

den Tagesfragen zu betheiligen, ohne doch sich ihnen hinzugeben.

Das ist

der Character der sogenannten jungdeutschen Schule.

Das merkwürdigste Buch dieser Richtung, die „Ritter vom Geist"

erschien nach 1848.

Mit ungemeinem Scharfsinn wird hier über alle

möglichen Fragen der Religion und Politik diScutirt, ohne daß auch nur

das Geringste dabei herauskäme, aber der Verfasser glaubt ganz sicher,

mit diesen Discussionen etwas gethan zu haben.

Man darf Gutzkow nicht

allein verantwortlich machen; hält man z. B. Radowitz'S Unterhaltungen über Staat und Kirche daneben, es ist derselbe geistvolle Stil, dasselbe

frucht- und zwecklose Raisonnement — und dabei wollte Radowitz ein wirk­ licher Staatsmann sein.

Eine Reaction konnte nicht ausbleiben.

Der gebildete und geschmack­

eine sehr dankenswerthe Erfindung unserer

volle Dilettantismus war

classischen Zeit, denn ohne ein geistvoll genießendes Publicum blüht auch keine echte Dichtung auf.

Aber der Dilettantismus hatte seine Kreise zu

weit gezogen, und seitdem er in ernsthaften, das Mark angreifenden Fragen mit sprechen wollte, durfte man sich das nicht weiter gefallen lassen.

Die

Dichter der Dorfgeschichten hatten bereits sehr wohlthätig dahin gewirkt, wenigstens eine bestimmte Schicht des wirklichen Lebens dem Dilettan­

tismus zu entziehen, aber auch sie standen unter dem Bann der älteren Dichtung, und z. B. Auerbach'S Roman „Neues Leben" hätte allenfalls von einem Ritter vom Geist geschrieben sein können. In dieser Beziehung sprach Freytag in „Soll und Haben" das er­

lösende Wort.

Einmal.

Das wirkliche Leben kann nicht von Dilettanten

geleitet werden, sondern nur von Menschen, die mit Leib und Seele an die Sache gebunden sind, von Menschen des kategorischen Imperativs, die

ihre Pflichten, ihr Verhältniß zu den Dingen nicht nach Belieben ab­ schütteln können.

Sodann.

Nur Menschen dieser Art sind geeignete Fi­

guren für die Gattung der Poesie, die sich ernsthaft mit Cultur-Problemen

beschäftigt, für den Roman; Dilettanten und ihre Schicksale mögen der leichteren Novelle überlassen bleiben. Für die Engländer war das nichts Neues: nie ist es einem englischen Romanschriftsteller eingefallen, Personen zu Helden zu wählen, die nichts weiter zu

thun

hatten als

über „Shakespeare

Gläser" geistreich zu phantasiren.

und

die

musicalischen

Aber für Deutschland war eS, mit

dieser Energie ausgesprochen, in der That etwas NeueS:

Die deutschen

Romanhelden hatten mit ihrer Lösung von den Mächten der Wirklichkeit zugleich den inneren Halt verloren; unabhängig vom bindenden Gesetz, waren sie abhängig von zufällig wechselnden Stimmungen geworden; ihr

Knochenbau war angefressen.

ES liegt in FrehtagS Princip noch manches Andere.

Die Fortschritte

deS öffentlichen Lebens, dies wird den Rittern vom Geist entgegen ge­ halten,

müssen von den

sittlichen und

Privatlebens getragen werden;

der

intellectuellen Fortschritten

Staat

wird

des

nicht eher vorwärts

kommen, als bis jeder Bürger gelernt hat, vor seiner eigenen Thür zu

kehren.

Man soll mit seinem Credit nie über sein Vermögen hinaus

gehn: man soll z. B. — und das können Valentine und Waldemar sich

merken — nicht eher nach Feinheit und Größe in den Empfindungen

streben, bevor man nicht auf Grundlage der gemeinen Sittlichkeit festen Fuß gefaßt hat. Die heilsamen Folgen dieser Grundsätze zeigen sich

Kunstform.

auch

in der

Freytags frühere Helden hatten ihr Centrum verloren und

suchten es vergebens wieder zu finden; die Figuren des Romans dagegen

stehn fest in ihren Schuhen, und sind individuell interessant, doch zugleich typisch.

Wer kennt nicht den Baron und die Baronin Rothsattel aus

eigener Erfahrung?

Hirsch und Bernhard Ehrenthal; Beitel Itzig und

Schmeie Tinkeles? den Kaufmann mit seinem Comptoir, die reizenden Backfische aus der adeligen Tanzstunde? ja wem wäre nicht einmal Leonora

und Sabine begegnet!

Die Figuren sind typisch und doch in keiner Weise

trivial; man freut sich über die künstlerische Feinheit, mit welcher der Dichter in bekannte Physiognomien neues Leben zu bringen weiß.

Der Inhalt

des Romans

ist gewissermaßen

ein

Gegenbild

Wilhelm Meister: der Kampf des BürgerthumS gegen den Adel, mit entschiedener Parteinahme für das Bürgerthum.

des aber

Die Vorzüge des

Adels beruhn auf der Stellung einer herrschenden Klasse im Staat; die

Ehre wird ihm bereits durch seinen Stand vermittelt, dessen Sitte er sich fügen, dessen Würde er in seiner Person vertreten muß; durch den Esprit de corps, der, wo der individuelle Charakter und die individuelle Bildung nicht ausreicht, mit Regel und Maß aushilft.

Er wird durch beständige

Betheiligung am höheren Staatsleben namentlich an den Kriegen, durch

befestigten Grundbesitz, der ihm eine sichere Heimath giebt, durch ununter­ brochene Tradition, die ihm die Vergangenheit als Gegenwart zeigt, zu einem gesteigerten Nattonalgefühl geweckt.

Er leidet endlich wenig unter

den Einseitigkeiten eines bürgerlichen Berufs. Diese Vorzüge sind in ihrer vollen Ausdehnung nur denkbar, wenn

man eine fortwährende Scheidung zweier Stände annimmt: ein Zustand, der auf die Dauer unmöglich ist.

Wie die Wissenschaften, Künste und

die verschiedenen Zweige der GewerbSthätigkeit sich auSdehnen und ver­

vielfältigen, wird nur auf einem bestimmten Kreis der Thätigkeit Macht

und Einfluß gewonnen, und wo die herrschende Klasse fortfahren wollte,

ausschließlich zu herrschen und zu genießen, würde sie bald aufhören die herrschende Klasse zu sein.

Die bürgerliche Arbeit ist die Grundlage der

modernen Gesellschaft; wer in ihr sich erhalten will, muß in der Weise

des Bürgerthums auf Erwerb denken, d. h. folgerichtig und mit Ausdauer arbeiten.

Das verkennt auch der Baron Rothsattel keineswegs; warum geht

er also zu Grunde? — Er ist doch bereit, die Behaglichkeit und die gemüthvollen Erinnerungen seines angeerbten Landguts dem modernen Fort­ schritt zu opfern, seinen erfrischenden WaldeSduft durch die rauchenden

Essen der Fabrik anzukränkeln. Der Baron geht unter, nicht blos durch seine eigenen Fehler, son­

dern durch die seiner Ahnen.

Der Adel ist zu einer blos genießenden

repräsentirenden Klasse herab gesunken, er hat verlernt zweckmäßig zu

wirken.

Der gute Wille des Einzelnen rettet ihn nicht.

Der Baron geht

unter, weil er ein Geschäft unternimmt, daS er nicht selber ausführen kann; er geht unter, weil er in seiner vornehmen Art, Gleichberechtigte

unter dem Bürgerstand nicht zu dulden, an solche Werkzeuge gewiesen ist, die sich ihm unterthänig zeigen und ihn betrügen.

Der unreelle Handel der Ehrenthal und Beitel Itzig ist die Schmarotzer­

pflanze, die aus dieser ungesunden thatlosen Selbstsucht der Vornehmen aufwächst.

So faßt es von vornherein der große Kaufmann auf, der dem

fallenden Hause die rettende Hand versagt, so muß eö zuletzt selbst der gutmüthige Anton verstehn, der nach bitteren Erfahrungen sich dieser vor­ nehmen Welt völlig entftemdet.

Der Adel geht zu Grunde, und mit ihm

die adelige Sitte, das adelige Behagen; im Rauch der Fabriken geht viel Schönes und Edles tot deutschen Leben verloren. Wie denkt sich nun Frehtag den Ausgang? — Wenn in der Welt

nichts übrig bliebe als T. O. Schröter, Anton, Sabine, Jordan u. f. w.,

so würde ihr nicht blos viel Freude und Farbe fehlen, sie würde auch

langsam vorwärts kommen; die bloße Gewissenhaftigkeit

obgleich uner­

läßlich ist nicht productiv. — Zum Erben der alten Parteien scheint Fink

bestimmt zu sein: er hat die Verwegenheit der alten Junker, er hat in Amerika gelernt, gewaltig zuzugreifen; bei T. O. Schröter hat er dagegen

erkannt, daß bei jedem Unternehmen nur das Reelle bleibend gedeiht: er wendet die Lehren der Volkswirthschaft auf das adelige Geschäft deS Acker­ baus an, aber er verlernt nicht die Waffen zu führen, er erscheint wie

ein Typus eines modernen Adels, der die bürgerliche Schule durchge­ macht hat.

Der Roman hat eine ganze Schule hinter sich:

Baron Tuchheim

bet Spielhagen, Baron Artm bei Fanny Lewald, Axel von Rambow bei

Fritz Reuter gehen an demselben Gebrechen zu Grunde tote Baron Roth­ sattel; französische, russische., englische Dichter beschäftigen sich mit dem­

selben Problem. Freytag schilderte den Verfall des Adels nach Erfahrungen, die vor

dem Jahre 1855 liegen.

Wir haben in den letzten Jahren Erfahrungen

gemacht, die ihm nur zu sehr Recht zu geben scheinen.

Ein Bruchtheil

selbst des höheren Adels hat sich bei Geschäften betheiligt, die durch ihre innere Jnsolidität den Ruin vieler Familien herbeiführten; ein großer Theil des Adels hat ferner, weil er -durch eigene Kraft nicht vorwärts

kam, Staatshülfe als sein angeborenes Recht in Anspruch genommen und

damit seine Stellung im Staat verschoben. Gleichwohl sehen wir heute den Fall mit anbeten Augen an als im

Jahre 1855.

Damals schien der Bürgerstand darauf hingewiesen, sich

zur herrschenden Stellung im Staat aufzuschwingen, gleichviel ob manches

Schöne dabei zu Grunde ging. Man hört die Meinung ^ioch heute immer wieder, aber sehr beachtenöwerth sind Stimmen wie die von Spielhagen,

der, früher eifriger Demokrat, in seinen späteren Romanen mehr und

mehr die Vorzüge des Adels hervorhebt.

Wer sich dem Eindruck der

Wirklichkeit nicht verschließt, wird eine gewiffe Befangenheit in den Vor­ stellungen von 1855 nicht verkennen.

Es war freilich die schlimmste ReactionSperiode.

Die conservative

Partei, die sich hauptsächlich doch auS dem Adel recrutirte, hatte sich in

Grimm über den Schnitt in's Fleisch, mit dem sie Hansemann

bedroht,

Theorien hingegeben, die alles Verständniß deS modernen Lebens auSschlosien.

Die herrschende Politik dieser Jahre war zugleich boshaft und

kleinlich, was sich freilich nicht selten zusammen findet. Mit dieser Partei

konnte an kein Pacttren gedacht werden, und gerade der idealistische, auf­ strebende Theil deS Bürgerthumö mußte die Kluft für unauSfüllbar ansehen. Der Wandel in den Ansichten stammt nicht blos davon her, daß die

Männer, von denen die Erhebung von 1866 und 1870 auSging, geborene Junker waren, sondern aus der Einsicht, gegen die man sich vergebens

wehrt: daß sie nur von Junkern auSgeheu konnte. Die gewaltige Natur­ kraft des leitenden Staatsmannes, wie nicht minder seine Schwächen sind

trotz der ganz exceptionellen Individualität zugleich die Kräfte und Schwächen seines Standes.

Der Gegensatz gegen Adel und Bürgerthum wird nie

aufhören, aber er wird sich hoffentlich als Wetteifer gestalten, und so

wenig wir daran denken werden, uns dem Adel unterzuordnen, so wenig

werden wir die Nothwendigkeit verkennen, innerhalb deS modernen StaatSkebenS ihm den Platz zu finden, den er zum Wohl des Staats be­

haupten darf.

Der Kampf kann mit ehrlichen Waffen ausgeführt werden, Licht und

Luft sind gleich vertheilt.

Von der gedrückten Stellung deS Bürgers

gegen den Edelmann, wie sie Wilhelm Meister noch vorfand, ist keine

Rede mehr; das Recht ist ein gemeinschaftliches geworden, die Exemptionen haben bis auf einen geringen Rest aufgehört; die Universität, der Beamten­

stand bis auf die höchsten Spitzen steht dem Bürger offen wie dem Edel­

mann, die allgemeine Dienstpflicht ist eine Wahrheit geworden, und der Bürger dringt reichlich auch in die Armee ein.

Auch das letzte äußer­

liche Vorrecht' des Adels, die ausschließliche Hoffähigkeit, ist durch die

Praxis vielfach durchlöchert.

Nicht mehr auf idealen und Ehrbegriffen,

sondern höchstens auf Interessen beruht der Kampf, und diese lassen eine vernünftige Ausgleichung zu.

Wenn durch das Eindringen der nord-amerikanischen Cultur ein un­

ruhiger SpeculationSgeist auch in die deutschen Geschäfte eindrang, wenn JustuS Möser'S bekannter Ausspruch:

Handels!"

„Unsicherheit ist

die Seele des

heute nicht mehr so paradox klingt wie vor hundert Jahren,

so ist daS eine Gefahr, die beide Stände fast gleichmäßig bedroht, und Freytag'S Lehre „Solidität ist die Seele des Geschäfts", münzt sich auf beide.

Fragt man nun, welche von beiden Figuren, Fink oder Anton, die

Meinung deS Dichters am stärksten vertritt? so entscheide ich mich ohne

Bedenken für den letzteren.

Der kategorische Imperativ der Pflicht auch

in den kleinen Angelegenheiten deS Lebens ist Freytag'S festgegründete

Ueberzeugung. Deshalb ist er nicht etwa Anton, so wenig als Fink: der Sohn deS dürftigen CalculatorS ging aus kleinen Verhältnissen hervor,

und sein Horizont, so weit er ihn auch durch Lectüre und Nachdenken auSdehnt, behält immer etwas Begrenztes, während Freytag durch seine Universitätsstudien gleich zu Anfang einen freien Blick in'S Große ge­

wann und dann erst der bürgerlichen Sitte näher trat.

Die Frage: wie unterscheidet sich adeliges Empfinden und Wollen

von dem bürgerlichen? hat ihn dauernd beschäftigt.

Fabier" 1860 hat er sie von einer unternommen.

In der Tragödie „die

höheren Warte aus zu beleuchten

Der Consul Caeso FabiuS und der Bürger Spurius

JciliuS vertreten die beiden Stände, und zwar nach deS Dichters Mei­ nung, ebenbürtig, wenn auch im entgegengesetzten Sinn. Ein furchtbares Verbrechen ist begangen, an die geheiligte Person eines Volkstribunen ist

mörderische Hand gelegt; die Uebelthäter sind die Angehörigen des er­ lauchten Stammes der Fabier. darum.

Nur Spurius und der Consul wissen

Der berechnende Kaufmann sucht die Sühne in einer Aenderung

deS Gesetzes: er verlangt das Recht deS ConnubiumS zwischen Patriciern

und Plebejern.

Er wird dazu noch durch ein persönliches Motiv bestimmt:

fein Sohn liebt ein Edelfräulein aus dem Fabierstamm.

Der Consul

dagegen, aufgewachsen in streng idealen, Ehrbegriffen, weist diesen Handel zurück: der Hauptübelthäter, sein eigener Sohn, soll altrömisch die Strafe

erdulden.

Aber zugleich tritt das adelige Standesgefühl hervor: er soll

nicht gerichtet werden nach dem gemeinsamen Recht deS Markts, sondern im heimlichen Famtliengertcht; damit wäre der eigentliche Sinn der Strafe,

die Oeffentltchkeit, ausgeschlossen. Aber auch in diesem beschränkten Sinn gelingt ihm sein Vorhaben nicht, der eigene Stamm weigert ihm den Ge­ horsam und will die unnatürliche Rbmertugend, die Verurtheilung deS Sohnes durch den Vater, nicht gelten lasten.

Damit nun die Sühne

nicht ausbleibe, greift der Consul zum Ungeheuren: der ganze Stamm

hat sich versündigt, der ganze Stamm soll auögerottet werden, freilich wie

es einem edlen Geschlecht ziemt, im Heldentod für'S Vaterland.

Sich

selber weiht er dem Untergang, und mit größerem Recht als er sich deut­

lich macht: denn da er willkührlich den Schuldigen dem öffentlichen Recht entzog, hat er bewirkt, daß das Verbrechen ungesühnt blieb.

Auf der

anderen Seite hat er durch die unerhörte That den Adel In der Stadt

wieder populär gemacht und dadurch die alte Verfassung gesichert; der Kauf­

mann, der „wählt, was ihm nützt", und daher von verschiedenen Motiven

bestimmt wird, muß dem Gewaltigen weichen, der „finsterm Zwange folgt". So wenigstens war die erste Version, nach meinem Empfinden die

poetisch richtige.

Wenn Frehtag bei der spätern Bearbeitung den Spu­

rius sein Stück durchsetzen läßt, so hat das für das prattifche Leben wohl

feine Berechtigung, aber eS verschiebt den großen Sinn der Tragödie. Idealer kann man das Problem nicht fassen als es Frehtag gethan.

Auch im übrigen ist das Stück sehr bedeutend; in meinen Augen — ich will nicht sagen der beste — aber der interessanteste Versuch seit

dem „Prinzen von Homburg" also seit einem halben Jahrhundert. Sprache ist vornehm und dabei eigenartig.

Die

Schiller's Idee, für die mo­

derne Tragödie den Chor wieder zu gewinnen,

ist geistreich und zweck­

voller als es Schiller gethan, durchgeführt; es ist ein ernster rühmlicher Schritt zur Veredlung der modernen Bühne.

Gleichwohl ist es vielleicht das einzige Werk Freytags, welches einen

geringen Erfolg davon getragen hat: der Schillerpreis versagte sich ihm und die Bühnen wußten eS nicht zu halten. Zum Theil liegt die Schuld

an dem Schlendrian der theatralischen Convenienz. theils

an

das bürgerliche Rührstück theils

Die Schauspieler,

an die Deklamation

der

Schiller'schen Schule gewöhnt, fanden die Zumuthung lästig, so wuchtige und doch nicht gerade wohMngende Worte auszusprechen, wie sie das Stück verlangte. Preußische Jahrbücher. $t. XLVII. Heft l.

6

Aber auch der Dichter ist nicht ohne Schuld.

Die Sprache selbst

ist nicht unanfechtbar: in den großen Scenen ist die Stimmlage erhöht,

fällt aber in andern wieder in den imitativen bürgerlichen Ton, ohne doch wie bei Shakespeare zum wirklichen Contrast vorzudringen.

Diese

unharmonische Mischung wird noch auffallender durch die über Gebühr ausgedehnte Genremalerei. Dazu aber wurde der Dichter durch die eigenthümliche Art seines

Schaffens

oder

vielmehr Erfindens verführt.

Er hat seine Fabel aus

einzelnen Anekdoten des Livius sehr geistvoll combinirt, aber ihm fehlte

der Muth,

sie nun nach Shakespeare'S Vorgang in rein

Weise auszuspinnen.

menschlicher

Er legte ihr eigenthümliche Rechtsverhältnisse zu

Grunde, die er theils modernen Forschungen entnahm, theils auf eigene Hand construirte. Um diese nun dem Theaterpublikum deutlich zu machen, mußte er den Gegensatz

der Zeitalter stärker betonen, und zu diesem

Zweck gab er dem ausmalenden Culturzustande einen größeren Raum als

die Bühne erträgt.

Damit beeinträchtigte er zugleich,

worauf es doch

hauptsächlich ankommt, die Durchsichtigkeit der Seelenbewegungen.

Die

Wortkargheit des ConsulS wird freilich durch seinen Charakter und durch

daS römische Costüm erklärt, aber es bleibt doch ein dürftiger Ersatz für den fehlenden unmittelbaren Einblick in seine Motive, daß wir uns von

seinem Gegner JciliuS über dieselben belehren lassen müssen; wir können die Frage nicht abwehren: wie kommt der kluge aber nüchterne Bürgers­

mann dazu, den „finstern Zwang" zu verstehn, der in dieser vornehmen

Seele haust? — — —

WaS ist vornehm?



Frehtags neuer Roman

„die ver­

lorene Handschrift" 1862—1863 giebt auf diese Frage eine überraschende Antwort. Wieder der Gegensatz des aufstrebenden und soliden BürgerthumS

gegen die halb abgelebte unsolide vornehme Welt. Diesmal gilt es nicht

dem Adel sondern dem Hof.

Wir werden in die Residenz eines größeren

deutschen Mittelstaats eingeführt, den wir zuerst nach der Lokalschtlderung südlich von Leipzig, etwa im Thüringischen suchen müssen, bei dem aber schon die Bezeichnung „Sachsenvolk" auf den Norden weist.

Es ist kein

wirklicher Hof gemeint, sondern nur ein möglicher, aber doch einer, den

man sich um die Zeit von 1860 soll denken können. Ueber die Treue in der Darstellung deS HoflebenS kann ich aus eigener Anschauung nicht urtheilen, Sachverständige versichern mich, sie

sei über alles Lob erhaben.

Wie sollte auch dem Dichter eine Darstel­

lung mißlingen, deren Gegenstand ihm seit 16 Jahren intim bekannt war? DaS Bild der Prinzessin Sissy ist so reizend und liebenswürdig, daß man

mit Vergnügen an ihre Existenz glaubt;

der Fürst, der freilich einem

Menschen deS 19. Jahrhunderts starke Dinge zumuthet, ist in kurzen aber starken Zügen so kenntlich gezeichnet, lassen.

daß man

ihn wohl muß gelten

Daß freilich die Verirrung eines Kleinfürsten mit dem Cäsaren­

wahnsinn eines Weltherrschers in Parallele gestellt wird, will nicht recht

einleuchten. Die hervorragende Figur deS HofeS ist der Oberhofmetster, vom Dichter augenscheinlich mit Vorliebe behandelt. Ein würdiger alter Herr,

an allen europäischen Höfen und in allen europäischen Welthändeln zu Hause, ungefähr wie der verstorbene Baron Stockmar, aber, abweichend

von ihm, von streng conservativer Gesinnung, alten Adels- und Hofsitte;

ein fester Vertreter der

ehrerbietig in seinen Formm, aber uner­

schrocken gegen despotische Willkühr, und Manns genug, ein Regtmmt zu stürzen,

von welchem er eine Schädigung deS

monarchischen Princips

fürchtet.

Dieser wahrhaft vornehme Mann nun erllärt den Erbprinzen Benno,

den künftigen Fürsten, für eine wahrhaft vornehme Natur, welchen Ehren­ titel er der Prinzeß abspricht.

Die Prinzeß ist lebenslustig und nimmt

keinen Anstand, um eine gemüthliche Regung zu befriedigen für, den Augenblick Regeln bet Seite zu setzen, die dem wahrhaft Vornehmen in Fleisch und Blut übergegangen sind.

Sie ist geistvoll und hat Energie;

Prinz Benno ist schwächlich, schüchtern in Urtheil und Wollen, auch in

seinem Verstand nicht gerade glänzend auögestattet: aber er ist nach dem

Urtheil deS Oberhofmeisters eine vornehme Natur, welchem Ausspruch der andere eines Hofmarschalls entgegensteht: „er kauft sich eine Butter­

maschine, weil eS ihm Vergnügen macht zu drehn". Oder meint es der Dichter vielleicht so, daß beides ungefähr auf das

nämliche herauskommt? daß die Vornehmen der Zukunft, die künftigen Fürsten sich unter andern auch durch die Fähigkeit legitimiren, mit An­ stand gleichgülttge Geschäfte zu verrichten? Sollen nach der Meinung deS Romans die Geschicke der Nation am besten von denen geleitet werden, die schüchtern und zaghaft sind in ihrem Willen? ES wäre das. ganz gegen Freytag'S sonstige Auffassung von dem

Beruf eines VolkSköntgs.

Und doch waren die Jahre,

in denen der

Roman erschien, mit einer so bittern Leidenschaft gegen fürstliche Etgen-

macht erfüllt, daß diese Auslegung eines Worts, das noch dazu an be­ deutender Stelle steht, nicht ganz unglaublich scheint. Wie dem auch sei, über der Conflictszett ist längst GraS gewachsen;

die folgenden Jahre haben gezeigt, daß der Fürst sich an die Spitze eines gewaltigen KriegSheerS stellen muß, unbeugsam gegen mächtige Feinde;

6*

daß auch in den innern Angelegenheiten des Landes, in dem hastigen Ge­ dränge der Parteien, die feste Ueberzeugung des Herrschers sich Geltung

zu erzwingen hat.

Ein Kaiser Benno wäre eine völlige Anomalie in der

deutschen Geschichte.

Der alte Fürst freilich ist ein schlimmer Gesell; unsere Geschichte zeigt unS so manche der Art, und ganz sind die Lebensbedingungen noch

nicht vorüber, welche derartige Charaktere aufkommen lassen. Zeit

ist längst vorüber, wo eine solche Figur typisch

Aber die

werden konnte.

Wäre ein Fürst von dieser Richtung wirklich vorhanden, so würde alle

Welt mit Fingern auf ihn zeigen; jedenfalls würde man bei der Oeffentlichkeit unseres Lebens

an einer Universität wie Leipzig

davon Kunde

haben, und ein angesehener Professor dieser Universität würde sich nicht einfallen lassen, seine junge Frau in den Pavillon eines solchen Fürsten

einzuquartieren.

Die äußere Wahrscheinlichkeit in

einem Roman ist sonst nicht

so

wichtig wie man wohl annimmt; sie erhält aber Gewicht, wenn durch sie daS moralische Urtheil über die handelnden Personen beeinflußt wird.

Die Unbesonnenheit des Professors scheint tadelnSwerth und soll eS nach

der Absicht deS Dichters sein: durch die Unwahrscheinlichkeit der Voraus­ setzung aber wird daS Urtheil irre geführt. Das Bürgerthum, welches gegen die adelige Welt vordrängt, wird

diesmal hauptsächlich durch den Gelehrtenstand vertreten: die meisterhafte Schilderung desselben ist ein Werk,

durch welches sich der Dichter den

wärmsten Dank der Nation verdient hat.

Wir haben allen Grund, aus den Stand unserer Wissenschaft stolz zu sein, auf den Fortschritt, den wir seit hundert Jahren gemacht haben.

Ich

spreche nicht von den Fortschritten im einzelnen, die schon alle Bewunde­ rung verdienen: die Hauptsache ist, daß die spröde Trennung der Wissen­ schaften von einander so wie der Wiffenschaften im Allgemeinen von der

Dichtung und den ideellen Mächten des Lebens, über welche Goethe und Schiller sich wiederholt so

bitter beklagten, völlig aufgehört hat.

Heute versäumt der gründliche Gelehrte bei der strengsten exacten For­ schung nicht mehr Fühlung mit den andern Wissenschaften, Fühlung auch mit der Poesie zu suchen, und was man in den Zeiten unserer classischen

Dichtung ausschließlich den Philosophen überließ: er giebt sich Rechenschaft von den höchsten Zwecken seines Arbeitens, von dem Zusammenhang der­

selben mit der Idee des Göttlichen.

Was Herder anbahnte, indem er die

Geschichte mit der Naturwissenschaft in Verbindung setzte, waS dann die Brüder Grimm in genialer Divination im Detail fortführten, waS die

Hegel'fche Philosophie auf dem Wege der Abstraction zu erreichen strebte.

das ist heute Gemeingut aller derer, die auf der Höhe der Wissenschaft stehn.

Heute kann man nicht mehr arbeiten ahne zu denken, nicht mehr

denken ohne sich daS Verhältniß des Gedankens zur Empfindung klar zu machen. Dies in einer Whandlung auszusprechen, ist nicht schwer; sehr schwer dagegen, es in einem Bilde auch denjenigen deutlich zu machen, die nur

in der Vorhalle stehn.

Je öfter man die „Verlorene Handschrift" an­

sieht, desto mehr bewundert man die Feinheit, mit welcher der Dichter, ohne doctrinair und pedantisch zu werden, nicht blos die Technik deö Ar­ beitens aufweist, sondern den geistigen Inhalt der Arbeit selbst.

„ES sind nicht Schatten, die der Wahn erzeugte."

Der Kreis, in

dem wir Jahre hindurch in Leipzig verkehrten — ich nenne nur Haupt, Jahn und Mommsen — öffnete dem Dichter die geheimste Werkstätte dieser geistigen Arbeit.

Bekanntlich gab Moritz Haupt den ersten Anlaß

zur Conception des RomanS: er erzählte in einer lustigen Abendstunde von einer Handschrift des Livius, die noch irgendwo im Holländischen

versteckt sein sollte, und wir schmiedeten abenteuerliche Pläne, derselben habhaft zu werden.

Freytag machte auS dem LtviuS den TacituS, weil

der Inhalt der Historien und Annalen dem, was er nebenbei darstellen

wollte, dem Cäsarenwahnsinn die geeignetste Unterlage bot. UebrigenS darf man in dem Professor Felix Werner nicht etwa ein

Portrait Haupt'S suchen, wenn ihm auch manche Züge entlehnt sind: ich

sage daS ausdrücklich,

weil man wiederholt in der „verlorenen Hand­

schrift" nach Copien gesucht hat.

ES ist, soviel ich weiß, keine einzige

darin, mit Ausnahme von Speihahn und Breihahn und der Hutmacher-

Wohnung am Eingang deS Rosenthals, in welcher ich in den Jahren 1848 und 1849 mit Freytag zusammen wohnte.

Freytag wollte Typen

geben, und dazu benutzte er einzelne Züge aus dem Treiben der Uni­ versitäten überhaupt wie aus der Physiognomie einzelner Bekannten.

Freilich kam eS ihm darauf an, von dem idealen Bild unserer deut­ schen Wissenschaft auch die Kehrseite zu zeigen.

Sehr sinnig deutet die

Einleitung auf den Kampf zwischen dem Sonnenlicht echter und ehrlicher

Arbeit mit den trügerischen vom Monde beleuchteten Nebelbildern subjek­ tiver Einfälle hin. Dieser Kampf ist nicht blos ein äußerlicher, er drängt sich mitunter in das Innere des Menschen ein. Der Character des modernen echten Gelehrten ist Strenge und Ge­ wissenhaftigkeit in der Arbeit. Diese Strenge artet zuweilen in unbillige

Härte gegen Schwächere, in Ueberhebung aus, die beschämt zu werden

verdient.

Ich glaube, daß die Beschämung Felix Werners ursprünglich

noch stärker beabsichtigt war.

Noch ein zweiter Abweg unseres Arbeitens liegt nahe: das Streben,

der Wissenschaft neue Gebiete zu erobern, verleitet mitunter zu einer Jagdlust, die andere ebenso wichtige Aufgaben des Menschenlebens übersieht.

Wenn die Verirrung deS Professors in der Unklarheit der politischen Verhältnisse, in welche er verstrickt wird, nicht so deutlich heraustritt, so

ist sie doch eine der wichtigsten Tendenzen des Buchs. ES hängt damit noch ein anderer Mangel der gelehrten Bildung

zusammen.

WaS der Professor zuerst bei einem Feste der Landwirthe,

dann seiner Gattin über die Bedeutung der Volksseele vorträgt, ist Frey­ tag'S eigenste Ueberzeugung, und der rothe Faden, der sich sowohl durch

die „Bilder der Deutschen Vergangenheit" wie durch die „Ahnen" hin­

durch zieht; ist es aber ausreichend, das Räthsel des Lebens, ich will nicht

sagen zu lösen, aber eS auch nur einem natürlich empfindenden Gemüth

näher zu bringen? — Ilse, religiös erzogen, erschrickt über diese Lehre;

sie verfällt in eine schwere Krankheit; waS aber weiter daraus wird, ob die Gegensätze sich auSgleichen, oder ob sich der Eine zur Ueberzeugung

deS Andern bekehrt,

ob ferner dadurch daS Leben selbst in ein anderes

Fahrwasser gelenkt wird, das erfahren wir nicht.

Ilse ist in ihrer Erscheinung eine der schönsten Figuren, die Freytag

geschaffen hat;

ein wahrer Zauber der Poesie breitet sich über sie auS.

Der Dichter scheint aber keineswegs in ihr ein Musterbild haben schil­ dern wollen: der Obersthofmeister würde sie nicht für eine „vornehme

Natur" gelten lassen, denn sie nimmt sich heraus, nach Eingebungen ihres Herzens über ihr eigenes Schicksal wie über das Schicksal Anderer ver­

fügen zu wollen.

In wie weit sie das mißleitet, in wie fern also auch

in ihr eine Schuld liegt, darüber wünschte der Leser mit Recht weitere

Aufklärung.

Ilse ist zugleich eine symbolische Figur; die Phantasie, in welcher der Germanist Fritz Hahn, deS Professors Freund,

bei ihrem Anblick

auSbricht, ist vorbildlich für FreytagS spätere Arbeiten. — Das uralte Wesen auS der Sachsenzett hatte sich an diesem Ort nur wenig geändert.

Und er sah den Felsen und die schöne Ilse von

Bielstein, wie sie vor Menschengedenken gewesen waren.

Damals war

der Stein einem Heidengott heilig, schon damals hatte ein Thurm darauf

gestanden, und die Ilse hatte darin gewohnt, mit ihren gescheitelten blon­ den Haaren, im weißen Linnengewand, einen Pelz von Otterfell darüber.

Damals war sie Priesterin und Prophetin gewesen für einen Stamm wilden Sachsenvolks.

Und wo jetzt die Kirche stand, war die Opferstätte

gewesen, und das Blut der gefangenen Feinde war von dort herunterge­ rieselt in das Thal.

Und

wieder später hatte ein christlicher Sachsenhäuptling dort sein

BalkenhauS gebaut, und wieder hatte dieselbe Äse darin gesessen zwischen

den hölzernen Pfosten, auf dem erhöhten Raum der Frauen, und sie hatte die Spindel gedreht oder den Männern schwarzen Meth in die Schaale

gegossen. Und wieder Jahrhunderte später war das gemauerte Haus mit stein­ umfaßten Fenstern und einem Wartthurm auf dem Felsen errichtet wor­

den als Nest eines räuberischen Junkers, und die Ilse von Bielstein hatte

wieder darin gehaust in einer sammtnen Haube, die der Vater auf deS Königs Heerstraße den Kaufherrn geraubt hatte, und wenn daS HauS von

einem Feinde berannt wurde, stand die Ilse unter den Männern auf der Mauer, und spannte die große Armbrust wie ein Rettersknecht.

Und wieder viele hundert Jahre später hatte sie in dem Jagdschloß

eines Fürsten gesessen, bei ihrem Vater, einem alten Kriegsmann aus der Schwedmzeit.

Damals war sie spießbürgerlich und fromm geworden, sie

kochte Beeren zu Muß und ging hinunter zum Pfarrer in das Conventikel, sie wollte keine Blumen tragen und schlug mit dem Finger in der

Bibel nach, welchen Mann ihr der Himmel bescheeren würde. Und jetzt stand dasselbe Sachsenkind seinem Freunde gegenüber, hoch und kräftig an Leib und Seele,

aber immer noch ein Kind des Mittel-

alters, gefaßt und still, mit gleichmäßigem Ausdrucke des fchhnen Ange­ sichts, der nur wechselte, wenn einmal plötzliche Leidenschaft durch das

Herz fuhr; ein Gemüth wie im Halbschlaf, ein so einfaches Gefüge des Geistes, daß man zuweilen nicht wußte, war sie sehr klug oder einfältig.

Und an ihrem Wesen hing

etwas von allem, was die Ilse seit zwei

Jahrtausenden gewesen: ein Stück Alraune, Methspenderin, ReiterStochter,

Pietistin.

ES war die altdeutsche Art und die altdeutsche Schönheit, aber

daß sie jetzt noch das Weib eines Professors werden sollte, das dünkte

dem bekümmerten Doctor gegen alle Gesetze ruhiger geschichtlicher Ent­ wickelung. — In dieser Aneinanderreihung verwandter Bilder deutet sich bereits die Art an, wie Freytag später den Fortgang der deutschen Geschichte dar­

zustellen unternahm.

Es schwebte ihm vor, einen und den nämlichen Typus

durch den Fortgang der Zeiten zu verfolgen, und nachzuwetsen, wie über­

einstimmende oder verwandte Herzensconflicte durch die Voraussetzungen bestimmter Culturverhältnisse verschieden gefärbt werden.

Wenn in den

„Ahnen" die nämliche Situation — die Beziehung des Helden zu Eltern, Herren und Dienern, zu Geliebten und Freunden, zu Lehrern, Priestern und

Spielleuten, sich häufig wiederholt, es ist das keineswegs Armuth der Er­ findung, sondern beabsichtigter ParalleliSmuS.

Schon im Jahre 1853, als Freytag nach Siebeleben übersiedelte, hatte

er sich eine ziemlich reiche Sammlung seltener Druckschriften, hauptsächlich

aus der Zeit des dreißigjährigen Kriegs angeschafft, von welchen er ein­ zelne interessante Abschnitte mit allgemein historischen Einleitungen in dem

Grenzboten veröffentlichte. Ich glaubte damals, es wären Vorstudien für eine Reihe historischer Romane, und wenn Freytag daS zuerst nicht Wort haben wollte, so hat er sich, nachdem die „Bilder aus der deutschen Ver­

gangenheit" vollendet waren, dazu entschlossen.

So sind denn aus dieser

Sammlung zwei Werke hervorgegangen, die einander ergänzen, und die beide daS historische Gefühl des deutschen Volks auf das segensreichste befruchtet haben. Man kennt die Rundschau aus die drei Jahrhunderte, die dem Jahr

1860 vorausgingen, auf das Jahr 1560, 1660 und 1760: farbenvolle, reiche Rundbilder, in denen daS, worauf eS ankommt, glücklich getroffen

ist.

In diesen Rahmen fügen sich dann Detailschilderungen auS dem

16. und 17. Jahrhundert ein; das Mittelalter und die neue Zeit wurde

erst später bearbeitet.

Bei diesen historischen Darstellungen denke ich unwillkürlich an Guizot und Thierry, beide Schriftsteller ersten Ranges.

Guizot giebt eine zu­

sammenhängende Culturgeschichte und zwar, wie eS sich für Vorlesungen ziemt, mit vorwiegend lehrhaftem Zweck; Thierry übersetzt die Berichte

eines der reichsten Geschichtschreiber aus dem 7. Jahrhundert, ohne an den Thatsachen

etwas zu ändern, in die Sprache der

modernen Em­

pfindung.

Freytag geht nicht vom Allgemeinen sondern vom Einzelnen auS, er giebt zeitgenössische Aufzeichnungen, die ihn zuerst seltsam berührt, dann aber sein historisches Verständniß gefördert haben, mit voller Treue wieder,

und erläutert in geistreichen Einleitungen, wie sich in dieser schlichten Auf­ zeichnung die Volksseele auSspricht. „ES sind zuweilen unbedeutende Momente auS dem Leben der Kleinen.

Aber tote uns jede Lebensäußerung eines fremden Mannes, der vor unser Auge tritt, sein Geist, seine ersten Worte, daS Bild einer geschlossenen

Persönlichkeit geben, ein unvollkommenes und unfertiges Bild, aber doch

ein Ganzes" (beiläufig sehr charakteristisch für die Art, wie Freytag be­ obachtet) „so hat jede Aufzeichnung in welcher das Treiben deS Einzelnen

geschildert wird, die eigenthümliche Wirkung, mit plötzlicher Deutlichkeit

ein Bild von dem Leben deS Volkes zu geben, ein sehr unvollständiges und unfertiges Bild, aber doch auch ein Ganzes, an welches eine Menge

von Anschauungen und Kenntnissen, welche wir in unS tragen, blitzschnell anschießen wie die Strahlen um den Mittelpunkt eines Krystalls.

AuS

einer der Zeit nach geordneten Reihe dieser Berichte werden wir die Be­

wegung und allmälige Umwandlung einer höher» geistigen Einheit wahr­

nehmen." Freytag sucht mit Vorliebe solche Documente auf, die sich recht naiv aussprechen, in denen Absicht und Bewußtsein wenig hinzugethan haben;

Aufzeichnungen von Männern, die etwas seitab vom Strom der allgemeinen Bildung ausgewachsen sind, in denen die Volksseele sich noch nicht zur Reflexion geklärt hat: was in solchen ungebildeten Gemüthern vorgeht, zeigt das eigentliche Material,

Geschichte zu arbeiten hat.

mit welchem der große Weltproceß der

Höchst charakteristisch ist z. B. für das Refor­

mationszeitalter der Bericht des armen Schülers, der sich in seinem Ge­

wissen darüber abquält, daß er den „um Gottes willen" versprochenen Ablaß nicht umsonst erhalten soll.

Einen ganz andern Ton schlagen die Einleitungen an, in denen ein geistvoller philosophisch erzogener Mann von der Höhe unserer Bildung auf die Jahrhunderte herabblickt.

Manchem Leser ist der Ton zu vor­

nehm: eS ist aber eine gerechte Reaction gegen die saloppe Art vieler

unserer Tagesschriftsteller, die nach dem ersten besten Wort greifen, und

anmuthig zu sein glauben, wenn sie blos nachlässig sind.

Die Sprache

geht zurück, verfällt in'S Platte und Triviale, wenn der Schriftsteller sich nicht bemüht, sie zu adeln, zu vertiefen und ausdrucksvoller zu machen.

Darin verdanken wir Freytag sehr viel.

Einen würdigen Vorgänger hat

er an Schn aase, dessen kulturhistorische Uebersichten deS Mittelalters in

seiner Kunstgeschichte sich gar wohl neben den Bildern auS der deutschen Vergangenheit sehen lassen dürfen. Diese schöne Form deckt sich aber mit dem geistigen Inhalt. Klarer als ein Andrer hat unter den Neuern Freytag ausgesprochen, was das

letzte Ziel ist, dem seit Herder unsre Wissenschaft zustrebt. „ES ist Aufgabe der Wissenschaft daS schaffende Leben der Völker zu erforschen.

Hier sind die Seelen der Völker die höchsten geistigen Ge­

bilde, welche der Mensch zu erkennen noch befähigt ist.

In jeder ein­

zelnen suchend, jeden erhaltenen Abdruck der vergangenen nachspähend,

auch die Splitter der zerstörten beachtend, alles Erkennbare verbindend,

sucht sie als letztes Ziel das Leben deS ganzen Menschengeschlechts auf der Erde als eine geistige Einheit zu erfassen, mehr ahnend und deutend als begreifend.

Während frommer Glaube die Idee deS persönlichen

Gottes mit unbefangener Sicherheit über das Leben der einzelnen Men­ schen stellt, sucht der Diener der Wissenschaft das Göttliche bescheiden in

großen Bildungen zu erkennen, welche, wie gewaltig sie den einzelnen überragen, doch sämmtlich am Leben deS Erdballs haften.

Aber wie

klei» er sich ihre Bedeutung auch gegenüber dem Unbegreiflichen, in Zeit und Raum Endlosen denken möge, in diesem immerhin engen Preise liegt

alles Große, das wir zu erkennen fähig sind, alles Schöne, das wir je gesehen, und alles Gute, wodurch wir je unser Leben geweiht.

Für das

aber, was wir noch nicht wissen und zu erforschen bemüht sind, nuermeßliche Arbeit.

Und diese Arbeit ist,

eine

das Göttliche in der Ge­

schichte zu suchen. Ueberall erscheint uns der Mensch durch Sitte und Gesetz, durch die

Sprache und den ganzen gemüthlichen Inhalt seines Wesens als kleiner Theil eines größeren Ganzen.

Wie der Mann, entwickelt auch das Volk

seinen geistigen'Gehalt im Lauf der Zeit eigenthümlich.

Aus Millionen

Einzelnen besteht das Volk, in Millionen Seelen fluthet die Seele des

Volks dahin;

aber das unbewußte und bewußte Zusammenwirken von

Millionen schafft einen geistigen Inhalt,

bei welchem der Antheil des

Einzelnen oft für unser Auge verschwindet.

Welcher Mensch hat die

Sprache erschaffen? daö älteste Recht erfunden? —

Nicht einer! es war

ein gemeinsames geistiges Leben, welches in Tausenden, die zusammen lebten, aufbrach. — Jeder Mensch trägt und bildet in seiner Seele die geistige Habe deS Volks. . .

So darf man wohl, ohne etwas Mystisches

zu meinen, von einer Volksseele sprechen. Und sieht man näher zu, so erkennt man mit Verwunderung,

daß

die Entwickelungsgesetze dieser höhern geistigen Persönlichkeit sich merk­ würdig von denen unterscheiden, welche den Mann frei machen und bil­

den.

Für sich und seine Zwecke lebt der Mensch, frei erwählend,

ihm schade oder nütze; verständig formt er sein Leben,

was

vernünftig be­

urtheilt er die Bilder, welche aus der großen Welt in seine Seele fallen.

Aber nicht mehr bewußt, nicht so zweckvoll und verständig wie die Wissen­ schaft des Mannes arbeitet das Leben deS Volks.

Das Freie, Verstän­

dige in der Geschichte vertritt der Mann, die Volkskraft wirkt unablässig mit dem dunkeln Zwang einer Urgewalt,

und ihre geistigen Bildungen

entsprechen zuweilen in auffallender Weise den Gestaltungsprozessen der stillschweigenden Naturkraft, die auS dem Samenkorn der Pflanze Stiel,

Blätter und Blüthen hervortreibt. Das Leben einer Nativn verläuft in einer unaufhörlichen Wechsel­

wirkung des Ganzen auf den Einzelnen und des Mannes aus das Ganze. Jedes Menschenalter, auch das kleinste, giebt einen Theil seines Inhalts

ab an die Nation, in jedem Manne lebt ein Theil der schöpferischen Ge-

sammtkraft,

er trägt Seele und Leib aus einer. Generation in die an­

dere, er bildet die Sprache fort,

er bewahrt das Rechtbewußtsein,

alle

Resultate seiner Arbeit kommen dem Ganzen wie ihm selbst zu Gute. —

Millionen leben so, daß bet Inhalt ihres Daseins still und unbemerkbar mit dem großen Strom zusammenrinnt.

Nach allen Richtungen aber ent­

wickeln sich aus der Menge bedeutende Persönlichkeiten, die als gestaltende

größern Einfluß auf das Ganze gewinnen.

Zuweilen erhebt sich eine ge­

waltige Menschenkraft, welche in großen Gebieten aus eine Zeitlang das übermenschliche Leben des Volks beherrscht und einer ganzen Zeit daS

Gepräge eines einzelnen Geistes aufdrückt.

Dann wird für unser Auge

daS gemeinsame Leben, welches durch unser Haupt und unser Herz dahin­

strömt,

fast so vertraut, wie uns die Seele eines einzelnen Menschen

werden kann; dann erscheint die ganze Kraft deS Volks auf einige Jahre

im Dienst eines Einzelnen, ihm wie einem Herrn gehorchend.

DaS sind

die großen Perioden in der Bildung eines Volks."--------Diese großen Perioden des Volks, die Perioden der Helden sind auch die glänzenden Perioden in Freytags Darstellung:

eine Reihe herrlicher

Charakterbilder, die freilich nicht blos daS Erhabne, sondern auch das Tragische des HerrenthumS enthalten. „Dreigetheilt erscheint uns die Laufbahn aller geschichtlichen Helden,

denen daS Schicksal ward, sich auszuleben.

Im Anfang bildet sich die

Persönlichkeit des Mannes, mächtig beherrscht vom Zwang der umgebenden

Welt.

Auch unvereinbare Gegensätze sucht sie zu verarbeiten, aber aus

dem Innersten der Menschennatur erhärten sich unter dem Zwang deS Charakters allmälig Gedanken und Ueberzeugungen zum Willen, eine That bricht hervor, der Eine tritt in den Kampf mit der Welt.

Daraus folgt

eine andre Zeit kräftiger Action, schneller Fortbildung, großer Siege.

Immer größer wird die Einwirkung deS Einen auf die Welt, mächtig zieht er die ganze Nation in seine Bahnen, er wird ihr Held, ihr Vorbild, die Lebenskraft von Millionen erscheint zusammengefaßt in Einem Mann. Aber solche Herrschaft einer einzelnen geschlossenen Persönlichkeit erträgt

der Geist einer Nation nicht lange.

Wie stark eine Kraft, wie groß die

Zielpunkte seien, Leben, Kraft und Bedürfnisse der Nation sind vielsei­

tiger. Der ewige Gegensatz zwischen Mann und Volk wird sichtbar: auch die Seele des Volks ist endlich, aber dem Einzelnen gegenüber erscheint

sie schrankenlos.

Den Mann zwingt die logische Consequenz seiner Ge­

danken, alle Geister seiner eigenen Thaten zwingen ihn in eine fest ein­ gehegte Bahn: die Seele des Volks bedarf zu ihrem Leben vereinbare

Gegensätze, ein unablässiges Arbeiten nach den verschiedensten Richtungen. Vieles, was der Einzelne nicht in sein Wesen aufzunehmen vermochte, er­

hebt sich znm Streit gegen ihn. Die Reaction der Welt beginnt. Zuerst schwach von mehreren Seiten, in verschiedener Tendenz, mit geringer Be­

rechtigung, dann immer stärker, immer siegreicher.

Zuletzt beschränkt sich

der geistige Inhalt des einzelnen Lebens in seiner Schule, und krhstallisirt

zu einem einzelnen Bildungselement deS Volks.

Immer ist der letzte

Theil eines großen Lebens erfüllt mit einer heimlichen Resignation, mit Bitterkeit und stillem Leiden." — ES ist das Schema, nach welchem Frehtag in den Einleitungen das

Leben der eigentlichen Helden der Menschheit zergliedert.

Er ist überall

bedeutend; das Höchste aber erreicht er in der Charakteristik Luther'S, die

aus der Tiefe des Gemüths geschöpft, mit historischer Weisheit verklärt ist.

Sie ist nach meinem Gefühl nicht blos das Schönste, was Freytag

geschrieben, sie gehört zu den edelsten Perlen unserer Literatnr.

Ein kleineres Bild möchte ich hervorheben, Wendung wegen, das Bild Friedrich des Großen.

seiner eigenthümlichen „Sehr ungerecht haben

ihn die beurtheilt, welche ihm ein kaltes Herz zuschrieben.

Nicht die

kalten Fürstenherzen sind es, die am meisten durch ihre Härte verletzen.

Solchen ist fast immer vergönnt, durch gleichmäßige Huld und schicklichen Ausdruck ihre Umgebung zu befriedigen.

Die stärksten Aeußerungen der

Nichtachtung liegen in der Regel dicht neben den herzgewinnendeu Lauten einer weichen Zärtlichkeit. . .

Friedrich hatte ebenso sehr das Bedürfniß,

sich das Leben zu idealisiren, als den Drang, sich und Andern ideale

Stimmungen unbarmherzig zu zerstören. . .

Er besaß in hohem Grade

jene eigenthümliche Kraft, welche die gemeine Wirklichkeit nach idealen

Forderungen des eigenen Wesens umzubtlden strebt; eS war ihm Bedürf­ niß, mit dem ganzen Zauber eines beweglichen Gefühls das Bild seiner Lieben sich zuzurichten, und das Verhältniß, in das er sich frei zu ihnen

gesetzt hatte, auszuschmücken. Es war immer etwas Spiel dabei. Wurde

ihm einmal in empfindlicher Weise der Unterschied zwischen seinem Ideal

und dem wirklichen Menschen fühlbar, so ließ er den Menschen fallen. Solche Gabe wird doppelt verhängnißvoll für einen König, dem Andere so selten sicher und gleichberechtigt gegenübertreten. Friedrich wurde dies Be­

dürfniß nach idealen Verhältnissen durch seinen durchdringenden Scharf­

sinn gekreuzt, und durch eine unbestechliche Wahrheitsliebe,

gegen jede Illusion unwillig sträubte.

welche sich

Sein Scharfsinn zeigte sich auch

als wilde Laune, welche schonungslos, sarkastisch und spottlustig verwüstet...

Im Alter wurde es in ihm stiller und kälter; gegen wenige Vertraute

öffnete er in einzelnen Augenblicken das Innere, dann bricht der Schmerz

eines Mannes hervor,

der

an den Grenzen des Menschlichen

ange­

kommen ist." —

Mit diesen glänzenden Charakterbildern können die Portraits großer

Gestalten in den „Ahnen" nicht wetteifern.

Luther kommt bei seinem

flüchtigen Auftritt in „Markus König" fast genrehaft heraus, seine Phy-

siognomie, die in Kleist's „Kohlhaas" sich viel deutlicher auSprägt, wird

beinah durch den Rahmen der Veste Koburg in Schatten gestellt. Charakteristiken der Kaiser Heinrich II.

Die

und Friedrich II. im „Nest der

Zaunkönige" und in den „Brüdern des deutschen HauseS" sind geistreich gedacht und mit Feinheit auSgeführt; man gewinnt zum Urtheil über sie

vielmehr Anhalt als auS berühmten Geschichtswerken: aber eS fehlt ihnen

die sinnliche Sicherheit, sie kommen uns nicht persönlich nah wie sämmt­

liche Figuren W. Scotts, Ludwig XI., Maria Stuart, Cromwell u. s. w. Im Urtheil greift Freytag stets aus dem Bollen, aber bei der Zeichnung streift sein historisches Gewiflen zuweilen ans Zaghafte: er möchte alle

Nuancen, die ihm aus der Geschichte bekannt sind, verwerthen, und das raubt ihm den Muth zum breiten Pinsel,

den eine große Gestalt doch

verlangt. Viel glücklicher ist er in der Zeichnung frei erfundener Figuren, wie deS verschmitzten Königs Bisino im „Ingo", der unS über die KönigS-

kunst ebenso seltsame als ergötzliche Aufschlüsse giebt,

hältniß zur

und deffen Ver­

stolzen Gisela sich als ein typisches darstellt.

Vortrefflich

für daS Verständniß der ReformationSzeit ist die Gegenüberstellung deS

Markus König, der im festen Glauben an die Macht der guten Werke ein sorgfältiges Conto über seine Rechnung im Himmel führt, und dem dürftigen Magister, welcher sich der neuen Lehre zuneigt und unter der wunderlichen Tracht daS Herz auf dem rechten Fleck hat.

Alle Genre­

bilder in den „Ahnen" kommen deutlich und ergötzlich heraus, die Klosterleute, die Strolche an der Weichsel, die ehrsamen Rathsherren in Thorn, die Spießbürger in der kleinen schlesischen Landstadt.

Der Thüringer

Wald, wo die Söhne Jngo'S Hausen, wird unS in all seinen Verzwei­

gungen vertraut. Diese eigentlichen Helden der „Ahnen", von Ingo an bis zu Georg König — die spätern haben nur noch wenig Familienähnlichkeit — sind nicht ganz daS was der Dichter gedacht, worauf er den Leser durch seinen Ton vorbereitet hat.

Wie treu er bei seinen Stttenschilderungen sich an

die alten Quellen gehalten, wie er nebenbei und zwar mit voller Be­

rechtigung, die homerische Art ins Deutsche übertragen hat, daS ist von Scherer in der schon erwähnten meisterhaften Recension nachgewiesen.

Den Ton dagegen hat der Dichter selbst erfunden.

Er wollte für daS

vierte Jahrhundert, wie Willibald Alexis im „Roland von Berlin" für daS 15., eine Sprache schaffen, die an daS Alterthum anklingt.

Wenn

ich diesen Versuch im „Ingo" ebenso wenig billigen kann als im „Roland

von Berlin", so muß ich ausdrücklich hinzusetzen, daß dies Urtheil ein

subjektives ist: gerade der Stil deS „Ingo" hat sich bei Lesern jeder Art,

bei hochgebildeten Professoren und bet Backfischen, glänzend durchgesrtzt. Ich habe mir die redliche Mühe gegeben, aber mein Ohr will sich diesem seltsamen Ineinander von Prosa und Rhthmus nicht fügen, Meine Aufmerk­

samkeit wird von dem Gegenstand abgezogen, ich muß beständig versuchen,

waS ich höre, in gemeines Delltsch zu übersetzen; und weil der Ton sich zuweilen grade da erhöht, wo die Empfindung kalt bleiben könnte, ge­

winne ich für daS Verständniß weniger als ich verliere.

Wenn König

Bisino treuherzig die Worte ausspricht, seine Gattin möchte nicht so vor­

nehm sein, dann würde er sie prügeln und wieder lieb haben, so weiß ich

doch, wohin und woher! — Ohnehin ist in den folgenden Erzählungen die Tonlage die nämliche, die Frehtag sonst in seiner, freilich stets vor­

nehmen Prosa anwendet.

Der Ton deS „Ingo" stört mich auch darum, weil der Charakter des Helden ihn keineswegs

erheischt.

Abgesehn von seinen

gymnastischen

Leistungen ist er in seiner ganzen Art so gesittet und musterhaft, so der feinsten sittlichen Controverse fähig, daß er in jedem Roman W. Scotts seinen Platz finden könnte; nichts von der Wildheit einer Zeit die denn

doch immer eine barbarische war.

Wenn man nach seinen Ahnen sucht, denkt man fast ebenso an Anton Wohlfahrt wie an Georg Saalfeld.

Des letzteren Ritterlichkeit und Auf­

opferung würde er Valentinen gegenüber gewiß nie verläugnen, aber er

würde auf dem Schlitten hinter Leonore sich gerade so sittig betragen wie sein schlesischer Vorfahr, gerade so sittig wie seine Nachkommen Jngraban und Georg König, die mit Resignation sich dem Willen ihrer Geliebten fügen.

DaS ganze Geschlecht, abgesehn von einigen jugendlichen Eulen­

spiegeleien, entscheidet sich in jedem ernsteren Conflict nach sittlichen Prin­ cipien, die wir noch heute ehren. Freytag wollte daS Punkt,

der

wohl als deutsche Art zeigen.

überhaupt noch

Berücksichtigung

Dies ist der

verdient.

Sowohl

die

„Bilder aus der deutschen Vergangenheit" wie die „Ahnen" tragen einen

Stempel des Patriotismus, wie wir ihn bei wenigen deutschen Schrift­ stellern finden.

Sonst sind wir Virtuosen in der Anerkennung fremder

entgegengesetzter Volkscharaktere:

mit welchem Geist, mit welchem Feuer

hat z. B. Jacob Burckhardt uns das Wesen der italienischen Renaissance

eingeschmeichelt! er macht uns in den Retzen dieses Lebens so zu Hause, daß wir bereit wären, die äußerst gemüthlose Lucretia Borgia interessant zu sinken und ihr einen Besuch abzustatten.

Bei Freytag dagegen lernen

wir, halb mit Stolz, halb mit Beschämung, was in der deutschen Art

Herrliches liegt, und es fehlt nicht viel, so würde er uns auch in der Fredegunde

Spuren

deutschen

Gemüths

nachweisen.

Er

trägt

das

mit

einem

Geist und

mit

einer

Bildung vor,

daß

wir

gern ihm

folgen.

„In der Seele des jungen Volks lebten unvertilgbar die idealen Forderungen an das Leben. Die Sehnsucht eines reichen VolkSgemütheS,

Liebe und Treue in der Welt zu finden, und daS Bedürfniß, edle Em­ pfindung in öde Wirklichkeit hinauszutragen, blieb ein Grundzug der ger­

manischen Nation.

In diesem Sinne war auch der lasterhafte Germane

selten ein verworfener Mann.

Die Leidenschaft stachelte ihn, übermäch­

tige Versuchung, die Noth seines bedrängten Lebens und die ordnungs­ lose Welt.

Aber in sich trug er ein lebhafte- Bild von dem was

sein sollte, und den stillen Wunsch nach gerechtem Thun.

er

Der Frevel,

welchen er übte, war vielleicht wilder und schrecklicher als bei dem Mann

aus Byzanz und Rom, aber in ihm pochte mahnend das Gewissen, lebendig

fühlte er den Zusammenhang zwischen seinem Unrecht und den Folgen,

welche auf ihn zurückfielen, und plötzlich packte auch den verhärteten Böse­ wicht die Reue.

Die Seele des Germanen wurde nicht in glei­

cher Weise wie die des Südländers durch die Leidenschaft der

Stunde und die Macht der Situation ausgefüllt; immer blieb

etwas in ihm übrig, was die Bewegung zu beherrschen suchte und über den Augenblick hinweg Vergangenes und Zukünftiges erwog." —

Ein Spiegel, in den wir gern sehen mögen? Verschönert er nicht

ein wenig? Ich möchte wissen, was Franzosen und Italiener zu dieser Darstellung sagen werden, die ihnen mittelbar manche Eigenschaften ab­

zusprechen scheint, deren sie sich denn doch auch rühmen mögen. — Gleich­

viel! Die Hauptsache ist richtig, und da wir uns mit unserm „Gemüth" etwas wissen, ist es sehr dankenSwerth, uns klar zu machen, was wir

eigentlich darunter verstehen. Schöner und eindringlicher ist eS von Nie­

mand gesagt worden als von Freytag. Seine Darstellung stützt sich fast durchweg auf Forschungen der Brüder

Grimm, aber er hat für die Sache den prägnanten Ausdruck gefunden, der dem modernen Ohr leichter angeht.

Ihn verstehn wir unmittelbar, bei

Grimm muß man sich manches erst in die geläufige Sprache übersetzen. — Wie geistvoll hat er Grimm'S Theorie der Thierfabel in'S Allgemeine

gewendet. „Für schwere Kämpfe, die das Volk um fein Leben zu bestehen hatte, und für große Wandlungen, die unter bittern Schmerzen ihm zu Theil werden, war ihm von der Macht, die feines Schicksals waltete, überreich

eine Gabe zugetheilt worden, alles was ihn umgab, beschäftigte, bewegte, nach dem Bedürfniß seines Herzens einzubilden und umzuformen.

Bei

Gustav Freytaz'S Ahnen.

96

allem waS der Deutsche wahrnahm, frug er, was eS bedeute? hinter

jeder Erscheinung empfand er ein geistiges Leben, alles was sich lebend regte, suchte er sich vertraulich zu machen, indem er ihm etwas von dem

eigenen Gemüth andichtete.

Es ist wahr, jedes junge Volk übt diese

Poesie, durch welche eS sich die reale Wirklichkeit verständlich macht und die ungeheure Arbeit der Naturgewalten in das menschlich Erträgliche

umformt; eS ist wahr, kein Volk kann daS Leben ertragen, wenn eS diese

Kunst nicht zu üben versteht, denn Glaube und Sitte, alles Selbstgefühl

deS Wissens und Könnens beruhen im letzten Grunde nur darauf. Aber kein Geschlecht der Menschen, von dem unS Kenntniß geblieben ist, hat diese Poesie deS Denkens und Umbildens so warmherzig, so emsig und

dabei so kindlich geübt als wir Deutsche."

Mit dieser Richtung deS Gemüths ist nun freilich auch ein Mangel

„In der einzelnen Erscheinung ahnt der Deutsche daS LebenS-

vorhanden.

gesetz, aber nur im individuellen Leben vermag er das Gemeingültige zu

faffen.

WaS dem Römer in sehr früher Zeit gegeben war, kurz, scharf,

bestimmt den allgemeinen Rechtsgrundsatz hinzustellen, mit unbeugsamer

Logik und Willenskraft alle Consequenzen desselben zu ziehn, daS war dem Deutschen ganz unheimisch, ja unmöglich.

Staat faßte er ganz individuell.

Auch daS Verhältniß zum

Es gab im ganzen Mittelalter keine

schriftliche Aufzeichnung der Rechte und Pflichten, keine Regeln, weil im wirklichen

Leben

das

Gemeingültige garnicht

in

seiner Berechtigung

empfunden und überall durch persönliche Verhältnisse überwuchert wurde."

Wir werden unsere deutsche Anlage zu schätzen haben,

aber nicht

etwa bei ihr stehen bleiben wollen; neben der deutschen Bildung fordert auch die europäische ihr Recht, wenn wir unS theoretisch wie praktisch auf

der allgemeinen Wahlstatt deS Lebens orientiren wollen.

Unsere Eigen­

art gehl unS doch nicht verloren, auf unsere Unarten brauchen wir uns nicht zu steifen. — Dieser Gedanke scheint der geheime Faden zu sein, der bei Freytag die Ahnenreihe mit einander verknüpft: wirksam bleiben

sie immer, aber ihre Macht wird geringer, wie daS Volk tn's ManneSalter eintritt. „In ganz anderm Sinn ist im Mittelalter der Einzelne ein Theil der

Volkökraft, als jeder von unS.

In Gemüth und Sitte, in Sprache,

Glauben, Recht und Poesie erscheint uns die Kraft des Individuums noch ge­

bunden.

Sicherheit vor dem Verderben, Förderung seines Leben erhielt

der Einzelne nur durch engen Anschluß und Unterordnung unter Genossen;

erst in ihr empfand er die Berechtigung seiner Existenz.

Die reiche

Spruchweisheit des Mittelalters beruht auf demselben Bedürfniß, gemein­

same Ordnung und gültige Formel zu finden, welcher sich das innere

So kam überall das Leben des Indi­

Leben des Einzelnen unterordnet.

viduums erst in der Gemeinschaft zum vollen Ausdruck.

Und als eigen­

thümliche Schönheit der jungen Volksseele empfinden wir zuweilen die Verbindung

eines lebhaften FreiheitSgefühlS mit gehorsamer Unterord-

nung; sie erscheint uns in einer Zeit voll von lyrischem Einzelleben viel­ leicht benetdenswerth.

bewußten Resignation,

Aber im Mittelalter fügte man sich nicht mit der

welche uns nöthig ist, oder mit der werthvollen

Freudigkeit, welche wir unsern Nachkommen wünschen: eS trieb die bittre Nothwendigkeit die innere Arbeit und Unfreiheit der Individuen zur Ein­

ordnung in den Zwang der Gesellschaft." Schon durch das Christenthum kam ein fremdes Element in das

deutsche Leben.

„Während der Deutsche in der Wanderzett an seine Hel­

den die poetische Forderung einer finstern alterthümltchen Größe stellte, kam in die Seelen ein neuer Inhalt, für welchen die Poesie des Volks noch

keinen Ausdruck hatte. Nicht mehr dauerten sie in der starren Festigkeit ihrer Sagenhelden, in denen Noth und Kampfeszorn gradlinig dahin strömten. Der starre Sinn bog sich unter dem Druck der Wirklichkeit; die ideale

BolkSsitte, welche einst Bielen Gedanken und Thun gerichtet hatte, verlor in der wilden Zeit einen Theil ihrer zwingenden Gewalt.

Aber in dem

Verlust war auch ein hoher Gewinn: viele werden schlechter, die Guten vermochten jetzt brav zu werden.

Durch die Seelen der wirklichen Menschen

zog in entscheidendender Stunde häufig ein fremder Accord, Trauer, Ent­

sagung, Sehnsucht nach besserm Leben, ein weiches Schmerzgefühl über die Nichtigkeit alles irdischen Treibens.

Während der Verwilderung und

gehäufter Frevelthat wurde in dem Volk der Boden bereitet für einen

neuen Glauben." So tritt von Jahrhundert zu Jahrhundert das Fremde bildend und umgestaltend in unser Wesen ein, bis uns endlich die eigenen Ahnen wie

fremde Gestalten erscheinen.

Mit dieser Betrachtung schließt Victor König

das Buch. „Unsere Phantasie mag mühelos, auch wo die beglaubigte Kunde fehlt,

noch weiter rückwärts in die Vergangenheit fliegen.

Vielleicht wirken die

Thaten und Leiden der Vorfahren noch in ganz anderer Weife auf unsere Gedanken und Werke ein, als wir Lebende begreifen.

Aber eS ist eine

weise Fügung der Weltordnung, daß wir nicht wissen, wie weit wir selbst

daS Leben vergangener Menschen fortsetzen, und daß wir nur zuweilen erstaunt merken, wie wir in unsern Kindern weiter leben.

WaS wir uns

selbst gewinnen an Freude und Leid durch eignes Wagen und eigne Werke,

das ist doch immer der beste Inhalt unseres Lebens, ihn schafft sich jeder Lebende an.

Und je länger daS Leben einer Nation in den Jahrhunderten

Preußische Jahrtücher. Bt. XLVII. Heft 1.

7

Gustav Freytag'S Ahnen.

98

läuft, um so geringer wird die zwingende Macht, welche durch die Thaten

der Ahnen auf das Schicksal der Enkel ausgeübt wird, desto stärker aber die Einwirkung des ganzes Volks auf den Einzelnen und größer die Frei­

heit, mit welcher der Mann sich selbst Glück und Unglück zu bereiten vermag."

Die Macht der Ahnen wird schwächer, je weniger wir uns ihrer er­ innern, je mehr das Familienleben die Tradition verliebt, je reicher das

allgemeine Leben sich entfaltet.

Aber eben damit hört auch die Volksseele

auf, eine zwingende Macht zu sein: wer sich gewöhnt, mit Homer, Dante

und Shakespeare zu Tisch zu sitzen, achtet weniger auf das Reden seiner Nachbarn.

Der Weltbürger des vorigen Jahrhunderts war ein Zerbild;

aber eS wäre gefehlt, ihm im 19. Jahrhundert den reinen Nationalen entgegenzustellen. Julian Schmidt.

Die auswärtige Lage beim Jahreswechsel. (Politische Correspondenz.)

Berlin, 8. Januar 1881. In der Gesammtlage Europa's ist in dem Laufe deS Jahres 1880

keine wesentliche, für die Zukunft des Welttheils oder der einzelnen Staaten

entscheidende Wendung eingetreten, welche diesem Zeitabschnitt in der Geschichte des

könnte.

neunzehnten

Jahrhunderts

dauernde

Beachtung

sichern

Manche Befürchtungen, welche bet dem Beginn des JahreS

Völker und Regierungen ergriffen hatten, haben sich als übertrieben oder

als unberechtigt herausgestellt, neue Wolken sind am Horizont aufgezogen,

und sind vorübergegangen, ohne daß das drohende Gewitter zum Ausbruch gekommen wäre.

sein.

Von Stillstand oder Stagnation kann nicht die Rede

Die Geschichte des Jahres 1880 zeigt auf allen Gebieten eine sehr

lebhafte Bewegung, welche, mag sie vorwärts, mag sie rückwärts gehen,

dem Anstoß folgt, den das Jahr 1879 gegeben hat.

Die europäische

Politik des letzten Jahres hat sich, vielfach sprungweise, aber konsequent auS

derjenigen des JahreS 1879 entwickelt, welcher der Abschluß des deutsch­ österreichischen Bündnisses

den

Stempel aufdrückte.

Was dieses

Bündntß für die beiden Nachbarstaaten wie für die anderen Großmächte

Europa's bedeutet, ist im Laufe des letzten JahreS deutlicher und schärfer

hervorgetreten, nachdem die diplomatischen Sondirungen, welche in die letzten Monate deS JahreS 1879 fielen, jeden Zweifel an dem Umfange

der Verabredungen, welche Fürst Bismarck bei seinem Besuche in Wien

getroffen, beseitigt hatten.

DaS deutsch-österreichische Bündniß hat eine

ganz neue Phase in der deutschen Politik eingeleitet.

Deutschland hatte

bis dahin den Machtfragen gegenüber, welche an die Gestaltung der euro­

päischen Türkei anknüpfen, eine vorwiegend passive Haltung eingenommen, indem eS sich darauf beschränkte, zwischen den streitenden Interessen zu

vermitteln, um zu verhüten, daß der Conflict mit der ultima ratio der Kanonen gelöst werde.

Daß Deutschland als solches an der Entwickelung

der orientalischen Dinge nicht-interessirt sei, ist mehr als einmal von compe-

7*

tentester Stelle aus als leitendes Axiom unserer Politik bezeichnet worden. Das deutsch-österreichische Bündntß dagegen setzt voraus, daß wenigstens

im Großen und Ganzen die Interessen der beiden Mächte im Westen wie im Osten Europas identisch sind.

Nur unter dieser Voraussetzung

ist ein Bündniß, welches nicht für den Augenblick, sondern auf die Dauer abgeschlossen wird, gerechtfertigt.

Seither ist denn auch die deutsche Politik

in den Ortentfragen aus der früheren Zurückhaltung hervorgetreten und

selbst die Gegner gestehen zu, daß Deutschlands Einfluß, so sehr auch das

Berliner Cabinet jedes demonstrative Vorgehen vermeide, der maßgebende

sei.

Dieses Hervortreten Deutschlands aus der früher geübten Zurück­

haltung war auf der einen Seite geboten durch die Entfremdung, welche in der Zeit feit dem Berliner Congreß zwischen den Cabinetten von Peters­ burg und Berlin eingetreten war.

Andererseits aber mußte diese Wir­

kung ihrerseits Ursache weitergehender Wirkungen sein.

Von dem Augen­

blick an, wo die österreichische Orientpolitik der Unterstützung Deutschlands nicht von Fall zu Fall, sondern der vertragsmäßig garantirten Unter­

stützung sicher war, befand sich Rußland, solange es nicht im Falle der Noth

einen neuen Krieg

wagen wollte, gänzlich außer Stande,

der Balkanhalbinsel active Politik zu treiben.

auf

Rußland war aus dem

siegreichen Kriege gegen die Türkei innerlich geschwächt hervorgegangen.

Gerade beim Beginn des Jahres 1880, nach den Attentaten von Moskau

und der Explosion im Winterpalais, welche durch die beispiellose Ver­

wegenheit der Verschwörer die moralische Autorität der Regierung nahezu

vernichteten, war Rußland zu jeder Action nach Außen unfähig. Die Ein­ setzung der Exekutiv-Commission unter dem Vorsitz des Grafen LoriS-Meltkoff,

der sich mit langsamer, aber jeden Fehlschlag vermeidender Energie nach und nach in den Besitz der gesammten regulären Regierungsgewalt setzte, machte in Rußland selbst den Eindruck einer rettenden That.

Die Geschichte

Rußlands während deS Jahres 1880 deckt sich vollständig mit derjenigen

des Erstarkens und des Ueberhandnehmens deS Einflusses deS Grafen

LoriS-Melikoff, der unterstützt von dem Großfürsten-Thronfolger dem krän­ kelnden Kaiser Zugeständniß auf Zugeständniß abnöthtgte.

rakteristisch, daß in dem Maße,

ES ist cha­

in dem die russische Verwaltung wieder

in normale Wege einlenkte, daS Wuthgeschrei der russischen Presse gegen den deutschen Nachbar an Intensität verlor.

Heute wird eS uns in der

That schwer, die Momente zu reproduciren, welche in den ersten Monaten deS JahreS die Befürchtung hervorriefen, daß der Nachbar im Nord-

osten und der Nachbar im Westen sich über Deutschland hinweg die Hände

reichen möchten, um gleichzeitig für den Berliner Vertrag und den Frank­ furter Frieden Rache zu nehmen.

Der Sturz Waddington'S (Ende De-

cember 1879) hatte der englisch-französischen Intimität den Todesstoß versetzt; die Einsetzung des Ministeriums Frehcinet, welches dem Einfluß

des gemäßigten, linken Centrums auf die Leitung der Geschäfte ein Ende

machte und der Republik der Republikaner dm Weg bahnte, schien weniger dem Bedürfniß der inneren, als den in Gambetta personificirten Aspira­

tionen der auswärtigen Politik zu entsprechen.

Der Entwurf des neuen

deutschen MtlitairgesetzeS, der gerade damals bekannt wurde, verstärkte diesen

Eindruck.

Heute wird manch' einer versucht sein, die Achseln zu zucken über

die damals herrschenden Befürchtungen. Aber eS ist doch sehr die Frage,

ob die Verstärkung der deutschen Militairmacht nicht einen sehr wesent­ lichen Antheil an der friedlichen Entwickelung der Verhältnisse hat; oder vielmehr, eS ist gar nicht ftaglich, daß dem so ist.

Je unzweideutiger

Deutschlands Regierung und seine gesetzliche Vertretung die Größe der Opfer anerkannte, welche das neue Gesetz der Nation auferlegte, um so

entmuthtgender für unsre Gegner war der Entschluß, für eine Reihe von Jahren auch diese neue Last zu der alten auf die Schultern zu nehmen, um Deutschland auch einer Coalition seiner Nachbarn gewachsen zu machen.

Frankreich stand unmittelbar vor dem Abschluß seiner großartigen HeereSorganisatton, die am 14. Juli, dem zum Nationalfest erhobenen Jahres­

tage der Erstürmung der Bastille, durch die Verleihung der republikanischen Fahnen ihre Weihe erhielt.

Aber ehe eS noch dazu kam, hatte die An­

nahme des MilitairgesetzeS im Reichstage, durch welches im Kriegsfalle

das Effektiv der Armee nach wenigen Jahren schon um 250,000 Mann

verstärkt wird, der Hoffnung ein Ende gemacht, Deutschland werde auf die Dauer außer Stande sein, auf dem Gebiet der militairischen Macht­

entfaltung mit Frankreich gleichen Schritt zu haltm. Auf das deutsche Militärgesetz findet in Wahrheit das Argument Anwendung,

dessen

sich

zur

Zett

angesichts

der

mangelhaften Wir­

kungen des Zolltarifs von 15. Juli 1879 die Vertheidiger der deutschen Zollpolitik bedienen, daß die Erschwerung des Imports wenigstens das Vertrauen der deutschen Industrie gekräftigt habe.

Das Milttärgefetz

hat auf die politische Lage Europa's, auf das Verhältniß der großen Militärmächte zu einander bereits schwerwiegenden Einfluß

geübt, ehe

auf Grund desselben die deutsche Armee auch nur um eine Compagnie

vermehrt wurde.

Und diese Wirkung wird, soweit Frankreich in Betracht

kommt, keineswegs dadurch abgeschwächt, daß fast gleichzeitig mit der Vollen­

dung der französischen Heeresorganisation der eiserne Festungsgürtel in der Hauptsache wenigstens vollendet worden ist, mit dem Frankreich seine Ostgrenzen gegen eine neue Invasion sicher zu stellen bestrebt ist.

Man

hat sich nicht damit begnügt, die Grenzfestungen auszubauen, zu erweitern

Die auswärtige Lage beim Jahreswechsel.

102

und zu vermehren; eine dreifache Kette von Festungen in engster Verbin­ dung mit den Eisenbahnen sperrt jetzt die Ostgrenze von Longwh bis

Belfort.

Deutschland aber hat keinen Grund, auf diese enormen Leistungen

der französischen Militärverwaltung mit besorgten Augen zu sehen.

In

Deutschland denkt niemand an einen Angriff auf den französischen Nach­ bar.

Wir können nur befriedigt sein, wenn das Gefühl erhöhter Sicher­

heit gegen Angriffe von Außen die französische Nation gegen die Wieder­

kehr der panikartigen Kriegsbefürchtungen sicherstellt, welche seit 1871 von Zeit zu Zeit ohne äußeren Anlaß wiederkehrten.

Die deutsche Politik hat

längst und gern auf die Anwendung des stolzen Wortes: Oderint, dum

metuant verzichtet, vorausgesetzt, daß die französischen Staatsmänner dar­

auf verzichten, jede internationale Frage nur unter dem Gesichtswinkel der Revanchepolitik zu behandeln. Auch in dieser Hinsicht ist zweifellos eine Aenderung in dem Ver­ halten Frankreichs im Laufe des letzten JahreS eingetreten.

In dem

Maße als die aufregenden Erinnerungen der Kriegsjahre verblaßten, mußte

eine große Nation, welche doch hat

als den Wiedergewinn

auch noch andere dauernde Interessen

eines

Grenzgebiets,

auf

das

sie

keinen

Rechtstitel hat als den der Eroberung, es unerträglich finden, die Rolle

deS gänzlich Unbethetligten zu spielen.

Die Politik Englands auf und

fett dem Berliner Congreß hatte Frankreich zu dem Bewußtsein gebracht,

daß seine Politik des absoluten „dösintöressement“ in den internationalen Fragen

eine

mindestens

bedenkliche sei,

daß

Andere

kein

Bedenken

tragen würden, den Platz zu occupiren, den eS selbst anzunehmen ver­ schmähte.

AuS dieser schiefen Stellung gab eS nur einen mit der Erhal­

tung des Friedens verträglichen Ausweg: die Pflege der den Staaten

Mttteleuropa'S gemeinsamen Interessen in Gemeinschaft mit Deutschland und dem diesem verbündeten Oesterreich-Ungarn. Es gab freilich noch einen anderen Weg, um zur Geltendmachung des

französischen Einflusses in der europäischen Politik zu gelangen, wenn die Leiter der französischen Politik unter allen'Umständen entschlossen waren, die Hand deS Fürsten Bismarck zurückzuweisen.

Aber dieser Weg führte,

wenn auch auf einem Umwege zu einem neuen Kriege mit Deutschland. Solange Lord Beaconsfield an der Spitze der englischen Regierung stand, war freilich Frankreich einer Versuchung in dieser Richtung nicht ausge­

setzt, da England unter der Herrschaft der Tories an der Hoffnung fest­ hielt, das deutsch-österreichische Bündniß seinen Interessen im Orient nutzbar

zu machen.

Ein Bündniß Frankreichs und Rußlands war eine Unmög­

lichkeit, da dasselbe unter allen Umständen seine Spitze zugleich gegen England und gegen Deutschland-Oesterreich gekehrt hätte.

Der'Sturz

Lord Beaconsfield'S führte sofort zu einer völligen Verschiebung der Lage.

Gladstone, von dem man nicht weiß, ob seine Antipathie gegen Oesterreich oder gegen Deutschland größer ist, beeilte sich, Frankreich auf daS Glatteis der griechischen Frage zu führen. Daß der Versuch mißlang, ist bekannt.

Daß er mißlingen konnte,

obgleich Gambetta daS griechische Abenteuer für ganz geeignet hielt, der

französischen Nation das volle Bewußtsein ihrer Kraft wiederzugeben, ist

charakteristisch für die innere Lage deS Landes. Präsident Grövh hatte im December 1879 nur nach langem Widerstreben in den Rücktritt Wad­

dingtons und die Bildung des Ministeriums Frehcinet eingewtlligt, weil er bei der Zusammensetzung des Senats in der Bildung eines Ministeriums, in welchem die im Senat den Ausschlag gebende Partei — das linke

Centrum — gar nicht vertreten war, den Keim unheilvoller Zerwürfnisse erblickte; vor allem aber weil er fürchtete, daS Ministerium Frehcinet

werde sehr bald durch ein radikales Cabinet abgelöst werden.

Gr^vy gab

erst nach, als Gambetta sich verbindlich machte, daS Ministerium Frehcinet

„jusqu’au bout“ zu unterstützen.

Leider erwies sich der Conseilpräsident,

der zugleich daS Portefeuille deS Auswärtigen inne hatte, dieser Unterstützung nicht würdig.

Kaum wurden die Unterschriften deS Schlußprotokolls der

Berliner Conferenz über die griechische Grenzfrage trocken, so entbrannte zwischen der auS der Umgebung des Kammerpräsidenten inspirirten Presse und den Blättern, die ihre Informationen aus dem auswärtigen Amt be­

zogen, ein heftiger Krieg.

Die Organe des auswärtigen Amts wendeten

sich an den englischen „Verbündeten" mit der bündigen Erklärung, daS

französische Volk sei nicht gewillt, sich auf orientalische Abenteuer einzu­ lassen und in der griechischen Frage Herrn Gladstone die Kastanien auS dem Feuer zu holen.

Und es fand sich,

daß Frehcinet die Auffassung

der weit überwiegenden Mehrheit der Nation vertrat.

Der

Minister

deS Auswärtigen hatte sich in dieser Frage freilich der Unterstützung der­ jenigen Partei zu erfreuen, welche in der inneren Politik die Minister wie

Gambetta mit gleichem

Hasse verfolgte:

der Radikalen nämlich,

die

Gambetta als Opportunitätspolitiker auf das Äußerste verfolgten, obgleich gerade er eS gewesen, der durch seine Rede vom 20. Juli das Ministerium

gezwungen hatte, den an dem Communeaufstand Betheiligten volle Amnestie

zu gewähren und dadurch der von den Radicalen seit Jahren betriebenen

Agitation ein Ende zu machen.

Gambetta selbst hatte schwerlich gehofft,

durch diese Maßregel die Radicalen zu versöhnen.

Aber daS Wtederer-

scheinen all' der fragwürdigen Gestalten auS den Tagen der Pariser Com­

mune kam nicht der Politik des Kammerpräsidenten, sondern derjenigen des Präsidenten Grsvh zu Gute, und zwang die gemäßigten Elemente der

Die auswärtige Lage beim Jahreswechsel.

104

das Ministerium zu unterstützen.

republikanischen Partei,

Unglücklicher

Weise wurde Herr Freyctnet das Opfer der römischen Diplomatie; deren

Doppelzüngigkeit der belgische Minister Fr^re- Orban eben erst in scho­ nungslosester Weise enthüllt hatte.

Frehcinet ließ sich

auf Unterhand­

lungen mit der Curie ein, welche die Ausführung des MärzdekretS gegen die nicht autorisirten Congregationen überflüssig machen sollten; in Wirk­

lichkeit aber nur dazu führten, den zutraulichen Minister in unheilbarer

Weise zu compromittiren.

DaS war der Hebel, dessen Gambetta sich be­

diente, um den auswärtigen Minister zu beseitigen, der es gewagt hatte,

dem Commandanten der französischen Flottenabtheilung, welche zu der internationalen Flottendemonstration abgesandt wurde, die Instruction zu ertheilen, unter keinen Umständen an einer militairischen Action theilzu­ nehmen.

Vielleicht aber hätte Gambetta dieses Verbrechen noch eher ver­

ziehen, als daß Frehcinet es wagte, gegen seine am 9. August bei dem

Festpunsch deS Cercle de commerce et de l’industrie in Cherbourg ge­

haltenen Rede öffentlich zu Protestiren.

Wenn die Rede von Cherbourg

nicht ein vorbedachter Appell an die Revancheideen war, so wirkte sie we­ nigstens als ein solcher. Gerade die Wendungen, welche in diesem Sinne

verstanden werden konnten, wurden von der Versammlung mit frenetischem Beifall ausgenommen.

„Der große Ersatz, sagte Gambetta u. a., kann

nur auS dem Recht hervorgehen; wir oder unsere Kinder können sie er­

hoffen, denn die Hoffnung auf die Zukunft ist Niemandem untersagt."

Und weiter: „Wenn unsere Herzen schlagen, so schlagen sie nicht für ein düsteres Ideal blutiger Abenteuer; sondern sie schlagen, damit das, waS

von Frankreich übrig geblieben, ganz bleibe, und damit wir auf die Zukunft rechnen können, um zu erfahren, ob eine den Dingen innewohnende Ge­ rechtigkeit, die ihren Tag und ihre Stunde hat, besteht." Die Versamm­ lung in Cherbourg applaudirte; aber Frankreich erzitterte bei dem Ge­

danken an das Ideal blutiger Abenteuer, welches Gambetta beschworen hatte.

Acht Tage später sagte Präsident Grsvh in seiner Ansprache an

den Maire von Dijon:

„Wir lassen uns weder zur Ungeduld, noch zur

Gewaltthätigkeit Hinreißen; die glückliche Aera, in die wir eingetreten sind,

wird sich nicht schließen".

Und am 20. August hielt Herr von Frehcinet

bei dem Bankett in Montauban eine Rede, in der er zunächst gegen die „beunruhigenden Gerüchte" protestirte und über die auswärtige Lage sich also vernehmen ließ: „Frankreich ist auS der Jsolirung herausgetreten,

in welche uns die Ereignisse versetzt hatten, und eS hat seinen Platz in

der allgemeinen Politik wieder eingenommen.

Aber die Distanz von da

bis zu einer abenteuerlichen Politik ist groß und wir werden sie nicht

überschreiten."

Vier Wochen später hatte Herr von Frehcinet aufge-

hört, Ministerpräsident und Minister deS Auswärtigen zu sein, aber sein Nachfolger war nicht ein Vertrauter Leon Gambetta'S, nicht Challemel Lacour, der sich auf dem Londoner Botschafterposten durch die LebenSgewohnheiten eines Pariser Libertins nahezu unmöglich gemacht hatte, sondern der greise Barthslemy St. Hilaire, weiland CabinetSrath deS Präsidenten ThterS, der erste französische Minister seit 1870, der es bis

jetzt ungestraft gewagt hat, öffentlich seiner Bewunderung für den deutschen Reichskanzler Ausdruck zu geben. ES muß zur Zeit unentschieden bleiben,

ob Gambetta'S Einfluß in der That zurückgedrängt ist oder ob er nur klug lavirt, so lange die Zeit der Neuwahlen und seine Zeit noch nicht gekommen ist.

Für beide Annahmen lassen sich eine Reihe von Argu­

menten beibringen;

aber daS Eine ist zweifellos: die Politik Grövh'S

wird von der Majorität des Landes, wie sie sich zuletzt bet den GeneralrathSwahlen am 1. Aug. 1880 documentirt hat, rückhaltlos gebilligt. Die

Neuwahlen zur Deputirtenkammer sind bis zum Herbst d. I. verschoben; Ende deS Jahres oder spätestens Anfang 1882 folgt die thetlweife Er­

neuerung des Senats, welche nach dem Resultat der letzten GeneralrathSwahlen zu urtheilen, der republikanischen Regierung auch hier die Ma­ jorität sichern wird.

Eine Candidatur Gambetta'S gegen Grövy und in

der offenbaren Absicht, den Präsidenten, dessen Mandat erst im Jahre

1886 abläuft, vor der Zeit zu beseitigen, könnte bei der jetzigen Sachlage nur dann einen Sinn haben, wenn es sich darum handelte,

„der den

Dingen innewohnenden Gelenkigkeit" nachzuhelfen oder wenn Präsident Grsvy in den Reibungen, welche bet dem Uebergewtcht der entschieden

republikanischen Majorität in der Deputirtenkammer und der von dem linken Centrum abhängigen Majorität deS Senats unvermeidlich sind,

seine Popularität einbüßen sollte.

Indessen habeZ gerade die Vorgänge

der letzten Session erkennen lassen, daß ein mäßiger Grad von Klugheit auf der Einen, von Patriotismus auf der Andern Seite genügt, zu ver­

hindern, daß diese Reibungen in offenen Kampf ausarten, bei dem der Senat trotz der Stärkung der gemäßigten Strömung, welche die noth­ wendige Folge des wüsten Treibens der Radikalen ist, den Kürzeren ziehen

müßte.

Angesichts der Entwickelung der inneren Politik, wie sie hier in Kürze gekennzeichnet worden, ist es verständlich, daß Frankreich, nachdem eS, wie Herr von Freycinet sich auSdrückte, aus seiner Jsolirung hervorgetreten

war, sich genöthigt sah, seine Stellung im europäischen Concert an der Seite Deutschlands zu nehmen.

Die nothwendige Consequenz war die

Jsolirung Gladstones. Die Niederlage der Gladstone'schen Politik, wie sie sich in der ftied-

Die auswärtige Lage beim Jahreswechsel.

106

lichen Lösung der Dulcigno-Frage dokumentirte, wäre fteiltch auch dann nicht zu vermeiden gewesen, wenn die Politik der englischen Regierung sich

unabhängiger von derjenigen seines französischen Nachbars hätte bewegen

können.

Als die Entwickelung der Dulcigno-Frage kriegerische Even­

tualitäten im Orient in den Vordergrund rückte,

mußte Gladstone eS

erleben, daß selbst seine Freunde an dem Beruf Englands,

Geld und

Blut für die Demüthigung der Türkei einzusetzen, irre wurden.

Bei den

Neuwahlen im letzten Frühjahr hatten die Liberalen mit großem Erfolg Lord Beaconsfield vor den Wählern angeklagt, daß er durch seine Politik

England der Gefahr eines Krieges mit Rußland aussetze; als wirksamstes Argument hatte sich die Ausdeutung erwiesen, daß Lord Beaconsfield die englische Politik der freien Hand durch ein Bündniß mit Oesterreich zu opfern gewillt sei.

Jetzt schien ein Krieg gegen die Türkei im Einver-

ständniß, wenn nicht im Bunde mit Rußland in Aussicht, der auf alle

Fälle den russischen Interessen auf der Balkanhalbinsel zu Gute kommen mußte.

Schon damals wäre die Stellung Gladstone's eine sehr precäre wenn nicht der rechte Flügel der liberalen Partei, die alten

geworden,

WhiggS die Allianzvorschläge der TorieS zurückgewiesen hätten. Der Eindruck der moralischen Niederlage der englischen Orientpolitik

wurde indessen sehr bald paralhsirt durch die rapide Verschlimmerung der irischen Zustände. Die irische Frage ist so alt, wie die englische Herr­ schaft über die grüne Insel; sie wird auch nicht von der Tagesordnung

verschwinden, solange eS der Gesetzgebung nicht gelingt, der Landbevölke­

rung ein wenn auch beschränktes Recht auf Grund und Boden einzu­

räumen.

Alle Versuche der letzten Jahrzehnte, die irische Frage einer

Lösung entgegenzuführen,

englischen Ausnutzung

erwiesen sich

Großgrundbesitzes des

irischen

Schranken gesetzt werden.

sollte

als erfolglos;

nicht

„ Pächters"

angetastet;

aber

durch

Recht des

das

der

willkürlichen

schützende

Die Bill vom Jahre 1870,

Cautelen

deren Urheber

Gladstone war, hatte daS in der Nordprovinz Irlands, Ulster unter den

dort angesiedelten Pächtern englischer und schottischer Abkunft bestehende Gewohnheitsrecht,

kraft dessen die Grundherren den Pächtern ein be­

schränktes MitbesitzungSrecht an Grund und Boden,

oft bis zu einem

Viertel deS Betrages des Bodenwerthes und für den Fall der Kündigung

des Pachtvertrages einen Anspruch

auf Geldentschädigung

hatten, auf das ganze Land ausgedehnt.

eingeräumt

Zugleich wurde den Pächtern

ein Recht auf Entschädigung für alle Verbesserungen zugesprochen, welche sie auf dem Pachtgrlinde eingeführt hatten.

Ausgenommen blieb nur der

Fall, daß die Kündigung des Pachtvertrages in Folge der Nichtzahlung

des Pachtgeldes erfolgte. Die Gladstone'sche Bill vom Jahre 1880 wollte

diese Clausel beschränken durch die Bestimmung, daß die Entschädigung

dem Pächter auch dann zustehe, wenn er nachweise, daß seine Zahlungs­ unfähigkeit die Folge einer Mißernte sei. die Bill ab.

Das Oberhaus lehnte aber

Mr. Gladstone hatte, als er zur Herrschaft gelangte, auf

die Erneuerung des Gesetzes zur Erhaltung des Friedens in Irland ver­ zichtet, vielleicht in der Hoffnung, auf die Großgrundbesitzer in Irland einen Druck auszuüben.

Das Votum des Oberhauses goß natürlich Oel

in'S Feuer der agrarischen Bewegung.

Unter der Herrschaft der Land-

ligä, die nach Art der mittelalterlichen Vehmgertchte jeden Pächter be­ droht, der eS wagt, die Pacht zu entrichten, ist die letzte Spur von Sicher­

heit der Person und des Eigenthums in Irland ausgetilgt.

Aber die

Führer der Bewegung haben bis jetzt den Ausbruch eines offenen Auf­ standes verhindert, in der richtigen Berechnung, daß die Regierung nach

gewaltsamer Wiederherstellung der Ruhe im Stande sein würde, durch

Einführung des Rentenshstems die zu Boden

liegende Landbevölkerung

zur Wiederübernahme des alten Jochs zu zwingen.

Die AuSnahmemaß-

regeln, welche die neueste Thronerbe in Aussicht stellt, werden schwerlich hinreichen, den Bann der Landltga zu brechen, aber so lange diese das Heft in der Hand hat, werden die „Pächter" weder Pacht noch Rente

zahlen, mag die letztere auch noch so mäßig sein. Zu den irischen Verlegenheiten gesellte sich in den letzten Monaten deS Jahres der Aufstand der Basuttos in Südafrika und last, not least, die Empörung der von holländischen Bauern im Jahre 1848 gegründeten

Transvaal - Republik, welche im Jahre 1877 unter dem wohlklingenden

Vorwande der Gründung einer südafrikanischen Conföderatton im Interesse

deS Christenthums und der Civilisation den englischen Besitzungen einver­ leibt worden ist.

Wie wenig die liberale Regierung daran denkt, diese

Maßregel wieder rückgängig zu machen, zeigt die Erklärung der letzten

Thronrede, der Aufstand im TranSvaal-Lande müsse nothwendiger Weise eine Vertagung der Absicht der Regierung zur Folge haben, den europäi­ schen Colonisten vollständige locale Autonomie ohne Benachtheiligung der

Interessen der Eingeborenen (sic!) zu gewähren. Dagegen verkündet die Thronrede den definitiven Entschluß der Re­ gierung, auf die letzte Position, welche England auf Grund deS Friedens

von Gundamak noch in Afghanistan inne hat, auf Candahar zu verzichten,

da ihr die Opfer, welche die Fortdauer der Besetzung fordert, und die

Gefahr neuer Kämpfe gegen die kriegerischen Stämme Afghanistan'S mit

den Interessen, welche England in diesem Vorlande Indiens zu wahren hat, nicht im Einklänge zu stehen scheinen.

freiwillige

Rückzug

der

englischen

Auf alle Fälle wird dieser

Truppen das Prestige

der

engli-

Die auswärtige Lage beim Jahreswechsel.

108

schen Macht in Mittelasien und vielleicht auch in Indien nicht gerade er­ höhen.

So ist die englische Macht in Europa, in Afrika und in Asien auf

die Defensive zurückgedrängt und nur die finanzielle und politische Schwäche Rußlands wird diesen Rivalen verhindern, die günstige Gelegenheit zur

Wiederaufnahme seiner orientalischen Pläne zu benutzen. Um 'so günstiger ist die Lage für eine endliche Lösung der letzten Frage, welche den Frieden der Türkei und in Folge dessen auch Europa'S bedroht: der griechischen Grenzfrage, zu deren Lösung wiederum Frankreich, dieses Mal im Einverständniß mit Deutschland und Oesterreich-Ungarn,

durch den Vorschlag einer schiedsrichterlichen Entscheidung die Initiative ergriffen hat.

k.

Notizen. Die

jüdische

Einwanderung

densein einer regelmäßigen jüdischen bis

vor Kurzem

fast

allgemein

als

I. G. Hoffmann theilte diese Ansicht.

Bewegung noch:

in Deutschland.

Das

Einwanderung von Osten

unzweifelhaft

betrachtet.

Vorhan­

her wurde Nicht

blos

Auch der amtliche „Rückblick auf die

der Bevölkerung im preußischen Staate von 1816—1874" sagt

„Die jüdische Bevölkerung im preußischen Staate vermehrt sich großen-

IheilS durch Einwanderung, und zwar aus dem russischen Reiche und der öster­ reichisch-ungarischen Monarchie." sache kaum bestritten.

Selbst in jüdischen Kreisen wurde die That­

Der streng-jüdische Verfasser des Sendschreibens „Das

Judenthum und seine Aufgaben im neuen Deutschen Reich" (Leipzig 1871) for­

derte (S. 20) „Beseitigung deö jüdischen Proletariats auf der ganzen

Erde,

insbesondere aber in den mit ihrem Schnorrerthum jetzt Deutschland über­ schwemmenden osteuropäischen Ländern der Halbcultur". Neuerdings hat eine Schrift von Dr. S. Neumann, unter dem zuversichtlichen Titel „die Fabel von der jüdischen Maffeneinwanderung" (Berlin 1880), diese Ansicht zu widerlegen

versucht.

Der Verfasser giebt zu, daß in Preußens alten Landestheilen im

Jahre 1871 unter je 100,000 Einwohnern etwa hundert Juden mehr wohnten

als im Jahre 1822; er weist sodann nach, daß diese starke Vermehrung noch

zurückbleibt hinter dem Ueberschusse der jüdischen Geburten, und schließt daraus, daß der jüdischen Einwanderung in Preußen eine noch stärkere jüdische Aus­

wanderung gegenüberstehen müsse.

Nach seinen Tabellen sind in den Jahren

1843—71 aus Preußen 36,702 Juden mehr ausgewandert als eingewandert; der Ueberschuß der Auswanderung betrug also im Jahre etwa 1265 Köpfe.

Bis hierhin ist dem Verfasser sein Beweis gelungen. absolute Zahl der jüdischen Ein- und Auswanderer?

Wie groß war aber die Auf diese Frage weiß

Herr Neumann nur durch Vermuthungen zu antworten, da die amtliche Statistik das Glaubensbekenntniß der Ein- und Auswanderer nicht mehr angiebt.

Und

doch kommt auf diese Frage schlechthin Alles an; denn die socialen Wirkungen

einer starken fremdländischen Einwanderung werden durch das Wiederabströmen der Zugezogenen nicht aufgehoben; es liegt vielmehr auf flacher Hand, daß die­

jenigen Elemente des Judenthums, welche Deutschland nach Verlauf einiger Jahre wieder verlassen, am wenigsten geneigt sein werden sich zu germanisiren. —

Meines Wissens hat bisher nur eine deutsche Stadt, Leipzig, diese verwickelten

socialen Verhältnisse einer genauen statistischen Beobachtung gewürdigt: und hier

110

Notizen.

ergeben sich Zahlen, welche keineswegs geeignet sind, die Annahme einer regel­

mäßigen jüdischen Einwanderung aus Osteuropa als eine „Fabel" erscheinen zu lassen.

Im Jahre 1875 lebten in Leipzig 2551 Juden.

Von diesen waren

nur 527 — 20,5 % in Leipzig geboren (außerdem noch 27 in anderen Theilen des Kgr. Sachsen); dagegen 160 in Schlesien, 201 in Posen, endlich 704 in

Rußland, Oesterreich-Ungarn und anderen Ländern Osteuropas (241 in Galizien,

237 in Rußland u. s. f.).

Also mehr als ein Viertel (an 28%) der jüdischen

Bevölkerung Leipzigs ist aus Osteuropa eingewandert.

Und der weitaus größte

Theil dieser Einwanderer muß erst während der jüngsten Jahre zugezogen sein; denn die Leipziger jüdische Gemeinde zählte im Jahre 1847 erst 33 selbständige

Mitglieder, im Jahre 1877 aber 310.

der Stadt Leipzig XI, 40.

(Mittheilungen des statistischen Bureaus

Hasse, die Stadt Leipzig 1878.

S. 149.)

Die

Dinge liegen durchaus nicht so einfach wie Herr Neumann und seine liberalen Bewunderer glauben.

Wir bedürfen noch umfassender statistischer Erhebungen,

bevor die Angelegenheit spruchreif werden kann. H. v. T.

Verantwortlicher Redacteur:

H. v. Treitschke.

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Rüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm in. 1798-1823*). Am 16. November 1797 war Friedrich Wilhelm III. seinem Vater in der Regierung gefolgt.

Die Rheincampagne hatte ihm vielfach Ge­

legenheit geboten den General v. Rüchel kennen zu lernen und hatte dieser

während der Belagerung von Landau unter seinem speciellen Befehl ge­ standen.

Die Tüchtigkeit, wie der grade, offne Sinn des vielerfahrenen

Mannes hatten den jungen Fürsten so sehr für denselben eingenommen,

daß wir Rüchel schon zu Anfang des Jahres 1798 in des Königs Nähe finden.

Es ist bekannt, wie schwierig di» Verhältnisse waren, so wohl nach außen wie nach innen, unter denen Friedrich Wilhelm III. den Thron

bestieg.

Statt eines gefüllten Schatzes, wie Friedrich II. ihn seinem Nach­

folger hinterlassen hatte, überkam er eine bedrückende Schuldenlast, die

jede freie Bewegung hemmte.

Dem Reiche waren nicht allein Provinzen

verloren gegangen, sondern unklare Verhältnisse und Verwicklungen aller

Art verdunkelten den politischen Horizont. ES fehlte dem jungen König, der erst 27 Jahr war, weder an dem

redlichen Willen, noch an der Begabung für seinen Beruf.

Er besaß

einen sichem Blick und fand leicht die richtigen Mittel und Personen her­

aus, wo er sich selbst vertrauend, einen eignen Entschluß faßte.

Sein

edleS Herz, voll Liebe für seine Unterthanen, war ganz dazu geschaffen ihn

zum Vater deS Vaterlandes zu machen, als welchen er noch jetzt in dank­ barer Erinnerung in seinem Volke fortlebt. Aber eine Erziehung, die ihn nicht genügend zu der hohen Stellung,

für die er berufen war, vorbereitet hatte, die Entfernung von allen Ge­

schäften, in der er während der Lebenszeit seines Vaters absichtlich von dessen zum Theil unwürdigen Rathgebern gehalten, ward, hatten diese

vortrefflichen Eigenschaften mangelhaft entwickelt.

Bei seiner WahrheitS-

*) cf. Preußische Jahrbücher Bd. 44 Heft 6, Bd. 45 Heft 1 und 2. Preußische Jahrbücher Bd. XLVII. Heft 2.

8

112

Rllchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798 —1823.

liebe, die ein Hauptzug seines Charakters war, und welche er auch da

nicht verleugnete, wo es die Beurtheilung seiner selbst galt, fühlte er deutlich, was ihm fehlte.

schlossenheit,

DaS gab ihm eine Unsicherheit und Unent­

die ihn mehr,

als dies

für daS Heil deS Vaterlandes

wünschenswerth war, auf die Rathschläge seiner Umgebung hören ließ.

Auch fehlte eS ihm an dem nöthigen Selbstvertrauen, welches ein Regent nicht wohl entbehren kann.

ES blieb erst den Jahren deS Leidens und

der Kämpfe Vorbehalten, seinen Charakter zu entwickeln und zu stählen und ihn zu dem zu machen waS er später war. Friedrich Wilhelm III. begann sogleich nach Antritt seiner Regierung, die ihm unumgänglich nothwendig scheinenden Verbesserungen, ohne, daß

ein Wechsel in dem Regierungsshstem eintrat, wie man erwartet hatte. In so kriegerischen Zeiten war eS natürlich, daß er zunächst seine

Fürsorge der Armee zuwandte und für diese Aufgabe suchte er mit Vor­ liebe Rüchels Rath und Hülfe, wie wir auS verschiednen Gutachten und

andern Schriftstücken ersehn, die sich unter den nachgelassenen Papieren

deS Generals befinden.

ES ist unter anderm eine Instruction vorhanden

auS den ersten Monaten, nachdem der Thronwechsel stattgefunden hatte, welche Rüchel im Auftrag deS Monarchen für eine Commission entworfen, die unter dem Vorsitz deS Marschall von Möllendorf zusammentreten sollte

um „Allerhöchst seine (deS Königs) Ideen über die Verbesserungen in der Armee" zu prüfen.

Das Memoire, das,

wie aus der Aufzeichnung RüchelS zu ent­

nehmen ist, ganz von des Königs eigner Hand geschrieben gewesen sein muß, ist leider nicht mehr vorhanden, würde indeß auch wahrscheinlich,

gleich der vorliegenden Instruction,

von zu ausschließlich militärischem

Interesse sein, um an diesem Ort mitgetheilt werden zu können. Rüchels Garnison war seit dem Januar 1798 Potsdam, wo der

König ihn zum Chef des Regiments Garde, zum Commandanten des ge­ dachten OrteS und zum Inspecteur der dazu gehörenden Armee-Jnspection ernannt hatte.

Die Trennung von seinem alten Regiment wurde ihm

schwerer, als die von Anklam selbst, wo er so wenig heimisch gewesen

war, daß seine Familie nie dort einen bleibenden Aufenthalt genommen hatte. Von der Verehrung die seine Kriegscameraden ihm zollten, zeugt eine große, sehr schön geprägte, goldene Medaille, welche ihm bei seinem

Abgänge zur Erinnerung eingehändigt wurde. Sie zeigt auf der Vorderseite RüchelS Brustbild mit der Umschrift

Ernst, Wilhelm Philipp von Rüchel König!. Preuß. General Major auf

der Rückseite den Römer CurtiuS, der sich, um die Götter mit seiner

Vaterstadt zu versöhnen in den Abgrund stürzt, mit der Umschrift: „den

Tod für's Vaterland nicht scheuend", und darunter „Opfer der Liebe seines

ehemaligen Regiments"*). Noch hatte er erst kurze Zeit die ihm von deS Königs Huld über­ tragene neue Stellung bekleidet, als ihm, zugleich zum General Lieutnant ernannt, das ganze Militär-BildungSwesen unterstellt ward.

Die Leitung

der militärischen Erziehungsanstalten hatte er, wie vor dem Kriege, so auch gleich nach seiner Heimkehr aus demselben, noch in Anklam stehend,

übernommen. Dies geht aus verschiedenen vorhandenen Aktenstücken hervor.

Diese Thätigkeit entsprach so sehr RüchelS Begabung und Neigung, daß seine Bemühungen hier bald mit dem größten Erfolg gekrönt wurden.

Unter seiner Leitung erhob sich die schon von Friedrich dem Großen ge­ stiftete Ecole militaire, zu einer Akademie der KrtegSwifsenschasten.

Auch sonst ließ er sich die Weiterbildung der jungen Officiere ange­ legen sein, in Anschluß an die Aufgaben aus seiner ersten Dienstzeit. Rüche! pflegte während seines Aufenthaltes in Potsdam mehrere Mal

wöchentlich einen Kreis talentvoller junger Cameraden um sich zu ver­ sammeln, denen er Vorttäge über Kriegskunst hielt, und die er auf alle mögliche Weise zu eignem Forschen und Studieren ermunterte.

CS galt

für eine besondere Auszeichnung, dieser Bereinigung anzugehören, aus welcher, wie zugleich aus den auf seine Anregung gebildeten FüsilierRegimentern, wie man

behauptet, die hervorragendsten Officiere der

Armee später hervorgegangen sind. In wiefern Rüche! auch mit der Stiftung der militärischen Gesell­

schaft in Zusammenhang stand, muß hier unentschieden bleiben, aus Mangel an authentischen Nachrichten.

Gewiß ist, daß er 1803 Präses derselben

gewesen ist, denn eS befindet sich unter seinen Papieren eine Rede, die er als solcher an dem ersten Jahrestag ihrer Stiftung, am 24. Januar

gedachten Jahres, gehalten hat. die Wahl des 24. Januars,

Sie muß also 1802 entstanden sein und

Friedrichs des Großen Geburtstag, läßt

mindestens auf eine Mitwirkung RüchelS dabei schließen. Einen treuen und überaus begabten Mitarbeiter auf diesem Felde seiner Thätigkeit hatte er an Scharnhorst, dessen Uebertritt in den preu­

ßischen Dienst, ebenso wie die Berufung zum Director der Ecole militaire er veranlaßt hatte. Diese beiden bis an ihren Tod eng verbundenen Männer

halfen so die Armee für die kommende Epoche mit tüchtigen Heerführern

versorgen. Mehrere Briefe, der Ueberrest einer großen Anzahl, zeugen von dem

nahen Verhältniß, in dem sie zu einander gestanden, wie von der wachsen« *) Ist im Besitz der Familie.

Rüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798—1823.

114

den Vertraulichkeit der beiden gleichaltrigen Männer, die mehr und mehr

den Rangunterschied in den Hintergrund treten ließ.

Diese Briefe hier

abzudrucken, wird deßhalb unterlassen, weil sie wie andere auS den Rüchel-

schen Papieren, in einem Heft „AuS RüchelS Nachlaß"*) (1878 Berlin. Fr. Schneider) der Oeffentlichkeit übergeben sind, auf das wir verweisen.

Als Commandant von Potsdam wird RüchelS Einfluß auf die Garnison

von seinen Zeitgenossen rühmend erwähnt.

Er soll eS in seltenem Maße

verstanden haben, einen ächten kriegerischen Geist zu wecken, den Geist

der Zucht und der Ordnung zu pflegen. Die

von

Frankreich

störende Einwirkung

ausgehende

Zeitströmung

blieb

nicht

ohne

auf das Verhältniß zwischen Militär und Civil.

Die Excesse zwischen beiden mehrten sich in erschreckender Weise.

solchen Gelegenheiten griff Rüchel mit eiserner Strenge durch.

Bei Nicht

blos der bürgerliche Angreifer wurde bestraft, auch der Soldat, wenn er nicht rücksichtslos die Ehre des Postens, für die er aufzukommen hatte,

vertheidigte.

Ueberhaupt war Rüchel, wie wir das schon früher wäh­

rend des Krieges sahen, so auch jetzt im Frieden streng innerhalb des Dienstes; meinte aber deßhalb um so freundlicher und nachsichtiger außer­

halb desselben sein zu können, so daß dann das kameradschaftliche Ver­

hältniß ganz in den Vordergrund trat.

Einen schnellen sichern Blick zeigte er im Erkennen fähiger Leute und benutzte dann seinen ganzen Einfluß, die Wege solcher zu ebnen.

Den

meisten der später berühmt gewordenen Männer hat er in dieser Art

seinen Beistand geliehen.

Von Scharnhorst hörten wir eS schon; Gnei-

senau**) spricht es selbst auS in einem Brief an Rüchel, wie viel er ihm verdankt.

Sehen wir die Listen seiner früheren Adjutanten, der Männer

die sonst in seiner Umgebung waren, durch, so begegnen wir lauter be­ kannten, ja berühmt gewordenen Namen.

ES machte für ihn keinen

Unterschied, weß Standes sie waren, obgleich er selbst für seine Person den Vorzug nicht unterschätzte, einem Geschlecht anzugehören, welches eine alte ruhmreiche Geschichte hatte und der Nachkomme solcher zu sein, die

in langer Reihe treue Diener der Krone gewesen waren. RüchelS bekannte Freigebigkeit vermehrte sein Ansehn und versöhnte auch Potsdams Bürger, bei denen er mehr gefürchtet als beliebt war,

mit dem sonst so strengen Commandanten.

Er gab, so lange er hatte,

und oft so reichlich, daß er selbst dadurch in Verlegenheit gerieth.

ES

wird erzählt, daß einst seine Gemahlin, nicht lange nachdem er sein Ge*) Leider sind diese, wie viele andere Briefe in Fonque'S Händen verloren gegangen, ohne daß er sie zur Bearbeitung seiner sehr lückenhaften Biographie benutzt hätte. **) Vergleiche da« oben angeführte Heft „AuS Rüchel» Nachlaß".

Nüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798 — 1823.

115

halt empfangen hatte, sich zu ihm begab um den ihr für die Haushaltung bestimmten Theil zu holen.

Lachend zeigte er ihr die leere Schatulle.

Als er das bedenkliche Gesicht, der bis in ihr hohes Alter für unge­ wöhnlich ordnungsliebend und tüchtig geltenden Hausfrau sah, sagte er

mit freundlich bittendem Blick und bewegter Stimme:

„Ma chere, ich weiß, du findest Rath, aber eS wurde mir von so vielen hungernden Kindern erzählt, daß eS mir war, als hätte ich ihnen

das Brod von dem Munde gestohlen, da ich der Rollen Geldes gedachte, die mir eben ausgezahlt waren."

Dies trug sich 1805 zu, wo eine so große Theuerung der nöthigsten Lebensbedürfnisse im Lande war, daß außergewöhnliche Maßregeln, auch

von Seiten der Behörden, ergriffen werden mußten, um der Noth zu steuern.

Auch unter RüchelS Papieren finden wir eine CabinetSordre vom

23. Juni 1805 datirt, die in Folge eines hierauf bezüglichen Antrags

RüchelS ertheilt ist.

ES handelt sich um Beschaffung von Kornbedarf für

die ihm untergebenen Anstalten, ebenso für die Einwohnerschaft Potsdams. Trotz seines lebhaften Temperaments und seiner angebornen Heftig­

keit, die ihn weniger bei großem Verdruß als bei kleinem Aerger über­

mannte, soll Rüche! nicht leicht die Grenzen, welche das persönliche Ehr­

gefühl eines Cameraden, auch des jüngsten Fähnrichs, einzuhalten gebot, überschritten haben.

Wenn es dennoch einmal geschah, war er sogleich zu

jeder Genugthuung bereit.

Meist genügte bei solcher Gelegenheit eine

Entschuldigung wegen der großen Verehrung, die er genoß. Für Potsdams Geselligkeit soll das Haus des Commandanten einen alles belebenden Mittelpunkt gebildet haben.

Hier waltete an der Seite

des Gemahls die treue, sorgsame Hausfrau, die in seltener Begabung eS

jedem Gaste heimisch und behaglich zu machen verstand; und ihre beiden lieblich Heranwachsenden Töchter vermehrten in jugendlicher Heiterkeit die Anziehungskraft des nach den verschiedensten Seiten hin ausgezeichneten

Kreises, der den General umgab. Er selbst war stets der liebenswürdigste Wirth und Gesellschafter.

Nie soll er einen Verdruß aus seiner amtlichen Stellung mit hinüberge­ nommen haben in den häuslichen Verkehr.

Auch verschwand hier jeder

Rangunterschied und dennoch umgab ihn eine ruhige Würde, die eS auch

solchen,- denen eS sonst vielleicht an dem nöthigen Tact gebrach, erleichterte, die passenden Schranken einzuhalten.

So wenig es Rüchel seinen Vorgesetzten gegenüber — und die längste Zeit seines Lebens hindurch war dies kaum ein Anderer wie nur der

König selbst — an der pflichtmäßigen Ehrerbietung fehlen ließ, so war er dennoch nicht für das Hofleben geschaffen.

Pertz in seiner LebenSge-

116

Rüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798—1823.

schichte von Stein sagt über Rüchel „ein kleiner, feuriger Mann, von

originellem Geiste, kräftigem, edlem und patriotischem Charakter, der bei mehr Nachgiebigkeit, Schonung und Gewandtheit, bei Zügelung seiner leicht bei Kleinigkeiten auflodernden Heftigkeit einen großen Einfluß auf

den König gehabt haben würde."

Steins Biograph mag mit diesem Ur­

theil der Wahrheit nachgekommen sein, wenn auch der König dem Ge­

neral, von dessen Treue und Hingebung er überzeugt war,

stets bei

Uebereilungen dieser Art, eine großmüthige Nachsicht bewiesen hat, der

Rüchel in dankbarer Liebe oft zu gedenken pflegte.

So lange er in des

Königs Nähe war, hat er auch des Königs Vertrauen besessen; erst als

Napoleons Wille ihn aus derselben verbannte, gelang es denen, die ihm

übelwollten, ihm dasselbe dauernd zu rauben, bis es bei RüchelS Be­ gegnung mit dem Könige in Berlin nach den Freiheitskriegen ihm wieder­ geschenkt wurde und einen Sonnenstrahl auf die letzten Tage deS durch

den Kummer vor der Zeit hinfällig gewordenen Greises warf. Seine besondere Gönnerin und Beschützerin war die Königin und es

hätte sich in mancher Beziehung Nüchels Schicksal wohl anders und schöner

gestaltet, wenn die hohe, vielbeweinte Frau nicht so früh ihrem Gemahl, ihren Kindern und ihrem Volk entrissen worden wäre.

Sie hat den König

wohl oft besänftigt, wenn des Generals ungestüme Art ihn mit Recht verletzt hatte oder ihm doch unbequem geworden war.

Denn auch auf

Rüchel hätten jene ehrenden Worte Anwendung finden können, Friedrich Wilhelm IV. über einen Edelmann

edler Mann war:

welche

äußerte, der zugleich ein

„Er hat die gute, alte Adelsmanier, seinem Könige,

seines Gleichen und seinen Untergebenen die Wahrheit nach bestem Wissen

zu sagen, sogar wenn man sie nicht gern hört*)." In Potsdam, wo die königliche Familie damals sich gern und oft aufhielt, war sie kein seltener Gast im Rüchelschen Hause.

DaS glück­

liche Familienleben dort, dem eigenen so ähnlich, zog daS Herrscherpaar an und die königlichen Kinder fanden Jugendgenossen an den, freilich um einige Jahre älteren Töchtern des Generals.

Dieser Verkehr und dies Zusammensein muß sich namentlich dem Gedächtniß deS jungen Kronprinzen tief eingeprägt haben.

später gern von diesen Tagen und hat

Er erzählte

der ihren Vater überlebenden

jüngsten Tochter deS Generals eine warme Theilnahme bewahrt, welche

er auch auf deren Gemahl und selbst auf die der Ehe entsprossenen Kinder *) In einem eigenhändigen Brief dieses Königs an den General der Infanterie von Rüchel-Kleist, Schwiegersohn deS Helden dieser Erzählung. Derselbe starb 1848 als Gouverneur von Danzig geehrt durch das besondere Vertrauen seines könig­ lichen Herrn. Der Edelmann dem der Ausspruch Friedrich Wilhelm IV. gilt, ist Graf Dohna damals eommandirender General des 1. Armee-Corps.

übertrug.

Das Haus, in welchem früher der Commandant seine Dienst­

wohnung hatte, ward später zu gleichem Zweck dem Oberpräsidenten von

Brandenburg eingeräumt.

lichen Veränderungen.

Es unterlag im Laufe der Zeit manchen bau­

AIS nun Friedrich Wilhelm IV., nachdem er König

geworden, dort wieder ein ehrender Gast war, verlangte er, wie die Frau

Oberpräsident erzählt, den Balkon zu sehen, auf dem er in ftüherer Zeit

so häufig mit den beiden Fräulein von Rüchel gestanden habe.

Derselbe

war beinahe vergessen, und diente der Raum, der zu ihm führte, zum

Futtergelaß.

Endlich erkannte man nach des Königs Beschreibung die Lo­

kalität. Die Vorstellungen der Dame waren vergeblich; der hohe Herr ließ

sich nicht zurückhalten und bahnt sich in der ihm eigenthümlichen, schnell

entschlossenen Art einen Weg über Haufen von aufgeschüttetem Hafer und allerhand Gerümpel.

Auf den Balkon heraustretend, stand der König

eine Weile in Gedanken verloren und sagte mit bewegter Stimme: „Eine schöne, fröhliche Zeit war es damals in Potsdam.

Lieblichere

Frauenbilder, als jene Mutter mit ihren Töchtern sah ich nie wieder.

Der General Rüchel war

ein glücklicher Mann, aber auch ein edler!

Preußen hat nicht Biele aufzuweisen, die ihm gletchkommen. Doch nicht nur in diesem königlichen Herzen lebte RüchelS Andenken

fort, mancher Officier, der später zu Ehre und Ansehen gelangte, hat eS

gesegnet.

Allen seinen Einfluß bot er auf, einen sonst tüchtigen jungen

Mann auS einer Verlegenheit zu retten, in die ihn jugendlicher Ueber-

muth oder unbedachte Geldausgaben gestürzt hatten.

Meist erreichte er

seinen Zweck, verlor dann aber seinen Schützling auch später nicht auS den Augen und suchte durch eine vortheilhafte Versetzung die Angelegen­ heit bei weniger nachsichtigen Vorgesetzten in Vergessenheit zu bringen.

Nicht eine geringe Anzahl Männer sind so der »Armee erhalten worden, die dem Vaterlande in Zukunft erhebliche Dienste geleistet haben.

erhielt Rüchel den schwarzen Adlerorden.

1802

Die gnädige Art der Verleihung

erfreute ihn ebensosehr, wie die edle Gabe selbst.

So viel Anerkennung das segensreiche Wirken des Generals auch immer fand, so viel Liebe und Achtung ihm auch zu Theil wurde, so konnte es nicht fehlen, daß ein so entschiedener und auch schroffer Cha­

rakter, der rücksichtslos daS einmal für Recht erkannte verfocht, sehr ver­ schiedenartige Beurtheilung erfuhr und neben vielen Freunden sich auch

manche Feinde erwarb. weckt.

Auch hatte sein schnelles Emporkommen Neid er­

Dies schrieben solche, die ihm übel gesinnt waren, mehr auf Rech­

nung von Connexionen, als auf die seiner militärischen und sonstigen Be­

gabung.

Im Gegentheil behauptete man, daß sein Einfluß vielfach von

schädlicher Wirkung auf die Armee gewesen sei, da er die Kriegskunst als

118

Rüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798 —1823.

etwas Stabiles betrachte und die Regeln, nach denen die Schlachten im

siebenjährigen Kriege geschlagen waren, und die ihm der königliche Lehr­ meister selbst eingeprägt hatte,

als Universalmittel zum Siege ansehe.

Diesem Urtheil widersprechen aber die vielen Vorschläge, Skizzen, Me­

moiren über militärische Gegenstände, die sich ausnahmslos mit durch­

greifenden Veränderungen und Verbesserungen beschäftigen, und die noch in großer Zahl vorliegen.

Keine Einrichtung, keine Waffengattung ist

in ihnen unberücksichtigt geblieben.

Wir finden schon aus dem Jahr 1782, also noch unter der Regie­ rung Friedrich II., ein Projekt zur Errichtung einer leichten Infanterie. Diese Art Aufsätze, die verschiedensten Gegenstände betreffend, mehren sich

und seine Vorschläge gewinnen an Umfang je höher Rüchel steigt, und je

mehr sein Einfluß zunimmt.

Viele CabinetsordreS, welche die Unter­

schrift Friedrich Wilhelms II. tragen, noch viel mehr auS der Regierungs­ zeit Friedrich Wilhelms III. sind Erwiderungen

oder ertheilen Aufträge,

hervorgerufen durch Eingaben des Generals oder anderer sachverständiger Männer, die der Beurtheilung desselben unterbreitet werden. Am 15. Januar 1803 ertheilt der König unter andern den beiden

General-LieutenantS von Rüchel und von Tempelhof*) den Auftrag, einen Plan des Obersten von Massenbach über Umgestaltung des Quartier­

meister-Stabes zu prüfen.

Vom 4. Mai desselben Jahres lautet eine

Cabinetsordre, die von Verbesserungsvorschlägen RüchelS handelt: „Meine lieber General-Lieutenant von Rüchel!

Ich danke Euch sehr

für die Mittheilung der mir unterm 8. d. MtS. eingereichten pro Me­

moria über die permanenten gemischten Divisionen der Franzosen, so wie über die Formation der Linien-Jnfanterie in 3 oder 2 Glieder und über

die Vertheilung der Artillerie nach dem Vergleich alter und neuer Art.

Ich werde dasselbe bei Muße durchlesen und bin im Voraus überzeugt, daß Eure darin aufgestellten Urtheile Meinen Beifall erhalten werden.

Ich bin Euer wohlaffectiontrter König Frd. Wilh."

Die Idee der Bildung einer Landmiliz, die später, durch Andere weiter ausgebildet und ausgeführt, ein Hauptfactor zu den glücklichen Er­

folgen der Befreiungskriege wurde,

beschäftigt Rüchel schon seit dem

Jahre 1796, wie Aufsätze aus verschiedenen Zeiten beweisen. Zu Anfang scheint eS, als sähe er große Schwierigkeiten in der Zu­ sammensetzung der Armee, die er als verbesserungsbedürftig und vielfach

veraltet anerkennt.

Später söhnt er sich mehr und mehr mit dem Gedanken

*) Das Gutachten des Letzteren ist vorhanden, während daß des Ersteren leider fehlt.

aus und sucht nach Mitteln und Wegen zu seiner Ausführung, bis be­ stimmt formulirte Vorschläge daraus werden.

So befindet sich eine Instruction, theils von Rüchels eigener Hand, theils von der des damaligen Majors

seinen Papieren.

von Knesebeck*) geschrieben, in

Sie war für den Letzteren bestimmt zu einer ihm von

Rüchel, bei dem er damals Adjutant war, aufgetragenen Arbeit über diese

Sache und es werden darin die eigenen Ansichten und Vorschläge deS Generals ziemlich ausführlich dargelegt.

Nicht ohne große Mühe konnte

die ziemlich unleserliche Handschrift**) entziffert werden, und so interessant

der Inhalt auch ist, muß doch an diesem Ort die Mittheilung beanstandet werden, da der Gegenstand zu ausschließlich militairisch ist. Hier sei indeß der Schluß eines anderen Aufsatzes einzufügen erlaubt,

der aus einer späteren Zeit stammt. der Landmiliz oder Landwehr.

Auch er handelt von der Errichtung

Damals war eben schon -das Alte zer­

fallen und für die im 'Werden begriffenen Verhältnisse, bildete das Be­

stehende für RüchelS Pläne keine Schranken mehr.

Früher erschien eS ihm

Pflicht an Vorhandenes anzuknüpfen und nicht ohne weiteres niederzu­ reißen und zu zerstören, was irgend verbesserungsfähig war.

Jetzt, wo

alles übereinandergestürzt war, hatte ihn die Hoffnung, daß dies möglich

fein würde, verlaffen, nicht aber der Glaube, daß unter Sturm und Regen die Saat eines neuen Frühlings keimen würde.

Diesen Zeitpunkt zu

beschleunigen, betrachtete er als seine Lebensaufgabe, von dem Augenblick an, wo er auf Napoleons Geheiß den Staatsdienst verlassen mußte.

Wie

viele andere, so stammt auch das erwähnte Schriftstück aus dieser Zeit und wird dort in Betreff der Erfolge der französischen Waffen gesagt:

„Man hat in unsern Tagen den glücklichen AuSgang eines Krieges

viel zu sehr nur den Talenten des Anführers zugeschrieben, während viele- Andere mit in Rechnung gezogen werden muß.

Mehr als Alles

ist eS der Geist, der in der Nation lebt und der sowohl den Befehls­ haber, als die ganze Armee, welche sich nur als einen Theil der durch die Liebe zu König und Vaterland Vereinten anzusehn hat, begeistern und

durchdringen muß, um die welche kämpfen, wie die welche durch große Opfer für die Bedürfnisse Jener sorgen und die Lasten deS Krieges tragen,

zu einem großen Ganzen zu vereinen.

Deßhalb würde, ohne alle Frage,

ein Volksheer stets die größte Aussicht haben, Siege zu erringen."

„Die Armee besteht aus einer großen Zahl Individuen, von denen *) Der spätere General Feldmarschall. Derselbe war schon in Potsdam Rüchels Ad­ jutant, doch war er damals noch nicht Major, so muß das Schriftstück aus dem Sommer 1806 stammen was auch aus einem Briefe Rüchels hervorgeht. Siehe „Rüchels Nachlaß". **) Die Rüchelsche nicht Knesebecks.

120

Rüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798—1823.

ein Jedes das ©einige zu dem Gelingen des vom Feldherrn ersonnenen Planes beitragen muß, wenn der Erfolg ein günstiges Resultat haben soll. Wer wollte da entscheiden, wer am meisten dazu beigetragen hat? Bei Jedem, der ein Theil dieses großen Ganzen ist, wird eS vor Allem auf Charakterfestigkeit und das auf'S äußerste gespannte Gefühl für Ehre und Pflicht ankommen. Das ebenso sehr bei dem letzten Soldaten, als bei dem, welcher an der Spitze steht." „Der große, unsterbliche Friedrich siegte in den beiden ersten Schle­ sischen Kriege weniger durch seine militairischen Talente, als durch seinen Unternehmungsgeist. Nur der Sieg von Hohenfriedberg war eine Frucht seines Genies." „Selbst int Siebeltjährigen Kriege hat das Glück und sein Entschluß, zu siegen oder zu sterben, einen größeren Antheil an dem glücklichen Erfolge gehabt als sein Feldherrntalent. Jene Eigenschaften gereichen ihm ebenso sehr zur Ehre als dieses, was er unbestritten gleichfalls in höchstem Maaße besaß. Der Geist der ihn beseelte, er der zugleich König und Held war, ging auf das Volk, auf die Armee über und versetzte sie in eine Begeisterung, in der es zu großen Thaten keiner fremden Einwir­ kung mehr bedarf. Dem Muth, der Hingebung, der Ausdauer der Völker wird nur zu oft die ihnen gebührende Anerkennung versagt bei der Be­ urtheilung des glücklichen Erfolges eine» Krieges. Nur der übereinstim­ mende Entschluß der Nation und des Heeres, zu siegen oder zu sterben, wird über das Gelingen auch des besten Kriegsplans entscheiden. Wir sind gewohnt, den größten Theil des Ruhmes eines Sieges nur dem Feld­ herrn zu überlassen, wie wir, und hier mit mehr Berechtigung, die sich nach verschiedenen Richtungen äußernden Kräfte der Natur, zu einem ein­ zigen Wesen personificiren." „Wir haben angefangen die Kunst deS Krieges höher als die mili­ tairischen Tugenden zu achten. Das aber war die Ursache deS Verfalls und deS Untergangs der Völker in allen Zeiten." „Tapferkeit, Genügsamkeit, Aufopferung, Standhaftigkeit, Einfachheit und Sittenreinheit, sind die Grundpfeiler der Unabhängigkeit und des Flors eines Volkes. Wo diesen Tugenden unser Herz nicht mehr nach­ eifert, sind wir verloren auch im Laufe großer Siege." Nach dem was bisher über Rüchel, feine Denkungsart und seine Thätigkeit mitgetheilt worden ist, muß das Urtheil, welches E. von Höpfner in feinem Werk über den Krieg von 1806 und 1807, und mit ihm manche Andere über Rüchel gefällt haben, befremden. Es wird ihm auch vor­ geworfen, den Geist der Ueberschätzung und der Franzofen-Verachtung in der preußischen Armee genährt zu haben. Er haßte sie allerdings

gründlich ebenso wie Scharnhorst das von sich bekennt*), aber als Feinde

unterschätzte er sie nicht.

dies unter andern.

Auch die vorhin mitgetheilte CabinetSordre zeigt

Wie würde er sonst ihre HeereSetnrichtungen zum Ge­

genstand ernster Studien machen? Außerdem sind uns gar viele schrift­

liche Äußerungen von ihm bewahrt, wie die Urtheile der berühmtesten Männer jener Zeit.

Alle bezeugen, daß er wohl die Gefahr, in der daS Vater­

land schwebte, erkannt hat und eS nicht von seiner Seite an Mahnungen zur Umsicht und Voraussicht, auch im Fall eines unglücklichen Ausgangs,

gefehlt hat. Ebenso stammt von Höpfner die oft wiederholte Beschuldigung, daß

bei ihm und seinem Anhänge der berechtigte Respect vor dem großen

Könige zum Unglück geworden sei, da er die Augen gegen die Wahrheit verblendet habe, daß die preußische Wehrverfassung sich überlebt habe.

So dankbar eS anerkannt werden muß, daß Höpfners gründliche hi­ storische Forschungen den Verunglimpfungen ein Ziel gesetzt haben, die

den General Rüchel schuldlos in Bezug auf das Unglück von Jena ge­ troffen haben, so hat er ihm sonst nicht die ihm gebührende Gerechtigkeit

widerfahren lasten.

Er beruft sich

in seinem Urtheil auf Clausewitz.

Dieser sonst so vorurtheilSfreie Mann ist aber nie, so viel uns bekaünt, in nähere Berührung mit Rüchel gekommen, und es muß daher ange­

nommen werden, daß er aus einer andern Quelle schöpfte und überhaupt

zu einer Zeit, wo Rüchel, fern von jeder Berührung mit der Außenwelt, vielleicht überhaupt schon nicht mehr lebte.

ES ist möglich, daß er seine

Informationen von Jemand erhielt, der an den Kränkungen, welche Rüchel

in seinem Alter erfuhr, nicht unschuldig war, und dem deßhalb daran lag, seine Verdienste herabzusetzen**).

Wäre die Behauptung wahr, daS des Generals Rüchel Begabung nur mittelmäßig gewesen, dagegen sein Ehrgeiz so wie seine Eitelkeit un­

begrenzt, wie erklärt sich da die hervorragende Stellung, die er unter drei preußischen Königen etnnahm? Man müßte mit ihm zngleich die meisten

hervorragenden Männer seiner Epoche verurtheilen, die seinen Rath, seine

Belehrung, seine Freundschaft suchten.

ES muß doch auffallen, daß

Männer wie Scharnhorst, Gneisenau, Blücher, Stein, Hardenberg***) ihn sehr hoch achteten, seine Begabung und seine Tüchtigkeit anerkannten

und in näheren Beziehungen auch dann zu ihm blieben, als ihm nach dem Tilsiter Frieden daö Glück den Rücken wandte. *) Siehe in „RüchelS Nachlaß" den Brief Scharnhorsts an Rüchel. •*) Siehe Blüchers Brief an Rüchel in „Aus RüchelS Nachlaß". ***) Verschiedene Briefe von diesen Allen, die neben der Bedeutung für RüchelS Beur­ theilung auch von großem geschichtlichen Werth sind in dem Heft „AuS RüchelS Nachlaß".

Rüchel unter der Negierung Friedrich Wilhelm III. 1798 —1823.

122

Wäre Rüchel eine so unbedeutende Persönlichkeit gewesen, so hätte

eS Napoleon gewiß unter seiner Würde gehalten, seine Entfernung aus der Nähe des Königs mit unter die Friedensbedingungen zu Tilsit aufzu­

nehmen. Was RüchelS schriftliche Auslassungen betrifft, so können wir diese

nicht durchweg gegen den Vorwurf der Wunderlichkeit und Unverständ­

lichkeit vertheidigen.

Die Fülle der Gedanken macht nicht selten den Stil

schwerfällig und die vielen Fremdwörter, namentlich in dem was er in früheren Jahren geschrieben hat, berühren unangenehm. Leopold von Ranke

behauptet mit Recht,

RüchelS Stil bedürfe häufig eine- Interpreten,

dennoch ist seine Ausdrucksweise sehr verschiedenartig, je nach dem Stoff, den er behandelt und überrascht sogar oft durch seine Schärfe und Klar­ heit, namentlich da wo der General referirt, drückt er sich fast knapp und kurz aus und sicher nicht undeutlich.

Als Beweis für diese Behauptung

kann der kurze Lebenslauf aus RüchelS eigner Feder dienen, welcher die

Einleitung zu jenem oft angeführten Hefte bildet*). UebrigenS verdanken die ungünstigen Urtheile über ihn ihre Ent­

stehung meist einer Periode, wo es zur üblen Gewohnheit geworden war, das Unglück, welches daS Vaterland getroffen hatte, einzig dem Heere

und besonders seinen Anführern zuzuschreiben.

Wie viel Schuld daran

die unheilvolle Politik trug, die damals verfolgt wurde, ist bekannt und

hieran hat wenigstens Rüchel bis zum Jahr 1805 keinen Theil gehabt. Erst als die Verwirrung und Verlegenheit auf'S Höchste gestiegen war, berief man, neben den leitenden Staatsmännern, auch mehrere höhere

MilitairS zur Theilnahme an dem Ministerrath.

Er wird zum ersten

Mal bei einer Conferenz genannt, die am 19. September 1805 nach Char­

lottenburg berufen wurde.

Unmittelbar darauf, am 20. September, ver­

ließ Rüchel die Mark Brandenburg, um das ihm übertragene Amt eines Gouverneurs der Provinz Preußen und GeneralinspectorS der dortigen

Truppen zu übernehmen.

Wenn auch die nächste Veranlassung zu dieser

Sendung sowie zu den jetzt beginnenden Rüstungen die Verletzung der

preußischen Grenze seitens Rußlands war, so hoffte man doch, daß Preußen sich den Mächten anschließen werde, die jetzt zum Kriege gegen Frankreich sich verbündeten. Dem Traktate, welchen das nordische Kaiserreich mit Eng­

land abgeschlossen hatte, war Oesterreich am 9. August 1805 beigetreten. Allein Preußen konnte nicht zur Entscheidung kommen, es unterhandelte bald mit einer, bald mit der andern Partei, im Grunde aber entschlossen,

die Neutralität nicht aufzugeben, wodurch eS denn wirklich an den Rand des

*) Aus Rüchel» Nachlaß.

Verderbens gerieth.

Obgleich der Minister Hardenberg seit dem Herbst

1804 Haugwitz ersetzt hatte, hatte dieser seinen Einfluß nicht verloren und wurde Ende August wieder nach Berlin berufen, nachdem er von Schlesien

aus, wo er sich auf seinen Gütern aufhielt, ein Memoire an den König gesandt hatte, in dem

er den

„Neutralitätssystem festzuhalten,

entschiedenen Rath ertheilte,

an dem

es bewaffnet und imposant zu machen

und die Nachbarschaft einzuschließen."

Auch Rüchel wurde durch das Schwanken des CabinetS in seiner

neuen Stellung gehindert.

Seine energischen Maßregeln standen in zu

grellem Gegensatz mit dem Bestreben der Regierung eS mit keiner Partei

zu verderben.

Mehrere CabinetSordreS

sind bemüht, seinen Eifer zu

dämpfen und zur Behutsamkeit zu mahnen, obgleich dieselben die Zweck­ mäßigkeit seiner Anordnungen anerkennen.

Hätte er damals freie Hand

gehabt, so wäre daS für die Kriegführung von 1807 sehr Vortheilhaft ge­ wesen, denn eS wäre für die Armirung der Festungen und für Kriegs­

bedarf besser gesorgt worden; wie auch von Zeitgenossen anerkannt wird,

daß daS wenige was man vorbereitet fand, der Wirksamkeit Rüchels vor Ausbruch des Krieges 1806 zu verdanken war. Plötzlich veränderte sich indeß die Situation.

Durch die rücksichts­

lose Verletzung des preußischen Gebietes von Seiten der Franzosen sah sich der König gezwungen, endlich den Vorstellungen der verbündeten Mächte

nachzugeben, welche der Kaiser von Rußland durch sein persönliches Er­

scheinen in Berlin am 30. Oktober unterstützte.

Schon am 4. Oktober

waren sämmtliche Anträge Frankreichs zurückgewiesen. kam mit den

Stande.

Am 3. November

beiden verbündeten Kaisern zu Potsdam ein Vertrag zu

Die Wahl des Bevollmächtigten, der Napoleon das Ultimatum

des Königs überbringen den Mann der Neutralität.

sollte, fiel leider auf den Grafen Haugwitz, Erst am 11. November erhielt er seine Voll­

macht, am 13. erst den französischen Paß.

Mit Begeisterung folgte Rüchel dem Rufe seines Kriegsherrn, der ihm den Befehl über eine Heeresabtheilung übertrug, welche in Hannover,

welches vorübergehend in Preußens Hände gekommen war, zusammengezogen wurde.

Endlich war die Zeit gekommen, wo der Bann sich lösen sollte,

der schon so lange auf jedem patriotischen Herzen lastete.

Frankreich, das

übermüthige Frankreich, das nur Verträge schloß, um sie nach einer kurzen Spanne Zeit zu brechen, sollte sich jetzt überzeugen, daß das theure Vater­

land, der Staat Friedrichs deS Einzigen, noch in alter Größe und Kraft

dastand und sich eines wortbrüchigen Feindes erwehren konnte. Bor allen Andern fühlte Rüchel sich freudig durch diese Aussicht ge­

hoben.

Wie oft hatte er den König bestürmt, nicht so lange zu warten.

Rüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798—1823.

124

bis Napoleon ihn mit Krieg überziehen würde, sondern sich seine Zett

zu wählen, da ein Kampf nicht zu vermeiden wäre. Jetzt bot die Verletzung des preußischen Gebiets durch Bernadotte

einen gerechten Anlaß.

Das kriegsbereite Heer stand an den Grenzen,

deS Befehls zum Angriff gewärtig. Aber auch jetzt sollten dem kurzen Sonnenblick freudiger Hoffnutig

bittere Stunden der Enttäuschung folgen.

Unthätig mußte Rüchel in Gotha

stehend zusehn, wie Oesterreich im ungleichen Kampf unterlag, ehe noch die Russen dem Bundesgenossen zu Hülfe kommen konnten.

Er hatte

vergeblich noch einmal gewagt den König zu einem Entschluß zu bestimmen,

indem er ihm einen kühnen Angriffsplan vorlegte, von dem er sich den

besten Erfolg versprach.

Graf Haugwitz war in das Lager Napoleons

befohlenermaßen langsam gereist, damit bei Ueberreichung deö Ultimatums auch die Mobilmachung vollendet sei, und der Krieg beginnen könne.

Bald

nachdem er angekommen, ward die Niederlage der Oesterreicher entschieden,

und Haugwitz, statt seiner Ordre gemäß das Ultimatum zu überreichen, unterschrieb ohne dazu bevollmächtigt zu sein, den Vertrag von Schönbrunn. Was half es nun, daß Rußland jetzt wie früher Oesterreich seine

Hülse anbot und daß seine Heere inzwischen dem Kampfplatz näher gerückt waren? Der König konnte sich nicht entschließen, seinen Minister zu deS-

avouiren.

Der Vertrag wurde ratificirt.

Preußen ließ sich seine Will­

fährigkeit, wie bekannt, mit Hannover bezahlen. Eine spätere Sendung Haugwitz nach Parts mit Vorschlägen zu einer

für Preußen möglichst günstigen Auslegung jenes Vertrages, hatte nur die Folge, daß Napoleon demselben noch viel härtere Bedingungen hin­

zufügte.

Denn ihm war es gelungen, durch ein freundliches Schreiben

an den König diesen so weit zu täuschen, daß er, um die bei dem trau­ rigen Zustand der Finanzen allerdings sehr drückenden Kosten-zu sparen,

eine Demobilisirung der Armee angeordnet hatte.

Man glaubte auch

wohl, dadurch, wie durch die gleichzeitige Benachrichtigung nach Rußland,

daß keine Kriegseventualität mehr vorhanden sei, und deßhalb auch kein Grund für die russischen Truppen weiter vorzurücken, sich den französischen Machthaber günstig zustimmen.

Wieder erschien Haugwitz in Berlin mit einem Vertrag, bei dessen

Unterzeichnung er von neuem seine Instructionen überschritten hatte und vermehrte dadurch die Entrüstung, die ohnehin sein Benehmen in dieser

ganzen Angelegenheit erweckt hatte.

Der König theilte wohl Anfangs

diese Gefühle, wußte aber doch, nachdem er eine Rathsversammlung von

Staatsmännern und höheren MilitairS berufen hatte, nichts anders in dieser mißlichen Lage zu thun, als den Vertrag zu unterzeichnen.

Selbst

die Generale konnten, sowie die Verhältnisse jetzt lagen, zu keinem Kriege rathen, und nur diese Wahl blieb, wenn der Tractat nicht unterzeichnet

wurde.

RüchelS Aufregung und Entrüstung zeigt sich deutlich für die, welche seine Schreibweise näher kennen, in der Wunderlichkeit des Stils seiner

motivirten Unterschrift, sie lautet. „Rüchel: da alle beide große glückliche Tempo'- von un- nicht er­

griffen worden sind, eine glücklichere Situation für Preußen zu erzeugen,

da die Truppen schon auseinander gezogen sind und die Alltirten nach

Hause, die Franzosen in Hannover auf keinen Fall geduldet werden können, die Schwierigkeiten deS CommerzeS sich moderiren lassen, Rußland schwerlich

deßhalb den Krieg machen wird nach den Äußerungen deS Kaisers Alexander; so scheint dies beschlossene Resultat als eine natürliche Folge der ersten

manquirten Handlungen nothwendig ä, Condition, daß die Franzosen

ihre Truppen aus dem deutschen Reich ziehn (durchaus) .und die Art der Erfüllung einer künftigen Defensiv-Alliance nicht übertreten, außer der mensch­

lichen Klugheit noch in der Hand der Vorsicht."

Den 24. Februar 1806.

Mit den trübsten Vorahnungen war Rüchel in das neue Jahr ge­ treten die sich ja leider alle erfüllen sollten I

Zu einem seiner Adjudanten

hatte er damals geäußert, „zum letzten Mal hat der schwarze Adler seine

Flügel über uns geschwungen und uns zu Thaten gemahnt, diese Gelegen­

heit wird nie wiederkommen."

Auch schon zu Ende deS vorangehenden Jahres und während seiner Anwesenheit in Gotha hatte eine tiefe Niedergeschlagenheit das sonst so

fröhliche, leicht Hoffnung fassende Gemüth deS Generals ergriffen, davon

zeugt auch ein Brief an den Herzog von Braunschweig, den er am 13. Januar 1806 von dort aus, kurz vor dessen Sendung nach Rußland,

schrieb:

„Einliegend

einige

an Ew. Herzogliche Durchlaucht eingelaufene

Schreiben wovon das eine unentsiegelt ist, weil ich solches für einen Privatbrief halte.

Unter dem eingetretenen Spiel des Schicksals halte ich es für ein großes temporelleS Glück, daß wir die Art Nachbaren aus Hameln und Hannover los werden. Wahrscheinlich werden wir die Ordres zu den Truppenmärschen den

22. dieses allhier erhalten und aus Rücksicht auf die Verpflegung unge­ säumt ausführen.

Ich wünsche Ew. Herzoglichen Durchlaucht die glücklichste Reise — die

glücklichsten Erfolge bet der unbedingt wichtigen Expedition. Möge Ew. Herzogliche Durchlaucht ruhen unter den freundlichen

126

RIichel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798 — 1823.

Palmen, wenn Ihr thatenreiches Leben, nach meinen Wünschen erst spät,

den großen Weg zur Unsterblichkeit wandelt. Daß gebe Gott vor dessen Thron wir uns wahrscheinlich 'wiedersehn werden, dann werden alle Irrthümer sich auflösen und alle Gegensätze ver­ söhnen.

Mit tiefster Ehrfurcht E. v. Rüchel.

Auch Rüchel kehrte, sobald die Truppenmärsche begonnen, nach Berlin

zurück, wo er jener zuletzt erwähnten Rathssitzung beiwohnte.

Er erkl^'te

später, daß er nie in seinem Leben mit schwererem Herzen seinen Rai «n unter ein Schriftstück gesetzt habe, als unter dieses Protokoll.

War er nun schon gegen den Herzog von Braunschweig verstimnit,

dem er einige Mitschuld bei der schwankenden Politik beimaß, so war

er es natürlich noch viel mehr gegen den Grafen Haugwitz, welchen er ebenso wie Lucchesini für die bösen Genien Preußens erklärte.

Nachdem

der Graf von jener Pariser Mission nach der Hauptstadt zurückgekehrt war, nahm er die ihm von dem Grafen dargebotene Hand, in öffentlicher Gesellschaft, nicht an, sondern wandte ihm den Rücken zu, indem er ihn auch sonst völlig ignorirte.

Ja, unter den Augen des Monarchen weigerte

der General sich an der königlichen Tafel den ihm angewiesenen Platz neben jenem einzunehmen.

Unter diesen Verhältnissen, die um so peinlicher waren, als wie das

unter den obwaltenden Umständen nicht anders sein konnte, Haugwitz an Hardenbergs Stelle getreten war, suchte Rüchel natürlich seinen Aufenthalt in Berlin möglichst abzukürzen.

Er war eben im Begriff nach Königsberg

abzureisen, denn seine dortigen dienstlichen Verhältnisse hatten nur eine zeitweilige Unterbrechung erfahren, als ihn ein Befehl des Königs zurück­ hielt.

Er ward so gezwungen, die Geschäfte des Gouverneurs der seinem

Befehl unterstellten Provinz von dort aus, so gut es gehen wollte, zu be­ sorgen, während er auch mit andern Aufträgen beehrt wurde, die erneuete

Zeichen von des Herrschers Vertrauen und Huld waren. Später erhielt er Erlaubniß, mit Mitnahme von zwei Adjutanten, die preilßischen Angelegenheiten von seinem Gute Hasseleu in Pommern

aus, zu besorgen.

Es liegen verschiedene Schriftstücke von dort datirt

vor, wie auch Schreiben aus Preußen die dahin adressirt sind.

So theilt

von Auerswald, Königsberg unterm 31. März 1806, dem Gouverneur ein Protocoll mit, das in Betreff der Sicherung des Pillauer Hafens gegen feindliche Schiffe durch eine Commission ausgenommen wurde.

Aber auch jetzt, wie im Herbst des verflossenen Jahres, wurde das energische Handeln Rüchels zu dem er, wie durch seine eigene Einsicht,

auch durch die Commandeure der dort stehenden Truppen und durch die Behörden gedrängt wurde, nicht immer gebilligt.

Die Unterhandlungen,

die das Cabinet nach verschiedenen Seiten hin unterhielt, nöthigten zur Vorsicht.

Mehrere CabinetSschreiben, in diesem Sinn abgefaßt, sind in

dem oft erwähnten Heft „aus Rüchels Nachlaß" abgedruckt.

Der für Rüchel durch diese und

ähnliche Verhältnisse erwachsende

Verdruß wie besonders der Kummer über die verzweifelte Lage, in der sich das Vaterland befand, welches er durch die übelgeleitete Politik an den Rand deS Verderbens gebracht sah, hatte seine Gesundheit erschüttert, und den ©einigen Anlaß zu großer Besorgniß gegeben, da sic ein Nerven­

fieber befürchteten.

Der König erwähnt diese Krankheit mit großer Theil­

nahme und Bedauern in einem Schreiben vom 31. Mai 1806.

Neben den preußischen Angelegenheiten scheint Rüchel auch die Pro­ vinz Hannover im Auge behalten zu haben, als den Punkt, woher zunächst Er war der Meinung, daß dies Danaer-Geschenk in einer

Gefahr drohte.

oder der andern Art der Anlaß zu Verwicklungen werden würde.

Ein

Brief Hardenbergs an ihn, wie es scheint, eine Antwort auf Erkundigungen nach den hannoverschen Verhältnissen, ist vom 30. April 1806 datirt.

Noch bis Anfang August des Jahres 1806 blieb Rüchel, der in­

zwischen genesen war, in Hasseleu,

als ihn eine Stafette am 9. August

nach Berlin rief.

Wir finden ihn am 14. dort, denn von dem Tage ist eine Eingabe datirt, die er als „Skizze des Augenblicks" bezeichnet.

Er schreibt darüber

an Hardenberg. Berlin den 15. August 1806. Die Abschrift des MemoireS, welches ich während meinem kurzen

hiesigen Aufenthalt und dem Wirrwar in dieser Nacht schrieb und heute

dem Könige selber vorlas und darauf übergab, vertraue ich Ihrer Hand, meine würdigste Excellenz, da ich höre, Sie sind eben angekommen und meine Extra-Pferde schon seit zwei Stunden parat stehn, um per Potsdam und Hannover zur Armee abzureisen.

Sie ersehen daraus alles mit einem

Blicke. — Höfliche affirmative Antworten in genere, jedoch ohne einen

freundlichen Blick, habe ich erhalten und bin einigermaßen getröstet, wenn die Tendenz bleibt, die ich verlasse.

Haben Sie die Güte und nehmen,

aber eigenhändig, von diesem fehlerhaften Exemplar eine Abschrift, die

zeigen Sie Stein, wenn er kömmt, damit er sieht, daß ich mein Wort hielt.

Dann aber zerreißen Sie Ihr Exemplar und schicken mir das neue

durch sichere Gelegenheit.

Ich denke, wir meinen es wirklich gut Adieu! Ihr Freund Rüchel.

Skizze des Augenblicks am 14. August 1806. „Der Vorhang ist aufgezogen. Schneller als man glaubte, doch sichtbar genug, um jedem Denkenden aller entgegengesetzten Parteien die überklare Preußische Jahrbücher. $b. XLVII. Heft 2.

9

Rllchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798 — 1823.

128

Ueberzeugung nur zu deutlich aufzudrängen, daß die jetzige Regierung von Frankreich keines Systems fähig ist, welches sich eine gewisse Grenze steckt, die da endlich einmal, sei eS auch nur auf einen mäßigen Zeitraum, die

Ruhe der Völker sichert, sondern daß solches mit seinen vagsten Bahnen

bis ad Indefinitum fortschreitet, wenn nicht ein anderes Schicksal oder

die Gewalt ihnen Grenzen setzt.

Frankreichs jetzige Tendenz ist nicht blos

die, bei der Despotie über das südliche Deutschland stehen zu bleiben, so unangenehm, so völkerrechtswidrig,

so nachtheilig und

gefährlich diese

Despotie an und für sich auch schon ist; sondern Frankreich greift Preußen an das Herz, es bedroht Hessen und Sachsen wider die heiligsten seiner

Versicherungen.

ES bedroht das nördliche Deutschland, um Preußen von

jeder deutschen Mitkraft völlig zu isoliren, um ganz Deutschland in eine französische Provinz zu verwandeln, die da als Sklaven in seinem Dienste für die fernere Ausbreitung seiner Universal-Monarchie arbeiten sollen,

auf die Art mit seinen Kriegsheeren in der Mitte des Friedens Preußens Herzen, seiner Residenzstadt, sich zu nähern, wo es dann mit und ohne Prä­

text, in jedem Augenblicke Preußen überfallen und gleichfalls unterjochen

kann, zu gleichem Zweck, damit auch dieses Reich, dessen Heere umsonst

der Schrecken von Europa waren, gezwungen würde, endlich selbst wider seine letzten ihm übrig bleibenden Freunde für den Willen Frankreichs zu

fechten, zu unserem eigenen Untergange. Dies sind die traurigen, ob zwar von manchen Staatsmännern vor­

hergesagten, in unterschiedenen meiner eigenen Memoires erörterten Folgen der Unterlassung unserer thätigen Theilnahme an dem Schicksal Europas,

dem Preußen

allerdings zu seiner Zeit eine glückliche Wendung geben

konnte, wenn es die Augenblicke benutzte, welche ihm das Schicksal verlieh, und durch seine aktive Kraft sich in Europa Vertrauen, Ansehen und Freunde erwarb.

So wahr dies ist, so isolirt wir auch jetzt stehn, so

entsteht dennoch die Frage: kann und darf Preußen diesen letzten Verlust

des ganzen nördlichen Deutschlands überhaupt, in specie aber den von Sachsen und Hessen, wenn wir unsre Existenz lieben, dulden oder nicht?

Unsere geographische Lage, gesunde Vernunft, die Kenntniß von dem jetzigen

ewig fortschreitenden französischen Systeme sagt mit aller Bestimmtheit: Nein!

Wir können es nicht, ohne unseren gewissen gänzlichen Ruin für

immer, ohne daß Preußens Namen gebrandmarkt werde bei der Welt und Nachwelt.

Also den Krieg, den alle Vorsicht nicht vermieden, sondern vielmehr also herbeigeführt hat, Energie und männliche Entschlossenheit ohne Rück­ sicht auf Folge? für jetzt

Die einzige Möglichkeit, den nördlichen Krieg vielleicht

in einen Waffenstillstand von einigen Jahren zu verwandeln,

könnte

sein,

wenn Frankreich sich

mit

dem Kaiserthum des

südlichen

Deutschlands begnügte, eine reinere Demarkation zwischen sich und Preußen

zöge,

Preußen

effectiv das Protektorat über daS nördliche Deutschland

einräumte, und für allen Dingen seine Truppen aus Deutschland gänzlich in das Innere von Frankreich zurückzöge: dann würde dennoch das Bild einer neuen stillen Rüstung entstehen, und unsere Verkettungen vielleicht mehr begründet werden können, mit Rußland, Oesterreich, Dänemark,

Sachsen, Hessen, England und auch vielleicht Schweden.

Aber die Frage

entsteht nun, ist dieses von einer Regierung der Art zu erwarten, oder

überhaupt zu hoffen, durch bloße Worte oder diplomatischen Wust?

Vernunft zweifelt!

Vielleicht sind wir schon

Die

in diesem Augenblick zu

nachthetlig surprenirt für eine erste glückliche Kampagne, und nur die

ernsten kriegerischen Maßregeln können einzig beschützen unsern Heerd und unsere Ehre.

Hierzu sind nun die ersten Schritte militärisch geschehn, so wie meinem einseitigen Urtheil es scheint, mit vieler Vernunft und Zweckmäßigkeit. Die ferneren Schritte können nur geleitet werden durch das Gesetz der

Nothwendigkeit, durch scharfe Beobachtung und Schnelligkeit und durch die Zeit, die uns ein so schneller Gegner zu unserer Versammlung übrig läßt.

Sachsen und Hessen festhalten, insoweit eine menschliche Kraft solches über­

zeugend diplomatisch und militärisch vermag, dies bleibt ein Gegenstand

der allergrößten Wichtigkeit.

Außer den festen Ueberzeugungen, die ihnen Ew. Königliche Majestät auf das Allerbündigste für ihre Erhaltung und Vertheidigung selbst mit aller Ihrer Aufopferung geben, wird ein verständiger Officier als MilitärGesandter, und das Approchement unserer Truppen zu dieser für uns günstigen Stimmung das ihrige beitragen.

Das Approchement für Sachsen

geschieht durch das Heranrücken unserer schlesischen Truppen, und daS Ver­

trauen, welches der Kurfürst setzt in die Person des Fürsten von Hohen­ lohe, der sie kommandirt hat.

Der Major Graf Götzen und der preußische

Gesandte würde diese gute Stimmung bis zu der Vereinigung mit unseren Kriegsherren möglichst zu unterstützen suchen. Mit Hessen ist das schwieriger

wegen seiner exponirten Lage und dem schwankenden Charakter seines Kur­ fürsten.

Vorläufig hätte er den General von Blücher ä portöe in Pader­

born, wenn er glücklich noch dort hinkommt, sich mit ihm zu vereinigen,

und zur Reserve die hannoversche Armee.

Weil es aber in dem Laufe

des Krieges nicht möglich ist, ewig Hessen unter allen Umständen zu decken, so wenig als sein eignes Land, so würde der dorthin gehende Officier z. B.

der Major von Knesebeck alle ersinnlichen vernünftigen Vorstellungen dieses

Begriffes in feine Verhandlungen legen.

Nüchel unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798—1823.

130

Zu dem Vertrauen von Sachsen und Hessen, von Europa wird bei­

tragen, wenn die Berliner und Potsdamer Garnison so schleunig

als

möglich vorrücken, um interimistisch eine Kurtine zu bilden zwischen Han­

nover und Sachsen, welches Corps dann seine Wirkung vereinigt nach derjenigen Seite, wo solches die Operation nothwendig macht. Dingen

Für allen

aber, daß Ew. Majestät mit Ihrer Person mit diesem Heere

gehen, vorläufig bis auf den Centralpunkt von Magdeburg mit denjenigen Personen, die zu der Führung der Geschäfte von Nöthen sind, denn in

der Entfernung von der Armee sind schlechterdings nie zweckmäßige Befehle zu ertheilen.

So wird in einer leider späteren Zukunft die westpreu­

ßische Reserve von Cüstrin nach den nöthigen Punkten wohl geleitet werden.

Der Charakter unserer Operation, wenn nur erst einiges Tableau

da ist, muß sein ein wirksamer Bewegungskrieg: mit Corps zu observiren, en mässe angreifen und entscheidend schlagen zu können.

Giebt die Vor­

sicht Glück, so können noch Evenements für uns eintreten durch ernste Theilnahme anderer Puissancen, die für uns glücklich und günstig sind.

Denn das Glück pretirt sich nur dem Kühnen.

Sind wir anfangs bei

zu schwachen Kräften unglücklich, so ist die Ehre doch gerettet, und wahr­ scheinlich noch Rußland, so spät es auch ankommen kann und mag, unser

letzter und wuchtiger Freund.

Auf jeden Fall ist Rrißland ä port6e, den König von Schweden zu zügeln, falls er sich nicht besinnt; oder auch Oesterreich int Zaume, zu

halten, falls wider alles menschliche Denken auch von ihm ein heimtückischer Streich sich entspinnen könnte.

Von England bedürfen wir wohl eine

Geldunterstützung, deren Neigung vielleicht herbeizuführen bei alle dem noch in dem Reiche der Möglichkeit liegt. Alle diese Presumtionen der Theilnahme der andern Mächte, solche

mag früher oder später, oder von einigen auch gar nicht erscheinen, und

mit ihr ein fester Bund zu einer stärkeren Sicherheit, müssen von uns, und zwar schleunig, herbeigeführt werden.

rasten, nicht einen

Wir müssen nicht ruhen und

einzigen Augenblick verlieren,

geschweige denn

Stunden und Tage damit wir uns selbst sagen können, wir haben

unsere Schuldigkeit gethan.

Nach einem mit der äußersten Klugheit

und Wärme abgefaßten Publikande, mußte schleunig an diese alle eine Meldung geschehn, und die übrigen Höfe von Petersburg, von Wien, von Kopenhagen, von London; sie eingeladen werden zum Beistände und sie

ersucht werden, kriegserfahrene Officiere in das Hauptquartier des Königs

zu senden, um sich von dem Gange der Operation selbst zu überzeugen;

so zum Beweis könnte sich österreichischer SeitS dazu der General von Stutterheim vorzüglich eignen.

Das Geschütz aus dem Berliner Arsenal wird wohl schon so ziemlich bei der Armee und in den Festungen sein, indessen, ob wir solches zwar nicht hoffen wollen, können in dem Fortgang der Sachen, weil jetzt schon

die Sensation nachtheilig sein werde, zur schicklichsten Fortbringung der

nützlichsten Staatötheile einige Reserve-Dispositionen, ganz im Stillen, durch einen sachkundigen patriotischen Mann vorbereitet werden.

Aber so nothwendig, so unumgänglich nothwendig alle diese Gegen­ stände auch, zu der allgemeinen Kette der Konsiderationen gehören, wenn

das große Hazardspiel keine Lücke behalten soll; soll ich die Wahrheit zu dem Könige meinem Herrn reden, oder aus Menschenfurcht schweigen?

Doch die Wahrheit in einem so wichtigen Moment nicht reden wollen, wo die Erhaltung oder Unterjochung des Staats auf dem Spiele steht, wäre Hochverrath gegen den König und das Vaterland; sie sei also ge­

sagt, diese unangenehme Wahrheit! — Einige der nächsten Staats­ diener um Ew. Königlichen Majestät höchste Person besitzen nicht das Ver­

trauen der Nation, sondern das Mißtrauen, die Verachtung von den Un­ terthanen, von Deutschland, von Europa.

Ohne die Wirkung auf den

Geist, auf die Gemüther der Menschen, auf. das allgemeine Vertrauen,

reift keine Handlung zu einer großen That, der Graf Haugwitz besitzt dieses Vertrauen nicht, dies weiß die Welt, so wenig als der Geheim-

Kabinelsrath Lombard, so schön er auch schreibt und so angenehm er auch witzelt.

Ich bitte, ich beschwöre Ew. Königliche Majestät aus reinem

Herzen, verachten Sie nicht die Stimme des Publikums, die Sie sonst

ehrten und die in diesem Theil durch mich lediglich zu Ihnen redet, um Ihres eignen Ruhms und Ihrer eigenen Glückseligkeit, ja Erhaltung

willen, und wählen sich zwei Minister der auswärtigen Angelegenheiten,

die das Vertrauen der Nation und der Welt haben, so wie sie der Staat

von Anbeginnen her und selbst unter Friedrich dem Großen gehabt Hai. — Hardenberg und Keller würden diese Männer sein; und deklariren Aller­

höchst dieselben auch diese Wahl, nicht sofort in diesem Moment, so haben Sie doch die Gnade, solches von dem Augenblick an zu thun, wo der Krieg mit Frankreich ernstlich losbricht und beginnt.

Sekretair findet

sich in jedem Augenblick.

Ein

Ein französischer

einziger Kabinetsrath,

Beyme, oder wer es sei, ist durchaus, bei aller Arbeitsamkeit zu wenig

für das große Geschäft, muß stets passiren für einen über seine Gebühr

Einfluß habenden Mann, und die Ehre Ew. Königlichen Majestät leidet dabei so unumstößlich wahr, als ich zu Ihnen rede, und jeder redliche ein­

sichtsvolle Mann stimmt meiner Aussage, meinen Wünschen bei.

In den

jetzigen Zeiten ist das nicht genug; es muß auf den niedergeschlagenen Geist, auf das sinkende Vertrauen der Nation mächtig gewirkt werden.

Rüche! unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. 1798—1823.

132

Herr Beym? selbst hat diesen Vorschlag einmal gewünscht; ziehen Ew.

Königliche Majestät einen Mann von Rang, Ansehen, Ehre, Festigkeit

und Vertrauen anjetzt mit in Ihren Rath.

Schulenburg hat leider das

Schicksal, sich mehrmals zu entfernen, wenn der Wirbel der Zeiten droht. Minister vom Stein ist dieser Mann von großen Ressourcen und männ­

licher Kraft.

Ew. Königliche Majestät wecken Ihre brave Ration auf und

An dem General Pfull haben Ew. Majestät

verleihen ihr neues Leben.

einen vortrefflichen Analytiker zur Mithülfe der großen Operation.

Dieses alles wollte, ich schärfer zergliedern in meiner Einsamkeit;

allein Krankheit und Chagrin versagten mir die Kräfte.

Jetzt ist der Fall

der Roth vorhanden, und die Sache leidet keinen Aufschub.

Meine gute

redliche Absicht übrigens werden Ew. Königliche Majestät, ich hoffe es,

niemals verkennen,

v. Rüchel."

Wie der Inhalt dieser Vorstellung an den König fern von dem Uebermuth und der Siegesgewißheit ist, die man sich gewöhnt hat Rüche! nach zu sagen, so sind es auch verschiedene Briefe aus dieser Zeit, die er an

die Seinen geschrieben hat.

Am 15. August klagt er seiner Gemahlin,

wie trübe alles in Berlin, sei.

Die Contenence sei verloren, er hoffe

nicht die Courage, obschon er selbst zuweilen fürchte, auch diese zu ver­

Er wünscht sich, daß eö ihm

lieren, Angesichts der traurigen Zustände.

gelingen möchte, seine Augen gegen Alles um sich her verschließen zu können, und nur auf seine militairische Aufgabe zu sehn, welche die sei, zu siegen

oder zu sterben.

Ein Feldherr, der nicht des Sieges gewiß sich fühle,

sei schon halb geschlagen. vertraue.

Er klagt, daß der König so wenig sich selbst

Weil die Entschlossenheit fehle, könne er selbst so wenig Hoff­

nung fassen.

Dann wünscht er sich verstecken zu können vor all dem

Jubel und den Aeußerungen thörichter Zuversicht. — Weiter schreibt er, daß man noch eigentlich nicht an den Krieg glaube und thue doch alles

um ihn jetzt hervorzurufen, wo nichts so vorbereitet sei, wie es nöthig sei

und wie eS im vorigen Herbst gewesen.

Es würden überdies nur halbe

Maßregeln ergriffen, dir die beste Armee zu Grunde richten müßten*). *) Hardenberg urtheilt ähnlich über die damalige Situation und daß Rüchel wohl der Mann dazu gewesen wäre, die Armee einheitlich zu leiten, daß er aber damals nicht den nöthigen Einfluß beim König beseffen hätte.

(Fortsetzung folgt.)

Karl Wilhelm Göttling und sein Verhältnis zu Goethe. Der von Kuno Fischer herausgegebene Briefwechsel*) zwischen Goethe

und K. W. Göttling ist in mehr als einer Beziehung erfteulich.

Der

Dichter, dessen Verdienst um die richtige Würdigung des klassischen Alter­ thums gar nicht hoch genug geschätzt werden kann, zeigt sich hier in freundlich

entgegenkommendem Wohlwollen gegen einen jungen Philologen, dem er die Bibliotheksverwaltung in Jena anvertraut hat und dann (1825) die ehrenvolle Aufgabe stellt, bei der großen Ausgabe seiner Werke der (Aus­ gabe letzter Hand) den Text sorgfältig durchzugehn, zu korrigieren und über

zweifelhafte Stellen den Verfasser zu befragen.

Neben der hierauf be­

züglichen Correspondenz kommt aber auch mancher andere Punkt der Alter­ thumswissenschaft zur Sprache.

Die von Goethe für GöttlingS Arbeit

gesandten Gaben „metallischör Art", helfen bald darauf den jenaischen Professor reisefertig für Italien machen und er berichtet von da auS seinem

Gönner in der vollsten Freudigkeit über die im „gelobten Lande" empfan­

genen Eindrücke, zum Dank dafür, daß einem im Schulstaube fast er­ stickten Professor von Jena dadurch zu reiner Luft verholfen und seinem Leben ein Hintergrund gegeben sei, der ihn im Alter nicht verderben lassen werde.

Seine vier langen Retsebriefe sind ein sprechender Beleg dafür,

wie dem empfänglichen Gelehrten wesentlich auch durch den Dichter die Augen geöffnet waren für die Natur und die Kunstschätze deö Südens. Aus seinen Darstellungen aber spricht zugleich eine kernig frische und freie

Persönlichkeit zu un6; die wohl Anspruch auf das Gedächtniß der Nach­

lebenden hat. In sehr verschiedener Weise vermag ein hervorragender Lehrer und

Forscher auf seine Schüler zu wirken.

Bahnbrechende Entdeckungen oder

die Gewöhnung an eine Arbeitsmethode, welche zu bedeutenden Ergebnissen

der eignen Studien führt, werden dem UniversitätSdocenten am sichersten *) München Bassermann 1880.

Karl Wilhelin Göttling und sein BerhältniS zu Goethe.

134

die Bewunderung seiner Hörer verbürgen und ihn befähigen eine eigne Schule zu begründen.

Dessen hat sich Göttling nicht rühmen können.

Bahnbrechend sind seine Arbeiten nirgends.

Selten vermag er durch

zwingende Beweisführung zu überzeugen und nachhaltige Förderung hat die Philologie durch seine Schriften nicht erfahren.

Auch sichere Methode

des Forschens ist seinen stets anregenden und geistvollen Arbeiten kaum nachzurühmen. — Aber es giebt noch eine andere Wirksamkeit des Lehrers, die nicht minder wichtig ist: eS ist der unmittelbar persönliche Einfluß, durch den er jugendliche Gemüther zu gewinnen und mit Liebe für die

Wissenschaft zu entzünden vermag.

Diese Kraft geistiger und gemüthlicher

Anregung nun muß Göttling in ungewöhnlichem Maße besessen haben.

Zeugniß davon haben sehr glaubwürdige Freunde und Schüler abgelegt. Unter den ersten steht Kuno Fischer voran.

Als er unmittelbar nach

G's. Tode die von dem Verstorbenen veranstaltete Sammlung seiner aka­

demischen opuscula mit einem warm und schön geschriebenen Vorwort be­

gleitete, rühmte er ihn als „einen der vortrefflichsten unb innerlich reichsten Menschen, die man sehen konnte und die in der Nähe kennen zu lernen

schon darum eine Wohlthat ist, weil man solche Menschen nicht kennen

lernt, ohne von ihnen zu empfangen und geistig erquickt zu werden."

Er

schilderte, wie Göttling im Alterthum eine Heimath gefunden habe und von dem Wohlgefühl dieser Heimath durchdrungen gewesen sei, wie sich

das in sprudelndem Humor, in herzlichster Fröhlichkeit äußerte und mit gemüth-

und phantasievoller Innigkeit verband.

Weil er aber die Ge­

genstände seiner Studien im eigenen Innern durchlebte, sei ihm jene außer­

ordentliche Anziehungskraft eigen gewesen, mit der er fast ein halbes Jahr­

hundert in der Stadt wirkte, welche schon der Schauplatz seiner Kindheit gewesen war.

Jedenfalls hat er hier dem philologischen Studium einen

neuen Aufschwung gegeben und der Greis genoß später als eine Art gei­ stiges Haupt der Universität bis zu seinem Tode 1869 allgemeinster Ach­ tung und Verehrung..

Zu Göttlings Schülern aber gehörte Ghmnasialdirector Lothholz

in Stargard, der seiner Pietät gegen den einstigen Lehrer in einem bio­

graphischen Aufsatz Ausdruck gab, den das dortige Ghmnasialprogramm von 1876 brachte.

Wir können Göttling's Leben hier bis zum Antritt

der Jenaer Professur verfolgen.

Er war 1793 in Jena geboren, wo

bereits sein Vater Professor war und sich durch seine Kenntnisse — er lehrte Chemie — bis zu seinem Tode 1809 Goethes Anerkennung erwarb.

Dann

erhielt der Sohn in Weimar seine Ghmnasialbildung, wo

u. a. Passow und Joh. Schulze seine Lehrer waren.

Angeboren war

ihm ein starkes Gefühl für Selbständigkeit und Freiheit; sein Charakter

entwickelte sich zu vollster sittlicher Festigkeit.

Mit lebendiger Theilnahme

an der großen vaterländischen Sache machte er als reitender Jäger den Feldzug von 1814 mit; ein frischer Zug patriotischer Begeisterung blieb fortan in der Brust des Heimgekehrten lebendig.

So dichtete er kräftige

Lieder, die wohl auch jetzt noch im Kreise der studirenden Jugend ange­ stimmt werden (z. B. Stehe fest, o Vaterland; Rheinwein nur aus Römer­

bechern trinket u. «.).

Ein wenig ergriff ihn auch die Deutschthümelei der

Er hatte den Turnvater Jahn persönlich kennen gelernt; er erwärmte

Zeit.

sich für die Herrlichkeit deö deutschen VolksthumS und schrieb einige ger­

manistische Abhandlungen. lungenliede.

So suchte er nach dem Geschichtlichen im Nibe­

Wenn er aber in den Nibelungen und Wölsungen der Sage

durch kühne Combination die Ghibellinen und Welfen nachweisen wollte,

widersprach ihm Wilhelm Grimm und warf ihm die luftige Hypothese um; aber er erkannte zugleich an, daß Göttling mit schöner Liebe zur Sache, mit

Leben und Geist geschrieben habe*). Bald darauf führte die Wirksamkeit an einem Gymnasium ten viel­

seitigen Mann in das ihm gemäßere Gebiet des klassischen Alterthums zurück.

Von der gesegneten Wirksamkeit, durch die er in Rudolstadt die

burschikosem Treiben zugewandte Jugend für Griechenthum und deutsche Litteratur zu begeistern und idealem Streben in liberaler Weise zu ge­ winnen wußte, legen die Bekenntnisse eines Mannes Zeugniß ab, welcher

später ganz andere Bahnen eingeschlagen und mit fanatischem Hasse alle

freiere humanistische

Bildung verfolgt hat.

Heinrich Leo's Bericht ungeheuchelte Liebe

Trotzdem

spricht sich

in

und Verehrung für den

früheren Lehrer aus, mit dem er auch nachher in freundschaftlicher Ver­

bindung geblieben ist. — Weniger erquicklich als das Rudolstädter Schul­ amt gestaltete sich für Göttling das Directorat eines neu gegründeten Gymnasiums in Neuwied.

Daß die preußische Regierung dem jüngst ge­

wonnenen Rheinlande die Wohlthat

gründlicher Gymnasialbildung zu­

wenden wollte, war löblich; aber sie machte einen Fehler, den die Ge­ schichte deö Schulwesens nur zu oft zu verzeichnen hat, sie dotierte das

Gymnasium zu schlecht.

Die Meinung von der Lebensfähigkeit der idealen

Güter war so hoch, daß man die realen Vorbedingungen einer genügenden finanziellen Ausstattung der Schule zu gering schätzte.

Dazu kam nun

eine Sinnesweise in den Kreisen des rheinischen Publikums, von der man

ja nicht glaube, daß sie seitdem ausgestorben wäre.

Instinktiv witterte

ein gewisser Bestandtheil unseres Volks in der Verbreitung der Bildung,

welche auf das Alterthum, vor allem das hellenische, begründet und für *) Leipziger Litteraturzeitung 1817, Nr. 86.

Karl Wilhelm Göttling und sein Verhältnis zu Goethe.

136

die moderne, namentlich für die deutsche Litteratur und Geistesentwickelung bestimmend geworden ist, eine Macht, welche immer mehr mit dem faulen Schlendrian der Alltäglichkeit aufräumen möchte und das Recht idealer

Güter gegen die ausschließliche Herrschaft der materiellen Interessen verficht.

Nur diese letzteren aber wußten die Bürger von Neuwied zu würdigen. Der Haß gegen die Zumuthung des neuen Ghmnasialdirectors, daß die

Jugend vor allem auch tüchtig Griechisch lernen solle, nahm ganz eigen­

thümlichen Ausdruck an.

Die griechischen Buchstaben verdürben die deutsche

Handschrift, schrieen die Philister.

Als der Magistrat unentbehrliche Geld­

mittel für die neue Schule hergeben sollte, versuchte er das an die Be­ dingung zu knüpfen, es möge der griechische Unterricht nicht mehr für alle

Schüler verbindlich sein.

Siegreich gegen solche Stimmung des Publikums

durchzudringen war unmöglich.

GöttlingS trefflicher Mitarbeiter, der

Historiker Friedrich Körtüm, später bis 1858 Professor in Heidelberg,

und er selbst baten schon nach zweijähriger Thätigkeit das rheinische Schul­

collegium um ihre Entlassung.

gemacht.

Der erstere hatte sich auch sonst mißliebig

Als ein Beamter sich in seiner Gegenwart wegwerfend über

E. M. Arndt äußerte — den ja die Regierung 1819 wegen zu freier

Gesinnung seines Amts enthoben hatte, — gab Kortüm dem Herrn eine tüchtige Ohrfeige.

Nun erhielt er ohne Anstand seinen Abschied.

Director freilich mußte noch einige Monate aüShalten.

Der

Erst August 1821

konnte auch er sein Amt niederlegen, um sich nach mehrmonatlichem Aufent­

halt in Paris in seiner Vaterstadt Jena zu habilitieren. Ohne Nutzen wird der Aerger, den das Scheitern des Neuwieder Unter­

nehmens Göttling brachte, für ihn nicht gewesen sein. Eine Abhandlung, welche er im Neuwieder Gymnasialprogramm 1819 über den Zweck humanistischer Bildung („die Gegenstände des Gymnasialunterrichts") erscheinen ließ,

beweist, wie sehr ihn gerade der Gegensatz gegen die abweisende Stim­ mung der Bevölkerung zu gründlichem Nachdenken über das Recht der

klassischen Studien in unserer Zeit angeregt hatte.

Noch heute liest mau

die kräftigen, schlagenden Worte gern, die er damals sagte und die für das kernig frische Wesen des Mannes bezeichnend sind.

Wie richtig war

eS zum Beispiel, wenn er aus dem Religionsunterrichte „das halbphilo­

sophische Schwätzen" verbannt wissen wollte, das in seiner Langweiligkeit bloß von narkotischer Kraft sei; wenn er in den alten Sprachen, im Deutschen und der Mathematik die für die Jugend wichtigsten Lehrgegenstände er­ kannte.

Von den ersteren behauptet er mit gutem Grunde, sie seien über

Wind und Wetter der Modethorheit hinaus; es sei ein schlimmes Zeichen für wahrhafte Bildung, wenn über zu vieles Griechisch- oder Lateinlernen

an Gymnasien geklagt werde.

Ein Gymnasium „will nicht betrachtet sein

als eine Sammlung von Leuten allerlei Gewerbes und Treibens, nicht als eine Menagerie von jungen Theologen, Aerzten, Jliristen, sondern es

will allen diesen ohne Ausnahme einen gleich haltbaren Grund der Bildung

verschaffen."

Wenn man verlange, daß der Unterricht auf das später zu

ergreifende Fach besondere Rücksicht nehme, könne man mit gleichem Rechte fordern, der Lehrer solle den Schülern hübsch nebenbei die Buchhalterei

oder das Pflügen beibringen.

So bestimmt ist Göttling dagegen, daß sich

im wissenschaftlichen Jugendunterricht „der Brotgeruch des künftigen bürger­ lichen Erwerbes" spürbar mache.

Sehen wir ihn bald darauf durch Goethe's Vertrauen geehrt, so

mögen ähnliche Meinungsäußerungen recht wohl dazu beigetragen haben. Denn daß „das Studium der griechischen und römischen Litteratur immer­ fort die Basis der höheren Bildung bleiben" müsse, war ja auch des

Dichters Ueberzeugung.

Aber er wäre auch trotz seiner Vorliebe für

die Naturwissenschaft mit dem verdammenden Urtheil einverstanden ge­ wesen, welches jener über den gewöhnlichen Unterricht in der Naturge­

schichte fällte, über die Darlegung des Nützlichen der Natur in systemati­

schem Vortrage,

über die „geripphafte Nomenclatur", in welche dieser

Unterricht so oft ausarte, vor allem auch über den Versuch, dem Gegen­

stand „eine religiöse Beziehung zu geben durch allerlei gutmüthige Hin­

deutungen auf die Allmacht und Güte Gottes, welche die Kraken des Nord­ meers versorge wie die Mülben des Moders". — Persönliche Beziehungen zu Goethe begannen, als Göttling in Jena

außerordentlicher Professor geworden war und nun September 1824, —

nachdem auch Knebel den etwas zaghaften dazu ermuthigt hatte, — seine Ausgabe der Politik des Aristoteles dem Manne zueignete, „dem sich die

wahrhafte Universalität des aristotelischen Geistes befreundet gefühlt haben

würde", wie keinem Manne der neueren Zeit.

Wenn er dann in dem

Dedicationsbriefe darauf hinwies, Aristoteles habe nach seiner philosophi­

schen Weise nicht gleich Plato das Ideal einer Staatsverfassung aufstellen

können, sondern nur die verschiedenen bestehenden Verfassungen dargestellt und gezeigt, „daß nur durch ein Mittel die wahrhaft gute Verfassung, die Aristokratie, im Leben darzustellen möglich sei, nämlich durch Erziehung", so wird Goethe der die Knaben vor allem zu Dienern erzogen wissen

wollte, solcher Idee gewiß innerlich zugestimmt haben. Mit diesem Schreiben beginnt nun der eben erschienene Briefwechsel.

Dazu hat das Goethe-Archiv 28, Göttlings Schwester 57 Briefe beige­ steuert, die zusammen freilich erheblich geringeren Umfang haben, als die

des Philologen.

Gedruckt war bisher nur Goethe's letzter Brief an Gött­

ling, worin er ihm September 1831 seine Freude ausspricht, daß er das

Karl Wilhelm Göltling und sein Verhältnis zu Goethe.

138

ihm angebotene Rectorat

der Schulpforte

abgelehnt habe*).

AuS den

Antworten Goethe's überzeugt man sich schnell, daß manches in Göttlings Briefen fehlt.

dem

Auf jenen ersten folgte ein Besuch GöttlingS bei Goethe,

er Vertrauen

eingeflößt haben muß.

Denn nun bittet ihn der

Dichter sich der eben begonnenen Ausgabe letzter Hand philologisch an­

zunehmen. DaS gab zu regem Meinungsaustausch Veranlassung.

Zur Kritik

über das ihm gesandte Manuskript aufgefordert, hat Göttling die ihm er­

theilte Erlaubnis in verlorenen Briefen offenbar mehrfach benutzt und mit

seinen Bemerkungen dem alten Herrn wiederholt Anschauungen herzlicher Zustimmung abgewonnen.

So muß er über Dichtung und Wahrheit ein

„die Betrachtung

treffendes Wort gesagt haben; denn Goethe erwidert:

über die Selbstbiographie ist sehr wichtig und erfreulich.

Es wäre schön

zu untersuchen, ob nicht Protestanten mehr als Katholiken zu Selbstbio­

graphien geneigt sind.

Diese haben immer einen Beichtvater zur Seite

und können ihre Gebrechen hübsch einzeln los werden, ohne sich um eine

fruchtbare Folge zu bekümmern; der Protestant im entgegengesetzten Falle trägt sich selbst die Fehler länger nach unb ihm ist es doch um ein sitt­

liches Resultat zu thun."

Daneben gehn sprachliche Bemerkungen.

Aus­

drücke wie „hantiren" und „die davon heulenden Wölfe" (in dem Zigeuner-

liede des Götz) bittet Goethe dem Oberdeutschen und Dichter freundlich

nachzusehn.

Der Flexion

„köstlichen Sinnes"

erklärt er sich nicht ent«

schlagen zu können; er nennt das eine Idiosynkrasie.

Der Grammatiker

hatte ihm also bewiesen, daß es heißen müsse „köstliches Sinnes".

Aber

immer mehr hat sich seitdem der Sprachgebrauch für das Falsche entschieden. Im Jahre 1827 erschien der I. Band der II. Auflage von Niebuhrs römischer Geschichte.

Gleich nach der ersten Lectüre hatte Goethe über

den Eindruck, den das Buch auf ihn gemacht, einige Zeilen für Niebuhr

auf ein Blatt geschrieben; er hatte eS in wenigen Tagen, Abenden und Nächten von Anfang bis zu Ende durchgelesen, nachdem er schon der ersten Ausgabe die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Triumph

Kritik".

der Wahrheit und erfreute sich

Er erkannte darin einen

an diesem „Musterbilde der

Nun machte ihm Göttling bemerklich, es wäre doch schön, wenn

über das Buch auch in der Zeitschrift für Kunst und Alterthum Bericht

erstattet würde,

„wenn" schrieb er, „die Geschichte eines Mannes, der

Ew. Excellenz Geiste gewiß verwandt genannt werden kann, auch öffent­ liche Anerkennung von Ew. Excellenz erhielte". — Doch fühlte Goethe

sich nicht im Stande, sich „auf den Grad zu sammeln, um über diesen

*) Goethe in amtlichen Verhältnissen von Bogel S- 400.

Gegenstand etwas wahrhaft Würdiges" zu sagen, und ersuchte Göttling um eine Besprechung des Buchs für die Zeitschrift.

Der kam der Auf­

forderung nach und erhielt darauf einen Brief, der begann: „Ew. Wohl­

geboren haben mir durch die Entwickelung des Niebuhrschen Werkes ein großes Geschenk gemacht; sie ist völlig nach meinen Wünschen und über meine Erwartnng; dabei so vollkommen klar und schön, daß man glaubt, man habe sie selbst schreiben können."

Bald darauf rüstete sich Göttling zu seiner italienischen Reise. Goethe schreibt ihm:

„auf die Reise freue ich mich in Ihrer Seele.

Wenn ich

einen Freund auf eine solche Fahrt sich bereiten sehe, ist es mir, als wenn

ich selbst einpacken müßte ihn zu begleiten."

Darauf ging der Professor

Anfang März 1828 über München nach Venedig.

Schon in der bairi­

schen Residenz machte er an sich die Entdeckung, daß er sich in den Ge­

mäldegalerien nicht recht heimisch fühlte, während ihm bei braven Sculpturarbeiten stets wohl wurde.

Wenn er das zum Theil auf die „furchtbare

Monotonie der greulichen christlichen Mythologie" schob, so empfand er auch hierin sehr ähnlich wie Goethe.

So nennt er denn die Glyptothek

eine einzige, wahrhaft königliche Anstalt.

Abendgesellschaft die Celebritäten des

Bei Thiersch sah er in einer

damaligen München:

Schelling,

Boisseröe, Cornelius rc.; dann hospitirte er in einer Vorlesung des christ­

lichen Mystikers Görres und versichert, er habe nie einen widerlicheren Vortrag widerlicherer Dinge gehört als dessen deutsche Geschichte, und der Docent habe den fatalen Eindruck noch durch beständiges Spucken, Kratzen des Kopfes und Rücken der Halsbinde verschlimmert.

Kein Wunder, wenn

sich die 500 Zuhörer, die er anfangs hatte, bald auf 50 verringerten.

H. Thiersch erzählt in der Biographie seines Vaters, Görres sei in einem Colleg über Universalgeschichte in einem

ganzen Semester nur bis zur

Sintflut gekommen. Von München ging GöttlingS Reise durch den Schnee der tiroler

Alpen.

Bald klangen die ersten italienischen Laute an des Reisenden Ohr.

Bedenklich genug sahen ihm in den Gaststuben die Maulthiertreiber und Vetturine aus, welche mit verdächtigen Gesichtern den scheußlichsten Stockfisch

verzehrten; aber mit diesen Gesichtern befreundete er sich bald, „denn zu einem Mantel, den der erbärmlichste Schuft mit einer gewissen Gravität umwirft, stehn sie gut".

An den Italienerinnen aber gefiel ihm, daß sie

die schöne Sitte haben, sich nicht zu schnüren „wie Felleisen". hing Werther und Lotte über seinem Bette.

In Padua

In Venedig schaffte ihm ein

Brief Goethe's Zutritt zum Grafen Cicognara, dem Schöpfer der academia delle belle arti.

Dort fand sich eine Gesellschaft zusammen; eine Gräfin

Albrizzi, die als die donna letterata der Stadt galt, bedauerte, daß

Karl Wilhelm Götlling und sein Verhältnis zu Goethe.

140

Se. Excellenz v. Goethe sich neüerdings nur 24 Stunden in Venedig auf­

gehalten habe; es sei ihr aber sehr schmeichelhaft gewesen, Nsit einem Be­ suche Sr. Excellenz beehrt worden zu fein.

In plumper deutscher Ehr­

lichkeit constatierte Göttling, daß Goethe seit fast 40 Jahren nicht dort gewesen sei; auf einen Wink des Grafen aber •stimmte er noch rechtzeitig

der liebenswürdigen Unverschämtheit zu. — Vier Wochen später war er in Rom.

„Wahrhaftig, das sind hei­

ligere Plätze/' ruft er aus, „als alle Kirchen, die aus dem Raube des Heidenthums erbaut sind."

Ein einsichtiger Führer war ihm für die To­

pographie wie für die Kunstwerke Eduard Gerhard.

Beim Anblick der

Peterskirche regte sich in dem deutschen Protestanten ein gewisser Trotz

gegen das große Gebäude, dessen Bau dereinst mittelbar den Protestan­ tismus hervorgerufen hatte und das nun seine zwei krummen Arkaden wie

ein paar große Krebsscheeren dem Ankommenden entgegenstreckt.

Dann

entzückte ihn das eben fertig gewordene Modell des Alexanderzugs in Thorwaldsens Werkstätte, während ihm Raphaels Fornarina nicht recht gefallen

wollte.

Er nennt sie eine Dame mit dickem Unterleibe, dünnen Ober­

armen und unzweckmäßigem Busen.

Im folgenden Monat führte den Reisenden sein Weg nach Sicilien

und Malta.

Neben der südlichen Vegetation imponirte ihm das Besondere

in der Form der sicilischen Berge, die ihm alle wie geköpfte Riesen vor­ kamen.

Als er eine Klosterbibliothek in Messina besuchte und sich über­

zeugte, daß dort schöne Handschriften alter Klassiker völlig ungekannt und unbenutzt lägen, fühlte er sich als rechtschaffener Bibliothekar versucht, einen Petronius für die Bibliothek in Jena vor den Augen der unwissenden Mönche verschwinden zu machen — aber die Gefälligkeit und Gutmüthigkeit

der feisten Brüder entwaffnete ihn.

Gewaltig war der Eindruck der Tempel-

und Theaterruinen von Selinunt und Segest; und in der dortigen Wildniß ward er lebhaft an Goethes Lied erinnert: „in Höhlen wohnt der Drachen

alte Brut," „wie man denn" schreibt er „gar bald inne wird, daß man

zwar dieses Lied des Dichters in Deutschland recht lieb gewinnen kann, daß

man es aber erst in Italien ordentlich verstehn lernt, z. B. was es heißt: die Mhrte still und hoch der Lorbeer steht."

Auf der Rückkehr erfuhr er

in Neapel Karl Augusts Tod; das trübte ihm dort den Aufenthalt. In Rom aber beruhigte ihn der Anblick alles Großen und Herrlichen der ewigen

Stadt; „mir wird klar" schreibt er, „wie das Andenken an große Männer

nie vergeht Denn gestaltlos schweben umher in Persephoneias Reiche massenweis' Schatten vom Namen getrennt;

Wen der Dichter aber gerühmt, der wandelt gestaltet,

Einzeln, gesellet dem Ehor aller Heroen stch zu.

Dann folgen noch lebendige Bilder

aus Pompeji,

Rom und Florenz.

Bei Canovas Venus empfindet Göttling lebhaft den Unterschied von der

„Dort hat sich bei mir nichts geregt als was sich bei einer

mediceischen.

Princessin des Palais Rohal regt, ein Trieb sich fortzupflanzen; hier aber ist mehr, es ist jungfräuliches Wesen, aber nicht geziertes der neuen Zeit, sondern ein reines, freies, ungekünsteltes."

Heimgekehrt, schreibt Göttling aus Jena, er habe sich darmlf gefreut daS ihm liebgewordene Geschäft der Werke wieder aufzunehmen.

„Vieles

lerne ich erst jetzt verstehn und lieben in E. Excellenz Werken, seitdem

ich mir durch Italien einen honetten Hintergrund in mein Leben geschafft habe."

Goethe erwiedert u. a.:

„Nun aber möchte ich Ihnen recht lebhaft und gründlich auSdrücken, wie ich an dem Gewinne theilnehme, den Sie so glücklich nach Hause ge­

bracht haben.

Ihr Gleichniß vom Hintergründe gefällt mir sehr wohl.

Denn wenn wir auf unseren thüringischen Wegen vor uns hingehen und

eben nicht ganz reizende Landschaften im Auge haben, so dürfen wir uns nur umdrehen um Dioramas und Panoramas zu erblicken, ewig klarer und

untrüblicher Art, die uns immer wieder in die heiterste Stimmung ver­

setzen." Der Philologe ging demnächst wieder an seine Arbeit der Revision und

Correctur.

Er machte die Entdeckung, daß ihm in den Wanderjahren

— von denen damals nur der erste Theil existirte — noch ein ganz neuer

Genuß erblühte.

In dem Aerger der Neuwieder Geschäfte hatte er für

das Buch nicht die rechte Empfänglichkeit gehabt, war auch durch Pust-

kuchenS falsche Wanderjahre abgeschreckt worden; jetzt zog die Erzählung ihn auf daS lebhafteste an, die keine Seite des menschlichen Lebens un­ berührt lasse.

Bei der Darstellung der Gebirgspinnerei in der Geschichte

Lenardos bestätigte er die Wahrheit der Darstellung, da er sich einmal in Leuck überzeugt habe, daß eS wirklich in den Spinnstuben jener ein­ fachen ehrlichen Gebirgsvölker so hergehe.

theilung erfreute,

Wie sehr Goethe diese Mit­

sieht man daraus, daß er sie zwei Tage nach dem

Empfang wörtlich in einen Brief an Zelter aufnahm.

ling auch den Anfang vom zweiten Theil des Faust.

Bald erhielt Gött­

Höchlichst erbaut

davon äußerte er dem Dichter den Wunsch, Faust möge vom Teufel doch

auch an den Hof des heiligen Vaters gebracht werden, ein überraschender, aber für Goethe nicht brauchbarer Einfall. — Ueber Goethes in der neuen

Ausgabe bald folgende italienische Reise bemerkt Göttling: „gar anmuthig

ist eS, wie der Reisende diesseits der Alpen meist immer nach Wind und

Wetter sieht, während er sich jenseits gar herrlich mit der Erde beschäftigt

142

Karl Wilhelm Göttling und sein Verhältnis zu Goethe.

und höchst selten vom Himmel spricht, während die Masse der Reisenden nicht genug vom schönen italienischen Himmel erzählen kann."

Abgesehen von. den auf den Inhalt Goethischer Dichtung bezüglichen

Bemerkungen enthalten nun Göttlings Briefe noch eine Reihe von Correcturen deS Textes, die, wo sie rechtzeitig kamen, benutzt werden konnten,

zum Theil aber, wo sie Druckfehler der Taschenausgabe betrafen, erst der später erscheinenden Octavauögabe zu gute kamen*).

jetzt nicht mehr.

Neues, bieten sie

Eben so wenig liegt Veranlassung vor, genau darauf

einzugehen, wie dem Augsburger Setzer Gleichmäßigkeit in der Ortho­ graphie mühsam abgerungen und manches Unrichtige (allmälig statt all­

mählich, pythagoräisch statt pythagoreisch, ionisch für jonisch u. s. w.) be­ seitigt wurde. Wer heut die Ausgabe letzter Hand darauf ansieht, überzeugt sich

leicht, daß sie kein Muster von Correctheit ist.

Den Aufgaben aber, die

Göttling zugewiesen waren, genügte dieser offenbar mit voller Gewissen­

haftigkeit.

Daher waren die Aeußerungen freundlichsten Dankes, die sich

durch Goethes Briefe ziehen, wohlverdient.

Auch sonst wissen wir, daß er

dem Bibliothekar in Jena volles Vertrauen und Anerkennung zollte. den Acten findet sich ein Vermerk von ihm, worin eS u. a. heißt:

In

„DeS

Bibliothekars Dr. Göttling Thätigkeit ist zu rühmen, die er bewiesen, um das Andenken abgeschiedener Professoren zu erhalten. ... Denn nichts

ist

wünschenswerter, als die Erhaltung der Gestalt eines verdienten

Mannes**)." Solchem Zwecke dient daS eben erschienene Buch in mehr als einer

Beziehung.

DaS sichert dem Herausgeber den Dank seiner Leser.

*) So ist von den Druckfehlern der Wanderjahre, die Göttling in der Taschenausgabe rügte, nur der erste in der OctavauSgabe uncorrigirt geblieben; vermuthlich, weil seine Bemerkung zu spät kam. Alle andern sind in der OctavauSgabe bereit« Ver­ beffert. Demnach hat also Göttling doch einiges Verdienst um die Eorrectheit des Textes. **) Vogel a. a. O. S. 55.

Karlsruhe.

G. Wendt.

Die Selbstverwaltung im Vormundschastsrecht. Das Vormundschastsrecht hat den Zweck für diejenigen Personen, welche für sich selbst nicht zu sorgen im Stande sind, in Ermanglung von

natürlichen Vertretern, eine Leitung und Vertretung zu beschaffen. Im ältesten römischen Recht war die Vormundschaft Sache der Fa­

milie,

der Staat hielt eS noch nicht für seine Aufgabe, für die persön­

lichen Angelegenheiten seiner schutzbedürftigen Glieder zu sorgen.

All­

mählich aber tauchte die Idee auf, daß diese Sorge doch im Sntqreffe des

Staates läge, und so nahm er die Leitung der Vormundschaft in die Hand und schuf Garantieen für eine gute Verwaltung des Mündelvermögens.

Auch das deutsche Recht sah ursprünglich die Vormundschaft als

Recht und Pflicht der Familie an, wenn es auch schon früh den Königs­ schutz als Aufsicht kannte. Seit der Reception des römischen Rechts in

Deutschland wurde die staatliche Aufsicht auch hier bet weitem vermehrt;

eS wurde Pflicht des Vormunds, dem Staate Rechenschaft von seiner Ver­ waltung abzulegen.

Am konsequentesten ist dann die Theorie von der Sorge des Staats für die Erziehung der Minderjährigen und die Erhaltung mögens im preußischen Landrecht durchgeführt,

ihres Ver­

welches die Leitung der

Vormundschaft fast ausschließlich den Gerichten übertragen hat.

Entgegen­

gesetzt diesem System legt das rheinische, d. h. französische Recht den Schwerpunkt in den aus Verwandten des Mündels gebildeten Familtenrath.

Zwischen diesen Theorieen hatte das neue preußische Vormundschasts­ recht die Wahl, und eS hat einen Mittelweg eingeschlagen, indem eS in

erster Linie nahe Verwandte, insbesondere die Mutter, oder von diesen

Ernannte zu Vormündern beruft und auch bet Führung der Vormund­ schaft in wichtigen Angelegenheiten der Vermögensverwaltung die Mit­

wirkung von Verwandten verlangt, die Erziehung aber, ganz abgesehen davon, wem im einzelnen Falle die Vormundschaft übertragen ist, nur

unter Aufsicht des Vormundes, ganz der Mutter überläßt.

Das Vor­

mundschaftsgericht ist über diesen Personen nur zur Beaufsichtigung des Preußische Jahrbücher.

XLVII. Heft 2.

10

Ganzen berufen.

Daneben kennt die preußische BormundschaftSordnung

auch das Institut des FamilienratHS, aber in wesentlich anderer Form,

alS das französische Recht, da sie einen solchen nur in besonderen, im

Gesetze vorgesehenen Fällen, nicht bei jeder Vormundschaft in Wirksam­ keit treten läßt.

AuS der verschiedenen Stellung, die der Staat in den einzelnen

Rechtsgebieten betreffs der Vormundschaft einnimmt,

Differenzen betreffs

der Frage, wer

folgen nun

auch

das eigentliche vormundschaftliche

Organ ist, ob der Vormund oder eine Behörde.

Es soll hier ganz außer

Acht gelassen werden, daß die verschiedenen Staaten zu diesem Zwecke auch verschiedene Behörden berufen haben, wie es ja auch bei Berathung der jetzigen preußischen Vormundschaftsordnung erst wieder streitig gewesen ist, welcher Behörde die Leitung, bezüglich die Beaufsichtigung der Vormund­

schaft zukommen soll, ob wie es größtentheils der Fall gewesen, den Ge­ richten, oder etwa Gemeindebehörden.

Im französischen Recht ist daS

eigentliche Organ der Vormundschaft der Familienrath, im römischen und

gemeinen Rechte der Vormund, nur unter Leitung und Aufsicht des Ge­ richts.

Das preußische Landrecht hat ebenfalls, obwohl das vielfach be­

stritten worden ist, den Vormund und nicht die Gerichte als die vormund­

schaftlichen Organe hingestellt:

„Diejenigen, welchen der Staat die Sorge

für seine Pflegebefohlenen in Ansehung aller ihrer Angelegenheiten aufge­

tragen hat, werden Vormünder genannt", heißt es im § 3 Tit. 18 Th. II. A. L. R.

Sie sind nach § 235 1. c. als Bevollmächtigte des Staats an­

zusehen und sind nach § 236 1. c. allerdings schuldig, sich bei Führung ihres Amts nach den Vorschriften der Gesetze und den besonderen An­

weisungen des sie dirigirenden und Vormundschaftsgerichts sorgfältig

beständig unter Aufsicht haltenden

zu achten verpflichtet.

Steht hiernach

auch dem Gerichte die Direktion zu, und weist ferner das Gesetz auch genau an, in welcher Weise mit dem Vermögen der Mündel verfahren werden soll, führt schließlich das Gericht im Resultat auch die Verwaltung

des Mündelvermögens, so ist das zunächst handelnde vormundschaftliche Organ doch der Vormund. Vielleicht war die Gebundenheit des Vormundes an die im Gesetz vorgeschriebenen Schranken eine zu lästige, die möglichen vorkommenden

Fälle nicht genügend berücksichtigt; die preußischen Gerichte waren, wie

auS den Motiven zur Vormundschaftsordnung hervorgeht, mit dem be­ stehenden Rechte nicht einverstanden, und um nun diese Mängel zu be­ seitigen, wurde in der neuen Vormundschaftsordnung als erstes Princip

hingestellt, daß nicht mehr der Staat, bezüglich feine Gerichte, sondern die Vormünder selbständig die Verwaltung des Mündelvermögens zu

führen hätten.

Das Vermögen bleibt hiernach in der Hand des Vor­

munds, er hat dasselbe nach seinem besten Ermessen anzulegen und zu verwalten und ist dabei nur an gewisse Schranken, die im Gesetz näher

bezeichnet sind (cfr. § 39 der Vormundschaftsordnung), gebunden.

Ein

Gegenvormund und über diesem wieder das Vormundschaftsgericht hat nur die Beaufsichtigung der Vormundschaft; das Letztere ist also ohne jede

Initiative und hat nur zu prüfen, ob der Vormund innerhalb der gesetz­ lichen Schranken geblieben ist.

Die Selbstverwaltung, die sich in der

hmtigen Gesetzgebung mehr und mehr Geltung verschafft, ist somit auch in das Vormundschaftsrecht eingedrungen, schwerlich aber im Jntereffe der

Sache und zum Heile der Mündel. Für das persönliche Wohl der Mündel, also insbesondere für die

Erziehung ist eine Zwischeninstanz zwischen dem Vormund einerseits und dem Gericht andererseits in dem Institute der Waisenräthe eingesetzt,

welche Gemeindebehörden sind und dem Gericht, im Falle ein Einschreiten erforderlich ist, Anzeige zu erstatten, auch das Vorschlagsrecht der Vor­ münder und Gegenvormünder haben.

Es läßt sich nicht verkennen,,daß

diese durch die BormundschaftSordnung eingeführte Neuerung für alle Betheiligte von großem Interesse und für die Mündel sehr heilsam ist.

Die

Vormünder deS Landrechts hatten dem Gericht alljährlich Erziehungsbe­ richte betreffs ihrer Mündel einzureichen, und oft genug mag es dabei vorgekommen sein und ist vorgekommen, daß die Vormünder,

in dem

Glauben, ihre Mündel befänden sich noch, wie im letzten Bericht ange­ geben, an demselben Orte und in derselben Stellung, einfach ihre letzt­ jährigen Angaben wiederholten, ohne daß dieselben noch der Wirklich­ keit entsprachen.

Der Richter, und nicht nur in den großen Städten,

sondern auch an kleineren Orten, betreffs der auf dem Lande zu führenden

Vormundschaften, war gar nicht in der Lage, die Richtigkeit der Angaben aus eigener Anschauung zu prüfen, die Berichte dienten daher nur zur unnützen Anfüllung der Akten.

Anders jetzt, wo die Behörde gesetzlich

verpflichtet ist, über die Erziehung zu wachen.

Daß aber eine Gemeinde­

behörde vielmehr dazu angethan ist, sich um persönliche Angelegenheiten

zu kümmern, als der Richter, kann wohl keinem Zweifel unterliegen.

Nur

wird der Staat dafür Sorge tragen müssen, daß den von ihm dazu be­ stimmten Behörden ihre Pflichten auch bekannt gemacht werden.

bloße Veröffentlichung

einer solchen Gesetzesbestimmung

Die

in der Gesetz­

sammlung nützt in diesem Falle nichts; sonst würde es nicht vorkommen,

daß noch in diesem Jahre, also fünf Jahre nachdem die Vormundschafts­ ordnung in Geltung ist, Waisenräthe existiren, die von den ihnen als

solchen obliegenden Verpflichtungen keine Ahnung haben und glauben, ihr 10*

Amt bestünde einzig und allein darin, auf Verlangen geeignete Personen zur Uebernahme von Vormundschaften vorzuschlagen.

Hat sich diese Ein­

richtung aber erst einmal eingebürgert, so wird sie gewiß im Interesse

der Mündel von den segensreichsten Folgen begleitet sein, da die Ge­ meindevertreter den Gliedern der Gemeinde am nächsten stehen und somit sich um die persönlichen Angelegenheiten derselben zu kümmern, am ehesten

in der Lage sind. Anders steht es aber mit der Verwaltung des Mündelvermögens. Das allgemeine Streben nach Selbstverwaltung hat hier dazu geführt,

den Vormund von der Leitung des Vormundschaftsgerichts möglichst zu

emancipiren, ihn als allein handelnd und verwaltend hinzustellen.

Das

Losungswort von der Befreiung der staatlichen Bevormundung ist aber

nirgends weniger angebracht,

als im Vormundschaftsrecht.

Der ganze

Zweck der Vormundschaft ist die Sorge des Staates für die des Schutzes Bedürftigen, in der Hauptsache die minderjährigen Waisen.

In seinem

eigenen Interesse hat der Staat für dieselben zu sorgen, und deshalb muß

der Schutz, den er ihnen angedeihen läßt, auch ein derartiger sein, daß

er von Wirksamkeit ist.

In persönlicher Beziehung hat die Vormund­

schaftsordnung hier das Richtige getroffen, indem sie der Mutter in erster

Linie die Erziehung ihrer Kinder überläßt; kein Anderer ist ja wie diese

im Stande, die Erziehung, wenigstens in der großen Mehrzahl der Fälle, zu leiten.

Anders in vermögensrechtlicher Beziehung.

Hier ist wieder

in den meisten Fällen die Mutter das ungeeignetste Organ.

Denn ganz

abgesehen davon, daß dieselbe hinsichtlich ihrer eigenen und der Vermö­ gensangelegenheiten ihrer Kinder häufig in Collision kommt, ist eine Frau nicht dazu angethan, ein Vermögen zu verwalten.

Die Vormundschafts­

ordnung hat trotzdem der Mutter, sofern sie Vormünderin ihrer Kinder ist — zu welchem Amte sie ein Recht hat — auch die Verwaltung des

Vermögens überlassen; ja sogar ist sie von der den übrigen Vormündern auferlegten Verpflichtung, Rechnung über ihre Verwaltung zu legen, be­ freit,

lange,

also noch viel unumschränkter, als jeder andere Vormund.

So­

wie dies nach dem Landrecht der Fall war, die Vermögensver­

waltung in der Hauptsache dem Gericht oblag, war eine Bestellung der

Mutter zur Vormünderin ihrer Kinder gewiß nur praktisch und geradezu wünschenöwerth, da sie am sichersten dem Gericht über ihre Kinder Aus­ kunft zu geben vermochte; anders nach der Vormundschaftsordnung, nach

welcher ihr so bedeutende Rechte etngeräumt sind.

Der Staat stellt sich

damit auf den Standpunkt, daß er nur subsidiär für das Wohl der

Minderjährigen Sorge zu tragen habe, daß in erster Reihe diese Sorge der Familie obliege.

Aber so sehr ja auf der einen Seite daS Interesse

der Familie an der Sorge für die Kinder als berechtigt anerkannt werden

muß, so sehr muß doch andererseits die mögliche Gefahr, die den Mündeln

daraus erwachsen kann, in Betracht gezogen werden, und unseres Er­ achtens muß diese letztere Rücksicht bei der Frage nach der Führung und

Leitung der Vormundschaft überwiegen.

Die Beaufsichtigung der Mutter

durch den Gegenvormund und durch das Gericht, von der noch die Rede

sein wird, fällt gegenüber den Befreiungen der Mutter noch weniger in'S

Gewicht, als bei den übrigen Vormündern.

Denn auch die Aufsicht, die

diesen durch das Gesetz gegeben ist, ist zum Schutze der Mündel nicht

ausreichend.

ES mag hierbei noch ganz außer Acht bleiben, in wievtelen

Fällen die den Vormündern gewährte freie Verwaltung zu Veruntreuungen geführt hat — dem Verfasser fehlen hierüber die nöthigen statistischen

Nachrichten —, aber auch, wenn diese Fälle, waS nach den Zeitungs­ nachrichten

nicht

wahrscheinlich

ist,

noch

so

selten vorkommen,

schon

diese wenigen schädigen Mündel, deren Schutz dem Staate obliegt und

unter Umständen sehr erheblich.

Was nützt in diesen Fällen die nachher

eintretende Bestrafung des Vormundes dem Mündel, wenn er um fein

Vermögen gekommen ist, was nützt ihm der Anspruch auf Schadenersatz

gegen den Vormund, wenn dieser kein Vermögen hat!

Der Staat kann

natürlich geschädigten Mündeln gegenüber nicht allgemein für haftbar er­ klärt werden, wenn er, resp, seine Beamten ihre Schuldigkeit gethan haben.

Diese Fälle der Untreue der Vormünder also ganz bei Seite gelassen,

sind von nicht geringerer Erheblichkeit diejenigen Fälle, die in den kleinen Städten und auf dem Lande am häufigsten vorkommen, in denen Vormünder

aus Unüberlegtheit und besonders aus Unerfahrenheit in Vermögensan­ gelegenheiten ihre Mündel ohne jede böse Absicht schädigen.

Man kann

von keinem Menschen verlangen, daß er, um vulgär zu sprechen, über seinen Horizont hinausgehe, und dieses Verlangen wird durch die Bor­ mundschaftsordnung an die meisten Vormünder der letztgedachten Kategorie

gestellt.

Leute, die selbst niemals ein irgendwie namhaftes Vermögen ge­

habt und sich kaum um

andere Dinge,

als um die in ihren vier

Pfählen sich ereignenden gekümmert haben, sind nicht geeignet, selbständig

Mündelvermögen von nur einiger Erheblichkeit zu verwalten, in solchen Dingen aus eigener Initiative handelnd vorzügehen.

Insbesondere die

Landbevölkerung ist — man wird dies, und wenn man auf noch so fort­

geschrittenem Standpunkte steht, anerkennen müssen — in dieser Beziehung

noch ungemein zurück und noch lange nicht reif zu solcher Selbständigkeit, die doch nur den Mündeln schließlich zum Schaden gereichen kann.

Die

Landbevölkerung steht noch fast durchweg auf dem Standpunkte, daß das Gericht die Behörde sei, die alle ihre Interessen wahrzunehmen habe,

ohne daß sie deshalb auch nur einen Schritt selbst zu thun brauche, und oft genug kommt es vor, daß die Landleute die einfachste ihn^n zugesandte

Verfügung nicht verstehen und sich auch selbst für nicht fähig dazu erklären.

Es mag richtig sein, daß die Vorschriften des Landrechts über die Verwaltung des Mündelvermögens viele Belästigungen im Gefolge gehabt haben; dies ist aber nicht zu verwundern, wenn man auf die Zeit der

Redaktion des Gesetzbuchs sieht, in welcher der Geldverkehr nicht der war, wie der unserer Tage.

Allein vor Allem blieb dem Mündel sein Ver­

mögen sicher und intakt; es ließen sich keine neuen Unternehmungen damit anfangen, sondern Alles mußte im alten Zustande nur konservirt werden,

aber welcher Zustand im Interesse des Mündels als der wünschenöwerthere

erscheint, das kann wohl kaum fraglich sein. Vormundschaftsordnung vor, in welcher

Nun schreibt freilich die

Weise Mündelgelder

angelegt

werden sollen; allein nichts destoweniger achten die Vormünder auf diese

in ihren Bestallungen noch dazu abgedruckten Bestimmungen in vielen

Fällen gar nicht; insbesondere werden die Vorschriften betreffs der pu-

pillarischen Sicherheit bei Hypotheken sehr häufig außer Acht gelassen und dadurch den Mündeln unter Umständen großer Schaden zugefügt.

Landbevölkerung versteht diese Bestimmungen einfach gar nicht.

Die

Am liebsten

legen die ländlichen Vormünder die Mündelgelder bei den städtischen oder Kreissparkassen an, und gerade diese Art der Belegung ist nach der Vor­

mundschaftsordnung so gut wie ausgeschlossen, da sie nur statthaben soll,

wenn die Gelder nach den obwaltenden Umständen in der sonst vorgeschriebencn Weise

nicht

stattfinden

kann.

Es

hieße aber gegen den

Geist des Gesetzes handeln, wollte man der bloßen Unerfahrenheit der Vormünder wegen, nur einigermaßen beträchtliche Summen bei den Spar­ kassen dulden.

Zu unzähligen Malen kommt eö daher in der Praxis vor,

daß daS eben erst in solcher Weise angelegte Geld wieder gekündigt und

von Neuem in vorschriftsmäßiger Weise untergebracht werden muß.

Zur Sicherung der Mündel schreibt nun die Vormundschaftsordnung vor, daß Vormünder, welche für den Mündel ein erhebliches Vermögen

zu verwalten haben, vom Bormundschaftsgericht zur Stellung einer Sicher­ heit

angehalten werden können;

allein diese scheinbar die Mündel so

sichernde Bestimmung wird vollkommen illusorisch dadurch, daß wer zur Stellung einer Sicherheit angehalten wird, die Vormundschaft einfach ab­

lehnen karm.

Durch das Princip der Selbstverwaltung sind

aber be­

sonders in den kleinen Städten und auf dem Lande die einigermaßen dazu geeigneten Leute so mit Ehrenämtern überhäuft, daß jeder froh ist,

ein neues Amt und noch dazu ein verhältnißmäßig so beschwerliches, wie die Vormundschaft ist, ablehnen zu können, und so braucht man nur das

Verlangen nach einer Kaution zu stellen, um der Niederlegung des Amtes sicher zu sein.

Der Richter ist demnach in den meisten Fällen gar nicht

in der Lage, die gewünschte Sicherstellung deS Mündelvermögens herbei­ zuführen.

Zur Controle und Beaufsichtigung des Vormundes ist durch die Vor­ mundschaftsordnung ferner das Institut des GegenvormundeS eingeführt,

der darauf zu achten hat, daß die Vermögensverwaltung ordnungsmäßig geführt wird und

in bestimmten, besonders vorgesehenen Fällen seine

Genehmigung zur Vornahme von Handlungen deS Vormundes zu ertheilen hat.

Die Anlegung der Mündelgelder soll zudem auch im Einverständnisse

mit dem Gegenvormund erfolgen. meisten Fällen nichts.

Auch diese Sicherung nützt in den

Die Untreue deS Vormundes kann der Gegen­

vormund ebensowenig verhindern wie der Richter, oben gedachten Fällen,

und in den übrigen

in welchen eine schlechte Verwaltung durch den

Vormund zu befürchten ist, nützt die Beaufsichtigung des GegenvormundeS nichts, da die Auswahl für die Personen der Gegenvormünder keine größere

ist, als die für die Vormünder, und jene daher von einer Vermögens­ verwaltung ebensowenig verstehen, als diese.

Die Haftbarkeit deS Vor­

mundes und GegenvormundeS kann, wenn dieselben unvermögend sind,

dem Mündel natürlich gar nichts nützen.

Wer aber bürgt überhaupt

dafür, daß der Gegenvormund in vorgeschriebener Weise den Vormund

kontrolirt? Sehr viele Vormünder und Gegenvormünder sind gar nicht einmal im Stande, die im Gesetz vorgeschriebene Verwaltungsrechnung

zu legen; sie lassen sich dieselbe durch sog. Winkelkonsulenten oder an­ dere

Personen

Namen.

anfertigen und unterschreiben sie höchstens

mit ihrem

Vielfach erinnert sich bei dieser Gelegenheit auch erst der Gegen­

vormund seines Amtes und muß zur Prüfung der Rechnung noch von Gerichts wegen angehalten werden.

Die bei der Schaffung dieses In­

stituts leitend gewesene Idee, daß der Gegenvormund eine stetige Controle

über den Vormund ausübe, welche bei der richterlichen Beaufsichtigung

nicht erwartet werden könne, hat sich sicher nicht bewährt, da sie sich nicht

verwirklicht hat.

Wie die Motive zum Gesetz ganz richtig sagen, kann

die richterliche Beaufsichtigung nicht eine stetige in dem Sinne sein, daß

der Vormund nicht in der Lage wäre, gegen den Willen des Richters eine Verwaltungsmaßregel vorzunehmen.

Abgesehen von den Fällen, wo

der Vormund die vorgeschriebene Genehmigung des Gerichts zur Vor­

nahme einer Handlung einholt, ist der Richter nur in der Lage, bei Prü­ fung der meist jährlich einzureichenden Verwaltungsrechnung den Vormund

zu kontroliren, und diese Kontrole kann in vielen Fällen zu spät kommen. Das Vormundschaftsgericht hat gesetzlich das Recht, anzuordnen, daß

Werthpaptere des Mündels, welche auf den Inhaber lauten oder an den Inhaber gezahlt werden können und Kostbarkeiten, bei der Reichsbank oder andern dazu bestimmten Behörden in Verwahrung genommen oder außer Kurs gesetzt werden.

Diese Bestimmung reicht zur Sicherung der

Mündel aber auch nicht aus, da einmal das Vormundschaftsgericht von

der Anlegung der Mündelgelder erst bei Legung der Verwaltungsrechnung etwas erfährt, und inzwischen schon Unheil angerichtet sein kann, insbe­

sondere auch vollkommen unzulässige Werthpapiere angeschafft sein können

— die Haftung des vermögenslosen Vormundes nützt dem Mündel eben nichts —, und diese nun erst wieder in der Regel mit Verlust durch ge­

setzlich zulässige und sichere Papiere ersetzt werden müssen, und da ande­ rerseits auch häufig Hypotheken, die der vorgeschriebcnen Sicherheit nicht

entsprechen, angeschafft werden und erst wieder zum Schaden des Mündels

gegen sichere Hypotheken eingetauscht werden müssen. ES läßt sich ja nicht verkennen, daß die Vormundschaftsordnung sehr viele Vorschriften zur Beaufsichtigung der Vormünder gegeben hat, und daß noch mehr derartige Vorschriften zu einer sehr großen Belästigung der

Vormünder führen, werth ist.

die auch an und für sich nicht gerade wünschenö-

Will man trotzdem die Vermögensverwaltung durch die Vor­

münder, wie sie die Vormundschaftsordnung im Gegensatz zum Land­ recht eingeführt hat, nicht aufgeben, so wird man, da doch das Wohl der Mündel in erster Linie berücksichtigt werden muß, doch noch weiter gehen und vielleicht eine Ergänzung der Beaufsichtigung in der Rich­ tung einführen müssen,

daß man dem Vormund verbietet, Gelder hy­

pothekarisch für den Mündel anzulegen, bevor die Sicherheit der Hypo­ theken Seitens des Vormundschaftgerichts geprüft ist.

Die für die Mündel

nachtheilige Kündigung und anderweite kostspielige Eintragung wird da­

durch in Wegfall kommen.

Man wird dann aber auch dem Grundbuch­

richter verbieten müssen, Hypothekeneintragungen für Mündel vorzunehmen, ehe vom Vormunde die Genehmigung deS Vormundschaftsgerichts vorge­

legt wird.

Und sodann wird die Vorschrift von der Hinterlegung der

Werthpapiere bei der Reichsbank generalisirt werden müssen und den Vor­ mündern zur Pflicht gemacht werden, die Depotscheine zu den Vormund-

schaftSakten einzureichen. Der Verfasser hat mit vorstehenden Zeilen nur eine Anregung geben wollen, den Gegenstand nochmals genau zu prüfen; in der einen, oder anderen Weise wird sich, nachdem erst mehr Stimmen aus der Praxis

hervorgetreten sein werden, eine 'Besserung deS gegenwärtigen Zustandes

herbeiführen lassen. Baruth.

Dr. Koffka.

Zur geographischen Literatur. Den Erwartungen entsprechend, welche der erste Band von Professor Dr. F. Ratzel's neuestem Werke „die Vereinigten Staaten von NordAmerika" erregt hatte, ist nunmehr der zweite anS Licht getreten.

Die

eigenartigen Vorzüge der bisherigen Schriften des Verfassers über Schöp­ fungsgeschichte, Vorgeschichte des europäischen Menschen, zoologische For­ schungen, Natur- und Culturschilderungen, sind hinreichend bekannt.

Tiefe

der Auffassung, künstlerische Darstellung und Reichthum des Stoffes in einem auf geographischem Gebiete selten erreichten Grade wechselseitiger

Durchdringung hätten allein schon genügt, auch dem vorliegenden Werke einen hervorragenden Platz zu sichern.

Wenn nun aber die folgende Be­

sprechung desselben noch weiter gehend nicht umhin kann, sich dahin zu

äußern, daß Professor Ratzel die wissenschaftliche Darstellung der Erdkunde im Fortschritt auf einer neuen Bahn erscheinen läßt, so wird mit Recht die Begründung dieses Urtheils erwartet werden. C.'Ritter'hatte dem ersten Band seiner Erdkunde die berühmte „Ein­

leitung" als methodisches Grundgesetz für seinen Neubau vorausgeschickt und die Beschreibung von Afrika als Vorbild für wettere praktische Ver­ wendung folgen lassen.

Den von ihm für die Behandlung des Gegen­

standes hergestellten Maßstab, der im Uebereifer der lockenden Bewältigung

eines fortwährend massenhaften Zuwachses verlegt oder abhanden gekommen

schien, hat F. Ratzel wieder hervorgeholt.

Rechnung tragend der rapiden

Erweiterung der Kenntniß des irdischen Horizontes und der mächtigen in die

Umgestaltung der menschlichen Thätigkeit eingreifenden Hebel, hat er, indem er wucherndem Uebermaß und dürftigem Untermaß in den Anleihen bei an­

deren Wissenszweigen gleichmäßig begegnet, den von Ritter gepflanzten Baum

der geographischen Erkenntniß mit einer frischen Blüthenpracht übergossen und so den ersten eigentlichen Fortschritt, weniger über den Gründer hinaus, als aus dessen Geist heraus, vollführt.

Ritter hatte das von ihm vorge­

fundene sterile Feld der Geographie in einen schattigen Park umgewandelt,

Ratzel hat die inzwischen verwilderten Partien gelichtet und für stattliche Neupflanzungen gesorgt.

Die vielfach, mit nicht immer stichhaltigen Gründen, angefochtenen

Bezeichnungen der älteren Ritter'schen Schule als „historischer", „politischer", „teleologischer" haben ihre Dienste gethan.

Die Erneuerung und Wieder­

geburt der Erdkunde im Sinne der charakteristischen

Erscheinungen der

heutigen Zeit verlangt dem angemessen auch ein neues Wort.

„Culturgeographie".

Cs heißt

Unter diesem Titel hat der zweite Band von

Ratzel's neuem Werke eine ähnliche Bedeutung wie vordem Ritter's Afrika,

nämlich die eines Ferments für eine neue zeitgemäße Auffassung des Gegen­ standes.

Diese Erscheinung voll zu würdigen, genüge die Berührung

ihres Zusammenhanges mit Ritter's und seines großen Borgängers Strabo

geographischen Leistungen. Die Geographie ist immer auf gleichem Wege zu Stande gekommen.

Durch Reisende, durch Handels- und Kriegsunternehmungen wurden un­ bekannte Gegenden aufgedeckt, bekannte wurden genauer bekannt.

Was da

Einer mit eigenen Augen und Ohren gesehen und gehört, oder von Augen-

und Ohrenzeugen in Erfahrung gebracht hatte, bildete in schriftlicher Auf­ zeichnung jene erste und unmittelbare Berichterstattung über Natur- und

Kunsterzeugnisse, über die Bodenbeschaffenheit und die Zustände der Be­

wohner, welche, von den Griechen „Historie" genannt, in ursprünglicher Einheit alle jene ersten Kenntnisse umfaßte, die später, in besondere Wissens­

zweige getrennt, als Geographie, Geschichte und Naturbeschreibung aus­ gebildet wurden.

Nach dieser ältesten Bedeutung des Wortes Historie ist

der Halikarnassier Herodot der altehrwürdige Aufzeichner solch erster geo­ graphischer Anfänge.

Diese Art von Berichterstattung ist es, die nicht auSstirbt, so lange der Erdboden Entdeckern und Forschern Stoff bietet, die auch bis auf unsere Tage, abgesehen von den Raum- und Kenntnißerweiterungen, die­ selbe geblieben ist.

Der Wissenschaft stets neue Nährstoffe zuführend ist

sie, bei noch nicht erfolgter Sonderung ihres Inhaltes, selbst nicht Wissen­ schaft und gestaltet sich dazu erst durch eine „systematische", nach bestimmten Gesichtspunkten geordnete Zusammenstellung alles dessen, was sie über

den natürlichen und über den Culturbestand der Erdoberfläche aussagt. Zu dergleichen Schriften lieferte die Bibliothek zu Alexandria den dortigen Gelehrten reichliches Material.

EratostheneS gilt als der erste

dieser systematischen Geographen, während Claudius Ptolemäus das Ende

der klassischen Zeit mit einem Sammelwerke, dem sogenannten „Ptolemäischen Weltsystem", bereicherte.

DaS Verdienstvolle der systematischen

Erdbeschreibung bestand darin, daß ihr Inhalt, weil er, unterstützt durch Ent­

würfe von Gradnetzen und Landkarten sich besonders zur Gedächtnißauffassung

eignete, Gemeingut werden und Jahrhunderte hindurch bleiben konnte.

Er

In ein höheres Stadium tritt die Erdbeschreibung mit Strabo.

steht insoweit auf dem Boden der systematischen Geographen, als er gleich

ihnen das in der ursprünglichen Berichterstattung Vorgefundene übersichtlich

wiedergibt, aber nicht ohne zugleich den auf eigenen ausgedehnten Reisen

gesammelteri Borrath unmittelbarster Erkundung auf das Vortheilhafteste

zu verwerthen.

Denn beim Vergleichen eigener und fremder Beobach­

tungen über dieselben Dinge mußte der Reiz, den hierbei theils die Ge­ nugthuung der Uebereinstimmung, theils die Untersuchung des Gegentheils

zu gewähren Pflegt, das Urtheil für die Aufstellung und Durchführung

der Grundsätze schärfen, die einer wtffenschastlichen Darstellung unerläßlich sind.

Kühn setzte er deshalb gerade an die Spitze deS sein Werk ein­

leitenden Capitels den gewichtigen Ausspruch: „Nach meiner Ueberzeugung

gebührt vornehmlich der Geographie eine philosophische Behandlung." Mit dieser Forderung an sich selbst wie an seine Nachfolger war mit

einem Schlage der Geographie ihr wissenschaftliches Gepräge verliehen. Unter dieser Weihe hat er gleichzeitig mit der Vollendung deS römischen Weltreiches seinen Inbegriff der damaligen Kenntniß der bewohnten Erde

zum Abschluß gebracht und damit ein Werk geschaffen, welches als Richt­ schnur die dahin einschlagenden Studien für alle Zeiten zu beeinflussen nicht aufhören wird.

Wo in älterer Zeit seiner gedacht wird, hat er den

Ruhm, kurzweg „der Geograph" im eminenten Sinne zu heißen, auch wird er von Neueren als „der genaueste Schriftsteller des Alterthums" gepriesen. Betheiligt wie er ist sowohl an der unmittelbaren Berichterstattung, als

an deren systematischen Wiedergabe und an der Grundlegung ihrer den­ kenden, d. i. philosophischen Betrachtung, vereinigt er in sich die drei

wesentlichen Stufen der geographischen Darstellung.

Mit dem Studium

Strabo'S sich zu befassen, fehlte unter den Stürmen des Mittelalters aller

Sinn, kaum daß sein Buch in einigen Abschriften erhalten blieb, während

des Ptolemäus festes Grad- und Namengerüste, zwar trocken und ge­ schmacklos, aber praktisch desto brauchbarer, den bequemen Stützpunkt für

späteren Zuwachs abgab.

Eine ähnliche registerhafte Einförmigkeit haftete

auch nach den Anstößen, welche von den großen oceanischen Entdeckungen

auSgegangen waren,

den späteren

geographischen Werken

mehr

oder

minder an. Anders wurde eS erst mit der Wiederaufnahme der Beschäftigung

mit Strabo, nach Ritter's Ausdruck, „dem größten Geographen des Alter­

thums", der, wie der unermüdliche Förderer der Erdwissenschaft, O. Peschel, einst erklärte, „zu staunender Bewunderung hinreißt".

Unter dem Zauber

der Schilderungen, die der alte Grieche von der damals bekannten Erde entwirft, nahm Ritter seine Aufgabe unter dem Titel „die Erdkunde im

Verhältniß zur Natur und Geschichte deS Menschen" in Angriff, indem er offenbar gleich seinem großen Vorbild von der Erkenntniß durchdrungen

war, daß auch er „ein bedeutendes eines Philosophen würdiges Unter­

nehmen vor sich habe".

Aus den Resultaten dieses Unternehmens ist eins ganz besonders hervorzuheben, da es für ein wesentliches Kennzeichen der wissenschaftlichen Repräsentation gehalten werden muß.

So lange nämlich

der Inhalt

eines Wissenszweiges überwiegend dem Schwanken auseinandergehender,

noch nicht im Prinzip einiger Verhandlungen preisgegeben ist, mangelt er des vollen Ansehens, den er vor dem Begriff der Wissenschaft haben soll.

Daher ist es die Tendenz jeder „Disciplin", dem Sinn dieses Wortes

entsprechend, sich aus der Breite der Discussion zu Zwecken deS Unter­

richts in Hand- und Lehrbüchern zu verdichten.

Denn nicht bändereiche

Werke allgemeinen Inhaltes für das große lesende Publikum, sondern die für die studirende Jugend aller Grade übersichtlich ausgearbeiteten Hülfs­

mittel, vom starken akademischen Compendium bis zum magern Abriß sind

eS, welchen insbesondere die Aussaat und die Ernte der Wissenschaft an­ vertraut wird.

Gute Lehr- und

Schulbücher sind die

unzweifelhafte

Signatur der reifenden Wissenschaft. Vor Ritter hatte die Geographie auf Universitäten überhaupt keinen

Lehrstuhl und auf den Schulen war sie höchstens der Aschenbrödel neben anderen Unterrichtsfächern.

Aber mit seinem Auftreten ging aus den von

seinem Geist berührten Männern „die Rittersche Schule" hervor, und mit

ihr eine Anzahl gediegener Lehrbücher, welche den Grundgedanken der Ein­ leitung zum ersten Band der Erdkunde nach allen Richtungen verarbeiteten.

Ratzel, dessen unmittelbare Reiseberichte, wie diejenigen Herodot's, sich

ebenmäßig über Erdbildung, Natur und Geschichtliches erstrecken, dessen

Zusammenstellung eigener und fremder Beobachtungen den Vergleich mit

allen bisherigen Leistungen in dieser Gattung aushält, wird auch den An­ forderungen der Wissenschaft gerecht, indem er, wie Strabo und Ritter, die Veränderungen, welche die Menschenhand an der Erdoberfläche bewirkt

hat, in ihrem Zusammenhang mit der Entwickelung deS menschlichen Selbst­

bewußtseins bekundet.

In diesen Beziehungen steht er den Genannten

im allgemeinen gleich.

Er geht jedoch über sie hinaus, insofern ihm als

dem Spätergekommenen vergönnt war, die inzwischen mehr geläuterte und durch große Entdeckungen erweiterte Kenntniß der Erdwelt mit dem Cultur«

geographischen Gedanken neu zu befruchten. Alle Schöpfungen der Wissenschaft werden durch das jedesmalige

Zeitbewußtsein und durch die herrschende Weltanschauung beeinflußt.

Die

Aera der antiken partialen Orientirung über Natur und Mensch, dem-

nächst innerhalb der universalen christlichen Weltanschauung die Aera vor­ wiegend geistigen Ringens, und dann eine Aera von erdumfassenden Schöpfungen vorwiegender Handarbeit — diese drei großen Epochen irdi­

schen Seins und Geschehens spiegeln sich in der anthropologischen Auffassung der Erdwelt ab, in Strabo, in Ritter und in Ratzel.

„Culturgeographie mit besonderer Berücksichtigung der wirthschaft-

lichen Verhältnisse"

Ratzel'schen Buches.

— so

lautet der Titel des zweiten Bandes des

Titel sind Worte.

„Worte", sagt man, „haben Re­

volutionskräfte", feien es zerstörende, seien eS aufbauende.

Wird mit

Rücksicht auf den gewaltlosen Fortschritt der Wissenschaft der mildere Aus­ druck „Reformkräfte" bevorzugt, so ergibt sich die paffende Anwendung für unsern Zweck von selbst.

Die Erde zeigt ein neues Antlitz.

Netze von eisernen Nervensträngen

durchziehen sie über und unter ihrer Decke, neue Weltstraßen durchkreuzen

sich auf dem festen Boden der Länder, wie auf dem flüssigen der Gewässer und werden mährchenhaft durchflogen in den Siebenmeilenstiefeln deS Dampfes und der elektrischen Botschaften, der Säckel und der Wünschelhut

deS FortunatuS werden greifbar, jener in dem Schaffen der Großindustrie,

dieser in der annähernd sich vollziehenden irdischen Allgegenwart deS Menschen und der Traum von einer Universalsprache geht in Erfüllung

in den wuchtigen Thatsachen ungeahnter Erfindungen und Entdeckungen, kraft deren Nationen und Kontinente im großen Stil sich verständigen. Die Menschheit arbeitet an einem neuen Costüm. ihr zu eng geworden.

Das bisherige ist

Kund deS von unserem Autor errichteten Wahr­

zeichens ist nunmehr die Erde die Culturwerkstätte der Menschheit.

DaS

Arbeitsprogramm zeigt nach wie vor denselben erhabenen Endzweck, mag eS sich um Jdealisirung der irdischen Wirklichkeit oder um irdische Ver­

wirklichung des Idealen handeln.

Denn beide Wege sind eins, ob der

Anfang das Ziel im Auge hat, oder ob das Ziel den Anfang bestimmt;

jener ist der mehr bewußte und sichtbare, dieser der mehr unbewußte und

unsichere.

Ihre Einheit ist die in Wechselwirkung sich vervollkommnende

Hirn- und Handarbeit, erscheinend nach eines Dichters Wort als „ein Bund, den der Menschengedanke mit der Erde eingeht".

Referent ist der Bezeichnung Culturgeographie sehr selten, und zwar nur ganz vereinzelt, begegnet.

Zuerst hatte sie ihn überrascht in einer von

I. G. Kohl's Schriften und wurde von ihm dem dritten Theil seiner 1845 In erster Auflage veröffentlichten „Philosophischen Erdkunde" an die Spitze

gesetzt.

Wenn Professor I. L. Tellkampf später in einer kritischen Be­

sprechung der neuen Auflage dieser zrim erstenmal ausgeführten Cultur­

geographie mit dem Zusatz erwähnt „welche durch die Weite des Horizontes

und durch die Schärfe des. vergleichenden UeberblickS zu dem Originellsten

und Kühnsten gehört, was in dieser nicht speculativen Wissenschaft ge­ schrieben ist", so ist Referent angesichts der Vorzüge des

vorliegenden

Meisterwerkes weit entfernt, jenes Maß der Anerkennung anders denn als eine Form wohlwollender Zustimmung

sich anzuziehen.

Abgesehen

von der verschiedenen Absicht der Auffassung ist jene ältere Arbeit zunächst eine genetisch geordnete Rundschau über die in der allgemeinen Erdkunde

zerstreuten Culturmomente, diese aber, die Culturgeschichte der Vereinigten Staaten, ist die geniale Beherrschung einer strotzenden Fülle frisch put«

sirenden Lebens in einem Großstaate der Neuen Welt,

jene ein mehr

methodischer Vorläufer, diese ein reicher, prachtvoller akademischer Güterzug des geographischen Wissens, jene mehr Anlage, diese ein ausführliches Werk mit der Aussicht auf nachhaltige Wirkung. Was nun den Inhalt und seine Anordnung im vorliegenden Falle angeht, so mußte er bei dem ungewöhnlichen Umfang des Werkes so­

wohl

aus

Gründen

der

Handlichkeit

wie

lichung auf zwei Bände vertheilt werden.

der

successiven Veröffent­

Diese sind, jeder

sonderem Titel, unter einem gemeinsamen verbunden.

keit ist eine mehr äußerliche.

Beide müssen, wie Stamm und Krone,

wie die Pole der Magnetnadel,

Wechselbeziehung

mit be­

Ihre Selbständig­

nur als beid-einige in ihrer steten

beurtheilt werden,

als gerade der eine von zweien.

monistische Beide ist das Ganze.

nicht aber jeder einzelne für sich

Die dualistischen Zwei sind Stücke, das Der erste Band umfaßt die Natur,

der zweite die Cultur des drittgrößten zusammenhängenden Staatsgebietes der Erde. Weshalb der Titel des ersten Bandes „Die physikalische Geographie"

und den „Naturcharakter des Landes" auseinanderhält, leuchtet vielleicht nicht sofort ein, ist aber bei der Reichhaltigkeit des Stoffes durch die

Rücksichtnahme auf leichtere Verständlichkeit mehr als gerechtfertigt.

ES

mag hierbei immerhin stillschweigend zugleich ein mehr inneres Motiv

wirksam gewesen sein.

Denn während die Darstellung der physikalischen

Beschaffenheit überwiegend daS Ergebniß objectiv-wissenschaftlicher Fest­

setzung sein soll, wird dagegen die Schilderung deS landschaftlichen Cha­ rakters soviel subjektive Färbung zulassen, wie sie einer durch Schönes

und Erhabenes erregten Stimmung inhaftet, und wird damit den Anhauch der Kunst verrathen.

Nebenbei sei bemerkt, daß, wie sich denn überhaupt

Meisterschaft des Könnens und Kunst aufeinander berufen, von einer Kunst

der geographischen Darstellung mit demselben Rechte gesprochen werden kann, wie z. B. von der Kunst der Geschichtschreibung. die geographische Literatur neben dem

Inzwischen hat

in Rede stehenden wohl wenige

andere Werke aufzuweisen, worin Kunst der Darstellung und Wissenschaft in gleichem Grade sich heben und beleben.

Da hier vor allem beabsichtigt wird, den Standpunkt des Verfassers in seiner Reformbedeutung möglichst klar zu stellen, so wird sich die Be­

sprechung alles dessen enthalten, waS nicht dazu dient, die Einsicht in die methodische Gliederung des Ganzen zu vermitteln.

ES sei deshalb nur

kurz erwähnt, daß sich der „allgemeine Theil" deS ersten Bandes in sieben Abschnitten über Begrenzung und Umriß, geologischen Bau, Oberflächen­

gestaltung, Ströme, Flüsie und Seen, Klima, die Pflanzenwelt und die Thterwelt verbreitet und daß der „schildernde" Theil diesen Inhalt in

dreißig großartigen Landschaftsbildern zu lebendiger Anschauung dringt.

Wer sich den Genuß bereiten will, das eine oder andere dieser Bilder mit den darauf bezüglichen Seiten des ersten Theiles zu vergleichen, wird

sich überzeugen, wie wohl der Autor gethan hat, die künstlerische Einheit und Rundung derselben nicht unter die Vielheit von physikalischen Einzel­

heiten zerstückelt zu haben.

WaS bei einer kleinen Monographie ein

Fehler gewesen sein würde, wird hier zum Vorzug.

Auf das sorgfältigste

ausgearbeitete Tabellen, bestehend in einer Vergleichung der geologischen

Formation in Nordamerika und Europa, in einer Höhentafel und — da­

mit auch der dünne und

durchsichtigste Bestandtheil der Erdrinde, der

Luftkreis, nicht leer ausgehe — in einer meteorologischen Statistik, be­ schließen das Capitel der „Nachträge", während ein Dutzend elegant auS-

geführter, meist kartographischer Abbildungen an den zugehörigen Stellen dem Text einverleibt sind.

Betreffs der Anleihen, welche die Erdkunde bei der Naturwissenschaft

zu machen hat, ist in neuester Zeit über daS Zuviel und das Zuwenig lebhaft hin und her verhandelt worden, je nachdem die Einen den phy­ sikalischen Bestand, die Anderen den historischen als den eigentlichen Kern der Erdkunde betrachten.

Diese wichtige Frage, ob die Erde des Men­

schen wegen da ist, oder der Mensch um der Erde willen, wird im zweiten Band zur Entscheidung gebracht.

Hier wird wohlgeordnet nach taktischen

Regeln der Logik die gesammte Culturstreitmacht des Menschen in fünf

großen Zügen vorübergeführt:

„die natürlichen Bedingungen, die Be­

völkerung, die wirthschaftlichen Verhältnisse, Staat und Gemeinde; Kirche und Schule; das geistige Leben; die Gesellschaft, die Einzelbeschreibung der Staaten und Territorien" — Alles in so übersichtlicher Gliederung,

daß der große Unterschied zwischen der seither üblichen Darstellung der

sogenannten politischen Geographie und der Art und Weise, wie Ratzel denselben Stoff bewältigt hat, nicht deutlicher in die Augen springen kann.

In dieser lichtvollen Fassung der Culturzustände ist der Inhalt des

zweiten Bandes im voraus maßgebend für den ersten gewesen, insofern die unvermeidlichen Griffe in den Bereich der Natur nicht zu Uebergriffen

auSarten konnten.

Denn Natur und Mensch, Erdboden und dessen Be-

wirthschaftung, stehen in dem Verhältniß, daß die Culturgeographie nur daS als natürliche Bedingung der Culturentwickelung verwenden darf, was zur Begründung derselben durchaus erforderlich ist.

Umgekehrt wird aber

auch der Inhalt der physikalischen Erdkunde, die im Vorblick auf die An­

sprüche der Culturbetrachtung

einer richtigen Beschränkung unterworfen

war, maßgebend für diese, entsprechend der Einsicht, daß die Erde die Verheißung des Menschen und die Idee der Menschheit der Urgrund alles

Irdischen ist, daß Erde und Menschheit als organische Einheit, also die Erde selbst als Organismus aufgefaßt werden müsse. Wer die Selbständigkeit seiner Wissenschaft zu wahren gedenkt, wird

dazu am besten im Stande sein, wenn er, zugleich mit ihren Grenzen die Gegengrenzen trennend, auch in den Nachbargebieten nicht fremd ist, ein

Vortheil, dessen sich der Verfasser in bevorzugtem Maße erfreut, insofern

er den Ruf eines vollbürtigen Naturforschers genießt.

Von genauer Ab­

grenzung kann nicht die Rede sein, da geistige Gebiete sich den Farben

im Spectrum ähnlich verhalten.

Wenn also geographische Lehrbücher auf­

tauchen, die theilweise auch für geologische, astronomische und anderweitige Specialitäten gelten könnten, so liegt Erklärung und Abweisung nahe.

Erst im Begriff der Culturgeographie ist das Verhältniß der beiden

Seiten richtig gestellt.

Ihre ursprüngliche korrelative Gleichberechtigung

des natürlichen Daseins wird durch jenes sinnige Wort:

„die Natur ist

die Egeria des Menschen" nur scheinbar zu Gunsten der ersteren verschoben. Erhält doch die Natur diese Bedeutung mittelbar nur dadurch,

daß der

Mensch, indem er in ihrer Umgestaltung für seine Zwecke ein äußeres Spiegelbild seines inneren Wesens erblickt, zum Selbstbewußtsein und zu

selbsteigener Berathung sich erhebt.

weiß

Von den Offenbarungen der Natur

diese selbst nichts, wohl aber werden die von ihr ausgehenden

Culturmomente zu Offenbarungen im Menschen, d. h. in seiner mit dem Naturverständniß gleichen Schritt haltenden Selbsterkenntniß.

Der Mensch

denkt bewußt der Natur nach was in ihr vorgedacht ist, prägt ihr seine

Gedanken, in Culturwerken veräußert, auf und gibt ihr in sichtbarer Form zurück, was er von ihr empfangen hat, ohne daß er damit aufhörte, durch sie ferner, freilich in anderer Richtung, bestimmt zu werden.

Denn die

Abhängigkeit der Bewohner eines Bodens, den Culturanlagen bedecken

oder bedeckt haben, besteht fortan mehr in geistigen Impulsen und ist eine andere als diejenige, in welcher frühere Bewohner von einer noch gar

nicht oder wenig von der Menschenhand berührten Natur gestanden haben.

Soweit erscheinen Erde und Mensch coordinirt, abgesehen davon, daß die Erdwelt überhaupt nur denkbar ist in Beziehung auf den Menschen,

der Aufschluß und Kunde über sie gibt, nicht nur über das, was sie von Natur war, sondern auch über das, was er aus ihr gemacht hat.

Wird

aber auch das in Betracht gezogen, was, unter Benutzung der von ihr

ausgehenden Triebkräfte, der Mensch aus dem Menschen macht, so liegen

darin Hindeutungen auf ethische Ziele, die keinem Zweifel Raum kaffen,

worin die Culturgeographie ihren eigentlichen Schwerpunkt zu finden hat.

ES war des Verfassers Absicht, das Ganze solle „eine wiflenschaftltch gehaltene Geographie der Vereinigten Staaten ausmachen und solle

den Charakter eines praktischen NachschlagebucheS neben dem eines wissen­ schaftlichen Handbuches' tragen," Damit hat er, auch ohne es ausdrück­ lich zu erklären, an dem Beispiel eines einzelnen Staates das methodische

Verfahren für die künftige Bearbeitung von Lehrbüchern der allgemeinen Geographie thatsächlich vorgezeichnet, indem er einfach dem Wege, den die

Sache selbst genommen hat, nachgeht.

Denn der Boden, womit er beginnt,

ist als irdische Raumbedingung derselbe, wie der, womit er aufhört.

Der

Anfang ist die Naturbeschaffenhett, angeblich ohne Beziehung auf den

Menschen, das Ende ist ein Staatengebtlde.

Zwischen Anfang und Ende

verläuft eine Entwickelung in aufsteigender Linie.

Demnach schreitet die

Darstellung von der Umgestaltung des Bodens je nach festen und flüssigen Formen weiter zu den klimatischen Unterschieden, zu den organischen Pro-

ducten, zum Auftreten deö Menschen, zur allgemeinen Statistik der ihm

dienstbar gewordenen Natur, zu deren allseitigen Bewirthschaftung, zu den Verkehrsmitteln bis zum Staat als dem Inbegriff der organischen

Gliederung aller Richtungen der menschlichen Thätigkeit.

Indem der Verfasser mit der Einzelbeschreibung der Staaten und Territorien endigt, ist er wieder bei dem Grund und Boden, von dem

er ausgegangen war, angelangt.

Der Kreislauf hat sich geschloffen.

Er

gleicht aber nicht der leeren Einerleiheit der geometrischen Figur, sondern

ist vielmehr die mit Resultaten encyklopädischer Wissenschaftlichkeit erfüllte Einheit. Aus der wilden Natur eines zwischen Oceanen und den Extremen des

Klima'S ausgedehnten Länderraumes ist binnen wenig Jahrhunderten ein

im Innern und nach Außen fest abgegrenzter Staatenbau, die große Welt­ schule für unabsehbare künftige Cultursiege, hervorgegangen.

Diesen Ver­

lauf im Zusammenhang zu erzählen und den Proceß seines Werdens aufzudecken, überläßt die Geographie dem Geschichtschreiber und dem Phi­

losophen, betrachtet eS aber als ihre Obliegenheit, ihn als Princip der Anordnung durch die Darstellung des vorhandenen Natur- und CulturPreußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft r.

11

Zur geographischen Literatur.

160

bestände- durchscheinen zu lassen.

Mit feinem Takt dieser Befugniß ge­

nügend hat Ratzel, ohne sich an der Selbständigkeit anderer Disciplinen

zu vergreifen, es verstanden, der von ihm vertretenen Wissenschaft in der

vorwiegend culturgeographischen Ausstattung einen erneuten Halt zu sichern. Der Charakter der Gegenwart spricht sich gebieterisch in der Hoch­

haltung

deS

Aufschwunges einer

großartigen Technik aus,

in deren

Ausstellungsspiegeln er sich selbst erblickt, und so auch sich selbst gründ­ licher verstehen und erkennen lernt.

Der Hinweis auf den Kernpunkt,

daß die Wissenschaft in Uebereinstimmung mit dem Zeitbewußtsein, dem sie selbst mit zur Geburt verholfen hat, auch dessen Rüstung als Titel

trägt, hat hoffentlich seine Absicht erreicht.

Möge er dazu beitragen, daS

allgemeinere Interesse einer Erscheinung zuzuwenden,

deren Bedeutung

darin beruht, daß die Erdkunde, indem sie statt der bisherigen Gesichts­ punkte den der Culturgeographie in den Vordergrund stellt, nicht nur Er­

weiterung, sondern auch festere Begründung erfährt. Kritisches Eingehen auf das Einzelne ist hier nicht angezeigt und

wird, im Verhältniß der zu näherer Begründung nöthigen Studien, kaum schon seitens der Fachkreise zu erwarten sein. Beziehung Verschiedenes auf dem Herzen.

Auch Referent hat in dieser Da er „Drüben" ein kleines

Stück Culturgeographie praktisch jahrelang durchgemacht und neuerdings

den geistigen Abhub des Bleibenden in diesen Erfahrungen, als einen

Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Cultur, in seiner „Philosophie der

Technik" veröffentlicht hat, so liegt eS ihm nahe, sich in Betreff etlicher

Punkte später mit dem Verfasser auseinander zu setzen. Ratzel'S Buch ist, wie hiermit zum Schluß rühmend hervorgehoben wird, im vornehmen Sinne des Wortes ein typographisches Prachtwerk. Die Verlagshandlung von R. Oldenbourg in München hat auch in diesem Falle es verstanden, in der Form der Ausstattung den Vorzügen des In­ haltes würdig zu entsprechen.

Ernst Kapp.

Lessing. 15. Februar 1881.

Hundert Jahr ist er todt, und doch kommt eS uns vor, als hätten wir ihn persönlich gekannt, mit ihm verkehrt, und feierten seinen TodeStag

nur wie eines jüngst Dahingegangenen, mit herzlichem Andenken und mit dem Bedauern, daß es unS nicht mehr verstattet sein soll, von ihm über

alles was uns durch den Kopf geht Belehrung zu empfangen, oder auch

harmlos und lustig mit ihm zu plaudern.

So nahe stehn uns feine

Schriften, so sehr sind wir gewöhnt mit ihm zu denken und zu empfinden.

Von wie wenigen unserer großen Schriftsteller kann man das sagen! Wie fremd sind uns z. B. Klopstock und Wieland geworden! ja Männer,

die uns geistig so nahe stehn, die ebenso so stark, vielleicht noch stärker den eigentlichen Nerv unseres Lebens berührt haben: ich nenne z. B. Kant, Justus Möser und Herder!

Welche Mühe kostet eS uns, ihre Gestalt zu

vergegenwärtigen, den Zusammenhang ihrer Ideen zu überblicken!

Lessing

dagegen glauben wir vollständig zu kennen, und kennen ihn zum Theil

wirklich sehr gut.

Danzel'S Arbeit ist musterhaft, GervinuS' Darstellung,

so viel man auch gegen das Einzelne einwenden mag, bezaubernd, und

von den Unzähligen, die über Lessing geschrieben haben, scheint jeder von seinem Hauch wenigsten- einigermaßen angeweht zu sein.

Solche Popularität hat indeß auch ihre Bedenken.

Wenn man sich

eine Gestalt greifbar zu componiren versteht, so bildet man sich wohl ein,

sie

entspräche vollkommen dem Original,

obgleich denn doch manches

Wesentliche fehlt und manches willkührlich hinzugefügt ist.

Ein Irrthum

ist schon GervinuS begegnet und wird von den meisten Späteren nachge­

sprochen: der Irrthum nämlich, daß Lessing in all seinen Händeln — und sein Leben bestand aus einer Reihe von Händeln — in jedem Punkt

Recht gehabt hat.

Das führt zu dem weiteren Irrthum, die Urtheile und

Sentenzen, mit denen er feine Polemik abzurunden liebte, als geprägte Münzen der Wahrheit auszugeben und jeden Widerspruch als unerlaubt

abzuweisen.

Dabei kommt man nicht blos in Verlegenheit, offenbar wider11*

Lessing.

162

sprechende Sätze für gleichwerthig anzupreisen — Lessing pflegte selbst zu sagen:

einer Uebertreibung gegenüber müsse man nach der andern Seite

hin übertreiben! — sondern man verkennt auch Lessings Begriff von der

Wahrheit.

ES war keineswegs falsche Bescheidenheit, was Lessing be­

stimmte, seinen Leser zur schärfsten Controlle seiner Sätze zu ermahnen,

sondern die Erkenntniß, daß alle Wahrheit eine dialektische ist. Lessing hät sich wiederholt mit der größten Verachtung über das

Bestreben ausgesprochen, Schwarm zu machen; er hat wiederholt erklärt, daß ihm die philosophische Vertheidigung einer unphilosophtschen Ansicht

lieber sei als die unphilosophische Vertheidigung einer philosophischen An­ sicht.

Gleichwohl hat er, ohne eS zu wollen, Schwarm gemacht; eine

Menge mittelmäßiger Menschen, die ihn gründlich zu kennen glaubten,

weil ihnen sein Aeußeres bekannt war, hingen sich an seine Rockschöße. Gegen diesen Schwarm hat Herder wiederholt zu kämpfen gehabt, Jakobi

und später Friedrich Schlegel thaten eS nach Lessings Tod gegen daS

Ende des vorigen Jahrhunderts in Aufsätzen, die damals großes Aufsehn

erregten und großen Anstoß gaben.

DaS Positive, daS sie ermittelt zu

haben glaubten, hat sich nicht als stichhaltig bewährt, aber ihre Kritik war vollkommen berechtigt und verdient noch heute beachtet zu werden.

Denn

sie zerstörte ein aus dem Handgelenk verfertigtes Portrait, und nöthigte

Lessings Verehrer, daS scheinbar Ausgemachte in echt Lessing'schem Sinn

wieder in Frage zu stellen, und nach dem bestimmenden Kern seines Wesens zu suchen.

Der Versuch ist noch heute nicht umsonst, denn daS alte

Scheinportrait ist von Neuem wieder aufgetaucht.

Ich habe keinen Zweifel,

daß eS am heutigen Tage unzählige Mal wieder aufgefrischt werden wird; darum halte ich eS für wichtig, auch die Kehrseite zu zeigen.

ES ist verhängnißvoll für die Würdigung eines Schriftstellers, wenn

sich ein einzelnes Stichwort von ihm zu stark dem Gedächtniß einprägt.

So kennt Jeder Schillers Wort:

„Geben Sie Gedankenfreiheit!" und:

„An'S Vaterland an'S theu're schließ Dich an"! und so ist Schiller der

Dichter der Freiheit und des Vaterlandes. aller Munde:

Ebenso ist Lessings Wort in

„thut Nichts, der Jude wird verbrannt!"

Wenn eS sich darum handelte, Scheiterhaufen aufzurichten, so wäre

eS abgeschmackt, erst zu fragen wie sich Lessing dazu verhalten würde. Ebenso abgeschmackt, zu fragen, auf welche Seite er sich stellen würde,

wenn man, ohne gerade an Scheiterhaufen zu denken, das Borurtheil des deutschen und des christlichen Pöbels gegen die Juden zur Leidenschaft an­ fachte und zur Verfolgung hetzte.

Man braucht nicht erst Lessing zu sein,

um hier auf daS Härteste und Rücksichtsloseste zu verdammen.

Aber man muthet Lessing mehr zu.

Die politische Knechtschaft der

Juden, wie sie zu Lessings Zeit noch bestand, hat vollständig aufgehört, dagegen besteht das gesellschaftliche moralische Vorurtheil gegen die Juden noch fort.

ES ist eine historisch um so merkwürdigere Thatsache, da sie

sich nicht von gestern oder vorgestern herschreibt, sondern runde 3000 Jahre Jede historische Thatsache verlangt eine kritische Prüfung.

dauert.

ES

muß festgestellt werden, einmal, worin jenes Borurtheil eigentlich besteht?

und dann, auS welchen Gründen eS hervorgegangen ist?

Gesetzt nun,

Jemand, dessen recht eigentlicher Beruf eS ist, historische Thatsachen zu prüfen, unterzöge sich dieser Aufgabe, und käme zu dem Resultat: die

Schuld deS Vorurtheil» läge nicht blos an denen, die eS hegen, sondern auch an denen, auf die es sich bezieht:

könnte man wohl gegen diesen

Versuch moralisch etwas einwenden? selbst in dem Fall, daß die Deduktion wissenschaftlich nicht haltbar wäre?

Man wendet in der That moralisch etwas ein.

Freund! heißt eS;

waS Du da sagst, ist nicht uneben; Vieles ist sogar vollkommen richtig, dennoch bist Du tadelnSwerth.

Denn erstens giebst Du Aergerniß.

ES

leben unter unS so viele gute, edle hochachtbare und gescheute Juden, die nur den Einen Fehler haben, krankhaft empfindlich gegen Alles zu sein, waS gegen die Juden gesagt wird.

Zwar erklärst Du selber, bei dem,

waS Du NachthetligeS über die Juden aussagst, sehr viele Ausnahmen zu

machen: aber gerade die Bessern, die Du auSnimmst, werden das als eine doppelte Beleidigung empfinden und Dir den Rücken kehren.

thun Recht daran. Zweck:

Und sie

Zweitens giebst Du dieses Aergerniß ohne ersichtlichen

Du legst die Hand auf die Wunde, und erregst Schmerzen, ohne

ein Heilmittel zu geben.

Drittens endlich bestärkst Du den christlichen

Pöbel, der Dich zwar nicht liest, aber doch davon reden hört, in seinen

Vorurthetlen. Doppelt aber bist Du zu tadeln, da Du als Lehrer der Wissenschaft

verpflichtet bist, im Sinn Lessings Toleranz zu üben. Wir wollen uns einmal vorstellen, daß Lessing diese Einwendungen

vernähme.

Zuerst würde er seinen Ohren nicht trauen.

„Wie?

Ein

Lehrer der Wissenschaft soll die Verpflichtung haben, Toleranz zu üben?

und zwar Toleranz in dem Sinn, wie sie ein einzelner Schriftsteller ge­

lehrt, der bei allem guten Willen doch auch wohl irren konnte?

Ich habe

mir bis jetzt eingebildet, dem Lehrer der Wissenschaft liege keine andere

Verpflichtung ob, als treu und nach besten Kräften die Wahrheit zu suchen

und sie laut und vernehmlich zu verkündigen." „Ich soll dem Lehrer der Wissenschaft verboten haben, Aergerniß zu

geben?

Wer in der Welt hat denn größeres Aergerniß gegeben als ich?

da ich erst den Rationalisten meine Briefe und dann den Orthodoxen die

Wolfenbüttler Fragmente und meine Dupliken an den Kopf warf. als

die

Juden

standen

mir

wahrhaftig

die

Rationalisten

Näher

die

und

Orthodoxen, mir, dem Sohn eines rechtgläubigen Pastors, dem Erben

einer ganzen Predigerfamilie, der ich mich hundertmal und mit vollster

Ueberzeugung über den unendlichen Werth des Christenthums und der christlichen Kirche ausgesprochen habe.

Haben sich die Rationalisten und

die Orthodoxen an meinen Fragmenten geärgert? — ES scheint so; grob

genug gegen mich sind sie gewesen.

Haben sich die Feinde des Christen­

thums durch mein Auftreten in ihren Vorurtheilen bestärken lassen? ist möglich, man möge mich darum verketzern.

Es

Aber abgesehn davon, daß

ich darauf rechnete, zur Heilung der Schäden unserer Kirche beizutragen,

indem ich die Hand darauf legte, war für mich der kategorische Imperativ, die Wahrheit zu sagen und sie so zu sagen, daß sie Jeder versteht.

Mich

zum Papst der Toleranz zu machen und von mir zu verlangen, ich solle

Jeden verketzern der Aergerniß giebt: — das meine Herren, geht mir gegen den Strich."---------

Ich sehe aber nicht ein, warum ich Lessing erst Worte in den Mund legen soll, die er hätte sagen können, da er eS selber wirklich und besser

gesagt hat.

Man schlage den vierten Anti-Goetze auf und lese darin

Folgendes. „Wer, ehe er zu schreiben beginnt, vorher untersuchen zu müssen glaubt, ob er nicht vielleicht hier einen Schwachgläubigen ärgern, da einen

Ungläubigen verhärten könne, der entsage doch nur allem Schreiben! Ich mag keinen Wurm vorsätzlich zertreten, aber wenn es mir zur Sünde gerechnet werden soll, daß ich ungefähr einen zertrete, so weiß ich

mir nicht anders zu rathen, als daß ich mich gar nicht rühre; kein- meiner

Glieder aus der Lage bringe, in der es sich einmal befindet; zu leben aufhöre.

Jede Bewegung im Physischen entwickelt und zerstört, bringt

Leben und Tod; bringt diesem Geschöpf Tod, indem sie jenem Leben bringt. Soll lieber kein Tod sein und keine Bewegung? Oder Tod und Be­ wegung?" —

Was hat es für einen Zweck, die Hand auf eine Wunde zu legen, wenn man kein Heilmittel anzugeben weiß? — Vielleicht ist gerade dies Handauflegen das Heilmittel.

In geistiger Beziehung gewiß.

Und der

Versuch, das historische Borurtheil gegen die Juden kritisch zu zersetzen, ist gerade ein Mittel, es dem Pöbel aus den Händen zu reißen.

Was heißt Borurtheil?

Ein Schluß aus Induktion: wenn ich bei

zwanzig Menschen derselben Gattung die

nämlichen Eigenschaften ange-

ttoffen habe, so schließe ich beim einundzwanzigsten unwillkürlich, daß die­

selben Eigenschaften wieder da sein werden.

Ueber den Pöbel ist dies

Vorurtheil so mächtig, daß er ihm folgt, auch wenn der Augenschein ihn eine- besseren überführen sollte; der Gebildete glaubt dem Augenschein und sagt sich; der Einundzwanztgste hat diese Eigenschaften nicht.

Versteht

er dann Schlüsse zu bilden, so wird er hinzu setzen: folglich müssen diese Eigenschaften doch nicht unzertrennlich mit der

Gattung verknüpft sein.

Wenn man z. B. allen Deutschen nachsagt, sie seien Säufer und Spieler, so wird man das zurücknehmen, sobald man die genügende Anzahl Deutscher gefunden hat, die eS nicht sind; ebenso wird man im entsprechenden Fall die

Behauptung, daß alle Juden Wucherer sind, zurücknehmen.

Freilich wird

man dabei noch das Vorurtheil beibehalten dürfen, daß im Charakter der

Deutschen die Neigung zu Spiel und Trunk, im Charakter der Juden die

Neigung zum Wucher stecke. Ein Gespenst verschwindet, sobald ich dreist darauf loSgehe; ein Bor­

urtheil wird aufgehoben oder in engere Grenzen zurückgeführt, sobald ich eS im Einzelnen zergliedere.

Das Vorurtheil wucherte kräftig fort, so

lange man, um nicht Aergerniß zu geben, eS in feiger Scheu den Juden

versteckte; eS wird sich mehr und mehr mäßigen, je gründlicher darüber zwischen den Gebildeten der beiden Parteien diScutirt wird.

Ob der Pöbel

davon hört, ist ganz gleichgültig; für den sind andere Maaßregeln da als die DiScusston: wohlgemerkt der jüdische wie der christliche Pöbel; und daß

beide gleich schlimm sind, hat sich in diesen Tagen gezeigt. Die DiScussion hat aber noch einen höheren Zweck: auf den Kern

der Sache zu dringen.

Von tausend Borwürfen, die den Juden gemacht

werden, kann der Einzelne immer sagen: sie treffen mich nicht.

Aber Einer

Schuld, obgleich persönlich unschuldig, kann er sich nicht entziehn: einem

Stamm anzugehören, in dem seit drei Jahrtausenden Race und Religion

zusammenfallen, der sich schmeichelte, das aüSerwählte Volk Gottes zu sein, der jede Vermischung mit andern Völkern ablehnte, der in dieser Jsolirtheit

fortfuhr, als seine politische Existenz aufgehört hatte, als er genöthigt war, sich der Sprache und den Gesetzen anderer Völker anzubequemen.

Ein Phänomen, wie in der Art in der ganzen Weltgeschichte kein

zweites vorkommt!

Es zeugt von einer ungeheuren bewundernswürdigen

genetischen Lebenskraft. Aber in dieser Stärke liegt auch das Schicksal des Volks: gerade diese spröde Lebenskraft deS Einen Volks hat das Miß­

wollen der andern Völker herausgefordert, und fordert eS noch heraus. Der Einzelne freilich hat fein Schicksal nicht gemacht, nicht nach seiner

Wahl ist er Jude geworden, aber zu tragen hat er das Schicksal als ob

er es selber gewählt hätte, so wie Jeder das Schicksal seines eignen ihm angeborenen Charakters zu tragen hat. —

Wie kann nun die Versöhnung eintreten? — Die politische Gleich-

Lessing.

166

berechtigung ist errungen und eS darf nicht daran getastet werden; die gesellschaftliche Gleichberechtigung wird durch kein Gesetz gefördert oder be­ einträchtigt.

Aber jedem gebildeten Juden muß die Möglichkeit geboten

werden, gesellschaftlich auf gleichem Fuß mit seinen germanischen Mit­

bürgern zu stehn, sobald er erkennt, daß auch er etwas gut zu machen hat, daß eS eine Vermessenheit ist, den Werth anderer Menschen nach ihrer

Stellung zur Judenfrage abzuschätzen, auch einem, den er sonst in jeder

Beziehung achten und verehren muß, wenn

die Tischgemeinschaft zu kündigen,

er sich einmal mißliebig über die Juden

ausgesprochen; sobald

er zu der Einsicht kommt, daß diese nervöse Empfindlichkeit schon gegen daS Wort „Juden" oder „Semiten" oder „Anhänger der mosaischen Con-

fession" nichts anderes ist als der alte durch Jahrtausende lange Gene­ rationen vererbte zurückgetretene Wahn,

daS auSerwählte Volk Gottes

zu sein.

Und hier rufe ich freudig den Dichter des Nathan zu Hilfe, den man viel citirt, aber wenig im Zusammenhang liest.

Die Tendenz deS Nathan ist, nachzuweisen, daß auch aus dem Juden­ thum heraus ein vollkommen weiser, tugendhafter und idealer Charakter

erwachsen könne; nachzuweisen ferner, waS dem Dichter nicht minder wichtig war, daß eS einem solchen Charakter wohl gelingen könne, die Borurtheile

gegen die Juden zu überwinden und sich eine gleichberechtigte Stellung in der Gesellschaft zu gewinnen; wohlgemerkt beides, ohne daß er aufhört Jude zu sein.

Daß Lessing diese Absicht gelungen, zeigt den reifen dramatischen Dichter.

Der Charakter NathanS ist wirklich ein Meisterstück, ebenso wie

der gegenspielende des Tempelherrn.

In einem älteren Versuch, dem

Lustspiel „die Juden", war dieselbe Absicht völlig mißlungen, denn der

Tugendhafte, der sich zuletzt als Jude entpuppt, hätte ebenso gut ein ver­

kappter Baron, oder ein verkappter Weinreisender oder Gott weiß was

sein können, denn er hat gar keine individuellen Merkmale.

In Nathan

dagegen, wenn man seine Sprache, seine Bewegung, die ganze Art seiner Gedanken-Verbindungen aufmerksam verfolgt, erkennt man die Art seines

Stammes gar wohl heraus.

Es wäre ästhetisch nicht zu rechtfertigen,

wenn der Schauspieler diese Merkmale stärker weniger aber ist zu rechtfertigen,

auftragen wollte; noch

wenn er sie gänzlich unterdrückt und

den Nathan zu einem Heros macht, der auf die Andern von oben herab

blickt. Es soll nicht blos der Angehörige einer besonderen Religion, sondern der Angehörige eines unterdrückten Stammes, der klug rechnende Handels­ mann dem stolzen Krieger und Ritter gegenüber gestellt werden; gerade

von diesem soll gezeigt werden, daß er diejenigen, die auf ihn von oben

herab sehen, blos durch seinen Geist nöthigt, die Augen vor ihm niederzu­

schlagen.

Lessing dachte an seinen Freund Mendelssohn, den unansehnlichen

halb verwachsenen Mann.

Gleich ihm hat Nathan eine Freude daran,

durch Witz und Scharfsinn die Andern zu necken und in Verlegenheit zu

bringen, so Daja, Alhafi, den Tempelherrn, selbst den Sultan.

Durch

seine ganze Lage an Behutsamkeit gewöhnt, hält er mit seinen eigensten Gedanken und Empfindungen zurück; er zeigt gleichsam nur die Außen­

seite, um durch diese zu wirken.

Dem Hochmuth der Andern setzt er nicht

einen entsprechenden Hochmuth oder Trotz entgegen; er faßt sie bei ihren

eigenen Ideen und Empfindungen, um sie zu sich herüber zu leiten.

Keines­

wegs kehrt er, wie seine modernen Verehrer ihm empfehlen, denjenigen, die sein Volk lästern, ihn aber ausnehmen, den Rücken.

Als der Tem­

pelherr ihm zuruft: -------------- Wißt Ihr, Nathan, welches Volk Zuerst das auSerwählte Volk sich nannte? Wie? wenn ich'dieses Balk nun zwar nicht haßte,

Doch wegen feines Stolzes zu verachten

Mich nicht entbrechen könnte?

Als der Tempelherr so das Judenthum lästert, ruft ihm Nathan keines­

wegs zu: du willst die Inquisition wieder einführen! hebe dich weg von mir! wir können nicht an einem Tische sitzen!

Er sagt vielmehr Folgendes:

----------------- Ha, Ihr wißt nicht, wie viel fester

Ich nun mich an Euch drängen werde! — Kommt Wir müssen, müssen Freunde sein!

Mein Volk so sehr Ihr wollt.

Verachtet

Wir haben beide

UnS unser Volk nicht auserlesen.

Sind

Wir unser Volk?

So konnte Nathan sprechen, weil er, ganz anders als Mendelssohn, die Vorurtheile seines Stammes wirklich überwunden hatte, und die rela­ tive Berechtigung jener Einwände begriff, während Mendelssohn dein Göt­

tinger Professor Michaelis eine mißliebige Kritik der „Juden" volle dreißig

Jahre nachtrug, und, was daS characteristische ist, im Groll sie seinem Gedächtniß falsch einprägte.

Auf ihn, auf Mendelssohn bezieht sich viel­

leicht, was der Tempelherr später zu Saladin sagt: „Der Aberglaub', in dem wir ausgewachsen,

Verliert, auch wenn wir ihn erkennen, darum Doch seine Macht nicht über nnS.

ES sind

Nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten.

Der Aberglauben schlimmster ist, den seinen Für den erträglichem zu halten, dem allein Die blöde Menschheit zu vertraun, bis Sie helleren Wahrheitstag gewöhne.---------

Dieser Aberglauben, wie eS der Tempelherr und mit ihm Lessing nennt, war der Aberglaube Mendelssohns, der doch die besten seiner Ueber­

zeugungen auS der allgemeinen europäischen in ihrer letzten Begründung christlichen Bildung geschöpft hatte.

Daher betrachtete er das Christen­

thum im Stillen mit Ueberhebung, und eS war ein Laut, der ihm wider

Willen entschlüpfte, wenn er nach der Lectüre deS Nathan

schrieb:

an Lessing

„Im Grunde gereicht er der Christenheit zur wahren Ehre! —

Auf welcher hohen Stufe muß ein Volk stehn, in welchem sich ein Mann zu dieser Höhe der Gesinnung aufschwingen konnte!

Wenigstens wird

Leider scheint noch heute diese Nachwelt

die Nachwelt so denken müssen." nicht gekommen zu sein.

Wie stellt sich nach Lessingö Auffassung Nathan zu seiner Religion? — „Welch ein Jude!" ruft einmal der Tempelherr mit Beifall; „und der

so ganz nur Jude scheinen will!"

AlS der Sultan von ihm ein Ur­

theil über den Werth der drei offenbarten Religionen

er zu sich selbst:

und ganz und gar nicht Jude,

also darauf

verlangt, sagt

„So ganz Stockjude sein zu wollen, geht schon nicht,

geht noch minder."

hin geprüft werden,

Was er sagt, muß

ob eS Verstellung

oder

aufrichtige

Meinung ist. Der Sultan hat ihm eine Falle gestellt, und Nathan, der das merkt,

sucht eine Ausflucht in der bekannten Fabel von den drei Ringen, die Lessing im Boccaccio fand und die ihm zuerst die Idee seines Stücks eingab.

Das erste Stadium seiner Darstellung ist: die eine von den drei

Religionen ist die richtige; aber welche? Das kann durch objective Gründe nicht ausgemacht werden, darin muß jeder den Ueberlieferungen seiner

Väter traun.

So rechtfertigt Nathan, daß er Jude bleibt.

Lessing hat

in seinen Briefen wiederholt ausgesprochen, daß eS seine Meinung nicht

wäre, daß vielmehr jeder die ihm überlieferten Begriffe von Gott an

seiner eigenen Vernunft zu prüfen habe.

Nun aber das zweite Stadium.

Durch die Spannung des Sultans

kommt in Nathans Gedanken ein höherer Flug; er führt die drei Reli­

gionen vor den Richter, und dieser verlangt, daß sie ihre Wahrheit an ihren Früchten nachweisen sollen: wenn keine von ihnen im Stande ist, alle

Menschen in Liebe zu vereinigen, so ist keine die wahre, so sind die An­ hänger aller betrogen; da sie aber Alle im guten Glauben handeln, so

möge jeder versuchen, innerhalb der ihm angewiesenen Sphäre sich mög­

lichst bis zum rein Menschlichen durchzubilden, bis endlich ein höherer Richter das neue bleibende Evangelium verkündigen wird.

Die Idee, daß innerhalb jeder einzelnen Religion eine Annäherung an das Ideal des Reinmenschlichen möglich

sei, ist Lessings wirkliche

Meinung, jedoch nicht ganz in dem Umfang, wie sie hier und sonst im Eiser der dramatischen Action vorgetragen wird.

Nathan hat, als er von den Christen das schändlichste Unrecht erdul­ dete, an einem Christenkind eine edle That gethan.

Der Klosterbruder

ruft aus: „bei Gott, Ihr seid ein Christ! Ein besserer Christ war nie!" Darauf antwortet Nathan:

„Heil unS!

Denn was mich euch zum

Christen macht, das macht euch mir zum Juden!"

geschickte Bolte.

Das ist zuletzt doch eine

Der Klosterbruder wollte nicht sagen: So handeln die

meisten Christen! Sondern: so handelnd erfüllst du die höchsten Gebote

des Christenthums! Und in der That lehrt das Christenthum: Segnet die Euch fluchen! thut wohl denen die Euch hassen!

Bon einem solchen Ge­

bot sagt das Judenthum Nichts. In seiner innersten Ueberzeugung coordinirte Lessing keineswegs die

beiden Religionen als gleichwerthig. In der „Erziehung des Menschengeschlechts" wird das alte Testament

als ein Lehrbuch für ein kindisches Volk dargestellt, welches seinen Werth

verlieren mußte, so bald eine reifere Bildung deS Herzens nach höheren Offenbarungen verlangte.

Eine höhere Offenbarung, freilich nicht die

höchste, enthielt das neue Testament; so bald es erschien, hörte die all­

gemein menschliche Berechtigung deS alten auf. auf Abwege gerathen.

Ja schon ftüher war eS

„Jedes Elementarbuch ist nur für ein gewisses

Alter; das ihm entwachsene Kind länger dabei zu verweilen ist schädlich, denn dann muß man mehr hinein legen als darin liegt, mehr hinein tragen als es fassen kann; man muß der Anspielungen und Fingerzeige

zu viel suchen und machen, die Allegorien zu genau auSschütten, die Bei­ spiele zu verständlich deuten, die Worte zu stark pressen. DaS giebt dem

Kinde einen kleinlichen, schiefen, spitzfindigen Verstand, daS macht eS geheimnißreich, abergläubisch, voll von Verachtung gegen alles Faßliche lind

Leichte. — Die nämliche Weise, wie die Rabbiner die heiligen Bücher behandelten.

Der nämliche Charakter, den sie dem Geist ihres Volkes

dadurch ertheilten!"---------

Hätte Lessing heute so geschrieben, so würde man ihm vorgehalten haben, daß er durch dieses Aergerniß gegen das Gebot der von Lessing

verkündeten Toleranz verstieße. LessingS wirkliche Meinung war: in jeder Religion kann man zum

reinen Ideal der Menschheit Vordringen, aber die eine macht eS leichter als die andere.

Und das gilt noch heute.

Man macht den Juden viele falsche Vor­

würfe, z. B. Mangel an Muth;

ein thörichter Vorwurf, der sich nur

daraus erklärt, daß jeder Stamm eine andere Farbe des Muths zeigt.

Aber einen Uebelstand der modernen jüdischen Bildung wird Niemand ableugnen: sie erschwert daS ruhige gesunde Selbstgefühl. entwickelten, zart organisirten Naturen!

es gar nicht.

Grade bei fein

Denn vom gemeinen Juden gilt

Jenen liegt eine bestimmte Form deS Ehrbegriffs, durch

Generationen vererbt,

in der Natur; eine andere haben sie durch die

europäische Gesittung überkommen.

Beides deckt sich keineswegs, sie müssen

den Leitton erst suchen, und so lange sind sie unsicher, leicht geneigt, den von Auswärts überkommenen Ehrbegriff nervös zu übertreiben.

Stimmung ihnen zuzurufen:

die Ehre verlangt,

In solcher

dem Beleidiger deS

Stammes den Rücken zu kehren, heißt nicht, sie auf den rechten Weg

leiten.

Für die correcte Durchführung dieses Problems fehlt im Nathan eins, die bestimmte Zeichnung des sittlichen Bodens, auf dem es sich abspielen

soll.

Das Zeitalter Saladins ist nicht blos genannt,

es gehört wesent­

lich zum Verständniß und zum Urtheil über die Motive der einzelnen

Personen.

Vieles aber will nicht stimmen.

Der Patriarch verweist dem

Tempelherrn mit dem blos singirten „Problems", ob ein Jude ein Christen­ mädchen confessionslos erziehen dürfe, an daS Theater, wo man dergleichen

pro et contra zu behandeln pflege: wo sollte der Tempelherr ein solches

Theater wohl in Jerusalem aufsuchen?

zeichnet: so wie

Ueberhaupt ist der Patriarch ver­

er drückt sich kein Fanatiker auS;

er spielt in daS

Publikum hinein, um ihm mit jedem Wort deutlich zu machen, was für

ein geriebener Hallunke er fei.

Man rühmt wiederholt feine Klugheit,

trotzdem vertraut er dem Klosterbruder, den er doch durchschauen muß, fortwährend Geheimnisse an, die ihm selber an Kopf und Kragen gehn. Daja soll eine bigotte Christin sein, gleichwohl findet sie es ganz unbe­

denklich, daß ein Tempelherr, der daS Gelübde der Keuschheit abgelegt, ihre Recha heirathet und mit ihr in'S Abendland zurückkehrt: es fällt daS um so mehr auf, da wir aus dem ersten Entwurf deS Stücks ersehn,

daß dies Bedenken dem Dichter nicht entgangen war.

Der Patriarch

verspricht dem Tempelherrn, wenn er sich seinem Dienst ganz widmen wolle, den Besitz RechaS und den dazu nöthigen Dispens vom Papst.

Man sieht daraus zugleich, daß ursprünglich der Tempelherr in seiner Anzeige NathanS weiter gehn sollte als später berichtet wird. Endlich fällt die Idee NathanS, Recha auch in den Formen religionslos

zu erziehn, zu sehr aus dem Costüm.

Was er ihr für Ideen beibrachte,

war seine Sache, aber an das Gesetz, daS doch den bei weitem größeren

Theil des Lebens ausfüllte, mußte er sie binden, sonst wären die Juden von Jerusalem schneller über ihn gekommen als der Patriarch: Mendels­ sohn konnte es thun, in seiner Familie waren auch bald sämmtliche Con-

fessionen vertreten, es gab Herrnhuter, Katholiken und Juden; aber das war im Zeitalter Friedrich des Großen.

An sich würde gegen dies Jneinanderspielen zweier Zeitalter nichts zu erinnern sein: in Saladin könnte man ein Stück vom alten Fritz finden, im Tempelherrn ein Stück von Lessing; im Nathan den ganzen

Mendelssohn, im Alhafi einen Berliner Schachfreund, endlich im Patriarchen den Hauptpastor Göze.

Nur stimmen zu diesem aufgeklärten Zeitalter,

dessen Farbe sämmtliche Figuren tragen, nicht die Scheiterhaufen, die man doch nicht entbehren kann, um Nathan in das Licht zu stellen, das ihm

zukommt. — ES hat Zeiten gegeben, wo Lessing hart mit den Rationalisten rechtete,

weil sie in das historisch gegebene Christenthum ihre eigne Vernunft hin­

eintragen wollten, wo er sich mit den Orthodoxen gegen sie verbündete; dann wieder Zeiten, wo er eben diese Umwandlung des Ueberlieferten in Vernunftsätze als schlechthin nothwendig darstellte.

Diese Beziehung auf

die geistigen Interessen des Tages traten um so schroffer hervor, da

Lessing selten oder nie daran dachte, die wirklichen oder scheinbaren Wider­ sprüche in einem zusammenfassenden Lehrgebäude auszugleichen.

In dem Bestreben, der gemeinen Vorstellung gegenüber für die un­ ruhige Polypragmosyne Lessings den eigentlichen Brennpunkt zu finden,

kamen sowohl Jakobi als Schlegel zu dem Resultat, er sei eigentlich ein

philosophischer Kopf gewesen, und darin liege seine tiefere Bedeutung für die deutsche Litteratur; beide waren sogar nicht abgeneigt, in seiner philo­ sophischen Richtung etwas Mystisches zu finden.

Unzweifelhaft hat Lessing

überall, wo er einen philosophischen Gegenstand berührte, treffende und

wesentliche Gesichtspunkte gefunden, so in Bezug auf die Aesthetik des Aristoteles.

Aber diese Gelegenheiten boten sich selten und Lessing, der

ganz Schriftsteller war, der selber erklärte, seine Gedanken entwickelten

sich erst im Schreiben, will nach dem beurtheilt sein, was er wirklich ge­

leistet hat, nicht nach dem, was er hätte leisten können. Jakobi glaubte, aus einem Gespräch, in dem er doch mehr selber

vortrug als den Andern zu Wort kommen ließ, entnehmen zu müssen, daß Lessing ein Spinozist gewesen sei. gesprochen.

Dem wird noch heute zuweilen nach­

Ich finde aber, daß in dieser Streitfrage Mendelssohn voll­

kommen im Recht war, die Aussage Jakobi's ganz obenhin zu behandeln.

Schon in dem, was Jakobi selbst mittheilt, finden sich handgreifliche Un­

richtigkeiten.

Er nimmt z. B. an, und glaubt auch darin Lessings Mei­

nung zu treffen, daß die prästabilirte Harmonie eine Erfindung Spinoza's sei, während Lessing diese Ansicht (Lachmann B. 11 S. 112) vollständig widerlegt hatte.

„Leibniz", sagt er mit Recht, „will durch seine Harmonie

daS Räthsel der Bereinigung zweier so verschiedener Wesen als Leib und

Seele sind auflösen; Spinoza hingegen sieht hier nichts Verschiedenes, sieht

also keine Vereinigung, sieht kein Räthsel, das aufzulösen wäre."

Wenn sich Lessing Jacobi gegenüber zu Spinoza zu bekennen schien, so wollte er damit nur seine völlige Lossagung von dem gemeinen Kirchen­ glauben recht stark betonen; übrigens war er wie das ganze Zeitalter,

wie namentlich sein Freund Mendelssohn, dem in dieser Angelegenheit die Priorität zukommt, durch die Wölfische Schule gegangen und hatte sich

dann zu der eigentlichen Quelle, zu Leibniz gewandt.

Er studirte Leibniz'

Werke nach allen Richtungen hin; wo er auf ihn zu sprechen kommt, ge­

schieht eS im Ton der höchsten Verehrung, was bet Lessing nicht gerade

häufig ist, und mit fast völliger Billigung.

In einer Antwort auf eine

1776 von Wieland gestellte Preisaufgabe über das Verhältniß der Schwär­ merei zur Philosophie (Lachmann 11. S. 467) sagt er u. a.:

„Wer war

mehr kaltblütiger Philosoph als Leibniz, und wer würde sich die Enthu­ siasten ungerner haben nehmen lassen als Leibniz? Denn wer hat so

viele Enthusiasten besser genutzt als eben er? siasten gleich wohl mehr verhaßter?

Und wer ist den Enthu­

Wo ihnen sein Name schon aufstößt,

gerathen sie in Zuckungen; und weil Wolff einige von Leibnizen'S Ideen, manchmal ein wenig verkehrt, in ein System verwebt hat, das ganz gewiß nicht Leibnizen'S System gewesen, so muß der Meister ewig seines Schü­ lers wegen Strafe leiden.

Einige wissen zwar sehr wohl, wie weit Meister

und Schüler von einander abstehn, aber sie wollen eS nicht wissen.

Es

ist so bequem, unter der Eingeschränktheit des Schülers den scharfen Blick

des Meisters zu verschreien, der immer genau wußte, ob und wie viel eine unverdaute Vorstellung Wahrheit enthalte."

Das war Frühjahr 1776

geschrieben, also zur Zeit seiner völligen Reife, nur vier Jahre vor seiner

Unterredung mit Jacobi.

Am Schluß der Schrift, in welcher Lessing am meisten den Schleier wegzliziehen scheint, der sein geheimes Denken verhüllt, in der „Erziehung

des Menschengeschlechts," spricht er von der ewigen Fortdauer und Trans­ formation der Seelen: ein wenn man will bildlicher Ausdruck, der wenn

man für ihn die abstracte Form sucht, unbedingt auf Leibniz'S Monaden zurück führt.

Diese Lehre war dem System Spinoza'» entgegengesetzt,

denn für Spinoza gab es nur Eine Substanz, während Leibniz eine un­

endliche Zahl substantieller d. h. ewiger geistiger Wesen behauptete. Freilich würde sich Lessing ebenso wenig einen Leibnizianer genannt

haben als einen gläubigen Anhänger irgend eines andern Philosophen; er war eben ein freier Denker, und weit entfernt, sich in einem eigenen oder fremden philosophischen System fertig eingerichtet zu glauben.

Kurze

Zeit nach seinem Tode erschien die „Kritik der reinen Vernunft".

ES

wäre sehr interessant, zu wissen, wie sich Lessing dazu gestellt haben würde,

eS aber errathen zu wollen wäre mißlich.

Bisher hatte Lessing von Kant,

so weit sich übersehen läßt, nichts gelernt, so nahe sich die Gebiete ihrer Forschungen auch berührten, Kant dagegen verdankt Lessing viel, namentlich

in seiner Religionsphilosophie. Mit LessingS Tod gewinnt die deutsche Prosa ein vollständig neues

Ansehn.

Während der Herrschaft der Wolfischen Philosophie setzte man

die methaphhsische letzte Begründung der Denkformen als bekannt voraus, und die besten Schriftsteller, Lessing voran, drückten sich in der Sprache

des gemeinen Mannes auö; das ging nicht mehr, seitdem Kant das Volk nöthigte, sich umzudenken, gerade die Grundlagen der bisher auf Treu

und Glauben angenommenen Wahrheit kritisch zu prüfen: wer nun noch

gelten wollte, mußte sich der neuen Kunstausdrücke bedienen. Gerade darum ist noch heute Lessing im Durchschnitt populärer alS viele sehr bedeutende

spätere Prosaiker.

Bei seiner universalen Beschäftigung mit den entlegensten Gebieten der Wissenschaft, für welche sich die Stellung eines Bibliothekars so recht

eignete, war eS doch Eine Wissenschaft, deren er sich als Schlüssel zu allen andern bediente, die Philologie.

Die Methode seines Forschens auf dem

Gebiet der Theologie, der Aesthetik, der Geschichte war die philologische

im höheren Sinn.

Selbst wo er sich an das Jenseits wagte, suchte er

sich erst philologisch über das was man eigentlich zu fragen habe zu

orientieren. Zur philologischen Methode gehört u. a., daß man den Gegner erst vollkommen aushört, daß man erst genau zu erfahren strebt, was er

will, sei es auch dem ersten Anschein nach noch so unverständig, ehe man urtheilt.

Dies Bedürfniß und diese Fähigkeit, zu hören, ist es, was man

bei Lessing mit Recht Toleranz nennen darf: sie will aber keineswegs so

viel sagen alS Nachsicht im Endurtheil, wenn das Verhör geschlossen ist. Nun kommt aber bei LessingS wissenschaftlichen Schriften nicht blos

die Methode des Forschens, sondern die Methode der Darstellung in Be­ tracht.

Lessing war ein bedeutender Gelehrter, aber er war mehr Schrift­

steller als Gelehrter, und das ist vielleicht der Hauptgrund, warum von

so manchen eingeschnürten Fachleuten seine Gelehrsamkeit nicht für voll angenommen wurde.

Freilich war er immer mit ganzem Herzen bei der

Sache: was er zu erweisen suchte war ihm heilige Ueberzeugung; aber

zugleich hatte er bei allen seinen Schriften einen künstlerischen Zweck, oder wenn man will, ein künstlerisches Bedürfniß; die Form, in der er seine

Sache vortrug, beabsichtigte freilich, seiner Ansicht leichteren Eingang zu verschaffen; aber — er hätte sie auch ohne das gewählt.

Die Methode seiner Forschung war die philologische, die Methode seiner Darstellung die dramatische.

Schon bei einer seiner älteren ge­

lehrten Schriften fiel dem Philologen ReiSke der dramatische Gang auf,

und Goeze warf ihm einmal geradezu seinen dramatischen Stil vor.

„Was

kann ich dafür", antwortete Lessing, „daß ich nun einmal keinen andern habe? Daß ich ihn nicht erkünstle, bin ich mir bewußt, auch bin ich mir bewußt, daß er gerade dann die ungewöhnlichsten CaScaden zu machen

geneigt ist, wenn ich der Sache am reifsten nachgedacht habe: er spielt mit der Materie um so muthwilliger, je mehr ich erst durch kaltes Nach­

denken derselben mächtig zu werden gesucht habe.

Sie wollen doch nicht

behaupten, daß Niemand bestimmt und richtig denken kann, als wer sich des eigentlichsten, gemeinsten, plattesten Ausdruckes bedient?

Daß den kalten,

symbolischen Ideen auf irgend eine Art etwas von der Wärme und dem Le­ ben natürlicher Zeichen zu geben suchen, der Wahrheit schlechterdings schade?" Diese Wahrnehmung berechtigt uns, wie ich glaube, bei Lessing den

Kern seines schriftstellerischen Wirkens da zu suchen, wo er aller Welt vor Augen liegt.

Lessing begann mit dem „jungen Gelehrten",

er schloß

mit dem

„Nathan", dazwischen liegt die „Minna von Barnhelm" und die „Emilia",

die „Hamburger Dramaturgie" und der „Laokoon", dessen Deductionen

sich anscheinend auf die Poesie überhaupt, in der That aber vorzugsweise auf die dramatische Poesie beziehn.

Er hat das französische Theater todt

geschlagen, den Shakespeare zu Ehren gebracht, dem Publikum die Augen

für die dramatischen Gesetze des Aristoteles

geöffnet.

Mit all diesen

Werken hat er Epoche gemacht und würde, wenn er nichts anderes geleistet,

eine der hervorragenden Größen unserer Litteratur sein.

schon

Aber

dieser Eindruck verstärkt sich noch sehr durch seine prosaischen Schriften. Goethe sagt einmal von seinen Genossen aus der Frankfurter Zeit,

unter ihren Händen hätte sich alles was ihnen vorkam dramatisch ge­ staltet.

Das hörte bei Goethe später auf, wo sein Dialog zuweilen sogar

etwas Schwerfälliges hat.

Bei Herder fehlte das Talent gänzlich; wo

er Rede und Gegenrede versucht, verwirrt er sich und findet keinen AuSgang.

Bei Lessing findet sich der dramatische Trieb und

daS dramatische

Talent von Anfang bis zu Ende seines Lebens, von der Kritik deS Lange­ schen Horaz Ibis zu den Anti-GoezeS.

Donatschnitzer aufzuzählen, ist sonst

ein ziemlich langweiliges Geschäft, aber Lessing weiß eS in Scene zu setzen: er präsentirt den unglückseligen Lange dem Publikum von allen Seiten, er redet ihn an, verhöhnt ihn, und das Publikum wird angenehm

unterhalten.

Gerade so macht

er eS zwanzig Jahre später mit dem

Superintendenten Räß, mit dem Hauptpastor

Goeze u. s. w.

Seine

Gegner müssen auf die Bühne und einen Tanz- aufführen.

Er diSputirt

nicht blos mit „seinem Nachbar", er ruft auch den „Leser" heran; auch dieser muß mitsprechen,

und in dem buntesten Durcheinander des Ge­

sprächs weiß der Vorsitzende, ohne langweilig zu werden, immer den lei­ tenden Faden fest zu halten:

wir genießen , alle Annehmlichkeiten eines

müßigen Spaziergangs und kommen doch vorwärts nach dem vorgesteckten In diesem Grade hat kein Deutscher die Kunst deS Dialogs be­

Ziel.

Einmal schickt er' den Hauptpastor auf die Kanzel, und läßt ihn

sessen.

von dort herabdonnern, während er unten steht und seine Glossen macht. Wahrhaft bezaubernd ist er, wenn er auf den Spott und die Verhöhnung

daS sittliche Pathos folgen läßt und den Gegner mit Keulenschlägen bear­ beitet: der Zorn ist durchaus nicht gemacht, er kommt aus dem Herzen, aber ein vollkommen sicherer dramatischer Verstand wacht darüber, daß jedes Stichwort im rechten Tempo eintritt.

Wie ost hat man versucht,

daS nachzumachen, aber es klang in der Regel, als wenn ein Esel sich

bemühte die Laute zu schlagen.

Zuweilen ist es eine reine Virtuosenleistung. reizende

Gespräch

im

gar kein Inhalt steckt. mit äußerstem

wird

man

„Testament

Wer

hat nicht die

Behagen gelesen!

freilich

Johannis", Fragt

im Verständniß der

Ich erinnere an das in

welchem

eigentlich

„Freimaurer - Gespräche"

man,

waS

darin

steht,

so

Freimauerei wenig gefördert;

man erfährt nur, daß die Staaten, die Religionen, indem sie vereinigen, auch trennen, daß diese Trennung in wohlgesinnten und einsichtsvollen

Männern das Bedürfniß hervorruft, wieder eine weltbürgerliche Vereini­

gung zu suchen, in der die Unterschiede der Staaten, Religionen u. s. w. nicht gelten; daß aber dieser Vereinigung, eben weil sie andere ausschließen muß, derselbe Krebsschaden anhaftet wie den Staaten, Religioney u. s. w.

Dasselbe hätte sich in einfacher trockener Prosa viel eindringlicher auSführen lassen — aber wer wollte für diese trockene Prosa daS Sprühfeuer

des Witzes hingeben, mit welchem uns Lessing überschüttet!

Lessing ist also dramatischer Dichter auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten, und wie man im wirklichen Drama nicht jedes Wort, das von irgend einer der betreffenden Personen gesprochen wird, als die Herzens­ meinung deS Dichters ansehn darf: so muß man auch bei Lessings Dia­ logen — und hier komme ich auf den Punkt zurück, von dem ich auSge-

gangen war — bei dem einzelnen Wort, ehe man es als geprägte Münze äuögiebt, sehr wohl erwägen, wie weit im Augenblick der Schriftsteller

selbst dabei fertig zu sein glaubt.

Wenn am Schluß jenes schönen Ge­

sprächs über das „Testament Johannis" der Hauptredende an den Aus­ spruch des „guten Mannes" erinnert:

Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 2.

„Wer nicht wider unS ist, der ist

12

für UNS!" — „Sie kennen ihn doch, den guten Mann?" — so antwortet der Mitsprechende nicht uneben:

„Recht wohl!

ES ist eben der, der an

einem anderen Orte sagt: Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich!" —

Und so dürfte wohl auch der Dichter des Nathan der Intoleranz seiner

für die Toleranz begeisterten Hamburger Freunde gegenüber gar wohl in einer humoristischen Predigt im Stil AorickS den Orthodoxen vertheidigen, der, mitleidig für den Einzelnen, dennoch gegen die Gemeinschaft der nach seiner Ueberzeugung böswillig Irrenden das Anathema nicht zurückhielt.

Halb war es Scherz, aber nur halb: wahre Toleranz, d. h. wahrhaft geistige Freiheit, muß auch die Intoleranz in ihrer relativen Berechtigung begreifen.

„Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist oder zu sein vermeint, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth deS Menschen. Denn nicht durch den

Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz... Wenn Gott in seiner Rechten alle

Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahr­ heit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke

und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein." Wie prachtvoll nimmt sich dieser Satz aus im Feuer der dramatischen Action! In demselben Sinn sagt Faust: „eS irrt der Mensch, so lange

er strebt!" und weiter: „werd' ich beruhigt je mich auf das Faulbett legen, so sei eS gleich um mich gethan!" — Indeß bei näherer Ueberlegung steigen

Zweifel auf.

Wie meint es Lessing?

Kommt eS der Wissenschaft- also

dem Menschen, der sich der Wissenschaft hingiebt, nicht grade darauf an, daS positiv Richtige zu erkennen?

Lessing denkt zunächst mehr an die metaphysischen Wahrheiten, die sich nach KantS späterem Ausdruck auf das „Ding an sich" beziehen; hier die

höchste Wahrheit zu finden, ist dem Sterblichen versagt; auf immer ver­

sagt, wie man bei mancher seiner Aeußerungen annehmen sollte.

Gleich­

wohl hören wir, im Feuer einer dramatischen Action („Erziehung deS

Menschengeschlechts"): „Soll das menschliche Geschlecht auf die höchste Stufe

nie kommen? — Laß mich diese Lästerung nicht denken. Allgütiger!.. Nein, sie wird gewiß kommen, die.Zeit der Vollendung ..." — also die Zeit, von der Faust sich vermißt, zu erklären: „dann sei die Zeit für mich vorbei!"

In welchem von diesen beiden Sätzen ist Wahrheit? — In beiden! aber eine subjektive Wahrheit: es giebt Momente, in denen die eine, Momente, in denen die andere Empfindung berechtigt ist; eine oder die

andere aber als gangbare Waare einzuheimsen, muß auch der orthodoxe

Anhänger Lessings sich versagen.

Julian Schmidt.

Hermann Lotze.

Die Berufung Hermann Lotze'S von Götttngen nach Berlin giebt mir Veranlassung, noch einmal auf die hohe wiffenschastliche Bedeutung

dieses Mannes htnzuweisen*), dessen Lehren noch nicht tat Entferntesten ihrem wahren Werthe entsprechend gewürdigt sind, obwohl sie an Tiefe

und Sorgsamkeit der Begründung, an innerer Klarheit, an vorurthetlS-

losem Scharfsinn und Weite deS Umblicks meiner Ansicht nach das über­ ragen, waS die Gegenwart an ähnlichen Bestrebungen aufzuweisen hat. Lotze hat kein System im bisherigen Sinne aufgestellt, aber er hat

die philosophische Forschung auf eine Höhe gehoben, welcher jene früheren Formen systematischer Welterklärung überhaupt nicht mehr genügen können. Er hat die Periode der Systeme tat bisherigen Sinne überwunden, indem

er die Philosophie aus einer Wissenschaft der Begriffe in eine Wissen­ schaft des Wirklichen umwandelte, indem er das Wirkliche, was wir

unmittelbar erleben als den letzten realen Inhalt der Begriffe auf« wies, aus welchen die metaphysischen Grundanschauungen zu formuliren, die Werthe des Vorhandenen nach unmittelbarer Schätzung zu bestimmen

und in letzter Instanz die Zwecke deS JndividuallebenS und der Weltent­

wickelung zu ermitteln sind.

Er hat dadurch der Philosophie eine allge­

meinverständliche reale Basis gegeben, welche denselben Mitteln der Unter­

suchung und Erkenntniß zugänglich ist, als alles übrige unmittelbar ge­

gebene Erfahrungsmaterial; er hat dadurch die Philosophie, welche bisher zum großen Theil noch der Tummelplatz unklarer Meinungen und will­

kürlicher Systembildungen war, zu einer den übrigen Wissenschaften voll­ kommen ebenbürtigen Stellung erhoben.

Wir können das eigenthümliche Verdienst und den charakteristischen

Grundzug der Lotze'schen Philosophie nicht prägnanter bezeichnen, als daß *) Die mit dem Inhalte der Lotze'schen Schriften weniger vertrauten Leser verweise ich auf einen früheren Aussatz in den Preußischen Jahrbüchern (Bd. XXXVI. S. 283—308, 422—442 und 469—489), wo ich eine allgemeinverständliche und überfichtliche Darstellung der Lotze'schen Philosophie zu geben versuchte.

12*

wir sagen: er hat uns das Verständniß des Unmittelbaren er­

öffnet.

Um dies recht zu verstehen und die Wichtigkeit dieses neu eröffneten Verständnisses entsprechend zu würdigen, müssen wir uns die Schwierig­

keiten vergegenwärtigen, welche der Ausbildung des philosophischen Er­

kennens von jeher entgegenstanden.

Das unmittelbar Erlebte war nicht

der erste Gegenstand des menschlichen Nachdenkens.

Die erste Bildung

unserer Vorstellungen und Begriffe fällt vielmehr in eine Zeit, wo wir noch nicht fähig sind, die dabei mitwirkenden Factoren gesondert für sich

zum Bewußtsein zu bringen und ihren relativen Werth für Zweck und

Inhalt des Erkennens zu ermessen.

Die philosophische Untersuchung kann

erst dann beginnen, wenn wir eine gewisse Stufe unserer geistigen Aus­

bildung

erlangt haben, und in diesem Stadium unserer Entwickelung

treten die Produkte unserer eigenen Geistesthätigkeit uns bereits wie fertige

selbständige Realitäten, als Dinge und zusammenhängende Ereignißreihen entgegen, welche, auf unbegreifliche Weise gegeben, uns ihrem Wesen nach

zunächst völlig unbegreiflich erscheinen.

Wir scheiden unser eigenes Ich

von einer uns umgebenden Außenwelt, ohne zu bedenken, daß dieselbe bis

in alle Einzelnheiten ihres anschaulichen Bildes Product unserer eigenen Geistesthätigkeit und nur dadurch entstanden ist, daß wir Erregungen des

eigenen Innern nach Grundsätzen und Zwecken verknüpften, welche gleich­

falls VersahrungSweisen und Zwecke unseres eigenen Ich sind.

Es ist

nicht meine Absicht, hier die besonderen Gestaltungen im Einzelnen auf­

zuführen, welche die auf solcher phänomenalen Grundlage unter dem Ein­ flüsse jener Vorurtheile entstandenen philosophischen Probleme in der Ge­

schichte der Philosophie

erfahren haben.

Dieselben mußten durch die

Einsicht des subjektiven Ursprungs jener Grundlage eine fundamentale

Umgestaltung erleiden, da von dem neuen Standpunkte aus die concrete Welt der Dinge nun nicht mehr als das ursprünglich Wirkliche, sondern

zunächst als Vorstellung und Erscheinung im erkennenden Subjecte sich

darstellte, und deßhalb unmittelbar nur aus der Natur, den BerfahrungSweisen und Zwecken dieses verstanden werden konnte.

Kant war der erste, der die grundlegende Wichtigkeit dieses wahren Sachverhalts für alle spätere philosophische Forschung erkannte und in

seinem KriticismuS die durch solche Erkenntniß nöthig gewordene refor­ matorische Bewegung

des philosophischen Denkens

einleitete.

Aber er

constatirte doch nur das Factum der Subjektivität deS Erkennens, ohne

dessen innere Nothwendigkeit aus der Natur des erkennenden Subjectes

und dem Begriffe der Wechselwirkung desselben mit anderen Wesen dar­ zulegen und ohne deßhalb die wahre Bedeutung der unmittelbaren Geistes-

erlebnisse als nothwendiger und zureichender AusgangSbasiS alles philo­ sophischen Erkennens sachgemäß zu würdigen.

Er glaubte vielmehr auS

jenem Sachverhalte nur die Unmöglichkeit aller metaphysischen Erkenntniß

folgern zu müssen, weil sein Denken von dem alten Gegensatze der Er­ scheinung und deS Dinges an sich und von dem Vorurtheile, daß das Wesen des letzteren das eigentliche Ziel des Erkennens und die innere

Welt der Erscheinungen höchstens zum Abbilden jenes bestimmt sei, noch

zu sehr beherrscht war, als daß er auf den Gedanken hätte kommen können, der Thatbestand ddr inneren Erlebnisse repräsentire an sich selbst schon

einen so bedeutsamen Inhalt und so bedeutsame Momente deS Geschehens,

daß daraus der Werth deS Wirklichen und das Ziel deS Weltprocesses

erkannt werden könnte.

Das Wesen der Dinge an sich steht daher in seiner Auffassung in keinem angebbaren Zusammenhänge mit der inneren Welt der Erscheinungen.

Die sinnlichen Empfindungen,

die Kategorieen deS Denkens,

die An­

schauungen von Raum und Zeit, das Sittengesetz und die Ideen der Ver­

nunft haben in seiner Auffassung eine rein subjektive Bedeutung und daS wahre Wesen deS erkennenden Subjectes selbst steht ihm, der

Erkenntniß unerreichbar, in nebelhaftem Dunkel hinter der lichten. Welt

der Erscheinungen. Aber der metaphysische Erkenntnißdrang seiner genialen Zeitgenossen und Nachfolger durchbrach alsbald die von Kant aufgerichteten Schranken.

Bedeutungslosigkeit des subjectiven Erkennens für das wahre Ge­

schehen und das wahre Wesen der Dinge an sich einmal zugegeben, war es nur noch ein Schritt bis zur völligen Leugnung des ganzen trans­

scendenten Gebietes und bis zu dem Glauben an die Allbedeutsamkeit des subjectiven Geisteslebens, dessen Schwerpunkt man noch dazu blos in der

intellectuellen Sphäre enthalten wähnte.

Fichte zog

sequenz und Hegel und Schelling suchten den

diese kühne Con­

wesentlichen Inhalt und

Zweck des gesammten Weltprocesses theils in der bloßen Entwickelung der logischen Idee, theils gar in einem bloßen Rhythmus des Geschehens nach gewissen Verhältnissen von rein formaler, höchstens einer unklar symboli­ schen Bedeutung.

So hatte die einseitige Deutung, welche Kant dem reformatorischen

Grundgedanken der Subjectivität alles Erkennens geben zu müssen glaubte, zunächst nur die Folge, daß das speculative Erkennen sich ganz von dem Boden des Wirklichen loslöste, daß die Philosophie immer mehr in reine

Begriffsentwickelung

auSartete.

Diese verkehrte Richtung

konnte dem

philosophischen Bedürfnisse auf die Dauer um so weniger genügen, als der großartige Aufschwung der Naturforschung und der Technik das Be-

stehen einer von dem subjektiven Geistesleben unabhängigen Wirklichkeit

des Seins und Geschehens immer offenbarer darlegte.

Der Zuversicht

und Begeisterung, mit welchen die Systeme Fichte's, Hegel's und Schelling'S

bei ihrem Entstehen begrüßt wurden, folgte eine lange Periode der Er­

nüchterung, ein philosophisches Interregnum, indem auch das zwar viel fruchtbare Anregungen in sich bergende, aber dennoch unzulängliche und allzu trockene System Herbart'S sich keine allgemeinere Anerkennung zu verschaffen vermochte.

Der Boden, auf dem jene stolzen Gedankengebäude

sich erhoben, wurde zum Brachlande, auf dem bald das Unkraut materiali­

stischer und pessimistischer Theorieen wuchernd emporschoß und selbst dem tiefer rmd weiter Blickenden vielfach die klare Umschau erschwerte. Erst in der allerneuesten Zeit scheint daS speculative Interesse sich

wieder in weiterem Umfange zu regen.

Man sucht den wahren Sinn

deS Kant'schen Reformgedankens tiefer zu erfassen und

entsprechender zu

verwerthen.

Niemand hat diese Aufgabe erfolgreicher in Angriff genommen als Lotze, der zu Kant in einem ähnlichen Verhältniß steht wie Newton zu

Kepler.

Wie jener durch die Entdeckung deS Gravitationsgesetzes den

Entstehungsgrund unb inneren Zusammenhang der von diesem über die

Bewegung der Himmelskörper als thatsächlich vorhanden ^constatirten Ge­ setze darlegte, so gelang es Lotze, den von Kant hervorgehobenen Thatbe­

stand der Subjectivität deS Erkennens in seiner gesetzlichen Nothwendig­ keit als eine Folge deS allgemeinen Gedankens der Wechselwirkung nach­

zuweisen, von welcher das Erkennen, insoweit eS durch äußere Anreize bedingt ist, nur einen Specialfall bildet. Die gesammte neuere Philosophie seit CartesiuS

bis zu den rein

idealistischen Systemen der nachkantischen Periode dreht

sich um

daS

Problem der Wechselwirkung, dessen Wichtigkeit um so mehr erkannt wurde,

je mehr sich daS philosophische Nachdenken auf Anregung der Naturfor­ schung der Erklärung der thatsächlich beobachteten Vorgänge deS Lebens zuwandte.

Lotze hat dieses Problem zuerst scharf präcisirt und einer an­

nehmbaren Lösung entgegengeführt.

Die Wechselwirkung kann nicht darin

bestehen, daß die Zustandsänderung des einen Wesens a auf das andere

b unmittelbar wirklich übergeht, denn ein Zustand deS Wesens a kann sich nicht von diesem loslösen, einen Moment für sich sein, die Richtung auf b finden und dort eine correspondirende Zustandsänderung deS an­

deren Wesens b werden.

Der sogenannte influxus physicus ist eine

den metaphysischen Begriffen deö Wesens und Geschehen- widersprechende Vorstellung.

Ebensowenig genügt die occasionalistische Erklärung,

daß

dem Zustande deS a ein correspondirender Zustand in b nach einem das

Geschehene in beiden Wesen für den besonderen Fall oder nach einer all­

gemein verbindlichen Regel ordnenden göttlichen Machtgebote blos that­ sächlich folge.

Nur dadurch kann die Thatsache der Wechselwirkung er­

klärt werden, daß alle durch sie verbundene Wesen als Momente des

FürsichseinS einer einzigen einheitlichen Substanz betrachtet werden, welche den wesenhaften Kern der Wirklichkeit aller Einzelwesen bildet. standsänderung deS einen Wesens a ist dann zugleich

jenes ganzen

Jede Zu­

eine Bewegung

einheitlichen substantiellen Weltgrundes, welche in allen

übrigen Wesen, daS ist in allen übrigen Momenten deS FürsichseinS jener einen Weltsubstanz, schwächer oder stärker wiederklingt und mithin zugleich als correspondirende Zustandsänderung des Wesens b hervortritt, welches

auf solche Art die Einwirkung von a erleidet. Da nun daS Erkennen, insoweit eS durch äußere Anreize bedingt ist,

nur einen Specialfall der Wechselwirkung deS erkennenden Subjectes mit anderen Wesen bildet, so folgt aus der Betrachtung des wahren.Hergangs

jener, daß dasselbe nur in dem Jnnewerden der durch Einwirkungen an­

derer Wesen erregten Zustandsänderungen

de» erkennenden

Subjectes

selbst und in Verknüpfungen solcher unmittelbar erlebter ZustandSände-

rungen bestehen könne.

Die Thatsache der Subjectivität deS Er­

kennens, welche Kant nur als ein unerklärbarer Mangel er­ schien, welcher nur dem menschlichen Erkennen anhafte, stellte

sich hier in ihrer gesetzlichen Nothwendigkeit als eine Folge deS metaphysischen Grundbegriffs alles Geschehens und Wir­ kens dar.

Da der Hergang des Erkennens hiernach nicht in einem Ueber­

setzen dessen, waS außer uns geschieht,

in eine innere Welt der Vor­

stellung bestehen kann, sondern nur im Ausgestalten und Verstehen dessen, was wir unmittelbar in uns erleben, so kann daS Kriterium der Wahr­

heit nicht in einer Congruenz unserer Vorstellungen der Gegenstände

und Ereignisse mit diesen selbst bestehen, denn wir können den Act der Vergleichung beider mit einander nicht vollziehen, da wir der außer unS vorgestellten Gegenstände und Ereignisse nicht habhaft werden können, sondern nur in der inneren Folgerichtigkeit der Vorstellungen

selbst,

ihrer

richtigen Eingliederung in daS

Gesammtshstem unseres

Wissens und der rechten Werthschätzung derselben rücksichtlich ihrer Be­

deutung für daS Ziel der Weltentwickelung.

Die Wahrheit unserer Vor­

stellungen, Urtheile und Schlußfolgerungen kann eben deßhalb in letzter Instanz nur durch das Gefühl unmittelbarer Evidenz offenbar wer­

den, welches vermöge unserer ursprünglichen geistigen Naturanlage mit dem

Jnnewerden jener Folgerichtigkeit und rechten Werthschätzung verknüpft ist.

Um die volle Bedeutung dieses Sachverhalts zu würdigen und den Schein der Unzulänglichkeit zu beseitigen, der ihm anfänglich anhaftet,

müssen wir daran erinnern, daß wir uns mit unserer Subjectivität dem Ganzen der Welt gegenüber nicht gleichsam auf einer abgeschlossenen Insel befinden, sondern, daß wir selbst mit zu dem Ganzen der Welt gehören,

daß auch in uns das absolute Weltwesen in gewisser wenn auch noch so beschränkter Weise mit seinem ganzen Wesen für sich ist, und daß alle

Momente unseres subjectiven Geisteslebens mit dem Ganzen des Welt-

prozesseS in einem durchgängigen gesetzlichen Zusammenhänge stehen. ES folgt daraus,

daß wir durch fortschreitende Geistesarbeit

und

Verdeutlichung dessen, waS in unS vorgeht, der bedeutungsvollsten Mo­ mente des Wirklichen ihrem Inhalt und Werthe nach uns bewußt werden

können, daß ferner alle unsere Vorstellungen,

insoweit sie ihrer Ent­

stehung, ihrem Inhalt, ihrer Richtung und ihrem Verlaufe nach durch

Wechselwirkung mit den anderen Wesen bedingt sind, sich

bis in das

kleinste Detail hinein nach den correspondirenden Erlebnissen in jenen an­

deren Wesen richten, und daß endlich selbst die Formen, in denen wir die empfangenen Eindrücke im Anschauen und Denken verknüpfen, die Rich­ tungen und Ziele, nach denen wir die solchergestalt entstandenen Vor­ stellungen und Begriffe weiter zu einem zusammenhängenden Weltbilde

ausgestalten, ihrem Inhalt, ihrer Qualität und Intensität nach mit den

vorgestellten Dingen und Ereignissen, sowie mit den Beziehungen dieser zu unS und unter einander in einem ganz bestimmten gesetzlichen Zu­ sammenhänge stehen.

Die Fruchtbarkeit dieser der wahren Sachlage entsprechenden Auf­ fassung wird recht offenbar, wenn wir dieselbe mit der unvollkommneren Ansicht KantS vergleichen. Während z. B. die Totalanschauungen deS Raumes und der Zeit

bei Kant ihrer Entstehung nach unbegreiflich sind und außer aller Be­ ziehung zu dem wahren Wesen der Dinge an sich und dem wahren Ge­

schehen stehen, erklärt unS Lotze die Genesis jener Totalanschauungen aus

der aprioristischen Wahrnehmung der zwischen

allen Raumverhältnissen

und den kausalen und teleologischen Zusammenhängen alles Geschehens

obwaltenden Gesetzlichkeit, indem er unS zugleich darlegt, wie alle Raum­ und Zeitverhältnisse nur als der vorstellungsmäßige Ausdruck der wahren

realen Beziehungen zwischen dem wirklichen Wesen und des realen Zu­ sammenhanges aller geschehenden Ereignisse betrachtet werden können. Die ursprünglich in unserer Vorstellung Vorgefundenen Elemente der Raumanschauung, die Vorstellungen einer größeren oder geringeren Ent­

fernung der vorgestellten Dinge von unS selbst und unter einander, ent-

stehen nach Lotze'S Auffassung nur dadurch, daß wir die wirtlichen in­ haltlichen Beziehungen derselben zu unS und untereinander nach ihrer abgestuften Intensität gemäß einer ursprünglich gegebenen und

nach der Art ihrer Entstehung nicht weiter erklärbaren Anlage unserer Natur eben als räumliche Entfernungen von bestimmter Größe aufzu­

fassen genöthigt sind.

Die ursprünglich in unS Vorgefundenen Elemente

der Zeitanschauung, die Vorstellungen deS vor und nach, entstehen in ganz

analoger Weise nur dadurch, daß wir die zwischen den

erlebten

Einzelmomenten deS Geschehens wirklich bestehenden causalen und teleologischen Beziehungen nach einer gleichfalls ursprünglich

gegebenen und in der Art ihrer Entstehung nicht weiter aufklärbaren Naturanlage unseres Geistes eben als zeitliche Verhältnisse des vor und nach auffassen.

Nur durch solche besondere geistige Veranlagung werden

wir in den Stand gesetzt, von unS und unter einander verschiedene Wesen

und deren reale Beziehungen zu unS und unter einander überhaupt vor­ stellen und

die erlebten Einzelmomente unseres Daseins zusammen mit

den sie verursachenden und den aus ihnen folgenden Erlebnissen überhaupt

zil dem anschaulichen Begriffe deS Geschehens und der Veränderung zu­ sammenfassen zu können.

Jene wirklichen in den Raumverhältnissen der Vorstellung nur wtedererschetnenden realen Beziehungen der Wesen zu uns und unter einander

können an sich nur in Wechselwirkungen bestehen und die mathemati­ schen Gesetze, welche von den Raumverhältnissen, den idealen Abbildern jener Beziehungen, gelten, könnten den ihnen beiwohnenden Charakter der

Allgemeinheit und Nothwendigkeit nicht haben, wenn nicht eine correspon-

dirende ausnahmslose Gesetzlichkeit zwischen allen denkbaren Wechselwir­ kungen aller realen Wesen thatsächlich obwaltete.

Diese Gesetzlichkeit der

realen Beziehungen der wirklichen Wesen ist der Grund der mathemati­ schen Gesetze, durch deren Abstraction und stillschweigend erweiterte An­

wendung auf alle denkbaren Fälle die Totalanschauung des Raumes ent­ steht.

Die letztere ist daher daS ideale, in

eine einzige An­

schauung zusammengezogene Abbild der Zusammengehörigkeit aller Wesen und der alle Wechselwirkungen zwischen ihnen be­

herrschenden Gesetzlichkeit. Der zeitliche Ablauf der verschiedenen Ereignißreihen, das ideale

Abbild der causalen und teleologischen Beziehungen der einzelnen Momente des in ihnen sich vollziehenden Geschehens, würde gesondert für sich ver­ laufen und beziehungslos zu dem zeitlichen Ablauf aller übrigen Ereignißreihen bleiben, wenn nicht alles Geschehen überhaupt, alle in sich selbst

zusammenhängende Ereignißreihen, auch wiederum unter einander ohne

Ausnahme durch causale und teleologische Beziehungen verbunden wären. Nur wenn eS einen einheitlichen Weltzweck giebt, der alles Geschehen in

der Richtung auf ein einheitliches Ziel verbindet und alles Geschehen mit Rücksicht darauf in causalem Zusammenhänge steht, können wir auch die

Vorstellungen jener Ereignißreihen sämmtlich ihrem zeitlichen Verlaufe nach auf einander beziehen und den Rhythmus des Geschehens in ihnen

mit einander vergleichen.

Durch Abstraction des Gedankens solcher allge­

meiner Beziehbarkeit aller Ereignisse auf einander und seine stillschweigend erweiterte Anwendung auf alle denkbaren Fälle bildet sich in uns die

Totalanschauung der Zeit, in welcher alle Ereignisse zu verlaufen scheinen. Die

Totalanschauung der

bild

oder

keit,

der Zweckbestimmtheit

Zeit

ist daher

die Gesammtanschauung und

das ideale

Ab­

der Zusammengehörig­

allgemeinen Gesetzlichkeit

alles Geschehens.

Sind daher Raum und Zeit auch nur wirklich als Totalanschau­ ungen in den Wesen, welche mit einander zu demselben Weltganzen ver­ bunden sind, so stehen sie diesem doch nicht beziehungslos gegenüber, da

sehr wichtige und bedeutungsvolle reale Momente jenes Weltganzen in ihnen einen zutreffenden und charakteristischen Ausdruck finden.

Während ferner die Kategorien des Denkens bei Kant, völlig be­ ziehungslos zu dem wahren Wesen der Dinge an sich, nur bestimmt er­

scheinen, die inneren Erlebnisse deS erkennenden Subjectes zu einem Welt­ bilde von blos subjectiver Bedeutung mit einander zu verbinden, wird

das Verhältniß des Denkens zum Sein in Lotze's Auffassung durch den

Grundgedanken erklärt, daß beide für einander bestimmt sein sollen. Deßhalb erscheinen ihm die Formen und Gesetze des Denkens nicht „als

bloße Sonderbarkeiten menschlicher Geisteseinrichtung", sondern „beständig

und durchgehends auf das Wesen des Wirklichen berechnet".

„Nur ein

Geist," so bemerkt er sehr treffend, „der im Mittelpunkte der Welt und

alles Wirklichen stünde, nicht außerhalb der einzelnen Dinge, sondern sie alle durchdringend und mitseiend, nur ein solcher möchte eine Anschauung

der Wirklichkeit besitzen, die, weil sie nichts erst zu suchen brauchte, unmittelbar das völlige Abbild derselben in ihren eigenen Formen des Seins und der Thätigkeit wäre.

Der menschliche Geist dagegen, um dessen Denken allein

eS sich für unS handelt, steht in diesem Mittelpunkte der Dinge nicht, sondern hat seinen bescheidenen Ort irgendwo in den letzten Verzweigungen

der Wirklichkeit.

Genöthigt, seine Erkenntniß durch Erfahrungen, die sich

unmittelbar nur auf einen kleinen Bruchtheil des Ganzen beziehen, stück-

weiS zusammenzubringen und von hier aus vorsichtig zu der Atiffassung

dessen vorzudringen, waS nicht in seinen Gesichtskreis fällt, hat er wahr-

scheinlich eine Menge von Umwegen nöthig, die der Wahrheit selbst, die

er sieht, gleichgültig, aber ihm, der sie sucht, unvermeidlich sind.

Wie

sehr wir mithin die ursprüngliche Beziehung der Denkformen aus daS

Ziel der Erkenntniß, die Natur der Dinge, voraussetzen mögen: darauf müssen wir unS doch gefaßt machen, manche Bestandtheile in ihnen an­

zutreffen, die daS eigene Wesen deS Wirklichen nicht sofort abbilden, zu

deffen Erkenntniß sie führen sollen; ja eS bleibt die Möglichkeit, daß ein sehr großer Theil unserer Denkbemühungen nur einem Gerüste gleicht, daS keineswegs zu den bleibenden Formen des Baues gehörte, den eS

ausführen half, das im Gegentheil wieder abgebrochen werden muß, um den freien Anblick seines Ergebnisses zu gewähren*)."

Die reale Bedeutung

deS Logischen ergiebt sich hieraus mit einer solchen Evidenz, daß dadurch der alte Gegensatz von Denken und Sein als aufgehoben betrachtet werden

DaS Denken steht zu dem wirklichen Sein und

den wirklichen

Thatsachen in einem bestimmten gesetzlichen Verhältnisse.

Dasselbe setzt

darf.

als selbstverständlich voraus, daß eine allgemeine Zusammengehörigkeit

aller Ereignisse stattfinde, es setzt insbesondere voraus „daß die Welt der vorstellbaren Inhalte nicht atomistisch in lauter singulare Bestandtheile

zerfalle,

davon jeder unvergleichbar mit anderen wäre", daß vielmehr

„Aehnlichkeiten, Verwandtschaften und Beziehungen zwischen ihnen so statt­ finden daß das Denken, Allgemeines bildend, Besonderes ihm unterordnend

und einander nebenordnend, durch diese seine formalen und subjectiven Bewegungen mit der Natur deS sachlichen Inhalts zusammentrifft**)".

„Ohne die Gesammtheit des Wahrnehmbaren durch den Gegensatz von Dingen und Eigenschaften zu gliedern, ohne die Annahme einer Abfolge

von Wirkungen aus Ursachen, ohne die bestimmende Macht endlich des Allgemeine über daS Besondere, ist uns jede Auffassung der umgebenden

Wirklichkeit völlig unmöglich." Die Wissenschaft der Logik hat durch Lotze'S geistvolle Behandlung einen ganz neuen Aufschwung genommen, indem er „daS allgemeine Be­

streben deS Denkens, das in der Vorstellung Zusammenseiende auf Zu­ sammengehöriges zurückzuführen" richtig erkannte und

die Aufgabe

der Logik darin setzte, „sich die den RechtSgrund der Zusammengehörigkeit

oder Nichtzusammengehörigkeit der Vorstellungen

enthaltenden Nebenge­

danken zum Bewußtsein zu bringen."

Schon dieser flüchtige Ueberblick läßt ersehen, welche hochwichtige und bedeutsame Aufschlüsse über das wahre Wesen deS An sich der Dinge und *) System der Philosophie. I. Theil, Logik, Drei Bücher vom Denken, vom Unter­ suchen und vom Erkennen von Hermann Lotze. Leipzig. Hirzel 1874. **) S. 547 1. c.

des ihnen allen gemeinsamen Weltgrundes sich aus einer sachgemäßen Würdigung der unmittelbaren Geisteserlebnisse ergeben.

Da auch das

subjektive Geistesleben mit zu dem Ganzen der Wirklichkeit gehört und mit diesem durch stete Wechselwirkung verbunden

ist, so kann dasselbe nicht als bloßer Schein betrachtet werden, der zu­

sammenhanglos mit dem wahren Sein und Geschehen, nur eine subjektive Bedeutung beanspruchen könnte.

Das Empfinden, Denken, Fühlen und

Wollen, die Gesammtheit dessen, was wir unmittelbar erleben, repräsentirt

vielmehr ein wirkliches Geschehen, eine Wirklichkeit von eigenem specifischen Inhalt und Werth; wir erleben im Empfinden, Denken, Fühlen und Wollen

unmittelbar, wie einem Seienden zu Muthe ist, waS Sein und Geschehen an sich bedeutet.

Wir können daher die letzten metaphysischen Begriffe

des Seins und Geschehens nur aus diesen unmittelbaren Erlebnissen schöpfen, indem wir den gemeinsamen Charakter derselben in Allgemeinbegriffen

zusammenfassen, deren wahre Bedeutung wir nur erleben, deren Sinn wir nur verstehen können, wenn wir uns die Erinnerung des Erlebten

vergegenwärtigen.

Der allgemeine wesentliche Grundzug aller inneren

Erlebnisse ist aber die lebendige Rückbeziehung auf uns selbst im Be­ wußtsein, daS Fürsichsein. Wesen aller Realität:

Das Fürsichsein ist daher das wahre

Realität ist Fürfichsein.

Da nun die Erfahrung über Entstehung, Art und Ablauf der Er­ eignisse in unS, daS Auftreten der unzähligen Eindrücke, unter deren Mit­ wirkung wir zli dem Bil^e einer uns umgebenden Außenwelt gelangen,

zu der Annahme nöthigen, daß jene Eindrücke nicht durch Sponta­ neität unseres eigenen Wesens, sondern durch Wechselwirkung mit

anderen Wesen hervorgebracht seien, Wechselwirkung aber nicht zwischen absolut selbständigen, sondern nur zwischen solchen Wesen stattfinden kann,

deren Realität lediglich in einer Art des Fürsichseins einer einzigen ein­ heitlichen Weltsubstanz besteht, so kann nur diese als der reale WesenS-

grund unseres eigenen Wesens und deS Daseins aller übrigen Wesen be­ trachtet werden.

Aber auch das Wesen dieser einheitlichen Welt­

substanz selbst kann

dem soeben

entwickelten metaphysischen

Grundbegriffe alles Wirklichen gemäß wiederum nur als in der

lebendigen Rückbeziehung auf sich selbst bestehend, nur als

Fürsichsein eines lebendigen Wesens gedacht werden. Kant entgingen alle diese wichtigen Consequenzen, da er die eigene Bedeutung und den Erkenntnißwerth der unmittelbaren Geisteserlebnisse unterschätzte und deßhalb die Subjektivität deS Erkennens, deren Grund

er sich nicht erklären konnte, einfach als einen Mangel ansah, der alles philosophische Erkennen unmöglich mache.

Aber wenn ihm auch deßhalb

das Wesen der Dinge unerkennbar schien, so hatte er nichtsdestoweniger daS bestimmte Gefühl, daß eine Welt der Dinge an sich bestehe, in welcher der wahre Werth des Lebens und das eigentliche Ziel deS sittlichen Han­

delns zu suchen sei.

Besonders auf ethischem Gebiete trat daher die ver­

hängnißvolle Scheidung der Erscheinungswelt von der wahren Welt der

Dinge an sich in bemerkbarer und einflußreicher Weise hervor.

Die Glück-

seligkeitslehre der Aufklärungsperiode, welche damals die Gemüther be­ herrschte, schien ihm dadurch charakterisirt, daß daS ihr vorschwebende Ziel, die Erreichung der Glückseligkeit deS sinnlichen Wohlbehagens blos in der

Erscheinungssphäre belegen sei.

Er behielt theils deßhalb, theils auch

wohl aus dem äußerlichen Grunde, weil eS ihm an einem zutreffenden

Ausdrucke für den höheren Werth deS Sittlichen fehlte und er doch daS lebhafte Bedürfniß fühlte, feine eigene Ansicht dem trivialen Optimismus

der Glückseligkeitslehre gegenüber möglichst scharf zu präcisiren, die be­

griffsmäßige Identification von Glückseligkeit und sinnlichem Wohlbehagen unbedenklich bei und glaubte, daß das sittliche Handeln durch Zwecke hö­

herer Art bedingt und seinem Wesen nach auf transscendentem Ge­ biete belegen sein müsse. Nicht der Inhalt jener höheren Zwecke, sondern

nur der formale Wiederschein desselben im Sittengesetz schien daher

dem in der Erscheinungssphäre befangenen menschlichen Erkennen erfaßlich und wurde von Kant für genügend gehalten, daS sittliche Handeln zu motiviren, während der wahre Grund solcher Motivation, die Achtung vor

dem Sittengesetz, in ihrer gefühlsmäßigen Werthschätzung von ihm wohl gewürdigt aber nicht ausdrücklich als das die wahre verbindliche Kraft

des sittlichen Handelns enthaltende Werthgefühl anerkannt wurde.

Da

Kant ferner die sittliche Freiheit irrthümlich mit der absoluten Freiheit

indentificirte, in der Erscheinungswelt aber alle Ereignisse dem Causali-

tätSgesetze unterworfen sind und innerhalb derselben daher für die ab­ solute Freiheit kein Raum war, so glaubte er auch den Entschluß zum

sittlichen Handeln in das transscendente Wesen des den seelischen Erschei­ nungen vorausgesetztermaßen zu Grunde liegenden Dinges an sich verlegen

zu müssen.

Da ihm endlich die begriffsmäßige Scheidung von Glückselig­

keit und Sittengesetz nur für die Sphäre der Erscheinungswelt nothwendig, die höhere Gerechtigkeit vielmehr zu fordern schien, daß das sittliche Han­

deln doch in letzter Instanz zur Glückseligkeit führen müsse,

so versuchte

er durch die Aufstellung der Postulate der practischen Vernunft eine Wieder­

vereinigung jener beiden Begriffe auf transscendentem Gebiete herbeizuführen. Ueberall tritt daher bei Kant das Bedürfniß einer Ergänzung sowohl

des theoretischen Wissens als des practischen Handelns durch die Erkenntniß

des in der transscendenten Sphäre belegenen wahren Wesens der Dinge an sich hervor, während doch dasselbe in seiner Auffassung von dem Ge­

biet des subjectiven Erkennens principiell durch eine unübersteigliche Kluft geschieden ist.

Die Sinnlichkeit und der Verstand sind nach jener Auf­

fassung die beiden Organe, mittelst deren das Erkennen sich der Erschei­

nungswelt bemächtigen soll.

Die Welt der Dinge an sich soll nur durch

die Ideen der Vernunft ihrer wesentlichen Bedeutung noch erfaßt werden,

indem jene die unabweislichen Voraussetzungen enthalten, welchen daS Wesen der Dinge an sich genügen müsse, wenn eS eine Sittlichkeit über­

haupt geben solle.

Aber dieselben erweitern nicht daS Gebiet des eigent­

lichen Erkennens; eS wird nur gewissermaßen als sittliche Pflicht hinge­ stellt, an ihre Wahrheit zu glauben, wir sollen leben und denken, als ob

die Welt der Dinge an sich jenen Bernunftideen genüge, ohne begreifen

zu können, wie und wo solches möglich sei.

So leidet die Kant'sche Auf­

fassung in Folge der gerügten Mängel an einem Dualismus von Glauben

und Wissen, welcher auf die Dauer unhaltbar war.

Unerklärt blieb und

unerklärlich wurde innerhalb des Gesichtskreises der Kant'schen Forschung die inhaltreiche vielgestaltige Welt der Dinge an sich, unerklärlich der Zu­

sammenhang derselben mit dem höchsten Weltzwecke; daS Streben nach solcher Erkenntniß erschien hoffnungslos, der KriticismuS endete in einem großartigen Formalismus, der die Keime der angeregten Ideen und neuen Gesichtspunkte nur fixirte, aber das Streben nach ihrer Ausgestaltung

und Entwickelung zugleich hemmte uud ihr freies Wachsthum verhinderte. Erst Lotze ist es gelungen, jene Schranken, welche die Kant'sche Re­ form des philosophischen Denkens nach allen Richtungen hin umgeben,

vollständig zu durchbrechen und jene Reform selbst zu einem fruchtbaren

Abschlusse zu führen. Wie daS wahre Wesen eines Organismus z. B. einer Pflanze oder

eines Thieres nicht in dem Keime besteht, aus dem sie entstanden sind, sondern in der durch das Wachsen und Leben desselben unter den Ein­ wirkungen der Außenwelt vollentwickelten Gestalt, so besteht das wahre Wesen aller Individuen nicht sowohl in ihrem substantiellen

Kerne, in

ihrem ursprünglichem Was, sondern in dem, wozu sie sich durch die Ar­ beit des Lebens unter den erziehenden Einflüssen ihrer Umgebung zu voller Reife entwickelt haben.

Die erstere Frage nach dem substantiellen Kerne

der Dinge, nach der Art, wie eS die schaffende Weltsubstanz gemacht habe,

daß die Dinge so sein und wirken können, wie sie sind und wirken, könnte

nur dann die Principale Wichtigkeit beanspruchen, welche Kant, dem Vor­ urtheile der bisherigen philosophischen

Forschung folgend, ihr beilegte,

wenn eS unsere Aufgabe währe, die Welt zu schaffen, anstatt den Sinn

der Geschaffenen zu verstehen.

Da es uns, nachdem wir und alle anderen

Wesen wenn auch auf eine uns unbegreifliche Art einmal da sind, nur noch auf daS Letztere ankommen kann, so entgeht unS durch diese man­

gelnde Einsicht in die Art unserer Entstehung nichts, was nicht reichlich aufgewogen würde durch die Fähigkeit, nun, da wir uns zu dem was wir sind entwickelt haben, des ganzen Reichthums unseres inneren Lebens in

unmittelbarer Erfahrung inne werden zu können.

In diesem, in dem

was wir unmittelbar erleben, offenbart sich uns das wahre Wesen unseres

Ich.

Wir erleben unmittelbar in unS, was Sein, Wirken, Leiden, Fühlen,

Denken und Wollen bedeutet, welchen Sinn, Inhalt und Zweck das Leben

habe, und diese Selbstoffenbarung des eigenen Wesens, welche sich durch die fortschreitende Arbeit deS Lebens und Erkennens zu einer mehr oder

weniger umfassenden Weltansicht erweitert, ist nicht blos Erscheinung,

welche auf ein Sein hindeutet, welche zur Abbildung und Reproduction

eines hinter der Erscheinung belegenen noch wahreren Seins bestimmt wäre, sondern offenbart unö das Wirkliche selbst in seiner wahren an

sich seienden Gestalt, wie eS in unserem Fürsichsein unmittelbar zur

Realität gelangt.

Die Aufgabe deS Erkennens ist nicht, aus dem inner­

lich Erlebten als einem Scheine das wahre Sein eines solchen Schein erregenden Wirklichen ülittelst irgend welcher Erkenntnißtheorie zu ent-

räthseln, sondern das innerlich Erlebte seinem wahren Zusammenhänge

und Werthe nach zu würdigen und von ihm zum Zwecke unseres Lebens und Erkennens Gebrauch zu machen.

Wenn das Wirkliche sich uns in

Farben,

Klängen und Gerüchen offenbart,

Schein,

der uns das Wirkliche in verkürzter oder verstümmelter Weise

so sind diese nicht Ftwa ein

zur Anschauung brächte, sondern sie sind eben die Art, wie das Wirkliche selbst in uns wirklich wird.

In jenen einfachen sinnlichen Empfindungen,

in den Vorstellungen, welche wir daraus bilden, in der bunten vielge­ staltigen Welt der phänomenalen Dinge und Ereignisse liefert der Welt­ proceß uns dasjenige Material, welches wir zur Erfüllung unserer LebenS-

bestimmung

gebrauchen.

Dieses Material kann gewiß

so wie eS unS

erscheint, nicht außer und zwischen den anderen Wesen noch einmal in

derselben Weise und Form für sich wirklich sein, aber die realen erzeu­ genden Bedingungen desselben stehen zu diesem — wenigstens in ihrem relativen Werthe für unS — nur in dem untergeordneten Verhältniffe

eines Mittels zu seinem Zwecke.

Wir sehen, hören und riechen nicht

deshalb, um nach den Ursachen dieser subjektiven Erlebniffe in einer vor­

ausgesetzten Außenwelt zu forschen, sondern um unser Herz an dem Ge­

sehenen und Gehörten zu erfreuen oder xS sonstwie zum Zwecke unserer Lebensführung zu verwenden.

Den Inhalt, Werth und Zweck aller Dinge und Ereignisse und in letzter Instanz des ganzen Weltprozesses zu erforschen und zu verstehen, ist die wahre Aufgabe und daS höchste Ziel des Erkennens, denn „das Werthvolle ist das wahrhaft Seiende".

Da aber das, was für werth

oder unwerth zu halten fei, verschieden ist nach der Natur, Stellung und Bildung des erkennenden Subjectes, so wäre eine gegenseitige Verstän­

digung

über daö höchste Ziel des Erkennens

gewisse Interessen constant

nicht möglich,

und geeignet wären,

Maßstäbe der Vergleichung darzubieten,

wenn nicht

allgemein anerkannte

wenn uns nicht in dem, was

die sittliche Bestimmung durch den Ausspruch des Gewissens gebeut, eine Werthkategorie von allgemeiner und nothwen­ diger Geltung gegeben wäre.

Nur aus der Natur dieses höchsten

unmittelbar gegebenen Wirklichen,

aus den Voraussetzungen

Gewissens,

des

der Vernunft und des religiösen Gefühls, nicht

aus unklaren Ideen über die Substanz der Dinge, nicht aus gewissen formalen Verhältnissen des Geschehens oder gar aus unvollständigen wir

metaphysischen

Allgemeinbegriffen

dürfen

unsere Ansichten über Ziel und wesentlichen Inhalt deS

gesammten Weltlebens schöpfen, wenn wir uns nicht in ganz

haltlose und nichtige Phantasien verirren wollen. Die verbindliche Kraft des Sittengesetzes besteht allein in dem un­

bedingten Werthe, welchen wir dem Ziele unserer sittlichen Bestimmung

beimessen.

Einen unbedingten Werth kann eS nur geben, wenn das

Ganze des Weltprocesses

durch einen einheitlichen Zweck bestimmt und

alles Geschehene mit Rücksicht auf diesen Zweck gesetzlich und einheitlich

geregelt ist, denn wenn eS unberechenbare Momente deS Geschehens gäbe,

welche den Plan der Weltentwickelung wiMürlich durchkreuzen und ver­ ändern könnten, so wäre der Werth des zu erreichenden Zieles kein un­

bedingter und absoluter.

Unbedingt kann der Werth der sittlichen Be­

stimmung auch nur dann sein, wenn wir durch deren Erfüllung daS höchste

Ziel der Weltentwickelung irgenwie zu fördern vermögen. Da nun Zwecke und Werthe nur in lebendigen persönlichen Wesen existent werden können,

so kann eS einen höchsten Weltzweck und eine Sittlichkeit nur geben, wenn

das eine absolute Weltwesen, welches die Realität aller Einzelwesen in sich schließt, selbst lebendige Persönlichkeit, wenn eS Gott ist und der ganze Weltproceß in allen Zügen durch das Ziel deS göttlichen Lebens

bestimmt und geregelt ist, wenn wir selbst göttlichen Wesens und eben dadurch fähig sind,

als

thätige

Glieder deS Ganzen zur Erreichung

jenes höchsten Zieles durch Erfüllung unserer Lebensbestimmung mitzu­ wirken.

So eröffnet uns das von Lotze zuerst seiner vollen Bedeutung nach erschlossene Verständniß deS Unmittelbaren eine lichtvolle Perspective über

daS Ganze der Weltentwickelung und unsere Stellung in demselben, über die inhaltliche Natur Gottes und aller Wesen, welche die Grundlagen

der Ethik und Religionsphilosophie auf dem Boden der gege­ benen LebenSwirkltchkeit erkennen läßt und zugleich den Schlüffe!

zum Verständniß aller Einzelprobleme deS Wissens und Lebens darbietet. Was die letzteren anlangt, so tritt die grundlegende Wichtigkeit der

Lotze'schen Philosophie am Deutlichsten auf demjenigen Gebiete hervor, welches die Geister augenblicklich am meisten beschäfttgt, weil eS unS erst

durch den Forschungseifer der neueren Zeit in umfangreicherem Maaße

erschlaffen ist, und weil die Ergebniffe dieser Forschuttg einerseits für die gesammte Gestaltung deS modernen Lebens von höchster Bedeutung waren,

andererseits

aber der hergebrachten Form

der sittlichen und religiösen

Vorstellungen am Meisten zu widersprechen schienen, nämlich auf demje­ nigen der Naturwissenschaften.

DaS Wesen der Materie schien

dem

Geiste undurchdringlich, ihre Existenz unvereinbar mit dem Gedanken der

Gotterfülltheit deS Universums.

Auch das Walten einer unabän­

derlichen gesetzlichen Nothwendigkeit alles Geschehens schien dem religiösen Glauben zu widersprechen, daß der ganze Weltproceß geistigen Ursprungs und auf die Realistrung von Zielen gerichtet sei, welche nur

im Geiste erlebbar und nur dem Geiste verständlich sein können.

Jene

starre Nothwendigkeit erschien wie eine fremde, die göttliche Freiheit und die Freiheit aller Einzelwesen einschränkende Macht, unerklärlich in ihrem

Ursprünge, aber allmächtig in ihrer Behandlung alles Geschehens, wie daS fatum der Alten.

ES

entstanden die Gegensätze von Causalität

und Finalität, von Geist und Materie, welche die Gestaltung der

neueren Philosophie seit CartesiuS wesentlich beeinflußten und besonders

durch die

alten Borurtheile verschärft wurden, daß man einerseits den

specifischen Charakter der Geistigkeit sich ganz unabtrennbar dachte von einer gesetzlosen Willkür absolut freien Handelns und andererseis, wie schon erwähnt, in der Erkenntniß deS substantiellen KerneS, des Stoffes, aus dem die Dinge gemacht seien, den Schlüssel aller Weisheit finden zu

müssen glaubte.

Je mehr daher das Interesse an den Naturwissenschaften

sich in den letzten Jahrzehnten *ausbreitete, je überraschender und staunenSwerther ihre Erfolge sich darstellten, um so mehr drängte sich jener Ge­

danke hervor, daß wahre Realität allein der Materie zukomme und daß die Naturgesetze die einzige Macht seien, welche alles Geschehen beherrsche, daß der Materialismus den allein consequenten Abschluß aller philo­

sophischen Forschung bilde und alle Erscheinungen deS geistigen LebenS

Preußische Jahrbücher. St>. XLV1L Heft 2.

aus

der Materie und deren Kräften erklärt werden müßten.

Obwohl

Niemand von den zahlreichen begeisterten Anhängern dieser neuen Lehre angeben konnte, worin daS eigentliche Wesen der Materie und deren

Kräften bestehe und, wie eS möglich sei, daß Gesetze für sich bestehen und

die Kräfte der Materie beherrschen könnten,

so

unklar mithin auch die

metaphysische Grundlage deS Materialismus war, so schien doch die Lösung

deS Welträthsels, welche er darbot, so einfach, überraschend und allgemein verständlich, so war doch daS Ansehen, welches ihm aus der beifälligen

Zustimmung vieler berühmter Naturforscher erwuchs, so bedeutend, daß

er vielfach wie ein Evangelium begrüßt wurde, dessen Verbreitung in der

That die gesammte Lebens- und Denkweise erfolgreicher beeinflußte, als

es wohl jemals einör rein theoretischen Lehrmeinung gelungen ist. Niemand hat die Verkehrtheit dieser neuen Lehre tiefer aufgedeckt als Lotze; niemand auch zugleich den Dualismus jener alten Gegensätze,

durch deren mißverständliche Erweiterung sie entstanden war, durch Auf­

klärung des wahren Sachverhalts gründlicher und überzeugender beseitigt als er.

DaS allgemeine Bild, welches wir uns von der Materie durch Ab-

stractton von den unseren Vorstellungskreis erfüllenden, aus Combinationen

der verschiedenen Sinneseindrücke entstandenen concreten Erscheinungsbil­ dern der uns scheinbar umgebenden Dinge und Stoffe entwerfen, hielt

schon vor der eindringenden Untersuchung der Naturforschung nicht Stand und löste sich auf in eine Vielheit unendlich kleiner oder vielmehr ganz

unausgedehnter Kraftmittelpunkte oder Atome, welche als letzte Elemente

des Wirklichen betrachtet wurden.

Kraftwirkungen können

aber

nicht

zwischen solchen als leblose Wesen ohne Innerlichkeit gedachten Wesen stattfinden, sondern nur in ihnen, sofern sie als lebendige Wesen, als

Momente des

FürsichseinS der

einen Weltsubstanz betrachtet

werden.

Wollen wie daher die Atome als reale Wesen, und ihre Wirkungen auf unS nicht blos als Erregungen ansehen, welche das absolute Weltwesen in allen Seelen übereinstimmend ausübt — eine Annahme, welche wenig

Wahrscheinlichkeit für sich hat — so können wir sie nur ähnlich den Seelen als Momente des FürsichseinS jener einen Substanz, mithin als, wenn auch noch so niedrig veranlagte geistige Wesen auffassen, deren Zu­

standsänderungen von ihnen als innere Erlebnisse empfunden werden, welche den Grund deS Wechsels ihrer inneren realen Beziehungen, ihrer scheinbaren Anziehungen und Abstoßungen bilden.

So gelang eS Lotze,

durch die erschlossene tiefere metaphysische Einsicht in daS wahre Wesen

deS Wirklichen zunächst den Gegensatz von Geist und Materie zu beseiti­

gen, indem er nachwieS, daß das wahrhaft Wirkliche nur der lebendige

Geist Gottes und das Reich der lebendigen Wesen sei, die er geschaffen

hat.

Auch den Gegensatz von Causalität und Finalität hob er dadurch

auf, daß er diese als den alleinigen denkbaren Grund jener darlegte. Ge? setze können nicht wie vorweltliche selbständige Mächte für sich extstiren und daS Geschehen beherrschen, sie existiren nur in dem Geiste deS Ge­

setzgebers und dem Willen derjenigen Wesen, welche ihnen gehorchen, sei

eS aus freiem Antriebe oder dem unbewußten Zwange ihrer Naturanlage blindlings folgend.

Gesetze können daher nur gedacht werden als Aus­

drücke der inneren Consequenz eines auf ein vorausbestimmtes Ziel ge­ richteten Willens*).

Soll daher der vorausgesetzte Causalzusammenhang

alles Geschehens eine Wahrheit sein, so kann er nur als Ausdruck der inneren WillenSconsequenz des einen absoluten Weltwesens begriffen wer­

den, welches der Grund aller Wirklichkeit ist.

Nur wenn der gesammte

Weltproceß auf ein einheitliches Ziel gerichtet ist, kann es daher eine

solche universelle innere Consequenz alles Geschehens, eine alles Geschehen

umfassende Causalität geben. Der Zweckbegriff ist der wahre und letzte Grund der Causalität, während der Weltzweck umgekehrt nicht realisirt werden,

auch von einer sittlichen Bestimmung der zu dessen Erreichung mitwirken­ den Einzelwesen und von unserer sittlichen Freiheit nicht die Rede sein

könnte, wenn nicht eine solche durchgängige Berechenbarkeit, Treue und

Beständigkeit der bei allem Handeln und Geschehen in Betracht kommen­ den Factoren bestände, welche den jedesmaligen Erfolg alles Handelns

und Geschehens vorauszusehen gestattete.

Causalität und Finalität

sind daher Correlate, die sich ihrem Wesen nach gegenseitig

bedingen, nicht Gegensätze, die einander ausschließen. Ebensowenig besteht, wie auS dem Gesagten unmittelbar folgt, ein

unaufheblicher

Gegensatz zwischen Causalität und

wahrer sittlicher

Freiheit, d. h. der Fähigkeit, sich nach sittlichen Motiven selbst zu be­

stimmen, da ein sittliches Handeln ohne mögliche Voraussicht seiner Fol­ gen insoweit undenkbar ist, als die sittlichen Motive eben durch solche

Voraussicht bedingt sind.

Es ergiebt sich auS alledem, daß die Aufklärungen, welche uns die Naturwissenschaften über daS Wesen und die Wirksamkeit der Materie,

sowie über das Gelten einer auSgebreiteten Gesetzlichkeit deS Geschehens verschaffen, unseren sittlichen und religiösen Idealen nicht widerstreiten

daß sie vielmehr nur bestätigen, was unS schon durch die sittliche und re-

*) Ich habe diesen Gedanken in meiner Abhandlung „Die Lehre Spinoza'S und der Materialismus" (Fichte'sche Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik Bd. 74 S. 223 Nr. 6) nach Lotze'S Vorgänge specieller auszuführen gesucht, auf welche ich der Kürze halber verweise.

ligiöse Veranlagung unseres Geistes und die mit dieser gegebenen Vor­ aussetzungen offenbart wurde, daß nämlich der gesammte Weltproceß ein teleologisch bestimmter und der Endzweck desselben durch die umfaffende

Intelligenz und Güte eines alle Realität in sich schließenden lebendigen persönlichen Gottes gesetzt sei. ES kann nicht anders sein. Alle besonderen ErschetnungSgebiete stehen

mit dem Ganzen in einer so engen Beziehung, daß es nur des richtigen

Standpunkts und der rechten Beleuchtung bedarf, um die Widersprüche als hinfällig erkennen zu lassen, welche sich daraus gegen die Voraus­ setzungen der Vernunft und des Gewissens zu erheben drohen.

Nur wo

diese Bedingungen sachgemäßer Beurtheilung fehlen, wo man von übel

gewählten Standpunkten aus und unter Verkennung der wahren Ziele und Werthe des Lebens eine philosophische Gesammtübersicht zu gewinnen

sucht, muß sich daö wahre Verhältniß der Dinge und Ereignisse zu ein­ ander und zu dem Ganzen der Welt verschieben, und man gelangt dann

natürlich zu abnormen Resultaten, welche jenen Voraussetzungen wider­ streiten.

So zeigte sich's beim Materialismus, so ist eö noch augenfälliger bei der jetzt in die Mode gekommenen Lehre des Hartmann'fchen Pessi­ mismus.

Der Grundfehler der letzteren besteht eben darin, daß ihr

Urheber seinen Spekulationen trotz entgegenstehender Versicherung nicht die Gesammtheit der unmittelbaren Lebenserfahrungen, sondern die aus der Beobachtung dieser einseitig abstrahirten Allgemeinbegriffe des Wollens

und Vorstellens zu Grunde legt, welche nichts Wirkliches mehr bedeuten. Das wirkliche Wollen und das wirkliche Vorstellen sind nicht von ihren Subjecten losgelöste, für sich bestehende Momente deö Geschehens, sondern

lebendige Zustände des Vorstellenden und Wollenden und als solche Be­

wegungen deS ganzen Geistes, welcher vorstellt und will.

ES ist ein

und derselbe ganze lebendige Geist, dessen ganzes Wesen in jeder dieser Thätigkeiten auf besondere Weise zum Ausdruck kommt.

Wir können da­

her das Wesen beider Thätigkeiten gar nicht anders verstehen und definiren als aus dem ganzen Geiste, dessen Natur sich in ihnen offenbart. Wie die einfachste Selbstbeobachtung lehrt, können wir nichts wollen, dem wir

nicht irgend einen gefühlten Werth beilegen, und dieser gefühlte Werth, nicht die abstracte Vorstellung eines rein thatsächlichen Zustandes ist eben der alleinige Grund, weßhalb wir wollen.

Wollen kann daher nur ein

Wesen, weiches für sich ist und eigene Interessen hat, die es zum Wollen anzuregen vermögen.

Ebenso lehrt die Erfahrung, daß wir nicht- vor­

stellen, waS nicht unser Interesse und damit den Willen, die Vorstellung desselben festzuhalten und nach bestimmter Richtung hin zu vervollständigen

oder sie zu unterdrücken, in irgend welcher Weise erregt.

Erst im Ge­

fühl, wozu im weiteren Sinn auch die sinnliche Empfindung

gehört, offenbart sich daher das inhaltliche Moment des Le­

bens, auS welchem erst die Antriebe des Wollens und VorstellenS ent­ stehen. DaS Wollen und Borstellen sind nur die Grundformen, in denen wir die allein in der Gefühlssphäre belegenen Werthe des Lebens realisiren, sie sind nicht die alleinigen Grundfunctionen des Lebens und

können eS nicht fein, da Formen nicht denkbar sind ohne einen Inhalt, dessen Form sie sind.

Diese verkehrte Aufstellung der Grundprincipten

enthält bereits den KrankheitSkeim des Pessimismus in sich, der die Werthe des Lebens verkennt,

Leichtfertigkeit

weil

er sie principiell negirt.

Nur diese ftivole

in der Feststellung der wichtigsten Bestimmungen

seiner

Lehre konnte Hartmarzn verleiten, die Thatsache des Werdens und der Veränderung in ihrer positiven Bedeutung ganz zu verkennen und in ihr

nur etwa- Nichtseinsollendes, die Negation deS Satzes der Identität zu erblicken, deffen Aufrechterhaltung durch die Weltvernunft geboten fei, und

den Ungedanken zu fassen, daß der ganze Weltproceß ein Uebel und daß daS Ziel der Weltentwickelung auf die Vernichtung alles Bestehenden ge­

richtet sei*).

Bedenken wir die weite Verbreitung, welche diese und ähnliche auS einseitigen und beschränkten Gesichtspunkten hervorgegangene, den wahrm

Interessen der Sittlichkeit, der Religion und der Cultur überhaupt wider­ streitenden Lehren gefunden haben, so kann die hohe Bedeutung einer auf

umsichtiger und vorurtheilSloser Würdigung

der unmittelbar gegebenen

Lebensthatsachen erwachsenen Metaphysik nicht länger zweifelhaft bleiben. Kein Philosoph der Gegenwart hat sich um die Herstellung solcher Metaphysik so großartige Verdienste erworben als Lotze. Wir hegen den sehnlichsten Wunsch, daß der erweiterte Wirkungs­

kreis, der sich ihm in Berlin darbieten wird, auch zur Verbreitung und

Würdigung seiner Lehren beitragen möge, welche es verdienen, zum Ge­

meingut aller Gebildeten erhoben zu werden. *) Ich werde diese hier nur flüchtig angedeuteten Bemerkungen demnächst in einer noch nicht gedruckten Schrift ausführlicher begründen und verweise, um das ge­ fällte Urtheil zu rechtfertigen, einstweilen auf meine Recension der „Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins" in den Göttinger gel. Anz. Stück 16 Jahrgang 1879 S. 483—502 und auf meine Abhandlungen in den Preußischen Jahrb. Bd- XLIII Hest 4 S. 375, Bd. XLIV S. 602 und Bd. XL VI S. 380.

Hugo Sommer.

Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische FinanzReform durch Regulirung der Gemeinde-Steuern und der Communalsteuer-Gesetzentwurf". Von einem Mitgliede des Abgeordnetenhauses.

Die politischen Schriften von Rud. Gneist werden sich wegen der Schärfe ihrer Dialektik und der reichen historischen Beziehungen, in welche sie die Fragen des Tages setzen, der Beachtung und Anerkennung auch

bei denen erfreuen, welche den praktischen Folgerungen des Verfassers nicht beizustimmen vermögen.

ES gilt dies auch von der neuesten Schrift „Die

Preußische Finanz-Reform

durch Regulirung der

Gemeinde-Steuern".

Gneist tritt in derselben den bezüglich der Communalsteuergesetzgebung von

der Regierung und der Commission des Abgeordnetenhauses bisher fest­

gehaltenen

Grundsätzen

entgegen.

Seine Vorschläge präjudiziren und

widerstreiten zugleich der von der Regierung vorgeschlagenen Steuerreform.

Bereits im Jahre 1877 hatte er bei der Generaldebatte über das Communalsteuergesetz den wesentlichen Kern seiner Vorschläge

vorgetragen.

Dieselben fanden indessen in der Commission des Hauses keinen Anklang.

Nur von einem Mitgliede wurde die allgemeine Real- bezw. Liegenschafts­ steuer als regelmäßige Prinzipale Communalsteuer befürwortet, das be­

zügliche Amendement aber mit allen Stimmen gegen die des Antragstellers abgelehnt.

In den beiden folgenden Sessionen ist dieser Gedanke von

keiner Seite wieder ausgenommen worden.

Alle drei Commissionen ent­

schieden sich vielmehr für die Richtigkeit des in der Regierungsvorlage festgehaltenen Prinzips der obligatorischen angemessenen Verbindung der

Personalsteuer mit der Rfalsteuer für die Gemeindebesteuerung, sowie für

das System der Zuschläge, und zwar: für die Personalsteuer als absolute Regel, für die Realsteuern als Regel unter Zulassung besonderer Communalrealsteuern mit ministerieller Genehmigung. Gegenwärtig nun hat Gneist seine Vorschläge von Neuem ausge­

nommen mit bedeutend ausführlicherer Motivirung und in vervollständigter, spezifizirterer und theilweise veränderter Weise, wobei namentlich neu:

daß, soweit die kommunale Liegenschaftssteuer nicht ausreicht, noch eine von

allen Einwohnern zu tragende Schulsteuer treten solle. — Allein auch in

der jetzigen Form und Motivirung kann man den Gneist'schen Vorschlägen nicht beistimmen.

In der nachstehenden Auseinandersetzung soll nur auf

die wesentlichsten hervortretenden Punkte aufmerksam gemacht werden.

Vorweg mögen zur Richtigstellung der ganzen Sachlage folgende Be­ merkungen Platz finden:

Gneist schreibt Seite 78:

der Entwurf vom

3. November 1879 statuire principaliter Einkommensteuern, eventualiter und mehr aushülfsweise auch Heranziehung der Grund- und

Gebäudesteuern, jedoch zu einem geringeren Antheil rc. — Und S. 133

schreibt er: es werde wohl bei dem jetzt sehr gewöhnlichen Verhältniß

bleiben, so daß neben 200 Prozent Einkommensteuern die Realsteuern mit 50 resp. 25 Prozent nachhtnken.

Hier scheinen in mehrfacher Hinsicht

Mißverständniffe abzuwalten, namentlich kann leicht das Mißverständniß/ als ob durch den § 2 des Entwurfs der Grundbesitz nicht genügend heran­

gezogen werde, durch die Gneist'sche Darstellung hervorgerufen werden. Der § 2 bestimmt zunächst die absolute obligatorische Verbindung der Klassen- und Einkommen- mit der Grund- und Gebäudesteuer.

Zuschläge

zu der ersteren dürfen nicht ohne Heranziehung der letzteren erhoben werden, und umgekehrt, so daß gar keine Rede davon sein kann, daß die Per­

sonalsteuer principaliter, die Realsteuer eventuell elntreten solle.

Weiter bestimmt der § 2:

Hierbei ist in den Landgemeinden die

Grundsteuer, in den Stadtgemeinden die Gebäudesteuer mindestens mit der Hälfte und höchstens mit dem vollen Betrage, in den Landgemeinden

die Gebäudesteuer, in den Stadtgemeinden die Grundsteuer mindestens mit */4, höchstens mit s/4 desjenigen Prozentsatzes heranzuziehn, mit welchem

die Klassen- und Einkommensteuer belastet wird. — Unter Zustimmung der Aufsichtsbehörde können diese Minimalsätze auf die Hälfte ermäßigt

werden und mit Zustimmung des ProvtnzialrathS auch eine gänzliche Frei­

lassung der Grund- und Gebäudesteuer auf bestimmte Zeit erfolgen. Die letzteren beiden, an die Zustimmung der Behörden geknüpften

Ausnahmen von der normalen Regel waren nothwendig für diejenigen Gemeinden, in denen der Grundbesitz verarmt resp, gar nicht mehr leistungs­

fähig ist; es liegt darin kein Aufgeben deS normalen Prinzips, sondern eine nicht zu umgehende Rücksichtnahme auf die Leistungsfähigkeit deS

Grundbesitzes der Gemeinde.

Die Liegenschaftssteuer, welche keine Rück­

sicht auf die Leistungsunfähtgkeit deS Grundbesitzes nimmt, ist eben des­

halb unmöglich; wir werden darauf zurückkommen. Macht man sich nun klar, was die tm § 2 statuirten Bruchtheile in -Wirklichkeit besagen und welches Resultat sie bei der factischen An­ wendung ergeben, so zeigt sich Folgendes:

198

Die Vneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform rc."

Wenn man die jetzige Einschätzung der Grundsteuer zu 10% des ReinertageS nach der notorischen allgemeinen Annahme als gleich 5%

des actuellen Reinertrags der ländlichen Grundstücke resp, des Reinein­

kommens deS unverschuldeten Besitzers von dem Gute setzt, und ein Zu­ schlag von 100% der Klassen- und Einkommensteuer (— 3% des Ein­

kommens) als Communal - Persknalsteuer ausgeschrieben wird, so soll die

Grundsteuer nach § 2 mit der Hälfte dieser 100%, also mit 50%, als normales Minimum mitherangezogen werden, und eS zahlt dann der un­ verschuldete Grundbesitzer außer jenen 3% noch 2%% seines wirklichen

Einkommens als Grundsteuerzuschlag, zusammen 5% %.

Bei nur 25%

Zuschlag zahlt er immer noch im Ganzen 4% %, bei 100% Zuschlag im Ganzen 8 % seines Einkommens, gegen die 3 % des Rentiers oder Arbei­ ters jeder Art. — Ist aber der Gutsbesitzer, wie durchschnittlich anzu­

nehmen, bis zur Hälfte des Werths seines Guts verschuldet, so beträgt die Grundsteuer 10% seines wirklichen Einkommens und er zahlt dann

bei 50, resp. 25 und 100% Zuschlag zur Grundsteuer:

statt jener 5%

resp. 4% und 8% im Ganzen 8% resp. 5% und 13% seines Einkom­

mens, gegenüber den 3 % des Rentiers. Von der nebenhergehenden Zahlung

der Staatsgrundsteuer, welche im Allgemeinen wenigstens theilweise den Charakter einer Rente angenommen hat, mag hierbei abgesehn werden.

Bei der Gebäudesteuer, welche 4% deS MiethswerthS beträgt, würde das Facit sich ein wenig günstiger für den Hauseigenthümer gestalten; ist

aber der Hausbesitzer — und dies dürfte vielfach die Regel sein, über

den halben Werth des Hauses hinaus verschuldet, so kommt die Sache

mit dem ländlichen Grundbesitzer so ziemlich in'S Gleiche. Uebersetzt man sich auf diese Weise die relativen Verhältnißzahlen der Steuern in die Zahlen der praktischen Wirklichkeit, so gewinnt die Sache

natürlich ein ganz anderes Ansehn.

Wenn bei der abstracten Vergleichung

der Steuern unter sich die von allen Einwohnern, auch von den Grundbe­ sitzern getragene und beim Versagen der andern Steuern noch auSdehnungS-

fähige Personalsteuer als die allgemeine Prinzipale Communalsteuer zunächst hervortritt, um die sich die Realsteuern und andern Steuern ergänzend grup-

piren, so ist das Bild zutreffend.

In Wirklichkeit aber stellt sich nach dem

Gesetz die Sache so, daß, soweit der Grundbesitz überhaupt angespannt werden kann, die Last der Grundbesitzer die größte und in rascher Progression

steigende ist, — (über die obligatorische Mitheranziehung des Gewerbes herrscht noch Streit,) — so daß bei 100% Zuschlag zur Grund- und Ge­ bäudesteuer schon die relative Höhegrenze des Mißverhältnisses heraustritt, und bei 150% Zuschlag in sehr vielen Gemeinden auch bereits die absolute

Höhegrenze der Leistungsfähigkeit des Grundbesitzes erreicht sein wird.

Auf diese wirkliche Belastung der Grundbesitzer aber kommt es allein an.

Die irrthümlichen Ansichten über Communalbesteuerung, und das

Streben, den Grundbesitz immer noch stärker heranzuziehen, entstehen haupt­

sächlich aus zwei Ursachen:

erstlich, weil man aus den bloßen Berhält-

nißzahlen, aus den Bruchtheilen und Prozenten, in denen die Steuern neben einander gestellt werden,

leicht ein unrichtiges Bild der ganzen

Sachlage gewinnt, — und zweitens daraus, daß man leicht in den Fehler verfällt, die Immobilie (das Gut, das HauS) zu personificiren und eS als ein beliebig hoch zu besteuerndes Subject zu betrachten, während man

es allein mit dem Besitzer, dem steuerzahlenden Menschen, zu thun hat,

und mindestens die durchschnittliche, ja sogar schon die weniger als durch­ schnittliche Leistungsfähigkeit der gemeindlichen Grundbesitzer die natürliche Begrenzung auch der Realbesteuerung bildet. Die Commission deS Abgeordnetenhauses war sich vollkommen klar

darüber, daß ein Zuschlag von 7a—7i des Zuschlagsatzes der Personal­ steuer die Grundbesitzer im Durchschnitt bereits hoch und resp, bis zur durchschnittlichen höchsten Grenze belaste.

ES kam nur in Frage, ob der

Satz von 7,—7i nicht schon zu hoch gegriffen sei, und von Vertretern der westlichen Provinzen wurde namentlich in Rücksicht der Lage deS

Grundbesitzes in vielen dortigen Städten auch dringend die Herabsetzung der regelmäßigen Latitude auf 7« oder wenigstens auf 7- verlangt.

Die

Commission nahm jedoch an, daß die ungesunde Lage deS Grundbesitzes

in den dortigen Städten keineswegs eine richtige Basis der gesetzlichen Norm bilde, solche ungesunde Verhältniffe vielmehr mit allen Mitteln in

gesundere Bahnen zu leiten seien, übrigens aber für derartige exceptionelle Verhältniffe die im Gesetz mit Zustimmung der Behörden gewährte Mög­

lichkeit der Erleichterung deS Grundbesitzes genüge.

Andererseits wurde

von der Commission auch der noch vielfach in Hannover und in vielen östlichen Landgemeinden bestehenden Gewohnheit, nach welcher der Grund­ besitz allein die Gemeindelasten aufbringt, im Gesetz Rechnung getragen,

wenn auch nicht unbedingter Weise und in der Voraussicht, daß die Zeit

und die Veränderung der Verhältnisse von selbst zu der vom Gesetz in's

Auge gefaßten normalen Bahn hinüber leiten würden. DaS Gesetz und

die Commission kann hiernach gewiß nicht der

Vorwurf treffen, daß sie der möglichst starken Heranziehung des Grund­ besitzes zu den Gemeinde-Abgaben nicht volle Rechnung getragen hätten. Wenn Gneist ferner S. 67 ff. die in Städten aufkommenden Per­

sonal- und Realsteuern zusammenstellt, so ist natürlich in den Realsteuern die von den Grundbesitzern bezahlte Perfonalsteuer nicht einbegriffen.

Und

wenn er sagt, daß über die Gründe des allmähligen Zurückweichens der

Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finauz-Reform rc."

200

Realsteuern bezw. des UeberwuchernS der Personalsteuern die Statistik keine Auskunft geben könne, Und er diese Erscheinung lediglich auf den

bewußten oder unbewußten Egoismus der einflußreichen Grundbesitzer zu­ rückführt, (die nur hinsichtlich der Schule verständige liberale Ideen haben),

so ist es sehr fraglich, ob nicht die Statistik der Verschuldung der Grund­ besitzer in den größeren Städten

genügenden Aufschluß

geben würde.

Ohne Zweifel steigt bei dem schnellen Anwachsen der größeren Städte der Prozentsatz der wenig bemittelten Hauseigenthümer und Bauunternehmer

sehr stark, und namentlich bei Schwankungen der Conjuncturen und Rück­

schlägen wird die Lage eines großen Theils der Hauseigenthümer so prekär, daß, um nicht massenhaftes Unheil herbeizuführen,

von einer weiteren

Anspannung des Grundbesitzes Abstand genommen werden muß.

In

dm übrigen Gemeinden aber vollzieht sich der Uebergang zur Mitheran­ ziehung der Personalsteuer naturgemäß mit dem Untergang

der alten

Realgemeinde in die Einwohnergemeinde. UebrigenS wird noch jetzt in vielen Städten, auch in den östlichen

Provinzen, über allzustarke Heranziehung des Grundbesitzes geklagt; na­ mentlich gelangte vor drei Jahren von einer ganzen Reihe neumärktscher Städte ein solcher Schmerzensschrei an das Abgeordnetenhaus. ES ist nun zu untersuchen, ob die Gneist'schen Vorschläge principiell

richtiger sind als die Grundsätze des Gesetzentwurfs und praktisch Besseres liefern.

Wir glauben, beide Fragen mit „nein" beantworten zu müssen,

mit dem Hinzufügen, daß die eigentliche Absicht des Dr. Gneist, die

Communalsteuer als Besitzobjectsteuer zu fixiren, von ihm nicht erreicht worden, sondern ihm in der Ausführlmg unter den Händen zerronnen und zu Wasser geworden ist.

Gneist verlangt eine von allen Liegenschaften innerhalb der Gemeinde gleichmäßig zu erhebende Steuer nach dem jährlich abzuschätzenden Pachtresp. MiethSwerth der ländlichen Grundstücke resp. Wohngebäude,

mit

erhöhter Abschätzung der Grundstücke und Anlagen deS Großgewerbebetriebs

nach der Zahl der Arbeiter und der verwendeten Dampf- und Wasserkraft. Die Liegenschaftssteuer ist bei getheiltem Besitz zur einen Hälfte vom Eigenthümer, zur andern Hälfte vom Miether, Pächter oder nutzenden

Inhaber zu erheben.

Die Gemeinden und die ihnen beitretenden GutS-

bezirke, welche diese Steuer annehmen, erhalten vorweg als Prämie 25% der Grund- und Gebäudesteuer zur Deckung ihrer Gemeindebedürfnisse.

Außerdem wird den Grundbesitzern, welchen durch die Regulirung eine höhere Belastung als bisher erwächst, die Hälfte dieses Mehrbetrages auf

die StaatS- Grund und Gebäudesteuer angerechnet. — Kann der Jahres-

Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform rc."

201

bedarf der Gemeinde durch die Liegenschaftssteuer (und einige indirecte

Steuern) nach Ermessen der Aufsichtsbehörde nicht ohne Ueberbürdung des Grundbesitzes gedeckt werden, so ist eine besondere Schulsteuer durch Zu­

schläge bis zu 40% der Klassen- und Einkommensteuer gestattet. — Früher hat Gneist behauptet, daß im Großen und Ganzen die Leistungen der Gemeinde sich als Niederschläge in dem Grund- und Ge­ bäudewerth wiederfinden.

Diese unrichtige, mindestens sehr übertriebene

Behauptung ist in der gegenwärtigen Schrift nicht wiederholt; eS wird

der besondern Vortheile, die der Grundbesitz aus der Gemeinde und ihren

Einrichtungen zieht, nur vorübergehend gedacht.

Dagegen wird das Haupt­

gewicht auf den realen Gemeindeverband, auf die hervorragende Bedeutung

des Grundbesitzes für die Gemeinde gelegt, und betont: daß die Commune ihrem Wesen nach nicht ohne feste Mark und nicht ohne dauernde Ver­ bindung mit dem festliegenden Vermögen des GemeindebeztrkS zu schaffen

sei; daß der Staat, der sich auf den Communalverbänden aufbaue, eS nicht

länger den einzelnen Gemeindebeschlüssen überlassen könne, ein Gemeindesystem nach individuellen Vorstellungen von Leistung und Gegenleistung für jeden Verband zurechtzulegen, — daß vielmehr das Gemeindeleben unseres

Staates auf die feste, gleichmäßige Besteuerung der Liegenschaften gebaut sei und bleiben müsse, wenn die Gemeinde ihre Bestimmung als Nachbarver­ band und unentbehrliche Grundlage des Staatsbaus erfüllen soll. Kein Geld­

beitrag nach der persönlichen Habe habe jemals diesen Verband zu ersetzen und daS Bewußtsein einer Gemeindeangehörigkeit zu erzeugen vermocht rc. Wir bestreiten natürlich in keiner Weise die hervorragende Bedeutung

deS Grundbesitzes für das Gemeindeleben wie für den Staat als conservativer Factor und fester Fond im Wechsel und in der Verwirrung aller

Art, und als Träger besonderer hervorragender Pflichten gegen die Ge­

meinde und den Staat.

Daß aber die Communalbesteuerung lediglich

auf die Jmmobiliarsteuer basirt sein müsse,

erscheint von vorn herein

nach dem Wesen der heutigen Gemeinde nicht richtig.

Die alte Realgemeinde deckte sich auch nach den Gemeinheitstheilungen

wesentlich noch mit der Personalgemeinde.

Nachdem aber zuerst in den

Städten der alte Bürgerverband zur wetteren Einwohnergemeinde geworden,

nachdem auch auf dem platten Lande Handel, Gewerbe, Fabriken betriebm werden,

bergbauliche Unternehmungen große

Ortschaften hervorgerufen

haben u. s. w., haben wir mit beiden gegebenen Factoren zu rechnen: mit der persönlichen und der realen Gemeindeangehörtgkeit.

Den persönlich

der Gemeinde Angehörigen als solchen zu leugnen, wäre gesetzlich unmöglich;

ihn innerhalb der Gemeinde nur als steuernden Staatsbürger zu betrachten, wäre prinzipiell unrichtig.

Die Personalsteuer nach der Leistungsfähigkeit

ist nicht Correlat der bloßen Unterthanenschaft, auf Grund deren man die

Nothwendigkeit der personellen Gemeindebesteuerung läugnet, und die

an sich nur eine gleiche Kopfsteuer begründen würde; auch nicht Correlat

der Pflicht deS Unterthanen, dem der Staat als Machthaber entspricht,

sich, soweit das Vermögen reicht, soviel abnehmen zu lassen, als der Staat verlangt.

Nach unseren heutigen Begriffen sagen wir vielmehr: Die Per­

sonalsteuer nach der Leistungsfähigkeit ist das Correlat der persönlichen

Staats- resp. Gemeindeangehörigkeit und der dem Einzelnen gewährten Entwickelungsfreiheit unter dem Schutze des StaatS und der engeren Ge­

meinde, in der der Einzelne zunächst wurzelt und wächst, indem er von der Gesammtheit der Gemeindeangehörigen und der gemeindlichen Ein­ richtungen Vortheil zieht.

Dafür zahlt er mit Recht seinen Beitrag zu

diesen Einrichtungen nach dem Maaße, als es ihm und seinen Vorfahren,

deren Resultate er in sich vereinigt, geglückt ist, vermöge der gewährten Entwickelungsfreiheit

zu

prosperiren.

Namentlich hat der

preußische

Staat eS stets als eins seiner vornehmsten und fundamentalsten Prin­

zipien betrachtet und festgehalten: auf allen Gebieten, vorbehaltlich der nothwendigen Schranken, die möglichste Entwickelungsfreiheit zu gewähren und dafür als Correlat die äußerste Hingebung für das gemeine Wesen

zu fordern; darauf beruht unsere ganze Stärke.

Und diesen für uns in

der That allerwichtigsten Grundsatz für die Gemeinde nicht anwenden zu wollen, wäre ein um so größerer praktischer Fehler, als erfahrungsmäßig ein Jeder der Regel nach für die Gemeinde, für seine engere Heimath,

größere pekuniäre Opfer zu bringen bereit ist, als für den Staat, theils aus größerer Liebe und Anhänglichkeit für die engere Heimath, theils

weil das reciproke Verhältniß hier stärker hervortritt, weil Jeder die Früchte seiner Beisteuern schneller wiederkommen sieht und er zugleich die Ver­

wendung seiner Beisteuern besser controliren kann.

Diese Personalsteuer,

deren adäquatester, wenn auch nicht ganz vollkommener Ausdruck die Ein. kommensteuer ist, ist aber nicht blos die uns als allgemeine Communal-

steuer nächstliegende, sondern sie ist auch die natürlich ausdehnungsfähigste, weil alle Ertragserhöhungen, sei eS aus bloßer Arbeit oder aus Ver­

bindung von Capital und Arbeit, auch beim Grundbesitz, zunächst in dem

Einkommen deS steuerzahlenden Menschen zur Erscheinung kommen und naturgemäß zunächst in der Einkommensteuer besteuert werden. So sehr wie innerhalb der Gemeinde die Bedeutung deS Grundbesitzes

als des festen Kerns und conservativen Moments betonen, so ist doch

dieses Moment der Festigkeit und Stetigkeit nicht das einzige in der Ge­ meinde und ihrer Besteuerung in Betracht kommende; eS handelt sich vielmehr mindestens ebensosehr, in den meisten Fällen noch viel dringender

um die Herbeiführung der höchsten Kraftentwickelung, und diese ist durch die einseitige Besteuerung des Grundbesitzes nicht möglich.

Diese würde

vielmehr leicht eine bedeutende Hemmung der Kraftentwickelung, Stagnation und Schwäche in die Gemeinde hineinbringen.

Nur durch das harmonische

Zusammenwirken aller Kräfte wird im Staate wie in der Gemeinde die höchste Kraftentwickelung erreicht; jede Einseitigkeit ist auf die Dauer identisch

mit Schwäche.

Die Gemeinde ist naturgemäß und muß sein: die Ver­

einigung aller Gemeindeangehörigen zur Erreichung der gemeinsamen wirth-

schaftltchen und höheren Zwecke mit gemeinsamen Mitteln und mit äußerster Hingebung für das gemeine Wesen. Nur auf der Basis der vollen Gemeinsam­

keit auf allen Gebieten werden die Gemeinden die Höhe der Kraft erreichen, welche sie befähigt, tüchtige Stützen und Pflanzstätten deS Staats zur Erreichung

der hohen und großen Aufgaben zu sein, welche der Staat allein nicht zu bewältigen im Stande ist.

Dazu reicht der Grundbesitz allein nicht aus,

und eine an den Grundbesitz geknüpfte Liegenschaftssteuer thut es auch-nicht. Daß der Grundbesitz, mit Ausnahme weniger Provinzen, bei uns

viel zu schwach ist, um die nothwendige Communalbesteuerung zu tragen, hat der Geh. Ob. Reg.-Rath Herrfurth in den Beiträgen zur Finanzstatistik, in dem Heft, „die Einnahmen und Ausgaben rc. in den Gemeinden

mit mehr als 10,000 Einwohnern" Seite 137ff. genau statistisch nachge­ wiesen.

ES wird auf die dortige vortreffliche Ausführung verwiesen und

mag daraus hier nur hervorgehoben werden, daß der Gesammtbetrag der

Grund- und Gebäudesteuer nur etwa 74 der sämmtlichen Gemeindeab­

gaben und etwa 7ä der eigentlichen Communalsteuern im engeren Sinne decken würde.

Bei der vollen Ueberweisung der Grund-, Gebäude- und

Gewerbesteuer mit 74,7 Millionen Mark würden zur Deckung der com-

munalen Ausgaben immer noch etwa 200% Zuschläge zu diesen Steuern erhoben werden müssen, ohne daß für Kreis- und Provinzialsteuern etwas

übrig bliebe.

(Diese Zahlen sind auf der Basts des Jahres 1876 auf­

gestellt; die Verhältnisse im Ganzen aber würden auch jetzt ähnliche sein.)

Die Gemeindesteuern belaufen sich in der Mehrzahl der Fälle zwischen

300 und 1400% der Grund- und Gebäudesteuer, in den 170 größeren Gemeinden bei der Hälfte auf mehr als 700%, bei dem vierten Theile auf weniger als 500%, bei dem fünften Theile auf mehr als 1000% der Grund- und Gebäudesteuer. — Auch der Mehrertrag durch eine Liegen­

schaftssteuer, den Herrfurth auf 100 bis höchstens 200% der Grund- und Gebäudesteuer berechnet, würde in der Sachlage nichts wesentliches ändern.

Betrachten wir nun die Gneist'sche Liegenschaftssteuer genauer. Bereits von Anderen, neuerdings von BilinSky, ist an Stelle der

Communal-Personalsteuer, welche in der Form von Zuschlägen zur StaatsKlassen- und Einkommensteuer auftreten muß, wenn nicht eine wesentliche Benachtheiligung der einen oder der andern Steuer (in der Regel der Staatssteuer) eintreten soll, als besserer Ersatz die MiethSsteuer vorgeschlagen worden. Auch Gneist bringt sie uns unter dem Namen einer Objectsteuer. Diese MiethSsteuer erscheint jedoch als Remplayant der Einkommen­ steuer als eine schlechte und verwerfliche Steuer. Denn während die Ein­ kommensteuer allen Quellen deS Einkommens sorgfältig nachgeht, gewährt die MiethSsteuer nur den einen höchst unsichern, häufig unzutreffenden und oft ganz verkehrten Maaßstab für das Einkommen und dessen Schätzung wie für die Leistungsfähigkeit des Steuernden; — sie trifft besonders hart die Verheirathcten und Familienväter; sie wirkt überhaupt progressiv nach unten; je kleiner das Vermögen, desto größer die Quote desselben, die auf die nothwendigsten Lebensbedürfnisse verbraucht wird; sie zwingt die Leute in kleinere, schlechtere, ungesundere Wohnungen hinein. Um dieser Progression nach unten zu begegnen, schlägt BilinSky eine gesetzliche Pro­ gression nach oben für die MiethSsteuer vor. Aber man würde auf diese Weise grade daS Uebel, welches man den Zuschlägen vorwirft, daß sie nämlich die Härten, Mängel und Mißverhältnisse der Hauptsteuer ver­ vielfältigen, in erhöhter und potenztrter Weise der von vorn herein mit besonders schweren Mängeln und Mißverhältnissen behafteten Miethssteller zulegen. Umgekehrt glaubt Gneist jenen Uebelstand auf die leichteste Weise durch eine gleitende Scala nach unten beseitigen zu können. Der Eigenthümer soll die größere, der kleine Miether die degressiv kleinere Quote der Jmmobiliensteuer tragen. Auch dieser Versuch ist erfolglos; denn da der kleine Miether regelmäßig.der schwächere Theil ist, so würde, waS er an Steuer erspart, ihm vom Eigenthümer an Miethe mehr auf­ erlegt werden. Es bleibt nicht abzuweisen, daß die MiethSsteuer in einer der Leistungsfähigkeit nicht entsprechenden Weise drückt. Alle Be­ denken sollen nun damit beseitigt werden, daß dem Miether vorgehalten wird, die MiethSsteuer sei weder eine höchst unzutreffende mittelbare Ein­ kommensteuer noch die abscheulichste aller Verbrauchssteuern, (weil auf daS nothwendigste Lebensbedürfniß gelegt,) sondern glücklicherweise eine normale Objectsteuer, die von jedem Besitzer, also auch vom Mitbesitzer getragen werden muß; — bei welchem Glück nur daS einzige Unglück ist, daß diese Objectsteuer nicht wie die normale Objectsteuer deS HauSeigenthümerS eine Ertragsteuer ist, die aus dem Ertrage des Objects getragen wird und soweit sie nicht auf den Miether abgewälzt wird, schon den früheren Eigenthümern aufgehalst wurde, sondern die auS dem sonstigen Einkommen, dem mobilen Kapital, der „persönlichen Habe" deS objectiv besteuerten

Miethers zur Befriedigung seines nothwendigsten Lebensbedürfnisses be­ zahlt werden muß.

(Man vergleiche dazu die oben erwähnte Gneist'sche

Motivirung der Liegenschafts-Steuer: Kein Geldbeitrag nach der persön­ lichen Habe kann den realen Verband ersetzen und daS Bewußtsein der Gemetndeangehörigkeit erzeugen.)

Abgesehen von dieser totalen Verschie­

denheit der von dem Eigenthümer resp, seinem Mitbesitzer getragenen Steuer

erscheint eS dem Miether sicherlich auch sehr sonderbar, daß er, der nach dem A. L.-R. doch auch nur unvollständiger Besitzer ist und faktisch doch nur ein temporäres Recht an einer fremden Sache erworben hat, als

gleicher Interessent wie der vollständige Besitzer und Eigenthümer behandelt werden soll, und daß der Letztere den Hauptvortheil der gemeinsamen gleichen

HauSbesteuerung in dem steigenden Werth seines Hauses davontrage, er, der Miether aber dann zum Lohne in der Miethe naturgemäß erhöht werde.

Die ganze Besitzsteuer des Miethers beruht auf einer Selbsttäuschung; sie ist nichts anderes als die Personalsteuer in verschlechterter und unge­

rechterer Form; und die Miether, wenn man ihnen den juristischen Mantel der Mitbesitzerschaft abnimmt, entpuppen sich einfach als der wesentlichste

Theil der übrigen persönlichen Gemeindeangehörigen außer den Grund­

besitzern.

Nur in den Städten Emden und Ottensen erscheint die dortige

MiethSsteuer als eine Objectsteuer; in Frankfurt am Main ist sie ein Mittel­

ding zwischen Object- und Personalsteuer.

1872 bez. 16. April 1878.)

(Vgl. die Regulative v. 12. März

In den altländischen Provinzen aber ist die

MiethSsteuer stets alS eine persönliche mittelbare Einkommensteuer auf­ gefaßt und namentlich in Berlin, sowohl von Seiten der Stadtvertretungen wie regierungsseitig ausdrücklich für eine persönliche Steuer erklärt worden;

(Vgl. die allerhöchste Declaration v. 3. April 1838 (Ges.-S. S. 254) und

das Berliner Miethssteuer-Regulativ v. 16. September resp. 15. November 1858 § 10;) für Danzig und Halle ist aus den betreffenden Regulativen eine gleiche Auffassung zu entnehmen.

In dem

engeren und kleineren

Rahmen einer direkten Aufwands- oder Verbrauchssteuer, als supplemen­

täre Steuer, mag die MiethSsteuer ihren Platz finden und passiren.

In

der jetzigen bei uns üblichen Höhe und ebenso in der von Gneist gewollten Weise aber trägt die MiethSsteuer entschieden den Charakter einer Ein­

kommensteuer in ungerechterer und schlechterer Form.

Man wird sich daher

dafür entscheiden bei der Einkommensteuer zu bleiben; ihre noch mangel­ hafte Einschätzung — übrigen- sicherlich nicht mangelhafter wie die schwie­ rige Einschätzung zur Liegenschastssteuer — läßt sich verbessern;

aber

jedenfalls wird dies desto rascher und wirksamer erfolgen, wenn Staat und Commune daS gleiche Jntereffe an dieser Verbesserung haben.

Wen» Gneist ferner die Gewerbesteuer „als erhöhte Liegenschaftssteuer"

206

Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform »c."

mitheranzieht, so ist darauf hinzuweisen, daß die Gewerbesteuer doch wesent­

lich dem mobilen Capital auferlegt ist und daß sie in Rücksicht der mit besteuerten Arbeit zugleich einen personellen Character hat.

Am schwersten und offensten aber durchbricht Gneist sein

eigenes

Prinzip mit der eventuellen Schulsteuer bis zu 40% der Klassen- und

Einkommensteuer.

Die Schule wird als der hohe transcendente Zweck be­

zeichnet für den alle Einwohner der Gemeinde zu steuern haben; ja, dann müssen consequent eben Alle für diesen Zweck überhaupt und ganz und

gar steuern, der höhere transcendente Zweck der Schule, soweit die Lie­

genschaftssteuer nicht zureicht, ist ein innerer Widerspruch.

Steht

aber fest, daß für die höheren Zwecke alle Einwohner zu steuern haben,

so finden sich nicht blos neben der Schule gleichartige höhere Zwecke, son­ dern eS zeigt sich auch, daß, wie Gneist selbst sehr richtig S. 98 bemerkt, die wirthschaftlichen Zwecke derart mit höheren Zwecken innig verwoben

und vermischt sind, daß eine Trennung nicht möglich ist und ein Zwecksteuer-Stystem nur den größten Hader und Zwiespalt in der Gemeinde Hervor­

rufen, dem eigentlichen Zweck der Gemeinde, der Vereinigung, nur entgegen­ wirken würde.

ES zeigt sich wiederum praktisch richtig die oben deducirte

Definition der Gemeinde: Vereinigung aller Gemeindemitglieder zu den ge­ meinsamen wirthschaftlichen und höheren Zwecken mit gemeinsamen Mitteln.

Hervorgegangen ist bei Gneist diese Anschweißung des Nothbehelfs

der Schulsteuer jedenfalls daraus,

daß

seine früheren Vorschläge durch

den Hinweis auf die unzureichende Leistungsfähigkeit des preußischen Grund­ besitzes sogleich hinfällig wurden.

Aber auch durch diese, den schwersten

prinzipiellen Widerspruch enthaltende Zufügung

der kleinen Schulsteuer

erreicht Gneist noch immer nicht, etwas durchaus Lebensfähiges und überall Zutreffendes in seiner Liegenschaftssteuer geschaffen zu haben.

Frage bleibt unbeantwortet:

Denn die

Was soll bei dieser Liegenschaftssteuer werden

in all den Gemeinden, in denen der wirkliche Grundbesitz gänzlich oder annähernd leistungsunfähig ist, wie uns ja diese Zustände in einer Menge

von Petitionen namentlich auch aus den westlichen Provinzen geschildert sind.

Die Miether tragen nur die Hälfte der Gneist'schen Liegenschafts­

steuer, die andere Hälfte fällt bei dem verarmten Grundbesitz ganz oder

größtentheils aus; die kleine Schulsteuer und die unbedeutenden indirecten Steuern reichen gegenüber den hohen Communalbedürfnissen nicht auS;

was soll nun werden? Sollen zu aller Noth, Elend, Streit und Wirr­

warr unserer Zeit noch massenhafte Subhastationen auf Grund einer prak­

tisch unzureichend angelegten Communalsteuer kommen? Auf diese Fragen ist in den Gneist'schen Vorschlägen keine Antwort zu finden.

Daneben

wird aber auch der Zweck, auf den alle die allgemeinen Motivirungen

der Liegenschaftssteuer doch eigentlich hinauslaufen, nämlich die vornehm­ liche starke stetige Heranziehung der wirklichen Grundbesitzer, durch die Gneist'schen Vorschläge entweder gar nicht erreicht, der Grundbesitzer viel­ mehr gegen sonst und gegen den Communalsteuergesetz-Entwurf erheblich

erleichtert, oder es bleibt beim Alten. — Soweit vermiethet wird, zahlt der wirkliche Grundbesitz ungefähr die gleiche Communalsteuer wie die

übrigen Einwohner; (nur der große Gewerbtreibende zahlt noch außerdem

Communalgewerbesteuer;) während nach dem Com.-Steuer-Ges.-Entwurf der Grundbesitz bei weitem höher herangezogen wird.

Insofern der Haus­

besitzer zugleich Miether im eigenen Hause ist, soll er vermuthlich nach Gneist einen entsprechenden Bruchtheil mehr an Communalsteuer als die andern Einwohner zahlen, die ihm aber dadurch ersetzt wird, daß er, so­

weit er höher als früher belastet wird, zur Hälfte einen Erlaß der StaatS-

Jmmobiliarsteuer erhält, und diese Vergütung müssen die andern Ein­

wohner durch erhöhte Staatspersonalsteuer tragen.

Der Ausfall, den die

StaatScasse an Jmmobiliarsteuer überhaupt erleidet, muß natürlich vom ganzen Lande getragen werden, und dabei müssen die vielen Gemeinden, namentlich Landgemeinden, mit wohlhabendem Grundbesitz und hohen Real­

abgaben, den größten Theil für die zurückgekommenen größeren Städte tragen.

Der ländliche Grundbesitzer, wenn er einen Pächter hat, theilt sich

nach Gneist die Communalsteuer mit diesem.

Der selbstwtrthschaftende

Grundbesitzer muß zur Belohnung seines Fleißes und seiner Intelligenz die volle Communalsteuer allein tragen und wird für seinen Fleiß wo­

möglich noch in der Steuer erhöht.

Soweit nicht vermiethet oder verpachtet wird, bleibt eS insofern beim Alten, als in den Gemeinden, wo die Realgemeinde noch überwiegt, die Grundbesitzer den überwiegenden Theil der Lasten tragen, mit der Maaß­

gabe, daß diejenigen Gemeinden, welche unnöthigerweise die Gneist'sche LiegenschastSsteuer annehmen, ein ebenso unnöthigeS Geschenk mit 25%

der Staats-Grund- und Gebäudesteuer erhalten.

Herrfurth sagt sehr treffend: da, wo die Verhältnisse günstig liegen,

wo der Grundbesitz wohlhabend, die Realabgaben hoch, die Communalbedürfniffe gering sind, braucht man eigentlich gar kein System; die Sache

macht sich dort gewissermaßen von selbst. Wo aber die Realabgaben niedrig, der Grundbesitz verschuldet, die Communalbedürsnisse hoch, da versagen die Recepte, welche Alles auf den Grundbesitz wälzen wollen, ihre Wirkung. Wenn nun bei der ganzen neuen Einrichtung die PreiSgebung von mehr als % der Grund- und Gebäudesteuer, vielleicht dieser ganzen Steuern,

in Aussicht genommen ist, so kann man sich schon von der Kostensette auS

schwerer Bedenken nicht entschlagen. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIL Heft 2.

Haben wir darum mit ungeheuren 14

208

Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform ic."

Mühen und Kosten und ungeheuren Entschädigungssummen die Einrich­ tung und Ausgleichung jener Steuern herbeigeführt, um jetzt dafür eine

ähnliche Steuer einzutauschen, deren jährliche Einschätzung jährlich neue Mühen und Kosten verursacht und die im Resultat in der Sachlage nicht viel ändern kann? — Erwägt man ferner, daß die dem Besitz noch be­

sonders neben der allgemeinen Personalsteuer auferlegten Steuern ins­ besondere der großen socialen Pflicht Genüge leisten sollen, welche der Besitz im Allgemeinen gegenüber der nicht besitzenden Bevölkerung hat,

so erscheint eS fehlerhaft, diesen Gedanken bei dem ganzen einen Theile deS Besitzes, dem Immobiliarbesitz, bei dem allgemeinen gesellschaftlichen

Verbände deS StaatS nicht zum Ausdruck zubringen, während nach Gneist doch die dem mobilen Capital im Gewerbe auferlegte Gewerbesteuer er­

halten bleiben soll und man derselben consequent noch eine dem einfachen Capital auferlegte besondere Capitalremensteuer zugefügt sehen möchte.

Die Staats-Jmmobiliarsteuer wird dem Grundbesitz zurückgegeben zur Be­

streitung der Communalsteuer, welche großentheilS als ein Aequivalent anzusehen ist und angesehen wird für die besonderen Vortheile, welche der Grundbesitz aus dem bloßen Anwachsen der Gemeinde und den gemeind­

lichen Einrichtungen zieht, und welcher zugleich erhöhte Geltung und Ehre deS Grundbesitzes in der Gemeinde entspricht; die ganze Sache kommt

dadurch in eine schiefe Lage.

Dann aber ist auch die PreiSgebung der

ganzen eingebürgerten, theilweise zur festen Reallast gewordenen StaatS-

Jmmobiltarsteuer im Interesse der Sicherung der Finanzlage deS StaatS

auf Grund einer festen Basis direkter Steuern nicht zu billigen; der theil­ weise Ersatz durch höhere Anspannung der Personalsteuer würde auch den Uebelstand mit sich führen, die Härten und Mißverhältnisse der Steuer

progressiv zu steigern.

Endlich: muß der Staat die Grund- und Ge­

bäudesteuer ganz oder größtentheils an die Gemeinde abgeben, so würde nicht blos sein Interesse an diesen Steuern, sondern auch an der damit

verbundenen, mit unserm öffentlichen und Privatrecht eng verwachsenen

Kataster-Einrichtung sehr gelähmt werden.

Schon in der ersten Com­

mission wurde deshalb die Ueberweisung höchstens der halben Grund- und

Gebäudesteuer an die Communal-Verbände als diejenige Eventualität, mit

der man zu rechnen habe, in'S Auge gefaßt. Ist nun durch die vorstehenden Ausführungen als nachgewiesen an-

zusehn, daß die Gneist'sche Liegenschaftssteuer als Prinzipale Communal­

steuer nicht zu acceptiren, vielmehr die Personalsteuer als allgemeine Com­ munalsteuer unter Ergänzung durch die Realsteuern beizubehalten ist, so ist nur noch zu untersuchen: ob die Zuschläge zu den StaatSrealsteuern

oder besondere Communalrealsteuern, bez. eine combinirte Communalrealsteuer als Regel den Vorzug verdienen.

Die Unrichtigkeit des ersten Gedankens, welcher zu einer solchen all­

gemeinen Communalrealsteuer hinleitet, ist schon oben berührt worden. ES erscheint angeblich unzulässig und verkehrt, daß die Leistungsfähigkeit und das Budget einer Gemeinde davon abhängen soll, ob dieser oder jener

große Besitzer reich oder arm ist, ob er am Orte wohnt oder nicht, ob die Bauern verschuldet sind oder nicht rc.

Eine feste gleichmäßige, den

Erträgen nachgehende Liegenschaft-- oder allgemeine Realsteuer, von der

man sich großen Erfolg verspricht im Gegensatz zu der unvollkommenen StaatS-Grund- und Gebäudesteuer und der im Ertrage wechselnden Per­

sonalsteuer soll Alles in'S Gleiche bringen.

Allein, wie schon der alte

Hofmann (Lehre von den Steuern S. 106) bemerkt:

„die todte Sache

kann nicht steuern, sondern nur der lebende Mensch."

Der Mensch aber

kann nicht steuern, wenn er nichts zu geben hat, und es kann der Zweck

der Jmmobiliarsteuer nicht sein, die Grundstücke der Gemeinde massenhaft zur Subhastation zu bringen.

Den reichen Mann aber als solchen ab­

sichtlich nicht zu besteuern, um das stolze Bewußtsein zu haben, unabhängig von ihm zu sein, und dafür die ärmeren Besitzer schärfer heranzuziehen, ist eine Ansicht, welche den Gemeinden schwerlich einleuchten dürfte. Es liegt eben der ganzen Anschauung eine unbewußte Personificirung des Guts zum

Grunde, wobei man glaubt, das Gut statt des Besitzers schrauben zu können. Sodann ist darauf hinzuweisen, daß man, wie auch Gneist S. 120

bemerkt, aus bekannten Gründen davon Abstand

genommen hat und

nehmen muß, die höhere Belastung des Besitzes durch höhere prozentuale Heranziehung desselben bei der Einkommensteuer zur Geltung zu bringen.

Die höhere Leistungsfähigkeit des Besitzes gelangt bei der allgemeinen Einkommensteuer genügend zum Ausdruck, und im Uebrigen wird von Staatswegen durch besondere Besitzsteuern nach einem mäßigen Durchschnittsertrage in Bausch und Bogen der allgemeinen socialen Pflicht des

Besitzes gegenüber der nicht besitzenden Bevölkerung Rechnung getragen. — Bet der Gemeindebesteuerung kommt für die höhere Belastung des Be­

sitzes zwar noch der Grund hinzu, daß die besonderen Vortheile, die na­ mentlich der Grundbesitz und das Gewerbe aus der Gemeinde und ihren

Eimichtungen ziehen, dabei ihren Ausdruck finden sollen.

Wenn indessen

auch in der Gemeinde die höhere Leistungsfähigkeit deS Besitzes an sich ebenfalls durch die Communal-Personalsteuer gedeckt wird, so liegt auch

hier im Allgemeinen kein Grund zur Verschärfung der Realsteuer vor.

Soweit der höhere Ertrag deS Besitzes auf der Thätigkeit des Be­ sitzers beruht, kann er entschieden, außer in der Einkommensteuer, nicht

noch einmal in einer Erhöhung der Realsteuer Ausdruck finden; es würde dies eine nicht zu billigende Doppelbesteuerung sein, die sich die Besitzer auch nicht gefallen lassen würden.

liegende Gründe,

Besondere lediglich

in dem Object

welche bei der StaatSsteuer nicht berücksichtigt sind,

würden zwar im Allgemeinen eine Erhöhung der Realsteuer herbeiführen;

aber einerseits sind diese objectiven Gründe schwer von den subjektiven, Thätigkeit, Fleiß, Geschick rc. deS Besitzers zu trennen, — namentlich ist dies bei der gewerblichen Thätigkeit der Fall — andererseits würde

eS meist fraglich fein, ob die zu erzielende Erhöhung mit den Nachtheilen, die die jährlichen Einschätzungen mit sich führen, im Verhältniß steht. — Allen Besonderheiten von Leistung und Gegenleistung aber in der Gemeinde Rechnung zu tragen, würde eine Unmöglichkeit sein. Hinsichtlich des Moments der ruhigen Stetigkeit und Gleichmäßigkeit haben die Zuschläge zu der gleichbleibenden Hauptsteuer den entschiedenen

Vorzug vor der jährlichen neuen Steuer.

Wenn das Schwanken unb die

Verschiedenheit der jährlichen Zuschläge je nach dem jährlichen Budget und Bedürfniß der Commune als ein erheblicher Uebelstand von Gneist

angemerkt wird, so würde die jährliche Liegenschaftssteuer doch auch je nach

den jährlichen Bedürfnissen der Commune höher oder niedriger gestellt werden müssen; ohne Noth wird man keine hohe Steuer erheben.

Und

dazu die jährlichen Einschätzungen mit stets neuen Mühen, Kosten und

Schwierigkeiten, die den Hader und die Zwietracht in der Gemeinde jähr­ lich erneuern.

Eine solche Gemeinde kommt gar nicht mehr zur Ruhe.

Neben den bereits vorhandenen Einschätzungen zur Klassen- und Ein­

kommensteuer, neben den vielfachen Wahlen und den Selbstverwaltungs­ pflichten, würden weitere jährliche Einschätzungen, bei denen jede neue

Berücksichtigung einzelner sachlicher Momente wieder neue Vergleichungen der Verhältnisse in der ganzen Gemeinde, neuen Streit und neue Be­

schwerden hervorrufen, die Plage und den Krieg Aller gegen Alle leicht zu einem bedenklichen Grade steigern und es würde grade das Gegentheil

der gewünschten Ruhe und Stetigkeit in der Gemeinde erreicht werden. Betrachten wir speziell die einzelnen Realsteuern, so wird bei den länd­

lichen Grundstücken der geringste Anlaß zur Ersetzung der Grundsteuer durch eine besondere Steuer vorhanden sein. Lauf einiger Jahre aus.

Die Ernten gleichen sich im

Die sämmtlichen Grundstücke sind nach gleichem

Maaßstabe, wenn er auch seine Mängel haben mag, abgeschätzt.

Eine

jährliche Abschätzung nach dem Ertrage mit Rücksicht auf die Thätigkeit

deS Besitzers ist, wie oben bemerkt, ausgeschlossen; besondere andere Gründe eine- besseren Ertrages sind davon schwer in getrennter Weise festzustellen

und zu taxiren.

Die von Gneist proponirte jährliche Abschätzung nach

dem Pachtwerth aber ist abgesehen von einzelnen Grundstücken, Wiesen «c. fast eine landwirthschaftliche Unmöglichkeit zu nennen.

Eine Pachtung ist

de regula und rationell nur auf eine Reihe von Jahren, 6, 12, 18 Jahre möglich; mindestens müßte sie auf eine Düngungsperiode von 3 oder wenigstens 2 Jahren erfolgen, sonst würde kein Pächter mehr düngen, son­

dern jeder den Boden möglichst äuSsaugen.

Ein Pachtwerth für ein Jahr

ist daher rationell nicht möglich festzustellen.

Der relativ höhere durch­

schnittliche Pachtwerth im Verhältniß zur Grundsteuer aber wird bereits bei den Einschätzungen zur Einkommensteuer berücksichtigt. — Hiernach liegt

bet den ländlichen Grundstücken kein Anlaß vor, eine jährliche besondere

Realsteuer als Regel sestzustellen.

Eher wäre dies bei den Wohngebäuden angezeigt mit Rücksicht auf die nur alle 15 Jahr erfolgenden Einschätzungen zur Gebäudesteuer.

Allein

in den meisten Landgemeinden und in den kleineren Städten- wo nicht vermiethet wird oder der MiethSwerth entweder nicht oder im Ganzen

gleichmäßig steigt, wäre kein Grund vorhanden, eine besondere HauSsteuer statt der Zuschläge zu wählen; höchstens wäre etwa nach einer gewissen Zeit nach der periodischen Gebäude-Steuer-Revision eine periodische neue

Einschätzung in manchen Gemeinden angemessen, und eine regelmäßige be­

sondere HauSsteuer nur in größeren Städten, wo der MiethSwerth ungleich

steigt und Schwankungen unterworfen ist, am Orte.

DteS aber würde

immerhin nicht genügen, eine besondere Gebäudesteuer als Regel aufzustellen. Das Problem einer geschickten und zutreffenden Communal-Gewerbe-

steuer ist bis jetzt weder von den Gemeinden noch von der Regierung gelöst, und dürfte auch durch die Gneist'schen Vorschläge, bez. durch den

von ihm vorgeschlagenen Abschätzungsmodus, welcher große Lückeri offen läßt und große Ungleichheiten hervorrufen würde, nicht gelöst fein.

Eine

neue, auf Grund des im Gewerbe angelegten Capitals und des GeschäftSUmfanges angelegte Staatsgewerbesteuer würde einerseits gerade zu Zu­

schlägen besonders geeignet sein, andrerseits würde , sie zwar für eine be­

sondere Communal-Gewerbesteuer eine gute Basis abgeben, aber die für die Gemeinde spezifisch hervortretenden Momente würden in den Ge­

meinden

nach

ihren

besonderen Verhältnissen

allzu

verschieden

sein,

oder allzu verschieden aufgefaßt, auch durch andere entgegenstehende Mo­ mente vielleicht paralhsirt und compensirt werden, so

daß eine allge­

meine Norm für eine als Regel aufzustellende Communal-Gewerbesteuer

außerordentliche Schwierigkeiten haben würde.

Ohne feste Merkmale aber

könnte eine Communal-Gewerbesteuer nicht als Regel hingesteüt werden.

Eine combinirte Communal-Real- oder sog. Liegenschaftssteuer nach dem Ertrage würde nur dem Namen nach, nicht re vera die verschiedenen

Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform rc."

212

Realsteuern in eine zusammenschmelzen.

Eine nicht nach dem Ertrage,

sondern nach dem sonstigen Werth des in dem unbeweglichen und beweg­

lichen Besitz steckenden Capitals aufzuerlegende allgemeine Realsteuer aber

würde allzuwenig Rücksicht auf die naturgemäße Deckung der Steuer aus dem Ertrage des Objects nehmen und hinsichtlich der Abschätzung sehr viel

größere Schwierigkeiten bieten ja vielfach auf gänzlicher Willkühr beruhen. ES muß nach dem Allen daS Prinzip des Communal-Steuergesetz-

Entwurfs als richtig anerkannt werden: daß die Zuschläge zu den Realftenern die Regel bilden, besondere Communalsteuern aber mit ministerieller

Genehmigung zugelassen sind, und zugleich die Lücken, welche die großen

Steuern lassen, durch kleinere ergänzende Steuern (unter welchen namentlich

die Bausteuer hervorzuheben) auszufüllen sind. Gneist hat zur Begründung und Empfehlung seiner Ansicht noch auf

folgende drei Momente Bezug genommen:

1. soll durch seine LiegenschaftSstcuer die Jncommunalisirung der Gutsbezirke wesentlich erleichtert und herbeigeführt werden;

2. ist auf die unerträgliche Grundsatzlosigkeit der jetzigen Communal-

besteuerung hingewiesen;

3. würde durch die Liegenschaftssteuer die schwierige Frage der Be­ steuerung der Forensen, juristischer Personen, Actiengesellschaften rc. auf

leichte Weise geregelt werden. Es mögen hierzu nur noch folgende Bemerkungen gestattet sein.

ad 1.

Die Frage der gänzlichen Beseitigung der Gutsbezirke tritt

keineswegs, wie Gneist behauptet, jetzt zum letzten Male an uns heran, sondern sie wird zum letzten Male an unS herantreten, wenn es sich um die von Gneist ganz ignorirte Aufhebung des Patronats handelt.

Ohne

diese würde jedenfalls eine völlige Gleichstellung der Gutsbezirke mit den Gemeinden nicht herbeigeführt.

Abgesehen hiervon aber erscheint eS über­

haupt zweckmäßiger, statt der vollen Jncommunalisirung zunächst die Bil­ dung größerer Verbände zur Tragung der Armen-, Wegebau- und Schul­

last, womöglich in Congruenz mit den AmtSverbänden, in'S Auge zu fassen; dies dürfte die leichtere und zweckmäßigere Art der Assimilirung der GutSbezirke mit den Gemeinden sein, während die Zusammenschweißung eines

GutSbezirkS und einer Gemeinde sehr häufig ein unnatürliches Gebilde

und gegenseitige Lähmung statt größerer Kraftentwickelung zur Folge haben dürfte.

Die Ueberweisung der Grund- und Gebäudesteuer bis zum halben

Betrage an diese Verbände, insofern man sich überhaupt definitiv für die Form der Ueberweisung ausspricht und die directe Ueberweisung an die

Commune und Gutsbezirke nicht angängig erscheint, würde unzweifelhaft

Die Gneist'sche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform ic."

213

die zweckentsprechendste sein, da nur auf diese Weise die wirksamste, zutref­

fendste und nachhaltigste Erleichterung der Gemeindelasten wie des schwer­

belasteten Grundbesitzes bei einer Ueberweisung zu erreichen, während dies bei der Ueberweisung an die Kreise in viel geringerem Grade der Fall ist.

ad 2.

Die Grundsatzlosigkeit in der jetzigen Communalbesteuerung

ist durchaus zuzugeben, aber wie oben gezeigt, das Gneist'sche Remedtum dagegen nicht brauchbar, während der CoMm.-St.-Gesetz-Entwurf und die

Commissionsbeschlüsse dem Uebel nach Möglichkeit steuern; von verschie­

denen Seiten ist dem Gesetz sogar der Vorwurf gemacht, daß es viel zu

scharf eingreife und der freien Bewegung der Gemeinden nicht genügenden Spielraum lasse.

Wenn Gneist aber behauptet, daß in dem Entwurf die

Grundsatzlosigkeit fortdauere, so ist zu entgegnen: die Gneist'sche« Vor­ schläge sind selbst ein schlagender Beleg dafür, daß gerade auf dem Ge­

biete der Communalbesteuerung mit der konsequenten Durchführung ein­ seitiger Theorien und Prinzipien nicht durchzukommen ist, daß sich einer

solchen

alsbald

das Hinderniß der nothwendigen Berücksichtigung

an­

derer eingreifender Prinzipien und praktischer Verhältnisse entgegenstellt,

deren harmonische und zweckentsprechende Verbindung die alleinige Auf­ gabe des Gesetze« sein kann und muß, — wie denn die höhere Entwicke­

lung unsers ganzen staatlichen Lebens auf dieser harmonischen Verbindung der früheren einseitigen oder ungeschickt verbundenen Prinzipien beruht.

Diese allerdings schwierige Aufgabe ist unserer Ansicht nach im Comm.St.-Gesetz in

zutreffender Weise gelöst.

Mit einem Male ist freilich

den tief eingewurzelten Gewohnheiten und Besonderheiten, die zum Theil

jetzt nicht als nachtheiltg und unpassend empfunden werden, zum Theil

auf nicht leicht zu beseitigenden localen VerhäÜnissen basiren, ohne schroffe

Härte nicht ein Ende zu machen.

AuönahmSweiS nachlassende und über­

leitende Bestimmungen waren daher mit der nöthigen Präcaution tat Gesetz nothwendig.

Die bewußte feste Leitung und Handhabung deS Gesetzes

von oben, an welcher nicht zu zweifeln, muß natürlich, wie bei jedem

Gesetz, zur Durchführung der als richtig erkannten Grundsätze die uner­ läßliche Hülfe gewähren.

ad 3.

Die Besteuerung der Forensen, juristischen Personen, Aktien­

gesellschaften rc. ist in dem Gesetzentwurf im Wesentlichen derart geordnet,

daß grade dieser Theil die größte und wesentlichste Billigung gefunden

hat, und sogar seine gesonderte Emanation als Gesetz gefordert wurde.

Ueber einige spezielle Punkte ist der Streit allerdings noch nicht völlig abgeschlossen, eine Einigung auch hierüber aber jedenfalls möglich und zu erwarten. Allerdings steht die Commission mit den Theoretikern, welche

hartnäckig die Einkommensbesteuerung einer juristischen Person für ebenso

Die GneisVsche Schrift „Die Preußische Finanz-Reform re."

214

der Definition des Begriffs „Einkommen" znwiderlaufend erachten, wie die Einkommensbesteuerung eines einzelnen VermögenStheilS bei den Forensen, auf einem grundsätzlich verschiedenen Standpunkt. Die Definition: „Einkommen ist die Summe der wirthschaftlichen Güter, die in einer ge­

wissen Zeit zu dem ungeschmälert fortbestehenden Stammgut einer Person

neuhinzutreter«, die sie also für ihre persönlichen Bedürfnisse verwenden kann, ohne in ihrer wirthschaftlichen Lage zurückzugehen", wurde von der

Commission für keineswegs einwandsfrei, namentlich aber insofern über

die natürliche Grenze des wörtlichen Begriffs „Einkommen" hinausgehend gehalten, als in dem letzten unzweifelhaft die Verwendung zu irgend­ welchem Zweck nicht einbegriffen ist.

ES wurde für kein Hinderniß er­

achtet, daß der Begriff des Einkommens aus einzelnen Vermögenstheilen

fich mit dem Begriff des Reinertrages deckt, und die besondere Einkom­ mensbesteuerung einzelner Vermögenstheile für begriffsmäßig zulässig und

praktisch

ausführbar gehalten,

ebenso wie die Einkommensbesteuerung

fingirter Personen, wie solche Besteuerung ja auch theilweise bei uns seit

geraumer Zeit besteht. Beidem.

Die sachliche Nothwendigkeit drängt aber auch zu

Sowohl die Leistungsfähigkeit der Gemeinden wie eine Vermei­

dung der Prägravation der

übrigen Gemeindeeinwohner verlangt die

gleiche Besteuerung der juristischen Personen und Forensen, soweit sie den

DaS Einkommen

physischen Gemeindeangehörigen verdrängen und ersetzen.

der Actionäre insbesondere ist mit Sicherheit nur bei der Actiengesellschaft selbst zu treffen.

Die Jmmobtliarbesteuerung aber deckt den Bedarf der

Gemeinden nicht und die Erhebung

besonderer Beiträge Seitens der

juristischen Personen würde eine mehr oder weniger auf Willkühr be­ ruhende und ebenfalls unzulängliche Maßregel sein.

Die Einkommens­

besteuerung der Forensen und juristischen Personen ist daher nicht zu um­

gehen.

Wenn auch dieselbe mit Mängeln behaftet bleibt, — die andern

Arten der Besteuerung unterliegen noch schwereren Einwendungen. Wir glauben, in Vorstehendem auf daö Wesentlichste, was bei einer

Vergleichung der Gneist'schen Vorschläge und des CommunalsteuergesetzentwurfS hervortrttt aufmerksam gemacht zu haben.

Auf die Einzelheiten

der an Ideen wie an Kenntniß ungemein reichen Gneist'schen Schrift ein-

zugehen, würde ebenso wie eine weitere Ausführung der diesseitigen An­ sichten über den diesen Zeilen gestellten Zweck einer kurzen, übersichtlichen

Darlegung des den Gneist'schen Vorschlägen gegenüber für richtig zu er­ achtenden Gedankenganges hinausgehen.

Verantwortlicher Redacteur: H. v. Treitschke. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.

S.-S.

Die Landung in England. Bon den beiden Unternehmungen, ap welche der erste Napoleon die längsten und sorgfältigsten Vorbereitungen gesetzt hat, ist die eine: der Uebergang nach England, nicht zur Ausführung gekommen, die andere: der Krieg gegen Rußland, gescheitert.

Nicht ganz frei, nicht ganz auS

eigener Initiative hat Buonaparte, damals Erster Konsul, den Gedanken des UebergangS gefaßt, ist er an dessen Ausführung getreten.

Mehr als

ein Mal hatte sich schon die alte Monarchie mit diesem Uebergang beschäftigt.

Ludwig XIV. hatte 10,000 Mann nach Irland geworfen, die dort mit den Jakobiten am Bohne von Wilhelm III. und dem Marschall Schomberg ge­

schlagen worden waren.

Als man sich späterhin in Frankreich nach dem ver­

lustreichen Frieden von Paris mit dem Gedanken der Revanche an England trug, beschäftigte Ludwig XV. seine geheime Diplomatie mit der Aus­ kundschaftung der englischen Küsten zu diesem Zwecke.

Im amerikanischen

Kriege im Juli des Jahres 1779 standen 40,000 Mann Franzosen unter Rochambeau und dem Marschall von Broglie bei Havre bereit, nach Eng­ land übergesetzt zu werden; 66 französische und spanische Linienschiffe er­

schienen im Kanal, denen England in jenem Moment nur 36 Linienschiffe

entgegenzustellen hatte; das Unternehmen scheiterte an dem Zwist des spa­ nischen mit dem französischen Admiral. ES war siebzehn Jahre später,

daß das Directorium der franzö­

sischen Republik die Absichten Ludwig XV. und Ludwig XVI. sehr ernst­

haft wieder aufnahm.

Die Zustände Irlands luden dringend dazu ein.

Seit der Erhebung der vereinigten Provinzen Nordamerika's befand sich

Irland in steigender Gährung und Bewegung gegen den grausamen Druck, unter welchem die Bevölkerung der grünen Insel mit Ausnahme der angli­ kanischen Kolonie seufzte, gegen die Ausbeutung Irlands zu Gunsten eben

dieser Kolonie, zu Gunsten der Fabrikation und deS Handels Englands.

Damals hatte man sich genöthigt gesehen, Irland die ersten Concessionen zu machen: die Zulassung katholischer Schulen, die Erwerbung von Grund-

eigenthum durch Katholiken waren genehmigt, dem Handel Irlands war Preußisch« Jahrbücher. Bd.Xl.VII. Hest Z.

15

Raum, dem irlschen Parlament, das freilich ausschließlich den Anglikanern gehörte, Initiative gewährt worden.

Der Ausbruch der Revolution in

Frankreich hatte die Erregung Irlands gesteigert. Pitt's:

Die Zugeständnisse

daS Wahlrecht zum irischen Parlament, der Zugang zur Advo­

katur, zu niederen Stellen deS Civil- und Militärdienstes für die Katho­

liken verwandelten sich in deren Händen in Waffen gegen England.

Die

Dissenters traten mit den Katholischen zusammen; in der Genossenschaft

der „vereinten Iren" stellten sie sich den „Oranienmännern" entgegen. Die Eifrigsten der „vereinten Iren" fanden die Stütze, welche sie suchten, in Frank­

reich; Wolf Tone's und Eduard Fitzgeralds Missionen hatten Erfolg.

Nach

der Niederwerfung der Vendse und Bretagne wurde die Armee des General Hoche, der diese vollbracht, am 15. Dezember 1796 zu Brest auf 17 Linien­

schiffen und 13 Fregatten eingeschifft.

Von dieser Flotte erreichten 15 Linien­

schiffe und 10 Fregatten die Bantrybai; die Ausschiffung hatte begonnen,

6500 Mann waren am Lande als ein Sturm die Schiffe auseinander, das

Linienschiff, daS Hoche trug, nach la Rochelle zurückwarf.

Auf dringenden

Betrieb der Agenten der vereinten Irländer, die ihre Kräfte bereits auf

mehr als hunderttausend Bewaffneter anschlugen, wurde die Expedition

im Herbst des nächsten Jahres wiederholt.

Diesmal war eS die hollän­

dische Flotte, die daS Landheer hinüberführen sollte.

Admiral Duncan

warf sie bei der Kamper Düne mit Verlust von 8 Linienschiffen zurück (11. Oktober 1797), wenige Tage bevor der Friede von Campo Formio dem

Kriege auf dem Festlande ein Ende machte. Nach diesem Friedensschluß war daS Directorium von dem Gedanken

erfüllt, sämmtliche Streitkräfte gegen England zu wenden, den Krieg gegen England durch einen großen Schlag zu beenden. am Kanal zusammengezogen.

80,000 Mann wurden

Das Directorium verkündete: „England und

Frankreich können nicht neben einander bestehen, unsere siegreichen Truppen schwingen ihre Waffen, Scipio

steht an ihrer Spitze; die Armee von

England ist versammelt und Buonaparte ihr Befehlshaber".

Und als nun

General Buonaparte am 5. December nach Paris heimkehrte, die Urkunde des Friedens in der Hand, die Trophäen des italienischen, des steirischen Feldzugs hinter ihm, da empfing ihn der derzeitige Vorsitzende deS Direk­

toriums, Barras, mit der Aufforderung, sein Werk zu krönen, daS Kabinet von London zu züchtigen. „Der Ocean, so sagte er, wird stolz sein. Sie zu tragen;

er erröthet unter den Ketten, die England ihm angelegt hat, er ruft brüllend den Zorn der Erde auf gegen den Thrannm, der ihn unterdrückt.

Pom-

pejus verschmähte eS nicht, die Seeräuber zu vernichten. Gehen Sie, Bürger General, größer als dieser Römer, den Riesen des Weltmeers zu zerschmettern

(10. Dec.)."

Buonaparte zog eS vor, England in Aegypten zu treffen.

Er

hätte in Irland 279,000 bewaffnete Männer (so viel ergeben die bei Fitz­

gerald gefundenen Listen) zu seiner Unterstützung bereit gefunden.

Wäh­

rend er mit dem besten Heere und der besten Flotte Frankreichs nach dem

Nil steuerte, kam auf der grünen Insel, wenige Tage nachdem er unter Segel gegangen war, am 23. Mai 1798 der Aufstand zu vollem Ausbruch. Obwohl Verrath aus den Reihen der Iren sämmtliche Anführer der Re­

gierung in die Hand geliefert, fand Lord Cornwallis schwere Arbeit. schwache Abtheilung,

Die

1100 Franzosen, welche unter General Humbert

bei Killala landete, traf erst ein, als die Iren auf dem Vinegarhtll über­ wältigt waren.

Dennoch erhob sich das Landvolk von Neuem; Hutchinson

und Lake wurden mit dem Verluste ihres Geschützes geschlagen; erst dem

Bicekönig Lord CornwalliS selbst, der 20,000 Mann frischer Truppen her­ anführte, gelang eS, den Aufstand vollends zu Boden zu schlagen.

Die Tage von Marengo und Hohenlinden setzten dem Kriege der zweiten Coalition das Ziel.

Buonaparte, nunmehr Erster Consul, sah nach

dem Frieden von Lüneville kein anderes Mittel zur Bekämpfung Englands als das, welches das Direktorium nach dem Frieden von Campo Formio zu ergreifen gedacht, dem er sich damals versagt hatte.

Er befahl die

Zusammenziehung von 100,000 Mann am Kanal und den Bau einer

Flottille von flachen Fahrzeugen zu Boulogne.

Die Gefahr erschien in

England so dringend, daß Nelson, der eben Dänemark zum Austritt auS

dem Bunde der bewaffneten Neutralität gezwungen, aus der Bucht von Reval zurückbeordert wurde, das Commando gegen die Flottille von Bou­ logne zu übernehmen.

Die beiden Angriffe, die er am 4. und 16. August

1801 gegen diese versuchte, scheiterten vollständig.

Dies Mißlingen wirkte

beschleunigend auf den Abschluß der Präliminarien zwischen Frankreich und England.

Malta war längst genommen, die Kapitulation Belliard'S

in Kairo (23. Juni) hatte England auch über die Zukunft Aegyptens be­ ruhigt. Am Tage nach der Unterzeichnung der Präliminarien, am 2. Oktober wußte man in London, daß auch der Rest des französischen HeereS am

Nil in Alexandria kapitulirt habe. So war auch der Seekrieg beendet — beendet unter unerwartet gün­

stigen Bedingungen für Frankreich.

Es erlangte im Frieden von AmienS

die Rückstellung sämmtlicher Kolonieen, die in zehn langen Kriegsjahren

verloren gegangen waren.

Auch die letzte, die sich nicht in Englands

Händen befand, zurückzugewinnen, sendete der Erste Konsul sofort eine an­ sehnliche Expedition, eine Landarmee von 25,000 Mann, die weiterhin auf

40,000 Mann verstärkt wurde, nach Domingo, diese Perle der französischen

Kolonieen der Herrschaft Toussaints zu entreißen.

Der Seehandel Frank­

reichs begann nach so langer Unterbrechung die alten Pfade über den 15*

Ocean wieder zu suchen; die französische Kriegsflotte brauchte Jahre, um

wieder auf einen Fuß gebracht zu werden, daß sie der englischen begegne« mochte.

Solche Gunst der Umstände verstand der Erste Konsul nicht zu benutzen,

die dringendsten Gebote der Lage fanden bei ihm kein Gehör.

War der

Friede von AmienS in seinen Augen auch nur ein Waffenstillstand — ohne die Dauer von Jahren war solcher werthlos für ihn.

Und dennoch war

seine Unterschrift unter dem Friedensinstrument von AmienS nicht trocken,

als er neuen Hader mit England begann.

Er konnte eS nicht verwinden,

daß ihn England vor St. Jean d'Acre gehemmt, daß Aegypten verloren war; daß England Malla trotz des Friedens zurückzustellen zögerte, empörte ihn.

Freilich waren die Vorbedingungen nicht erfüllt, die der Friede

vorschrieb,

freilich war Er auf dem Festlande über den Frieden von

Lüneville weit hinausgegangen, freilich hielt er Holland trotz desselben besetzt und besetzte eben die Schweiz.

an!

Aber was ging das Festland England

Erst sechs Monate waren nach der Zeichnung des Friedens vergangen,

als er Talleyrand dem englischen Kabinet erklären ließ (diese Note fehlt

in der Correspondenz Napoleons):

„WaS will England, will England mit

un» Krieg führen? Was kann England unS anhaben?

England kann

uns blockiren, wir werden das Festland blockiren und England wird seiner SeitS blockirt sein.

Und wenn der erste Consul nun alle flachen Fahr­

zeuge vereinigt, England in beständiger Furcht vor der Invasion leben

läßt?

WaS könnte ein Genie an der Spitze Frankreichs nicht vollbringen?

Er hat bisher nur Staaten zweiten Ranges umgestürzt, er könnte auch

größere über den Haufen werfen.

Sollte England Bundesgenossen auf

dem Continent finden, so würde dies nur den Ersten Consul zwingen, Europa

zu erobern (23. Oft. 1802).

Die Note zeichnet sehr deutlich den Gang, den

Bonaparte'S Politik wirklich genommen hat im Voraus; den Frieden zu erhalten, war sie nicht besonders geeignet. Dem Vertreter England'S in Paris,

Lord Whitworth, sagte er: „Ich will Euch lieber im Faubourg St. Antoine sehen alS auf Malta.

Die Landung in England ist eine große Verwe­

genheit, sie hat hundert Chancen gegen eine, zu miSlingen, aber ich bin

bereit, sie zu wagen, wenn Ihr mich dazu zwingt."

Im Moniteur ließ

er veröffentlichen: eS sei eine Kleinigkeit, Aegypten wieder zu nehmen, 6000 Franzosen genügten dazu, und in dem Jahresbericht über die Lage

Frankreichs an den gesetzgebenden Körper am 20. Februar 1803 sagte er: 500,000 Franzosen müßten bereit sein und würden bereit sein, die Ehre

Frankreichs zu vertheidigen und zu rächen.

Es ist wahrscheinlich, daß

diese Katarakten von großen Worten Drohungen waren, die England be­

stimmen sollten: Malta zu räumen, die Emigranten auszuweisen und die

Presse zu zügeln, deren Sprache ihn verletzte.

Das Kabinet Addington

nahm die Erklärungen Buonaparte'S ernsthaft; am 13. Mak 1803 verließ Lord Whitworth Paris.

Buonaparte war überrascht und in der übelsten Lage.

Die Handels­

schiffe Frankreichs, die fröhlich aus allen Häfen ausgelaufen, waren verloren, mindestens abgeschnitten; verloren die Aussicht auf Herstellung einer England

gewachsenen Flotte, verloren die große Expedition nach Domingo.

Schon

vor dem WiederauSbruch des Kriegs war sie in Nachtheil gerathen.

Die

verrätherische Gefangennahme und Wegführung Toussaints, die Herstellung

der Sklaverei hatte die Schwarzen zur äußersten Wuth gereizt; die Truppen

Buonaparte'S, in die Hafenstädte zurückgeworfen, vom gelben Fieber decimirt, wurden nun hier von englischen Schiffen auch von der See her angegriffen, mindestens blockirt.

Im Oktober 1803 mußte der Ueberrest vor dem Ge­

schwader des Admirals Hood die Waffen strecken.

Bon der Flotte waren

nur die Linienschiffd entkommen, wenige nach Frankreich, die übrigen retteten

sich fünf nach Ferrol, eins nach Cadtx.

40,000 Soldaten, 8000 Matrosen

waren verloren, immense Geldsummen vergebens aufgewendet.

Aber die

Meinung Frankreichs stand dem Ersten Conful zur Sette, sie hielt sich an

den offenkundigen Vertragsbruch, die Behauptung Malta'-; die Flotille stand in bestem Ansehen und Vertrauen seit Nelson vor Boulogne ge­

scheitert war; die Departements, die Städte Frankreichs Überboten sich in Anstrengungen flache Fahrzeuge zu bauen, die Flotille zu verstärken.

Die

Stimme Frankreichs drängte den Ersten Consul nachdrücklich auf dem Wege weiter, den er selbst durch seine Drohungen gewiesen, sie forderte den Uebergang. Und auf welchem andern Wege hätte Bonaparte England treffen

sollen?

Der Seekrieg mußte in den Landkrieg verwandelt werden, der

Buonaparte'S Genie Spielraum gab, der seiner Ueberlegenheit volle Ent­

faltung gestattete.

Doch hatten auch noch andere Gedanken neben der Verwandlung deS Seekriegs in den Landkrieg bei Buonaparte Raum. Wurden die Streitkräfte

Frankreichs Englands Küsten gegenüber gesammelt, so stellte man England jeden Falls unter die Drohung einer bevorstehenden Landung.

Englands

Heeresverfassung machte ihm diesen Druck außerordentlich empfindlich.

ES

werden dadurch Gegenanstalten nöthig, die über den Rahmen der Streit­ mittel Englands weit hinauSgehen, diese werden zu um so höheren Ausgaben

zwingen, je weniger Englands Armeeorganisation auf solche Erweiterung be­

rechnet ist.

Die Aussicht auf eine Invasion zwingt England, Irland stark

zu besetzen, die übrigen Streitkräfte aber auf der eigenen Insel zusammen zu halten.

Dadurch wird ihm der Schutz seiner Kolonieen erschwert, in

noch höherem Maß der Angriff auf Kolonieen des Gegners.

Noch mehr

fällt ins Gewicht, daß die englische Flotte mit ihren besten Kräften an

den Kanal gebunden wird.

Vertheidigte man nicht Frankreichs Kolonieen,

wenn man Englands Flotten hier fest hielt?

Paralhsirte man nicht die

Land- und Seestreitkräfte Englands für die Aktion auf allen anderen Punkten, wenn man große Uebergangsmittel sammt einer starken Armee am Kanal versammelte? Am wenigsten lag dem Ersten Konsul dabei der

Gedanke fern, daß diese am Kanal versammelte Armee auch anderswo gebraucht werden könne.

War es nicht der größte Vortheil, die Streit­

kräfte Frankreichs vereinigt in der Hand zu haben, sie hier am Kanal zu organisiren, zu discipliniren, abzuhärten, um sie dann überraschend auf

einem gegebenen Punkte des Festlandes zu gebrauchen? Hatte er nicht den

Feldzug von 1800 dadurch entschieden, daß er mit Truppen aus noch weiterer Ferne, die er eben zur Pacifikation der Bretagne und Vendäe gebraucht hatte, überraschend in den Ebenen jenseits der Alpen, im Rücken

der Oestreicher erschienen war? Trotz voller Anspannung viel Zeit, der

aller Kräfte erforderte

es jedoch Zeit,

Flotille im Kanal die Dimensionen zu geben, welche

England über den Ernst der Absichten keinen Zweifel ließen, welche an­ dern Falls den Erfolg sichern konnten und sollten.

Napoleon hielt sehr

große Mittel und günstige Chancen unerläßlich.

Die Häfen

mußten

für eine gewaltige Zahl von Fahrzeugen erweitert, diese waren wie die

gesammte Küste von Havre bis Ostende gegen Angriffe der zu sichern, die voraussichtlich

alles daran setzen mußten,

Engländer

den Ueber-

gang in der Geburt durch Zerstörung der Uebergangsmittel zu ersticken.

Damit war eine KriegSpause gegeben, die Napoleon in eine höchst pein­

liche Lage setzte; er mußte die Streiche, welche England gegen die Han­ delsmarine und den Handel Frankreichs, gegen die Expedition in Do

mingo, gegen die Kolonieen Frankreichs und Hollands führte, ohne Er­

widerung ertragen; um so peinlicher, je empfindlicher alle diese Streiche trafen. Sicherlich nicht unerwünscht kam es dem Ersten Konsul, daß die Auf­

merksamkeit Frankreichs während dieser aufgezwungenen sich länger und länger

hinziehenden Kriegspause durch die Zettelungen und Verschwörungen der Emigranten von England her beschäftigt wurde. versichert hat, keine Gefahr dabei.

Er lief, wie er selbst

Seine Polizei hatte diese Verschwörung

unter Augen; sie hatte sie zwar nicht hervorgerufen, aber sie leitete die­

selbe durch einen falschen Bruder, den sie den Emigranten zugesellt hatte.

Die Ergreifung Pichegru's, sein Tod im Gefängniß, die Gefangennahme und Hinrichtung Georges Cadoudals, der Prozeß gegen Moreau, die Ent­ führung und Hinrichtung Enghiens, die Errichtung des Kaiserthrons, „um

den Institutionen Frankreichs Dauer zu geben und die Verschwörer zu

entmutigen", waren wohl geeignet, die Blicke Frankreichs von den Schlägen abzuziehen, welche die englische Aktion der Jnaktion Frankreichs zu­ fügte. Aber je höher die Stufe war, die der Erste Konsul mit dem Kaiser­ thron bestieg, um so weniger durfte die erste so lange verzögerte KriegSthat des neuen Charlemagne mißlingen. Der Uebergang war zunächst vom Herbst 1803 auf das Frühjahr 1804 verschoben worden. In diesem Frühling standen nun wohl 600 schwere Geschütze in den Batterieen der Häfen und an der Küste zum Schutze der Rüstung, aber diese selbst war immer noch nicht vollendet. Der Ueber­ gang wurde wiederum vom Frühjahr auf den Herbst, vom Herbst auf das Frühjahr 1805 vertagt. Endlich in den ersten Märztagen dieses Jahres ergingen die entscheidenden Befehle für die Ausführung des Uebergangs; er sollte nun definitiv im Juli oder August 1805 vollzogen werden. Am 18. Juli lief Admiral Verhuelen mit der batavischen Flotille von Ostende her glücklich in den Hafen von Ambleteuse ein; die Vereinigung der Flotille war damit vollzogen; die Zahl der Fahrzeuge erfüllt, die 132,000 Mann — mit den beiden Flügelcorps im Texel unter Marmont und in Brest unter Augereau 170,000 Mann — an die Küste Englands tragen sollten. Napoleon wollte in der Lage sein, den Erfolg zu zwingen, ein Mal gelandet, die Entscheidung in kürzester Frist herbeizuführen. Der Uebergang der Hauptarmee sollte von vier Häfen aus, die unter dem­ selben Winde lagen, erfolgen. Jene 132,000 Mann sollten sich zu vier Fünftheilen auf 1240 Kanonenschaluppen, Kanonenbooten und Penichen hinüberrudern, 625 Transportschiffe folgten in zweiter Linie. Die Ruder­ fahrzeuge waren sämmtlich für den Zweck des Uebergangs besonders conftruirt und eingerichtet; sie bedurften nicht mehr als 6 bis 7 Fuß Wasser­ tiefe, sie waren ohne Kiel gebaut, damit sie auf den Strand laufen, damit die Landung auch bei der Ebbe bewirkt werden könne. Die Kanonen­ schaluppen trugen je eine Compagnie und vier Schiffsgeschütze, die Kanonenboote je eine Compagnie, ein Schiffsgeschütz und ein Feldgeschütz, für welches zwei Pferde im Mittelraum untergebracht wurden, die Penichen je eine halbe Compagnie, keine Geschütze. Die Avantgarde General Lannes, das Grenadiercorps und die Division Gazan (14,000 M.) sollte sich von Vimereux aus, ausschließlich auf Penichen (216) hinüberrudern. Der rechte Flügel Davoust, 32 Bataillone 26,000 Mann, sollte von Ambleteuse aus auf der batavischen Flotille auf 306 Ruderfahrzeugen und HO Transport­ schiffen übergehen; das Centrum von Boulogne aus, 52 Bataillone 40,000 Mann auf 540 Ruderfahrzeugen und 169 Transportschiffen; von Staples aus der linke Flügel Neh 28 Bataillone 22,000 Mann auf 180 Ruderfahrzeugen und 110 Transportschiffen. Die Reserve 27,000 Mann

sollte in dritter Fahrt folgen; das CorpS Marmonts 25,000 Mann war auf der holländischen Flotte eingeschifft; eS sollte vom Texel aus hinüber.

Die Flotte Frankreichs nicht blos, auch die Spaniens, über welche Napoleon seit dem Oktober 1804 ebenso unbedingt verfügte wie über seine eigene sollten im Kanal vereinigt den Uebergang deS Landheeres auf

der Flotille decken. Bord disponibel:

Für diese Operation waren an Schiffen von hohem 21 Linienschiffe unter Admiral Ganteaume in Brest,

2 Linienschiffe unter Vice-Admiral Magon in la Rochelle, 5 Linienschiffe

in Rochefort und ebensoviel in Ferrol,

11 Linienschiffe unter Admiral

Villeneuve in Toulon; zusammen 44 Linienschiffe.

Dazu kamen

an

spanischen: 7 Linienschiffe unter Salcedo in Carthagena, 6 in Cadix unter

Graviua, 8 in Ferrol unter Grandellana, zusammen 21 Linienschiffe; mit den

französischen

65 Linienschiffe.

Aber diese

gesammte Streitmacht

Frankreichs und Spaniens war von englischen Flotten in den genannten

Häfen blockirt, und wenn nicht blockirt mindestens beobachtet. Napoleons Befehle in den ersten Märztagen 1805 gingen demnach

dahin, daß sämmtliche Linienschiffe nebst den Fregatten der blockirten Häfen

während der Stürme der Frühjahrsnachtgleiche, die die Blockadegeschwader zwingen würden sich in gebührender Entfernung von der Küste zu halten, die Blockade zu brechen und auszulaufen hätten.

Dann sollten sie den

Kurs auf die Antillen nehmen, und bei Martinique ankern. theilung,

Jede Ab­

die bei den Antillen ankommt, wartet hier eine gewisse Zeit

auf die übrigen; ist diese Frist verstrichen, tritt sie den Rückweg an, sie kreuzt auf diesem, um die Abtheilungen sicher zusammen kommen zu lassen,

noch zwanzig Tage auf der Höhe von St. Jago.

Vereinigt erscheinen

dann die Flotten plötzlich im Kanal, während die englischen Flotten in der Meinung, daß es auf die Wegnahme Jamaika's abgesehen sei, noch in Westindien oder fern auf dem Ocean sind.

Ist auch bei St: Jago nicht

Alles vereinigt, so laufen die Geschwader, die bei einander sind, Cadix an,

bevor sie im Kanal erscheinen.

Wenn Alles gelang, so kamen jene

65 Linienschiffe sämmtlich zur Deckung des Uebergangs in den Kanal,

denen England schwerlich die gleiche Streitmacht entgegenstellen konnte. Wenn Alles gelang!

Aber von welchen Zufällen, von welchen Unbe­

rechenbarkeiten des Wetters und des Windes, von welchen Unberechenbar­ keiten des Erfolges und Mißerfolges war das geforderte Zusammentreffen und Zusammenwirken, das Gelingen dieser sehr weit ausgreifenden, sehr genialen aber doch auch

sehr abenteuerlichen Combinationen abhängig.

Von dem Augenblick an, da Napoleon, gegen die ursprüngliche Absicht, im

Sommer 1804 beschlossen hatte, den Uebergang nicht blos unter sehr

günstigen Chancen — das war seine Meinung von vornherein — sondern

auch nur unter Deckung der Linienschiffe zu wagen, war die Ausführung

mehr als problematisch geworden. England

am

sah

nicht

ohne Unruhe auf

anderen Ufer deS Kanals.

die gewaltigen

Besorgniß hatte im

Diese

Rüstungen

Frühjahr

zuvor (Mai 1804) Pitt an das Ruder des Staates zurückgeführt, der

dann alsbald den Anstalten zur Abwehr einen kräftigen Impuls

gab.

Irland war nun von 40,000 Mann in Zaum gehalten und geschützt, auf

der Südküste Englands standen 41,000 Mann.

Dazu war eine Miliz­

armee von 48,000 Mann in England und Schottland ausgehoben worden.

Es hatten sich 300,000 Freiwillige gemeldet, von denen etwa die Hälfte

bewaffnet war.

Aber obwohl die Wahl der Häfen, in denen Napoleon

seine Flotille versammelt hatte, deutlich zeigte, daß er nirgend anders als zwischen der Insel Wight und Dover landen konnte, waren die 89,000 Mann

der Linie und Miliz weit auseinander auf der Südküste verzettelt und auf die Freiwilligen war in rangirter Schlacht nicht sehr zu zählen. Gelang die Landung auch nur mit 70—80,000 Mann, so konnte Napoleon nach einer glücklichen Schlacht in vier Märschen in London und damit im

Besitz der Werfte und Arsenale, im Besitz sämmtlicher Ausrüstungsmittel Englands für Marine und Landheer sein. Die Hoffnung Englands stand auf seinen Flotten.

In der Themse­

mündung lagen 12 Linienschiffe bestimmt, die holländische Flotte, die im Texel lag, abzuwehren, ein zweites Geschwader 7—8 Linienschiffe ankerte

mit einer Anzahl Fregatten und Briggs, mit einigen hundert Kanonen­

booten, die man der französischen Flotille gegenüber gerüstet, bei Spithead. Den Hafen von Brest blockirte Lord Cornwallis mit 19 Linienschiffen;

vor Rochefort und la Rochelle kreuzte Kommodore Stirling mit 5 Linien­ schiffen.

Die spanischen Häfen Corunna, Ferrol und Cadix beobachtete

Admiral Calder mit 10 Linienschiffen.

Zwischen Carthagena und Toulon

kreuzte Nelson mit 12 Linienschiffen. Der Seekrieg halte in den Landkrieg verwandelt werden sollen und

der Seekrieg stand nun doch im Vordergründe.

Der Uebergang, d. h. der

Landkrieg war von dem Gelingen oder Mißlingen der Flottenoperation

abhängig.

Am 30. März 1805 gelang es dem Admiral Villeneuve, aus

Toulon auszulaufen, Nelson kreuzte auf der Höhe von Sardinien.

Von

Billeneuve's Ausfahrt unterrichtet, steuerte Nelson In der Meinung, es sei

auf Aegypten abgesehen dorthin.

Unangefochten erreichte Villeneuve Car­

thagena; aber Admiral Salcedo verweigerte den Anschluß seiner Schiffe:

die Ausrüstung

derselben

sei

nicht

vollendet.

Unangefochten passirte

Villeneuve die Straße von Gibraltar, zog die Schiffe Gravina'S aus Cadix an sich (11. April) und warf am 13. Mai mit 18 Linienschiffen auf der

Rhede von Martinique Anker. Er fand hier die 5 Linienschiffe des Admiral

Sie waren in Fofge

Missiessy von Rochefort nicht mehr vor.

einer

früheren Combination bereits im Januar ausgelaufen und nach langem

vergeblichen Harren bereits auf der Rückfahrt.

Dagegen trafen am 4. Juni

die beiden Linienschiffe von la Rochelle bei ihm ein, die am 1. Mai dort ausgelaufen waren.

Ihr Befehlshaber Vice-Admiral Magon brachte neue

Instruktionen für Villeneuve.

Ganteaume habe bis zum 1. Mai nicht auS-

laufen können, Villeneuve solle nicht über den 20. Juni auf ihn warten, vielmehr dann die Rückfahrt antreten, den Kurs auf Ferrol nehmen, um die dort liegenden 13 französischen und spanischen Linienschiffe, die eben­

falls keine Gelegenheit zum Auslaufen gefunden, an sich zu ziehen, mit diesen vereinigt, Ganteaume deblockiren, um dann 54 Linienschiffe stark im Kanal zu erscheinen. Villeneuve wartete nicht bis zum 20. Juni.

Vier Tage nach MagonS

Ankunft, am 8. Juni erhielt er Nachricht, daß Nelsons Flotte 9 Linienschiffe

auf Barbadoes steuernd erblickt worden sei.

Nelson war nachdem er von

der falschen auf die richtige Fährte gekommen, durch einen hartnäckigen Westwind volle

14 Tage hindurch gehindert worden,

die Straße von

Gibraltar zu passiren. Auf die Kunde seiner Annäherung lichtete Villeneuve augenblicklich die Anker (9. Juni) und nahm der neuen Instruktion gemäß

den Kurs auf Ferrol.

Drei Tage nach Villenerive'S Abfahrt war Nelson

bei Antigua von dieser unterrichtet. ins Mittelmeer zurücksegele.

Er zweifelte nicht, daß Villeneuve

Er nahm

auf der Stelle den Kurs auf

Gibraltar; eS trieb ihn gewaltig diese Schiffe, vor denen er zwei Jahre hindurch unablässig gekreuzt, denen er vergebens über den Ocean gefolgt

war endlich auf offener See zu erreichen.

Indem er die Rückfahrt an­

trat, sendete er den besten Segler seiner Avisoschiffe, die Brigg CuriouS nach Portsmouth, der Admiralität Bericht vom Stande der Dinge zu bringen.

Rascher

als Villeneuve's schwerfällige Schiffe erblickte der Capitän deS

Curious am 19. Juni die lange Linie der feindlichen Flotte.

Sie segelte

ostwärts, aber der Kurs den sie hielt, zeigte ihm, daß sie nicht auf die

Straße von Gibraltar sondern auf Cap Finisterre steuere.

Nach glück­

lichster Fahrt landete der Curious am 7. Juli in Portsmouth, die Admi­

ralität war am nächsten Tage unterrichtet. Augenblicklich erging an Com­

modore Stirling vor Rochefort der Befehl, zum Admiral Calder vor Ferrol zu stoßen, mit diesem vereinigt auf der Höhe von Finisterre zu kreuzen, der französischen Flotte den Weg zu verlegen.

Bereits am 15. Juli waren

Stirling und Calder vereinigt. Villeneuve hatte nur noch vierzig Meilen nach Ferrol zurückzulegen als

er am 22. Juli Calders Flotte auf seinem Wege erblickte.

Nach

einem hitzigen Kampf, in welchem Villeneuve trotz der Ueberlegenheit seiner

Schiffszahl zwei Linienschiffe verlor, gelang es Villeneuve durchzudringen; südwärts steuernd lief er in die Bucht von Vigo ein.

Nachdem er hier

fünf Tage ankernd die Schäden der Schlacht ausgebessert erreichte er un­

behelligt von Calder am 2. August Ferrol.

Damit war ein ansehnlicher

Theil der französisch-spanischen Seemacht, 31 Linienschiffe vereinigt. hatte bis dahin Glück genug gehabt.

Der Gegner war averttrt und auf der Hut. am 20. Juli,

er konnte sich

Man

Aber das Schwerste war übrig. Nelson erreichte Gibraltar

nun jeden Augenblick

mit Calder

ver­

einigen; mit ihren durch zweijährige Kreuzfahrten abgehärteten und geübten

Mannschaften waren sie auch

mit

24 Schiffen den

31

Linienschiffen

Villeneuve'S vollkommen gewachsen. Die Dinge standen zur Entscheidung.

Untersuchen wir, welche Ent­

schlüsse Napoleon in diesem Momente gefaßt hat.

Er hatte bis dahin in

den Entwürfen zum Uebergang in auffallender Weise geschwankt und ge­ wechselt, so fremd solche Unsicherheit sonst seiner Art war.

Im Herbst 1803

schreibt er: la Manche est un fossö, qui sera franchi lorsqu’on aura l’audace de le tenter (25. November).

War das wirklich in diesem

Augenblick seine Meinung, sie ist es nicht geblieben.

Sicher ist, daß er

zunächst mit der Flotille allein überzugehen dachte, wenn er auch später behauptet hat,

er habe sie nur darum mit 3000 schweren Geschützen

armirt, um den Engländern die Meinung zu geben, daß sie im Stande sei, sich selbst den Weg über den Kanal zu öffnen, und hierdurch deren Aufmerksamkeit von den Bewegungen seiner Flotten abzulenken.

Der

Marineminister Decrös und mit ihm die erfahrensten Seeleute Frankreichs

waren der Ansicht, daß der Uebergang mit der Flotille allein unausführbar sei, Decrös hat dieser Ansicht Ausdruck gegeben.

Sämmtliche Befehle

Napoleons vom Mai bis zum Herbste des Jahres 1803 haben aus­ schließlich die Flotille im Auge, erst im September taucht der Gedanke

auf, den Uebergang der Flotille dadurch zu erleichtern, daß gleichzeitig die

Flotte von Brest ein ansehnliches Truppencorps auf die irische Küste

werfe; ein Gedanke der dann im November und December dieses Jahres festere Gestalt gewinnt.

Der Uebergang war damals für den Februar

oder März des Jahres 1804 in Aussicht genommen.

Die direkte Mit­

wirkung der Flotte wurde erst im Frühjahr, Mai oder Juni, 1804 be­

schlossen.

Damit trat das Unternehmen in eine ganz neue Phase; der

Uebergang wurde von dem Gelingen der Operationen der Flotte, von einer wenn auch nur temporären Ueberlegenheit der französischen Flotte

d. h. von höchst ungewissen Erfolgen des Seekrieges abhängig gemacht.

Das damit geforderte Zusammenwirken der Flotte und der Flotille ent-

hielt zudem einen Widerspruch in sich.

Die flachen Ruder-Fahrzeuge der

Flotille bedurften der Windstille, die Flotte konnte

ohne Wind nichts

leisten. ES war in jenem Moment, unmittelbar nach der Annahme der Kaiser­

würde Napoleons Wunsch, die eben erstiegene Stufe durch eine That des höchsten Glanzes zu bezeichnen, England zu demüthigen bevor er sich die Krone aufsetzte. Admiral Latouche-Tröville sollte mit der Flotte von Toulon

die Blockade brechen, das Geschwader von Rochefort, 5 Linienschiffe, deblockiren

und dann Irland umsegelnd oder direkt in den Kanal einlaufend den Uebergang decken. Latouche-Träville erhielt am 2. Juli Befehl, am 29. Juli

auszulaufen; er werde dann im September im Kanal sein, dessen Nächte

lang genug und dessen Wetter nicht zu schlecht sei.

Eine spätere Ankunft

würde in übleres Wetter führen und deshalb nutzlos sein.

Trotzdem wurde

dann der Abfahrtstermin um vier Wochen hinausgeschoben, da bei der

Flotille noch nicht Alles in Ordnung sei. Latouche-Tröville'S Tod (20. Aug.) ließ diesen Plan dann überhaupt nicht zur Ausführung kommen.

im September durch eine dritte Combination ersetzt. der Flotte von Toulon,

Er wurde

Villeneuve läuft mit

Missiessh mit der Flotte von Rochefort Ende

Oktober auS; jener steuert nach Surinam, dieser nach den Antillen um

möglichst viel englische Schiffe dorthin zu ziehen; sind die englischen Streit­ kräfte dadurch zerstreut, so läuft Ganteaume mit der Flotte von Brest am 2. December aus, landet Augereau's Corps auf Irland und steuert dann

um Irland oder um Schottland herum in den Kanal, um den Uebergang der Flotille zu decken.

im Februar 1805

Demnach sollte dieser nunmehr im Winter etwa

ausgeführt werden.

Die Ausrüstung der Touloner

Flotte verzögerte sich bis spät in den December.

Das Projekt selbst ge­

dieh nur bis zum ersten Schritt der Ausführung.

Missiessh lief mit den

Schiffen von Rochefort am 11. Januar 1805 aus,

Villeneuve am 18.,

seine Flotte wurde jedoch beim Auslaufen so stark beschädigt, daß er sich

alsbald zur Rückkehr nach Toulon genöthigt sah. Inzwischen hatte England der eigenthümlichen Neutralität Spaniens

ein Ende gemacht.

Napoleon hatte beim Ausbruch

mit

zweckmäßiger

England

für

gehalten,

von

des neuen Kriegs Spanien

statt

der

15 Linienschiffe, die es nach dem Vertrage von St. Ildefonso Frankreich

im Kriegsfälle zu stellen verpflichtet war, eine jährliche Beisteuer von 72 Millionen Franks zu begehren.

Spanien zahlte.

Diese Art von Neu­

tralität gab England um so größeren Anstoß, als auch die französischen

Kaper in den spanischen Häfen Schutz fanden und jene nach Ferrol ge­ flüchteten französischen Linienschiffe hier hergestellt und neu ausgerüstet wurden.

Der Krieg zwischen England und Spanien kam im Oktober 1804

zum Ausbruch, an die Stelle der Subsidien Spaniens trat die spanische

Flotte.

Ganz neue Kombinationen verdrängten die bisheriges Entwürfe.

Vom Januar 1805, d. h. seitdem die Mitwirkung der spanischen Flotte fest­

stand, beschäftigte Napoleon der Gedanke, die Herrschaft Englands in Indien über den Haufen zu werfen; auf den spanischen Schiffen in Verbindung mit

der Flotte von Toulon sollten 36,000 Mann nach Ostindien geführt und

dort gelandet werden.

Es hieß dies nicht mehr und nicht weniger als

den Uebergang nach England aufgeben und wie Napoleon 1798 den Zug nach Aegypten an die Stelle des ihm zugedachten UebergangS nach England unternommen hatte, so jetzt den Zug nach Indien an die Stelle deS Kampfes

im und jenseit des Kanals setzen.

In den ersten Tagen des März 1805

fiel dann auch dieser Entwurf wieder zu Boden, um durch jenen OperationSplan für die französisch-spanischen Flotten ersetzt zu werden, dessen Aus­

führung wir bereits bis zum entscheidenden Stadium verfolgt haben. Nicht mindere Schwankungen und Widersprüche als die Conceptionen

des Kriegsplans zeigen Napoleons Angaben über die Zeit, die die Ueberfahrt der Truppen in Anspruch nehmen,

für welche die Deckung der

Flotte erforderlich sein werde. Am 7. Dezember 1803 sind es zwölf Stunden, am 2. Juli 1804 schreibt er Ganteaume: „Soyons mattres du dötroit six

heures et nous sommes mattres du monde.“

Am 23. November sagt

er demselben: „acht günstige Nachtstunden werden das Geschick deS Welt­

alls entscheiden."

Am 8. Mai 1805 sind es 3 bis 4 Tage, während deren

seine Flotten Herr im Kanal sein müßten, am 9. Juni hat sich diese Frist

auf sechs Stunden vermindert, am 16. Juli verlängert sie sich wieder auf 4 bis 5 Tage, am 20. und 26. Juli sind es drei Tage, am 4. August ruft er DecröS zu: douze heures mattres du Canal, et l’Angleterre

a v6cu; am 22. August hatte sich die Frist wieder auf 24 Stunden ge­ stellt.

Thiers giebt wiederholt seine Meinung dahin ab, daß die Land­

armee von Boulogne d. h. jene 132,000 Mann mit 400 Geschützen in zwei bis drei Stunden eingeschifft werden konnten, daß 48 Stunden genügt

haben würden sie aus den Häfen und an die englische Küste zu bringen. Unglücklicher Weise ist Napoleon selbst ganz anderer Meinung gewesen. Nachdem er den Uebergang definitiv aufgegeben hat, gesteht er ein, daß

es unmöglich gewesen sei, während einer Fluth mehr als 100 bis 150 Fahr­ zeuge der Flotille aus den vier Häfen zu bringen (13. September 1805).

Demnach waren sieben bis acht und überdies ziemlich windstille Tage er­

forderlich, die 2000 Fahrzeuge der Flotille in See zu bringen, ganz abgesehen

von den Reserveschiffen, die gegen zehntausend Pferde zu verladen hatten; dazu tritt ferner die UeberfahrtSzeit und die Zeit, die die Landung an der englischen Küste erforderte.

Die englische Flotte hat im Jahre 1854

trotz aller Vorbereitungen und Einübungen, trotz von Varna mitgeführter Prahmen einen vollen Tag gebraucht, um 1100 Pferde auf die ^üste der

Krim zu bringen. Die Operation des Uebergangs erforderte mindestens vierzehn Tage. Napoleon selbst hat dies auch vollständig eingeräumt.

„Meine Flotten", sagt er am 13. September 1805 dem Minister DecröS „mußten vierzehn Tage Herren des Kanals sein, wenn der Uebergang möglich sein sollte." Und wenn nun alles zusammentraf und der Ueber­ gang trotz Allem glücklich von Statten ging, wenn die englische Armee

geschlagen wurde, wenn Napoleon in London einzog — wären die Flotten Englands nicht von allen Seiten herbeigeeilt, hätte dann nicht eine zweite

Schlacht von Abukir Napoleon in eine noch schlimmere Lage zurückver­

setzt als jene, in der er sich nach dem 2. August 1798 in Aegypten be­ funden hatte?

Nichts ist gewisser als Napoleons ernsthafte Absicht, unter gewissen

Umständen nach England überzugehen und nichts gewisser, als daß er gleich­ zeitig den Continentalkrieg gewollt, vorbereitet und zum Ausbruch gebracht hat.

Wollte er nichts als

den Uebergang nach England, so

mußte er vor Allem Bedacht nehmen, die Jsolirung, in der sich England beim Ausbruch des Krieges befand, fortdauern zu lassen. Er that das Gegentheil, er wendete alles an, England fest­ ländische Alliirte zu pressen, um im gegebenen Augenblick einen Krieg auf dem (Kontinent zur Hand zu haben.

Das deutsche Reich, die deutschen

Mächte, Rußland, wurden durch immer weitergreifende Uebergriffe in Un­ ruhe gesetzt und verletzt, durch Uebergriffe, die sich mit dem Wachsen der Rüstung gegen England steigerten und gerade in dem Moment, als der

Uebergang definitiv erfolgen soll, den Gipfel erreichten. Während die Vorbereitungen zum Uebergang in vollstem Zuge waren, schreibt er einmal Talleyrand: je ne suis pas assez fou pour passer la Manche, si je ne suis pas entierement rassure du eöte du Rhin (August 1804). Er hatte dafür gesorgt und sorgte dafür, hier nicht ruhig

zu sein.

Wenn er mit dem Ausbruche des Krieges gegen England den

Frieden mit dem deutschen Reiche brach und Hannover okkupirte, so mag man das dadurch gerechtfertigt finden, daß er England zunächst nicht an­ ders zu treffen wußte, während Frankreich auf das schwerste getroffen

wurde; so mochte er auf die Ohnmacht des heiligen römischen Reichs und die Schwäche der derzeitigen Politik Preußens zählen; er konnte sich schwerlich

verbergen, daß er durch diese Okkupation, durch die Vernichtung des deutschen Seehandels, durch die Mißhandlungen Bremens, Hamburgs und Lübecks Preußen in eine Lage dränge, die es früher oder später zum Alliirten Eng­ lands, zum Gegner Frankreichs machen mußte.

Der Vertrag Frankreichs und Rußlands vom 11. Oktober 1801 ver­

pflichtete Napoleon; den König von Sardinien für den Verlust Piemonts

zu entschädigen, das Königreich Neapel nicht anzutasten.

Mit dem Aus­

bruch des Krieges gegen England ließ Bonaparte nicht nur Ancona im

Kirchenstaate besetzen, er ließ St. Chr mit 18,000 Mann in Neapel ein­

brechen.

„Ich will Eure Staaten nicht nehmen", sagte er dem Ver­

treter Neapel'S, „es genügt mir, daß sie meinen Absichten gegen England dienstbar sind."

Neapel hatte nicht nur die Okkupation zu

dulden; es hatte die Besatzungsarmee auf seine Kosten zu unterhalten. Die Ergreifung des Herzogs von Enghien durch französische Truppen auf deutschem Gebiet nahmen daS Reich, Oesterreich und Preußen still­

duldend hin; den Protest, den Alexander von Rußland als Garant des Te-

schener Friedens einlegte, erwiderte Napoleon gerade in dem Augenblick, als die Ausführung deS Uebergangs für den Herbst 1804 angeordnet wurde,

mit einer tödtlichen Beleidigung des russischen Kaisers unter dem Hinzufügen, daß Rußland den Krieg haben könne, wenn die letzten russischen Campagnen wären nicht

es ihn wolle;

dazu angethan, ihn denselben fürchten zu lassen, mit der Abbe­

rufung seines Gesandten aus Petersburg. Und als dann Rußland die Frage

stellte, ob Napoleon die Verpflichtungen deS Vertrages von 1801 zu er­ füllen gedenke,

erfolgte ein so schroffes, durch neue Insulten gewürztes

„Nein", daß auch der russische Geschäftsträger aus Paris abgerufen wurde (August 1804).

Gleichzeitig forderte Napoleon von Oesterreich die Aner­

kennung deS Kaisertitels nicht nur in bestimmter Frist, sondern auch an

bestimmtem Ort; sie müsse ihm binnen drei Wochen und zwar in Aachen d. h. in der alten Krönungsstadt der deutschen Kaiser übergeben werden, im anderen Falle werde er seinen Gesandten aus Wien abrufen

und diese Abberufung werde andere Folgen haben als der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Rußland, 300,000 Mann ständen bereit

(3. August 1804).

Die Bemühungen Alexanders, mit Preußen und Oesterreich zum Ein­ vernehmen gegen Frankreich zu gelangen, die zu den Defensivverträgen

vom 24. Mai und 6. November 1804 führten, die

Unterhandlungen,

welche Kaiser Alexander hierauf in London einleitete, blieben Napoleon

schwerlich

ganz verborgen.

Jedenfalls

machte ihm Pitt

Januar 1805 eine belehrende Mittheilung.

hierüber im

Napoleon hatte eS für ange­

messen erachtet, den Schritt, den er nach Aufrichtung deS Consulats Eng­ land gegenüber gethan, nach seiner Kaiserkrönung zu wiederholen.

In

einem an König Georg gerichteten Schreiben gab er sehr vag formulirten

Wünschen für Herstellung des Friedens Ausdruck.

Pitt erwiderte: König

Die Landung in England.

230

Georg vermöge nicht in Verhandlungen einzutreten, bevor er sich mit den Mächten deS Festlands, mit denen er in vertraulicher Verbindung stehe verständigt habe, insbesondere mit dem Kaiser von Rußland.

Diese Er­

widerung ging merklich über die Linie der Wahrheit hinaus; eins aber

zeigte sie deutlich, daß England Aussicht habe, auf dem Festlande Bundes­ genossen zu gewinnen; und wenn Napoleon hierüber noch etwa Unge­

wißheit geblieben wären, die Forderung, die Pitt im folgenden Monat

(Februar 1805) ins Unterhaus brachte:

Bewilligung von nicht weniger

als b'/r Millionen Pfund zu geheimen Zwecken, mußte seine letzten Zweifel

zerstreuen. Es war um die Zeit, da Napoleon den letzten OperationSplan für seine

Flotten feststellte, die Befehle zur Ausführung desselben ertheilte, daß er diese Gewißheit erhielt.

War er definitiv entschlossen, den Uebergang auf

jede Gefahr hin auszuführen, so mußte er jetzt wenigstens auf dem Fest­ lande innehalten.

Er wußte sehr

gut,

daß Oesterreich

damals kaum

weniger friedfertig gestimmt war als Preußen, daß Alexanders Drängen Er war sehr sicher, sein Unternehmen

in Wien ungeneigtes Ohr fand.

gegen England ungestört ausführen zu können, wenn er Oesterreich

nicht weiter provocirte, und gerade in diesem Moment that er

den Schritt, der wenn irgend einer Oesterreich in die Waffen bringen mußte.

Indem er Villeneuve und Ganteaume die Befehle

zum Auslaufen gab, brach er offen den Frieden von Lüneville, der die Unabhängigkeit der cisalpinischen Republik feststellte, erklärte er die Verwandelung derselben in das Königreich Italien und die Vereinigung des

Königreichs Italien mit Frankreich.

Die Consulta in Mailand hatte den

betreffenden Antrag stellen müssen.

Wie oft, wie erbittert, in wie langen

Kriegen hatten seit den Tagen Karl des Fünften Oesterreich und Frankreich

um den vorwaltenden Einfluß in Italien gerungen; jetzt sollte Oesterreich nicht nur Oberitalien und Frankreich in Einer Hand sehen; mit dem

Namen des Königreichs Italien war ausgesprochen, daß Frankreichs Ge­

walt über ganz Italien ausgedehnt werden solle; damit war auch der Besitz Venetiens, das der Friede von Lüneville Oesterreich gelassen, in Frage

gestellt und bedroht.

Napoleon ging weiter.

Während er die Vereinigung seiner Flotten

im Kanal erwartete begab er sich nach Italien, um sich die Eisenkrone der

Lombarden aufs Haupt zu setzen.

Von der Klausel der Vereinigung beider

Kronen für die Dauer deS Krieges gegen England, unter welcher dieselbe

zuerst angekündigt worden, war nicht mehr die Rede (28. Mai).

Dem

Abgesandten Neapels, der Glückwünsche zur Krönung brachte, dem Prinzen

Cardito, erwiderte er, daß er der Königin von Neapel (der Tante veS

Kaisers Franz) nicht soviel Land lassen werde, um ihr Grab zu bauen; und als ob dies nicht genüge, erging ein Rundschreiben an alle Vertreter Frankreichs:

Falls sich die Königin von Neapel nicht besiere, werde daS

englische Schiff auf der Rhede sie nicht retten.

Die französisch-italienischen

Truppen wurden in zwei Lagern zusammengezogen,

30,000 Mann bei

Alessandria, ebenso viel hart an der Grenze Oesterreichs am Ufer der Etsch bei dem getheilten Verona, daS damals links der Etsch Oesterreich,

rechts der Etsch Frankreich gehörte.

Jene führten in Napoleons Gegenwart

die Schlacht bei Marengo

diese

auf,

wiederholten

die Schlacht

bet

Castiglione, durch welche er im August 1796 den ersten Entsatzversuch

Mantua'S abgewtesen hatte.

Dem General Vincent, der ihn Seitens

Oesterreichs an der Grenze Venetiens zu begrüßen abgeordnet war, sagte er: man spreche von einer Coalttton zwischen Oesterreich und Rußland; er fürchte den Krieg nicht und verstehe denselben zu führen.

So zwang

er nach Rußland auch Oesterreich in das Lager Englands hinüber.

Nicht minder bezeichnend ist die Zurückweisung aller Vermittelungs­ versuche und die Art, in der dies gerade in dem entscheidenden Mo­

ment geschah.

Kaiser Alexander beabsichtigte eine Ausgleichung zwischen

Frankreich und England mittelst Abordnung eines besonderen Unterhänd­ lers; Novosiltzow war für diese Mission auSersehen.

Der König von

Preußen erbat aus Alexanders Veranlaffung die für diesen erforderlichen

Pässe.

ungestörter Ausführung des Ueber-

Wollte Napoleon Frist

gangeS gewinnen, so lag nichts näher, als die angebotene Verhandlung

anzunehmen.

Napoleon wieS dieselbe zurück, indem er sie vertagte: da

die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Rußland abge­

brochen seien, könne Rußland die Stellung eines Mediators nicht bean­

spruchen; auch wenn er hierüber hinweg sähe, sei ein Erfolg von dieser

Unterhandlung doch nicht zu erwarten; er wolle den Abgeordneten Alexan­ ders zwar empfangen, jedoch erst Ende Juli in Paris.

Die dies Schreiben

an Friedrich Wilhelm III. begleitende Note sprach deutlicher:

Kaiser

Alexander sei von England verführt; eS sei dem Golde Eng­ lands nicht schwer geworden, diesen corrumpirten Hof zu be­

stechen;

es

werde

früher

oder später

zum Kriege

kommen,

Frankreich sei darauf vorbereitet (4. Juni 1805). Neue Annexionen in Italien folgten: das Gebiet von Genua, der ligurischen Republik, ver­

größerte Frankreich um vier Departements; Parma, Piacenza, Guastalla

und Lucca traf dasselbe LooS.

Die Annexion Genua'S entschied Alexanders Entschluß; er rief seinen

Unterhändler, der schon Berlin erreicht hatte, zurück; er ratificirte den mit England vereinbarten Vertrag, der von seinem Minister bereits am

Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 3.

16

11. April gezeichnet war.

Auch Oesterreich'S Entschluß wurde durch die

Annexion Genua'S, durch

eine kategorische Forderung Alexanders

schieden.

ent­

Am 7. Juli erklärte sich Kaiser Franz bereit, mit Rußland in

die bewaffnete Mediation zwischen Frankreich und England einzutreten,

befahl er die Mobilmachung der österreichischen Armee. AIS Napoleon am 8. Juli Mailand verließ, um den Moment der

Vereinigung seiner Flotten im Kanal nicht zu verfehlen — er erwartete

deren Erscheinen Ende Juli oder Anfang August, hatte er Rußland und

Oesterreich auf die Seite Englands gedrängt, war der Krieg auf dem Continente in Bereitschaft gestellt.

Wie zögernd und schwer sich Oesterreich

entschlossen, wesentlich um Napoleons AllSgreifen gegenüber die Anlehnung

an Rußland nicht für immer zu verscherzen, war ihm nicht verborgen;

er hatte eS in der Hand, durch Eingehen auf die Mediation, durch geringe Concessionen Oesterreich zu beruhigen und zurückzuhalten.

Ueberblickt man die lange Reihe der kecken Griffe Napoleons auf dem

Festlande gegen die bestehenden Verträge seit dem WiederauSbruch des Krieges gegen England, so kann es nicht befremden, daß die gesammte Diplomatie nicht an den Ernst der UebergangSabsichten Napoleons glauben

mochte; am wenigsten die preußische, welche, zum Unheil Preußens, in jenen Jahren in der Lage war, am besten über Stimmungen und Vorgänge in den regierenden Kreisen Frankreichs unterrichtet zu sein.

1803 berichtete Lucchesini:

Schon im Oktober

Napoleon denke auf einen Krieg gegen

Oesterreich, der ganz andere Chancen biete, als der Uebergang

na ch England. Er bleibt unbeirrt dabei: es sei mit allen Vorbereitungen am Kanal nur auf ein Schreckmittel für England abgesehen, nur darauf abgesehen, England zu ermüden; die eigentliche Absicht sei gegen Oester­

reich gerichtet.

Als Napoleon den entscheidenden Schritt gegen Oesterreich

gethan, die Vereinigung der Kronen Italiens und Frankreichs ausgesprochen

hat (17. März 1805), sagt Lucchesini: Eurer Majestät Neutralität ver­ sichert, zählt Napoleon auf sehr rapide Siege gegen Oesterreich, bevor Ruß­

lands Streitkräfte herankommen; daß Oesterreich seiner Seits nicht vor

August angreifen könne, hält Napoleon für gewiß. Graf Philipp Cobenzl, Oesterreichs Vertreter in Paris, war etwas

geneigter an Ernst gegen England zu glauben; doch sagte Kaiser Franz schon im Sommer 1803 dem Gesandten Napoleons in Wien mit naiver Offenheit oder Überlegtester Schlauheit:

„wenn der Erste Consul den

Uebergang nach England nicht ausführt, wird er sich auf uns zurück­

werfen*)".

Erst seit Mitte Juli des Jahres 1805, insbesondere seit Na-

*) Thiers Consulat et l’Emp. 5, 392.

poleonS Rückkehr aus Italien in der zweiten Hälfte dieses Monats giebt Lucchesini zu, daß eS mit dem Versuch des UebergangS möglicher Weise Ernst werden könne.

„Die Bewegungen in den Lagern", so berichtet er

am 13. Juli, „und der Marsch neuer Truppen an die Küste erneuern die

alten Gerüchte vom Uebergange nach England.

Ich sehe mit Erstaunen,

daß die früherhin Ungläubigsten durch die Dreistigkeit und Kühnheit der

Versuche Napoleons (man hatte eben in Paris Kunde, daß Villeneuve Martinique erreicht habe) erschüttert sind."

Und

„Die Truppenmärsche an die Küste mehren sich.

einige Tage später:

In allen Lagern haben

Uebungen der Einschiffung stattgefunden, niemals ist die Einschiffung so ernsthaft betrieben worden.

Man will mit den Flotten vom Texel und

Brest etwas unternehmen; die Flotille

soll demonstriren."

glaubt Lucchesini noch nicht an den Uebergang. fort:

Auch jetzt

Am 23. Juli fährt er

„Napoleon wird nach Boulogne gehen: er beabsichtigt wenigstens

die Franzosen zu überzeugen, daß er den Stoß wagen will, der seit zwei

Jahren als Schreckmittel Englands dient.

Die Aufmerksamkeit der Eng­

länder wird an demselben Tage auf verschiedene Punkte gezogen und so

versucht werden 25,000 Mann nach Irland zu werfen — oder mit der Flotille zu landen.

Alle die Napoleon in St. Cloud gesprochen haben,

sind mit der Ueberzeugung zurückgekehrt, daß

er einen

coup d’6clat

machen will." Lucchesini war nicht schlecht unterrichtet.

Auch nach Thiers' Erzählung

sagte Napoleon Cambac^räS in diesen Tagen: ich werde die Welt durch die

Größe und Schnelligkeit meiner Streiche in Erstaunen setzen.

In der

That war Napoleon der Ausführung des UebergangeS niemals so nahe

gewesen als in diesen Tagen.

Er erwartete das Eintreffen Vtlleneuve'S

in Ferrol gegen Ende Juli: die Befehle die am 16. Juli für ihn dorthin

abgingen, lassen deutlich erkennen, wie Napoleon die Lage ansah.

„So­

bald Villeneuve in Ferrol und mit den dortigen Schiffen vereinigt sei, habe er Rochefort und Brest zu deblockiren.

Sodann habe er mit den

Geschwadern von Rochefort und Brest oder mit dem einen oder dem an­ dern denselben, Irland oder Irland und Schottland zu umsegeln, um so­ dann im Texel mit der holländischen Flotte zusammenzustoßen, mit dieser

dann die Ueberfahrt im Kanal zu decken.

Habe Villeneuve jedoch Ver­

luste erlitten oder träten unvorhergesehene Ereignisse ein, so solle er, nach­ dem er seine Vereinigung mit den Schiffen in Ferrol bewirkt, mit der

gesammten Flotte in den Hafen von Cadix einlaufen."

Eine doch höchst auffällige Weisung.

Nichts natürlicher und vor­

sichtiger in der That als das MtSlingen des großen Entwurfs in Rech­

nung zu stellen und einen geeigneten Zufluchtshafen für solchen Fall an-

16*

zuwetsen, aber zugleich doch ein unwiderleglicher Beweis, daß Napoleon auch auf ein MiSlingen der Deckung des UebergangeS durch die Flotten,

d. h. auf den Verzicht auf den Uebergang, vorbereitet und gefaßt war. Aber wie kommt er dazu, dem Admiral noch im letzten Moment feine

ohnehin sehr schwierige Aufgabe noch weiter zu erschweren, indem er ihm die Umsegelung Irlands und Englands, die Vereinigung mit der holländi­

schen

Flotte im

Texel vorschreibt?

Der Befehl vom 16. konnte am

25. Juli in Ferrol fein,, war Villeneuve bereits dort und segelfertig, führte

er ihn auf der Stelle auS, so konnte er, auch wenn kein Zwischenfall etntrat, wenn er wirklich Rochefort und Brest deblockirte und deren Schiffe

an sich zog (was keines WegS leicht war, derselbe Wind der ihn an diese

Häfen führte, erschwerte den in denselben ankernden Schiffen das Aus­

laufen) auf dem nunmehr vorgeschriebenen Wege nicht vor Ende September

im Texel sein; jeden Falls war damit die Ausführung des UebergangeS

wiederum von der Mitte deS August auf die Mitte des Oktober hinauSgefchoben. Aber dies war nebensächlich. Der dominirende Gedanke der Combination war doch der, die Flotten überraschend in den Kanal zu bringen.

Man wußte in Paris vor dem 12. Juli und Napoleon wußte

eS besser als die Pariser, daß Nelson in Verfolgung Villeneuve's nach den Antillen steuere; gaben der Aufenthalt Villeneuve's in Ferrol, die Kämpfe von Rochefort und Brest Nelson nicht Zeit, von Westindien zurück­

zusegeln, Villeneuve zu erreichen, so mußte doch die durch den neuen Operationsplan vorgeschriebene Umsegelung der brittischen Inseln den Eng­ ländern unzweifelhaft Frist gewähren, alle ihre Flotten im Kanal zu ver­

einigen, bevor Villeneuve den Texel erreichte.

Die Grundlage des ganzen

Entwurfs fiel damit zu Boden, das Gelingen bei solcher Verzögerung wurde so gut wie unmöglich.

Napoleon blickte in diesen Julitagen nicht nur auf den Ocean.

An

demselben Tage, an dem er jenen Befehl an Villeneuve diktirte, wies er

seinen Stellvertreter in Italien, den Vicekönig Eugen an, mit der Verproviantirung der italienischen Festungen zu beginnen und dieselbe der­

gestalt anzuordnen, daß sie bis Ende September vollendet sei; die ita­ lienische Armee (er hatte diese seit April successiv verstärkt) allmählig zu vereinigen (16. Juli); St. Chr in Neapel Verstärkung zu senden, damit

sich dieser im gegebenen Moment dort auf die Hauptstadt stürzen könne.

In Frankreich dirigirt er die schwere Kavallerie, die gesammte Infanterie, die an dem Uebergang nicht Theil zu nehmen bestimmt ist, nach Mainz. Wegen anderweiter Besetzung Hannovers werden gleichzeitig Unterhandlungen mit

Preußen eingeleitet; für den Fall der Verwendung des dortigen Okkupationscorps an der Donau war Ersetzung desselben geboten, wenn Hannover

England nicht wieder in die Hand fallen sollte.

Noch vor dem Ende des

Monats folgte das Angebot Hannovers an Preußen gegen den Abschluß

einer Allianz mit Frankreich.

Daß diese Allianz Oesterreich zurückhalten,

dem Festlande den Frieden bewahren werde, lag nahe genug zu versichern,

wenn eS nicht überdies durch Hardenberg an die Hand gegeben worden

wäre. Kam es noch zum Uebergang, so konnte Preußens Uebertritt zu Frankreich allerdings für die Hemmung Oesterreichs nützlich und wirk­

sam sein. Am 26. Juli ersah Napoleon auS den englischen Zeitungen,

daß

Villeneuve in den ersten Tagen des Juni Martinique verlassen habe,

aber zugleich hatte er ihnen die höchst fatale Nachricht zu entnehmen, daß der durch Nelson von den Antillen entsendete CuriouS am 9. Juli in

England gelandet sei. zu treffen.

Man war demnach dort in der Lage, Gegenanstalten

Er nahm an, daß Magon Villeneuve bei Martinique nicht mehr

erreicht habe, daß Villeneuve der früheren Instruction gemäß auf Cadix steuern. Er sandte ihm dorthin Befehl, die dort inzwischen gerüsteten Schiffe

an sich zu ziehen, aber nicht länger als vier bis fünf Tage dort zu verweilen, sich dann nach Ferrol, von da mit den dortigen Schiffen vereinigt gegen

Brest zu wenden, danach im Kanal zu erscheinen.

Die Eskadre von

Rochefort fei inzwischen selbständig ausgelaufen (am 18. Juli), Villeneuve

werde sie in Cadix treffen, wohin dieselbe befehligt sei.

Bon der Um­

segelung Irlands und Schottlands ist in diesem Befehl vom 26. Juli nicht

wieder die Rede. Lucchesini berichtet am 2. August nach Berlin:

Die Zeitungen in-

juriiren Oesterreich und Rußland, es scheint, daß Napoleon den Krieg pro­ vociren will.

In Boulogne angekommen, erläßt Napoleon von hier auS

am 3. August eine höchst kategorische Aufforderung an Oesterreich: abzu­

rüsten; unmotivirte Zusammenziehungen an den Grenzen deS Nachbars

kämen

in

aller

4. August nach

Welt

einer

der

Kriegserklärung

großen Revue

über

gleich,

während

die Armee

er

am

von England

Decrös schreibt: „die Engländer wissen nicht was ihnen am Ohr hängt". Tallehrand aber sagt er:

„Mit der Note vom 3. hat das Drama be­

gonnen"; und seine Minister versicherten Lucchesini, der Krieg gegen Oester­

reich sei beschlossene Sache (6. August), der Kaiser werde unverzüglich 100,000 Mann von Boulogne nach Straßburg führen (9. August).

Am

siebenten August brachten die englischen Zeitungen Napoleon die ersten Nachrichten von Villeneuve's Kampf bet Vigo. wenigstens keine

Er sah, daß seine Flotten

Niederlage erlitten hatten, was dann am folgenden

Morgen (8. August) Villeneuve's Bericht aus Vigo bestätigte. Ziel, die spanische Küste, war erreicht.

Das nächste

müssen Napoleon die Aussichten auf weiteres Gelingen

Dennoch

seiner Flotten nicht glänzend erschienen sein.

Jeden Falls lag vor, daß

die Engländer vorbereitet und auf der Hut waren; es stand nicht fest, daß die Deblockirung Ferrols Nelsons Eskadre zu

gelingen werde, jeden Augenblick konnte

Calders Schiffen stoßen, ihrer Vereinigung war

Villeneuve kaum gewachsen.

Tags zuvor, am siebenten August, war Na­

poleon der Vorschlag Oesterreichs zugegangen: an die Stelle der Unter­ handlung NowosiltzoffS eine allgemeine Verhandlung über die Fragen treten zu lassen, welche Europa beunruhigten.

Lag Napoleon daran, den Krieg

auf dem Festlande hintanzuhalten, Frist für den Uebergang zu gewinnen,

so mußte er den Vorschlag Oesterreichs mit beiden Händen ergreifen. einer scharf gefaßten Note ließ

er ihn sofort zurückweisen.

In

Er befahl

BessiöreS: den Theil der Garde, der noch in Paris stand, nicht nach Boulogne abmarschieren zu lassen, ihm den General Dessolles zu senden, der

Moreau'S Stabschef im Donaufeldzuge deS JahreS 1800 gewesen war (8. August).

An der Pariser Börse sanken die Curse, seitdem sich hier

in den letzten Tagen deS Juli die Meinung verbreitet hatte, der Ueber­ gang solle tn'S Werk gesetzt werden.

„Beruhigen Sie die Geldleute. mit Sicherheit geschehen kann.

Napoleon schreibt Barbs MarboiS:

Es wird nichts gewagt werden, was nicht Meine Angelegenheiten stehen zu gut,

um Ruhe und Glück meines Volkes zu vielen Zufällen preiszugeben.

werde landen,

aber ich werde nur unter allen

Ich

angemessenen Chancen

landen." Villeneuve'S glückliche Ankunft in Ferrol vernahm Napoleon durch dessen Bericht vom 2. August, den er am 11. August empfing.

Es war

ein guter, anscheinend doch höchst hoffnungsreicher Schritt Wetter zur Er­ füllung des großen OperationöplanS. Zugleich zeigte Lauriston, Napoleon'S

Adjutant, den er Villeneuve beigegeben, an, daß „dieser fortfahren werde,

wie er begonnen."

Gravina schrieb freilich dem Minister Decrss: „Wir

haben eine sehr langsame Ueberfahrt gehabt; eS sind 60 Tage ver­ flossen, seitdem wir Martinique verlassen.

Der Feind hat sich ralliirt;

wir werden angegriffen, wenn wir auslaufen; selbst wenn wir siegten,

haben wir vor Brest noch ein Mal zu schlagen (3. Aug.)".

Napoleon muß die Aussichten für das Erscheinen der Flotten im

Kanal nicht minder unsicher und nicht minder ungünstig angesehen haben wie der spanische Admiral; er muß wie dieser angenommen haben, daß

die englischen Flotten vor Ferrol vereinigt seien; er sagt am Tage nach

der Ankunft dieser Berichte Tallehrand: Wenn die Oesterreicher nicht Tirol verlassen, so fange ich Krieg an (12. August), und eröffnet

ihm sodann:

„DaS mit unserer Note vom 3. August begonnene Drama

ist mit der Note vom 7. August fortgesetzt worden, die dritte Note muß eS zum Schluß bringen.

Mein Entschluß ist gefaßt, ich will Oester­

reich angreifen und im November in Wien sein.

Sagen Sie

Philipp Cobenzl, ich hätte die Feindseligkeiten gegen England bereits sus-

pendirt; ich ginge nicht mit 150,000 Mann nach England, so lange Oester­

reich gerüstet sei.

Oesterreich müsse binnen vierzehn Tagen

abrüsten,

binnen vierzehn Tagen seine Truppen auS Tirol und Venetien zurück­ ziehen (13. August)." An CambacöröS, dem am weitesten in seine Geheim­ nisse Eingeweihten schreibt er desselben TageS: entwaffne Oesterreich nicht, so werde er ihm eine Visite mit 200,000 Mann machen.

Der Würfel war geworfen. sprechen ließ, war der Krieg.

Die Sprache, die Napoleon Talleyrand

Talleyrand übergab die Note am 14.; der

Termin war demnach vor Ende August abgelaufen.

Daß Oester­

reich auf dies Commando abrüsten werde, war Napoleons Meinung nicht;

die Antwort, so sagt er selbst, „wird uns nur schöne Phrasen bringen." Lucchesini berichtet, die Officiere in den Lagern von Boulogne sprächen

nur noch vom Marsch nach Deutschland, die Corps seien eingetheilt, die

Befehlshaber ernannt (16. August). In der That hatte Napoleon am 13. August mit dem Seekriege, dem

Uebergang nach England gebrochen und sich an den Landkrieg gegen Oester­

reich gebunden — um so auffälliger der Befehl, den er desselben Tages an Villeneuve nach Ferrol erläßt.

Einigen Lobsprüchen für die Schlacht

vor Vigo folgt die Weisung: auszulaufen und den Feind dreist anzu­

greifen, wenn er nicht stärker als 24 Linienschiffe sei. dieser Befehl

werde den Admiral nicht mehr in Ferrol

äußerster Spannung erwarte

er ihn im Kanal.

Er hoffe,

finden; mit

„Wenn Sie nur drei

Tage, nur 24 Stunden hier erscheinen, ist die Macht vernichtet, die Frank­

reich seit sechs Jahrhunderten unterdrückt."

Den Marineminister wies er

an: „Villeneuve Vorwürfe darüber zu machen, daß er eine kostbare Zeit in Ferrol verliere", so wie über allerlei Nebendinge, die der Admiral auf

den Antillen versehen haben sollte, worauf es jetzt am wenigsten an­ kommen konnte.

Welchen Sinn hatte dieser Befehl, der frühstens am 22. August in Ferrol sein konnte? Daß Napoleon in der That glaubte, der Befehl werde

Villeneuve dort noch antreffen, geht nicht sowohl daraus hervor, daß er ihn dorthin schickte, als daraus, daß derselbe die Weisung enthält, zur Erzwingung der Ausfahrt zu schlagen, wenn der Feind nicht mehr als 24 Schiffe zähle.

Nelsons und Calders Flotten vereinigt, zählten mehr als 24 Linienschiffe.

Napoleon kannte die Zahl genau, er sagt Decr^S am 14. August: wenn

sie auch vereinigt wären, würde der Mangel an Proviant sie bald wieder

Was konnten ihm Villeneuve'S Auslaufen, und

zur Trennung nöthigen.

feine möglichen Erfolge noch nützen, nachdem er sich für den Krieg gegen Oesterreich gebunden? Die Oesterreich gestellte Frist lief am 28. August

ab; Villeneuve konnte, wenn er nach Empfang des Befehls augenblicklich auslief, die feindlichen Flotten angriff — vorausgesetzt, daß sie nicht über

24 Segel zählten — wenn er sie schlug, so glücklich schlug, daß er keine

Havarieen auSzubessern hatte, nicht vor Mitte September vor Brest er­ scheinen, wo dann alles noch ein Mal vom Ausgange der neuen Schlacht

abhing, die er hier gegen CornwalliS, dessen Blockadegeschwader voraus­

sichtlich durch die Flotte

von Spithead verstärkt war, wenn nicht auch

Calder und Nelson zur Stelle waren, zu schlagen hatte, abhing.

That­

sächlich lagen die Dinge so, daß Nelson sich nicht mit CalderS Flotte ver­ einigt hatte (Calder hatte das Commando wegen nicht ausreichenden Erfolgs

bei Vigo an Collingwood übergeben müssen), er war in richtigem Gefühl, an der entscheidenden Stelle sein zu müssen, von Gibraltar aus direkt

nordwärts gesteuert, und vereinigte sich am 15. August auf der Höhe von Oueffant mit der Flotte des Lord Cornwallis. Napoleon mag überrascht gewesen sein, daß am 20. August eine Meldung Villeneuve'S in Boulogne eintraf, welche anzeigte, daß er bereits am 11. August mit 29 Linienschiffen ausgelaufen sei.

Der Bericht Lau-

ristons meldete positiv: „wir gehen nach Brest".

Dem Marinemtnister

sagte Villeneuve: er kämpfe gegen den Nordwind.

„Meine Schiffe segeln

schlecht, wir werden viel zu thun haben, wenn wir zwanzig Linienschiffen

begegnen.

Nelsons und Calders Geschwader scheinen vereinigt zu sein.

Ich weiß noch nicht, was ich thun werde.

Gelange ich nach Brest, so muß

ich dort wieder Lebensmittel einnehmen."

Villeneuve war ausgelaufen, ohne den Feind vor dem Hafen zu

finden, er war auf der Fahrt nach Brest.

Napoleon sah sich wieder auf

den Seekrieg, auf den Uebergang nach England gewiesen.

Ganteaume er­

hielt Befehl, sich zum Auslaufen und zur Unterstützung Villeneuve'S be­

reit zu halten, als am 22. August ein weiterer Bericht auf der Höhe von Kap Ortegal am

13. August von Villeneuve erstattet,

einlief:

eS sei

gegen den Nordwind nicht vorwärts zu kommen, zugleich bringe ein Handelsschiff die Nachricht, daß 25 feindliche Schiffe gegen ihn heran­

segelten (die Nachricht war falsch).

Er werde unter diesen Umständen die

Fahrt nach Brest kaum fortsetzen können; eS sei möglich, daß er sich nach

Cadix wenden müsse.

In Besitz dieses Berichts verlangt Napoleon die

Meinung seines Marineministers, was zu thun sei, wenn Villeneuve in

Cadix bleibe; seines Erachtens würde er dort Lebensmittel einnehmen, die spanischen inzwischen zu Cadix und Karthagena gerüsteten Schiffe an

sich ziehen können, um dann mit diesen tm Kanal zu erscheinen.

Erwiderung Decrös' kannte er im Voraus:

Die

Zwei Monate Lebensmittel

seien zu wenig, d'Estaing'S Eskadre habe 70 bis 80 Tage von Cadix nach Brest gebraucht.

Die Herbststürme nahten, eS sei zu spät im Jahre,

daS Projekt demnach zu verschieben. Napoleon hatte eS bereits aufgegeben, wenn er auch noch am 22. August

Ganteaume die Weisung

geschickt hat,

den Befehl über Villeneuve'S

Flotte zu übernehmen, Falls er nach Brest komme.

Er wartete nicht auf

die Kunde, ob Villeneuve Brest oder Cadix erreicht habe; er warf feine

Armee an die Donau.

Die Oesterreicher ahnen nicht, -sagt er Tallehrand,

wie schnell meine 200,000 Mann pirouettiren werden (25. August).

Er

hatte den Uebergang bereits am 7. August aufgegeben, als er die Unter­

handlung

welche Oesterreich

vorschlug, ablehnte und den

Marsch der

Garden nach Boulogne inhtbirte, d. h. am 7. und 8. August.

Er hatte

ihn aufgegeben, sobald ihm der Kampf bet Vigo gezeigt hatte, daß die

Engländer Vorkehrung gegen die Vereinigung, seiner Flotten getroffen, daß

ein überraschendes Erscheinen derselben im Kanal nicht mehr zu erwarten war. Immerhin konnte ein außerordentlicher Glücksfall eintreten.

Auf ein falsch

verstandenes Signal: die Flotten kämen, (die englischen waren gemeint)

waren noch ein Mal 60,000 Mann an Bord der Flotille gegangen*).

Je

länger er am Kanal verweilte, je tiefer er in dies Projekt verwickelt schien, um so überraschender konnte er die Armeen Oesterreichs treffen.

Mit

den Truppenmärschen zu eilen hatte er keinerlei Grund, er wußte sehr gut, wie sehr Oesterreich in der Rüstung zurück war und je weiter, je dreister

die österreichische Armee gegen den Rhein herankam um so gewisser war er im Vortheil.

Die Dinge waren gegangen, wie sie mußten.

Auf den Uebergang

durch seine Drohungen, durch die Meinung Frankreichs, durch seine Lage, durch die Unmöglichkeit England anders zu treffen hingedrängt, hatte er

daneben von vorn herein den Ausweg des Continentalkrieges vorbereitet

und festgehalten.

Je näher er der Ausführung deS UebergangS kam, um

so deutlicher zeigte sich, welche unübersehbare Gefahren hier

zu über­

winden, wie unsicher der Erfolg war, — wie viel leichter, wie ungleich gefahrloser der andere Weg war,

wie viel sicherere Erfolge der höchst

sorgfältig vorbereitete Krieg gegen Oesterreich bot. krieg über den Uebergang davon.

So ttug eS der Land­

Aber der Verzicht auf den Uebergang,

das Aufgeben eines so prahlerisch verkündeten Unternehmen-, an welchem dritthalb Jahre ununterbrochen gearbeitet worden war, *) Lucchesini'S Bericht vom 30. August.

der vergebliche

Aufwand so immenser Anstrengungen von Hunderttausenden, der vergeb­

liche Aufwand so vieler Millionen durften dem Kaiser nicht zur Last fallen.

Die zureichendste Deckung deS Kaisers war erreicht, wenn der Flottenführung die Schuld, die ganze Schuld zugeschoben wurde; jeder Vorwurf glitt am

sichersten von Napoleon ab und fiel mit erdrückender Schwere auf den unglücklichen Admiral, wenn man denselben mit der äußersten Ungeduld,

mit athemloser Spannung bis zum letzten Augenblick, bis zur Grenze der Möglichkeit erwartet zu haben schien.

Diesem Zwecke dienen alle nach

dem 7. August an Villeneuve, Ganteaume und Decrös erlafienen Befehle, die fingirten Zornausbrüche gegen Villeneuve.

Das ist die Wahrheit der Legenden, die bei Bignon, bei Thiers, bei Sögur zu lesen sind.

Die schönste derselben: wie Napoleon als er

erfahren, daß Villeneuve in Ferrol sei, in großartiger Anstrengung den

wildesten Zorn bezwungen, Dar» befohlen habe, die Feder zu ergreifen und nun in Einem Zuge den Feldzugsplan gegen Oesterreich diktirt habe;

auf Tag und Stunde wie in diesem vorgesehen, sei die große Armee in München und Wien gewesen — diese Fabel bedarf am wenigsten der Wider­

legung.

Napoleon

widerlegt.

Napoleons Befehle wiesen Villeneuve nach Ferrol. selbst die Gläubigen der englischen

Expedition

Zudem hat sehr

scharf

Nach Metternichs Versicherung sagte er diesem im Mai 1810:

„Niemals wäre ich thöricht genug gewesen, die Landung in England zu

unternehmen; den Fall allein ausgenommen, daß eine Revolution in Eng­ land ausgebrochen wäre.

gegen Oesterreich.

Die Armee von Boulogne war stets die Armee

Ohne Verdacht zu erregen, konnte ich sie nirgend an­

ders plactren, irgendwo mußte sie formirt werden: in Boulogne erfüllte

sie den doppelten Zweck, vereinigt zu sein und England mit Besorgniß zu erfüllen.

Kam es dort zu einem Aufstand so hätte ich ein Detaschement

meiner Armee zu dessen Unterstützung hinübergeworfen und wäre Euch

nicht weniger auf den Hals gefallen; meine Armee war für diesen Behuf echelonntrt (Memoiren 1, 45)." ES ist nicht die ganze Wahrheit, die Napoleon in diesen Worten

ausgesprochen hat.

Nicht ganz frei in das Projekt des Unternehmens ein­

getreten, hat er sich allerdings von vorn herein einen Ausweg vorbereitet;

je weiter er in den Vorbereitungen zum Uebergang kam, um so größere Dimensionen schienen erforderlich, um so schwieriger erschien daS Gelingen. Fest stand aber, daß der neue Kaiser nicht scheitern durfte, wenn er Kaiser

bleiben solle.

So wurde schließlich alles auf einen großen GlückSfaü, auf

die Vereinigung der Flotten im Kanal gestellt.

Als dessen Eintreten höchst

unwahrscheinlich wurde, hat Napoleon keines Wegs ungern auf den Ueber­ gang verzichtet, um den wohl vorbereiteten sicheren Erfolg an die Stelle

241

Die Landung in England.

des unsichersten, verwegensten WagniffeS zu setzen.

Die Schuld der Unter«

lassung fiel auf den Admiral. Auch ThierS, trotz Allem was er in der Darstellung des UebergangSprojelleS zur Glorificirung feines Helden aufzuwenden für nöthig befunden

hat, ist die Wahrheit nicht verborgen geblieben.

sich selbst aufS Gründlichste widerlegt, auS:

Er spricht sie, indem er

„ES gab zwei Wege, sagt

er (5,40), England zu überwältigen, der eine sich Brust an Brust mit ihm

im Kanal zu soffen, der andere Englands Alliirten auf dem Kontinente zu zerschmettern.

Im Grunde war der zweite Weg leichter, er schien sicherer

und wenn weniger direkt doch nicht minder wirksam." poleonS Meinung.

Das war auch Na«

Er hat jenen nicht beschritten, er hat den scheinbar

leichteren vorgezogen; daß er der wenigst sichere war, hat der AuSgang

bewiesen.

Max Duncker.

Die irische Landftage. Bon

Ludwig Freiherrn von Ompteda.

Seit den letzten fünf Monaten bietet uns Irland ein Schauspiel

welches wohl in jedem anderen zivilisirten Lande seines Gleichen sucht.

In vielen Theilen der Balkaninsel ist zwar die Sicherheit für Leben und Eigenthum nur unvollkommen, aber selbst in diesen Außenschlägen euro­ päischer Kultur giebt eS doch keine allgemeine organisirte Verschwörung zu dem ausgesprochenen Zwecke: das Gesetz deS Landes mit Füßen zu

treten. In Irland befindet sich eine solche Verschwörung seit dem vorigen

Sommer in erfolgreichster Thätigkeit. „Das englische Gesetz ist gebrochen!" so sagt jetzt mit Stolz der irische Bauer im Süden und Westen, in einem großen Theile des Ostens und

auch bereits in einigen nördlichen Districten der Insel.

Dieses „englische Gesetz" bedeutet vor allem:

die Gesammtheit des

geltenden Rechtes über Grundbesitz und Pachtverhältnisse. Beide Institute haben dort eine völlig eigenthümliche Entwickelung

genommen, die bereits vor Jahrhunderten begonnen hat und heute noch nicht zum Abschlusse gekommen ist.

Bei dieser Entwickelung wirken eine

Reihe verschiedenartigster, treibender und hemmender Momente mit:

Geschichte Irlands

die

als eines eroberten Landes, seine Behandlung als

eine englische Kolonie, die Rassenverschiedenheit zwischen Engländern und Iren, die ftühere politische Stellung beider als Herrscher und Beherrschte,

ihr religiöser Gegensatz als Katholiken und Protestanten. Für eine Erörterung der, jetzt wieder brennenden irischen Landfrage ist eS daher wohl nicht unzweckmäßig, meinen Lesern zunächst einige An­

gaben auS der Geographie des Landes ins Gedächtniß zurückzurufen und ihnen dann eine kurze Skizze jener älteren geschichtlichen Hergänge vorzu­

führen.

Denn beides muß

man sich vergegenwärtigen um die jetzige

Lage der dortigen Dinge zu verstehen.

I.

Etwa- irische Geographie. Wenn man sich die Oberfläche der Grünen Insel als ein Oval vor­ stellt, dessen Spitzen nach Norden und Süden weisen und dessen Länge sich

zur Breite wie 5:2 verhält, wenn man dann über diese- Oval ein lie­ gende- Andreaskreuz zieht, so fallen in die vier Au-schnitte ziemlich zu­

treffend die vier Provinzen Irland-.

Im Norden: Ulster; im Osten,

am irischen Kanal«: Leinster; im Süden: Munster; im Westen, am atlanti­

schen Ozean: Connaught.

Jede dieser Provinzen zerfällt in mehrere Graf­

schaften. Die Bevölkerung der Insel beträgt etwa- mehr al- 5*/3 Millionen

Davon sind etwa 4V, Millionen Katholiken, 700,000 Anglikaner,

Seelen.

500,000 schottische Presbyterianer, 65,000 verschiedene Dissenter.

Der

Flächengehalt Irlands Beträgt etwa 1500 geographische Quadratmeilen oder 8 Millionen Hektaren.

Hievon sind nicht anbaufähig.................. 0,9

Mill. Hektaren — 2,5Mill.

Acres

anbaufähig, aber nicht angebaut

1,9





— 4,75





Wiesen und Weiden....

2,8





—7









—6





Ackerland.............................. 2,4

In Prozenten ausgedrückt betragen: Wiesen, Weiden undSümpfe

....

50 Prozent

Ackerland............................................................... 25



Wald....................................................................... 1



Torfmoore..........................................................13



Wasserflächen........................................................... 5



Städte und Ortschaften.....................................6



Die Bodenbildung Irlands ist eine wellige Tiefebene, mit Seen, Sümpfen und Torfmooren.

Nur. im Westen, namentlich in der Provinz

Connaught erheben sich steile nackte Felsgebirge.

wöhnlich reich an natürlichen Wasserstraßen.

Das Land ist unge­

Es enthält etwa 150 Quadrat­

meilen Torfmoore, bedeutende Steinkohlenlager und reiche bauwürdige Erzgänge. Das Klima der Smaragdinsel ist sprichwörtlich:

naß und kühl.

Im Süden und Westen steigt der durchschnittliche jährliche Regenfall bis

zu 50 englischen Zollen (130 Centimeter); im nördlichen und östlichen Theile beträgt er gegen 35 Zoll (79 Centimeter). nur 20 Zoll (52 Centimeter).

keit gesättigt.

Im östlichen England

Die Atmosphäre ist fast stets mit Feuchtig­

ES fehlt das heiße Sommerwetter, dagegen' auch die Winter­

kälte; das ganze Jahr hindurch herrscht eine durchschnittliche Frühlings-

Die irische Landfrage.

244

Die vorwaltenden Südwestwinde sind sehr heftig.

temperatur.

Obst geräth nicht da das Holz nicht reift.

Edleres

Dagegen überwintern im

Süden die Agaven und Kamelien, Myrthen und ArbutuS im Freien.

Der Weizen geräth nur sehr ausnahmsweise in Irland; er giebt

viel Stroh aber leichtes schlechtes Korn.

namentlich auf kräftigem Boden. baut.

Auch der Hafer ist mislich,

ES wird fast nur schwarzer Hafer ge­

Dagegen ist das Klima vorzüglich geeignet für Gras und alle

Den Kartoffeln ist eS bekanntlich bereits seit einer

Futtergewächse.

Reihe von Jahren verderblich geworden.

Der Boden leidet fast überall

an Nässe; im Untergründe steht Torf. Diesen natürlichen Verhältnissen entsprechend ist die GraS-

und

Viehwirthschaft in Irland sehr verbreitet und gewinnt fortwährend an Ausdehnung.

Hierauf drängen zudem in neuester Zeit die hohen Vieh-

und Futterpreise, die niedrigen Kornpreise, die Auswanderung und die Steigerung der Arbeitslöhne in vielen Gegenden, mehr und mehr hin.

ES wuchsen im Jahre:

1857.

1873.

Getreide, Kartoffeln und Futter im Wechsel auf

2,8 Mill. 1,9 Mill. Acres

GraS auf

13 19 4^1Dr'ill73^8'Mill. Acre«.

Kartoffeln wurden gebaut: 1858:

auf.............................1,16 Millionen Acres

1873:

auf....................... 0, 9

Nur im Nordosten und Osten der Insel ist daS Klima dem Ackerbau

günstiger, indem dort die sogenannten ewigen Weiden nicht auSdauern. Die Viehbestände werden angegeben zu: 500,000 Pferden; 4 Mill.

Stück Rindvieh; 4,2 Millionen Schafe; 1,2 Millionen Schweine.

Ihr

Gesammtwerth wird geschätzt auf 40 Millionen Pfd. Sterling. Erheblich ist nur die Leinenindustrie; sie existirt nur im Norden, in und um Belfast: 930,000 Spindeln und 80,000 Stühle. —

II. Rückblicke auf Irlands Geschichte.

Die ersten feindlichen Berührungen zwischen England und Irland

fanden bereits im Jahre 1169 statt.

Zu dieser Zeit zerfiel die Insel

in fünf Königreiche nebst einem Oberkönige für Krtegszeiten.

In diesen

fünf Reichen lebte die keltische Bevölkerung unter der Herrschaft einer Unzahl von kleinen Häuptlingen.

Hader und Fehde gehörte zu den ver­

fassungsmäßigen Institutionen des Landes.

Endlich rief ein vertriebener

Reichsfürst, der König von Leinster — er hatte die schöne Frau seines Nachbars entführt — die Intervention des Königs von England, Hein-

rrchS II an.

Dieser besaß allerdings bereits einen Rechtstitel auf die

Insel.

Eine päpstliche Bulle hatte ihn im Jahre 1156 mit Irland be­

lehnt.

Nach heftigen Kämpfen befestigten sich die Engländer im östlichen

Theile der Insel.

Ihr Gebiet nahm in den folgenden Jahrhunderten

abwechselnd zu und ab.

Unter Heinrich VII, im Anfänge des sechszehnten

Jahrhunderts, war der Bestand auf dem niedrigsten Punkte angekommen. Unter Heinrich VIII und Elisabeth machte die Eroberung der Insel wieder reißende Fortschritte und kurz nach der Thronbesteigung Jakobs I (1603) erschienen die beiden letzten besiegten Häuptlinge von Ulster, O'Donnel und

O'Neil in Whttehall um ihrem Oberherrn zu huldigen.

Die Unterwerfung Irlands war nur durch die wildeste und rück­ sichtsloseste Grausamkeit erzwungen worden, durch Massenmord und Hun-

gerSnoth.

„Die Ernten wurden Jahre lang systematisch zerstört; die

Menschen lebten von Feldkräutern; man fand Haufen von Leichen deren Mund grün war von ihrer letzten Nahrung: Nesseln und Sauerampfer; viele Gegenden, namentlich der Süden, waren beinahe vollständig ent­ völkert."

Der vierhundertjährige Kriegszustand hörte jetzt auf.

ES war den

Engländern ferner nicht mehr verboten: „Irländerinnen zu heiraten, ihre

Kinder von den Frauen irischer Häuptlinge und Gutsherren säugen zu lassen, und den Irländern englische Waaren zu verkaufen." Jedoch wurde Irland auch ferner ganz offen wie ein erobertes, erst

zu kolonisirendeS fremdes Land behandelt.

Alle alten nationalen Ein­

richtungen waren geschwunden. Die englischen Kolonisten hatten zwar ein Parlament in Dublin, die Beschlüsse desselben mußten jedoch, nach der

PoyningS- Akte, vorher durch den Geheimen Rath in London genehmigt

sein.

Die englische Gesetzgebung wurde über ganz Irland erstreckt.

Dem­

nach waren die englischen Kolonisten allerdings nur Engländer „zweiter

Klasse", aber sie konnten sich ohne den Schutz des Mutterlandes nicht

halten.

„Sie entschädigten sich", sagt Macaulay „indem sie die Einge­

borenen unter ihre Füße traten."

Die gesammte Verwaltung war in den

Händen geborener Engländer oder englischer Kolonisten;

tischen Bevölkerung ingrimmig verhaßt.

beide der kel­

Unter Elisabeth waren etwa

600,000 AcreS, unter Jakob I etwa 800,000 Acres Land confiözirt und in englische Hände übergegangen. —

Uebrtgens hatte eine Königliche Verordnung im Jahre 1612 alle Stammes unterschiede zwischen Engländern und Irländern abgeschafft

„in der Absicht, daß sie in ein Volk zusammenwachsen, wobei aller frühere Hader und alle Zwietracht zwischen ihnen gänzlich vergessen und vertilgt werden solle". —

Die englischen Herrscher suchten die neue Reformation der eng­

lischen Kirche auch in Irland durchzuführen.

Die Irländer jedoch blieben

Die Ursache dieser Standhaftigkeit war nur

ihrem alten Glauben treu.

zu einem Theil ihre unentwickelte Kultur. Als wir Deutsche Protestanten wurden

standen wir zugleich gegen die römische Fremdherrschaft auf.

Die verhaßten Fremdherren der Irländer aber waren die protestantischen

TudorS.

Früher kämpften Kelten gegen Sachsen, jetzt auch noch Katho­

liken gegen Protestanten.

ES war ein ReligionS- und Rassenhaß.

Mit

den Irländern vereinigten sich viele alte englische Kolonisten die irisch

geworden waren und sprachen; sogenannte „degenerirte" Engländer. ,Die Sieger entrissen der alten Kirche ihr gesammteS Vermögen und statteten da­ mit eine zahlreiche protestantische Hierarchie von 4 Erzbischöfen, 18 Bischöfen

und vielen Pfarrern ohne Gemeinden aus.

Dabei blieb es.

Eine Be­

kehrung der Besiegten durch Belehrung wurde nie ernstlich versucht. Die Bibel wurde nicht in die Landessprache übersetzt. —

Nach wenigen Jahren brach ein blutiger Aufstand in der nördlichsten Provinz Irlands, in Ulster auS.

Die großen Besitzungen der rebellischen

Häuptlinge O'Neil und O'Donnel nebst ihren Gefolgschaften wurden ein­ gezogen, die Eingeborenen starben und verdarben.

mit Tausenden protestantischer,

Bald

war Ulster

englischer und schottischer, Einwanderer

bevölkert.

DaS Land bekam jetzt wieder ein Parlament. zig geschlossenen Burgflecken das Wahlrecht.

Jakob I. verlieh vier­

In jedem wählten die Ge­

meindevorstände, bestehmd auS dreizehn Protestanten, je zwei Abgeordnete

zum irischen Unterhause. — Im Jahre 1641 befand sich der König Karl I in der Vorbereitung zum Kampfe mit seinem Parlamente. auch in Irland.

der

Der Funken der Rebellion zündete

Die Veranlassung dazu gab die Thätigkeit eines von

englischen Regierung niedergesetzten „Ausschusses zur Untersuchung

mangelhafter Ansprüche". Der König konfiSzirte durch diesen Gerichtshof in drei Landschaften über zwei Millionen Acres Land.

Die erkennenden

Richter erhielten Sporteln: vier Schillinge von jedem Pfund Sterling des Werthes aller Ländereien die sie der Krone zusprachen.

Der damalige

Regent von Irland, Lord Strafford, rühmte sich öffentlich dieser praktischen

Maßregel.

„Er habe auf diese Weise die Richter dahin gebracht: die

Sache zu betreiben als wäre sie ihr eigenes persönliches Geschäft." Darauf brach der Bürgerkrieg auS.

In Ulster sollen damals binnen

vierzehn Tagen 20,000 Engländer ermordet sein.

Da die protestantischen

Sachsen sich auf die Seite des Parlaments stellten, so vergaßen die kel­

tischen Katholiken alle Unbill die der König ihnen soeben noch angethan

und hingen seiner verlorenen Sache mit verzweifelter Beharrlichkeit an. Nach seinem Tode (1649) übertrugen sie ihre Treue auf Karl II. Im Jahre 1650 erschien Cromwell selbst in Irland und unterwarf

binnen wenigen Monaten die ganze Insel so vollständig wie sie noch nie­ mals in den Kämpfen mehrerer Jahrhunderte unterworfen gewesen war.

Er schlug die Iren mit der Schärfe des Schwertes wie einst Israel die Kanaaniter.

Ganze Städte wurden öde und wüst.

Dann verschiffte er

gegen 80,000 Menschen nach den westindischen Inseln. entflohen auf den Kontinent.

Viele Tausende

Alle irischen Katholiken sollten nach Con-

naught (im Westen der Insel) und nach Clare (im Südwesten) zusammen­ gedrängt werden.

DaS geräumte Land wurde abermals mit kalvinistischen

Sachsen bevölkert. —

Karl II (1658—85) befahl ein Kompromiß zwischen seinen früheren

rebellischen englischen Unterthanen in Irland und zwischen seinen getreuen

katholischen Irländern, wonach die „ Cromwellianer" ein Drittel ihres Besitzes den früheren Eigenthümern wieder herausgeben mußten.

Die

anderen zwei Drittel wurden ihnen dagegen durch Parlamentsakte gesetzlich garantirt. (Act of Settlement 1660.) Die Ausführung dieser Maßregel war eine äußerst willkürliche.

Unter anderem fielen dabei für den Herzog von

Aork (später Jakob II) 80,000 Acres ab, welche die irischen Katholiken

nicht zurück erhielten.

Der Posten des Lord Lieutenants von Irland wurde

damals auf etwa 40,000 £ jährliche Einkünfte geschätzt. —

Unter Jakob II (1685 bis 1689) bahnte sich eine Umwälzung des Verhältnisses zwischen den beiden Bevölkerungen Irlands an, welche zu­

nächst den Katholiken und Kelten für kurze Zeit die Oberhand verlieh, dann aber mit ihrer definitiven Niederwerfung endigte.

Der König wollte,

in seinem kurzsichtigen Fanatismus, sich in Irland eine ergebene recht­

gläubige Macht bilden, um mit dieser dann seiner ketzerischen Gegner in England Herr zu werden.

regeln.

ES erfolgte eine Reihe gewaltsamer Maß­

Die Protestanten wurden, als das Land bereits unmittelbar vor

dem Bürgerkriege stand, durch des Königs Statthalter Lord Thrconnel

entwaffnet; dann wurden sie aus allen Staats- und Gemeindeämtern ver­

drängt.

Etwa sechstausend alte gediente Soldaten wurden auS der irischen

Armee entlassen und durch ungediente katholische Offiziere und Soldaten ersetzt.

Man bedrohete die Protestanten mit Aufhebung der Act of Settle­

ment von 1660, auf welcher ihre Besitztitel beruheten. Durch diese unsinnigen Maßregeln wurden die reicheren, gebildeteren,

standhafteren, zur Selbstregierung erzogenen und auf den starken Rück­

halt im Mutterlande bauenden zweihunderttausend Kolonisten zur Nothwehr

gegen die Million armer, unwissender, halbwilder Eingeborner, unter ihren Prmßisch« Jahrbücher. Bd. XLV1I. Heft 3.

17

Letztere konnten sich

verarmten und verkommenen Häuptlingen, getrieben.

nur auf ihren Rassenhaß und auf die trügerische Parteinahme des schwachen

und falschen Königs stützen. Die Feindseligkeiten begannen in völlig ähnlicher Weise wie wir sie auch jetzt in den

englischen Zeitungen verfolgten.

Brand, Raub und

Plünderung, Mord, Vernichtung der Heerden und — keine Justiz mehr!

Die vom Könige beabsichtigte Umwandlung war im besten Wege und fast vollzogen als — der Prinz von Oranten in Torbah landete (1689) Jakob floh nach Frankreich und die Revolution in Irland brach offiziell auS. Wilhelm III. nahm zwar auch den Titel König von Irland an, aber dieses

Königreich war damals faktisch vollständig von der Oberherrschaft der

dortigen englischen Kolonisten emanzipirt.

Viele vorr diesen waren ent­

flohen; die Zurückbleibenden verschanzten sich in befestigten Landhäusern» Bald jedoch waren die Protestanten im Süden und Westen niedergeworfen.

Im Norden waren sie auf zwei feste Plätze in der Provinz Ulster be­ schränkt : Londonderry und Enniskillen.

Der heldenmüthigen Vertheidigung

dieser beiden Orte ist in der englischen Geschichte eine verdiente Erinne­

rung bewahrt geblieben.

Der jakobitische Lord Lieutenant in Irland griff

jetzt, auf Befehl des Königs in St. Germain, zu den äußersten Mitteln. Er rief die ganze irische Nation zu den Waffen.

Wohl niemals wurde

einem solchen Aufrufe vollkommener entsprochen.

Die Flagge auf dem

königlichen Schlosse in Dublin erhielt das Motto: „Jetzt oder nie! jetzt

und für immer!" Es galt für die „Vier Fünftel" keltischer und katholischer

Einwohner: daS eine Fünftel protestantischer Engländer, welchem „Vier Fünftel" des Landes gehörte, zu vernichten.

Bald standen 100,000 Men­

schen unter Waffen; die kleinere Hälfte von ihnen mittelmäßige Soldaten,

die größere Hälfte Banditen. Die Zerstörung von Eigenthum,

welche

durch

diese Räuberban­

den verrichtet wurde, war unglaublich. Nach dem Bericht des fran­ zösischen Gesandten d'Avaux, der den König Jakob II nach Irland be­

gleitete, wurden binnen sechs Wochen: 50,000 Stück Hornvieh und gegen 400,000 Schafe getödtet. Jetzt erschien Jakob selbst in Irland, auf französischen Schiffen, mit

vierhundert Offizieren und einer Geldunterstützung von 112,000 S.

Der

ordentliche Krieg begann und die jakobitische Armee überschwemmte bald

ganz Ulster. In dieser äußersten Noth zeigten die angelsächsischen Kolonisten ihre bedeutenden Eigenschaften.

„Sie hatten" sagt Macaulay, „alle Fehler und

Tugenden eines herrschenden Stammes.

Sie waren, gegenüber der unter­

worfenen Klasse, hochmüthig unverschämt herrschsüchtig und grausam."

Jetzt kamen ihre guten aristokratischen Eigenschaften zur Entwickelung und Geltung: Unerschrockenheit, Umsicht, Fähigkeit sich selbst zu helfen,

Edelmuth, Zähigkeit des Entschlusses, Aufopferung. Die gemeinsame Noth entwickelte den Egoismus zum Patriotismus. Der Kampf um die beipen festen Plätze dauerte mehrere Monate lang. Inzwischen tagte ein katholische- Parlament in Dublin. ES arbei­

tete mit riesenhafter Energie um die Act of Sentlement und alle EigenthumSwechsel auS dem letzten Jahrhundert ohne jede Entschädigung rück­ gängig zu machen. Eine Proskriptionsliste wurde aufgelegt und bald von den verschiedenen Mitgliedern des Parlamentes mit beinahe dreitausend Namen bedeckt. Prüfung des einzelnen Falles fand nicht statt. Mehr als 2400 protestantische Grundbesitzer verloren damals ihre Güter wieder an Katholiken. Endlich kam Hülfe aus England. Londonderry wurde entsetzt. Ennis­ killen befreite sich selbst durch einen heldenmüthigen Ausfall. König Äakob

zog sich mit seiner Armee nach Dublin zurück und verrieth für seine eigne Person Neigung zu einer weiteren rückgängigen Bewegung auf den Kon­

tinent. Der Marschall Schomberg landete mit einer kleinen englischen Armee in Ulster und deckte den Norden während deS Winters. Im nächsten

Juni (1690) erschien König Wilhelm III selbst mit einem größeren Heere. Er schlug seinen Schwiegervater und die irische Armee am Boynefluß und drang bis in den Süden vor. Im August machte er einen vergeb­ lichen Versuch: Limerick, im äußersten Südwesten, zu erobern und kehrte darauf nach England zurück. Marlborough erhielt den Oberbefehl. Nur über den Westen erstreckte sich noch König Jakobs Gewalt. Am 1. Oktober 1691 kapitulirte Limmerick. Der Civtlvertrag über diese Kapitulation ist für unsere Frage von hervorragender Wichtigkeit insofern, als darin den Katholiken daS Versprechen gegeben wurde: sie sollten in der Ausübung ihrer Religion soviel Freiheit genießen als mit dem Gesetze vereinbar, oder soviel als sie unter der Regierung Karl'S II. genossen hätten. Ferner verbürgte man ihnen den gleichen Schutz deS Gesetzes für ihr Leben und Eigenthum wie jedem andern Unterthan. Zu­

lassung zu öffentlichen Aemtern oder Wahlbürgerrecht war ihnen nicht versprochen. — Damals wanderten 18,000 Jakobiten aus. alle katholischen Höfe und Länder Europas, wo und „O" vor ihrem Namen erkennbar sind. neuem und in Irland war Friede. Mehr als ohne allgemeinen Aufstand. Die Oberherrschaft

Sie verbreiteten sich über sie noch an dem „Mac" DaS Volk huldigte von ein Jahrhundert lief ab der Kolonisten war jetzt 17*

eine absolute.

Sie saßen allein im Parlamente, denn der Suprematseid

und die Erklärung gegen die TranSsubstantiation schloß die Katholiken thatsächlich auS.

Aber dieser Friede war nicht die Ruhe der Zufrieden­

heit.

„Es war" sagt Macaulay, „gänzliche Stumpfheit und Gebrochen­

heit.

DieseSmal hatte der Stoß des englischen Schwertes die Irländer

in's Herz getroffen."

Dennoch klagten die Protestanten bald wieder über

zu große Begünstigung der alten Eigenthümer. Wie wurde nun der Civil-Vertrag von Limerik auSgeführt?

Er wurde fast in jeder seiner Bestimmungen auf das schamloste verletzt. Und zwar systematisch, durch ein vollständiges wohl überlegtes und be­

rechnetes System von Strafgesetzen.

„Die Penal Laws" — so schilderte

sie Burke in seiner leidenschaftlichen Beredtsamkeit — „waren ein Trieb­

werk von kluger und

überdachter Erfindung und so wohl geeignet zur

Unterdrückung, Verarmung und Erniedrigung eines Volkes und selbst zur

Herabwürdigung der menschlichen Natur in ihm, als jemals eines aus dem verderbten menschlichen Scharfsinne hervorgegangen ist".

AuS dem reichen Inhalte dieser Gesetze will ich nachstehende — mir anfangs selbst kaum glaubliche und deßhalb in verschiedenen Quellen sorg­

sam kontrollirte Einzelheiten hervorheben.

1.

Kein Katholik konnte seiner katholischen Ehefrau ein Wttthum

auösetzen, oder letztwillig über sein Grundeigenthum verfügen. setz theilte seinen Landbesitz gleichmäßig unter seine Söhne.

Das Ge­ Wurde die

katholische Ehefrau protestantisch so fiel ihr die Erziehung der Kinder zu und der Mann mußte ihr dafür ein angemessenes Einkommen aussetzen.

2.

Wurde der älteste Sohn eines katholischen Grundbesitzers pro­

testantisch so machte er dadurch seinen Vater zum „gebundenen Nutznießer

auf Lebenszeit".

Der protestantische Sohn wurde unbeschränkter Eigen­

thümer. 3.

Die Katholiken konnten ein Grundstück weder unter Lebenden noch

„von Todeswegen" erwerben.

Wenn ein Katholik ein Grundstück für Geld

gekauft hatte so konnte jeder Protestant ihm dasselbe abnehmen ohne das

Kaufgeld zu erstatten.

4. pachten.

Kein Katholik durfte ein Grundstück auf länger als 31 Jahre

Jeder Protestant konnte ihm diese Pachtung ohne Entschädigung

abnehmen. 5.

Kein Katholik durste ein Pferd besitzen daS mehr als 5 £ werth

war! Jeder Protestant konnte jedem katholischen Eigenthümer jedes Pferd für 5 £ abnehmen!!

6.

bannung.

Kein Katholik durfte Unterricht ertheilen, bet Strafe der Ver­

7.

Jede- Kind welches in Irland eine katholische Schule besuchte

oder im Auslande erzogen wurde, verwirkte dadurch sein gesammteS sub­ jektives EigenthumSrecht und seine Erbfähigkeit.

8.

Keiti Katholik konnte Soldat (geschweige denn Offizier) werden.

Ebensowenig: Richter, Sheriff, Anwalt, Gutsverwalter, selbst Wildhüter. Er konnte nicht Mitglied der politischen Gemeinde sein.

Er hatte weder

aktives noch passives Wahlrecht zum Parlamente (1727). Demnach wurden die irischen Katholiken, nachdem sie systematisch von

den Eroberern ausgeplündert waren, nun ebenso systematisch einer, gesetz­ lich genau geregelten, Verfolgung unterworfen die den Zweck hatte: sie ihrem Glauben abtrünnig zu machen. Die Protestanten besaßen jetzt aus­

schließlich alle Wege zu Ehre und Wohlstand.

Um so inniger klammerten Während 71 nun folgender

sich die Katholiken an ihren Glauben an.

Jahre hatten jene Strafgesetze 4055 Konvertiten geschaffen.

Nach die­

sem Verhältnisse hätte es — wie Arthur Ioung berechnet hat — noch

4000 Jahre gedauert bis Irland auf „dem gesetzlichen Wege" protestan­ tisch geworden wäre.

Warum war der alte Glaube so mächtig? zwischen zwei feindlichen Stämmen bezeichnete.

Weil er die Scheidung

„Er war das Symbol

des NationalgetsteS"; sagt Lecky in seiner Geschichte der Aufklärung. „Sein Fortbestand beweist die Lebenskraft eines politischen (Partei- und Raffen-) Gefühls."

Daher milderte auch der Widerruf dieser Verfolgungsgesetze In keiner

Weise den konfessionellen Eifer der Irländer. — Indessen

gewährten,

sobald

äußerlich Ruhe und Friede hergestellt

waren, die reichen natürlichen Hilfsquellen des Landes rasch die Kräfte für das erneuete Aufblühen. Die Lage der guten westlichen Häfen Irlands in relativer Nähe von Nordamerika entwickelte einen lebhaften Kolonialhandel. — Die englischen

Kaufleute klagten bald über „freie Konkurrenz"! Im Jahre 1663 machte das englische Parlament ein Gesetz, nach welchem keine europäische Ware

in eine englische Kolonie anders importirt werden durfte als aus eng­

lischen Häfen und auf Schiffen, in England gebauet und mit englischer Bemannung.

Nach einer ergänzenden Akte von 1696 dursten keine Pro­

dukte aus anderen Kolonien direkt nach Irland importirt werden. — Seit dem Jahre 1665 war irisches Rindvieh eine steigende Quelle deS Wohlstandes für die Insel geworden.

klagten über „freie Konkurrenz".

Die englischen Rindviehzüchter

Im Jahre 1680 wurde ein Gesetz er­

lassen, kraft dessen aus Irland nach England kein Hornvieh keine Butter

und kein Käse importirt werden dursten. —

Dann verlegten sich die irischen Landwirthe auf die Schafzucht.

In

wenigen Jahren hatte sich eine Wollindustrie entwickelt die zu exportiren begann. Jetzt klagten die englischen Wollfabrikanten über „freie Konkur­

renz". ES wurde ein Ausfuhrzoll auf irische Wollwaren gelegt. Er wirkte nicht hinreichend und im Jahre 1699 wurde die Ausfuhr irischer Wollwaren irgendwohin verboten.

Die Industrie wurde erstickt und

erstarb; 25,000 Menschen wurden erwerblos. Das Leinengewerbe war in Irland uralt, es existirte seit dem 15. Jahr­

hundert. Im Jahre 1700 hatte sich diese Industrie zu hoher Blüthe ent­ wickelt. Aber 1705 erschien ein englisches Gesetz: „die Irländer durften zwar ihr Leinen nach den Kolonien verschiffen, ihre Schiffe durften aber

keine Rückfracht nach Europa nehmen". DaS war eine freundliche Rück­ sicht gegen das verbündete Holland. Die irische Fischerei ist sehr ergiebig. WaS Wunder, daß im An­

fang des achtzehnten Jahrhunderts die Fischer in Folkstone nnd anderen Plätzen am Kanale das Parlament mit Klagen bestürmten: „die Iren fingen zu viele Heringe bei Waterford und Wexford und ruinirten damit ihnen den englischen Markt". — Im Jahre 1778, unter den Erschütterungen deS amerikanischen Bürger­ krieges trat die erste Milderung der „Strafgesetze" ein. Die Katholiken konnten nun Land in Zett- oder Erbpacht nehmen, aber nicht als freies Eigenthum erwerben. Im Jahre 1782 wurde ihnen gestattet: volles Ei­ genthum an Grundstücken zu erwerben und Schulen zu eröffnen. Der neue Wettbewerb der Katholiken im Pacht- und Kaufgeschäfte steigerte den Werth deS Grundeigenthums in Irland sehr erheblich. Im Jahre 1792 wurde den Katholiken gestattet: Anwälte, städtische

Freibürger und Obersten in der Armee zu werden. Zugleich wurde ihnen

das aktive und passive Wahlrecht für das Parlament zurückgegeben. Die Ideen des Jahrhunderts hatten unter den protestantischen Irländern einen mehr nationalen und weltlichen Geist zur Herrschaft gebracht. Die neuen französischen Ideen begannen nun aber auch unter den irischen Katholiken immer stärker Wurzel zu fassen. Im Jahre 1786 ent­

stand bereits der geheime Orden der „Right Boys". Seine katholischen Mitglieder verpflichteten sich eidlich: „den Zehnten an die protestantischen Pfarrer nicht mehr zu zahlen. Erst im Jahre 1793 wurde ein — allerdings obsolet gewordenes — Gesetz abgeschafft welches die Katholiken zwang: die protestantische Kirche

zu besuchen. Darauf machte sich, 1796, der Bund der „United Jrishmen" geltend. Er zählte damals bereits: 100,000 Mitglieder. Im Jahre 1797 zählte

er deren: 500,000.

Der angebliche Zweck war:

nach der neuesten französischen Doktrin.

Freiheit und Gleichheit

Das eigentliche Ziel war: Irland

in eine freie und unabhängige Republik zu verwandeln.

Bereits 1798

brach der Aufstand auS; er miSglückte weil seine rein politischen, doktnnären Zwecke von der großen Masse nicht verstanden wurden.

Heerd

waren hauptsächlich die Städte.

Sein

Dennoch kamen 30,000 Men­

schen um.

Im Jahre 1801 wurde die Vereinigung des irischen Parlamentes mit dem englischen durchgeführt. Wie später der große Repealer O'Connel

behauptete:

„durch ein Zusammenwirken von Schrecken, Tortur, Gewalt,

Betrug und Bestechung".

Namentlich scheint der letztgenannte Hebel mit Energie angesetzt zu sein. Die Bestechungen sollen sich — nach O'Connel — auf etwa 3 Mtlionen S belaufen haben.

Allein die Kaufgelder für wahlberechtigte Burgflecken

seien 1,25 Millionen £ gewesen.

Dazu Ernennungen von PairS, Regi-

mentSschefS, Oberrichtern und Bischöfen. —

Seit dieser „Union" hatte Irland an der politischen Entwickelung Groß­

britanniens integrirenden Theil; namentlich an der Emanzipation der Ka­

tholiken (1829) und der Reformbill (1832). ES folgte später O'ConnelS

Bewegung für Wtederauflösung der Union von 1801.

In dieser trat

jedoch die Landfrage als solche nicht abgesondert hervor; die damaligen

Forderungen waren mehr rein politische.

Ich darf daher wohl hier den

Faden der äußeren Geschichte Irlands fallen lassen und gehe über zur

Betrachtung der

III. Geschichtlichen Entwickelung der irischen Landverhältnisse.

Der irische „Peasant Tenant" ist eine wirthschaftliche Figur die fast in jedem anderen Lande Europas ebenfalls aufgetreten ist.

Wir sehen in

ihm den „Bauer deS Landes" ohne erbliches Recht, ohne getheiltes

Eigenthumsrecht.

Er ist kein Bauer nach Meterrecht, kein bäuerischer

Aftervasall, kein — mehr oder weniger persönlich unfreier — Grundholde,

kein ErbenztnSmann: er ist aber andererseits auch kein bäuerlicher „kon­ traktlicher" Pächter.

Die Gesammtheit der bäuerlichen Grundstücke einer zusammengehö­

rigen Mehrheit von Haushaltungen war wohl in ältesten Zeiten fast überall im Kommunionbesitze: eine „Gemeinheit", wie noch heute in Ruß­

land. Von Zeit zu Zeit wurden die Grundstücke nach Bedürfniß zur Nutz­ nießung vertheilt. Die einzelnen Feldlagen deS artbaren Landes waren in Ackerstücke

(acres) zerschnitten und jeder Haushalt bekam in jeder Lage sein Feld-

stück zugewtesen.

Diese Zerstreutheit der Ackerstücke war überall ein karak-

teristisches Kennzeichen deS „Bauernlandes".

Zu dem Eigenthümer des

Landes — ihrem Oberherrn — standen diese bäuerlichen HauShalter in keinem kontraktlichen Verhältnisse.

Sie saßen seit undenklicher Zeit

auf dem Lande, lebten davon, konnten nicht davon getrennt werden.

Die

lange Gewohnheit hatte ihre Dienste und Leistungen fixirt, aber auch nicht

minder ihren „Landgebrauch".

land".

Daneben hatte der Gutsherr sein „Hof­

Im Laufe langer Jahrhunderte hatte, in den meisten Ländern,

der „Landgebräucher" ein erbliches beschränktes Eigenthumsrecht erworben.

Endlich gestattete ihm das Gesetz, den Antheil deS Gutsherrn an seiner

bäuerlichen Hofstelle — das Obereigenthum — diesem abzukaufen.

So

war der Verlauf in Deutschland, so in England bei den „Copyholders“.

Neben diesen letzteren bildet in England der „Tenant farmer“, der bäuer­

liche Pächter eine besondere, der Zahl nach jetzt und schon seit langen Zeiten, weit überwiegende Klasse.

Er sitzt auf dem Hof lande (desmene)

deS Gutsherrn, stand von jeher zu diesem in einem rein kontraktlichen Verhältnisse und war ein persönlich freier Mann (libere tenens). moderneren englischen bäuerlichen Pächter finden sich auch in Irland. gehören jedoch nicht zum Urbestande der Einwohnerschaft.

Diese

Sie

Sie sind kontrakt­

liche Kolonisten die an die Stelle der verjagten ursprünglichen irischen Bauern gesetzt waren.

Aber warum hatten sich diese letzteren nicht in Irland zu erblichen beschränkten Eigenthümern entwickelt?

Jene englischen Pächter fanden sich bis zum sechszehnten Jahrhundert nur innerhalb des Bezirkes der englischen Eroberung.

Außerhalb desselben

erhielt sich das ursprüngliche nationale System: der Häuptlinge, ihres „septs“ — ihrer Sippe — und des gemeinsamen StammeS-EigenthumS

beider am Lande.

Dieses System war in England durch die normannische

Eroberung (1066) und die Gründung des LehnSstaateS beseitigt worden.

Die irische „Sippe" hatte, gleich dem schottischen Clan: BlutSgemeinschaft, sie führte einen gemeinsamen Namen.

lichen Bienenschwarm.

Sie glich einem mensch­

Der Häuptling war die gewählte Königin.

Die

einzelnen Hausstellen, homesteads, lagen in Haufen von vier oder sechs, in Quarters, Quartieren zusammen. Vier solcher Haufen bildeten zusammen

ein townland (Zaunland).

Letzteres — die Ortschaft — ursprünglich

120 Acres — 50 Hektaren enthaltend, war wohl die Einheit des GesammteigenthumS.

Sämmtliche townlands bildeten die „Sippe".

Diese Verfassung bestand nachweislich beinahe eintausend Jahre.

Im

sechsten oder siebenten Jahrhundert war Irland getheilt in: 184 Septs, welche 5,520 Townlands

enthielten deren jedes in Quarters zu sechs

HomesteadS zerfiel.

Im Jahre 1598 zählte man 6814 TownlandS mit

109,000 bis 163,000 HomesteadS. Nach dem irischen Herkommen wurden die Ländereien unter sämmt­

liche Männer deS Sept gleichmäßig

vertheilt.

Bei

einem Todesfälle

erbten nicht die Söhne, sondern der Häuptling machte eine neue Ber­

theilung des gestimmten Septlandes und gab jedem volljährigem Manne seinen Theil.

Daher war aller Besitz unsicher und der ewige Wechsel

eine hauptsächliche Ursache der wtrthschastlichen Barbarei.

Der lebenslänglich gewählte Häuptling deS SeptS hatte außer­

dem ein ausreichendes Hofland auf welchem auch die HauSstellen feiner Dienerschaft lagen.

Zugleich bezog er von jedem Mitgliede seiner Sippe

die verschiedensten Leistungen und Dienste.

Er überließ seinen Stamm-

Bettern sein überflüssiges Jungvieh und ihren Frauen seine Kinder — zur Aufzucht: Beziehungen, durch welche das Gefühl der Stammesgemeinschaft

wesentlich belebt wurde. Zwischen diesen Sippen-Häuptlingen und den Königen stanpen dann

wiederum ebenfalls gewählte „Landeshäuptlinge". So lebten die Iren noch zur Zett Jakobs I (1603) in tausendjäh­ rigen tief eingewurzelten nationalen Ueberlieferungen.

Persönliches Eigen­

thum am Lande war ihnen fremd, ebenso GutSherrltchkeit und Gutsunter-

thänigkeit.

Und dieselbe Neigung deS Bienenlebens, des Schwärmens

und unregelmäßigen zerstreueten EtnntstenS auf dem alten Septlande, zeige'n die Eingeborenen noch heute, trotz allen nationalen englischen Gesetzen und Kultur-Mandaten. — Im Jahre 1570, unter der Königin Elisabeth, erging nun ein Gesetz, nach welchem die irischen „Landgüter" zu Lehn aufgetragen und dann durch

königlichen Lehnbrief den Landeshäuptlingen als freies Eigenthum (de-

mesne) versichert werden sollten.

Dadurch wurde der bisherige Ober-

Häuptling alleiniger freier Eigenthümer deS gefammten SeptlandeS.

Alle

Unterhäuptlinge gingen anscheinend leer aus, alle anderen Mitglieder der Sippe waren besitzlose und jederzeit entsetzbare Bauern (tenants at will)

geworden.

Durch diese Unsicherheit deS Landgebrauches ging die wirth-

schaftliche Entwickelung deS Landes womöglich noch mehr rückwärts als vorwärts. Unter Jakob I erkannte man diesen Fehler.

Rechte der Unterbesitzer zur Geltung zu bringen.

Man beschloß jetzt: die ES wurde daher bei

jeder LehnSauftragung von Seiten eines der großen Landeshäuptlinge sein

freies Hofland von dem Grundbesitze feiner Gefolgschaften getrennt; ebenso in diesen daö Hofland deS SepthäuptlingS.

Sämmtliche Naturalleistungen

der Septmitglieder wurden in feste Rente verwandelt.

Auf diesen Grund-

256

Die irische Landfrage.

lagen wurden allen Betheiligten ihr privativer Besitz zugewiesen, der bäuerliche mit den Ablösungsrenten belastet.

Wäre diese, wohlthätige und wahrhaft erleuchtete Maßregel zur Durch­

führung gelangt, hätte sie Zeit gehabt sich einzulebm, so wären heute die irischen Grundherren die absoluten Eigenthümer ihrer Hofländereien, die irischen Bauern aber wären jetzt freie — abgelöste und konsolidirte — Grundbesitzer.

Aber der Lauf der Geschichte war ein wesentlich anderer.

Zunächst

lebten sich die eingeschränkten Häuptlinge nicht in daS neue Verhältniß

ein.

Sie hatten ihre persönliche Herrschaft und daS süße „Gewohnheits­

recht der Willkür" verloren.

Auch bei den Hintersassen ließ sich ein tausend­

jähriges Herkommen nicht mit einem Federzug vernichten.

Bald brach der große Aufstand der O'Neils und O'DonnclS in Ulster

aus.

Die Provinz wurde mit kleineren englischen und schottischen Guts­

herrn kolonisirt.

Nach den Rechten der soeben erst neu geschaffenen irischen

Freisassen fragte Niemand.

Zwar verpflichteten sich die Kolonisten, nur

englische oder schottische Pächter aufzunehmen.

Indessen — nach wenigen

Jahren saßen die alten irischen Bewohner wieder in ihren alten Bienen­ körben — jetzt aber ohne Kontrakt und völlig rechtlos. Dann kam die große Rebellion von 1641, und die Neubesiedelung

ganz Irlands, mit Ausnahme des Westens, durch Cromwell. In der Theorie war nach 1650 die ganze irische Nation nach Connaught

verbannt.

Aber in der Praxis blieb wiederum ein sehr großer Theil der

Bauern zurück, jedoch nicht mehr als freie Eigenthümer sondern vlS Pächter

— ohne Kontrakt, — als tenants at will, nach Willkür des Gutsherrn. So lebten die alten Landgebräucher sich wieder ein, aber eS fehlte zwischen ihnen und dem neuen Eigenthümer das uralte persönliche Band der Sippe.

Nach der Rebellion ward eine neue Regulierung des Besitzes vor­

genommen, durch einen

Regierungskommissär.

Dieser fand die einge­

Denn eS schließt

borenen Bauern fast noch überall auf ihrem Lande.

der Bericht Sir William PetthS mit folgender Generalabschätzung deS

Landes der Gutsbesitzer:

7,500,000 Acres gutes Land 1 9,000,000 Acres — jähr-) $ 900 000 1,500,000 „ schlechtes Land > liche Brutto-Rente — I

£

Davon Königszins...............................................................

.

bleibt.................................................................................

Davon der Kirchenzehnte */5 —........................................

90,000

£ 810,000

£ 162,000

bleibt jährliche Nettorente......................................................... £ 648,000

Davon der Antheil der „TenantS" und der Werth

ihrer Gebäude und Verbesserungen ■'/, =

.

.

£ 216,000

bleibt die reine Rente der Gutsherren 8/a = .

.

£ 432,000

.

Danach betrachtete Sir William die alten „Tenants" nicht als Pächter

sondern als Antheilhaber am Grundbesitze.

Er dringt zugleich daraus,

daß die „Tenants" ermuthigt werden sollten: ihre Gebäude zu ver­

bessern und sich neue zu bauen. Er schätzt die damalige Einwohnerzahl auf: 1,100,000 Seelen. lebten in etwa 200,000 Haushaltungen.

Bon

Sie

diesen Häusern hatten

16,000 mehr als einen Schornstein; 24,000 einen Schornstein;

die

übrigen 160,000 waren schmutzige Hütten ohne Rauchfang, Fenster und „Es sei unmöglich,

Thüren, schlimmer als die der „wilden Amerikaner".

darin marktgängige Waare an Butter und Käse herzustellen" — und dabei trieben diese kleinen Bauern

fast ausschließlich Weidewirthschaft.

„Man muß diese 600,000 Irländer dahin bringen", sagt Sir William „daß

sie mit den englischen Gutsherren feste Zeitpachtkontrakte eingehen, damit sie nicht länger von deren Laune und Willkür abhangen".

Die Gutsherren folgten dem, Zuge.

von Sir William Petty empfohlenen

Sie betrachteten ihre Hintersassen als Zeitpächter und schroben deren

bisherige feste Renten (quit rents) zu vollen marktgängigen Pachtrenten

(rack rents — scharf zusammengerechte oder

geraffte Renten) empor.

Dadurch eigneten sich die Grundherren jenen Drittels-Antheil der TenantS

-an dem Gutslande mehr oder weniger vollständig zu. ES war daS Unglück der Irländer daß damals, im siebenzehnten Jahrhundert, in England die Idee der persönlichen Freiheit bereits

vollständig herrschte.

Hätte die Kolonisirung Irlands einige Jahrhunderte

früher, im Mittelalter, stattgefunden, so wären die irischen Bauern Leib­

eigene oder Hörige geworden; sie würden dann herkömmliche erbliche Be­ sitzrechte erworben haben und jetzt „abgelöst" sein.

So aber machte daS

Gesetz deS siebzehnten JahrhunderS sie zu Pächtern; eine freie Stellung welche wett über ihre Kulturstufe hinausragte.

Dann überließ man sie —

hülflos — dem wirtschaftlichen Spiele der freien Wettbewerbung, das heißt: der Ausbeutung durch den Stärkeren und — ihrem Verderben. —

Im achtzehnten Jahrhundert schoben sich nun, nach und nach, zwischen

den großen Gutsherrn, mit Tausenden von Acres, und den kleinen Pächtern mit 5 bis 15 Acres: Zwischenpächter — „Mittelmänner" — ein. In einem

Briefe aus dem Jahre 1775 heißt es: „in den meisten Theilen des Landes sind die Grundstücke sechsmal (six deep) verafterpachtet und der eigent­

liche Bebauer wird auf das Aeußerste auögequetfcht.

Unter diesen letz­

teren saßen auch vielfach, als arme Arbeiter, die direkten Nachkommen der alten Häuptlinge und Eigenthümer.

Ihre Erinnerungen waren jedoch

noch so lebhaft, ihre Erwartungen einer besseren Zukunft so zäh, daß sie

regelmäßig über ihr Recht auf ihren alten Besitz von einer Generation

Die irische Landfrage.

258

ES war die respektable Art von

zur anderen testamentarisch verfügten.

doktrinären Legitimisten denen „aus tausend Jahren Unrecht kein Tag

Recht werden kann".

Auch die alte Weise der steten Neuvertheilung war

thatsächlich, wenigstens analog, betbehalten.

Dadurch waren im Jahre 1775

die 160,000 Hausstellen von 1650 auf: 6 bis 700,000 Hausstellen an­

gewachsen. So sehen wir, daß der unermeßliche und — nach unseren Begriffen —

sehr unlogische Wust, den man das englische Recht zwischen Guts­ herrn und

nennt, niemals in Irland zu voller

„TenantS"

und zwar:

Wirksamkeit gelangte,

weil dieses ganze RechtS-

institut auf die dortigen thatsächlichen Verhältnisse nicht paßte.

Abraham Lincoln sagte einmal: Ein Gesetz welches gegen die be­ stehenden Thatsachen verstößt, gleicht „einer päpstlichen Bulle, gegen einen

Kometen geschleudert". —

IV. Irische Landgesetzgebung im neunzehnten Jahrhundert. 1. Encumbered EstateS Act.

Nach

den

schweren

Schicksalen

die

Irland

in

der

Zeit

von

1846—1848 getroffen hatten, sah man die Nothwendigkeit ein, den mit Hypotheken überlasteten und

vermöge ihrer rechtlichen Gebundenheit*)

hülfloS daniederltegenden und verkommenen Landgütern durch käuflichen

Uebergang an neue, helfen.

mit Kapital versehene Eigenthümer wieder aufz:,-

Man setzte deshalb einen Gerichtshof ein in welchem diese Ver­

käufe — auf Antrag der Gläubiger oder auch des Besitzers — vollzogen

wurden.

Wenn wir uns

den Zustand der

englischen Besitztitel, des

„Entail und Settlement" sowie des Hypothekenwesens vergegenwärtigen,

so werden wir die Schwierigkeiten ahnen können mit denen dieses Ge­

schäft verbunden ist.

Dasselbe wird noch jetzt fortgesetzt.

Bis zum 30. De­

zember 1880 waren durch jenen Gerichtshof Landgüter für 52 Millionen £ verkauft.

Große Komplexe wurden getheilt.

Man nimmt an daß die

bezahlten Preise etwa den halben Werth der verkauften Güter darstellen. Ueber die unerwarteten Wirkungen dieser, mit großen Hoffnungen be­

grüßten, Maßregel werden wir später noch einiges hören. —

*) Ich bitte, der Kürze halber, über diese und ähnliche, im Nachfolgenden berührten, Fragen des englischen „Landrechts" meinen Aufsatz in dieser Zeitschrift (Oktober und November 1880): „Landgesetze und Landwirthschaft in England" zu ver­ gleichen.

2.

Landlord und Tenant Act von 1860.

Die englisch-irischen Gesetzgeber hatten bereits seit einiger Zeit er­ kannt: daß daS englische Landgesetz für Irlands Verhältnisse, sowie sie sich

durch die Thätigkeit deS Gerichtshofes der verschuldeten Güter nach und nach umgestalteten, mehr und mehr unanwendbar geworden sei.

Namentlich drängten die praktischen Geschäftsleute, die ihr Kapital in

den verkauften Gütern angelegt hatten, auf eine Klärung und Verein­ fachung der Gesetzgebung; auf Wegräumung aller feudalen Ueberbleibsel; auf freies Feld für die beglückende Einwirkung heS „free trade“, für das freie Spiel der wirthschaftlichen Kräfte und der Gesetze von „Angebot und

Nachfrage".

„Denn" sagten diese Kapitalisten,

„der traurige Zustand

Irlands lag und liegt nur in dem Mangel an Kapital und Geschäfts­

sinn der alten Gutsherren.

Bei richtiger Auffassung ist daS Interesse deS

EigenthümerS und deS Bebauers am Lande völlig identisch.

Wir, die

Männer der volkswirthschaftltchen Intelligenz, wir müssen und werden die Lage unserer GutSeingesefsenen schon aus eigenem Interesse verbessern."

Damals galten die absoluten Volkswirthe als Propheten und jeder­ mann glaubte an die Erfüllung ihrer Offenbarungen.

Was war das Resultat?

Die neuen Gutsherren wollten vor allem

ihre Kapitalanlage gut verzinst sehen und — setzten durchgängig alle Pachten in die Höhe. — Dieser wirthschaftlichen Operation stand indessen daS bestehende alte nationale Landrecht vielfach im Wege. Denn eS steckten darin noch mancherlei

feudale Traditionen, namentlich vielerlei Illusionen der Pächter zu Gunsten deS überlebten Systems des getheilten Eigenthums.

Man schuf daher die

Landlord und Tenant Act von 1860. Ueber diese Schöpfung kann ich kurz sein.

Sie enthielt ein durchaus

strenges System der locatio conductio, in der modernisirten Nachbildung deS ftanzösischen Code civil.

Es

ist im Ganzen ein elegantes Stück

Jurisprudenz, aber leider völlig doktrinär.

Das Verhältniß der Eigen­

thümer und Pächter wurde jetzt ein rein vertragsmäßiges. Band war in diesem Gesetze völlig gelöst.

DaS feudale

Der „Verpächter" hatte jetzt

gegen den Pächter ebensoviel Anspruch auf persönliche Rücksichten oder po­

litische Unterstützung als der Ladenbesitzer gegen seine Kunden.

Aber der

„Pächter" hatte auch gegen den „Verpächter" nicht mehr Anspruch auf Theilnahme und Unterstützung als gegen den Krämer bei dem er seinen

Thee kaufte.

Der Gutsherr unterschied sich von seinem Bäcker und Flei­

scher nur durch die Sorte von Ware die er feilhielt.

Landpachten war

jetzt unter der Wohlthat des „free trade“ ein Ding

chartern oder eine Droschke miethen.

wie ein Schiff

Die geschäftsmäßigen Beziehungen

der Parteien hatten dadurch jede wünschenöwerthe formelle Durchsichtigkeit

gewonnen. — Nach und nach traten jedoch auch einige kleine Nachtheile deS neuen Systems zu Tage.

Der Verpächter hob seinen Zins, der Pächter bezahlte

seine Pacht: auf welcher Seite aber lag jetzt die sittliche Verpflichtung zur

Nachsicht,

zum Nachlasse, zur Nachhülfe?

den harten Winter zu schleppen?

und Anstalten bei?

Wer hatte die Armen durch

Wer sprang den mildthätigen Vereinen

Wer gab den Platz für den Bau einer neuen Kapelle

unentgeltlich her? Hierzu kam: die schriftlichen Kontrakte waren, nach der bekannten*)

englischen Kostspieligkeit jeder Rechtspflege,

unverhältnißmäßig

theuer.

Die mündlichen Verträge und die stillschweigenden thatsächlichen Abkommen

mit den Jahrespächtern waren nicht minder gültig. Schriftliche Meliorations­

kontrakte waren ebenfalls nicht vorgeschrieben.

Es waren also eine Reihe

übler Schlupflöcher durch die neue Gesetzgebung den alten Gewohnheiten und MiSbräuchen offen gelassen.

Diese und viele ähnliche schädliche Folgen der neuen Gesetzgebung von 1860 berührten nicht darauf, daß sie an sich schlecht gewesen wäre, sondern lediglich darauf daß sie auf soziale und wirthschaftliche Zustände angewandt werden sollte für welche sie durchaus nicht paßte.

Denn die überwie­

gende Majorität aller Pächter war völlig unfähig, ein freies Kontraktsver­

hältniß einzugehen.

Es fehlte ihnen dazu das Kapital; sie arbeiteten, lebten

und hungerten auf ihren Hofstellen.

Wurden sie hinausgesetzt so verhun­

gerten sie. DaS „Land" hat bekanntlich einen monopolistischen Karakter durch

die Begränztheit seines Angebotes.

Da Irlands Industrie keine Arbeiter

gebraucht, da auch nicht alle ländlichen Arbeitskräfte allsömmerlich nach

England gehen können, so klammerten sich die armen kleinen Pächter an

ihre Pachtungen fest und bezahlten — oder gelobten, wenn ihnen mit

Kündigung gedrohet wurde jeden ihnen abgeforderten noch so unvernünftig

hohen Pachtpreis.

Die neuen, energischen und geschäftskundigen Eigen­

thümer kündigten daher regelmäßig alle Jahreöpachtungen behus „Regu-

lirung der Rente".

Dann erfreuten sie sich der befriedigenden Verzinsung

ihres Kaufsschillings in gutsherrlicher Ruhe, oder sie verkauften wieder

mit erheblichem Vortheile, nach Maßgabe deS Betrages der erhöheten — fiktiven — Rente.

UebrigenS

*

blieb dieses Gesetz auf der bedeutenden Mehrheit aller

Preußische Jahrbücher.

Novemberheft 1880.

S. 470 ff.

Güter wo noch die alten Gutsherren saßen — ein todter Buchstabe um den sich niemand kümmerte.

Zugleich traten auch vielfache Kündigungen der kleinsten Pächter

ein um und

die Pachtkomplexe zu vereinigen, oder auch bet Todesfällen

uneinigen Erben.

Alle

diese Kündigungen

jedoch brachten den

„TenantS" das Recht des neuen Gutsherrn, sie hinauszusetzen, zum unheimlichen Bewußtsein. Daneben schwebten sie in der Furcht: der billige und humane alte Gutsherr könne sterben, das Gut im Landed EstateS Court zerschlagen und In kleinen Abtheilungen an umwohnende

Krämer und Rentiers verkauft werden — von allen die gierigsten Ver­ pächter und schlechtesten Gutsherren.

So hatte das große Prinzip der „wtrthschaftlichen Freiheit im Land­ verkehre" nicht nur keine Besserung in Irland gebracht, seine Kodifikation hatte sogar die bäuerliche Bevölkerung in gesteigerte Aufregung geschreckt. ES gab daher nur zwei Wege.

Entweder den vorgeschrittenen Codex

von 1860 nicht anzuwenden bis sich nicht die Bevölkerung zu ihm hinauf

entwickelt habe.

Oder retrograde Gesetzgebung zu Machen, um die be­

rechtigte Unzuftiedenheit zu besänftigen. —

3. Die Entstaatlichung der protestantischen Staatskirche in Irland. Nach der fenischen Bewegung von 1865—68 beschloß Mr. Gladstone

Maßregeln welche die Wurzeln alles Uebels in Irland gründlich und de­

finitiv beseitigen sollten.

Er demonstrirte, als geschickter Baumfäller, in

seinem sprichwörtlich gewordenen Gleichnisse vom Upaöbaume: daß diese

Giftpflanze englischer Züchtung drei Wurzeln habe: die StaätSkirche, das Land, die Schule.

Die schlimmste Wurzel sei das protestantische Ueber«

gewicht. Nach der Praxis eines erfahrenen BaumroderS beschloß er diese

drei Wurzeln — einfach abzuschlagen. Jahre 1869 erging

Minima non curat Praetor.

Im

ein Gesetz wodurch daS gesammte Grundvermögen

der StaatSkirche eingezogen und dieselbe mit den nöthigen Kapitalen und Renten auSgestattet wurde.

Die kirchlichen Einkünfte waren etwa

700,000 L gewesen, der reine Kapitalwerth der Güter wurde auf 5 Mil­

lionen & geschätzt.

Den bisherigen TenantS wurde ein Vorkaufsrecht im

Landed EstateS Court eingeräumt.

So entstanden etwa 6000 kleine bäu­

erliche Eigenthümer. Von diesen sitzen etwa 5000 in Ulster wo fast alle

Kirchengüter lagen. Die konservativen Gegner dieser Maßregel wenden ein: „Gehen wir

davon auS daß die bisherige legislative Union der beiden Länder aufrecht erhalten werden soll, so haben wir durch die Entstaatlichung der Kirche

Die irische Landfrage.

262

die einzigen sicheren Freunde geopfert die wir in Irland besaßen.

Wir haben auSgeführt was im Jahre 1690 das irische Parlament ver­ gebens versuchte.

Man konnte die protestantische Kirche reformiren,

die

sich übrigens in den letzten Jahrzehnten wesentlich selbst reformirt hatte.

Niemand jedoch forderte die radikale Entstaatlichung und wir haben nur

daS Spiel der römischen Hierarchie gespielt". — 4. Die irische Landakte von 1870.

Die oben in Aussicht gestellte rückläufige Gesetzgebung fand ihren

Ausdruck in Gladstones irischer Landakte von 1870.

Das Gesetz verfolgt

drei verschiedene Zwecke: A. dem irischen Pachtbauern Sicherheit in seinem Pachtverhältnisse und, beim Abzüge, Entschädigung für seine Meliorationen

zu geben; B. in Irland einen Stand bäuerlicher Eigenthümer zu schaffen; C. die Pachtgewohnheiten in der Provinz Ulster gesetzlich zu fairen.

A. Sicherung der irischen Pachtbauern in ihrem Pachtverhältnisse.

„Dauernde Sicherung eines zweiseitigen, durch Zeitablauf erlöschenden oder jährlich kündbaren Kontraktes" war in der praktischen Ausführung entschieden ein schwieriges Kapitel.

Sollte die englische liberale Regierung

anerkennen: free trade in

Land sei die eigentliche Ursache der Aufregung unter den irischen Bauern?

Sollte die Regierung Vorschlägen:

die Rechte der Gutskäufer zu be­

schneiden, welche ihr Kapital unter staatlicher Garantie in dem

vom

Landed EstateS Court verkauften Grundbesitze angelegt hatten?

MemalS war in Großbritannien und Irland dem kontraktlichen Bebauer des Landes, dem tenant farmer, irgend ein Miteigenthumsrecht anerkannt

worden! Die neuen Eigenthümer hatten ihren Besitz im Landed EstateS Court als freies, völlig unbeschwertes Eigenthum erworben.

Ihr Recht: die volle

marktgängige Rente zu fordern, oder: ihr Grundeigenthum, durch Kündi­

gung, von den kleinen Jahrespächtern „klar" zu machen, war beim Kaufe ausdrücklich anerkannt worden.

Somit konnte das Gesetz seinen Zweck

nicht offen aussprechen, nämlich: dem Tenant einen vermögensrechtlichen

Antheil am Grund und Boden selbst — zuzuweisen.

Offen wurden

daher dem Pächter keine neuen Rechte gegeben, oder dem Gutsherrn bis­ herige genommen.

Aber auf Umwegen, „hinten herum", erreichte man dennoch diesen Zweck:

man setzte dem Gutsherrn eine Strafe auf die Ausübung

seiner gesetzlichen Rechte.

DaS neue Gesetz sagte im Grunde: „Dein Recht, deine Pächter hinaus­

zusetzen, ist zweifellos; wir wollen es Dir aber so kostspielig machen, daß Dir die Lust, eS auSzuüben, wohl vergehen soll."

Man nannte dieses:

„ein Verfahren, durch welches schlechte Gutsherren gezwungen werden

sollten so zu handeln wie gute Gutsherren auS freien Stücken handeln würden".

Eigentlich aber war es eine Einrichtung, durch welche die An­

nehmlichkeit, Pächter fortzuschicken, ein Monopol der reicheren Gutsbe­

sitzer wurde. Die TenantS erhielten also in dem Gesetze von 1870 keinerlei aus­ drückliches positives Recht am Lande; ihr Recht war gewissermaßen latent.

Aber eS wurde stet, sobald der Gutsherr, kraft seines gesetzlichen Rechtes, sein Land wieder in Besitz nehmen wollte und dadurch den Pächter „störte" (disturbed).

ter- frei:

In diesem Augenblicke wurde daS negative Recht deS Päch­ die Rückgabe des Pachtlandes zu verweigern bevor er vom

Gutsherrn Entschädigung für die Störung (Compensation for distur-

bance) erhalten habe. Diese Entschädigung für Störung wird nach folgenden Regeln ge­

Jeder kontraktliche Pächter mit weniger als 31 Jahren Pachtzeit

leistet:

und jeder Jahrespächter, dessen Pachtobjekt zu einem Steuerkapttale von nicht mehr als 100 £ eingeschätzt ist, soll (in der Voraussetzung, daß er da- Pachtgeld bezahlt hat und auch sonst nicht kontraktbrüchig ist) für

seinen Verlust durch Ablauf oder Auflösung de- Pachtverhältnisses mit

folgenden Höchstbeträgen entschädigt werden:

Steuerkapital d. Pachtobjekts jährl. ff

ff

10 £ u. weniger — 7jährig. Pachtgeld.

ff

30 £ „

ff

5



ff

ff

ff

40£„

ff

4



ff

ff

ff

ff

ff

ff

ff

ff

50 £ „

ff

3



ff

II

ff

ff

ff

100 £ „

ff

2



ff

ff

ff

ff

„ über 100 £ „

II

1



ff

Das Maximum darf jedoch im einzelnen Falle niemals 250 £ über­

schreiten. Aus dieser Skala ergiebt sich zweifellos: daß man nicht den Verlust

deS Pächters durch die Betriebsstörung hat entschädigen wollen. Dem widerstreitet das Maximum von 250 £, und nicht minder die höchste Entschädigung für daS kleinste Pachtobjekt.

Ferner erscheint eS sonderbar, daß man einem Pächter eine desto höhere Entschädigung giebt, je höher er in der Pachtrente stand.

Wenn

z. B. A. für ein, zu 10 £ eingeschätztes Pachtobjekt 15 £ bezahlt und B. für ein gleich hocheingeschätztes Pachtobjekt 5 £, so

ist doch offen­

bar B'S Interesse an dem Pachtgeschäfte entschieden werthvoller als das Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIL Heft 3.

18

von A.

Trotzdem aber bekommt A.:

105 S. Entschädigung, B. dagegen

nur 35 £.

Die Ermäßigung jener Renten innerhalb der einzelnen Höchstbeträge ist den Grafschaftsgerichten überlassen.

Diese jedoch präsumiren stets für

den höchsten Multiplikator und lassen nur den Gutsherrn zum herab­ mindernden Gegenbeweise zu.

Dabei erhält derjenige abziehende Pächter

welcher Gebäude und Feldinventar zurückläßt, nicht mehr als der Weide­

pächter der Grünland ohne Gebäude gepachtet halte. Unter den verschiedenen, gewiß vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten

und zum Theile zweckwidrigen — wenn nicht widersinnigen —, Folgen welche diese Skala in der Praxis hervorrief, will ich zum Schlüsse dieser Betrachtung nur noch eine, in nachstehendem Beispiele vorführen.

Die Skala drängt nämlich den rechnenden Eigenthümer unter anderem

auch dazu:

kleine Pachtungen mit größeren zu verschmelzen und kleine

Pächter von größeren auspachten zu lassen. Ein Gutsherr hat vier Pächter.

zu 10 £ eingeschätzte,

Pachtung

und

A., B. und C. haben jeder eine,

bezahlen jeder

12 £ Pachtrente.

Pächter D. bezahlt für einen zu 71 £ eingeschätzten Pachtkomplex 90 £. Der Gutsherr stört diese vier Pächter.

Dann muß er bezahlen: an

A., B., C.: jedem 84 £; an D.: 180 £; zusammen: 432 £. D. ist jedoch

wohlhabend und übernimmt die Entschädigung der drei anderen abziehenden Pächter.

Dafür werden ihre Pachtungen mit der seinigen verschmolzen.

D. bewirthschaftet alsdann ein Pachtobjekt, welches zu 101 £ eingeschätzt ist und bezahlt 126 £.

Will später der Gutsherr den D. entschädigen,

so erhält er den gesammten Komplex von D. zurück für 126 £.

Also

gegen obige 432 £ ein Gewinn von 306 £. Ich habe bereits früher bemerkt daß ein großer Theil der kleinsten

Pachtbauern die Afterpächter eines „Mittelsmannes" sind.

dem Gesetze gegenüber, ist eine besonders ungünstige.

Ihre Lage,

Sie haben einen

Anspruch auf Entschädigung weder gegen den Eigenthümer noch gegen den

Vorpächter, der ja selbst „gestört" ist.

Folgender Fall wird die Sonder­

barkeit des Gesetzes auch für dieses wichtige Verhältniß erläutern. A. verpachtet 99 Acres, geschätzt zu 99 £ jährlich, an 11 JahreSpächter. Jeder von diesen bezahlt 12 £ Pacht im Ganzen 132 £. Er stört sie und muß jedem 84 £ im Ganzen 924 £ Entschädigung zahlen.

Derselbe A. verpachtet 101 Acre,

Jahrespüchter für 132 £. jetzt den Vorpächter B.

geschätzt zu 101 £, an B. als

B. macht daraus 11 Afterpachten.

A. stört

Alsdann hat dieser sich mit seinen 11 Unter­

pächtern in eine Entschädigung von 132 £ zu theilen.

Der Eigenthümer

A. spart durch die Verpachtung in einem Komplexe 792 £. —

DaS Gesetz sichert ebenfalls dem Pächter eine Entschädigung für

Meliorationen zu.

AuS diesem Kapitel dürfte eS vielleicht genügen,

folgende Punkte zu erwähnen:

a.

Der Anspruch auf Vergütung

von Meliorationen ist ausge­

schlossen bei Pachtkontrakten von mindestens 31 Jahren.

b.

Er

ist

verzichtbar

bei

Pachtungen

von

mindestens

50 £

Schätzungsrente.

e.

Fordert ein Pächter unter

10 £

Schätzungsrente (Nr. 1 der

Skala) mehr als fünfjährige Pachtrente für Störung — oder fordert ein

solcher über 10 £ Schätzungsrente (Nr. 2), mehr als vierjährige Pacht­ rente — so bekommt er Vergütung nur für Gebäude und Neubruch. B.

Bildung eines Standes kleiner bäuerlicher Eigenthümer.

Die auf diese Frage bezüglichen Artikel des Gesetzes sind in England

unter dem Namen: die „Bright Clauses" bekannt, weil sie hauptsächlich

auf die Anregung Mr. John Brights, des bekannten OuäkerS und großen Baumwollenspinners in Rochdale, damals und jetzt wieder Mitglied des KabinetS, wo er Führer des äußersten linken Flügels ist, in das Gesetz ausgenommen wurden. Der Inhalt und Zweck dieser „Clauseln" war:

daß der Gutsherr veranlaßt werden soll, dem Tenant das freie Eigen­

thum seines Pachtkomplexes zu verkaufen, daß dieser Verkauf durch den Landed EstateS Court bewerkstelligt werden soll,

daß daS Kaufgeld beim Gericht deponirt werden soll, als Sicherheit für alle Ansprüche Dritter am Kaufobjekte. —

Die Praxis hat nun, zum allgemeinen Erstaunen, gezeigt, daß diese Bestimmungen vollständig

ihren Zweck verfehlten, selbst dann wenn

Käufer und Verkäufer beide guten Willens waren das Geschäft zu machen. Die Ursache liegt hauptsächlich darin, daß ein Verkauf im Landed

EstateS Court alle nicht im gerichtlichen Kaufbriefe anerkannten Ansprüche Dritter unbedingt beseitigt.

ES ist diese strenge Ausschließung eine große

Wohlthat bei dem wunderlichen Zustande des englischen Pfandrechtes*) aber sie erfordert auch die peinlichste und umsichtigste Sorgfalt der Be­

hörde.

Diese hat also gewissenhaft nach den Ansprüchen Dritter (Nach­

baren, Gläubiger, Anwärter) zu forschen. Geld.

Das kostet jedoch eine Menge

Die Summen wachsen meistens über jedes Verhältniß zum Werthe

*) Preußische Jahrbücher.

Oktoberheft 1880.

S. 417.

Die Parteien müssen sie vorschießen, d. h.

der kleinen Kaufobjekte hinaus. der Käufer muß sie tragen.

Es sind außerdem noch eine Menge andere

Schwierigkeiten in Betreff der Vertheilung der Zehnten und mannigfacher Annuitäten vorhanden.

Genug, diese gut gemeinten und klug erdachten

Bright Clauseln paßten wieder einmal nicht in die irischen Verhältnisse und blieben ein todter Buchstabe. Ein anderer Weg im Gesetze, um bäuerliche Eigenthümer zu schaffen,

erwies sich praktischer.

Wenn ein Gut im Landed EstateS Court verkauft

wird so kann die „Behörde für öffentliche Arbeiten" jedem Tenant der

sein Pachtgut kaufen will, zwei Drittel des Kaufgeldes vorschießen.

DaS

Darlehn wird mit 5 Prozent in fünfunddreißig Jahren abgetragen.

Hier­

von soll häufig Gebrauch gemacht fein. — Die Akte von 1870 hatte also unzweifelhafte den irischen bäuerlichen

Pächtern eine Reihe mehr oder minder verwerthbarer Vortheile zugewendet.

Und dennoch erschollen^ die Klagen dieser Pächter schon nach zehn Jahren wieder lauter denn je zuvor! Weshalb? Die Ursachen, weshalb daS wohlmeinende Gesetz ein ver­

fehltes war, sind kurz folgende: 1.

Die Gesetzgeber wollten auf indirektem Wege dem Pächter einen

Antheil am Grundstücke verschaffen — realisirbar: sobald der Pächter abzog.

2.

Die irischen Pächter wollten aber vor allem überhaupt nicht

abziehen, weder mit noch ohne Entschädigung, sie wollten fest sitzen, so lange sie die Pacht bezahlten.

3.

Die Kostspieligkeit des „ AuS-der-Pacht-setzenS"

Gutsherrn als Prohibitivzoll wirken.

sollte auf die

Prohibitivzölle wirken bekanntlich

nicht gegen reiche Leute; sie wirken auch nicht wenn die Waare so selten

und dabei so stark begehrt ist daß sie trotz dem, durch den exorbitanten

Zoll gesteigerten, Marktpreise dennoch willig Käufer findet.

Meistens be­

zahlt also nicht der Gutsherr für daS „Stören" sondern der neue Pächter. 4.

Hieraus erklärt sich der allgemeine Haß gegen die neuen Pächter

der auch jetzt wieder einen großen Theil der agrarischen Verbrechen und Ge­

waltthaten hervorruft. 5.

Wie wir gesehen haben, drängte die wunderbare Entschädigungs­

skala den Eigenthümer dahin: sich möglichst der kleinen Pächter zu ent­ ledigen.

Also auch hier der Gegensatz von demjenigen waS diese wünschen

und bedürfen. 6.

Meliorationen vergüten ist eine bet Gutsbesitzern regelmäßig

sehr unbeliebte Finanzoperation.

Sie werden daher dahin streben: Pacht-

kolyplexe von mehr als 50 £ jährlichem Schätzungswerthe zu bilden, denn

bei diesen ist eS dem Pächter gestattet, gültig auf Meliorationen zu verzichten.

7.

Auf allen größeren und gut verwalteten Gütern hat daher die

Zahl dieser größeren Pachtkomplexe seit 10 Jahren erheblich zugenommen, und überall findet sich der Verzicht auf Meliorationen in den gedruckten

Normalbedtngungen, namentlich in den sogenannten „Leinster LeaseS".

8.

Der latente Anspruch der kleinen Pächter auf Entschädigung für Während der guten Jahre (bis 1878)

„Störung" machte sie kreditfähiger.

kontrahirten sie nun massenhafte Schulden, bei Landbanken und Leihan­

stalten die eigens für diesen Zweck „gegründet" waren.

Diese wohl­

thätigen Institute gaben das Geld gegen 3—12 Monats-Wechsel, die von den Nachbaren stets gegenseitig acceptirt wurden, zu nicht viel über

— 10 Prozent.

Als dann hinterher die mageren Jahre kamen war der

Kredit der Pächter erschöpft, und 1879, als sie daS Geld wirklich bedurften,

So ist der irische Tennant jetzt

war keines mehr für sie zu haben.

schlimmer daran als vor 1870, wo er keine Schulden machen konnte,

weil ihm Niemand borgte. 9. Das Gesetz wollte den Eigenthümer dahin drängen: Pachtkon­ trakte aus 31 Jahre zu bewilligen.

Aber was ihn dahin drängen sollte,

daS drängte den Pächter davon ab.

Dieser rechnete als Jahrespächter

auf eine lange — unbestimmt lange — Pachtdauer und sah am Schlüsse

derselben seine Entschädigung für „Störung" und für Meliorationen.

So

kam es dahin daß die Pächter das Anerbieten eines Kontraktes auf 31 Jahre

als eine verkleidete Kündigung betrachteten und fürchteten. —

c. Gesetzliche Fixirung der Gewohnheiten in Ulster.

Die nördliche Provinz Ulster war, wie wir gehört haben, nach dem großen Aufstande der O'Neils und O'DonnelS durchgängig mit englischen

und schottischen Kolonisten besiedelt.

Bei diesen neuen Gutsherren hatten

sich im Laufe der Zett eine Reihe von Gewohnheiten in ihren Beziehungen

zu ihren Pächtern festgesetzt.

Dieses Herkommen wird unter dem Kollektiv­

namen: „Ulster Tenant Right" begriffen. DaS Ulster'sche Pächterrecht hatte

indessen nicht eine einheitliche Form angenommen, sondern eS hatte sich, innerhalb gemeinsamer Grundzüge, auf den verschiedenen Gütern in seinen Einzelheiten verschieden ausgestaltet.

Vor der Akte von 1870 hatten diese

Gewohnheiten keine gesetzliche Gültigkeit.

Auch diese Akte hat sie nicht

definirt, sondern sie machte „daS Herkommen auf dem Gute" zur inte»

grirenden Clausel jedes Pachtvertrages.

Wir können diese „Ulster Gewohnheiten" unter folgende Gesichtspunkte zusammenfassen: 1.

Der Pächter bleibt andauernd in seiner Pachtung, solange er

richtig wirthschaftet und bezahlt; vorbehältlich einer Revision der Rente. Letztere tritt ein: a. bei kontraktlicher Pachtperiode — nach deren Ablauf; b. bei Jahrespachtungen — von Zeit zu Zeit.

Die Steigerung der Rente

soll dem Gutsherrn seinen „billigen und angemessenen"

Antheil am

erhöheten Werthe deS Landes sichern; sie soll aber nicht durch Auflegung einer „Raff-Rente" deS Pächters Antheil (interest) verzehren.

2.

Der Pächter will nicht in der Pacht bleiben, dann darf er

seinen Antheil am Lande an einen Nachfolger übertragen.

Der Gutsherr

hat nur die Einsprache: diesen Mann will ich, auS guten Gründen, nicht als Pächter haben.

Die Entschädigung deS abziehenden Pächters wird

auf verschiedene Weise festgestellt: Schätzung durch den Gutsherrn — so

und sovieljährigeS Pachtgeld — öffentliche Versteigerung — eventuell im

Wege deS Rechtsstreites. 3.

Will der Gutsherr daS Grundstück in eigene Bewirthschaftung

nehmen, so muß er ebenfalls den Pächter angemeffen entschädigen.

Letzterer

darf auf dem Pachtgute bleiben bis er die Entschädigung in Händen hat. Der wesentliche Punkt in diesen Ulster Gewohnheiten ist zweifellos die Art und Weise in welcher die „billige und angemessene" Rente er­

mittelt werden soll.

(Für den technischen Ausdruck: „fair rent“ giebt eS

meines Wissens kein völlig deckendes einfaches deutsches Wort).

Sie wird

durch Veranschlagung ermittelt, entweder durch einen Schätzer von Pro­ fession oder durch einen Vertrauensmann.

Der nahe liegende Einwand gegen diese Gewohnheiten ist: daß der jedesmalige neue Pächter einen großen Theil seines Betriebskapitals fest­ legen muß und jedenfalls seine Befähigung zu energischer und vortheilhafter Bewirthschaftung um diesen Betrag schwächt.

wird geltend gemacht,

daß

Gegen diesen Einwand

eine solche Kapitalanlage sich als mächtige

Triebfeder zum Fleiße und zur Sparsamkeit erwiesen habe. Zweifellos aber gewährten diese Gewohnheiten dem Pächter einen hohen Grad von Sicherheit.

„besitzenden"

Die Sitte und die öffentliche

Meinung eines fleißigen und intelligenten Pächterstandes zwangen dem Gutsherrn dieses Tenant Right unwiderstehlich auf.

Es läßt sich kaum

verkennen daß hier thatsächlich eine Art gemeinsamen Eigenthums, ein

unfertiges getheiltes Eigenthum vorhanden ist.

DeS Pächters An­

theil am Lande steht sehr häufig dem deS EigenthümerS im Preise gleich,

denn vielfach wird ein sehr hoher Monopolwerth der Pachtgelegenheit (goodwill) in der Entschädigung vergütet.

Ein Freigut ist äußerst selten

käuflich zu haben, daher werden gesicherte „Pächterantheile"

übermäßig

bezahlt. Man nimmt an, daß unter dieser Gewohnheit die Pachtrenten in

Ulster nicht gelitten haben.

Auch soll der Preis des Landes selbst sn

jetziger Zeit dort wenig gesunken sein. —

Jedoch leidet auch in diesem Kapitel daS Gesetz von 1870 an zwei bösen Grundfehlern.

A.

Es bestätigt die „Ulster Gewohnheiten".

Eine Legaldefinition

ist nicht gegeben, eS wird daher im Streitfälle das partikuläre Gewohn­ heitsrecht des einzelnen betreffenden Gutes vom Richter zum Beweise ver­

stellt werden müssen.

Dieser liegt regelmäßig dem Pächter ob; auf kleinen

Gütern ist er höchst schwierig zu erbringen.

Stets ist das Verfahren

kostspielig. B. Da die Pachtrente nicht fixirt ist, so hat durch deren Stei­ gerung der Grundherr ein Mittel, des Pächters verkäuflichen Antheil will­

kürlich zu verkleinern.

scheiden.

Auch hierüber muß im Streitfälle der Richter ent­

Erklärt dieser die beabsichtigte Steigerung für „angemessen",

so wird natürlich der Nachfolger sein Gebot für des abziehenden Pächters Antheil entsprechend abmtndern. —

V.

Skizze der jetzigen sozialen und wirthschaftltchen Lage der irischen Landbevölkerung.

Die nachstehende Skizze habe ich aus einer Reihe verschiedenartigster Quellen: Bücher, Zeitungen und Zeitschriften zusammengestellt, die wesent­

lich unter Berücksichtigung der verschiedenen Parteistandpunkte und der praktischen Bekanntschaft der Schriftsteller mit Land und Leuten ausge­ wählt wurden.

bemerkung

Ich bitte um die Erlaubniß, nach dieser allgemeinen Vor­

meine geehrten

Leser mit einer

durchgängigen Benennung

meiner Quelle für die einzelnen Angaben zu verschonen.

Es dürfte kaum

einen praktischen Werth haben, wenn ich stets: „Times, Mr. Bence JoneS,

Mr. Charles Ruffel, Fortnightly Review, Spectator, Pall Mall Gazette u. s. w." in die Darstellung einstreuete. 1. Grundherren und Pächter.

Die Zahl der ländlichen Grundbesitzer in Irland, über 1 Acre Flächen­ gehalt, beträgt etwa — 19,600 Köpfe. Das ländliche Grundeigenthum beträgt etwa — 19,600,000 Acres

(einschließlich Sümpfe und unkultivirbare Flächen) also auf den Kopf rund:

1000 Acres.

Hiervon gehören:

2000 Eigenthümern: 13,000,000 Acres = 66

% der Gesamtfläche.

110





3,585,000



= 22,5%



74





3,108,000



=16

%



24





1,800,000



=

9,5%



Die Zahl der ländlichen Pächter über 1 Acre wird angegeben auf:

600,000 Köpfe.

Läßt man von dem gesammten ländlichen Grundeigen-

thume: die Torfmoore daS Unland und den Wald außer Betracht, so bleibt ein landwirthschaftlicheS Areal von 15,600,000 Acres, mithin auf

jeden ländlichen Pächter im Durchschnitte: 26 Acres. Man darf daher wohl sagen daß die Zahl der Grundetgenthümer*)

weit kleiner als wünschenSwerth, dagegen die Zahl der Pächter — namentlich in Anbetracht der vorherrschenden Weidewirthschaft — zu groß, der Durch-

schnittSgehalt der Pachtkomplexe zu klein sei.

Vorzugsweise findet dieses

ungünstige Verhältniß im Westen (Connaught) und im südwestlichen Theile

von Munster statt.

Die gesammte Brutto-Pachtrente der irischen Landeigenthümer wird auf etwa: 10 Millionen £ im Jahre geschätzt. — Die Times schickte im November v. I. einen fachmännischen Spezial-

korreSpondenten nach Irland um von dort über die landwirthschaftlichen Zustände aus eigener Anschauung zu berichten. Er suchte die verschiedenen

Verhältnisse — große und kleine Güter, gute und schlechte Wirthschaften — in den verschiedenen Theilen Irlands auf.

Seine Berichte machen den

Eindruck der Einsicht und Unparteilichkeit.

Sie lassen sich etwa zu fol­

gendem Gesammtbilde zusammenfassen. Eine Reihe von Ursachen hat dazu mitgewirkt, die Lage der irischen Landwirthschaft zu verschlechtern und zu gefährden.

schlechte Ernten, schlechte Preise der Feldfrüchte.

Schlechte Sommer,

Wie in Großbritannien

so sind auch in Irland viele Pächter ruinirt; man schätzt ihre Zahl etwa

auf ein Fünftel; also gegen 140,000 Insolvente.

Die Viehstände sind verringert, der Kredit — seit 1870 zu reich­ lich — ist jetzt verschwunden, die Geldleiher drängen!

So fragen denn

die entmuthigten Pächter — und ihre Freunde — nach den Ursachen ihrer Schwierigkeiten und ihres Niederganges.

Man tadelt die Gutsherren: daß sie ihre Pflichten verletzen und weite Strecken wüst liegen lasten, daß sie ihren Pächtern nicht auf- und

vorwärtshelfen, daß sie die Pachtrenten über „Grisfith'S Schätzung" er­

höhen, daß sie ihren Gütern entfremdet leben. *) Preußische Jahrbücher.

Novemberheft 1880.

S. 450.

Man tadelt die Pächter: daß sie apathisch, faul und nachlässig sind,

daß sie gutes Land schlecht entwässern und bestellen, daß sie unbrauchbare

Geräthe haben und in schmutzigen Hütten leben. Der Staat wird getadelt: daß er nicht durch Gesetzgebung die Kultur des wüsten Landes erzwingt, daß die erlassenen Gesetze nicht den erwar­ teten Erfolg für die irischen Pächter herbeiführten. —

Die Gutsherren in Irland zerfallen, noch mehr als anderswo, in

verschiedene Klassen, von verschiedenem Werthe. ES giebt dort eine stattliche Reihe sehr großer Eigenthümer; — leider,

muß man sagen, immer noch zu wenig — deren Besitzungen ganz nach

modernen englischen System bewirthschaftet werden.

dem

herr erster Klasse

Der Guts­

residirt zwischen seinen Pächtern und verwendet

Mittel und Kräfte zur Erfüllung der ihm gestellten wichtigen Aufgabe. Die Pächter befinden sich wohl, die fleißigen und nüchternen unter ihnen

kommen vorwärts. — Aus vielen derartigen Schilderungen will ich ein Beispiel kurz herausheben.

Der Earl of Fitzwilliam hat seine Besitzungen im Südosten der Insel, etwas südlich von Dublin.

Sein Areal beträgt: 91,600 Acres. Die Brutto-Pachtrente: 50,000 £ — Griffith'S Schätzung: 47,700 £. —

Ich muß mich hier selbst unterbrechen um bei „Griffith'S Schätzung" Augenblick

einen

einzigen

zu

verweilen.

Man wird jetzt schwerlich in

englischen Zeitung einen Bericht

lesen können ohne die Bezugnahme

einer

über irische Landverhältnisse

„ Griffith’s valuation “

auf:

zu

finden.

Es verhält sich damit folgender Maßen:

Mit den neuen Armenge­

setzen (1840) wurde auch in Irland eine neue Armensteuer auf Grund­

eigenthum eingeführt.

Im Jahre 1852 erfolgte nun für diesen Zweck,

nach verschiedenen früheren, eine letzte Abschätzung des gesammten Areals

unter der Leitung von Sir Richard Griffith.

Um das Werthverhältniß

jener Schätzung zu der jetzigen Bodenrente zu veranschaulichen, wird eS wohl genügen wenn ich folgende damalige „Normalpreise" nenne:

Butter:

65 s. 1880: 100 s.

der Centner, 1852:

Ochsenfleisch:



Hammelfleisch:



Schweinefleisch: „

„ „

ii

105 „



195 „



123 „



216 „



96 „



144 „

Die Schätzung wurde von S r Richard Griffith selbst bezeichnet

alS:

beinahe erreichend die N ente der

großen Eigenthümer,

da­

gegen 25 bis 30 Prozent unter der Rente der kleineren Eigenthümer.

Reklamationen wurden damals fast gar nicht erhoben, die Käufer des

Emcumbered Estates machten ihre Rechnung stets mit 25 Prozent Zuschlag

272

Die irische Landfrage.

auf Griffith'S Schätzung.

Diese sollte grundsätzlich nur eine relative

Taxe sein. Die bäuerlichen Käufer welche unter den „Brigth Clauses" der Akte von 1870 ihre Pachtungen kauften und von der Regierung zu diesem Zwecke Darlehne erhielten, beklagten sich wenn bei der Beleihung der Grund­

stücke nicht'30 Prozent zu „Griffith'S Baluatton", als wirklicher Werth

des Pfandobjektes geschlagen wurden. — In der jetzigen Bewegung ist nun „Griffith'S Baluation" als all­

gemeines Feldgeschrei für die Pächter auSgegeben.

Sie durften im

vorigen November nur diesen Theil ihres Pachtgeldes offeriren, bei Ver­

meidung schwerer Ahnung von Seiten des lokalen Zweigvereins der Land League. — Ich kehre nun wieder zum Earl of Fitzwilliam zurück.

Pachtrente steht etwa 4 Prozent über Griffith'S Schätzung. und öffentlichen Lasten betragen: 6200 S.

Seine Brutto-

Die Steuern

Die allgemeinen Verwaltungs­

kosten: 3570 £.

Trotzdem hat Earl Fitzwilliam im Jahre 1879 nur 13,000 S. Netto­ einnahme auf sein persönliches Conto buchen können.

Die Zahl der Pächter ist: 1623; davon bezahlen:

unter 20 £

1070

50 „

351

20 bis

50



100 „

107

100



200 „

56

200



300 „

22

über 300 „

17

Drei Viertel der Pächter sind Katholiken, die großen sind fast sämmt­ lich Protestanten. Von dem GutSareale liegen vier Fünftel in Gras.

Die Pachtkomplexe

betragen durchschnittlich 60 Acres; als die beste Größe gelten 100 bis

150 Acres. Kleine Pächter, unter 10 Acres, sind im allgemeinen schlechter daran als die Arbeiter.

Die größeren Komplexe sind jetzt auf 31 Jahre verpachtet; die klei­

neren sind Jahrespachtungen. Pachtgeld-Remissionen wurden gegeben:

1844—59:43,000 £

1859-69 : 22,300 „ 1859—79:11,500 „

76,800 £

Die jetzigen Restanten belaufen sich nur noch auf etwa 5000 £. Die Wechsel in den Personen der Pächter betragen alljährlich 20

bis 30, einschließlich der Todesfälle.

werden, mit Opfern, fortgeschafft.

Alle Trunkenbolde und Faullenzer

Die Unterstützungen für auSwandernde

Gutsinsassen beliefen sich: von 1833-47 auf

4,500 L

von 1847—56 auf 19,000 £ 23,500 £

Almosen und andere Unterstützungen: 1844-56:11,500 £

1856- 59 :

2,057 „

1859—69 :

7,500 „

1869—79:

7,771 „

28,828 £ Für Schulen:

1844—59: 8,861 £ 1859—69 :

5,198 „

1869—79: 4,763 „ 19,822 £

Im Ganzen stehen diese Kapitel mit etwa jährlich

12,000 £ zu

Buche. Für landwtrthschaftliche Meliorationen wurde ausgegeben:

1844—59 : 42,676 £ 1859—69:116,700 „

1869—79:116,000 „

275,430 £ also beinahe die sechsjährige Bruttorente. —

Die Neubauten und Unterhaltungen kosteten: 1844—59 : 77,000 £

1859—69 : 66,000 „

1869—79 : 84,700 „ Seit 1858 wurden 140 neue Arbeiterhäuser gebaut.

Ausgabe: 8,500 £.

Die Pachtkontrakte enthalten hier und auf vielen Gütern der Gegend

die Bedingungen der „Leinster LeaseS"; so genannt weil sie auf den muster­

haft bewirthschafteten Gütern des Herzogs von Leinsten zuerst aufgestellt wurden.

Diese Normalbedingungen enthalten durchaus nichts was man

nicht in England, Frankreich und Deutschland als vernünftig und selbst­

verständlich ansehen würde, — nichts, wodurch sich ein guter Pächter be­ schwert fühlen könnte.

Trotzdem hat sich ein großes Geschrei dagegen

erhoben und die „Leinster LeaseS" sind eines der Agitationsmittel der Land League geworden. —

Auf allen diesen großen Gutskomplexen, welche alö Wirthschaften

erster Klasse bezeichnet werden können, treten gewisse gemeinsame karakteristische Symptome hervor:

Die

größeren Pächter

proSperiren

besser

die kleinen;

als

fleißigen mit hoher Pacht besser als die faulen mit niedriger.

treiben dann Politik und eifern gegen die schlechte Regierung.

die

Diese

Am besten

stehen diejenigen welche grade hinreichendes Areal für 1 oder für 2 Pferde und für die Arbeitskräfte ihrer Familie bewirthschaften; bei den kleinsten

Pächtern sind Meliorationen nicht beliebt, weil sie nicht als Tagelöhner

Die Gebäude sind überall vom Guts­

dabei mit Hand anlegen wollen.

herrn gebauet.

Die Pächter machen keine Meliorationen, es fehlt ihnen Alle Gutsherren streben nach allmähliger

dazu Kapital und Intelligenz.

Zusammenlegung der kleinen Pachtkomplexe.

Afterpacht und Theilung

der Pachtkomplexe ist streng verboten. —

Im Südwesten und Westen der Insel findet man häufiger auch größte Komplexe die nicht im Zustande erster Klasse sind.

Der größte Be­

sitzer im Südwesten ist der Lord Kenmare, mit 236,000 Acres; Grifsith's

68,800 £.

Schätzung:

haben

Hier

sich

vorzugsweise

pächter mit Kontrakten auf mehrere Lebenszeiten eingenistet.

die Zwischen­

Eine Masse

armer kleiner Afterpächter wird von diesen „Middlemen" mit 200 Pro­ zenten und mehr Pachtaufschlag auSgepreßt.

Diesem Krebsschaden ist nicht

so rasch abzuhelfen.

Trotzdem hat der Gutsherr hier 300 neue Arbeiter­

wohnungen erbaut

und

in

25 Jahren

71,000 £

für Meliorationen

Verkommene Pächter werden mit 3 bis 6 jährigem Pacht­

ausgegeben.

gelde entlassen, wovon sie allerdings meistens den größten Theil bereits

schulden. —

Noch einige Worte von einem

im Südwesten, Mr. Herbert.

10,500 £;

jetziger

auf 50 bis

Werth:

200 Acres

anderen Gutsherrn erster Klasse

Er besitzt: 50,000 Acres. Schätzung:

verdreifacht. gebracht.

Sämmtliche

Ueberall

Mr. Herbert ist stets mitten im Geschäfte;

stehen

Pachtungen sind

stattliche Häuser.

er revidirt fleißig, daß nicht

Schweine und Hühner im Zimmer wohnen und daß der Dunghaufen nicht vor der Hausthür angelegt wird.

Zuweilen fordert er von der Haus­

frau einen Besen und zeigt ihr dann, wie man Spinnweben auskehrt. Als durch den Bau einer Eisenbahn der Verkehr auf der Heerstraße nach­ ließ, meinten die daran liegenden Pächter: „Die Quälerei mit der Rein­

lichkeit sei jetzt wohl nicht mehr nöthig, es sehe es ja doch Niemand Fremdes

mehx". — Mr. Herbert steht im Sommer zwischen vier und fünf Uhr auf, dann -ersteigt er einen, sein Areal dominirenden Hügel und beobachtet teleSkopisch: welche Pächter schon im Felde sind? Die Langschläfer werden

häufig durch ein Geschenk von einem halben Dutzend Schlafmützen geehrt. —

Eine andere, geringerwerthige Klasse von Gutsherren sind

diejenigen die wenig leisten aber auch von ihren Pächtern wenig fordern. Leichtlebige stockirländische Landjunker, eifrige Fuchsjäger, unwissend und nachlässig.

Gleichgültig gegen Theilung und Afterpacht waren sie früher

populäre Männer.

Seit jedoch an der Wettbewerbung auf ihrem Markte

der halbe Erdkreis Theil nimmt sind sie im Kampfe um'S wirthschaftliche

Dasein zurückgeblieben und wenn sie jetzt sich weigern „Griffith'S Schätzung" statt beS bedungenen Pachtgeldes anzunehmen, dann — ist es mit der Po­ Sie werden geschmäht wegen ihrer „miserabelen Wirth­

pularität zu Ende.

schaft" sowie die vorige Klasse wegen ihrer „Tyrannei" verschrieen wird.

Wir kommen jetzt zu einer noch weit bedenklicheren und schädlicheren Klasse von Gutsherren: den „AbsenteeS". Man muß darunter alle die­

jenigen begreifen welche nicht auf ihrem Grundbesitze leben und für den­ selben wirken. Häufig ist nicht einmal ein verantwortlicher auf dem Gute wohnender Agent vorhanden und die Beziehungen zwischen Gutsherrn Gut und Pächtern beschränken sich auf Eintreiben der Pachtrente.

Na­

türlicher Weise wird die Gleichgültigkeit und Vernachlässigung von Seiten deS EigenthümerS durch die Bebauer des Landes noch übertroffen.

ES

ist selbstverständlich schwer, die Zahl der AbsenteeS mit einiger Genauig­

keit festzustellen.

Im Jahre 1871 wurde sie angenommen zu:

1443 außerhalb Irland lebenden Gutsbesitzern mit und 4496 in Dublin lebender Gutsbesitzer mit

.

5939 AbsenteeS mit...........................................

.

3,205,000 Acres 4,075,000



7,280,000 Acres.

ES wären das 36 Prozent der Gesammtfläche.

Der Durchschnitt

des Areals auf den Kopf der erstern Klasse ist 2140 Acres — der zweiten Klasse 900 Acres.

Es sind also hier wesentlich die kleineren Besitzer

vertreten.

Die Landagenturen für diese Abwesenden bilden ein schwung­ haftes

Geschäft vieler Attorneys in den Städten.

So vertreten die

Herren Hussey und Townsend in Cork: 88 Güter mit 3000 Pächtern.

Sie heben

jährlich

etwa

250,000 £ Pachtgelder.

der Pächter hat einen Kontrakt.

durchschnittlich in schlechtem Stande. verkaufen, (free sale).

rente.

Nicht

ein

Fünftel

Die niedrig verpachteten Güter sind Die Pächter dürfen ihr Pachtrecht

Sie bekommen regelmäßig die fünfjährige Pacht­

Nach den Erfahrungen dieser Herren sind die größten Eigen­

thümer die besten Gutsherren.

Ist der Verpächter mit Hypotheken schwer

belastet, oder nur ein lebenslänglicher Nießbraucher, oder ein General­

pächter mit Kontrakt auf mehrere Lebenszeiten, oder ein Geistlicher, oder eine alte Dame: so machen sie möglichst wenige Meliorationen.

Pächter macht überhaupt gar keine.

Der

Zu der Klasse der Absenters gehört nothwendiger Weise auch dir todte Hand.

Zwei akademische Korporationen, das College of PhhsicianS

und das Trinith College, beide zu Dublin, wurden namentlich als Be­

sitzer vernachlässigter Güter mit verfallenen Gebäuden, ausgesogenem Bo­ den und ausgedehnter Verpachtung an „Middlemen, öffentlich angegriffen.

Sie suchten nachzuweisen, daß sie doch in den letzten Jahren manches ver­

wendet hätten.

Adhuc sub judice lis ist.

Unter dieser Klasse von AbsenteeS nimmt die Kürschnergtlde in Lon­ don, mit gegen 35,000 Acres, und die Tuchhändlergilde daselbst, mit 27,000 AcreS, in Ulster einen hervorragenden Platz ein. —

Die

neuen Gutsherren,

welche

binnen der letzten

25 Jahre

ihren Besitz im „Gerichtshöfe der verschuldeten Güter" gekauft haben, lassen sich füglich in zwei Klassen zerlegen. Intelligente gebildete that­

Erstens: gute moderne Landwirthe.

kräftige Männer, welche Güter

von mäßigem Umfange gekauft haben,

welche neue Kulturmethoden und Viehraffen erführen und fleißig drainiren.

Sie sind ein Gewinn für daS Land.

Vielleicht nicht sehr liebenswürdig;

vermuthlich den Verehrern des alten Schlendrians recht unbequem.

Ein

strebsamer, tüchtiger Pächter jedoch wird besser mit ihnen fahren als mit

dem Krautjunker oder dem Absentee.

Lord Cloncurry, einer von ihnen,

hatte jährlich 4000 £ für Tagelohn bezahlt.

vertrieben.

Er wurde kürzlich gewaltsam

Anscheinend ist der Land League weder ein Beispiel ver­

besserter Wirthschaft genehm noch ein reichlicher Verdienst für die Arbeiter. Zweitens: schlechte

neue

Gutsbesitzer.

Kleinere

Kapitalisten,

reich gewordene Krämer, erfolgreiche Sachwalter die tat Landed EstateS

Court

gekauft

haben,

die nun ihren Besitz

ganz

vom kommerziellen

Standpunkte auS betrachten und vor allem dem großen Grundsätze deS „free trade“ huldigen: auf dem

dem theuersten verkaufen. folgender

Gestalt:

billigsten Markte einkaufen —

auf

Sie karakterisirte ein irischer Oberrichter

„Tyrannen, die stets

ihr

formelle- Recht auf daS

äußerste verfolgen, die ihren unglücklichen TenantS den

auSpressen, die ihre Stellung nur als ein

letzten Heller

kommerzielles Geschäft in

der schärfsten Bedeutung des Wortes behandeln". — „Ihre Pächter fürch­ ten sich, Preise für Kulturverbesserungen davon zu tragen weil sie vor­

aussehen daß sie werden im Pachtgelde gesteigert werden." händler sind gradezu die Pest deS Landes geworden.

Diese Land­

Sie sind es, die

stets im Hader mit den Pächtent liegen, durch Steigerungen Kündigungen und Aneignung der von jenen gemachten Verwendungen. Agitatoren den werthvollsten Zündstoff für die

geliefert.

Sie haben den

gegenwärtige Erregung

Durch die Entstaatlichung der irischen protestantischen Kirche (1869)

und den Verkauf ihrer Güter sowie durch die Landakte von 1870 ist eine neue Klasse von etwa 6000 bäuerlichen Eigenthümern geschaffen. Die meisten von ihnen sollen bis jetzt ihre Annuitäten richtig bezahlt und noch dazu Kapitalien für Meliorationen angeliehen haben.

ES wäre dieses

eine erfreuliche, landwirthschaftliche wie soziale Erscheinung. 2. Der irische Nationalkarakter. Um die Lage der Dinge auf der Grünen Insel im allgemeinen zu

beurtheilen, um namentlich sich ein annähernd zutreffendes Bild von der Anarchie zu bilden welche dort zur Zett durch die Thätigkeit der LandLeague und durch die bisherige Unthätigkeit der Regierung organistrt ist;

um endlich in der Fluth der, für die jetzige agrarische Krankheit in Irland vorgeschlagenen Heilmittel nicht völlig steuer- und

kompaßloS einherzu­

treiben: — für diese, uns noch bevorstehenden Betrachtungen scheint eS mir unerläßlich: den irischen Nationalkarakter, dieses wunderliche Gemisch von

anscheinend völlig widerstreitenden und unvereinbarlichen Seiten, etwas näher zu beleuchten. Ich schlage vor, über diese komplexe Materie zwei Zeugen zu ver­ nehmen welche ich für gut unterrichtet und wenngleich nicht unparteiisch,

dennoch für so entgegengesetzt in ihren Standpunkten halte, daß in ihren Schilderungen

Licht

und

sich vielfach

Schatten

gegenseitig

berichtigen

werden. Mein erster Zeuge ist Mr. Stansfield; M. P. seit 20 Jahren Mitglied früherer liberaler Ministerien, ein „Radical", zur Zeit Mitglied der großen „Königlichen landwirthschaftlichen Kommission", übrigens Richter. Als Mitglied jener Kommission hat er Irland im vorigen Herbste mehrere

Wochen hindurch bereist und studirt.

Er sprach sich kürzlich in einem

öffentlichen Vortrage folgender Maßen aus:

Das irische Volk hat gewisse Fehler und Schwächen welche gerade auf uns Engländer besonders unsympathisch wirken.

Dennoch ist eS ein

Erwägen wir die dortige Armuth, die

edles und liebenswürdiges Volk.

HungerSnöthe, den Mangel an Industrie, an Fabriken und Handel, den AntogoniSmuS der Raffen und Bekenntnisse: so müssen wir anerkennen

daß da- irische Volk von der herrschenden Klasse, sowohl in Irland selbst als in England, misregiert ist.

Aber ebensowenig hat eS das irische Volk

verstanden: sich selbst zu leiten.

Im Oktober wollte dort Jedermann

nichts weiter erreichen als die drei F'S.

gehend gehandelt werden).

(Bon diesen wird später ein­

Nebenbei vielleicht eine Erweiterung der „Brigh

ClauseS".

In den kurzen fünf Wochen welche Mr. Stansfield in.Irland

zubrachte, war die Land League bis zu absoluter Entsetzung der Grund­ herren vorgerückt.

„Die Irländer sind demnach ein impulsives Volk ohne

genügende Stetigkeit des Denkens, zu Uebertreibungen geneigt. Es mangeln ihnen Sammlung, Mäßigung und ausreichendes Urtheil in demjenigen was sie jeweilig treiben und erstreben.

Aus diesen Schwächen hat sich

jetzt dort ein Terrorismus entwickelt der Leben und Eigenthum gefährdet." — Soweit Mr. Stansfield. — Umfassender und gewichtiger ist die Aussage meines zweiten Zeugen:

Er ist ebenfalls ein Engländer und war in seiner

Mr. Bence Jones.

Jugend ein Londoner Barrister.

Vor vierzig Jahren erbte er ein ver­

nachlässigtes. und verkommenes Gut in Irland, in der Nähe von Cork.

Durch

angestrengte unausgesetzte intelligente Thätigkeit

eine rentable Musterwirthschaft gemacht.

hat

er daraus

In allen öffentlichen Angelegen­

heiten genießt er wegen seiner Bereitwilligkeit und Einsicht eines vorzüg­

lichen Rufes.

Schon seit Jahren schrieb Mr. Bence JoneS über irische

agrarische Fragen in englischen Zeitschriften.

Seit einigen Monaten ist

er ein durch ganz England bekannter Mann wegen des furchtlosen hart­ näckigen und erfolgreichen Widerstandes den er dem Terrorismus der Land

League, namentlich dem jetzt sogenannten „Boycotten" geleistet hat. Dieser Mann der Praxis und der vierzigjährigen Beobachtung hat

jetzt seine früheren und neuesten Schriftstücke in ein sehr interessantes Buch vereinigt unter dem Titel:

„Eine Lebensarbeit in Irland, von einem

Gutsherrn der bestrebt war seine Pflicht zu thun".

Ich will versuchen

alles was er in diesen Aufsätzen über den irischen Nationalkarakter sagt

zu einem Bilde zusammenzustellen, wie folgt: „Der Ire ist keineswegs das kindliche unschuldige unbehülfliche Wesen

zu dem man ihn hat machen wollen.

Er ist der schlaueste und schärfste

Handels- und Geschäftsmann (bargainer) in Europa.

Die Juden können

in Irland nicht aufkommen; (1871: 285 Juden); denn es giebt dort Nie­ manden zu übervortheilen.

beweglichen Sinn.

Das Volk hat daneben einen lebhaften leichten

Es ist gutherzig träumerisch phantasieretch; — laut

in seinen Lustbarkeiten, reizbar.

Der Irländer ist witzig und listig, von

instinktmäßiger rascher Auffassung; er giebt sich jedoch häufig, aus Be­ rechnung, stumpf und einfältig.

und abergläubisch. Jahre 1871: 33%.

Dabei ist er unwissend und roh — bigot

(Die Zahl der Analphabeten über 6 Jahre war im Von den Katholiken waren Analphabeten: 39%;

von den Methodisten 6,5%; von den Presbyterianern: 9,5%; von den

Anglikanern:

14,2%).

Es steckt in ihnen eine „Alte-Weiber-Ader".

Jeder kommt, wenn ich in einer Schwierigkeit bin,

um theilnehmend

mit mir zu klagen und

mir jeden beunruhigenden Klatsch vergrößert

zuzutragen.

DaS Land leidet an drei Grundübeln:

Lügen — Trunk —

Schulden.

Der Mangel an Wahrhaftigkeit ist die vorwaltende Landessünde.

Hier

ist die Heimath. der Uebertreibung, der Leichtgläubigkeit und deS Mangels

an gesundem ruhigen Urtheile.

Jede Zahlenangabe muß man stets mit

2 dividiren. Vermöge der allgemeinen Geriebenheit durchschauet jeder Irländer seinen Nachbarn unb~ stößt sich nicht an den Widerspruch zwischen dessen Worten und Handlungen.

Daher folgen sie auch in politischen Bewe­

gungen dem notorischen Schwindler.

Ein jeder beabsichtigt, sich schon bei

Zeiten davon zu machen nachdem er sein PrivatprofitcheN in'S Trockne

gebracht hat.

Niemand spricht gern eine unangenehme Wahrheit aus. Niemand erwartet die Herrschaft

Daher allgemeine Unzuverlässigkeit. von Wahrheit und Recht.

Gewinnt ein Irländer einen Prozeß so bedankt

er sich beim Richter für „gütige Beihülfe". Zu den wichtigsten Landesinstitutionen gehört der „Freund unter den

Geschworenen".

Wegen der für Berurtheilungen erforderlichen Einstim­

migkeit der Jury arbeitet jeder Anwalt vor allem darauf hin, einen Ge­ schworenen dahin zu bringen daß er Widerstand leistet.

Zu diesem Zwecke

wird in jeden gleichgültigen Civilstreit irgend eine Parteifrage hineinge­

zerrt: Religion, Politik, Gutsherrlichkeit.

Will der Irländer einen Dritten

als Vertrauenswerth empfehlen so sagt er: „Jack ist nicht der Mann, der

für nichts lügen würde".

Der Irländer hat immer noch die Tugenden

der alten Sippen-Gemeinschaft.

Treue gegen die eigenen Versippten, Ver-

rätherei und Lüge gegen jeden Fremden, d. h. gegen die Well im allge­

meinen.

Damit hängt ihre Neigung zur Parteibildung zusammen.

Ueber

jede Frage bilden sich „FaktionS" die dann sofort wie Lawinen anschwellen und sich bei jeder Gelegenheit leidenschaftlich bekämpfen.

In Tipperary

war vor einigen Jahren eine berühmt gewordene „Faktion" zwischen den

Zweijährigen und den Dreijährigen.

Was war die Ursache? Auf einem

Hofe auf der Grenze zweier Kirchspiele stand ein Zuchtstier von dem das eine Kirchspiel behauptete: er sei zu einer gewissen Zeit zweijährig ge­ wesen — daS andere: dreijährig.

Da keiner wich so prügelten sie sich

erst zu Hause, dann rauften und stachen sie an jedem Markttage und nicht

minder an den Feiertagen nach der Messe.

Die Zwei- und Dreijäh­

rigen verbreiteten sich über mehrere Grafschaften.

mächtig, die Geistlichkeit donnerte vergebens.

Die Polizei war ohn­

Der Streit flackerte mehrere

Jahre lang stets von neuem irgendwo wieder auf. — Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLVI1. Heft 3,

19

Den Irländern fehlt die persönliche Unabhängigkeit des KarakterS. Jedermann hat Furcht.

zu imponiren. nung.

Jedermann sucht im Streite durch Rodomontaden

Die Majorität der Bevölkerung wünscht Frieden und Ord­

ES giebt jedoch zu viele „Politiker" von Profession die von der

allgemeinen Unzufriedenheit leben.

Indessen betreibt der Irländer seine

Auflehnung gegen daS Gesetz stets mit einer gewissen Feigheit. nicht schießen wenn er weiß daß wieder geschossen wird.

Er wird

AlS während

der Fenierzeit die Habeas-CorpuS-Akte in Irland suSpendirt wurde waren

sofort alle Dampfer nach England hinüber mit austretenden Vaterlands­ befreiern gefüllt. Andererseits ist in den geheimen agrarischen Verbrechen bereits eine

fortschreitende Civilisation unverkennbar.

Früher wurde der misliebige

„neue" Pächter oder Agent mit seiner ganzen Familie in seinem Hause

Jetzt schneidet man nur noch ihm persönlich die Ohren ab.

verbrannt.

Alle diese guten und schlechten Eigenschaften kann man in London an den irischen M. P'S. studiren.

Sie sind die „creme de la creme“

ihrer Nation. —

Dem irischen Pächter fehlen die wesentlichsten Eigenschaften für einen bäuerlichen Eigenthümer.

In guten Zeiten drängt er sich leichtsinnig

zum Angebote eines hohen Pachtgeldes.

In schlechten Zeiten hoffen sie

durch übertriebenes, oft verstelltes Jammern und Heulen einen Erlaß zu erwirken.

Selbst der faule und unbrauchbare Pächter ist ein „gerissener"

Handelsmann; fein Dichten und Trachten geht auf unreelle Profitchen aus.

Vor einigen Jahren besuchte mich ein junges englisches M. P. um Ich wies ihn zu einer meiner Pächterinnen die

Lokalstudien zu machen.

stark im Rückstände war und allernächstenS gekündigt werden sollte.

Frau jammerte und heulte erbärmlich.

Die

Aus seinen eingehenden Fragen

aber mußte sie nachträglich geschlossen haben: er sei einer der Beamten deS Sheriff.

Kaum hatte er das Haus verlassen so rannte sie ihm nach

mit der Versicherung: in ihrer Kasse". und Pfennig.

„daS ganze rückständige Pachtgeld liege vorräthig

Dann brachte sie eS mir, in großer Hast, auf Heller

Ich schickte dem Herrn eine Postkarte nach mit der Bitte:

er möge mich doch ja im nächsten Jahre wieder besuchen.

Von Natur und aus eignem Triebe ist der irische Landwirth nicht fleißig und leistungsfähig.

Rücken".

Er ist ausreichend klug, hat aber „keinen festen

Die verarmten bäuerlichen Eigenthümer werden dann daS Be­

triebskapital der politischen Agitatoren. Allerdings ist der agrarische Pauperismus in Irland, namentlich in

Connaught und im Südwesten von Munster, immer noch vorherrschend.

CS kultiviren immer noch 2 bis 300,000 kleinste Pächter schlechten Boden.

Sie bearbeiten ihn häufig nur stellenweise und mit dem Spaten. Geräthe sind trostlos.

Die

Vor dreißig Jahren kannte man dort nur ein

hölzernes pflugartiges Werkzeug, und kein Rad mit Speichen.

So

halten sie sich in guten Jahren eben über Wasser, in schlechten verhungern

sie, wenn sie nicht ein Dritter futtert. Pachtkündigungen im Jahre 1880: Familien

Köpfe

.

554

2748

.

.

687

1355

.

.

671

3447

.

.

Quartal I

.

.



II

.



in

.



iv

.

198

945

2110

8495

Davon jedoch wurden wirklich entsetzt nur 960 Familien mit 4500 Köpfen, also auf 600 Pächter: 1.

Die übrigen wurden wieder angenommen oder als Verwalter (caretakers) ihrer früheren Pachthöfe auf diesen belassen.

Der Abfall des Quartals IV erklärt sich zunächst wohl daraus, daß

im Jahre 1879 MiSernte war, im Jahre 1880 dagegen eine der reichsten Ernten seit Menschengedenken. ES ist hiebei allerdings zu berücksichtigen, daß im Quartal IV jede

geordnete Rechtspflege und jeder Rechtsschutz aufgehört hatten.

„Der ganze Zustand VeS Landes", mit diesem Worte möchte ich Mr. Bence JoneS schließen lassen „ist unentwickelt, die Irländer stehen noch

in der Kindheit".

Ich meine jedoch:

drängt sich dem Leser nicht unwillkürlich die An­

sicht auf, daß die von Mr. Bence JoneS geschilderten Fehler der Irländer: Lüge, Unselbständigkeit, Feigheit, Leichtsinn, Trägheit, mangelndes Gefühl

der eignen Verantwortlichkeit, — wesentlich die Eigenschaften einer unter­

drückten, miSregierten Nation find; mögen dieselben auch jetzt durch erb­

liche Aneignung: angeborene Fehler geworden sein. — 3.

Da« irische Armengesetz.

Die Frage des Pauperismus, die wir in den vorstehenden Zeilen be­

rührt haben, leitet uns unwillkürlich auf daS englische Armengesetz und seine Wirksamkeit in Irland hin.

Im Jahre 1838 wurde die Grundlage der jetzigen irischen Armen­

gesetzgebung gelegt: durch die Bildung größerer Armenverbände, durch die Erbauung eines Werkhauses in jedem Verbände und durch das Prinzip:

daß nur im Werkhause Unterstützung gegeben werden dürfe. 19*

Zugleich

Die irische Landfrage.

282

wurde für jeden Verband eine Behörde: die Armenpfleger, errichtet, mit Befugniß zur Umlegung von Armensteuer über den Verband. Im Jahre 1844 wurde für England und Schottland die Unterstützung auf zwei verschiedenen Wegen zugelassen: im Werkhause, und in der Wohnung des Armen; letztere wird in England: „Außer-HauS- (d. h.

Werkhaus) Unterstützung" genannt.

Diese Erweiterung deS Gesetzes ist nicht vollständig auf Ir­ land ausgedehnt.

Hier giebt eS auch heute gesetzlich nur WerkhauS-

Unterstützung für die gesunden und arbeitsfähigen, aber ar­ beitslosen, Armen.

Dagegen ist im Jahre 1847, nachdem während

der Hungersnoth viele Armenpflegschaften auf Grund des Gesetzes jede

HauSunterstützung verweigert hatten, diese zugelassen für:

Alte, Kranke

Wittwen mit 2 Kindern, Arbeitsunfähige.

Arbeitsfähige Arme bekommen erst dann Unterstützung — direkt oder durch Beschäftigung — wenn sie in's WerkhauS gegangen sind, eS sei denn,

dieses wäre gefüllt oder durch Krankheiten infizirt. In der „Fortnightly-Review" vom 1. Januar 1880 weist nun ein

Geistlicher, Dr. Neilson Hancock nach, daß und warum diese einschränkende

Bestimmung des irischen Armengesetzes eine reiche Quelle der gegenwär­ tigen agrarischen Aufregung und der Agitation sein müsse.

Ich will versuchen, seine umfangreiche Abhandlung in die folgenden

Sätze zu kondensiren. Im Sommer 1879 erhielten Armenunterstützung:

1.

Personen

in Irland

.

90,382

.

in Schottland .

nach dem Verhältnisse

in England und

seiner Bevölkerung

Wales

2.

.

.

154,348; also mehr: 63,966. 171,638;

zu der Irlands





81,256.

Hätte Irland ebenso reichlich unterstützen dürfen wie die anderen

Theile deS Königreichs, so wäre viel Zunder für die Agitation verloren gegangen.

Mr. Parnell hätte dann nicht mit Erfolg

über den Satz

predigen können: die Armen Irlands müssen in Zukunft die erste Last auf der Pachtrente werden.

3.

In England können in der Nothzeit die Armenpfleger die volle

erforderliche Armensteuer auferlegen.

In Irland nur die Hälfte.

Uebrige muß freiwillig aufgebracht werden.

OaS

ES ist das offenbar eine un­

gerechte Begünstigung der AbsenteeS. 4.

In Connaught, namentlich in der Grafschaft Majo, lebt die

Mehrzahl der kleinen Pächter in Wirklichkeit als Arbeiter.

1878

beförderte

die

Midland

Great

Western-Eisenbahn

Im Jahre

von

dort

Im Jahre 1879:

27,000 Arbeiter nach England.

nur 20,000.

für jene Gegend ein Ausfall von 100,000 £.

war

DaS

Von ihrem Ver­

dienste in England während drei bis vier Sommermonaten bezahlten jene kleinsten „Hüttenpächter" ihre Pachtrente.

Alle diese Arbeiter wissen nun,

daß in England jeder Bedürftige in seinem Verbände zu Hause unter­ stützt wird.

In Irland aber müssen sie, als arbeitsfähige Arme, als

Familienväter, zuvor in'S Werkhaus gehen.

In Buttevant

erschienen im Jahre 1879 sechsundsechzig Arbeiter,

mit der Bitte um Unterstützung durch Beschäftigung, vor den Armen­

Diese beschlossen: Pläne und Anschläge für Ausführung nütz­

pflegern.

licher Arbeiten machen zu lassen.

Die Sechsundsechzig baten, ihnen in­

zwischen HauSunterstützung zu gewähren.

Die Armenpfleger:

verlangt, daß Ihr die Unterstützung im Werkhause erhaltet.

„DaS Gesetz Geht dort

hin, dann wird euere Familie zu Hause unterstützt". Die Arbeiter: „Wir können unsre hungernden Familien nicht zu Hause sitzen lassen".

WaS geschah? Die Armenpfleger zeichneten eine Liste und bezahlten freiwillig die Unterstützung auS eigener Tasche.

Die AbsenteeS bethei-

ligten sich an dieser freiwillig-nothwendigen Steuer nicht.

5. um die

DaS eingeschränkte Armengesetz ist ein höchst wirksames Mittel irischen Güter von insolventen Pächtern

„zu Hären".

solche Gutsübervölkerung liegt dem Grundherrn auf der Tasche.

Eine

Er kündigt

und zeigt alsdann den bevorstehenden Abzug der gekündigten Familien den

Armenpflegern an, damit diese rechtzeitig für den Unterhalt sorgen.

„weggeklärten" TenantS gehen mit ihren Familien in'S WerkhauS.

Die

Früher

deckte man den Renitenten die Dächer ihrer Hütten ab, jedoch ist dieser

Grad der Selbsthülfe jetzt unter das Strafgesetz gestellt. 6.

In Irland können die Geistlichen nicht Armenpfleger werden.

In England und Wales sind sie wählbar, in Schottland sind sie geborene Mitglieder.

Dagegen sind die Geistlichen stets die thätigsten Mitglieder

der freiwilligen Armenflege.

Diese Bestimmung trifft alle Geistlichen,

ist aber hauptsächlich gegen die katholischen gerichtet, denn andere würden — äußer im protestantischen Ulster — überhaupt bei den Wahlen nicht

in Frage kommen. — 7. ES giebt in Irland 163 Armenbezirke; in jedem ist ein Werk­ hauS.

Viele dieser Anstalten sind sehr groß, namentlich in den Städten.

Cork beherbergt 2500 Menschen in seinem Werkhause; Dublin in seinen

zwei Häusern noch mehr. und sterben. Werkhäusern.

Hier werden Generationen geboren, heirathen

Viele gesunde junge Leute wohnen mit ihren Eltern in den Der Trunk grassirt dort stark.

Die irische Landftage.

284

4. Englische Nationalanschaunngen und ihre schädliche» Wirkungen für Irland.

Für die Abrundung vorstehender Skizze der irischen Landbevölkerung dürften noch einige Worte über die schädlichen Wirkungen gewisser eigen­

thümlicher

englischer Nationalanschauungen auf Irlands Zustände nicht

unwesentlich sein. Ich entnehme dieselben einem Aufsatze in der Fortinghtlh Review (Januar 1, 1881) von Str John Campbell.

Der Verfasser, ein Liberaler,

Jurist, brachte fast sein ganzes Leben in hohen Stellungen in Indien zu. Er hat dadurch eine nicht gewöhnliche Weite der Anschauung gewonnen. Er sagt:

„Die Engländer sind das abergläubischste Volk von der Welt.

es giebt auch anderen Aberglauben außer dem religiösen.

Denn

Sie haben eine

abergläubische Verehrung für ihre Gesetze, für ihre volköwirthschaftlichen Prinzipien, für ihre agrarischen Verhältnisse."

„Da nun die Engländer sich in diesen — und manchen anderen — Punkten von der übrigen Welt unterscheiden, so — schließen die Engländer

In dieser Weise sind sie mit Irland Sie gaben Irland englische Gesetze: freie Presse — freies

— hat die übrige Welt Unrecht.

verfahren.

Wahlrecht — und englische

Geschworengerichte.

Aber sie gaben den

Irländern nicht, was diese vor Allem bedurften: ihr Land. Zu dem nationalökonomischeu Aberglauben der Engländer gehört auch

der Satz: daß alle Uebel in der Welt durch Zuleitung von Kapital geordnet und geheilt werden können.

Sie leiteten, durch den Encumbered

EstateS Hof, Kapital zu und glaubten: nun werde in Irland das tausend­ jährige Reich beginnen.

Aber die Irländer sind so verderbt und verdreht, daß selbst „Kapital" sie nicht kuriren konnte.

„Kontrakte" gefielen ihnen nicht.

Käufer die

„Zinsen halten" wollten, gefielen ihnen noch weit weniger.

So wurden

sie unruhig und jetzt sind sie Aufrührer.

Und in diesem gesetzlosen Treiben schützt sie der größte aller eng­ lischen Aberglauben: die Einstimmigkeit der Jury.

Früher wur­

den, zur Abstellung dieses Uebelstandes, die irischen Juries gefälscht. Seit dieses Auskunftsmittel aber durch das Gesetz verboten ist, steht eS

dort um so schlimmer!

ES giebt in Irland überhaupt keinen geordneten

Rechtsschutz mehr! — (Schluß folgt.)

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem fiebenjährigen Kriege. i. Der erste Vertrag zwischen einem Hohenzallernfürsten und

einem

russischen Zaren ist 4m Jahre 1517 unterzeichnet worden, aber der erste feste Jnteressenbund zwischen Preußen und Rußland wurde erst nach zwei­

hundert Jahren geschlossen.

Im Jahre 1713 capitulirte die schwedische

Die russische Macht,

Festung Stettin an ein russisches Belagerungsheer.

die in jenem Jahre das ganze continentale Gestade der Ostsee von Inger­

manland bis Kiel militärisch umspannte, schien durch die Besitznahme der

Odermündungen den eisernen Ring schließen zu wollen.

Aber im Schwedter

Vertrage vom 6. Oktober 1713 übergab Rußland die eroberte Festung dem

Sequester des Königs von Preußen, der bisher in dem Kampfe zwischen

Rußland und Schweden sich neutral verhalten hatte, der in diesem Kampfe die Entscheidung geben konnte.

Das Opfer, durch das Rußland die preu­

ßische Freundschaft erkaufte, bewies wie unentbehrlich ihm dieselbe zur Be­

gründung seiner europäischen Machtstellung war.

Rußland erkannte die

norddeutsche Macht als gleichberechtigt neben sich an und theilte mit ihr

die Vorherrschaft am baltischen Meere. Auf der Basis dieses CompromisseS haben sich die Beziehungen zwischen den beiden Staaten weiter entwickelt.

Ein Keim zu Zwistigkeiten

aber lag in der gleichzeitigen Verbindung Rußlands mit Oesterreich.

In­

dem Rußland für seine orientalische Politik ebenso mit Oesterreich rechnen

mußte, wie mit Preußen für seine westeuropäische Politik, indem Preußen und Oesterreich aber seit lange in politischem Gegensatze standen, lag eS in der Natur der Dinge, daß Rußland in diesen Gegensatz htneingezogen

wurde und zu ihm Stellung nehmen mußte, zumal seit der Gegensatz mit

der Thronbesteigung Friedrichs II. in eine acute Krists trat. Als König Friedrich Wilhelm I. die Augen schloß, war in Peters­

burg der österreichische Einfluß vorwiegend.

Eine der ersten politischen

Maßnahmen deS neuen Königs war, ein intimeres Verhältniß zu Ruß-

286

Preußen und Rußlaud im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

land. Wiederherzustellen.

Es gelang ihm, noch im Jahre 1740 eine Defensiv-

allianz mit dem Petersburger Hofe abzuschließen,

ohne daß

indeß der

österreichische Einfluß in Petersburg gebrochen worden wäre.

In dem

Kriege um Schlesien standen die russischen Staatsmänner und die Her­ zogin von Braunschweig, die für ihren unmündigen Sohn Iwan nach

dem Tode der Kaiserin Anna die Regentschaft führte,

mit ihren Shm-

pathieen auf der Seite Oesterreichs, und vielleicht hätte Rußland noch offen zu Ungunsten Preußens in den Krieg eingegriffen, wäre nicht im

Dezember 1741 unter Mitwirkung französischer Einflüsse der junge Kaiser

gestürzt und die Prinzessin Elisabeth, die Tochter Peters des Großen, auf den Thron gehoben worden.

Mit Elisabeth erneuerte König Friedrich

im März 1743 die preußisch-russische Defensivallianz; ein reges politisches Einvernehmen aber stellte sich erst in der zweiten Hälfte dieses Jahres

her, als nach der Entdeckung von Palastintriguen gegen die neue Herr­ scherin, an denen der österreichische Gesandte betheiligt gewesen sein sollte, eine sehr gereizte Spannung zwischen der Zarin und der Königin Maria

Theresia eintrat.

Der preußische Einfluß schien in den folgenden Monaten

am russischen Hofe allmächtig; die Braut, welche Elisabeth ihrem Neffen

und Thronfolger, dem Großfürsten, Peter, verlobte, verdankte ihr glän­ zendes Loos der Empfehlung des Königs von Preußen: eS war Sophie Auguste von Zerbst, die nachmalige Kaiserin Katharina II.

DaS Ziel,

das König Friedrichs Politik in dieser Zeit in Rußland verfolgte, war, für den neuen Krieg, den er gegen Oesterreich vorbereitete, sich wo nicht der Bundesgenossenschaft der Zarin, so doch ihrer wohlwollenden Neu­

tralität zu versichern.

Zu diesem Zwecke hätte er die Entfernung des

VicekanzlerS Grafen Alexei Bestushew gewünscht, mit dessen zahlreichen

Feinden am russischen Hofe der preußische Gesandte, Freiherr von Mar-

defeld, in Verbindung trat.

Aber in dem Augenblicke,

wo Mardefeld

seinem Ziele ganz nahe zu sein glaubte, gelang eS dem Vicekanzler, seinen gefährlichsten Gegner, den von der Kaiserin einst hoch begünstigten fran­ zösischen Gesandten La Chetardie, zu schmählichem Falle zu bringen: Che-

tardie wurde mit ZwangSpaß über die Grenze geschafft, während Bestu­

shew gleichsam zum äußeren Zeichen seines Steges die seit einiger Zeit

nicht verliehene Würde eines Großkanzlers erhielt.

Noch zögerte die Zarin,

trotz der Ausweisung des französischen Diplomaten, entschieden auf die

Seite der Gegner Frankreichs und Preußens zu treten.

„In den nächsten

sechs Monaten hat Ew. Majestät von der Kaiserin nichts zu fürchten, aber auch nichts zu hoffen", schrieb Mardefeld am 23. Juli 1744 nach Berlin.

Wenn der französisch-preußische Einfluß am russischen Hofe den

englisch-österreichischen eine Zeit lang noch zu bekämpfen vermochte, so war

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

287

er doch sichtlich im Niedergänge, während der letztere beständig stieg.

Im

Herbst 1745 hatte sich die Situation so vollständig verändert, daß nach

der Kriegserklärung Friedrichs II. gegen Sachsen der russische Gesandte in Berlin eine Note überreichte, durch welche die Kaiserin erklärte, daß

sie im Falle der Eröffnung der Feinseligkeiten gegen Sachsen ein HülfScorpS zu Gunsten des Dresdner Hofes agiren taffen werde.

König Frie­

drich hat die russische Drohung unbeachtet gelassen; auf die Nachricht von dem Plan der Sachsen und Oesterreicher zu einem Winterfeldzuge gegen

Berlin betrat er das sächsische Gebiet und die überraschende Schnelligkeit seiner Waffenerfolge nöthigte seinen Feinden den Frieden auf, ehe daS

russische Corps die preußische Grenze erreichen konnte. Die russischen Truppen machten Halt; bis in den Sommer von 1746 hinein gewärtigte Friedrich II. ihren Angriff und zugleich die Wieder­ aufnahme der Feindseligkeiten durch Oesterreich.

Petersburg in

AIS sein Gesandter in

seinem Auftrage von dem Großkanzler eine Aufklärung

wegen der russischen Truppenconcentrattonen erbat, wurde ihm eine nichts­ sagende Antwort zu Theil*).

Der Angriff unterblieb, aber die russischen

KriegSvorbereitungey wurden nicht sistirt.

Die Truppen blieben in den

Grenzbezirken versammelt und wurden.verstärkt; jeden Herbst wurden sie

in Winterquartiere diSlocirt, um mit jedem jungen Jahre zu neuen De­

monstrationen zusammengezogen zu werden.

DaS währte ein volles Jahr­

zehnt, bis zum Ausbruch deS siebenjährigen Krieges.

Man pflegt als Hauptursache des Zerwürfnisses zwischen den Höfen von Berlin und Petersburg, das zu der Betheiligung Rußlands an der europäischen Coalition gegen Preußen führte, den Haß der Kaiserin Eli­ sabeth gegen Friedrich den Großen zu nennen.

Wenn aber schon ein

einzelner als Urheber des preußisch-russischen Zwistes genannt werden soll^ so war der Krieg vielmehr daS Werk des Kanzlers Bestushew, der die

Kaiserin nur schrittweise, ganz allmältg, in seine Pläne gegen Preußen hineingezogen hat.

Elisabeth von Rußland hatte nichts von der Leidenschaft und Energie, womit

Maria Theresia

den Krieg

gegen Preußen

diplomatisch

und

militärisch vorbereitete, noch auch von jener dämonischen Frivolität, wo­

mit die Pompadour das Frankreich Ludwigs XV. in diesen Krieg trieb; in dem weiblichen Triumvirat, das sich gegen den König von Preußen verschwor, nimmt die Zarin ohne Frage den letzten Platz ein.

Sie bis

zur Theilnahme an dieser Verschwörung zu bringen, mußte vieles voran­ gegangen sein, denn einst hatte man ihr die Lust und Fähigkeit zum Ca*) Vcrgl. Politische Correspondenz Friedrichs deS Großen 5, 74—77. 144.

288

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

baliren vollständig absprechen wollen: zu einer Verschwörung sei ihre Hoheit

zu dick, schrieb vor ihrer Thronbesteigung ein englischer Diplomat*) mit des

Shakespearischen Cäsar gegen die

hageren Leute mit dem hohlen Blick.

Gutartig, weichherzig, empfänglich,

Anspielung auf die Abneigung

von der Natur freigebig ausgestattet, eine majestätische Erscheinung, die

alle Damen ihres Hofes verdunkelte, eine graziöse Erscheinung trotz ihrer Körperfülle, zugleich leutselig, verbindlich und gewinnend**), im Gespräch warm und lebhaft, war die Tochter Peters des Großen auch keineswegs einsichtslos oder geistig unbedeutend***); sie hat, sagt ein preußischer Ge­ sandter, „diese Art Esprit die bei den Frauen ziemlich häufig ist: eindrin­

genden Verstand, Lebhaftigkeit der Einbildungskraft, und wenig Tiefe". Aber vor allem, sie ermangelte nicht bloß jeder Initiative deS Entschlusses,

sondern wie cs schien überhaupt der Fähigkeit zur Entschließung, eine der

Naturen, die geleitet und geschoben werden wollen, um sich dann in der Richtung des einmal empfangenen Impulses gleichsam maschinenmäßig fortzubewegen.

Seit lange in ein sybaritischeS Leben versunken, haßte sie

alles, was sie in demselben stören konnte, waS auch nur die kleinste An­

spannung deS Willens von ihr forderte, ihrer beschaulichen Bequemlich­

keit die kleinste Bemühung zumuthete. nehmung", schreibt

„ES ist eine sehr schwere Unter­

ein anderer Diplomat^),

„die Kaiserin zu einem

Beschlusse zu bringen, und ein sehr leichtes, das Beschließen zu verhin­ dern.

Jenes kann kaum das ganze Ministerium, dieses aber das schwächste

Mitglied zu Stande bringen." Dieser Schlaffheit, diesem trägen Beharrungsvermögen seiner Sou­

veränin hatte es Graf Bestushew vornehmlich zu danken gehabt, wenn es in den ersten Jahren seiner Amtsführung den mächtigen Einflüssen, die auf seinen Sturz hinarbeiteten, nicht gelungen war, die Kaiserin zu

dem lästigen Schritte eines Ministerwechsels zu vermögen.

War damals

Bestushew's Routine in der Politik noch sehr gering gewesen, so war er

seitdem der Kaiserin in dem Maße unentbehrlicher geworden, als er sich mit den Geschäften vertrauter gemacht hatte.

Zugleich pflegte er, wie der

*) Finch, bei Raumer, Beiträge zur neueren Geschichte 2,167. **) „La peraonne de son royaume qui a le plus de politesse et de savoirfaire“ nennt sie Graf Finckensteiu 1. October 1748; ihre äußeren Eigenschaften unterscheiden sie „des le premier abord d’entre toutes celles qui composent sa cour“. ***) „L’Imperatrice reunit dans sa personne les Charmes du corps et de l’esprit. Elle a de la penetration, est enjouee, populaire, a des manieres polies et engageantes, et s’acquitte de tout avec une gräce engageante.“ Generalrelation des preußischen Gesandten Mardefeld 1747. Bergt, dazu den Eng­ länder Finch bei Raumer 2, 170 und den Franzosen d'Alion bei Zevort Le marquis d’Argenson S. 174. t) Hanbury Williams. Bei Raumer 2, 320.

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

289

preußische Gesandte Mardefeld versichert, sich deS Kunstgriffes zu bedienen, die arbeitsscheue und denkfaule Fürstin durch weitläuftige Berichte zu lang­ weilen und ungeduldig zu machen, um sie schließlich dahin zu bringen,

daß sie alles, was er ihr vorlegte, unterzeichnete: nur zu der Unterschrift einer Kriegserklärung oder eines Todesurtheils werde sie sich nie verstehen,

meinte der preußische Gesandte 1747, denn vor jeder Vergießung von Blut schaudere sie zurück.

Nach der Schilderung, die Mardefeld von

Bestushew entwirft, war der Kanzler beschränkt und träge, rachsüchtig und

verläumderisch, heimtückisch ohne Verstellungsgabe, habgierig und bestech­ lich ohne Erkenntlichkeit, ein ehrgeiziger Projektenmacher ohne Folgerich­

tigkeit deS Denkens und ohne staatsmännische Einsicht, endlich ein „Erzpoltron, der vom Trunk erhitzt sein muß, um ein festes Auftreten zu

affectiren."

„Indem er sich von Mittag bis zum Abend anfeuchtet, setzt

Mardefeld hinzu, so bemerkt man oft genug ein Räuschchen an ihm." Eine wenig schmeichelhafte Charakteristik, aber doch kein Zerrbild, denn auch die Vertreter der Rußland befreundeten Mächte berichten kaum weniger

ungünstig über den Charakter des russischen Premierministers*). Immerhin

stellt Mardefelds Nachfolger dem Minister das Zeugniß aus, daß er sehr arbeitsam sei und bisweilen ganze Nächte bei der Arbeit zubringe, und

jedenfalls hat Mardefeld die Capacität Bestushews wohl stets zu gering angeschlagen, wie er denn auch den Einfluß dasselben anfangs sehr unter­

schätzt hatte.

König Friedrich urtheilte Ende 1745, der Hauptfehler Mar­

defelds sei die falsche Annahme gewesen,

daß alles

gut gehen werde,

wenn die Kaiserin und ihre persönlichen Günstlinge gewonnen seien.

Die

anderen Gesandten hätten diese vernachlässigt und sich an den Minister

angeschlossen; dadurch hätten sie ihr Spiel gegen Mardefeld gewonnen**).

In seiner Geschichte des siebenjährigen Krieges macht der König seinem Gesandten den Vorwurf, aus schlecht angebrachter Sparsamkeit oder auf

die Eingebung seiner persönlichen Feindschaft während deS Kriegs zwischen Preußen und Sachsen die Auszahlung einer großen Summe unterlassen *) Auf sich beruhen lasse ich die Notiz bei Klaczo, Deux Chanceliers, S. 100, daß Bestushew während seiner siebzehnjährigen Amtsthätigkeit das Stottern simulirt habe, sodaß die Gesandten nach den Conferenzen nie gewußt was er wirklich ge­ sagt, daß er sich taub gestellt, um sich wichtige Dinge mehrere Mal wiederholen lassen zu können, daß er diplomatische Noten in entscheidenden Fällen mit eigner Hand aber mit unleserlichen Zügen geschrieben habe, um, wenn sie deshalb zurück­ kamen, den Umständen nach den Sinn ändern zu können. Mardefeld weiß von diesen Dingen nichts; er sagt von seinen Erfahrungen in dieser Beziehung nur: „II pretexte eouvent un döfaut de memoire, qu’il a excellente, pour que les ministres etrangers lui remettent par eerit les propositions qu’ils lui ont faites... II y a une sensible difförence entre les röponses qu’il donne d’abord de son chef et celles qu’il fait apres avoir consulte Wesselowski et Funck.“ **) Politische Correspondenz 4, 359.

290

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

zu haben, die ihm als Gratifikation für den Kanzler angewiesen worden

sei; die Wirkung sei gewesen, daß Bestushew seinen Haß gegdn Mardefeld auf alles,

was preußisch hieß,

ausgedehnt habe*).

Dem Könige

war, als er die Geschichte des siebenjährigen Krieges schrieb, entfallen, daß Mardefeld in -dieser Angelegenheit nach gemessenen Befehlen gehandelt hat.

Nach den Beweisen von Uebelwollen, die Rußland gegen Ende

deS zweiten schlesischen Krieges ihm gegeben hatte, glaubte Friedrich keine

Veranlassung zu haben, nach dem Dresdner Frieden, der zum lebhaftesten Verdrusse des russischen Kanzlers

abgeschlossen worden war, demselben

eine Summe auszahlen zu lassen, die er ihm nur für den Fall der Neu­

tralität Rußlands hatte zusagen lassen**).

Und wenn der König später

die Feindseligkeit Bestushews gegen Preußen erst seit dieser Enttäuschung seiner Habgier datirte, so trifft dies nur insofern zu, als erst von diesem

Zeitpunkte an der Haß des russischen Ministers unversöhnlich geworden zu sein scheint; wenigstens sagte Mardefeld später (1747), daß er wenige Tage vor dem Frieden von Dresden nahe daran gewesen sei, den Grafen zu gewinnen.

Sonst aber war dessen Mißgunst gegen Preußen damals

bereits alt eingewurzelt.

Mardefeld in Petersburg

Den ersten Anlaß dazu sollte, wie demselben

erzählt

wurde,

König

Friedrich Wilhelm I.

gegeben haben, der dem Grafen als er russischer Resident in Hamburg war, den preußischen Orden von der Generosität verweigert hätte.

Wenn

Bestushew in den Anfängen der Regierung Elisabeths sich trotzdem die Pflege der Beziehungen zu Preußen angelegen sein ließ und persönlich das

Vertrauen des preußischen Gesandten zu gewinnen suchte, so darf nicht

übersehen werden, daß der Minister nach dem preußisch-österreichischen Frieden von 1742 den Anschluß Preußens an das englische System er­ wartete: in deS Kanzlers Ergebenheit an die Sache Englands ist der feste Pol feines politischen Verhaltens zu erkennen.

WaS aber dictirte ihrm

die Sympathien für England?

Graf Bestushew hat es nicht unversucht gelassen, seine Politik und

speziell seine wachsende Feindseligkeit gegen Preußen aus dem russischen

Staatsinteresse zu moiiviren.

Noch vor Ausbruch deS zweiten schlesischen

Krieges schreibt er am 11. August a. St. 1744***):

„Der König von

Preußen ist der nächste und der mächtigste Nachbar unseres Reiches und des*) Oeuvres de Prüderie 4, 19. Es handelt stch nicht um 40,000 Thaler, wie an dieser Stelle gesagt wird, sondern um 100,000; vergl. Politische Correspondenz 4, 357. Vorher hatte Bestushew bereits beträchtliche Summen aus Mardefelds Hand genommenn. **) Vergl. Politische Correspondenz 5,12. ***) Martens, Recueil des traites et conventions conclus par la Russie Bd. 5, Petersburg 1880, S. 337.

halb natürlich sein gefährlichster Nachbar, selbst wenn sein Charakter nicht

so unbeständig, länderwuchertsch, unruhig und unwürdig wäre.

Unsere

Gefahr wächst mit der Macht deS Königs von Preußen, und wir würden nicht vorauszusehen vermögen was uns von einem so mächtigen, leicht­

fertigen und wetterwendischen Nachbaren alles geschehen kann.

DaS In­

teresse und die Sicherheit deS Reiches fordern, unsere Bundesgenossen

nicht tat Stiche zu lassen, d. h. die Seemächte, denen Peter I. stets Rück­

sicht zu tragen suchte, den König von Polen als Kurfürsten von Sachsen und die Königin von Ungarn, die durch ihre territoriale Lage naturgemäß

identische Interessen mit Rußland haben."

Unter diesem Gesichtspunkte

begnügte sich der Leiter der russischen Politik nicht mit abwehrenden Maß­

regeln, sondern.that frühzeitig die vorbereitenden Schritte zu einem An­

griffskriege.

Schon im Herbst 1744 war seine Absicht, die Kaiserin zu

vermögen, Preußen dem Könige Friedrich abzunehmen und es den Polen

zu geben, wogegen diese PleSkow und Smolensk nebst Zubehör an Ruß­

land abtreten sollten*).

Nachdem die russischen Truppen auf ihrem Marsch

gegen die preußischen Grenzen Anfang 1746 hatten Halt machen müssen, unterzeichnete Bestushew am 2. Juni dieses Jahres die Petersburger Alliaitz

zwischen Rußland und Oesterreich, mit jenem berüchtigten vierten geheimen

Artikel, von dem noch näher die Rede sein wird und der diesem Vertrage einen offensiven Charakter gegen Preußen gab.

Der Kanzler entwickelte

die Ansicht „daß die russische Regierung sich gegen Friedrich II. nicht blos

sicher stellen, sondern sich mit den Feinden deffelben verbinden müsse, um

seinen Einbrüchen einen Damm entgegenzusetzen, seine Attentate auf das durch Jahrhunderte geheiligte politische System Europa's' zu verhindern." „Die Interessen und die Sicherheit deS Reiches erheischen eS gebieterisch,

daß Akte die danach angethan sind uns von einem Tage zum andern zu schädigen, nicht mit Gleichgültigkeit angesehen werden, und wenn das Haus

des Nachbaren Feuer fängt, so müßte ich im Interesse der eignen Sicher­ heit beim Löschen helfen, selbst wenn der Nachbar mein größter Feind

wäre; wieviel mehr bin ich dazu verpflichtet, wenn eS mein Freund ist**)." Ein Jahr nach dem Zustandekommen des russisch-österreichischen Bündnisses schloß Preußen am 29. Mai 1747 nach mehrjährigen Verhandlungen eine

Devensivallianz mit Schweden; ursprünglich, Anfangs 1744, als preußischschwedisch-russische Tripelallianz Entente jetzt,

geplant,

sollte die preußisch-schwedische

nach der völligen Umwandlung der Beziehungen zwischen

Preußen und Rußland, den stockholmer Hof der Abhängigkeit von Rußland *) Bericht deS englischen Gesandten Tyrawly, Raumer 2, 200. **) Martens, Recueil etc. 1,145; 5, 357.

Petersburg

8. October 1744,

bei

292

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

entziehen, in der er seit dem Frieden von Äbo gestanden hatte.

In einem

zusammenfassenden Rückblicke auf Bestushew'S nordische Politik sagt König Friedrich später: „Die wahre Ursache der Gereiztheit des Kanzlers Bestu­

shew gegen Schweden leitet sich vornehmlich daher, daß er im Grunde

seiner Seele Schweden in der Unterordnung unter Rußland zu sehen wünscht, in der Polen sich befindet.

Zu dieser Unterordnung glaubte er

im Anfänge der Regierung seiner Kaiserin bereits das Fundament gelegt

zu haben.

Als er aber dann sah, daß Schweden seit dem Abschluß seiner

Allianz mit Preußen, unter Beitritt Frankreichs, sich der russischen Herr­ schaft hat entziehen wollen, wurde er in furchtbarer Weise aufgebracht;

in der Erkenntniß, daß Schweden ihm entgangen sei und daß es nicht

leicht sein werde, dort das Uebergewicht wieder zu gewinnen, kam er auf den Gedanken, die Besorgniß vor einer in Schweden angeblich beabsich­ tigten Verfassungsänderung vorzuschützen, vornehmlich um sich eine eini­

germaßen beträchtliche Partei unter den Schweden zu bilden,

dieselbe zu

stützen und dann bei Gelegenheit irgend eines stürmischen Reichstages

das jetzige schwedische Ministerium zu fällen*)".

Allerdings, wenn Rust­

land den Anspruch erhob und eine politische Nothwendigkeit für sich darin

erblickte, seinen Einfluß über den skandinavischen Norden auszudehnen, so mochte Graf Bestushew darüber klagen, daß die preußische Macht in der

durch die schlesischen Kriege gewonnenen Ausdehnung Rußland aus der

ihm in Europa gebührenden Machtsphäre zurückdränge.

Und Preußens

Feinde versäumten nicht, in Petersburg die Flamme zu schüren, die Ueber­

zeugung wach zu halten, daß Rußland durch ein vorgelagertes starkes

Preußen zu dem Range einer „asiatischen Macht"**) herabgedrückt werde. Aber die Höfe, die durch solche Insinuationen Rußland in der Vor­ stellung von der Gefahr der preußischen Macht zu bestärken suchten, ver­ mochten selbst doch den Argwohn nicht von sich zu weisen, daß die Em­

phase, mit der Bestushew seinem Axiom Ausdruck zu leihen liebte, eine

gemachte sei, daß des Kanzlers antipreußische Politik auf ganz anderem

Grunde als auf staatsmännischer Ueberzeugung beruhe.

Rußlands Alliirte

gewannen den Eindruck, daß es dem Kanzler sowohl wie seiner Souve­

ränin „eigentlich um nichts so sehr zu thun war als um Geld, welches zu ganz anderen Zwecken als zur Kriegführung verwendet werden sollte."

Die Kaiserin wolle die Subsidienzahlungen ihrer Alliirten zu Bauten und

zur Bestreitung der Ausgaben verwenden, welche ihre verschwenderische Lebensweise verursache, Graf Bestushew habe seine Bereicherung im Auge. *) Jmmediaterlaß an den Gesandten Chambrier in Paris, Potsdam 28. October 1749. **) Bergt, die Instruction für den englischen Gesandten William-, 11. April 1755, bei Raumer 2, 286.

Preußen und Rußland nn Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

293

Wie es dann mit der Kriegsführung auSsah, darüber schienen beide ihren Alliirten um so sorgloser zu sein, als sie wohl wußten, daß Rußlands

geographische Lage ihm die beste Schutzwehr gegen einen feindlichen An­ griff gewähre, daß sie somit einen solchen selbst von Preußen nicht zu befürchten hätten*).

DaS Urtheil der Alliirten Rußlands dürfte zutreffend fein, zutreffender

jedenfalls, wie wir noch sehen werden, als das des preußischen Diplo­ maten der im Herbst 1748 schrieb:

„Bestushew fürchtet und scheut die

preußische Macht, und schon allein diese Erwägung wird ihn stets zurück­

halten, zum Aeußersten zu schreiten, wofern er nicht sein Spiel vollständig

sicher sieht**)."

Rußland glaubte sich gegen Preußen gedeckt, war aber

grade deshalb allzeit bereit zu Bündnissen und zu Kriegen gegen Preußen,

die an Subsidien und „Cadeaux" ausländisches Gold in die Staatskassen

und Privattaschen strömen ließen.

Bald sollte es dahin kommen, daß Graf

Bestushew bet dem Gesandten einer der Bundesmächte die Erhöhung der

Subsidien als eine Art persönlicher Begünstigung der Kaiserin befürwortete und daß der Gesandte auf diesen zarten Wink bei seinem Hofe die An­ weisung von 50,000 Pfund Sterling für die kaiserliche Privatchatulle

beantragte***).

Für seine Person bezog Bestushew von England fort­

dauernd eine jährliche Pension, ohne gemeint zu sein, dadurch der gelegentüchen Forderung oder Erpressung außerordentlicher Geschenke präjudiciren zu lassen.

Aber die Geschichte ist dem „ entehre Chancelier “ f)

auch die Gerechtigkeit schuldig, daß er gegen die Guineen sich nicht wie erst gegen die prenßischen Thaler und dann gegen die österreichischen Gulden

undankbar erwiesen, daß er mit der englischen Politik treulich alle Schwen­ kungen durchgemacht hat, um schließlich mit England auf der Seite desselben

Königs von Preußen zu stehen, dessen Gemeingefährlichkeit für Europa

und Rußland der überzeugungstreue Mann mit so beredter Feder demonstrirt hatte. Kurz, was Bestushew, bevor es zu dieser Lösung kam, von Berlin her fürchtete, können füglich nicht wirkliche Gefahren für Rußland gewesen

sein.

Wohl aber mochte er persönlich für sich die Rache des Königs von

Preußen fürchten, der bei einer Wiederannäherung zwischen den beiden Höfen der Stifter des eingetretenen Zwistes naturgemäß zum Opfer fallen zu müssen schienf-f). *) **) ***) t) tt)

Wußte doch Bestushew nur zu gut daß schon früher

Arneth, Maria Theresia 4, 367. Fmckensteins Generalrelation. Bericht Williams', 11. August 1755, bei Raumer 2, 295. So feiert ihn Martens, Becueil Bd. 5, S. V. »Bestushew suppose que je suis vindicatif “ schreibt Friedrich H., Politische Eorrespondenz 5, 315.

294

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

der König seinen Rücktritt gewünscht hatte.

Der Kanzler habe authen­

tische Beweise in den Händen, schreibt 1747

ein

sächsischer diploma­

tischer Agent*), daß der französische und preußische Hof „direkte an seinem

Untergange gearbeitet", und werde auS einem daher eingewurzelten ewigen

Haß selbigen Höfen jederzeit conträr sein.

Immerhin waren die Anhalts­

punkte, die Bestushew 1744 für die Umtriebe deS preußischen Gesandten

gegen seine Stellung gewonnen, nicht so handgreiflich gewesen, daß er

denselben wie den Vertreter Frankreichs, Marquis de La Chetardie, ohne Weiteres hätte deS Landes verweisen dürfen.

Diesem klugen, schneidigen,

sarkastischen Axel von Mardefeld, den der französische Minister d'Argenson einen der gewandtesten Diplomaten deS damaligen Europa's nannte**),

kam auf seinem Posten eine zwanzigjährige Erfahrung, die genaueste Ver­ trautheit mit den russischen Zuständen zu Gute; je geschickter und ver­

borgener, anders als der durch seine früheren Erfolge berauschte Chetar­ die, er seine Minen gelegt hatte, für um so gefährlicher mußte er dem

Kanzler gelten.

Aber erst Ende 1745 hatte es Bestushew erreicht, daß

die Zarin MardefeldS Abberufung fordern ließ.

Den Grafen Finckenstein,

den der König von Preußen ein halbes Jahr nach MardefeldS Rückkehr

im Februar 1747 zu seinem Gesandten ernannte, beauftragte er mit einem letzten Versuche, den Kanzler zu gewinnen.

Charakteristisch ist die An­

weisung, die der alte Mardefeld seinem Nachfolger zu diesem Zwecke mit auf den Weg gab:

„DaS einzige Mittel, zum Ziele zu gelangen, wäre

nach meiner Ansicht, dem Minister große Summen und eine jährliche

Pension anzubieten, was er, eigennützig wie er ist, schwerlich zurückweisen dürfte.

Ich meine daß Graf Finckenstein gut thun wird, sich' direct an

ihn selbst zu wenden, und wenn er in dem Prolog der Complimente, welcher regelmäßig derartigen Anerbietungen vorangeht und in welchem

man die Achtung und Freundschaft deS Souveräns auSkramt,

es für

nöthig hält alle Schuld auf mich zu schieben und mich anzuklagen, durch meine gehässigen Berichte den König verhindert zu haben, seiner Neigung gemäß ein volles Vertrauen zu Bestushew zu fassen, so willige ich von

ganzem Herzen ein und werde es gut heißen."

Graf Finckenstein über­

zeugte sich nach seiner Ankunft in Petersburg alsbald, daß der Versuch,

den Kanzler noch umzustimmen, jetzt aussichtslos sei. Ebenso aussichtslos und zugleich zu gefährlich schien eine Wieder­

holung deS Versuches, den allmächtigen Minister, dessen Stellung Fincken­ stein mit der eines türkischen GroßvezierS vergleicht, zu stürzen.

Eine Zeit

lang waren die Blicke und Hoffnungen der Gegner deS Kanzlers innerhalb *) Bei Herrmann 5, 203. **) D’Argenson, Mömoires (ed. Rathery) 4, 439.

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

295

und außerhalb Rußlands auf den Vicekanzler Woronzow gerichtet ge­ wesen, der als ehemaliger Page der Kaiserin, als eines ihrer Werkzeuge

bei der Thronumwälzung von 1741, vor allem aber als der Gemahl einer nahen Verwandten und intimen Freundin der Kaiserin, ein Mann von großer Bedeutung schien.

Bestushew dankte ihm zum Theil sein Glück;

Woronzow erzählte später dem Grafen Finckenstein, daß er jenen mehr als einmal auf den Knien vor sich gesehen, in Augenblicken wo die Furcht

vor einer plötzlichen Gefahr ihn habe zittern lassen. In der Katastrophe des MarquiS Chetardie scheint Woronzow als Helfershelfer feines College»

ein falsches Spiel gespielt zu haben;

Graf Finckenstetn, zu jener Zeit

preußischer Gesandter in Schweden, hörte dort, daß Woronzow in dem­ selben Augenblicke wo er sich, bei dem ftanzösischen Diplomaten als in­

timer Freund einschmeichelte, sich mit Bestuschew zu seinem Verderben ver­ schworen habe*), und Finckenstein hat auch als er während seiner Mission

in Rußland in vertraute persönliche Beziehungen zu Woronzow getreten

war, diese Anklage aufrechterhalten**).

Kaum war Bestushew nach Che-

tardie's Ausweisung zum Großkanzler ernannt, als sein bisheriger Gönner Woronzow in politischen Gegensatz zu ihm trat oder wenigstens den Ver­ tretern Preußens und Frankreichs gegenüber sich diesen Anschein gab; als

er 1745 mit seiner Gattin zur Herstellung seiner Gesundheit eine Reise in daS

südliche FrankrKch unternahm, hieß eS, der wahre Zweck den Woronzow mit seiner Reise verbinde sei seine Kenntnisse auSzubtlden, um nach der Rückkehr an die Spitze der Geschäfte zu treten und Bestushew in das

Nichts zurücksinken zu lassen, auS dem er nie verdient hätte aufzutauchen***).

In Potsdam wie in Versailles wurden der Graf und die Gräfin von MaSlow, denn unter diesem Jncognito reiste daS Paar, gleichmäßig ge­

feiert; in Potsdam verstand es der Graf auf der Rückreise im Juli 1746

den ungünstigen Eindruck den sein befangenes Auftreten bei dem ersten Besuche hinterlassen hatte durch die Rückhaltslosigkeit zu verwischen, mit der er sich

über Bestushew

äußerte-f).

Aber nach Petersburg zurück­

gekehrt, mußte Woronzow sich überzeugen, daß er den Boden unter seinen Füßen verloren habe.

tegenff),

Obgleich

geistig dem Großkanzler gewiß

nahm er den Kampf gegen denselben nicht auf.

über-

Die preußi-

*) Bergl. Politische Correspondenz 3, 340 Anm. **) „Le comte de Woronzow fut sa dupe et ne contribua pas peu ä la catastrophe du marquis de La Chetardie“ (Finckensteins Generalrelation). ***) Bericht des französischen Gesandten d'Alion, Petersburg 11. Januar 1746, bei Zevort, Le marquis d’Argenson S. 177. t) Politische Correspondenz 5, 142. 143. tt) Finckenstein sagt von Woronzow in seiner Generalrelation: „II a beaucoup de bon eens, et au defaut d’un esprit brillant il a Pavantage de penser avec justesse et avec solidite.“ Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 3. 20

296

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

schen Diplomaten schoben seine Passivität auf seine Kränklichkeit, seinen

Mangel an Selbstvertrauen, Muth und Entschluß, seine Furcht, durch ein

gewagtes Spiel die eigne Stellung zu verlieren.

Ende April 1749 klagte

er dem damaligen Vertreter Preußens, daß seine Tage gezählt seien, daß

sein College seinen Sturz beschlossen habe; man werde ihn als Gesandten an einen fremden Hof schicken oder ihm eine Würde in der Provinz über­ tragen*).

Daß seine Stellung neben Bestushew ihre großen Schwierig­

keiten und Gefahren hatte, steht wohl in der That außer Zweifel**). Gleichwohl wird auf die Freundschaftsversicherungen, in denen Woronzow sich den preußischen Gesandten gegenüber erging, kein allzu großes Gewicht

zu legen sein, denn nach wenigen Jahren treffen wir ihn im Lager der Feinde Preußens: auch Woronzow, berichtet der englische Gesandte Williams

am 4. Juli 1755***), „hat seinen Irrthum eingesehen und ist jetzt über­ zeugt, Rußland müsse auf den König von Preußen höchst eifersüchtig sein, als auf seinen natürlichsten und furchtbarsten Feind."

Den entscheidendsten Erfolg Bestushew'S und die dauernde Sicherung seines Einflusses bezeichnete Anfang 1747 die Vermählung seines Sohnes

Andreas mit der Gräfin Awdotja Rasumowski, der Nichte des allmäch­

tigen Oberjägermeisters, Grafen Alexei Rasumowski.

Kaiserin Elisabeth

hatte den schönen Bauernsohn aus der Ukraine in seiner Verborgenheit

entdeckt, an ihren Hof gezogen, mit Titeln und Würden überhäuft, zu ihrem Günstling gemacht.

„Die Natur die alle körperliche Qualitäten

auf ihn gehäuft, welche einem Herkules von Chthera noth sind, versagte ihm die Gaben des Geistes", so spottete Mardefeld über Rasumowski, und zwar mit Grund; aber alles bet Hofe huldigte diesem „Kaiser der Nacht" (empereur nocturne).

Bestushew bald, die Gegner

Im Bunde mit Rasumowski gelang es

die sich noch zwischen ihn und die Sou­

veränin stellen konnten, zu verdrängen.

Der letzte welcher dem Kanzler

zum Opfer fiel, war Graf Lestocq, der kaiserliche Leibarzt.

Einst im

Höhepunkte seines Einflusses hatte man ihn den „Herrgott der Deutschen"

genannt!); den Nationalrussen war er von je ein Abscheu gewesen.

Die

Kaiserin, die seiner Verschlagenheit die Krone verdankte, hatte ihn bei

ihrer Thronbesteigung zum Minister ernannt und ihm lange Zeit ihr Ver­

trauen bewahrt, weniger aus Dankbarkeit, als weil sie seiner ärztlichen Beihülfe nicht entrathen zu können meinteü). Seine Freunde beklagten *) Bericht Goltz', Moskau 1. Mai 1749. **) Der dänische Gesandte Graf Lynar berichtet am 24. März 1750 über Woronzow: „II n’y a Sorte d’embüches qu’on n’ait dressees ä ce ministre, saus avoir pu reussir ä le culbuter.“ Hinterlassene Staatsschriften 1, 263. ***) Bei Raumer 2, 290. t) Belicht de« sächsischen Residenten Pezold, 13. April 1743, bei Herrmann 5,184. ft) Mardefeld'S Generalrelation.

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

297

daß er sich in der einen famosen Revolutionsnacht von 1741 an Muth

und

Thatkraft

vollständig

erschöpft

zu haben

scheine*).

Mardefeld,

der ihn auf daS Genaueste kannte, schildert ihn als begabt, wüthig, stand­

haft und der Sache des KönkgS von Preußen unbedingt ergeben; aber er bedürfe eines Leiters der ihm Schmeicheleien im Gleise halte.

die Wahrheit sage oder ihn durch

Den Grafen Bestushew, den Lestocq in

den ersten Monaten der Regierung Elisabeths leicht hätte stürzen können, behandelte er von oben herab, auch als des Kanzlers Einfluß bereits fest­

begründet war, trotz aller Warnungen seiner Freunde.

Lestocq verletzte

die Zarin, indem er auch ihr gegenüber einen herrischen Ton sich herauSnahm**).

Er hatte ihre Gunst längst verscherzt, während ihr doch ein

Rest von Schamgefühl eine Weile noch verbot,

Rache seiner Feinde auszuliefern.

ihren Wohlthäter der

Aber Ende 1748 erhielt Graf Lestocq

die Knute und ward nach Sibirien geschickt. Noch am 5. December 1747 urtheilte König Friedrich über Bestu-

shew'S Aussichten:

„Die Zeit dieses Gewaltmenschen wird nicht auf die

Länge dauern können, nach allem Anschein wird er sich den Hals gebrochen haben, bevor ein oder höchstens zwei Jahre verstrichen sind***)."

im Sommer darauf schrieb er:

Aber

„Bestushew könnte gegen die Kaiserin

selbst conspiriren, sie könnte eS wissen, und er würde sich doch auf dem

Platze behaupten f)."

Die Kaiserin, sagt Graf FinckensteinS Gesammtrelation über

seine

Mission in Rußland (1. Oktober 1748), hatte die größten Verpflichtungen

gegen Frankreich, und der Kanzler hat daS Mittel gefunden sie dieselben vergessen zu lassen.

Sie hatte Achtung und Freundschaft für den König

von Preußen, und der Kanzler hat verstanden ihr Kälte und Mißtrauen einzuflößen.

Sie wollte den Schweden wohl und liebte den schwedischen

Kronprinzen, und der Kanzler hat eS so gut gemacht, daß sich diese Ge­

sinnungen in Haß und Entrüstung gewandelt haben.

Sie verabscheute

den Hof zu Wien, und der Kanzler ist zum Ziel gelangt sie völlig öster­ reichisch zu machen.

Sie schauderte vor dem Worte ZinSstaat, und eS ist

ihm nichts desto weniger gelungen sie bis zur Annahme von Subsidien von England und Holland zu bringen.

Sie hatte das Haus Holstein

lieb und haßte den dänischen Hof, und der Kanzler hat die Kunst besessen ttCe diese Gefühle umzumodeln und nach seinem Sinne zu kehren. Im Jahre 1750 war Bestushew soweit vorgeschritten, daß er sich

*) **) ***) t)

Finckenstein'S Geoeralrelation. Mardefeld's Generalrelation. Politische Correspondenz 5, 538. An Finckenstein, 16. Juli 1748.

298

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

den Anschein geben durfte, als sei er eS, der die Differenzen mit Preußen

beklage, als weiche er nur der Animosität der Kaiserin. wenig

in die Karten

statter*),

gesehen hat", bemerkt

„Aber wer ein

ein neutraler Berichter­

„der kann nicht zweifeln daß der Kanzler nicht ungern sieht,

wie diese Animosität mehr und mehr wächst".

Fragen wir nach den Mitteln deren Bestushew sich bediente um seine Kaiserin gegen den König von Preußen einzunehmen, so unterliegt eS keinem Zweifel, daß die Jmportirung und Colportage herabsetzender Aeußerungen

über die Person der Zarin, die

ausgedehntestem Maße

aus

Potsdam

zu diesem Zwecke hat

stammen sollten,

dienen

müssen.

in

Man

beobachtete als eine charakteristische Eigenschaft Elisabeths daß nichts ihre

Aufmerksamkeit zu fesseln vermöge, wenn es nicht etwas enthalte „so ihre Gloire und Person angehet**)".

Durch persönliche Aufmerksamkeiten und

Verbindlichkeiten, durch Rathschläge und Warnungen im Interesse der Sicher­ heit ihrer Person und ihres Thrones, hatte König Friedrich das Ver­

trauen und die Zuneigung der Kaiserin sich gewonnen, durch persönliche Einwirkungen auf die schwache Frau von entgegengesetzter Seite verlor er daS eingenommene Terrain.

Friedrich hat in einer Aufzeichnung ver­

trautester Natur, in seinen 1746 entstandenen, nur für seine Nachfolger

bestimmten Memoiren über die schlesischen Kriege, die Kaiserin allerdings nicht geschont; was er in Gesprächen und in der Tischlaune, an der Ta­

felrunde zu Sanssouci, über Elisabeth gesagt haben mag, entzieht sich der historischen Controle; er selbst hat sich wiederholt mit Entschiedenheit da­ gegen verwahrt, der Kaiserin in seinen Aeußerungen zu nahe getreten zu sein, und eS scheint beachtenSwerth daß in den zahlreichen Gedichten, die der

König 1750 für einen kleinen Kreis von Freunden drucken ließ und in

denen andere gekrönte Häupter Europas mehr als einen Hieb bekommen, die Kaiserin von Rußland fast nie erwähnt wird; nur einmal, in An­ lehnung an die Stelle in der AeneiS***), wo die Furie der sanften Gattin

des LatinuS den Sinn verwirrt, spricht Friedrich von der neuen Amate, der die höllische Zwistgöttin daS Herz vergiftet habe-s); aber verletzender

Spott wird mit dieser Anspielung nicht verbunden, und grade der Ver­

gleich mit den starken Stellen der Memoiren des Königs legt die An­ nahme nahe, daß er in seinen Versen sich mit Bewußtsein der Person der *) Der dänische Gesandte Lynar.

Hinterlassene Staat-schriften 1,431.

**) Vergl. den Bericht des sächsischen Residenten Pezold vom 12. April 1745, bei Herr­ mann 5,195. „Diese ihre Gemüthsbeschaffenheit macht sich vornehmlich der König von Preußen zu Nutzen."

•**) Buch 7, 341 ff.

t) Oeuvres de Fr6d6ric 10, 34.

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

gegenüber Zurückhaltung

Zarin

zum

Gesetz gemacht hat*).

299

Weniger

glimpflich freilich als mit ihrer Person verfährt die Poesie deS Königs mit dem Reiche der Kaiserin, dem „Schlupfwinkel der Bären", dem „Abbild

des TänaruS", mit ihren Unterthanen, den Hyperboreern, dem Barbaren­ schwarm aus Sibirien, als Sclaven fechtend und als Tartaren fliehend,

und zumal mit ihrem ersten Berather, dem verabscheuungswürdigen Mi­ nister, der Geißel Rußlands, dem Ungethüm dessen furchtbarer Arm auf

Moskau lastet**).

ES

mag

dahingestellt bleiben,

wieviel von diesen

Versen bis zum Ohre der Feinde des Dichters gelangt ist; aber sicher

ist eS, daß Bestushew und seine Kreaturen und daß die ftemde Diplomatie am russischen Hofe eS an systematischen Einflüsterungen gegen den König

von Preußen nicht haben fehlen lassen, und eS war vielleicht kein Zufall, daß die Preußen feindlich gesinnten Mächte wiederholt solche Vertreter nach Rußland schickten die zuvor in Berlin accreditirt gewesen waren***)

und die also für die epigrammatischen Bosheiten welche sie auf Rechnung des Preußenkönigs setzen mochten, um so größere Glaubwürdigkeit in

Anspruch nehmen konnten.

In welchem Sinne Bestushew die Berichte

der Gesandtschaft in Berlin gefärbt wünschte, daS erhellt aus den Zumuthungen die er und die Graf Bernes, der österreichische Gesandte in Berlin, an den dortigen Vertreter Rußlands, den Grafen Keyserlingk,

stellten.

Baron Pretlack, der österreichische Gesandte in Petersburg, schrieb

seinem College« in Berlin, daS russische Ministerium sehe den Schaden ein, den KeYserlingkS Berichte bei der Zarin machten und habe deshalb

demselben

„auf das deutlichste und nachdrücklichste wohlmeinend zu er­

kennen" gegeben, daß er „deS Königs Thun und Lassen nicht so obenhin

sondern weit

gefährlicher angeben solle".

Sofort nahm Graf BerneS

Veranlassung, Keyserlingk der sichereren Wirkung halber in „eine ausdrück­

liche Conversation" zu ziehen.

AIS Keyserlingk, so sind BerneS Worte

„mir mit seinen bekannten PrincipiiS wieder angezogen kam, man müsse den Höfen ihrö habende Zwistigkeit vielmehr benehmen als vermehren und

alles auf gütlichem und friedlichem Fuße zu unterhalten suchen, habe ich mich

endlich determiniret zu sagen, daß gewiß kein Mensch dergleichen

PrincipiiS zu folgen verlangte und man könnte solche hierselbst nicht brauchen-f)".

Nach einer Mittheilung, die dem Könige durch den von ihm

*) Auch die Stelle im Palladien (Oeuvres 11, 242), welches der König 1750 zwar drucken ließ aber nicht vertheilte, gilt doch nicht sowohl der Person der Kaiserin als den russischen Zuständen. **) Oeuvres 10, 34.147. 156. ***) Oesterreich den Marquis Botta und die Grafen Rosenberg und BerneS, Dänemark den Obersten de CheuffeS, England Hyndford, Guy Dickens und Hanbury Williams. t) Schreiben PretlackS an BerneS, Petersburg 6. Juli 1747. Bericht BerneS' an Maria Theresia, Berlin 22. Juli 1747. Diese Aktenstücke sind dem Könige von

300

Preuße» und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

erkauften Secretär des Grafen BerneS zugetragen wurde, hätte Kehferltngk

dem Oesterreicher unmuthsvoll entgegnet, er gedenke als Ehrenmann und als treuer Diener seiner Kaiserin zu handeln und kein Mensch werde eS

ihm abgewinnen, daß er seine Berichte mit Lügen auSstaffiren und seinen

Hof durch Erfindungen allarmiren sollte. Wenn Zumuthungen dieser Art Cavalieren gemacht wurden, so läßt sich ermessen, mit welchem Hochdruck auf ein paar Heiducken eingewirkt

sein wird, die aus der unmittelbaren Dienerschaft des Königs von Preußen in den russischen Hofdienst übernommen waren und nun von den verächt­

lichen und beschimpfenden Reden, die der König über die Zarin geführt haben sollte, nicht genug zu erzählen wußten; natürlich war dafür gesorgt,

daß der Bedientenklatsch durch das Organ geschäftiger Kammerfrauen bis zum Ort seiner Bestimmung gelangte**), und wo konnte diese Ohrenbläserei

auf fruchtbareren Boden fallen, als bei einer Fürstin, die ohnehin als

andächtige Tochter der Kirche in dem philosophischen König einen ReligionSspötter sah, als die Gesalbte des Herrn auf dem Scheitel dieses Ungläubigen den Weihetropfen des

heiligen OelS

vermißte und

als

Kennerin der Liebesfreuden dem Cölibatär von Sanssouci die Vernach­ lässigung seiner ehelichen Pflichten verargte**)?

UeberdieS verstand eS nun Bestushew mit großer Findigkeit Differenz­ punkte zwischen den beiden Höfen zu entdecken und an das Licht zu ziehen,

untergeordnete Kleinigkeiten zu Haupt- und StaatSactionen aufzubauschen. Die erfundene Behauptung^ daß Preußen die Garantie Rußlands für den Dresdner Frieden nicht gewünscht habe***), mußte die Handhabe geben, Preußen durch den österreichischen Legationssecretär Weingarten mitgetheilt worden. Veröffentlicht 1757 in der preußischen StaatSschrist „Refutation de l’ouvrage intitulS Remarques sur les manifestes de guerre du roi de Prasse“. Mit­ theilungen aus dieser Quelle u. a. schon in des Königs Erlassen an Finckenstein 22. und 29. Juli 1747, Politische Correspondenz 5, 441. 446. *) Vergl. den Bericht des dänischen Gesandten Graf Lynar 8./19. December 1750, Hinterlassene Staatsschriften 1, 430. **) Lynar a. a. O.: „Sa Majeste Imperiale n’aime dejä guere le Toi de Prasse, parce que, suivant ses idees et comme eile s’explique, ce Prince n’a point de religion, qu’il ne fait aucun cas de la Reine, qu'il ne veut pas vivre avec eile, qu’il n’a pas ete sacre, defaut qu’on regarde ici comme tres essential, et qu’il a encore d’autres qualitös qui deplaisent souverainement.“ ***) In einer russischen Note vom 23. December a. St. 1746 wird behauptet; daß wie Ihre Majestät die römische Kaiserin zu der Zeit als der Dresdnische FriedeuStractat negociiret wurde, um demselben einen besonderen Articul, mittelst welchen der hiesige (russische) Beitritt und Garantie gemeinschaftlich auverlanget werden sollte, anzu­ hängen ausdrücklich vorstellen lasten, Ihre Majestät der König in Preußen darauf gar nicht entriren wollen." Daraufhin wurde der preußische Gesandte in Wien, Graf O. PodewilS, beauftragt, von dem Grafen Harrach, der die Verhandlung in Dresden geführt hatte, ein Zeugniß zu erbitten. PodewilS berichtete, Wien 26. April 1747; „Je dis au comte de Harrach que Votre Majeste, connaissant sa probite et sa candeur, S’en remettait sans hesiter ä son

in einer Reihe diplomatischer Noten den Ton gereizter Empfindlichkeit

anzuschlagen.

Zu, noch ärgerlicheren Auseinandersetzungen führte das

Schicksal eines preußischen OfficiorS, der auf einer Urlaubsreife als liv­ ländischer Vasall „wegen verschiedener von ihm begangener Verbrechen" in Rußland festgenommen und Jahre lang in Gewahrsam gehalten wurde,

sowie die Weigerung der Kaiserin, einem im russischen CadettencorpS dienenden Schlesier den von ihm verlangten Abschied zu gewähren; und endlich erließ, wie dies nur bei Beginn eines Krieges zu geschehen pflegte, die Kaiserin Avocatorien an ihre in ausländischen Kriegsdiensten stehenden Unterthanen, obgleich eine ausdrückliche Bestimmung des Nhstädter Friedens

von 1721 den Lievländern und Esthen, deren mehrere im preußischen Heere dienten, das Recht zum Eintritt in ftemde Kriegsdienste gewähr­

Besondere Empfänglichkeit bei der bigotten Kaiserin aber

leistet hatte.

fand ihr Kanzler, als er im Interesse des Seelenheils der Soldaten griechischer Confesfion, die einst die Kaiserin Anna dem Könige Friedrich

Wilhelm I. als Rekruten überlassen hatte, in Berlin deren Zurücksendung Wenn Elisabeths Vorgängerin ihre Leibeigenen dem Könige

fordern ließ.

von Preußen ohne Bedingungen geschenkt hatte, so glaubte jetzt Friedrich die Zurücksendung mit gutem Grunde verweigern zu dürfen**), die sogar

eine Unbilligkeit gegen diese Veteranen in sich zu schließen schien:

längst

nicht mehr im activen Kriegsdienste, hatten sie sich in Preußen verheirathet

und eine bürgerliche Existenz begründet, die sie nun selbst nicht aufzugeben wünschten**).

Friedrichs Minister riechen ihm zum Entgegenkommen in

dieser Frage.

Wenn eS dem Könige darauf ankomme, so hielt Mardefeld

ihm vor***), die Kaiserin von Rußland persönlich zu verpflichten, dann

werde eS ihm sicher durch die Heimsendung der alten russischen Soldaten gelingen. stellungen.

MardefeldS Nachfolger in Petersburg wiederholte diese Vor­

Der König erwiederte ihm: „Gesetzt ich gewönne die persön­

liche Freundschaft der Kaiserin, wozu würde sie mir bienen?"!)

Immer

wieder betont er, daß er nicht mit der Kaiserin, sondern mit ihrem ersten Minister zu thun habe.

„Alle Politessen", sagt er gelegentlich!!), „so

wir dem peterSburgischen Hofe gethan haben, sind von keinem besonderen

*) **)

***) t) tt)

tömoignage sur cette affaire. Oe ministre me dit qu’il etait pret ä le rendre, lorsqu’on lui demanderait; que dans tonte la negociation il n’avait jamais ete question de Faccession ni de la garantie de la Russie.“ Podewils' Bericht wurde am 6. Mai an den preußischen Geschäftsträger Warendorff geschickt, zur Mittheilung an den Grafen Woronzow. Vergl. Politische Correspondenz 5, 525. 526. Wie neuerdings auch von russischer Seite anerkannt wird; vergl. B. v. Köhne, Ein Porträt Friedrichs d. Gr. rc., Russische Revue Jahrgang 1880, Heft 8, S. 161. In seiner Gesammtrelation. Vergl. auch Politische Correspondenz 5, 354. 12. März 1748. 17. Februar 1748.

302

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

Effect gewesen und haben uns nichts geholfen".

Er befahl seinem Ge­

sandten*), dem Grafen Woronzow, der trotz seiner Eifersucht auf Be­

stushew einst gleichfalls zu einem entgegenkommenden Schritte rieth, ganz offen zu sagen, man habe alle schonenden Rücksichten und Aufmerksam­

keiten

für Rußland gehabt die Rußland sich nur wünschen gekonnt, so

lange Rußland durch gewisse Rücksichten auf Preußen die Gegenseitigkeit

beobachtet habe; seitdem aber Rußland sich in einer Weise gegen Preußen aufgeführt habe, daß eS fast die gewöhnlichsten und gebräuchlichsten Schick-

lichkeitSregeln außer Auge lasse, bleibe nicht der geringste Grund vorhanden,

der Preußen zu dem gewünschten entgegenkommenden Schritte veranlaffen könne.

Also in consequenter Anwendung deS Princips der Gegenseitigkeit

vernachlässigte der König die Pflege der Beziehungen zu Rußland jetzt mit Bewußtsein.

Er glaubte zu wissen, daß man in Rußland „ihn mehr

scheue, als er je Rußland gefürchtet habe**)", und er fand eS für gut, dem

feindlichen Nachbaren das Gefühl seiner Ueberlegenheit lassen.

durchblicken zu

Auch Graf Finckenstein empfahl und billigte diese Tactik, nachdem er

die Verhältnisse am russischen Hofe näher kennen gelernt hatte.

„Ich begreife

in der That, schrieb der Gesandte am 20. Januar 1748, daß es gefährlich

sein würde, diesen Leuten zu wohl werden zu lassen***) und ihnen keine Empfindlichkeit wegen aller ihrer Unarten zu erkennen zu geben".

Der

König antwortete ihm (5. Februar 1748) „Ich erlaube Ihnen von Herzen

gern, sich auf das hohe Pferd zu setzen, so oft und wann immer Sie eS für dienlich halten".

Mit Befriedigung schreibt er dem Gesandten ein

anderes Mal (2. Juli 1748) „Rußland wird sich nicht rühmen können daß

ich ihm dieselben Auszeichnungen und Caressen erwiesen hätte, mit denen eS durch andere Mächte gefeiert wird; im Gegentheil bin ich vor dem

Petersburger Hofe bis jetzt nicht den geringsten Schritt zurückgewichen". Schon unmittelbar nach dem Dresdner Frieden hatte er für seine Politik

gegen Rußland den Grundsatz aufgestellt, daß eS das

beste sei

„den

Bären in seinem Lager zu lassen und ihm nicht selbst weiß zu machen, als ob man seiner nöthig habe oder ihn fürchtefi)".

Jetzt nach einem Zeit­

raum von zwei Jahren, am 12. März 1748, schrieb er in einem seiner vertraulichen Erlasse an Finckenstein:

„Ich kann mir nicht vorstellen welch

großes Bedürfniß wir von Rußland hätten: ebensowenig kenne ich die aus­

gezeichneten Dienste, die meiner Dynastie von Rußland erwiesen sein sollen.

Glauben Sie mir,

alles wohl gerechnet, so haben wir das

*) 6. December 1749, an Finckensteins Nachfolger Goltz. **) 20. October 1747. Politische Correspondenz 5, 509. ***) „De mettre ces gens-ci trop ä, ieur aise.“

t) Politische Correspondenz 5, 11.

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem Yebenjährigen Kriege.

moSkowitische Reich nicht nöthig

303

und können sehr wohl ohne dasselbe

leben." DaS Gefühl der Stärke das sich in diesen Worten ausspricht, gaben dem Könige seine Beziehungen zu den beiden großen Westmächten.

Für

sein Verhältniß zu England und Frankreich und dem entsprechend für sein

Verhältniß zu Rußland lassen sich innerhalb deS Zeitraums vom Dres­

dener Frieden bis zum Ausbruch deS siebenjährigen Krieges drei Phasen unterscheiden; die erste endet mit dem Sommer 1748, die zweite mit dem Sommer 1755 und die dritte und kürzeste bildet das dem Kriege voran­

gehende Jahr.

In der ersten Periode hält sich König Friedrich ungefähr

in der Mitte zwischen den beiden einander feindlich gegenüberstehenden

Mächten, bald mehr zu Frankreich, bald mehr zu England hinnetgend. Als er im August 1745 durch die Convention von Hannover seine schon vor Ausbruch des zweiten schlesischen Krieges gestörten Beziehungen zu England hergestellt hatte, sagte er, statt eines Bundesgenossen werde er

künftig deren zwei haben*).

Unmittelbar nach dem Doppelfrieden mit

Oesterreich und Sachsen, an dessen Zustandekommen die englische Diplotie einen gewissen Antheil hatte, hätte er ein Zusammengehen mit Eng­

land dem mit Frankreich vorgezogen;

der preußische Gesandte, der einen

Monat nach dem Frieden an den sächsischen Hof ging, erhielt die In­

struction, sich gegen den dortigen Vertreter Englands weniger reservirt zu halten, als gegen den Gesandten König Ludwigs XV.**)

Wenige

Wochen darauf hatte König Friedrich die Genugthuung, daß der Versuch Georgs II. zu einer Neubildung deS englischen CabinetS im Sinne einer

großartigen continentalen Actionspolitik, kläglich Fiasko machte: zwei Tage nur konnte Georg den Mann seines Vertrauens halten, Lord Granville, einen ausgesprochenen Gegner des Königs von Preußen; insgesammt über­

nahmen die bisherigen Räthe

der Krone wieder ihre Portefeuilles***).

Als dann im November 1746 Lord Harrington, der StaatSsecretär der die Convention von Hannover unterzeichnet hatte, aus dem Ministerium auSschied, und Lord Chesterfield die Leitung der auswärtigen Angelegen­

heiten übernahm, glaubte Friedrich II. Symptome einer Erkaltung deS englischen CabinetS in seiner Politik

gegen Preußen wahrzunehmen fi);

aber seine Hoffnung auf eine dauernde Befestigung seiner Beziehungen

zu England wurde lebhafter als je, als im Frühjahr 1748, kurz vor Ab­ schluß der Friedenspräliminarien, nach längerer Pause ein englischer Ge*) **) «**) t)

Politi che Politi che Politi che Politische

Correspondenz Correspondenz Correspondenz Correspondenz

4, 322. 5,15. 5, 38—45. 5, 270.410.

Preußen und Rußland im Jahrzehnt Var dem siebenjährigen Kriege.

304

sandter, Sir Heinrich Legge, in Berlin erschien und den Auftrag zur Anbahnung einer Allianz mitbrachte, die von englischer Seite schon 1746

angeregt worden war*), deren Abschluß aber König Friedrich damals bis

zur Herstellung des europäischen Friedens hatte verschoben wissen wollen. Als Legge in Berlin angemeldet war, schrieb der König an seinen Ge­

sandten in Wien (2. März 1748): „Die besten Hilfsquellen, die ich gegen den bösen Willen der Oesterreicher haben kann, sind meine eignen Kräfte, die Maßregeln die ich ohne Unterlaß treffen werde, um mich in einen

Zustand zu setzen, in welchem ich nichts zu fürchten habe, und ein gutes

Einvernehmen mit den Seemächten."

So hat denn dqr König auch in

Hinblick auf Rußland während dieses ersten halben Lustrums nach dem

dresdener Frieden mit dem Rückhalte gerechnet, den er an England zu haben hoffte; denn er sagte sich, daß dem englischen Hofe sein eigenes

Interesse verbiete, einen russischen Angriff auf Preußen zuzulaffen oder gar zu begünstigen und so zu dem mitteleuropäischen Kriege eine Verwicke­

lung im Norden hinzulreten zu lassen**); ja er war zugleich der Ansicht

daß man in England nicht ungern einen mächtigen Fürsten in Deutsch­ land sehe, der im Nothfall das Haus Oesterreich in seinen Schranken

halten könne***).

Daß an der Allianzverhandlung zwischen den Höfen

von Wien und Petersburg die englische Diplomatie und

daß an den

russischen Rüstungen und Truppendemonstrationen das englische Gold nicht

unbetheiligt waren, beruhigte den König, statt ihn in Aufregung zu setzen; denn dieser Umstand, so sagte er, verbürge ihm, daß die militärischen

Vorkehrungen Rußlands nicht offensiver Natur, sondern nur dazu bestimmt

seien, Preußen in Schach zu halten und seinen Wiedereintritt in den Krieg zu Gunsten Frankreichs zu verhinderns).

Ebenso beruhigte es den König

daß die 30,000 Russen, die Anfang 1748 als Hilfscorps für den wiener

Hof auf weiten Umwegen durch Polen, Mähren, Böhmen und Franken nach dem Rheine zu marschirten, im Solde der Seemächte standen, denn

darin sah er eine Garantie, daß sich dieses Truppencorps nicht plötzlich

zum Angriffe gegen Preußen wenden werde. Worte:

Hören wir Friedrichs eigne

„Es steht fest, daß die Russen, ohne durch die Subsidien einer

fremden Macht unterstützt zu werden, nicht im Stande sind, mit Aussicht

auf Erfolg sich mit den Oesterreichern gegen mich zu verbinden" (27. Ja­ nuar 1748).

„Der Wiener Hof kann nichts gegen mich unternehmen ohne

die Mitwirkung Englands, denn die Russen allein sind dazu nicht stark

*) **) ***) t)

Politische Politische Erlaß an Politische

Correspondenz 5, 33. 49.141. Correspondenz 5, 140. 145. den Grafen Otto Podewils in Wien, 27. Januar 1748. Correspondenz 5,159.162.179.

Preußen unb Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

genug

ohne fremde Geldbeisteuer" (9. Dezember 1747*).

305

„Trotz alles

bösen Willens des Kanzlers, fürchte ich wenig von Rußland, solange eS

Subsidien von England bezieht, weil ich hinreichend unterrichtet bin, daß in der augenblicklichen Lage Englands Interesse daran betheiligt ist, mich nicht mit Rußland handgemein zu sehen.

Ebenso wenig setzen mich die

freigebigen Spenden in Unruhe, die der Kanzler von dem Hofe zu Wien empfangen mag, wenn nur gleichzeitig England dem Petersburger Hofe Subsidien zahlt und ihn dadurch in einer Art von Abhängigkeit hält, denn

noch einmal, ich bin überzeugt, daß da- gegenwärtige englische Ministerium mir nicht in dem Grade übel will, daß eS mich im Kriege mit Rußland

sehen möchte" (18. September 1747**).

WaS der König an dieser Stelle

nur für die augenblickliche Lage sagt, stellt er ein andere- Mal ohne solche

Einschränkung hin, wenn er sich nicht denken kann, daß selbst nach dem allgemeinen Friedensschlüsse der König von England den wiener Hof bis

zu dem Grade sollte begünstigen wollen Rußland für einen Offensivkrieg gegen Preußen Geld zu zahlen (25. Juli 1747***).

Noch allgemeiner

formulirt diese politische Berechnung schon ein Brief vom 1. August 1746:

„So lange Rußland mit England gut steht, und England mit mir, wird der wiener Hof niemals zu seinem Ziele gelangen f)." An einen Versuch, die Stellung des Grafen Bestushew zu erschüttern,

dachte König Friedrich 1748 nicht mehr.

„Ein Ministerwechsel in Ruß­

land wäre mir gegenwärtig vollständig gleichgültig", schrieb er am 20. Mai an Finckenstein; „so lange ich mit England auf gutem Fuße bleibe, habe

ich von Rußland nichts zu fürchten." Noch während dieses Sommers sollte die ganze politische Conjunctur

sich wandeln. *) **) ***) t)

Politische Politische Politische Politische

Reinhold Koser. Torrespondenz Correspondenz Eorrespondenz Correspondenz

5, 540. 5, 478. 5, 443. 5,153.

Ein Wort zur Verständigung über die jetzigen Studentenverhältnisse.

Während an vielen Orten die zum großen Theil in höheren Lebens­

stellungen befindlichen

früheren

Mitglieder studentischer Verbindungen

den Interessen derselben eine Theilnahme zeigen, welche ohne deren Billi­

gung undenkbar sein würde, wird von anderer Seite das Bestehen arger Mißbräuche im jetzigen Universitätsleben behauptet.

Zwar kann es nicht

Wunder nehmen, wenn der Abgeordnete Reichensperger, welchen theologische Conviktoristen mehr anmuthen mögen als Corpsstudenten oder Burschen­ schafter, kürzlich in einer Parlamentsrede das

jetzige Universitätsleben

so ziemlich als ein Uebergangsstadium zum Untergange beurtheilte, aber auch von amtlicher Stelle wurde das Vorhandensein von Mißständen an­

erkannt und in der Schlesischen Zeitung hat vor Kurzem ein Mann, der

— wenn wir den Autor richtig vermuthen —, jetzt in einem höheren

Staatsamte stehend und als Autorität in seinem Fache wohlbekannt, seiner Zeit Schläger und Becher Wohlgemuth geschwungen hat, wenn auch ohne

Verurtheilung der althergetrachten studentischen Lebensweise, doch mit ernster

Mahnung auf schärfer hervortretende Schwächen des Studentenlebens hin­

gewiesen.

In der That sind auch jene, noch jetzt an den Interessen ihrer

jüngeren Verbindungsgenossen Antheil nehmenden Männer („alte Herren" nach dem technischen Ausdruck) im Wesentlichen darüber einig, daß Man­

ches nicht so ist wie eS sein sollte, und man braucht, um dies zu erkennen,

kein sauertöpfischer Ascet, kein Frömmler oder Bücherwurm zu sein, aber andererseits darf man sich auch der Einsicht nicht verschließen, daß, unge­ rechnet die von Hauff so begeistert geschilderte Poesie der Burschenzeit,

in dem Verbindungsleben ein tüchtiger Kern steckt und daß, was für

Viele nicht paßt, für viele Andere unschädlich oder nützlich sein kann. Bei Beurtheilung der ganzen Frage muß der wissenschaftliche Stu­ dienplan der einzelnen Fakultäten außer Erörterung bleiben und können die etwaigen Excesse in Großstädten, welche von jungen Leuten aller andern

Fächer ebenso oddr wohl in noch höherem Grade begangen werden, nicht

Ein Wort zur Verständigung über die jetzigen Studentenverhältnisse.

in Betracht kommen;

307

eS handelt sich nur um das eigentlich studentische

Treiben, Herr Reichensperger irrt unseres Wissens, wenn er die Verbindungs­

studenten — er sprach von den Studenten im Allgemeinen, meinte aber wohl diese — der Gegenwart für fauler hält als die vor 30 oder 40 Jahren.

Den jetzigen Philologen und Medizinern ist so wenig wie den

früheren unbekannt, daß sie bei Zeiten sich einem wirklichen Studium

widmen müssen, wenn sie die Prüfungen bestehen wollen, sie könnten ohne Schaden für Corps und Burschenschaft fleißiger sein, wie sie auch früher hätten fleißiger sein können, aber noch jetzt erweisen nicht wenige unter ihnen bessere Resultate als die Mittelmäßigkeit und auch eine große Zahl solcher, die sich den eigentlich studentischen Vergnügungen fern halten,

kommt mit genauer Noth an daS vorgeschriebene Ziel und bleibt zeitlebens

in untergeordneten Verhältnissen.

Die Juristen entwickelten schon vor

30 Jahren den geringsten oder am spätesten den nothwendigen Fleiß und haben auch heut auS mancherlei Gründen die relativ geringste Neigung

sich mit regem Eifer in die Pandekten zu stürzen.

ES wäre höchst er­

wünscht, wenn sie sich früher und energischer ihrem Fachstudium hingeben wollten, wenn sie eher daran dächten, daß im Examen die Falcidische Quart ungleich wichtiger ist als die eleganteste Tiefquart, aber der Schaden in

dieser Beziehung ist kein unersetzlicher, er kann durch strengere Anforde­ rungen im Examen, durch Aufmerksamkeit der Eltern wesentlich herab­ gemindert werden; ob ein ganz veränderter Studienplan der angehenden

Juristen, welcher die Verbindungen sicher nicht schädigen würde, eine bessere Ausbildung zur Folge haben würde, kann hier unerörtert bleiben.

Wenn wir die traurige Thatsache nicht leugnen können, daß mancher

hoffnungsvolle Verbindungsstudent zu Grunde geht, so dürfen wir auch nicht verschweigen, daß dies oft genug nicht wegen, sondern trotz der Ver­

bindung geschieht, weil der junge Mann nicht blos die Ermahnungen seiner

Eltern, sondern auch die seiner Genossen und älteren Freunde in den Wind schlägt. Auf der anderen Seite haben wir aber die Wahrnehmung gemacht, daß eine auffallend hohe Zahl früherer Verbindungsstudenten

(zufällig haben wir eS vorzugsweise bei Corpsstudenten beobachtet) über

das Ziel der gewöhnlichen Mittelmäßigkeit hinausgelangt;

namentlich in

höheren Beamtenstellen finden sich viele „alte Herrn", während dieselben

in der reinen Wissenschaft weit schwächer vertreten sind. Der letztere Um­

stand ist leicht erklärlich. Die Männer, welche als Gelehrte, in der reinen Wiffenschast, Hervorragende- leisten, haben zwar nicht immer, aber doch

in den meisten Fällen für ihr Fach- schon von der ersten Studienzeit an eine solche Vorliebe, daß die Interessen irgend einer Verbindung daneben

Ein Wort zur Verständigung über die jetzigen Studentenverhältniffe.

308

keinen Platz finden, während zahlreiche fähige Jünglinge kurz nach dem

Abiturientenexamen noch keine solche ausschließliche Neigung fühlen und Wenn

sich zunächst begeistert dem akademischen Lebensgenuß hingeben.

nun ein verhältnißmäßig großer Bruchtheil derselben später zu sicheren Lebensstellungen gelangt, so liegt der Grund weniger darin, daß die Corps­

studenten häufig aus wohl situirten Familien stammen, als vielmehr we­

sentlich in der Schneidigkeit des Charakters, in der rücksichtslosen Hingabe an ein Prinzip, welche angeboren oder, wenn das dieser Eigenschaft ent­

behrende Mitglied nicht in mehr oder weniger rauher Weise eliminirt werden will, erworben werden muß.

Der Corpsstudent — dies gilt auch

von einigen anderen Verbindungen — lernt bald in seiner Gemeinschaft, in dem dreifarbigen Bande ein Ideal 'finden, dessen Ehre seine Ehre, für welches er Opfer zu bringen, seine Person einzusetzen bereit ist.

Anschauungsweise überträgt sich auch auf spätere Verhältnisse.

Diese

Ebenso

rückhaltlos, wie er als Student sein jugendliches Ideal vertreten hat, ver­ folgt er später das vorgesteckte Ziel und welches er als daS richtige erfaßt hat.

giebt sich dem Prinzip hin,

Bor der Durchführung deS Kon-

viktswefenS betheiligten sich auch katholische Theologen an diesen konfessions­

losen Verbindungen; die unS bekannten sind nicht nur würdige, überzeugungötreue, rasch zu höheren Aemtern gelangte Priester geworden, wir

könnten auch mehrere

Namen von Solchen

nennen, die sich in

dem

jetzigen Kirchenkonflikt zwar nicht durch Bitterkeit, aber durch entschlossenes Handeln bemerkbar gemacht haben. Geschah dieß auch im Sinne des uns

sehr unsympathischen UltramontaniSmuS, so führen wir doch die Thatsache als charakteristich für daS erwähnte Drangeben der Person an.

wichtige wesen.

Eine nicht un­

Rolle bei dieser Ausbildung deS Willens spielt das Mensur­

Duelle sind verboten, noch mehr, sie können unter Umständen

eine Narrheit oder ein Frevel sein.

Von den Studentenduellen ist daS

nicht zu behaupten; sie sind eine Uebung mit einer nicht ungefährlichen Waffe,

aber eine Verstümmelung oder Tödtung kommt so selten und unter so be­ sonderen Umständen vor, daß diese Fälle bei Beurtheilung der ganzen Ein­

richtung nicht in Betracht gezogen werden dürfen.

Vorzugsweise werden die

sogenannten Bestimmungsmensuren als unsinnig und verwerflich verdammt; der Student soll sich nur schlagen, wenn eine Beleidigung vorhergegangen ist.

Damit muß man die Studentenpaukereien überhaupt verneinen.

Wer­

den sie wie die übrigen Duelle als „nothwendiges Uebel" angesehen, so

möge auf jeder Universität ein Ehrengericht eingesetzt werden, welches sich

mit den Ehrenhändeln befaßt;

entscheidet es für den Zweikampf, so ist

die Schlägermensur mit Binden und Bandagen lächerlich, dann müssen

sich die jungen Leute auf Pistolen schlagen, bis „ein Theil kampfunfähig

Ein Wort zur Verständigung über die jetzigen Studentenverhaltniffe.

ist".

309

Die Mensur der Studenten gehört der Regel nach in eine andere

Kategorie; steift, wie schon gesagt, eine Waffenübung, zu deren Vornahme so wenig wie zu einem Turnier erforderlich scheint, daß Einer den Anderen

vorher beleidigt hat; wir schätzen eS als einen Gewinn, daß der frühere „dumme Junge" feit vielen Jahren abgeschafft ist, und finden in diesem Sinne keine Thorheit darin, daß ein paar junge Leute sich pauken, die sich

vielleicht erst beim Antreten auf der Mensur vorgestellt werden; wir zwei­

feln auch daran, daß, wie von anderer Seite tadelnd hervorgehoben worden, bisherige Freunde auf bloße Bestimmungsmensur mit einander losgehen

werden; der Fall dürfte mindestens äußerst selten sein, in der Regel be­ steht Freundschaft oder näherer Umgang nur unter Mitgliedern derselben

Verbindung.

Um nicht mißverstanden zu werden

bemerken

wir auS-

drücklich, daß wir nicht entfernt gesetzliche Straflosigkeit des Studenten­ duells wünschen, aber es hat so große Vorzüge, daß uns angezeigt erscheint

eS mit Ausnahme besonders gearteter Fälle, welche vor den Strafrichter gehören, wie bisher zu ignoriren und im Prinzip nicht mit neuen Maß­ regeln dagegen einzufchreiten.

Erfahrungsmäßig giebt die Gewöhnnung

an den scharfen Schläger eine gewisse Sicherheit, ein Selbstgefühl, welches, mit den gesellschaftlichen Formen des gebildeten Menschen gepaart, nicht die schlechteste Mitgabe für das spätere Leben ist.

Der studentische Ge­

brauch wird nicht übel mit dem Erforderniß des Mannesmuths zusammen­ gefaßt in einer noch jetzt gesungenen Parodtrung eines bekannten LiedeS: Wer die Folgen ängstlich znvor erwägt, Der duckt sich, wo man die Tiefquart schlägt.

In neuerer Zeit ist jedoch die eine Seite dieser Art Zweikämpfe

übertrieben hervorgekehrt worden.

Wie wir von sehr kompetenter Seite

hören, wird das Fechten zu wenig als Kunst betrieben, es wird zuviel gerauft, eS wird schlechter geschlagen als früher. Die überaus zahlreichen Verwundungen bei den einzelnen Paukereien bestätigen dieß.

Verlangte

man früher von dem Studenten, daß. er muthig auch einem überlegenen

Gegner Stand hielt, so legte man doch auch Werth darauf, daß er sich möglichst im geschickten und rationellen Gebrauch der Waffe vervollkomm­

nete. Jetzt soll der Student lediglich seinen Muth zeigen.

Bezeichnend dafür

ist das Wort, welches ein junger Mann nach einer solchen Affaire aus­

gesprochen hat.

aber ein Fehler.

„Habe ich nicht wieder sehr gut dagestanden?"

Hier liegt

Daß bei den „Schwadronshieben" mehr Verwundungen

vorfallen als nöthig, darauf legen wir kein großes Gewicht, aber das

ausschließliche Geltenlassen der, wir möchten sagen, passiven Courage, die Hiebe mit anständiger Miene in Empfang zu nehmen, ist ein Abweg.

Zur Ausbildung der Charakterstärke, der Entschlossenheit gehört nicht blos.

310

Ein Wort zur Berständigung über die jetzigen Studentenverhältnisse.

daß man sich in Gefahr begiebt und erträgt, was man nicht ändern kann,

sondern auch, daß man den Gegner kaltblütig und wenn auch loyal, also ohne tückisches Lauern das von je für unanständig galt, doch mit Geschick zu

überwinden oder seinen unvermeidlichen Sieg möglichst einschränken lernt.

Wir meinen die Männer, die vor 20 bis 30 Jahren auf Universität gefochten und später geholfen haben den Landesfeind niederzuwerfen, haben

bewiesen, daß Anwendung der erlaubten Hilfsmittel mit selbstlosem Dran­

geben der eigenen Person sehr wohl vereinbar ist. Ein Uebelstand aber, welcher im höchsten Grade bedenklich erscheint, ist der gradezu unsinnige Luxus, der auf mehreren Universitäten jetzt ge­

trieben wird.

ES gilt nicht mehr, Gentleman, sondern reicher Gentleman

zu sein und über der Sucht reich zu scheinen, werden Schulden angehäuft und ganze Familien in bitteren Kummer gestürzt.

Wohlberechtigt war

vor Jahren der früheren Rohheit und saloppen Haltung gegenüber das Be­ streben in Kleidung, Benehmen und Vergnügungen anständig aufzutreten, jetzt ist der junge Student Plutokrat, Dandy in den elegantesten Kleidern

und aufs sorgfältigste vom Friseur, bei dem er nicht selten abonnirt ist, aufgestutzt.

Auf der Eisenbahn wird erster Klasse gefahren, nur ausnahms­

weise kann man sich die zweite erlauben, zu Dreien oder Vieren kann man eine Droschke anständiger Weise nicht benutzen.

Der „Fremdenpump"

ist eine Last, unter welcher die Corps zu erliegen drohen;

auf manchen

Universitäten ist es selbstredend, daß die fremden Studenten, welche hin­ gekommen sind, um eine P. P.- (Pro patria-) Suite auszumachen, auf Kosten der befreundeten Verbindung im ersten Hotel untergebracht und

auf das luxuriöseste bewirthet werden.

Wir haben selbst gesehen, daß Ver­

bindungen an einem Corso der Geburts- und Geldaristokratie sich auf

brillant ausgestatteten Wagen betheiligten.

Bis jetzt haben die in Godes­

berg alljährlich zusammenkommenden „alten Herren" sich vergeblich bemüht

den Studenten klar zu machen, daß diese Lebensweise die Verbindungen

ruiniren muß, daß, wenn keine gründliche Wandelung geschaffen wird, nur die wenigen Söhne ganz reicher Leute auf Universität werden als Stu­

denten leben können.

Wer es wohl meint mit den deutschen Studenten,

wer sich freut in der Erinnerung an die eigene lebensfrische Jugendzeit und eine gleiche seinen jüngeren Freunden, seinen Söhnen wünscht, der

möge sich um Abstellung dieses Uebelstandes bemühen.

Um anständig

und heiter zu sein braucht man nicht als Modejournal herumzulaufen

und Sekt zu trinken.

Als der Zobten-Commers durch die fast überreiche

Fülle von Witz und guter Laune, die dabei sprudelte, berühmt war, als die „Hoftage" den Breslauer Corps, auf deren einem zum ersten Male die blühende Parodie auf den Tannhäuser aufgeführt wurde, zu den ge-

Ein Wort zur Verständigung über die jetzigen Studentenverhältnisse.

311

suchtesten Festen gestörten, lebte man gewaltig einfacher als jetzt;

freilich

verbietet jetzt schon eine geringe Mitgliederzahl derartige, in der That glänzende Repräsentation

des studentischen Geistes, aber eben der Mit­

glieder könnten mehr sein, wenn die Kosten der ganzen Lebenshaltung

geringere wären.

Die Lage ist

ernst genug, aber wir hoffen doch,

der gute Geist der deutschen Studenten wird auch jetzt siegen, wie er

über die Rohheit zu Anfang dieses Jahrhunderts und über die späteren politischen Thorheiten gesiegt hat.

Mag größerer Fleiß erwünscht sein,

mögen manche Fehler und Schwächen bedenklich erscheinen, werthvoll ist nicht nur für den Einzelnen der frohe Lebensgenuß im Kreise treuer,

gleichgestimmter Freunde, ein» theure Erinnerung für das ganze Leben, sondern für unschätzbar halten wir die warme, frische Begeisterung für ein Ideal, mag es dem Fremden auch nur als ein buntes seidenes Band erscheinen, und das Hochhalten der Ehre, welches bet manchen Schlacken

und Auswüchsen das Alles durchdringende Lebensprinzip ist.

Gerade die

absolute Ehrenhaftigkeit, welche freilich in dem das Vermögen überstei­

genden Aufwande ihren gefährlichsten Feind hat, ist die unbedingte For­ derung und Voraussetzung zahlreicher Verbindungen und ein höchst werth­

voller Schutz in den mannigfachen Gefahren deS späteren Lebens.

Die

Wege der Menschen sind verschieden. Eines schickt sich nicht für Alle, aber

was so Vielen dienlich ist, möge erhalten und womöglich gefördert werden.

Preußische Jahrbücher. 93b. XLVII. Heft 3.

21

Notizen. „Peter der Große"

von Prof. Brückner und

die Kritik dieses

Werkes im „Gött. Gel. Anz." von Prof. Schirren.

Obwohl ich durchaus kein Freund langer Einleitungen bin, besonders dann nicht wenn sie, wie es oft vorkommt, eine Art von Entschuldigungen sind, die

der Verfasser dafür vorbringt, daß er überhaupt verfaßt habe, so fühle ich hier

doch das Bedürfniß Einiges zur Erklärung, ja Rechtfertigung an Persönlichem

vorauszuschicken.

Ich war immer der Meinung daß Bücheranzeigen ein noth­

wendiges Uebel seien und Kritiken blos dann eine Berechtigung hätten, wenn sie

streng wissenschaftliche seien, weshalb ich denn auch den Widerspruch wohl em­

pfinde, die genannte Kritik im „G. G. A." anerkennen, ihren Abdruck in der Tagespresse aber bedauern und ihre Wirkung auf das Laienpublikum bekämpfen

zu müssen.

Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß ich einstmals dazu mich Hin­

reißen lassen könnte, sogar das Aergste zu leisten, nämlich eine Gegenkritik zu

schreiben und noch dazu eine durchaus unwissenschaftliche.

Und doch ist es so,

da ich beabsichtige Einiges nicht so sehr für den Herrn Prof. Brückner als den Verfasser des obengenannten Buches, als gegen den Herrn Prof. Schirren als

Kritiker dieses Buches zu sagen.

Und zwar zu sagen ohne jeglichen Anspruch

nicht bloß auf eine Wissenschaftlichkeit die derjenigen des Herrn Prof. Schirren,

sondern auch auf eine solche, die den Kenntnissen des Herrn Prof. Brückner irgend ebenbürtig wäre.

Herr Prof. Brückner hat sein Buch sowohl an die

Gelehrten als an die Laien gerichtet, und da, wie sich's gebührt, die Gelehrten

in der Person des Herrn Prof. Schirren zuerst das große Wort gesprochen haben, so sei es nun auch dem andern Theil der von dem Verfasser Beschenkten

gegönnt, seinen Dank — oder Undank abzustatten. — Was würde wohl jeder Laie, dem die Kritik des Herrn Prof. Schirren zu

Gesicht kommt, fortan von dem Buche des Herrn Prof. Brückner sagen? Was

müßte Jeder sagen?

Müßte er nicht sagen „es ist ganz aus mit ihm" — wie

der Koch sprach als er dem Hahn den Kopf umdrehte? Kann es wohl für

Einen, der nur ganz wenig Vertrauen zu Herrn Prof. Schirren hegt, noch

fraglich sein, daß dieses Buch von Anfang bis zu Ende nichts tauge, daß es hieße sich selbst ein wissenschaftliches Unrecht anthun, wenn man nun noch es

unternähme zwei Seiten von diesem ganz erbärmlichen Buch zu lesen? Hat man je ein mehr todtgeschlagenes Werk gesehen als dieses, in welchem der Verf.

meinte einen „Beitrag zur Weltgeschichte im umfaffenderen Sinne" geliefert zu haben? Niemals! Im sehr gelehrten „Gött. Anz." hat es gestanden, unter-

zeichnet von dem noch mehr gelehrten Spezialforscher des nordischen Krieges: daß das Buch von einem Ende zum andern von historischen Unrichtigkeiten

wimmle und den Gegenstand falsch darstelle.

Es ist ganz und gar aus, man

rede nicht mehr davon! Ich bin so sehr als irgend Einer überzeugt davon, daß in der Wissenschaft

von heute es keinen Mann giebt, der so competent zum Richter über dieses Buch wäre als der Herr Prof. Schirren.

Niemand kann aufrichtigere Hochachtung

vor der Forschungskraft und dem Wissen des Herrn Professors hegen als ich, der ich seit der Zeit, wo ich als Schüler durch den glänzenden Geist Schirrens

hingerissen ward, stets einige Gelegenheit hatte den unermüdlichen Forschungen meines hochverehrten Lehrers auf dem Gebiete des nordischen Krieges und der livländischen Geschichte äußerlich zu folgen.

Ich wage also kein Jota an den

Nachweisen über geschichtliche Irrthümer, die er gegen Herrn Prof. Brückner in Menge vorbringt, anzuzweifeln.

Aber was folgt aus all diesen Irrthümern?

Folgt daraus wirklich daß das Buch lieber hätte ungeschrieben, und da das Unglück nun einmal geschehen, daß es ungelesen bleiben sollte, wie jeder Laie

sich sagen muß, nachdem er den dicken schwarzen Strich gesehen, den HerrProf. Schirren mit fester Hand darüber hingezogen hat?

Für mich folgt das

nicht daraus. —

Ich stimme gewiß mit meinem verehrten Lehrer darin überein, daß von

etwa 6000 Büchern, welche Deutschland jährlich zu verdauen bekommt, eine gute Hälfte lieber könnte ungeschrieben bleiben.

H. Prof. Brückner nicht zu dieser Hälfte legen.

Aber ich würde das Buch des

Es giebt sehr viele Bücher,

welche von der strengen Wissenschaft mit vollem Recht verdammt werden, aber von der unwissenschaftlichen Menge nicht nur gern, sondern auch mit großem Nutzen gelesen werden.

Zu diesen Büchern gehören nicht bloß Erzeugnisse

der sogenannten schönen Litteratur, sondern auch Erzeugnisse,

wissenschaftlichen Titel an sich tragen.

die den streng

Wenn nur diejenigen Werke gelesen

zu werden verdienten, welche von gelehrten Richtern der heutigen Wissen­

schaft für übereinstimmend mit der heutigen Forschung und Erkenntniß erklärt wurden, so wären die meisten wisienschaftlichen Werke, die bis vor einem Jahr­ zehnt herausgegeben wurden, verbotene Speise.

Und doch wird der gelehrte

Kenner des nordischen Krieges mir nicht das Lesen der Werke eines Leo oder

Rotteck verargen wollen.

Sind nun etwa die,Irrthümer, in welche ein Leo

nach dem damaligen Stande der Forschung in seinen Werken verfiel, weniger

irreleilend als Irrthümer deren sich ein heutiger Historiker schuldig macht? Ob­ jectiv angesehen sind jene offenbar eben so wirkend wie diese; jene sind vielleicht

vielfach in gewissem Sinne nothwendig entstandene Irrthümer gewesen, diese vielleicht nicht nothwendige; jene kann man dem alten Leo nicht anrechnen, diese

dem Prof. Brückner wohl.

Hiebei jedoch handelt es sich um subjective Verant­

wortung, nicht um objectiven Werth. Und in soweit es sich in Rücksicht auf un­

sern Gegenstand um die subjective Verantwortung des Herrn Prof. Brückner

handelt, will ich und darf ich kein Wort in das von Herrn Prof. Schirren

Gesagte Hineinreden. Das ist das Feld der Wissenschaft von dem ich mich zurück­ halle. An objectivem Werth jedoch spreche ich als Laie für das Buch des Dorpater

Forschers einen nicht ganz geringfügigen Theil an. nicht

Denn jene Irrthümer sind

solche daß sie die Wahrheit in ihren hauptsächlichen Zügen verdeckten.

Und wer von uns wäre in der Lage an seine Brust zu schlagen und zu sprechen:

ich schrieb niemals etwas, wovon ich nichts verstand? Sollte mein verehrter

Lehrer aber ein Solcher sein, so weiß ich nicht,

ob ich mehr die Höhe seines

wissenschaftlichen Ernstes bewundern, oder mehr die Enthaltsamkeit bedauern soll, welche ihn abhielt uns manche Früchte seines Geistes und Fleißes darzu­

bieten, blos weil er dabei fürchtete daß hin und wieder eine nicht ganz tadellos reife Frucht mit unterlaufen könnte. — Ich

bin

keineswegs gesonnen mich zum wiffenschaftlichen Anwalt des

Brücknerschen Buches aufzuwerfen.

ein andrer Gelehrter führen*).

Die Vertheidigung mag der Verfasier oder

Vielmehr verkenne ich nicht, daß auch für den

Laien das Buch Vieles enthält was nicht ganz dem Anspruch gerecht wird, den

er stellen darf.

Auch ein ungeübtes Auge wird finden daß der Stoff sich nicht

immer einer klaren, systematischen Verkeilung und Verarbeitung erfreut.

Der

von moderner Geschichtschreibung genährte Geschmack wird finden, daß der Herr Verfasser in nicht ganz glücklicher Weise zwei Methoden der Darstellung oder

zwei Schulen oder wie man es sonst nennen will, mit einander zu verschmelzen versucht habe.

Er reiht den Stoff aneinander wie man vor einem Dahl­

mann und Ranke es bei uns zu thun gewohnt war, und doch sucht er das Gewand allgemeiner Gesichtspunkte anzulegen, wie wir es in neuer Zeit ge­ Er arbeitet oft mit den Werkzeugen des Compilators,

wohnt sind.

und

doch nimmt er die Manier an, welche seit Ranke für modern und wissen­ schaftlich

stilvoll gilt.

Es ist meist die Manier,

nicht die Methode, und

was man von dieser Methode der geschichtlichen Darstellung im Uebrigen

auch denken mag, so wird man die eine Forderung immer stellen müssen, daß sie nicht nur in der äußern Form, sondern des Geistes auftrete.

und genießbar.

Nur

dann

stets auch in dem Gehalt

ist di^se Art der Darstellung berechtigt

Wie oft haben wir, Dank dem von Ranke und seiner Schule

eingeführten Geschmack, Bücher zu lesen bekommen, welche so thaten als enthielten

sie immer neue, weite Gesichtspunkte, als funkelten sie überall von Geistes­ blitzen, deren Licht ohne viel Commentare große Gebiete des Wissens aufhellten, und die dabei so geistlos waren, daß all ihre von Größeren abgelauschten zu­ sammenfassenden Urtheile und kühnen Hindeutungen bei näherer Betrachtung nur

den Werth einer Reihe von Gedankenstrichen hatten.

Auch Herr Prof. Brückner

ist nicht frei von der herrischen Geschmacksforderung nach geistreichen Ueber-

raschungen

oder doch wenigstens nach dem Schein derselben.

Er sucht für

Vieles höchst gewagte Erklärungen und findet oft Beziehungen, wo wenig Andere

*) was, wie wir erfahren, inzwischen seitens des H. Verfassers in der „Rig. Ztg." geschehen ist. — D. Red. der „Pr. Jahrb." —

welche entdeckt hätten.

Mir scheint daß die Persönlichkeit Peters des Großen

den Stoff zu einer weit eingehenderen und ausdrucksvolleren Characteristik deffelben hätte ergeben können, als der geehrte Vers, im Laufe seines Werkes und zuletzt

in einem eigenen Kapitel uns darbietet.

Dabei aber verliert er sich oft in Be­

trachtungen, die nur geeignet sind, die Characteristik seines Helden zu verdecken. „Wer ein Staatswesen zu lenken bestimmt war, sagt er (S. 149), mochte gut daran thun sich im Lenken eines Fahrzeuges zu üben; wer einen Staat formen

sollte, konnte nur dabei gewinnen wenn er ein Boot oder ein Haus zimmern

gelernt hatte."

Was gewinne ich vom Lesen dieser Worte? Soll ich etwa

glauben daß Peter bei seiner Leidenschaft für das Schiffezimmern einen großen

politischen Hintergrund hatte?

Soll ich glauben daß dieser mit auffallenden

technischen Liebhabereien und Talenten, wie man sie grade bei den Ruffen so oft findet, ausgestattete Jüngling, deffen Körper und Geist sich nur wohl fühlten

wenn die Axt tüchtig geschwungen werden konnte oder nach der Arbeit des TageS ein tüchtiger Schluck gethan ward, daß diese so einfach angelegte Natur zur

Axt griff um dabei sich politisch zu bilden? Wäre die tüchtige bäuerische Art,

der gute russisch-bäurische Verstand und jene Liebhaberei Peters nicht eher "für

eine Erklärung seiner Lieblingsbeschäftigung genügend, als weltumfaffende Pläne? Ich habe von größeren Politikern und unternehmenderen See- und Landhelden

gehört als Peter war, die zum Heldenthum gelangten ohne je die Axt geschwungen zu haben.

Oder was soll ich mir dabei denken, daß seine „Leidenschaft für körper­

liche Arbeit" „einen tiefern Sinn durch die Beziehung auf die orientalische

Frage" göhabt haben soll, wie es anderswo heißt? Es ist gefährlich mit großen

Gesichtspunkten im Kleinen umzugehen. Und der Berf. läßt sich nur zu oft Hin­ reißen unseren Blick auf solche Beziehungen auch in Fällen hinzulenken, wo ich

wenigstens gar keine solche Beziehungen zu sehen vermag. So dünkt mich auch das

Verhältniß Peters zu Alexei in ziemlich persönlichen und engen Beziehungen be­ gründet gewesen zu sein, während der Verf. sich entschließt dasielbe aus hohen poli­ tischen Gründen zu erklären und zuletzt auf sehr historischem Wege dazu gelangt

die historische Nothwendigkeit für den Untergang Alexeis aufzubauen (S. 308).

Oder warum „mußte" Rußland „als Zögling Europas zunächst den etwaigen Invasionen asiatischer Barbaren einen Riegel vorschieben, sodann als Pionier

europäischer Cultur weiter ostwärts vordringen" (S. 473)? Und warum „mußte" es, nur um eine Seite früher, „schon um der Sicherung der im Verkehr mit

Europa gewonnenen Ergebnisse willen auch nach Asien hin fortschreiten? (S. 472.) Warum?

Und warum dieses Muß? Wie war es denn „selbstverständlich" daß

„Turkmenen, Sarten, Kalmücken u. s. w. Rußlands Unterthanen werden würden" ?

(S. 476.) Ich sehe die Sache noch heute nicht einmal für „selbstverständlich" an, vielweniger damals als Rußland noch kaum am Kaspisee angelangt war. In­ dessen gehört dieses kräftige historische Begründen mit zu jener Schreibweise, die sich, wie ich meine, vielfach an unrechter Stelle bei unsrer Geschichtschreibung

eingebürgert hat.

Es gehört zu der Methode der „großen Gesichtspunkte", die

so beliebt ist und sich dadurch auszeichnet, daß sie sich mit Gewandtheit zwischen

Notizen.

316 Geist und Phrase hindurchschlägt.

Jenes leere Phrase zu sein.

Bald scheint dem Leser Dieses geistvoll, bald

So setzen sich denn auch gewisse Redeformen in

der Manier der historischen Schule fest, die unter Umständen angebracht, unter

Umständen es aber auch nicht sind.

Dazu rechne ich z. B. die seit Ranke so

beliebte Wendung „man sieht", u. s. w. häufig.

Herr Prof. Brückner braucht sie sehr

Was bekommt „man" da nicht Alles „zu sehen"! Unter Anderem daß

gewisse Verhältnisse in der Verwaltung Peters „an die Leiturgieen und Nau-

kratieen der alten Griechen erinneren", was mir leider zu „sehen" nicht möglich

ist weil ich mit diesen sehr beachtenswerthen Einrichtungen nicht bekannt bin. Doch diese Wendungen gehören eben mehr zum Stil, zur äußeren Form dieser

Schreibart, welche darauf ausgeht lebhaft darzustellen.

Dazu bedarf es denn

auch der kurzen Sätze, und wessen Sache der knappe Satzbau nun einmal nicht

ist, der bemüht sich oft die Kürze auf mechanischem Wege herzustellen.

Wenn

man Bindeworte durch Punkte ersetzt, so ist die Sache gemacht, man ist kurz, wenn auch nicht immer prägnant.

Indessen, wie ich schon andeutele: Ich mache

diese Manier weniger dem Herrn Prof. Brückner als einer ganzen Geschmacks­

richtung sowol in unserm Publicum als in unserer Gelehrtenwelt zum Vorwurf. Und wenn ich mir erlaube diesen Einwand zu erheben, so bin ich mir bewußt

daß grade dieses Gebiet der äußeren Form der Darstellung es ist, auf welchem auch der Laienwelt das Recht des Urtheils und der Wünsche zusteht.

Denn was

dem Gaumen des Gelehrten recht schmackhaft erscheinen mag, kann oft der Magen des Laien durchaus nicht verdauen. Umgekehrt vermag ich und, wie ich glaube mancher andere Leser, vieles von dem recht wohl zu genießen, was Herr Prof. Schirren gewiß mit Recht

zu den Ursachen zählt aus denen das vorliegende Buch seinem Gesammturtheil nach „nicht durchaus mißrathen", dem Einzelurtheil nach aber doch so erfüllt

von Fehlern ist, daß der wahrheitsdurstige Laie, der die Kritik liest, es leicht für eine Sammlung von Mißverständnissen halten könnte.

Es mag einen so

nordischer^kriegskundigen Mann als der Kritiker ist, schwer verletzen zu lesen, daß die russische Flotte i. I. 1116 zu weiter nichts in der Ostsee kreuzte, als um die Mächte zur Anerkennung der Erwerbung Livlands zu nöthigen; daß

sie von Herrn Professor Brückner in die Ostsee geschickt wird ohne alle Be­ ziehungen zu englischer, holländischer, dänischer Seemacht, ohne Antwort auf die Fragen nach dem Wie, nach den Voraussetzungen u. s. w.

Aber das kann

schwerlich das Verständnis dem Laien erschweren, der niemals auf den Gedanken

kam jene Fragen aufzuwerfen noch auch von der richtigen Beantwortung der­ selben wesentliche Erleuchtung erlangen wird.

etwa das Verschweigen

Ebenso kühl dürste der Laie

einer zarischen Gegendeclaration gegen die dänische

Declaration von 1716 hinnehmen, oder die Versäumniß des Verfassers, ihn

über den ganz besonderen Sinn eines zarischen Briefes an Scheremetjew auf­ geklärt zu haben, oder er möchte wohl auch ohne viel Verdruß darüber im Un­ klaren bleiben, ob der Zar Peter seinen Unterthanen befahl ihren Hanf zu fäl­ schen oder nicht zu fälschen. —

Es könnte nun den Anschein gewinnen als ob ich ein Laienpublikum von

ganz besonderer Bescheidenheit der Ansprüche verträte, oder aber von unverant­ wortlicher Flüchtigkeit gegenüber dem Ernst der Wissenschaft.

Indessen meine

ich nur ein Publikum zu vertreten, welches nicht blos ohne alle Ahnung von dem Wissen des Herrn Prof. Schirren, sondern auch von sehr geringer Ahnung

Wiewohl diese Geschichte für

von der russischen Geschichte unter Peter I. ist.

den Herrn Prof. Schirren „im Ganzen bereits zu fest steht als daß sie leicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden könnte", so bekenne ich mich zu dem Ver­

dacht, daß ein großer Theil des deutschen Publikums mit diesem Zar am liebsten und ehesten den singenden Zimmermann in Verbindung bringt.

Meines Wissens

giebt es noch kein deutsches Buch über Peter, das allgemeine Verbreitung ge­ funden und die Kenntniß dieser Geschichte in große Kreise getragen hatte.

Ich

wäre dem Herrn Prof. Schirren daher sehr dankbar wenn er mir eine bessere

Monographie über Peter als diese vorliegende empfehlen könnte, wobei ich na­ türlich annehme, daß er mich nicht anweisen werde auf die dunklen Brunnen

der Usträlow oder Solowjew.

So lange nun aber mir nichts Vollkommeneres

zugänglich ist, fühle ich auch für dieses Unvollkommene, was Hr. Prof. Brückner Ich wiederhole daß ich diese

mir anbietet, mich zu einigem Danke verpflichtet.

Stellung zur Sache nur als Laie einnehme und einnehmen darf.

Wissenschaft ist ja unerbittlich streng.

Denn die

Auch hätte ich nichts gegen die Kritik des

Herrn Professor Schirren zu sagen gehabt wenn dieselbe innerhalb der heiligen

Räume geblieben wäre, welche der „Gött. Gel. Anz." zu bewohnen pflegt und

nicht von dorther auf die breite Straße der Tagespresse herausgetreten wäre, wie es geschehen ist.

Denn eben daß dieses Buch, weil es vor dem Urtheil des

Herrn Professor Schirren „nicht in Ehren besteht", „überall nichts taugt", will

mir nicht ganz einleuchten so lange mir nicht der Nachweis geführt wird, daß der Verfasser den Zaren Peter und seine Zeit in den Hauptzügen falsch dar­ gestellt habe.

Ich halte es keineswegs für unmöglich, ja ich wünsche sogar sehn­

lichst, daß ein Kenner wie Herr Professor Schirren den Zaren Peter grundlegend

anders darstellte als wie Herr Prof. Brückner die „Größe" und die staatsmännische

Begabung und Kraft seines Helden uns glaubwürdig zu machen unternimmt; allein vorläufig hat Herr Professor Schirren grade in dieser Richtung weder

die Darstellung des Verfassers ersetzt noch auch in ihren grundlegenden Zügen entkräftet, vielleicht eben deshalb nicht, weil das Buch in Rücksicht aus den that­

sächlichen Stoff allem Neuen möglichst fern bleibt.

Trotz aller Mängel meine

ich also, daß das Buch doch verdient in weiteren Kreisen gelesen zu werden.

Und ich fürchte, daß wenn Herr Professor Brückner über den gesummten Stoff

hätte verfügen können, den, wie.ich nicht zweifle, Herr Prof. Schirren zur Ge­

schichte Peters des Gr. besitzt, ich weniger als jetzt in der Lage mich befände sein Buch mit Nutzen zu lesen, oder aber vielleicht — überhaupt gar kein Buch zll lesen bekommen hätte. —

E. von der Brüggen.

Verantwortlicher Redacteur:

H. v. Treitschke.

Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.

Fiorenza. Anmerkungen zu einigen Gedichten Dante's und Michelangelo'-.

1.

Dante'S Hölle liegt die Anschauung zu Grunde,

daß ein

finstrer

Abgrund sich austhut, aus dem, je tiefer man hinuntersteigt, immer neue Abgründe stch eröffnen.

DaS Purgatorium dagegen ist als ein Gebirge

gedacht, auf dessen letzter sonniger Höhe das Paradies sich ausbreitet. Mitten im Ozeane steigt auf.einer Insel der Berg der Erkenntniß empor.

Abhang zu Abhang gilt eS ihn zu erklimmen. werden

die Seelen

Bon

Zum Fuße dieses Berges

hinübergefahren und beginnen die mühselige Arbeit,

den Weg emporzufinden. Ich denke mir, daß die Alpen dem Dichter das Material hierfür geliefert haben.

Unter einer Schaar von Seelen, die über das Gewässer hinüberge­ führt, dem Berge der Erkenntniß zu den Strand entlang ziehen, findet Dante seinen gestorbenen Freund Casella. in seine Arme schließen.

Vergebens will er die Schattengestalt

Endlich, um irgend ein Zeichen doch seiner wirk­

lichen Gegenwart zu empfangen, bittet er ihn, ihm etwas zu singen; und nun, während der Zug der Schatten stillhält und dem Gesänge lauscht,

beginnt Casella Dante's

eigne Canzone Amor ehe nella mente mi

ragiona „Die Liebe, die zu mir im Geiste redet".

Biele werden diese

Anfangsworte wiffen. Wenige aber die Canzone vollständig gelesen haben. Was dürfte sie unsern Gedanken nach anderes sein als ein Liebesgedicht? Mit sehnsuchtsvollen Worten redet leise

Im tiefen Herzen mir der Gott der Liebe Bon wunderbaren Dingen,

Die die Gedanken in Verwirrung bringen: So schmeichelhaft ist Alles was er spricht. Und wie ich lauschend selber mich bethöre Versuch' ich nachzusprechen was ich höre;

Vergebne Mühe! ich vermag es nicht.

Und weiter, aus der folgenden Strophe die Verse, in denen die Geliebte beschrieben wird: Preußische JahMcher. Bd. XLV1I. Heft«.

22

Bei Des Die Und

ihrem Anblick scheinen Athemzüge Paradieses sanft mich zu umfächeln, Liebe selber schenkt' ihr dieses Lächeln was ihr Auge sagt, ist keine Lüge.

Die übrigen Theile der Canzone aber lassen nun Wohl erkennen, daß es sich nicht so einfach um eine geliebte Frau und nichts weiter in ihr handle.

Und nun hören wir Dante selber im Convito den tieferen

Sinn des Gedichtes erklären:

Die Geliebte ist die Philosophie, der er

nach Beatricens Tode sich ergeben hatte; die Augen sind die Beweisgründe;

das Lächeln ist die Kunst der Ueberredung; Amor ist das wissenschaftliche

Scheint damit nicht Alles zerstört?

Studium, die Liebe zur Wahrheit.

Man sollte denken, der Dichter habe im hohen Alter vielleicht diese pedan­

tische Deutung in ein feuriges Liebesgedicht hineinzulegen versucht, das aus dem Gedächtnisse der Welt nicht mehr Herauszureißen war.

Dante aber dachte nicht an dergleichen. von Anfang an, wie er sagt.

Das Gedicht war so gemeint,

Auch wußte er, was er der Phantasie seiner

Leser zumuthen durfte. —

Soweit wir die Dichtung und bildende Kunst zurückverfolgen, be­ gegnen wir Allegorien und Personificationen.

Die Welt scheint ohne sie nicht

fertig werden zu können. Die Griechen bedienen sich ihrer in eigenthüm­ licher Weise, die Römer anders, die Franzosen sind größere Virtuosen in

ihrer Verwendung als irgend eine andere Nation, bis in unser eigenes Jahrhundert hinein herrschen sie. Schiller dichtet seinen Hymnus an „die

Freude", Goethe an die „Dichtung", die ihm ein Gewölk erscheint, während er im zweiten Theile des Faust die furchtbare Gestalt der „Sorge" ein­

führt; heute ist sosehr der Geschmack an diesen Figuren und die Fähigkeit sie zu bilden abhanden gekommen, daß wenn es noch neuer Beweise bedürfte, es sei für die Menschheit eine Phase durchaus neuer Entwicklungen ein­

getreten, dies mit als Beweis dafür ausgesprochen werden könnte. Und so muß heute denn schon darauf hingewiesen werden, wie diese

Gestalten zu verstehen seien.

Daß wir nicht inhaltslose ornamentale Fi­

guren in ihnen zu erblicken haben und daß ihnen eigenes Leben und höchst

realer Inhalt von Dichtern tonnte.

und bildenden Künstlern

verliehen werden

Wie ächt sitzt Dürer's „Melancholie" auf dem Boden da inmitten

ihrer Attribute!

Nicht weniger real

als Dürer's Madonnen, die als

wahrhaftige Deutsche Hausfrauen erscheinen.

Melancholie

die

sruchtlos

trübe

Ueberzeugend ist bei seiner

Gedankenarbeit

ausgedrückt,

die

ihr

Antlitz überschattet und wie einen Schleier über die ganze Darstellung legt.

Redeten wir sie an, sie würde uns tiefsinnige Antwort geben. Auch Dante war ihre Gestalt nicht unbekannt.

Eins seiner Sonette, von schmerzlichem,

fast Deutschem Humor erfüllt, läßt sie vor uns auftreten.

Dante nennt sie

nur, kein beschreibendes Wort ist zugefügt, aber hier wie überall wohnt

Dantes Worten die Kraft bei, im Geiste des Lesers plastisch nachzuarbeiten

und die Gestalt in ihm aufzuwecken als erinnerte er sich ihrer als einerschön erblickten. Krankheit der Geliebten.

Es kam einmal zu mir Melancholie Und sprach: ich bleib ein bischen bei dir heute, Und mit ihr kamen noch zwei andre Leute: Schmerz und Verzweiflung. Welche Compagnie!

Und ich: macht, daß ihr fortkommt!

Aber sie

Erzählte da ein Langes und ein Breites, Und mitten im Gespräch, da kommt von weitem Noch Amor an, und, lieber Himmel, wie!

Schwarz angezogen wie gebeugte Erben, Ein kohlschwarz Hütchen auf den blonden Haaren, So stand er da und schluchzte mit der Zunge. Und ich: Was bringst du Böses, armer Junge? Und er: Ach, habt ihr's denn noch nicht erfahren? Ach, unsre arme Frau, die will ja sterben.

Der Titel ist von mir zugesetzt worden.

Wie ernst und gewichtig sehen wir die Gestalt der Melancholie an der Thüre des Dichters stehen.

Bemerken wir auch, mit welcher Kunst

Dante seine Composition, bildmäßig betrachtet, allmählig zusammenfügt. Er verfährt, als wolle er die Gruppe langsam und so sichtbar als möglich

vor uns entstehen lassen.

Zuerst erblickt man die Melancholie und den

Dichter, dann treten die Begleiterinnen herzu, dann endlich Amor. sere Phantasie arbeitet mit.

Un­

Und wie lebendig dieser Amor: der antike

kleine Amor in italiänische Kinderkleider gesteckt, mit einer neuen Sprache

und mit neuen Gedanken ausgestattet*). *) Fraticelli (II Canzoniere di Dante, 3. Aufl. S. 274) erklärt das Gedicht für unächt. Er vermöge nicht zu begreifen, wie man zwei Jahrhunderte lang diese pessima poesia Dante habe zuschreiben können. Es dürfte uns hier wenig verschlagen, ob Fraticelli Recht hätte und das Sonett, statt von Dante selbst bekzurühren, nur aus seiner Schule stammte, allein, sowohl was den Inhalt als die Art der Erzählung anlangt, ist mir ein anderer Autor als Dante kaum denkbar. Die Kunst, eine halb märchenhafte Situation hinzuskizziren, mit Worten, deren jedes weitere immer auch eine Erweiterung der Erzählung bringt, z. B. daß der letzte Vers den letzten Effekt in sich birgt, ist Dante eigenthümlich und konnte kaum nachgeahmt werden. Man vergleiche, wie sehr die Führung des Sonettes dem der Vita nuova entspricht [Jo mi sentii svegliar dentro allo core, das ich weiter hinten in einer Uebersetzung nachfolgen lasse, c. XXIV, Fraticelli S. 92], wo Dante in derselben Weise eine Begegnung mit Amor dar­ stellt und wo wiederum die letzten Worte den höchsten geistigen Accent enthalten. Man vergleiche es ferner mit Cavalcando l’altr’ier in un cammino (Vita nuova,

322

Fiorenza.

So einfach war es nun aber nicht, Amor neu zu bilden. richtet, wie er dabei zu Werke ging*).

Dante be­

Die Liebe, explicirt er,, sei doch

nur ein Begriff, ein lebloses Etwas: wie der Dichter denn sie sehen und

lächeln lassen

könne.

Indessen warum,

wenn die in antikem

Latein

schreibenden Dichter**) dieser Gestalt sich bedienten, die italiänisch reimen­

den nicht dasselbe Recht haben sollten.

Dante war ein großer Neuerer.

Nur in lateinischer Sprache durfte seiner Zeit so gedichtet werden, daß

man als Dichter höherer Ordnung einträte und neben den wirklichen

Dingen***) auch nicht Wirkliches, ließe.

d. h.

ideale Gestaltungen erscheinen

Wir wissen, wie zu Dante's Zeit das antike Kaiserthum aufhörte

und die Bürger der modernen Städte die jüngere, maaßgebende Gene­

ration zu liefern begannen.

Man verlangte Neues im nationalen Sinne.

Die alten blutleeren Schatten sollten zusammensinken.

Man wollte von

c. X. S. 62), wo Amor in abito leggier di peregrino erscheint und plötzlich ver­ schwunden ist. Diese drei Sonette scheinen zusammengehörig zu sein. Man möchte in der That das unsrige für ein Paralivomenon der Vita nuova halten. Fraticelli druckt in seinen Anmerkungen die Verse 8—11 besonders ab, um sie vorzüglich als pessima poesia zu brandmarken. Guardai e vidi Amore, ehe venia Vestito di novel d’un drappo nero E nel 8iio capo portava un cappello E certo lacrimava pur davvero. So in der dritten Auflage (die zweite kenne ich nicht); in der ersten steht statt novel nuovo, und zwar hat Allacci, welcher das Sonett zuerst drucken ließ und einzige Quelle dafür ist, nuovo. Nuovo allerdings würde den Vers unmöglich machen, novel dagegen, wie Fraticelli stillschweigend umänderte, paßt hinein. Certo und davvero scheinen eine inhaltlose Tautologie, aber wir brauchten nur anzunehmen, es habe in dem Allacci vorliegenden Texte forte gestanden, um sie zu beseitigen. Die vier Verse enthalten dann nichts bedenkliches mehr. Zu come un greco vergl. Ducange unter graecizare sowie Canz. XXI bei Fraticelli: Jam audivissent verba mea Graeci. Vielleicht liegt in dem, was hier gemeint sein könnte, auch die Erklärung für das, was Inf. 26, 70ff. nicht ganz klar ist. Denn vorauf geht da das schivi (v. 74)? Warum würden die Griechen nicht antworten? Philalethes schließt daraus auf Unkenntniß des Grie­ chischen bei Dante. Es scheint, daß Dante im Allgemeinen gegen die Griechen eingenommen war, in denen er vielleicht die durch Verrätherei siegreichen uralten Feinde der lateinischen Razu um-

kleiden.

Welker spricht in seinen „Betrachtungen über die bildende Kunst"

(AuS Anlaß von Schellings Rede über daS Verhältniß der bildenden Künste zur Natur) vom „Geiste der Hellenen"*).

Am Abschlusse seiner

Ged»ankenreihen sagt er: „Mit dem Collektivum Hellenen müssen wir unS immer einem Individuum in der Vorstellung nähern, in dem wir das

Eigenste, Hervorstechendste und Bleibendste hervorheben und zusammen­

verbinden. " Der Ausdruck „nähern" ist vortrefflich.

Welker war gewiß weit ent­

fernt, eine künstlerisch gestaltete „Gräcia" der eignen oder der Phantasie

seiner Leser aufzudrängen.

Empfindung nicht heraus:

Er tritt aus der Sphäre der bloßen historischen

aber er nähert sich einer Anschauung.

Er

constatirt, daß, wenn man in der Richtung dieses historischen Denkens fort­

schreiten wolle, man

endlich zum Anblicke eines Individuums gelangen

würde. Für Welker lag hier keine innere Nöthigung vor, in dieser Richtung weiterzugehen, aber setzen wir einen Künstler an die Stelle des Ge­

lehrten und der Fortschritt ist vollbracht.

1827 war Europa erfüllt von

begeisterter Theilnahme an den Kämpfen Griechenlands das feine Freiheit

zurückeroberte.

Der Heldentod des Morco BotzariS fand einen Wiederhall

von Trauer in allen Ländern.

In David d'Angerö' Phantasie erwachte

der Gedanke, ihm ein Grabmal zu errichten.

Sein schönstes Werk ist so

entstanden: ein Griechenmädchen, das auf dem Grabstein deS Helden lie­ gend mit dem Griffel Botzaris' Namen darauf schreibt.

Ein Abbild deS

nach Jahrhunderten wiederaufblühenden Volkes wollte der Bildhauer geben.

Halb kindlich noch in den unverhüllten schlanken Formen, aber mit ge­

dankenschwerer Stirn; nackt, um die Hülflosigkeit deS jugendlichen Volkes anzudeuten; noch unfertig gleichsam, aber alles versprechend für die Zu­

kunft: so, sagt David d'AngerS, habe er Griechenland darstellen wollen**).

Nicht eine officielle Personification in Gestalt einer Graecia sollte ge­ schaffen werden, sondern ein Bild dessen, waS die Begeisterung deS Augen­

blicks in des Künstlers Seele hervorgerufen hatte.

So auch stand Dante und Michelangelo der Inbegriff dessen vor der *) Setule, S. 111. •*) David d’Angers par H. Jouin, I, 173, Sinnt. 3. Vgl. auch das auf S. 141 dieses schönen und wichtigen Buches Gesagte.

Fiorenza.

360

Seele was Florenz ihnen war.

Nur zuweilen in menschliche Formen einge­

hüllt, eine Frau, eine Geliebte. So denken auch wir heute. Unsere officiellen gemeißelten oder gegossenen Germanien, Borussien, Bavarien, mögen sie

noch so schön oder colossal sein, werden mit unserem patriotischen Gefühl meist nur wenig zu thun haben.

Wir sehen dergleichen nicht vor uns

wenn wir im Geiste das Vaterland anreden.

Trotzdem können wir den

Begriff des personificirten Vaterlandes nicht entbehren. Die letzte Personification im Sinne der Fiorenza Dante'S und Michelangelo'S hat Leopardi in seiner Ode All’ Italia geschaffen. O du, mein Vaterland! da stehn sie vor mit Die Mauern noch, die unsre Väter bauten, Die Säulen, Heiligthümer und die Bögen, Durch die ste triumphirend einst gezogene Und wohin schwand ihr Ruhm? Wehrlos, die nackte Stirne ohne Lorbeer Und waffenlos die Brust — ah, welche Wunden' Wie blutig, bleich erblick ich dich! Zum Himmel Seh' ich empor: di« Welt frag ich: wer hat Dir, schönes Weib, das angethan? Sprecht aus Wer trägt die Schuld? Wer that es? Wer hat mit Ketten deine beiden Arme Belastet furchtbar? Das Haar im Sturme fliegend, schleierlos Sitzt auf dem Boden ste, trostlos, und Niemand Bekümmert ihre Schmach. Das Antlitz beugt sie wieder zu den Knien, Verbirgt es drin und weint. D, mein Italien, Wohl hast du Grund zu weinen! Du, geboren Die Völker zu besiegen! —

Es konnte kein bloßes Spiel mit künstlerischen und literarischen Er-

innnerungen sein, aus denen heraus Leopardi die menschliche Form wählte, um seine höchsten Gedanken an das Vaterland zu umkleiden.

beginnt mit realen Anschauungen.

Leopardi

DaS Land, bedeckt von den Ruinen

und Erinnerungen des ruhmvollen Alterthumes liegt vor ihm ausgebreitet,

Italiens Geschicke schweben in großen Bildern ihm vor Augen vorüber: plötzlich redet er eS als Frau an —: wer hat dir, schönes Weib, das an­ gethan?

Der bloße Begriff krhstallisirt in einem gegebenen Momente be­

geisterter Anschauung zu menschlicher Gestaltung. März 1881.

Herman Grimm.

Die irische Landftage. Bon

Ludwig Freiherrn von Ompteda. (Schluß.)

VL Die erbliche Anarchie. Ich leitete diese Arbeit mit dem Satze ein:

„Seit etwa fünf Monaten bietet Irland der Welt ein Schauspiel welche« wohl in jedem anderen zivilisirten Staate seines Gleichen sucht."

Ich möchte den Gang meiner Darstellung jetzt fortleiten durch den Satz: Eine Parallele zu Irlands Gegenwart liefert nur Irlands eigene elende Geschichte. — Auf den nächstfolgenden Seiten will ich meine Leser nicht mit einer

Blumenlese aller Morde, Brandstiftungen und Viehverstümmelungen be­

lästigen welche die englischen Zeitungen seit etwa fünf Monaten täglich ihren entsetzten Lesern gebracht haben.

Jedoch scheint eS mir zum Thema

dieser Arbeit über die irische Landfrage zu gehören wenn ich versuche: die

Vorgeschichte,

die Zwecke,

Greuel kurz vorzuführen und

die

Mittel

dieser politisch-agrarischen

alsdann die Haltung der Regierung

gegenüber dieser pathologischen Erscheinung zu betrachten. 1. Die Vorgeschichte.

Die irische Anarchie ist eine erbliche organische Krankheitsanlage ge­ worden — man kann sagen: sie ist, wie in bestimmten Familien das

Podagra, eine erbliche Disposition welche je nach Lebensweise und sonstigen

Anreizungen, mehr öder minder häufig und heftig als akute Krankheit auS-

bricht.

Sie ist daher in gewissem Sinne, für die gegenwärtige Generation

Irlands, eine „berechtigte Eigenthümlichkeit". —

Wir haben unter Nr. II die äußere Geschichte Irlands bis zur Union

der beiden Parlamente (1801) verfolgt.

In den ersten dreißig Jahren

nach diesem großen Staatsakte stand Irland fast stets unter Zwangs- oder

Ausnahmegesetzen.

Diese Gesetze haben mit geringen Modifikationen den

übereinstimmenden Inhalt:

„Volksversammlungen und Waffenbesitz sind

verboten, das Kriegsgesetz kann distriktsweise proklamirt werden, die Polizei­

behörden können verhaften ohne sofortige gerichtliche Prozedur".

Der Er-

theilung dieser letzteren exekutiven Befugniß entspricht praktisch die Sus­

pension der HabeaS Corpus Akte. — Die HabeaS Corpus Akte war während

jener dreißigjährigen Periode zehn Jahre lang suSpendirt. Bis zum Jahre 1829 arbeitete die katholische Bewegung.

wurde den Tories die Emanzipationsakte abgerungen.

und O'Connel begann

machte kühn

im Jahre 1831

Dann

Der Erfolg

die Bewegung

gegen die Zehnten. Zehntsammler wurden ermordet, in milderen Fällen

verloren sie nur ihre Ohren. —

Im Jahre 1833 kam

eine neue ZwangSakte.

Die

agrarischen

Verbrechen standen zu jener Zeit auf jährlich 9000; sie fielen in den nächsten Jahren um etwa zwei Drittel.

Der Schrecken herrschte damals

in Irland genall wie jetzt. Im Jahre 1835 wurde ein Gesetz erlassen welches die, von den Katholiken„der Geistlichkeit der englischen Staatskirche zu entrichtenden Zehnten erleichterte. — Dieses Agitationsmittel war dadurch erschöpft. —

Die allgemeinen Wahlen von 1835 leitete O'Connel unter dem Drucke

des „Bohcottens":

„Wer für den Knight of Kerry stimmt, dem soll ein

Todtenkopf, mit gekreuztem Bein darunter, über seine Hausthür gemalt werden."

Gegen die Wahl eines anderen konservativen Kandidaten wurde

von einem katholischen Priester in folgender Weise abgemahnt:

„Wenn

für jenen Mann irgend ein Katholik stimmen sollte, so will ich für diesen

Wähler am Throne des Allmächtigen Gnade in jener Welt erflehen; aber in dieser verlange ich keine Gnade für ihn." —

Sobald die Wahlen zu Ende waren fand die neue Whigregierung die Aufregung in Irland so hochgehend daß ein neues Zwangsgesetz er­ lassen wurde

welches von 1835 bis 1840 lief.

Die agrarischen Ver­

brechen sanken von 10,200 Fällen im Jahre 1837 auf 4,000 im Jahre 1840.

Bis 1845 stiegen sie wieder auf 8,100 Fälle. —

Darauf arbeitete von 1841 bis zum Jahre 1844 O'ConnelS Repealbewegung.

Als ihre nächste praktische Wirkung begann im Jahre 1843 eine

weitverbreitete Verweigerung der Pachtzinsen. — Als 1846 die Theuerung und Hungersnoth auftrat erhielten die Grund­ besitzer von der Regierung Vorschüsse zu Meliorationen und zur Urbar­ machung der 4,5 Millionen Acres anbaufähiges Wüstland.

Im Ganzen

wurden damals 10 Millionen L Staatsgelder für Irland verwendet.

Im Jahre 1847 starb O'Connel.

Eine extreme Partei „Jnngirland" Sie erstrebte Losreißung von England und nannte sich selbst „the physical force party“ im Gegensatz zu den überflügelten O'Connelliten, der „moral force party“. trat unter Smith O'Brien auf.

In demselben Jahre wurde eine sehr scharfe „Verbrechen- und Gewaltthatenakte" erlassen. Beide Parteien in England waren einig daß längeres Zusehen ihnen eine moralische Mitschuld aufladen würde.

„Damals wußte man, was unsere modernen Radikalen von Birmingham noch nicht gelernt haben: daß Gewalt ein wirksames Mittel ist, freilich kein Heilmittel. Auch die Zwangsjacke ist kein Heilmittel für einen Tob­ süchtigen, aber sie ist nothwendig wenn er ein offenes Rasirmesser schwingt.

Die Heilmittel müssen dann nachfolgen."

ES begannen nun die Jahre der großen Hungersnoth 1846—1848, deren Schilderung nicht zu meiner heutigen Aufgabe gehört. Diese HungerSnoth rief eine gründliche wirthschaftliche und soziale Umwälzung

hervor.

BiS dahin beruhete des Irländers Existenz auf der selbstgcbauten

Kartoffel.

Die Landwirthschaft war völlig Naturalwirthschaft.

beiter wurde ausschließlich in Deputat gelohnt.

Der Ar­

Jetzt bedurfte er baares

Geld, und grade dieses konnte der Arbeitgeber nicht leisten. ES begann die Auswanderung der Arbeiter und der ihnen gleichstehenden kleinsten Pächter nach Amerika. Die Tagelöhne stiegen von 1840: 3 und 4 s. die Woche, auf 1880: 9 bis 12 s. die Woche. Die Landwirthschaft wandte

sich der Viehzucht zu. Die große Auswanderung hat Irlands Bewohner von etwa 9 Mil­ lionen auf etwa 5'/, gelichtet und das unglückliche Land genoß von 1850 bis 1865 eine ruhige Periode deS Auflebens und Gedeihens. Die Zahl der Protestanten zu der der Katholiken stellte sich jetzt wie 2:5. Darauf tauchte die Verschwörung der Fenier auf. Es war ein amerikanischer Bund mit republikanischen Zwecken. Im Allgemeinen be­ schränkte sich, da er reinpolitische Zwecke verfolgte, seine Wirksamkeit auf die großen Städte. Die Landbevölkerung verstand die Bewegung nicht.

Die Habeas Corpus Akte war wieder von 1865 bis 1869 suspendirt. Trotz der Entstaatlichung der irischen protestantischen Kirche im Jahre 1869 und trotz Mr. Gladstones Land Akte von 1870, bedurfte es im Jahre 1871 wieder einer scharfen „Friedens-Bewahrungs-Akte."

Aber auch diese genügte nicht. Der Terrorismus begann sogar die große Midland-Eisenbahngesellschaft zu „boycotten". Damals hießen die Rädelsführer: Bandmänner. Namentlich war die Grafschaft Westmath und Umgegend der Schauplatz ihrer Thaten.

Lord Hartington, damals

Staatssekretär für Irland, erwirkte eine Verschärfung des vorigjährigen

Gesetzes unter dem Namen der Westmeath-Akte und erklärte, gegen­ über den weichmüthigen Gegnern jeder energischen Bethätigung der Re­

gierungsgewalt, mit dem ihn auszeichnenden männlichen Freimuthe: „Ich kann nicht einsehen, wie gerechte und billige Gesetzgebung Einfluß auf die

Gesinnungen von Menschen haben sollte, die ihr besonderes Gesetz für sich haben; und nicht etwa ein gerechtes Gesetz sondern ein ungerechtes, will­

kürliches und barbarisches." — Die Westmeath-Akte blieb zwei Jahre in Wirksamkeit.

wesentlich durch ihren moralischen Druck.

Sie nützte

Die Aufrührer und Aufruhr­

lustigen erkannten bald daß eS der Regierung bitterer Ernst war.

Führer hatten wiederum rechtzeitig das Land verlassen.

Biele

Nur vier Men­

schen waren festgesetzt.

Wäre diese Westmeath-Akte im Oktober 1880 noch in Wirksamkeit

gewesen und hätte man sie auf einige Bezirke des Westens ausgedehnt so

würde — nach dem Zeugnisse zuständiger Beobachter — der Geist der Ungesetzlichkeit damals mit Leichtigkeit unterdrückt sein.

Menge ist in Irland furchtsam und leicht lenkbar.

Denn die große

Mr. Bence JoneS ist

sogar der Ansicht: daß eS damals genügt haben würde, einige Dutzend Unruhestifter je auf einen Monat in die Tretmühle zu schicken. Leider aber wurden die Irländer durch Mr. Gladstones und namentlich Mr. BrightS

unvorsichtige Reden zu der irrigen Ansicht verleitet: diese beiden Minister seien Gegner der Gutsherren und nicht unzufrieden über die Gelegenheit, ihnen schaden zu können.

Von dem übrigen England gewannen sie aus

den prahlerischen Reden der Agitatoren die Auffassung: man fürchte sich dort vor ihrer imponirenden Kraftenttyickelung. 2.

Die Zwecke der Anarchie.

DaS Feldgeschrei welches seit dem vorigen Sommer Irland durch­

läuft:

„DaS englische Gesetz ist gebrochen" — wurde ausgegeben von

der „Irischen Land-League".

Diese Verbindung wurde bereits vor

etwa einem Jahre in der Grafschaft Majo von zwei alten Feniern ge­

gründet, Devoy und Davitt.

Letzterer war seiner Zeit zu einer längeren

Freiheitsstrafe verurtheilt; er geht jetzt als „ticket of leave man“ frei und unangefochten umher*).

Er ist ein Verschwörer von Profession.

Da der reinpolitische, republikanische FenianiSmuS unter der irischen Landbevölkerung nicht Wurzel fassen wollte, so wurde statt der offenen

Rebellion der

„verfassungsmäßige Weg"

eingeschlagen um die irischen

*) Inzwischen ist er wieder festgesetzt um den Rest seiner Strafe zu verbüßen. — (1. April 1881.)

Bauern zunächst für eine wirthschaftlich-soziale Umwälzung zu gewinnen: Befreiung von Pachtrente und Verjagung der Gutsherren:

„der engli­

schen Garnison".

Die Land-League beherrscht jetzt Irland durch ihre unzähligen ört­

lichen Zweigvereine. An die Spitze dieser Gesellschaft trat später Mr. Parnell.

Er

ist aus guter Familie und durch seine Mutter halb Amerikaner; 34 Jahre

alt, hat in Cambridge studirt; M. P. ist er seit 1875; vor drei Jahren trat er zur katholischen Kirche über. Spitze der „Home Rule" Partei.

Im Parlamente steht er jetzt an der

In seinen und seiner Anhänger viel­

fachen Reden sind die nächsten Zwecke der Land League ausreichend

dargelegt: „Wir wollen lieber die Reform erkaufen als erkämpfen.

Sollte das

erste nicht heute, so muß das zweite morgen geschehen. Jeder Irländer ist verpflichtet: für diese große Frage mit Gut und Blut einzutreten. —

Die sechshunderttausend irischen Pächter sehen jetzt ein daß sie stärker sind

als ihre zehntausend Gutsherren.

Ist erst das „Land" unser Eigenthum,

dann haben wir den Grundstein zu unsrer irischen Nationalität gelegt und dann erst werden wir unseren gebührenden Platz unter den Nationen der

Erde einnehmen." Bis zu diesen Ansprüchen hat sich Mr. Parnell erst

im

vorigen

Herbste gesteigert, nachdem er von seiner Rundreise unter der irischen Bevölkerung

in den

Bereinigten Staaten zurückgekehrt war.

Vorher

predigte er nur die Forderung einer „vernünftigen Herabsetzung der Pacht­ rente durch ein unparteiisches Gericht". Später wurde das Gericht be­ seitigt und man dekretirte den Gutsherren und Pächtern ganz allgemein:

„Griffiths Schätzung".

Im Parlamente sprach Mr. Parnell zunächst mit äußerster Milde und Mäßigung.

Er drehete und deutelte in der unbefangensten Weise

an seinen aufrührerischen Agitationsreden, als auf bedauerlichen Misverständnifsen beruhend.

Als jedoch durch die Verhandlungen des, so kläglich im Sande ver­ laufenen, Staatsprozesses zu Dublin der nackte Wortlaut seiner irischen

Reden bekannt wurde, da trieb man ihn mit diesen Widersprüchen in die Enge und so konnte er nicht umhin, am 18. Januar d. I. ein offeneBekenntniß über die Endziele der Land League im Parlamente ab­

zulegen: „WaS den Borwurf betrifft daß ich die Integrität des Reiches an­ fechte" sagte er in der zehntägigen Adreßdebatte, „so kann ich über diesen

Punkt hier aufrichtiger reden als in Irland, weil ich dort für dasjenige

strafrechtlich verfolgt werden würde was mir hier der Edelmuth und der

Gerechtigkeitssinn (fair play) der ehrenwerthen Mitglieder zu sagen ge­

statten wird.

ES waltet in Betreff meiner Thätigkeit ein Misverständniß

ob. Allerdings habe ich in Irland oft gesagt:

„die indirekte Folge der

Landbewegung würde die Zerstörung der englischen Misregierung sein und die Wiederherstellung eines irischen Parlamentes. — Ich ver­

stehe sehr wohl" fuhr er dann beruhigend fort,

„daß dieser Ausdruck

meiner Ansicht die im Hause herrschende Idee erweckt hat: „ich wolle die

Landagitation benutzen um die englische Herrschaft in Irland gewaltsam

zu zerstören".

Ich habe jedoch in jenen Reden immer nur folgende Atl-

sicht auSführen wollen:

Wenn den irischen Gutsherren, die ungerechten

Rechte genommen werden können, welche sie unter dem „englisch-gemachten"

Gesetze besitzen, d. h. wenn es gelingt, ihnen ihr Land abzunehmen und

es dem Pächter zu überweisen — alsdann wird in Irland keine Klasse mehr bleiben die an der Aufrechterhaltung der englischen Herrschaft ein

Interesse hat.

Dann wird Irlands legislative Unabhängigkeit

auf friedlichem Wege wieder hergestellt werden. — Ich will zu­ gleich hier aussprechen — was ich in Irland nicht aussprechen möchte: —

daß, wenn die Umstände diesen Erfolg wahrscheinlich machen, es die Pflicht jedes JrländerS ist: — hiefür sein Blut zu vergießen.

Ich halte es

jedoch für strafbar: Irland in einen ungleichen und aussichtslosen Kampf

zu stürzen.--------- Danach habe ich also niemals die Grenzen einer „kon­ stitutionellen Agitation" überschritten. unterschied in Irland aufheben.

Ich will zunächst nur den Klassen­

Dann wird, so glaube ich, für Irland das

Recht, seine eigene Gesetze zu machen, ausführbar sein. — Wir werden

Freunde mit England bleiben, und zwischen beiden Ländern wird das Band der Krone bleiben." — Soweit Mr. Parnells Enthüllungen.—

Der Führer der konservativen Opposition im Unterhause Sir S. Northcote erwiederte:

„man habe nun endlich ein deutliches Zugeständniß

der eigentlichen Absichten jener Herren vor sich. — „Umsomehr" fuhr er

fort, „müssen wir jetzt verlangen, daß die Regierung Maßregeln ergreife:

um Gesetz und Ordnung wieder zur Herrschaft zu bringen. — Was die Form anbetrifft, so sprach das ehrenwerthe Mitglied für Cork (Parnell), als ob er eine gleichberechtigte Gewalt sei, welche sich an die

Gewalt der Krone und des Parlamentes wendet." — Die Land League ist also nur ein Mittel in den Händen der

Home Ruler.

Ihre jetzigen ostensiblen agrarischen Zwecke sind nicht

Selbstzwecke, sondern Mittel um die englische Herrschaft in Irland zu

brechen.

Das Endziel der Bewegung ist:

der Union von 1801.

„Repeal", Wiederaufhebung

3.

Die Mittel.

Die Waffen der Land League sind: Mord, Brandstiftung, Tortur an

Menschen,

„Boycotting".

grausame Verstümmelung

des Viehs und vor allem:

Die Geschichte des Capitain Boycott, eines Engländers

der in Connaught als „Gentleman-Farmer" und als Güterdirektor des Lord Erne lebte, darf ich wohl als bekannt voraussetzen.

Er war nur ausersehen um an ihm

sönlich lag nichts besonderes vor.

„ein Exempel zu statuiren".

Gegen ihn per­

Uebrigens findet diese „Jsolirung" Anwen­

dung gegen jede, der Land League misliebige oder unbotmäßige Person:

gegen Gutsherren, Agenten, „Landpacker" (neue Pächter), gegen Pächter die über Griffith's Schätzung bezahlten; gegen Geschworene, Zeugen, Ge­

richtsboten, Anwälte, Eisenbahnen, Dampfschiffe und Zeitungen;

gegen

die Verproviantirung der englischen Kriegsschiffe in Shanon, — zuletzt gegen jedermann der nicht Beiträge für die Agitation zeichnet.

Neu ist

das Mittel allerdings nicht; es ist einfach dem Arsenale der katholischen

Kirche entnommen: die große soziale Exkommunikation. Selbstverständlich setzt sich jeder Wirth, Ladenbesitzer, Handwerker und Arbeiter, Fuhrmann und Telegraphenbote, der den Bann des Ver-

fehmten bricht, wiederum seinerseits den größten Gefahren für Gut, Leib und Leben aus.

Die Exkommunikation muß, um durchgehend zu schrecken,

ansteckend wirken. In jener angeführten Rede preist Mr. Parnell die günstige Wirkung

der Land League auf das gesetzliche Verhalten der Bevölkerung.

„Die

Zahl der agrarischen Verbrechen habe sich in den letzten Monaten erheblich

vermindert." „Sehr natürlich", erwidern die Gegner; „das System hat bereits so

meisterhaft gewirkt daß jeder Geist des Widerstandes, selbst das Bedürfniß:

erlittene Mishandlungen zu verlautbaren, vollständig erstickt ist." — Die irischen Tenants sahen

daß die Land League siegte und daß

deren Gerichtshöfe unbedingte Autorität genossen.

Sie sahen,

es war

Vortheilhaft und zugleich ungefährlich, mit den Agitatoren zu gehen. Letztere gewannen die Ansicht,

Dublin sich vor ihnen fürchte.

daß die Regierung in London und

Und sie hatten allen Grund dazu.

Mr. John Bright, ein Mitglied des Kabinets, hielt in Birmingham

Reden die als taktlos und für einen Minister gradezu pflichtwidrig be­ zeichnet werden müssen.

Mit sehr freier Behandlung der Thatsachen ver­

wandte er seine glänzende Rednergabe in einer Weise die nicht wohl anders wirken konnte als: die Feindseligkeiten der irischen Pächter gegen

die Gutsherren, und diejenige Irlands gegen Regierung und Parlament Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 4.

25

Die irische Laydsrage.

368

in England, auf'S Heftigste zu entflammen.

Andere Mitglieder der Re­

gierung: Chamberlain und Mundella, sekundirten ihm.

Die Irländer mußten nach

allem diesen glauben:

daß sie unter

schwerem Unrechte litten und daß sie völlig auf dem richtigen Wege seien um ihren agrarischen Beschwerden abzuhelfen.

zeigt ihnen ja ihre eigene Geschichte: daß fast alle

Und leider!

Verbesserungen ihrer Zustände England durch Aufstände und Drohungen abgerungen waren. — ES ist nicht leicht, die Stellung der katholischen Geistlichkeit

zu der jetzigen

anarchischen Bewegung zu bestimmen.

Von oben hex

erfließt milder Tadel der Exzesse unter Anerkennung der gerechten Be­ schwerden.

Der ältere Theil der örtlichen Geistlichkeit hat sich passiv der

Land League angeschlossen oder sie empfinden das Uebelwollen ihrer Pfarr­

kinder.

Direkt thätig tritt der jüngere Theil auf:

eS ist dieselbe un­

reife nnd unschmackhafte Frucht am Baume der Bildung des katholischen Klerus die wir als „Hetzkapläne" kennen. 4. Die Haltung der Regierung.

Die Größe des Uebels wurde in England, von der Regierung und

ihren hochliberalen und radikalen Anhängern, bis zu Anfang des MonatS Dezember 1880 geleugnet. stone:

Am Lord Mahor'S Feste erklärte Mr. Glad­

„er warte noch auf den Nachweis der Thatsache

daß

Feinden

in Irland nicht ge­

Dann begannen die Kabinetsberathungen.

Gerüchte von Meinungs­

das ordentliche

Gesetz seinen

wachsen sei!" verschiedenheiten traten auf.

Mr. BrightS, Mr. Chamberlains Ansichten:

„Gewalt sei kein Heilmittel gegen Gesetzlosigkeit", (sobald der gesetzliche Zustand der legislatorischen Abhülfe bedürfe) konnten unmöglich mit denen

der alten WhigS: Lord HartingtonS und Sir W. Harcourts, zusammen­

gehen.

Die Opposition sagte laut: die Liberalen hätten sich bei den

letzten Wahlen in Birmingham

und anderen großen Fabrikstädten die

Stimmen der dortigen irischen Homeruler durch gewisse Konzessionen ge­

sichert welche die Regierung jetzt

am freien Handeln hinderten.

wegen habe sie auch die Friedens-Bewahrung-Akte,

Des­

(welche der uner­

laubten Bewaffnung entgegentrat) im Sommer 1880 nicht erneuern lassen. Die Organe der Regierung variirten jeden Tag das Thema: „Ueber­

treibung" und: „Gewalt ist kein Heilmittel".

ES sei ein von den Guts­

herren künstlich hervorgerufener „panischer Schrecken". Im Dezember wurden die Winterassisen in Connaught,

Munster

und Leinster eröffnet und hier kam durch die einleitenden Ansprachen der

Vorsitzenden Richter als volle Wahrheit genau dasjenige zu Tage, waS bis jetzt als übertreibende Zeitungskorrespondenzen bezeichnet war.

Verantwortlichkeit verstärkte das Gewicht

Sprache offizieller

gemäßigte

dieser Enthüllungen.

Die

Das Verbrechen herrschte, daS Gesetz war machtlos.

In der Grafschaft Galway (Connaught)

Hier nur ein Beispiel auS vielen.

waren seit dem letzten Juli, wo die „FriedenS-BewahrungS-Akte" er­

losch,

angezeigt:

296 schwere

Fälle;

vor

die Geschworeyen

konnten,

da Beweismittel nicht herbeizuschaffen waren, nur verwiesen werden: 12 Fälle. In Mayo 236 und 12. In beiden Grafschaften verweigerten

493 Personen, auS Gunst oder Furcht, jedes Zeugniß.

2295.

Im ganzen Jahre

Davon konnten nicht verfolgt werden:

1880 fielen vor: 2590 Verbrechen.

Mehr als 150 Personen leben mit polizeilicher Schutzwache, mehr

als 1400 werden zu ihrer Sicherheit überwacht.

„Wenn auch nur ein

Zehntel dieser Anzeigen gegründet ist", sagte der Richter, „so kann kein

ehrlicher und vernünftiger Mann leugnen, daß der Zustand des Landes

Die wirkliche Freiheit existirt nicht mehr; statt

ernster Hülfe bedarf.

ihrer herrscht eine unerträgliche Tyrannei.

Rechtsverwaltung ist gelähmt.

DaS Leben ist gefährdet, die

Unehrlichkeit und Gesetzlosigkeit schänden

daS Land."

Sehr schlagend für die Wirkung der Land League ist folgende Ver­

gleichung der Zahl ihrer Meetings mit denjenigen der agrarischen Ver­

brechen in den Jahren 1879 und 1880:

Quartal I:

42 Meetings

293 agrarische Verbrechen.

31

II:

247

,,



III: 137



354

ff

ff



IV: 392



1670

ff

ff



,,

1879. 1880.

1879. 1880.

Meetings.

Verbrechen.

.

.

.

22

117

147

351

.

.

.

44

83

109

125

Connaught

.

.

71

213

471

961

Munster

.

.

26

160

136

990

Leinster Ulster .

.

Die Regierung befand sich im Zustande vollster Lähmung und Hülslosigkeit.

Sie hatte eine Truppenmacht von etwa 25000 Mann in Irland

zusammengezogen und die Polizeimannschaften waren bedeutend verstärkt.

Beide Organe patrouillirten im Lande umher aber — mit dem Säbel in der Scheide.

Sie bewegten sich gewissermaßen auf einer engen Straße

zwischen zwei dichten Schutzhecken verfaffungSmäßiger Garantien. diesen Hecken herrschte statt der Königin Victoria der König Mob.

25*

Hinter

Der Sekretär für Irland, Mr. Forster, erließ ein wohlausgearbeitetes

Zirkular an die sämmtlichen Polizeibehörden, in denen sie aufmerksam ge­ macht wurden: „daß, auf Grund verschiedener älterer Gesetze aus der Zeit

der George, die jetzt in Irland stattfindenden Ausschreitungen strafbar feien." Die Beamten

entgangen;

erwiederten:

„dieser Umstand sei ihnen keineswegs

die Regierung habe sie jedoch nicht mit der erforderlichen

Kraft ausgerüstet um wirksam einzuschreiten." Ein Friedensrichter wurde als Zeuge gegen Mr. Parnell im StaatS-

processe geladen.

Er erwiderte:

-„ich muß es ablehnen, als Zeuge gegen Mr. Parnell auszu­

sagen, da ich nicht in der Lage bin: die einzige Regierung zu beleidigen welche jetzt hier

zu Lande herrscht.

Sollte ich unter Strafe geladen

werden, so werde ich im Gerichtshöfe öffentlich gegen den Zeugnißzwang

protestiren aus dem Grunde: daß mein Leben sehr wahrscheinlich, mein Ich würde mindestens „boy-

Eigenthum ganz gewiß gefährdet sein würde.

cottet" werden.

vom Lord Lieutenant zu dem

Ein großer Grundeigenthümer war

Ehrenamte des High Sheriff in seiner Grafschaft ernannt.

es ab:

Er lehnte

1) da er gegenwärtig wegen des herrschenden Justiziums keine

Pachtrenten mehr beziehe; 2) da die Gefahr und Verantwortlichkeit des

Postens zu bedeutend sei, nachdem die Regierung zugelassen habe daß das

Land in einen Zustand von Anarchie und Rebellion versinke." Mr. Parnell erwiderte auf alle Klagen über Terrorismus: „In Ir­

land herrscht keine Einschüchterung.

Es ist nur die bis dahin latente

öffentliche Meinung der Majorität frei geworden.

Und diese öffentliche

Meinung erklärt sich gegen Zeugnißablegen und Pachtzahlen.

Jetzt erst

kann der unverfälschte „moralische Muth" zur Geltung kommen!" —

„Irland" sagt ein Korrespondent der Times, Freiheit, vermöge welcher niemand thun

„ist das Land der

kann was er will, sondern

jedermann thun muß, was ein .anderer will."

Endlich, im December, erwachte die Regierung aus ihrem lethargischen Zustande des „GehenlassenS", zum Bewußtsein ihrer ersten und höchsten

Pflicht:

der

Selbsterhaltung

des

ihr

anvertrauten

Landes.

Selbst Mr. Gladstone war endlich entnüchtert von dem Rausche in den ihn sein unerwarteter Wahlerfolg, noch mehr aber seine eigenen Reden

in Midlothian versetzt hatten.

Sein Kollege, Mr. Bright, erregte sogar

die tiefste sittliche Entrüstung der Home Ruler durch seine Erläuterung:

„er habe niemals die Nothwendigkeit repressiver Maßregeln bestritten; er habe nur verlangt daß diesen in derselben Sitzung eine durchgreifende Reform der begründeten Beschwerden folge".

Das Parlament trat am 6. Januar 1881 zusammen.

Die Thronrede forderte für die Krone:

1) erweiterte Machtbefug­

nisse, die nothwendig seien, nicht allein um Gesetz und Ordnung aufrecht zu erhalten, sondern auch um den Unterthanen Schutz für Leben und sowie

Vermögen

die persönliche Freiheit des Handelns zu sichern. —

2) Vorbehältlich dieser ersten und gebieterischen Verpflichtung wird em­ pfohlen: das irische Landgesetz von 1870 weiter zu entwickeln, sowohl in auf die Lage der Pächter als auf Bildung eines Standes

Beziehung

bäuerlicher Eigenthümer. — Zur Ausführung des ersten Satzes hat jetzt die Regierung zwei Bills

eingebracht: 1.

Maßregeln zum Schutze von Personen und Eigenthum in Irland.

Dieser Vorschlag enthält praktisch:

die Suspendirung der Habeas-

Corpus-Akte bis zum 30. September 1882.

Die Engländer besitzen eine

konstitutionell-abergläubische Scheu, das Wort „Suspendirung" offen aus­ zusprechen.

Der Lord-Lieutenant kann danach jede Person, welche hoch- oder

landeSverrätherischer Handlungen sowie der

Gewaltthätigkeit

und Ein­

schüchterung verdächtig ist, festsetzen und ohne Urtheil und Recht bis zum

Ablaufe des Gesetzes, also längstens 18 Monate gefangen halten. 2.

Eine Friedens-Bewahrungs-Bill gegen Handel mit — und Besitz

von Waffen.

ES ist dasselbe Gesetz, dessen Verlängerung die Regierung

im vorigen Sommer verschmähete.

Nöthig dürfte es sein, „denn", sagte

der Oberrichter Fitz-Gerald, „es giebt gegenwärtig kaum einen Irländer, der nicht im Besitze einer Flinte oder eines Revolvers ist". Die konservative Opposition sicherte der Bill ihre Unterstützung zu.

Die Gegner der Maßregel zählen demnach kaum vierzig Stimmen. Trotzdem ist nicht abzusehen: wann diese Vorschläge werden Gesetze werden.

Die schwerfällige hilflose Maschine der Geschäftsordnung im

Parlamente hat den Home Rulern erlaubt, selbst die Adreßdebatte durch

zehn Tage hinzuschleppen. Es ist ihnen ferner möglich gewesen, über eine Vorfrage, in Betreff der Präzedenz jener Bills auf der Tagesordnung, eine Sitzung bis auf

22 Stunden und eine zweite bis auf 41 Stunden Dauer zu verlängern,

bis die kleine Minorität sich fügte. Diese Vorgänge machen immerhin eine Berathung der Zwangsgesetze

von einigen Wochen nicht sehr unwahrscheinlich — falls nicht das Parla­ ment einen unerwarteten Ausweg findet, um diesem böswilligen Unfuge

der „Obstructionisten" den Lebensfaden abzuschneiden*). — *) Es ist bekanntlich inzwischen gefunden in der „Erklärung der Dringlichkeit" welche dann Abstimmung ohne weitere Debatte zur Folge hat.

Die irische Landfrage.

372

Ze länger indessen der Aufschub gedauert hat, desto härter wird in Irland der Kampf sein.

Das neue scharfe Zwanggesetz wird wiederum

durchgreifend und anhaltend angewandt werden müssen.

Zugleich aber wird die Regierung, unter Mitwirkung aller staats­ erhaltenden Parteien, mit Ernst und wirklichem guten Willen an die Re­

formen der Landgesetzgebung herantreten müssen, welche — in irgend welcher Form und Ausdehnung — offenbar nothwendig sind um jenen gewerbsmäßigen politischen Agitatoren den Boden für ihre Wühlereien und für ihren demonstrativen Terrorismus zu entziehen.

Lebensaufgabe

Es ist eine

für England, aus Irlands sozialem Körper den

alten

Krankheitsstoff zu entfernen welcher die Ursache ist von dem stets wieder ausbrechenden Fieber der erblichen Anarchie. —

VII. Reform des agrarischen Rechtszustandes. — Bäuerliche Eigen­ thümer. — Die drei F's. Eine wahre Hochfluth von Literatur über die Reform der Agrarge­

setzgebung, enfsprechend der Stärke des allgemeinen Gefühls: wie schmerz­

lich die irische TageSfrage brenne — hat sich in den letzten Monaten über die englischen Leser ergossen.

halten

wohlgemeinte,

mehr

Bücher, Zeitschriften, alle Zeitungen ent­

oder

minder einsichtige Rathschläge, von

Praktikern und Theoretikern, von irländischen Gutsherren und Volkswirthen

der Manchesterschule: über das, waS geschehen müsse und was nicht ge­ schehen dürfe, um Irland zu einem wirthschaftlich gesunden, einem zu­

friedenen

und

damit politisch

konservativen

Mitgliede

des dreieinigen

Jnselreiches zu entwickeln. Fast alle diese Heilkünstler knüpfen ihre Betrachtungen an die Land­

akte von 1870 und fast alle — so scheint es mir — sind stärker in der Kritik, in der Darlegung dessen: was nicht geschehen dürfe — worin jene

Akte gefehlt habe — wieweit ihre Vervollständigung durch die bevor­ stehende Gesetzgebung nicht gehen dürfe — als daß man bestimmt for-

mulirten und zugleich praktisch durchführbaren Vorschlägen begegnete.

Selbst die „Königliche Kommission", welche zur Untersuchung der agrarischen Misstände Irlands niedergesetzt war, hat in ihrem, soeben ver­ öffentlichten, vorläufigen Berichte an die Königin sich mehr darauf be­

schränkt: den Stand der Streitsache darzulegen, als bestimmte Vorschläge

zu konkludiren.

Die in Aussicht gestellte RegierungSbill wird noch zurckgehalten bis die beiden Zwangsbills angenommen sein werden.

Wann sie also das Licht deS Tages erblicken wird, weiß nur — Mr. Parnell. —

Fast sämmtliche Vorschläge beschäftigen sich mit einer wichtigen und

unumgänglichen Vorfrage: der Auswanderung. Diese Vorfrage bezieht sich auf den ganzen Westen der Insel.

Hier drängt sich auf armem, sumpfigen oder felsigen Boden eine ver­ kommene und verwilderte Bevölkerung zusammen, wie man sie roher in irgend einem auch nur halbkultivirten Lande nicht findet. Die Regel ist hier, daß des „Hüttenpächters" Familie ihren Wohnraum mit Kühen, Schweinen und Hühnern theilt.

In Lumpen gehüllt bearbeiten sie mit

dem Spaten zerstreuete Flecke halbrohen Bodens.

Es ist eine Kartoffel-

existenz, gemildert durch Wanderarbeit. Meistens sind diese armen Wesen die Nachkommen jener irischen Be­ völkerung die im Jahre 1650 gegen die Westküste gedrängt wurde. Hier vegetirten sie, sich selbst überlassen, int Elende weiter und auch jetzt wird

das ewige Einerlei ihrer perennirenden Armuth nur durch schärfere Hungerjahre unterbrochen. Diese primitiven Ureinwohner kann man weder zu freien Eigen­ thümern, noch zu Erbenzinsbauern, noch zu Pächtern machen. Denn viele

von diesen Hüttenpächtern bewirthschaften überhaupt kein Land welches man ihnen etwa schenken könnte. Hier also kann nur eine Auswanderung ganzer Familien im großen Maßstabe helfen, zu welcher die englische und kanadische Regierung sich

die Hände reichen sollen. Einen Anfang dazu hat bereits seit zwei Jahren ein energischer Menschenfreund, der Pater Nugent in Liverpool gemacht. Er sammelte Geld, charterte Schiffe und befrachtete diese in Galway mit Auswanderern. Hunderte von Familien hat er bereits nach Quebec übergeführt. Von dort schafft sie die canadische Regierung frei nach Manitoba, wo sie — nach

den Erfahrungen alter Hungerflüchtlinge von 1848 — Aussicht haben, in kurzer Zeit zufriedene Weizenbauern zu werden. Die irische Geistlichkeit

befördert die Auswanderung nach Manitoba wo die katholische Kirche herrscht, während sie der Wanderung in die großen Städte Nordamerikas widerstrebt, wo ihre anvertrauten Schafe sehr leicht in die Irre ge­ rathen. — Nach Erledigung dieser Vorfrage stehen wir vor der großen prin­

zipiellen Alternative in der Reform der irischen Landverhältnisse. Frage steht so: will man die jetzigen Tenants ausbilden: 1. zu Eigenthümern (peasant propietors) oder

Die

Die irische Landfrage.

374

2. zu gesicherten Pächtern auf

unbestimmte

Dauer

(System

der

drei F'S.). 1. Umwandlung der Tenants in bäuerliche Eigenthümer.

ES wird erinnerlich sein daß einige Kapitel deS Gesetzes von 1870,

nämlich

die sogenannten „Bright Clauses"

den Zweck verfolgten:

der

Tenant solle dem Grundherrn das freie Eigenthum seines Pachtgutes ab­ kaufen, der Staat solle hiezu zwei Drittel des Kaufgeldes (in gewissen

Fällen) gegen Annuitäten vorschießen. Mr. Bright selbst hat allerdings erklärt: er habe mit diesen Clauseln nicht eine allgemeine, durchgängige Umwälzung der Eigenthumsverhältnisse

Sonderbarer Weise jedoch begegnen sich in dem Wunsche nach

beabsichtigt.

ausgedehntester Anwendung dieses Auskaufens der jetzigen Gutsherren die

beiden extremsten Ansichten.

Mr. Parnell will sich nur mit Abschaffung

der Gutsherren genügen lassen.

erkaufen als erkämpfen".

Er will allerdings diese Reform „lieber

Einstweilen sucht er, für diesen Zweck, einiger­

maßen auf die Rentabilität der Güter zu drücken, um die Eigenthümer

„zahm zu kriegen".

Andrerseits zeigen sich die Eigenthümer im Süden

und Westen — neuestens auch im Norden — dem Plane des freiwilligen Verkaufes sehr geneigt.

„Es giebt nur ein Ding, welches im Stande ist,

Irländer zu leidlichem Einverständnisse zu bringen; das ist: die Aussicht, ihre Streitigkeiten mit englischem Gelde auszugleichen."

Der hauptsächliche Vertreter jener Auskaufsprojekte ist Lord Dufferin,

der jetzige englische Botschafter in Petersburg; er ist großer Grundbesitzer im äußersten Norden von Ulster, bei Belfast.

Er will für diese Ope­

ration ein Kapital von 50 Millionen & verwenden und berechnet, daß

die

jetzigen,

dagegen

einzubehaltenden,

Staatsausgaben

für

Irland:

100 Millionen repräsentiren. Die Sicherheit der Annuitäten soll durch eine Art von Gesammtbürgschaft des Townland — nach Art der russischen Ablösung — herge­

stellt werden. Andere Schätzungen schlagen allerdings die Kaufsumme für die iri­

schen Landgüter auf 300 Millionen £ an.

Die Times

erklärt jedoch:

„es würde ungerechtfertigt

sein, die

Steuerzahler des vereinigten Königreichs die Kosten dieser Reformen tragen

zu lassen.

Auch beabsichtige die Regierung nichts derartiges.

Der Staat

würde durch eine solche Maßregel in die schwierige und verantwortliche

Stellung des Gutsherrn von Irland schlüpfen, die Gutsherren würden leise, mit dem öffentlichen Gelde in der Tasche, davonschlüpfen.

Das Ende

der Sache würden Annuitäten über den Betrag der jetzigen, angeblich

schon unerschwinglichen, Pachtrente sein, allgemeine Rückstände — und end­ lich: fernere umfassende Remissionen. —

„Diese Idee ist großartig und schön", sagt Mr. Bence Jones, „aber alle Gewalt der Erde kann nicht Land verbessern ohne Kapital, das

heißt: ohne Intelligenz, Arbeitskräfte, Werkzeuge.

tien

verfügen in Irland nur die Gutsherren."

Ueber diese drei Agen­



„Machen wir die

Pächter morgen zu Eigenthümern so ist ihr Land in wenigen Jahren tief

verhypothezirt und kommt unter den Hammer." — „Die jetzt beliebte Be­ rufung auf die Stein-Hardenbergschen Reformen paßt nicht.

Denn unsere

Tenants waren bisher keine beschränkte Eigenthümer.

Wollte man

sie nun, ohne diese Lehrzeit, sofort zu unbeschränkten machen, so würde man würde nur den

ihnen die nothwendige Vorbereitung

fehlen und

agrarischen Pauperismus verewigen.

Die Gewohnheiten,

Eigenschaften

und Karakterschwächen eines ganzen Volkes werden durch die äußere ge­

setzliche Umwandlung seiner Zustände nicht verwandelt." Noch ein anderes, nicht finanzielles Bedenken wird gegen die Besei­

tigung der Gutsherren geltend gemacht: „Wie denkt man sich die Selbst­ verwaltung

eines Volkes von lauter kleinen bäuerlichen Landwirthen?

Sie sind wie das Bündel Pfeile.

sie nicht vorwärts koinmen. Dorfverfassung.

Vereinigt sind sie stark, einzeln können

Durch ganz Europa und Asien existirt die

Sie liefert die Maschinerie für gemeinsame Thätigkeit.

In Irland ist die ländliche Gemeinde längst verschwunden. herr steht an der Stelle dieses Organismus.

Kohäsion.

Flureintheilung,

Wege-

Der Guts­

Die Bevölkerung hat keine

und Wasserrechte

und

eine Menge

anderer Dinge würden endlose Streitigkeiten Hervorrufen, und es würde

kein Mittel geben um ein zufälliges Agglomerat benachbarter Menschen zur Ausführung gemeinsamer Zwecke zusammen zu fassen."

2. Sicherung der Pächter auf unbestimmte Zeit.

Die drei F'S

Der vorläufige Bericht der „Königlichen Kommission" befürwortet: „es

solle die Gesetzgebung

der zweifellosen Thatsache Rechnung tragen

und von dem Grundsätze ausgehen: „eS herrscht in Irland die traditionelle

Anschauung, daß der Bebauer einen Eigenthumsantheil an dem Boden

hat, den er bewirthschaftet"; — man dürfe dieser Thatsache die gesetzliche Anerkennung nicht länger versagen, die ihr durch die Landakte von 1870

noch nicht gewährt worden sei." Sie fassen dann ihre Vorschläge in folgenden drei Gesichtspunkten zusammen:

1.

fixity of tenure — fester Pachtbesitz,

Die irische Landfrage.

376

2. fair rent — festgestellle, angemessene Rente,

3. free sale — freier Verkauf des Pachtrechts. Jedermann spricht jetzt in Großbritannien nur von den „dtei F's";

das Schlagwort hat sich leicht in jedes Gedächtniß eingeprägt und ist eine Parole geworden der auch die große, weniger Urtheils- und gedankenfähige,

Menge leicht folgt.

UebrigenS ist der Kunstgriff nicht

sprechen

dort von

neu.

Die

Volksschulmänner

reading, writing, reckoning.

den drei R's:

ES

existirt ein Buch über die drei P's der konservativen Partei, ihre: principles, policy, practice.

Die Sittenprediger eifern gegen die drei Ver­

führer der Jugend: billiards, beer and birds’eye (ein schlechter Taback).

Am Bekanntesten ist wohl die Formel der drei F'S für die Höhe engli­ scher Frauenschönheit: fair, fat and forty. 1.

Fester Pachtbesitz.

„Der Pächter soll seiner Pachtung dauernd sicher sein, so lange er daS Pachtgeld richtig bezahlt und sich auch übrigens

Ungehörigkeiten nicht zu Schulden kommen läßt."

gewisse erhebliche

Dieses ist die vorherr­

schende Ansicht; eine weiter gehende Meinung möchte den Pächter zum

Erbenzinsmann oder zum erblichen Untereigenthümer, mit beweglicher Rente, machen. 2.

Festgestellte angemessene Rente.

Bei allen jährlichen Pachtungen, wo also nicht ein modernes rein kontraktliches Verhältniß zu Grunde liegt, soll die Pachtrente auf Antrag

eines oder beider Theile durch ein Gericht auf Grund unparteiischer Ein­ schätzung festgestellt werden und zwar als „angemessene billige Durch­

schnittsrente", bei welcher beide Theile bestehen können.

Die Präsumtion

soll für die bestehende Rente gelten. 3.

Freier Verkauf des Pachtrechtes.

Wir haben diesen Punkt bereits bei Betrachtung der Ulster-Gewohn­ heiten kennen gelernt.

verschieden.

Die Standpunkte sind auch hier dem Grade nach

Die prinzipiellen FreetraderS wollen: freien Verkauf an den

Höchstbietenden. Die einsichtigen praktischen Landwirthe wollen: Feststellung

des Kaufgeldes nach dem Pachtgelde und Einspruchsrecht des Eigenthümergegen die Person des neuen Pächters.

Im Berichte der Königlichen Kommission heißt es: „Die drei F's sind von vielen Zeugen, die wir vernommen haben, eifrig befürwortet, aber keiner von ihnen hat verkennen können, daß sie

in ihren Folgen Ungerechtigkeiten gegen die Gutsherren mit sich bringen."

Ueber die drei F'S wogt nun der Streit selbstverständlich am heftigsten, und mit Recht, denn hier liegt der Kern der Schwierigkeiten in der ganzen irischen

Landfrage.

Schon Lord Palmerston sagte:

„Pächter-Recht ist

Eigenthümer-Unrecht. “ Ich will versuchen, die wesentlichsten Einwendungen gegen die drei

F's in den folgenden Gruppen zusammenzufassen.

1.

Die drei F's verwandeln ein bisher zweifelloses freies

Eigenthum in eine prekäre schwankende dingliche Rente.

Wer

daher im Landed Estates Court Grundbesitz gekauft hat und dort einen

klaren und gesetzlich geschützten Besitztitel (Parliamentary title) erhalten

zu haben glaubte, der ist in eine Falle gegangen, welche ihm von der Regierung selbst gestellt war. — Hierauf wird bedauernd erwidert: die

Eigenthümer müssen dem allgemeinen Wohle ein Opfer bringen und ihre

Entschädigung liegt in ihrer demnächstigen vollkommenen Sicherheit nach­ dem diese Frage damit „definitiv" erledigt sein wird.

Darauf die Gutsbesitzer: desselben Definitivums hat uns Mr. Glad­ stone im Jahre 1870 auch schon versichert; — die ganze Maßregel ist

weiter nichts als ein Uebergang zu unsrer Pensionirung als Gutsherren und

zu unsrer Degradirung zu Erbenzinsherren — die später abgelöst werden. 2.

Dauernde angemessene Durchschnittsrente und freier

Verkauf sind mit einander unverträglich.

Indem das Gesetz dem

jetzigen Pächter die Rente feststellt, giebt es ihm am Eigenthum einen

werthvollen Antheil für den er in den meisten Fällen nichts "geleistet^hat. Wenn er aber diesen werthvollen Antheil

an seinen Nachfolger durch

Meistgebot verkauft, so muß dieser zu dem „mäßigen" Pachtgelde seine

Zinsen für den Kaufpreis schlagen; also:

wird wieder

eine, durch Wettbewerb

Unterschied ist nur folgender:

des neuen Pächters Leistung

aufgetriebene

„Raffrente".

Der

früher steckte der Gutsherr die Erhöhung

der Pachtrente in die Tasche — jetzt der frühere Pächter.

3.

Eine

„billige

Durchschnittsrente"

für eine

längere

Periode kann man überhaupt nicht feststellen, solange man nicht

auf eben diese Zeit hin: das Wetter, die Preise und den Arbeitslohn er­

messen kann.

Es wird daher in ungünstigen Jahren Remissionen geben,

zu denen ein, außer Aktivität gesetzter Gutsherr weder geneigt sein wird noch auch moralisch verpflichtet erscheint.

4. Feste Pachtverhältnisse, wenn gesetzlich eingeführt, werden auf allen Gütern die jetzigen schlechten Zustände und alle schon jetzt zu kleinen Pachtungen verewigen. Gute Guts­

herren werden ihrer Meliorationen beraubt und verwenden ferner kein Kapital mehr für Verbesserungen. Die „Blutsauger", d. h. diejenigen, deren Pachtrenten nicht unter dem Marktpreise stehen (also auch nicht ge­

richtlich herabgesetzt werden würden) und die AbsenteeS würden bei der Maßregel am besten fahren. Der Ruf nach festem Pachtbesitze stammt auS der jetzigen durchgängigen Niedrigkeit aller Pachtrenten. Aus diesem Grunde wird auch auf das Verkaufsrecht des Pachtbesitzes so hoher Werth gelegt. Käme es demnächst zur Feststellung der „angemessenen" Pacht­ rente so würden die unparteiischen Einschätzer die Annehmlichkeiten des BoycottenS bald kennen lernen. 5. Die Zahl der Gutsbesitzer, welche ihre festen Renten

im Auslande verzehren, würde sich sehr vermehren. Jagdzeit werden sie noch residiren.

auswandern.

Nur zur

Ihr Kapital und ihre Zinsen werden

DaS geringe Licht an Wissen Unabhängigkeit und Thätig­

keit, welches jetzt in Irland schimmert, wird völlig erlöschen. Und dann wird das Geschrei gegen die auswärts lebenden Pensionäre der Pächter

erst recht laut ertönen. 6. Verewigung des Pachtrechtes ist sehr angenehm für die jetzigen Pächter, nützt aber allen denen nicht, die gern Pächter werden möchten.

Es werden daher wieder Untertheilungen und After­

verpachtungen, es wird eine wilde Konkurrenz in den Preisen der PächterAntheile entstehen.

7. Die drei F's sind keine Hülfe, vielmehr das Gegentheil, für die 450,000 ländlichen Arbeiter und ihre Familien welche jetzt der Fürsorge deS Gutsherrn anheimfallen. Man darf ferner nicht vergessen daß etwa 300,000 ländliche Pächter nur dadurch existiren, daß sie zugleich für An­ dere im Tagelohn arbeiten, und daß nur etwa 140,000 Pächter aus­

schließlich auf ihrem Pachtlande arbeiten. 8. Keine Gesetzgebung kann folgende natürliche Grundübelstände be­ seitigen, welche angeborene Krankheitsursache Irlands bilden. Sie kann nicht die westlichen Küstenstriche den Einwirkungen

deS

atlantischen OzeanS entziehen.

Sie kann die Höhe des jährlichen Regenfalls nicht herabsetzen. Sie kann Canada und den Westen der Vereinigten Staaten nicht verhindern, massenhaft billiges Korn und Vieh zu erzeugen und auSzu-

führen. Sie kann die übermäßige Fruchtbarkeit der Bevölkerung nicht bändigen

und den daraus nothwendig entstehenden wilden Wettbewerb um kleine und kleinste Pachtungen. —

Es ergiebt sich aus diesen Andeutungen wohl hinlänglich, daß der

Weg den die englische Regierung zu gehen hat, unsicher und dornenvoll ist, daß die Aufgabe welche sie zu lösen hat — die Frucht dreihundert­

jährigen Unrechts — eine gewaltige ist und daß diese Aufgabe jetzt ge­

löst werden muß, gründlich und schließlich, soweit Menschen überhaupt etwas Abschließendes zu schaffen vermögen.

Jedenfalls muß die irische Frage behandelt werden: frei von natio­ nalem Vorurtheil von Parteifeindschaft und von religiösem Haß, wenn sie Irland von seiner nationalen Krankheit: der erblichen Anarchie, end­

lich befreien soll.

Dem Kranken aber, wie dem wohlmeinenden einsichtigen und pflicht­ getreuen Arzte werden unsere Sympathien nicht

versagt bleiben,

wenn

uns auch heute seine neueste Heilmethode noch nicht genau bekannt ist.

Wiesbaden, 1. Februar 1881.

Die diplomatische und die Consularvertretung des Deutschen Reiches. DaS deutsche Volk hat sich vor wenigen Wochen fteudig und in ge­ hobener Stellung des TageS erinnert, an welchem vor einem Decennium

die Wiederaufrichtung des KaiserthumS und die Gründung des nationalen

Einheitsstaates ausgesprochen und der Welt verkündet wurde.

Zehn Jahre

sind indeß dahingegangen nicht ohne daß der innere Ausbau des Gebäudes

auf manches Hinderniß gestoßen und daß noch jetzt manch scharfer Gegen­ satz sich der Weiterführung und Vollendung desselben hemmend in den

Weg stellt.

Auf einem Gebiet indeß darf sich Deutschland ungetrübt des

Glanzes und des Ansehens erfreuen, welche ihm die neu errungene Ein­

heit als Morgengabe in den Schooß gelegt.

Dieses Gebiet ist dasjenige

seiner Machtstellung im Kreise der anderen Nationen, des Platzes, den es im Rath der Völker einnimmt, des Einflusses, den es auf die Ange­ legenheiten der Welt übt.

Ueber alles Erwarten schnell hat sich diese

letztere daran gewöhnt, die neueste Großmacht gewichtige Entscheidungen in die Wagschale werfen und durch ihre Stimme dem Frieden Europas

Festigung und Bestand geben zu sehen. In voller Würdigung der Größe und Schwierigkeit der Aufgaben,

die ihr nach dieser Richtung hin gestellt, so wie der Fülle und Mannichfaltigkeit der Interessen, welche von ihr nach außen wahrzunehmen, hat die deutsche Reichsregierung es von Anfang an, als eine ihrer vornehm-

lichsten Pflichten empfunden, ihrer Vertretung in

fremden und

fernen

Ländern ganz besondere Sorgfalt zuzuwenden. Dem Gesichtspunkt entsprechend, daß den internationalen Beziehungen

im Leben der Völker und Staaten auf dem Gebiet der öffentlichen Moral,

des Rechts und der materiellen Interessen dieselbe Pflege zutheil werden muß wie der Vertretung und Wahrung der Rechte der Individuen, ist der Organismus der Verwaltung der

einer Weise ausgestattet worden,

auswärtigen Angelegenheiten

in

welche sowohl der Machtstellung und

Würde eines der ersten Großstaaten wie den weitverzweigten Interessen

des über die ganze Erde verbreiteten Deutschthums

nach

Möglichkeit

Rechnung trägt.

Die Gliederung des ansehnlichen und stattlichen Appa­

rats, welcher im Ausland functionirt, und dessen Fäden von dem Mittel­ punkt der Reichshauptstadt bis zu den vorgeschobensten Punkten der ganzen

Culturwelt reichen, ist entsprechend der Natur der Beziehungen eine zwei­ fache, je nachdem die Politik oder der Handel, der Verkehr und sonstige

staatswirthschaftliche Interessen demselben

ihr Gepräge verleihen.

Der

Politik, d. h. der Verständigung über alle Angelegenheiten, welche die

Stelluug der Staaten zueinander, ihre Gruppirung in großen europäischen

Fragen, die Gestaltung ihrer Machtverhältnisse, den Gang ihrer nationalen Entwickelung u. s. w. betreffen, sind in erster Linie die Botschaften, Ge­

sandtschaften

und Ministerresidenturen

zu dienen bestimmt.

In ihren

Händen liegt der laufende Geschäftsverkehr auf diesen Gebieten,

neben

welchen sie zugleich die Augelegenheiten ihrer Staatsangehörigen zu ver­

treten haben.

Es liegt im Wesen der modernen Staatenbildung und im

Geist der Verträge, auf denen das politische System der Jetztzeit ruht, daß den vornehmsten dieser Vertretungen, d. h. den die Person eines Souveräns repräsentirenden Botschaften, hauptsächlich die schwere und ver­

antwortungsvolle Bürde zufällt, über der Erhaltung eines gewissen Gleich­ gewichts unter den Großmächten zu wachen und die Regeln und Grund­

sätze festzustellen, nach denen besonders wichtige Fragen von völkerrecht­

licher Bedeutung zu behandeln sind.

Zu dem Ressort der Gesandtschaften

und Viinisterresidenturen gehört die Pflege der allgemeinen politischen Be­ ziehungen zwischen dem Reich und den nur von einem kleineren Jnteressenkreis berührten Staaten, sowie

die Wahrnehmung der Rechte der

eigenen Staatsangehörigen in jenen Ländern.

Deutschland unterhält gegen­

wärtig 6 Botschaften zu Paris, London, Wien, St. Petersburg, Rom und Konstantinopel, von denen die zu Paris und St. Petersburg 3, die übrigen 2 diplomatische Beamte außer dem Botschafter zählen.

Jeder Botschaft

(mit Ausnahme der in Konstantinopel) ist außerdem ein höherer Offizier

zugetheilt, dessen Aufgabe darin besteht, die Armee und die militärischen Verhältnisse deS Landes, in welchem er sich befindet, aufmerksam zu beob­ achten.

In St. Petersburg hat sich, aus der Zeit der preußisch-russischen

Waffenbrüderschaft in den Befreiungskriegen herstammend, noch der Posten

eines Militärbevollmächtigten erhalten, es ist dies ein der Person deS russischen Souveräns beigegebener höherer Militär, der als Vermittler

in allen auf Militär-, Hof-, Familien- und Privatangelegenheiten bezüg­ lichen Geschäften zwischen den beiden Monarchen von Rußland und Preußen

dient, der daher eine besondere Vertrauensstellung einnimmt und so zu sagen ganz zum russischen Hof gehört.

In Zetten der politischen Span­

nung und der Controverse zwischen den Leitern der auswärtigen Ange-

Die diplomatische und die Consiilarbertretunri deS Deutschen Reiches.

382

legenheiten hat das persönliche Berhältniß der Herrscher, dessen Träger der Militärbevollmächtigte ist, Gegensätze zu

oft dazu beigetragen,

die vorhandenen

mildern und einen versöhnlichern und freundlichern Ton

in die officielle Sprache der beiderseitigen Cabinete zu bringen.

Bon den

13 deutschen Gesandtschaften mit außerordentlichen Gesandten und bevoll­ mächtigten Ministern an der Spitze kommen 9 auf Europa (Athen, Bern, Brüssel, Bukarest, Kopenhagen, Haag, Lissabon, Madrid, Stockholm)',

4 auf die andern Welttheile (Peking, Washington).

Rio de Janeiro,

Tokio sJedos,

Militärische Mitglieder besitzen von den Gesandtschaften

nur die zu Bern und zu Brüssel.

Der nächstfolgenden Rangklasse ge­

hören die Ministerresidenturen an, die an solchen Punkten bestehen, wo

eS weniger auf die Pflege internationaler Beziehungen als vielmehr auf eine würdige Bertretlmg und Wahrnehmung der commerziellen und Pri­

vatinteressen von Reichsangehörigen ankommt.

In Europa ist nur ein

Ministerresidentenposten, und zwar für Serbien, seit dem vorigen Jahr creirt worden, um den in den untern Donauländern wohnenden Deutschen einen diplomatischen Vertreter an die Seite zu geben.

Indeß darf die

Erhebung der Ministerresidentur zu Belgrad, zum Range einer Gesandt­ schaft, wohl nur als eine Frage der Zeit gelten.

Die größere Zahl der

Ministerresidenten ist in Südamerika zu finden; die Sitze derselben sind Buenos Aires für die Argentinische Republik, Caracas für Venezuela,

Lima für Peru,

Chile.

Santa Fä de Bogota für Columbien,

Außerdem

Santiago für

sind in Mexico und in Tanger (für Marokko) nicht

sowohl wegen der dort wohnenden Deutschen als wegen der Nothwen­

digkeit, die Handels- und Schifffahrtsverhältnisse daselbst im allgemeinen im Auge zu behalten, Ministerresidenturen eingesetzt worden. Um die Vertreter Deutschlands auch äußerlich in einer der Würde

des Reiches und der von ihnen eingenommenen hohen und angesehenen Stellung entsprechend auszustatten, und ihnen Gelegenheit zu geben den Pflichten der gesellschaftlichen Repräsentation in gebührender Weise nach­ zukommen, ist den Botschaftern zu Petersburg und London ein Jahres­

gehalt von 150,000 Mark, denjenigen zu Wien, Paris, Constantinopel

ein solches von 120,000 M. und dem zu Rom ein Gehalt von 100,000 M. zugebilligt worden. Von den Gesandtenposten ist der zu Washington am höchsten, d. h.

mit 63,000 M. dotirt, dann folgen die zu Peking mit 60,000 M., zu Madrid

mit

54,000 M.,

zu

Brüssel,

Haag,

Rio de Janeiro

mit

48,000 M., Stockholm mit 40,000 M.

Die übrigen Vertreter von Gesandtschaften beziehen 36,000 M. und sind in den meisten Fällen im Genuß von freien Dienstwohnungen.

Eine zweite Categorie von Organen des auswärtigen Dienstes bilden

die Generalconsulate und die Consulate.

dadurch von den letzteren,

Die ersteren unterscheiden sich

daß sie entweder vorwiegend mit politischen

Geschäften betraut oder an für HandelSzwecke ganz besonders wichtigen Punkten

eingesetzt

oder zur Ueberwachung und Leitung

mehrerer kauf­

männischer Consulate und einheitlicher Zusammenfassung der Thätigkeit

derselben errichtet sind.

Wenn man die deutschen Generalconsulate nach

diesen drei Gesichtspunkten classificiren will, dann würden die zu Alexan­ drien, Pesth, Sofia und Warschau vornehmlich zu der ersten Categorie,

die zu London, Constantinopel,

beiden

Sydney, Shangai und Odessa zu den

anderen Klassen zu zählen sein.

Die Consulate zerfallen ihrer

Organisation nach in Berufs- oder besoldete unb in Wahl- oder kauf­ Die Verbindung beider Arten von Consulaten bietet

männische Consulate.

manche Vortheile dar und hat sich in mehr als einer Beziehung bewährt. Die Berufsconsuln

vermögen durch ihre genaue Bekanntschaft mit den

deutschen Verhältnissen und Interessen durch besondere Vorbildung und ihre autoritative Stellung die vaterländischen Vortheile kräftig zu ver­

folgen, und das politische Ansehen des Staates, den

sie zu vertreten

haben, während die meist dem Handelsstande angehörigen Wahlconsuln, besonders in den Fällen, wo eS sich um kommerzielle Geschäfte oder spe­

cielle Bekanntschaft mit den wirthschaftlichen Verhältnissen eines Platzes handelt, das Feld

ihrer Wirksamkeit finden.

Die sogenannten

Vice-

Consulate sind an Orten von untergeordneter Bedeutung etablirt.

Nach

an Plätzen

ihres

eingeholter Erlaubniß

können die deutschen Consuln

Amtsbezirkes Consularagenten, als ihre Gehülfen, bestellen; dieselben sind aber keine selbständigen Organe des Reiches, und haben nur das Mandat, dem Consul bei Ausübung seiner Funktionen zur Hand zu gehen. Dem hier vorstehend kurz skizzirten Wirkungskreis gemäß sind die

Consuln im eigentlichen Sinne des Wortes die Förderer und Beschützer deS bürgerlichen und Erwerbslebens der im Ausland lebenden Deutschen,

sowie die berufenen Vermittlet in allen

wirthschaftlichen.

In

ihren

Händen liegt besonders die Pflege und Ausbildung der Handelsverbin­

dungen und die Fürsorge für Vermehrung und Ausbreitung deS deutsch kaufmännischen Geschäftes.

Mit dem zunehmenden Aufschwung, den Handel, Wandel, Wohlstand und Credit in dem letzten Jahrzehnt erfahren, und mit der Erweiterung der Interessensphäre, der Vervollkommnung der Transportmittel, der Ver­

vielfältigung der Verkehrswege, war auch die Nothwendigkeit gegeben,

daS deutsche Consularwesen auf eine höhere Stufe der Entwickelung zu heben.

Im Jahre 1870 492 Vertreter in seinen Reihen zählend, hat es

Preußische Jahrbücher. Bd.Xt.VII. Heft 4.

26

384

Die diplomatische .und die Consularvertretniig des Deutschen Reiches.

deren jetzt 694 entsprechend der bedeutend gesteigerten Frequenz der über­ seeischen und anderen kommerziellen

und Schifffahrtsverbindungen, für

welche nachstehende Daten einen kurzen Beleg abgeben werden: Inner­ halb der Jahre 1872 bis 1878 hat sich die deutsche Einfuhr von 3468 Millionen auf 3722 Millionen, die Ausfuhr von 2500 Millionen auf

2900 Millionen Mark Waarenwerth erhöht.

Hand in Hand mit dieser

Steigerung des Umsatzes ging auch die Vermehrung der Handelsflotte. Im Jahre 1871 zählte die deutsche Kauffahrtei 4520 Fahrzeuge, darunter 147 Dampfer, 4372 Segelschiffe mit 39,000 Mann Besatzung; am 1. Ja­

ergaben sich bei einer

nuar 1879

Zählung 4800 Schiffe,

von denen

350 Dampfer und 4450 Segler mit zusammen 32,000 Schiffsbesatzung Es hatte also innerhalb von acht Jahren eine Zunahme um

waren.

200 Dampfschiffe stattgefunden. Wesentlicher fast als diese höhere Schiffs­ zahl, waren die durchgreifenden Verbesserungen die das Material der Navigation im Sinne vermehrter Schnelligkeit und Dauerhaftigkeit erfuhr. Die Eisenconstrllctionen im Schiffsbau wurden häufiger, namentlich wurden

die großen transatlantischen Dampferlinien nur noch von eisernen Dampf­ schiffen befahren.

Zugleich trat ein auffallender Rückgang der Segel­

schifffahrt im Vergleich Raumgehalt

der

zur Dampfschifffahrt ein.

Der durchschnittliche

eisernen Segelschiffe stieg von 596 bis 674 Register

Tons innerhalb drei Jahren, derjenige der hölzernen blieb bis auf eine

unbedeutende Steigerung auf gleicher Höhe.

Auch die Zahl der Reisen

deutscher Schiffe in das Ausland wies eine viel regere Betheiligung der deutschen Flagge am Handel zwischen den außerdeutschen Handelsplätzen

nach.

Die stärkste Bewegung in dieser Beziehung war nach und von den

Häfen Ostasiens, sowie nach denen der La Platastaaten gerichtet und zwar

gingen 1878 — 773 Fahrzeuge mit 369000 Tonnengehalt (gegen 530 mit 226,000 Tonnengehalt im Jahre 1877) nach China — und 420 mit

272,800 Tonnengehalt (gegen 389 mit 246,000 Tonnengehalt im Jahre 1877) nach Brasilien.

Das

deutsche

Reich

ist

gegenwärtig

durch

11

Generalkonsulate,

36 Consulate und 3 Viceconsulate, zusammen durch 50 politische oder Berufsconsulate, im Ausland vertreten.

und der vorhandenen Mittel,

Nach Maßgabe des Bedarfes,

soll die Zahl der Berufsconsulate stetig

vermehrt, und sollen diejenigen Plätze mit denselben besetzt werden, an welchen kaufmännische oder Verkehrsinteressen solche Vertretung erwünscht

erscheinen

lassen.

Außerdem zählt Deutschland

gegenwärtig 644 kauf­

männische Consuln resp. Viceconsuln und 84 Consularagenten.

Für die

größere Zahl der Berufs- und kaufmännischen Consulate ist je ein Amts­ bezirk abgegränzt, innerhalb dessen dieselben ihre Amtsfunktionen, sowohl

385

Die diplomatische und die Consnlarvertretung des Deutschen Reiches.

die bürgerlicher und civilrechtlicher,

als

die politischer und wirthschaft-

licher Natur üben. Zu der geographischen Vertheilung der deutschen Consulate

gehend,

über­

zeigt sich, daß die größere Zahl derselben auf Europa kommt.

In erster Linie steht dabei Groß-Brittannien, als dasjenige Land, dessen weit verzweigte und reich entwickelte Handels-, Industrie-,

Credit- und

Geldverhältnisse die vielfältigsten Beziehrmgen nach außen mit sich bringen. Ueber die Fläche des Vereinigten Königreiches sind im Ganzen 73 Con­

sulate vertheilt; nur eines derselben ist ein politisches, das zu London mit Rücksicht auf den Umfang und die Wichtigkeit der dort engagirten

Interessen.

Außerdem sind in England 47, in Schottland 18, in Irland

deren 8 eingesetzt,

und zwar zum überwiegenden Theil, und nur mit

Ausnahme von sechs Fällen, in Hafen- und Küstenstädten.

Jedoch sind

in den vorstehend vorgegebenen Gesammtsummen auch die, auf den GroßBrittannien benachbarten Inselgruppen errichteten

Consularvertretungen

(Normannische, Orkney-, Shetlands-, Scillyinseln) milgezählt. Der Zahl nach folgt auf das Vereinigte Königreich das Gebiet der skandinavischen Halbinsel,

ebensoviel

in welchem 33 Consulate in Schweden' und

in Norwegen bestehen, von denen je eins (für Schweden in

Stockholm, für Norwegen in Christiania), Berufsconsulate sind.

beiden Ländern zur Ausbreitung

gelangten deutschen

Interessen

Die in

haben

neuerdings in Folge der, durch Ueberproduktion an Holz und Eisen herbei­

geführten Stagnation, der niedrigen Getreidepreise und des verringerten

Bedarfes von Artikeln des deutschen Imports, einen Rückschlag

erlitten.

Ja die Verluste, welche dem deutschen Handelsstande in letzter Zeit aus

den Transaktionen mit Schweden erwuchsen, waren ziemlich bedeutende, was um so mehr hervorzuheben ist, als den Handeltreibenden der Vorwurf

gemacht werden muß, durch eigene Schuld den größten Theil dieser Ver­

luste selbst herbeigeführt zu haben.

Ein unzweideutiger Beweis von der

Stockung in dem wirthschaftlichen Verkehr mit Deutschland war auch die niedrige Zahl der in Stockholm eingelaufenen deutschen Schiffe (100) etwa

die Hälfte der sonst gewöhnlichen Frequenz. vertreter Deutschlands

in Schweden ist dort

Nach Ansicht der Consularerst eine Weltausstellung

nöthig, um das Publikum über den Werth deutscher Gewerbeerzeugnisse zu

belehren und die Fortschritte der deutschen Industrie zu Tage zu legen. Nach Schweden und Norwegen folgen Spanien und Rußland was die numerische Stärke der Vertretung

betrifft.

In jedem der beiden ge­

nannten Länder sind 34 Consuln angestellt, von denen in Rußland sieben,

zu St. Petersburg, Warschau, Kowno, Kiew, Moskau, Helsingfors, Odessa, in Spanien nur einer, zu Barcelona, berufsmäßige Vertreter sind. Kowno

Die diplomatische und die Consnlarvertretung des Deutschen Reiches.

386

ist die ansehnlichste Stadt des Niemen- oder Memelflußgebietes, weil es

am Einfluß der schiffbaren Wilia und an der großen russischen Westbahn liegt. Dadurch wird es der Stapel- und Depotplatz von Getreide, Holz, Wolle, Flachs, Hanf, Häuten, die aus weitem Umkreis her gelegt, und von deutschen Händlern ausgesucht werden.

dort nieder­

Eine Flußschiff­

fahrt, an welcher sich 8—900 Fahrzeuge aus der Provinz Preußen be­

theiligen, vermittelt rege Geschäftsverbindungen nach Danzig, Königsberg und Memel hin und verfrachtet die genannten Artikel in drei bis vier­

maliger Fahrt nach

den angeführten Ostseehäfen.

Kiew darf als der

Hauptplatz für die deutschen Interessen im südwestlichen Rußland gelten, und als Mittelpunkt für die in den Gouvernements Bessarabien, Podolien,

Bolhhnien und Tschernigor

ansäßigen Landsleute.

Odessa

ist vermöge

seiner Getreideausfuhr und der dort mündenden Eisenbahnen ein Handels­ platz ersten Ranges.

Der Import deutscher Waaren, von denen namentlich

landwirthschaftliche Maschinen ein gern gesehener Artikel sind, fängt dort an stark von der Concurrenz amerikanischer und englischer Fabrikate dieser

Art zu leiden,

weil die von deutschen Häusern versandten Gegenstände

nicht auf Bedingungen und Verhältnisse deö russischen Landbaues zuge­ Ebenso thut der Mangel an directen Dampferlinien zwischen

schnitten sind.

großen deutschen Seeplätzen und Odessa, welche der deutschen Rhederei einen guten Verdienst gewähren könnte, dem deutschen Handel nach dem

Schwarzen Meer Eintrag. Dem Consulat in Odessa deutschen

Handel

berührender

fällt noch die Beobachtung andrer, den Interessen

des

großen

internationalen

dasselbe an Eisenbahn- und Dampfschifflinien

Waarenverkehrs zu,. da

liegt welche Norddeutschland mit den nach Persien und Kleinasien führenden

Verkehrsstraßen verbinden. siedlern im

Dazu tritt noch die Pflicht den deutschen An­

südlichen Rußland, wo namentlich

viel deutsche Techniker,

Constructeure, Eisenbahn- und Telegraphenbeamte wohnen, Schutz und Beistand zu gewähren.

Moskau ist der Sitz einer sehr zahlreichen deut­

schen Colonie; dieselbe zählt etwa 5000 Reichsangehörige,

im Ganzen

aber 25,000 Personen die sich der deutschen Sprache bedienen, und russische Unterthanen deutscher Nationalität sind, außerdem deutsche Oesterreicher und Schweizer.

Der Großhandel Moskau's ist fast ausschließlich in deut­

schen Händen concentrirt und die deutsche Industrie hat hier einen Markt,

wie fast an keiner andren Stelle in Europa.

Maschinen für den Eisen­

bahnbetrieb und die Landwirthschaft, alle Maschienen für die Wollindustrie,

Werkzeuge und Messerwaaren aus Solingen und Chemnitz, Baumaterialien (Cement) aus Stettin,

Wolle aus Berlin und Bremen,

dem Elsaß finden hier gute Abnehmer.

Wollgarn aus

Die diplomatische und die Consularvertretung des Deutschen Reiches.

387

Einen gesuchten Absatzartikel bilden ferner deutsche Kurzwaaren, unter

denselben vornehmlich Bänder und Litzen aus Barmen-Elberfeld,

dann

Bijouterien, Neusilbersachen, Draht, Messing, Kupfer, Papeterieleder rc.

Einen der wichtigsten Jmportgegenstände bilden auch Farbstoffe, besonders Alizarin,

fast ausschließlich

sind bei diesem Import Barmen, Höchst,

Frankfurt a./M., Ludwigshafen

betheiligt.^

Der Werth des

Gesammt-

importes von Farben und Chemicalien aus Deutschland wird auf 40 bis

50 Millionen Rubel beziffert, und derjenige aller delltschen Produkte und Erzeugnisse überhaupt auf 100 Millionen.

Bei der Einfuhr von Droguen

ist hauptsächlich Lübeck betheiligt und Hopfen, der bei der in Rußland

steigenden Vorliebe für Bairisch Bier, in großen Quantitäten consumirt wird, senden Nürnberg und Bamberg. — Der Markt von Moskau ist mithin, wie aus dem Vorstehenden ersichtlich, ein Concentrations- und Sammelpunkt ersten Ranges für die Erzeugnisse der deutschen Industrie,

und für die Consularvertretung daselbst, einer der lohnendsten und dank­

barsten Wirkungskreise. Barcelona das, wie schon gesagt, einzige Berufsconsulat auf der phrenäischen Halbinsel, ist wenn auch nur von wenig Deutschen bewohnt,

ein von den deutschen Eisen- und Stahlfabrikanten gern aufgesuchter Platz; ganz besonders ist es der vaterländischen Eisenbahnindustrie dort gelungen, mit Erfolg gegen England, Frankreich, Belgien concurrirend aufzutreten, so daß eS scheint als ob das gewerbfleißige und geschickte Catalonien, nicht

mehr das deutsche Fabrikat entbehren will.

Ebenso wie in Moskau, wird

auch in Barcelona der Handel mit Droguen von Deutschland fast mono-

polisirt, ebenso bietet sich für chemische und pharmaceutische Produkte in

Barcelona stets gute Consumtion. — Nur sechs von den 33 Consulaten, sind in Binnenstädten, die übrigen kommen auf die volksreichen ansehn­ lichen Plätze Andalusien's, Sevilla, Granada, Cordova, Leres. —

Die italienisch-deutschen Verkehrs- und kaufmännischen Beziehungen

vermitteln 29 Consulate, von denen eines zu Genua, und eines zu Messina Berufsconsulate sind. — Messina wird als Zwischenstation, in Verkehr mit Algier, Tunis, Aegypten angesehen, demnächst ist es ein Hauptaus­

gangspunkt für Südfrüchte, Seiden-CoconS und Schwefel; der deutsche

Import besteht in Stockfisch und in Leder; man schätzt die Betheiligung Deutschlands bei diesem Import auf 10 Procent, wobei Mainz und Worms

etwa mit der Hälfte betheiligt sind.

Im Ganzen hat die deutsche Rhederei

hier nicht viel Frequenz, namentlich seitdem der Schwefelexport nach Deutsch­ land sehr abgenommen. einen

politisch

wie

Die abgetrennte Lage, und die Nothwendigkeit

administrativ

selbständigern

Landestheil näher

zu

beobachten, sind bei der Errichtung dieses Consulates wohl am meisten

388

Die diplomatische und die Cousulardertretuuq des Deutschen Reiches.

maßgebend gewesen.

Genua ist erst vor kurzer Zeit aus einem Wahl- in

ein Berufsconsulat verwandelt werden.

Die deutsche Rhederei hat sich

jetzt daselbst einiger Dampferlinien nach Südamerika bemächtigt, und ver­ schifft AuSwandrer nach dort, auch ist die deutsche Flagge durchschnittlich in den letzten Jahren durch einige sechzig Fahrzeuge vertreten gewesen. —

Ein regelmäßiger und feststehender Import von deutscher Seite hier, fehlt; hin

und wieder Eisenbahnschienen,

einzelne

Sendungen westphälischer

Steinkohle, und etwas Sprit, das waren bisher die, wenig bekannt ge­ wordenen Einfuhrobjekte deutscher Provenienz in Genua.

Genua ist im

Hiublick auf die lebhaftere Frequenz welche die Verbindung des deutschen

mit dem italienischen Schtenennetz durch den Gotthardttunnel

für den

deutschen Transit und Rhedereiverkehr hier zur Folge haben dürfte,

einem Wahl- in ein politisches Consulat umgewandelt worden.

aus

An kauf­

männischen Vertretern sind 27 über Italien vertheilt. — In Frankreich

unterhält Deutschland 17 Consuln;. zwei derselben sind Berufsbeamte mit dem Sitze in Marseille, resp, in Havre.

Die merkantilen Beziehungen

Deutschlands an der französischen Mittelmeerküste, sind nicht sehr viel­

fältig, der Eingang deutscher Kauffahrteifahrer erhebt sich selten über die Zahl 70, von denen die Hälfte Dampfer — von denselben fiel bis vor

kurzer Zeit der Hamburger Rhederfirma Slomann der Hauptantheil am

Verkehr zu, der Rest kam von mecklenburgischen und oldenburgischen Häfen. Havre ist ein Platz, an welchem der deutschen Schiffahrt und dem Handel ein nicht unbeträchtlicher Jnteressenkreis eingeräumt ist.

Bei der

Gesammteinfuhe war es z. B. in den letzten Jahren mit 40 Millionen, bei der Ausfuhr mit 30 Millionen Kilo Waaren betheiligt. — Jmportirt

wurde vornämlich Getreide, Mehl, Hülsenfrüchte, Häute, Zink, Hanf — das Ausfuhrgeschäft bezog sich namentlich auf Caffee, Baumwolle, Farb­

hölzer, Häute, Cigarren — dem Volumen dieser Gütermasse entsprach die

Zahl der Fahrzeuge deutscher Flagge.

Im Ganzen liefen im Jahre 1879

in Havre, 138 deutsche Dampfer und 130 Segler an, eine ansehnliche

Frequenz bei welcher allerdings der Umstand zu berücksichtigen, daß dieser

Platz Station auf der Linie der Hamburgisch-Amerikanischen Packetfahrt Actiengesellschaft, sowie für die Kosmoslinie und den Bremer Llohd ist. —

Unter den kaufmännischen Consulaten in Frankreich nimmt Bordeaux eine bemerkenswerthe Stellung ein. — In früheren Jahren durch die

Ausfuhr von etwa 15 Millionen Liter Wein nach Deutschland, zu den Seeplätzen Hamburg, Bremen, Stettin, Lübeck, Königsberg in engeren

Beziehungen stehend, sieht sich Bordeaux plötzlich in Folge der von der

Reblaus angerichteten Verheerung, in diesen einträglichen und soliden Ver­ bindungen

bedroht.

Die Abnahme des, zur Versendung

gekommenen

Die diplomatische unb die Consularvertretmig deö Deutschen Reiches.

389

Quantums ist ganz bedeutend — als ein Aequivalent dafür darf die Ein­

fuhr von deutschem Sprit in großen Quantitäten betrachtet werden, welcher zu Cognac umgearbeitet wird. Bordeaux ist, vermöge des nach Deutschland gerichteten Weinhandels, und ebenso der Liqueurfabrikation die es mit Hülfe des deutschen Importes betreibt, die Heimathstätte einer ziemlich großen Anzahl Deutscher etwa

400 Individuen geworden; ein Theil derselben hat dort Grundbesitz er­ worben, und pflegt den Weinbau, ein anderer steht kaufmännischen und

industriellen Geschäften vor, ein dritter repräsentirt Agenturen und Com­ missionen deutscher Firmen.

Die Frequenz der deutschen Schiffahrt, be­

zifferte sich im letzten Geschäftsjahr auf etwa 120 Fahrzeuge.

In Dänemark sind deutscherseits 16 Consuln angestellt, unter denen sich nur ein politisches Consulat, zu Kopenhagen befindet. — Die zwischen

Dänemark

und Deutschland

wirthschaftlichen Beziehungen,

bestehenden

fangen in Folge der zunehmenden Concurrenz Englands auf dem däni­ schen Markt an,

an Umfang zu verlieren, wenngleich von den fremden

Kauffahrteischiffen die Kopenhagen besuchten etwa 82 Procent, d. h. im letzten Jahr 767 Fahrzeuge und von den Ladungen 55 Procent aus deut­

schen Häfen kamen.

Namentlich

ist es die deutsche Flagge welche den

dänischen Markt mit Colonialwaaren versieht, während deutsche Händler gern die landwirthschaftlichen Produkte,

vornämlich lebendes Vieh

und

Fettwaaren, von dort zu cxportiren suchen. Aus Dänemark folgt Holland, der Zahl der bestellten Consuln nach.

Im Ganzen giebt es deren dort neun.

Den größten und gemeinnützigsten

Wirkungskreis unter ihnen haben die zu Rotterdam und zu Amsterdam

residirenden Vertreter.

Das erstere das einen regen Besuch von deut­

schen Dampfern erhält, von denen es einige 90 durchschnittlich in den

letzten Jahren berührten, hat hauptsächlich dadurch Beziehungen zu Deutsch­ land, daß es Einschiffungspunkt für Auswanderer ist.

Die europäische Türkei und Griechenland sind mit sieben resp, acht

Consulaten versehen — die Consulate in Griechenland sind ausschließlich Wahlconsulate; während auf die sieben der Türkei, drei politische, und

zwar zu Constantinopel, Serajewo und Sofia kommen.

Constantinopel kommt als Handelsplatz für Deutschland nur wenig

in Betracht; Droguen, Färb- und Apothekerwaaren auch wohl Papier und Spiritus finden dort noch einen, nicht sehr ausgedehnten Markt, ebenso

ist die deutsche Rhederei nur schwach vertreten; etwa 14—15 deutsche Kauf­

fahrteifahrer zeigten alljährlich dort die Flagge in den letzten Jahren, und diese geringe Frequenz hat sich neuerdings noch vermindert.

Dem dortigen

Consulat fällt außerdem noch die Pflicht zu, die Thätigkeit eines Theiles

390

Die diplomatische und die Consularvertretung des Deutsche» Reiches.

der übrigen Konsulate in der Türkei zusammen zu fassen und eine Cen­ tralstelle für dieselbe abzugeben,

sowie nachdem in dem Ottomanischen

Staatswesen manche Veränderungen politischer und administrativer Natur vorgegangen, die Neugestaltung der wirthschaftlichen Verhältnisse zu beob­

achten und denselben aufmerksam zu folgen. Das zu Sofia neuerrichtete Generalconsulat soll Deutschland bei der

Regierung des Fürstenthums Bulgarien politisch und kommerziell vertreten und überall dort eintreten, wo deutsche Interessen unter dem verwickelten,

von Widersprüchen

und Gegensätzen

erfüllten staatlichen EntwickelungS-

prozeß jenes Landes auf dem Spiele stehen.

Ueber Rumänien sind fünf Consulate vertheilt, von denen zwei, die zu Galatz

und Jassy von berufsmäßigen Vertretern verwaltet werden.

Beide Plätze sind rege Verkehrsstationen des Handels der unteren Donau­

länder und Märkte für jene Landschaften, die in Bezug auf die Ergänzung ihres Bedarfes an Steinkohlen, Colonialwaaren und Jndustrieerzeugnissen

auf die Wasserwege des dortigen Stromgebiets angewiesen sind.

An der

dort stattfindenden Jmportbewegung nimmt auch der deutsche Handel seit

dem letzten russisch-türkischen Kriege in wachsendem Umfang Theil.

Als

die Objekte desselben findet man namentlich Gold-, Stahl-, Messingfabrikate,

dann Strumpf-, Leder-, Luxuswaaren, Parfumeriesachen, auch Gummi-, Posamenterie-

und

baumwollene

Manufakturgegenstände.



Die

in

Belgien (sechs), Portugal (sechs) und der Schweiz (drei) bestehenden Con­ sulate haben eine geringere Bedeutung, da sie weder größeren deutschen Niederlassungen eine Stätte gewähren, noch Anknüpfungspunkte für deutsche

Interessen darbieten.

Eine Ausnahme davon macht Antwerpen, woselbst

eine etwa 20,000 Köpfe starke deutsche Colonie besteht, welche die dortigen

Importe an Kaffee, Wolle, Petroleum in Commission nehmen und nach

Deutschland verhandeln.

Und noch ansehnlicher ist das Getreidegeschäft,

das von den Deutschen auf dem dortigen Markt gemacht wird.

Diesen

Beziehungen entspricht auch der deutsche Schifffahrtsverkehr Antwerpen's — der Hafen dieser Stadt wurde in den letzten Jahren von durchschnittlich

360 Fahrzeugen unter deutscher Flagge besucht. Einen theilweise noch ausgedehnteren und vielseitigeren Wirkungskreis als in europäischen, finden die Vertreter des ConsulardiensteS in solchen überseeischen Plätzen, die zu Mittel- und Knotenpunkten deS transatlan­

tischen deutschen Handels-

und

Schiffahrtsverkehres geworden, und an

denen entweder größere deutsche Niederlassungen entstanden, oder von der

deutschen Rhederei regelmäßige Beziehungen angeknüpft sind.

Der Consul

wird hier in noch höherem Grade zum Organ der heimischen Erwerbs-

Interessen und namentlich des Kaufmannsstandes, den er durch aufmerk-

Die diplomatische und die Consularvertretung des Deutschen Reiches.

391

same Beobachtung der Produktions-, der national-ökonomischen, der Geld-, Verkehr- und Creditverhältnisse, Aufschluß und Direktionen über Bedürf­

nisse und die Geschmacksrichtung der Einwohner; über die Art der anzu­ knüpfenden Beziehungen, über die Märkte des Landes, die Verkehrswege

im Innern, die Steuer- und Zollverhältnisse, und über Alles was dazu

beitragen kann, lohnende und einträgliche Verbindungen zwischen demselben und der Heimath zu eröffnen, zu unterrichten und in laufender Kenntniß

zu erhalten vermag.

Gleichzeitig wird er hier im fremden Welttheil zum

Mittel- und Sammelpunkt, um den sich das deutsche Element schaart. Sowohl der Zahl der Consulate, als der Bedeutung ihres geschäft­

lichen Wirkungsfeldes nach, steht Amerika den anderen Welttheilen voran, und zwar sind es die über das Gebiet der Vereinigten Staaten von NordAmerika vertheilten Vertreter, in deren Händen die Pflege und Erhaltung

der Verbindungen und Interessen ruht, welche hier etwa 9 Millionen deutsche Ansiedler theils mit dem Mutterlande unterhalten, theils auf ame­

rikanischem Boden zu wahren haben.

Bemerkt sei hierbei wie der ohne

Unterbrechung fortdauernde Strom der deutschen Auswanderung, der in

der ersten Hälfte des Jahres 1880 allein 150,000 Personen über den Ocean sandte, die in den Küstenplätzen Nordamerikas an das Land stiegen,

den dort bereits bestehenden Niederlassungen stets neue Elemente zuzu­ führen, und dem Deutschthum Nordamerikas noch weitere Ausdehnung zu geben scheint.

Nach keinem überseeischen Lande haben sich innerhalb der

letzten Jahre die auswärtigen Beziehungen Deutschlands so vervielfältigt, als nach den Bereinigten Staaten hin — allerdings mit der Maßgabe,

daß Deutschland jetzt auf dem nordamerikanischen Markt mehr als Käufer, wie als Verkäufer auftritt und daß der Export Nordamerika's sich in stei­ gendem Maaße dem deutschen Gebiet zuwendet.

Gleichwohl hat die Ein­

fuhr aus Deutschland in den letzten 20 Jahren eine Zunahme um 112% erfahren, und würde einen noch größeren Aufschwung genommen haben,

wenn die Vereinigten Staaten nicht, in dem Streben nach Kräftigung der einheimischen Industrie, den schwer zu übersteigenden Wall eines Schutz­

zolles errichtet hätten. Eine ungefähre Vorstellung von dem Umsatz, den die Hauptplätze der Vereinigten Staaten in Deutschland haben, wird ein Blick auf den Import

amerikanischer Waaren, wie er nach den bezüglichen Ausweisen im Jahre 1878 beispielsweise stattgehabt, geben. allein an Rohbaumwolle,

In jenem Jahre wurden z. B.

Brodstoffen, frischem Fleisch, Petroleum und

Baclmwollenwaaren nahezu für 38 Millionen (genau für 252,496,200 Mark)

auf deutsche Märkte gebracht. Von den 17 Consulaten im Gebiet der Union sind die zu New-Iork,

Die diplomatische uub die Cousulardertretuug des Deutschen Reiches.

392

Chicago, Cincinnati, St. Francisco und St. Louis Berufsconsulate. —

New-Aork ist die Haupt-Ein- und AuSgangöpforte des von Deutschland kommenden und nach dort gehenden Handels, und der Knoten- und Ver­ einigungspunkte der transatlantischen und der amerikanischen Schiffahrts­

linien. — 923 Schiffe, davon 260 Dampfer, betrug in den letzten Jahren die Durchschnittsfrequenz der deutschen Kauffahrtei und der Post und Per­

sonenbeförderung daselbst. — St. Francisco, das Hauptemporium an dem Stillen Ocean, ist mit einem Consulat versehen, weil das deutsche Element dort

in geschäftlicher Beziehung geradezu überwiegend, und das ganze

Engrosgeschäft in deutschen Händen ist.

Die Schiffahrt unter deutscher

Flagge ist allerdings nur sehr gering (15—20 Fahrzeuge), die Eisenbahn

vermittelt den größeren Theil des Waarenimportes, der vornämlich in Spiegel- und Fensterglas, dem begehrtesten Artikel deutscher Provenienz

daselbst, dann in Flachs, Seiden, Leder, Gummi, Eisenwaaren, Wein, Quincallerien u. s. w. besteht. — Die Ausfuhr zur See nach Deutschland belief sich an Werth auf etwa 70,000 Dollars und umfaßte eingemachte

Früchte, präservirtes Fleisch, Mehl, Honig, Weizen, Wein, Wolle.

Chicago ist der größte Stapelplatz und Markt für die landwirthschaftlichen Produkte der nordwestlichen Staaten und Territorien der Union;

hier münden die aus allen Richtungen des Nordwestens kommenden weit­ verzweigten Eisenbahnlinien, während nach Osten vom Frühjahr bis zum

Herbst die Wasserstraßen über die Binnenseen, die Canäle von New-Aork und Canada, nach dem Hafen von New-Aork und nach Montreal offen stehen.

Die Haupterwerbsthätigkeit der dort lebenden und der nach dort

Handel treibenden Deutschen ist die Gewinnung von Fleischwaaren, sowie die Züchtung lebenden Viehes. — Speck,

Schweinefleisch und Schmalz

werden hier von 10 bis 12 deutschen Firmen zugerichtet, die sich außerdem auch mit dem Verkauf von Rindvieh, Schweinen und Schafen rc. befassen.

In den Schlächtereien und Pökelkammern dieser Häuser sollen in einem Jahre bis zu 3 Millionen Schweine bearbeitet werden, ein Objekt das einen ungefähren Werth von 43 Millionen Dollars repräsentirt.

Auch

die Präparation von, in Büchsen zu versendendem Rindfleisch ist eine der

hier gangbaren Geschäftsbranchen, welche deutsche Unternehmer beschäftigt. — Chicago ist außerdem noch

ein Hauptsitz der Gewerbethätigkeit des

Westens — der Gesammtwerth der industriellen Erzeugnisse der Stadt wird neuerdings annähernd auf etwa 237 Millionen Dollars veranschlagt,

die Ausfuhr derselben erreicht aber nicht diejenige der landwirthschaftlichen Produkte nach Europa, zu welcher, wie die betreffenden Tabellen zeigen,

auch Hafer und Maismehl, Tabak, Baumwolle, Leder, Pelze rc. gerechnet werden. — Cincinnati ist mit einem Consul besetzt, weil es der Mittel-

Die diplomatische und die Coilsularvertretung deö Deutschen Reiches.

393

punkt der dicht mit Deutschen besetzten Distrikte der Staaten Ohio, In­

diana, Kentukh, West-Virginia, die ein zusammenhängendes Wirthschafts­ gebiet bilden und gleiche ökonomische Interessen haben.

Die vielfach Zielpunkte für die deutsche Schiffahrt und den Handel

bildenden großen Hafenplätze Baltimore, Boston und Philadelphia sind Der erstere ist ein beliebter

nur mit kaufmännischen Consulaten besetzt.

Ankunftshafen für deutsche Auswanderer, die dort in den letzten Jahren

zu 3—4000 Personen ankamen; die Frequenz deutscher Handelsschiffe be­ trägt etwa 140—150 pro Jahr,

der

und

Werth

des durch deutsche

Schiffe vermittelten Geschäftsumsatzes etwa 9 Millionen Dollars — der größte Theil davon kommt auf Getreide.

Der zunehmende Getreide-Export,

an dem sich auch der deutsche Kaufmann in reger Weise betheiligt, giebt

Baltimore einen lebhaften und steigenden Aufschwung.

Diese Zilnahme

der Ausfuhr ist indeß nicht allein der Lage jenes Platzes, sondern den besseren Einrichtungen, die er bietet, zuzuschreiben.

Es bedarf hier nur

einer Umladung des Getreides, während in den übrigen Plätzen immer noch mehrmalige Verladung erforderlich ist.

Boston liefert neben Getreide

auch Petroleum nach Deutschland und zwar sind in den letzten Jahren auch

nichtdeutsche Schisse mit dieser Waare befrachtet und abgesandt worden. — Philadelphias deutsch kaufmännisches Geschäft wird hauptsächlich nach Bremen hin gemacht; bis jetzt war die deutsche Kauffahrteiflagge daselbst durch etwa 80 Schiffe im Jahr vertreten.

Als eine von den Consuln im

Gebiet der Union gemachte Wahrnchmung muß noch der Hinweis darauf bezeichnet werden, daß die Zollverwaltung der Vereinigten Staaten gegen­

wärtig mit großem Mißtrauen gegen deutsche Importeure erfüllt ist, weil es wiederholt vorgekommen, daß dieselben den Versuch gemacht, die ame­ rikanischen Zollgesetze zu umgehen.

Ueber das aus 27 einzelnen Staaten bestehende mexikanische Staats­ gebiet, sind 18 Wahlconsulate vertheilt.

Der Wirkungskreis derselben

hat sich in dem Maße erweitert, als der Großhandel Mexieo's in deutsche

Hände übergegangen ist.

Eine der wichtigsten Aufgaben die den deutschen

Consularvertretern daselbst gegenwärtig gestellt, ist der Schutz des vater­ ländischen Manufacturwaarengeschäftes der immer heftiger andringenden

französischen Concurrenz gegenüber,

sowie auch das Frontmachen gegen

die von den großen mexikanischen Bank- und Creditinstituten deutschen

Unternehmungen gegenüber an den Tag gelegte Opposition.

französischen Bestrebungen sind

es

Neben den

auch nordamerikanische, die sich in

Mexico zu regen beginnen und aufmerksam von den deutschen Vertretern beobachtet und im Auge behalten werden müssen.

Der Handelsstand von

New-Aork und besonders der von Chicago und New-Orleans, hat in den

Die diplomatische und die Consularvertretuug des Deutschen Reiches.

394

letzten Jahren mehrere Deputationen nach Mexico gesandt mit dem Auf­ trag, sich dort durch den Augenschein über die mexicanischen Verhältnisse

Schon hat der Eingang von amerikanischen Artikeln, be­

zu informiren.

günstigt durch das

Bestehen

mehrerer

Dampferlinien zwischen

beiden

Ländern, ansehnlich zugenommen. Ein weiteres Anwachsen ist mit Sicherheit

zu erwarten.

Mexico ist unzweifelhaft ein fruchtbarer lohnender Boden für deutschen Unternehmungsgeist.

Die angesehene Stellung die der deutsche Handel

dort einnimmt, kann, nach dem Urtheil competenter Richter, auch behauptet

werden, wenn das Beispiel der Gründer des deutschen Handels in Mexico

befolgt wird.

Umsicht, Fleiß, Ausdauer und das strenge Einhalten ge­

mäßigter Grundsätze, haben denselben den Erfolg in die Hand gegeben.

Der Handel Deutschland's ist von den Vertretern desselben in Mexico noch nicht einmal ausgebeutet, geschweige denn erschöpft worden.

Es giebt

viele deutsche Waaren die in Mexico kaum gekannt sind, und die sich dort

mit Gewinn absetzen ließen.

Im einzelnen betrachtet, sendet Hamburg

Eisen und Stahlartikel, Papier, Stearinkerzen, Möbel, auch Bier, Textil-

In Vera Cruz, Tampico

und Kurzwaaren, auch Farbholz nach Mexico. und Acapulco machen deutsche Häuser

(meist Hamburger,

Frankfurter,

Rheinische) auch ansehnliche Commissionsgeschäfte mit englischen Waaren. In Brittisch-Nordamerika (Canada) sind 10 kaufmännische Consulate,

in dem englischen Central-Amerika (Brittisch-Honduras) nur eines.

Mit

beiden Gebieten sind die Verkehrsbeziehungen gering und eine Wahrneh­

mung deutscher Interessen nur in vereinzelten Fällen erforderlich.

Die

Staaten Central-Amerika's sind in neuerer Zeit in vermehrtem Maaße

der Sitz deutscher Niederlassungen geworden,

und haben mehrfach das

Streben gezeigt, zu dem deutschen Reich durch den Abschluß von Handels-,

Schiffahrts- und treten.

Freundschaftsverträgen in ein näheres Verhältniß zu

Neben 9 in Hafen- und Küstenplätzen stationirten Wahlconsuln ist

vor einigen Jahren ein Berufs-Consulat (General-Consulat) in Guatemala

hauptsächlich auf Wunsch der Hansestädte errichtet worden, das bei den häufigen inneren Umwälzungen der Staatsordnung die Aufrechthaltung

der staats- und völkerrechtlichen Verträge, unter deren Schutz die Reichs­

angehörigen daselbst stehen, zu überwachen hat.

Verschiedene Vorgänge

haben gelehrt, daß Wahlconsuln, die den Landesbehörden nicht unabhängig gegenüberstehen, nicht ausreichten, um die Autorität und daö nationale Ansehen dortselbst kräftig zu wahren.

In Brittisch-Westindien (Bahamainseln — Jamaica) bestehen sieben deutsche Consularvertretungen.

Zahlreichere

deutsche Gemeinden

und auch regere geschäftliche Be-

Ziehungen als hier, werden in dem Spanischen Westindien angetroffen,

das mit 11 Consulaten besetzt ist, unter diesen das wichtige Berufsconsulat

in der Havannah.

Die schwankenden politischen Zustände, welche die Be­

gründung einer festen und gesicherten Staatsordnung auf Cuba in Frage stellen und dem Handelsstand den festen Bodeit sicherer Erwerbsverhältnisse entziehen, haben zur Einsetzung eines politischen Vertreters in der Havannah

geführt.

Das Geschäft, welches deutsche Firmen früher hier in Tabak

machten, hat unter der Ungunst der vielen Erschütterungen des StaatslebenS auch wesentlich gelitten.

Es spricht sich dies namentlich auch in der ge­

ringen Frequenz der Schiffahrt aus, die im Ganzen höchstens 40 deutsche

Fahrzeuge zählt, davon sind 30 Dampfer, welche auf den transatlantischen Linien des Bremer Lloyd und der Hamburgisch-Amerikanischen Packetfahrt-

Actiengesellschaft den Dienst versehend, dort einlaufen, um Passagiere und Waare an Bord zu nehmen.

Aehnlich wie hier gestaltet sich der Wirkungs­

kreis deö zu Curayao installirten Consulates, das wegen der vielen Rei­

bungen, die zwischen Venezuela und der niederländischen Colonialregierung

vorkommen, häufig für deutsche Interessen eintreten muß.

In den beiden westindischen Republiken St. Domingo und Hayti sind im Ganzen 7 Consularvertretungen, darunter ein Berufsconsulat zu

Port-au-Prince, welches den übrigen sechs dort vorhandenen kaufmännischen Consuln zum Mittel- und Stützpunkt dienen soll.

Die dominikanische

Republik ist in den letzten Jahren von den sonst hier an der Tagesordnung stehenden Revolutionen mehr verschont gewesen und dieser Umstand hat

nicht verfehlt, dem Handel mit (Safe, Tabak und Cacao, deren Produktions­ stätte die Insel ist, einen einträglichern Markt zi« schaffen.

Zu bemerken

ist, daß die Erhöhung der Tabakszölle in Deutschland einen unverkenn­

baren Einfluß auf den dominikanischen Handel geübt hat; die Behandlung

des Tabaks ist jetzt eine viel sorgfältigere seitens der Producenten geworden und Bremen und Hamburg die Hauptabnehmer, sehen namentlich darauf,

daß die Ladungen nicht gepreßt zur Ablieferung kommen und verlangten den theueren Transport per Dampfer.

Für die Erzeugnisse des deutschen

Gewerbfleißes bietet St. Domingo kein Absatzfeld.

Die enormen Credite,

welche die Republik in früheren Jahren genoß, sind in Folge der schlechten Tabakspreise und

der

fortwährenden Revolutionen mehr oder weniger

zurückgezogen und üben einen lähmenden Einfluß auf das Importgeschäft Die Durchschnitts-Schiffahrt unter deutscher Flagge belief sich auf 5 bis

8 Schiffe im Hafen von St. Domingo. — Noch trüber ist das Bild, das die Plätze von Hayti und die dort angeknüpften deutschen Beziehungen in neuester Zeit boten.

Die mit kurzer Unterbrechung andauernden Bürger­

kriege und Partheizwistigkeiten verminderten die Einfuhr, schmälerten in

396

Die diplomatische nhb die Consnlarvertretiing des Deutschen Reiches.

Folge dessen auch die Zolleinkünfte des Staates, und erschwerten den dort

etablirten Häusern die Erlangung von Waarencrediten in Europa. Unter solchem Druck litten naturgemäß auch der Anbau und die Pflege aller

Erwerbszweige.

Der Ackerbau lag gänzlich darnieder, die Baumwollen-

cultur wurde völlig vernachlässigt, die Anpflanzung des CafsS zeigte sicht­

liche Vernachlässigung.

Die Einfuhr auS Deutschland und speciell Ham­

burg, welche Port-au-Prince erhält, bezifferte sich ihrem Werthe nach auf etwa 182,000 Pesos, und bestand meist in Getränke» und Provisionen.

Die Verbindung mit Deutschland und speciell mit Hamburg, wird mittelst der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actiengesellschaft, und zwar durch einige dreißig Dampfer pro Jahr unterhalten, welche die nördlichen Häfen der Insel regelmäßig berühren und den Verkehr zwischen den verschiedenen Plätzen wesentlich erleichtern.

Außer Cafe, dessen durchschnittlicher Jahres­

ernteertrag zwischen 60 und 70 Millionen Pfund schwankte, liefert Hayti noch Blauholz, Baumwolle, Gllmmi, Häute, Cacao und Schildpatt in der

Hauptsache, in den Handel.

Die bedeutende Verminderung der nach

Hamburg (an Bord der Hamburger Dampfer) in der letzten Zeit ge­ sandten Caffsquantitäten, erklärt sich durch die große Concurrenz der sieben verschiedenen Dampferlinien, welche Port-au-Prince regelmäßig besuchen.

Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters*). Die jüngst erschienene große Arbeit von Georg Schanz, welcher un­ vergleichlicher Fleiß und die sorgfältigsten Untersuchungen zu Grunde liegen,

ersetzt nicht nur Alles, was bisher in englischer Handelsgeschichte und nicht

zum Wenigsten in England selber geleistet worden ist, sondern verdient vollends auch unter dem Reflex der Verhältnisse der Gegenwart in hohem Grade die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Der Historiker

mehr rückwärts schauend als in der Absicht Normen für die Zukunft zu entdecken und aufzustellen wird

sich das in

diesem

Werke zugeführte

großartige Material anzueignen und nach den Ergebnissen einer umfassenden,

methodischen Untersuchung die Ansichten, die er sich bis dahin hatte, zu prüfen und vielleicht mannigfach zu ändern haben.

gebildet

Aber auch

der Politiker wird auS den nunmehr gewissenhaft und einsichtsvoll ent­

wickelten Hergängen, aus einer gewaltigen Fülle urkundlicher Beilagen gar manche Lehre für die Gegenwart entnehmen können.

Wie in anderen

Stücken wird man doch auch fernerhin zilmal in allem, was Handel und Verkehr betrifft, immer wieder auf das Beispiel des einerlei, ob hoch ge­ priesenen oder gründlich verhaßten England zurückkommen.

So sei eS

mir denn gestattet aus dem reichen Schatz, der uns so eben erschlossen

worden, einige der wesentlich historischen Momente hervorzuheben und da­ mit, wie mir vielleicht auch durch eine gewisse Beziehung zu der Arbeit

nahe liegt, dieselbe einem weiteren Kreise bestens zu empfehlen. ES ist bekannt, wie nach dem kläglichen Ausgange der hundert Jahre

lang gegen Frankreich geführten Eroberungskriege und vollends, nachdem

die Dynastie Anjou und die alten Adelsgeschlechter Englands

in dem

*) Englische Handelspolitik gegen Ende des Mittelalters mit besonderer Berücksichtigung des Zeitalters der beiden ersten Tudors Heinrich VII. und Heinrich VIII., ge­ krönte Preisschrist von Dr. Georg Schanz, a. o- Professor der Staatßwissenschaften in Erlangen. 2 Bände. Leipzig, Verlag von Duncker und Humblot 1881. Das Werk erhielt am 11. März 1879 den ersten Preis der Beneke'schen Stiftung durch die Philosophische Facultät in Göttingen.

398

Englands Handelspolitik am AuSgang des Mittelalters.

dreißigjährigen Kriege

der

beideil Rosen sich

untereinander vernichtet

hatten, Heinrich Tudor in allen Stücken deS öffentlichen Daseins, der

Verwaltung, des Rechts, der Verfassung als Restaurator eintrat.

Aber,

indem er die monarchische Gewalt wieder in das Centrum des StaateS

rückte und erbitterte Feinde seines Throns drinnen und draußen geschickt

abwehrte, hat unter einer solchen Einwirkung sein Volk zum ersten Mal die seltene Wohlthat insularer Enthaltung und Sicherheit empfinden lernen.

Sein Sohn Heinrich VIII. beharrte im Ganzen, auch wenn eS bisweilen nicht so schien, bei der Politik des Vaters,

verschaffte aber, indem er

thatenfroh im Kampf der Weltmächte und der geistigen Kräfte seiner Zeit

für und wider Partei ergriff und öfter sogar mit instinctmäßiger Sicherheit die Seiten zu wechseln wagte, dem Reiche die Fähigkeit wieder activ in die europäischen Dinge einzugreifen.

Indeß erst, wenn man die Handels­

politik beider Herrscher zergliedert, die jeder in seiner Weise hervorragende Naturen waren, läßt sich erkennen, daß Heinrich VII. sich keineswegs so passiv verhielt, wie eS bisweilen den Anschein hat, sondern daß er viel­

mehr recht eigentlich die Grundlinien, das feste Geleise gezogen hat, in welchem

der rührigere Sohn mitunter fast zu ungestüm und wechselnd

wie ein Proteus vorwärts schritt.

Um jedoch die höchst bedeutende Um­

wandlung, die sich unter beiden vollzog, ganz zu ermessen ist ein Rückblick hauptsächlich auf die commerciellen Beziehungen erforderlich, wie sie sich unter den Anjou-Königen des Mittelalters gestaltet hatten.

Angelsachsen und Normannen bewegten sich durchaus im Ackerbaustaat, in welchem unleugbar auch die Wurzeln der Institutionen haften bleiben. Aber der Wasserwege mußten sie sich von vornherein versichern, wenn sie

nicht von der Welt abgeschnitten oder gar in ihrer Gewinn bringenden

Landwirthschaft beständig von dem Einbruch raubgieriger Feinde bedroht sein wollten.

Es ist sehr bezeichnend, wie lange die Produkte der Vieh­

zucht: Wolle, Häute, Leder und nebenher etwa auch daS alte Zinn des SüdwestenS und einiges Getreide die einzigen Ausfuhrartikel bildeten, und wie fast eben so lange der einheimische Händler die fremden gewähren

ließ, wenn sie kamen um solche Gegenstände gegen Tausch und Zahlung

auf ihren Schiffen abzuholen.

Noch hatten die Wikingerzüge ihr Ende

nicht erreicht, als vor allen die Leute aus den Ländern des Kaisers zu

diesen Zwecken bereits werthvolle Privilegien in dem großen Themsehafen besaßen.

Um die Zeit dann, als solche Vergünstigungen den Kaufleuten

von Nord- und Südeuropa zuerst regelrecht in Form von Statuten er­ weitert wurden, fehlt auch in der Magna Charta Johanns nicht die Be­ stimmung, wonach „alle Kaufleute in England frei und sicher aus- und

eingehn, dort verweilen und wieder gehn dürfen zu Lande und zu Wasser

um M kaufen und zu verkaufen ohne alle unrechtmäßigen Zölle

(sine

omnibus malis toltis), lediglich nach den alten bewährten Ordnungen, außer zur Kriegszeit und wenn sie einem Lande angehören, das mit uns Krieg führt."

doch fast,

Die Paragraphen 41 und 42 des großen Freibriefs klingen

als wenn Kaufleute überhaupt nur Ausländer sein könnten.

Ein solcher Rechtsschutz aber war um jene Zeit gegenüber der Ausschließung aller Fremden, welche nach dem Naturrecht höchstens nur Gäste sein konnten,

gegenüber der von jeher besonders starken Abneigung der insularen Be­

völkerung wider jeden Ausländer (alienus, foreigner) nur durch Con­ cession von Seiten deS Königs zu gewinnen, die, wie gleichzeitig auch an anderen Stellen Europas, juerft einzelnen Kaufleuten, in der Folge dann

ganzen. Städten und Ländern ertheilt worden ist.

Die Anomalie gar,

daß fremde Handeltreibende in das englische Recht ausgenommen wurden

und doch die eigenen Streitigkeiten nach ihrem heimischen Recht austragen durften, war nur möglich kraft eines vom Könige in Gemeinschaft mit

den bevorrechteten Ständen statutrten Beschlusses, allerdings im eigenen, wohl verstandenen Interesse derselben.

Allein im langen Kampfe um die

Verfassungssätze der Charta gediehen stetig der große Rath deS Reichs imb die Gemeinen im Parlament.

Da regte sich denn auch der einhei­

mische Kaufmann und gewann nach und nach die Mitentscheidung darüber,

welche Zölle zu Recht, welche nicht zu Recht gelten sollten. Rittern bewilligte er vor allen sie dem Könige.

Neben den

Darüber begann er aber

auch den Fremden die übergreifenden Freiheiten zu beneiden,

sie wo

möglich zu umschreiben, damit Ausländer nicht den Stadtbürgern völlig

gleich würden und ihnen selbst im Kleinhandel und Gewerbe das Brod vom Munde nähmen.

Die Härte und der Ungestüm, womit das geschah,

waren in der langen, schwachen, mit Privilegien an den fremden Kaufmann geradezu verschwenderischen Regierung Heinrichs III. groß gezogen worden.

Während des ganzen 14. Jahrhunderts handelte es sich alsdann darum

zwischen König und Ständen wie in vielen anderen Dingen so auch in der Handelspolitik durch Compromiß ein einträglicheres Verhältniß

schaffen.

zu

Durch die Acte vom Jahre 1303 hatte der große Eduard I.

gegen Zuschlagzölle von Seiten der

Magna Charta entschieden

fremden Kaufleute die Sätze der

im Sinne deS freien Handels verwirklicht.

Unter Sohn und Enkel lief das Bürgerthum Englands um so heftiger Sturm wider eine solche Auslegung

des

Gästerechts.

Während vom

Thron her die Ausländer immer wieder bevorzugt wurden und sogar immer noch

neue werthvolle Privilegien erwarben,

suchte der englische

Kaufmann, den Stubbs in seiner Verfassungsgeschichte neben dem Juristen

vortrefflich als Halbstand bezeichnet, jedesmal wem» das Staatswesen von Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1I.

1.

27

Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters.

400

heftigen Zuckungen ergriffen wurde, mit aller Gewalt daran zu rütteln.

Schon ließ sich mit Sicherheit voraussehen, daß in die noch so starke Schanze dereinst erfolgreich Bresche gelegt werden würde.

ralen Anläufen von oben und

Zwischen libe­

municipalem Widerstand der

engherzig

Bürger, die nicht nur Deutsche und Italiener, sondern auch Gascogner, Jahrhunderte hindurch des Königs Unterthanen, und selbst bisweilen gleich­

berechtigte Städte des eigenen Landes zurückdrängen wollten, gieng es auf und ab, bis ztl Ende der Regierung Eduards III. und während der stür­ mischen Jahre seines Enkels Richard II. die Aussichten der Nicht-Engländer

zum ersten Mal ernstlich bedroht erschienen. Hier kann nur kurz daran erinnert werden, wie diese bis dahin im

Einzelnen zri ihren Vorrechten gelangt waren.

Im Mittelpunkt standen

von Anfang an die Niederlande, Flandern, Brabant, Hennegau, Holland, wie sie, auS Nicderlothringen losgelöst, in der Ausbildung municipaler Rechte,

in commercieller und industrieller Entwicklung den Engländern

um Generationen weit voraus waren.

Allein diese waren nicht nur durch

ihre Rohprodukte, welche sene für ihren Gewerbfleiß nicht entrathen konnten, auch auf die gegenüber liegenden Küsten, sondern beide eben durch die

bequeme Seeverbindung und gemeinsame gegen Frankreich gerichtete poli­ tische Interessen auf einander angewiesen, bis die Engländer im 14. Jahr­

hundert anfiengen ihre Wolle selber zu verarbeiten, auf dem Festland da­ gegen unter der rasch emporsteigenden Großmacht Burgund die industriellen

Kreise nach arbeiteten.

Schutz rufend den neuen Concurrenten

energisch entgegen

Die alte freihändlerische Richtung in den flandrischen

und

brabantischen Städten bekam somit einen harten Stand, wenn sie ihren

Territorien den damals in Europa einzigen Vorrang als Universalstapel­ platz behaupten wollte.

Die Beziehungen Italiens zu England waren aus den finanziellen

Ansprüchen der päpstlichen Curie erwachsen.

Florentiner und Luccheser

Bankhäuser wurden zumal in London seßhaft, gewannen bald auch Ein­

fluß auf den dortigen Waarenumsatz und wurden, als sie um die Mitte

des 14. Jahrhunderts in die Kriegsschulden des Königs verwickelt worden, vorübergehend von den Genuesen abgelöst.

Mittlerweile jedoch kam im

Mittelmeer vorzüglich gegen Genua Venedig empor und knüpfte mit seinen meist vom Staate selber regelmäßig entsendeten Galeeren die erste directe

Seeverbindnng zumal mit Southampton.

Dieser rasch aufblühende Han­

delsverkehr erfreute sich seit Eduard III. gleichfalls der besonderen Gunst der Krone, bis die Eifersucht der englischen Bürger in der zweiten Hälfte

des 15. Jahrhunderts an dem Hause 9)ott eine Stütze fand und die den Fremdlingen ans der Adria gewährten Vorrechte zurückzudrängen anfieng.

Niemand aber war seit frühster Zeit mehr begünstigt als der deutsche Kaufmann.

Die Kölner und Westfalen besaßen außer ihren Freibriefen

vorzüglich seit Richard von Cornwall und Eduard III., der gegen Hinter­ legung seiner Kronjuwelen bei ihnen die bedeutendsten Anleihen machte,

uralte eigene Niederlassungen, vor allen den Stahlhof, ihr Handelshaus in London.

Allein zu den Städten der Westsee waren unter Lübecks

Führung die von der Ostsee und nach längerem Ringen zwei Hansen der

Deutschen in dieselben Rechte und dasselbe Eigenthum eingetreten. Waren

sie auch besonders im Auslande auf Eintracht angewiesen, so kamen doch die alten Risse immer wieder zum Vorschein und wurden um so bedenk­ licher, seitdem der englische Kaufmannstand zum ersten Male die Könige

aus dem Hause Lancaster gerade gegen diese Deutschen auf seine Seite her­

überzog.

In die Ostsee hinaus, vorzüglich nach dem mächtig aufstrebenden

Danzig, hatten die Engländer selber bereits einen unabhängigen Handel gerichtet, um die für die Schiffahrt unentbehrlichen Rohprodukte des öst­

lichen Europa direct zu beziehn.

Schon glaubten sie nahe daran zu sein

in den preußischen Städten dasselbe Recht der Niederlassung zu gewinnen

wie jene bei ihnen, als in Krieg und Frieden unnachgibig und selbstsüchtig der monopolistische Geist der Hansen sie von sich stieß.

Wohl kam gerade

hieran im Lause des 15. Jahrhunderts die Achillesferse deS mächtigen

Städtebundes an den Tag, zumal seitdem der OrdenSstaat von Polen durch­

brochen wurde, doch wurde ja gleichzeitig England von den Rosenkriegen zerklüftet.

Und als endlich im Jahre 1474 die langjährigen Streitigkeiten

Int Utrechter Vertrag ausgeglichen wurden, so hatten sich die Hansen ihre Rechte nicht nur bestätigen, sondern für die Zukunft sogar erweitern lassen,

während der englische Handel dagegen von ihnen höchstens der Theorie,

dem Buchstaben nach zugelaffen wurde.

Diese Abmachung jedoch bedeckte

ihre Blößen nicht mehr, da der Bund selber entschieden kränker wurde, zu gleicher Zeit aber einige große Staatswesen, darunter auch England selber sich zu consilidiren begannen.

Daß dessen Kaufhandel und Schiff­

fahrt hierüber wie in den baltischen Gewässern so namentlich auch in dem

alten Wettlauf um die Skandinavischen Länder, wo die Hansen so lange den Vorsprung

gehabt, neuen Aufschwung nahmen, lag in der Natur

der Sache. Das Verhältniß endlich zu den oceanischen Ländern Südeuropas

war vielfach ein anderes.

Hier kam die Rivalität mit den germanischen

Seefahrern nur wenig in Betracht.

Alle vielmehr begegneten sich, han­

delten und rangen miteinander hauptsächlich wieder in den flandrischen Weltemporien.

Unverkennbar jedoch drangen die Engländer, seitdem sie

ebenfalls die castilischen und aragonesischen Häfen befuhren, im 15. Jahr-

27*

402

Englands Handelspolitik am Ausgang deS Mittelalters.

hundert auf Gleichberechtigung mit den Spaniern, welche bis zu der In­ vasion CastilienS durch den Schwarzen Prinzen, der ersten näheren Be­ rührung

Englands mit der

iberischen Halbinsel,

allein in der Hand gehabt hatten.

den Seeverkehr fast

Ein ausgesprochen freundliches Ver­

hältniß bestand eigenthümlich früh mit Portugal, ehe freilich dies atlan­

tische Reich durch feine überseeischen Entdeckungen zu wunderbarer mari­ timer Größe aufstieg.

In Frankreich hatten allein die Städte von Picardie und Artois an

den Begünstigungen der flämischen Hansa Theil gehabt, welche von frühen Tagen her in England besondere Vorrechte genoß.

Dann bestanden wohl

am Längsten vortheilhafte Handelsbeziehungen zwischen der Bretagne und England, so lange jene auf eigenen Füßen blieb, mit Guienne und Gas­ cogne, so lange die Lancasters mit Hilfe der Waffen die alte Personal­

union zu behaupten vermochten.

Als aber die französische Krone ihr Reich

zurückgewann, insonderheit jene Küstengebiete der Reihe nach der Monarchie einverleibte, da nahm auch der alte dynastische und nationale Gegensatz

zu dem Jnselreich nicht nur eine neue Wendung, sondern hatten trotz den hohen geographischen Vorzügen, welche den Nachbarländern fast gemeinsam

waren, alle Anwandlungen zu einer Ordnung des directen Verkehrs ge­

radezu ein Ende.

Man blieb wesentlich auf dem Kriegsfuß und stand

höchstens zusammen um das

Seeräuberthum, welches

von

Bretonen,

Osterlingen auf den zwischen liegenden Gewässern

Schotten,

getrieben

wurde, auszurotten.

Wie man sieht, waren also bis dahin die Anstrengungen der Eng­

länder, einen activen und directen Verkehr anzubahnen, auf der weiten

Linie vom finnischen bis zum adriatischen Meere von sehr verschiedenartigen, nur wenig sichere Aussicht erweckenden Erfolgen begleitet.

Man darf

wohl fragen, wie weit die Mittel, deren man sich hierzn bediente, etwa die Schuld trugen.

Zunächst hatten die englischen Kaufleute und die Londoner vor allen

eö sich selber zuzuschreiben, wenn selbst unter Heinrich IV., seinem Sohn und Enkel, deren Thron mehr als zuvor an die Entscheidungen des Par­

laments gebunden war, engherzig monopolistische Gelüste ihnen die eigene

Landsmannschaft, namentlich die Tuchmacher in den kleineren Ortschaften

und auf dem platten Lande, entfremdeten und diese sogar bewogen den Fremden bei Vertheidigung ihres von jenen bestrittenen Gästerechts bei­ zustehen.

Nichtsdestoweniger, besonders in den wirren Zeiten des letzten

Lancasters,

wuchs die Erbitterung und vermehrten sich auch außerhalb

Londons die Angriffe gegen das Zusammenwohnen, die Innungen, den

Klein- und Großhandel der fremdländischen Händler und Gewerbtreibendeu,

denen von allen Seiten Unredlichkeit bei Verkauf und Einkauf, in Einfuhr

und Ausfuhr vorgeworfen und durch die städtischen Behörden zahllose Be­ lästigungen aufgebürdet wurden, bis es endlich gelang, jene, mochten sie

Haushalter sein oder nicht, dauernd oder nur vorübergehend sich in England

aufhalten, meist doppelt so hoch wie die Eingeborenen in die von StaatS wegen auferlegte Kopfsteller einzuschätzen.

Treffend hatte das zuerst im

Jahre 1436 erschienene Büchlein von der englischen Staatskunst*) ausge­

sprochen, das überhaupt einer Politik deS Schutzes laut und überzeugungSvoll das Wort redete,

indem eS keck gegen die verhaßten Nebenbuhler

loszog: Denn laßt sie hier ins Wirthshaus zieh«; wo nicht,

Befreie man auch uns von dieser Pflicht Bei ihnen. Wollen sie's nicht zugestehn, So zwingt sie hier dazu; ihr werdet sehn: ES kommt davon mehr Bortheil und Gewinn Als zu beschreiben ich im Stande bin.

Außerdeln aber wurden von längerer Zeit her bereits andere Hebel an­ gesetzt um den Bann abzuwälzen, unter welchem der eigene Verkehr so lange schmachtete, und sich selber zu kräftiger Initiative aufzuschwingen.

Wohl gab es seit der Mitte des 14. Jahrhunderts eine erkleckliche Anzahl

wirklich reicher Kaufleute, die sich unter allen politischen Wechselfällen der nächsten beiden Jahrhunderte namhaft vermehrte.

Indeß an eine wirksame

Abwehr der großen Ueberzahl der so unendlich bevorzugten Rivalen war

doch nur zu denken, wenn es gelang den mittelalterlichen Verhältnissen gemäß im Auslande ebenfalls in Corporationen zusammengeschlossen auf-

zutrelen.

Das geschah denn auch in zwei denkwürdigen Ansätzen, welche

kurze Erwähnung verdienen. Etwa seit dem Ausgang des 13. Jahrhunderts, denn zur festen Datirnng fehlen die Urklinden, war von der Krone und nicht von der Kauf­ mannschaft, damit die heimischen Ausfuhrgegeustände nur nach bestimmten

Orten des In- und Auslandes zum Verkauf gebracht würden, eine Stapel­

innung mit eigenen Vorständen und Befugnissen errichtet worden. erste

und der dritte Eduard

vor

Der

allen wollten durch Gewährung deS

Stapels an Plätzen wie Brügge, Dortrecht, Antwerpen die Herren derselben zu Bundesgenossen gewinnen.

Späterhin wurde derselbe in Calais be­

festigt, das, nachdem es im Jahre 1346 als Frucht deS Siegs bei Crecy

den Franzosen entrissen worden, zwei Jahrhunderte lang gleichsam als

die

erste und einzige Kroncolonie ausgebeutet worden ist.

Doch nahm

*) The Libell of English Policye 1436 Text und metrische Uebersetzung von Wilhelm Hertzberg mit einer geschichtlichen Einleltung von Reinhold Pauli, Leipzig Verlag von S. Hirzel, 1878.

404

Englands Handelspolitik am AuSgang des Mittelalters.

die Regierung öfter das Institut wieder ganz nach England zurück, wo

dann immer noch durch althergebrachte Bevorzugung der Fremden den

Unterthanen der Ausfuhrhandel geradezu entzogen wurde.

Nach Auffassung

deS Königthums war der Stapel also wesentlich ein Organ der obersten

Finanzpolitik, in welchem die durch dasselbe berechtigten Kaufherren wieder­ holt auch als Bankhalter der Herrscher fungirten.

Indeß die Selbstver­

waltung, in welcher jene Innung wurzelte, das Stapelrecht, das sich an ihr heranbildete, boten dem englischen Kaufmann, welcher der Corporation

nicht angehörte, aber drinnen und draußen um so heftiger auf Emanci­

pation von der so lange zum Vortheil deS Auslands von oben geübten Bevormundung hinarbeitete,

das Muster, sich ähnlich, aber aus freien

Stücken zu unbehindertem Kampf mit den Gegnern zu organisiren. tauchte dann unter dem stolzen Namen

der

So

Merchant Adventurers

(wagende Kaufleute) eine neue Einigung auf, die, durch kein Stapelrecht

weder an feste Bahnen noch an bestimmte Orte gebunden, zunächst da eindrangen, wo man ohne Unterschied allen Engländern Zutritt gewährte, weshalb denn schwerlich ihr Ursprung auf ein bestimmtes Jahr im 14.

oder 15. Jahrhunderts noch auf bestimmte Orte zurückgeführt werden kann. Ohne auch an eine bestimmte Londoner Gilde gebunden zu sein, handelten die Merchant Adventurers, vielmehr auf mehrere gestützt, nach Spanien und Preußen, nach Island und Italien.

Vorzugsweise aber führte ihren

Namen die große Vereinigung derer, welche sich in den freihändlerischen Stadtstaaten der Niederlande vielfach unbehindert tummelten. Insbesondere

zu Anfang deS 15. Jahrhunderts scheinen sie sich durch Uebersiedelung von Brügge nach Antwerpen von der auch für sie geltenden Obedienz deS

Stapel-Mahors gelöst zu haben und unter einem eigenen Consulat vor­ zugsweise an dem Vertriebe der englischen Tuchwaaren in den Nieder­

landen, wie allem Widerstreben zum Trotz emporgekommen zu sein.

bis nach Preußen hinaus

Im Laufe deS 16. Jahrhunderts errichteten sie

dann über die zerfallende Hansa der Deutschen triumphirend ihre Nieder­ lassungen in Emden, in Hamburg wie in der Ostsee.

So wurden sie

von Stufe zu Stufe die Träger einer nationalen Handelspolitik, bis die

monopolistische Richtung, welcher auch sie verfallen sollten, bittertsten Feinde unter den eigenen Landsleuten erweckte.

oft die er­

So lange sie

indessen mit den Staatsprivilegien der Stapler zu ringen hatten und nur langsam eine eigene Organisation entwickelten, mußten sie sich mehrfach

gegen König und Parlament ihren Weg bahnen, gewannen dafür aber

stetig an Anhang in der Heimath.

der Zeit in dem mächtigen London andere immer mehr abschlossen.

ES war natürlich, daß sie sich mit

enger zusammen und damit gegen

Auch wenn sie mittels des Tuchhandels

von der Themsestadt aus Kaufhandel und Gewerbe der Kleinstädte majo-

risiren wollten, einen großen Proceß verloren und selbst in Gefahr schwebten,

aufgelöst zu werden, obschon das Gesetz ihnen Schranken setzen mußte, so waren die Könige doch weit entfernt davon einer Gesellschaft, die sich um

Ausbreitung des englischen ActivhandelS die größten Verdienste erwarb, den Untergang zu bereiten.

Es kam vielmehr darauf an auch den Klein­

bürgern und Kleinstädtern Raum und Luft, dieselben Vortheile offen zu

halten, welche die Reichen in ihren Corporationen davon trugen.

Immer

mehr aber gewann die Einigung der abenteuernden Kaufleute an eigenen

Machtmitteln.

Die Politik der Tudors zlimal verstand eS, sie klug für

und wider auszuspielen, als so manche alte Zustände umschwangen und namentlich auch die veraltete Institution der Stapler den Zwecken, die sie

erreichen sollte, nicht mehr entsprach.

DaS traf zusammen mit dem Begiiln einer rationellen SchtffahrtSgesetzgebung.

Nur langsam hatte sich auf Grund seiner besonderen ma­

ritimen Lage die Seemacht Englands

entwickelt.

Nachdem vor Alters

einmal Richard Löwenherz auf bewaffneten Schiffen ins Morgenland ge­ steuert war und den Seedienst seines Volkes der Macht der Krone ent­ sprechend hatte ordnen wollen, dauerte es lange, bis der Staat den Schutz

der Küsten und die Sicherung der Fahrt auch nur auf den heimischen Meeren in seine Hand bekam.

litätSamt heran.

Erst seit Eduard I. wuchs ein Admira-

Stolz nahmen die Könige wohl die Superiorität über

die See in ihre Titel auf.

Allein ihr vornehmster Rückhalt blieb neben

den alten, wenig entwickelten Seebaronien der Cinque ports Schiffahrt und Rhederei der Privaten, die in den endlosen Kämpfen mit Franzosen,

Spaniern und Schotten, wie sie daö 14. und 15. Jahrhundert großentheils erfüllten, entschieden mehr mitgenommen wurden, als daß sie an

Zahl und Bedeutung hätten gedeihen können.

Nach einigen tastenden,

aber meist verfehlten Schritten unter Richard II. und Heinrich IV., durch Navigationsgesetze der englischen Flagge wirksamen Schutz zu verleihen,

betrieb Heinrich V., der Eroberer Frankreichs, nicht nur wie einst Richard I.,

auf den in der That die ältesten seerechtlichen Bestimmungen zurückweisen,

die Begründung einer Kriegsflotte, sondern war ernstlich darauf bedacht, seiner seefahrenden Bevölkerung die Wege in die Fremde hinaus zu öffnen. Denn nie hat unter uns ein Fürst gewaltet, Der auf dem Meer so kraftiglich geschaltet; Hätt' er bi« heut gelebt in diesen Reichen, So nennte mau ihn König sonder Gleichen.

So feiert sein Andenken der patriotische Dichter des Büchleins von der

englischen Staatskunst, aber freilich nachdem die kurze Herrlichkeit bereits

Englands Handelspolitik am AuSgaug des Mittelalters.

406

vorüber war und wie alles Uebrige zusammenbrach, als Schiffe aller Na­ tionen die englischen Gewässer nach Gutdünken durchfurchten und sogar in

dem engen Sunde freche Freibeuter ihr Unwesen trieben.

Vergebens rief

derselbe Pamphletist: Wahrt drum die See ringsum in jedem Fall; Denn sie ist Englands rechter Schirm und Wall. Denn England ist vergleichbar einer Stadt, Die rings umher die See als Mauer hat. Schützt dann die See den Wall um unser Land,

Und England ist geschützt durch Gottes Hand.

Seine Stimme verhallte im Sturm des Thron- und Bürgerkriegs, in welchem auch die vier das Reich umgebenden, von ihm als Eigenthum

betrachteten Meerestheile vollends friedlos wurden.

Wie jämmerlich klingt

es, wenn Eduard IV. einmal eine Acte früherer Könige nur auf die Daper

von drei Jahren zu erneuern wagte, wonach seine Unterthanen mit ihren Frachten englische Fahrzeuge bevorzugen sollten.

Das wurde anders, als Heinrich VII. sich auf den Thron schwang

und sofort begann die Schiffahrt mit neuen Gesichtspunkten aus vollstän­

digem Untergang emporzuheben.

In den Schiffahrtsacten von 1486 und

1489 wurde vorgeschrieben, daß Weine aus Guienne und Gascogne, Waid

von Toulouse nur in Schiffen,

welche

englisches Eigenthum und zum

größten Theil mit Engländern bemannt sind, eingeführt werden dürfen.

Auf das Sorgfältigste bekümmerte sich derselbe Fürst um die gesammte

Nautik wie um den Bau von Kriegsfahrzeugen.

Nur stand seine pein­

liche Sparsamkeit der Errichtung einer starken Kriegsflotte eben so hin­

derlich im Wege wie der Ausbeutung der in seinen Diensten zuerst ent­ deckten

nordamerikanischen Gestade.

Sein Sohn Heinrich VIII. schien

dann wieder durch freigebige Ertheilung von Licenzen an fremde Fracht­

führer ein durchaus entgegengesetztes System ergreifen zu wollen.

Im

Wettstreit mit dem Parlament giengen die freihändlerischen Neigungen des

Königs auf und ab, bis mit dem Jahre 1531 die entscheidende Wendung eintrat.

Sie war die Folge der activen Betheiligung an den Welthändeln,

welche dieser König wieder ausgenommen, und die in dem Augenblick, als

er gegen Papst und Kaiser England auch kirchlich auf die eigenen Füße zu stellen begann, von ihm gebieterisch verlangten sich ernstlich zur Wehr

zu setzen.

Um Schiffahrt und Seedienst, welche noch schwer darnieder

lagen, die -ganze Rhederei, welche allgemein verarmt war, wieder zu beieben und in die tüchtigste Waffe des Jnselreichs zu verwandeln, wurden zunächst die von Richard II. und Heinrich VII. erlassenen Statute aufs

Neue eingeschärft, wobei freilich immer noch die fremden mit den eng­ lischen Schiffern selbst in der Küstenfahrt concurriren konnten, weil die

letzteren

es gar zu sehr auf hohe Frachtgelder abgesehen hatten.

Um

daher fernerhin einer Vereitelung der großen Absicht vorzubeugen, hatte der sühne Minister, welcher damals dem Könige in dem gesammten Staats­

wesen neue Bahnen einschlagen half, Thomas Cromwell, ein Gesetz zur Erhaltung der Flotte ausgearbeitet, welches endlich ein bestimmt ailSge-

sprochenes Ziel anstrebte.

Es wies in seinen Motiven auf die einst so

große Zahl eigener Schiffe, auf die hohe Bedeutung einer mächtigen Pri­ vatflotte

im Dienste der Defensive und Offensive des Lande», auf die

Marine als Quelle des Wohlstands hin, da sie einer Menge Menschen nicht nur an Bord, sondern in vielen Zweigen des gewerblichen Verkehrs

Beschäftigung und Gewinn bringe. Aber es galt außerdem den Kaufhandel

vor Uebervortheilung durch habgierige Schiffsherren zu schirmen, welche ohne Frage die Hauptschuld trugen, wenn bis dahin der ftemden Flagge

immer noch zu privatem Nutzen der Vorzug gegeben wurde. Und so wurde

denn ein Maximaltarif für eine Reihe von Waaren und Frachtgütern vor­ geschrieben, wonach allein aus dem Londoner Hafen nach Flandern, Danzig,

Bordeaux, BiScaya, Portugal, Südeuropa u. f. w. oder von dort zurück

nach England verladen werden sollte.

Auch sollte fortan jede Fahrt mit

Angabe deS Namens und des Bestimmungshafens der Schiffe in Lombard­

street angemeldet und nur denjenigen fremden Kaufleuten gleiche Zollbe­ rechtigung mit den einheimischen gewährt werden, welche sich bei Verladung

ihrer Güter englischer Schiffe bedienen würden oder nachweisen könnten, daß solche schlechterdings nicht zu haben gewesen.

Diese Sätze riefen- in

aller Welt einen ungeheuren Lärm hervor, da sie die Handelsgewohnheiten der meisten seefahrenden Nationen empfindlich trafen.

Repressalien.

Es fehlte nicht an

Auch hat die wechselvolle Regierung Heinrichs VIII., als

sie genöthigt war wiederholt nach anderen Bundesgenossen auözuschauen,

das Prämienshstem bald diesem bald jenem wieder zum Opfer bringen müssen.

Allein in der Hauptsache blieb der Weg der Emancipation mit

Erfolg beschritten.

Dazu hatten der Scharfblick und die Thatkraft des

Königs es von Anbeginn nicht an geeigneten Stützen fehlen lassen.

Schon

im Jahre 1513 nämlich hatte er nach dem Vorgänge älterer korporativer Einungen Officiere und Mannschaften seiner Kriegsflotte in eine Gilde incorporirt und diese im folgenden Jahre mit den Privatbrüderschaften

aller englischen Seefahrer verschmolzen.

Das Trinity House bei London

und einige Abzweigungen in anderen Häfen seines Reichs wurden mit der Oberaufsicht über Leuchtthürme und Lootfenwesen, vor allen aber mit der Befugniß betraut, die Matrosen zu prüfen und unter dem Admiralitäts­ gerichtshof in vielen Streitigkeiten zu entscheiden.

Von hier aus wurde

allen Interessen der Schiffahrt eine Aufmerksamkeit und ein Einfluß ver-

408

Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters.

schafft, die bis heute ins Unendliche erweitert nicht abgerissen sind, wogegen

die Vorbilder von Venedig und Sevilla, welche Heinrich und seinen Be­ rathern sicherlich nicht fern lagen, bald in den Hilitergrund treten sollten. Derselbe Monarch lebte und webte in der Entwicklung der nationalen See­

macht.

Er hat nicht geruht, die Wasserwege vor Versandung zu schützen,

die Zugänge zu den herrlichen Häfen seines Reichs durch mächtige Wasser­

bauten zu sichern.

Immer wieder finden wir ihn persönlich auf den Kriegs­

werften der Themse oder in Portsmouth, wo von Jahr zu Jahr gezimmert und gerüstet wurde, ein itach neuem Akuster entstehendes Fahrzeug oder eine vollständig bemannte und mit allem Zubehör versehene Flotte vor

dem Auslaufen prüfen.

Im October 1525 gab es

bereits 26 Schiffe,

die alle erst imtct ihm gebaut worden, die Mehrzahl so groß und stattlich,

daß die Berichte der Venetianer, Spanier und Franzosen in jenen Jahren nicht genug davon zu erzählen wissen.

Die Ausbildung tüchtiger Offiziere

hat ihm Zeit seines Lebens am Herzen gelegen.

Schon haftete an einigen

Familien der beneidete Ruhm namhafte Seehelden hervorgebracht zu hahen.

Und als dann zehn Jahre später durch denselben Thomas Cromwell die

Klöster in Stücke zerschlagen wurden, so kam ein bedeutender Theil der Beute der Vermehrung der nationalen Wehrkraft zu gut.

Ueber ein halbes

Hundert vorzüglicher Fahrzeuge mit starkem Geschütz, mit einer Bedienung

jedweder Art um in Sturm und Schlacht muthig Trotz zu bieten,

ver­

schaffte dem souveränen Willett RachachtlUtg und unter ihrem starken Schutz beim auch dem einheimischen Kaufhandel, wenn auch noch so widerwillig,

Respect von Seiten vieler Nebenbuhler, die ihm von alten Zeiten her weit

überlegen gewesen.

Langsam und mit Mühe hatte sich seit.Ausgang des

14. Jahrhunderts die Politik des Schutzes hindurch gearbeitet um auf den

Grundlagen, die sie nunmehr gewann, bald kühn den Kampf mit der spa­ nischen Weltmacht aufzunehmen und später mit der NavigationSacte des

17. Jahrhunderts, dem Werke vor allen Oliver Cromwells, und dem

MercantiliSmus des 18. die Beherrschung aller Akeere an sich zu reißen.

Es waren daher bereits dieselben Mittel, kraft bereit seit Ausgang

des Mittelalters Handel und Schiffahrt den früheren Inhabern von Nord

und Süd streitig gemacht und ihnen sehr bedeutende Gebiete Schritt für Schritt abgewonnen werden konnten.

der beiden ersten Tudors

Eben wieder an die Gesetzgebung

lassen sich die entscheidenden Momente an­

knüpfen.

Als Heinrich VII. die Regierung antrat, bildeten immerdar noch die

"Niederlande den BUttclpunkt des europäischen Handelsverkehrs. der hervorragende Bestandtheil der

Sie waren

burgundischen Herrschaften, welche,

kürzlich durch Hcirath an den Erben des Hauses Habsburg übergegangen,

dem Emporstrebcn Frankreichs bereits das vornehmste Gegengewicht boten.

Alsbald geschahen denn auch Versuche die schwer geschädigten Handelsbe­ ziehungen zu ordnen und allen feindlichen und dynastischen Anzettelungen

zum Trotz nach allerlei Schwankungen unter Zug und Gegenzug auf dem Wege völkerrechtlicher Verständigung, welche hier zuerst bedeutsame Fort­ schritte machte, ein folgenreiches Vertragsverhältniß airzubahnen.

An sich

scheint der sogenannte Intercursus magnus vom 24. Februar 1496 kaum mehr zu sein als eine neue und etwas bessere Redaction alt hergebrachter Vereinbarungen und gegenseitig beobachteter Gewohnheiten.

Auf mehreren

Tagfahrten, auf welchen dieselben im Einzelnen festgestellt wurdeil, kamen nun aber die merkantilen Gegensätze vollends zur Sprache und drohten bei den in den Niederlanden damals mächtig anwogenden, vorzüglich wider

die freie Weltbewegung des Tuchhandels der Engländer gerichteten proteclionistischen Bestrebungen in einen förmlichen Zollkrieg auszuarten, in welchem thatsächlich Bruch und Wiederaufnahme der Verhandlungen län­ gere Zeit einander ablösten.

Indeß die zähe Ausdauer des Königs von

England und die unermüdliche und energische Mitwirkling der Merchant

Adventurers griffen fest in einander um der eigenen Ausfuhr, vor allen

von Tuch und Wolle, ein weiteres Operationsfeld zu erobern.

Die Kauf­

mannschaft von Antwerpen erkannte, wie sehr es in ihrem Interesse lag im Gegensatz zu Brügge, Middelburg und anderen flandrischen und seeländischen Plätzen die rührige englische Kaufmannszunft an ihre frisch ge­ deihende Stadt zu fesseln.

und

Zwar traten auch hier noch einmal politische

andere Händel störend dazwischen.

Doch gelang es dem schlauen

Tlldor, als zu Anfang des Jahrs 1506 Erzherzog Philipp auf der Fahrt nach Spanien seine Küste betrat, ihm eine Erneuerung des Vertrags von

1496 abzunöthigen, nach welcher zwar derselbe Tarif an den Zollhäusern

von London, Brügge, Antwerpen, Middelburg und Bergen angeheftet werden sollte, in Wahrheit aber die Engländer nunmehr die niederländi­ schen Märkte mit ihrem Tuche überschwemmen und der dort schwer kranken

Industrie zu großer Befriedigung der eigenen einen beinah vernichtenden Streich versetzen konnten.

Wohl wurde die Ausführung des Vertrags,

den man in Flandern den Intercursus malus schalt, kurz darauf durch

den raschen Tod des jungen Königs von Castilien, Erzherzogs von Oester­ reich und Herzogs von Burgund, und durch die Ungeneigtheit seiner Re­ gierung gekreuzt, den Tractat zu ratificiren.

Wohl mußte Heinrich VII.

bei weiteren Verhandlungen in sehr bedeutende Ermäßigungen willigen,

er vermochte aber dennoch seinen Unterthanen den Genuß niedriger Zölle und damit eine beträchtliche Freiheit des Verkehrs auf einem der aller-

wichtigsten Gebiete des Auslandes zu retten.

Englands Handelspolitik am AuSgang des MittelLlterS.

410

Da faßte nun bald nach feinem Regierungsantritt der achte Heinrich

den Gedanken die großen Vortheile des TractatS vom 9. Februar 1506

zurückzugewinnen. Rückschlägen,

Das wurde denn auch trotz allen Hemmungen

und

wie sie seine Stellung zwischen Frankreich und Spanien-

Burgund unvermeidlich mit sich brachte, das Ziel und der Kern seiner niederländischen und geradezu seiner allgemeinen Handelspolitik.

Weder

durch die Eifersucht der Dynastien noch der Völker, durch endlose Kniffe und Kunstgriffe von hüben und drüben ließen er und seine klugen Be­

vollmächtigten sich beirren.

Der Abbruch des gejammten diplomatischen

Verkehrs stand wieder einmal vor der Thür, als der große Sieg Franz I. bei Marignano und die glänzende Eroberung Oberitaliens durch die Fran­ zosen Heinrich VIII. und die Regentschaft von Burgund schleunig zusammen­

führten und jenem nunmehr der Handelsvertrag vom Jahre 1506 mit allen seinen Privilegien auf fünf Jahre gewährt wurde.

Da erhielten

denn die Engländer alsbald auch ihr Haus in Antwerpen zu unbeschränktem Besitz zurück um von dort aus über alle Concurrenz hinweg eine Thätig­ keit zu entfalten, die in den Jahren 1518 und 1519 für den Ertrag ihrer

Zölle so ergibig wurde wie späterhin kein anderes in der Regierungszeit dieses Königs.

Wolsey, damals bereits der leitende Minister, der kluge

Repräsentant der im Weltkampf zwischen Karl V. und Franz I. vermitteln­

den, vielleicht gar den Ausschlag gebenden Macht, versäumte denn auch Nichts um eine Verlängerung des Provisorium zunächst auf weitere fünf Jahre herbeizuführen um dasselbe mit Benutzung der politischen Lage wo

möglich in ein Definitivum zu verwandeln.

Allein bald durch Theil­

nahme am Kriege mit Frankreich und dann seit 1525 durch Entfremdung

vom Kaiser in Folge seines Sieges bei Pavia und des langsam heran­ ziehenden Zerwürfnisses zwischen der Clirie und Heinrich VIII., der sich

nunmehr dem Könige von Frankreich zuwendete, wurde doch die ganze Situation sehr wesentlich verändert/

Vergebens suchten die Niederlande,

mit denen überdies Differenzen wegen des Geldwesens

bestanden, sich

Neutralität zu verschaffen, vergebens zeigten sie eine ungewöhnliche Nach-

gibigkeit gegen die barschen Forderungen der Engländer.

Während der

Spanier Mendoza über die politische und commercielle Frage noch weiter

verhandelte, kam eine englisch-französische Allianz wider Karl V. zu Stande. Da verlegte nun Wolsey, wie früher so oft geschehn, den Stapel aller englischen Ausfuhr nach Calais, das Thor, den Schlüssel des JnselreichS, wie die Italiener den Ort noch immer nannten.

Eine königliche Prokla­

mation lud um die Märkte Brabants und Flanderns zu entvölkern die

Kaufleute aller Welt unter gleichen Freiheiten dorthin.

Allein es war

doch eine höchst zweischneidige Waffe, die man schwang.

Denn fast auf

der Stelle nahm in jenen Territorien, sobald ihnen das englische Tuch

entzogen worden, die Fabrication des eigenen aus tiefem Niedergang einen bedeutenden Aufschwung; hatte man doch die spanische Wolle zur Ver­

fügung, so daß die englische getrost mit einem hohen Eingangszoll belegt werden konnte.

Darüber entsprangen wie gleichzeitig aus einer bösen Miß­

ernte und hohem Steuerdruck Unwille und Erbitterung in der englischen Bevölkerung, welcher die Betheiligung am Kriege und nun gar auf Seiten Frankreichs sehr unliebsam erschien.

Dem Kaufmann war der Ausschluß

vom Centrum deS europäischen Verkehrs unerträglich; der Landmann, schon längst von einem

allgemeinen Umschwünge der Agrarverhältnisse

und neuerdings von verheerenden Seuchen unter den Schafen betroffen,

ergieng sich in den heftigsten Klagen; das Großgewerbe stellte die Arbeit ein; Handwerker und Arbeiter hungerten.

Selbst ein so gewaltiger Mi­

nister wie Wolsey sah sich daher in Kurzem gezwungen bei der Regentin

in Brüffek um einen separaten Vergleich anzuhalten.

Am 15. Juni 1528

trat Waffenruhe ein um die Maßregeln, so weit noch möglich, von beiden

Seiten rückgängig zu machen und den Intercursus wieder aufzurichten. Der alte Zustand, das Provisorium mit fünfjährigen Fristen kehrte denn auch zurück, sobald der Kaiser im Jahre 1529 zu Cambrai mit England

wie mit Frankreich Frieden machte.

Die energische Staatsverwaltung

Thomas Cromwells, der in jüngeren Jahren die merkantilen Verhältnisse in Antwerpen und Venedig hatte kennen lernen, war hierauf freilich wenig

geeignet diesen Zustand in einen dauernden zu verwandeln.

Denn bei

allem Entgegenkommen 'der niederländischen Regierung, bei Bewahrung

des Friedens selbst während des dritten spanisch-französischen Kriegs, bei

ernster confessioneller Entfremdung machte sich in den Städten von Flan­ dern und Brabant doch das steigende Bedürfniß nach Schutz deS Gewerbes und des Verkehrs geltend, während England die feinigen nicht nur von

aller Abhängigkeit zu lösen, sondern mittels der nationalen Schiffahrt der

freien Bewegung deS Gegners einen vernichtenden Stoß zu trachtete.

versetzen

Cromwell wollte den Tuchmarkt ganz nach England verlegen,

der englischen Flotte ein stetiges Uebergewicht verschaffen.

Er ist darüber

gescheitert, wie er bei einer schroffen Rückwendung seines Herrn in der

Kirchenpolitik Macht und Leben einbüßte.

gelang Englands Verkehr vom machen,

Wenn es nun aber auch nicht

niederländischen völlig

unabhängig

zu

aus der von Heinrich VIII. und den Merchant Adventurers

an dieser Stelle gewonnenen Position waren sie schlechterdings nicht wieder

zu verdrängen.

Die ältere, so viel bedeutendere HandelSmacht sah im

Commercium, in Industrie und Seewesen einen ebenbürtigen Rivalen aufsteigen, der, von den bedenklichen Rissen in der spanisch-burgundisch-

Englands Handelspolitik am Ansgang des Mittelalters.

412

deutschen Weltmacht Vortheil ziehend, in seinem Wachsthum nicht mehr zu

hemmen war. Mochten die letzten Lebensjahre des gewaltigen Fürsten einen gewissen Nachlaß der Kräfte verrathen, mochte nicht Älles glücken, was er in Krieg und Frieden in die Hand genommen, in den auswärtigen wie in den inneren Dingen, in seiner kirchlichen wie in seiner Handels­

politik hatte er Wege vorgezeichnet, deren manche alle Erschütterung über­

dauerten, welcher nach ihm Tudors und Stuarts ausgesetzt sein sollten.

Daß diese Erfolge von ganz ähnlichen Erscheinungen auf dem südund dem nordeuropäischen Handelsgebiete begleitet waren, lag in der

Natur der Sache.

So mag hier denn in aller Kürze auf den bedeutsamen

Umschwullg in den Beziehungen zu denjenigen hingewiesen werden, welche sich bis dahin den vornehmsten Antheil im Verkehr mit Britannien ge­

sichert zu haben meinten. Als unter Heinrich VII. der englische Activhandel sich auch nach dem Mittelmeer zu richten begann, Pisa als geeigneter Stapelort für die Wolle

ausersehn und mit Florenz ein Handelsvertrag geschlossen wurde, schnitt Venedig den Engländern durch Zollerhöhung die directe Beziehung der begehrten Malvasierweine ab.

Hierauf übte der König nicht nur durch

Besteuerung der Zufuhr aus venetianischen Galeeren Vergeltung, sondern

unterdrückte den Zwischenhandel, welchen dieselben zum Nachtheil seiner

Schiffahrt zwischen englischen und niederländischen Häfen betrieben. lang wurden dann durch die Kriege der Liga

Jahre

von Cambrai und der

heiligen Liga die Galeeren am regelmäßigen Besuch der atlantischen Ge­

stade verhindert.

Als aber seit 1517 die Staatsgaleeren ihre Fahrten

wieder anfnahmen, als auch wegen der Weinzölle neu verhandelt wurde, sind beide Theile schließlich in ihren Hoffnungen auf einen günstigen Ver­ lauf ohne sich von entgegengesetzten Standpunkten

von Grund aus enttäuscht worden.

abdrängen zu lassen

Auf den stets einseitigen Verkehr der

Venetianer wirkten die spanisch-französischen Kriege,

der Vorzug, den

Venedig, da die Engländer natürlich mit ihrer Wolle schwierig waren, der directen Einfuhr seiner Artikel in den Niederlanden statt nach Sout­ hampton gab, ganz besonders störend aber der Scharfblick Thomas Crom­

wells ein. stadt.

Im

Er erkannte bereits das unausbleibliche Sinken der Lagunen­

Jahre 1533 ist dann auch die letzte

englischen Gewässern erschienen.

officielle Flotille in

Das alte System nur zu empfangen

und nur zu holen ohne dem Gebenden auf dem Wege deS Vertrages ein

Gleiches zu gewähren hatte sich als völlig unergibig erwiesen.

Cromwell

dagegen hatte seinen Landsleuten die ersten Consulate int Mittelmeer er­ richtet , da sie sehr wohl begriffen, wie ersprießlich es war die begehrten

Rohstoffe der Heimath in den eigenen Fahrzeugen zu verladen und dafür

die herrlichen Produkte des Südens, deren Monopol den Venetiancrn wegen der Hergänge im fernen Orient wie im fernen Occident entglitt, selber nach Hause zu bringen.

Und mit der Hansa, welche so lange die maritime Vormacht Nord­ europas gewesen,

verhielt es sich kaum anders,

seitdem Polen und die

skandinavischen Reiche erstarkten und der spanische Weltmarkt sich zusammen­ schloß, vor jenen in der Ostsee, vor dieser in der Westsee der lose Städte­ bund abznbröckeln begann.

Heinrich VII. hat den Privilegien der Hansen

nur feindselige Gesinnung gezeigt, in seiner Gesetzgebung ihnen jede Fort­ setzung ihrer Ausnahmestellung verweigert, sie in endlosen, wiederholt zu

Antwerpen geführten Verhandllingen hingehalten, ihnen den Zwischenhandel

nach den Niederlanden ernstlich geschmälert und, wie er sich den Dänen,

den Inhabern des Sundes, näherte, das ganze baltische System durch ein Handelsbündniß durchbrochen, das er mit der Stadt Riga eingieng, die selber doch noch der Hansa angehörte.

Sein Sohn wandte dieser und den alten

Verträgen Anfangs wieder seine Gunst zu.

Um so erbitterter aber wurde

und blieb die Stimmung des englischen Volks gegen die Stahlhofskauf­ leute, namentlich als sie wegen Förderung des Lutherthums auch der Staatsbehörde verdächtig wurden.

Mehrere Congresse, zu denen man in

Brügge zusammentraf, befestigten doch nur die Erkenntniß, wie sehr von beiden Seiten seit Jahrzehnten die Schwierigkeiten herangewachsen waren,

und daß eine Verständigung auf den bisherigen Grundlagen geradezu un­

möglich wurde.

Die Danziger,

welche unter Connivenz der polnischen

Krone fast über Lübeck hinaus noch eine Weile Schiffahrt und Handel in

der Ostsee hatten leiten wollen, waren lange Zeit fast unleidlich mit Eng­ land gespannt.

Dieses aber fand in der kurzen Episode, als Wullenwever

verwegen von dem demokratisirten und protestantisirten Lübeck auö die Vorherrschaft der Hansa über den skandinavischen Norden zu elektrisiren trachtete, als Heinrich VIII. selber im Gegensatz zu Kaiser Karl V. sich

vorübergehend den deutschen Protestanten zuneigte, Verbündete in Hamburg

und Lübeck.

Er gewährte darüber den alten Privilegien des deutschen

Kaufmanns trotz dem steigenden Groll seiner Unterthanen den dringend

erforderlichen Schutz.

Bis zuletzt haben ihn seine kirchenpolitischen Rück­

sichten genöthigt, dem tobenden Verlangen nach Austreibung der Hansen ein taubes Ohr zu leihen und ihnen sogar noch in der Schiffahrtsacte

von 1540 einen Vorbehalt zu sichern.

Die Deutschen freilich hatten die

Achtung vor Bewahrung ihrer mittelalterlichen Vorrechte längst verscherzt, seitdem sie hartnäckig anderthalb Jahrhunderte hindurch den Engländern jede Gleichberechtigung in den Ostseehäfen verweigert hatten.

Auch ein

Gelingen der Dictatur Wullcnwevers hätte schwerlich den alten Respect

414

Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters.

wieder aufrichten können.

So

hatten denn die beiden ersten Tudors

bereits die Mittel und Wege ergriffen,

durch welche unter Eduard VI.

und Elisabeth denen, die am Längsten und festesten in England bevor­

rechtet gewesen, die allerdings bereits stark entwertheten Privilegien ent­ zogen werden konnten.

An dem Gange dieser überall parallelen Entwicklung werden nun die

Principien vollends deutlich, welche diese Herrscher befolgten, auf welche

in zwei Richtungen noch einmal der Blick fällt.

Zuerst wurde das

Fremdenrecht schrittweise ein

anderes.

Schon

Eduard IV. und Richard III. hatten die Fremdencolonien bekämpft, aus

dem Auslande stammenden Kaufleuten den unbehinderten Umsatz und gar die Verarbeitung ihrer Waaren zu legen, den fremdländischen Gewerks­

mann den englischen Gildern einzugliedcrn, überhaupt die Sonderstellung

dieser Leute den eigenen Bürgern zulieb unter die einheimischen Institu­ tionen zu beugen gesucht.

Allein die Selbständigkeit der Londoner, welche

den Markt auch der anderen englischen Städte an sich reißen und das Bürgerwerden der Ausländer zu unterdrücken trachteten,

brach ebenfalls

zusammen, als Heinrich VII., der Wiederhersteller einer tief erschütterten Staatsordnung,

sich wenig geneigt zeigte etwa ihnen allein aufzuhelfen.

Für. ihn stand der fiscalische Gesichtspunkt des Reichs obenan.

Nur aus

diesem Interesse setzte er die Niederlassungen der Fremden auss Spiel. Ungestüm dagegen forderten die Bürger der Großstadt jenen den Klein­

handel, die Bereitung der Waaren, das Handwerk aller Art,

darunter

auch Tücherei und Brauerei, wodurch die Güte aller Waare verschlechtert

würde, zu legen.

Niemand sollte das Bürgerrecht kaufen dürfen, wenn

er nicht als englischer Unterthan geboren sei.

Als die Londoner gar alle

von den sogenannten Galehmen gekaufte oder an sie verkaufte Waaren ohne Weiteres confisciren wollten, schritt der König wider das eigenmächtige

Verfahren ein, indem er nicht zuließ, daß bereits nach alter Gewohnheit in Umsatz gebrachten Gütern der Vertrieb

versagt würde.

Auch Hein­

rich VIII. widerstand allen Anläufen der mächtig entzündeten Eifersucht,

welche den zahlreichen Franzosen, Italienern, Spaniern, Flemingen, Deut­ schen uud Schotten nunmehr auch den Verkehr aus dem platten Lande ent­

reißen und das Wohnen in den von den korporativen Freiheiten ausge­

schlossenen Vororten Londons unmöglich machen wollten.

Offenbar hatten

jene zahlreichen Eindringlinge einen beträchtlichen Theil des Gewerbes an sich gebracht, während die ländliche Arbeiterbevölkerung, durch die Ein­

hegungen des Großgrundbesitzes vertrieben, Industrie Versorgung suchte. welche an dem

So waren

„bösen Maitagc"

ebenfalls in der städtischen

es gewaltige sociale Motive,

des Jahres 1517 blutige Excesse der

Londoner Arbeiter gegen die fremden Mitbewerber und in der längst vor­ handenen Spannung die unausbleibliche Krisis heranführten.

Wie scharf

nun auch Wolseh gegen die Uebelthäter einschritt, so sah er sich doch ge­ nöthigt, dem mächtigen Drange in der Bürgerschaft Rechnung zu tragen.

ES geschah das im Jahre 1523 durch ein Gesetz, das die fremden in den

Vorstädten sitzenden Gewerbtreibenden den englischen Zünften unterordnete,

daS Gewerbe überhaupt in die Hände der einheimischen bringen, aber dabei doch die in vielen Stücken überlegene Geschicklichkeit des Auslands

auch fernerhin verwerthen wollte.

Allein ein solcher Compromiß und

namentlich seine Ausführung konnte nimmermehr auf die Dauer befriedigen. Die einzelnen Gewerke wiederholten ihre Beschwerden aufs heftigste, bis

endlich im Jahre 1528 die Sternkammer nach vorhergegangener Enquste

durch ein Decret das Statut von 1523 erweiterte.

Nicht nur den Zünften

sollten die fremden Handwerker unterworfen sein, sondern mochten sie das Bürgerrecht erwerben oder nicht, sie sollten alle Lasten der Einheimischen tragen und dem Könige Treue schwören.

Das Ziel war, sie entweder

ganz mit der einheimischen Bevölkerung zu verschmelzen oder aber zu zwingen endlich das Reich zu verlassen.

Im Jahre 1540 wurde das Gesetz durch

Aber immer noch standen Umgehungen,

Parlamentsacte wieder erweitert.

Licenzen, alte Privilegien, vor allen das Finarizbedürfniß und die Eigen­

macht der Krone im Wege.

Kriege wurden bevorzugt.

Diese und jene, selbst Franzosen mitten im

Hütete sich der König den fremden Kaufleuten

die altgewohnten Rechte mit einem Schlage zu entreißen, so verfuhr er kaum anders mit den Gewerbsleuten.

Nur schrittweise, wie man sieht,

gestattete er seinen Unterthanen aus eigener Initiative die Schranken in

beiden Richtungen vorzurücken.

Indeß schon handelte eö sich nicht nur um

Verschärfung des seit Jahrhunderten umstrittenen Fremdenrechts, sondern

um Beseitigung auch der letzten Reste hansischer und anderer ausländischen

Freiheiten, denen, wenn der englische Staat endlich als einheitlich geschlossene

wirthschaftliche Macht dem Anslande entgegen trat, neben der ebenbürtig werdenden Selbständigkeit der Nation die Berechtigung entschwand.

Hand in Hand mit diesem Hinausdrängen fremder Concurrenz gedieh

nun aber endlich, wohin gleichfalls seit längerer Zeit verschiedene Ansätze zielten, der Schutz der nationalen Industrie.

Seit dem vierzehnten Jahr­

hundert war in England die Tuchfabrication in die Höhe gekommen. Seit

Anfang des 15. lag sie mit der niederländischen im Kampf.

Obwohl die

kteinen Territorien auf der Festlandsküste auch verschiedene HandelSgrundsätze verfolgten, so wuchs doch recht eigentlich in der Heimstätte deS Frei­

handels gegen das Ueberströmen englischer Waare eine heftige Opposition heran.

Während aber Schlag und Gegenschlag, Absperren und Zulassen

Preußische Jahrbücher. Bd.Xl.VlI. Heft 4.

28

416

Englands Handelspolitik am AnSgang des Mittelalters.

auf beiden Seiten einander ablösten, ohne doch das Eindringen der eng­ lischen Arbeit jemals wieder ;u beseitigen, geriethen in Englanh Producent und Bearbeiter der Wolle in heftige Reibung.

An dem wichtigsten Roh-

product des Landes hatten die Könige lange in enger Einigung mit den Stapelkaufleuten Preis und Zoll regulirt.

Die Industriellen dagegen

wollten zumal die besseren Wollsorten im Lande fest halten, statt dessen

aber ihr Tuch überall absetzen.

Die Merchant Adventurers waren ganz

die Leute um hierbei die Hand zu bieten.

Wie dreißig Jahre früher das

Büchlein von der englischen Staatskunst auf Beherrschung der See ge­ damit der eigene Export behauptet würde, so forderte unter

drungen,

Eduard IV. ein anderes, jenes Vorbild nachahmendes Pamphlet*),

da

Speise, Trank und Kleidung die unentbehrlichen Bedürfnisse eines jeden

seien, zum Besten der Spinner, Weber, Walker, Färber eine entsprechende Gesetzgebung.

Es geschahen denn auch einige Schritte, allein wie immer

nur für kurze Perioden, um die Ausfuhr der besseren Wollen, deS Woll­

garn und ungewalkten Tuchs

zu hemmen.

Italienern nicht mehr die Wolle zu sortiren.

Richard III. gestattete den Heinrich VII. führte ein

neues Verkaufssystem ein und suchte auch das Halbfabricat „zur Ermuthi-

gung der Handwerker, welche Scheeren und Rauhen besorgen," im Lande festzuhalten.

Sein Sohn nahm dann, auch in dieser Beziehung an den

Vorgang der Vorzeit anknüpfend, die Verkehrsfreiheit wieder auf, die denn auch während der ersten 22 Jahre seiner Regierung thatsächlich vorherrschte,

bis jene Seuche untern den Schafen und Cromwells protectionistische Rich­ tung im Gegensatz zu den Maklern und Aufkäufern auf zehn Jahre we­

nigstens den Tuchmachern und den damit zusammenhängenden Gewerken bei­

sprang.

Das Gesetz Heinrichs VII. indeß, welches die Ausfuhr unge­

rauhten, ungeschorenen, ungewalkten Tuchs verbot, blieb aufrecht und wurde

sogar von eigenen Jnspectoren streng überwacht.

Um die Wette, aber

vergebens liefen die Hansen und die Merchant Adventurers dawider

Umsonst hoben sie hervor, da das Tuchgeschäft in hoher Blüthe

Sturm.

stehe, könne man getrost der Arbeit des Auslands die letzte Zubereitung gönnen.

Noch freilich war keine Acte dauernd und ohne absichtliche Lücke.

Licenzen umgiengen dieselbe zum Vortheil der Kaufleute, zum Nachtheil des Gewerbes.

Im Interesse des Fürsten blieb bis zu einem gewissen Grade

die Ausfuhr zugelassen und war sogar der Verkauf des breiten weißen

Wolltuchs an Fremde geregelt.

Im Ganzen aber gaben Wolle und Tuch

stets den Maßstab des Schutzes auch für alle übrigen Artikel der Agri-

*) Unter dem bemerkenswerthen Motto: Anglia propter tuas naves et lanas omnia regna de salutare deberent, bei Wright, Political poems and songs II, p. 283.

cuttur und des Gewerbfleißes an,

nach welchem in England Producent

und Handwerker immer rühriger in Wettstreit mit dem Auslande ge­ treten waren. Man sieht hiernach, aus sehr verschiedenen Motiven entsprangen die

Beschränkungen der Alls- und Einfuhr. sequenz.

Viele Statute

wurden nur

Nirgends eigentlich herrschte Con­ auf Zeit verkündet und erloschen

völlig. Die wichtigsten freilich kehrten wieder und wurzelten endlich dauernd.

Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts hatten sich die Gedanken an Schutz Er trat in innige Wechselwirkung mit der Consolidirung des

befestigt.

Reichs, beide in deutlichem Gegensatz zu dem übrigen europäischen Ge­

meinwesen.

Administrativ und volkswirthschaftlich stützte er sich auf den

beständig anwachsenden politischen Einfluß des Königthums.

Gerade die­

jenigen Könige, welche keine Selbstverjüngung des alten Adels duldeten, das überwiegende Ansehn

der Kirche brachen,

die Gelüste freistädtischer

Entwicklung unterdrückten, mußten sich nach Anwandlungen, welche bereits Eduard IV. und Richard III. gehabt, wie es im Bedürfniß der Politik

lag, die Kaufleute und die Gewerbtreibenden befreunden.

Und in der

That, sie hatten gewaltige Aufgaben zu bewältigen, vor allen auch wirth-

schaftlich zu retten.

Unter den schlimmsten Nachwirkungen der Bürger­

kriege, die ein ganzes Menschenalter gewüthet hatten, waren der unauf­ haltsame Verfall der Landstädte und der kleinen Ortschaften, die Verdrän­

gung der Industrie in wenige Großstädte, wo Ausländer concurrirten, der

Nothstand unter Kleinbürgern und Handwerkern wahrlich nicht der ge­ ringste.

Ganze Generationen endlich wurden durch die gewaltige Agrar-

umwälzung, welche in den Einhegungen und der Koppelwirthschaft ganz

neue Probleme der Gütererzeugung hervorrief,

arbeitslos und brotlos.

Da trat denn Heinrich VII. fast unverzüglich mit einem Wirthschafts­

programm auf, an dessen Durchführung die von ihm ausgehende Dynastie

allen Wechselfällen drinnen und draußen zum Trotz unablässig weiter gear­ beitet hat.

Höchst bezeichnend

legt sein berühmter Biograph,

Francis

Bacon, dem Lord Kanzler Morton bei der im Jahre 1487 an das Par­ lament gerichteten Anrede die Worte in den Mund: „Des Königs fester

Wille ist eö, dem Lande Ruhe und Frieden zu sichern.

Dieser Friede

soll euch nicht bloß Blätter erzeugen, unter deren Schatten ihr ruhig und

ungestört sitzen könnt, sondern er soll euch Früchte

Wohlstands und UeberflnsseS tragen.

des Reichsthums,

Deshalb bittet der König euch, eure

Aufmerksamkeit auf die Manufakturen und den Handel des Königreichs zu lenken.

Er wünscht euren Beistand behufs Unterdrückung des Wuchers,

auf daß daS Geld wieder auf den Handel und die Gewerbe verwendet werde, ferner behufs Maßregeln, welche dem englischen Volk in Künsten

28*

418

Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters.

und Gewerben Arbeit verschaffen, das Königreich unabhängiger vom Aus­

land machen, die Unthätigkeit beseitigen und den Abfluß des Geldes für fremde Manufacte verhindern.

Aber hiebei dürft ihr nicht stehen bleiben,

sondern müßt weiter Vorsorge treffen, daß der Erlös jeglicher Waare,

welche vom Continent eingeführt wird, zum Ankauf englischer Artikel ver­

wendet werde, damit nicht ein allzu ausgedehnter Handel der Fremden den Metallschatz des Königreichs zerstöre und vermindere."

Solche Ge­

danken, einmal im Schwünge, kamen nicht wieder zur Ruhe.

Sie ge­

wannen sehr populären Klang und immer ausdrucksvollere Fürsprache, in

welcher Staatsmänner und Prädicanten einer neuen Richtung mit Männern aus dem Volke wetteiferten.

In einigen der von Thomas Cromwell ge­

leiteten Administration eingereichten Denkschriften*) heißt es bezeichnend:

„Der ganze Wohlstand des Staatsbürgers entspringt aus der Arbeit und der Thätigkeit des gemeinen Volkes.

Aufgabe des Königs ist es, zu er­

wägen, welche Gaben Gott seinem Reiche geschenkt hat und wie das Volk entsprechend der Natur und der Beschaffenheit derselben in Arbeit gesetzt

werden kann.

Die Lenker und Leiter des Staats müssen als gute Staats­

männer fortwährend darüber nachdenken, auf welche Weise man dem Volk

Arbeit geben, seinen unruhigen Geist beschäftigen und Alles, was außer­

halb des Königreichs gemacht wird, im Königreiche fertigen könne.

Das

Verfallen der Handwerke mit seinen schädlichen wtrthschaftlichen Folgen, der Ruin der Städte, das Stehlen und Betteln, die Armuth, der Mangel an Geld wurzeln in der geringen Achtsamkeit, die man der einheimischen

Arbeit schenkt.

Alle nicht nothwendigen Waaren des Auslands und alle

diejenigen, die man im Jnlande fertigen kann, muß man ausschließen, selbst wenn man für daS einheimische Product etwas mehr zahlen muß. Der Luxus, der so gerne die fremden Artikel bevorzugt, ist schädlich und

zu verpönen.

Die Rohprodukte Englands, vor Allem die Stapelwaaren,

muß man im Lande behalten und im Lande verarbeiten, nicht aber die Fremden

auf Kosten der Einmischen bereichern.

Auch

andere Maaß­

regeln müssen eventuell zur Erreichung des Ziels getroffen werden, wie die Reduktion der Wollpreise, die Verlegung des Tuchstapels nach London, die Gleichstellung der fremden Kaufleute mit den einheimischen bei den

Tuchzöllen, die Verpflanzung einer Reihe von Industrien nach England."

Wie viele der unter Heinrich VIII. erlassenen Statute geben sich als versuchsweise Ausführung dieser in weiten Kreisen des Volkes immer *) Auszüge bei Schanz I, S. 470 hauptsächlich aus: Drei volkswirthschaftliche Denk­ schriften auS der Zeit Heinrichs VIH. von England, zum ersten Mal heraus­ gegeben von Reinhold Pauli, Abhandlungen d. Kgl. Gesellsch. d. Wiffensch. zu Göttingen XXIII. 1878.

Englands Handelspolitik am Ausgang des Mittelalters.

419

lauter erhobenen, von seinen Vertretern immer fester formulirten Forde­ rungen kund.

Blieb auch die praktische Verwirklichung im Einzelnen noch

lange hinter den Erwartungen zurück, waren Umfang und Dauer der

Schutzgesetze auch noch so beschränkt, in der Hauptsache und ganz beson­ der- mittels der Ausfuhr des vorzüglichsten heimischen Fabrikats hatte

die Handelspolitik der beiden ersten TudorS der nationalen Arbeit eine breite Bahn nach dem Festlande eröffnet.

Nur ein selbständiger Wille

an der Spitze, der erleuchtete Absolutismus dieser Herrscher war dazu fähig, die unendlich aus einander strebenden und sich vielfach kreuzenden

Interessen der Unterthanen, mit denen außerdem Münz- und Geldwesen,

Preise und Löhne, der Credit im Großen und Kleinen unendlich ver­ schlungen waren, in fester Hand zusammen zu fassen und den bet der Re­

gierung wie im Volke mächtig

anklingenden nationalen Gedanken als

Banner tat politischen, religiösen, wirtschaftlichen Kampfe frei flattern zu lassen.

ES ist nicht von ungefähr, daß durch ein fast wieder souveränes

Königthum in demselben Jahrhundert, welchem England seine Befreiung

von der römischen Kirche verdankt, nicht nur die Mitwirkung der herr­ schenden Klaffen in Personal und Tendenz eine andere zu werden begann,

sondern auch die ersten Keime des Merkantilismus auffproffen, desjenigen

Systems, dem Handelsmacht, Seemacht, Industriemacht der Zukunft ent­

stammen sollten. Göttingen tat März.

R. Pauli.

Die neueste Erwerbung der Berliner Gemäldegalerie, „Neptun und Ampbittite" von P. P. Rubens. Wenn der ausübende Künstler sowohl als der kunstsinnige Laie den Jugendbildern der großen alten Meister gegenüber sich meist gleichgiltig

oder gar ablehnend verhält, so ist dies nur naturgemäß, da Beide die­ selben nur soweit anerkennen und überhaupt kennen werden, als sie sie zu

sehen gewohnt sind; den Künstler in seiner Entwicklung zu verfolgen, na­ mentlich in den Anfängen zu entdecken, wird in der Regel Aufgabe der Specialforschung bleiben müssen.

Daß der neue vom Grafen Schönborn in Wien erworbene Rubens, der namentlich durch Schmutzers großen Stich vom Jahre 1790 in wei­ teren Kreisen bekannt ist, hier in der Galerie von verschiedenen Seiten, namentlich in Künstlerkreisen jenem Schicksal der Jugendbilder verfallen

würde, hatte die Galerieverwaltung nicht erwartet; denn dieses Bild ist

durchaus kein eigentliches Jugendbild mehr: Rubens hatte, als er eS aus­ führte, schon die beiden Epochen seiner langen Lehrzeit hinter sich, die nieder­

ländische unter den Augen seiner Lehrer und die italienische mit den Ein­ flüssen der Antike und der klassischen wie der gleichzeitigen italienischen Maler.

Die erste Periode von Rubens' hervorragender selbständiger

künstlerischer Thätigkeit, aus welcher der Neptun ein durchaus charakteristi­

sches Werk ist, vertritt also offenbar nicht die Art, in welcher unsere mo­

dernste koloristische Kunstrichtung Rubens liebt und anerkennt.

Wer dieses

Gemälde nicht für ächt hält, streicht eine ganze Periode in der Entwicklung des

Meisters, in welcher er — und zwar ganz eigenhändig, da er damals erst

anfing, Schüler in seinem Atelier heranzubilden, — eine beträchtliche Zahl von Gemälden schuf, die uns zum Theil sogar urkundlich beglaubigt sind.

Jenen Angriffen gegenüber sei es gestattet, aus dem Bilde selbst den

Nachweis seiner Aechtheit wie der völlig eigenhändigen Ausführung durch Rubens zu führen.

Die Beibringung der äußeren Zeugnisse für die Her­

kunft des Bildes, welche bei dem Beweis der Aechtheit immer erst in zweiter Linie stehen werden, muß einer anderen Stelle Vorbehalten bleiben.

Vergegenwärtigen wir uns zunächst kurz den Gegenstand des Bildes.

Auf einer

schmalen Landzunge oder

einer Insel

thront Neptun,

durch den Dreizack in seiner Rechten unzweifelhaft gekennzeichnet.

blaues Gewand hat er über die Schenkel geworfen.

Sein

Unter dem Felsen,

auf welchem der Gott sitzt, quillt in breitem Strome Wasser, die Gabe

des Neptun, hervor.'

Neben ihm zur Rechten steht ein nacktes junges

Weib, welches den rechten Arm um seinen Nacken legt; ihr leuchtend rothes Gewand, das der Wind zurückgeweht hat, flattert hinter ihrem

Rücken.

Ein Triton ist vor ihr aus dem Wasser aufgetaucht und hebt

mit beiden Händen eine Rtesenmuschel zu ihr empor, aus deren Inhalt:

Perlen, Korallen, Muscheln, sie mit der Linken einen Korallenzweig aus­

wählte.

Neben dem Triton ruht

in den Fluthen, auf ein Crocodil

sich lehnend, eine hellblonde Nereide von üppigen Formen.

Ein kleiner

Amor ist beschäftigt, der jungen Göttin ein Perlband um den Arm zu legen.

Links hinter dieser Gruppe steht ein Neger mit einer Muschel auf dem Rücken,

aus welcher Wasser strömt; vor demselben sitzend ein anderer Flußgott, auf seine Urne gestützt.

Links am Ufer ein Löwe, den ein Tiger anfaucht;

zuäußerst links wird ein Nashorn sichtbar; rechts

brüllend aus dem Schilfe auf.

tallcht ein Nilpferd

In der Ferne das Meer; am Strande

ein paar Wasservögel, anscheinend Ibis.

Ueber dem Ganzen ist ein dunkel­

braunes Segel ausgespannt, der Gruppe Schutz vor der Sonne bietend.

Man pflegt die jugendliche weibliche Gestalt neben Neptun gewöhnlich Amphitrite, als die bekannteste seiner Gattinen, zu benennen; auf Schmutzer'S Stich ist sie als Thetis bezeichnet.

Umgebung

Aber mit beiden Benennungen ist die

nicht recht zusammenzureimen: das Nilpferd, das Nashorn,

der Löwe, die beiden Ibis, wohl auch — nach der damaligen Kenntniß — der Tiger weisen ebenso sicher auf Afrika wie der als Neger gebildete

Flußgott zweifellos den Niger, der vor ihm sitzende gebräunte Flußgott

sehr wahrscheinlich den Nil darstellen soll.

Nun war Neptun nach einem

Mythus, den uns Apollodor, Nonnos u. A. überliefern mit der Libye ver­ mählt.

Auf sie würde der Ort wie die Umgebung völlig passen.

Auch

kann Rubens diesen Mythus sehr wohl gekannt haben, da ihm beide Schrift­

steller in lateinischen Uebersetzungen zugänglich waren und er bekanntlich mit der Archäologie seiner Zeit aufs beste vertraut war. Das Bild stellt uns also, wie wir danach mit einiger Wahrschein­

lichkeit

aussprechen

Libye dar.

dürfen,

die

Vermählung

des

Neptun

mit

der

Die Diener des Gottes bringen seiner jungen Gattin die

Schätze des Meeres zur Morgengabe dar; und die gewaltigsten Thiere

der Reiche, welche das Götterpaar regiert, sind wie zur Huldigung um dasselbe versammelt.

Doch

die Darstellung

eines bestimmten Mythus,

selbst einer bestimmten mythologischen Begebenheit zugegeben, werden wir nach Rubens' Denk- und Anschauungsweise einen allgemeineren Gedanken

allegorisch darin verkörpert denken müssen, etwa den Segen 4>er Ueber-

schwemmungen des Nils für Aegypten oder die Vermählung des Meeres

mit Afrika. In der ComPosition als solcher wird auch der Laie Rubens keinen

Augenblick verkennen; ja in Bezug auf die Composition ist das Bild ein Meisterwerk, selbst unter den Gemälden eines Rubens.

Die Gruppirung

der Aufbau in den Linien wie in den Farbenmassen, die Vertheilung des

Lichts, die Zusammenstellung und Gegenüberstellung der Figuren unter

sich wie mit den Thieren sind aufs tiefste durchdacht.

Trotz der liebevoll

durchgebildeten Details kommt die Hauptgruppe zunächst zur Geltung. Die Majestät des Herrschers, der Gegensatz von männlicher Kraft und weiblicher Anmuth, von schüchterner Zurückhaltung in der jungen Ver­

mählten und.naiver sinnlicher Lust in der Najade, zwischen der mensch­

lichen Gestalt und den Thieren, zwischen belebter und unbelebter Natur

sind in wirkungsvollster Weise zum Ausdruck gebracht.

Welche Kühnheit,

neben die zarten Formen eines jugendlichen weiblichen Körpers eines der mißgestaltetsten Ungeheuer der Schöpfung, ein brüllendes Nilpferd, zu stellen!

Und doch dient auch dieses nur dazu, die Composition noch mehr zu be­

leben, der leuchtenden Färbung der Hauptgruppe mehr Relief zu geben. Wie man in den Formen und in der Zeichnung des Bildes Rubens nur einen Augenblick hat verkennen können, ist mir unverständlich, es sei denn, daß man ein gewisses Maßhalten in der Form, ein Anlehnen

an die Antike und an die klassischen italienischen Meister für der Art des

Rubens widersprechend hält.

Jedenfalls tragen diese Eigenthümlichkeiten

zur Schönheit des Bildes bei und machen diese grade dem großen Pu­ blikum zugänglich, welches an den vollen Formen der Rubens'schen Ge­ stalten späterer Zeit so sehr Anstoß zu nehmen pflegt, daß es darüber weder

zum Genuß noch zum Verständniß dieser Werke kommen kann.

diese strengere Formengebung steht auch durchaus nicht

Aber

vereinzelt da;

vielmehr ist sie Gemeingut der früheren Werke des Meisters, in welchen er noch unter der directen Nachwirkung seines italienischen Aufenthalts steht.

„Aber in der Zeichnung sind grobe Fehler; man sehe nur den linken

Arm der Libye" — so wirft man ein und glaubt damit einen Haupt­ grund gegen die Aechtheit oder doch gegen die eigenhändige Ausführung durch Rubens vorgebracht zu haben.

Ja, jener Arm ist in der Zeichnung

verfehlt; der Kopf der Libye sitzt in wenig glücklicher Weise auf einem kurzen Halse, die Stellung der Beine ist nicht gelungen — freilich mehr

eine Schuld

in der Wahl des Modelles.

Aber welches Gemälde des

großen Meisters wäre in dieser Richtung wohl völlig correct? nur unsere „Befreiung der Andromeda" darauf an.

Man sehe

Würde Rubens im

Stande gewesen sein, nahezu 2000 Gemälde (darunter die größere Hälfte ganz eigenhändig) zu schaffen, die an Bildfläche den Umfang der Deco-

rationömalereien selbst der flüchtigsten Barockmaler,

wie des Giordano

gen. Fa presto, weit hinter sich zurücklassen, würden seine Gemälde den Eindruck

der unmittelbaren Wiedergabe seiner großartig

schöpferischen

Phantasie machen können, würden sie das Momentane in Leben und Be­

wegung wiedergeben, wenn der Künstler zu jeder Pose einen Act hätte

zeichnen oder wenn er seine Bilder sämmtlich hätte perspectivisch aufreißen

wollen?

Die „Correctheit" der Zeichnung ist von den größten Meistern

stets dem unbefangenen Ausdruck in der Bewegung nachgesetzt worden, und

gewiß mit Recht.

Einzelne Schwächen und selbst Fehler in der Zeichnung kann man also gern im Bilde zugeben: damit ist noch nichts gegen die Originalität

desselben gesagt.

Man urtheile vielmehr nach dem Ganzen der Zeichnung:

die Figur des Neptun, der Rücken des Triton, der Oberkörper der Libye, die verschiedenen Thiere — abgesehen vom Nashorn, welches der Künstler nicht selbst kannte, und für das er Dürer'S bekannten Holzschnitt benutzte, —

sind so trefflich gezeichnet, so meisterhaft modellirt, daß sie darin über das Können auch der besten seiner Schüler weit hinausgehen; der Vergleich

mit den Werken eines Diepenbeeck, Mol, JordaenS, selbst van Dyck in demselben Saale der Galerie wird jeden Unbefangenen leicht davon über­

zeugen.

Die überraschende Lebenswahrheit in der Darstellung des Nil­

pferdes ist sogar als Grund gegen die Autorschaft des Rubens ins Feld

geführt: dasselbe sei offenbar nach der Natur gemalt, Rubens aber könne ein Nilpferd nie gesehen haben, da ein solches erst nach seinem Tode zum ersten Male nach Europa gekommen sei.

gemacht hat,

Nun der, welcher diesen Einwand

kennt offenbar Rubens' Nilpserdjagd in der Augsburger

Galerie nicht, und weiß nicht, daß dieselbe unter Rubens' Namen durch einen seiner ältesten Stecher, durch Soutman vervielfältigt worden ist.

Die Färbung des Bildes steht der Zeichnung nicht nur gleich, sie

übertrifft sie noch und ist, wie jene, durchaus charakteristisch für Rubens. Seine glänzenden Farben und die Helligkeit des Lichts, mit welchen die­ selben übergossen sind, lassen das Bild selbst neben der benachbarten hei­

ligen Cäcilie bestehen, wenn auch diese geistreiche Improvisation, die der

Künstler für seine eigene Einrichtung, muthmaßlich für sein Musikzimmer schuf, die eigenthümliche Wärme und den blumigen Ton der Farbe seiner letzten Zeit voraus hat.

Die Färbung wird, wie in jedem guten Figuren­

bilde, durch die Carnation bestimmt, welche nach der Eigenart der früheren

Zeit des Meisters durch den Gegensatz der rothen Reflexe und der blauen Halbschatten im Fleisch ihre eigenthümliche Lebenswahrheit und Leuchtkraft erhält. In den positiven Farben, dem tiefen Roth deS GetbandeS der Libhe nnd dem kühlen Blau in Neptun'S Gewände, erhalten die gleichen

Farben im Fleisch ihren Rückhalt; diese bewirken, daß die Carnation nicht bunt und hart erscheint.

Die fahlen gelblichen und schwärzlichen

Farben der Thiere, das tiefe bräunliche Segel vollenden das Farbenconcert des Bildes, dessen Harmonie und Leuchtkraft der Reinheit und Kraft

der Farben gleichkommt.

Durch das Segel, welches über einen Theil der

Gruppe Schatten verbreitet, hat der Künstler ein anziehendes Helldunkel

mit dem hellen Sonnenschein, der aus dem Bilde ausstrahlt, zu ver­

einigen verstanden. Alles das sind Eigenthümlichkeiten, die in ähnlicher Meisterschaft, in

ähnlicher Macht sich in keinem Gemälde irgend eines Schülers, geschweige eines Nachahmers finden — man

vergleiche unsere „Galathea"

von

Thulden oder die „Flucht der Clölia" von Diepenbeeck, letztere sogar nach

einer Composition des Rubens —, die aber auch den von seinen Schülern im

Atelier des Meisters ausgeführten Gemälden nicht im gleichen Maße eigen sind, wie ein Blick auf das liebenswürdige Bild der vier Kinder oder

auf die „Krönung Mariä" an derselben Wand überzeugend darthun wird.

Aber die Behandlung — ja, da sind wir bei dem Punkte angelangt, bei dem

alle Bedenken

anknüpfen.

Alle jene Schönheiten zugegeben

(und kein Unbefangener vermag sich denselben völlig zu verschließen), nie und nimmer hat Rubens so sehr durchgeführt, niemals ist seine Behand­

lungsweise so

„zahm", sein Farbenauftrag

theilen die Wortführer jener Zweifel.

Ex

so ohne „Witz" — so ur­

ungue leonem.

Gewiß!

Aber diese Behandlung ist genau so charakteristisch für Rubens, bezeugt die Aechtheit des Bildes und die eigenhändige Vollendung desselben durch

den Meister ebenso sehr als die Färbung, die Carnation und die Compo­ sition — freilich für eine ganz bestimmte, für eine frühe Epoche seiner

Thätigkeit.

Nicht eines, sondern eine ganze Reihe von Gemälden, meist in

zweifellosester Weise bezeugt, lassen sich anführen, die in gleicher oder ganz

ähnlicher Art behandelt und durchgeführt sind; und unter denselben grade eine Anzahl Gemälde, welche in der Wahl und Auffassungsweise deS Gegen­ standes wie nach der malerischen Ausführung sich als eine zusammenge­ hörige Gruppe

darstellen,

zu welcher auch unser „Neptun und Libhe"

gehört. Vorweg sei bemerkt, daß wir unabhängig von der Zeit der Ent­ stehung

unter den Werken des Rubens schon aus zwei rein äußerlichen

Gründen eine Reihe ausnahmsweise durchgeführter wie abweichend behan-

Der eine Grund ist die Benutzung der Leinwand

bellet Gemälde finden.

statt der von Rubens bevorzugten Holztafel: während der mit Oel getränkte Kreidegrund der Holztafel dem Meister eine sehr flüssige Primabehandlung

gestattete und die Frische und Leuchtkraft der Farben in wunderbarer Weise conservirte, bedingte der kalte graue Grund, mit welchem Rubens

(wie auch in unserm Bilde) die Leinwand überzog, eine mehr deckende Malweise und einen etwas kühleren Ton der Färbung.

begegnen wir aber

Insbesondere

einer Durchführung, die bis zu einer dem Meister

sonst völlig fremden Berläugnung der Pinselführung geht, in denjenigen Gemälden, in welchen der Künstler seinem Auftraggeber etwas ganz be­

sonderes

Vollendetes

liefern

wollte.

Schon

Sir

Josuah

Reynolds,

unter den Künstlern einer der glühendsten Verehrer und besten Kenner

der alten Meister, macht hierauf ausdrücklich aufmerksam.

Von bekannten

Gemälden dieser Art nenne ich das Bildniß der Elisabeth von Frankreich, Gemahlin Philipp's IV., im Louvre; die Kinder mit dem Fruchtkranz in der

Münchener Pinakothek; die Findung deS Erichtonios beim Fürsten Liechten­

stein in Wien; Simone, der die Efigema findet, im Belvedere zu Wien (ein Bild, das Rubens 1625 an den Herzog von Buckingham mit dem Bemerken verkaufte, die Figuren seien ganz von seiner Hand); die Bild­

nisse eines Franziskanergeistlichen und des Cardinalinfanten Ferdinand in der Münchener Pinakothek;

namentlich aber

ebenda das

große jüngste

Gericht, Rubens' umfangreichstes Gemälde. Bei den meisten dieser Bilder,

namentlich aber bei dem letzten sind insbesondere in Künstlerkreisen die Zweifel an der Eigenhändigkeit, wenn nicht gar an der Aechtheit sehr ver­

breitet.

Und doch besitzen wir grade für dieses Bild, welches Rubens

1617 für den Herzog Wolfgang von der Pfalz-Neuburg vollendete und

mit dem ganz außerordentlichen Preise von 3500 fl. bezahlt erhielt, das

eigene Zeugniß des Künstlers, daß er es eigenhändig ausführte.

Doch davon abgesehen ist die sorgfältige und doch ganz eigenhändige Durchführung eines der Merkmale für die erste selbständige Epoche des

Künstlers, unmittelbar nach seinen Studienjahren in Italien, d. h. etwa für die Jahre 1609—1612.

War Rubens vor seiner Reise nach Italien

unter dem Einflüsse seiner Lehrer noch schwer und kühl in der Färbung,

glatt und vertrieben in der Behandlung, metallisch in den Lichten — wie in der „Verkündigung"

im Belvedere —, so sehen wir ihn in Italien

eine Zeit lang dem überwältigenden Eindruck der großen italienischen Meister unterliegen: vor Allen (neben der Antike) dem Michelangelo und Giulio

Romano in der Formengebung und Erfindung, dem Tizian und Tintoretto im Colorit und leuchtung.

in der

Färbung, dem Caravaggio in der Be­

So — um nur aus deutschen Galerien einige Beispiele zu

nennen —

im

Darstelllmg

„trunkenen Herkules"

und

der „Glorification Herzogs

Gonzaga" in der Dresdener

Vincenz von

im „Seneca"

sowie

und

im

Galerie,

in

„Martyrium

der

gleichen

des

heiligen

Laurentius" in der Pinakothek, in der „Venus" und in der „Grablegung" bet

Fürst

Liechtenstein

Wien u. s. f.

in

Erst in den letzten Jahren

in Italien gelingt es dem Künstler, sich durch diese

seines Aufenthalts

Studien zu einem völlig eigenartigen Stile durchzuarbetten.

In der ersten

Entwicklung dieser selbständigen Kunstweise, die sich, wie oben schon er­

wähnt, etwa zwischen den Jahren 1608 und 1612 vollzieht, zeigt Rubens

noch den Einfluß der Antike wie der italienischen Meister in den maß­ volleren Formen, einer gewissen Einfachheit und vornehmen Ruhe in der Composition, heller meist prächtiger Färbung bei vollem, ziemlich kühlen

Tageslicht,

leuchtendem Colorit mit den eigenthümlich rothen Reflexen

und blauen Halbschatten,

einem sorgfältigen, fast gleichmäßig deckenden

und noch vielfach vertriebenen Farbenauftrag,

einer fleißigen, zuweilen

sogar verhältnißmäßig etwas trockenen Behandlung.

Im Vollbesitz aller

künstlerischen Mittel, im gewaltigen Schaffensdrang und in Folge der

vielen großartigen Bestellungen geht Rubens sehr bald zu einer breiten,

oft skizzenhaften Behandlung über, bei ganz flüssiger Pinselführung, geist­ reicher Benutzung der braunen Untermalung, wärmerem Ton und stär­ kerem Helldunkel.. Fast ein Jahrzehnt bleibt er dieser Behandlungsweise

treu.

Die „Befreiung der Andromeda" und das schöne Köpfchen seines

eigenen Knaben sind charakteristische. Beispiele dafür in unserer Galerie.

Während Rubens sodann im Anfänge der zwanziger Jahre mit Hülfe zahl­ reicher Schüler

die großen Btldercyklen für die Jesuitenkirche in Ant­

werpen und für die Galerie des

Luxembourg,

sowie

als

Vorlagen

für Gobelins wie die Geschichte des DeciuS Mus u. a. schafft, wivd seine

Pinselführung

auf Harmonie als

pastoser, auf Ton

Breite und Meisterschaft der

deckender,

die

Färbung

reicher,

ausgehend, selbstverständlich

Behandlungsweise.

Die

bei

mehr gleicher

„Auferweckung

deS Lazarus" und (mehr als Skizze) die kleine neu erworbene „Pietü" gehören

in

diese

Periode.

Der

letzten

Zeit

bürgerlichen

Familien­

glücks in seiner zweiten Ehe, nach Abschluß seiner diplomatischen Laufbahn,

entspricht eine letzte und zugleich die höchste Entwicklung seiner künstle­ rischen Eigenart:

Die Färbung ist so reich und blumig und dabei von

einem so goldigen Ton durchdrungen, daß es uns wie Sonnenschein aus

diesen Bildern entgegenschimmert; daS Colorit ist ganz leuchtend und ver­ schmolzen; die Umrisse erscheinen nur unbestimmt, die Schatten hell durch das Licht, welches Alles zu durchdringen scheint; der Farbenauftrag ist

körnig und fast durchweg gedeckt, obgleich der Künster offenbar möglichst naß

Die Behandlung entspricht seinen künst­

in naß zu malen bestrebt war.

lerischen Intentionen: bald ist eine Idee, ein Effect in wenigen großen

Zügen alla prima zum Ausdruck gebracht, bald hat der Künstler sein Bild Jahre lang con amore wieder und wieder übergangen; er schuf nur noch nach seinem inneren Bedürfniß und zu seiner künstlerischen Befriedigung.

Unsere Galerie besitzt in den Figuren auf der „Jagd der Diana", na­ mentlich aber in der „heiligen Cäcilie" schöne, charakteristische Beispiele dieser letzten Periode deS Rubens.

Kehren wir von diesem Ueberblick über die künstlerische Entwicklung des Meisters zu unserem Bilde zurück.

Wir hatten dasselbe — wie wir

sahen — in die erste Zeit nach seiner Rückkehr von Italien zu setzen, wahr­

scheinlich in daS Jahr 1609 oder 1610, deren charakteristische Eigenthüm­ lichkeit daS Bild Zug für Zug trägt.

An verwandten, gleich oder ganz

ähnlich behandelten Bildern derselben Zeit, die uns meist durch Docu­ mente bezeugt sind, fehlt es keineswegs, wie man behauptet hat.

Ich

nenne vornämlich Bilder öffentlicher Galerien, da dieselben am leichtesten

zugänglich sind, und da die gleichzeitigen Altarbilder mehrfach aus Rücksicht auf den Platz, für den sie bestimmt waren, eine von diesen Bildern wie auch unter sich abweichende Behandlung zeigen. Zu Dresden der „heilige Hiero­

nymus", ausnahmsweise mit dem Monogramm des Künstlers bezeichnet; aus den letzten Jahren seines Aufenthalts in Italien und daher noch sehr sorgfältig

durchgeführt,

matt

der

in

und

Färbung

im

kühl

Ton.

AuS derselben Zeit unser heiliger Sebastian, in der leuchtenden Fär­ bung entschieden von Caravaggio beeinflußt.

begegnen

führung:

Schlöffe

wir

das zu

großen

verschiedenen

Reiterbildniß

Windsor

und

deS

das

Gleich nach seiner Rückkehr

Bildnissen

von

fleißiger

Statthalters Erzherzog

schönere,

höchst

Durch­

Albrecht

anziehende

im

Portrait

deS Künstlers mit seiner Gattin Isabella, geb. Brant, in der Pinakothek

zu München.

Ferner eine Reihe von heiligen Familien und Madorrnen,

in Blenheim, St. Petersburg u. s. f., die Kreuzesaufrichtung in Antwerpen

sowie, unserm Bilde dem Gegenstände nach näher verwandt, eine Anzahl mythologischer

Darstellungen:

Venus und

Adonis in der

Ermitage;

Jupiter und Callisto in der Casseler Galerie (bezeichnet und datirt 1613); BoreaS und Oreithyia in der Galerie der Akademie zu Wien; der groß­

artige „Raub der Proserpina" in Blenheim (leider vor einiger Zeit ver­

brannt); die Findung des Erichthonios bei Fürst Liechtenstein — hier ist

die

aufrecht stehende Tochter des Cecrops fast dieselbe Figur wie die

Gattin des Neptun auf unserem

meist

gemeinsam

München,

Gemälde —; eine Reihe kleinerer,

mit Jan Brueghel gemalter Bilder im

Paris u. s. f.;

namentlich

aber

Haag,

mehrere Gemälde,

in

welche

mit den unsrigen auch inhaltlich so sehr verwandt sind, daß sie wie

zu einem Cyklus gehörend erscheinen.

Es sind dies „Neptun und Kybele"

in der Ermitage und die „vier Welttheile" im Belvedere.

Ersteres unter

dem angegebenen Titel von P. de Jode und im XVIII. Jahrhundert von Vangelisti im Kabinet Caulet d'Hauteville, anscheinend nach einer nicht unwesentlich veränderten Wiederholung deS Bildes, als „Vermählung des

Meeres mit der Erde" gestochen, führt in der Ermitage die irrthümliche

Bezeichnung „Tigris und Abundantia"; van Hasselt, welcher angiebt, das Bild sei für Palazzo Chigi in Rom gemalt, betitelt es „Triumph des Tiber­

stromes".

Ein ganz ähnliches Bild soll sich nach Angabe desselben Katalogs

auch in der Galerie zu Madrid finden. Eine mäßige Schulwiederholung des

Bildes der Ermitage, die mit dem Stiche von de Jode noch mehr überein­ stimmt, indem hier der Tiger fehlt, besitzt Lord Lyttelton in Hagley Hall,

Worcestershire.

Smith, welcher dieses Bild ebensowenig kannte als

den

Neptun beim Grafen Schönborn, nennt es irrthümlich eine Wiederholung

des letzten Bildes. Die Zweifler an der Aechtheit desselben sind nun noch einen Schritt weiter gegangen: sie haben in unserm Bilde eine Copie des Bildes

bei Lord Lyttelton vermuthet.

Im Grundgedanken mit dem „Neptun und

Libye" übereinstimmend, zeigt auch diese Composition dieselbe Auffassung

und Modellirung der Formen, die gleich sorgfältige Durchführung und Klarheit der Färbung.

Der Umstand, daß es noch nicht so farbenprächtig

und nicht so leuchtend ist, macht es wahrscheinlich, daß das Bild um

ein oder zwei Jahre früher, unmittelbar nach der Rückkehr aus Italien gemalt ist.

— DaS zweite Gemälde, die berühmten „vier Welttheile",

dargestellt in den

Götterpaaren der vier

Hauptströme,

die,

wie

in

unserem Bilde, unter einem dunklen Segel im trauten Verein zusammen­ sitzen, bezeichnet wieder einen Fortschritt unserm Bilde gegenüber, indem die Behandlung bei

gleicher Auffassung

in der Formengebung leichter,

flüssiger, die Köpfe schon individueller gehalten sind.

Ein viertes Gemälde,

die „Geburt der Venus", das sich diesen Bildern unmittelbar anschließt,

ist unS nur in Soutman's Stich und

einer Schulcopie in Potsdam

erhalten. Das aptsrov p.ev v3wp, die Versinnlichung von Macht und Segen

des Wassers in der dem Künstler geläufigen Verkörperung durch schöne menschliche Gestalten, ist der grundlegende Gedanke dieser drei Bilder, welchen der phantasiereiche Meister in drei ganz verschiedenen Formen

auszuprägen wußte.

Gemeinsam ist

diesen

drei Gemälden

auch

ein

äußerlicher Punkt, welcher wieder auf ihre etwa gleichzeitige Entstehung

in den ersten Jahren nach Rubens' Rückkehr aus Italien hinweist,

die

Freude an der Darstellung der Thterwelt, speciell der wilden Thiere

In den in Italien

und die Meisterschaft in der Wiedergabe derselben.

entstandenen Werken des Rubens begegnen wir denselben nur selten, dies der Fall ist, wie im Hieronymus zu Dresden,

und wo

Bei seiner

noch die Anschauung.

Künstler eine große

Menagerie

Rückkehr

fehlt

nach Antwerpen muß

der

Seinem Naturell

angetroffen haben.

entsprach es, daß ihn die Schönheit der Formen wie der Farbe und vor Allem

wilde

die

Leidenschaftlichkeit

den

in

Fürsten

welt gewaltig packte und zur Darstellung anreizte. wir

den

zwischen

Jahren

1610 und

1617

der

Thier­

In der That sehen

eine Reihe

großartiger

Schöpfungen, welche den Kampf des Menschen mit den wilden Thieren

zum Vorwurf haben, oder in denen letztere in Begleitung deS Menschen erscheinen, auS des Meisters Hand wie aus seiner Werkstatt hervor­ So

gehen.

die

berühmte Wolfsjagd

vom Jahre

1612

beim

Lord

Ashburton in London, die Löwenjagd in München, die Schweinshatz aus der Galerie des Königs von Holland, jetzt bei Mr. Adrian Hope in London, dasselbe Bild in Dresden, skizzenhafter und daher anziehender

— der Vergleich beider Bilder bestätigt wiederum,

was ich oben über

die Durchführung der Gemälde des Rubens gesagt habe; — ferner (der

Ausführung nach theilweise auf Schülerhände zurückzuführen) die Löwen­ jagd in Dresden und die Jagd auf Nilpferd und Krokodill in der Augs­ burger Galerie.

Rubens

als

Sodann gehört hierher namentlich das berühmte, von

„eigenhändig"

an Lord Dudley

Carleton

verkaufte Ge­

mälde des „Daniel in der Löwengrube", beim Herzog von Hamilton im Hamilton Palace: in Wahrheit mehr ein großartiger Löwenzwinger, in

dem der nackte Daniel sich etwas unglücklich ausnimmt; noch sorgfältiger

durchgeführt als unser „Neptun", aber farbloser und kühler und fahler

im Ton. Einem der neun prächtigen Löwen liegt dieselbe Studie zu Grunde, wie dem Löwen auf unserem Bilde; diese ist uns noch in einem köst­

lichen Blatte mit Zeichnungen nach Löwen in allenmöglichen Stellungen in der Albertina zu Wien erhalten.

Tiger und Leoparden als Begleiter

deS Bacchus und seiner Schaar finden wir auf den bekannten Bacchanten­ zügen

in

München,

St. Petersburg

und

Blenheim,

eigenhändigen

Schöpfungen etwa aus den Jahren 1614 bis 1617; einer der Tiger auf einem dieser Bilder ist wieder dem Tiger auf unserem Bilde ganz ähnlich.

Später hat der Künstler offenbar die Freude an der Darstellung deS aufgeregten Thierlebens verloren;

wo wilde Thiere noch bei ihm

vorkommen, pflegen sie von der Hand seiner Schüler ausgeführt und

höchstens vom Meister

„retouchirt" zu sein; so in unserer „Jagd der

Diana", etwa aus dem Jahre 1632. Ich erwähnte bereits gelegentlich, daß verschiedene der Gestalten und

Thiere auf unserem Bilde

auch auf anderen Gemälden — und zwar

immer auf etwa gleichzeitigen und ganz eigenhändigen Gemälden — gleich

oder ganz ähnlich vorkommen.

Dem füge ich noch hinzu, daß auch der

Neptun in der Haltung dem Daniel auf dem Bilde in Hamilton Palace ganz ähnlich ist, sowie daß Rubens die auffallende,

für reiche Ent­

wicklung deS Muskelspiels günstige Stellung der Beine mit besonderer

Vorliebe in Bildern jener frühen Zeit wählt; theilen"

und

im

Doppelbildniß

Geistesarmuth

so in den „vier Welt­

Künstlers

und

seiner

Gattin

Daß eine solche Benutzung derselben Modelle und

in der Pinakothek. Studien, freilich

deS

stets

beweist,

in zweckentsprechender sondern

bei

der

Veränderung keineswegs

unerhörten

Leichtigkeit

und

Schnelligkeit des Schaffens durchaus natürlich und berechtigt erscheint —

Rubens erlaubte sich sogar, Gestalten und ganze Compositionen fremder

Meister, wie Tizian, Caravaggio u. s. w. zu benutzen —, ist jedem mit

Rubens' Werken Verlauten ebenso bekannt wie die Thatsache, daß sich

dies grade in den eigenhändig vom Meister durchgeführten Gemälden findet.

Die Erhaltung des Bildes ist völlig tadellos.

Die große Hellig­

keit wie die positive Wirkung der Localfarben, welche manche Beschauer auf die Vermuthung gebracht hat, das Bild sei stark geputzt worden, ist ein

charakteristisches Merkmal fast aller Bilder des Meisters, die in den Jahren

1609 bis 1612 entstanden sind.

Auch das zweimalige Anstücken der Lein­

wand geschah durch den Meister selbst: das erste Mal wahrscheinlich, weil damals ein Stück von der gewünschten Breite nicht zu haben war, das zweite Mal aus künstlerischen Rücksichten um der Composition in der Höhe

mehr Raum zu geben.

Daß dieser Umstand allein schon für ein Ori­

ginalwerk und gegen eine Copie spricht, brauche ich nicht weiter auözuführen.

In unserem Bilde war

jene außerordentliche Helligkeit der

Färbung vielleicht auch mit bedingt durch den Platz, für welchen eS be­ stimmt war, ein Umstand auf welchen Rubens, wie wir aus seinen Briesen

wissen,

mit Recht ein ganz außerordentliches Gewicht legte.

Bei der

definitiven Ausstellung des Bildes in der Galerie wird daraus jedenfalls

Rücksicht genommen werden.

Der Einwurf,

das Bild sei von einem späteren Nachahmer, etwa

gar erst au6 dem vorigen Jahrhundert, braucht wohl nicht ernsthaft ge­

nommen zu werden.

Man braucht nur auf die kleine, fast ganz treue

Copie deS Bildes in der Galerie zu Gotha zu verweisen,

Technik nach noch aus dem XVII. Jahrhundert stammt.

die ihrer

Der Vergleich mit

diesem Bilde zeigt in schlagender Weise die Originalität und Eigenhän­

digkeit unseres Bildes und beweist auch zum Ueberfluß, daß jene An-

stückungen der Leinwand ursprüngliche sind.

Um kurz das Resultat zusammenzufassen: an der Aechtheit, an der

Eigenhändigkeit der Ausführung,

des BildeS ist nicht zu zweifeln.

an der trefflichen Erhaltung

Dasselbe fügt sich nach Zeichnung,

Färbung, Beleuchtung und Behandlung durchaus in die Reihe der Werke des Rubens aus den ersten Jahren >:ach seiner Rückkehr aus Italien

ein; nach Gegenstand Auffassung und künstlerischen Qualitäten gehört es zu einem Cyklus gleichzeitig entstandener Gemälde, welche fast sämmtlich

durch

Stiche aus der

Zeit des Rubens bezeugt sind;

endlich

existirt

keine Wiederholung, die unserem Bilde die Originalität streitig machen

könnte, vielmehr besitzt die Galerie zu Gotha eine kleine Copie aus dem XVII. Jahrhundert,

ein Zeugniß

mehr für die Originalität unseres

Bildes. — Die Frage der Werthschätzung

die Frage heraus:

des Bildes

läuft also auf

ist Großartigkeit der Composition und Gestaltung,

ist Pracht und Harmonie der Färbung, Retz des Helldunkels, Lebens­ wahrheit und Leuchtkraft des ColoritS nichts zu achten, handlung nicht breit, nicht geistreich andeutend, nicht

wenn die Be­

„witzig" ist? —

Rubens selbst war nicht dieser Ansicht, wie wir sahen; und am Ende

des vorigen Jahrhunderts,

als Schmutzer seinen Stich anfertigte (und

dies geschah nicht etwa im Auftrage des speculattonssüchtigen Besitzers, wie man behauptet hat, sondern, wie aus Schmutzer's Stecherwerk leicht

zu ersehen ist,

weil sich der Künstler zu Rubens besonders hingezogen

fühlte und daher die in Wien befindlichen. Meisterwerke desselben stach),

bewunderte man das Bild sogar grade wegen seiner außergewöhnlichen Durchführung, wegen jener „zahmen" Behandlung; ohne diese fand ein

Rubens sonst keine Gnade vor der Anschauung der Künstler jener Zeit!

Nun da glaube ich können wir getrost die Zeit das Urtheil reifen lassen:

wie die Vergangenheit, selbst die allerletzte sich aussprach, wie noch heute

im Ausland die Stimmen der Kunstfreunde und Künstler sich aussprechen,

so wird auch in Zukunft das Urtheil über das Bild in Berlin lauten. Jedenfalls wird die Galerieverwaltung, unbeirrt durch die Stimmungen des

rasch wechselnden Kunstgeschmacks nach wie vor nach den Bedürfnissen der Galerie, welche die Entwickelungsgeschichte der Malerei veranschaulichen soll, wie nach den Gesetzen der Schönheit und des Geschmacks in der Vermeh­

rung der Sammlung fortfahren.

Daß sie die koloristische Richtung in ihrer

Berechtigung nicht vernachlässigt, dafür braucht — von dem Ankauf der

Sammlung Suermondt ganz zu

schweigen — nur auf eine Reihe der

neuesten Erwerbungen wie das Martyrium der heiligen Agathe von Tiepolo, die kleine Pieta von Rubens, die Bilder von Pieter de Hooch, Frans Hals,

Bellotto, de Heem, Kalf u. a. m. hingewiesen zu werden. Ist es ohne Zweifel die Pflicht einer Galerieverwaltung, bei der Vermehrung der Sammlung

Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1I. Heft 4.

29

Die neueste Erwerbung der Berliner Gemäldegalerie,

432

auf die Strömungen des Kunstgeschmacks und der modernen Kunst innerhalb

ihrer Berechtigung Rücksicht zu nehmen, so ist es doch ebensosehr auch ihre Aufgabe,

sich von der Einseitigkeit

und

Ausschließlichkeit aller solcher

wechselnden Strömungen frei zu halten — freilich keine erfreuliche Auf­

gabe, da man dabei, wie wir mehrfach erfahren mußten, Gefahr läuft, von

der Tagespresse als angeblicher Ignorant an den Pranger gestellt zu werden.

Daß aber ein Benutzen vorübergehender Vorurtheile und Antipathien auch pecüniär für eine öffentliche Sammlung seine Vortheile bringen kann, dafür brauche ich mich aus unserer Praxis nur auf zwei Erwer­ bungen der Galerie aus der Sammlung Munro in London zu beziehen,

deren Versteigerung 1878 im Allgemeinen übertrieben hohe Preise, selbst für geringe und falsche Bilder erzielte:

Das große Altarbild von G. B.

Tiepolo, das Martyrium,dcr heiligen Agathe darstellend, erreichte nicht ganz 100 Pfd. Sterl., weil der Gegenstand dem englischen Publikum zu

.shocking“ war; und der heilige Sebastian von Rubens, ein urkundlich

von diesem an den englischen Gesandten, Sir Dudley Carleton, ver­ kauftes und

von ihm dabei noch Größe und Gegenstand beschriebenes

ausdrücklich

als eigenhändig bezeichnetes Gemälde, ging noch für eine

etwas geringere Summe fort, des Meisters fast ein

stimmig

weil man in London dieses Jugendwerk für eine Schülerarbeit erklärte.

Die

Marmorstatue des jugendlichen Johannes von Michelangelo, der fast seit einem Jahre in den Räumen des Museums ausgestellt ist, ohne daß die hie­

sige Presse m. W. ein Wort darüber verloren hätte, würde im Preise für un­ sere Museen unerschwinglich gewesen sein, hätten nicht die Bildhauer auf

dem Michclangelo-Congreß in Florenz 1875 fast einstimmig gegen die

Aechtheit der Statue sich ausgesprochen.

Dieses schöne Jugendwerk deS

gewaltigsten unter den Bildhauern der christlichen Zeit ist so zugleich ein

interessantes Denkmal richtiger Ausnutzung solcher Vorurtheile und Irr­ thümer in den Kunstanschauungen des Tages.

Die heftigen Angriffe verschiedener Berliner Zeitungen gegen daS Bild haben demselben jedenfalls eine Aufmerksamkeit seitens des Publikums zuge­

zogen, wie bisher keinem anderen Ankauf der Gemäldegalerie.

Ich glaube,

die Galerieverwaltung wird das schließlich nicht einmal zu bedauern haben; denn die Schönheiten deS Bildes sind zu augenfällig und zu leicht ver­ ständlich, als daß sich ihnen das Publikum auf die Dauer sollte verschließen

können, und daß es nicht zu der Ueberzeugung kommen sollte, die Galerie sei durch diesen Ankauf um ein schönes und für den Maler charakteristi­

sches Meisterwerk bereichert worden.

Und ist dieser künstlerische Werth

deS Bildes anerkannt, so wird auch der Preis von 200,000 Mark nicht

mehr angefochten werden können.

Ein hervorragendes Werk von Rubens

ist feit Jahrzehnten, seit die Preise für Kunstwerke sich so außerordentlich

gesteigert haben, nicht zum Verkauf gekommen, eS sei denn daß sich die

Angabe bestätigt, Lord Ashburton habe seine Wolfsjagd, ein Gemälde, das der Zeit der Entstehung wie bet Behandlung nach unserem Bilde ganz nahe steht, für eine halbe Million KrancS nach Paris verkauft. Zwei gute Brustbilder von Rubens erstand das Brüffeler Museum vor

einigen Jahren um 135,000 Francs.

Das unter dem Namen „cbapeau

de paille“ bekannte Bildniß zahlte Sir Robert Peel schon im Jahre 1823 mit 82,500 Francs.

Einige Bilder, welche unter Rubens' Namen in den

letzten Versteigerungen (Demidoff und Wilson) Preise von 35—85,000 Francs erzielten, waren nur Copien oder Atelierarbeiten, wie denn überhaupt

auf diesen Versteigerungen, obgleich einzelne Gemälde von Rembrandt, Hobbema, Hals u. A. auf 80—150,000, ja auf 200,000 Francs ge­ steigert wurden, kein tadellos erhaltenes Bild ersten Ranges sich befand.

Berlin 1. April 1881.

Bode.

Das neue Zeitalter der Attentate, daS der moderne Radikalismus

über Europa heraufführt, zeichnet sich vor seinen Vorgängern durch die

nackte Häßlichkeit des politischen Verbrechens aus.

Unter den zahlreichen

Fürstenmördern der Epoche der Religionskriege finden sich doch einige, deren glühende Schwärmerei das Herz besticht und selbst den Nüchternen

leicht zu dem alten Irrthum verleiten mag, als ob ein heldenhafter Zug in der Seele jedes ungewöhnlichen Missethäters lebe.

Aber was anders

als Ekel und Abscheu läßt sich empfinden vor der öden Nichtigkeit jener

verlebten, glaubenlosen Mordgesellen, die in unseren Tagen die Brand­ fackel

über Frankreichs Hauptstadt

schwangen, die ihre Hand

erhoben

gegen den Wiederhersteller des deutschen Reichs, die den menschenfreund­

lichsten der russischen Kaiser, den Befreier von Millionen Leibeigner wie ein gehetztes Wild aus einer Falle in die andere lockten, bis er endlich ihren feigen Waffen unterlag?

Unter den denkbar gefährlichsten Verhältnissen besteigt Czar Alexan­ der III. den Thron; selbst die Aufgabe, welche einst dem jungen Ludwig XVI. oblag,

einer

war kaum schwieriger.

Der neue Kaiser sieht sich bedroht von

mächtigen Verschwörung, die das Handwerk der Zerstörung als

Selbstzweck betreibt und mit ihren unsichtbaren Fäden offenbar bis in die Nähe des Thrones, vielleicht in den Kreis der kaiserlichen Familie

selbst hineinreicht.

Die Mittel der Ueberwachung und Unterdrückung reichen

allein nicht mehr aus; aber auch der Weg der Reformen scheint fast ver­ sperrt.

Alle Völker Westeuropas haben erst die Vorschule der altständischcn

Institutionen und der communalen Freiheit durchlaufen bevor sie zu dem modernen Repräsentativstaate übergingen.

Rußland dagegen hat niemals,

seit dem Einbruch der tartarischen Eroberer, irgend eine Form gesetzlicher

Landesvertretung gekannt.

Jene Landesversammlungen

des

sechzehnten

und siebzehnten Jahrhunderts, deren eine das Haus Romanow auf den Thron erhob, waren allesammt Geschöpfe der Roth, völlig, formlos und

unrechtmäßig; darum ließen sic auch gar keine Spur in dem Gedächtniß

der Nation zurück.

Jeder noch so bescheidene Versuch, die Nation zur

Theilnahme an der Leitung

des Staates

heranzuziehen,

erscheint

auf

diesem Boden als eine radikale Neuerung, ohne Wurzeln im historischen Leben.

Da das Bürgerthum eine verschwindende Minderzahl bildet und

die dumpfe Masse der Bauern

aller politischen Gedanken baar ist,

so

müßte der Schwerpunkt der reichsständischen Körperschaft — wie immer

man

sie sich denken mag — unvermeidlich bei dem Adel liegen, und

grade dieser Stand hat geringes Interesse an den Reformen, deren das Reich vor Allem bedarf.

Beseitigung der zahllosen unnützen Pensionen

und Sinecuren; Beschränkung der polizeilichen Willkür und strenge Controle über den Staatshaushalt, so daß die veröffentlichen Budget-Anschläge einigermaßen mit der Wirklichkeit übereinstimmen und das Volk wieder

Vertrauen gewinnt zu der Rechtschaffenheit der Regierung; Säuberung des

Beamtenthums im Heere und im Civildienste, wobei sich unausbleiblich Herausstellen muß, daß der Fleiß, das Talent und die Ehrlichkeit der ver­ haßten Deutschen dem Staate unentbehrlich sind; Ausbildung der neuen

kreisständischen Institutionen, deren Wirksamkeit bisher durch die Unlust des BeamtenthumS und des Adels verkümmert wurde; Pflege deö Volks­

unterrichts und gründliche Umgestaltung der höheren Lehranstalten, deren hohle Scheinbildung heute dem Nihilismus den Boden düngt; Fortführung

der agrarischen Gesetze, so daß der altslavische Gemeinde -Communismus

aufgehoben und der Bauer ztim freien Eigenthümer wird: — dies Alles sind Reformen, deren Nothwendigkeit ein einsichtiger absoluter Herrscher

offenbar leichter einsehen kann als ein aristokratischer Reichstag.

Es ist

das große Räthsel der russischen Zukunft, ob die wilde Zerstörungslust de.r Nihilisten der Krone die Zeit gönnen wird, den über lang oder kurz un­

vermeidlichen Uebergang zur reichsständischen Monarchie durch solche Maß­ regeln ruhig vorzubereiten.

Eine daheim so schwer bedrängte Regierung kann nicht wünschen sich

in kriegerische Abenteuer zu stürzen.

Allem Anschein

nach

wird

der

Petersburger Hof wieder einlenken in die Bahnen des Dreikaiserbünd­ nisses, die er niemals hätte verlassen sollen.

Die Doctrin der Pansla-

visten von dem unausbleiblichen Kampfe des SlaventhumS und des GermanenthumS ist ja doch nichts weiter als die neu jener ländergierigen alten Cabinetspolitik, natürlichen Feind des Nachbars

betrachtete.

aufgeputzte Weisheit

die jeden Nachbar

Für

als den

einen Staat der sich

nicht selber mit geheimen Eroberungsplänen trägt, bleibt ein starker und friedfertiger Nachbar der willkommenste aller Bundesgenossen.

Durch die

Freundschaft der beiden anderen Kaisermächte wird Rußland unangreifbar

und in den Stand gesetzt, seine ganze Kraft den Arbeiten der inneren

Die drei Ostmächte sind heute auch darum auf ein­

Reform zu widmen.

ander angewiesen, weil sie einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen haben: jene heimathlose Verbrecherbande, welche die Grundlagen unsrer gejammten

Gesittung bedroht.

Bereits hat der Deutsche Reichstag die Reichsregierung

ersucht, durch internationale Verhandlungen dahin zu wirken, daß der politische Mord von allen Mächten als das was er ist, als ein gemeines Verbrechen behandelt werde.

Schon die Theilnahme der Polen an diesem

Beschlusse beweist, daß dem Reichstage nichts ferner lag als die Absicht, das Ashlrecht Englands und der Schweiz irgend zu beschränken.

Die Zeiten

Metternichs sind vorüber; alle Parteien ohne Ausnahme wissen heute aus

schmerzlicher Erfahrung, daß unser von gewaltigen inneren Gegensätzen zerrissener Welttheil einer friedlichen Zufluchtstätte für geschlagene poli­

tische Kämpfer bedarf.

Die Absicht war lediglich, einen Rechtsgrundsatz

zur allgemeinen Anerkennung zu bringen, der dem sittlichen Bewußtsein

christlicher Völker unzweifelhaft entspricht und in die Gesetzgebung der meisten Staaten schon längst ausgenommen worden ist.

Gleichwohl ist es

überaus fraglich, ob dieser gerechte und maßvolle Vorschlag die Zustim­ mung der europäischen Mächte finden wird.

In England wird voraus­

sichtlich die insularische Selbstgenügsamkeit, in der Schweiz die republi­

kanische Phrase stärker sein als das Gefühl für die gemeinsamen Pflichten der civilisirten Staaten, und am Allerwenigsten wird die französische Re­

publik, die vor Kurzem noch den Kaisermörder Hartmann unter ihren Schutz nahm, ihre Hand bieten zur Verfolgung des politischen Mordes.

In dem Verhalten der Franzosen seit der Katastrophe des 13. März zeigt sich keine Spur von dem Takte und der Gewandtheit, deren unsere

Nachbarn sich so gern rühmen.

Es schien wirklich, als ob alle Parteien,

wetteifernd in Verblendung, ihr Bestes thäten um den Erben Alexanders II.

von einem französischen Bündniß abzuschrecken.

Während die Männer

der Commune die Schreckenskunde aus Petersburg mit wieherndem Ge­

lächter begrüßten, drängten sich die Organe der gemäßigten Parteien mit

plumpen Schmeicheleien, die den neuen Czaren fast noch mehr verletzen

mußten, an Kaiser Alexander III. heran und sprachen die Hoffnung aus, nunmehr werde Rußland den Franzosen die Kastanien des RachekriegeS

aus dem Feuer holen. blieben; das außer Frage.

Die Folgen solcher Thorheit sind nicht ausge­

ersehnte französisch-russische Bündniß

steht vorläufig ganz

Trotzdem scheint der Weltfriede noch keineswegs gesichert;

denn der Augenblick rückt näher, da der Führer der Kriegspartei, Herr

Gambetta die so lange erstrebte Herrschaft über Frankreich antreten muß, wenn er sich

nicht

Mac Mahon ist

vernutzen

die

will.

Nebenregierung

Seit dem Sturze des Marschalls

Gambettas

für die rechtmäßige

Staatsgewalt immer unerträglicher geworden.

Soeben wieder hat der

künftige Dictator den Präsidenten der Republik zur Nachgiebigkeit ge­

zwungen in jenem seltsamen, uns Deutschen kaum begreiflichen Streite um die Listenwahl.

Wie anders spiegelt sich doch das Bild der politischen Freiheit im Geiste der verschiedenen Nationen wieder!

klagten

von jeher

die Unterdrückung

Alle germanischen Völker be­

der Minderheit als

die häßliche

Schattenseite deö Repräsentativshstems; Hare und Mill und viele deutsche Theoretiker haben sich abgemüht an Vorschlägen zur Beseitigung dieses Uebelstandes; in einzelnen Staaten Nordamerikas ist bereits ein neues Wahlverfahren eingeführt worden, das der Minderheit zu ihrem Rechte

verhelfen soll. heit als

In Frankreich dagegen gilt die Vernichtung der Minder­

der Triumph der Freiheit.

Immer sobald die Nation einen

neuen politischen Gedanken ergriffen hatte, strebte sie unaufhaltsam jede Kraft, welche dieser Idee widerstand, zu unterdrücken; nur in der unbe­

dingten, folgerechten Einheit findet der nationale Geist seine Befriedigung.

Wie das pays legal des Bürgerkönigthums die Bauern und den Adel mundtodt machte, wie der Bonapartismus das gebildete Bürgerthum von

dem politischen Leben ausschloß, so scheint den heutigen Gewalthabern der Sieg der Republik nur dann gesichert, wenn die Partei Gambettas mit

überwältigender Mehrheit das Abgeordnetenhaus beherrscht.

Für diesen

Zweck bietet die Listenwahl unter der Leitung der gambettistischen Präfekten das sichere Mittel, und sie wird, da das Ministerium bereits nachgegeben

hat, wahrscheinlich auch von den Senatoren und Deputirten angenommen

werden, zumal wenn man öffentlich über den Gesetzentwurf abstimmt; denn

so schwer lastet die Macht Gambettas schon auf den ängstlichen Gemüthern, daß viele Gegner des Entwurfs sich scheuen ihre Ueberzeugung öffentlich

zu bekennen.

Wird die Listenwahl eingeführt und dann der Mann der

Zukunft in sechzig Departements zugleich auf den Schild gehoben, so steht

ihm der Weg zur Gewalt offen; aber schon heute scheint es sehr zweifelhaft, ob der Dictator, einmal am Ruder, noch im Stande sein wird den hoch­

gespannten Erwartungen der Nation zu genügen.

Gewiß lebt die Hoff­

nung auf den Rachekrieg in den Tiefen jedes französischen Herzens, und

Dank den maßlosen Verleumdungen unserer Oppositionspresse wird die innere Festigkeit des Deutschen Reichs von den meisten Franzosen unter­

schätzt; aber die Furcht vor der Ueberlegenheit des deutschen Heeres ist noch immer unvermindert, und selbst einem Gambetta wird es nicht leicht fallen die Nation zu einem aussichtslosen Kriege fortzureißen, wenn nicht zuvor die Gruppirung der europäischen Mächte sich vollständig verschoben hat. Bisher hat der Prätendent zwar in allen Fragen des inneren StaatS-

lebens regelmäßig seinen Willen durchgesetzt, aber die auswärtige Politik des Landes nicht zu bestimmen vermocht.

Seine kriegerischen Reden vom

letzten Herbst erweckten mehr Bestürzung als Beifall.

Unbekümmert um

Gambettas Widerspruch rüstet sich die'Regierung heute zum Kampfe gegen Tunis:

ein wohlberechtigtes, durch Frankreichs natürliche Interessen ge­

botenes Unternehmen, das die geheimen Pläne der Kriegspartei durchkreuzt.

Die Haltung der Republik gegen das Ausland ist während- der letzten drei Jahre musterhaft besonnen geblieben, sie hat wesentlich dazu beigetragen, daß

die unaufhaltsame Zersetzung des osmanischen Reichs bisher ohne Störung

des allgemeinen Friedens verlaufen ist. Heute stehen die orientalischen Dinge abermals vor einer Krisis. Die unglücklichen Griechen ernten jetzt die Früchte ihrer alten Unterlassungssünden.

Berleitet durch Englands treulose Zu­

reden und durch ihren ligenen Haß gegen Rußland haben sie während des letzten Türkenkrieges den Augenblick versäumt,

da ein großer Erfolg in

sicherer Aussicht stand, und stehen nun vor der peinlichen Wahl, ob sie sich mit einem halben Gewinne begnügen oder ohne Bundesgenossen einen

fast hoffnungslosen Kampf gegen die türkische Uebermacht wagen sollen. Alle Rücksichten der Klugheit sprechen für den Frieden, für die Annahme der wohlgemeinten Vermittelungsvorschläge der Großmächte.

Die kleine

Nation ist seit ihrer Befreiung zu einem friedlichen Handelsvolke ge­ worden, sie besitzt nicht mehr die kampfgewohnten Klephten des Unab­ hängigkeitskrieges und hat guten Grund die Erfüllung ihrer vollberechtigten

größeren Ansprüche auf eine günstigere Zeit zu vertagen, wenn sie heute ohne Schwertstreich den größten Theil von Thessalien und ein Stück von Epirus gewinnen kann.

In dem Verfahren der Großmächte liegt eine

Anerkennung der Rechte des Hellenenthums, die für Griechenlands Zukunft

fast noch werthvoller ist als der Landgewinn selbst; Europa betrachtet den Sultan nicht mehr als einen legitimen Herrscher, sondern verlangt von ihm die Abtreiung einer Provinz an einen Nachbarn, mit dem er nie

Krieg geführt hat — lediglich weil die Fremdherrschaft in Thessalien un­

erträglich geworden ist. nach

so

Aber wer darf sagen, ob es noch möglich ist,

schweren Geldopfern

und Rüstungen die aufgeregte nationale

Leidenschaft der Hellenen zurückzuhalten?

Bricht der Krieg im Thale des

Peneus aus, so kann die Flamme deS Aufruhrs vielleicht auch in das wundersame Staatsgebilde, das sich Ostrumelien nennt, Hinüberschlagen und der Kampf um die letzten Trümmer deS Türkenreichs von Neuem

beginnen. — Erst die Nachwelt wird ganz erkennen, wie viel wachsame Umsicht, wie viel weise Mäßigung der Leiter der deutschen Politik hat aufbieten müssen um in einer solchen Zeit, da der Dauphin der französischen Republik beständig

lauernd auf dem Sprunge steht und im Osten eine nene Staatengesell­ schaft emporsteigt, unserem Laterlande durch ein Jahrzehnt den Frieden zu

erhalten.

Sie wird es nicht glauben wollen, daß in solchen Tagen eine

starke Partei ihre ganze Weisheit in dem Rufe „fort mit Bismarck!" zu­

sammenfassen konnte.

Aber die Mehrheit der Nation stimmt in den

Schlachtruf des Parteifanatismus nicht ein.

Die conservative Strömung,

die seit drei Jahren unser Volk durchzieht, hält noch immer an, mit un­ gebrochener Kraft.

Es bedeutet nicht viel,

daß der Reichstag von den

Steuervorlagen der Regierung vermuthlich nur die Börsen- und vielleicht auch die Stempelsteuer annehmen wird.

Der Reichskanzler selbst legt auf

diese Entwürfe offenbar nur geringes Gewicht.

Den Mittelpunkt seiner

Steuerreformpläne bildet das Tabaksmonopol, und mit diesem Gedanken beginnt die öffentliche Meinung sich mehr und mehr zu befreunden. drei Jahren schrieben wir in diesen Blättern:

Vor

„Nur wenn mit voller

Sicherheit erwiesen wird, daß keine andere Form der Tabaksbesteuerung

für uns ein ausreichendes Ergebniß verspricht, nur dann läßt sich das radikale Mittel des Monopols vertheidigen*)." damals verlangten, ist seitdem erbracht worden.

Der Beweis, den wir

Jedermann giebt zu, daß

die neue Tabakssteuer, trotz ihrem geringen Ertrage, nicht mehr erheblich

erhöht werden kann; so wird denn, da nirgends ein anderer ausführbarer Vorschlag aufgetaucht ist, zur Herstellung des Gleichgewichts im Reichshaus­ halte schließlich nichts Anderes übrig bleiben als jenes radikale Mittel.

Inzwischen hat die Regierung zwei wichtige Erfolge errungen.

Der

katholische Clerus beginnt den Widerstand gegen das Staatsgesetz aufzu-

geberi.

In zwei Bisthümern ist bereits auf Grund der Mai- und Juli­

gesetze die regelmäßige kirchliche Ordnung wiederhergestellt; und die Sprache der beiden neuen BiSthumsverweser läßt nichts zu wünschen übrig.

Hält

der Staat mit zäher Geduld an seinem guten Rechte fest, weist er uner­

bittlich, wie soeben noch in Trier, jeden Winkelzug der Ultramontanen zurück, so kann die Beilegung des langen Streites nicht ausbleiben.

Die

allffällig veränderte Haltung des Centrums beweist, daß Papst Leo XIII.

nicht gewillt ist in die Fußtapfen seines Vorgängers zu treten. — Auch die Hansestädte haben endlich beschlossen, den Eintritt in das deutsche Zoll­ gebiet mindestens in Erwägung zu ziehen.

Noch läßt sich nicht mit Sicher­

heit erkennen, ob dieser ersten Nachgiebigkeit die Vereinigung folgen wird. In: schlimmsten Falle bleibt dem Reiche noch ein letzter, vollkommen recht­

mäßiger Weg um den Anschluß der Städte zu erzwingen.

Da die Be­

stimmung der Zollgrenzen dem Bundesrathe allein zusteht, wie dem Kaiser *) Preußische Jahrbücher 10. Marz 1878.

das Dislokationsrecht über die Garnisonen, und der Reichstag in solchen

Fällen lediglich die Kosten zu bewilligen hat, so ist der BundeSrath un­ zweifelhaft berechtigt, die Hauptzollämter in Hamburg und Brechen aufzu­

heben und den beiden Städten zu überlassen, wie sie sich ihre Freihäfen selber sichern wollen.

ES wäre ein Jammer, wenn unter Bundesgenossen

Bei gutem Willen hüben

der Gebrauch so scharfer Waffen nöthig würde.

und drüben muß die Verständigung gelingen; dem Reichstage wird kein Geldopfer zu schwer dünken um unseren beiden größten Häfen den Bestand

ihres freien Zwischenhandels zu sichern. Mit der Novelle zur Gewerbeordnung

und dem Gesetze über die

Uufallsversicherung versucht die Reichsregierung endlich die Versprechungen

einzulösen, welche bei der Berathung des Socialistengesetzes von allen

Parteien im Wetteifer gegeben wurden; sie versucht den berechtigten Be­

schwerden der arbeitenden Klassen abzuhelfen, die Arbeiter emporzuheben aus dem Zustande der Hilflosigkeit und Vereinzelung, dem sie unter der

Herrschaft des freien Wettbewerbs so leicht verfallen.

Begreiflich genug,

daß die Urtheile über die Reichsversicherungsanstalt noch weit auseinander

gehen; der Gedanke ist neu und kühn, er widerspricht manchen tief einge­

wurzelten socialen Gewohnheiten.

Bei reiflicher Prüfung wird sich doch

herausstellen, daß der Plan der Regierung im Wesentlichen das Rechte

trifft.

Der Schutz gegen Unfälle eignet sich nicht für eine gewinnbringende,

spekulative Geschäftsthätigkeit;

und zwingt der Staat die Unternehmer

und die Arbeiter zur Versicherung, so. ist er auch verpflichtet, das Ver­

sicherungsgeschäft selbst zu besorgen — mindestens zur Aushilfe, wenn die Kraft der Privat-Unternehmungen nicht ausreicht.

Die Frage, wie

weit die Wirksamkeit des Staates unmittelbar in das sociale Leben ein­

greifen dürfe, kann nicht für alle Staaten in der gleichen Weise beant­ wortet werden.

Die Doctrin darf sich nicht anmaßen, dem Staate ein-

für allemal ein Bis hierhin und nicht weiter! zuzurufen;

die Grenze

seiner Thätigkeit bestimmt sich nach dem Maße der geistigen Kräfte,

worüber er verfügt, und nach dem Ansehen, dessen er genießt.

Der

deutsche Staat besitzt das beste Beamtenthum der Welt, und trotz aller

Parteikämpfe ist den Massen das Vertrauen zu seiner Gerechtigkeit und seinem Wohlwollen noch nicht abhanden gekommen; darum darf er auch ohne Gefahr sich an manche socialpolitische Aufgaben wagen, deren Lösung andere Völker der Gesellschaft selbst überlassen.

Die Reichsregierung gesteht selbst, daß sie mit diesem Gesetze nur den ersten Schritt gethan hat auf formen,

dem Wege der socialpolitischen Re­

die in den nächsten Jahren unsere Gesetzgebung überwiegend

beschäftigen werden.

Zur Zeit des norddeutschen Bundes und noch in

den ersten Jahren des deutschen Reichs, so lange die freie Bewegung der

wirthschaftlichen Kräfte unserem zersplitterten und gebundenen Volke erst errungen werden mußte,

erschien der Liberalismus als die produktivste

Partei und stand im Vordergründe unseres nationalen Lebens.

Heute,

da die Nation die Uebelstände des Systems der freien Concurrenz zu

erkennen anfängt, tritt die Macht des Liberalismus naturgemäß zurück. Seine freieren Köpfe beginnen ihre alte Doctrin zu prüfen und nähern

Wer aber zu solcher Selbst­

sich dadurch den conservativen Anschauungen.

kritik nicht fähig ist, wird irr an der verwandelten Zeit und verfällt der pessimistischen Verbitterung.

Bei solcher Verstimmung blüht der Weizen

der unfruchtbarsten aller Parteien, der Fortschrittspartei; wer sich irgend ent­ täuscht und geärgert fühlt wendet sich diesem Banner zu. nisten

sind schon

in die Trabantenschaar

Die Secessio-

des Fortschritts

eingetreten;

die erklärten Feinde des Reichs, die demokratischer Particularisten der süd­ deutschen Volkspartei schließen sich der Politik der reinen Verneinung an;

die Sonderinteressen der Hansestädte, die doch sicherlich mit dem Libera­ lismus nicht das Mindeste gemein haben, finden im Lager der Fort­ schrittspartei und ihrer Genossen die wärmsten Verehrer.

Liberale warnen bereits vor den Gefahren

Selbst gemäßigte

einer unitarischen Politik,

während auf der anderen Seite manche conservative Particularisten ehr­ lich ihren Frieden mit dem Reichskanzler geschlossen haben, weil sie ein­

sehen, daß allein das Reich uns Deutschen den Bestand fester politischer Ordnung verbürgt.

reits ausgegeben;

Das Feldgeschrei für den neuen Wahlkampf ist be­

es lautet:

für oder wider eine starke Reichsgewalt?

für oder wider den Reichskanzler?

Wer auf diese Fragen keine runde

Antwort findet wird zur Seite geschoben.

Wir stehen mitten in der Neubildung der alten Parteien und müssen

den Staub der Verleumdungen und der Anklagen, der in solchen Uebergangszeiten die Luft zu verfinstern pflegt, gelassen ertragen.

Eine voll­

ständige Neugestaltung unseres zerfahrenen Parteiwesens bleibt freilich un­ möglich, so lange die confessionelle Politik des Centrums sich als eine unberechenbare Größe zwischen die rein politischen Parteien einschiebt; und

die

letzte Stunde des Centrums kann erst schlagen, wenn

der Streit

zwischen Staat und Kirche durch einen ehrlichen Waffenstillstand beendigt

ist.

Aber ein großer Schritt vorwärts ist eS doch, daß die Fortschritts­

partei heute

alle Kräfte der partikularistischen und der

demokratischen

Anarchie um sich versammelt und also die treuen Anhänger des Reichs

auf den rechten Weg weist.

Die Parteien der Opposition verschießen ihr

Pulver zu früh; eine so grundlose Verstimmung, wie sie heute durch die

Reiseprediger des Fortschritts künstlich genährt wird, kann in einem ver-

Zur Sage.

442 ständigen Volke nicht

lcvige währen.

Die Reichsregierung

aber wird

sicherlich nicht so unklug sein, jetzt schon die Einberufung des Reichstags für den Oktober zu versprechen. Nach dem bestehenden Verfas/ungsrechte

behält sie freie Hand, die Sturmfluth der radikalen Phrase verlaufen zu

lassen und die Wahlen bis in den Winter zu verschieben.

Wählt sie den

Zeitpunkt richtig, so wird es sich zeigen, daß die Nation nicht gewillt ist zu den unfruchtbaren Doktrinen der Conflicts-Epoche zurückzukehren. 10. April.

Heinrich von Treitschke.

Notizen. Das Haus Wittelsbach und Geschichte.

28. Juli 1880

seine Bedeutung in der deutschen

Festrede zur Feier in

des Wittelsbach'schen Jubiläums,

am

der k. b. Akademie der Wissenschaften gehalten

von

I. von Döllinger.

(Nördlingen, Verlag der C. H. Beck'schen Buch­

handlung, 1880.)

Erfreulich und dankenswerth erscheint es, daß Döllinger die Festrede,

welche er als Präsident der k. b. Akademie der Wissenschaften zur vorjährigen

Feier der siebenhundertjährigen Verbindung Bayern's mit dem Hause Wittelsbach gehalten, weiteren Kreisen durch den Druck zugänglich gemacht hat.

Die Auf­

gabe, an solcher Stelle und bei solcher Gelegenheit das geschichtliche Urtheil darüber festzustellen, was das erlauchte Geschlecht für Deutschland im Verlauf

der Zeiten und Schicksale des Vaterlandes zu bedeuten habe, war, ernst ge­ nommen, wie dies bei Döllinger nicht anders sein kann, ganz besonders delicat

und schwierig: sie konnte nicht würdevoller gelöst werden.

Der greise Festredner

giebt in gedrängter Kürze (ans 34 Druckseiten) das vollständige Bild der Ent­

wicklung der Beziehungen des Wittelsbacher Hauses zu Reich und Nation.

Es

geschieht dies mit unbestechlicher Wahrheitsliebe und in vornehmer Unbefangen­

heit.

Nichts ist darin verschwiegen oder bemäntelt.

Daß eines dunkeln Punktes

in der fürstlichen Familiengeschichte zweimal gedacht wird — das zweite mal

nicht ohne Absichtlichkeit —, geht beinahe zu weit. Stellung

Was Döllinger über die

der beiden getrennten Zweige des Geschlechts zur Reformation des

16. Jahrhunderts und deren politischen Folgen vorträgt, bezeugt die vollkommne Freiheit des Historikers von confessioneller Voreingenommenheit; dieser Abschnitt

der Festrede muß mit tiefer Genugthuung und mit Hochachtung erfüllen. —

Um so befremdlicher ist eine Abirrung vom Pfade geschichtlicher Wahrheit gegen das Ende der Festrede.

Ich meine damit nicht die Polemik auf S. 30 in Be­

treff des Rheinbundes; ich wende nichts ein gegen die Worte „auf wie Viele und wieweit zurück vertheilt sich die Schuld!"

Döllinger würde sogar Recht

behalten, wenn die Leiter des bayrischen Staates damals invita Minerva ge­ handelt hätten, wie er es zwar nicht zu verstehen giebt, doch dahingestellt sein läßt, während das Gegentheil notorisch ist.

Auch will ich nicht allzuschwer be­

tonen, daß nach Döllinger im Rieder Vertrag der König von Bayern „nicht ohne große Opfer an Gebiet"

rechtzeitig that, was die Lage erheischte: der

Vertrag vom 8. Oktober 1813 garantirte bekanntlich den ungeschmälerten Terri­

torialbestand und bei etwanigen Abtretungen vollständigen Ersatz.

Aber, je

444

Notizen.

höher der Festredner als Gelehrter und als Charakter dasteht, desto verwerf­ licher erscheint der Wortlaut dessen, was auf S. 31 über Bayerns Verhältniß

zur Stiftung des deutschen Bundes der historischen Wahrheit ins Angesicht ge­

sagt ist: „Dann aber mußten König und Volk in Ergebung das traurige Ge­

schenk der Bundesverfassung hinnehmen, welches die europäischen Mächte für Deutschland, damit es nicht allzu stark und allzu einig werde, ersonnen hatten."

Waren dem Präsidenten der bayerischen Akademie der Wissenschaften Klüber's Acten des Wiener Congresies unzugänglich? Die europäischen Mächte, bis auf

Oesterreich und Preußen, waren ausgeschlossen von den Arbeiten über eine neue Verfassung Deutschlands

Die zuerst von Preußen aufgestellten Entwürfe

einer Bundesverfassung waren von Oesterreich auf das Aeußerste abgeschwächt worden.

Ein Minimum dessen, was noch eine nationale Verbindung vorstellen

konnte, stieß auf Bayerns entschiedenen Widerspruch.

Um Bayern zum Ein­

tritt in den Bund zu gewinnen, wurde am Vormittag des 8. Juni 1815 die letzte Hand zur Verunstaltung des Verfassungswerks angelegt.

Und das deutsche

Volk hat dann „mit Ergebung das traurige Geschenk der Bundesverfasiung

hinnehmen müssen", das in Folge der von Bayern gestellten conditio sine qua non noch trauriger geworden war, als es Oesterreich gewünscht hatte, damit „Deutschland nicht allzu stark und allzu einig würde." Das steht actenmäßig fest. Wie war es möglich, daß Döllinger in diesem wichtigen Punkt ohne Sachkenntniß sein Urtheil fällte? Die hohe Unparteilichkeit der ganzen

Festrede berechtigt und verpflichtet, solchen lapsus calami illustrissimi mit Be­ dauern kenntlich zu machen.

—i—

Berichtigung. S. 308 Zeile 4—5 nicht „sicheren Lebensstellungen", sondern „höheren Lebens­ stellungen"; S. 310 Zeile 5 muß hinter „Wir meinen" ein Komma stehen; S. 310 Zeile 2 von unten nicht „den Breslauer Corps", sondern „der u. s. w."

Verantwortlicher Redacteur: H. v. Treitschke. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.

Die Entstehung des Volksbuches vom Dr. Faust.

i.

Dr. Georg Faust.

Man führt daS Puppenspiel, durch das Goethe in Straßburg zur

ersten, gleich alle Theile seiner großen Schöpfung umfassenden Conception

des Faust angeregt wurde, auf Marlowe'S Tragödie zurück.

Marlowe

hatte für sein Stück die englische Uebersetzung des 1587 zuerst gedruckten

Faustbuches benutzt, dessen Autor man nicht kennt.

Die internationale

Verbreitung des Faustbuches entsprang dem Umstande, daß es in eine

Zett fiel, wo an Zauberei und Hexerei allgemein geglaubt wurde und daß,

obgleich darin von geistigen, geistlichen und übernatürlichen Dingen die

Rede ist, weder die katholische noch die protestantische Geistlichkeit an seinem

Inhalte Anstoß genommen zu haben scheint.

Die „Historie von D. Fausten" besteht auS mehreren Theilen und diese aus Capiteln.

Man fühlt beim ersten Durchlesen die verschieden­

artige Behandlung der einzelnen Partien und eS drängt sich die Beobachtung

auf, daß ein ursprünglich einfacher Kern mit Zusätzen umgeben worden

sei.

Scheidet man diese: eine Anzahl zusammenhangSloS aneinanderge­

reihter Abenteuer, für welche sämmtlich die Quellen in der gleichzeitigen

Litteratur bereits nachgewtesen worden sind*) auS, so gewinnt die Fabel, besonders auch in örtlicher Beziehung, gerundete Gestalt.

Ein junger

Theologe ergiebt sich naturwissenschaftlichen Studien, ruft den Teufel an, schließt einen Contract mit ihm und wird nach Ablauf desselben fortgeholt.

Obgleich daS Volksbuch die Arbeit eines protestantischen Autors ist, hat seine Struktur weder mit Protestantismus noch mit Katholicismus

etwas zu thun. Der den Dr. Faust verführende Teufel ist confessionSloS. Nirgends liegen die Umschwünge und Effecte auf kirchlichem oder theolo­ gischem Gebiete.

Auch wird aus den LebenSumständen des historischen

Dr. Georg Faust, aus dessen Persönlichkeit der mythische Dr. Johannes *) Vgl. die Arbeiten von Düntzer, von Reichlin-Meldegg in Scheibles Kloster, u. A. Preußische Jahrbücher

Bd. XLV11. Heft 5.

30

Faust des Volksbuches geschaffen ward, nichts benutzt, das sich auf die

Reformation oder die Reformatoren bezöge, die heranzuziehen wohl Ge­

legenheit gewesen wäre.

Daß dieser Dr. Georg Faust der eigentliche Held

deS Volksbuches sei, wird eingestanden.

Denn ohne sich um die abwei­

chenden Vornamen zu kümmern giebt der zweite Druck von 1587 neben

dem in der ersten allein genannten Geburtsorte Roda in Thüringen noch Kundlingen an, woher Dr. Georg Faust, der auS Luthers, MelanchtonS und

Anderer Erwähnung überall bekannt war, stammen sollte.

Diesem histori­

schen Georg Faust ist in neuerer Zeit scharf nachgespürt worden und die

betreffende Litteratur bekannt.

Zuerst erscheint er 1506 bei TrithemiuS, dem Abte von Sponheim,

der selber im Gerüche der Zauberei stand. einen Schwindler.

TrithemiuS erklärt ihn für

Fand der Doctor trotzdem jedoch später bei Franz

von Sickingen eine Zeitlang Aufnahme oder auch bei Speierschen und Erfurtischen geistlichen Herren Anerkennung, so muß der Grund hierfür

doch in etwas gelegen haben, das zu seinen Gunsten sprach.

Ebenso

spricht dafür in gewissem Sinne, daß MutianuS, Melanchthon und EraS-

muS, obgleich sie sich gegen ihn aussprechen, ihm offenbar doch eine ge­

wisse Bedeutung zugestehen.

Gegen einen bloßen Gaukler und Land­

streicher würden große Gelehrte nicht so heftig vorgegangen sein. MutianuS nennt

ihn

einmal

„HelmitheuS

HedebergensiSDüntzer

verbessert

„HemitheuS" und will durch das ausfallende und nebenan untergebrachte l

zugleich „Hedelbegensis" gewinnen.

HedebergensiS aber scheint ächt zu

sein. TrithemiuS' Familenname war „von Heidenberg". wohl,

um Tritheim einen Stich zu geben,

MutianuS wollte

Faust als Halbgott ä, la

Heidenberg charakterisiren.

Georg Faust macht den Leuten nirgends Hexenstücke vor.

TrithemiuS'

Brief, worin er sein Zusammentreffen mit ihm erzählt, war an den

Mathematiker Wirkung in Hasfurth gerichtet, der seinerseits Fausts An­ kunft mit Spannung entgegensah. voraus.

Es gehe ihm ein bedeutender Ruf

Und wenn Faust in Erfurt sich rühmte, Plato und Aristoteles

aus dem Kopfe hersagen zu wollen, so muß er mit der classischen Litteratur

irgendwie zu thun gehabt haben.

Bedenken erregt unter den verbürgten Nachrichten, die diesen Faust

betreffen, eigentlich nur der Titel, unter dem er sich bei TrithemiuS 1506 in Gelnhausen eingeführt hatte. recht berichtete:

Er nennt sich darauf, wenn TrithemiuS

Magister Georgius Sabellicus Faustas junior,

necromanticorum,

magus secundus,

pyromanticus, in hydra arte secundus.

chiromanticus,

fons

agromanticus,

In Erfurt dagegen soll er sich

den Titel philosophus philosophorum beigelegt haben.

Man fragt sich.

unter welchen Umständen konnte ein fahrender Gelehrter überhaupt darauf

kommen, sich mit diesen Ansprüchen zu introduciren? Auf Zauberei und Umgang mit Dämonen leiten die Worte nicht ge­ rade hin, er rühmt sich in ihnen mehr dessen was er wisse, als dessen waS er durch übernatürliche Hülfe etwa zu thun vermöge. Aber eS würde feiner Zeit ein gewiffer Grad von Kenntniß der Zauberet und von Be­

kanntschaft mit Dämonen acceptiert worden sein ohne daß der, dem sie nachgesagt wurde, darum als ein Mensch dagestanden hätte, der sich dem Teufel ergab. Bei TrithemiuS allerdings ging die böse Nachrede soweit, daß er sich besonders reinigen mußte. An den Verkehr mit Dämonen und an die Hervorbringung außer­ ordentlicher Dinge durch ihre Macht wurde im Sinne des Augustinus im 15. und 16. Jahrhundert geglaubt. MephostophileS auS einer Ver­ stellung von p-T] To ? cpiXtov zu erklären, hat deshalb etwas für sich, weil in der damaligen Naturgeschichte der Dämonen eine besondere Claffe derjenigen figurierte „qui lucem oderint*)“. TrithemiuS stellte seinen Glauben an Prophezeiungen und -böse Geister so wenig in Abrede als Luther, oder als Melanchthon den feinigen an vorbedeutende Träume. TrithemiuS hielt eS schon deshalb für angezeigt, -In der Zauberei Be­ scheid zu wissen, weil an ihn als Geistlichen die Aufgabe herantreten könne, einen Zauberer mit seinen eigenen Waffen zu bekämpfen. Ob Zauber gegen Verzauberung angewandt werden dürfe, war eine strittige Materie.

An Verzauberung wurde geglaubt. Die Wissenschaft war damals um­ geben von dämmerigen unbekannten Gebieten, die noch Niemand exploriert

hatte. Marsilio Ficino, der streng religiöse Gesinnung mit platonischer Philosophie vereinigte, schrieb nieder waS ihm ein gleichzeitiger Grieche über das Wesen der Dämonen mitgetheilt hatte, und berichtet umständlich von sich selber, wie er in Florenz einen bösen Geist aus einem Haufe bannte. Frau von. Berlepsch, welche Luther auf der Wartburg be­

suchen wollte, hörte NachtS dort das Rumoren der Teufel. Hätte Dr. Georg FaustuS deshalb mit solchen Dingen zu thun gehabt, so war

dergleichen seiner Zeit mit wissenschaftlichen Range wohl vereinbar. Indessen, ich wiederhole, eS leitet jener Titel, den Faust sich beilegt, nicht eigentlich darauf hin. TrithemiuS berichtet in seiner Sponheimer Chronik**) von einem an­

dern Italiener — denn auch Dr. Faust, wenn Sabellicus seine Herkunft angiebt, mußte ein Italiener sein, mochte immerhin Knltllngen als sein Geburtsort angegeben werden — welcher 1501 am Hofe des Königs von

*) Marstl. Ficin. Opp. Ed. Basil. 1940 ff. **) Vgl. auch BnlaenS Hist. Univers. Paris.

1673.

VI, 5.

Frankreich erschien und Alles zu wissen behauptete, was menschlicher Ver­ stand überhaupt zu wissen im Stande sei.

Er führt den Namen Johannes,

betitelt sich philosophus philosophorum oder auch „Mercurius, Bote

der Götter" (wobei ich daran erinnere, daß der Rabe welcher die Feder zur Unterschrift des Contractes mit dem Teufel bringt, im Faustbuche den

Namen Mercurius führt).

Er behauptet, vom Himmel gesandt zu sein,

und findet Glauben beim Könige, der ihn von seinen gelehrten Aerzten prüfen ließ.

Möglicherweise hat dieser Italiener Johannes und philosophus philo­ sophorum dem

Faust des Volksbuches (dessen Autor in TrithemiuS'

Schriften wohl bewandert war) zum Vornamen Johannes verhelfen, viel wichtiger aber ist die Art feines Auftretens überhaupt für das Fausts,

der in einer Zeit, in der die hereinbrechende Cultur des Alterthumes den

ganzen geistigen Zustand aus den Fugen brachte, sich in ähnlicher Weise, wie eS scheint, eine Carriere als Philosoph auf eigne Gefahr zu schaffen

versuchte. Bekannt ist die Rolle, welche im -Quattrocento die wiederaufgenom­

mene platonische Philosophie in Italien spielte, deren Anhänger sich bis zur Gründung einer platonischen Serie außerhalb der Kirche steigerten.

(Wenigstens ist der Vorwurf erhoben worden.)

Nun sehen wir in den

Zeiten deS römischen KaiserthumeS, gleichzeitig mit dem späteren Plato­ nismus, auf den es dem Quattrocento vielleicht mehr ankam als auf den ursprünglichen Platons selber, sich die Kyniker erheben und in ihrer Weise

den Platonikern entgegenstellen.

Ich beziehe mich auf Bernays' letztes

inhaltreiches Heft, Lucian und die Kyniker.

Möglich, daß das Studium

Lucians auch im Quattrocento ähnliche Gegensätze hervorrief.

Die Kyniker

deS Alterthumes nannten sich Boten Gottes*), abgesandt, um die Mensch­ heit zur Einfachheit zurückzuführen.

Sie setzen Alles auf ihre Person

allein und suchen sich rückhaltölos Gehör zu verschaffen.

ES kommt ihnen

nicht darauf an, Schule zu machen, sondern da wo sie gerade auftreten

mit allen Mitteln daS Feld zu behaupten.

Möglich daß der Italiener

Johannes und der Dr. Georg Faust bewußte Nachzügler dieser antiken

Kyniker, als Vertreter deS gewiß uralten Gegensatzes waren. Düntzer ist der Meinung, daß wenn Dr. Georg Faust in seiner

langen Titulatur sich Faustus junior nenne, FaustuS hier Nur als ein

Beiname zu fassen sei. Herkunft bezeichne.

Sabellicus sei der eigentliche Name, der seine

Auch Goethe hat das ausgenommen, denn in seinem

zweiten Theile heißt es: der Necromant aus Norcia, der Sabiner. Ist neben

*) Bernays, S. 41. Anm.

Georg „FaüstuS junior" also nur ein Beiname, so wäre festzustellen, wer der FaustuS major sei,

auf den sich junior bezieht.

Simrock hat den

Buchdrucker Johanne- Fust als solchen erkennen wollen, aber mit dieser Vermuthung keinen Anklang gefunden, da seine Annahme, es sei die Buch­ druckerei in Frankreich Anfangs für Teufelswerk gehalten worden, in der

That unrichtig ist. Faust giebt sich wie wir sehen auch übrigens die zweite Stelle: er nennt sich, magus secundus, in arte hydra secundus: wen hat er hier

im Sinne, dem er sich freiwillig unterordnet*)?

Wir können magus einfach mit Zauberer übersetzen, können es aber auch als Namen

fassen,

und hier ergäbe sich der historisch-mythische

Simon MaguS als Magus primus, in welchem Jemand, der sich in eine gewiffe Opposition zum Christenthume setzt, wohl seinen höhergestellten College» erblicken durfte.

Simon MaguS hatte sich in Rom vor Nero

in die Luft zu fliegen unterfangen, und war vom Teufel emporgeführt und herabgestürzt worden**). Nehmen wir Simon als den Magus major des Dr. Faust, so sähen wir nun auch, warum diesem später angedichtet worden

ist, er habe in Venedig in die Luft fliegen wollen und sei vom Teufel dann auS der Höhe herabgestürzt worden.

In arte hydra secundus aber

nennt Faust sich neben Pythagoras, welcher wie Augustinus erzählt***), in der Hydromantie erfahren war.

Durch Augustinus auch gelangen wir nun zu dem FaustuS major.

2. Der FaustuS des Augustinus.

Der Verfasser des FaustbucheS war so wenig im Stande, sein Ma­

terial zu beherrschen, daß eS zuweilen den Anschein hat, als seien vor­ handene Papiere abgedruckt worden wie sie gerade dalagen.

Bei geringer

RedactionSmühe hätte er das Zusammengehörige wenigstens äußerlich

zueinander in Beziehung setzen können.

Aber diese Mühe hat man ent­

weder gespart oder aber eS ist auS Unbekanntschaft mit dem literarischen

Müier so kunstlos verfahren worden.

Zu Marlowe'S Verdiensten gehört,

aus diesem Wüste daS effektvoll Zusammenpassende heraüszuwählen und

zu den einzelnen Acten seiner Tragödie abzurunden.

Der Schluß dieser Tragödie zumal bietet eine äußerst wirksame Ab-

*) Auch Johann v. Eyck nennt sich inschriftlich neben seinem älteren Bruder in arte secundus. **> Vgl. Gutenberg, Geschichte und Erdichtung, von A. v. d. Linde, S. 295. **♦) De civ. Dei, VII, 35.

Wechslung ernster und komischer Scenen dar.

Faust tafelt mit den Stu­

denten in seinem Studierzimmer, Teufel die frische Schüsseln zutragen,

gehen über die Bühne.

Wagner stellt seine einsamen Betrachtungen dar­

über an, daß es mit dem Doctor zu Ende gehe. Sein Hab und Gut habe

Faust ihm vermacht und prasse nur mit den Studenten um sich selbst zu vergessen.

Jetzt tritt Faust mit den jungen Leuten auf.

von Tisch und sind voll Uebermuth.

Sie kommen

Faust solle ihnen das größte Schön­

heitswunder der Welt, die Helena, zeigen, und auf seine Beschwörung führt Mephisto unter den Klängen von Musik die Schönheit über die

Bühne.

Dann, nachdem die Studenten ihr Entzücken ausgesprochen, ver­

lassen sie ihn und Faust bleibt mit Mephisto allein zurück. Jetzt ein Versuch, ihn in letzter Stunde noch zur Umkehr zu bewegen.

Es tritt auf ein „Alter Mann", nichts weiter ist gesagt, und beginnt ihm mit beweglichen Worten Vorstellungen zu machen. der Zauberei

lassen.

Er beschwört ihn, von

abzulassen und sich allein auf die Gnade Gottes zu ver­

Erschüttert hört Faust die lange Rede an und verspricht Besserung,

worauf der Alte ihn verläßt und worauf schließlich Mephisto dann doch

wieder den guten Vorsatz in's Gegentheil verkehrt.

Diese Scene muß auf

der Bühne ungemeine Wirkung gethan haben.

Im Faustbuche gehört das Capitel, in dem dieser Bekehrungsversuch erzählt wird zu denen, welche außer Zusammenhang mit der allgemeinen Handlung stehen. „ein

Aber auch hier ist es ein „alter Mann", ohne Namen,

christlicher frommer

gottesfürchtiger

Schrift, auch ein Nachbar Dr. Fausts".

Arzt

und

Liebhaber

der H.

Im Faustbuche lädt dieser den

Dr. Faust zu sich zu Tische und vermahnt ihn, indem er mit vielen Be­

legen der Bibel die Zauberei als ein Greuel vor Gott darstellt.

Die

dramatische Wirkung welche Marlowe aus dieser Episode zieht, fällt hier

fort, und die Fortsetzung, wie Faust den alten Mann zu hassen beginnt und sich mit Hülfe des Teufels

an ihm zu rächen versucht, (S. 187)

scheint zu den Verlängerungen zu gehören, an denen der Roman auch

sonst nicht arm ist. Die Quelle für diese Episode finden wir in den Confessionen des Augustinus, und zwar in einem Zusammenhänge, der uns überhaupt auf den Inhalt dieser wunderbaren Selbstbiographie hinweist. Augustinus war einfacher Leute Kind.

Seine Schuljahre und die

Anfänge seiner docierenden Thätigkeit spielen sich in seiner Vaterstadt

Tagaste ab.

Augustinus' Leben wird denen die sich mit Kunstgeschichte

beschäftigen in ganz eigenthümlicher Weise nahe gerückt.

In der Mitte

des Quattrocento, als die antiken Dinge noch mit voller Unbefangenheit

im Costüme der eigenen Zeit dargestellt zu werden, hat Benozzo Gozzoli

in einer Reihe von Scenen, recht eigentlich: in vielen Bildern, den Lebens­

lauf deS Augustinus in S. Agostino zu Gimignano auf die Wände ge­

malt.

Er tritt uns da entgegen als habe er leibhaftig in das Zeitalter

der Reformation hineingeragt.

Wir sehen ihn von den frühsten Zeiten

ab, wo er vom Schulmeister ausgenommen und bestraft wird, in Carthago,

in Rom, in Mailand u. s. w. bis zu seinem Ende. Augustinus erzählt von den bösen unb leidenschaftlichen Gedanken

die ihn als Kind und jungen Mann erfüllten, und wie es seinen Eltern nicht- gelungen sei, ihn zum Christenthllme herüberzuziehen.

Sein mit un­

gestümer Kraft nach eigener speculierender Thätigkeit drängender Geist

brachte ihn vielmehr auf die Bücher der Manichäer, und die oft glänzenden Resultate ihrer auf Vorberechnung der menschlichen Schicksale gerichteten

Bemühungen ihn zum Glauben, daß in dieser Richtung das wahre Heil

zu finden sei.

Augustinus glaubte eine Zeit lang mit den Manichäern

den Grund aller materiellen und sittlichen Erscheinungen aus den Bewe­ gungen der Gestirne ableiten zu dürfen, deren Lauf die Erscheinuugen

vorherbestimmten und den freien Willen des Menschen überwältigten.

Im

dritten Capitel des vierten Buches fährt er dann zu berichten fort, er sei einem Arzte, einem Greise, dessen Namen er hier nicht nennt, damals

nähergetreten und habe Genuß an seinen lebhaften und geistreichen Unter­

weisungen gefunden.

Zwischen ihnen sei zur Sprache gekommen,

was

Augustinus in den Büchern der Bianichäer suche, und der alte Mann habe ihn in gütiger, väterlicher Weise ermahnt, sich von diesen Dingen

loszumachen.

Erfolg hätten seine Worte damals nicht bei ihm gehabt, was

Augustinus sich später zum Vorwurfe macht*). Die Uebereinstimmung des betreffenden Capitels im Fakistbuche mit

dieser Erzählung wird Niemand

leugnen.

Der Verfasser

des Faust-

bucheS muß die Confessionen des Augustinus vor Augen gehabt haben.

Warum auch nicht?

Wir brauchen nur nachzurechnen, wieviel Ausgaben

der Werke des Augustinus in'S Jahrhundert der Reformation fallen und

wie verbreitet die Kenntniß seiner Schriften war.

Er und Hiernonymus

sind die beiden Kirchenväter gewesen, an denen Erasmus und Luther, jeder

*) VI, 3. — Erat eo tempore vir sagax medicae artis peritissimus atque in ea nobilissimus.--- Quia enim factus ei eram familiarior et ejus sermonibus adsiduus et fixus inhaerebam. Ubi cognovit ex colloquio meo, libris genethliarorum me esse deditum, benigne ac paterne monuit, ut eos abjiciam, cet. Faustbuch. S. 181. Ein Christlicher frommer Gottesförchtiger Artzt, vnd Lieb­ haber der H. Schrifft, auch ein Nachbawr deß D. Fausti, als er sahe, daß viel Stu­ denten jren Auß und Eingang, als ein Schlupfwinkel, darinnen der Teuffel mit seinem Anhang, vnd nit Gott mit seinen lieben Engeln wohneten, bei dem D. Fausto hatten, nahm er jme für, D. Faustum von seinem Teuffelischem gottlosen Wesen abzumahnen rc.

in seiner Weise, für den großen Kampf zu Gunsten der individuellen Freiheit in Glaubenssachen sich begeisterten.

Ein Theologe, oder auch ein nur

oberflächlich theologisch angehauchter Schriftsteller ihrer Zeit,

der diese

beiden Autoren nicht aufzuschlagen verstanden hätte, ist kaum denkbar. Thun sich so nun aber die Schriften des Augustinus und zumal seine

Confessionen als Quelle deS FaustbucheS auf, so muß FaustuS, Bischof

der Manichäer, dessen Bekanntschaft Augustinus so dringend wünschte und gegen den er später so eifrig geschrieben hat, schon deshalb in Betracht

gezogen werden, weil die Uebereinstimmung seines Namens mit dem des Dr. Faust die Möglichkeit weiterer Analogien offen hält.

Das große LebenSereigniß war für Augustinus das Zusammentreffen

mit diesem Manne, auf den er viele Jahre gewartet hatte, und dessen liebens­ würdige, geistreiche Art ihn Anfangs bezauberte.

Augustinus war jener

Zeit, unserer Terminologie nach, Privatdocent an der Universität zu Car-

thago.

Er vertallschte diese Stellung später mit einer ähnlichen in Rom,

weil ihm die Sitten der Carthagischen Studenten nicht mehr zusagten und ihm gesagt worden war, daß eS in Rom erträglicher zugehe. an beiden Stellen Vorlesungen über Rhetorik.

Er hielt

Bald mußte er dann die

Entdeckung machen, daß FaustuS' Wissen begrenzt sei.

Augustinus hatte

eine gründliche classische Bildung empfangen und merkte daß diese FaustuS

abgehe.

Dies erkältete aber nur seinen Eifer für die Person, nicht für

die Sache.

Die Hartnäckigkeit, mit der er lange am Manichäismus fest­

hielt, zeigt, einen wie logisch denkenden, auf das demonstrirbare sich rich­ tenden Geist Augustinus hatte.

Erst in der höchsten inneren Bedrängniß

ging ihm auf, es müsse geglaubt werden wo nicht mehr begriffen werden

könne. Vergleichen wir nun. Der Faust des Volksbuches kommt als Sohn von Bauersleuten, guten, gläubigen Christen, in einem kleinen Orte in der Nähe einer Uni­

versität zur Welt.

Zum Theologen bestimmt, führt ihn der angeborene

„Vorwitz" zu mathematischen,

astronomischen, nigromantischen Studien.

Immer weiter dringt er vor, bis er endlich Mephisto begegnet. Die innere Aehnlichkeit des Faustbuches mit dem Beginn der Con­

fessionen ist so auffallend, daß der Gedanke sich aufdrängt, eS habe der

Verfasser des ersteren gleichsam als Gegenstück zu Augustinus, bei dem sich Alles endlich zum Guten lenkt, die Geschichte deS Manichäers Faust

selbst schreiben wollen, bei dem der Teufel zuletzt den Sieg davonträgt. Dies würde die Frage aufrufen, wieweit in den Gesprächen Fausts mit Mephisto Dinge vorkommen, welche den zwischen Augustinus und den Manichäern waltenden Streitigkeiten entsprächen.

ES ist schwer jedoch, hier

auf ein brauchbares Resultat zu kommen, weil das Faustbuch, so unge­ reimte Lehren enthält, daß die Absicht vorausgesetzt werden muß, man

habe all diesen Unsinn absichtlich hergestellt, um consessionell unschuldig und unschädlich zu erscheinen.

Auch gesteht die Vorrede zu, man habe alles

ärgerliche aus dem Buche herausgebracht*). der ManichäiSmuS trotzdem durchzubrechen.

An einigen Stellen scheint Die Manichäer wollen nichts

von der Ehe wissen**): hierauf bezieht sich die Sorge Mephisto'- (S. 31)

Faust von dem Gedanken an eine Heirath abzubringen.

Die Manichäer

vertreten die aristotelische Lehre von der Ewigkeit der Materie, wie die Welt

nie geschaffen sei und niemals untergehen könne:

die Lehre, gegen welche

de- Augustinus elftes Buch der Konfessionen gerichtet war, wo er die

Frage beantwortet, was Gott denn gethan habe ehe er die Welt geschaffen hatte und als noch keine Zeit war.

DaS Schönste und Tiefste, was je über

Zeit und Ewigkeit gesagt worden ist.

Wir finden die Ansicht von der

Ewigkeit der Materie im Faustbuche (S. 75) reproduciert, wo die Welt „uuerboreu und unsterblich" genannt wird und wo um diese Stelle recht hervorzuheben

die Randbemerkung in den Text eingerückt worden

„Teuffel, du leugst, Gottes Wort lert anders hievon".

ist:

Offenbar war

der Drucker des Buches sich bewußt, daß geistlicherseits an dieser Stelle besonderer Anstoß genommen werden könne, und suchte sich durch das ein­

gedruckte Marginale zu sichern.

Ja eS wird am Schluffe des Capitels,

als wettere Garantie gegen den Borwurf, dergleichen überhaupt vor­

gebracht zu haben, hinzugesetzt, Faust habe sich von dieser Erzählung nicht überzeugen können, sich vielmehr dem Geiste gegenüber auf das erste Ca­

pitel der Genesis berufen, auf das der Geist selber nicht viel zu erwidern

im Stande gewesen sei. —

Suchen wir den Punkt zu bestimmen, zu dem uns unsere Beobach­ tungen bis jetzt gelangen lassen. Der Verfasser des Volksbuches hat die Absicht, die Sensation machende

Geschichte

eines Zauberers zu erzählen.

Er wählt

die

Person

deS

Dr. Georg Faust, der in der theologischen zeitläuftigen Litteratur eine

Rolle spielte.

Er benutzt, um die Reihe der dem Dr. Georg Faust an-

gedichteten Hexenstücke zu vermehren, Trithemius' und Anderer Bücher,

*) In der Zueignung sagt Spieß (der Drucker und Verleger deS Volksbuches), die Historie sei ihm „neulich durch einen guten Freund ans Speier mitgetheilt Und zugefchickt worden", in der Vorrede, er habe „mit Rath etlicher gelehrter und verstendiger Leut" das schreckliche Exempel vor Augen stellen wollen, auch sei „mit Fleiß umgangen und ausgelassen worden" „bie formae conjnrationum, und waS sonst darin ärgerlich sein möchte, und allein daS gesetzt, waS jedermann zur War­ nung und Besserung dienen mag". **) Aug. Opp. Ed. Par. 1586. I, 342. 6, D. Zum Folgenden 346.

in denen dergleichen zu finden war.

Zur Grundlage des Ganzen aber

wird, als Pendant dessen gleichsam, was Augustinus in den Confessionen

von sich selbst erzählt, der Lebenslauf eines Wittenberger Universitäts­ lehrers gemacht, und die Teufelslehre der alten Manichäer benutzt, um in den Unglauben des Romanhelden ein gewisses System zu bringen.

Manichäismus und Teufelsdienst waren dem Zeitalter der Reformation identisch.

Wir werden nun aber sehen, daß die dem Verfasser deS Faust-

bucheS offen stehende Litteratur hiermit noch nicht abschließt.

3.

Faustus in Paris. Die dem Dr. Georg Faust, von denen die persönlich mit ihm zu­ sammengetroffen sein wollten, angedichteten Zaubereien, reducieren sich auf

sehr Weniges.

Genau genommen ist nur die einzige Geschichte hier an­

zuführen, die Johannes Gast aus den eignen Erlebnissen erzählt (Düntzer, 44) und die in ihrer Einfachheit kaum ein Abenteuer zu nennen ist.

Gast will einmal mit Dr. Georg Faust in Basel im großen Collegium

gespeist haben, wobei dieser dem Koche Vögel zum Braten gegeben habe, von denen Gast nicht gewußt, wo Faust sie gekauft oder wer sie ihm ge­ geben hätte, wie sie jedenfalls damals in Basel nicht verkauft worden, auch keine dergleichen in der Gegend dort gesehen worden seien.

So einfach und ohne Pointe konnte man das für das Faustbuch nicht brauchen, in ausgedehnter Form jedoch kehrt die Geschichte unter verschie­

denen Gestalten darin wieder.

Man schlug Anderes hinzu.

Von Trithe-

mius war erzählt worden*), er habe einmal ein Gericht Fische einfach

aus dem offenen Fenster hereingenommen und aufgesetzt: dem Dr. Faust müssen im Volksbuche deshalb die unbekannten Vögel auf Befehl zum Fenster hereinfliegen, um gebraten zu werden, rc.

Wie aber kommt Gast überhaupt dazu, als etwas Besonderes zu er­ zählen, daß irgend Jemand in Basel unbekannte Vögel zum Braten ge­

geben habe? Jeder Fremde,

der von auswärts zugereist kommt, kann

fremde Vögel mitbringen ohne dadurch etwas zu thun, was ihn in den Geruch der Zauberei bringt. Fausts Befehl plötzlich

Wären, wie im Volksbuche, die Vögel auf

erschienen,

oder

wären sie hinterher gebraten

auS der Pfanne fortgeflogen oder dgl., so war etwas zu verwundern dabei.

Und doch giebt die Geschichte gerade in ihrer einfachen Form und

dadurch, daß sie nach Basel verlegt wird, Gelegenheit, nun einen dritten Vertreter

deS Namens Dr. Faustus noch einzuführen, der zugleich für

*) Pirckheimer sollte das dem Melanchthon erzählt haben.

Widmann, III, 101.

ein Element eintritt, das im Fanftbuche eine bedeutende Rolle spielt, und für das weder die Erlebnisse des Dr. Georg Faust noch die des Bischof

Faust die Unterlage bieten: das erotische. Dr. Johannes Faust des Faustbuches buhlt mit der Helena Homers und mit andern Weibern und hat

der die Gestalt einer schönen Frau annimmt, zur Geliebten. Hierfür brauchen wir eine Quelle. Wir werden bei der Bekanntschaft des dritten Dr. Faust nun auch eine zweite noch finden, aüS zuletzt den Teufel selbst,

der die Sage, daß Faust durch die Luft geflogen sei, geschöpft sein konnte. Dieser dritte Faust ist wiederum ein Italiener und der Schauplatz

seines Lebens und Wirkens Paris. Wurde später durch die protestantischen Theologen Deutschland zu dem eigentlichen Universitätslande gemacht, wo die großen Fragen zum

gelehrten Austrage gelangten, so war bis dahin Frankreich die Stätte der liberalen theologischen Bewegung gewesen. In Paris strömten die Studenten aus allen Ländern zusammen. Erasmus gravitiert am stärksten nach Paris. Hier wurde am leidenschaftlichsten gelernt und gelehrt und hier sind die ersten Ketzer verbrannt worden. Unter den jüngeren Docenten der Pariser Universität, welche Erasmus bei feiner Studienzeit dort antraf, war einer der hervorragendsten Faustus Andrelinus aus Italien, kurzweg Faustus von ihm genannt. Ein Humanist, der durch die Protection eines hohen Herrn nach Frankreich gelangte. Faust's Hauptruhm war in Erasmus und der liberalen Stu­

denten Augen, ein Feind der „Mönche" zu sein, welche die hergebrachte Scholastik vertraten. 1518 starb Faustus Andrelinus und Erasmus hat ihm durch einen Nachruf, sowie durch die Aufnahme einiger sowohl von

Faust herrührender als an ihn gerichteter Briefe in seine Sammlung, ein dauernderes Denkmal gesetzt als Andrelinus selbst sich durch seine Schriften zu errichten im Stande war*). Denn was an Gedrucktem von ihm vorhanden ist, sind entweder schlechte Elegien oder trockene Gelehr­ samkeit. Persönlich muß Faust eine starke Wirkung ausgeübt haben. Aus Eraömus Aeußerungen bei seinem Tode leuchtet hervor, daß wenn sein Lebenslauf zu vielen Bedenken Anlaß gegeben haben mochte, die Genialität des Mannes darüber hinwegsehen ließ.

Faust war berühmt.

Er war stark im Disputieren. Er herrschte lange in Paris. Wenn von EraSmus selber behauptet wurde, daß er mit dem Teufel im Bunde stehe,

so wäre nichts natürlicher gewesen, als wenn nach dem Tode Fausts in

*) Epi st. Ed. Lugd. 1518, S. 403: Periit apud Gallos Faustus qui diu regnavit Lutetiae. 1519, S. 535. 1521, S. 689: Lutetiae licuit Fqusto profiteri quoslibet poetas, usque ad naenias Priapeas, idque more, ne quid aliud dicatn, Faustino.

Paris von den Mönchen das Gleiche behauptet worden wäre.

WaS uns

heute in Fausts Elegien besonders entgegentritt, ist die derbe realistische

Sinnlichkeit, deren Stärke dem eigenen Jahrhundert, das in diesen Dingen doch nachsichtig war, auffiel.

In der frühsten Correspondenz deö EraSmuS nun, welche noch ins 15. Jahrhundert fällt,

befinden sich einige scherzhafte BilletS aus den

Zeiten seines Zusammenlebens mit Faust in Paris. Erasmus zu Tische ein.

ErasmuS fragt, was

Dieser lädt sich bei

er ihm vorsetzen solle.

„Ein höchst frugales Essen verlange ick, erwidert Faust, nichts als Fliegen und Ameisen."

„Was für Räthsel sind das, antwortet ErasmuS, meinst

Du daß ich ein OedipuS sei, um sie selbst zu rathen, oder daß ich eine

Sphinx im Bann habe, um mir ihre Auflösung zu verrathen.

Es kommt

mir freilich int Traume so vor, als seien mit Fliegen kleine Vögel und

mit Ameisen Kaninchen gemeint.

Nun aber Scherz bei Sette, ich muß

meine Einkäufe machen und bitte um eine Antwort ohne Räthsel." einen Oedipus habe ich Dich nie gehalten, antwortet Faust.

„Für

Setze mir

kleine Vögel vor und lassen wir die Kaninchen auf sich beruhen." Und vor diesem MittagSessen bereits, als EraSmuS Paris einmal

verlassen hatte, eine kleine Correspondenz zwischen ihm und FaustuS, aus

dem Jahre 1499.

„Es ist hier ein ganz anderer Kerl aus mir geworden,

meldet EraSmuS aus England.

Ich jage, ich reite, ich weiß mich bei Hofe

zu benehmen, meinen Diener zu machen, zu lächeln rc., freilich ohne alle

natürliche Anlage dazu.

Sei dem, wie ihm wolle, ich komme vorwärts und

auch Du, wenn Du vernünftig bist, machst Dich auf den Weg hierher.

WaS kann Dir daran liegen, mit Deiner feinen Nase in dem Pariser

Gestank alt zu werden? Teufel gehen.

Dein Podagra hält Dich fest, möge

eS zum

Wenn Du wüßtest, wie gut eS sich in England lebt, Du

flögest durch die Luft hierher, und wenn Dein Podagra Dich halten wollte,

gingest Du als DaedaluS durch die Lüfte davon. Beschreibung anfangen?

Womit soll ich meine

ES giebt reizende Mädchen hier, schön, liebens­

würdig, gefällig, besser als Deine Musen, mit denen Du jetzt zu thun

hast.

Dabei herrscht hier die Sitte, daß beim Kommen und Gehen ge­

küßt wird; wo man sich begegnet, vor allen Dingen ein paar Küsse, die

ganze Luft ist hier von Küssen voll.

Wenn Du von dieser sanften, appe­

titlichen Waare einmal gekostet hättest, würdest Du Dein Leben nirgends

anders als hier zu beschließen wünschen*)."

*) Diese Briefe find schon in den früheren Briessammlungen des EraSmuS, der von .1538 z. B., enthalten. Faust'S Epistolae proverbiales hat Beatus RhenanuS '(1508 bereits in zweiter Auflage) herausgegeben. In seinen Amores vergleicht sich Faust selber einmal dem Ikarus. Sonst enthalten fie wenig Bezügliches.

Hier also hätten wir ersten« das Nest der Bögel" von denen Gast berichtet.

„unbekannten kleinen

Nun ist eS klar, warum diese gerade

in Basel gebraten sein sollten, der europäisch bekannten Residenz des

EraSmuS von Rotterdam: man hatte geglaubt, das Essen mit FaustuS habe in Basel stattgefunden.

Und nicht minder liegt für das Durchdie-

luftfliegen hier eine Herkunft und Bestätigung vor.

Bor allen Dingen

aber lieferten die englischen schönen Mädchen, um derentwillen EraSmuS Faust durch die Lüfte zu sich zaubern will, verbunden mit den eigenen

chntschen Liebesgedichten Fausts dke Möglichkeit, diesen im Fäustbuche als

Dem TrithemtuS war nachge­

einen verbuhlten Menschen darzustellen.

sagt worden, er habe vor Kaiser Max die Jungfrau Maria erscheinen lassen*):

daraus war hald eine Helena hergestellt.

Auch daS Pariser

Studentenleben bot eine Befestigung des Wittenberger UniversitätSbodenS, auf dem der Faust des Volksbuches auftreten mußte, und EraSmuS, der trauernd zurückbleibende Freund, vielleicht das Urbild Wagners. Waren die Schriften des Augustinus dem 16. Jahrhundert geläufig,

so waren es die des EraSmuS nicht weniger.

In viel weitere Kreise

noch drangen diese ein.

Sie waren eine der Hauptquellen, aus der La­

teinisch gelernt wurde.

FaustuS AndrelinuS und seine Correspondenz mit

EraSmuS

Verfasser

waren

dem

des

Faustbuches

gewiß

bekannt und

dürfen zu der Litteratur gerechnet werden, die dafür benutzt worden ist. 4.

Der Dr. Johannes Faust deS Volksbuches.

Wäre heute die Aufgabe gestellt worden, aus dem Materiale, welches Georg Faust, der Bischof Faust und FaustuS AndrelinuS bieten, einen im

Zeitalter der Reformation spielenden Sittenroman zu bilden, Genug

der Aufbau deS Ganzen keine Schwierigkeiten bieten.

so würde

Indivi­

duelles wäre da anzubringen gewesen, und weder Spannung noch Zu­ sammenhang würde der Arbeit mangeln.

KeinenfallS aber hätte man

den Schwerpunkt in das Verhältniß zum Teufel gelegt, wie im Faust­ buche geschah, das

in seiner Composition recht als ein Product seiner

Zeit dasteht.

Die Gestalt eine« Gelehrten der sich dem Teufel verschreibt, tritt uns zuerst im alten Drama Theophilus entgegen: ein Geistlicher, dem

der Ehrgeiz keine Ruhe

läßt, schließt ein Bündniß

mit dem Teufel,

aus dessen Krallen ihn am letzten Ende die himmlische die Wendung,

zu

der

Goethe zurückgekehrt ist.

Gnade rettet:

Der Contract,

den

*) Scheible, Kloster II, 280, aus August Lerchheimer Christliche Bedenken und Er­ innerung vor Zauberei. 1586.

Dr. Faust mit dem Teufel schließt, mag von hier genommen sein.

übrigen bietet sich nichts Gemeinsames.

Im

Dafür, daß die Gestalt eines

Faust durch die Jahrhunderte die Menschheit gleichsam begleitet habe, so

daß

sie mit

einer

gewissen Nothwendigkeit

treten mußte, finde ich nirgends den Beweis.

immer wieder hervor­

Was den späteren Typus

des Don Juan anlangt, so fehlt bei diesem die Verführung und der Con-

Und wenn man den Kaufmann deS Naogeorg und was damit zu­

tract.

sammenhängt, citieren wollte, so findet sich hier nur die dramatische Aus­ beutung der Gewissensangst deS sterbenden Sünders. die Ars moriendi anführen,

Ebensogut ließe sich

wo Engel und Teufel um die Seele des

Mir scheint, was die eigentliche Fabel anlangt, der

Menschen streiten.

Faust des Volksbuches eine originale Schöpfung zu sein. Wäre die katholische Schulcomödie des 16. und 17. Jahrhunderts in

größerem Maaßstabe gedruckt worden, so würden sich dagegen was die litterarische Form anlangt, in der uns das Volksbuch erscheint, allerlei

Conjecturen aufstellen lassen. Wir hören von einer in München aufgeführten

jesuitischen Schulcomödie „Luther", bei der am Schlüsse Luthers

Bild

verbrannt wurde*). Luther hatte für die Katholiken seinen eigenen mythi­ schen Lebenslauf.

Man vergleiche Luthers sogenanntes Hochzeitsgedicht**):

zu welchen Scenen diese Dinge ausgebeutet werden konnten!

Man be­

merke auch, mit welch scharfem Auge die Katholiken Luthers sogenannte freiwillige Beichte,

über seine nächtliche Disputation mit dem Teufel,

herausfanden, der sich in Person ihm gestellt und zur Beseitigung der Was hätte sowohl dem katholischen als dem

Messe gebracht hatte***).

protestantischen Deutschland des 16. Jahrhunderts näher gelegen als ein

Bolksschauspiel,

in dem

wir, ganz

im Allgemeinen,

den Abfall vom

wahren Glauben und die endliche Strafe dafür vor Augen sähen? junger

Theologe citiert

den Teufel,

zwischen Genuß und Reue,

ergiebt sich

ihm,

Ein

kämpft lange

arbeitet sich immer tiefer in die Netze der

Hölle und wird endlich in sie hinabgezogen.

Läge ein Drama dieses In­

haltes vor, so würde es als ein historisch nothwendiges Product der Epoche

betrachtet werden.

Sollte ein solches Drama vorhanden gewesen sein?

ES war oben von der stylistischen Ungleichheit des Faustbuches die

Rede.

Es theilt sich in einen

einfacheren Kern und in ornamentales,

*) Wißbadisch Wisenbriinlein, Frkfrt. 1610. Hist. XXXI. **) Bulaeus VI, 191. ***) Luther berichtet über diese nächtliche Disputation mit dem Teufel in seiner Schrift „Bon der Winckel-Messe und der Pfafsen-Weihe" 1533. Altenb. Ausgabe VI, 86 b ff. Darüber wie die Katholiken dieses Selbstbekennmiß Luthers ausbeuteten, siehe Vita et res gestae Lutheri Autore Casp. Vlenbergio, Cöln 1622, S. 134. (Das darin gegebene Citat der Jenenser Ausgabe stimmt nicht.)

abenteuerliches, der äußerlichen Behandlung nach leicht zu unterscheidendes Rankenwerk.

Suchen wir jetzt nun diesen Kern in denjenigen Capiteln,

in welchen die den eigentlichen Fortschritt des Romanes enthaltenen Um­

schwünge enthalten sind, näher zu umschreiben und herauszuheben.

Zuerst würden bei dieser Operation diejenigen Partien fortfallen, die, wie wir vorweg annehmen dürfen, vom Autor des Faustbuches überhaupt gar nicht herrühren, sondern dem Romane wahrscheinlich vom Buchdrucker

angehängt sind.

Sie bieten keine Continuation, sondern abgerissen an­

einandergereihte anekdotische Abenteuer, • deren litterarische sich bis zur plattsten Ungeschicktheit steigert. Situation auSgebeutet. nur wiederholt.

Behandlung

Wie wenig wird hier eine

Zuweilen wird dieselbe Geschichte anders gewandt

Wie völlig tritt hier die Absicht,

das Sündliche der

Zaubereien und des Umgangs mit Dämonen zri zeigen, zurück:

Faust

erscheint als Hexenmeister gewöhnlichen Schlages, dessen Triumph darin besteht, sich nach verübtem Streiche straflos davonmachen zu dürfen. Es fielen ferner fort die Capitel, welche Faust als Helden geogra­ phischer Luftreifen erscheinen lassen, in denen nur catalogische Notizen ge­ geben werden, in roher Nachahmung der Luftreise bei Lucian.

die Erzählung meist so dürr, daß jeder Reiz verschwindet*).

Hier ist

Es fallen

weiter fort die Expedition in die Hölle und zu den Gestirnen und das

dazugehörige alberne Zeug, bei fortwährender Wiederholung der gleichen ärmlichen Umstände. ES characterisieren sich ferner als unorganische Zusätze eine Anzahl Capitel, die nur Verbreiterungen sind, hervorgegangen aus

dem Fortspinnen der Disputationen mit dem Teufel, und denen jedes disputatorische Ziel fehlt, oder die, in noch roherer Form, als Responsa

des DoctorS an das Publikum oder des Teufels an den Doctor,

auf

Fragen naturphilosophischen Inhaltes erscheinen, ohne sonst mit der Er­

zählung etwas zu thun haben.

Was von dieser zuletzt übrig bliebe, theilt

sich nun in zwei Hälften: in bloß berichtende Capitel und in solche, welche die eigentlich dramatisch

entscheidenden Momente der Geschichte FaustS enthalten:

gehaltene Darstellungen, die sich in eben dieser dramatischen

Form von den nur dialogisch zugeschnittenen Theilen unterscheiden.

Diese dramatisch gehaltenen Capitel also nun setzen wir zusammen,

roh wie die Reihenfolge sie aufeinanderfolgen läßt, und eS ergiebt sich eine theils auszugsweise gegebene, theils in theatralischer Darstellung er­

scheinende fünfstetige Handlung, die am Schlüsse des Romanes so direct

*) Man bemerke die Scenen in Rom (S. 103). Die Verhöhnung des PabsteS ist im spottenden Sinne früherer Jahrhunderte ohne consessionellen Gegensatz. Ucberhanpt ist die Reise im katholischen Sinne arrangiert nnd zwar wiederum in dem früherer Zeiten.

460

Die Entstehung des Volksbuches vom Dr. Faust.

in die theatralische Form fällt, daß das Stück sich wie vor unsern Augen

abspielt. Folgendes Schema des Drama's etwa käme so zum Vorschein.

Erster Act. Faust tritt auf im Spesser Walde und beschwört den Teufel (S. 6).

Der graue Mönch erscheint (S. 10).

Sie disputieren.

Sie markten über

die Bedingungen, unter denen Faust sich ergeben will.

Und nun ächt

dramatisch: Faust sagt dem Geiste ab: man hält ihn für gerettet: da be­ sinnt er sich doch anders und bestellt ihn noch einmal zu sich (S. 14).

Zweiter Act.

Die Disputationen mit dem Teufel, in denen der Teufel ausweichende

Antworten geben will und Faust ihn nöthigt Rede zu stehen (S. 15).

Der

Vertrag, der mit dem eigenen Blute unterzeichnet wird (S. 22).

Nun

die verschiedenen höllischen Erscheinungen, die Vorstellung der Geister und

ihre Verwandlungen (S. 77).

Und als Aktschluß wieder ächt theatralisch:

Faust wünscht zu wissen, wer das Ungeziefer erschaffen habe, worauf der

Geist antwortet, die Teufel könnten sich auch in dergleichen verwandeln. Faust lacht und will es sehen und nun erfüllt sich das Gemach mit Ameisen, Egeln, Kuhfliegen, Grillen, Heuschrecken rc., die alle über ihn herfallen und

ihn von der Bühne treiben*) (S. 82). Dritter Act.

Faust als Zauberer in voller Machtfülle.

Er läßt vor dem Kaiser

die historischen Gespenster erscheinen (S. 137).

Er zaubert dem Ritter das

Geweih an die Stirn (S. 133).

Tische nehmen (S. 103 ff.).

(S. 145)**).

Er läßt dem Pabste die Schüsseln vom

Aktschluß:

er fliegt durch die Luft davon

Sein Diener fällt herunter und wird gefangen.

Vierter Act. ES sitzen in Wittenberg Fausts Zuhörer zusammen und haben nichts

rechtes zum Abendessen,

als plötzlich (vielleicht aus der Höhe herunter­

fahrend) Faust erscheint und prächtiges Essen und Trinken herbeizaubert

(S. 165 ff.).

Nun die Musik und der Tanz der Affen.

treten der schönen Helena.

Dann das Auf­

DaS Auftreten des Alten Mannes (S. 181).

Fausts zweiter Contrakt mit dem Teufel (S. 185).

Sein Testament

*) Ich erinnere auch hierfür an die Ameisen und Fliegen bei Erasmus. Ueber Beelzebub als Deus muscarum vgl. Bonaventura. Opp. XI, 254. Ed. Par. **) War in Leipzig Faust dargestellt, wie er durch die Luft davonfliegt, so war ebenda­ selbst FlaciuS (der Schüler Luthers) öffentlich auf die Wand gemalt zu sehen, wie er auf einem Bocke in die Unterwelt abreitet. Eisengrein, Centenarius I. Petri Nacherentini Carmen ad cathol. Lectorem. 1566. Nuper Apellaea (tnemini) qui rite tabella Pictue, setigero descendit ad infima capro Tartara. (Lipsenses opus hoc pinxere Magistri). Meister ober Magister?

(S. 201).

Das Gespräch mit dem Diener.

Sein Wehklagen (S. 205ff.)

Die Erscheinung des Geistes, der ihn verhöhnt.

Monologische Klage und

Vorausahnung der Höllenqual (S. 205 ff.). Fünfter Act, oder, wenn man will, Schluß des vierten. Fausts Ende und seine Entführung in die Hölle (S. 216 ff.).

Der vierte Act bereits ist vom Verfasser des Volksbuches so wenig in Erzählung verwandelt worden, daß die sich vordrängende Rede und die

oft nur angedeutete Handlung fast wie der Auszug eines Dramas erscheinen. Nur daß, was zusammenhängende Bühnenhandlung sein sollte, zu ein­ zelnen Abenteuern auseinandergerissen und durch unwesentliche Zusätze auf verschiedene Tage vertheilt, scheinbar außer Conttnuität gesetzt wird.

Ich weise auf diese seltsame Vermischung ausführlicher Expectorattonen

mit auszugsmäßig

gehaltenen Angaben der Handlung besonders hin.

Diese letzteren sind um so auffallender,

als der Verfasser sich nicht be­

wußt gewesen zu sein scheint, wie inhaltsreich er hier ost schreibt.

Man ver­

gleiche zum Beispiel die Erscheinung der Helena (S. 171), wie kurz und prägnant und voll dramatischen Lebens hier die Erzählung vorgeht, mit

der dicht darauf folgenden Geschichte von den zwo Personen, so D. FaustuS

zusammenkuppelt (S. 189), wie da Alles seinen gleichmäßigen epischen

Verlaus hat, der sich nirgends zum Scenischen steigert, oder mit der darauf

folgenden von dem blühenden Garten, den Faust mitten im December

hervorzaubert, wo wir das höchst lebendiger Behandlung fähige Abenteuer

kahl heruntererzählt finden, ohne daß eine Steigerung oder auch nur eine

gewiffe Erwartung zu erregen versucht worden wäre.

Die Dinge werden

trocken rapportiert, eines nach dem andern, während bei der Erscheinung

der Helena Alles voll Leben ist.

Wie Faust da erst mit seinen Künsten

prahlt, dann die Studenten Helena zu sehen begehren, er endlich ihrem Verlangen nachzukommen verspricht, nun den Befehl giebt, daß Keiner ein Wort sage oder von seinem Platz ausstehe oder gar Helena anrühre, dann zur Stube herausgeht und als er wieder erscheint, Helena ihm aus dem Fuße folgt.

Nun wird beschrieben wie schön sie sei, wie sie durch ihre

Coquetterie die Studenten außer sich bringt, die kaum an sich halten können, und wie Faust Helena dann fortführt.

Wie er darauf, als er zurückkommt,

nun da sie wieder sprechen dürfen, von den Studenten bestürmt wird, er müsse sie ihnen noch einmal zeigen, am nächsten Tage, damit sie wenig­

stens einen Maler mitbringen könnten —:

man sieht das vor sich wie

auf. dem Theater und glaubt die Personen sprechen zu hören!

Und nun

plötzlich das Erscheinen des alten Mannes, dessen Rede, Fausts Zerknir­ schung, sein Jammern, der Hohn aus Mephistopheles Munde, dann die

erneute Wehklage Fausts und als Schluß die resignierte Erwartung des Prnißischc Jahrbücher. Bd.Xl.VII. Hefts.

31

letzten Ausganges.

Ueberall in diesen Scenen reicher Inhalt und fast

jedes Wort eine Steigerung für die theatralische Darstellung. steht hier sogar nicht auf der Höhe seines Originales.

durch Mephisto

Marlowe

Er läßt Helena

über die Bühne führen und beutet den Gegensatz der

Studenten, die immer dicht am Losbrechen sind, und Helena's, die durch

herausfordernde Künste dies hervorrufen zu wollen scheint, während Fanst

auf der einen Seite die Studenten zu beschwichtigen sucht, zugleich selbst aber von ihrer Schönheit hingerissen ist, nicht genug auS.

Der Verfasser

deS FaustbucheS scheint überhaupt nicht gewußt zu haben, wie kostbar der

Bühneneffect ist, den er beschreibt. Hat diese Comödie existiert und dem Verfasser des Faustbuches vor­

gelegen? Oder hat dieser selbst zuerst ein Drama schreiben wollen' und ist dann zu der breiteren Form eines Romanes übergegangen?

Ich ent­

halte mich hier nicht blos der Aufstellung von Vermuthungen, um nichts

Unvorsichtiges vorzubringen, sondern ich gestehe, daß mir deren nicht auf­ gestiegen sind.

Ich habe nach vielen Seiten Nachforschungen angestellt,

ohne noch zu einem Resultate gelangt zu sein.

Allerdings was den bisher

angenommenen Zusammenhang des Deutschen Volksschauspieles mit dem Stücke Marlowe'S anbetrifft, glaube ich bereits aussprechen zu dürfen,

daß das Deutsche Volksschauspiel weder auS Marlowe'S Stück noch aus dem Romane herzuleiten, sondern als eine selbständige Arbeit zu be­ trachten sei.

Vielleicht, daß eS, in entstellter Form, das enthielt, was

als ursprüngliches Material dem Autor des Volksbuches vorlag?

5. Goethe'S Faust. Ueberblicken wir die Elemente, welche zusammenkamen, um eine Ge­ stalt zu bilden, deren Existenz dem europäischen Publikum in eminenter

Weise von Anfang an einleuchtete, so erstaunen wir, wie verschiedenartige Schicksale und Gedanken sich im Rahmen einer elenden Puppencomödie endlich zueinanderfanden, auS der sie wie ein Funken der ein großes Feuer

entzündete, Goethe entgegensprangen.

Wie populär zu Goethe'S Zeiten

der Faust in Deutschland gewesen sei, zeigt neben den bekannten übrigen

Zeugnissen ein Brief Voltaire's an den Herzog von Braunschweig, vom Jahre 1767, in dem er von Rabelais und von Anderen handelt welche

angeklagt seien, von der christlichen Religion schlecht gesprochen zu haben.

Voltaire schreibt: „Ich kenne Ihren berühmten Dr. FaustuS nur aus dem Lustspiele, dessen Held er ist und daS in allen Provinzen Ihres Vater­

landes gespielt wird.

Ihr Dr. FaustuS erscheint darin als in beständigem

Verkehr mit dem Teufel stehend.

Er schreibt ihm, die Briefe werden an

Bindfaden durch die Lust befördert, und er empfängt Antworten. Wunder­ thaten kommen in jedem Acte vor und schließlich wird FaustuS vom Teufel

geholt.

Man sagt, daß er aus Schwaben gebürtig sei und unter Maxi­

milian I. lebte.

Wahrscheinlich ist es ihm beim Kaiser ebenso schlecht als

beim Teufel gegangen."

Man möchte sagen, Voltaire habe ein Gefühl von der Wichtigkeit dieser Persönlichkeit gehabt.

Und man kann sich weiter deS Gedankens

nicht erwehren, als sei Goethe, als ihn daS Volksstück so im Innersten traf und seine Phantasie bewegte, zugleich ein Gefühl zugetragen worden

von den ungeheuren geistigen Bewegungen, als deren Symbol dieses Collectivwesen genommen werden konnte.

treten uns mit Faust entgegen.

Augustinus, EraSmuS, Luther

Und zugleich ist eS doch wieder nur ein

wunderlicher Zufall, daß der Manichäer FaustuS, der Landstreicher Georg FaustuS und der Professor FaustuS AndrelinuS durch die gleichlautenden

Namen dazu gelangten, sich zu einer neuen idealen Person zu vereinigen,

die von Stufe zu Stufe litterarisch herunterkommend, schließlich vom ersten Dichter unserer Zeit dann wieder zum Träger einer Gedankenwelt gemacht wird, deren Bedeutung für die Welt von Jahr zu Jahr sich steigert.

Und zwar dies Wunder auch nur möglich, indem

durch sechzig Jahre

hindlirch die eigenen Schicksale Goethe'S in den Character Fausts gleichsam

Der Manichäer liefert die philosophisch-

mithtneingeschmolzen werden.

theologische Grundlage, der gelehrte Landstreicher Faust daS Abenteuer­ liche, der Pariser Professor Faust daS Erotische, Goethe selbst giebt den Gedankeninhalt des eignen Jahrhunderts hinzu.

Und aus all dem ent­

steht eine Person, die wir als Individuum heute für sich nehmen, eine neue Schöpfung, wie in jedem neugeborenen Kinde ,bte geistigen und kör­

perlichen Strömungen vieler Vorfahren zusammenfließen, so daß sein eigen Schicksal durch soviel vorhergehende Schicksale bedingt, unfrei und um-

nöthigt erscheint, und das doch zugleich ein neues, freies Geschöpf ist, dem eigene Wege nach allen Seiten hin offenstehen.

Ich wüßte nichts vorzubringen, das uns anzunehmen erlaubte, es seien die Persönlichkeiten deS Manichäers FaustuS und des FaustuS von

Paris Goethe bekannt gewesen. einmal kennen, scheinen uns

habe er sie hineingearbeitet.

Alle drei Gestalten aber, sobald wir sie

aus Goethe'S Faust entgegenzutreten als In Goethe'S Faust haben wir zugleich mo­

dernes Dasein, Colorit und Scenerie der Reformationszeit und Zurück­ greifen auf die antike Welt.

Goethe'S Faust.

ES sind auch manichäische Elemente in

Der Kampf der Engel deS Lichtes und der Finsterniß um

die Menschenseele ist manichäisch. Mir schien als ich Baur und Flügel über

den Manichäismus nachlaS, aus deren Büchern er mir ja viel umfassender 31*

entgegentreten mußte als aus dem was mir anfangs nur Augustinus ver­

rathen konnte, an manchen Stellen die Aehnltchkett mit Goethifchen Phan­

tasiegestaltungen in so auffallender Weise zu walten, daß ich an nähere Bekanntschaft zu glauben geneigt war.

Das „zwei Seelen wohnen ach

in meiner Brust" klingt manichäisch und bei dem „Erdgeiste" an die Lehre

der Manichäer zu denken, läge verführerisch nahe.

Ganz der Gedaitken-

welt des Augustinlls entsprechend ist bei Goethe die Vermischung aller Mythologien und aller Zeitalter.

Augustinus' Bestreben war, die ge-

sammte Gedankenwelt seiner Zeit neu zu organisiren: es sollte nichts da­ sein, weder in der Mythologie, noch in der Geschichte, noch in der Philo­

sophie der früheren Jahrhunderte, das er nicht gleichsam von der alten

Stelle rückte um ihm einen neuen Platz anzuweisen. Wir haben noch nicht angefangen, Goethe'S Faust auch auf das hin zu betrachten, was nicht darin steht, d. h. das Gedicht als eine bewußt abgxgränzte Zusammenfassung von Ideen.

Ueberrascht hat in neuester Zeit die

Entdeckung, daß die Tragödie in vollem Maaße für die Bühne practitabel sei, und doch ist waS uns vorgeführt worden ist erst nur ein Auszug dessen

waS dem Dichter sicherlich in ganz anderen Effecten vorgeschwebt hat und waS auch spätere Bemühungen noch einmal in anderer Gestalt bühnenhaft zur Erscheinung bringen werden.

Wir stecken heute noch zu tief in der Welt drin, welche Goethe im zweiten Theile des Stückes allegorisch und symbolisch darstellen wollte; auch hier werden spätere Zeiten erst den richtigen Standpunkt gewinnen.

Wir ahnen nur, wie Goethe alles was wir mit so großem Respect heute

noch unter „Historie" verstehen, ironisch als bloße Phantasmagorien auf­ faßte, gut genug, um hergelaufenen Hexenmeistern den Schauplatz zu liefern, auf dem sie sich bethätigten; während die eigentliche Geschichte doch nur

im Emporwachsen der Menschheit zu höheren Einsichten und in der ge­ steigerten Theilnahme an dem bestehen kann, waS als unsterblich über die

vergänglichen Schicksale der Individuen weit hinauSragt.

Wir würden

Goethe'S Faust zu wenig thun, wenn wir ihn nur für das nähmen, als

daS seine bunt wechselnden Erlebnisse ihn erscheinen lassen, und eS wird

noch eine Zeit kommen, wo die Erklärer dieses Gedichtes sich mehr mit

werden, als mit dem was bloß an

dem was in ihm liegt beschäftigen

ihm

hängt.

weiß ich nicht.

Wieweit Augustinus'

Schriften

Goethe

bekannt

waren,

Er beschäftigte sich in seinen frühsten Zeiten schon mit den

Kirchenvätern auf Anregung des Fräuleins von Klettenberg*).

Augustinus in der Farbenlehre.

*) Dichtung und Wahrh. XV.

Er citiert

Er hat im Sommer 1781 Herders

In Hempels AuSg. III, 436.

Die Entstehung des Volksbuches vom Dr. Faust.

465

Theologische Briefe vor*), in denen von Augustinus als Autobiographen die Rede ist.

Indessen schon 1778 hatte Herder in seiner Schrift „Vom

Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele" auf Augustinus hinge­ wiesen und Goethe konnte von hier die erneute Anregung empfangen haben,

ihn zu lasten.

Was ich in diesem Aufsatz gebe, ist der Auszug einer größeren Ar­

beit, mit der ich seit Jahren beschäftigt bin, die jetzt aber im vollen Umfange auszuführen, die Zeit mangelte.

stücke nur, weil

Ich veröffentliche diese Bruch­

ich möglicherweise überhaupt nie dazu komme,

mehr

zu geben. *) Ich verdanke diese und die folgende Notiz Herrn Dr. Suphan.

1. Ostertag 1881.

Herman Grimm.

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

ii. Die Verhandlungen für jene Allianz zwischen Preußen und England, in der König Friedrich int Frühjahre 1748 die sicherste Garantie gegen die feindseligen Plane Oesterreichs und Rußlands finden zu können glaubte,

gelangten nicht über daS Stadium des vorbereitenden Meinungsaustausches

hinaus.

Die Sendung des Ritters Legge nach Berlin hatte Friedrich

durch die Ernennung eines seiner bewährtesten Diplomaten, des Geheimen

Raths von Klinggräffen, zum Gesandten am englischen Hofe erwidert.

Klinggräffen übergab seine Creditive im Juni 1748 in der Sommer­ residenz Georgs II. zu Herrenhausen; zu der nämlichen Zeit begab sich der Herzog von Newcastle auf den Continent, dem im Februar der seinem

Monarchen wenig genehme Lord Chesterfield seinen Platz als erster StaatS-

secretär des Auswärtigen geräumt hatte.

Vor seiner Abreise aus London

hatte Newcastle am 14. Juni eine Unterredung mit dem preußischen Ge­ schäftsträger Michell;

er drückte demselben seine Freude darüber aus,

Klinggräffen in Hannover zu finden und dort an die Neubefesttgung der

Freundschaftsbande zwischen den Souveränen Hand anlegen zu dürfen; aber er setzte hinzu, daß er von einer Clausel in seinen Instructionen nicht schweigen wolle, die ihn anhalte, daS mit Preußen abzuschließende Bündniß

auf die bisherigen Alliirten Englands auszudehnen und namentlich dem

Hofe zu Wien den Beitritt offen zu halten*).

Nicht gewillt, in Preußen

zukünftig, wie bisher in Oesterreich, seinen vornehmsten Alliirten zu sehen oder gar zwischen Preußen und Oesterreich zu wählen, verlangte die eng­ lische Politik von Preußen schlechthin die Rückkehr zu dem „alten System" wie eS Wilhelm III. gegen Frankreich begründet hatte, den Wiedereintritt

in die große europäische Coalition

gegen Frankreich.

König Friedrich

schrieb an Klinggräffen, indem er ihm die überraschende Meldung aus *) Bericht Michell's, London 14. Juni 1748.

London mittheilte (24. Juni), so wenig Feuer und Wasser zusammen be­ stehen könnten, so wenig sei eS ihm möglich, sich mit Oesterreich zu ver­ binden; die einzige Verpflichtung, die er in Bezug auf den Wiener Hof

gegen England eingehen könne, sei daS Versprechen, die Oesterreicher, so lange sie selbst Frieden halten wollten, nicht anzugreifen.

Eine Allianz,

die nach Friedrichs Absicht dazu dienen sollte, Preußens defensive Stellung

gegen Oesterreich zu stärken, mußte vollständig, illusorisch für ihn werden, sobald dasselbe Oesterreich im Bunde der Dritte sein sollte. In Hannover angelangt,

ließ sich Newcastle durch Georg II. und

seine hannöverschen Räthe immer tief in einen Jdeenkreis hineinziehell,

in welchem für den Gedanken an eine aufrichtige Allianz mit dem ver­ haßten brandenburgischen Nachbaren kein Raum war.

Zu einer staats­

männischen Erfassung des englischen Standpunktes, den Chesterfield und

Harrington gegenüber den welfischen Velleitäten des Trägers der Krone eingenommen hatte, vermochte sich ihr beschränkter, eitler und flüchtiger

Nachfolger nicht zu erheben.

Newcastle'S Briefwechsel ans diesen Wochen

mit seinem in London zurückgebliebenen Bruder Heinrich Pelham*), dem ersten Lord des Schatzes, ist in hohem Maße dafür belehrend, wie anders

der Wind in Hannover wehte als jenseits der Nordsee.

Sehr bald neigte

König Friedrich zu der Ansicht hin, daß das anfängliche Entgegenkommen

Englands vor allem den Zweck gehabt habe,

einen moralischen Druck

auf Oesterreich auszuüben und dessen Beitritt zu den zwischen England und

Frankreich

vereinbarten

Friedenspräliminarien

herbeizuführen**).

Denn das einseitige Vorgehen der beiden Westmächte bei der Feststellung

dieser Präliminarien, das Fait accompli, durch das England dem öster­ reichischen Hofe, seinem' bisherigen Waffengenossen, statt des früher in

Aussicht gestellten Aeqclivalents für das verlorene Schlesien jetzt bei der

schließlichen Abrechnung neue Opfer an Land und Leuten zumuthete, hatte in Wien begreiflicher Weise auf das Aeußerste verstimmt. Die Tactik Englands und Frankreichs beim Abschluß der Aachener

Präliminarien schien für ihre Politik in der nun beginnenden Friedens­

zeit vorbildlich werden zu sollen; in der Nachgiebigkeit mit der sich die beiderseitigen Alliirten Oesterreich und Spanien nach einigem Schmollen dem Rathschlusse der beiden Vormächte gefügt hatten, schien eine Auffor­ derung für letztere zu liegen, ihr Uebergewicht auch in der Folge auszu­

beuten.

Indem nun Frankreich und England ausgesöhnt waren und ent­

schlossen schienen, Hand in Hand dem Continent Gesetze vorzuschreiben verlor Preußen seine politische Stärke, die seit dem Regierungsantritte

*) Coxe, The administration of Pelham. **) Erlaß an Finckenstein in Petersburg, Stettin 10. Juli 1748.

468

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

Friedrichs II. stets gewesen war Frankreich gegen England und England

gegen Frankreich unentbehrlich zu sein.

Zu diesem durch die allgemeine

politische Configuration naturgemäß herbeigeführten Umschläge traten noch

Spannungen augenblicklicher und persönlicher Art.

Die Ergebnißlosigkeit

jenes Annäherungsversuches zwischen Preußen und England hatte, wie es zu geschehen pflegt, auf beiden Seiten nur eine um so schärfere Oereiztheit hinterlassen, während die Empfindlichkeit des C.abinetS von Versailles

sich für die nicht unbemerkt gebliebene zeitweilige Cursänderung der preu­ ßischen Politik durch eine ostentative Kälte rächte.

Graf Saint-Ssverin,

Frankreichs Bevollmächtigter auf dem Aachener FriedenScongresse, der als

der Begründer und Vertreter des Einvernehmens mit England galt und jetzt eben einen Sitz im Ministerrathe bekommen hatte, gab dem Gesandten König Friedrichs ebenso wie dem Vertreter von Schweden, Baron Scheffer, zu verstehen, daß ihm die Besuche der beiden Diplomaten trotz jahrelanger

Bekanntschaft in der gegenwärtigen Situation nicht willkommen sein könnten; offenbar mit Rücksicht auf die Wiederherstellung der Beziehungen Frank­

reichs zu den Höfen von London und Wien*).

Hatten also die Personen

die dem Könige von Preußen nahe standen, Unrecht, wenn sie den Aachener

Frieden als das unvortheilhafteste Ereigniß hätte treffen können**)?

betrachteten,

das Preußen

Der König selbst verhehlte sich die gefahrvolle

Jsolirtheit seiner Lage keinen Augenblick.

Er gewann es über sich, auf

die auS Paris einlaufenden ungünstigen Berichte die Maßregeln gegen

das englische Cabinet zu suspendiren, zu denen er sich im Interesse der

während des Krieges durch die englischen Kaper geschädigten preußischen

Kauffahrer entschlossen hatte***).

dische Kronprinzessin,

Er beschwor seine Schwester, die schwe­

ihren Plänen zur Herstellung der absoluten Re-

gierungSform in Schweden zu entsagen, zu denen er die Prinzessin selbst

vordem angeregt hatte, als im Frühjahre 1748 der. Kern der russischen

Streitmacht, jenes rheinwärtS ziehende HülfScorpS von 30,000 Mann, gegen Frankreich engagirt schien: jetzt,

nach der plötzlichen Abwandlung

der europäischen Verhältnisse, hielt er eS für dringend geboten, jede Her­

ausforderung Rußlands zu vermeiden. Um so mehr mußte es ihn beunruhigen, als grade in diesem Augen­ blicke Rußland sich zu rühren begann und zu einer großen offensiven

Action schreiten zu wollen schien. Wir wissen aus den Mittheilungen, die ein schwedischer Forscher aus *) Bericht des Baron Chambrier, Paris 20. Dec. 1748. **) „La paix qui etait tont ce qui pouvait arriver de plus desavantageux au Boi.“ Ulrike von Schweden an den Prinzen von Preußen; Zeitschrift für Preu­ ßische Geschichte Bd. 18, 32. ***) Erlaß an Klinggräffen in London, 31. December 1748.

den Acten des dänischen Geheimarchivs gemacht hat*), daß Ende 1748 durch den russischen Gesandten in Kopenhagen dem dänischen Hofe die

Eröffnung gemacht worden ist, Rußland beabsichtige den Kronprinzen von Schweden, Adolf Friedrich von Holstein-Gottorp, den Schwager des Kö­

nigs von Preußen, von der Thronfolge auszuschließen und eine Neuwahl zu

Gunsten des

Prinzen Friedrich von Hessen,

deS Schwiegersohnes

Georgs II. von England, durchzusetzen; der dänische Hof wurde aufgefor­

dert, mit Rußland gemeinsame Sache zu machen. Graf Bestushew war sich der Tragweite seiner Politik, wie seine Er­

öffnungen an das Wiener Cabinet aus jenen Tagen beweisen**), wohl bewußt.

Nach dem Separatartikel der preußisch-schwedischen Defensivalltanz

von 1747 war Preußen für den Fall eines Attentats auf die in Schweden

bestehende Thronfolgeordnung seinem Alliirten zur HülfSleistung

„mit

allen Kräften" verbunden; für den Fall eines Conflicts zwischen Preußen

und Rußland aber, wie er bei Ausführung der Pläne Bestufhew'S unver­ meidlich geworden wäre, bestimmte der berüchtigte vierte Geheimartikel der

Petersburger Allianz von 1746, daß die Kaiserin Maria Theresia alsdann ihrer Verzichtleistung auf Schlesien und Glatz quitt und zum Angriffe

gegen Preußen verpflichtet sein sollte. König Friedrich ist in den Zusammenhang der Verhandlungen seiner Gegner nicht vollständig eingedrungen;

aber nach den ihm zugehenden

Informationen sah er doch hinreichend klar, um sich deS ganzen Ernstes der Situation bewußt zu werden***).

Anfang März 1749 schien ihm der

Krieg unvermeidlich; aber indem er, Feldherr und Kriegsminister in einer

Person, schon den Aufmarsch vorbereitet, bewahrt er sich den Hellen Blick und Lie sichere Hand des Staatsmannes, der noch in der zwölften Stunde

den Frieden zu erhalten strebt.

Im Gegensatz zu der zuwartenden Hal­

tung, die Friedrich während der letzten Jahre eingenommen hatte, sehen wir chn mit virtuoser Sicherheit eine diplomatische Campagne im größten

Stil eröffnen, um durch eine Reihe kühner und unerwarteter Züge die Gegner aus ihrer vortheilhaften Stellung zu setzen.

Ein Rundschreiben,

das Mitte März den Vertretern Preußens im Auslande zuging, beauftragte

dieselben mit einer Erklärung, die auf ganz Europa wie ein kalter Strahl wirkte:

„Da anjetzo in einigen benachbarten Landen verschiedene unge­

wöhnliche Bewegungen verspürt und ganz außerordentliche KrtegSrüstungen und solche Veranstaltungen getroffen werden, daß man nicht unbillig be*) Bergt. Malmström Sveriges Politiska Historia 3, 323. **) Bergt. A. Beer, Aufzeichnungen des Grasen Bentinck, S- OHL ***) Daß die Thronfolge in Schweden dem Prinzen Friedrich von Hessen zugedacht »erde, erfuhr Friedrich am 10. Februar 1749 durch einen Bericht KlinggräffenS, London 28. Januar.

470

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dein siebenjährigen Kriege.

sorget sein muß, daß leicht in bevorstehendem Frühjahre der Ruhestand im Norden gestöret werden könne, so haben Se. Königl. Majestät der

Nothdurft zu sein erachtet, sich ebenmäßig in solche Verfassung

setzen,

damit Dero Armee gleichfalls im Stande sein möge, aller Gefahr, so bei gegenwärtigen Umständen Ihren Landen und Unterthanen unvermuthet zugezogen werden könnte, vorzubauen und abzukehren."

Der Schluß der

Erklärung, die am 15. März auch an der Spitze der Breslauer Zeitungen erschien, betonte den

Mobilmachung.

defensiven

Charakter,

die Friedenstendenz dieser

Gleichzeitig (18. März) richtete der König ein Hand­

schreiben an den König von England, das denselben aufforderte, seine

Bemühungen mit denen Preußens zur Aufrechterhaltung deS Friedens zu vereinigen — eine ungemein glückliche Eingebung, insofern der König von

England und sein Ministerium genöthigt wurden, Farbe zu bekennen und

hinter den Coulissen hervorzutreten.

Die Warnungen, die König Friedrich

nach Stockholm sandte, rüttelten die schwedische Regierung aus ihrer

Schlaffheit

auf unb veranlaßten sie zu wirksamen militärischen Sicher­

heitsmaßregeln; ihren Haupthebel aber setzte die preußische Politik in Ver­

sailles an.

Trotz seiner jungen Liebe für den alten Gegner England ver­

mochte sich das französische Ministerium dem überzeugenden Gewicht der

preußischen Argumente nicht zu verschließen und entschied sich, wenn auch zögernd und mit halbem Herzen, für eine diplomatische Pression auf das britische Cabinet im Sinne der Aufrechterhaltung des Friedens im Nor­

den.

Mit jedem Tage gewann Friedrich nun mehr Terrain in Versailles.

Unter französisch-preußischer Vermittelung, begann eine Verhandlung zwi­ schen dem schwedischen Kronprinzen Hofe zu Kopenhagen,

als Herzog

von Holstein und dem

die noch im Sommer 1749 zu dem gewünschten

Ziele führte, den alten Zwist des dänischen Königshauses mit der Linie 'Holstein-Gottorp zu begleichen und Dänemark von der englisch-russischen

Partei zu der Frankreichs und Preußens herüberzuziehen. In Konstantinopel vermochte der französische Einfluß die Pforte zu einer Intervention am

russischen Hofe für Schweden, den alten Bundesgenossen der Osmanen, und

um mit der türkischen Macht in unmittelbare Fühlung zu treten,

weigerte sich König Friedrich nicht länger (Mai 1749), gemäß einem be­ reits wiederholt ausgesprochenen Wunsche Frankreichs den

Botschafter

französischen

in Konstantinopel mit der Vollmacht zum Abschlusse eines

preußisch-türkischen Bündnisses auszustatten*).

Der russische Hof, der in

*) Die Einzelheiten der diplomatischen Action von 1749, die hier übergangen werden müssen, wird man in den Bänden 6 und 7 der „Politischen Correspondenz" be­ legt finden, wie überhaupt dieser Aussatz im Zusammenhang der Arbeiten für jene Publication entstanden ist und, wo nichts anderes angegeben ist, auf bisher unbenntzte Acten des Berliner Archivs sich stützt.

Stockholm die herausforderndsten Noten hatte übergeben lassen,

sah sich

zu einer Recülade genöthigt; seine eigenen AMrten, England und Oester­ Graf Kaunitz, der nachmalige Leiter der

reich, desavouirten ihn jetzt.

österreichischen Politik, suchte den Vertreter Schwedens in Wien durch die Bemerkung zu beschwichtigen, der allerdings indecente Ton der russischen Noten sei ein Rest der Barbarei, die noch über Rußland lagere; und

der

österreichische

Hofkanzler

Graf

Ulfeld

erklärte

dem

schwedischen

Diplomaten, der Ton dieser Noten möge dem Stockholmer Hofe als Be­

weis dienen, daß man sich vor Ueberreichung derselben mit der Kaiserin-

Königin nicht concertirt habe*).

Mit Genugthuung konnte König Friedrich

im Herbst 1749 auf die großen Erfolge zurückblicken, die seine Politik

seit dem Frühjahre erzielt hatte. seinen Gesandten in Wien:

Am 1. September 1749 schrieb er an

„Es ist sicher, daß das Spiel des Wiener

Hofes jetzt nicht mehr so schön ist, wie vor sechs Monaten, und wenn es

damals Vortheilhaft für denselben gewesen wäre, seine Pläne auszuführen, so ist der Moment jetzt vorüber.

Unsere Partei ist während dieser Zeit

die stärkere geworden, und wenn der Wiener Hof zu Gewaltthätigkeiten vorgehen wollte,

so würde er uns fertig finden, und unsere Batterien

völlig bereit, ihn zu empfangen wie es sich

gehört."

Dem Marquis

Balory, Gesandten Frankreichs an seinem Hofe sagte der König nicht lange darauf, alle seine Besorgnisse hätten sich zerstreut; er sei sogar der

Ansicht, daß wenn der Tod des Königs von Schweden jetzt im Augenblicke erfolgte, die Russen gleichwohl nichts thun würden:

„Voilä, mon ami,

un jeu d’echecs bien arrange**).“ Friedrich pflegte jetzt oft so rückhaltlos sich mit dem französischen

Gesandten zu besprechen, der gradezu sein politischer Vertrauter wurde,

ein Vertrauen dessen sich noch in höherem Grade Valory'S Nachfolger, der irische Emigrant Lord Tyrconnell, zu erfreuen hatte.

politische System des Königs war eben ein anderes geworden.

DaS ganze Aus seiner

Mittelstellung zwischen Frankreich und England war er, ohne einen ge­ schriebenen Vertrag, in eine große Coalition unter französischer Führung

getreten und somit in einen entschiedenen Gegensatz zu England. Das modificirte auch Preußens Verhältniß zu Rußland.

Hatte das

Zarenreich bis 1748 in dem Könige von Preußen den Freund Englands zu respectiren gehabt, hatte es sich dem verhaßten Nachbaren gegenüber einen moralischen Zwang auferlegen müssen, so wurde die russische Macht

jetzt durch einen stärkeren Zwang in ihren Schranken gehalten, durch die *) Bericht des preußischen Gesandten Graf O. Podewils, Wien 4. October 1749. **) Bericht des Marquis Valory, Berlin 15. Nov. 1749 (Archiv des Auswärtigen Ministeriums zu Paris).

472

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

imposante Machtaufstellung der großen Liga zwischen Frankreich, Preußen,

Schweden, Dänemark und. der Pforte, einer Einung der sich bald noch Es ist begreiflich, daß

eine Anzahl kleiner deutscher Fürsten anschlossen.

sich unter diesen Umständen die Gereiztheit des russischen Hofes gegen

Preußen noch steigerte, während König Friedrich immer geringeren Werth auf die Pflege der Beziehungen zu Rußland legte.

Die Residenz der

Zarin galt dem Könige diplomatisch als ein verlorener Posten.

Schon

Ende 1748 erhielt Graf Finck von Finckenstein, den sein Gebieter als einen seiner fähigsten Diplomaten betrachten durfte, seine Abberufung von diesem Posten; man hatte dem Grafen jede Gelegenheit der Kaiserin sich

zu nähen abgeschnitten, auch den Kanzler bekam er fast nie zu sprechen*). „Finck ist aus Rußland zurück und macht Beschreibungen um in Ohn­ macht zu fallen" schreibt der König am 16. Februar 1749 nach des Ge­

sandten Wiederankunft befindlichen Bruder,

in Potsdam

an

seinen

damals

den Prinzen von Preußen.

in Baireuth

FinckensteinS Nach­

folger, Baron v. d. Goltz, war ein jüngerer Diplomat, der bisher noch mit keiner selbstständigen Mission

betraut

selbst nennt ihn eine Novize**).

gewesen

war;

König Friedrich

Als Goltz 1750 aus Gesundheitsrück­

sichten seine Abberufung erbat, begnügte sich der König mit der Ernennung

deS bisherigen BüreauchefS der Gesandtschaft, des bürgerlichen LegationSfecretärS Warendorff, zum bevollmächtigten Minister.

Ende

1750 kam

es zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und Petersburg.

Graf KehserlingkS Nachfolger am preußischen Hof, ein Herr

von Groß, dem von Paris aus der Ruf feines Preußenhaffes vorange­ gangen war, verließ Berlin, ohne um eine Abschiedsaudienz zu bitten, indem er bei den Einladungen zu einem Hoffeste in beleidigender Weise

übergangen zu sein vorgab.

König Friedrich eröffnete darauf den fremden

Höfen durch eine Circularnote, da ihm die Ursachen dieser schleunigen Abreise gänzlich unbekannt seien, „eS sei denn daß der russische Hof mit

ihm brechen wolle", so dulde sein Ansehen nicht länger, seinerseits einen Vertreter in Petersburg zu lassen.

So schroff sich somit das Verhältniß zu Rußland gestaltet hatte, und so unversöhnlich der Gegensatz gegen Oesterreich war und blieb, so schien es demnächst doch eine geraume Zeit lang, als ob in dem sich vorberei­ tenden allgemeinen Kriege der erste Schuß aus einer preußischen Muskete nicht gegen Oesterreich noch gegen Rußland werde abgegeben werden, son­

dern gegen deren Verbündeten, gegen den König von England.

Wir ge­

dachten schon im Vorübergehen der Schädigung, die während des letzten *) Vergl. Politische Correspondenz 5, 505. 544. **) An de» Prinzen von Preußen, 23. Juli 1749.

Krieges

der preußische Seehandel durch die englischen Kaper erlitten.

Hatte es Ende 1748 einen Augenblick gegeben, wo der König von Preußen

gegen das Cabinet von St. James den Bogen weniger straff anziehen zu müssen glaubte, so trat er, sobald er seine Position in beftiedigendster

Weise diplomatisch verstärkt sah, um so energischer für die Interessen

seiner Unterthanen

ein und

verwirklichte 1752 eine wiederholt ausge­

sprochene Drohung, indem er die Einlösung der auf Schlesien eingeschrie­

benen Hhpothekenforderungen englischer Gesellschaften suSpendirte und den Betrag

der noch ausstehenden englischen Guthaben bei dem Berliner

Kammergericht niederlegte.

Je empfindlicher diese Maßregel den engli­

schen Geldmarkt traf, um so mehr trug sie doch andererseits dazu bei, das Jnselvolk gegen seine sonstige Gewohnheit in den rein dynastischen

Streitigkeiten seine» hannöverischen Königs mit der Krone Preußen für

das welfifche Interesse zu gewinnen.

Seit 1744 bemühte sich Georg II.

als Kurfürst von Hannover den Ansprüchen seines Hauses auf das 1744

in preußischen Besitz gekommene Fürstenthum Ostfriesland die reichSrecht-

liche Anerkennung zu verschaffen; vielleicht noch bitterer aber als das preu­

ßische Wappen in Embden und Aurich kränkte den Welfenfürsten der Widerstand seines Neffen in Potsdam gegen den großen Plan, den Erz­

herzog Joseph noch bei Lebzeiten seines Vaters, deS Kaisers Franz, zum

römischen Könige zu wählen.

Nicht der Wiener Hof, sondern König Georg

persönlich hatte diesen Plan angeregt, und unermüdlich arbeitete er an den

Höfen der Kurfürsten für dessen Verwirklichung, denn sein Maklerlohn

sollte die Erwerbung von Osnabrück für seinen Lieblingssohn, den Herzog

von Cumberland, sein.

Die alten Zeiten, da König Friedrichs Vater

mit seinem Schwager von England gehadert, schienen für Preußen und

England-Hannover wiederkehren zu wollen.

In Hannover traf man Vor­

bereitungen zur Abwehr eines preußischen Angriffs; mehrere Jahre hin­ durch glaubte man sich auf denselben gefaßt machen zu müssen*).

In der

That ist ein auf Befehl deS Königs ausgearbeiteter Kriegsplan aus der Feder deS jungen Prinzen Heinrich von Preußen erhalten, in welchem

unter der Voraussetzung des Ausbruchs eines gleichzeitigen Kriegs gegen

England, Oesterreich und Rußland eine preußische Occupation deS KurfürstenthumS Hannover in Aussicht genommen wird.

Dem Plan ist von

dem Prinzen der Entwurf zu einem Kriegsmanifest gegen Georg II. bei­

gefügt.

*) Der Kammerpräsident v. Münchhausen schreibt an seinen Bruder, den Chef der deutschen Kanzlei Georgs II. in London, Hannover 12. Februar 1754: „Mit jedem herankommenden Frühlinge wachet auch das Gerücht von preußischen KriegSrüstungen wieder auf." (Staatsarchiv zu Hannover.)

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

474

ES ist nicht festzustellen, ob der König seinem jüngeren Bruder die

Ausarbeitung dieses Kriegsplanes nur als eine theoretische Uebungsarbeit aufgegeben haben mag.

An sich lag ja aber die Combination, von welcher

der KriegSplan ausgeht, zu nahe, als daß der König nicht mit ihr hätte rechnen sollen.

AIS einst, schon im Anfang von 1751, Graf Podewils, der

Minister des Auswärtigen, sich mit dem französischen Gesandten über ein

Gerücht unterhielt, wonach der König von Preußen eine Verstärkung der ostpreußischen Garnisonen beabsichtigen sollte, meinte der Minister, sein Ge­ bieter sei weit davon entfernt, daran zu denken; beginne der Krieg, so bleibe ihm keine andere Wahl als Ostpreußen dranzugeben, seine Kräfte zu ver­

einigen, sich bei seinen Nachbaren schadlos zu halten und sie zu zwingen, wie vordem in Dresden so jetzt in Hannover Frieden zu schließen*). Friedrich selbst läßt durch ein Paar überaus bemerkenSwerthe militärische Schriftstücke uns wenigstens für einen etwas früheren Zeitpunkt für jene

Krisis von 1749, einen Einblick in den Plan gewinnen, den er damals

seinen kriegerischen Operationen zu Grunde gelegt haben würde.

Eine

Ordre an den kommandirenden General von Lehwaldt in Königsberg vom 6. März 1749 beauftragt denselben mit den erforderlichen Vorkehrungen,

um im Falle eines Krieges mit Rußland alsbald die ganze in Preußen

stehende Truppenmacht, nebst aller waffenfähigen jungen Mannschaft vom Lande, über die Weichsel nach Pommern führen zu können; nur in den festen Plätzen sollten Besatzungen zurückbleiben. sichtigte der König, wie eine eigenhändig

Dort in Pommern beab­

von ihm niedergeschrtebene

Ordre de Bataille ersehen läßt, eine Armee von 27 Bataillonen und

50 EScadronS unter dem Commando des Thronfolgers zu vereinigen, dem

der Feldmarschall Schwerin zur Seite stehen sollte.

armee,

Ueber die Haupt­

61 Bataillone und 141 Schwadronen, deren Versammlung in

Schlesien stattfinden sollte, würde der König selbst den Oberbefehl über­

nommen haben, während er ein drittes Heer, 63 Bataillone und 85

Schwadronen, unter dem Feldmarschall Keith gegen Sachsen vorrücken zu lassen gedachte.

Wenn in diesem Zusammenhänge Podewils Aeußerung,

soweit sie Ostpreußen betrifft, an Bedeutung gewinnt, so figurirt also der Angriff gegen Hannover in dem Feldzugsplane von 1749 nicht.

Das

scheint unzweifelhaft, daß dem Könige von Preußen auch später die Er­

öffnung eines Krieges einseitig gegen Hannover nie in den Sinn ge­ kommen wäre**). *) Bericht Tyrconnell's, Berlin 2. März 1751. (Pariser Archiv.) **) Ein CabinetSerlaß an den preußischen Gesandten in Paris, George Keith, vom 3. März 1753 spricht von den „bruits calomnieux et absolument controuves qui ont couru d’une Invasion que je pröparerais de faire dans le pays d’Hanovre“.

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

475

Am liebsten hätte er das immer finsterer sich zusammenziehende Wetter

nach einer anderen Seite hin abgeleitet.

Eine Revolution im Serail,

der ein energischer und geschickter Großvezier seine Erhebung verdankte,

lenkte 1752 des Königs Blicke nach dem Bosporus.

Zwei Denkschriften,

die er Ende 1752 dem Könige von Frankreich übersandte, bezeichnen als daö wirksamste Mittel zur Erhaltung des Friedens im abendländischen Europa eine Kriegserklärung der Pforte gegen Oesterreich und Rußland,

welche die französische Diplomatie herbeizuführen

suchen müsse.

Friedrich präcisirt seinen Standpunkt in den Worten:

König

„Wir wollen den

Frieden; der Türkenkrteg ist es, der uns den Frieden verlängert und be­

festigt*).« Ludwig XV. antwortete mit allgemeinen Worten des Bedauerns , über

„den tyrannischen Despotismus den Rußland sich über seine Nachbarn angemaßt habe", versprach durch fortgesetzte Warnungen die Pforte gegen

die ehrgeizigen Projekte Rußlands „echauffiren" zu wollen und empfahl

als unfehlbares Gegenmittel die Schaustellung des vollkommensten Einver­

nehmens und Zusammenhaltens zwischen Frankreich, Preußen und Schweden. Für alle Pläne der Gegner den russischen Hof verantwortlich machend,

enthielt

die Antwort des französischen Königs auf die erste preußische

Denkschrift über Oesterreich kein Wort; erst die zweite Erwiderung sprach von der Politik der beiden Kaiserhöfe**).

Für Frankreich gab eS bereit-

ganz andere Jntereffen als diese Verwickelungen tat Norden und Osten, als die Verabredungen und Rüstungen der Kaiserhöfe, die den König von Preußen beunruhigen mochten.

Schon rächte sich in Nordamerika für

Frankreich die Kurzsichtigkeit, mit der man im Aachener Frieden die Festistellung der Grenzen zwischen den französischen und englischen Ansiedelungen am Ohio und Mtsstquash unterlassen hatte.

Frankreich hätte alle ernsteren

Reibereien zwischen den Colonisten vermieden gewünscht, um die Diffe­

renzen auf dem Wege der Unterhandlung zu schlichten; England, daS sich mit seinen Kriegsvorbereitungen tat Vorsprunge befand, sandte 1753 an

seine Colonisten den Befehl, den französischen Rivalen bei jedem Vor­

dringen im Urwalde Waffengewalt entgegenzusetzen.

König Friedrich ver­

folgte alle Schritte Englands mit Aufmerksamkeit und Sorge. Anfang 1754

trat ein Ereigniß ein, in welchem er eine gewisse Garantie für die Fort­ dauer des Friedens sehen wollte.

Am 17. März starb Heinrich Pelham,

der englische Staatsmann der seit elf Jahren, im Besitz des wichtigsten

Portefeuilles, der anerkannte Führer der herrschenden Partei gewesen war. *) 18. December 1752. Die im Pariser Archiv befindliche Denkschrift ist während der Revolutionszeit im Moniteur (20 pluviose VII) veröffentlicht worden. **) Choisy 15. November 1752 und Versailles 14. Januar 1753.

476

Preuße» und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

Auf die Nachricht von diesem Todesfälle schreibt Friedrich II. an seinen Gesandten in Paris*):

„Ich glaube, was wir durch dies Ereigniß ge­

wonnen haben, ist die Verlegenheit in die dieser Verlust den König von England und sein Ministerium setzt; sie werden gegenwärtig von neuem und unter sehr erschwerten Umständen mit der Arbeit und Mühsal für die bevorstehenden Parlamentswahlen beginnen müssen, denn allein der

selige Pelham besaß daS Geheimniß dafür, kannte die Mittel und war die

bewegende Kraft" (la

cheville ouvriere).

Zwei Monate später

(21. Mai) wiederholt der Kömg demselben Gesandten:

„Trotz allem bin

ich noch der Ansicht, daß dieses Jahr noch ruhig dahingehen wird; aber

Acht werde ich auf die Sitzungen des neuen Parlaments im Juni und vor allem im November zu geben haben, denn das ist die Zeit wo alles sich enthüllen muß, was für den allgemeinen Frieden zu hoffen oder zu

fürchten ist."

Inzwischen war bereits daS

erste Blut geflossen.

Am

28. April demolirten die Franzosen die englischen Pfahlwerke am Zusam­ menflüsse des Ohio.

Am 14. Juli capitulirte der zweiundzwanzigjährige

George Washington im Fort Necessith auf den großen Wiesengründen nach heißem Kampfe gegen eine französische Uebermacht.

Die englisch-

französischen Händel trieben der Entscheidung zu. Anfang April 1755 ließ Friedrich II. eines Tages den französischen

Gesandten La Touche in sein Cabinet rufen.

Der König sagte ihm:

„Ich erfahre aus sicherer Quelle daß -alle Versöhnungsversuche zwischen

Ihrem Hofe und dem von London heute nicht bloß schwierig, sondern gradezu unmöglich scheinen.

Wissen Sie, wofür ich mich in der gegen­

wärtigen Lage entscheiden würde,

wäre?

wenn ich der König

von Frankreich

Sobald die Kriegserklärung erfolgt wäre, oder wenn die Eng­

länder Feindseligkeiten gegen Frankreich begehen würden, wie sie dem

Gerücht nach im Mittelmeer es gethan haben sollen, so würde ich ein beträchtliches Truppencorps nach Westphalen marschiren lassen, um es so­ fort in daS Kurfürstenthum Hannover zu werfen"**).

An demselben Tage,

da La Touche seinen Bericht über diese Aeußerung nach Versailles ab­

stattete, schrieb Friedrich in dem nämlichen Sinne an seinen Gesandten Knyphausen in Paris: der Krieg zwischen Frankreich und England scheine unvermeidlich, England wolle den Krieg allgemein machen.

„Da ist mir

nun die Idee gekommen, ob eS sich für Frankreich nicht empfehlen möchte,

vorausgesetzt, daß der König von England ihm den Krieg erklärt, alsbald

ein ansehnliches Truppencorps graben WegeS nach Hannover zu senden, dort sich festzusetzen und dann den Gegner zu fragen, ob er nicht geneigt *) George Keith; 26. März 1754. **) Bericht von La Touche, Berlin 5. April 1755.

Pariser Archiv.

Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege.

ist, den Frieden wiederherzustellen."

477

Knyphausen trug diese Idee dem

französischen Minister RouillL vor, und Rouills antwortete ihm, wenn die Pläne Englands in der That offensiv

seien, so unterliege

eS keinem

Zweifel, daß man sich anschicken müsse, eine Diversion im Hannöverischen und im Gebiet der Alliirten Hannovers zu machen.

Was den Feldzug

gegen Hannover anlange, so schmeichle man sich, daß der König von Preußen nicht bloß dabei Mitwirken, sondern diesen Theil der Operationen ganz und allein auf sich nehmen werde.

Die Lage seiner Staaten

setze ihn in Stand, eine solche Unternehmung mit Schnelligkeit und Er­ folg auszuführen und in dem occupirten Lande werde er reichen Ersatz

für die Kosten finden, die der Krieg ihm verursachen könne*).

Auf einen solchen Vorschlag war König Friedrich nicht gefaßt ge­ wesen.

Er wies Knhphausen an, dem französischen Minister, falls der­

selbe auf diesen Gegenstand zurückkommen sollte, in den höflichsten und schonendsten Worten zu erwidern, der König werde stets den denkbarsten

Antheil an alle dem nehmen, waS Frankreich betreffe; aber die Diversion

welche er machen sollte, würde für ihn schwer ausführbar sein.

Rouillü

möge bedenken, daß der König von Preußen jeden Sommer 60,000 Russen in Kurland auf dem Halse habe, gewiß keine Kleinigkeit; daß er außerdem

die Sachsen zu berücksichtigen habe, daß von einer dritten Seite sich tot Umsehen mindestens 80,000 Oesterreicher an seiner Grenze versammeln

könnten, daß er weder auf Dänemark noch auf die Pforte mit Sicherheit

rechnen könne, kurz daß er, ohne eine mächtige Stütze wenigstens von einer Seite her, nicht die ganze Last deS Krieges auf sich nehmen könne.

Ohne die geringste Gereiztheit durchbltcken zu lassen oder in den Ton des Borwurfs zu verfallen, sollte Knhphausen

bei

dieser Gelegenheit dem

ftanzösischen Minister doch zu verstehen geben, daß Frankreich während

deS zweiten schlesischen Kriege- die Bestimmungen deS Pariser Vertrages von 1744 unausgeführt gelassen habe.

Wolle Frankreich den König jetzt

von Neuem in eine Unternehmung von größter Tragweite verwickeln, so

müsse man Sicherheiten haben für eine wirksame Unterstützung**). Seitdem

schieden sich die Wege Preußens und Frankreichs.

Am

16. Jan. 1756 schloß König Friedrich mit England die Westminsterallianz, durch deren zweiten Artikel

er sich verpflichtete, bei einem Einmärsche

fremder Tmppen in Deutschland zur Vertheidigung Hannovers mitzu­ wirken.

*) Bericht Knyphausen's, Paris 25. April 1755. Sergi, dazu (Euvrea de Prüderie 4, 29. **) Erlaß an Klipphausen, Potsdam 6. Mai. Anführungen daraus bei Schäfer, Sieben­ jähriger Krieg, 1, 104.

Preußische Jahrbücher. Bd. XLVII. Heft 5.

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Preußen und Rußland im Jahrzehnt vor dem siebenjährigen Kriege. Als Hauptmotiv zu dem Westminstervertrag erscheint in deS Königs

Denkwürdigkeiten über den siebenjährigen Krieg*) die Rücksicht auf Ruß­ land, die Hoffnung, zugleich mit der englischen Allianz und dur