Predigten 1898-1948: Redaktion: Brüllmann, Richard; Gräßer, Erich 9783406704741

Die Predigten des Theologen Albert Schweitzer stehen im Zentrum seiner Tätigkeiten als Arzt, Musiker und Gelehrter. Ihre

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German Pages 1387 Year 2017

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Table of contents :
Cover
Titel
Zum Buch
Die Herausgeber
Impressum
Inhalt
Abkürzungen
Vorbemerkungen. Von Richard Brüllmann und Erich Gräßer
Der Prediger Albert Schweitzer. Von Richard Brüllmann
1. Der Predigtsinn
2. Der Predigtraum
3. Die Predigtorte
4. Die Predigtgemeinden
5. Das Predigtecho
6. Die Predigtweise
7. Der Predigttext
8. Der Predigtinhalt
9. Die Predigtbotschaft
10. Das Predigtmaterial
11. Das Predigterlebnis
I. Predigten des Jahres 1898
1898 [Mt. 15,21–28] Das kanaanäische Weib
31.7.1898 Mt. 7,17–21 [Ein guter Baum bringt gute Früchte]
2.10.1898 Lk. 18,18–30 [Der reiche Jüngling]
26.12.1898 [ohne Text] [Die Kindheit Jesu]
II. Predigten des Jahres 1899
1899 I Kor. 15,53–57 [Auferstehung]
20.8.1899 [ohne Text] [Gedanken zur Erntezeit]
20.8.1899 I Petr. 3,18–4,6 [Das Leiden Jesu]
17.9.1899 Koh. [1,2] [Alles ist eitel]
17.9.1899 I Petr. 5 [Ermahnungen]
17.12.1899 Mt. 11,2–6 [Bist du, der da kommen soll?]
24.12.1899 Lk. 2,10 f. Siehe, ich verkündige euch große Freude
25.12.1899 Lk. 2,10 f. Siehe, ich verkündige euch große Freude
31.12.1899 I Kor. 13,13 Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei
III. Predigten des Jahres 1900
28.1.1900 Mk. 10,13–16 [Jesus segnet die Kinder]
25.2.1900 I Thess. 5,16 Seid allezeit fröhlich
Röm. 12,15 Freuet euch mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden
7.3.1900 Mt. 21,45 f. [Das Leiden Jesu]
11.3.1900 II Kor. 5,15 [Der Tod Jesu]
25.3.1900 Röm. 6,3–11 [Die Bedeutung des Todes Jesu]
1.4.1900 Mt. 22,2–13 Das Gleichnis von der königlichen Hochzeit
13.4.1900 Mt. 27,21–26 [Jesus oder Barabbas]
20.5.1900 Mt. 5,9 Selig sind die Friedfertigen
24.5.1900 Mt. 25,23 Ei, du frommer und getreuer Knecht
10.6.1900 Mt. 5,3 Selig sind, die da geistig arm sind
24.6.1900 Mt. 5,4 Selig sind, die da Leid tragen
29.7.1900 II Kor. 5,17–21 Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!
12.8.1900 Mt. 22,1–14 Die königliche Hochzeit
19.8.1900 [Ohne Text] Gott sei Dank für alles
19.8.1900 I Kor. 15,57 f. Sieg über den Tod durch Christus
26.8.1900 Mt. 5,7 Selig sind die Barmherzigen
2.9.1900 Mt. 5,5 Selig sind die Sanftmütigen
9.9.1900 [Joh. 16,22] [Ihr habt nun Traurigkeit]
9.9.1900 Mt. 5,3 Selig sind, die da Leid tragen
23.9.1900 Mt. 5,8 Selig [sind,] die reines Herzens [sind]
9.12.1900 Mt. 3,1–10 Die Predigt des Täufers
21.12.1900 [Ohne Text] [Freude]
23.12.1900 Lk. 1,68–80 [Advent]
IV. Predigten des Jahres 1901
1.1.1901 Ps. 62,2 Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft
6.1.1901 Mt. 25,14–30 Gleichnis von den anvertrauten Pfunden
27.1.1901 Joh. 14,6–10 [Christus ist der Weg und die Wahrheit und das Leben]
3. 2.1901 Mt. 6,25–33 [Sorget nicht!]
17.2.1901 Joh. 11,46–54 [Kaiphas]
24.2.1901 Mt. 16,21–24 Ich muß leiden
10.3. 1901 Mk. 14,32–42 Gethsemane
14.3. 1901 Mt. 5,4 Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden
17.3. 1901 Joh. 18,33–38 Jesus vor Pilatus
26.3.1901 Phil. 1,23 Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein
31.3.1901 [Mt. 21,5] [Dein König kommt zu dir]
4.4.1901 Mk. 14,22–24 [Das Abendmahl]
14.4.1901 Joh. 8,12 Ich bin das Licht der Welt
14.4.1901 Mt. 7,7–11 Das Bittgebet
5.5.1901 Joh. 17,9–19 [Das Hohelied des Christenstandes]
16.5.1901 Act. 1,9–12 [Himmelfahrt Christi]
19.5.1901 Joh. 21,1–17 [Jesu Erscheinung am See Genezareth]
26.5.1901 Mk. 3,22–30 Die Sünde wider den heiligen Geist
3.6.1901 Mt. 5,4 Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden
9.6.1901 Mt. 13,3–9 Das Gleichnis vom Sämann
16.6.1901 Mk. 10,17–27 Der reiche Jüngling
23.6.1901 Lk. 13,23–30 Der Weg zur Seligkeit
14. 7.1901 Kol. 3,2–15 Trachtet nach dem, das droben ist
4.8.1901 Phil. 4,4.6.7 Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
11.8.1901 Mt. 5,14–16 Ihr seid das Licht der Welt
25.8.1901 Phil. 2,14 f. [Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel]
1.9.1901 Mt. 16,13–20 Offenbarung des Messiasgeheimnisses
15.9.1901 Mt. 12,38–41+ Joh. 14,11 f. Die Wunder Jesu
15.9.1901 Röm. 8,28 Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten
6.10.1901 Mt. 7,21 Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr
13.10.1901 Lk. 6,47–49 Schlußgleichnis der Bergpredigt
20.10.1901 Apk. 21,5 Siehe, ich mache alles neu
3.11.1901 Joh. 5,39 Suchet in der Schrift
10.11.1901 Mt. 5,13–15+ Gal. 5,1.13 [Protestantismus]
8.12.1901 Phil. 2,5–11 Die Menschwerdung des Geistigen
15.12.1901 Lk. 3,4 Bereitet den Weg des Herrn
25.12.1901 Gal. 4,6 Weil ihr denn Kinder seid
29.12.1901 Apk. 3,20 Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an
V. Predigten des Jahres 1902
1902 Phil. 3,12–14 Nicht daß ich’s schon ergriffen habe
26.1.1902 Ps. 139,1–12.23 f. [Die Allwissenheit Gottes]
16.2.1902 Mt. 13,12 Wer da hat, dem wird gegeben
23.2.1902 Joh. 12,32 f. Wenn ich erhöht werde von der Erde
9.3.1902 Mk. 14,61 Jesus aber schwieg stille
25.3.1902 Mk. 10,45 Des Menschen Sohn ist gekommen
6.4.1902 Mt. 13,31 f. Gleichnis vom Senfkorn
27.4.1902 Phil. 3,20 Unser Wandel aber ist im Himmel
11.5.1902 Lk. 10,17–21 Die Rückkehr der 70
18. 5.1902 Joh. 16,13 Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird
25.5.1902 Lk. 10,25–37 Der barmherzige Samariter
15.6.1902 Ps. 50,14 f. Opfere Gott Dank
22.6.1902 Joh. 8,31–36 Wahrheit –Sünde
29.6.1902 Mt. 25,14–30 Das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden
13.7.1902 Mt. 7,12 Alles, das ihr wollt, daß euch die Leute tun
20.7.1902 Joh. 15,9–16 [Liebe]
3.8.1902 Lk. 9,51–56 [Feuer vom Himmel]
21.9.1902 Eph. 6,7 f. [Dem Herrn dienen]
16.11.1902 Mk. 10,35–40 Das Leiden
7.12.1902 Lk. 19,46 Mein Haus ist ein Bethaus
14.12.1902 Jes. 9,1 Das Volk, das im Finstern wandelt
VI. Predigten des Jahres 1903
1.1.1903 I Petr. 5,6 f. So demütiget euch nun unter die gewaltige Hand Gottes
4.1.1903 Röm. 1,7 Gnade sei mit euch und Friede
25.1.1903 Gal. 2,16–21 [Christus lebt in mir]
1. 2.1903 Mt. 15,21–28 Herr, hilf mir!
8. 2.1903 Hebr. 12,1 f. Lasset uns ablegen die Sünde, die uns träge macht
1. 3.1903 I Kor. 8,2 f. Gott lieben
8. 3.1903 II Kor. 8,7–9 Die Wohltätigkeit
15. 3.1903 Röm. 8,31 f. [Das Leiden Jesu]
22.3.1903 Jes. 52,13–53,9 [Durch Christus frei von der Welt]
5.4.1903 Luk. 11,1 Herr, lehre uns beten
9.4.1903 [Mt. 26,26–30] [Das Abendmahl]
3.5.1903 Mt. 26,6–13 [Die Salbung in Bethanien]
21.5.1903 Phil. 3,20 Unser Wandel aber ist im Himmel
14.6.1903 Mt. 18,3 Werdet wie die Kinder
14. 6.1903 Jak. 1,22 Seid aber Täter des Worts
21. 6.1903 Hebr. 13,14 Wir haben hier keine bleibende Stadt
5.7.1903 II Tim. 2,5 Und so jemand auch kämpft, wird er doch nicht gekrönt
12.7.1903 Ps. 23 Der Herr ist mein Hirte
19.7.1903 Apk. 2,10 [Sei getreu bis an den Tod...]
2.8.1903 Lk. 17,20 f. Das Reich Gottes ist inwendig in euch
9.8.1903 Lk. 14,28–33 Wer ist aber unter euch, der einen Turm bauen will?
8.11.1903 Röm. 15,13 Gott aber der Hoffnung
22.11.1903 Ps. 50,14 Opfere Gott Dank
29.11.1903 Mt. 7,11 So denn ihr, die ihr doch arg seid
6.12.1903 Phil. 2,5–10 [Die Menschwerdung Gottes]
27.12.1903 Lk. 12,49 Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden
VII. Predigten des Jahres 1904
3.1.1904 Lk. 10,38–42 Maria und Martha
10.1.1904 Lk. 5,4–11 Petri wunderbarer Fischzug
17.1.1904 Mk. 1,21 f. Und er predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten
7.2.1904 Mt. 6,10 Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden
14.2.1904 Joh. 7,17 f. So jemand will des Willen tun, der wird erkennen
6.3.1904 II Kor. 5,15 Und er ist darum für alle gestorben
13.3.1904 Mk. 10,46–52 Der Blinde zu Jericho
20.3.1904 II Kor. 4,10 Wir tragen um allezeit das Sterben des Herrn Jesu
29. 3. 1904 I Petr. 4,1 Weil nun Christus im Fleisch für uns gelitten
hat
3.4.1904 Joh. 14,27 Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch
24.4.1904 Mt. 28,20 Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende
1.5.1904 Kol. 3,16 Singet dem Herrn in eurem Herzen
8.5.1904 Mt. 7,7 f. Bittet, so wird euch gegeben
12.5.1904 Phil. 3,20 Unser Wandel aber ist im Himmel
15.5.1904 Joh. 15,26 Wenn aber der Tröster kommen
22.5.1904 Eph. 4,25–32 Und betrübet nicht den heiligen Geist
29.5.1904 I Kor. 4,20 Das Reich Gottes stehet nicht in Worten
19.6.1904 Joh. 21,15–18 Hast du mich lieb?
19.6.1904 Act. 17,27 f. Daß sie den Herrn suchen sollten
26.6.1904 Joh. 3,30 Er muß zunehmen, ich aber muß abnehmen
3.7.1904 Lk. 5,1–11 Petri Fischzug und Berufung
10.7.1904 Sach. 4,6 Es soll durch meinen Geist geschehen
24.7.1904 Mk. 4,26–29 Die selbstwachsende Saat
14.8.1904 Lk. 18,9–14 Pharisäer und Zöllner
13.11.1904 Joh. 15,5 [Frucht bringen]
20.11.1904 Apk. 4,11 Herr, du bist würdig
27.11.1904 Mt. 25,1–10 Die zehn Jungfrauen
11. 12.1904 Am. 8,11 f. [Hunger und Durst nach dem Wort Gottes]
18.12.1904 Lk. 9,62 Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück
25.12.1904 Lk. 2,52 Und Jesus nahm zu an [Weisheit, Alter und Gnade]
VIII. Predigten des Jahres 1905
8.1.1905 Mt. 28,18–20 Mir ist gegeben alle Gewalt
15.1.1905 Lk. 4,14–30 Jesus zu Nazareth
5.2.1905 Apk. 14,13 Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben
12.2.1905 Mt. 5,15 Man zündet auch nicht ein Licht an
26.2.1905 I Petr. 4,12 f. Lasset euch die Hitze
5.3.1905 I Joh. 2,15 f. Habt nicht lieb die Welt
26.3.1905 Mt. 26,36–46 Gethsemane
2.4.1905 Mk. 12,41–44 Das Scherflein der Witwe
9.4.1905 Joh. 18,33–38 Die Wahrheit
20.4.1905 Mt. 26,17–19 Vorbereitung auf das Abendmahl
21.4.1905 I Petr. 4,1 Weil nun Christus im Fleisch für uns gelitten hat
7.5.1905 Mt. 5,13 Ihr seid das Salz der Erde
14.5.1905 Apk. 21,7 Wer überwindet, der wird alles ererben
21.5.1905 Lk. 17,11–19 Die 10 Aussätzigen – Die Dankbarkeit
4.6.1905 II Kor. 12,9 Laß dir an meiner Gnade genügen
11.6.1905 I Thess. 5,19 Den Geist dämpfet nicht
18.6.1905 Gen. 4,9 Soll ich meines Bruders Hüter sein?
25.6.1905 Mt. 18,3 Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kindlein
23.7.1905 Eph. 4,23 Erneuert euch aber im Geist eures Gemüts
12.11.1905 I Kor. 13,8 f. Die Liebe höret nimmer auf
19.11.1905 Mt. 14,22–32 Jesus auf dem Meere wandelnd
26.11.1905 Lk. 13,6–9 Der unfruchtbare Baum
3.12.1905 Mt. 12,36 [Unnütze Worte]
10.12.1905 Mt. 11,2–6 Bist du, der da kommen soll?
24.12.1905 Joh. 1,12 [Gemeinschaft mit Jesus]
IX. Predigten des Jahres 1906
4.2.1906 Mt. 13,24–30 Unkraut unter Weizen
11. 2.1906 I Kor. 4,2 Nun sucht man nicht mehr an den Haushaltern
18.2.1906 I Tim. 6,6–8 Wenn ihr aber Nahrung und Kleidung
25. 2.1906 I Thess. 5,16 Seid allezeit fröhlich
18.3.1906 Mt. 26,69–75 Petri Verleugnung
25.3.1906 II Kor. 1,3–5 Über das sühnende Leiden
1.4.1906 Mk. 10,45 Dienen und Leiden
10.4.1906 Mt. 26,6–13 Die Salbung zu Bethanien
13.4.1906 Lk. 23,34 Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!
6.5.1906 Mt. 13,52 [Zum Himmelreich gelehrt]
20.5.1906 Mk. 9,14–27 Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben
24.5.1906 Phil. 3,20 Unser Wandel aber ist im Himmel
26.5.1906 Eph. 5,9 Wandelt als die Kinder des Lichts
27.5.1906 Phil. 2,5–11 [Glaube an Jesus Christus als an den Herrn]
24.6.1906 II Kor. 12,9 Laß dir an meiner Gnade genügen
15.7.1906 Gal. 5,1 So bestehet nun in der Freiheit
22.7.1906 II Kor. 3,6 Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig
11.11.1906 Mt. 18,21–35 [Vergebung]
18.11.1906 Röm. 2,1 Wer bist du, der du da richtest?
2.12.1906 Gal. 5,16–25 Wandelt im Geist
23.12.1906 Mk. 8,27–29 Wer sagt ihr, daß ich sei?
30.12.1906 Mt. 9,2 Über Sündenvergebung
X. Predigten des Jahres 1907
6.1.1907 Mk. 1,17 Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen
13.1.1907 Mt. 10,16 Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben
27.1.1907 Mt. 5,9 Selig sind die Friedfertigen
24.2.1907 Hebr. 4,15 Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte
3.3.1907 Mt. 26,47–50 Jesus und der Verräter
10.3.1907 Kol. 1,24 Nun freue ich mich in meinem Leiden
28.3.1907 Mt. 26,26–28 Abendmahl
31.3.1907 Röm. 6,10 f. Was Christus gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben
14.4.1907 [Ohne Text] [Gemeinschaft mit Jesus]
28.4.1907 Lk. 10,29 Wer ist denn mein Nächster?
9.5.1907 Joh. 14,18 Ich will euch nicht Waisen lassen, ich komme zu euch
2.6.1907 Joh. 16,12–14 Ich habe euch noch viel zu sagen
16.6.1907 Mt. 22,14 Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt
30.6.1907 Mk. 3,29 f. Die Sünde wider den heiligen Geist
14.7.1907 Mt. 5,37 Eure Rede sei: Ja, ja; nein, nein
21.7.1907 Mt. 6,14 f. So ihr den Menschen ihre Fehler vergebet
10.11.1907 Mt. 13,33 Das Gleichnis vom Sauerteig
17.11.1907 I Kor. 15,25 f. Christus muß herrschen
1.12.1907 Jes. 40,3 Bereitet dem Herrn den Weg
15.12.1907 Dan. 7,13 Und siehe, es kam einer in des Himmels Wolken
25.12.1907 Joh. 15,9 Bleibet in meiner Liebe!
XI. Predigten des Jahres 1908
5.1.1908 Mt. 6,25–33 Sorget nicht
19.1.1908 II Kor. 12,9 f. Laß dir an meiner Gnade genügen
26.1.1908 [Act. 16,9] Komm herüber und hilf uns
2.2.1908 Röm. 8,28 Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben
15.3.1908 Mk. 10,45 Des Menschen Sohn ist gekommen, daß er diene
22.3.1908 Mk. 10,26 f. Bei Gott sind alle Dinge möglich
29.3.1908 Mk. 10,45 Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse
3.5.1908 Mt. 18,20 Wo zwei oder drei versammelt sind
24.5.1908 [Ohne Text] Über das Wunder
28.5.1908 Act. 1,12 Da wandten sie sich um gen Jerusalem von dem Berge
14.6.1908 Gal. 6,9 Lasset uns Gutes tun und nicht müde werden
28.6.1908 I Kor. 2,13 Wir richten geistliche Sachen geistlich
26.7.1908 Röm. 12,5 So sind wir viele ein Leib in Christo
7.8.1908 I Kor. 13,4–7.13 [Liebe]
4.10.1908 Mt. 25,14–30 Das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden
18.10.1908 Lk. 16,19–31 Der reiche Mann und der arme Lazarus
15.11.1908 Röm. 12,2 Stellet euch nicht dieser Welt gleich
29.11.1908 [Mt. 18,23–33] [Gleichnis vom Schalksknecht]
13.12.1908 Röm. 8,22 Wir wissen, daß alle Kreatur sehnt sich mit uns
XII. Predigten des Jahres 1909
3.1.1909 [Ohne Text] Mission
24.1.1909 Mt. 11,3 Bist du, der da kommen soll?
7.2.1909 I Kor. 12,3 Niemand kann Jesum einen Herrn heißen
7.3.1909 Mt. 10,38 Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt
21.3.1909 Mt. 27,11–26 Pilatus
4.4.1909 Mk. 8,36 f. Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne
13.6.1909 I Kor. 3,21 Alles ist euer
27.6.1909 I Kor. 2,10 Der Geist erforschet alle Dinge
11.7.1909 [Ohne Text] 400. Geburtstag Calvins
14.11.1909 Gal. 5,1 So bestehet nun in der Freiheit
19.12.1909 Mt. 18,3 Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kindlein
26.12.1909 Lk. 1,41 f. Und Elisabeth ward des Geistes voll
XIII. Predigten des Jahres 1910
2.1.1910 Röm. 8,15 Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen
16.1.1910 I Kor. 4,20 Denn das Reich Gottes steht nicht in Worten
13.2.1910 Mt. 16,21 Von der Zeit an fing Jesus an und zeigte seinen Jüngern
13. 3.1910 Mt. 20,20–23 Könnt ihr den Kelch trinken?
1.5.1910 I Thess. 5,19 Den Geist dämpfet nicht
8.5.1910 Röm. 12,12 Seid fröhlich in Hoffnung!
22.5.1910 Phil. 4,5 Eure Lindigkeit lasset kund sein [allen Menschen!]
12.6.1910 Röm. 12,15 Freuet euch mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden
26.6.1910 [Ohne Text] Taufe
10.7.1910 Mk. 6,17–29 Herodes und Johannes
XIV. Predigten des Jahres 1911
22.1.1911 Mk. 6,31 Lasset uns miteinander in eine Wüste gehen und ruhet
29.1.1911 Mt. 2,10 f. [Die Weisen aus dem Morgenland]
5.2.1911 I Thess. 5,21 Prüfet alles
12.2.1911 Mk. 9,38–40 Wer nicht wider mich ist, ist für mich
5.3.1911 Mk. 9,33–35 Von der Demut
12.3.1911 Mt. 6,10 Dein Reich komme
26.3.1911 Mk. 9,32 Sie aber vernahmen das Wort nicht
2.4.1911 II Kor. 5,15 Und er ist darum für alle gestorben
9.4.1911 Mt. 21,5 Siehe, dein König kommt zu dir
13.4.1911 Mt. 10,38 Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt
16.4.1911 II Kor. 5,17 Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!
30.4.1911 Lk. 24,36 [Friede sei mit euch!]
21.5.1911 Lk. 24,36 [Friede sei mit euch!]
28.5.1911 Röm. 12,18 Habt mit allen Menschen Frieden
4.6.1911 Act. 2[,1–12] [Die Pfingstgeschichte]
18.6.1911 3. Artikel Ich glaube an den heiligen Geist
2.7.1911 Joh. 6,63 Der Geist ist’s, der da lebendig macht
3.9.1911 Mt. 5,5 Selig sind die Sanftmütigen
1.10.1911 Mt. 11,28–30 Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid
8.10.1911 Mk. 8,36 Was hülfe es dem Menschen
22.10.1911 Mk. 3,31–35 Und es kam seine Mutter und seine Brüder
29.10.1911 Apk. 2,10 Sei getreu bis an den Tod
17.12.1911 Jes. 40,3 Bereitet dem Herrn den Weg
31.12.1911 Mt. 7,13 Gehet ein durch die enge Pforte
XV. Predigten des Jahres 1912
21.1.1912 Mt. 6,12 [Und vergib uns unsere Schulden...]
4.2.1912 I Kor. 13,7 Die Liebe glaubt alles
11.2.1912 Gal. 6,9 Lasset uns aber Gutes tun und nicht müde werden
18.2.1912 I Kor. 4,20 Das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft
25.2.1912 Apk. 2,10 Sei getreu bis an den Tod
24.11.1912 Jak. 1,17 f. Alle vollkommene Gabe kommt von oben herab
8.12.1912 Sach. 9,9 Siehe, dein König kommt zu dir
XVI. Predigten des Jahres 1913
24. 2.1913 [Ohne Text] Ansprache bei der Beerdigung meines Schwagers
2.3.1913 Mt. 18,3 Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kindlein
9. 3.1913 Phil. 4,7 Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft
XVII. Predigten des Jahres 1918
18. 8.1918 Ps. 34,9 Schmeckt und sehet, wie freundlich der Herr ist
13.10.1918 Phil. 4,7 Der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft
3.11.1918 I Petr. 5,7+ Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorget für euch
Gal. 6,2 Einer trage des andern Last
24.11.1918 Apk. 21,4 Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen
8.12.1918 Ps. 51,12 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz
22.12.1918 Ps. 40,9 Deinen Willen, mein Gott, tue ich gern
29. 12.1918 I Thess. 5,18 Seid dankbar in allen Dingen
XVIII. Predigten des Jahres 1919
28.1.1919 [Ohne Text] Hochzeit Carlier-Brendermann
2.2.1919 Mk. 6,1–6 Und er kam in seine Vaterstadt
16.2.1919 Mk. 12,28–34 Das große Gebot
23.2.1919 Röm. 14,7 Denn unser keiner lebt sich selber
2.3.1919 Prov. 12,10 Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs
16. 3.1919 Mt. 7,1 Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet
30.3.1919 Mt. 5,39+ Ich sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel
Mt. 18,21 Wievielmal muß ich meinem Bruder vergeben?
4.5.1919 Röm. 14,12 So wird nun ein jeglicher für sich selbst Gott Rechenschaft
11.5.1919 I Kor. 7,30 Die, die da erwerben, sollen sein, als besäßen sie es nicht
25. 5.1919 Hebr. 13,16 Wohlzutun und mitzuteilen vergesset nicht
1.6.1919 Gal. 6,9 Lasset uns Gutes tun und nicht müde werden
15. 6.1919 I Petr. 4,10 Dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen
20. 7.1919 Phil. 4,5 Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen
27.7.1919 I Thess. 5,18 Seid dankbar in allen Dingen
17.8.1919 I Thess. 5,18 Seid dankbar in allen Dingen
7. 9.1919 Eph. 4,25 Darum leget die Lüge ab und redet die Wahrheit
2.11.1919 Jak. 5,11 Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben
16.11.1919 I Kor. 13,9 Unser Wissen ist Stückwerk
14.12.1919 Ez. 36,26 Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist
XIX. Predigt aus dem Jahr 1920
1.1.1920 Gen. 32,25–27 Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn
XX. Predigt aus dem Jahr 1921
11.12.1921 [Ohne Text] Adventsandacht
XXI Predigt aus dem Jahr 1923
31.12.1923 II Kor. 12,9 Laß dir an meiner Gnade genügen
XXII. Predigt aus dem Jahr 1924
16.11.1924 I JOH. 4,16 Gott ist Liebe
XXIII. Predigt aus dem Jahr 1931
5.7.1931 [Ohne Text] Taufrede
XXIV. Predigt aus dem Jahr 1932
7.8.1932 Mt. 13,30 Lasset beides miteinander wachsen bis zur Ernte
XXV. Predigten aus dem Jahr 1934
22.9.1934 Eph. 5,9 Wandelt wie die Kinder des Lichts
28.10.1934 Mt. 6,12 Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben
XXVI. Predigt aus dem Jahr 1948
8.8.1948 [Ohne Text] Taufpredigt
XXVII. Predigten ohne Datum
Mt. 7,12 Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun
Mt. 11,11 [Johannes der Täufer]
Lk. 2,25–30 [Nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren
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Predigten 1898-1948: Redaktion: Brüllmann, Richard; Gräßer, Erich
 9783406704741

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Albert Schweitzer Predigten 1898–

1 948

Herausgegeben

von Richard Brüllmann und Erich Gräßer

Verlag C. H. Beck

ELSBETH BRÜLLMANN-BRAND 1930– 1994 zum Andenken

Inhalt

Abkürzungen

19

Vorbemerkungen. VonRichard Brüllmann undErich Gräßer

21

Der Prediger Albert Schweitzer. VonRichard Brüllmann 1. Der Predigtsinn 2. Der Predigtraum 3. Die Predigtorte 4. Die Predigtgemeinden 5. Das Predigtecho 6. Die Predigtweise

25 25 29 31 33 35 39

44

7. Der Predigttext 8. Der Predigtinhalt 9. Die Predigtbotschaft 10. Das Predigtmaterial 11. DasPredigterlebnis

47 51 56 57

I. Predigten desJahres 1898 1898 31. 7.1898 2. 10.1898 26. 12.1898

[Mt. 15,21–28] Mt. 7,17–21 Lk. 18,18–30 [ohne Text]

Daskanaanäische Weib 58 [Ein guter Baum bringt gute Früchte] [Der reiche Jüngling] 65 [Die Kindheit Jesu] 72

58 62

II. Predigten desJahres 1899 I Kor. 15,53– 57 20. 8. 1899 [ohne Text] 20. 8.1899 I Petr. 3,18–4,6 17. 9.1899 Koh. [1,2] 17. 9.1899 I Petr. 5 17. 12.1899 Mt. 11,2–6 24. 12.1899 Lk. 2,10 f. 25. 12.1899 Lk. 2,10 f. 31. 12.1899 I Kor. 13,13 1899

78 [Auferstehung] 78 [Gedanken zur Erntezeit] 81 [Das Leiden Jesu] 86 [Alles ist eitel] 88 [Ermahnungen] 93 [Bist du, der da kommen soll?] 97 Siehe, ich verkündige euch große Freude 102 Siehe, ich verkündige euch große Freude 102 Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei 106

III. Predigten desJahres 1900 28. 1.1900 25. 2.1900

Mk. 10,13– 16

I Thess. 5,16 Röm. 12,15

[Jesus segnet die Kinder] 114 Seid allezeit fröhlich 118 Freuet euch mit den Fröhlichen und weinet mit denWeinenden 118

114

8 7. 3. 1900 11. 3.1900 25. 3.1900 1. 4. 1900 13. 4.1900 20. 5.1900 24. 5.1900 10. 6.1900 24. 6.1900 29. 7.1900

12. 8. 1900 19. 8.1900 19. 8. 1900 26. 8.1900 2. 9.1900 9. 9. 1900 9. 9.1900 23. 9.1900 9. 12. 1900 21. 12. 1900 23. 12. 1900

Mt. 21,45 f. II Kor. 5,15

Röm. 6,3– 11 Mt. 22,2– 13 Mt. 27,21–26 Mt. 5,9 Mt. 25,23 Mt. 5,3 Mt. 5,4 II Kor. 5,17–21 Mt. 22,1– 14

[Ohne Text] I Kor. 15,57 f. Mt. 5,7 Mt. 5,5 [Joh. 16,22] Mt. 5,3 Mt. 5,8 Mt. 3,1– 10 [Ohne Text] Lk. 1,68– 80

Inhalt

[Das Leiden Jesu] 129 [Der Tod Jesu] 133 [Die Bedeutung desTodesJesu] 137 Das Gleichnis von der königlichen Hochzeit [Jesus oder Barabbas] 147 Selig sind die Friedfertigen 153 Ei, du frommer und getreuer Knecht 160 Selig sind, die dageistig arm sind 165 Selig sind, die da Leid tragen 169 Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden! 173 Die königliche Hochzeit 179 Gott sei Dank für alles 182 Sieg über denTod durch Christus 183 Selig sind die Barmherzigen 185 Selig sind die Sanftmütigen 189 [Ihr habt nunTraurigkeit] 193 Selig sind, die da Leid tragen 194 Selig [sind,] die reines Herzens [sind] 196 Die Predigt desTäufers 200 [Freude] [Advent]

203 205

210

IV. Predigten desJahres 1901 1. 1.1901 6. 1. 1901 27. 1. 1901

Ps. 62,2 Mt. 25,14– 30 Joh. 14,6– 10

3. 2.1901 17. 2. 1901

Mt. 6,25– 33 Joh. 11,46– 54

24. 2. 1901 10. 3. 1901

Mt. 16,21– 24 Mk. 14,32– 42

17. 3. 1901 26. 3.1901

Joh. 18,33–38

14. 3. 1901

31. 3. 1901

4. 4. 1901

Mt. 5,4

Phil. 1,23

[Mt. 21,5]

Mk. 14,22– 24

14. 4. 1901 14. 4. 1901 5. 5. 1901 16. 5. 1901 19. 5. 1901 26. 5. 1901 3. 6. 1901

Joh. 8,12 Mt. 7,7– 11 Joh. 17,9– 19 Act. 1,9– 12 Joh. 21,1– 17 Mk. 3,22– 30 Mt. 5,4

9. 6. 1901

Mt. 13,3–9

142

Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft 210 Gleichnis von den anvertrauten Pfunden 214 [Christus ist derWeg und dieWahrheit und dasLeben] 219 [Sorget nicht!] 228 [Kaiphas] 232 Ich muß leiden

236

Gethsemane 241 Selig sind, die daLeid tragen; denn sie sollen getröstet werden 244 Jesus vor Pilatus 246 Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zusein 249 [Dein König kommt zu dir] 250 [Das Abendmahl] 253 Ich bin dasLicht derWelt 256

Das Bittgebet 258 [Das Hohelied des Christenstandes] 262 [Himmelfahrt Christi] 271 [Jesu Erscheinung am See Genezareth] 274 Die Sünde wider den heiligen Geist 279 Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden 285 Das Gleichnis vom Sämann 286

Inhalt

16. 6. 1901 23. 6. 1901 14. 7.1901 4. 8. 1901

Mk. 10,17–27

11. 8. 1901 25. 8. 1901 1. 9. 1901

Mt. 5,14– 16 Phil. 2,14 f. Mt. 16,13–20

15. 9. 1901

Lk. 13,23– 30 Kol. 3,2– 15 Phil. 4,4.6.7

Mt. 12,38– 41+

15. 9. 1901

Joh. 14,11 f. Röm. 8,28

6. 10. 1901

Mt. 7,21

13. 10. 1901

Lk. 6,47– 49

10. 11. 1901

Mt. 5,13– 15+

9

Der reiche Jüngling

293

Der Weg zur Seligkeit 296 Trachtet nach dem, dasdroben ist 301 Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft 305 Ihr seid dasLicht derWelt 310 [Tut alles ohne Murren undohne Zweifel] 313 Offenbarung desMessiasgeheimnisses 316

20. 10. 1901 Apk. 21,5 Joh. 5,39 3. 11. 1901

DieWunder Jesu 322 Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten 327 Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr 330 Schlußgleichnis der Bergpredigt 332 Siehe, ich mache alles neu 336 Suchet in der Schrift 338

Gal. 5,1.13 8. 12. 1901 Phil. 2,5– 11 15. 12. 1901 Lk. 3,4 25. 12. 1901 Gal. 4,6 29. 12. 1901 Apk. 3,20

[Protestantismus] 340 Die Menschwerdung des Geistigen 346 Bereitet denWeg desHerrn 352 Weil ihr denn Kinder seid 355 Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an 357

361

V. Predigten desJahres 1902

25. 5. 1902 15. 6. 1902 22. 6. 1902 29. 6. 1902

Nicht daß ich’s schon ergriffen habe 361 Phil. 3,12– 14 Ps. 139,1–12.23 f. [Die Allwissenheit Gottes] 364 Mt. 13,12 Wer da hat, dem wird gegeben 368 Wenn ich erhöht werde von der Erde 372 Joh. 12,32 f. Jesus aber schwieg stille 374 Mk. 14,61 Mk. 10,45 Des Menschen Sohn ist gekommen 377 Mt. 13,31 f. Gleichnis vom Senfkorn 379 Unser Wandel aber ist im Himmel 384 Phil. 3,20 Die Rückkehr der 70 386 Lk. 10,17–21 Wenn aberjener, der Geist derWahrheit, Joh. 16,13 kommen wird 390 Lk. 10,25– 37 Der barmherzige Samariter 392 Ps. 50,14 f. Opfere Gott Dank 398 Wahrheit – Sünde 400 Joh. 8,31–36 Mt. 25,14– 30 Das Gleichnis von den anvertrauten

13. 7. 1902

Mt. 7,12

1902 26. 1. 1902 16. 2. 1902 23. 2. 1902 9. 3. 1902 25. 3. 1902 6. 4. 1902 27. 4. 1902 11. 5. 1902 18. 5.1902

20.7.1902 3. 8. 1902

Joh. 15,9– 16 Lk. 9,51– 56

21. 9. 1902 Eph. 6,7 f. 16. 11. 1902 Mk. 10,35–40 Lk. 19,46 7. 12. 1902 14. 12. 1902 Jes. 9,1

Pfunden 403 Alles, dasihr wollt, daß euch die Leute tun [Liebe] 408 [Feuer vom Himmel] 413 [Dem Herrn dienen] 414 Das Leiden 419 Mein Haus ist ein Bethaus 422 DasVolk, dasim Finstern wandelt 427

406

10 Inhalt

VI. Predigten desJahres 1903 1. 1. 1903

I Petr. 5,6 f.

4. 1. 1903 25. 1. 1903 1. 2.1903 8. 2.1903

Röm. 1,7 Gal. 2,16–21 Mt. 15,21–28 Hebr. 12,1f.

1. 3.1903 8. 3.1903 15. 3.1903 22. 3. 1903 5. 4. 1903 9. 4. 1903 3. 5. 1903 21. 5. 1903 14.6. 1903 14. 6.1903 21. 6.1903 5. 7. 1903

I Kor. 8,2 f. II Kor. 8,7–9 Röm. 8,31f. Jes. 52,13– 53,9 Luk. 11,1 [Mt. 26,26– 30] Mt. 26,6– 13 Phil. 3,20

Mt. 18,3 Jak. 1,22

Hebr. 13,14

II Tim. 2,5

12. 7. 1903 19. 7. 1903 2. 8. 1903 9. 8. 1903

Ps. 23 Apk. 2,10 Lk. 17,20 f. Lk. 14,28– 33

8. 11.1903 22. 11. 1903 29. 11. 1903 6. 12. 1903 27. 12. 1903

Röm. 15,13

Ps. 50,14 Mt. 7,11 Phil. 2,5– 10 Lk. 12,49

[Das Leiden Jesu] 452 [Durch Christus frei von derWelt] 455 Herr, lehre uns beten 460 [Das Abendmahl] 462 [Die Salbung in Bethanien] 464 Unser Wandel aber ist im Himmel 467 Werdet wie die Kinder 472 Seid aber Täter desWorts 476 Wir haben hier keine bleibende Stadt 478 Und sojemand auch kämpft, wird er doch nicht gekrönt 479 Der Herr ist mein Hirte 481 [Sei getreu bis an denTod...] 484 Das Reich Gottes ist inwendig in euch 486 Wer ist aber unter euch, dereinen Turm bauen will? 488 Gott aber der Hoffnung 491 Opfere Gott Dank 493 So denn ihr, die ihr doch arg seid 496 [Die Menschwerdung Gottes] 500 Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden 502

VII. Predigten desJahres 1904 3. 1. 1904 10. 1. 1904 17. 1. 1904

Lk. 10,38–42 Lk. 5,4– 11 Mk. 1,21f.

7. 2. 1904

Mt. 6,10

14. 2. 1904

Joh. 7,17 f.

6. 3. 1904 13. 3. 1904 20. 3. 1904

II Kor. 5,15 Mk. 10,46– 52 II Kor. 4,10

29. 3. 1904

I Petr. 4,1

430

So demütiget euch nun unter die gewaltige Hand Gottes 430 Gnade sei mit euch und Friede 434 [Christus lebt in mir] 436 Herr, hilf mir! 439 Lasset unsablegen die Sünde, die unsträge macht 442 Gott lieben 446 Die Wohltätigkeit 448

Maria und Martha 508 Petri wunderbarer Fischzug 512 Und er predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten 515 DeinWille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden 519 Sojemand will des Willen tun, der wird erkennen 522 Und er ist darum für alle gestorben 527 Der Blinde zuJericho 529 Wir tragen um allezeit dasSterben des Herrn Jesu 535 Weil nun Christus im Fleisch für unsgelitten hat 536

508

Inhalt

3. 4. 1904

Joh. 14,27

24. 4. 1904

Mt. 28,20

1. 5. 1904 8. 5. 1904 12. 5. 1904 15. 5. 1904 22. 5. 1904 29. 5. 1904 19. 6. 1904 19. 6. 1904 26. 6. 1904 3. 7. 1904 10. 7. 1904 24. 7. 1904 14. 8. 1904 13. 11. 1904 20. 11. 1904 27. 11.1904 11. 12.1904 18. 12. 1904

Kol. 3,16 Mt. 7,7 f. Phil. 3,20 Joh. 15,26 Eph. 4,25– 32 I Kor. 4,20 Joh. 21,15– 18 Act. 17,27 f. Joh. 3,30 Lk. 5,1– 11 Sach. 4,6 Mk. 4,26–29 Lk. 18,9– 14 Joh. 15,5

25. 12. 1904

Lk. 2,52

Apk. 4,11

Mt. 25,1– 10 Am. 8,11 f. Lk. 9,62

11

Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch 539 Siehe, ich bin bei euch alleTage bis an der Welt Ende 542 Singet dem Herrn in eurem Herzen 546 Bittet, so wird euch gegeben 549 Unser Wandel aber ist im Himmel 553 Wenn aber derTröster kommen 555 Und betrübet nicht den heiligen Geist 558 Das Reich Gottes stehet nicht inWorten 561

Hast du mich lieb? 566 Daß sie den Herrn suchen sollten 572 Er muß zunehmen, ich aber muß abnehmen 574 Petri Fischzug und Berufung 577 Es soll durch meinen Geist geschehen 582 Die selbstwachsende Saat 584 Pharisäer und Zöllner 586 [Frucht bringen] 590 Herr, du bist würdig 592 Die zehnJungfrauen 597 [Hunger und Durst nach demWort Gottes] 600 Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück 603 UndJesus nahm zu an [Weisheit, Alter und Gnade] 607

611

VIII. Predigten desJahres 1905 8. 1. 1905 15. 1. 1905 5. 2. 1905

Mt. 28,18–20 Lk. 4,14– 30

12. 2. 1905 26. 2. 1905

Mt. 5,15 I Petr. 4,12 f. I Joh. 2,15 f. Mt. 26,36– 46 Mk. 12,41–44 Joh. 18,33– 38 Mt. 26,17– 19 I Petr. 4,1

5. 3. 1905 26. 3. 1905 2. 4. 1905 9. 4. 1905 20. 4. 1905 21. 4. 1905

Apk. 14,13

Mir ist gegeben alle Gewalt 611 Jesus zu Nazareth 615 Selig sind dieToten, die in dem Herrn sterben 620 Man zündet auch nicht ein Licht an 623 Lasset euch die Hitze 629 Habt nicht lieb dieWelt 631

Gethsemane 635 Das Scherflein derWitwe 640 Die Wahrheit 644 Vorbereitung auf dasAbendmahl 649 Weil nun Christus im Fleisch für uns gelitten hat

7. 5. 1905 14. 5. 1905 21. 5. 1905 4. 6. 1905 11. 6. 1905 18. 6. 1905 25. 6. 1905

Mt. 5,13 Apk. 21,7 Lk. 17,11– 19 II Kor. 12,9

I Thess. 5,19

Gen. 4,9 Mt. 18,3

652

Ihr seid das Salz der Erde 655 Wer überwindet, der wird alles ererben 659 Die 10 Aussätzigen – Die Dankbarkeit 661 Laß dir an meiner Gnade genügen 664

Den Geist dämpfet nicht 667 Soll ich meines Bruders Hüter sein? 672 Es sei denn, daßihr werdet wie die Kindlein 675

12 Inhalt

23. 7. 1905

Eph. 4,23

12. 11.1905 19. 11.1905 26. 11. 1905 3.12.1905 10. 12. 1905 24. 12. 1905

I Kor. 13,8 f. Mt. 14,22– 32 Lk. 13,6–9 Mt. 12,36 Mt. 11,2–6 Joh. 1,12

Erneuert euch aber im Geist eures Gemüts 679 Die Liebe höret nimmer auf. 683 Jesus auf dem Meere wandelnd 686 Der unfruchtbare Baum 691 [Unnütze Worte] 694 Bist du, der dakommen soll? 699 [Gemeinschaft mitJesus] 702

IX. Predigten desJahres 1906 4. 2. 1906 11. 2.1906

Mt. 13,24– 30 I Kor. 4,2

18. 2. 1906 25. 2.1906 18. 3. 1906 25. 3. 1906 1. 4. 1906 10. 4. 1906 13. 4. 1906

I Tim. 6,6–8 I Thess. 5,16 Mt. 26,69– 75

6. 5. 1906 20. 5. 1906

Mt. 13,52 Mk. 9,14–27

24. 5. 1906 26. 5. 1906 27. 5. 1906

Phil. 3,20 Eph. 5,9 Phil. 2,5– 11

24. 6. 1906 15. 7. 1906 22. 7. 1906

II Kor. 12,9 Gal. 5,1 II Kor. 3,6

11. 11. 1906

Mt. 18,21– 35

II Kor. 1,3–5 Mk. 10,45 Mt. 26,6– 13 Lk. 23,34

18. 11. 1906 Röm. 2,1 2. 12. 1906 Gal. 5,16–25 23. 12. 1906 Mk. 8,27– 29 30. 12. 1906 Mt. 9,2

706

Unkraut unter Weizen 706 Nun sucht man nicht mehr an den Haushaltern 710 Wenn ihr aber Nahrung und Kleidung 713 Seid allezeit fröhlich 715 Petri Verleugnung 717 Über das sühnende Leiden 722 Dienen undLeiden 726 Die Salbung zu Bethanien 731 Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! 733 [Zum Himmelreich gelehrt] 736 Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben 740 Unser Wandel aber ist im Himmel 745 Wandelt als die Kinder des Lichts 748 [Glaube anJesus Christus als an den Herrn] 752 Laß dir an meiner Gnade genügen 756 So bestehet nun in der Freiheit 761 Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig 766 [Vergebung] 772 Wer bist du, der du da richtest? 779 Wandelt im Geist 782 Wer sagt ihr, daß ich sei? 785 Über Sündenvergebung 788

X. Predigten desJahres 1907 6. 1. 1907 Mk. 1,17 Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen 792 13. 1. 1907 Seid klug wie die Schlangen und ohne Mt. 10,16 Falsch wie dieTauben 797 27. 1. 1907 Mt. 5,9 Selig sind die Friedfertigen 801 24. 2. 1907 Hebr. 4,15 Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte 807 Jesus und derVerräter 810 Mt. 26,47– 50 3. 3. 1907 10. 3. 1907 Nun freue ich mich in meinem Leiden 813 Kol. 1,24

792

Inhalt 13

28. 3. 1907 31. 3. 1907

Mt. 26,26– 28 Röm. 6,10 f.

14. 4. 1907 28. 4. 1907 9. 5. 1907

[Ohne Text]

Lk. 10,29 Joh. 14,18

2. 6. 1907 16. 6. 1907

Joh. 16,12– 14 Mt. 22,14

30. 6. 1907 14. 7. 1907 21. 7. 1907

Mk. 3,29 f. Mt. 5,37 Mt. 6,14 f.

10. 11.1907 Mt. 13,33 17. 11. 1907 I Kor. 15,25 f. 1. 12. 1907 Jes. 40,3 15. 12. 1907 Dan. 7,13

25. 12. 1907 Joh. 15,9

Abendmahl 818 Was Christus gestorben ist, das ist er der

Sünde gestorben 821 [Gemeinschaft mitJesus] 826 Wer ist denn mein Nächster? 831 Ich will euch nicht Waisen lassen, ich komme zu euch 836

Ich habe euch noch viel zu sagen

838

Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt 841 Die Sünde wider den heiligen Geist 845 Eure Rede sei: Ja, ja; nein, nein 849 So ihr den Menschen ihre Fehler vergebet 854 Das Gleichnis vom Sauerteig 856 Christus muß herrschen 859 Bereitet dem Herrn denWeg 866 Und siehe, eskam einer in desHimmels Wolken 869 Bleibet in meiner Liebe! 873

XI. Predigten desJahres 1908 5. 1. 1908 19. 1. 1908 26. 1. 1908 2. 2. 1908

Mt. 6,25– 33 II Kor. 12,9 f.

15. 3. 1908

Mk. 10,45

22. 3. 1908 29. 3. 1908

Mk. 10,26 f. Mk. 10,45

3. 5. 1908 24. 5. 1908 28. 5. 1908

Mt. 18,20 [Ohne Text] Act. 1,12

14. 6. 1908

Gal. 6,9

28. 6. 1908 26. 7. 1908 7. 8. 1908 4. 10. 1908

I Kor. 2,13 Röm. 12,5 I Kor. 13,4–7.13 Mt. 25,14– 30

18. 10. 1908 15.11,1908 29. 11. 1908 13. 12. 1908

Lk. 16,19–31 Röm. 12,2 [Mt. 18,23– 33] Röm. 8,22

[Act. 16,9]

Röm. 8,28

Sorget nicht 878 Laß dir an meiner Gnade genügen 882 Komm herüber und hilf uns 887 Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben 891 Des Menschen Sohn ist gekommen, daß er diene 895 Bei Gott sind alle Dinge möglich 900 Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse 903 Wo zwei oder drei versammelt sind 907 Über dasWunder 910 Da wandten sie sich um genJerusalem von dem Berge 918 Lasset uns Gutes tun und nicht müde werden 921 Wir richten geistliche Sachen geistlich 925 So sind wir viele ein Leib in Christo 931 [Liebe] 936 Das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden 939 Der reiche Mann und der arme Lazarus 943 Stellet euch nicht dieser Welt gleich 950 [Gleichnis vom Schalksknecht] 955 Wir wissen, daß alle Kreatur sehnt sich mit

uns 959

878

14 Inhalt

XII. Predigten desJahres 1909 3. 1. 1909 24. 1. 1909 7. 2. 1909 7. 3. 1909 21. 3. 1909 4. 4. 1909 13. 6. 1909

27. 6. 1909 11. 7. 1909 14. 11.1909

19. 12. 1909

[Ohne Text]

Mt. 11,3 I Kor. 12,3 Mt. 10,38 Mt. 27,11–26 Mk. 8,36 f. I Kor. 3,21 I Kor. 2,10 [Ohne Text] Gal. 5,1

Mt. 18,3

26. 12. 1909 Lk. 1,41f.

966

966 Bist du, der dakommen soll? 972 Niemand kann Jesum einen Herrn heißen 976 Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt 980 Pilatus 984 Washülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne 990 Alles ist euer 993 Der Geist erforschet alle Dinge 999 400. Geburtstag Calvins 1004 So bestehet nun in der Freiheit 1010 Es sei denn, daß ihr werdet wie die Mission

Kindlein 1014 Und Elisabeth ward desGeistes voll

1017

XIII. Predigten desJahres 1910 2. 1. 1910

Röm. 8,15

16. 1. 1910

I Kor. 4,20

13. 2. 1910

Mt. 16,21

13. 3.1910 1. 5. 1910 8. 5. 1910

22. 5. 1910

Mt. 20,20– 23 I Thess. 5,19 Röm. 12,12 Phil. 4,5

12. 6. 1910

Röm. 12,15

26. 6. 1910

10. 7. 1910

[Ohne Text]

Mk. 6,17–29

1021

Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen 1021 Denn das Reich Gottes steht nicht in Worten 1024 Von der Zeit an fingJesus an und zeigte seinen Jüngern 1030 Könnt ihr den Kelch trinken? 1033 Den Geist dämpfet nicht 1036 Seid fröhlich in Hoffnung! 1041 Eure Lindigkeit lasset kund sein [allen Menschen!] 1044 Freuet euch mit den Fröhlichen undweinet mit denWeinenden 1048 Taufe 1053 Herodes undJohannes 1057

1063

XIV. Predigten desJahres 1911 22. 1. 1911

Mk. 6,31

29. 1. 1911 5. 2. 1911 12. 2. 1911

Mt. 2,10 f. I Thess. 5,21 Mk. 9,38–40

5. 3. 1911 12. 3. 1911 26. 3. 1911 2. 4. 1911 9. 4. 1911 13. 4. 1911 16. 4. 1911

Mk. 9,33– 35 Mt. 6,10 Mk. 9,32 II Kor. 5,15 Mt. 21,5 Mt. 10,38 II Kor. 5,17

in eineWüste gehen und ruhet 1063 [DieWeisen ausdem Morgenland] 1066 Prüfet alles 1072 Wer nicht wider mich ist, ist für mich 1076 Von der Demut 1083 Dein Reich komme 1087 Sie aber vernahmen dasWort nicht 1095 Und er ist darum für alle gestorben 1098 Siehe, dein König kommt zu dir 1101 Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt 1104 Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu Lasset uns miteinander

geworden!

1108

Inhalt

3. 9. 1911 1. 10. 1911

Lk. 24,36 Lk. 24,36 Röm. 12,18 Act. 2[,1– 12] 3. Artikel Joh. 6,63 Mt. 5,5 Mt. 11,28– 30

8. 10. 1911 22. 10.1911

Mk. 8,36 Mk. 3,31–35

29. 10. 1911

Apk. 2,10 Jes. 40,3 Mt. 7,13

30. 4. 1911 21. 5. 1911 28. 5. 1911

4. 6. 1911

18. 6. 1911 2. 7. 1911

17. 12. 1911 31. 12. 1911

15

[Friede sei mit euch!] 1112 [Friede sei mit euch!] 1116 Habt mit allen Menschen Frieden 1121 [Die Pfingstgeschichte] 1124 Ich glaube an den heiligen Geist 1127 Der Geist ist’s, der dalebendig macht 1132 Selig sind die Sanftmütigen 1137 Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig undbeladen seid 1141 Washülfe es dem Menschen 1145 Und eskam seine Mutter undseine Brüder 1147 Sei getreu bis an denTod 1152 Bereitet dem Herrn denWeg 1155 Gehet ein durch die enge Pforte 1157

XV. Predigten desJahres 1912 21. 1. 1912

4. 2. 1912 11. 2. 1912

Mt. 6,12 I Kor. 13,7 Gal. 6,9

18. 2. 1912

I Kor. 4,20

25. 2. 1912 24. 11.1912

Apk. 2,10 Jak. 1,17 f.

8. 12. 1912

Sach. 9,9

1159

[Und vergib uns unsere Schulden...]

1159

Die Liebe glaubt alles 1162 Lasset uns aber Gutes tun und nicht müde werden

1164

DasReich Gottes steht nicht inWorten, sondern in Kraft 1167 Sei getreu bis an denTod 1172 Alle vollkommene Gabe kommt von oben

herab

1176

Siehe, dein König kommt zu dir

1179

XVI. Predigten desJahres 1913 24. 2.1913

[Ohne Text]

2. 3. 1913

Mt. 18,3

9. 3.1913

Phil. 4,7

Ansprache bei der Beerdigung meines Schwagers 1184 Es sei denn, daßihr werdet wie die Kindlein 1186 Der Friede Gottes, welcher höher ist als alleVernunft 1191

XVII. Predigten desJahres 1918 18. 8.1918

Ps. 34,9

13. 10. 1918

Phil. 4,7

3. 11.1918

I Petr. 5,7+

24. 11. 1918

Gal. 6,2 Apk. 21,4

8. 12. 1918

Ps. 51,12

1184

Schmeckt und sehet, wie freundlich der Herr ist 1196 Der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft 1198 Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorget für euch 1203 Einer trage des andern Last 1203 Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen 1208 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz 1212

1196

16 Inhalt

22. 12. 1918

Ps. 40,9

29. 12.1918

I Thess. 5,18

Deinen Willen, mein Gott, tue ich gern 1219 Seid dankbar in allen Dingen 1224

XVIII. Predigten desJahres 1919 28. 1. 1919 2. 2. 1919 16. 2. 1919 23. 2. 1919 2. 3. 1919 16. 3.1919

[Ohne Text] Mk. 6,1–6 Mk. 12,28– 34 Röm. 14,7

30. 3. 1919

Mt. 5,39+

Prov. 12,10

Mt. 7,1

Mt. 18,21 4. 5. 1919

Röm. 14,12

11. 5. 1919

I Kor. 7,30

25. 5.1919

Hebr. 13,16

1. 6. 1919

Gal. 6,9

15. 6.1919

I Petr. 4,10

20. 7.1919

Phil. 4,5

27. 7. 1919 17. 8. 1919

7. 9.1919

I Thess. 5,18 I Thess. 5,18 Eph. 4,25

2. 11. 1919

Jak. 5,11

16. 11. 1919 14. 12. 1919

I Kor. 13,9 Ez. 36,26

1228

Hochzeit Carlier-Brendermann 1228 Und er kam in seine Vaterstadt 1229 Das große Gebot 1233 Denn unser keiner lebt sich selber 1239 Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs 1245 Richtet nicht, auf daßihr nicht gerichtet werdet 1253 Ich sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel 1261 Wievielmal muß ich meinem Bruder vergeben? 1261 So wird nun einjeglicher für sich selbst Gott Rechenschaft 1267 Die, die daerwerben, sollen sein, alsbesäßen sie es nicht 1271 Wohlzutun und mitzuteilen vergesset nicht 1276 Lasset uns Gutes tun und nicht müde werden 1284 Dienet einander, einjeglicher mit der Gabe, die er empfangen 1289 Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen 1294 Seid dankbar in allen Dingen 1307 Seid dankbar in allen Dingen 1315 Darum leget die Lüge ab undredet die Wahrheit 1319 Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben 1321 Unser Wissen ist Stückwerk 1323 Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist 1327

XIX. Predigt ausdemJahr 1920 1. 1. 1920

Gen. 32,25–27

1334

Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn

1334

XX. Predigt ausdemJahr 1921 11. 12. 1921

[Ohne Text]

Adventsandacht

1336 1336

XXI Predigt ausdemJahr 1923 31. 12. 1923

II Kor. 12,9

Laß dir an meiner Gnade genügen

1346 1346

Inhalt

17

XXII. Predigt aus demJahr 1924 16. 11. 1924

I JOH. 4,16

1349

Gott ist Liebe

1349

XXIII. Predigt ausdemJahr 1931 5. 7. 1931

[Ohne Text]

1352

Taufrede

1352

XXIV. Predigt aus demJahr 1932 7. 8. 1932

Mt. 13,30

1354

Lasset beides miteinander wachsen bis zur

Ernte

1354

XXV. Predigten ausdemJahr 1934 22. 9. 1934 28. 10. 1934

Eph. 5,9 Mt. 6,12

1358

Wandelt wie die Kinder desLichts 1358 Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben 1360

XXVI. Predigt ausdemJahr 1948 8. 8. 1948

[Ohne Text]

1365

Taufpredigt

1365

XXVII. Predigten ohne Datum Mt. 7,12 Mt. 11,11 Lk. 2,25– 30

1367

Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun 1367 [Johannes der Täufer] 1371 [Nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren

1373

Liste der unveröffentlichten Predigten

1377

Register

1381

Abkürzungen

AS-HB

AS Bd. I

AS Bd. III

AS Bd. IV AS Bd. V

Bähr Freundesgabe

Gräßer 1 Gräßer 2 Kirchenbote

Albert Schweitzer, Helene Bresslau: Die Jahre vor Lambarene, Briefe 1902– 1912, München 1992 R. Brüllmann (Hg.), Albert-Schweitzer-Studien Bd. 1, Bern 1989 W. Munz, Albert Schweitzer im Gedächtnis der Afrikaner und in meiner Erinnerung, Bern 1991 (Albert-SchweitzerStudien Bd. 3) C. Frey, Christliche Weltverantwortung bei Albert Schweitzer mit Vergleichen zu Dietrich Bonhoeffer, Bern 1993 (AlbertSchweitzer-Studien Bd. 4) W. Zager (Hg.), U. Neuenschwander, Christologie – verantwortet vor den Fragen der Moderne. Mit Beiträgen zu Person und Werk Albert Schweitzers, Bern 1997 (AlbertSchweitzer-Studien 5) H.W. Bähr, Albert Schweitzer, Leben, Werk und Denken mitgeteilt in seinen Briefen, Heidelberg 1987 Ehrfurcht vor demLeben, Albert Schweitzer. Eine Freundesgabe zu seinem 80. Geburtstag, Bern 1954 E. Gräßer, Albert Schweitzer als Theologe, Tübingen 1979 E. Gräßer, Studien zu Albert Schweitzer, Bodenheim 1997 Evangelisch-protestantischer Kirchenbote für Elsaß-Lothringen,

Straßburg

Mühlstein

V. Mühlstein,

[R] []

Randbemerkung Albert Schweitzers Anmerkungen der Herausgeber

Helene Schweitzer-Bresslau. Eine Biographie, München 1998 Mühlstein M V. Mühlstein, Helene Schweitzer Bresslau. Eine Biographie, Manuskript 1997 Rayonnement R. Minder (Hg.), Rayonnement d’Albert Schweitzer, Le livre du Centenaire, Colmar 1975 G. Seaver, Albert Schweitzer als Mensch und als Denker, Seaver Zürich 1955 A. Schweitzer: Gesammelte Werke infünf Bänden, Zürich Werke 1974

Die übrigen Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie von S. M. Schwertner, Berlin |2¡1994

Vorbemerkungen

Bisjetzt liegen zwei kleine Sammlungen von Predigten Albert Schweitzers vor. In den «Straßburger Predigten» hat U. Neuenschwander 17 Predigten aus denJahren 1900 bis 1919 herausgegeben.|1¡ Im Bändchen «Was sollen wir tun?» haben M. Strege und L. Stiehm 12 ethische Predigten aus dem Jahre 1919 zusammengestellt,|2¡ darunter auch die schon in den «Straß-

burger Predigten» enthaltene Doppelpredigt über die Dankbarkeit. In gewisser Weise handelt es sich auch bei den zwischen 1901 und 1904 im Kirchenboten erschienenen 33 Beiträgen «Gespräche über das Neue Testament» um Predigten, die inzwischen von W. Döbertin als Buch herausgegeben wurden.|3¡ Sie vermitteln nicht nur Fachwissen in allgemeinverständlicher Form, sondern sie sind gleichzeitig praktische Anleitungen zum Glaubensleben. Ebenfalls haben die Sonntagsbetrachtungen desKirchenboten Predigtcharakter. Daneben sind einzelne Predigten oder Predigtausschnitte in Büchern und Zeitschriften erschienen.|4¡ Das bekannteste Zitat ist wohl der Abschnitt aus der Rede Schweitzers bei der Trauung von Theodor Heuss und Elly Knapp, die zum Straßburger Radelklub gehörten.|5¡ Theodor Heuss schreibt dazu: «Albert Schweitzer hat uns am 11. April 1908 in der Straßburger Wilhelmer Kirche getraut. Er hat später ein paarmal im Scherz gefragt, ob uns nicht der Lysoformgeruch gestört habe – er war gerade von einer Operation gekommen. Davon hatte ich nun nichts gemerkt, aber ich war ein bißchen betroffen oder gar verwirrt, weil er das Bibelwort gewählt hatte: ‹Ihr seid das Salz der Erde›. Waren wir denn das?»|6¡ Und Elly Heuss-Knapp zitiert aus der Traurede: «Das hohe Glück in diesem Augenblick ist nicht, daß zwei Menschen sich innerlich geloben: Wir wollen füreinander leben, sondern daß dies in ihren Gedanken zugleich bedeutet: Wir wollen miteinander für etwas leben.»|7¡ 1 2 3 4

A. Schweitzer, Straßburger Predigten (Beck’ sche Reihe 307), München |3¡1966. A. Schweitzer, Wassollen wir tun?, Heidelberg |2¡1986. A. Schweitzer, Gespräche überdasNeue Testament (Beck’ sche Reihe 1071), München |2¡1994. Siehe A. Schweitzer, Reich Gottes und Christentum, München 1995, S. 482. 5 Zum Radelklub siehe S. 748, Anm. 24. 6 Th. Heuss, Erinnerungen 1905–1933 (Fischer Bücherei 700), Frankfurt und Hamburg 1965, S. 85.

7 E. Heuss-Knapp, Alle Hamburg 1965, S. 27.

Liebe ist Kraft (Siebenstern-Taschenbuch 61), München

und

22 Vorbemerkungen

Das Manuskript dieser Traupredigt ist bis heute unauffindbar geblieben. Doch besteht kein Zweifel an der Echtheit dieses Zitates. Denn ganz ähnlich formuliert Schweitzer in einer Trauansprache vom 7. August 1908: «Wenn ihr nun euren Hausstand gründet, so tut dasnicht mit der Gesinnung der Menschen, die das Glück darin zu erkennen und zu halten meinen, daß sie sagen: Wir wollen füreinander leben, sondern habt den Gedanken: Wir wollen miteinander für etwas leben.»|8¡ Grundsätzlich wurden alle vorhandenen Predigten in diese Sammlung aufgenommen. Skizzen fehlen, wenn zu ihnen vollständige Predigten vorliegen oder wenn sie nur aus Stichwörtern und unvollständigen Satzbruchstücken bestehen. Abgesehen von einer Ausnahme|9¡ sind die Spitalpredigten von Lambarene nicht berücksichtigt, da es sich dabei nicht um Originale, sondern um französisch aufgezeichnete Nachschriften von Mitarbeiterinnen handelt. Zudem werden sie nach einer Mitteilung der Tochter A. Schweitzers in Kürze in Amerika auf französisch und englisch herausgegeben werden. Einige hat Schweitzer selber publiziert. Sie sind in den Gesammelten Werken zu lesen.|10¡ Aus Lambarene stammen auch zwei Taufansprachen, die Schweitzer bei der Taufe von europäischen Kindern, die im Spital geboren worden

waren, gehalten hat.|11¡ Ebenso wurden die Abendandachten, die Schweitzer mit den europäischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zwischen 1963 und 1965 in Lambarene gehalten hat, weggelassen. Gegen Schweitzers Willen wurden sie von einem Mitarbeiter nachgeschrieben. Als er es erfuhr, hat er dieVeröffentlichung ausdrücklich verboten. Auch die Besinnungen zum Sonntag, die Schweitzer für den Kirchenboten für Elsaß-Lothringen geschrieben hat, fanden keine Aufnahme, dasie gedruckt vorliegen. Ein Verzeichnis der nicht aufgenommenen Predigten befindet sich, nach Daten geordnet, in einem Register am Ende dieses Bandes.|12¡ Die vollständigen Manuskripte und Abschriften können als Fotokopien auf Voranmeldung hin im Archiv des Internationalen AlbertSchweitzer-Zentrums in F-68140 Günsbach eingesehen werden. Die Predigten halten sich vollumfänglich an den Text der Manuskripte. Einzig offensichtliche Schreibfehler wurden korrigiert und einige Anpassungen an den heutigen Sprachgebrauch vorgenommen. So schreiben wir statt That und thun Tat und tun, statt Creatur Kreatur. Da 8 [Zu I Kor. 13,4–7. 13] S. 938.

9 Bei der Predigt vom 16. November 1924, siehe S. 1349, handelt es sich um die erste Predigt bei der zweiten Ausreise nach Afrika, die im Original vorliegt. 10 A. Schweitzer, Spitalandachten zu Lambarene, in: Werke Bd. V, S. 380– 387. 11 Siehe S. 1352 [Ohne Text] und S. 1365 [Ohne Text]. 12 Siehe S. 1377.

Vorbemerkungen

23

Schweitzer sehr oft Bibeltexte selber übersetzt hat, sind seine Formulierungen übernommen worden. Ergänzungen jedoch sind in der Regel der Lutherbibel von 1912 entnommen, die Schweitzer bis zu seinem Tod in Lambarene benützt hat. Liedertexte werden nach dem Evangelischen Gesangbuch für ElsaßLothringen von 1899 zitiert, dessen sich Schweitzer bedient hat. Um die Lesbarkeit zu erleichtern, wurden die Überschriften der Predigten im Gegensatz zu den Manuskripten vereinheitlicht. Schweitzer versah seine Predigten vielfach mit seiner Unterschrift, Zeitangaben, persönlichen Notizen oder gar mit Briefen an nahe Verwandte. Da sie eindrücklich zeigen, wie sehr im Leben Schweitzers Predigt und Alltag zusammenhängen, werden sie meistens angegeben. Ebenfalls Zueignungen sind gewöhnlich erwähnt. Die Randbemerkungen werden nur wiedergegeben, wenn sie etwas Besonderes festhalten. Meistens jedoch dienten sie Schweitzer als Gedächtnisstütze für den weiteren Verlauf der Predigt. Die Stichwörter wurden dann später zu Sätzen ausformuliert. Manchmal hat er sie auch in freier Rede im Gottesdienst vorgetragen. Mit Anmerkungen weisen wir auf wichtige Zusammenhänge hin: Geschichtliche Ereignisse, Bibeltexte und Liederdichter. Danken möchten wir den vielen freiwilligen Helferinnen aus der Kirchgemeinde Thun-Schönau, die in Fronarbeit die Predigten abgeschrieben haben. Froh waren wir auch über die vielen Hinweise und die unermüdlichen Nachforschungen von Sonja Poteau, der Leiterin desInternationalen Albert-Schweitzer-Zentrums in Günsbach. Ein besonderer Dank geht an Hans Reuteler, der die Korrekturarbeiten besorgt, und an Christoph Wyss, der sich um die PC-Erfassung gekümmert hat. Auch Pfarrerin z. A. Beate Alenfelder, Saarbrücken, wird für korrigierende Hinweise herzlich gedankt. Einen günstigen Verkaufspreis haben verschiedene Persönlichkeiten und Organisationen durch großzügige Druckkostenzuschüsse ermöglicht. Für diese außerordentliche Hilfe danken wir sehr herzlich der Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum, Frankfurt am Main, der Wissenschaftlichen Albert-Schweitzer-Gesellschaft (ASG), Mainz, der Stiftung Internationales Albert-Schweitzer-Zentrum Günsbach, Bern, dem Schweizer Hilfsverein für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene, Troinex, sowie Ursula Holliger, Basel.

Thun und Bonn, 14.Januar 2000

Richard Brüllmann Erich Gräßer

Der Prediger Albert Schweitzer VonRichard Brüllmann

1. Der Predigtsinn Im Leben Schweitzers haben Gottesdienst und Predigt einen gewichtigen Platz. Schon als Schulbub nimmt er regelmäßig an den Gottesdiensten seines Vaters teil¦1¿ und führt diese Tradition auch als Erwachsener weiter, so oft es ihm die Umstände erlauben. Dort lernt er nach seinen eigenen Worten den Sinn für das Feierliche und das Bedürfnis nach Stille und Sammlung kennen, ohne die er sich sein Dasein nicht denken kann.¦2¿ Später sagte er einmal, als er körperlich müde und abgespannt war: «Nie habe ich es so gefühlt wie jetzt, daß unser erster Gedanke, wenn wir am Sonntag erwachen, in Dank zu Gott für Sonntag und Glockenklang bestehen sollte, nicht nur Dank für den Ruhetag, sondern für das Feierliche, das darüber liegt, darum, daß wir begnadet sind, uns im Gotteshause zusammenfinden zu dürfen.»¦3¿ Als er dann selber zum Predigen kommt, ist er von dieser Aufgabe hell begeistert. «Die mir zufallende Tätigkeit war mir eine stetige Quelle der Freude.»¦4¿ Darum empfindet er die Predigt nie als Zwang, sondern als Geschenk. «Es war mir das Predigen ein innerliches Bedürfnis.»¦5¿ Er hängt so sehr daran, daß er denVorschlag seines Lehrers Theobald Ziegler, sich an der philosophischen Fakultät alsPrivatdozent zu habilitieren, ablehnt, weil damit derVerzicht auf dasPredigtamt verbunden wäre.¦6¿ Und dieses Ja zur Predigt erfüllt ihn ein Leben lang. 1909 schreibt er an Helene Bresslau: «Es ist so schön, als Vikar abends still zu liegen und darüber nachzudenken, was man sagen will. Man sammelt sich, und das Leben erscheint dann ganz anders!»¦7¿ Diese Sammlung erfährt er besonders in seinen Nachmittagsandachten. So hält er in seiner letzten Nachmittagspredigt vor der Ausreise nach Lambarene fest: «Diese Sonntagnachmittage gehörten zu dem Schönsten für mich, was ich in 1 A. Schweitzer, Aus meiner

2 Ebd. S. 288.

Kindheit undJugendzeit,

in: Werke Bd. I, S. 288.

3 Predigt vom 22. Januar 1911 [Zu Mk. 6,31]. Siehe S. 1064. 4 A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 46. 5 Ebd. S. 44. 6 Ebd. S. 44. 7 AS-HB, S. 258.

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Der Prediger Albert

Schweitzer

meinem Leben fand.»¦8¿ Ebenso ergriffen betont er in der letzten Morgenpredigt vor seiner Abfahrt: «In diesen Gedanken sprach ich an so vielen Sonntagen dieses Segenswort über euch aus [Phil. 4,7], es als ein unaussprechliches Glück empfindend, euch das Evangelium predigen

zu dürfen.»¦9¿

Ähnlich erzählt er in seinen Erinnerungen, wie beglückend er die Predigttätigkeit in Lambarene empfunden hat: «Am Predigen hatte ich große Freude. DieWorte Jesu undPauli denen verkünden zudürfen, denen sie etwas Neues waren, erschien mir als etwas Herrliches.»¦10¿ Worum es ihm in der Predigt geht, sagt er seiner Gemeinde einmal so: «Wir Pfarrer haben auf der Kanzel nur einen Beruf, wozu uns unsere Wissenschaft dient: euch lehren, die Bibel zu verstehen und lieb zu gewinnen.»¦11¿ Für den Prediger heißt das, daß er sich mit der ursprünglichen Bedeutung der Worte Jesu auseinandersetzen und sich durch die historische Wahrheit zur ewigen durcharbeiten muß.¦12¿ Dieses Ringen um die ewige Wahrheit ist manchmal schwer und beschwerlich. So schreibt Schweitzer an Helene Bresslau am 4. Januar 1908 zur Predigt vom Sonntag:¦13¿ «Heute morgen auf demWeg zum Bahnhof ahnte ich einen furchtbaren Tag voraus... ich sah mich bis 2 Uhr morgens mit letzter Kraft an meinem Schreibtisch sitzen... Das ist der Grund, warum ich Ihnen fast mit Abscheu von meiner Predigt gesprochen habe. Es ist schrecklich – eine schreckliche Geburt, wenn man seine innersten Gedanken zur Welt bringt... wenn man Prophet sein undgleichzeitig die Dinge alsVikar sagen muß.»¦14¿ Doch stellt er sich dieser Herausforderung immer neu, da er weiß, daß er dadurch seinen Predigtbesuchern echte Lebenshilfe leistet. Glaubenskenntnis führt zu Lebenskenntnis. Einmal sagt er es seinen Zuhörerinnen und Zuhörern so: «Ihr habt schon bemerkt, daß ich in meinen Predigten eins vor allem suche, den Menschen Mut und Freude zum Leben zu machen.»¦15¿ Ein anderes Mal umschreibt er das Ziel mit dem Vermitteln von «Friede und innerlicher Freudigkeit».¦16¿ Beides schöpft er ausder Botschaft desNeuen Testaments: «In der Religion suchen wir Antwort auf die elementare Frage, vor der jeder von unsjeden Morgen aufs neue steht, welchen Sinn und welchen Wert wir unserm Leben geben sollen. Was bin ich in der Welt? Was will ich in 8 25. Februar 1912 [Zu Apk.

2,10], S. 1172.

9 9. März 1913 [Zu Phil. 4,7], S. 1195. 10 A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 156. 11 17. September 1899 [Zu I Petr. 5], S. 97. 12 A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 72. 13 5. Januar 1908 [Zu Mt. 6,25– 33], S. 878. 14 AS-HB, S. 197. 15 13. November 1904 [ZuJoh. 15,5], S. 590. 16 3. Mai 1908 [Zu Mt.

18,20], S. 908.

1. Der Predigtsinn

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ihr? Was darf ich hoffen?»¦17¿ Da es sich um etwas derartig Grundlegendes handelt, empfindet es Schweitzer «als etwas Wunderbares, allsonntäglich zu gesammelten Menschen von den letzten Fragen des Daseins reden zu dürfen».¦18¿ Weil es um die letzten Dinge geht, nimmt er seinen Auftrag als Prediger sehr ernst undleidet darunter, wenn sich Schwierigkeiten einstellen: «Auf demWeg zum Bahnhof war ich so unglücklich. Ich fand die Form für meine Predigt nicht. Es war ein Chaos; 25 Predigten auf einmal, und wie eine einzige daraus machen?... Und die Angst, Dinge zu sagen, die ich nicht genügend vertieft habe... eine Predigt zu halten, die nicht ‹gelebt› ist! Seit Dienstag leide ich darunter, und die letzten zwei Tage war ich wirklich verzweifelt darüber... Das sind furchtbare Krisen

...

»¦19¿

Um so glücklicher ist er, wenn sich die Schleier lichten: «In der Bahn, der Zug hatte sich noch nicht in Bewegung gesetzt, nahm ich meinen Bleistift und begann mit dem Entwurf... und plötzlich ward Licht. In Colmar hatte ich den Plan für den zweiten Teil festgelegt..., in

Straßburg angekommen, schrieb ich vor dem Essen ein Drittel des restlichen Teils, undjetzt, um ½ 7, liegt meine Predigt fertig vor mir. Dieses Glück muß ich Ihnen doch mitteilen. Denken Sie nur: in Ruhe memorieren können, mich ausruhen und morgen predigen können, ohne unter Müdigkeit zuleiden... »¦20¿ Das Bewußtsein menschlicher Unzulänglichkeit nimmt ihm die Freude nicht, eine schöne Aufgabe erfüllen zu dürfen. So meint er im Rückblick auf sein Wirken an St. Nicolai von 1898 bis 1912: «Ich weiß, daß das, was ich in diesen Erbauungsstunden ausgesprochen, vom Standpunkt der überlieferten Lehre nicht vollständig und nicht immer befriedigend gewesen ist. Trotz dieser mir bewußten Lücken und Schwächen habe ich das Evangelium mit Zuversicht und Freudigkeit gepredigt, weil ich glaubte, das, was unserer Zeit not tut, mit lebendiger, innerer Überzeugung aussprechen zu können.»¦21¿ Wie wichtig ihm diese regelmäßige Besinnung auf den Sinn des Lebens ist, geht aus der Tatsache hervor, daß er selbstverständlich bei seinen Kollegen zum Gottesdienst geht, wenn er daheim ist. So begründet er denn auch seine Absicht, die «Gedanken vom letzten Sonntagnachmittag weiter fortzuspinnen» mit dem Hinweis: «Da ich mit euch zusammensaß und mit euch die Predigt hörte.»¦22¿ Ebenso nimmt er in Lambarene an den Sonntagsfeiern teil, wenn jemand anders die Predigt 17 A. Schweitzer, Das Christentum unddie Weltreligionen, in: Werke Bd. II, S. 684 f. 18 A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 44. 19 AS-HB, S. 197.

20 Ebd. S. 197.

21 Predigt vom 18. Februar 1912 [Zu I Kor. 4,20], S. 1167.

22 16. November 1902 [Zu Mk. 10,35–40], S. 420.

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Der Prediger Albert Schweitzer

hält. Als Grund dafür weist er auf dieTatsache hin: «Ruhe und Sammlung taten mir ja auch not.»¦23¿ Seiner Gemeinde redet er in dieser Hinsicht eine klare Sprache: «In unserer Zeit, wenn einer sich nicht zur Kirche hält, wenn er sich nicht am Sonntag in der Kirche erbaut, so kann er in seinem Christentum nicht wachsen, es wird nicht eine Kraft, die sein ganzes Leben durchzieht, sondern es bleibt etwas Äußerliches, eine Erinnerung, ein Name.»¦24¿ Darum geht es ihm so nahe, als er bei einem Besuch bei seinem frisch verheirateten Bruder feststellen muß, daß der es damit nicht so genau nimmt. Er schreibt darüber an Helene Bresslau: «Heute morgen war ich sehr traurig. Sie sind nicht kirchlich. – Ich mußte allein in die Kirche gehen und hätte weinen mögen. Ich habe ihnen sehr ernst darüber geredet heute nachmittag. Ich fühle so gut, wie das schönste Band fehlen wird und wie sie mir innerlich fremd und gleichgültig werden würden, wenn sie eben so zu bourgeois würden, die keinen Sonntag und also kein Sinnen auf das Reich Gottes mehr kennen.»¦25¿ Von daher versteht es sich ganz von selbst, daß er auch unter der Gleichgültigkeit und der Interesselosigkeit der großen Menge gegenüber dem Glauben leidet. So sagt er: «Es ist nicht erquickend, in unserer zweifelnden und gleichgültigen Zeit Pfarrer zu sein. Man möchte den Menschen unserer Tage geistig etwas geben, ihnen Jesus bringen – und kann es nicht. Sie will, daß man ihr Zweifel ausrede, und will keine Anstrengung machen. Und wenn dieVerkündigung desEvangeliums darin bestände, Zweifel auszureden, eine Lehre zu verteidigen, so wäre Prediger sein dastraurigste, erfolgloseste Amt, wie wenn man Leute reich machen wollte, indem man ihnen auf dem Papier vorrechnete. Aber esist so ganz anders, soviel schöner, denn die Verkündigung besteht in etwas ganz anderem. Sie lautet: Bleibt nicht stehen, sondern geht auf ihn zu! Und dieses Evangelium darf man freudig und gewiß verkündigen, denn die, welche ihn ernstlich suchen und sich aufmachen, auf ihn zuzugehen, müssen ihn finden. Sie können nicht anders.»¦26¿ Ein weiterer wesentlicher Aspekt des gemeinsamen Predigthörens ist das Erlebnis der Gemeinschaft, das auf der einen Seite die Anwesenden betrifft, gleichzeitig aber auch dieVerbundenheit mit den früheren und mit den kommenden Generationen und mit den Menschen, die an andern Orten feiern, mit einschließt. «Geistige Gemeinschaft ist etwas, das alle Worte undVorstellungen tief unter sich läßt, etwas, dasman erlebt, aber nicht beschreiben kann.»¦27¿ 23 24 25 26 27

A. Schweitzer, Andacht im Urwaldspital, Kirchenbote, 8. Januar 1928. 6. April 1902 [Zu Mt. 13,31], Entwurf zu 6. April... AS-HB, S. 327. Predigt vom 19. November 1905 [Zu Mt. 14,22– 32], S. 688. 24. April 1904 [Zu Mt. 28,20], S. 543.

2. Der Predigtraum

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Wie das praktisch geschehen kann, machen zwei Briefstellen deutlich: Am Palmsonntag 1925 schreibt er einem befreundeten Ehepaar: «Nun höre ich auf zu schreiben und denke in Palmsonntagsgedanken an euch beide, ihr lieben, treuen, frommen Freunde.»¦28¿ Fünf Jahre später schreibt er ihnen: «Heute fuhren wir mit Helene nach dem Palmsonntagsplatz im stillen See, von wo aus ich Ihnen vor Jahren schrieb. Vielleicht haben mich Ihre Gedanken dort gesucht.»¦29¿ Wie nötig diese geistige Gemeinschaft für alle ist, faßt er in die Feststellung zusammen: «Sie fühlen das Bedürfnis nach Erholung und befriedigen es in der Zerstreuung oder im rein körperlichen Ausruhen. Beides muß der Mensch haben, beides sei ihm gegönnt in der rechten Art. Aber es ist nur das niedere Ausruhen, denn der Geist wird dabei nicht erquickt. Darüber hinaus gibt es ein höheres Ruhen, das Ruhen, dasJesus meint, da er zu seinen Jüngern spricht: Laßt uns miteinander in die Stille gehen. Dieses Ruhen ist Feiern, es besteht im Sammeln und Erheben des Geistes mit andern Menschen. Wer dieses nicht kennt, ist nie ausgeruht. Sein Geist bleibt matt und müd, und seine inneren Lebenskräfte werden nicht gestärkt.»¦30¿ Sinnbild für diese geistige Zusammengehörigkeit ist ihm auch der alte Mitschi, der getreulich jeden Sonntag zum Gottesdienst von Schweitzers Vater kam, obschon er völlig taub war und kein Wort verstand, jedoch auf eine Äußerung des Bedauerns darüber lächelnd zur Antwort gab: «Gemeinschaft der Heiligen, Herr Pfarrer, Gemeinschaft

der Heiligen.»¦31¿ Kurz und bündig kommt seine Auffassung von der Bedeutung des Predigthörens in einem Brief an sein Patenkind Suzanne Oswald zum Ausdruck, dem er am 18. Mai 1913, während er mit dem Auspacken und Einrichten in Lambarene beschäftigt ist, einen kurzen Lagebericht schickt und diesen mit der Aufforderung schließt: «N’oublie pas d’aller à l’ église tous les dimanches!»¦32¿

2. Der Predigtraum

Im Zusammenhang mit Predigt und Gottesdienst hat Schweitzer ganz klare Vorstellungen von den äußeren Bedingungen, die zum Gelingen nötig sind. Er findet es vor allem wichtig, daß eine Kirche so gestaltet ist, daß sie das andächtige Nachdenken fördert. «Eine Kirche ist viel mehr als 28 Bähr, S. 80. 29 30 31 32

Ebd. S. 106.

Predigt vom 22. Januar 1911 [Zu Mk. 6,31], S. 1064. A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 292. S. Oswald, Mein Onkel Bery, Zürich ¦3¿1973, S. 85.

30

Der Prediger

Albert Schweitzer

ein Raum, in dem man eine Predigt anhört. Sie ist ein Ort der Andacht. An sich, als Raum, muß sie zurAndacht anhalten.»¦33¿ AlsBeispiel dafür ist ihm die alte Kirche von Günsbach in bester Erinnerung. Mit ihrem goldenen katholischen Altar, den Statuen, den künstlichen Blumensträußen und den großen Leuchtern mit den majestätischen Kerzen lud sie geradezu zum andächtigen Träumen ein. Durch die Chorfenster schaute man auf dieBäume undDächer desDorfes, man sah den Himmel und dieWolken und konnte so seine Gedanken in die ganze Welt hinausziehen lassen. «So wanderte mein Blick aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit. Stille und Frieden überkamen meine Seele.»¦34¿Wie sehr er sich mit diesem Raum verbunden fühlte, belegt ein Brief ausdem Jahre 1959 an den Gemeinderat von Günsbach, in dem er seine Bemühungen um eine gute Orgel schlicht und einfach mit der Feststellung begründet, «weil ich Günsbach undseine Kirche lieb habe».¦35¿ Aus der Überzeugung heraus, daß der Kirchenraum nicht auch noch nüchtern sein darf, weil der protestantische Gottesdienst an sich es schon ist, kann er sich mit sogenannten «Predigtkirchen» nicht abfinden. Denn wenn der Blick überall auf Mauern prallt, kommt keine Andacht

auf.¦36¿

In Straßburg findet er in der Kirche St. Nicolai wieder einen Raum, der seinen Vorstellungen entgegenkommt. Die erste Predigt nach der Rückkehr aus Lambarene beginnt er mit den Worten: «Jahre sind vergangen, seitdem ich zum letzten Mal in diesen Mauern zu euch reden durfte. Den Augenblick, wo es mir wieder vergönnt sein würde, habe ich allsonntäglich mit Heimweh nach dieser Stätte ersehnt.»¦37¿ Er ist so vertraut mit diesem Raum, daß er bei der Kirchenrenovation im Jahre 1905 feststellt, daß er so wenig wie die andern gemerkt habe, daß die Mauern staubig geworden seien und sich verfärbt hätten, so daß die Kirche für den Gottesdienst nicht mehr würdig sei.¦38¿ In Lambarene ist scheinbar alles anders, im Grunde genommen aber dennoch gleich. Äußerlich gesehen stimmt nichts mehr überein. Der Gottesdienst findet mitten im Spital im Freien statt. Beim Zuhören gehen einige ihren Beschäftigungen nach: Sie kochen, waschen die Kinder oder bessern ihre Fischnetze aus. Dazu kommen dieLaute derTiere: Schafe und Ziegen blöken, dieWebervögel schreien unddieAffen machen Lärm.¦39¿ 33 A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 290. 34 Ebd. S. 289 f. 35 H. Schützeichel, Die Orgel im Leben undDenken Albert Schweitzers. Quellenband, Freiburg 1992, S. 175. 36 A. Schweitzer, Aus meiner

Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 290. Oktober 1918 [Zu Phil. 4,7], S. 1198. 38 23. Juli 1905 [Zu Eph. 4,23], S. 679. 39 Schön geschildert bei: Ch. R. Joy/M. Arnold, Bei Albert Schweitzer in Afrika, München 1948, S. 145 f. 37 13.

3. Die Predigtorte

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Und doch hat sich dasWesentliche nicht geändert: Es ist feierlich. «Der Gottesdienst im Freien ist trotz dieser Bewegtheit von ergreifender Feierlichkeit durch dieTatsache, daß dasWort Gottes hier an Menschen ergeht, die es zum ersten Male hören.»¦40¿ Darum stellt Schweitzer zufrieden fest: «Über Mangel an Aufmerksamkeit habe ich bei meinen Zuhörern nicht zu klagen. Man sieht es ihren Gesichtern an, wie dasGehörte sie innerlich beschäftigt.»¦41¿ Auch die von Schweitzer postulierte Forderung, der Blick müsse frei schweifen können, ist hier erfüllt. Der Blick in die Natur und die Alltagswelt öffnet die Seele für dasWunder der Schöpfung. Es geschieht auch hier, waser von Günsbach schreibt: «Das Auge bedarf stimmungsvoller Ferne, in der das äußerliche Schauen sich zum innerlichen wandelt.»¦42¿

Die Abendandachten für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden im Speisesaal statt. Wohl kann man nichts mehr sehen. Aber die Natur mit all ihren Geräuschen ist nicht ausgeschlossen. Vielmehr werden neue Stimmen von Menschen undTieren laut. Es gibt keine geschlossenen Fenster, sondern nur feine Gitter, die die Insekten abhalten und vor demTod am brennenden Licht bewahren. In Berücksichtigung dieser Tatsachen ist es sehr verständlich, daß Schweitzer nie eine Kirche in seinem Spital haben wollte. Die lebendige Verbindung mit dem Leben gab von selbst Anlaß zur Ehrfurcht vor dem Leben und vertiefte das Bewußtsein von der eigenen Zugehörigkeit zur Schöpfung und der damit verbundenen Verantwortung gegenüber allem, waslebt.

3. Die Predigtorte Zwischen 1896¦43¿ und 1965 hat Schweitzer an verschiedenen Orten gepredigt. Zunächst ging er während der Studentenzeit dorthin, wo man einen Vertreter brauchte, wie das noch heute bei den Kandidaten der Theologie üblich ist. Später hielt er in Günsbach und in der Kirche St. Nicolai in Straßburg Gottesdienst. Dort erhielt er dann auf den 1. Dezember 1899 eine Anstellung als Lehrvikar, und nach Abschluß seiner zweiten theologischen Prüfung am 15. Juli 1900 wurde er am 23. September 1900 als regulärer Vikar ordiniert.¦44¿ Diese Tätigkeit übte er bis

40 A. Schweitzer, Gottesdienst im Spital zu Lambarene, Elsaß-lothringischer Familien-Kalender, 1931, S. 79– 81.

41 Ebd. S. 80.

42 A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 290. 43 In der Predigt vom 24. Juni 1900 [Zu Mt. 5,4] schreibt Schweitzer: «ImJuli wird es 4 Jahre, daß ich in einer Gemeinde desUnterelsaßes predigen sollte», S. 171.

44 Siehe S. 33, Anm. 56.

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Der Prediger Albert

Schweitzer

zu seiner Abreise nach Lambarene aus. Die letzte Predigt in St. Nicolai hielt er am 9. März 1913. Dazwischen war er 1901 während eines halben Jahres provisorisch und dann von 1903 bis 1906 definitiv Direktor des theologischen Studienstifts St. Thomas, wo er regelmäßig mit den Studenten Andachten hielt.¦45¿

Bald begann dann auch in Lambarene eine rege Predigttätigkeit, zuerst auf der Missionsstation Andende,¦46¿ später am neuen Standort des Spitals einige Kilometer flußaufwärts.¦47¿ Nach der Rückkehr aus dem Interniertenlager St-Rémy-de-Provence, wo er auch gepredigt hatte, fuhr Schweitzer im Jahre 1918 zunächst nach Günsbach. Dort hielt er am 18. August zum 43jährigen Amtsjubiläum seines Vaters die erste Predigt im Elsaß seit seiner Ausreise nach Afrika.¦48¿ Weitere folgten. Dann wurde er wieder Pfarrer an St. Nicolai, wo er jetzt allein tätig war, da seine beiden früheren Kollegen nicht mehr im Amt waren.¦49¿ Dort trat er am 13. Oktober 1918 zum ersten Mal auf die ihm vertraute Kanzel.¦50¿

Im April 1921 gab Schweitzer diese Pfarrstelle auf, um in Ruhe an der «Kulturphilosophie» arbeiten zu können.¦51¿ Durch Orgelkonzerte und Vorträge beschaffte er sich das Geld, um das Spital in Lambarene wieder aufbauen zu können. Die letzte Predigt fiel auf den 10. April 1921.¦52¿ Dann ließ er sich mit seiner Familie bei seinem Vater in Günsbach nieder, wo er verschiedene Gottesdienste hielt. Anschließend war er in Skandinavien unterwegs zu Vorlesungen, Vorträgen und Konzerten. Dabei predigte er unter anderm am 11. Dezember 1921 in Stockholm.¦53¿ 1924 reiste er zum zweiten Mal nach Lambarene aus. Zu den Sonntagsgottesdiensten im Spital kamen dann, vor allem nach dem Umzug ins neue Spital imJahre 1927, mit dem sich ständig vergrößernden europäischen Personalbestand die Abendandachten nach dem Nachtessen dazu. Während der folgenden Europabesuche hat Schweitzer in Günsbach und in andern Gemeinden des Münstertals und in der Schweiz gepredigt, einige Male auch in London. Zwei jener Predigten sind vorhan-

45 A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in Werke Bd. I, S. 60. 46 Ebd. S. 155. 47 A. Schweitzer, Gottesdienst im Spital zu Lambarene, Elsaß-lothringischer Familien-Kalender, 1931, S. 79. 48 18. August 1918 [Zu Ps. 34,9], S. 1196. 49 A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 191f. 50 [Zu Phil. 4,7], S. 1198. 51 A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 206. 52 [Zu I Kor. 13,8], Skizze, unveröffentlicht. 53 [Über Religion] S. 1336.

4. Die Predigtgemeinden

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den.¦54¿ Doch berichtet G. Seaver von mehreren Gottesdiensten.¦55¿ Der letzte Predigtentwurf stammt aus dem Jahre 1959, als Schweitzer zum letzten Mal in Europa war.¦56¿

4. Die Predigtgemeinden In Günsbach stand Schweitzer in einer gefestigten Dorfgemeinschaft. Jeder kannte jeden. Seit über 20 Jahren war man miteinander vertraut. Kein Wunder, daß Monsieur Albert, wie er liebevoll genannt wurde, gerne als Stellvertreter seines Vaters angenommen wurde. Als er in Lambarene war, wurden seine Briefe jeweils im Gottesdienst vorgelesen. Die Gemeinde nahm Anteil an seinem Geschick und war stolz auf

ihren berühmten Sohn, dessen Entwicklung sie miterlebt hatte. Etwas davon ist in Günsbach heute noch zu spüren. Die Predigtgemeinde in St. Nicolai in Straßburg war eine Stadtgemeinde und bunter zusammengesetzt. Neben den Frauen und Männern aus der Kirchgemeinde saßen viele von Schweitzers Studenten und junge Leute aus dem Freundeskreis, vor allem aus dem Radelklub,¦57¿ und Professoren der Universität und andere Intellektuelle nebeneinander auf den Bänken.¦58¿ Einige kannten sich sehr gut, andere nur dem 54 12. Juni 1932 [Zu Mt. 25,14–30], als Skizze nicht in die Sammlung aufgenommen, und 28. Oktober 1934 [Zu Mt. 6,12], S. 1360. 55 G. Seaver, S. 127 und 172. 56 Aus dem Katalog der Ausstellung «Albert Schweitzer 1875–1965» in der Bibliothèque Nationale et Universitaire de Straßburg, 1975, S. 20 f., gehen folgende Daten zu

Schweitzers Lebenslauf als Prediger hervor: 1898, 6.5.—26. 10. Lehrvikar an St. Nicolai 1898, 16.5. AlsKandidat Erhalt der Licencia concionandi (Kanzelrecht) 1898 Stellvertretungen für seinen Vater in Günsbach 1900, 14.9. Eignungszeugnis zumWirken als Pfarrer 1900, 23.9. Ordination in St. Nicolai 1900, 14.11. Ernennung zumVikar an St. Nicolai 1912, Frühjahr Demission alsVikar an St. Nicolai 1913, 9.3. Abschiedspredigt in St. Nicolai 1913– 1917 Gottesdienste in Lambarene 1918, bis zum 13.7. Gottesdienste im Interniertenlager St-Rémy-de-Provence 1918–1921 Vikar an St. Nicolai 1924– 1965 Gottesdienste in Lambarene undEuropa. 57 C. Conrad-Haas, Begegnungen mit Albert Schweitzer, Waldhilsbach 1946, Maschinenschrift im Zentralarchiv Günsbach: «Es wurden Ausflüge mit dem Rad, ein damals aufkommender sehr beliebter Sport, in die Umgegend gemacht. Aber auch zu geistigem Austausch trafen sich die Radelklub-Leute.» Ausführlich schreibt G.Woytt über den Radelklub. G.Woytt, Albert Schweitzer unddie Pariser Mission, in: AS Bd. I, S. 148– 158.

58 Schweitzers Vorgesetzter und Kollege Knittel schreibt in einem Brief vom 17. Juni 1907: «Ihr Auditorium ist nicht, oder doch großenteils nicht, ausGliedern unserer Kirche zusammengesetzt.» Zentralarchiv Günsbach.

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Der Prediger Albert

Schweitzer

Namen nach, weitere nur vom Sehen. Und dann gab es noch jene, zu denen keine Beziehung bestand. Im Thomas-Stift hatte er es mit einer geschlossenen Gemeinde von Theologiestudenten zu tun. Man kannte sich sehr gut, da man miteinander lebte. Neben den Mahlzeiten traf Schweitzer seine Studenten auch bei den Nachhilfestunden in Hebräisch und Griechisch. Besondere Verbindungen entstanden dadurch, daß er den zukünftigen Pfarrern auch als persönlicher Berater Hilfe leistete. Beispielsweise schreibt er Helene Bresslau am 22. Dezember 1903: «Im Stift geht alles nach Wunsch; ich befasse mich besonders mit zwei Studenten, die eine schlechte Entwicklung zu nehmen drohen, und versuche, sie durch Arbeit wieder zur Selbstachtung zu führen. Wird es mir gelingen?»¦59¿ Glücklicherweise darf er es immer wieder erleben, daß ihn die Studenten verehren und schätzen. G. Seaver schreibt dazu: «Wir wissen, obwohl er es uns nicht erzählt, daß er ungemein beliebt war bei den Studenten und ebenso bei seinen Kollegen. Seine geistige Ausgeglichenheit, seine Bescheidenheit und ruhige Heiterkeit, sein stets hilfsbereites Mitgefühl, seine offene Ehrlichkeit und Schlichtheit, seine gewaltige Energie und Lebenskraft, seine Vorliebe für Scherz und Sinn für Humor, seine geistige Weite und körperliche Größe und der Umstand, daß ein Mann von derartiger Gelehrsamkeit und solchem künstlerischen Talent von seinem Können so gar kein Aufhebens machte – all diese Eigenschaften gewannen ihm jung und alt, und das Stift verehrte ihn leidenschaftlich.»¦60¿

In Lambarene stand ihm am Anfang in den Sonntagsgottesdiensten eine Gemeinde völlig unbekannter Menschen gegenüber, die keine Ahnung vom christlichen Glauben hatten. Zudem wechselten die Teilnehmer sehr oft. Gesunde gingen heim, neue Kranke stellten sich ein. Auch teilte er sich mit den Missionaren in die Gottesdienste. Ab 1927 bildete sich dann am neuen Ort eine Gemeinde aus einheimischem und europäischem Pflegepersonal, die einen festen Grundstock bildete, so daß eine gewisse Tradition entstand und derWechsel der Patienten und Passanten weniger ins Gewicht fiel. Mit der Zeit wuchs dann auch der Anteil getaufter Christen. Bei den Abendandachten im Spital waren ausschließlich europäische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beieinander, die es schätzten, denTag mit einer Besinnung auf die christlichen Grundwerte zu beschließen, waren doch alle in Lambarene, weil sie ihre Arbeit wie Schweitzer als einen Dienst in der Nachfolge Jesu verstanden. W. Munz schreibt dar-

59 AS-HB, S. 53. 60 Seaver, S. 34.

5. Das Predigtecho

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über: «Schlichtheit und Gelehrtheit waren in diesem alten Mann seltsam undwunderbar nahe beieinander.»¦61¿

5. Das Predigtecho Die Günsbacherinnen und Günsbacher, die ich in den letzten 20 Jahren befragt habe, sind sich einig darin, daß sie gerne zu Schweitzer in die Predigt gegangen sind. «Man nahm immer etwas mit nach Hause»; «sie gaben einem Anregungen für den Alltag»; «esfiel einem nachher leichter, sein Geschick zu tragen»; «ich fühlte mich jedes Mal persönlich angesprochen». So tönt es bei den Dorfbewohnern, die sich lebhaft an diese Gottesdienste erinnern. Pfarrer L.-P. Horst, ein Schüler Schweitzers anderUniversität und dessen Nachfolger an derKirche St. Nicolai, berichtet, Schweitzers Predigten seien in ihrer Einzigartigkeit von einer ungeheuren Anziehungskraft gewesen. Man seivonjedem Predigtbesuch bereichert heimgegangen.¦62¿ F. Wartenweiler gibt das Urteil einiger Zuhörerinnen wieder: «Am meisten hat mir Eindruck gemacht die Glut des Herzens, die ich immer in allem spürte.» «Er war eigentlich kein Redner. Und doch begannen die leeren Bänke in der Kirche sich zu füllen.» «Er war nicht ein Kanzelredner, der einen in die Höhe gerissen hätte, von dem man sagte: ‹Den mußt du unbedingt gehört haben.› Er wareher einer, der auf der Kanzel meditierte. Aber er kam immer zu dem Ziel, daser sich gesteckt hatte.»¦63¿ Sicher werden derartig positive Urteile durch die Tatsache bestätigt, daß oft Predigthörer um das Manuskript baten und es über Nacht abschrieben und es dann wieder fürjemand anderen zurückbrachten. Wenn als negatives Urteil der Ausspruch von Elly Heuss-Knapp angeführt wird: «Heute ist es mir unverständlich, wie wenig wir ihn bewunderten. Er mußte sich oft genug seiner Haut wehren, denn man war unbarmherzig kritisch untereinander»,¦64¿ bezieht sich das nicht auf die Predigten Schweitzers, die sie nach ihrer eigenen Aussage nur hie und da besucht hat, sondern auf die Diskussionen im Radelklub, dem beide angehörten. Für das gute Predigtecho bürgt auch die Feststellung von G. Woytt, daß Schweitzer mehr Zulauf gehabt habe als die beiden Hauptpfarrer.¦65¿ Pfarrer Knittel, einer dieser Hauptpfarrer, der gleichzeitig auch «die Würde eines geistlichen Inspektors»¦66¿ bekleidete, bestätigt diese Tatsache 61 AS Bd. III, S. 182. 62 P.-L. Horst, Le Prédicateur, in: Rayonnement, S. 174. 63 F. Wartenweiler, Eine wenig bekannte Seite in Schweitzers Wirken: Als Seelsorger an St. Nicolai in Strassburg 1901– 1913, in: Freundesgabe, S. 105. 64 Elly Heuss-Knapp, Ausblick vomMünster-Turm, Erinnerungen, Tübingen, |5¡1955, S. 64. 65 G.Woytt, Albert Schweitzer unddie Pariser Mission, in: AS Bd. I, S. 140. 66 A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 46.

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Der Prediger Albert

Schweitzer

in einem Brief vom 17. Juni 1907 an Schweitzer, in dem er schreibt: «Wohl haben Sie ein größeres Auditorium als die Pfarrer, von denen doch einer Gerold heißt und gewiß einer der tüchtigsten und würdigsten Prediger ist.»

In diesem Brief findet sich auch die einzige erhaltene wirklich ablehnende Stellungnahme zu Schweitzers Predigten. Am 16.Juni 1907 predigte Schweitzer in St. Nicolai.¦67¿ Schon am Montag darauf erhielt er schriftlich den folgenden Tadel: «Mein lieber Herr Vikar, ich fühle mich gedrungen, Ihnen mitzuteilen, daß mich Ihre gestrige Predigt oder vielmehr Ihr Vortrag in dem Morgengottesdienst betrübt, ja beelendet hat. Ein solcher Vortrag ist keine evangelische Predigt, wie ein evangelischer Pfarrer sie halten soll an einem Sonntag-Morgen in einer Christenversammlung. Sie sind daran, den Unterschied zwischen der christlichen Kanzel und dem philosophischen Katheder zu vergessen, wo solche philosophischen Betrachtungen, wie Sie sie gestern als Predigt vortrugen, hingehören. Unsere Kirchenglieder sind, wie sie wissen müssen, meistens Frauen, die eine schlichte, zu Herzen gehende, Trost undVertrauen erweckende Predigt wollen und brauchen, und das finden sie nicht bei ihnen.» Später wirft er ihm vor, verschiedene Kirchenglieder hätten ihm schon erklärt, sie kämen nicht zum Gottesdienst, «weil sie Herrn Schweitzer nicht verstehen». Daß es ihm allerdings mehr um den Inhalt als um die äußere Form geht, zeigt dann die Fortsetzung, wo er sich mit Schweitzers Ausführungen auseinandersetzt: «Die Erlösungstheorie, die Sie gestern im Gegensatz zu den Evangelien, zu den Aposteln, zu den Kirchenvätern, zu den Reformatoren aufstellten, hat mich geradezu entsetzt. Wohl sprechen Sie von der Hölle, die aber nur auf dieser Erde stattfindet, während nach demTode auch derVerworfenste hienieden gleich in das Reich des Lichtes eintritt – die Liebe Gottes erheischt dies. Welche Folgerungen lassen sich an eine solche Behauptung knüpfen! Jedenfalls sind solche Behauptungen ganz pantheistischer Natur.» Doch will er dem Vorwurf ausweichen, seine Kritik habe etwas mit den unterschiedlichen theologischen Richtungen zu tun: «Ich kann mich immer erbauen an den liberalen Predigten, welche ich zu hören bekomme in meinen Inspektionsbesuchen, aber eine solche, wie Sie sie gestern hielten, würde ich mißbilligen, und von meinem Vikar, er mag sein, wer er wolle, glaube ich nicht, sie dulden zu müssen, besonders wenn mein Gewissen mir sagt, daß sie keine gesunde Nahrung für meine Pfarrkinder sind.»¦68¿ Von Pfarrer Knittel gibt es aber auch positive Würdigungen. So schreibt er der Pariser Mission am 5. Januar 1906 unter anderem: «Nie67

[Zu Mt. 22,14] S. 841.

68 Der Brief befindet sich im Zentralarchiv Günsbach. Vgl. dazu S. 46.

5. Das Predigtecho

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mals, weder in seinen Predigten noch in den liturgischen Gebeten hat er sich abseits der christlichen Lehre gestellt, und noch weniger gegen

sie polemisiert.»¦69¿ Und von seinem andern Kollegen, Pfarrer Gerold, schreibt Schweitzer am 29. Mai 1904 Helene Bresslau ganz gerührt: «Gerold, der doch sehr zurückhaltend ist, sagte mir beim Hinausgehen bewegt: Ihre Predigt war schön.»¦70¿ Auch die Kinder, die er in der Sonntagsschule vor sich hat, hängen an demjungen Vikar, wie Umfragen F.Wartenweilers bei Ehemaligen ergeben haben. Man darfjederzeit mit Fragen und Zweifeln zu ihm gehen. Dazu hat er ein außerordentliches Talent, biblische Ereignisse und Missionsgeschichten spannend und überraschungsvoll erzählen zu können. Und seine Freude am Singen reißt die Kinder mit.¦71¿ Daß Schweitzer es verstanden hat, seine Zuhörerinnen und Zuhörer in seinen Bann zu ziehen, belegt das Urteil von Karl Löwith aus dem Jahr 1932: «Dieser unvergleichliche Mensch, Christ, Arzt, Musiker und Gelehrte hielt an der Münchner Universität drei Vorträge, deren Sprache und Inhalt so effektlos wie eindringlich war. Ich habe nie wieder einen Redner gehört, der bloß durch die stille Macht seiner schlichten Persönlichkeit schon nach einigen wenigen, leise gesprochenen Sätzen eine mehr als tausendköpfige Zuhörerschaft so völlig zum Hörer gewann. Wasvon ihm ausging, war... der Ernst des Friedens und der Zauber der Mäßigkeit.»¦72¿

Der folgende Bericht aus dem Jahre 1946 aus Saarbrücken bestätigt dasselbe: «Vor dem evangelischen Vereinshause ‹Wartburg›, in dem der Vortrag stattfand, staute sich die Menge. Trotzdem am selben Abend ein Furtwängler-Konzert stattfand, war der Besuch ganz ungeheuer. Kurze Zeit darauf stand er auf dem Podium und fesselte die Menschen über eine Stunde.»¦73¿ Ähnliche Berichterstattungen finden sich in zahllosen Zeitungen ausallen Ländern.¦74¿ Auch seine zukünftige Frau, die eine regelmäßige Predigtbesucherin war, urteilt so.Nach einem Vortrag schreibt sieihm: «Wasmich gefreut hat, mehr alsdieser oderjener glänzende Teil, mehr alsdies oderjenes treffende Bildwar, daßicheine Kraft vonDeinen Worten ausgehen fühlte undspürte, 69 G.Woytt, Albert Schweitzer unddie Pariser Mission, in: AS Bd. I, S. 140 f. 70 AS-HB, S. 71. 71 F. Wartenweiler, Eine wenig bekannte Seite in Schweitzers Wirken: Als Seelsorger an St. Nicolai in Strassburg 1901– 1913, in: Freundesgabe. S. 104. 72 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, (Fischer-Taschenbuch 5677), Frankfurt am Main 1989, S. 18. 73 C. Conrad-Haas, Begegnungen mit Albert Schweitzer, Waldhilsbach, April 1946. Maschinenschrift im Zentralarchiv Günsbach. 74 Gesammelt im Zentralarchiv in Günsbach und im Albert-Schweitzer-Zentrum in Frankfurt am Main.

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Der Prediger Albert

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wie sie sich den Hörern mitteilte.»¦75¿ V. Mühlstein, der für ihr Buch bisher unzugängliche Texte zur Verfügung standen, kommt zum Schluß: «Tief beeindruckt ist Helene von seinen Predigten. Sie bewundert seine Fähigkeit, komplizierte theologische Fragen in klaren Worten darzustellen, ohneje dasgedankliche Niveau zu verlieren. [...] Bei ihm findet Helene Bresslau eine Auffassung von Christentum, die ihren Vorstellungen entspricht. [...] Was sie aber besonders berührt, ist die tiefe Frömmigkeit Schweitzers, die in den Predigten so deutlich zum Ausdruck kommt.»¦76¿ Dann ist es die Beziehung zum Alltag, die sie sonst nicht findet. Nach dem Gottesdienstbesuch bei einem andern Pfarrer faßt sie das in die Worte: «Warum konnte ich mich des peinlichen Gefühls nicht erwehren, wie warm und gut und ehrlich du’s auch meinst, deine Worte gehen vorbei an den Ohren der meisten deiner Hörer wie Klangwellen, deren Melodie einen Augenblick sich hinzugeben der Seele wohltut und haftet nicht, weil sie nur Sonntagsworte sind.»¦77¿ In diesem Sinne sagt U. Neuenschwander in einer Würdigung Schweitzers: «Hier sind nicht Gedanken allein, und wären es die höchsten, nicht Worte bloß, undwären es die tiefsten. An ihm ist alles Wirklichkeit, und darum aus-

strahlende, bezwingende, hinreißende Kraft.»¦78¿ Sogar dort, wo man seine Predigten übersetzen mußte, ging das Faszinierende nicht verloren. Im Mai 1928 war Schweitzer in London. G. Seaver schreibt über die Predigten während dieses Aufenthalts: «In der Schlichtheit des Ausdrucks und der Unmittelbarkeit derVortragsart erfreuten sie sich im Guildhouse der größten Beliebtheit. Wie gebannt folgte ihnen die Zuhörerschaft, die sich bei solchen Gelegenheiten immer in erstickender Enge zusammenfand. Er hielt uns niemals eine lange Predigt, aber wir wünschten uns immer, er täte es... Miß Royden stellte sich ihm als Dolmetscherin zur Verfügung, aber sie war doch etwas bestürzt, alssie hörte, sie sollte Satz für Satz übertragen. ‹Es schien mir unmöglich, daß bei dieser Methode der Sprecher wirklich in Schwung kommen oder seine Zuhörer packen würde. Aber bald mußte ich feststellen, daß dasein Irrtum war› .»¦79¿ Die Fähigkeit, in kurzen Sätzen zu sprechen, die sich gut übersetzen ließen, hatte er sich in Lambarene angeeignet, wo seine Predigten jeweils Satz für Satz in die zwei meist gesprochenen Dialekte übersetzt worden waren.¦80¿ Bei seinen Vortragsreisen in Schweden im Jahre 1920 hatte er diese Fähigkeit noch vervollkommnet.¦81¿ AS-HB, S. 127 f. Siehe dazu auch S. 35, 25. 06. 05 Anm. 679. Mühlstein, S. 51f. Mühlstein M, S. 122. U. Neuenschwander, Zum Gedenken an Albert Schweitzer, in: AS Bd. V, S. 265. Seaver, S. 127. A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 156. 81 Ebd. S. 197 f.

75 76 77 78 79 80

6. Die Predigtweise

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Auch ausLambarene weiß man von vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, daß die Leute an den Gottesdiensten in der Spitalstraße aufmerksam und gesammelt teilgenommen haben. Die Predigt erfordert dort besondere Anstrengungen. Man darf nichts voraussetzen. Denn die Zuhörer kennen weder Adam noch Eva noch andere Gestalten der Bibel. Aber wenn man das berücksichtigt, geht es ganz gut. «Für die Schwierigkeit, die man zu meistern hat, ist man überreichlich dadurch entschädigt, daß man Worte der Schrift den Menschen als etwas ganz Neues ins Herz schreiben darf. Dies ist ein Erlebnis, das mir jeden Sonntag wieder neu und unfaßlich schön ist.»¦82¿ Viele Fotografien bestätigen diese Aussagen in anschaulicher Weise. Die Forderung Schweitzers «Das Neue, daskommen muß, ist, daß Weiß und Farbig sich in ethischem Geiste begegnen»,¦83¿ ist hier Wirklichkeit geworden. Die Abendandachten waren ein Erlebnis besonderer Art. W. Munz schreibt darüber: «In seinen Erläuterungen zur Lesung vermochte Schweitzer uns die Gedankenwelt Jesu und der Menschen seiner Umgebung so nahe zu bringen, daß im Zuhören und Mitdenken wir das Dramatische und Kämpferische der Aussagen Jesu und das über allem Verheißungsvolle in einer Weise erlebten, als wären wir selbst mitbeteiligt.»¦84¿

6. Die Predigtweise Von seinem Großvater Schillinger, den er nie gesehen hat, wußte Schweitzer, daß er sich so intensiv mit derVorbereitung der Predigt beschäftigt hatte, daß er am Samstag niemanden sehen wollte. Nicht einmal sein Sohn durfte dann nach Hause in die Semesterferien kommen.¦85¿ Die sorgfältigen Predigtvorbereitungen seines Vaters hatte er miterlebt.¦86¿ Diese Beispiele wirkten auf ihn. Er wurde selber ein gewissenhafter Vorbereiter der Predigt. Für gewöhnlich macht er nach einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem Bibeltext eine oder mehrere Skizzen.¦87¿ Dann folgt der Predigtentwurf, den er im Anfang seiner Schwester Adele zu lesen gibt. Denn er will wissen, ob das, was er geschrieben hat, leicht verständlich ist. Er folgt hier seinem Vater, dessen schlichte Predigtweise er schon als 82 A. Schweitzer,

Gottesdienst im Spital zu Lambarene, Elsaß-lothringischer Familien-Kalender 1931, S. 79– 81. 83 A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 205. 84 Ebd. S. 182. 85 A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 273.

86 Ebd. S. 288. 87 So hält er bei der Predigt vom 10. März 1901 [zu Mk. 14,32–42] fest, dieses Manuskript sei nach fünf zerrissenen Skizzen und vier Tagen Arbeit entstanden, S. 244.

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Der Prediger Albert

Schweitzer

Kind bewundert hat.¦88¿ Später übernimmt Helene Bresslau diesen Dienst, nachdem sie auf seine Frage, wassie von seinen Predigten halte, sein holperiges Deutsch kritisierte.¦89¿ Nach seinen eigenen Worten hat sie «das arme Privatdozentle» sogar einmal bei einer Begegnung gefragt: «Welches ist denn Ihre Sprache, Herr Dr.?»¦90¿ Klar wird seine ausführliche Vorarbeit auch am folgenden Beispiel. Am 31. Juli 1898 predigt er über Mt. 7,17–21: Guter Baum – gute Frucht.¦91¿ Der ausgeschriebenen Predigt geht eine Skizze voraus, in der er jeden Vers genau auslegt, um dann den ungefähren Verlauf der Predigt aufzuzeichnen. EinVergleich zwischen Skizze undPredigt zeigt, wie sehr er zwischen beiden am Stoff und an der Formulierung gearbeitet hat. Diese Gründlichkeit der Vorbereitung ist auch darin festzustellen, daß er darauf aus ist, daß die Schriftlesungen, Lieder und Gebete aufeinander abgestimmt sind und eine Einheit bilden. So spricht er in der Morgenandacht im Stift am 12. November 1903 über Eph. 5,9 f.: «Wandelt wie die Kinder desLichts». Dazu schreibt er das folgende Gebet: «Himmlischer Vater, laß uns in deinem Lichte wandeln. Laß es uns empfinden, wie selig es ist, Kinder des Lichts zu sein, daß in unserm Wandel, in unserm Handeln und in unsern Gedanken nichts sei, was dasLicht scheuen braucht, sondern daß alles in uns durchleuchtet und verklärt sei von deinem Licht. Wir bitten dich von Herzen: Mach uns zu Kindern desLichts, laß ruhen auf uns das Licht deiner Wahrheit und verleihe uns die Kraft, daß trotz unserer Schwäche und Sündhaftigkeit das Licht deines Evangeliums von uns ausstrahle und wir so in Wahrheit ein Segen werden für diejenigen, die dein Licht suchen. Amen.»¦92¿ Als Lied wählt er «Wach auf mein Herz und singe» von Paul Gerhardt, in dem es heißt, daß Gott die dunkeln Schatten der Nacht abwehre und das Schauen der Sonne am nächsten Tag verheiße. Darauf jubelt der Dichter, daß das wahr geworden sei und er jetzt das Licht wieder schauen könne, und er bittet Gott um den Segen für die Schritte, die er hier auf Erden tun will, bis er die Ewigkeit findet. Daß ihm diese Einheit der Gottesdienstteile wichtig ist, sieht man auch an derTatsache, daß er eigene Schriftlesungen zu einem bestimmtenThema zusammenträgt, auf die er dann in der Predigt Bezug nimmt. Wenn die Predigt bewirken muß, daß die Leute die Bibel lieb gewinnen,¦93¿ muß man sie ihnen auch vorlesen. «Wir Protestanten sindja theo88 A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 288. 89 J. Pierhal, Albert Schweitzer (Fischer Taschenbuch 5603), Frankfurt am Main 1982, 90 91 92 93

S. 79. AS-HB, S. 212. Siehe S. 62. Text im Zentralarchiv Günsbach. Siehe S. 97.

6. Die Predigtweise

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retisch bibelgläubig, aber wir kennen die Bibel nicht, weil im Gottesdienst nur der Text, über den der Pfarrer predigen wird, vorgelesen wird. Immer noch habe ich die Überzeugung, daß in unserm protestantischen Gottesdienst das Lesen der Bibel zu kurz kommt.»¦94¿ An anderer Stelle nennt er die Unkenntnis der Bibel einen «der schlimmsten Schäden unserer Zeit» und einen «Hohn auf die Reformation», die die Bibel allen zugänglich gemacht hat.¦95¿ Die gewissenhafte Vorbereitung mit einem ausgeschriebenen Manuskript hindert ihn jedoch nicht daran, frei zu bleiben. «Im Vortrag band ich mich aber nicht an diese genau memorierte Fassung, sondern gab der Predigt oft eine ganz andere Form.»¦96¿ Schweitzer lernt seine Predigten nicht auswendig, sondern er hat sie so im Kopf gegenwärtig, daß er sie den Umständen anpassen kann. Im Notfall ist er sogar fähig, eine völlig andere Predigt zu halten, als er vorbereitet hat.¦97¿ Diese Beweglichkeit macht es ihm möglich, die ersten Entwürfe für eine Predigt schon sehr früh anzustellen. Während der Sommerferien 1908 auf der Grimmialp¦98¿ beginnt er mit den Vorbereitungen für die Predigten im Herbst und Winter. Er schreibt an Helene Bresslau: «Ich habe schon Entwürfe für Predigten im Kopf und werde sie auf der Grimmi niederschreiben. Sogar ganze Predigten werde ich schreiben. Habe ich Ihnen gesagt, daß ich vorhabe, in diesem Winter Predigten über die Gleichnisse zu halten?»¦99¿ Er hat diesen Vorsatz dann auch in die Tat umgesetzt, wie die vorhandenen Manuskripte beweisen.¦100¿ Von wesentlicher Bedeutung für die große Wirkung, die Schweitzer auf seine Gemeinden ausübte, ist ohne Zweifel seine Fähigkeit, sich dem Zuhörerkreis anzupassen. G. Seaver weist auf ein Beispiel hin, dasjedermann überprüfen kann.¦101¿ An drei verschiedenen Orten spricht Schweitzer über Vergebung, aber jedes Mal anders. Treffend hat ein Predigtleser diese Tatsache mit der Feststellung quittiert: «In diesen Predigten kommt man immer selbst vor.»¦102¿ Erstes Beispiel: In Lambarene erzählt er den schwarzen Patienten eine Geschichte aus dem Alltagsleben in einem afrikanischen Dorf, die

94 Text im Zentralarchiv Günsbach. 95 A. Schweitzer, Gespräche über das Neue |3¡1966, S. 12.

Testament (Beck’ sche

Reihe 1071), München

96 A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 46. 97 Siehe Predigt vom 24. Juni 1900 [Zu Mt. 5,4], S. 171. 98 Zur Zeit Schweitzers war die Grimmialp ein bekanntes Kurhotel im Berner Oberland in der Schweiz. 99 AS-HB, S. 212. 100 Oktober, November 1908, S. 939 ff. 101 Seaver, S. 127.

102 U. Neuenschwander, Albert Schweitzer als Prediger, in: AS Bd. V, S. 286.

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Der Prediger Albert

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anschaulich darstellt, daß Vergeben zwar schwer, aber auch beglückend ist, weil man dann tut, wasJesus will.¦103¿ Zweites Beispiel: In seiner Kulturphilosophie führt er aus, daß die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben dem Menschen begreiflich macht, daß er gar nicht anders kann, als vergeben, wenn er sich nicht selbst betrügen will. «Alle Nachsicht und alles Verzeihen ist ihr eine durch die

Wahrhaftigkeit gegen sich selbst erzwungene Tat.»¦104¿ Drittes Beispiel: In London legt er in einer Predigt dar, daß wir uns unter Vergebung etwas Falsches vorstellen, und zeigt auf, was Vergebung wirklich ist. Dann appelliert er an die Bereitschaft der Zuhörer, mit dem Vergeben Ernst zu machen, weil sonst auch die Vergebung Gottes in Frage steht.¦105¿ Charakteristisch für die Predigtweise Schweitzers ist die meisterhafte Verwendung von Bildern. Es gibt kaum eine Predigt, in der er nicht eine abstrakte Aussage mit einem Vergleich sichtbar und anschaulich werden läßt. V. Mühlstein schreibt dazu: «Durch den Reichtum an poetischen Bildern und treffenden Vergleichen sind seine Predigten trotz des einfachen Stils sehr farbig und lebendig. Sie sprechen sowohl einfache Menschen als auch Gebildete unmittelbar an.»¦106¿ Ein Sinnbild, das er gern verwendet, ist der Baum. Auf die Frage, was wir für das Reich Gottes tun und arbeiten können, faßt er die Antwort in der Predigt vom 31. Juli 1898 im folgenden Bild zusammen: «Wie so jeder gute Baum, vom ersten bis zum bescheidensten, gute Früchte bringen kann, so kann auch jede Arbeit, jeder Beruf, sei er auch noch so gering, Frucht bringen für das Reich Gottes, ein Tun des Willens unseres himmlischen Vaters sein. Es kommt nur auf die Art an, wie man es tut. Das zeigt uns wieder das Beispiel von den Fruchtbäumen. Wenn ich auf unsern Feldern einen solchen antreffe, wie er mit seinen Früchten behangen dasteht, da ist es mir manchmal, als sei er ein lebendesWesen und spräche zu mir: Sieh, dasganze Jahr arbeite ich, ich treibe Knospen, blühe, trage Früchte, damit ich euch Menschen etwas nütze. Ich lebe nicht für mich, sondern für euch. Mich hat der liebe Gott hergesetzt, damit ihr Menschen von mir lernt, wie ihr eure Arbeit erfüllen sollt, damit sie wirklich ein Tun desWillens eures himmlischen Vaters ist, eine Arbeit am Reich Gottes.»¦107¿ Er nimmt dann nachher dieses Bild noch einmal auf, um aufzuzeigen, wie sich eine solche Haltung auswirkt: «Wenn wir alle so als Gottes Kinder, die den Willen ihres Vaters tun, unserm Beruf treu nachgehen, 103 104 105 106 107

A. Schweitzer, Spitalandachten zu Lambarene, in: Werke Bd. V, S. 380– 382. A. Schweitzer, Die Ethik derEhrfurcht vordemLeben, in: Werke Bd. II, S. 384 f. 28. Oktober 1934 [Zu Mt. 6,12] S. 1360. Mühlstein M, S. 72. [Zu Mt. 7,17– 21] S. 63 f.

6. Die Predigtweise

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dann wird auch in unsere Arbeit eine herzliche Freudigkeit kommen, die wir sonst dabei nicht empfinden würden. Auch der gute Baum bringt seine Früchte nicht mürrisch und verdrossen an kahlen Ästen, sondern er schmückt sich dazu: Im Frühjahr treibt er Blätter, dann im Mai steht er lachend in Blüten, und im Herbst färbt er sein Laub golden, wenn er uns seine reifen Früchte bietet. So soll auch unsere Arbeit, gerade weil wir sie nicht für uns, sondern alsWillen unseres himmlischen Vaters für die andern als Mitarbeiter am Reich Gottes tun, etwas Heiteres und Fröhliches an sich tragen.»¦108¿ Am mitreißendsten aber wirkt Schweitzer auf seine Zuhörerinnen und Zuhörer ohne Zweifel durch den Umstand, daß er ohne Manuskript frei von dem spricht, was ihn bewegt. Auch das ist etwas, das er von seinem Vater übernommen hat. Schon als Kind spürte er, daß die Predigten seines Vaters das Ergebnis inneren Ringens waren. «Es ging mir auf, welche Anstrengung, ja welchen Kampf es für ihn bedeutete, den Leuten allsonntäglich sein Herz preiszugeben.»¦109¿ L.-P. Horst schreibt darüber, in seinen Predigten habe Schweitzer sich selbst gegeben. Seine kraftvolle Persönlichkeit sei offengelegt worden. Darum drangen seine Worte direkt ins Herz und machten bleibenden Eindruck.¦110¿ U. Neuenschwander schreibt dazu: «Die Predigtweise Schweitzers ist unmittelbar und persönlich und nimmt keine Rücksicht auf

theoretische homiletische Schemata.»¦111¿ Ohne Zweifel sind diese Eindrücke richtig. Schweitzer schreibt das in einem Brief an Helene Bresslau selbst: «Meine letzten Predigten haben mich erschöpft. – Ich habe, wenn man das kann, zu viel von meinem Herzen hineingelegt.»¦112¿ Dann fährt er fort: «Ich schicke Ihnen die letzte, die vom vergangenen Sonntag.» Interessant ist, daß er sich in dieser Predigt vom 17.Januar 1904 mit der Frage beschäftigt, wasder Prediger seiner Gemeinde wirklich geben kann, was wir einander überhaupt geben können, und kommt dabei zu dem Schluß, daß wir nur imstande sind, einander etwas zu bedeuten, wenn wir mit dem Christentum in unserm Alltag Ernst machen.¦113¿ Daß er in seinen Predigten sein innerstes Denken und Fühlen preisgibt, erwähnt er mehrmals. Am deutlichsten kommt es in einem Brief zum Ausdruck, in dem er über seine Berufung, nach Lambarene zu gehen, schreibt: «Es ist mir schwer gefallen, auf eine glänzende Laufbahn als Universitätslehrer und Schriftsteller zu verzichten. Aber als einfacher Mensch im Dienste des größten Menschen, unseres Herrn zu stehen, 108 Ebd. S. 64.

109 A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 287. 110 L.-P. Horst, Le Prédicateur, in: Rayonnement, S. 174. 111 U. Neuenschwander, Albert Schweitzer als Prediger, in: AS Bd. V, S. 285. 112 AS-HB, S. 58.

113 [Zu Mk. 1,21 f.] S. 519.

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Der Prediger Albert

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das bedeutet mehr Glück als der glänzende Erfolg, den ich zur Genüge in einem Alter gekostet habe, wo andere noch Lehrbuben sind, um es nie zu bedauern. Das ist die einzige Triebfeder aller meiner Entschlüsse.

Diese überraschen, weil diese Seite meiner Persönlichkeit ganz versteckt war. Aus meinen Predigten konnte man sie erraten.»¦114¿ Diese vollständige Hingabe des Predigers an seine Gemeinde hat auch Helene Bresslau stark empfunden. V. Mühlstein schreibt dazu: «Sie sind ein sehr persönliches Bekenntnis, und so zurückhaltend er sonst ist, hier gibt er deutlicher als in jedem Gespräch Auskunft über sich selbst.»¦115¿

Schweitzer hält sich in seinen Predigten streng an den Lauf des Kirchenjahres. Das Einstimmen auf die Feiertage gehört zu seinem geistlichen Lebensstil. Das Festliche trägt dazu bei, daß die Feiernden sich nicht nur an ein Ereignis der Bibel erinnern lassen, sondern innerlich ergriffen werden und das Fest erleben. Nach Möglichkeit geht er deshalb an den Sonntagen nach den Feiertagen, besonders bei den Nachmittagsgottesdiensten, nochmals auf das Thema ein¦116¿ oder spricht schon am Sonntag vorher darüber.¦117¿ Bei der Berücksichtigung der kirchlichen Feiertage ging es ihm auch um das Aufrechterhalten bestimmter Traditionen, die dem Leben eine klare Ordnung geben. Am Beispiel des Johannistages spürt man das besonders gut. In mehr als einer Predigt sagt er, daß ihm dieser Tag besonders lieb ist. Er hat denn auchJahr fürJahr ebenfalls in Lambarene das Johannisfeuer angezündet. W. Munz schreibt dazu: «Das lodernde Feuer entsprach einem alten elsässischen Brauch, die Sommersonnenwende zu feiern, und für den alten Doktor war es ein seit seiner Jugend wichtiges Fest, weil es mit der Weihnacht zusammen dasJahr in zwei Hälften teilte.»¦118¿ Eine anschauliche Schilderung des Gottesdienstes am Johannistag in Lambarene findet sich im Buch «Bei Albert Schweitzer in Afrika».¦119¿

7. Der Predigttext Normalerweise wählt Schweitzer für jede Predigt einen Bibeltext aus, manchmal sind es auch zwei, die sich ergänzen oder widersprechen. Der überwiegende Teil stammt aus dem Neuen Testament. Bei den 334 hier 114 G.Woytt, Albert Schweitzer unddie Pariser Mission, in: AS Bd. I, S. 138f. 115 Mühlstein, S. 51. 116 16. April 1911 Ostersonntag [Zu II Kor. 5,17], S. 1108, 30. April 1911 [Zu Lk. 24,36] Nachbetrachtung zu Ostern, S. 1112. 117 15. Mai 1904 Sonntag vor Pfingsten [Zu Joh. 15,26], S. 555, 22.Mai 1904 Pfingsten [Zu Eph. 4,25– 32], S. 558. 118 AS Bd. III, S. 265 f. 119 Ch. R. Joy/M. Arnold, Bei Albert Schweitzer in Afrika, München 1949, S. 145– 150.

7. Der Predigttext

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veröffentlichten Predigten finden sich 297 neutestamentliche und 21 alttestamentliche Texte. Bei den 147 unveröffentlichten Predigtskizzen sind 123 neutestamentliche und 20 alttestamentliche Texte zu finden, 4 haben keinen Bibeltext. Trotz seiner Vorliebe für Texte aus dem Neuen Testament kennt er sich im Alten sehr gut aus. Das zeigen Bemerkungen wie der folgende Tagebucheintrag beim Beginn seines dritten Lambareneaufenthaltes vom 26. Dezember 1929: «Und wieder erfüllt sich: ‹Und es war hinfort kein König in Israel und jeder tat, was ihn gut dünkte... › (Buch der Richter 17,6). Albert Schweitzer, soi-disant Médecin Chef.»¦120¿ Weshalb er die neutestamentlichen den alttestamentlichen Texten vorzieht, begründet er in der Predigt vom 10. Juli 1904 so: «Ich predige euch selten über die Propheten, und manchmal mache ich mirVorwürfe deswegen, denn es stehen so viel wundervolle Sprüche in ihren Büchern. Aber es heißt in der Schrift: ‹Wenn aber kommen wird dasVollkommene, so wird das Stückwerk aufhören› [I Kor. 13,10]. Und weil wir dasVollkommene in den Sprüchen des Herrn haben, so reden wir so selten von dem Unvollkommenen, den Propheten.»¦121¿ 16 Predigten haben keinen Text zugeordnet. Das bedeutet aber in der Regel nur, daß Schweitzer verschiedene Texte darin erwähnt und zumTeil auslegt. So beispielsweise in der Predigt über die Kindheit Jesu am 26. Dezember 1898¦122¿ oder in der Predigt über die Ernte vom 20. August 1899.¦123¿ Bei den neutestamentlichen Texten überwiegen die Evangelien; allen voran Matthäus mit 91, also rund einem Drittel. Dann folgen Lukas (31), Markus (30) undJohannes (26). Die Paulusbriefe sind 96mal vertreten, wobei Römer und I Korinther mit je 18 am Anfang stehen. Es folgen dann Philipper (15) und II Korinther (13). Bei den alttestamentlichen Texten stehen die Propheten an erster Stelle (9), wobei die meisten bei den Adventspredigten Verwendung finden und in dem Sinne auch neutestamentlich gebraucht werden, indem sie als Hinweise auf den Messias dienen. An zweiter Stelle folgen die Psalmen (8). Bei der Auswahl der Predigttexte hält sich Schweitzer selten an die von der Kirche vorgeschriebenen Bibelstellen. 1975 hat R. Peter festgestellt, daß bei den ihm damals vorliegenden 35 Predigten gerade nur drei Texte mit den im Kirchenkalender angegebenen übereinstimmen.¦124¿ Das gilt ohne Zweifel auch für die inzwischen dazugekomme120 121 122 123 124

DasTagebuch befindet sich im Zentralarchiv Günsbach. [Zu Sach. 4,6] S. 582.

26. Dezember 1898, S. 72. [Zu II Kor. 12,9 f.] S. 72. R. Peter, Un sermon inédit d’A lbert Anm. 20.

Schweitzer,

RHPhR, 56. Jahrgang (1976), S. 190,

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nen Predigten. Bemerkungen wie die folgende legen diesen Schluß nahe: «Ihr könntet euch wundern, warum ich einen solchen Text für die Nachmittagspredigt auf Himmelfahrt gewählt habe.»¦125¿ Noch deutlicher spricht in diesem Zusammenhang einVerweis seines Vorgesetzten und Kollegen Knittel: «Ich habe Sie schon mehrmals gebeten, die vorgeschriebenen Texte, die fast immer in engstem Zusammenhang zueinander stehen, in ihren Predigten zu behandeln. Aber Sie haben bisjetzt nicht und nie auf mich gehört, sondern immer Dissertationen, bald über diesen, bald über jenen Punkt gehalten, Dissertationen, die bisweilen sehr geistreich sein mochten, die aber keine gesunde Nahrung für meine Pfarrkinder sind. Meine Bitte von früher ist mein fester Wille für die Zukunft, ich ersuche Sie, in Zukunft über die vorgeschriebenen Perikopen zu predigen, wie die kirchliche Ordnung es erheischt. Mit herzlichem Gruß Ihr M. Knittel.»¦126¿ Geändert hat dieser Tadel an Schweitzers Praxis nichts. Das hängt damit zusammen, daß er meist als Bibeltext nicht längere Abschnitte benutzt, um sie auszulegen. Vielmehr braucht er sie im Sinn eines Mottos,¦127¿ das den Gedanken kurz zusammenfaßt, den er der Gemeinde weitergeben will. Er verwendet den Text als Leitmotiv seiner Predigt, oft völlig unabhängig vom historischen Hintergrund. R. Peter meint, Schweitzer wähle keinen Text, um ihn thematisch auszulegen, sondern er brauche denText als Schlüsselwort, dessen er sich mit großer Kunst-

fertigkeit bediene.¦128¿ Sehr eindrücklich ist das bei Jesusworten, die er in diesem Sinn verwendet. Den Rat, den er W. Munz für das Predigen in Lambarene gibt, hat er in seinen eigenen Predigten in Europa und in Afrika selber beherzigt: «Versuche in jeder Predigt, ein Wort Jesu in die Herzen deiner Zuhörer hineinzuschreiben und einfach und gut zu erläutern.»¦129¿ Die Predigten über die Seligpreisungen, Mt. 5, zeigen dasbesonders klar. E. Gräßer befaßt sich ausführlich mit dieser Freiheit gegenüber dem Text und zieht die Schlußfolgerung, es komme Schweitzer «weniger darauf an, möglichst viele Worte der Schrift zu interpretieren, als darauf, möglichst viele wahre Gedanken zu denken», wie sie sich aus den Worten, die eine übernatürliche Wahrheit enthalten, ergeben.¦130¿ Diese Interpretation trifft sich gut mit Schweitzers eigenen Aussagen zumThema: «Wir predigen über Texte – über vorgeschriebene Texte – , um nicht unsere eigenen Gedanken zu sagen, und zuletzt sind wir unse125 24. Mai 1900 [Zu Mt. 25,23], S. 160.

126 Der Brief befindet sich im Zentralarchiv in Günsbach. Vgl. dazu S. 36. 127 Siehe Predigt vom 29. Juni 1902 [Zu Mt. 15,14–46], S. 403, Anm. 25. 128 R. Peter, Un sermon inédit d’A lbert Schweitzer, RHPhR, 56. Jahrgang (1976), S. 190, Anm. 21. 129 AS Bd. III, S. 196. 130

Gräßer 1, S. 214 f.

8. Der Predigtinhalt

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ren eigenen Gedanken so entlaufen, daß wir gar nicht mehr wissen, daß man nur mit eigenen Gedanken predigen kann. Daß man uns dies in den Predigtübungen nicht gesagt hat, werfe ich den Professoren zeitlebens innerlich vor. Sie haben uns zu geschickten Handwerkern machen wollen, aber sie wollten nicht höher mit uns hinaus.»¦131¿ Es geht für ihn dabei also letztlich um den Willen, wahrhaftig und ehrlich zu sein.

Hie und da geht Schweitzer einen Kompromiß ein, zu dem er aber stehen kann. So beginnt er die Predigt zum Sonntag Rogate 1904 mit denWorten: «Dieser Sonntag heißt ‹Rogate› – ‹Bittet›, und dasEvangelium der alten Kirche für heute findet sich aufgezeichnet im Evangelium desJohannes, im 16. Kapitel, und lautet: ‹Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: So ihr denVater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er’s euch geben. Bittet, so werdet ihr nehmen, daß eure Freude vollkommen sei.› Den Spruch für unsere Gebetsbetrachtung habe ich frei gewählt, weil ich ihn besonders liebe. ‹Bittet – suchet – klopfet an› [Mt. 7,7 f.]. Ich meine, es sind dies wie drei Wegweiser des Herrn auf dem Weg zum wahren Gebet und in seinem Namen und in seinem Geist.»¦132¿

Ob man dieses Vorgehen Schweitzers positiv oder negativ beurteilt, hängt ohne Zweifel stark von der kirchlichen Herkunft des Lesers ab. Wer aus einer Kirche kommt, die die Predigttexte bis auf den heutigen Tag vorschreibt, denkt anders darüber als derjenige, für den es eine Selbstverständlichkeit ist, den Text selber auszuwählen. Wem es vertraut ist, in der Predigt einem Hauptgedanken nachzugehen, versteht Schweitzers Verhalten besser als der, der die Aufgabe der Predigt in der Auslegung eines biblischen Textes sieht. Für manche Lutheraner mag Schweitzer darum hier vom rechten Weg abgewichen sein, während er für liberale Reformierte ein nachahmenswertes Beispiel ist. 8. Der Predigtinhalt Die Predigten seines Vaters machten auf Schweitzer großen Eindruck, weil er bemerkte, «wie vieles von dem, was er auf der Kanzel sagte, mit seinem Erleben zusammenhing».¦133¿ Darum schlug auch er diesen Weg ein. Schon im Kindergottesdienst ging er auf dasein, was seinen Zuhörern bekannt war. «Anstatt vomJordan undJerusalem sprach Schweitzer vom Ill-Graben¦134¿ und von Straßburg. Das konnten sie verstehen.»¦135¿ 131 AS-HB, S. 63. 132 8. Mai 1904, S. 549. 133 A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 287. 134 Ill heißt der Fluß, der Straßburg durchfließt. 135 F. Wartenweiler, Eine wenig bekannte Seite in Schweitzers Wirken: Als Seelsorger an St. Nicolai in Strassburg 1901–1913, in: Freundesgabe, S. 104.

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In gleicher Weise geht er bei den Erwachsenen jenen Themen nach, die er aus dem eigenen Alltag kennt und die ihm in der Gemeinde begegnen. Ja, oft stehen Themen im Mittelpunkt, die ihm gestellt werden. F. Wartenweiler hört von einer Frau: «Seine Predigten waren oft Antworten auf Fragen, die ich ihm die Woche hindurch gestellt hatte. Niemand als ich selber ahnte, daß sein Wort eine direkte Antwort auf eine direkte Frage war. Und doch mag diese Antwort dann auch vielen andern Trost und Hilfe gegeben haben.»¦136¿ In den Predigten nimmt er Bezug auf diesen Sachverhalt. Er beschäftigt sich mit «Fragen, die ich in letzter Zeit mehrfach um mich vernahm»,¦137¿ oder er äußert sich zum Abendmahl, weil eine Frau ihn deswegen etwas gefragt hat,¦138¿ oder er geht auf die Wunder Jesu ein, weil er in Gesprächen gemerkt hat, wie wenig klar sich die Leute darüber sind.¦139¿ Wie sehr er auch Gedanken, die ihn persönlich umtreiben, in eine Predigt einbaut, zeigt das Beispiel vom 8. Januar 1905.¦140¿ Im Zusammenhang mit der Mission stellt er von den Pfarrern fest: «Es ist keiner unter uns, den man nicht morgen an der Stelle, die er innehat, ersetzen könnte, und draußen fehlen die Arbeiter.» Kurz danach folgt dann die Bemerkung: «Es kommt mir vor, als hätte ich nicht für euch gepredigt.» Ein halbes Jahr danach, am 9. Juli 1905, bietet er sich der Pariser Mission als Mitarbeiter an.¦141¿ Später bezeichnet er in einer Predigt deren Leiter als seinen Freund Bögner.¦142¿ In der Zeit, in der er überlegt, wie er seinem Versprechen, sich vom 30. Lebensjahr an in einen unmittelbaren Dienst am Mitmenschen zu stellen, praktisch nachkommen könne, predigt er über den Mut zum Anpacken der Zukunft und über die Kraft, die von der Hoffnung ausgeht. Auch der Gedanke, daß zwei Menschen zusammenarbeiten und trotzdem ihre Selbständigkeit bewahren können, wenn sie sich gut verstehen, kommt darin vor.¦143¿ Und in derWoche darauf schreibt er Helene Bresslau: «Letzten Sonntag hätte ich Dich so gern in der Kirche gehabt. Du bist so sehr verbunden mit allen meinen Gedanken, vor allem mit den Gedanken ‹über das Leben› – mit dem, was man gewöhnlich religiöse Gedanken nennt – daß ich manchmal Dinge für Dich sage, Dinge, die nur Du allein verstehen könntest. Es wäre ideal, wenn ich Dich, die Du meine Gedanken teilst, in dem geheiligten Raum wüßte.»¦144¿ 136 Ebd. S. 105.

Predigt vom 22. März 1908 [Zu Mk. 10,26 f.], S. 900. 138 Predigt vom 1. Dezember 1907 [Zu Jes. 40,3], S. 868. 139 Predigt vom 24. Mai 1908 [ZuWunder Jesu], S. 910 f. 140 [Zu Mt. 28,18–20] S. 611, Zitate S. 613 und 614. 141 G.Woytt, Albert Schweitzer unddie Pariser Mission, in: AS Bd. I, S. 123– 125. 142 Predigt vom 28. April 1907 [Zu Lk. 10,29], S. 835, Anm. 18. 143 18. Dezember 1904 [Zu Lk. 9,62], S. 605 f. 144 AS-HB, S. 79. 137

8. Der Predigtinhalt

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Während desMedizinstudiums hat er sich mit den Naturwissenschaften zu beschäftigen, was ihn sehr fasziniert. Gleichzeitig aber stellt er fest, diese Beschäftigung habe ihn nur in der Überzeugung bestärkt, daß die Wissenschaft keine weiterhelfenden Antworten gebe könne.¦145¿ Dennoch ist ihm diese Auseinandersetzung Anlaß, sich mit der Frage der Wunder Jesu auseinanderzusetzen und dabei auch naturwissenschaftliche Überlegungen einfließen zu lassen.¦146¿ Nach dem medizinischen Staatsexamen 1910 predigt er im Januar 1911 über das Ausruhen und führt aus: «In diesen Jahren habe ich die körperliche Müdigkeit und Abgespanntheit so kennen gelernt, daß ich sagen kann: Ich weiß, was es ist. [...] Und es kam mich ein tiefes Mitleid mit so vielen Menschen an, die auch Sklaven der Arbeit waren, daß sie das wahre Ausruhen nicht kannten.»¦147¿ Später erwähnt er auch Erfahrungen aus der ärztlichen Tätigkeit. So weist er in der Predigt vom 29. Dezember 1918 auf den Arzt, der ins Mikroskop schaut, hin, um daraus Schlußfolgerungen für den Alltag zu ziehen.¦148¿ Von daher ist es selbstverständlich, daß das Spektrum der in den Predigten aufgerollten Fragen sehr groß ist. Von Familienproblemen über Eheschwierigkeiten und Erziehungsziele bis zur Weltpolitik kommt alles zur Sprache. Schweitzer hat sich nie gescheut, zu Zeitfragen Stellung zu nehmen und Kritik zu üben. Dazu gehörten auch die politischen Aspekte. So verurteilt er in der Predigt vom 8. Januar 1905 unumwunden die Kolonialpolitik der europäischen Länder.¦149¿ Und am Schluß einer Predigt, in der er sich mit dem Zeitgeist auseinandersetzt, meint er: «Ich bitte euch nicht um Entschuldigung, daß ich euch von Patriotismus und Politik auf der Kanzel geredet habe, denn ich meine, wir müssen miteinander von dem sprechen, was uns bewegt. Ich glaube sogar, daß dies auch für uns Erbauung war.»¦150¿ Wenn W. Munz erzählt, Schweitzer habe ihm auf seine Frage, wie er im Spital predigen solle, unter anderem gesagt: «Mache nie Politik beim Predigen. Nimm dir vor, zu staatspolitischen Fragen kein Wort zu sagen», so ist es klar, daß dieser Ratschlag nur für Lambarene gemeint ist, denn die Begründung lautet: «Wir Weißen sind hier im Gabun zu Gast. Und unsere Aufgabe in meinem Spital ist es, mit einer guten Medizin unsern Patienten beizustehen. Politische Probleme sind jetzt Aufgabe der schwarzen Landesregierung.»¦151¿ 145 Predigt vom 22. Dezember 1918 [Zu Ps. 40,9], S. 1221. 146 Predigt vom 24. Mai 1908 [Ohne Text], S. 910, bes. 912 f. 147 22. Januar 1911 [Zu Mk. 6,31], S. 1064. 148 [Zu I Thess. 5,18] S. 1225. 149 [Zu Mt. 28,18–20] S. 612 ff. 150 15. November 1908 [Zu Röm. 12,2], S. 950, Zitat S. 954. 151 AS Bd. III, S. 196.

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Schweitzer geht auch auf das ein, was in der Welt geschieht und die Leute beschäftigt. Die Predigt vom 2. Oktober 1898 beginnt er mit der Feststellung: «Wir leben in einer ernsten Zeit: Mancher, der sonst die Handlung auf dem Theater der Weltgeschichte als gelangweilter Zuschauer an sich vorüberziehen läßt, richtet sich unwillkürlich ausseiner nachlässigen Stellung auf und wird wider Willen gezwungen, über das Gesehene und Gehörte nachzudenken.»¦152¿ Ebenso hält er es in der Predigt zum Totengedächtnis nach dem Ersten Weltkrieg am 24. November 1918, wo er die Schuld über alle Grenzen hinweg betont und zu umfassender Besinnung aufruft.¦153¿ Um sich ausführlicher mit einem bestimmten Thema beschäftigen zu können, macht er eine Predigtreihe, z. B. über den Frieden¦154¿ oder über dasLeiden.¦155¿ Daseindrücklichste Beispiel in dieser Hinsicht ist die Reihe der 16 ethischen Predigten, in denen er die Ehrfurcht vor dem Leben in ihrer praktischen Auswirkung im täglichen Leben aufzeigt.¦156¿ In gleicher Weise kommen auch biblische Themen in Reihen vor. So zeichnet er in mehreren Predigten das Leben und Denken des Apostels Paulus.¦157¿ Ebenso geht er der Frage nach, was der Heilige Geist für uns bedeute,¦158¿ oder er setzt sich mit dem Problem der Schuld auseinander.¦159¿

Gerne wählt er für kleine Kreise auch die Form der fortlaufenden Auslegung eines biblischen Buches. So hält er es schon in den Nachmittagsgottesdiensten in Günsbach und St. Nicolai, wo er 1899 den I Petr. und 1900 die Seligpreisungen auslegt. In diesem Kreis kann er viel intimer predigen und sich besser ausgeben.¦160¿ Darum ist das auch die übliche Form für die Abendandachten in Lambarene. Wie Walter Munz berichtet, liest und kommentiert Schweitzer abschnitt- oder kapitelweise ganze biblische Bücher.¦161¿

152

[Zu Lk. 18,18– 23], S. 65. 21,4], S. 1203.

153 [Zu Apk.

154 30. April 1911 [Zu Lk. 24,36], S. 1112, 21. Mai 1911 [Zu Lk. 24,36], S. 1116, 28. Mai

1911 [Zu Röm. 12,16], S. 1121. 155 25. März 1906 [Zu II Kor. 1,3–5], S. 722, 1. April 1906 [Zu Mk 10,45], S. 726. 156 Zwischen Februar und September 1919. In diesem Band sind nur vierzehn abgedruckt, weil die restlichen zwei nur als Skizzen vorhanden sind. 157 24. Juni 1906 [Zu II Kor. 12,9], S. 756, 15.Juli 1906 [Zu Gal. 5,1], S. 761, 22. Juli 1906 [Zu II Kor. 3,6], S. 766. 158 2. Juni 1907 [Zu Joh. 16,12– 14], S. 838, 16. Juni 1907 [Zu Mt. 22,14], S. 841, 30. Juni 1907 [Zu Mk. 3,27 f.], S. 845. 159 29. November 1908 [Zu Mt. 18,23– 33], S. 955, 13. Dezember 1908 [Zu Röm. 8,22], S. 959. 160 A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 46. 161 AS Bd. III, S. 182.

9. Die Predigtbotschaft

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9. Die Predigtbotschaft Schweitzers Bewußtsein derVerbundenheit mitJesus drückt seinen Predigten den Stempel auf. Sehr extrem sagt L.-P. Horst: «Er war unterjocht von der Persönlichkeit Jesu.» Darum habe er seine Zuhörer immer wieder ermahnt, dem Meister ins Auge zu blicken und auf daszu hören, wasJesus sage und befehle.¦162¿ U. Neuenschwander sagt es so: «Die Predigten spiegeln die gefühlsstarke Jesusmystik Schweitzers wider. Das Verhältnis zu Jesus von Nazareth ist ein denkbar enges, aber ein ganz spezifisch gefärbtes. [...] Die Gefühlsbeziehung ist immer stark durchsetzt mit einem nüchternen Aktivismus.»¦163¿ Schweitzer selbst bezeichnet sich in einem Brief an Helene Bresslau als Sklave Jesu.¦164¿ Oder in einer Predigt überJesu Aussage, er sei gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden, bekennt er: «Es ist, wie ich es von mir selber sagen kann: Sein Feuer brennt in mir.»¦165¿ Und seinen Entschluß, eine Aufgabe in Lambarene zu übernehmen, erklärt er ihr mit denWorten: «Ich gehe dorthin, um beiJesus zu sein.»¦166¿ Diese Verbundenheit mit Jesus findet ihren Niederschlag im Umstand, daß Schweitzer in seine Predigten viele Jesusworte einfließen läßt, das eine Mal als Beispiel, das andere Mal als Ermahnung. Und immer wieder fordert er auf zur Gemeinschaft mit Jesus: «So wollen wir immer Jesus im Herzen und vor Augen haben.»¦167¿ Die große Bedeutung dessen, was Jesus sagt, erhellt aus der folgenden Formulierung nach Mt. 24,35 [Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen]: «Der ewige Leib Jesu, dassind seine Worte.»¦168¿ Konsequenterweise sagt er denn auch ganz allgemein zur Beziehung der Menschen zuJesus: «Das wahre Verstehen Jesu ist das von Wille zu Wille. Das wahre Verhältnis zu ihm ist das des Ergriffenseins von ihm. Alle christliche Frömmigkeit ist nur so viel wert, als in ihr Hingabe unseres Willens an den seinen statthat.»¦169¿ Von da her versteht es sich von selbst, daß er großes Gewicht darauf legt, daß Glaube und Leben eine Einheit bilden, wie das bei ihm selbst der Fall ist. Prägnant hat C. Frey diese Übereinstimmung von Religion und Wirken in die Aussage geformt: «Schweitzer wehrt sich gegen ein Leben in zwei Welten.»¦170¿ 162 P.-L. Horst, Le Prédicateur, in: Rayonnement, S. 174. 163 U. Neuenschwander, Bei Albert Schweitzer in derPredigt, in: AS Bd. V., S. 291. 164 AS-HB, S. 79. 165 Predigt vom 27. Dezember 1903 [Zu Lk. 12,49– 51], S. 506. 166 AS-HB, S. 100. 167 Predigt vom 16. Mai 1901 [Zu Act. 1,9– 12], S. 274. 168 Predigt vom 19. November 1905 [Zu Mt. 14,22– 32], S. 690. 169 A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 73. 170 AS Bd. IV, S. 175.

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Also geht es darum, ganz praktisch in die Nachfolge Jesu einzutreten, indem man in seinem Sinn in der Welt zu wirken beginnt. «Der natürliche Weg zuJesus ist, an seinem Werke zu arbeiten.»¦171¿ Diese Auffassung hat Schweitzer oft den Vorwurf eingebracht, er lehre Werkgerechtigkeit oder er verkündige Selbsterlösung. So kritisiert E. Gräßer, Schweitzer habe dasneutestamentliche Begründungsverhältnis von Indikativ des Heils und Imperativ desTuns umgedreht: «Nicht Jesus rettet die Sünder, die Sünder retten sich zu Jesus.»¦172¿ Natürlich stimmt das, wenn man seine Predigten am Maßstab der Dogmatik mißt. Doch diese hat im Leben und Verkündigen Schweitzers eine kleine Rolle gespielt. So sagt er von der ersten Zeit in Lambarene, die Missionare hätten ihn zum Predigen eingeladen, weil esfür sie nicht um dogmatische Probleme, sondern um die Fragen des in den Gemeinden zu verwirklichenden praktischen Christentums ging.¦173¿ V. Mühlstein weist darauf hin, daß sich Helene Bresslau von Schweitzers Predigten angezogen fühlte, weil es darin nicht um Belehrung, sondern um die Frage ging, wie das Christentum in der Welt zu verwirklichen sei, um ein Problem, das auch sie immer beschäftigt habe.¦174¿ Der Stellenwert, den er der Dogmatik einräumt, geht anschaulich aus der folgenden Anekdote hervor: Als einjunger Theologiestudent klagte, die Dogmatik mache ihm Schwierigkeiten, meinte Schweitzer augenzwinkernd: «Weisch, wenn der Herrgott in Dogmatik geprüft worden wäre, so wäre er bestimmt durchgefallen.»¦175¿

Für Schweitzer ist der Aufruf und dieVerheißung des lebendigen Jesus«Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken» [Mt. 11,20] wichtiger als die kirchliche Lehre. Vielleicht kommen sich beide Anschauungen dort näher, wo die Kirchenlehre festhält, daß der Sünder das Heil, dasJesus bewirkt, annehmen muß, wenn es für ihn wirksam werden soll. So ist der Vorwurf von E. Gräßer dem Wortlaut nach ohne Zweifel richtig. Doch im Blick auf dieVerwirklichung des Glaubens im Alltag verliert er an Bedeutung. Denn bei genauerem Hinsehen merkt man rasch, daß Schweitzer den Menschen nicht zum Handeln aufruft, damit er sich mit guten Werken einen Platz im Himmel sichert. Vielmehr ist sein Anliegen, die Menschen erkennen zu lassen, daß sie schon hier und jetzt Erfüllung in ihrem Leben finden, sobald sie durch ihr Tun und ihr Erleiden Gemeinschaft mit Jesus und durch ihn mit Gott finden. Das 171 172 173 174 175

Predigt vom 24. April 1904 [Zu Mt. 28,20], S. 545. Gräßer 1, S. 223. A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 154. Mühlstein, S. 51. H. Steffahn, Du aberfolge mir nach, Bern 1974, S. 44.

9. Die Predigtbotschaft

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Heil ist nicht eigenes Verdienst, sondern Geschenk Gottes. Nicht die Arbeit bringt Erlösung, sondern die Übereinstimmung mit dem Willen Gottes, wie ihnJesus lehrt und verwirklicht. «Lebendig istJesus für die, die er, als ginge er unter uns, leitet in großen und in kleinen Dingen, um ihnen zu sagen: Tu das so und das so; und die einfach ja sagen und still dahingehen und tun.»¦176¿ Dieses Hinhören aufJesus und dasentsprechende Handeln bezeichnet Schweitzer oft als Mystik, die zur Ethik, zum richtigen Verhalten führt. Sehr schön hat E. Gräßer das beschrieben: «Mit ganzer Seele etwas tun, dasist für Schweitzer Mystik! Die Mystik ist dasFeuer der Ethik.»¦177¿ Bildhaft sieht er das ausgedrückt in der Aufforderung Jesu, wie die Kinder zu werden, um das Reich Gottes zu finden [Mt. 18,3]. Das «Sein wie ein Kind» ist «eine Einfachheit und Ursprünglichkeit des Denkens, Empfindens und Wollens, die wir uns wahren und immer mehr erwerben müssen, um nicht durch das, was wir um uns hören und sehen, und durch das, was von außen auf uns wirkt, irre zu werden. Wir sollen immer so unbefangen mit allen Fragen und Überlegungen, die wir in uns fühlen, an die Dinge herangehen, wie es ein Kind tut.»¦178¿ Viermal hat Schweitzer bis 1913 über dieses Bibelwort gepredigt.¦179¿ Darum ist gesagt worden, bis zur Ausreise nach Lambarene sei der Gedanke der Arbeit am Reich Gottes, wie es Jesus getan hat, im Mittelpunkt der Verkündigung gestanden. Nach dem Krieg sei er dann zum Apostel der «Ehrfurcht vor dem Leben» geworden.¦180¿ Die Predigten nach dem Ersten Weltkrieg zeigen, daß das nicht stimmt. Es geht Schweitzer immer noch um dasgleiche Thema wie vorher, nur der Ausdruck hat gewechselt. Er sagt es selber so: «Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist die ins Universelle erweiterte Ethik der Liebe. Sie ist die als denknotwendig erkannte Ethik Jesu.»¦181¿ Auch jetzt versteht er sich als Prediger desEvangeliums Jesu. Zudem ist festzuhalten, daß Schweitzer schon früh Gedanken ausgesprochen hat, die dann später in den ethischen Predigten wieder auftauchen. So nennt er schon im Jahr 1900 den Tierschutz eine selbstverständliche Christenpflicht.¦182¿ Der Ausdruck «Ehrfurcht» kommt zum ersten Mal imJahre 1909 vor.¦183¿

176 19. November 1905 [Zu Mt. 14,22– 32], S. 690. 177 E. Gräßer, Mystik undEthik, in: Gräßer 2, S. 94. 178 2. März 1913 [Zu Mt. 18,3], S. 1187. 179 14. Juni 1903, S. 472, 25. Juni 1905, S. 675, 19. Dezember 1909, S. 1014, und 2. März 1913, S. 1186.

180 L.-P. Horst, Le Prédicateur, in: Rayonnement, S. 175. 181 A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 241. 182 26. August 1900 [Zu Mt. 5,7], S. 186. 183 7. Februar 1909 [Zu I Kor. 12,3], S. 978.

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Der Prediger

Albert Schweitzer

Weil für ihn das Wichtigste die Gemeinschaft mit Jesus ist, steht Schweitzer den Sakramenten positiv gegenüber. Vielleicht ist es sogar die Einsicht, daß sie in der frühen Christenheit einen viel größeren Stellenwert hatten, die ihn für die Sakramente einnehmen. «Für uns sind die Sakramente eine Frage neben andern. Sieht man aber auf die Stellung, welche die Sakramente in dem Leben und Glauben der urchristlichen und altchristlichen Kirche einnahmen, so kann man sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß sie dasinnerste Zentrum repräsentieren.»¦184¿

Obschon er um die historische Herkunft von Taufe und Abendmahl bestens Bescheid weiß und darlegt, daß sie beide ursprünglich Zeichen auf die baldige Vollendung des Reiches Gottes gewesen sind, streicht er ihre Bedeutung für uns heute heraus. «Taufe und Abendmahl existieren von Anfang an als eschatologische Sakramente in der Bewegung, die sich dann als Christentum vomJudentum loslöst», schreibt er in der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung.¦185¿ Heute aber sind sie für uns Weihehandlungen, die uns zur Dankbarkeit anleiten für das, was Gott uns tut, und die uns helfen, unsern Weg im Vertrauen auf Gott zu gehen, wie esJesus getan hat.¦186¿ Darüber dürfen wir uns freuen und brauchen nicht über dasWie nachzugrübeln.¦187¿ Auch dasProblem der Kindertaufe läßt er nicht unberührt.¦188¿ In gleicher Weise steht er der Trauung und der kirchlichen Bestattungsfeier bejahend gegenüber. Bei beiden geht es darum, dem Anlaß die «religiöse Weihe» zu geben, d. h. auf den Zusammenhang mit Gott hinzuweisen.¦189¿

Diese Weihe darf aber selbstverständlich keine äußere Formsache blei-

ben, sondern muß innerlich mitvollzogen werden. Wie sehr Schweitzer auf die wahre Einstellung Gewicht legt, zeigt der Briefausschnitt an Helene Bresslau, wo es um die Trauung von Elly Knapp und Theodor Heuss geht: «Gestern abend auf dem Heimweg bin ich noch zu Knapps hinaufgegangen. Elly hielt mich zurück und bat mich, am Samstag vor Ostern ihre Trauung vorzunehmen! Wir haben lange miteinander gesprochen ... und schließlich habe ich es ihr zugesagt. Ich bin froh, so ernsthaft mit ihr gesprochen zu haben. Jetzt kann ich ihre Trauung mit voller Überzeugung

machen.»¦190¿

184 A. Schweitzer, Straßburger Vorlesungen, München 1998, S. 157f. 185 A. Schweitzer, Geschichte derLeben-Jesu-Forschung, in: Werke Bd. III, S. 609. 186 Taufe am 8. August 1948 [Ohne Text], S. 1947 und am 26. Juni 1910 [Ohne Text], S. 1053; Abendmahl am 4. April 1901 [Zu Mk. 14,22–24], S. 253. 187 Predigt 20. August 1899 [Zu Mt. 13,24], S. 87. 188 Predigt vom 26. Juni 1910 [Ohne Text], S. 1053. 189 Trauung 26. Mai 1906 [Zu Eph. 5,9], S. 748, Bestattung 24. Februar 1913 [Zu Jes. 55,8], S. 1184. 190 AS-HB, S. 199.

9. Die Predigtbotschaft

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Von daher ist es logisch, daß Schweitzer sich auch immer wieder darum bemüht, die Kirche trotz ihrer Schwäche und Unvollkommenheit seinen Zuhörerinnen und Zuhörern lieb zu machen. J. Zürcher, der Bearbeiter des Nachlasses, hat das mit folgenden Worten umschrieben: «Er schätzte die äußeren Formen der Kirche und der Liturgie, der institutionalisierten Religion; seine dogmengeschichtliche Kritik richtete sich nicht gegen das Brauchtum, dessen lebensformende Bedeutung er positiv bewertete, sondern gegen das Nichterkennen undVerschweigen der historischen Bedingtheit aller überlieferten Vorstellungen, Dogmen und Lehrsätze. Er wollte also, daß in den äußeren Formen, gleichsam wie in Gefäßen, der kostbare Inhalt einer wirklich geistigen Religion, einer denkend erfaßten und in ihrer ethischen Bedeutung wirksam werdenden Religion, gehütet, bewahrt und weitergegeben werde.»¦191¿ Darum fühlt er sich als Helfer derjenigen, die wohl glauben möchten, aber mit den formulierten Glaubenssätzen der Kirche nichts mehr anfangen können. «Kein Christ darf etwas ungeprüft als Glauben annehmen. Nicht der Unglaube ist der gefährlichste Feind des Christentums, sondern die Gedankenlosigkeit, die da wähnt, wir müssen nun etwas, weil es im Glaubensbekenntnis überliefert ist, einfach annehmen.»¦192¿ Ohne Zweifel hat E. Gräßer recht, wenn er darauf hinweist, daß Schweitzer damit eine Haltung vorweggenommen hat, die heute von E. Drewermann vertreten wird. Beide verstehen beispielsweise die Geburtsgeschichte Jesu als Symbol.¦193¿ In diesem Zusammenhang stellt man fest, daß Schweitzer seine Gemeinde auch an seiner wissenschaftlichen Arbeit am Neuen Testament teilnehmen läßt. C. Frey hält richtigerweise fest: «Zwischen Katheder und Kanzel besteht für ihn kein garstiger Graben, sondern ein Wechsel in der Form derArbeit an derWahrhaftigkeit.»¦194¿ Beispiel mag eine Osterpredigt sein, in der er ausführt: «Heute trägt jeder Kirchgänger eine Entscheidungsfrage an seinen Pfarrer mit sich: Wie denkt er über die Auferstehung? Stellt er sich die Auferstehung des Herrn alsetwas Leibliches oder Geistiges vor? Und ich darf gleich hinzusetzen, daß ihr heute manchen Pfarrer in Verlegenheit bringt, daß er seine Worte so wählt, daß er sich weder für das eine noch für das andere ausspricht, um keinem Anstoß zu geben. Da ich nun aber meine, es muß zwischen mir und euch immer offen und ehrlich zugehen, so schicke ich voraus, daß ich über die Auferstehung mehr geistig denke, und meine auch, daß der geistige Christus denJüngern sich offenbart hat...»¦195¿ 191 Brief vom 27. Dezember 1991 an R. Brüllmann. 192 A. Schweitzer, Gespräche über das Neue Testament (Beck’ sche Reihe 1071), München ¦2¿1994, S. 50. 193 E. Gräßer, Ehrfurcht vorder Wahrheit, Gräßer 2, S. 117. 194 AS Bd. IV, S. 95. 195 3. April 1904 [ZuJoh. 14,27], S. 539.

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Der Prediger

Albert Schweitzer

Nicht weniger unumwunden sagt er seiner Gemeinde: «Wir aber haben keine Angst vor der Wahrheit, die die Forschung über das Neue Testament und die Anfänge unserer Religion ans Licht bringen könnte. Wir dämpfen sie nicht; wir wagen, alles zu untersuchen und alles zu prüfen und dasTatsächliche überall anzuerkennen, weil wir wissen, daß nichts das wahre Fundament unseres Glaubens, den Geist, der von den Worten unseres Herrn ausgeht, antasten kann.»¦196¿ Mit Recht weist deshalb F. Buri¦197¿ denVorwurf von H. Groos¦198¿ zurück, daß Schweitzer mit Rücksicht auf die Gemeinde auf der Kanzel «etwas sagt, daser als Denker nicht sagen könnte und würde, ja dasdem Ergebnis seiner Bemühungen um Wahrheit und Klarheit schnurstracks widerspricht». Natürlich geht Schweitzer nicht bei jeder Predigt auf solche wissenschaftlichen Fragen ein. Aber er redet nicht um den heißen Brei herum. Umgekehrt kann seine tolerante Haltung mißverstanden werden. So zum Beispiel, wenn er bei der oben zitierten Osterpredigt weiterfährt: «Aber wiejeder auch darüber denken mag, wenn nur heute allenthalben der lebendige Christus lebendig gepredigt wird.»¦199¿ Es geht ihm auch hier darum, daß die Leute verstehen, wasihnen Jesus in ihrer Lage zu sagen hat. C. Frey formuliert es so: «Schweitzer will dem heutigen Menschen verständlich machen können, worin die Bedeutung Jesu für uns heute besteht.»¦200¿

10. Das Predigtmaterial

Bei den Anfang 2000 vorhandenen 464 Predigten und Skizzen Albert Schweitzers handelt es sich um 448 handschriftliche Originale oder Fotokopien davon und um 16 Abschriften mit Maschine oder von Hand. Lange Zeit kannte man nur etwas über 200 Manuskripte. Von den übrigen glaubte man, sie seien im Krieg verlorengegangen oder gar vernichtet worden. Zum Glück kamen dann vor einigen Jahren 231vollständige Predigten eher zufällig bei der Räumung desEstrichs einer seiner Enkelinnen zu Tage. Die letzten, die das Archiv erhalten hat, stammen aus dem Nachlaß seines Patenkindes Suzanne Oswald. Nach dem von Helene Schweitzer aufgestellten Verzeichnis hat Albert Schweitzer bis 1913 300 Predigten gehalten.¦201¿ Das sind wohl zu wenig, wenn man die folgenden Zahlen anschaut. Aus diesem Zeitraum liegen 196 Predigt vom 5. Februar 1911 [Zu I Thess. 5,21], S. 1076. 197 F. Buri, Albert Schweitzers Theologie in seinen Predigten, ThPr 10, Hamburg 1975, S. 226. 198 H. Groos, Albert Schweitzer, Größe und Grenzen, München 1974, S. 474. 199 Predigt vom 3. April 1904 [ZuJoh. 14,27], S. 540. 200 AS Bd. IV, S. 101.

201 Im Zentralarchiv Günsbach.

11. Das Predigterlebnis

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heute 285 ausgeführte Predigten vor, die ergänzt werden von 5 Bestattungsansprachen, 4 Grabreden und 2 Traupredigten. Dazu kommen 12 Skizzen zu den ausgeschriebenen Predigten und 14 Skizzen, die nur als Entwürfe vorliegen. Es ist also eine große Anzahl vorhanden. Daß sie lange Zeit nicht mehr vorhanden waren, hängt damit zusammen, daß Schweitzer seine Predigten sehr oft weitergegeben hat, manchmal gleich nach dem Gottesdienst, meistens aber, mit einer Widmung versehen, später. Das sieht man an den Predigten, die dem Zentralarchiv Günsbach in den vergangenen Jahren als Originale oder als Fotokopien übergeben wurden. Da Albert Schweitzer 1913 mit seiner Frau nach Lambarene reiste, um dort auf dem Gelände der Pariser Mission auf eigene Kosten ein Spital zu betreiben, und dann während des Ersten Weltkrieges in Afrika und Frankreich inhaftiert war, gibt es aus dieser Zeit keine Predigten. An ihrer Stelle stehen die ersten Skizzen zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Im August 1918 übernahm er dann wieder das Predigtamt an der Kirche St. Nicolai in Straßburg, das er bis Juni 1921 innehatte. Aus dieser Zeit sind 119 Predigten vorhanden. Auch das ist eine recht hohe Zahl. Doch handelt es sich von 1919 an, abgesehen von wenigen Ausnahmen, um Skizzen, die oft nur stichwortartig den Verlauf der Predigt festhalten. Im großen und ganzen darf man also ohne Zweifel feststellen, daß Schweitzers Predigttätigkeit gut dokumentiert ist.

11. Das Predigterlebnis Schweitzer bezeichnet die Gesinnung der Inhumanität als das große Übel unserer Zeit.¦202¿ Bestimmt können wir diesem Urteil nur zustimmen.Wir erleben eine neueWelle der Unmenschlichkeit in unseren Tagen. Die Aggressionen unter den Völkern, die Rücksichtslosigkeit der Wirtschaft, der die Rendite wichtiger ist als der Mensch, der Egoismus, der keine Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft übernehmen will, der respektlose Umgang mit der Natur, besonders mit denTieren, sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. Diese Betroffenheit ist es, die offen macht für die Predigten Schweitzers. Er will ja den Sinn für Menschlichkeit in allen Belangen des täglichen Lebens wecken und zum Handeln ermuntern. Sein Anliegen spricht uns ohne Umweg an, wenn er sagt: «Religion heißt für mich ‹Mensch sein›, schlicht Mensch sein im Sinne Jesu.»¦203¿

202 Im Zentralarchiv Günsbach. 203 Im Zentralarchiv Günsbach.

I. Predigten desJahres 1898

1898¦1¿

[Mt. 15,21–28:] Das kanaanäische Weib¦2¿

Die soeben verlesene Erzählung führt uns in diejenige Zeit des Lebens Jesu, wo an seinem Horizont schon die dunkeln Wolken sich ankündigten, aus denen später das verderbliche Gewitter, das sich erst in Jerusalem entlud, heraufzog. Wir finden ihn auf der Flucht vor den Gesetzeslehrern. Er hat ihnen – diese Erzählung steht am Anfang unseres Kapitels [Mt. 15,1–20] – gesagt, daß nicht äußere Gesetzesreinheit, sondern die innerliche Gesinnung den Menschen rein erhält. Sie faßten das als Lästerung des Gesetzes auf. Er mußte Galiläa verlassen, nach Norden ziehen, die Grenze seines Landes überschreiten, während doch sein Herz bei seinem Volke blieb. Wie düster mag es in seinem Innern ausgesehen haben! Undankbarkeit und Unglauben des eigenen Volkes, das er so geliebt, bedrohen sein Lebenswerk. Ebenso düster sieht es in dem Herzen des phönizischen Weibes aus, das als erstes den galiläischen Flüchtling im fremden Land anredet. Ihre Tochter ist vom Teufel übel geplagt. Welch tiefes Elend liegt in diesem unbeholfenen Ausdruck eingeschlossen: Ihre Tochter ist irrsinnig, geistig umnachtet. Das Unglück in seiner grauenhaftesten Form hat bei ihr Einzug gehalten, ihre Tochter ist ihr genommen, und doch ist sie nicht gestorben. 1 [Das Original trägt nur denVermerk 1898.] 2 [Und Jesus ging aus von dannen und entwich in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, ein kanaanäisches Weib kam ausderselben Grenze und schrie ihm nach und sprach: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich mein! Meine Tochter wird vomTeufel übel geplagt. Und er antwortete ihr keinWort. Da traten zu ihm seine Jünger, baten ihn und sprachen: Laß sie doch von dir, denn sie schreit uns nach. Er antwortete aber und sprach: Ich bin nicht gesandt denn nur zu den verlorenen Schafen von dem Hause Israel. Sie kam aber und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht fein, daß man denKindern ihr Brot nehme undwerfe esvor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aber doch essen die Hündlein von den Brosamlein, die von ihrer Herren Tisch fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: O Weib, dein Glaube ist groß! dir geschehe, wie duwillst. Und ihre Tochter ward gesund zu derselben Stunde.]

Das kanaanäische Weib

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Nur wer einmal in das tiefe Elend geistiger Umnachtung geblickt, nur wer einmal schaudernd den Fuß in eine Irrenanstalt gesetzt – wenn vielleicht jemand unter uns ist, der selbst einen Verwandten oder Bekannten in dieses Grab der Lebenden geleitet hat – nur der kann das ganze Unglück des armen Weibes ermessen, das ganze Elend begreifen, das in den einfachen Worten liegt: «Meine Tochter ist vom Teufel übel

geplagt.» So begegnen sich hier zwei Menschen, deren Herz dunkle Traurigkeit überschattet, Jesus wegen derVerstocktheit seines Volkes, dasWeib wegen ihres häuslichen Unglücks. Aus dem Dunkel dieser beiden Seelen aber sprang ein Funke, der dieWelt in Brand setzte, indem er die Scheidewand zwischen zwei Völkern verzehrte. Ich habe vorhin gesagt: Der FußJesu überschritt die Grenze des fremden Landes, aber nicht sein Herz. Er wollte in diesem fremden Lande nicht lehren, nicht predigen, nicht das Evangelium verkünden, denn er kennt nur sein Volk; in seinem Innern fühlt er sich gezogen nur zu den Armen seines Volkes, zu den verlorenen Schafen desHauses Israel. In der Grenze seines Landes glaubt er auch, die Grenze seines liebevollen Wirkens gefunden zu haben. Noch vor ein paar Monaten, als er seine Jünger aussandte, sagte er ihnen: «Geht nur in die Städte und Flecken Israels» [Mt. 10,6]; damals dachte er kaum, daß er nach kurzer Zeit selbst den Fuß über die Grenze seines Landes setzen würde – undjetzt steht er auf fremdem Boden, erkannt von einem hilfeflehenden Weibe. Für sie sind die nationalen Unterschiede schon aufgehoben: Sie sieht in Jesus nicht mehr denJuden, den Angehörigen desVolkes, das mit Verachtung auf die andern herabblickt, für sie ist er nur der Mensch, der ihr helfen kann, an dessen Heilandskraft sie glaubt, damit er ihreTochter erlöse. Weißt du, welches die Kraft im Weibe war, die diesen Glauben in ihr hervorbrachte, in dem Manne aus dem Nachbarvolke den Heiland zu erkennen, die Kraft, die sie trieb, ohne Rücksicht auf die herbe Zurückweisung, ihn um Hilfe anzugehen? Weißt du, welches der Gedanke war, der ihr die kindlich demütige Antwort «Ja, Herr; aber doch essen die Hündlein von den Brosamlein, die von ihrer Herren Tisch fallen», eingab? Es war die Mutterliebe. Und diese Glauben gebärende Mutterliebe erfaßt, bearbeitet undüberwindet zuletzt Jesus. Zuerst schweigt er still, als dasWeib ihm mit erhobener Stimme seine Bitte vorträgt. Er will ihr nicht helfen, denn sie gehört nicht zu den verlorenen Schafen Israels. Aber die Mutter, die für ihr Kind bittende Mutter, abzuweisen – nein, er bringt es nicht übers Herz. So schweigt er still und geht sinnend weiter, während das Weib ihm flehend folgt. Er kämpft in seinem Herzen einen großen Kampf. Der Gedanke, daß seine Heilandstätigkeit sich auch an die Völker könnte richten, tauchte zum ersten Mal in ihm auf: Sein Volk vertrieb ihn des Landes. Hier, auf fremdem Boden, tritt ein heidnisches Weib ihm gläubig entgegen.

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Predigten

desJahres 1898

Sollte das nicht ein Fingerzeig seines Vaters sein? Der Gedanke kommt ihm so neu, er kann ihn nicht fassen. Da schweift sein Blick zurück in die Ferne: Er sieht sich, ein Kind in den Armen seiner Mutter, er fühlt ihren liebevollen Blick – die Erinnerung an das, wasihm der Mutter Liebe ist und war – schon sieht er in dem bittenden Weib nicht mehr die fremde Kanaanäerin, die etwas bittet, was er ihr nicht geben darf, er sieht in ihr nur noch die flehende

Mutter. Der Jünger Rede reißt ihn aus dem Sinnen: Laß sie von dir, tu ihr denWillen, daß sie uns in Ruhe läßt. Noch ist die Schranke inJesu Herz nicht gefallen. Wie wenig verstehen dieJünger, wasinJesus vorgeht. Sie muten ihm zu, jetzt für einmal eine Ausnahme zu machen, demWeibe zu helfen, um von ihr befreit zu sein. Er weiß, mit diesem einen Fall ist die Schranke durchbrochen, dasHeil geht von meinem Volke, dases mit Beben erwartet, auf die Heiden über – und die Stimme in seinem Innern sagt: Und die Rede der Propheten besagt doch, daß das Heil nur zu dem auserwählten Volke kommen solle. So sagt er abwehrend und doch fast traurig im Hinblick auf dasWeib: «Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen desHauses Israel.» Dem Weibe war das Zaudern Jesu nicht entgangen. Der betrübte Ton in der Antwort an die Jünger gab ihr neue Hoffnung. So wirft sie sich vor ihm nieder und fleht noch einmal. Jetzt mußJesus ihr antworten, jetzt sich entscheiden, ihre Bitte zu hören oder zurückzuweisen. Und er bringt es nicht über sich, die Mutter von sich zu stoßen. Er möchte, daß sie seine Zurückhaltung verstände, es ihm nicht als Hartherzigkeit auslege, wenn er sie nicht erhören kann. Er spricht zu ihr das merkwürdige Wort: «Es ist nicht recht, daß man den Kindlein das Brot nehme und werfe es vor die Hündlein.» DasWort ist so einfach, so ganz der Stimmung des Augenblicks entsprechend: Es ist fast wie eine bittende Entschuldigung an dasWeib, daß er sie ohne Hilfe läßt, weil er nur für sein Volk gesandt ist und dasHeil, das er ihm bringen soll, nicht an andere abgeben darf. Man sagt oft, Jesus habe den Glauben desWeibes versuchen wollen mit diesem Wort, und bedenkt da nicht, welcher Makel dabei auf das reine Bild unseres Heilands fällt. Könntest du es fassen, daß Jesus mit der gramvollen bittenden Mutter in diesem Augenblick ein frevelhaftes Spiel treibt, daß er, der die Herzen im Menschen kennt, in diesem tiefbewegten Augenblick eine Scheinprobe des Glaubens mit dem Weibe anstellt, daß er, bei demjedes Wort Wahrheit ist, hier demWeibe mit einem Einwand begegnet, der nicht seiner innersten Gesinnung entspricht? Ich kann dasnicht glauben. Und siehe, auch dasWeib versteht ihn anders. Sie faßt es nicht als Glaubensprobe, sondern sie fühlt dieWehmut in denWorten, mit denen Jesus sie trotz seines Mitleids abweisen will.

Das kanaanäische Weib

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Da kommt ihr ein rettender Gedanke: Daß Jesus ihr das Brot, das für die Kinder bestimmt ist, geben soll, kann sie nicht verlangen. Darf er ihr aber wehren, daß sie die Brosamen nimmt, die von demTische fallen? Indem sie so an die Worte Jesu anknüpft, gibt sie ihm die schöne Antwort: «Und doch essen die Hündlein von den Brosamlein, die von ihrer Herren Tisch fallen.» Sie zeigt ihm, daß wenn auch das Heil nur für die Kinder Israels bestimmt wäre, die andern Armen und Unglücklichen, die nicht zu diesem Volk gehören, doch auch der rettenden Liebe des Heilands teilhaftig werden dürfen, ohne daß er deswegen seinem

ursprünglichen Beruf untreu wird. Dieses einfache, demütige Wort desWeibes löst die Spannung in Jesus. DasWeib hat ihm in seiner bittenden Angst denWeg gezeigt, wo er seinem Mitleid nachgeben darf, ohne in Zwiespalt mit sich selbst zu geraten. Er ist überwältigt von der Glaubensglut und der Demut der Mutterliebe. «O Weib, dein Glaube ist groß!» Unter diesem überwältigenden Eindruck fällt die Schranke, die ihn bis jetzt von den Heiden getrennt. Sein Blick, der bis jetzt nur auf Israel gewandt war, umfaßt die ganze Welt in einem Augenblick. Er heilt dieTochter desWeibes. Er bannt die Nacht, die ihren Geist verdunkelte, zugleich bannt er die Nacht, die die Heidenwelt bedroht. So oft ich im Neuen Testament dieser einfachen und doch im Leben Jesu so tiefeinschneidenden Erzählung begegne, muß ich dabei stehen bleiben, festgebannt durch die schlichte, tiefmenschliche Größe unseres Heilands, wie sie uns hier wie kaum in einer andern Erzählung entgegentritt. Sein Herz schlug wie unser Herz, er verstand unsere Leiden, er verstand auch unsere menschlichen Gefühle. Er wußte auch, was Mutterliebe ist.Während er sonst oft so hoch über uns steht, daß wir vergeblich die Hand ausstrecken, den Saum seines Kleides zu fassen, fühlen wir hier den Druck seiner Hand und sehen ihm in dasmilde Auge. Wenn diesjetzt in dieser Nachmittagsstunde bei der Betrachtung dieser Geschichte der Fall war, dann war diese Stunde eine gesegnete. Mit diesem Heilandsbild im Herzen wollen wir hinaustreten, und in seinem Glanze wird uns auch dasBild der gläubigen kanaanäischen Mutter verklärt erscheinen, das namenlos für einen Augenblick in die Helle der Geschichte eintritt, und deren gläubige Mutterliebe Jesus zu dem großen Schritt von denJuden zu den Heiden zwang. Von ihr kann auch wie von dem Weibe, das ein paar Wochen nachher Jesus in Bethanien, die Weihe der Todesstunde vorausnehmend, salbte, gesagt werden: «Wo in aller Welt das Evangelium gepredigt wird, wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie mir getan hat» [Mt. 26,13].

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Predigten

desJahres 1898

Nachmittagspredigt Sonntag, 31.Juli 1898, St. Nicolai

Mt. 7,17–21: [Ein guter Baum bringt gute Früchte]¦3¿ «Selig sind» – so fängt die Bergpredigt [Mt. 5,3] an. Bei diesen erlösenden Worten für eine gequälte Menschheit liegt ein milder Glanz auf dem Antlitz des Herrn. Dann richtet sich seine Gestalt auf. Ein Zug übermenschlichen Stolzes spielt um seine Lippen, als er mit dem gewaltigen «Ich aber sage euch» [Mt. 5,22] das alte Gesetz zertrümmert und den Menschen die innere Sittlichkeit desReiches Gottes lehrt. Undjetzt zum Schluß tritt ein herber Ernst auf sein Gesicht: «Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! in dasHimmelreich kommen.» Diese drei Abschnitte in der Bergpredigt werden in ihrer Aufeinanderfolge unverständlich. Man versteht nicht, wie aus dem milden Heiland der Seligpreisungen derjenige werden kann, der mit strengem Wort es ausspricht, daß nicht alle in dasHimmelreich kommen werden, wenn wir nicht bedenken, daß für Jesus das Himmelreich nicht etwas ist, das in weiter, unerreichbarer Ferne im Himmel allein ist, sondern daß es, wie es von ihm auf der Erde gepflanzt worden ist, sich auf Erden entwickeln soll, immer zunehmen und wachsen soll, und zuletzt die ganze Menschheit umfassen soll, wo dann himmlische Seligkeit auf Erden sein wird. So sagt er nicht: Selig werden sein im Himmel die Sanftmütigen, sondern: Selig sind siejetzt schon auf Erden. So gibt er dasneue Gesetz der Liebe und der Innerlichkeit mit dem Wort: «Ich aber sage euch.» So fordert er zum tätigen Eintritt in dieses Reich auf mit den strengen Worten: «Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel.» Denn siehe, mit dem Himmelreich ist es anders als mit den irdischen Reichen. Hier tritt man durch die Geburt in ein weltliches Reich ein, in dasHimmelreich durch denWillen, indem wir denWillen tun unseres Vaters im Himmel. Was heißt das, den Willen tun unseres Vaters im Himmel? Washieß es fürJesus? Ihn trieb dieser Wille deshimmlischen Vaters im dreißigsten Jahr seines Lebens hinweg ausder Mitte seiner Familie undvom Handwerk seines Vaters. Er trieb ihn, die Kunde des Reiches Gottes zu predigen in Galiläa, unstet, verkannt, verachtet umherzuziehen. Er trieb ihn, der 3 [Also ein jeglicher guter Baum bringt gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt arge Früchte. Ein guter Baum kann nicht arge Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Ein jeglicher Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! in dasHimmelreich kommen, sondern die denWillen tun meines Vaters im Himmel.]

Ein guter Baum bringt gute Früchte

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Heiland seines Volkes zu werden, zu dienen, wie er so schön einmal denJüngern sagt. Er trieb ihn dann, nach Jerusalem zu ziehen und zu sterben, ein Heiland seines Volkes und der Menschheit. DenWillen seines himmlischen Vaters tun, heißt fürJesus, Heiland sein, indem er sein ganzes Leben der Predigt undVollendung des Reiches Gottes widmet. Wenn er nun hier sagt, daß nur die in dasReich Gottes kommen werden, die denWillen deshimmlischen Vaters tun werden, will dasin seinem Munde heißen, daß nur diejenigen die Seligkeit desHimmelreiches erfahren werden, die wie er denWillen des himmlischen Vaters tun, indem sie ihr Leben in den Dienst des Gottesreiches stellen, an dem Kommen desselben arbeiten. Nun fragst du, was kann denn ich tun für das Kommen des Reiches Gottes? Ich gehe ganz auf in meiner mühevollen täglichen Arbeit: Ich bin Lehrer und halte den ganzen Tag Schule. Ich bin Arbeiterin und bin von meiner Tagesarbeit so müde, daß ich abends kaum mich sammeln kann zu einem Gebet vor dem Schlafengehen. Ich bin Hausfrau, habe für meinen Mann und für meine Kinder den ganzen Tag zu sorgen, und ich bin eine arme alte Witwe, bringe kaum noch genug zusammen, um dürftig mein Leben zu erhalten. Was können denn wir für das Reich Gottes tun und arbeiten? Wir können nicht wie die Missionare ins ferne Land ziehen, den Heiden predigen, wir können nicht als Krankenschwester unser ganzes Leben den Armen und Notleidenden dienen und so für das Reich Gottes arbeiten, sondern wir müssen zu Hause in unserm engen Kreise wirken und schaffen. Auf diese Frage gibt viel besser, als ich es vermöchte, das vorhergehende Gleichnis Jesu von den guten und den schlechten Fruchtbäumen Antwort. Es heißt da: «Ein jeglicher guter Baum bringt gute Früchte.» Dazu gehören nicht nur die stolzen Feigen- und Granatbäume der sonnigen Gegenden, sondern auch unsere in Wuchs, Blättern und Früchten bescheideneren Fruchtbäume und nicht nur diese, sondern nach Jesu Sinn sind gute Bäume auch die Sträucher desWaldes, die mit ihren Beeren den armen Vögeln Nahrung bieten, und auch das kümmerliche Bäumchen, dasin einem Topf am Fenster eines öden Hinterhauses einer dumpfen Stadt einem armen kranken Kinde von dem schönen Walde, nach dem es sich sehnt, erzählt. Wie so jeder gute Baum vom ersten bis zum bescheidensten gute Früchte bringen kann, so kann auchjede Arbeit, jeder Beruf, sei er auch noch so gering, Frucht bringen für das Reich Gottes, ein Tun des Willens unseres himmlischen Vaters sein. Es kommt nur auf die Art an, wie man es tut. Das zeigt uns wieder das Beispiel von den Fruchtbäumen. Wenn ich auf unsern Feldern einen solchen antreffe, wie er mit seinen Früchten behangen dasteht, da ist es mir manchmal, als sei er ein lebendesWesen und spräche zu mir: Sieh, dasganze Jahr arbeite ich, ich treibe

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Predigten

desJahres 1898

Knospen, blühe, trage Früchte, damit ich euch Menschen etwas nütze. Ich lebe nicht für mich, sondern für euch. Mich hat der liebe Gott hergesetzt, damit ihr Menschen von mir lernt, wie ihr eure Arbeit erfüllen sollt, damit sie wirklich ein Tun desWillens eures himmlischen Vaters ist, eine Arbeit am Reich Gottes. In diesem seligen Gefühl, nicht nur für sich, sondern für die andern zu arbeiten, kann in jedem Beruf [jeder] seine Arbeit verrichten: In dem heißen Saale, wenn dir die Hände ermattet sinken wollen, denk immer, du geplagte Arbeiterin, daß du für die Deinen arbeitest zu ihrem Unterhalt, dann arbeitest du am Reich Gottes, und dann kommt Friede über dich. In der Schule, wenn die Kinder dir Not und Mühe machen, und du, Lehrer, an deinem harten Beruf irre wirst, dann sag dir: Ich erziehe Menschenkinder zu Christen, und wenn du so deinen Beruf auffaßt, dann ist es Arbeit am Reich Gottes, und auch über dich wird etwas von dem Frieden des Reiches Gottes kommen. So auch die Hausfrau, welche ihres Mannes und ihrer Kinder wartet, arbeitet nicht für sich, sondern für andere, und ihr Beruf, in dieser Gesinnung getan, ist ein Erfüllen desWillens ihres himmlischen Vaters, und auch sie hat teil an der Seligkeit des Reiches Gottes. Wenn wir alle so als Gottes Kinder, die den Willen ihres Vaters tun, unserm Beruf treu nachgehen, dann wird auch in unsere Arbeit eine herzliche Freudigkeit kommen, die wir sonst dabei nicht empfinden würden. Auch der gute Baum bringt seine Früchte nicht mürrisch und verdrossen an kahlen Ästen, sondern er schmückt sich dazu: Im Frühjahr treibt er Blätter, dann im Mai steht er lachend in Blüten, und im Herbst färbt er sein Laub golden, wenn er uns seine reifen Früchte bietet. So soll auch unsere Arbeit, gerade weil wir sie nicht für uns, sondern alsWillen unseres himmlischen Vaters für die andern als Mitarbeiter am Reich Gottes tun, etwas Heiteres und Fröhliches an sich tragen. In dieser Fröhlichkeit liegt dann schon die Seligkeit des Gottesreiches, und wer diese Seligkeit empfindet, der wird auch verstehen, was dasWort Jesu heißen will: «Das Reich Gottes ist mitten in euch» [Lk. 17,21]. Dann verstehen wir auch, wie aus demselben Mund am Anfang der Bergpredigt die Seligpreisungen und am Schluß das ernste Wort hervorgehen kann, daß nur die, welche denWillen deshimmlischen Vaters tun, in das Himmelreich kommen. Denn jetzt wissen wir, daß wir den Willen unseres Vaters tun, indem wir in unserm Beruf durch die Art, wie wir unsere Arbeit tun, an dem Reich Gottes mitarbeiten, und wenn wir dann des Abends beten «Dein Reich komme, dein Wille geschehe» [Mt. 6,10], dann werden wir in diesen beiden Bitten Trost finden für dasüberstandene Tagewerk und Stärkung für die Erfüllung unseres Berufes, solange wir leben, bis wir als treue Knechte eingehen in die Seligkeit und Ruhe unseres himmlischen Vaters.

Der reiche Jüngling

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Predigt Sonntag, 2. Oktober 1898, St. Nicolai¦4¿

Lk. 18,18–30: [Der reiche Jüngling]¦5¿

Wir leben in einer ernsten Zeit: Mancher, der sonst die Handlung auf dem Theater der Weltgeschichte als gelangweilter Zuschauer an sich

vorüberziehen läßt, richtet sich unwillkürlich aus seiner nachlässigen Stellung auf und wird wider Willen gezwungen, über dasGesehene und Gehörte nachzudenken.¦6¿ Es gibt augenblicklich kaum ein Land, dasnicht von schweren Schlägen getroffen ist, und wenn auch mit der Zeit diese Wunden vernarben, die Welt auf die Ereignisse dieser letzten Zeit wie auf einen schweren Traum zurückblicken wird, aufatmend, daß er dahinten liegt, so hat doch diese trübe Zeit in uns den Ernst wachgerufen, der sich den Fragen zuwenden wird, die nicht die einzelnen Völker, sondern die Menschheit insgesamt angehen, und die, obschon sie schon so alt sind als die menschliche Kultur überhaupt, obschon sie schon seitJahrhunderten erörtert worden sind, ihrer Lösung scheinbar um keinen Schritt näher gerückt sind. Mag auch deshalb eine ganze Gesellschaft von Menschen, die das Interesse für diese großen Fragen verloren hat, darüber spotten und sich 4 [R] Vor Abreise nach Paris. [Vgl. A. Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, in: Werke Bd. I, S. 37:] «Gegen Ende Oktober 1898 fuhr ich nach Paris, um an der Sorbonne Philosophie zu hören und mich bei Widor im Orgelspiel weiterzubilden.» 5 [Und es fragte ihn ein Oberster und sprach: Guter Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe? Jesus aber sprach zu ihm: Washeißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott. Du weißt die Gebote wohl: «Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch Zeugnis reden, du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.» Er aber sprach: Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf. DaJesus das hörte, sprach er zu ihm: Es fehlt dir noch eines. Verkaufe alles, wasdu hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach! Da er aber das hörte, ward er traurig; denn er war sehr reich. Da aber Jesus sah, daß er traurig war geworden, sprach er: Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen! Es ist leichter, daß ein Kamel gehe durch ein Nadelöhr, denn daß ein Reicher in das Reich Gottes komme. Da sprachen, die das hörten: Wer kann denn selig werden? Er aber sprach: Wasbei den Menschen unmöglich ist, dasist bei Gott möglich. Da sprach Petrus: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Er aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der ein Haus verläßt oder Eltern oder Brüder oder Weib oder Kinder um des Reiches Gottes willen, der es nicht vielfältig wieder empfange in dieser Zeit, und in der zukünftigenWelt dasewige Leben.] 6 [Französisch-englische Zwischenfälle mehrten sich, undimJahre 1898 war man infolge des Zwischenfalles von Faschoda (Sudan) auf einen Krieg gefaßt. Aber Paris wagte nicht, sich in einen Seekrieg einzulassen. In Asien ging die englisch-russische Rivalität lebhaft weiter, so daß London sich mit Japan verband. In Zentralamerika sahen sich Frankreich, Spanien und England den Interessen derVereinigten Staaten gegenüber.]

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Predigten

desJahres 1898

dadurch in den Schlummer wiegen, daß wir das Fragezeichen hinter diesen Fragen einfach unbeantwortet stehen lassen sollen, als Christen müssen wir dieser abgelebten Gleichgültigkeit widerstehen, denn die Zukunft des Christentums – dies dürfen wir uns nicht verhehlen – , die Weltstellung des Christentums hängt davon ab, ob es diese Fragen lösen kann, ob es noch etwas von der weltüberwindenden Kraft besitzt, mit der es die alte Welt eroberte, oder ob es in greisenhafter Schwäche da-

hinsiecht. Die größte Frage, um die sich heutzutage der Streit dreht, ist die Frage des Besitzes. Sie ist nicht von müßigen Köpfen aufgegriffen worden und in den Mittelpunkt der Verhandlungen gerückt worden, sondern die Stimme der Zeit ruft sie vernehmlich von einem Ende derWelt zum andern, und die Not der Zeit verlangt nach Lösung derselben. Durch die Entwicklung unserer Kultur verschärfen sich die Gegensätze ins Ungeheuerliche: Auf der einen Seite üppiger Besitz undWohlleben, auf der andern Seite Armut und Entbehrung. Nun forscht man suchend im Neuen Testament, ob in den AussprüchenJesu eine Lösung der Frage sei.Wie steht es damit? Nehmen wir die Geschichte unseres Textes: Die Erzählung vom reichen Jüngling. Er tritt zum Herrn, um ihn zu fragen, was er für seine Seligkeit tun soll. Er hat alles erfüllt, alle Gebote des Gesetzes gehalten von seiner Jugend auf. Nun befiehlt ihm der Herr, alles zu verkaufen, was er hat, und den Armen zu geben. «Da ging er traurig davon, denn er war sehr reich.» Kein Prediger hat wohl noch ohne Bangen über diesen Text vor seiner Gemeinde gepredigt, und kein andächtiger Zuhörer einer Predigt über diesen Text ist wohl ganz befriedigt nachher nach Hause gegangen. Es nützt nichts, zu sagen, daß diese schroffe Anforderung des Herrn an den reichen Jüngling gestellt ist in dem Augenblick, wo er sich anschickt, denTodesgang nachJerusalem anzutreten, wo diejenigen, die ihm auf diesem Leidensgang folgen wollen, mehr alsje frei sein müssen von der Fessel irdischer Interessen. Es nützt nichts, zu sagen, Jesus habe denJüngling nur prüfen wollen, ob sein Herz am Reichtum hinge, daß danach die Ansicht Jesu sei, der Reichtum an sich sei nicht verderblich für das Seelenheil, nur wenn man sein ganzes Herz daran hänge. Führte ich diese Punkte, die geeignet sind, die Schroffheit dieses Wortes des Heilands zu mildern, euch noch so klar vor Augen, am Ende, wenn wir dieWorte nehmen wollen, wie sieJesus gesprochen hat, nach ihrem einfachen Sinn, müßten wir doch eingestehen: Es nützt nichts, zu verschleiern und zu deuteln. WasJesus hier dem reichen Jüngling sagt, der Befehl, den er ihm erteilt, gilt nach demWortlaut der Geschichte allen Reichen, und eine Betrachtung dieser Worte müßte mit der Aufforderung an alle Begüterten schließen: Geht hin, verkauft, was ihr besitzt, und gebt es den Armen!

Der reiche Jüngling

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Wäre das dann die Lösung auf unsere Frage, welche Stellung der Christ zu der Not einnehmen soll, die durch die große Ungleichheit der Verteilung des Besitzes entstanden ist? Ein Mann in der Geschichte der Christenheit, ein wahrer Jünger Christi, von heiliger Liebe zur Nachfolge Christi getrieben, faßte in kindlicher Einfalt dieses Wort so auf. Es war der heilige Franz von Assisi, und was gründete er? Einen Bettelorden. Und welches war der Erfolg? Daß im Mittelalter die Bettelorden eine wahre Landplage wurden, die von den Gaben der arbeitenden Leute lebten und die Mildtätigkeit von den bedürftigen Armen ablenkten, um davon ihren frommen Müßiggang zu ermöglichen. Lies einmal nach in Luthers Schriften, mit welchem Ekel er von der Zeit spricht, da er noch als Bettelmönch herumzog, meinend, so ein rechter Jünger Christi zu sein. Nun stehen wir ratlos: Die wörtliche Befolgung des Befehls löst die Frage über die durch den ungleich verteilten Besitz entstandene Not nicht. Befolgten auch alle, die Besitz haben, dasWort desHerrn von seiner Nachfolge, das er an den reichen Jüngling gesprochen hat, es würde mit unserer Zeit nicht besser, sondern schlimmer werden. Und pressen wir aus seinen Worten den Sinn, daß der Besitz erlaubt ist, unserm Seelenheil nicht schadet, so haben wir immer das Gefühl, daß wir dem Sinn dieser Erzählung nicht gerecht werden, anJesu Worten drehen und deuteln wollen. Nun dürfen wir uns als Christen auf ein herrliches Apostelwort berufen: «Der Buchstabe des Gesetzes tötet, der Geist, der frei waltende, sich selbst bestimmende, macht lebendig» [II Kor. 3,6]. Jesus hat nicht gelebt undgelitten, um denMenschen ein neues, starres Gesetz zubringen, sondern um ihnen den Geist der göttlichen Freiheit der Kinder Gottes einzuhauchen. Vondiesem Geiste derFreiheit, derleider nurnoch alsschwacher Funke in der Christenheit vorhanden ist, nicht imstande, sie zu erwärmen, wollen wirjetzt Gebrauch machen, um im Geiste Christi, nicht in sklavischer Gebundenheit an einzelne seiner Aussprüche, Stellung zu nehmen zuderFrage über dasVerhältnis von Besitz undChristentum. In einer seiner letzten Reden an dieJünger ermahnt er sie, auf die Zeichen der Zeit zu achten und danach ihre Entschlüsse zu fassen. So wollen auch wir zunächst die Zeiten undVerhältnisse betrachten, unter denen Jesus lebte im Unterschied zu denen, unter welchen wir leben. Er lebte unter dem ewig heiteren Frühlingshimmel Galiläas, wo das Land alles, was zur Notdurft des Lebens gehört, gleichsam von selbst hervorbringt. Unter dem Eindruck dieser gütigen Natur sind jene schönen Worte hervorgewachsen gegen die Sorge für Kleidung und Nahrung, jener schöne Spruch von den Vögeln des Himmels, die der himmlische Vater nährt, und von den Lilien des Feldes, die er herrlicher schmückt als Salomo, trotzdem sie sich nicht sorgen und nicht mühen [Mt. 6,25– 34]. Diese Worte atmen etwas von dem milden Sonnenschein des Lan-

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des, in dem nach dem Gesetz jeder Unbemittelte von den Früchten des Landes nehmen durfte, soviel er zur Stillung seines Hungers bedurfte. Im Laufe der Zeiten, unter unserm düsteren, herbstlichen Himmel, haben wir diese freudige Beurteilung des Lebens, diese fröhliche Sorglosigkeit der Beschaffung seines Unterhalts, verloren. Wohl klingt unser hoffnungsvoller Glaube, daß Gott uns nie verläßt, mit Jesu Worten noch zusammen, aber der Ernst der irdischen Verhältnisse unserer Zeit läßt uns nur für kurze Augenblicke den kindlichen Frohsinn dieser Worte miterleben. So haben sich die Zeiten und die Verhältnisse seit Jesu Zeit geändert. Noch in einem andern Punkt haben sich die Zeichen der Zeit verändert: Wenn du die Evangelien genau betrachtest, so siehst du, daß die Zeitgenossen Jesu alle unter dem Eindruck stehen, daß das Ende dieser Welt in kurzer Zeit hereinbrechen und das Reich Gottes mit Macht kommen wird. Unter diesem Eindruck verlieren alle irdischen Zustände, Ehe, Familie, Besitz ihren Wert; sie sind wie schwere Gewichte, die den Menschen hindern, ins Reich Gottes einzugehen, Bürden, die man zuerst abwerfen muß, ehe man durch die enge Pforte eintreten kann [Mt. 7,13]. Noch derApostel Paulus war von diesem Gedanken beherrscht. Mit uns hat auch in dieser Hinsicht ein großer Wandel stattgefunden. Es ging der Christenheit wie demWanderer, der von den Höhen unserer Vogesen nach Süden schaut: Vor ihm ein kleines Stückchen Ebene, dann ein Meer von Dunst und über diesem Nebelmeer eine Wand von Eis und Felsen: die Alpen. Und nun macht er sich auf, nach Süden zu ziehen – und sieh, derWeg ist weiter, als er gedacht. Wo dasNebelmeer lag, zieht sich unabsehbar die Ebene dahin, und die Alpen steigen nicht unvermittelt aus der Ebene empor, sondern zuerst geht es talaufwärts, dann durch Wälder, dann über blumige Bergmatten, langsam immer höher empor bis in die Regionen des ewigen Schnees. Und wenn er anfangs, getäuscht von der Durchsichtigkeit der Luft, geglaubt hat, wie im Flug durch die Luft die Höhen zu erreichen, muß er jetzt mühsam Schritt für Schritt weiterziehen. So erging es auch der Christenheit auf ihrem Zuge zum Reich Gottes hin: Zuerst fieberische Hast und phantastische Hoffnung, und dann kam das Besinnen; sie fing an, sich für diese Welt, die sie für einen Augenblick weit unter sich gesehen, wieder einzurichten, und die Güter dieser Welt gewannen für sie wieder anWert, sie waren die Straßen und Pfade, auf denen sie ihrem Ziel, dem Reich Gottes, entgegenwanderte. Und dieses Ziel selbst, dasReich Gottes selbst, erschien nicht mehr über denWolken sich spiegelnd wie damals, als es den erstaunten Augen der ersten Christen glänzend von der Sonne Jesu Christi beleuchtet am Horizont auftauchte, sondern es wurden die Höhen sichtbar, die es mit der Erde verbanden: Es senkte sich gleichsam auf Erden herab.

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Es ist nicht mehr nur ein Gegenstand unserer sehnenden Hoffnung, sondern es ist das Ziel derWanderung der Menschheit und dasZiel unserer Arbeit. Die menschlichen Verhältnisse sind nicht mehr Hemmnisse, sondern sie treten alle in den Dienst des Reiches Gottes. Kirche, Staat, Gemeinde, Schule, Familie, Besitz, Arbeit: Sie sind uns geheiligt nicht an sich, sondern sofern sie alle im Dienste des Reiches Gottes stehen. So sind für uns Besitz und Reichtum nicht mehr eine unnütze Last, die man fortwirft, um schneller zum Ziel zu gelangen, sondern es sind Pfunde, die uns Gott anvertraut hat, daß wir sie im Dienste des Reiches Gottes verwerten, und von denen wir ihm Rechenschaft schuldig sind, gerade wie andere von derVerwendung ihrer Verstandesgaben in derArbeit desReiches Gottes ihm Rechenschaft schuldig sind. Nun fragt ihr mich: Wie soll ich das anfangen, was ich besitze, in den Dienst desReiches Gottes zu stellen? Darauf möchte ich antworten: «Es sind mancherlei Gaben, aber es ist ein Geist» [I Kor. 12,4]. Dem einen gibt dieser Geist ein, mit seinen Mitteln eine Anstalt für arme, verlassene Kinder zu gründen, dem andern gibt es derselbe Geist ein, ein Krankenhaus zu unterstützen. Das kann aber nicht jeder, und das soll man nicht vonjedem verlangen. Die meisten haben ihre Familie, für die sie zu sorgen haben, die auf ihren Besitz und den Ertrag ihrer Arbeit Anspruch haben. Wie können denn die ihren Besitz in den Dienst des Reiches Gottes stellen? Ich meine dadurch, daß sie damit ihre Familie unterhalten, daß sie ihn verwenden, ihren Kindern eine gute Erziehung zu geben, daß sie zu tüchtigen Menschen erzogen werden und dereinst, je nach ihrer Begabung, auch tüchtige Mitarbeiter am Reich Gottes. Daran möchte ich eine Mahnung knüpfen, die auf den ersten Anblick etwas verwunderlich erscheinen möchte, daß es nämlich Christenpflicht ist, daßjeder nach dem Stand seines Vermögens Ausgaben macht, um seinen Nebenmenschen etwas zu verdienen zu geben. Ich wende mich damit nicht nur gegen den gemeinen Geiz, sondern auch eine Art von frommem Geiz, der in erbaulichen Schriften oft überaus gepriesen wird. Ein Mann, der in guten Verhältnissen lebt, führt ein ganz zurückgezogenes Dasein, spart an allen Ecken und Enden, nur um desto mehr für Zwecke der Wohltätigkeit geben zu können. An allem Geld, das er so stiftet, klebt, glaube ich, Gottes Segen nicht. Es liegen vielleicht ein paar Pfennige dabei, die er einer arbeitsamen Marktfrau vom geforderten Preis abgehandelt hat, ohne zubedenken, wie sauer sie esverdienen muß; esliegen vielleicht ein paar Mark dabei, diezuverdienen ein armer Handwerker seiner Nachbarschaft froh gewesen wäre, um damit seine Familie erhalten zu können, und auch an dem so ersparten Geld, wenn es auch für mildtätige Zwecke bestimmt ist, liegt nicht der volle Segen Gottes. Denkt doch im praktischen Leben über diese Frage ein wenig nach, und diese Mahnung, daß es Christenpflicht sei, nach dem Stand seines Vermögens durch Ausgaben dem Nächsten etwas zu verdienen zu ge-

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ben, die vielleicht am Anfang etwas auffällig schien, wird weniger verwunderlich mehr scheinen. Es heißt nicht weniger, das anvertraute Pfund in den Dienst des Reiches Gottes stellen dadurch, daß man verhütet, daß die Leute verarmen, als dadurch, daß man dieVerarmten unterstützt. Ich glaube, wenn alle begüterten Christen dies bedächten, würde mancher, der als Bettler augenblicklich trotz der christlichen Wohltätigkeit körperlich und geistig verkommt, zu Hause, von zufriedener Kinderschar umgeben, frohen Muts in seiner Werkstatt der Arbeit nachgehen und brauchte kein Almosen. Es wird aber niemals in unserer Macht stehen, zu verhindern, daß es überhaupt Arme gibt. Da spielen Mächte mit hinein, über die wir nicht gebieten können, Unglücksfälle, Krankheit, Siechtum, Tod. Hier stellen wir unsern Besitz in den Dienst des Reiches Gottes, indem wir diesen Armen helfen. Es ist die Art der Verwendung unseres Besitzes, die uns am meisten beglückt, wo wir es am greifbarsten spüren, daß wir es im Dienste Gottes tun. Aber auch hier wollen wir über der Freude am Geben nicht vergessen, daß wir zweckmäßig geben sollen. Siehe, in einer großen Stadt wie der unsrigen ist die Not so mannigfaltig und sind die Verhältnisse so schwierig zu übersehen, daß der einzelne dagegen machtlos ist und es nur einer Vereinigung, einer Gesellschaft, die sich besonders damit abgibt, gelingt, der Not wirksam zu steuern. Ich gestehe, daß es eine große Freude ist, selbst persönlich seine Gabe den Notleidenden zu geben, statt sie einer Gesellschaft zu übermitteln, wo sie verschwindet wie einTropfen, den man auseinem Glas in den Bach gießt; manche gut gemeinte persönliche Mildtätigkeit richtet mehr Schaden als Nutzen an. Ich kenne ein Fabrikunternehmen im Oberelsaß, wo der Fabrikherr reichlich, ja mehr als reichlich, Unterstützungen an die Armen seines Ortes verteilt hat, undjetzt nach zwanzig Jahren fortgesetzter Mildtätigkeit sieht er mit Erstaunen, daß die Bedürftigkeit in seinem Ort nicht ab-, sondern zugenommen hat, daß er bei manchen Leuten die Arbeitsscheu unterstützt hat, während wirklich bedürftige Arme Not litten. Es gibt Gebiete christlicher Wohltätigkeit, wo wirklich die Kraft und die Umsicht eines Menschen, auch wenn er es noch so gut meint, nicht ausreicht. Darum, wenn in den nächsten Wochen, vor Einbruch desWinters, Leute zu dir kommen, um für Vereine christlicher Mildtätigkeit zu sammeln, gib nach deinen Mitteln gern und freundlich, und denk nicht an die Freude, die es dir gemacht hätte, es selbst den Armen geben zu können, sondern mehr daran, was mit diesem Geld Gutes und Zweckmäßiges zur Linderung der Not geschehen kann. Es ist das eine Art von Selbstverleugnung in derWohltätigkeit. Aber diese Selbstverleugnung darf nicht zur Selbstgenügsamkeit werden, daß man meint, weil man Spenden an Wohltätigkeitsvereine gibt, man deswegen davon entbunden ist, selbst die Armen aufzusu-

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chen. Neben den Gebieten der Wohltätigkeit, wo die Kraft des einzelnen nicht ausreicht, gibt es auch solche, wo die Gabe nur dann christlich ist, wenn man selbst hingeht, selbst mit dem Armen spricht. Ich will hier die Frage nicht entscheiden, ob die Tafeln, die an den Treppen mancher Häuser den Hilfesuchenden aus dem Hause an die Adresse einer mildtätigen Gesellschaft verweisen, christlichen Geistes sind oder nicht. Auf mich selbst wirkt es immer etwas kalt und nüch-

tern, und manchmal macht mir dasTäfelein den Eindruck eines Scheines, durch den man erklärt, daß man sich durch eine Geldsumme von der lästigen Verpflichtung losgekauft hat, mit der Armut persönlich in Berührung zu kommen. Ich kenne aber auch ernst und mild denkende christliche Männer, die die Einsicht aufrecht erhalten wissen wollen, daß wir in unsern Städten nicht ein gewerbsmäßiges Bettlertum großziehen wollen. Man kann also hierüber verschieden denken, und die einzige Lösung der Frage wird wohl sein, daß wir nicht die Armen zu uns kommen lassen, sondern daß wir selbst zu ihnen hingehen. Hier liegt, glaube ich, der wunde Punkt des Armenwesens einer jeden großen Stadt, und hier ist die Stelle, wo wir Christen am meisten bei uns Einkehr halten sollen und uns die größten Vorwürfe machen müssen: Wir vergessen oft, daß nicht die Gabe an sich, sondern die liebevolle Art, wie man sie gibt, allein vermag, den Gegensatz zwischen arm und reich zu überbrücken. Wenn eine Armenpflegegesellschaft einem Bedürftigen eine Gabe übermitteln läßt, hat es immer, ich möchte sagen, etwas Kaltes und Gewerbsmäßiges; man spürt den Schlag des Herzens nicht. Darum gib nicht nur deine Gabe, sondern auch deine Person und dein Herz. Ich glaube aber, manche Personen, die wirklich gern selbst zu den Armen hingehen möchten, führen dies nicht aus, weil sie es nicht recht anzufangen wissen. Sie suchen zu weit und suchen so lange, bis sie die Lust und den Eifer verloren haben. Darum auch hier die Mahnung: Fang in deiner Umgebung an.Wir Stadtbewohner wissen nicht, was Nachbarschaft ist. Kalt und fremd, mit stummem Gruß gehen die Bewohner desselben Hauses aneinander vorüber. Nun möchte ich dich bitten: Halte doch Nachbarschaft mit den Armen der Giebelkammern und des Hinterhauses deiner Wohnung. Erkundige dich nach ihren Verhältnissen, geh doch an einem Sonntagnachmittag zu ihnen hinauf oder hinüber, sprich mit ihnen, daß sie Vertrauen zu dir fassen, und in kurzer Zeit hast du ein Arbeitsfeld gefunden, reicher als du es denken kannst, wo du Freude daran haben wirst, und wie von selbst wird sich dann dein Fuß auch nach den Orten des Elends hinwenden, die deiner Behausung ferner liegen. Für diese Gänge möchte ich dir noch eine kleine Mahnung mitgeben: Denk an dasWort: «Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb» [II Kor. 9,7].

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Fröhlich soll der Geber sein – und fröhlich soll auch manchmal die Gabe sein. Wir sind manchmal zu praktisch: Eine Dame, die sehr viel sich um Wohltätigkeit verdient machte, fand einmal, eine Familie sei der Unterstützung nicht mehr bedürftig, denn sie halte einen Kanarienvogel, und das gehe über das Notwendige hinaus. Sie bedachte nicht, daß dieser Vogel die einzige Freude eines gelähmten Kindes in der Stube war. Sei nicht so engherzig, und laß auch durch die Art deiner Gaben, besonders um die Zeit vonWeihnachten, etwas von dem Geist der Fröhlichkeit in die Stube der Armen kommen, die über die Sorgen um das unumgänglich Notwendige hinaushebt. Ich habe versucht, mit diesen kurzen Andeutungen euch zu zeigen, wie wir uns die irdischen Güter in den Dienst desReiches Gottes stellen können, jeder nach seinem Vermögen, wie wir mit diesen Talenten, die uns Gott gegeben hat, verfahren sollen. Die Gedanken, die ich hier ausgesprochen habe, liegen fern ab von der Erzählung vom reichen Jüngling, an die ich diese Betrachtung angeknüpft habe. Und doch verknüpft trotz der Ferne der Zeiten und trotz der Verschiedenheit der Verhältnisse ein Einheitsband unsere Betrachtung mit jener Erzählung: Der Gedanke des Reiches Gottes, das als Gegenstand unserer Hoffnung und unserer Arbeit der Maßstab unserer Beurteilung irdischer Verhältnisse und derVerwendung irdischer Güter ist.

Predigt Sonntag nachWeihnachten, 26. Dezember 1898, Günsbach

[Ohne Text: Die Kindheit Jesu]

Das Fest mit seinem Glanz liegt hinter uns, die Lichter des Tannenbaums sind ausgebrannt, der Glanz ist dahin. Wie nachjeder Stunde ungetrübter Fröhlichkeit ergreift uns ein Gefühl der Leere und der Öde, eine unaussprechliche Sehnsucht, den lichten Moment zurückzuhalten, der im Strome der Zeit unaufhaltsam an uns vorüberrauscht. Heute ist es aber nicht allein die Sehnsucht nach dem vergangenen Feste, das der ganzen nachfolgenden Zeit einen eigentümlich wehmütigen Zug verleiht, sondern es liegt dieser Stimmung hier eine besondere Tatsache zugrunde, die von jedem empfunden wird: Ich meine den Umstand, daß wir von der Kindheit Jesu wenig, eigentlich nichts wissen. So wird in uns das Bild des Kindleins in der Wiege unmittelbar, ohne Übergang, abgelöst von dem Bilde des in frischer Manneskraft in dieWirksamkeit tretenden dreißigjährigen Jesus. Wir möchten so gerne wissen, wie aus dem Kindlein der Mann geworden, wie das helle Kinderauge den ernsten Zug angenommen. Wir müssen darauf verzichten. Die Kindheit Jesu liegt für uns in tiefem Dunkel.

Die Kindheit Jesu

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Und doch ist dieses Dunkel, trotzdem wir über Jesu Jugendjahre gar nichts in den Evangelien erfahren, kein vollständiges. Wie ausder Ferne wird es manchmal für einen Augenblick blitzartig erleuchtet, so daß wir zwar nicht die Einzelheiten erfassen, aber doch die allgemeinen Umrisse ahnend zu schauen glauben. Wie das? Wenn wir einen Mann sehen, hart, nur auf sich selbst bedacht, lieblos gegen die Tiere, gegen die Armen, gegen die Kinder, dann wissen wir: Es fehlte ihm die sonnige Kindheit, keine Mutter herzte ihn, lehrte ihn Liebe, Mitleid zuüben gegen die arme Kreatur, die Kindheit ist ihm eine vergessene Zeit, kein holder Traum, der des Daseins trübe Stunden dir verklärt, dich veredelt und immer wieder antreibt, der verlorenen Reinheit nachzujagen. Dann sehen wir einen Mann, der mitten im Ernst des Lebens ein kindliches Gemüt sich bewahrt hat. Alle bitteren Erfahrungen haben ihn noch nicht zum Menschenfeind gemacht. Da wissen wir, ohne daß er es uns sagt: Du hast eine schöne Kinderzeit gehabt; die Liebe, die du übst, die hast du nicht von dir selber, die Mutter gab sie dir ins Herz, wenn sie nach desTages Arbeit dich auf ihre Knie nahm und deine kindlichen Fragen beantwortete. Wenn du freundlich dich der Armen und Kinder annimmst, Mitleid gegen die armen Tiere übst, auch dashast du empfangen, denn wer lehrte dich zuerst, der andern Schmerz begreifen? Wer lehrte dich beten, wenn nicht deine Mutter? Den Ernst der Arbeit, wo lerntest du ihn zum ersten Mal kennen, wenn nicht bei deinem Vater? Ging dir nicht auch bei ihm zuerst eine Ahnung auf, was treue Pflichterfüllung sei? So drückt die Kindheit unserm ganzen Leben ein unverlierbares Siegel auf. Gerade die edelsten Regungen leiten sich von den dort empfangenen Eindrücken ab. So fällt auch aus dem späteren Leben Jesu ein Licht auf seine Kinderzeit. In dem ernsten Auge liegt noch etwas von dem Glanz des heiteren Kinderblickes. Seine Jugend war eine glückliche, das zeigt sich in seiner Lehre und in seinem Leben. In seiner Lehre? Er bringt den Menschen die gute Botschaft vom Reich Gottes nicht in dunkler, schwerverständlicher Rede wie einst die Propheten, sondern in einfachen kindlichen Gleichnissen, wie einst wohl seine Mutter ihm die erste Belehrung erteilte, indem sie dieselbe in eine einfache Geschichte faßte. Dadurch, daß er dieWahrheit in einfache Geschichten faßt, erhält die Art Jesu, dasVolk zu lehren, etwasso Kindliches, so Natürliches undHerzliches. Dann aber sind es ganz besonders die bei diesen Gleichnissen verwandten Bilder, in welchen die Erinnerungen seiner Jugend, die ersten Eindrücke, die er empfangen, darstellen. Er will den Menschen zeigen, wie das Gottesreich langsam, aber stetig fortwächst: Er wählt das Bild einer Frau, dieTeig knetet zum Backen und ihn mit Sauerteig durchsäuert [Mt. 13,33]. Einst stand er als Kind neben der Mutter und sah neugierig ihrem Treiben zu, merkte auf, als sie ihm erklärte, was nun in dem

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Teig vorging, und jetzt verwendet er diese Kindheitserinnerung, um den Menschen göttliche Wahrheit in einfacher Gestalt darzubieten. Nehmen wir das Gleichnis vom Weibe und dem verlorenen Groschen [Lk. 15,8–10], das Gleichnis vom Leuchter, den man an sichtbarer Stelle aufstellt [Mt. 5,15 f.]. Wie schön und wie einfach tritt uns hier die Erinnerung an dashäusliche Leben entgegen. Auch wo dasin der Rede gewählte Bild nicht ausdem Familienleben entnommen ist, sondern mehr aus dem allgemeinen Natur- und Menschenleben stammt, hat es doch immer eine Gestalt angenommen, die durch den Zauber der Kindheitserinnerung gleichsam erst hindurchgegangen ist. Der König, der ein großes Mahl macht und seine Freunde dazu einlädt, nachher aber, als diese nicht kommen, in großem Zorn die Bettler auf den Gassen zusammenholen läßt, daß sie seine Gäste seien [Mt. 22,1– 14], das ist doch nicht ein König, wie er in der Wirklichkeit lebt, sondern wie er in den Geschichten lebt, welche die Mutter dem Kinde erzählte. Gerade darum wirken seine Gleichnisse – ich möchte fast sagen – anheimelnd auf uns, weil die einfache, kindliche Betrachtungsweise der Natur und der menschlichen Verhältnisse bei uns an die Erinnerung einer ähnlichen Kindes-Anschauung anknüpft. So kommt es auch, daß Jesu Gleichnisse nimmer veralten: Die Geschichte vom Schalksknecht [Mt. 18,23– 35], vom guten Hirten, der, um ein armes, verlorenes Schaf zu suchen, die ganze Herde verläßt [Lk. 15,4–7], von denVögeln, die sorglos in denTag hinein leben [Mt. 6,25– 34], das Gleichnis vom Baum, der keine Frucht bringen wollte [Lk. 13,6–9], und viele andere. Wir haben sie als Kinder vernommen, von der Mutter und in der Schule, und wenn wir sie jetzt wieder hören, zieht mit ihnen in unser Herz der längst verlorene Zauber kindlicher Einfalt ein, dasAndenken anjene Zeit, wo für uns Gleichnis und Wirklichkeit noch ineinander überflossen. Und so begreifen wir als Kinder die Geheimnisse desReiches Gottes. Man kann noch weiter gehen: Nicht nur die Form, in der Jesus das Evangelium verkündet, sondern auch der Inhalt trägt die Spuren der glücklichen Kindheit an sich. Das Neue in Jesu Verkündigung ist doch, daß wir Gott nicht fürchten, sondern vertrauensvoll lieben sollen, uns nur des Guten von ihm zu versehen. Nun zeigt er den Menschen Gott als ihren Vater. VonJoseph, Jesu Vater, wissen wir wenig. Es ist wahrscheinlich, daß Jesus ihn schon in der frühesten Kindheit verloren hat. Nun erhebt sich für den Mann Jesus auf dem dunkeln Hintergrunde frühester Erinnerung ein helles Bild, dasjeden menschlichen Makel abgestreift hat, das Bild seines Vaters, seiner gleichmäßigen Güte, seiner freundlichen Strenge; und nun leiht dieses in der Jugenderinnerung veredelte Bild die Farben zur Darstellung des gütigen Gottes für die Menschen: Gott ist ihr Vater.

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AlsJesus seine Jünger beten lehrt, läßt er sie nicht sagen: Allmächtiger Gott, Herrscher des Himmels und der Erden, König aller Könige, sondern ganz einfach: «Vater unser in dem Himmel» [Mt. 6,9]. So sollen sie wie Kinder ihm alle ihre Bitten vortragen, sicher, daß er sie erhört, zwar nicht immer, wie sie’s verstehen, aber ebensowenig wie einVater seinem Kinde, wenn es ihn um Brot bittet, einen Stein gibt, ebensowenig wird Gott, wenn wir ihn um etwas Gutes bitten, uns etwas Schlechtes dafür geben [Mt. 7,7– 11]. Und als bei dem heftigen Ringen in Gethsemane bei dem Gedanken an das Leiden bange Zweifel in ihm aufstiegen, da ist es der Gedanke an den himmlischen Vater, der sie zurückdrängt: «Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst» [Mt. 26,39]. Von jenem Augenblick in Gethsemane an ist es ruhig in ihm. Sein letztes Wort war: «Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist» [Lk. 23,46]. Dann fand er, von allem Erdenleid entrückt, Ruhe beim Vater. So wirkt in der Verkündigung Jesu wie in seiner ganzen Auffassung von seinem Beruf die Erinnerung einer glücklichen Kinderzeit nach, und es beruht darin ein großer Teil der Herzlichkeit und der Einfachheit seines Evangeliums. Nicht anders ist es mit seinem Verhalten: Er kennt das Mutterherz und kennt das Kinderherz. Er kennt das Mutterherz: Mild weist er dieJünger zurecht. DemWeib sagt er kein Wort desTadels. Die Mutter hatte für ihre Söhne eine Bitte vorgetragen [Mt. 20,20– 28]. Noch ein anderer Zug: Auf der Flucht vor den Pharisäern kommt Jesus in der Gegend von Tyrus und Sidon zum ersten Mal in heidnisches Gebiet. Ein Weib tritt ihm entgegen, ihn anflehend, ihr zu helfen: Sie hat ein krankes Kind. Jesus weist sie ab. Noch nie hat er sich mit Heiden abgegeben. Er glaubt, nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt zu sein. Da sieht er den übermenschlichen Glauben desWeibes, einen Glauben, den ihr nur die Liebe zu ihrem Kinde eingeben kann: Da schwindet vor diesem flehenden Mutterauge für Jesus die Scheidewand zwischen Israel und den Heiden. Er sieht nicht mehr das kanaanäische Weib, er sieht nur die sorgenvolle Mutter [Mt. 15,21–28]: Da steigt in ihm aus ferner Kindheit eine Erinnerung auf, was Mutterliebe ist. Er hilft demWeibe. So tritt in der entscheidenden Stunde, alsJesus schwankt, ob er auch Heiden helfen soll, die Erinnerung an die Kindheit, an Mutterliebe, schlichtend in den Zwiespalt ein: Er wird der Heiden Heiland. Immer sorgenvoller wird seine Lage, immer größer die Abneigung, der Haß seines Volkes gegen ihn. Immer mehr muß er einsehen, wie gering dasVerständnis seines Volkes für die wahre Einfachheit seines Evangeliums ist. Da sind es noch einmal die Kinder und die Mütter, die ihm beim Abschied ihre Teilnahme erweisen. Während er rastet, kommen Mütter mit ihren Kindern. Nun zieht er fort, aus Galiläa nach Jerusalem, schon in Vorahnung seines Todes. Sie haben gehört, er zieht nach Jerusalem. Da bringen sie ihm ihre Kleinen, daß er sie segne. DieJünger

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wollen ihnen wehren, sie möchten doch den Meister ruhen lassen. Er aber sprach: «Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes.» Und er herzte sie und küßte sie: Mild ruht sein Auge auf ihnen [Mt. 19,13 f.]. Er sollte sie nicht mehr sehen. Immer weiter geht der Zug nach Süden, dem Leiden entgegen. Doch bleibt die Erinnerung jener ergreifenden Stunde des Abschieds von den Kindern in Jesu Geist lebendig. In seinen Reden in diesen letzten Wochen kommt er immer darauf zurück. Die Jünger fragen ihn: Wer ist der Größte im Himmelreich? Er nimmt ein Kind, stellt es in die Mitte und sagt: So müßt ihr werden, dann seid ihr groß im Himmelreich. Wer eines dieser Kleinen aufnimmt in meinem Namen, der hat mich aufgenommen. Hütet euch, dem geringsten dieser Kleinen ein Ärgernis zu geben: Sie haben ihre Engel und die sehen meines Vaters Antlitz täglich [Mt. 18,10]. So atmen alle diese sonderbaren, herzlichen Reden Jesu auf der Reise von Galiläa nachJerusalem den Eindruck jenes Abschieds von den Kindern in Galiläa. Noch einmal lächelt ihm das Glück beim Einzug in Jerusalem, da mag er wohl mit wehmütiger Freude dem Hosiannageschrei der Kinder gelauscht haben. Es war der letzte freudige Augenblick in seinem Leben. So haben wir nun gesehen, wie die lichten Züge in dem sonst oft so düsteren Lebensbild Jesu den Schimmer der glücklichen Kinderzeit an sich tragen, wie der Eindruck seiner Kindheitserinnerungen seiner Lehre, seinem Verhalten zu den Menschen den herzlichen und anmutigen Zug verleiht, den keiner, der es einmal erkannt hat, mehr vergessen kann. Wenn dem so ist, möchte ich daran eine dreifache Ermahnung knüpfen: Das erste ist eigentlich eine Bitte: Daß nämlich, wer in diesen langen Winterabenden etwas Zeit hat – und Zeit findet sich doch immer, wenn man will – einmal eins unserer schönen Evangelien, den Markus oder den Matthäus oder den Lukas zur Hand nehme, es einmal durchlese, um sich hineinzuleben in das Leben unseres Herrn, und er diese Freude empfindet, wenn er das Leben Jesu von einer neuen Seite aus begreifen lernt. Das zweite: Ihr wißt, daß die katholische Kirche die Mutter Jesu undJoseph selig gesprochen, indem sie ihre Kindheit mit Sagen und Legenden ausgeschmückt hat und sie weit über die Menschen erhebt, ihnen fast göttliche Ehre erweist. Wir Protestanten können dies natürlich nicht annehmen. Dafür verfallen wir aber oft ins Gegenteil, daß wir die Mutter Jesu undJoseph gar nicht beachten oder gar verspotten. Und doch, wenn wir gesehen, welch einen nachhaltigen Einfluß die glückliche Kindheit, die Jesus bei ihnen verlebt hat, auf sein ganzes Leben ausgeübt hat, dann werden wir auch für seine Eltern Ehrfurcht, Achtung und Liebe empfinden, daß sie dem Kinde auf den schweren Weg

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eine so herrliche Gabe mitgeben konnten. So bleiben sie, wassie waren, einfache und treue Leute und stehen in unsern Augen doch höher, als wenn sie tausendmal heilig gesprochen wären. Und das dritte: Ihr Eltern, sucht, so weit es an euch liegt, daß auch eure Kinder einst aus dem Elternhause den unvergänglichen Schatz der Erinnerung an eine glückliche Kindheit mit ins Leben nehmen. Sorgt, daß ihre ganze Kindheit etwas von dem Duft der Weihnachten an sich trage. Seht, wenn auch die Lichter des Weihnachtsbaumes schon verlöscht sind, derWeihnachtsduft, der Geruch desTannenbaums hält noch lange an. So möge es auch einst bei euren Kindern sein: Wenn einst auch die lichte Zeit der Kindheit für sie längst vergangen ist, so mögen die dort empfangenen Eindrücke ihr ganzes Leben verklären und veredeln.

II.

Predigten desJahres 1899

1899¦1¿

I Kor. 15,53–57: [Auferstehung]¦2¿ Unser Text ist ein großer Lobgesang: Das Vergängliche ist verklärt in die Herrlichkeit, das Verwesliche ins Unverwesliche, und der Tod ist verschlungen durch das Leben. Die Zeit, in der wir stehen, läßt diesen gewaltigen Lobgesang in uns nachhallen: Von Auferstehung, von Leben verkündet uns der sprießende Halm, das Laub, das aus den Knospen hervorbricht, neue Hoffnung und neue Zuversicht predigt die schneeige Blüte und der leuchtende Himmel, murmelt der eilende Bach, singt der Vogel in der Luft. Welcher Mensch, und wäre er noch so trübselig, wäre er noch so vergrämt, fühlt jetzt nicht für einen Augenblick sich gleichsam aus dem Alltagsleben herausgehoben durch ein freudiges Gefühl, eine Sehnsucht, ein Hoffen tief im Herzen drin? Auferstehung predigt die Natur, Auferstehung aus demTod zum Leben. Das Grün, dasüber den Gräbern sprießt, es ist eine Predigt, die die Menschen zu allen Zeiten vernommen, und die auch diejenigen verstehen undverstehen wollen, die sonst der Predigt fernbleiben. Wir sagen Gott Dank, daß er in der herrlichen Natur zu uns redet von Leben und Auferstehung – aber wir sagen ihm zugleich Dank, daß er nicht nur so zu uns geredet hat, sondern daß unsere christliche Hoffnung auf Überwindung des Todes sich nicht nur auf dieser Frühlingspracht, diejedes Jahr uns erfreut, aufbaut. «Das Gras verwelkt, und die Blume verdorrt» [Jes. 40,7]: Die Pracht, die wir sehen, vergeht. Unsere Hoffnung aber auf Auferstehung geht auf Unvergänglichkeit.

1 [Das Manuskript hat keine weiteren Angaben zu Datum und Ort. Vom Inhalt her gehört die Predigt in die Osterzeit, von der Form her nach Günsbach.] 2 [Denn dies Verwesliche muß anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche muß

anziehen die Unsterblichkeit. Wenn aber diesVerwesliche wird anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche wird anziehen die Unsterblichkeit, dann wird erfüllt werden dasWort, dasgeschrieben steht: »Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?» Aber der Stachel desTodes ist die Sünde; die Kraft der Sünde aber ist dasGesetz. Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesus Christus!]

Auferstehung

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Worauf gründet sich aber unsere christliche Hoffnung auf Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit? Worauf gründet sich unsere Zuversicht, daß wir jubelnd miteinstimmen können: «Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle wo ist dein Sieg?» (V. 55) Die christliche Unsterblichkeitshoffnung geht auf unsern Herrn Jesus Christus zurück. Warum geht sie auf ihn zurück? Wie ist nun die Auferstehung Christi für uns der Grund der Gewißheit unserer eigenen Auferstehung und unseres ewigen Lebens? Ist es die Tatsache allein, daß er

auferstanden ist? Ich glaube nicht. Setzen wir einmal den Fall, wir wüßten von Jesus nichts, als daß er nach seinem Tode wieder zum Leben auferstanden ist – würde uns das die Gewißheit unserer eigenen Auferstehung geben? Nein. Es würde sie uns ebensowenig geben, wie wenn mitten im Winter unsere Frühlingserwartung sich darauf gründen sollte, daß es einmal Frühling geworden, daß einmal ausdesWinters Schnee und Eis die kahlen Bäume zu sprossendem Leben erwacht sind, daß einmal blühende Matten erstanden, daß einmal der Bach dasEis gesprengt. Fürwahr, arm wären wir in unserer Auferstehungshoffnung, so arm wie jene Menschen, denen man so vom Frühling erzählte, wenn wir nicht mehr wüßten, als daßJesus Christus von den Toten auferstanden

ist. Nicht ein Entrinnen eines einzelnen aus dem Tod, sondern ein Sieg über den Tod muß stattgefunden haben, wenn unsere christliche Auferstehungshoffnung bestehen soll. Dies ist der Fall: Uns ist der Sieg gegeben durch unsern Herrn Jesus Christus. Der Sieg über den Tod! Dieser Sieg fand statt nicht allein in Christi Auferstehung, sondern diese Auferstehung erhält für uns ihre wirkliche Bedeutung erst, weil sie am Ende eines Lebens steht, welches an sich schon eine Überwindung des Todes ist, weil es ein Kampf gegen die Sünde und ein Sieg über dasÜbel war. Tod und Leben im christlichen Sinn sind nicht Ereignisse, die am Schluß dieses irdischen Daseins eintreten, sondern sie sind nur der Abschluß eines Lebens zum Tod oder eines Lebens zur Unvergänglichkeit. Das Leben zum Tod ist das Dasein, in welchem die Sünde zur Herrschaft gelangt, ein Leben zur Unvergänglichkeit ist ein Dasein, in welchem die Sünde überwunden wird. «Der Stachel des Todes ist die Sünde!» (V.56) So ist Christus für uns der Lebensfürst nicht nur, weil er aus Todesbanden zum Leben erwachte, sondern weil er in seinem Leben, in dem Sieg über die Sünde, denTod überwunden hat; was nachher dieJünger geglaubt und gesehen, das war der Triumph des schon errungenen Sieges.

80 Predigten desJahres 1899

Warum ist also Christus der Lebensfürst, der Herr über den Tod? Weil er schon im Leben hienieden denTod überwunden hat. Nicht auf seine Auferstehung allein, sondern auf seine Auferstehung als dem Abschluß seines in der Sünde denTod überwindenden Lebens gründet sich unsere Hoffnung, daß auch wir einst aus den Banden der Verwesung zum Leben befreit werden. Aus diesem Dasein zum Leben einzugehen – welch unendliche Sehnsucht enthält dieser Wunsch. Es ist ein Gedanke, der sich aufdrängt, wenn sich die Gruft über einem Leben schließt, das uns teuer gewesen ist, es ist ein Ruf nach Erlösung dessen, der hinsiecht, es ist aber auch das innerste Sehnen dessen, der mitten im Schaffen undin derTätigkeit steht wie der Apostel Paulus: «DasVerwesliche muß anziehen das Unverwesliche, dies Sterbliche mußanziehen dieUnsterblichkeit» (V 53). Wie kann dasVerwesliche ins Unverwesliche übergehen? Ich könnte euch hier ein Gleichnis aus der Natur bringen. Zwischen Herbst und Frühling liegt noch etwas anderes als der kalte, starre Wintertod: Es entsteht nicht ein Leben, wo keines war, sondern das verborgene Leben bricht hervor. Wenn im Herbst die Blätter fallen, dann stehen die Bäume kahl und ohne Leben da. Aber wenn du näher schaust, siehst du, daß diese Leblosigkeit nur scheinbar ist und daß in dem Augenblick, wo das letzte Blatt zu Boden flattert, der Baum schon die ganze Pracht des nächsten Frühlings in sich trägt. Wo ein Blatt abgebrochen, da steht eine Knospe, unscheinbar und klein, aber sie nimmt zu, sie wächst unter dem Novembersturm, sie wächst unter dem Dezemberschnee, sie wächst unter demJanuarfrost, die Februarsonne und die Märzlüfte lassen sie sich immer mehr entfalten. Sie wächst, sie wächst, bis die Hülle bricht, und die Pracht, die unter Schnee und Eis geboren und im Frühlingssturm erstarkt, sich entfaltet und Hoffnung und Jubel wiederbringt. Aber wozu dieses Gleichnis ausder Natur? An sich bedeutet es nichts, erst aus der Gewißheit, die wir durch Christus haben, wird es uns klar. Wie seine Auferstehung zum Leben nur der Abschluß eines denTod im Kampf wider die Sünde überwindenden Daseins war, so soll auch unser irdisches Dasein eine Vorbereitung und eine Entwicklung sein zu dem unvergänglichen Leben, zu dem wir uns aus dieser Vergänglichkeit sehnen, so daß sich schon hier die Knospe entwickle, die einst sich zur

Herrlichkeit entfalten soll. Das innerste Wesen der christlichen Hoffnung auf Unsterblichkeit, wodurch sie sich von jeder anderen Hoffnung auf Unvergänglichkeit unterscheidet, liegt darin, daß sie das ewige Leben nicht als etwas rein Zukünftiges betrachtet, sondern als etwas, an dem wir arbeiten, solange wir hienieden sind. Keine Kluft trennt unser jetziges Dasein von jenem unvergänglichen Dasein, sondern wenn dies Verwesliche wird anziehen das Unverwes-

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liche, und dies Sterbliche wird anziehen die Unsterblichkeit, dann wird erfüllt werden dasWort: «Der Tod ist verschlungen in den Sieg.» So ist die Unsterblichkeit für uns nicht nur eine Hoffnung, sondern ein Ziel unseres Strebens und unserer Arbeit.¦3¿ Wir gehen zum Leben ein, indem wir die Sünde in uns überwinden, dasLeben unseres Herrn Jesus in uns nachleben. 1.) Ein Nachahmen seines Wandels. Man unterschätzt gewöhnlich die Bedeutung eines hohen Beispiels, eines Ideals, dem wir nachstreben sollen. Wir wollen die Bedeutung desBeispiels Jesu, desIdeals seines Lebens nicht überschätzen und nicht unterschätzen. Schon die Tatsache allein, daß es einmal auf dieser Welt ein Dasein gegeben, welches rein und fleckenlos war, welches nur Schönes, nur Edles, nur Gutes kannte und wollte – schon diese Tatsache allein sollte für uns ein Ansporn und eine Hilfe sein, danach zu streben, auch ein solches Leben zu leben. Wie reich schon diese Tatsache des auf Heiligung gerichteten Lebens Jesu uns macht, wird erst dann klar, wenn wir uns nur für einen Augenblick vorstellen wollten, wir wüßten von diesem Leben nichts, wir hätten kein Beispiel, an dem der freche Spott derjenigen, deren Sinn im irdischen Genuß aufgeht und für die es ein Höheres nicht gibt, zuschanden werden muß. 2.) Aber darin erschöpft sich die Bedeutung des zur unvergänglichen Heiligkeit strebenden Lebens Jesu für uns nicht (Hinweis auf Gott etc.: Liebe, Gnade). 3.) Wir können es nur unvollkommen erreichen: Das Leben, nach dem wir streben, ist stets gehemmt durch Sünde. Und doch müssen wir, wenn wir richtig kämpfen wollen, Siegesgewißheit haben. Diese besitzen wir: «Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat.» Gott wird das, was wir nicht ausführen können, verklären. Ihm vertrauen wir uns an, daß er einst unser Verwesliches zur [Unverweslichkeit wandeln wird].¦4¿

Morgenpredigt Sonntag, 20. August 1899, [Günsbach]¦5¿

[Ohne Text: Gedanken zur Erntezeit]

Wir sind jetzt in der Zeit, wo man fühlt, daß es bald Herbstzeit wird: noch nicht der Herbst mit Sturm und Regen, sondern die wehmütig schöne Abschiedsstunde des Sommers. Schau genau zu: Die Bäume ver3 [R] Unser Leben ist ein Kampf, ein Lauf um den Preis [II Tim. 4,7]. 4 [R] Geheimnis, dasbleibt, sich dann löst. 5 [Da Schweitzer an diesem Sonntag nicht im Plan von St. Nicolai steht, hat er diese Predigt wohl in Günsbach gehalten. Auch vom Inhalt her liegt dieser Schluß nahe.]

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färben sich schon, und am Abend steht ein leichter Nebel auf den Bergen. Der Sommer scheidet. Auch die Felder: In dieser Woche ist die Ernte heimgebracht. Die letzten Garben sind, von der lieben Sonne getrocknet, vom Felde verschwunden, und in der Scheune hört man den lustigen Takt der Drescher. Wenn du nun heute an deinem kahlen Getreidefeld vorübergehst, kommen dir manche Gedanken. Sicherlich zunächst ein freudiges Gefühl der Freude, daß nun alles in der Scheune geborgen ist. Es ist das erste Mal dieses Jahr, daß du mit einer Freude, in die keine Sorge sich hineinmischt, die Felder überblicken kannst. Zuerst, als noch der Same im Schoß der Erde lag, da hieß es: Geht er auf? Hat ihm die Kälte nichts geschadet? Dann zeigten sich die ersten Hälmchen: Es sprosste empor, und da kam wieder die Sorge: Wird es nicht zu trocken, oder leidet die Frucht nicht unter dem Regen? Sie gedieh weiter, zugleich aber auch das Unkraut in dem Acker. Wird es nicht zu viel überhandnehmen? Doch nein, das Feld steht sauber; schwer neigen sich die Ähren. Doch atmet dasHerz noch nicht auf. Überall liest man von schweren Gewittern mit Hagel, von Gemeinden, wo die ganze Ernte in den Boden hineingeschlagen ist; wenn dann in heißer Nachmittagsstunde dunkle Wolken hinter unsern Bergen aufsteigen, so bringen sie zugleich die Sorge: Wird unsere Ernte verschont werden? Und siehe, es ging alles vorüber. Unter Sorgen und Hoffen reiften die Ähren: Sie fielen unter der Sichel. Kein Regen schadete der geschnittenen Frucht, und nun ist alle Sorge zu Ende, bis wir das nächste Jahr vom Augenblick der Aussaat bis zur Ernte wieder dieselben Gefühle durchleben und so alle folgenden Jahre. Von hier aus möchte ich euren Blick auf etwas anderes lenken: Wenn beim Anblick unserer Felder solche Gedanken in uns aufsteigen, gehen deine Gedanken da nicht manchmal auch etwas weiter? Mußt du nicht manchmal an jemand denken, der in seinen Reden immer und immer an [solche] Gedanken angeknüpft hat? Was wir am Altar und der Kanzel gelesen haben, zeigt dir, wasich meine: Den Herrn Jesus und seine Gleichnisse. Ich muß mir oft selber sagen, die ganze Schöne und Tiefe der Reden Jesu kann nur der Landmann verstehen. Jesus lebt so in den Gedanken des Landmanns, er kennt seine Sorgen und Freuden, man sieht, er hat immer mit Landleuten gelebt und zu ihnen gesprochen, so daß, wer das Säen nicht kennt, auch die innerste Schönheit der Gedanken Jesu nicht kennt. Wie soll z. B. ein Stadtkind, dasnie ausden dumpfen Straßen herausgekommen, nie ein Kornfeld mit Kornblumen, nie die Raben hungrig auf den Schollen herumhüpfen hat sehen, Jesus voll verstehen, wenn er von Unkraut im Acker und von den hungrigen Raben, die, wenn sie auch nicht säen und ernten, der himmlische Vater doch nährt, spricht?

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Ist es dir noch nie aufgefallen, wie sehr, wenn man die Reden und Gleichnisse Jesu liest, seine enge Stellung zum Leben des Landmanns hervortritt, wie jedes Wort an einen bestimmten Gedanken seiner ländlichen Zuhörer anknüpft. Im Gange der Natur, in dem Säen, Wachsen und Ernten des Getreides können wir den Spuren des Lebens unseres Herrn folgen, als wären wir mit ihm durchs Land gezogen. Nur zwei Jahre seines Lebens kennen wir, nur von zweiJahren, wo er die Frucht keimen und die Ähren sprießen und die Garben auf dem Felde sah, [wissen wir], und doch steht uns dasalles so klar vor Augen. Es war zur Erntezeit, da stand am Ufer desJordans eine ernste Gestalt, um ihn die Schar der Bußfertigen. Auf den Feldern lag dasGetreide geschnitten, und auf den Tennen wurde schon gedroschen. «Er hat seine Wurfschaufel in der Hand: er wird seine Tenne fegen und denWeizen in seine Scheune sammeln; aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feuer» [Mt. 3,12]. So sprach der letzte Prophet von dem Messias, der kommen sollte: Unter der Menge stand Jesus von Nazareth, der als Messias sterben sollte. Dann trennten sich dieWege desTäufers und des Herrn. Er lebte einsam in der Wüste, sich für seinen Beruf vorbereitend. Als der Täufer gefangen genommen war, trat er hervor und zog zum See von Galiläa, indem er predigte, das Reich sei da. Der Winter war vorüber, es war Frühjahr, die Zeit der Aussaat. Er saß am Ausgang eines Dorfes, seine Jünger undviele Leute um ihn. Auf dem Felde in der Ferne sah man die Landleute beim Aussäen. Was er sahwurde ihm zum Bilde von der Predigt des Reiches Gottes. «Es ging ein Sämann aus, zu säen» [Mt. 13,1–8] – so erzählte er ihnen dieses wundersame Gleichnis. Man meint gewöhnlich, daß dieses Gleichnis etwas Trauriges enthalte, daß nur ein geringer Teil von denen, die die Reich-Gottespredigt hören, sie auch aufnehmen. Ich glaube, es liegt ihm ein freudigerer Gedanke zugrunde. Jesus spricht von dem Ackerland in Galiläa: Bald ist es steinig, bald dornig, manche Körner kommen am Weg um, so sollte man meinen, daß von der Saat nicht viel Frucht kommt; und doch sagt Jesus: Das aber, was auf guten Boden fällt, das bringt dreißigfältig, sechzigfältig und hundertfältig Frucht, und es gibt eine herrliche Ernte. So genügt auch die Predigt eines Mannes, um trotz mancher Widerstände etwas so Großes wie dasReich Gottes zustande zu bringen. So ist das Gleichnis vom Sämann freudig und heiter wie der Sonnenschein, der auf den frischen Furchen spielt. Die Aussaat war vorüber, man harrte, daß das Korn aufginge. Noch zeigte sich nichts. AuchJesus harrte, daß die ersten Spuren des Gottesreiches, das er gepredigt hatte, sich zeigen sollten. Da sprach er das schöne Gleichnis vom Landmann, der nach der Aussaat ruhig zu Hause

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sitzt, ohne Sorge das Aufgehen der Saat erwartend. «Das Reich Gottes hat sich also» etc. [Mk. 4,26– 29]. Es ist ein wenig beachtetes und doch so wundervoll kindliches Gleichnis, voll zuversichtlicher Hoffnung. Die Saat ging auf, das Getreide kam in die Halme; auch der Same der Predigt vom Reich Gottes ging auf: Jesus erfuhr die anhängliche Zuneigung der einfachen Landleute von Galiläa. Es war die schönste Zeit seines Lebens: Der galiläische Frühling, wie sie ein Gelehrter einmal genannt hat. In diese Zeit fallen die Seligpreisungen der Bergpredigt [Mt. 5,3– 12], in diese Zeit die schönen Worte gegen die weltliche Sorge. Auf die munteren Vögel deutend sagte er: «Seht die Vögel unter dem Himmel an»und auf die Blumen des Fel... [Mt. 6,25– 34]. des hinweisend «Schaut die Lilien auf dem Felde»... In dieser zuversichtlichen Stimmung konnte ihn der Widerstand, der sich schon hier und da ankündete, nicht betrüben: DenJüngern, die sich darüber entrüsten und sich grämen, predigt er hoffnungsvolle Geduld: Er zeigt ihnen, wie in dem aufstrebenden Getreide manches fremde Gras sich eingenistet hat. Es ist nicht die Schuld des Sämanns, sondern der Weltlauf. Er reißt es nicht heraus, um nicht das Getreide mit zu beschädigen, erst bei der Ernte läßt sich die Sonderung vornehmen. Es ist das Gleichnis vom Unkraut auf dem Acker. Die Knechte kommen zum Herrn und sprechen: Auf deinem Feld ist Unkraut, und du hast doch nur guten Samen gesät. Wir wollen es gehen ausreißen. Da sprach der Herr zu ihnen: Nein, auf daß ihr nicht auch denWeizen ausraufet. Wartet bis zur Ernte. Dann will ich den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und verbrennt es; denWeizen sammelt mir in die Scheuer [Mt. 13,24–30]. So sagt auch Jesus zu seinen Jüngern: Urteilt jetzt noch nicht, ihr könntet manchem, den ihr für einen Feind des Reiches Gottes anseht, unrecht tun.Wartet, bis es an der Zeit ist. DasGetreide hatte verblüht, unddieÄhren wurden schwer; schon richtete man die Sichel und fragte sich, ob man auch Arme genug habe, den Schatz zu bergen. Da war auch die Zeit des Reiches Gottes gekommen. «Die Ernte ist groß, derArbeiter wenig. Bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter aussende in seine Ernte» (Lk. 10,2). So sprach er und sandte seine Jünger aus, zu predigen: Das Reich Gottes ist da. Die Ernte des Gottesreiches war groß: Noch stand das Korn auf den Feldern, da kamen sie zurück aus den Dörfern von Galiläa und berichteten ihm, wie die einfachen Landleute die Predigt aufgenommen. Es war eine schöne Zeit. Wie Jubel bricht es aus den Worten Jesu: «Ich preise dich, Vater und Herr des Himmels und der Erde, daß du solches denWeisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen geoffenbart» [Mt. 11,25]. Aber mit der Ernte war auch das Unkraut gereift. VonJerusalem kamen Schriftgelehrte gezogen, um der neuen Predigt Jesu Einhalt zu tun

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und zu prüfen, ob er auch das Gesetz richtig lehre. Die herrliche Ernte, dieJesus so beglückt hatte, gab den ersten Anlaß zu den Feindseligkeiten. Es war am Sabbat. Sie zogen durch ein Erntefeld: DieJünger zogen die reifen Ähren aus dem Boden, um im Weitergehen durch die Körner den Hunger zu stillen. Das war am Sabbat verboten. So warfen die Pharisäer Jesus vor, er lehre seine Jünger den Sabbat mißachten [Mt. 12,1–8]; auf die erste Anklage folgten bald andere, immer schärfer, immer drohender: Die Landleute, dieJesus so gern aufgenommen, wurden mißtrauisch gegen ihn, seitdem die Schriftgelehrten gegen ihn waren. – Als der Herbst kam, mußte Jesus fliehen nach Norden. Der Wind fuhr über die Stoppeln, als er mit ihnen gegen Tyrus zog [Mt. 15,21]. Es stimmte dies zu der Wehmut Jesu. Der Messias muß leiden, damit das Reich Gottes komme – er begriff es damals, während es die Jünger noch nicht verstanden. Er blieb denWinter im fremden Land; und als der Frühling kam, da machte er sich auf, durch Galiläa nach Jerusalem zu ziehen. Wieder zog er durch die Gegend, wo er vor einem Jahr so glücklich gewesen war. Wieder sah er die Landleute die Felder bestellen; aber er zog still seine Straße: Sein Mund öffnete sich nicht zu den frohen Gleichnissen wie früher. Er traf einen Jüngling, der den Acker pflügte; er wollte ihm nachfolgen, nur noch seine Saat bestellen und Abschied nehmen. Jesus lächelte wehmütig: «Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes» [Lk. 9,62]. DerJüngling blieb zurück, und er zog weiter. Er konnte die Freude der Landleute nicht

mehr mitfühlen. Wir kennen nur ein Gleichnis aus dieser Zeit: Es ist traurig und herb. Ich meine das Gleichnis vom Landmann, der für die vielversprechende Ernte neue Scheunen bauen will, um Vorrat für die Zukunft zu haben. Und Gott sprach zu ihm: «Du Narr! diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und wes wird’s sein, das du bereitet hast?» [Lk. 12,20]. Das war der Abschied Jesu von den prangenden Feldern Galiläas. Bald umfing ihn der Lärm der großen Stadt Jerusalem. Nach ein paar Wochen schleppten sie ihn nach Golgatha zur Kreuzigung. Das sind die Züge des Lebens unseres Herrn Jesus, die sich an das Aussäen und dasWachsen und Ernten des Feldes knüpfen. Spärlich und düster für das letzte Jahr seiner Wirksamkeit, zeigen sie uns ihn in dem ersten Jahre seiner galiläischen Zeit in vollem Glück und heiterer Zuversicht. Ich glaube, die freudige Stimmung, die uns im Rückblick auf dieses Erntejahr erfüllt, muß uns doppelt empfänglich machen für die Schönheit und dasheitere christliche Zuvertrauen, welches sich in den Gleichnissen Jesu ausspricht; daß er uns hierdurch näher trete, wir ihn mehr lieben lernen. Gott gebe es.

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Nachmittagspredigt Sonntag, 20. August 1899, Günsbach

I Petr. 3,18–4,6: [Das Leiden Jesu]¦6¿ Der heute aus dem Petrusbrief verlesene Abschnitt ist sehr schwer zu verstehen. Der Hauptgedanke des ganzen Briefes, der überall wiederkehrt, ist folgender: Jesus hat als Mensch für uns im Fleisch gelitten: Also müssen auch wir die Leiden, die uns begegnen, geduldig tragen, denn auch sie gehören zur Vollendung unserer christlichen Seligkeit. Das ist ein sehr schöner Gedanke des Apostels. An diesen Gedanken schließen sich nun in dem schwierigen Abschnitt ein paar andere an, wo wir den Fragen begegnen, die für die ersten Christen im Vordergrund allen Interesses standen, wenn sie auch uns, wenigstens in dieser Form, etwas fremd geworden sind durch dieVeränderung der Zeiten. Die erste Frage, welche den Christen überall entgegengehalten wurde, betraf den Herrn Jesus: Wie kann er noch leben, wenn er doch unter dem Schmerzensruf am Kreuze gestorben ist? Und daneben der Gedanke, daßJesus noch lebt. Und da sagten die Christen: Ja, dem Fleische nach ist er gestorben, aber dem Geiste nach lebt er. Die zweite Frage, die ihnen vorgehalten wurde von ihren heidnischen Genossen und die sie sich im Hinblick auf ihre verstorbenen heidnischen Eltern oder Verwandten selbst stellten, betraf die Seligkeit der vor Jesu Kommen Verschiedenen. Wenn nur durch Jesus die Seligkeit gebracht ist, so sind alle vor ihm Gestorbenen verdammt und unschuldig verdammt! So kam man auf den Gedanken, daßJesus nach seinem Tode als Geist den Geistern der vor ihm Gestorbenen gepredigt habe, damit 6 [Sintemal auch Christus einmal für unsre Sünden gelitten hat, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führte, und ist getötet nach dem Fleisch, aber lebendig gemacht nach dem Geist. In demselben ist er auch hingegangen und hat gepredigt den Geistern im Gefängnis, die vorzeiten nicht glaubten, da Gott harrte und Geduld hatte zu den Zeiten Noahs, da man die Arche zurüstete, in welcher wenige, das ist acht Seelen, gerettet wurden durchs Wasser; welches nun auch uns selig macht in derTaufe, die durch jenes bedeutet ist, nicht dasAbtun desUnflats am Fleisch, sondern der Bund eines guten Gewissens mit Gott durch die Auferstehung Jesu Christi, welcher ist zur Rechten Gottes in den Himmel gefahren, und sind ihm untertan die Engel und die Gewaltigen und die Kräfte. Weil nun Christus im Fleisch für uns gelitten hat, so wappnet euch auch mit demselben Sinn; denn wer am Fleisch leidet, der hört auf von Sünden, daß er hinfort, was noch übriger Zeit im Fleisch ist, nicht der Menschen Lüsten, sondern demWillen Gottes lebe. Denn es ist genug, daß wir die vergangene Zeit des Lebens zugebracht haben nach heidnischem Willen, da wir wandelten in Unzucht, Lüsten, Trunkenheit, Fresserei, Sauferei und greulichen Abgöttereien. Das befremdet sie, daß ihr nicht mit ihnen laufet in dasselbe wüste, unordentliche Wesen, und sie lästern; aber sie werden Rechenschaft geben dem, der bereit ist, zu richten die Lebendigen und dieToten. Denn dazu ist auch denToten dasEvangelium verkündigt, auf daß sie gerichtet werden nach dem Menschen am Fleisch, aber im Geist Gott leben.]

Das Leiden Jesu

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auch sie sich für die Seligkeit entscheiden könnten; besonders dachte man an die Menschheit, welche nach dem alten Testament durch die Sintflut umgekommen sein sollte. Darauf spielt derApostel in den Versen 19 und 20 an. Daran knüpfte sich eine dritte Frage, deren Beantwortung im Sinne der ersten Christen wir hier finden. Wenn die Taufe, wodurch man in die Christenheit aufgenommen wird, der Anfang der Seligkeit ist, so muß eine erlösende Kraft in dem Wasser liegen. Wie geht das zu? Da verglich man das Taufwasser mit demWasser der Sintflut: Wie durch dasWasser der Sintflut die Menschheit ins Verderben kam, so wird sie durch dasWasser der Taufe gerettet zur Seligkeit. Das Wasser der Sintflut ist eine Vorbedeutung auf die Taufe. Wie dort nach der Sintflut Gott einen Bund schloß, so hat er auch durch denTod und die Auferstehung Jesu mit uns einen Bund geschlossen. So ist Vers 21 zu verstehen. Dies sind die Gedanken dieser schwierigen Verse. Sie gehören zu den dunkeln Stellen in der Schrift. Die Fragen, die sie bewegen, gelten auch noch für uns. Denn auch uns steigen die Fragen auf: Was ist aus denen geworden, die vor Christus gestorben sind, und wie kann die Seligkeit an die Benetzung mit Wasser geknüpft sein? Ich glaube, wir brauchen uns die Antwort hierauf nicht ausden dunklen Worten des Apostels herauslesen, sondern dürfen auf den zurückgehen, auf den der Apostel selbst immer verweist: auf den Herrn Jesus im Fleische. Er hat keine Reden über diese Fragen gehalten, aber doch durch seine Lehre uns Beruhigung über solche Zweifel gegeben. Durch ihn wissen wir, daß Gott, der die Menschen schafft, der Gott der Liebe ist. Da glaube ich, dürfen wir alsChristen ruhig sagen: Gott hat keinen Menschen, auch die vor Christus nicht, zumVerderben erschaffen. Er läßt keine Seele zugrunde gehen. Diese Zuversicht dürfen wir haben; undwenn uns der HerrJesus nicht gesagt hat, wie er dies tut, welcheWege er einschlägt, dann dürfen wir darüber nicht nachgrübeln, sondernVertrauen zuGott haben. Ebenso steht esmit den Gedanken über die Taufe: Die Benetzung derKinder mitWasser bei derTaufe ist dasZeichen, daß Gott sie, wie unser Herr Jesus verheißt, als seine Kinder annimmt. Darüber wollen wir froh sein, undauch hier nicht nachgrübeln. So sind diese beiden Fragen zusammen durch die eine Zuversicht gelöst: Gott ist unser Vater. Durch diese Zuversicht werden sie auch noch in anderer Weise verbunden. Warum scheuen sich so viele Menschen, auszusprechen, daß durch die Güte unseres himmlischen Vaters kein Mensch zum Verderben bestimmt sein kann, sondern als seine Kinder alle zur Seligkeit berufen sind? Ich glaube, weil sie fürchten, dadurch die Bedeutung und den Ernst des christlichen Lebenswandels herabzusetzen, indem jeder Mensch, gleichviel wie er gelebt hat, zuletzt zur Seligkeit kommen soll. Damit werde die Gerechtigkeit Gottes zunichte gemacht.

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Ich glaube, solche Gedanken kann man nur haben, wenn man nicht bedenkt, was es heißt, Gottes Kind zu sein. Die Gerechtigkeit Gottes ist nicht zur Strafe, sondern wie die eines Vaters zur Erziehung. Die Gerechtigkeit Gottes ist seine Liebe. Wer wirklich durch die Taufe sich als Kind Gottes weiß, der wird aber auch nicht auf die Liebe Gottes pochend ein nichtchristliches Leben führen, sondern er soll immer bedenken, Kind Gottes sein ist nicht nur eine Gnade, sondern auch eine Aufgabe: Wir sollen leben und arbeiten als Kinder Gottes. So verbinden sich die Hoffnung auf die alle Menschen umfassende Liebe Gottes und der christliche Lebensernst in dem Gedanken derVatergüte Gottes. Wer dies einmal ergriffen hat, wer Gott durch Jesus gesehen hat, der wird diese kindliche Erkenntnis höher stellen als die dunklen Verse des Apostels. Auch hier gilt uns zum Troste dasWort: «DerJünger ist nicht größer als der Meister» [Joh. 13,16], derApostel nicht größer als der Herr Jesus.¦7¿

Morgenpredigt Sonntag, 17. September

1899,¦8¿ [Günsbach]¦9¿

Koh. [1,2: Alles ist eitel]¦10¿ Alles ist eitel – das ist der Grundgedanke des Buches aus dem Alten Testament, dessen wichtigste Abschnitte ich euch am Altar vorgelesen habe. Es liegt ein Zug von Müdigkeit, von Schwermut in seinen Gedan7 [R] Hieran möchte ich noch eine Mahnung knüpfen für Bibellesung. 8 [R] (A ce sermon Marie Jaëll était à l’église). [A. Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, in: Werke Bd. I, S. 37–39: [«Bei Widor – der michjetzt umsonst unterrichtete – trieb ich Orgel und bei I. Philipp, der bald darauf als Lehrer ans Konservatorium kam, Klavier. Zugleich warich Schüler dergenialen Schülerin Franz Liszts, Marie Jaëll-

Trautmann, einer geborenen Elsässerin. Ausdem Konzertleben hatte sie, die kurze Zeit als ein Stern erster Größe geglänzt hatte, sich damals schon zurückgezogen. Sie lebte ihren Studien über den Klavieranschlag, den sie physiologisch zu ergründen suchte. Ich diente ihr alsVersuchstier und war schon als solches an den Experimenten beteiligt, die sie zusammen mit dem Physiologen Féré unternahm. Wieviel verdanke ich dieser genialen Frau! [...] Unter Marie Jaëlles Leitung arbeitend, habe ich meine Hand völlig umgestaltet. Ihr verdanke ich es, daß ich durch zweckmäßiges, wenig zeitraubendes Üben immer mehr Herr meiner Finger wurde, was auch meinem Orgelspiel sehr zustatten kam. Philipps Unterricht, der sich mehr in den traditionellen Bahnen der Klavierpädagogik bewegte, bot mir ebenfalls außerordentlich viel und bewahrte mich vor den Einseitigkeiten derJaëllschen Methode. Da meine beiden Lehrer gering voneinander dachten, durfte keiner von ihnen wissen, daß ich auch Schüler des andern war.Was mußte ich mir für Mühe geben, morgens bei Marie Jaëll à laJaëll und nachmittags bei Philipp à la Philipp zu spielen!»] 9 [Angaben über den Ort fehlen, doch ist an Günsbach zu denken, da der Kirchenbote Schweitzer an diesem Sonntag nicht alsPrediger in St. Nicolai aufführt.] 10 [R] Verglichen mit Röm. 8,38 f.

Alles ist eitel

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ken; wenn ich dieses Büchlein lese, so schaut mir immer das Bild der Zeit entgegen, in welcher es geschrieben wurde, und es ist mir, als ob aus ferner Zeit ein tiefer Seufzer wie ein Klagelied einer müden Menschheit zu uns herüberdringt. Um diese trübe Stimmung, welche aus diesem Büchlein spricht und die traurige Lebensweisheit, welche es lehren will, recht begreiflich zu machen, muß man sich in die Zeit zurückversetzen, in der es geschrieben wurde. Das jüdische Volk war aus der babylonischen Gefangenschaft zurückgekehrt und hatte begonnen, die Stadt wieder aufzubauen. Ein tiefer Ernst waltete in dem Häuflein, welches auf dem Schutt und Trümmerhaufen sich zusammengefunden hatte, um das neueJerusalem wieder aufzurichten. Die geborstenen Säulen und die brandgeschwärzten Mauertrümmer führten eine stumme aber gewaltige Predigt: Es war die Predigt eines Micha, eines Jesaja, eines Jeremia, welche inmitten der letzten schweren Kämpfe, welche Jerusalem gegen die Heere der Assyrer führte, aufgestanden waren und verkündigt hatten, daßJerusalem zugrunde gehen müsse, weil dasVolk die Gebote Gottes nicht halte und nicht auf Gott vertraue, daß aber einst ein Volk erstehen würde, welches gottesfürchtig wandle, für welches das Reich der messianischen Herrlichkeit mit einem neuen prächtigen Jerusalem kommen werde. Nun war der erste Teil der Predigt erfüllt – Jerusalem lag in Trümmern; der Haufe derVerbannten, welcher zurückgekehrt war, hatte nun das neue Jerusalem zu begründen, hatte nur eine Hoffnung, in der das Herz in allen Mühsalen Ruhe finden konnte – dasGesetz. Wenn wir das Gesetz halten, dann muß Gott uns belohnen, dann muß die schöne Zeit anbrechen.

Da kam der Schriftgelehrte Esra aus Babylon und brachte ein Buch, in dem alle Gesetze aufgezeichnet waren, die dasVolk fürderhin bewahren sollte. Er las es vor, und alle gelobten, dieses Gesetz zu halten. Und sie haben es gehalten und noch verschärft. Die erwartete Herrlichkeit blieb aus; anstelle des alten Tempels erhob sich ein roher Notbau aus Holz; bei der Einweihung desselben weinten die alten Leute, die den herrlichen salomonischen Tempel noch gesehen hatten; es kamen düstere Tage für das neueJerusalem: Wieder brauste der Krieg durchs Land.

Jerusalem war zinspflichtig, und dasVolk verarmte unter den drückenden Abgaben. Die Geschichte Jerusalems in dieser Zeit wurde wieder zur Leidensgeschichte. Je größer aber die Not, desto ängstlicher klammerte man sich an das Gesetz. Wenn Gott seine Weissagungen noch nicht erfüllt hat, wenn das herrliche Reich noch nicht kommt, so liegt es daran, daß das Gesetz noch nicht streng genug gehalten ist. So verschärfte man das Gesetz, man legte es nach dem strengsten Sinne aus. Es traten die Schriftgelehrten auf, welche wollten die Gerechten im Lande sein. Es lag eine finstere Energie, etwas Fieberhaftes in dem Handeln der Gemeinde. Sie trugen

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das Gesetz, sie sanken darunter zu Boden, und noch immer blieb die Herrlichkeit aus. Ein Geschlecht nach dem andern war ins Grab gesun-

ken. Da brach die Energie und die Kraft – es war etwa 200 Jahre vor der Geburt Christi. Es kam eine stille Verzweiflung über das Land; man hielt noch das Gesetz, aber man hoffte nicht mehr. Mit der Hoffnung war die Lebensfreude geschwunden. Warum quälen sich die Menschen? So fragte man sich. Warum mühen sie sich ab? Wo ist die göttliche Gerechtigkeit? Wir sind dasVolk, das seine Gesetze hält, und wir leiden; die andern Völker, die gottlos wandeln, die kommen zur Macht, ihre Städte erheben sich herrlich, undJerusalem steht öd. Und wie für die Völker, so ist es auch für den einzelnen; der Gerechte, der sich unter dem Gesetz abmüht, hat Unglück im Leben, und dem Frevler, der sich um das Gesetz nicht kümmert, geht es gut! Wo bleibt die Erfüllung der Verheißung, daß der Gerechte gute Tage sehen wird? Und zuletzt, nach all diesem Erdenelend, kommt derTod und holt sie beide, den Gerechten und den Ungerechten, und dann sind sie nicht mehr, und ihre Hoffnung ist dahin, denn das Gesetz verspricht nur für dieses Leben, und wasnachher kommt, wer weiß es? Wozu dann aber all dieses Elend, wozu die Mühe? Wozu sind wir denn überhaupt auf derWelt? Undje mehr man nachdachte, je mehr die Weisheit sich geltend machte, desto mehr trat diese Frage in den Vordergrund: Wozu sind wir da? Und desRätsels Lösung wurde nicht gefunden! So wird unser Dasein etwas Unbegreifliches und unser Leben eine Folge von Ereignissen, von Lust und Leid, von Glück und Unglück, in welchem kein Plan sich zeigt; alles, was wir tun und was wir erfahren, vollzieht sich nach dem Gesetz, nach welchem alles in der Welt geschieht, nach welchem dasWasser ins Meer läuft, um von dort wieder alsWolken aufzusteigen und als Regen auf die Erde zu fallen; dann findet es sich wieder zu Bächlein zusammen, die Bächlein zu Flüssen, die Flüsse zu Strömen, welche ins Meer fließen – und das Spiel geht wieder von vorn an. So vollzieht sich in ewigem Kreislauf das Geschehen: Bald ist Frühling, bald Herbst, Tag und Nacht wechseln miteinander, Völker vergehen und entstehen, die Blätter grünen und fallen welk zu Boden – und bei dem allem verstehen wir nur eins: Daß alles im Wechsel begriffen ist, aber wir wissen nicht warum. So ist es auch mit den Menschen: Sie werden geboren, sie leben, sie sterben, nach ein paarJahren sind sie vergessen, als ob sie nie gelebt hätten! Alles Irdische vergeht, und nichts ist beständig: Das war die Erkenntnis, welche injener Zeit zur Geltung gelangte, nachdem die Hoffnung, durch Halten der Gesetze werde Gott seinVolk herrlich machen, aufgegeben worden war. Und diese Einsicht nannte man Weisheit, und man verbreitete diese Einsicht in den Schriften. Da lebte auch ein Mann, einWeiser, der hatte

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viel nachgedacht und viel erfahren in seinem Leben, und als er am Schluß seines Daseins auf das Vergangene zurückschaute und mit der Ruhe und dem Sinn des Greises alles würdigte – da erkannte er, daß alles eitel sei; und als er sich fragte, wie aus dieser Erkenntnis man sein Leben einrichten müsse, da wußte er nur eine Weisheit: Suche, rechtschaffen zu sein und das Leben zu genießen – aber hoffe nichts, denn alles ist eitel, und das höchste Glück ist, diese Eitelkeit einzusehen und sein Herz an nichts zu hängen, sich nie zu freuen, um nachher kein Leid zu erleben. Und nun ging er daran, den Ertrag seines Lebens aufzuzeichnen und am Abend seines Lebens diese Gedanken niederzuschreiben. Um die Nichtigkeit aller Herrlichkeit und aller Hoffnungen darzutun, legte er sie in den Mund desjenigen, dessen Namen als des weisesten, frömmsten und glücklichsten Herrschers im Volke derJuden galt – in den Mund desKönigs Salomo. So legte er dem glücklichsten Menschen dieWorte über die Vergänglichkeit alles Irdischen bei. Er läßt ihn in den ersten Kapiteln erzählen von seiner Herrlichkeit, von seinem Reichtum, um nach der Schilderung dieser Herrlichkeit die Eitelkeit alles Irdischen desto mehr hervor-

zuheben. So entstand diese Schrift, der Prediger Salomo, nicht ausder glänzenden, kraftvollen Zeit des Nachfolgers Davids, sondern aus der traurigen jüdischen Zeit vor Henoch. Warum habe ich euch nun geschildert, aus welcher traurigen Zeit heraus diese Schrift erwachsen ist und welches die Gedanken sind, die sie enthält? Ich habe dasgetan, weil ich selbst, so oft ich diese Schrift zur Hand bekomme, mich fragen muß, ob diese Gedanken noch für uns als Christen passen? Ob wir in ihnen unsere Überzeugung wiederfinden können? Ich denke auch, manchem unter euch ist es schon so ergangen. Es ist ja wahr, diese wehmütigen Gedanken, daß alles nur entsteht, um zu vergehen, daß nichts beständig sei als der Wechsel, stimmt oft mit unseren Gedanken überein, wenn wir niedergeschlagen sind. Aber ist die Art, wie diese Überzeugung in dem Prediger Salomo ausgedrückt ist, wirklich fromm? Stimmt sie auch mit unserer christlichen Frömmigkeit zusammen? Ich glaube nicht! Es fehlt ihr dazu ein Doppeltes: die Erkenntnis der Pflicht aus Liebe und das Gottvertrauen. Es fehlt das Gefühl der Pflicht. In diesem Büchlein findest du auf keiner Federzeile, daß dasLeben da sei, um glücklich zu machen, und weil es nicht glücklich, weil alles vergänglich ist, darum dieTrostlosigkeit. Er kennt nur den Genuß, nicht die Arbeit. Der Mensch, der hier spricht, kennt nur sich, nicht die andern. Das Wort, daß man barmherzig sein soll, Milde üben, das doch auch sonst im Alten Testament erscheint, kennt er nicht. Darum ist das Leben für ihn so leer und öd – sein Herz ist kalt geblieben. Wir Christen denken anders: Wohl sehen auch wir, daß alles Irdische vergänglich ist, aber diese Erkenntnis macht

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uns nicht unglücklich, denn wir erwarten von dem Leben etwas anderes als irdischen Genuß allein. Wir wollen nicht genießen, wir wollen arbeiten; in unserem Inneren fühlen wir eine Pflicht. Jeder Christ hat eine Aufgabe im Leben: Darin liegt sein Halt. Jede Arbeit wird für uns ein christlicher Beruf, ob wir als Gelehrte, als Pfarrer, als Lehrer, als Fabrikarbeiter, alsTagelöhner [tätig] sind. Darin besteht der Wert unseres Lebens, daß wir arbeiten und unsere Pflicht erfüllen. Diese hohe Würdigung der Arbeit könnten wir nicht haben, wenn wir allein immer an uns denken würden, christlich wird unsere Arbeit, wenn wir an die andern denken. Jeder arbeitet für seinen Kreis: Die Mutter im Gedanken an ihre Kinder, derVater für seine Familie, manche dürfen ihre Kraft der ganzen Menschheit widmen, der Lehrer für dieJugend, der Pfarrer für die Gemeinde, alle, die wir hier sind, arbeiten, jeder in seinen Grenzen, für den Fortschritt der Menschheit. Nur durch diese Arbeit bekommt unser Leben einen Ernst und einen Sinn: Wir brauchen nicht zu fragen wie der Prediger, warum wir auf derWelt sind, wir preisen nicht die glücklich, die nie geboren sind, sondern wir wissen, daß wir auf dieser Welt sind, jeder, um eine bestimmte Pflicht zuerfüllen. Aber auch so werden wir oft verzweifelt werden, wenn unsere Arbeit nicht gelingt, wenn Not und Kummer heranbricht, dann haben wir aber etwas, was auch dem Prediger Salomos fehlt: Gottvertrauen. Für ihn ist Gott dasWesen, dasblindlings Glück und Unglück verteilt, ohne Ansehen auf Würdigkeit. Wir aber wissen, daß Gott, der uns in diese Welt gesetzt hat, damit wir eine Pflicht erfüllen, uns auch die Kraft gibt, sie zu erfüllen. Der Prediger Salomo kennt kein wahres Gottvertrauen, denn er kennt keine Pflicht, keine Arbeit. Es klingt merkwürdig, aber je mehr man darüber nachdenkt, je wahrer wird der Satz: Wer nicht arbeitet, wer nicht lebt als, der eine Pflicht erfüllt, der kann auch kein wahres

Gottvertrauen haben. So stehen wir Christen hoch über dieser Weisheit, welche in trauriger Zeit ein Büchlein des Alten Testaments dem König Salomo in den Mund legt. Wir wissen zwar auch, daß alles auf derWelt vergänglich ist, aber wir fühlen uns schon in dieser Welt über diese Vergänglichkeit erhaben durch das Ziel und die Pflicht, welche das Leben für uns hat, und das Gottvertrauen, welches wir als Arbeiter am Reich Gottes haben dürfen. So sehen wir zurück auf die Weisheit dieses Büchleins, wie auf die Weisheit einer lang vergangenen, unglücklichen Zeit; und wenn wir dieses Büchlein durchlesen, so ist es nur, um dank dem Gegensatz, in dem es mit unserer christlichen, glücklichen Lebensauffassung steht, unser Glück als Christen voll zu begreifen. Und wenn wir es zuschlagen, wenn wir die Klagen und die Mattigkeit dieses Weisen des Alten Bundes vernommen, dann richten wir unser Auge aufJesus, der uns das

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neue Glück in derWürdigung unseres Daseins gebracht hat, der uns gelehrt hat durch sein Leben und Leiden, daß der Mensch nicht auf der Welt ist, um zu genießen, sondern um denWillen des himmlischen Vaters in der Pflicht seines Daseins zu erfüllen, der uns Kraft gegeben hat, dies Dasein zu tragen, indem er uns dasVorbild kindlicher Gottergebenheit bis in den Tod gegeben. «Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden» [II Kor. 5,17].¦11¿

Nachmittagspredigt Sonntag, 17. September 1899, [Günsbach]¦12¿

I Petr. 5:¦13¿ [Ermahnungen]¦14¿ Wir haben uns gewöhnt, die Briefe im Neuen Testament als Schreiben anzusehen, bei welchen die Schreiber sich bewußt waren, für die ganze 11 [R] Geschrieben an einem Herbsttag in großer Müdigkeit, kurz vor der Abgabe meiner Arbeit über Kant. 15. Sept. 99. [A. Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, in: Werke Bd. I, S. 36–44: «Auf Zuraten Theobald Zieglers beschloß ich, zunächst die philosophische Doktordissertation in Angriff zu nehmen. Am Schlusse des Semesters schlug er mir, bei einem unter dem Regenschirm gehaltenen Gespräch auf derTreppe der Universität, Kants Religionsphilosophie alsThema vor, was mir sehr zusagte. [...] Die Dissertation erschien noch 1899 als Buch unter dem Titel «Die Religionsphilosophie Kants von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft».] 12 [Da diese Predigt die Fortsetzung derjenigen vom 20. August 1899 bildet, wurde sie

in Günsbach gehalten.]

13 [R] Schluß der Behandlung des Petrusbriefes. 14 [Die Ältesten, so unter euch sind, ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden, diein Christo sind, undauch teilhaftig derHerrlichkeit, dieoffenbart werden soll: Weidet die Herde Christi, die euch befohlen ist, und sehet wohl zu, nicht gezwungen, sondern willig; nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund; nicht als die übers Volk herrschen, sondern werdet Vorbilder der Herde. So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Ehren empfangen. Desgleichen, ihrJüngeren, seid untertan den Ältesten. Allesamt seid untereinander untertan undhaltet fest ander Demut. Denn Gott widersteht denHoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. So demütiget euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, daß er euch erhöhe zu seiner Zeit. Alle eure Sorge werfet auf ihn; denn er sorgt für euch. Seid nüchtern und wachet; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, welchen er verschlinge. Dem widerstehet, fest im Glauben, und wisset, daß ebendieselben Leiden über eure Brüder in derWelt gehen. Der Gott aber aller Gnade, der uns berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christo Jesu, der wird euch, die ihr eine kleine Zeit leidet, vollbereiten, stärken, kräftigen, gründen. Ihm sei Ehre und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. Durch euren treuen Bruder Silvanus (wie ich achte) hab ich euch ein wenig geschrieben, zu ermahnen und zu bezeugen, daß dasdierechte Gnade Gottes ist, darin ihr stehet. Es grüßen euch, die samt euch auserwählt sind zuBabylon, undmein Sohn Markus. Grüßet euch untereinander mit dem KussderLiebe. Friede sei mit allen, diein Christo Jesu sind! Amen.]

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Christenheit, für ewige Zeiten zu schreiben. Wir vergessen oft darüber, daß es wirkliche Briefe sind, daß sie an eine bestimmte Gemeinde gerichtet waren, daß sie bestimmte Fragen, die gerade jene Gemeinde angingen, behandeln. Dies kann man wirklich über dem Lesen mancher Briefe vergessen: Ich denke hier gerade an den großen Brief an die Römer.Wenn man dann aber an dasletzte Kapitel kommt, da kommen die persönlichen Aufträge, da kommen die besonderen Mahnungen an einzelne Glieder der Gemeinde, die oft mit Namen genannt werden, da wird gefragt, wie geht es diesem, wie geht esjenem, da kommen Grüße von und an mit Namen genannte Personen, da spricht der Schreiber des Briefes von einem baldigen Wiedersehen. – Mit allem diesem kommt einem zu Bewußtsein, daß das, waswir gelesen haben, wirklich ein Brief ist, datritt uns durch kleine Äußerungen die Person des Briefschreibers oder die Personen der Empfänger entgegen, man meint, die Leute vor sich zu sehen; die Apostel werden für uns lebendige Menschen, denen wir ins Herz sehen. Besonders ist dies bei den Schlüssen der Briefe desApostels Paulus der Fall. In einem Briefe, dem 1. Thessalonicher,¦15¿ schreibt er am Schluß: «Den Gruß habe ich mit eigener Hand geschrieben und unterzeichne, Paulus. Das ist das Zeichen in allen meinen Briefen; also schreibe ich!» [II Thess. 3,17]. Durch diese kurze Note tritt uns die Gestalt des Paulus so lebenswarm entgegen: Er hat den Brief diktiert und gibt nun selbst eine Probe seiner Schrift. Es ist das erste Mal, daß er den Thessalonichern schreibt und will ihnen seine Schrift zu erkennen geben: Er hat im geheimen Angst, daß einmal einer in seinem Namen ihnen einen Brief schreiben könnte, der nicht von ihm ist. Nehmt dazu den Schluß des Galaterbriefes, des Römerbriefes, der Korintherbriefe, welch eine Fülle von Grüßen, von kleinen Nachrichten, von persönlichen Zügen! Durch diese kurzen Bemerkungen wissen wir allein etwas über das Leben der Gemeinden in jener ganz frühen Zeit. Unser Brief schließt nicht wie die Briefe desPaulus mit vielen persönlichen Bemerkungen, Kommissionen, würden wir sagen. Das versteht sich von selbst: Er ist ja nicht an eine einzige Gemeinde gerichtet, in der der Schreiber die Leute persönlich kennt, sondern er wendet sich an die ganze Christenheit. Wie das vorzustellen, weiß ich nicht. Vielleicht lag eine Liste bei wegen Gemeinden. Es ist ja nur ein Mahnwort an die ganze Christenheit in Galatien, auszuharren im Leid im Aufblick auf dasLeiden unseres Herrn. So zittert dieser Grundgedanke des Brie-

15 [Schweitzer zitiert hier aus dem Gedächtnis und verwechselt zwei ähnliche Briefstellen. I Kor. 16,21 heißt es: «Ich, Paulus, grüße euch mit meiner Hand.» Und ihnen hat Paulus zum ersten Mal geschrieben. Die oben angeführte Stelle aber stammt aus II Thess. 3,17.]

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fes auch in dem Briefschluß nach undbildet den Segensspruch desApostels: «Der Gott aller Gnade, der uns berufen hat...» Die Christen leiden zu der Zeit. Was das für Leiden waren, wissen wir nicht: Wir wissen überhaupt so wenig ausjener ersten Zeit. Waren es Verfolgungen, die in Kleinasien ausgebrochen waren? Doch scheint die ganze Christenheit zu leiden: «Wisset, daß ebendieselben Leiden über eure Brüder in derWelt gehen.» Mir will es immer scheinen, als ob das, worauf der Apostel hier anspielt, keine blutigen Verfolgungen, wie wir sie uns gewöhnlich vorstellen, gewesen seien, sondern mehr Anfeindungen durch Wort und Schrift, ein böses Verhalten zu den Christengemeinden, auf die man jetzt erst aufmerksam wurde. Vielleicht suchte man an ihnen böse Nachrede, man forschte über ihr Leben aus, ob man nicht etwas gegen sie finden könnte. Darum sagt der Apostel: «Seid nüchtern und wachet: Euer Widersacher, derTeufel, geht umher wie ein

brüllender Löwe.» Aus einer Zeit, die wahrscheinlich doch etwas später ist als dieser Brief, haben wir ein Schreiben von einem asiatischen Statthalter namens Plinius an den Kaiser Trajan, welches uns einen Einblick gewährt in die Art, wie die Christen von ihren Mitbürgern böswillig beobachtet und angezeigt wurden. Er schreibt dem Kaiser, daß viele Anzeigen gegen eine neue Sekte, die sich Christen nennen, bei ihm einlaufen; er selbst finde an diesen Leuten nichts auszusetzen: Es wären stille, ruhige Bürger, die ihrem Handel nachgingen, jeden Morgen sich zu Gebet und Psalmen versammelten. Sie würden aber angezeigt von ihren Mitbürgern, daß sie der Kaiserstatue, die göttlich verehrt wurde, keine Ehrerbietung leisteten, waseine strafbare Tat sei. Nun fragt der Statthalter, was er in diesen Fällen machen sollte. Der Kaiser antwortet, man solle die Christen in Ruhe lassen, sie nicht verfolgen, aber wenn gegen einen eine Klage einlaufe, solle man sehen, ob es sich so verhalte und ihn danach bestrafen! Derart, glaube ich, werden auch die Widerwärtigkeiten gewesen sein, von denen der Apostel hier redet. Deshalb bezieht sich auch seine Ermahnung auf Zustände in der Gemeinde, die vielleicht dem bösen Gerede der Feinde Nahrung geben könnten. Es handelt sich um dasVerhältnis der Gemeinde zu ihren Ältesten und derÄltesten zu ihrer Gemeinde. Damals gab es noch keine angestellten Pfarrer, sondern die Christen, die zuerst bekehrt worden waren, oder die älteren Leute standen der Gemeinde vor und leiteten sie. Doch scheint es, daß bald diese Vorsteher für ihre Mühen oder dafür, daß sie ihre Häuser zur Versammlung hergaben oder für die Zeit, die sie verloren, entschädigt wurden. In diese vorgerückte Zeit scheint die Ermahnung zu passen, daß sie nicht um schändlichen Gewinnes willen, sondern von Herzensgrunde ihr Amt sollten verwalten, und daß sie nicht gezwungen, sondern willig die Herde Christi weiden sollen.

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Das Vorsteheramt war damals schon ein hohes Ehrenamt geworden, und so hat der Schreiber des Briefes Angst, oder es sind schon manche Klagen gekommen, daß manche Vorsteher werden möchten, um hochgestellt zu sein und Ehre zu haben, darum ruft ihnen der Apostel zu, daß dieVorsteher nicht über dasVolk herrschen sollen, sondern Vorbilder sein. Die Ehre bezieht sich nicht auf ihre irdische Laufbahn, sondern erst im Jenseits sollen sie Kronen empfangen: unverwelkliche Kronen der Ehren. Die Jungen in der Gemeinde ließen es an Demut fehlen: Darum ermahnt sie der Schreiber, den Ältesten untertan zu sein, gegeneinander selbst nicht herrisch zu sein, sondern demütig. «Gott widersteht den Hoffärtigen, den Demütigen gibt er Gnade.» Alle ermahnt er zur Demut, indem er ihnen zeigt, wie sie alle einen Höheren über sich haben, Gott, vor dem am Tage der Erlösung alle gleich sind. Diese Ermahnungen sind freundlich und sanft gehalten. Ein schöner Trostspruch schließt sie ab: «Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er wird’s wohl machen.» Nun kommen noch ein paar Bemerkungen: Er hat den Brief geschrieben, um zu ermahnen und zu bezeugen, daß dies die rechte Gnade Gottes ist, in der ihr steht. Hier muß man wieder bedenken, welches der Hauptgedanke des Briefes ist: Im Leiden zeigt sich die Christenheit. Der Brief sollte ihnen zeigen, daß, wenn sie auch Anfechtungen erdulden, sie doch nicht irre werden sollen an der Gnade Gottes: Das sei die Gnade Gottes, die rechte, daß er sie durch kurze Trübsal zur Herrlichkeit führen werde. Diesen Brief hat er durch Silvanus, den ehemaligen Begleiter des Apostels Paulus geschrieben. Noch ein anderer Begleiter des Paulus wird erwähnt: Der Johannes Markus, welcher den Paulus und Barnabas auf der ersten Missionsreise begleitet hatte und sie dann verließ, was ihm Paulus nie verziehen hat, und nach Jerusalem zurückging. Nun kommt ein Gruß von der Gemeinde, aus der der Apostel schreibt: «die auserwählt sind zu Babylon». Hier fragt sich, ob der Brief von Babylon, wo wir sonst keine Christengemeinde kennen, geschrieben ist. Schon die alten Kirchenväter meinten, daß es unter den Christen ein Name für Rom, die große heidnische Weltstadt, war. Dann würde also derApostel von Rom aus schreiben? Diese Frage ist noch nicht entschieden: Wir wollen sie ruhig den Gelehrten überlassen, deren Pflicht es ist, alle, auch die kleinsten Fragen, sorgfältig zu untersuchen undihreWissenschaft in den Dienst der Kirche zu stellen. Mit einem letzten Friedensgruß schließt der Brief. So wollen auch wir von diesem Schreiben Abschied nehmen. Es ist weniger bewegt, weniger leidenschaftlich als die Briefe desPaulus, aber es weht ein stiller, ernster Zug durch seine Worte: Wenn es der Apostel Petrus ist, wie überliefert wird, der ihn geschrieben hat, so müssen wir den feurigen Felsenmann aus den Evangelienaussagen für einen Augenblick beiseite setzen und in dasmilde, ruhige Gesicht eines Greises schauen.

Bist du, derda kommen soll?

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Noch hätte ich eine Bitte: Wir haben jetzt dieses Schreiben miteinander betrachtet. Ich hoffe, daß durch die Erklärungen das Schreiben euch vertrauter und bekannter geworden ist als vorher, ein lieber Freund. So bitte ich euch: Legt es nicht für lange Zeit beiseite, sondern wenn die Arbeit ruht, nehmt es wieder zur Hand und lest es von Anfang bis zu Ende durch; so werden unsere Nachmittagsbetrachtungen auch in Zukunft dazu beitragen, an den Schriften des Neuen Testaments euch in die Fragen und dasWesen des Christentums zu versenken. Wir Pfarrer haben auf der Kanzel nur einen Beruf, wozu unsere Wissenschaft dient: euch lehren, die Bibel zuverstehen und liebzugewinnen.

[Morgenpredigt]16 Sonntag, 17. Dezember 1899, St. Nicolai

Mt. 11,2–6: [Bist du, der dakommen soll?]17 Heute ist der dritte Adventssonntag. Wir rücken derWeihnachtszeit näher. Es ist wirklich Winter geworden. Auch unser Text führt uns näher an dieWeihnachtszeit heran als die Evangelien der beiden vergangenen Sonntage. Die Gestalt des Vorläufers Christi begegnet uns. Es ist aber nicht der Prediger der Wüste mit seinem zuversichtlichen Hinweis auf den kommenden Messias. Ein gefangener, gebrochener Mann sendet zu Jesus am See Genezareth und läßt ihn fragen: «Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?» Ich möchte meinen, daß der Ruf desTäufers amJordan eine Adventsbetrachtung gebe: «Bereitet dem Herrn den Weg und machet seine Steige richtig» [Mt. 3,3]. Was soll aber diese Frage des Gefangenen in unserer Adventsfreude? Widerspricht nicht gerade diese Frage, obJesus der ist, der da kommen soll, den Gefühlen, mit denen wir die Weihnachtszeit herannahen sehen? Ich glaube nicht, sondern gerade dieser Text paßt ganz zu unseren bisherigen Adventsbetrachtungen. Am ersten Adventssonntag zeigte uns unser Text das Bild des einziehenden Friedensfürsten. Das Evangelium des vergangenen Adventssonntags führte uns die Gestalt des Messias als Weltrichter vor.Wir konnten beide Bilder unseres Heilands nicht vereinen. Wir mußten uns entscheiden. So drängten wir das apokalyptische 16 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer die Morgenpredigt in St. Nicolai gehalten.] 17 [Da aber Johannes im Gefängnis die Werke Christi hörte, sandte er seiner Jünger zwei und liess ihm sagen: Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Gehet hin und saget Johannes wieder, was ihr sehet und höret: die Blinden sehen, und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, und die Tauben hören, die Toten stehen auf, und den Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, der sich nicht an mir ärgert.]

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Bild des gewaltigen und schreckhaften Messias als Weltrichter zurück. Wir schlossen die Augen davor wie vor einer riesenhaften Gestalt, welche gespensterhaft auf dunkeln Schneewolken sich abhebt; wir wandten uns ab, um in das wohlbekannte, liebevolle Antlitz Jesu zu blicken. Die Entscheidung ist uns leicht geworden, denn vonJugend auf kennen wir nur dasMessiasbild mit den liebevollen Zügen. Um dieselbe Entscheidung handelt es sich in unserm heutigen Text. Johannes hat den Messias, der zum Gericht kommen wird, verkündigt. Nun muß er sich entscheiden, ob nicht Jesus von Nazareth, dessen Kunde zu ihm gedrungen ist, der Messias ist. Ihm wird die Entscheidung nicht so leicht wie uns. Er kann nicht das Auge verschließen vor der Messiasgestalt, die zum Gericht in den Wolken des Himmels erscheint, sondern diese Gestalt lebt in ihm: Ihr galt seine Predigt. Nun soll er sie Stück für Stück aus seinem Herzen herausreißen, um dasBild des Fürsten der Liebe in sich aufzunehmen, des Fürsten der Liebe, den er nicht kennt. Diese Wahl, die uns heute so leicht wird, bildet das Schicksal der letzten Monate des Lebens desTäufers. Er ist uns fremd, wir wissen nicht viel von ihm durch unsere Evangelien. Wir gehen gewöhnlich an ihm vorüber. Er steht uns nicht nahe. Und doch: Hast du schon bedacht, was im Herzen dieses Mannes vorgehen mußte, welche Kämpfe er durchleben mußte, bis er sich dazu entschloß, zwei von den letzten Getreuen, die ihm geblieben und die am Tor seines Gefängnisses harrten, zu dem Propheten am See Genezareth zu schicken und zu fragen: «Bist

du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?» Noch war es nicht lange her, es war in der Erntezeit, da stand er am Jordan. Er verkündigte die Nähe desWeltgerichtes: «Schon ist die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum, welcher Baum nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen» (Mt. 3,10– 12). Von dem, der dieses Gericht vollziehen sollte, verkündete er: «Er hat seine Wurfschaufel in seiner Hand; er wird seine Tenne fegen und den Weizen in seine Scheune sammeln, aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feuer.» Das war der Messias, den er verkündete. Nun schleppten sie ihn ins Gefängnis. Der rastlose Geist wurde auf die Bergfeste Machärus gebannt. Er war einsam. Und als er einsam war, da überkam es ihn, daß er immer einsam gewesen. Einsam war er unter den Menschen gestanden, denn er verstand das Menschliche an ihnen nicht. Hatte er esje bedacht, daß die Männer, die um ihn her in der Wüste waren, zu Hause Kinder hatten, die darbten, weil dasHandwerk desVaters ruhte? Hatte er die vonTränen geröteten Augen desWeibes gesehen, dessen Gatte von der Bußpredigt gefesselt amJordan zu seinen Füßen saß? Und wenn er es bedacht hätte, und wenn er es gesehen hätte, er hätte keine Antwort gefunden; oder doch – er hätte ihnen gesprochen

Bist du, der da kommen soll?

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vom kommenden Gericht und von dem, der da kommt in denWolken

des Himmels. Und wenn er die Kranken und die Leidenden sah, dann sprach er vom Gericht, gerade so wie er zu den Üppigen und Reichen vom Gericht sprach. Ja, den Reichen galt seine Predigt: Fliehet die Lust der Welt, tut Buße, denn euer Gericht naht. Was aber hatte er für die Armen gehabt, deren mühseliges Leben eine tägliche Buße gewesen, die unter der Last des Gesetzes zusammenbrachen? Nichts. Was hätte er für einen Gefangenen gehabt, der einsam in dem Dunkel schmachtete wie er jetzt? Nichts. Ja, nicht erst in seinen Banden war er einsam geworden, er war es gewesen, als er mitten unter demVolke stand. Einsam war er damals, aber er hatte es nicht gefühlt: Er erwartete den, der das Gericht vollziehen sollte – und er blieb aus. Der Frühling war gekommen, der Sommer ging ins Land. Da drang durch die Mauern seines Gefängnisses die dunkle Kunde von Jesus von Nazareth. Er predige am See Genezareth vom Reich Gottes, er predige von der Liebe der Menschen untereinander, er heile die Kranken, er gehe mit den Verachteten und Sündern, und den Armen predige er das Evangelium. Er nehme ihnen dasJoch des Gesetzes ab, er predige ihnen von dem Vater im Himmel, der sie als seine Kinder aufnehme. Er sage zu ihnen: «Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht» [Mt. 11,28–30]. So predige er, und seine Jünger habe er ausgeschickt, daß sie dieses Reich Gottes predigten in den Städten Galiläas. Und das Volk sage, er sei der Messias! Dieser sei der Messias – sollte es möglich sein? Wo blieb dann der richtende und zerstörende Messias, den er gepredigt und den er erwartet? Zuerst konnte er es nicht fassen; dann aber dämmerte es in ihm auf. Er wollte Gewißheit haben vor dem Tod. Was er für Kämpfe durchgemacht, bis er sich entschloß, dieJünger, die wenigen Getreuen, zu ihm hinzuschicken, dasvermag niemand zu sagen. Der Mund, der es erzählen könnte, ist verstummt. Sie gingen fort, und er blieb allein. Wir wissen, wie dieJünger zuJesus kamen, während er allein war nach der Aussendung der Zwölf. «Die Blinden sehen, und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, und dieTauben hören, dieToten stehen auf, und den Armen wird dasEvangelium gepredigt» (Mt. 11,5). Es ist die Zusammenfassung seines ganzen Wirkens. Er ist nicht einsam, er steht mitten drin im menschlichen Leben, er wendet sich an die Leidenden und Armen, und das Gericht, das er ausübt, besteht darin, wohl zu tun, zuheilen und zu trösten. HatJesus, als er so sein Wirken den Abgesandten desJohannes zusammenfaßte, geahnt, was im Innern desjenigen vorging, der sie mit der

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Frage an ihn gesandt hatte? Ich glaube sicherlich. Sonst hätte er nicht dasWort hinzugefügt, das man in dieser Antwort so oft übersieht und das doch das schönste daran ist: «Und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert» [Mt. 11,6], das heißt, der nicht irre wird an mir. Es ist nicht ein warnender Zuruf, es ist ein Trostwort. Der Warnung bedarf er nicht, dennJesus redet von ihm als demVorläufer. «Selig sind – selig sind», so hatte die Bergpredigt [Mt. 5–7] begonnen. Es sind die Seligpreisungen an die ganze Menschheit, die dort der Predigt die höhere Weihe gaben. Und hier wird eine Seligpreisung ausgesprochen, die jenem einzelnen Menschen gilt. Die Seligpreisungen der Bergpredigt gelten denjenigen, die im Himmelreich sind. Diese Seligpreisung richtet sich an denjenigen, der noch nicht im Himmelreich ist. Und warum diese Seligpreisung? Weil er im Glauben gearbeitet hat am Reich Gottes. «Unter allen, die von Weibern geboren sind, ist nicht aufgekommen, der größer sei denn Johannes der Täufer, der aber der Kleinste ist im Himmelreich, der ist größer denn er»(Mt. 11,11). DieJünger, die ihm die Frage überbracht hatten, verließen Jesus wieder. Ob die Antwort Johannes erreichte? Wir wissen es nicht. Das Evangelium erzählt es nirgends. Vielleicht war sein Haupt gefallen, ehe die Abgesandten zurückkamen. Er war in das Reich eingegangen, wo alles Fragen aufhört. Die Seligpreisung über diejenigen, die noch nicht im Reich sind, folgte ihm nach; sie hat ihn nicht mehr erreicht. Er bedurfte

ihrer nicht mehr. Advent ist nicht nur die freudige Zeit des Harrens auf das Weihnachtsfest, sondern es ist auch die ernste Zeit des Nachdenkens über das Kommen des Reiches Gottes. Der Gedanke, daß es kommen wird am Ende der Tage mit Sturm und mit Macht, liegt uns fern; er steht uns so weit wie der Gedanke der Wiederkunft des Herrn. Das Reich kommt, indem es wird: Es ist dasZiel unserer Arbeit, das Ziel unseres Lebens im Sinne Jesu. Und wenn du nun auf dieses Werden des Reiches zurückblicktest und auf seine Vollendung vorblicktest und dir das Bild Jesu vorhieltest, ist dir da nie die Frage aufgestiegen: «Bist du, der da kommen soll?» Ich meine, die Frage stellt sich doppelt: Bist du der Herr der Liebe – bist du der Herr derWelt? Bist du der Herr der Liebe? Blick zurück in die Geschichte der Welt. Wohl hat sich das Christentum über die ganze Erde ausgebreitet, aber Feuer und Schwert begleiten seinen Siegeslauf. Mit Gewalt ist es den Völkern aufgezwungen worden, undVölker sind darüber zugrunde gegangen. Und wir können nur sagen, es mußte so kommen, damit das Christentum vorwärts schreite. Und nun tönt uns die Frage: Herr der Liebe, bist du der Herr derWelt? Und wo das Christentum festen Fuß gefaßt hat, da sind es wieder die Fragen des Christentums, die die Bürgerkriege und die Religionskriege erzeugt haben. Wir stehen noch mitten in den großen Kämpfen

Bist du, der da kommen soll?

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der Parteien im Christentum; es ist noch kein Ende abzusehen, und welches der Ausgang sein wird, weiß niemand, und wir müssen wieder sagen: Es mußte so kommen. Und wieder tönt die Frage: Herr der Liebe, bist du der Herr derWelt? Dieser zweite Teil des Lebens desJohannes, wo er in seinem Innern diesen Kampf durchlebt, wo an ihn, denVorläufer, die Zweifel herantreten, hat etwas Ergreifendes. Es stimmt uns traurig, aber für unsere Adventsbetrachtung hat diese Versenkung in die inneren Kämpfe des Täufers doch etwas Tröstliches und Aufrichtendes. Tröstlich, weil wir fühlen, wie fern für uns der Kampf der beiden Messiasbilder in unserm Innern, wie ihn Johannes durchlebt hat, liegt. In dieser Form kann sich die Frage «Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten» für uns nie mehr stellen. Nun fragen wir aber: Sind wir denn so sicher, daß niemals ein Zweifel in uns aufsteigen kann, daß Jesus, der Herr der Liebe, wirklich der Messias, der Herr derWelt sei? Ich glaube, je ernster wir es mit unserm Christentum nehmen, desto weniger wagen wir, auf diese Frage mit einem entschiedenen Nein zu antworten. Ich meine hier nicht die Zweifel, die uns in dunkeln Stunden unseres Lebens begegnen. Ich meine Zweifel, die mit den Adventsgedanken viel näher liegen. Was ist denn der innerste Grund der Zweifel desJohannes? Warum wird es ihm so schwer, inJesus von Nazareth, dem Herrn der Liebe, den Messias zu erkennen? Weil er an die Vollendung des Reiches Gottes denkt. Sein Messias kommt zum Gericht, und zugleich ist das Reich Gottes da. Bei dem, den erjetzt als Messias anerkennen soll, beginnt das Reich Gottes von Kleinem und will die Welt durch die Liebe erobern. Wird der Herr der Liebe einst der Herr der Welt sein? Wird das Reich der Liebe sich auf Erden vollenden? Das ist die Form derJohannesfrage, die auch noch an uns herantritt, gerade in der Adventszeit. In dieser Zeit der fröhlichen Erwartung lenken sich unsere Gedanken ganz naturgemäß auf die Vollendung des Reiches Gottes auf Erden. Auch wir fragen: Wird der Herr der Liebe einst der Herr der Welt sein? Ist das Evangelium der Liebe mächtig genug, dieWelt zu überwinden? Wenn wir in dieVergangenheit und in die Zukunft blicken, da kommen uns Fragen und Bedenken, auf die wir nicht immer eine Antwort ha-

ben. In der Vergangenheit beleuchtet die Kriegsfackel oft den Weg des Christentums, und die Zukunft liegt dunkel vor uns. Jahrhunderte sind schon vorübergegangen, seit das Christentum auf Erden Fuß gefaßt. Generationen auf Generationen sind ins Grab gesunken, und das Reich auf Erden ist noch nicht vollendet, und auch wir werden vergehen, ohne die Vollendung zu erleben. Gewiß, es ist nicht gottlos, wenn wir, den Blick auf die Endvollendung gerichtet, die Frage nicht abwehren können: «Bist du, der da kommen soll?»

102 Predigten desJahres 1899

Die ganze Menschheit, die an dem Kommen und an der Vollendung desReiches Gottes gearbeitet und arbeitet, lebt wie in einer großen Adventszeit. Noch ist das Reich Gottes nicht vollendet, und wir wissen nicht, wie es sich vollenden wird. Es bewegen sie Erwartungen und Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Dennoch fahren sie fort, zu ringen und zu arbeiten an dem Reiche Gottes, dessen irdische Vollendung sie nicht mehr erleben werden, denn aus dem Munde des Herrn der Liebe tönt ihnen die Seligpreisung entgegen, die dem fragenden Vorläufer bestimmt war: «Selig ist, der sich nicht an mir ärgert», der nicht irre wird an mir. Es ist die große Adventsseligpreisung derer, die harren auf das Kommen desReiches Gottes und daran arbeiten.

Weihnachtspredigt fürWeihnachten 1899 [24. und 25. Dezember]¦18¿

Lk. 2,10 f.: Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren Weihnachtszeit – fröhliche Zeit. Heut ist heiliger Abend. Früher als sonst verstummt dasTreiben auf den Straßen. Bald kommt die Dämmerung, dann wird es ruhig. Ist es der Duft der Tannenbäume, die uns den stillen Frieden der fernen Berge und der schweigenden Wälder bringen? Sind es die Erinnerungen aus der Kindheit, die uns umfangen, wo wir das Christkind, in weißem Gewand von Haus zu Haus schwebend, zu sehen glaubten? Steigen die Engel wieder auf Erden wie damals, als sie den Hirten erschienen? Engel mit weißen Fittichen, die singen, so schön man es nie gehört? Wir sehen sie nicht, und wir hören sie nicht, und doch klingt ihr Sang überall. Ausjedem leuchtenden Auge, aus jedem freudigen Herzen, ausjedem preisenden Mund bricht es hervor: «Siehe, ich verkündige euch große Freude.» So reich sind wir geworden in derWeihnachtszeit, daß wir mit Engelszungen reden. Und wäre es nicht so, würde nicht jede Weihnachten die Engelrede ausunserm Munde tönen, dann hätte derWind der Engel Sang verweht – er wäre uns ein längst verhallter Klang. Es gibt ein Dichterwort: «Und wäre Christus tausendmal geboren und nicht in dir, du gingst dennoch verloren» So möchte ich sagen: Und hätten tausend Engel diesesWort gesungen und nicht dein Mund, so ist’s für dich verklungen. Als Menschen sollen wir in dieser Zeit verkünden die große Freude. Leicht ist es, Freude zuverkünden, wo Freude herrscht. Führt mich zum 18 [Nach dem Kirchenboten hielt Schweitzer über Weihnachten nur am 24. Dezember die Nachmittagspredigt in St. Nicolai. Dann wird er am 25. Dezember in Günsbach gepredigt haben.]

Siehe, ich verkündige euch große Freude

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glücklichen Kinde unter dem Tannenbaum, und ich kann ihm sagen: «Siehe, ich verkünde dir große Freude.» Führt mich zur Mutter, die, ihr Jüngstes auf den Armen, die andern um sich geschart hat unter dem Weihnachtsbaum, und ich kann ihr sagen: «Siehe, ich verkündige euch große Freude»; aber führt mich zu den Einsamen, zur Mutter, deren Weihnachtsfreude in kalter Erde auf dem Kirchhof schlummert, führt mich zu den Kranken, führt mich in das graue, kalte Zimmer, wo Unglück und Elend herrscht – stockt mir nicht da dasWort auf den Lippen: «Siehe, ich verkündige euch große Freude?» Und doch, das Wort will überall erklingen: «Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird.» Ob hoch, ob niedrig, ob jung, ob alt, ob reich, ob arm, allen soll die Freude gelten, «die allem Volk widerfahren wird». Was muß das für eine Freude sein, die auch dem Schmerz und der Not und den Tränen gilt? Sie muß so tief sein, daß unsere irdische Freude nurein Abbild davon ist. Wasmuß dasfür eine Gabe sein, die so groß und so reich ist, daß alles Volk undjeder Stand sich daran freue? Es muß eine Gabe sein, so edel und wertvoll, daßjede irdische Gabe ihr gleicht wie das Flittergold am Tannenbaum dem wahren Gold, und wie die Baumwollflocken auf dem Weihnachtsbaum an den weißen Schnee auf denWaldtannen erinnern. Und wie muß das Glück dieser Freude sein? Es muß zauberisch duften wie der Tannenbaum, der aus dem Winterwald den Waldeszauber geheimnisvoll in unsere Stuben bringt. Es muß sein wie der Klang der Weihnachtsglocken, die in der Ferne leise verhallen. Still muß es sein, dies Glück, still wie dasGlück derjungen Mutter, die ihr schlummerndes Kind im Dämmerlicht betrachtet. Denn wir stehen vor der Krippe, und darin liegt ein Kindlein. Tritt ein, tritt leise und sieh und hör und wisse, warum du dich freuen sollst: «Euch ist heute der Heiland ge-

boren.» Dieses Wort Heiland drückt es aus, warum dieWeihnachtsfreude allemVolke gilt: «Denn euch ist heute der Heiland geboren.» Er heilte die Kranken und die kranken Herzen. Drum wendet sich die frohe Weihnachtsbotschaft gerade an die, welche arm und krank – und kranken Herzens sind. Ihr Kinder, freut euch, und die ihr euch mit ihnen über ihre Freude freut, Gott hat sie euch gegeben, Gott erhalte sie euch. Ich überlasse euch eurer Freude und wende mich zu denen, auf deren Gesicht die Freude19 über den heiligen Abend nicht leuchtet. Ich glaube, 19 [In der Fassung für den 25. Dezember lauten die nächsten zwei Abschnitte wie folgt:] über dasWeihnachtsfest nicht leuchtet. Mancher, der sonst den Ruf der Glocken überhört, lenkt heute seinen Schritt zu diesem Gotteshause. Sie zwingen ihn mit sanfter Gewalt. Und doch, sie stimmen ihn nicht freudig, sondern wehmütig. Er denkt an die Zeit, wo er wie ein Kind dieWeihnachtsgeschichte hörte. Damals kannte er noch keinen Zweifel, aber seitdem verfolgt er ihn überall. Ist denn diese Geschichte von der

104 Predigten desJahres 1899

ihr, die wenigen, die ihr euch in dieser Stunde hier eingefunden habt, gehört nicht zu denen, auf die die helle Weihnachtsfreude wartet: Die Mutter ist beschäftigt mit den Kindern, sie kommt heut abend nicht her. Ihr aber seid gekommen, ihr wollt hier die Weihnachtsfreude suchen, um sie dann mit nach Haus zu nehmen, daß sie euch umgebe und erwärme, und ihr auch den heiligen Abend feiert. Nun möchte ich euch diese Freude mitteilen, und ich kenne euch nicht. Warum kannst du dich nicht freuen? Du denkst vielleicht an die Zeit zurück, wo du dich freuen konntest wie die Kinder, undjetzt vermagst du es nicht mehr. Es fehlt dir nichts, die Leute nennen dich glücklich, aber du hast ein Heimweh nach der rechten Freude, und sie flieht vor dir. Ach könnten die Glocken am heiligen Abend dein Herz zur Freude erwecken. Sie können es: «Euch ist heute der Heiland geboren.»

Geh hin und trage die Kunde vom Heiland in die Wohnung der Armen. Du brauchst nichts zu sprechen. Nimm Gaben, viel, wenn du reich bist, klein, wenn du arm bist, noch ist’s nicht zu spät. Trag sie hin, und der Heiland beschert sie durch dich. An der Freude, die du bringst, entzündet sich dein Herz. Arm warst du, als du die Gabe brachtest, reich bist du, wenn duwieder auf die Straße trittst. Die Freude ist bei dir eingezogen: Weihnachtsfreude. «Siehe, ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Heiland geboren.» Vielleicht hast du zu Hause einen Kranken. Er liegt einsam, er konnte den Glocken nicht folgen, und meine Stimme kann nicht zu ihm dringen. So geht denn ihr hin und bringt ihm die Botschaft: «Siehe, ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Heiland geboren.» Und wenn er sagt: Ja, einst kam er auf dieWelt, und da brachten sie die Kranken zu ihm, und da heilte er sie, aber heute kommt er nicht mehr, dann sprich zu ihm: Ja, er ist hingegangen von der Erde, und wir können den Saum seines Gewandes nicht mehr erfassen, aber er ließ den Kranken doch Trost zurück, er ist durch sein Leben und Leiden ihr Heiwunderbaren Geburt wahr? Sind die Engel auf Erden kommen? Hat der Stern die Magier geleitet, daß sie vor dem Kinde niederfielen? So drängen sich die Zweifel auf und lassen ihn nicht zurWeihnachtsfreude kommen. Aber auch dir gilt die frohe Botschaft: «Siehe – denn euch ist heute der Heiland geboren!» Glaubst du, daß er gelebt aus Liebe für die Menschen? Glaubst du an die Güte Gottes, die er uns verkündet? Kannst dugläubig dasVaterunser beten, daser unsgelehrt? Willst dudemHerrn nachstreben in deinem Leben und sein Liebesgebot erfüllen? Sind das deine Gedanken, dann laß die Zweifel. Daß der Heiland geboren, daß er uns die Liebe gelehrt, den himmlischen Vater verkündet, daß er ausLiebe am Kreuz gestorben, dasmußt du wissen, nicht wie er geboren. «Siehe, ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Heiland geboren.» So möge in dein zweifelndes Herz die rechte Weihnachtsfreude kommen. Ein anderer ist durch den Glockenklang gelockt hierher gekommen, um die Freude zu suchen. Er muß auch zurückdenken, wie er sich alsKind freuen konnte.

Siehe, ich verkündige euch große Freude

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land geworden. Er lehrte uns beten zum Vater im Himmel und nicht murren. Gott straft uns nicht durch Leiden, er zieht uns zu sich hinan. Wir verstehen ihn nicht immer, aber wir dürfen zu ihm beten wie zu einem Vater. AlsJesus, der Heiland, der heute geboren, litt, da murrte er nicht, sondern er betete zumVater. Und dann betet mit ihm, und in seinem und in eurem Herzen wird es still werden, als ob des Engels Fittich durch das Zimmer zieht. «Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren soll, denn euch ist heute der Heiland geboren.» Noch andere gibt es, die meine Stimme nicht erreichen kann. Sie sind weit in der Ferne. Denken sie daran, daß heute heiliger Abend ist? Ach, vielleicht sind sie auf bösem Weg, vielleicht fallen sie heute tief ins Verderben und gehen zugrunde an Leib und Seele. Ach, klingt, ihr Glocken, am heiligen Abend, klingt über Gebirge und Flüsse und Ebenen, dringt zu ihnen, daß die Heimat, daß die Kindheit, daß der Mutter Antlitz, das sie heute in der Ferne sucht, vor ihre Seele trete, und daß das milde und ernste Antlitz des Heilands sie anschaue. Erlöst sie, ihr Glocken des heiligen Abends, von dem Bann, der sie umstrickt. Rettet sie, daß ihr Herz sich wende und sie eure Stimme verstehen und sie zurückkehren zur reinen Weihnachtsfreude: «Siehe, ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Heiland geboren.» Du blickst gedankenvoll: Einst hattest du am heiligen Abend Kinder um dich unter dem Baum. Nun sind sie alle fort; eines ist verschollen, vielleicht verdorben – und du mußt den ganzen Abend daran denken. Du suchst es mit deinem Blick, und du findest es nicht; aber siehe, einer findet es: Der Heiland. Er kam, dieVerlorenen zu suchen und zu retten, er ging zu den Zöllnern und Sündern. Glaube nicht, daß der Heiland nur geboren für die Kinder, die heute abend singen vom Kindlein in der Krippe. Er ist der Mann, der hundert Schafe hatte, und da er eins verloren hatte, ließ er die neunundneunzig stehen und ging hinaus, dasverlorene zu suchen [Mt. 18,12]. Und so sei gewiß, daß er auch heute die lichten Bäume und die glücklichen Kinder läßt und hinausgeht in die Nacht, dein Kind zu suchen. Und er findet es. Er rettet es. Und wenn es verstrickt ist in Elend und Sünde, dann nimmt er es auf seinen Arm und trägt’s in seines Vaters Reich. Er ist der Heiland, er ist gekommen für alle. «Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren soll: Euch ist heute der Heiland geboren.» Kennst du eine trauernde Mutter, die heute einsam dasitzt und weint und nicht Weihnachten hält, weil ihr Kind gestorben? Weine nicht, der Heiland ist in dieWelt gekommen – der Heiland der Kinder. Er sprach: «Lasset die Kindlein zu mir kommen, und wehret ihnen nicht» [Mt. 19,14]. Und wenn dein Kind steht nicht unter dem Tannenbaum vor der Krippe des Jesuskindes, aber der Heiland hat es zu sich gerufen. O weine, daß dein Herz sich erleichtere, aber denke: Es ist nicht unter kal-

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ter Erde, sondern beim Heiland. «Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht!» Möge der Herr geben, daß mein schlichtes Wort in euren Herzen die rechte Weihnachtsfreude entzündet habe und ihr still den rechten heiligen Abend feiert. Tragt sie im Herzen von hinnen und bringt sie denen, die ihrer bedürfen – dann wird eure Freude vollkommen sein. «Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird.»¦20¿

Predigt Sonntag, 31. Dezember 1899, Günsbach¦21¿

I Kor. 13,13: Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen

Es gibt wohl kaum jemand unter uns, der den eben verlesenen Spruch nicht kennt. Man findet ihn oft alsTäfelchen in unsern Wohnzimmern (Maler haben versucht, diese drei christlichen Tugenden auf einem Bilde darzustellen). Das zeigt: Der Spruch ist ein christlicher Wahlspruch geworden.¦22¿ So ist es natürlich, daß er an derJahreswende sich unserer Betrachtung aufdrängt. Es ist ein Wort besonders, das uns immer wieder zu ihm hinzieht: dasWort «bleibt». Alles vergeht. Nie haben wir mehr dieses Gefühl als gerade in dieser Zeit. Die Pracht der Natur draußen ist vergangen. Das alte Jahr vergeht, ein neues kommt und vergeht wieder, wie auf den 20 [In der Fassung für den 25. Dezember lautet der letzte Abschnitt wie folgt:] «Siehe, ich verkündige euch große Freude»: Möge der Herr geben, daß dies Wort in euch die stille Weihnachtsfreude entzündet habe. Tragt sie mit euch fort, diese Freude, und teilt sie den Armen und Einsamen mit in Worten und in Werken, daß euer Tun und eure Rede eine Predigt sei des Engelwortes: «Siehe, ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Heiland geboren.» 21 [Schweitzer hat die Predigt gleichzeitig für das Missionsfest vom 7. Januar 1900 in St. Nicolai konzipiert. In den Randbemerkungen macht er sich besondere Gedanken dazu.]

22 [R] Er stammt vom Apostel Paulus, dem Missionsapostel; wenn wir nun heute, am Missionsfest, diesen Spruch des Apostels vornehmen, so möchte ich nicht allgemein über Glaube, Liebe und Hoffnung sprechen, sondern fragen: Wie muß der christliche Glaube, die christliche Hoffnung, die christliche Liebe im Leben des Apostels Paulus gewesen sein, daß er sie sozusagen alsWahlspruch zusammenfaßt? Das wäre aber ein Unternehmen, dasnicht eine, sondern mehrere Betrachtungen beschäftigen würde, so will ich heute nur eine hervorstechende Eigenschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe des Apostels Paulus herausheben, wodurch er der tatkräftige Christ und als solcher der große Missionsapostel wurde. Wir sprechen zunächst von seinem Glauben: Es war ein freier Glaube, nicht gebunden. Wäre sein Glaube nicht frei gewesen, so wäre seine Mission nicht zustande gekommen.

Nun aber bleibt Glaube,

Hoffnung, Liebe

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kommenden Frühling wieder der Winter folgt. – Was bleibt? «Nichts ist beständig als derWechsel», sagt dieWelt. In diesen Worten faßte einst ein Mann ausder alten Zeit die Erfahrung seines Lebens zusammen. «Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe; aber die Liebe ist die größte unter ihnen» – so faßt Paulus in dem Brief an die Korinther die Erfahrung seines Lebens zusammen. Und so wollen wir als Christen mit ihm sagen. Es ist ein christlicher Wahlspruch, den wir zum Spruch unseres Lebens machen dürfen, denn es ist derWahlspruch der ersten Christen, mit denen wir unsvergleichen können. Welche Verschiedenheit in diesen beiden Wahlsprüchen. Der eine trostlos und der andere so ernst freudig, so zuversichtlich. In dem einen spiegelt sich die stille Verzweiflung eines unglücklichen Lebens, der Gemütszustand eines Mannes, der alles Elend über sich ergehen läßt, weil es eben so kommen muß. Lebenstraurigkeit möchte man diesen Wahlspruch nennen. In dem andern liegt etwas Zuversichtliches: Lebensfreudigkeit. So möchte man sagen: Der erste Wahlspruch stammt von einem Unglücklichen, der zweite von einem Glücklichen. Das wäre aber falsch. Zwar können wir das Glück und Unglück im Leben der einzelnen Menschen nicht mit der Waage abwägen und dann von einem Mann sagen, der hat mehr Glück als Unglück, darum ist er glücklich zu nennen, der hat mehr Unglück als Glück, und darum ist er unglücklich zu nennen. Glück und Unglück sind in jedem menschlichen Leben nebeneinander und gehören zusammen wie Licht und Schatten. Wenn man es äußerlich betrachtet, war Paulus gerade so unglücklich wie König Belisar. Der eine hat nach einer Reihe glücklicher Jahre Königtum und Reich und Freiheit verloren, der andere hat das Glück nie gekannt: Ohne Familie zieht er als Prediger einer unbekannten und verspotteten Sekte herum, von den Juden gehaßt, von den Behörden mißhandelt. Und gerade in dem Brief, wo er diesen wundervollen Wahlspruch schreibt, sehen wir sein tiefes Leiden. Die korinthische Gemeinde, die er gestiftet, auf die er gebaut, ist an ihm irre geworden. Sie geben bösen Einflüsterungen Raum, und die böswilligen Verleumdungen gegen den Apostel finden Gehör – und er muß sich dagegen verteidigen. So kann man nicht sagen, daß sein Wahlspruch so zuversichtlich sei, weil sein Leben glücklich gewesen. Es muß also etwas anderes sein, was den Unterschied dieser beiden Wahlsprüche ausmacht und zur Folge hat, daß wir uns zumWahlspruch des Paulus gerade durch seine Zuversichtlichkeit so hingezogen fühlen, während dasWort «Nichts ist beständig als der Wechsel» uns in seiner Trostlosigkeit abschreckt. Ich will es kurz sagen: Der Spruch des Paulus ist christlich, der andere nichtchristlich. Ich möchte noch mehr sagen: Es ist derWahlspruch der ersten Christen, der Christen, mit denen wir uns vergleichen können. Jesus steht so hoch über uns, daß wir uns mit ihm nie vergleichen können; dieJünger

108 Predigten desJahres 1899

haben durch ihren täglichen Verkehr mit dem Heiland etwas vor uns voraus; ihr Tun und Glauben und Reden ist von dem Wort und dem Eindruck des Heilands, den sie persönlich von Angesicht zu Angesicht kannten, abhängig. Sie sind Christen, weil sie den Heiland kannten, sahen und seine Predigt hörten. Paulus hatJesus nie auf Erden gesehen, er hat ihn nie predigen hören, und doch ist er Christ geworden und war Christ. Und wenn er in unsern Textworten die christliche Lebensauffassung ausspricht, so wiederholt er damit nicht etwas, daser von irgendeinem andern schon gehört, sondern dieser schöne Spruch ist aus seinem Leben als Christ herausgeboren. Paulus hatte nichts vor uns voraus: Sein Spruch kann und soll also auch unsere christliche Art, das Leben aufzufassen, ausdrücken. Um aber diesen Spruch rechtens zu verstehen, wollen wir jetzt nicht im allgemeinen darüber sprechen, was der Glaube, wasdie Hoffnung, was die christliche Liebe, die sie beide überragt, sei, sondern wir wollen sehn: Was war im Leben des Paulus der christliche Glaube, waswar im Leben des Paulus die christliche Hoffnung, was war im Leben des Paulus die christliche Liebe, die dasgrößte ist? Waswaren sie für ihn, daß er sie zusammenfassen konnte als dasBleibende im Christenleben? Was war der Glaube des Paulus? Ein freier Glaube anJesus Christus? Ein Glaube anJesus Christus. Was heißt das aber für ihn? Lies alle seine Briefe durch, und überall wirst du finden, daß für Paulus Glauben an Jesus Christus nicht heißt Fürwahrhalten alles dessen, was von ihm erzählt wird, sondern in unsern innersten Gedanken leben in Christus, eins sein mit ihm. So ist sein Glaube an Christus ein freier Glaube an ihn! Was dieJünger vonJesus wissen, das ist ihm wert, aber er ist freier als sie. Sie wagen keine Heiden als Christen aufzunehmen, weil Christus keine aufgenommen hat, sie wagen nicht, mit Heidenchristen am selben Tisch zu essen, weil das Gesetz es verbietet. Sie wagen nicht, zu erklären, daß das Gesetz für Christen nicht mehr gelte, weil sie sich nicht erinnern, daß Jesus dies mit klaren Worten ausgesprochen habe. Des Paulus Glaube ist frei: Das Gesetz gilt nicht mehr für Christen, und auch die Heiden können Christen werden. Christentum ist Freiheit: Nicht in knechtischer Anlehnung an die Worte Jesu auf alle Fälle des Lebens besteht das Christentum, sondern in dem Erfülltsein vom Geiste Christi. So ist des Paulus Glaube ein Glaube an Jesus Christus und dadurch ein freier Glaube. Als solcher ist er entschieden und duldsam zugleich: Entschieden, wo es die Sache verlangt. Wo es gilt, durch Wort und Tat zu zeigen, daß trotz den Uraposteln die Heidenchristen nicht unter das jüdische Gesetz gezwängt werden dürfen, da tritt Paulus entschieden und fest auf, und wo er hinterlistige Wühlereien in der Gemeinde verspürt, da wird er heftig und leidenschaftlich. Sein Glaube ist aber auch duldsam:

Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe

109

Wo sein Glaube anerkannt wird, da ist auch er bereit, anzuerkennen. Der christliche Glaube besteht nicht darin, daß alle Christen in allen Punkten dieselbe Meinung haben, sondern daßjeder im Geiste Christi handle. So ist er wieder nachgiebig: Er will den Aposteln keine Vorschriften machen: Wollen sie nicht mit den Heiden verkehren, so mögen sie nur unter Juden Mission treiben; er will sie nicht deswegen scheel ansehen, wenn sie ihm erlauben wollen, unter Heiden das Evangelium zu predigen. Das ist mit kurzen Worten das Wesen und die Art des Glaubens des Paulus, des Glaubens, den er gelebt und von dem er sagt, daß er bleibe. Das ist der wirkliche Christenglaube. So soll auch unserer sein: zuerst ein Glaube an Christus, nicht über Christus, ein Leben in Christus, ihn in unsern Herzen tragen. Dieser Glaube ist dann frei. Er hängt nicht von dem Fürwahrhalten dieses oder jenes Wunders ab. Sieh, Paulus spricht fast nie von den Wundern Jesu und nie von der wunderbaren Geburt. Sein Glaube beruhte nicht hierauf. Haben wir diesen freien Glauben, dann sind wir wie Paulus entschieden und duldsam zugleich. Entschieden, wo es gilt, die Berechtigung unseres Glaubens aufrecht zu erhalten. Diesen freien Glauben anJesus lassen wir uns nicht nehmen. Wer uns hierin in Satzungen und Gebote zwängen wollte, dem würden wir widerstehen bis zum letzten Atemzug. Wo wir aber anerkannt werden, da wollen wir duldsam sein und nicht die Andersdenkenden immer kritisieren, ihnen unsere Meinung aufdrängen wollen, sondern jedes Berechtigung anerkennen. Das gilt im kleinen wie im großen. Darum ist es gerade für unsere Zeit, wo die Parteien im Christentum sich schroff gegenüberstehen, gut, sich klar zu werden, was Paulus damit meint, wenn er in dem Spruch von einem Glauben spricht, der bestehen wird. Das ist nur das Äußere eines Glaubens, dessen innerstes Wesen die Gemeinschaft mit dem Heiland im ganzen Leben ist. Neben dem Glauben besteht die Hoffnung. Was war die Hoffnung für Paulus?¦23¿ Eine Zuversicht, die ihm Kraft gab, zu arbeiten und zu leiden. Zuerst eine Zuversicht. Im Anfang seines Christenlebens bestand diese Zuversicht für ihn darin, daß er dieWiederkehr des Herrn auf Erden erleben werde und daß dann die Gemeinden, die er gegründet, sein Zeugnis und sein Ruhm vor dem Herrn sein würden. Und als er immer weiter voranschritt und die Wiederkunft des Herrn ausblieb, da blieb seine Zuversicht, aber seine Hoffnung wandelte sich. Er sah, daß es noch etwas Höheres gebe als die irdisch gedachte Herrlichkeit des Wiederkommenden.

23 [R] Wir kommen nun zur christlichen Hoffnung des Apostels. Hier möchte ich hervorheben: Sie ist gegründet auf der christlichen Arbeit.

110 Predigten desJahres 1899

Leid und Todesgefahr haben ihn oft umringt. Sein Leib war müde und abgezehrt: Und so geht seine Hoffnung auf die Herrlichkeit, mit der er einst umkleidet sein wird, wenn dieses irdische Leben hinter ihm liegt, in der Herrlichkeit Christi. Es ist die ergreifende Stelle im 2. Korintherbrief, im 4. Kapitel [II Kor. 4,16– 18]. Aber ich möchte, daß ihr gerade dasBesondere an der Hoffnung des Paulus versteht. Es besteht darin, daß diese Hoffnung auf die Erlösung aus dem irdischen Erdenleben für ihn ein Stachel ist, rastlos zuwirken und zu arbeiten. «Ich habe Lust abzuscheiden, um in Christus zu sein» [Phil. 1,23] – der Mann, der dies sagt, ist derselbe, der rastlos in dem ganzen römischen Reich herumfährt, um neue Gemeinden zu gründen, der dem Tod ins Auge blickt und Geißelung erduldet. Das ist in kurzem, was Paulus unter der christlichen Hoffnung versteht. Was können wir für unsere christliche Hoffnung daraus entnehmen? Ich glaube, ein Doppeltes: daß mit unserer christlichen Erkenntnis auch unsere christliche Hoffnung eine andere wird, und dann, daß wahre christliche Hoffnung nur dann besteht und nur dann Wert hat, wenn sie aus wahrer christlicher Arbeit entsprungen ist. Wenn ich dich fragen würde: Sag mir einmal, worin deine christliche Hoffnung besteht, so würdest du mir im ersten Augenblick keine Antwort geben können. Als Kind hattest du Hoffnungen wie ein Kind: Du sahst den Himmel wie ein Kind, alles schön und golden, prächtige Gewänder und die Engel. Und mit dem Alter kam dir eine andere Hoffnung: Du arbeitetest und fühltest dich in der Kraft des Lebens. Und deine Hoffnung war, daß Gott deine Arbeit segnen möge, und dann wurdest du vielleicht krank, und nun war deine Hoffnung, zu genesen und erlöst zu werden. So wird die Hoffnung in uns selbst fortwährend etwas anderes. Die christliche Hoffnung ist in jedem Alter, in jedem Stand und Beruf etwas Verschiedenes, und sie war etwas Verschiedenes in jedem christlichen Zeitalter. Darum lächeln wir auch nicht über die christlichen Hoffnungen der Kinder oder derer, die ihnen gleichen. Denn würden wir anders zu ihnen reden, so würden sie uns nicht mehr verstehen. So wechselt die Hoffnung, aber die christliche Zuversicht bleibt immer dieselbe. Die christliche Hoffnung besteht und hat nur Wert, wenn sie aus der christlichen Arbeit entsprungen ist. Man kann so weit gehen und sagen: Wer nicht arbeitet, ist kein Christ. Versteht mich recht: Ich will nicht sagen, daß jeder, der arbeitet, Christ ist, sondern daß das wahre Christentum darin besteht, den Beruf, den wir betreiben, als unsere christliche Pflicht, darin uns Gott gesetzt hat, aufzufassen und ihn so zu erfüllen. Und nur wer so arbeitet, der kann auch christliche Hoffnung haben.

Man hört oft Leute, die meinen, recht christlich fromm zu reden, wenn sie immer darauf zu sprechen kommen, sie möchten aus diesem

Nun aber1bleibt Glaube, 1

Hoffnung, Liebe 1

Leben erlöst werden und zur himmlischen Ruhe eingehen, und wenn man sie genau betrachtet, sind es sogenannte fromme Müßiggänger, Leute, die ein behäbiges und unnützes Dasein führen, oft junge Leute, die meinen, so recht fromm zu scheinen. Das ist gar kein Christentum. Es ist da in himmlischen Dingen wie in irdischen: Von ausruhen soll nur der reden, der auf irgendeine Weise arbeitet, und von der Ruhe nach unserm Erdenleben, von dem Ruhen in Christus soll ein gesunder Mensch von Herzen und ganzer Hoffnung nur dann sprechen, wenn er sich vorgenommen hat, die Zeit, wo ihn Gott auf Erden läßt, seine Pflicht zu erfüllen und zu arbeiten als Christ. Das zeigt uns der Apostel Paulus, welcher uns von seiner Hoffnung auf die ewige Ruhe gerade da spricht, wo er zeigen will, was ihm Kraft für die irdische Arbeit und die irdischen Leiden gibt. Ich glaube, eines ist uns klar geworden: Daß Glaube und Hoffnung, die nach dem Spruch des Apostels das Bleibende in allem Wechsel sind, wenn man das Leben des Apostels und seine Briefe betrachtet, etwas viel Tieferes und Lebendigeres sind als das, was wir gewöhnlich, von Glaube und christlicher Hoffnung sprechend, darunter verstehen. So ist es auch mit der Liebe.¦24¿ Was ist denn eigentlich christliche Liebe und wie zeigt sie sich im Christenleben? Gerade in dem 13. Kapitel des1. Korintherbriefes schreibt Paulus so schön über die Liebe in den Sprüchen, die ihr alle kennt. Das ist die Liebe, von der er spricht, daß sie nimmer aufhören wird. Aber noch wichtiger als diese schönen Worte ist für uns jetzt etwas anderes. Wir sagten vorhin, dieser schöne Spruch unseres Textes sei gleichsam der Wahlspruch des christlichen Lebens des Paulus. Deshalb wollten wir sehen, wie er durch sein Leben zu diesem Wahlspruch gekommen und wie er ihn gehalten habe. So kommt es unsjetzt gerade darauf an, nicht zu hören, was Paulus über die christliche Liebe sagt, sondern wie er sie ausführt und bewährt in seinem Leben. Ich weiß nicht, ob es euch geht wie mir, aber es will mir immer scheinen, als ob diejenigen, denen das Christentum gleichgültig ist, viel mehr über christliche Liebe reden als diejenigen, denen es mit dem Christentum Ernst ist. Sie meinen, die Christen sollen diejenigen Leute sein, denen man alles mögliche antun dürfe, die dann alles das mit geduldiger Miene annehmen sollen, ohne ein Wort zu sagen. Sie sind gleich bei der Hand, das einzige Wort aus der Bibel, die sie nie lesen, anzuführen: Der HerrJesus habe gesagt: «Wenn dich einer schlägt auf die rechte Backe, dem biete auch die linke dar» [Mt. 5,39]; das sei die Geduld, die die christliche Liebe erfordere. 24 [R] Wir reden nun von der christlichen Liebe des Apostels Paulus. Was uns in der Art, wie er die christliche Liebe in seinem Leben betätigt hat, besonders hervortritt, ist, daß seine christliche Liebe keine falsche Duldsamkeit ist.

112 Predigten desJahres 1899

Man erzählt von einem jungen Mann, der in einer Versammlung, als ihn ein frecher Mensch schlug und ihn an dasWort des Herrn erinnerte, ihm auch die andere Backe hinhielt, wodurch der Bösewicht so gerührt wurde, daß er plötzlich sein Tun bereute und fromm wurde. Ich glaube, daß der junge Mann dem Christentum keinen Dienst geleistet hat.Wenn dir oder mir ein Mensch etwas zuleide täte und verlangte von mir nun höhnisch, daß ich nach demWorte Jesu mir willig noch anderes gefallen lasse, dann glaube ich, würden die Ehre und derWert des Christentums und desWortes Christi verlangen, daß wir diesem Menschen sagten, er begehe eine große Sünde, daß er Jesu Worte lästerlich und zum Hohn im Munde führe. Wer sich sonst um Christi Wort und Lehre nicht kümmere, der habe auch kein Recht, seine Worte zu führen, wo es ihm in seinem bösen Treiben genehm wäre. Er solle einmal bei sich anfangen und nicht bös handeln und mißhandeln, denn das habe Jesus

auch verboten. Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil es vor einem Jahr die Runde in christlichen Blättern machte und als ein gutes Beispiel gepriesen wurde. Unser gesunder, christlicher Verstand sagt uns schon, daß die wahre christliche Liebe und Duldsamkeit in etwas anderem bestehen müsse, als alles über sich ergehen zu lassen. Und nun ist es schön, daß gerade Paulus, der von der christlichen Liebe und Duldsamkeit erklärt, sie sei dasHöchste, was es im Christenleben gebe, gerade in seinem Leben uns eine christliche Liebe zeigt, die mit der Liebe, wie sie von den oben beschriebenen Leuten im Munde geführt wird, nichts gemein hat, sondern viel tiefer ist. Zunächst sieht er dasWesen der christlichen Liebe nicht im Erdulden aller Ungerechtigkeiten: Wo er fühlt, daß man ihm in der Gemeinde oder vor der Behörde Unrecht tut, datritt er fest für sein Recht ein. Der römische Beamte in einer Stadt hat ihn geißeln lassen; Paulus ist römischer Bürger, und ein solcher darf nicht gegeißelt werden. Lest Apostelgeschichte 17. Gerade die Korinther, an die dasWort über die Liebe gerichtet ist, haben es erfahren dürfen, daß der Apostel nicht mit sich machen lasse, was man wolle. Lest nur einmal das 9. Kapitel des ersten Briefes: Man hatte dem Apostel nachgeredet, er sei Apostel nur des Geldes wegen, mit dem ihn die Gemeinden unterhalten. Und nun zeigt Paulus in ganz entschiedenen Worten, daß er allerdings Recht habe, von den Gemeinden erhalten zu werden: «Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert» [Lk. 10,7]. Und wenn er nicht auf diesen Lohn Anspruch mache, so sei es nicht, weil er nicht ein Recht dazu habe, sondern aus ganz andern Gründen. Wasist nun dasWesen der christlichen Liebe, die Paulus als dasHöchste verkündet, nach dem, was er im Leben bewährt hat? Da brauchen wir nicht lange zu suchen: Was trieb ihn aus seiner Ruhe hinaus? Warum erduldet er Leiden, Gefahr, Marter und Hohn, um Leuten, die

Nun aber bleibt Glaube,

Hoffnung, Liebe

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er nicht kennt, das Evangelium zu verkünden? Aus christlicher Liebe. Was gibt ihm die Kraft, Gemeinden, für die er alles getan und die ihn dann schlecht behandelt, zuletzt immer wieder zu verzeihen und ihnen als seinen lieben Kindern zuverzeihen? Die christliche Liebe. Das ist die wahre christliche Liebe und [Paulus] der Mann, der so gelebt, daß die Liebe bleibt und das Größte im Christentum sei. So wurde er zum Missionar durch die christliche Liebe, und alle christliche Missionstätigkeit ist nicht etwas neben dem christlichen Leben, sondern der natürliche Ausfluß der christlichen Liebe.¦25¿ An dem Beispiel des Apostels Paulus möchte ich, daß wir immer mehr erkennen, daß die wahre christliche Liebe nicht eine falsche Nachgiebigkeit, sondern etwas viel Tieferes ist, was man nicht in Worte fassen kann. Diese wahre Liebe besitzen wir, wenn wir in uns das Streben haben, nicht uns selbst zu leben, sondern je nach Stand und Beruf für die, welche unsere Nächsten sind. Die wahre christliche Liebe und die christliche Arbeit sind dasselbe. Die wahre christliche Liebe ist der Gedanke, daß unser Leben im Dienste Jesu steht. Nur wenn wir so mit dem Apostel daswahre und tiefste Wesen der christlichen Liebe erfassen und leben, dann verstehen wir auch, warum das größer ist als Glaube und Hoffnung. Der Glaube und die christliche Hoffnung können bei den Christen verschieden sein, sie können wechseln im Lauf der Zeiten, sie sind verschieden wie Beruf und Bildung, aber die christliche Liebe bleibt dieselbe zu allen Zeiten und in allen Lagen: Sie ist das innerste Wesen des Christentums, das, wodurch es sich von allen andern Religionen auszeichnet. Glauben gab es vor Christus, Hoffnung gab es auch vor ihm. Liebe gibt es erst, seitdem er uns gelehrt. Darum ist sie dasHöchste, und nur der kann es verstehen, der ein christliches Leben in Liebe führt. Das gebe uns Gott.

25 [R] Jetzt wird auch klar, warum die christliche Liebe dasHöchste ist: 1) Sie ist das allen Gemeinsame. 2) Sie bleibt sich immer gleich. 3) Sie ist dasNeue im Christentum. – So ist es wahr: «Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.»

III. Predigten desJahres 1900

Predigt Sonntag, 28. Januar 1900, [Günsbach]¦1¿

Mk. 10,13–16: [Jesus segnet die Kinder]¦2¿ In dem Wesen der Kinder liegt ein eigentümlicher Zauber. Aus dem Kinderauge blickt uns eine Welt entgegen, die in uns ein Heimweh wachruft. Wer hat es nicht schon empfunden vor einem schlafenden Kinde? Die Brust hebt und senkt sich. Die kleinen Händchen sind geschlossen, und auf dem Antlitz liegt ein Hauch stillen Friedens und stillen Glückes. Wer hat es da nicht empfunden, wie nichtig unser irdisches Jagen und Hasten ist, wie eigentlich alle Befriedigung, die wir erwarten können, dieses stille Glück nicht wert ist? Es scheint gerade, alsob diejenigen, welche in demgewaltigen Ringen der Menschheit voranstehen, die großen und tiefen Geister der Menschheit, noch fast mehr als die andern, deren Leben ruhig und still verläuft, sich zu den Kindern hingezogen fühlten, gleichsam als ob sie hier, wenn auch nur für einen Augenblick, Ruhe und Erquickung finden könnten. Dies scheint uns so natürlich und verständlich, daß wir in dem Leben der großen Männer etwas vermissen, wenn das rein Menschliche bei ihnen nicht in der Liebe zu den Kindern zum Durchbruch kommt. So glaube ich, würde das Leben Jesu etwas an Zauber für uns verlieren, wenn uns die eben verlesene Geschichte nicht begegnete. Trübe Wochen lagen hinter ihm. Er kommt hoch aus dem Norden, von Cäsarea Philippi, wo er zuerst denJüngern vom Leiden gesprochen. In Eile durchzieht er Galiläa. Kaum rastet er in den Ortschaften, wo die Menge seinen Worten gelauscht. Unerkannt zieht er dahin. Sie wandel1 [Da nach dem Kirchenboten Schweitzer nicht in St. Nicolai gepredigt hat, hielt er diese Predigt wohl in Günsbach. Dazu schreibt er in A.Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, in: Bd. 1, S. 47:] «Gar manchmal bin ich injenen Jahren auf den Sonntag, wenn ich zu St. Nicolai frei war, nach Günsbach gefahren, um meinen Vater zuersetzen.»] 2 [Und sie brachten Kindlein zu ihm, daß er sie anrührte. Die Jünger aber fuhren die an, die sie trugen. Da es aberJesus sah, ward er unwillig und sprach zu ihnen: Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen. Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie.]

Jesus segnet die Kinder

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ten durch Galiläa, und er wollte nicht, daß esjemand wissen solle, sagt unser Evangelist. Es geht nach Jerusalem, demTod entgegen. Doch ehe er die Grenze überschreitet, dawird ihm noch ein Abschied bereitet, der ihn bis ins Innerste ergreift und seinen Blick zurücklenkt in die glückliche galiläische Frühlingszeit. Frauen haben gehört, der Mann, der draußen vor dem Flecken mit seinen Gefährten raste, sei der Prophet von Nazareth – er verlasse Galiläa und ziehe nach Jerusalem. Nun nehmen sie ihre Kindlein und bringen sie ihm, daß der Prophet sie anrühre. DieJünger wollen sie zurückweisen, der Meister sei müd und sein Sinn betrübt, sie sollten ihn nicht mit ihren Kindern belästigen. Er aber wendet sich in plötzlicher Ergriffenheit umundgebietet ihnen Schweigen. In seinem Innern erklingt ein Ton aus vergangener Zeit. Er wollte fortziehen, ohne Abschied, undjetzt bringen sie ihm Kinder – der letzte Gruß Galiläas. Sein Herz wird weich und sein Blick wird mild, und er feiert eine stille Abschiedsstunde mit diesen Kindern. Die ganze glückliche Zeit steigt vor seinem Blick auf.Ja, einst war er glücklich. Er hatte ihnen gepredigt am See von dem Reiche Gottes, er hatte ihnen gepredigt, einfach und schlicht, von dem Vater im Himmel und von der Liebe – und sie hatten ihn nicht verstanden, denn sein Wort war zu schlicht und seine Lehre zu einfach. Ach, wären sie nicht so verbildet gewesen durch die Gesetzeslehren, hätten sie ihn einfach und kindlich verstanden, er müßte jetzt nicht Galiläa verlassen und wie auf der Flucht nachJerusalem ziehen, demTod entgegen. Nun bringen sie ihm Kindlein! – und auch sie will man noch von ihm abwehren, o nein! «Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist dasReich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer dasReich Gottes nicht empfängt wie ein Kindlein, der wird nicht

hineinkommen.» Sie hatten die Kindlein dem Propheten von Nazareth gebracht – und der Heiland, der Bringer des Reiches Gottes, nimmt sie an. Sie wollten, daß er sie nur anrühre – und er drückt sie an sein Herz und legt die Hände auf sie und segnet sie. Sie brachten die Kinder, daß sie etwas empfingen, und nun ist er der Gebende, weil er auch der Empfangende ist. Sie haben ihm eine Stunde beschert, schön und wehmütig, deren Erinnerung in ihm auf dem ganzen Wege noch nachzittert, bis der Kampf in dem dumpfen Jerusalem begann. Das war der Abschied Jesu von den galiläischen Kindern. Haben die Weiber verstanden, wasJesus ihren Kindern geschenkt? Als einige Wochen nachher die Kunde vonJesu Ende ausJerusalem kam, fiel wohl aus dem Mutterauge eineTräne auf die Kinderstirn, die einst sein Mund geküßt? Was ist aus diesen Kindern geworden? Wir wissen es nicht. Als sie

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groß wurden, da brach das Unglück über Jerusalem herein. Vielleicht fielen sie auf den Mauern, vielleicht verschmachteten sie in der Gefangenschaft, die Kinder, die er einst geherzt hatte. So scheint diese Geschichte wie der letzte Sonnenstrahl, der auf Galiläas Boden Jesu Haupt umspielt, während die dunkeln Wolken schon sein Schicksal heraufführen. Es war ein kurzer Sonnenstrahl – und doch fällt sein Schein bis in die fernste Zeit der Christenheit. Sie hat den Kindern ihr gutes Recht erkämpft, auch äußerlich dem Reich Gottes anzugehören. Als man die Kindertaufe abschaffen wollte, weil kein Befehl Jesu vorliege und sie diese Handlung noch nicht verständen, da haben die Reformatoren immer wieder auf diese Erzählung hingewiesen und gezeigt, daß auch schon die Kinder vonJesus der Teilschaft am Reiche würdig befunden wurden. Für uns wollen wir, nachdem der Kampf um die Kindertaufe vorüber, ausdieser Erzählung eine andere Bedeutung schöpfen. Sie soll uns dasWesen des christlichen Segnens und der christlichen Handauflegung kundtun, berichtet sie uns doch vom einzigen uns bekannten Fall, daß Jesus durch Handauflegung gesegnet habe. Zunächst, was ist schon äußerlich das Kennzeichen der christlichen Segnung von der alttestamentlichen? Das Herzliche. DieWeiber begehren vonJesus, daß er als Prophet ihre Kinder anrühre, daß vom Geiste seine Kraft von ihm auf ihre Kleinen ausgehe. Und siehe, hier ist mehr denn ein Prophet! Des Menschen Sohn herzt die Kinder, legt die Hände auf sie und segnet sie. An die Stelle der geheimnisvollen, ernsten und würdigen, steifen alttestamentlichen Handlung ist etwas Inniges und Herzliches getreten. So hat die christliche Segnung nicht einmal mehr dasÄußerliche mit der alttestamentlichen gemein. Auch die Form ist durchdrungen von dem neuen Inhalt. Der alttestamentlichen Vorstellung klebt etwas Magisches an. Jesus begrüßt die Kinder als Gäste des Reiches Gottes – und erst daraufhin segnet er sie. Unser christlicher Segen und die Handauflegung bezieht sich auf das Reich Gottes. Darum ist jene Handlung Jesu zwar nur ein leuchtender Strahl, der aber alles erleuchtet. Sie ist nicht etwas Vorübergehendes, sondern wir dürfen sie wiederholen ohne seinen Befehl, weil er sie auf dasReich Gottes bezogen hat. So wissen wir gewiß, daß die Kinder, die wir ihm durch die Handauflegung in der Taufe entgegenbringen, von denselben Liebesarmen genommen werden, die einst die galiläischen Kinder an dasHeilandsherz gezogen. Die christliche Handauflegung bedeutet die feierliche und herzliche Aufnahme in das Reich Gottes, in die christliche Liebesgemeinschaft. Jeder Schritt in dieser Gemeinschaft wird durch diese Handlung ausgezeichnet, durch christliches Segnen und Handauflegung geheiligt. Wir segnen die Täuflinge durch Handauflegung, indem wir Gott bitten, er möge diese Kindlein als Kinder seines Reiches annehmen.

Jesus segnet die Kinder

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Wenn sie dann größer geworden und schon begreifen können, was es heißt, Kinder Gottes, Kinder seines Reiches sein, dann legt sich bei der Konfirmation die Hand ihres Seelsorgers segnend auf ihr Haupt. Und wenn sich eines von diesen Kindern entscheidet, seine Gaben und seine Kraft dadurch in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen, daß es als Seelsorger und Prediger wirkt, dann empfängt es nicht eine besondere Weihe, sondern es wird durch segnende Handauflegung in den Dienst desReiches Gottes eingeführt. Christlicher Segen und Handauflegung bedeutet Aufnahme in die Liebesgemeinschaft des Reiches Gottes. Darum segnen wir die Kinder durch Handauflegung in der Konfirmation so. Noch einmal üben wir die christliche Handauflegung und Segen: Wenn wir diejenigen, welche sich dem Dienste der Predigt und Seelsorge weihen wollen, segnen. Es sind keine Kinder mehr, der Ernst des Lebens tritt an sie heran. Fernab scheint diejenige Handauflegung zu liegen von derjenigen, mit derJesus die galiläischen Kindlein gesegnet. Wir stehen jetzt in der Zeit, wo mehrere Jünglinge, nachdem sie sich durch ernstes Studium vorbereitet haben, durch Handauflegung in den Dienst unserer Kirche aufgenommen werden. Die Kinderzeit liegt hinter ihnen, und des Lebens voller Ernst tritt jetzt an sie heran. Und dennoch ist gerade für sie dasWort von Bedeutung, dasJesus sagt, bevor er den Kindlein segnend die Hand auflegt. Er spricht aus, daß das Reich Gottes ein Kindesgemüt verlangt. Hinter ihnen liegen einige Jahre ernster Beschäftigung mit der Wissenschaft. Man fürchtet oft, daß hierdurch das Einfache, Kindliche des Christentums Not leide. Ich glaube nicht, sondern je tiefer und ernster man eindringt in die Schrift, desto klarer hebt sich auf jeder Seite die große und einfache Gestalt unseres Herrn ab; und wer ihn dann so erfaßt, der wird gerade durch das einfache, kindliche Wesen den Herrn begreifen, in sich aufnehmen und den andern auch mitteilen können. Gerade derjenige, der durch Handauflegung in den Dienst der Predigt und der Seelsorge aufgenommen wird, bedarf dieses kindlichen Gemüts, damit er zu seinem Amte die kindliche Hoffnungsfreudigkeit bringe. Der Mund des Predigers, der ihn einsegnet, er könnte ihm erzählen von Enttäuschungen und von verfehlten Hoffnungen. Sie werden auch für ihn nicht ausbleiben. Gott schenke ihm, daß er mit einer solchen kindlichen Hoffnungsfreudigkeit die Handauflegung zu seinem Amte im Reiche Gottes empfange, die ihm alle Arbeit und auch alle Enttäuschung, die seiner harren kann, überwinden hilft. Und doch, erinnert nicht schon das Herzliche, der warme Ton in dieser Handlung anjene Handauflegung Jesu. Und dann – es fehlt ihr wie jener Handlung jedes Magische, jedes Übernatürliche – sie ist keine

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Priesterweihe, sondern sie erhält wie jene galiläische Handauflegung nur ihre Bedeutung durch die Beziehung auf dasReich Gottes.¦3¿

Morgenpredigt Faschingssonntag, 25. Februar 1900, St. Nicolai¦4¿

I Thess. 5,16: Seid allezeit fröhlich Röm. 12,15: Freuet euch mit den Fröhlichen undweinet mit denWeinenden Seid fröhlich allezeit. Es scheint überflüssig, gerade heute mit diesem Worte zur Fröhlichkeit aufzufordern. Die Welt um uns her ist von ausgelassener Lustigkeit. Alle Sorgen scheinen vergessen, wie wir in diesen Tagen denWinter vergessen, wenn wir ein warmes Lüftchen und etwas Sonnenschein spüren. Die Fröhlichkeit ist ja da, wozu noch zur Fröhlichkeit auffordern? Weil die Fröhlichkeit, die ich euch verkünden will, etwas ganz anderes ist als die Fröhlichkeit, die uns heute auf Schritt und Tritt begegnet. Das Wort des Apostels kündigt den Unterschied an: Seid allezeit fröhlich. Die Fröhlichkeit, die wir vor uns sehen, dauert nur einige Tage, dann bricht siejäh ab, und die nüchterne Alltäglichkeit tritt wieder grau und fahl ins Leben wie ein trüber Nachwintermorgen. Die Fröhlichkeit, von der wir sprechen wollen, kennt kein so ödes Erwachen, sondern soll allezeit dauern. Sie ist kein Februarsonnenstrahl, der bald durch Regenschauer verdrängt wird, sondern ein leuchtender Sommertag, wo die Abenddämmerung bis zur Morgenröte reicht. Und wie gerade jetzt ein irrender Sonnenstrahl in uns die ganze Sehnsucht nach sonnigen Sommertagen wachruft, so ruft diese vergängliche Freude in uns die Sehnsucht nach der unvergänglichen, allzeit dauernden Freude wach, von der uns der Apostel spricht. Wenn man von der Freudigkeit und Fröhlichkeit des Christentums spricht, dann denkt man zunächst an die himmlische, ewige Seligkeit im Gegensatz zu der irdischen, vergänglichen Freude. Sie bleibt. Was uns hier freut, dasvergeht. Sicher ist, daß, wenn wir die Hoffnung nicht hätten, daß nach all diesem Wechsel zwischen Freud und Leid einmal, wenn wir unsern Lauf vollendet, uns ungetrübte Seligkeit empfangen wird, wir oft betrübt wären und untergingen. Davon wollen wir heute nicht sprechen, sondern von der christlichen Fröhlichkeit in diesem irdischen Leben, die hier Paulus anführt. Nun, 3 [Der Schluß fehlt.] 4 [R] Diese Predigt lieferte ich als Probepredigt zum 2. Examen ein. Sie wurde aber als unreligiös beanstandet, und ich fiel fast durch. A. S.

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versteht ihn recht: Er will hier nicht irdische und himmlische Freude einander gegenüberstellen, sondern von einem bleibenden Frohsinn in unserm Leben sprechen.¦5¿ Wir reden also von der christlichen Fröhlichkeit in unserm irdischen Leben, zu der der Apostel hier auffordert. Über dasVerhältnis der irdischen Fröhlichkeit zum Christentum gibt es zwei Ansichten¦6¿: 1. Die irdische Fröhlichkeit hat mit dem Christentum nichts zu tun. Aber da sie nun einmal im Bedürfnis der Menschen liegt, muß man sie bis zu einem gewissen Grad dulden. Die 2. sagt: Die irdische Fröhlichkeit an sich ist nicht gegen den Christenberuf. Sie ist nicht etwas neben dem Christentum, sondern wie das Christentum unser ganzes irdisches Dasein durchdringen soll, so soll es auch die irdische Fröhlichkeit läutern und in Besitz nehmen. Beide Anschauungen berufen sich auf die Schrift und führen diese und jene Aussage Jesu und derApostel für sich an. Nehmen wir einmal die erste, daß die irdische Fröhlichkeit mit dem Christentum nichts zu tun habe, von ihm aber etwa wie ein notwendiges Übel geduldet werden muß. Wir wollen nicht sehen, wie sie entstanden ist, sondern wozu sie geführt hat und ob sie den evangelischen Ansichten, besonders der heutigen Zeit, noch entspricht.¦7¿ 5 [Gestrichen:] Darf denn ein Christ wirklich fröhlich sein, ja allezeit fröhlich sein? Ich möchte darauf antworten, er darf nicht, sondern er soll es sein. Es ist etwas Eigentümliches um die Stellung des Christen zur Fröhlichkeit. Es gibt viele Leute, die meinen, ein rechter Christ, derdürfe nicht fröhlich sein, dassei weltlich, man dürfe es nicht dulden.

6 [In einer andern Fassung heißt es:] Christentum geschwankt, welche Stellung es zu

der irdischen Fröhlichkeit einnehmen sollte. Man nannte Gründe und Aussprüche aus demLeben desHerrn: Fastenfrage, dann Evangelium erzählt, er sei bei Hochzeit gewesen. Bei Paulus finden wir Andeutungen. Bei Paulus finden sich noch mehr Andeutungen, eine zum Text genommen, andere jetzt schon anführen: Röm. 14,14. Aber eine Klarlegung, wie man sich zur Fröhlichkeit in irdischen Dingen verhalten soll, geben sie nicht. Von selbst entscheiden. Darum sind bis auf den heutigen Tag die Meinungen verschieden, und auch in diesen Tagen, wo dasTreiben – – hier und dort verlockt. Nehmen wir es im Ganzen, so sind es zwei Hauptmeinungen: 7 [Gestrichen:] Wie ist sie entstanden? Als das Christentum in die Welt trat, da stand es mitten in heidnischer Umgebung, und zwar zum großen Teil in einer verkommenen Zivilisation. Es wollte die Leute aus diesem heidnischen, vergnügungssüchtigen Leben zum Ernst bekehren. Darum wandte es sich gegen die weltliche Fröhlichkeit – denn jede weltliche Fröhlichkeit war damals heidnisch – und erklärte, das Christentum könne mit ihr nichts gemein haben, sondern wer Christ sein wolle, der müsse darauf verzichten. Die christliche Kirche tat damals recht daran. Aber es kam eine Zeit, wo sie diesen Grundsatz nicht mehr durchführen konnte. Als die Kirche immer größer wurde, da konnte sie diese Strenge nicht mehr geltend machen. Um die Leute nicht aus dem Christentum zu vertreiben und damit sie nicht die Freude in heidnischen Kreisen suchten, weil die Kirche sie ihnen nicht bot, so erlaubte sie ein gewisses Maß. So zog die weltliche Freude in die christliche Kirche ein, heimlich und in ihrem heidnischen Gewande, denn das Christentum litt sie nur neben sich, aber es durchdrang sie nicht. Es gab also keine christliche Fröhlichkeit. Alles, was nicht sich auf die Kirche bezog,

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In den heutigen Tagen kann man es am besten sehen, daß die Fröhlichkeit, wenn sie auch von der christlichen Kirche geduldet ist und ihren Platz im Kirchenjahr angewiesen bekommt, in ihrem innersten Wesen gemein geblieben ist und ihre rohen Züge behalten hat, weil das Christentum sie nicht veredelt. Sie ist fast ein Hohn auf das Christentum selbst geworden. Wasist also der Erfolg? Es ist ein toller Ausbruch, damit nachher, wenn ausgetobt ist, das Christentum wieder in sein Recht treten könne. Es ist in tiefstem Sinne gemein und weltlich gerade wie der Spruch, man müsse dieJugend austoben lassen, damit sie zu ehrbaren Leuten heranwachse. Wohin hat uns diese Duldung der weltlichen Fröhlichkeit geführt? Daß wir jetzt glauben sollen, diese Menschen, welche jetzt in ausgelassener Lustigkeit und, weil unerkannt, in der größten Gemeinheit sich ergehen, dieses tun, um, wenn wir in die Zeit des Leidens des Herrn eintreten, durch Fasten undVerzichten aufjede äußere Fröhlichkeit diese Leidenszeit mit größerer Sammlung durchleben zu können! Dahin sind wir also gelangt, daß uns dieses Treiben, welches geschichtlich auf heidnische, ausgelassene Festzüge und heidnische Feiern zurückgeht, eine Beziehung auf die Leidenszeit des Herrn gegeben hat. Dahin führt also die Meinung, daß die irdische Fröhlichkeit nicht christlich sei, aber von der Christenheit bis zu einem gewissen Grad geduldet wird. Wie auf der einen Seite die Fröhlichkeit einen gemeinen Zug annimmt, so kann das Christentum auf der andern Seite auch die edlen Seiten der menschlichen Fröhlichkeit nicht anerkennen und eine wahre und edle Lebenslust nicht mit dem Christentum vereinen. Denn was gehört zu einer Lebensfreudigkeit? Nicht nur Vergnügungen, sondern alles Feine, was das Leben verschönert und ihm Wert gibt: die bürgerliche Arbeit, die Kunst, die Wissenschaft, die Familie. Auch diese Art von Lebensfreudigkeit ist in der katholischen Kirche zur Seite gestellt. Das Ideal deschristlichen Lebens ist der Mönch, der ohne Familie ein eintöniges Leben führt, wo die Arbeit nur da ist zur körperlichen Bewegung, wo wahre Kunst und wahre Wissenschaft sich nur auf heilige Gegenstände beziehen darf. Ehe, Familie, weltliche Arbeit, weltliche Wissenschaft, weltliche Kunst werden für den gewöhnlichen Christen zwar geduldet, aber die Kirche versucht nicht, die ganze Lebensfreudigkeit, die darin liegt, zuveredeln. Was werden wir also hierzu sagen? Wenn die Stellung des Christentums zur irdischen Fröhlichkeit darin besteht, daß es sie neben sich notwar gleichsam unheilig und nur geduldet. Diese Meinung ging durch bis auf den heu-

tigen Tag. Welches ist nun der Erfolg dieser Stellung des Christentums zur irdischen Fröhlich-

keit?

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gedrungen duldet, so ist die Folge daraus verhängnisvoll. Auf der einen Seite ist es genötigt, um des Volkes willen eine Lustbarkeit zu dulden, die nicht nur unchristlich, sondern gemein ist. Auf der andern Seite [gelingt es ihm nicht], gerade die edlen Seiten der menschlichen Lebensfreudigkeit zu erfassen und zu veredeln, Familie, Arbeit, Wissenschaft, Kunst in sein Licht zu rücken und zuverklären. Es ist dies besonders die katholische Auffassung, aber sie wird gewöhnlich für die allgemeine, evangelisch christliche gehalten.¦8¿ Und wenn die ganze Fröhlichkeit um uns herum einen unchristlichen Charakter trägt, wenn das Gemeine, das Rohe, das Heidnische sich breit macht, dann trägt das Christentum daran schuld: Es hat gehandelt wie ein Gärtner, der schöne Blumen in seinen Beeten züchten wollte und doch in denWegen nicht alles Unkraut und wilde Gras herausriß, um es durch Edelgras zu ersetzen, sondern ein wenig stehen ließ, und unvermerkt ist es immer mehr gewachsen und droht, die gepflanzten Blumen zu ersticken, wenn nicht schleunigst Abhilfe geschafft wird und ein entschlossener Gärtner kommt, der das gemeine Gras herausreißt und edles dafür pflanzt, welches mit den Blumen zu duftigem Strauß sich zusammenfügt. Man darf heute einen Menschen nicht mehr beschuldigen, ein Schwarzseher und ein Pessimist zu sein, wenn er behauptet, daß, wenn die Dinge so weitergehen, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, wir unabweisbar einem großen Unheil entgegengehen, indem die Massen desVolkes und große Kreise der Gebildeten sich vom Christentum loslösen, in ihrem Leben und in ihren Vergnügen unchristlich werden. Man braucht da keine großen Statistiken, sondern man gehe nur an einem Sonntagabend durch die Stadt, man sehe, in welchen Vergnügungslokalen Erwachsene und dieJugend sich zusammendrängen, man sehe die schwankenden, betrunkenen Gestalten, man höre den heiseren Gesang, man trete ein in den Qualm und die Stickluft der Vorstadtschenken, wo der Wochenlohn unter Flüchen draufgeht – das ist die Fröhlichkeit in einem christlichen Land, Sonntagabendfeier! 8 [Gestrichen:] Ist dies nun berechtigt, ist es die einzige Stellung, die das Christentum zu der weltlichen Fröhlichkeit nehmen kann? Nein; diese abweisende oder bloß duldende Stellung, sie hatte so lange Geltung, als das Christentum mit dem Heidentum kämpfte undin der Fröhlichkeit überhaupt die heidnische Zügellosigkeit undden heidnischen Leichtsinn verwarf, wo jede öffentliche Veranstaltung heidnischen Stempel trug, wo jede Dichtkunst die Götter besang, wo die Malerei und Bildhauerkunst die Götter darstellte, wo die Wissenschaft heidnische Lebensweisheit brachte. Aber das ist ja heute gar nicht der Fall oder sollte es nicht sein, denn das Christentum herrscht ja bei uns überall, unser ganzes Leben, unser Denken, unsere Kunst, alle unsere Einrichtungen sollten christlich sein und nicht unchristlich, so daß das Christentum sie abweisen oder sie bloß dulden darf.

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Auf dem Lande sieht es nicht besser aus: Unsere Volksfeste sind roh geworden, von Zucht und Anstand ist da nicht mehr viel. Und in den oberen Ständen sieht es gerade so aus, nur ist es verhüllt, verfeinert (darum noch gemeiner). Unsere Fröhlichkeit ist unchristlich; und wenn man dies alles ansieht, da möchte man fragen: Was wird noch aus unseremVolke werden? und möchte verzweifeln an der alles überwindenden Macht desChristentums. Die Sache steht schlimm, aber hier kann noch geholfen werden, und hoffentlich ist die Zeit nicht ferne, wo man das einsieht. Allgemeine Redensarten über zunehmende Vergnügungssucht im Volk treffen den Kern der Sache nicht, und mit dem Reden von der guten alten Zeit ist auch nichts gewonnen. Was daran ist, geht uns hier nichts an. Wir wollen auf diese Redensarten nur eines sagen: Das Leben ist in unserer Zeit viel arbeitsreicher, viel mühseliger geworden als früher, die Erholungszeit ist kürzer, und in demselben Masse ist auch der Drang nach Erholung und Ausspannung gewachsen. Wer die ganze Woche im Fabriksaal gestanden, der empfindet, wenn die Maschinen ruhen, einen größeren Drang nach Fröhlichkeit und Frohsinn, um der Arbeit wieder freudig entgegengehen zu können, als dies in dem behaglichen Leben der früheren Zeit notwendig war. Und wer die ganze Woche in dumpfen Sälen zugebracht, der muß hinaus, wenn die freie Zeit kommt. Mag also der Durst nach Vergnügen und Fröhlichkeit sich immerhin steigern, dasliegt in denveränderten Verhältnissen; darin liegt dieGefahr nicht, sondern darin, daß dieses berechtigte Verlangen auf eine falsche Bahn gelenkt wird. Und diesist immer der Fall, sobald es christlicherseits nur als etwas Geduldetes angesehen wird. Die Rettung ausdieser Gefahr, daß gerade durch das Bedürfnis der Fröhlichkeit unser Volk entchristlicht werde, eine Gefahr, die ich hier nur in den äußersten Strichen zeichnen konnte, weil sie in diesen Tagen gerade sichtbar und grell auftritt, die Rettung aus dieser Gefahr kann nur erfolgen, wenn das Christentum zu der weltlichen Fröhlichkeit eine andere Stellung einnimmt, sie nicht duldet, sondern sie in sich aufnimmt, verklärt und heiligt.¦9¿ Die Fröhlichkeit auf der christlichen Welt [ist] christlich: Man bedenkt gar nicht, was diese paar Worte für ein Paradies [auftun], wo man allerwegen und überall des Apostels Wort aussprechen könnte: «Freuet euch allezeit.» Nehmen wir an für einen Augenblick, es sei eingetreten, es sei heute eingetreten. Wir treten auf die Straße hinaus: Statt der vermummten und verlumpten Gestalten sehen wir lauter ernste oder fröhliche Gesich9 [Gestrichen:] Wir halten also dafür, daß die irdische Fröhlichkeit an sich nicht gegen den Christenberuf ist, sondern daß dasChristentum die letzten Fäden unseres irdischen Daseins und unserer irdischen Verhältnisse durchdringen soll und daß unsere Fröhlichkeit und die Fröhlichkeit unserer christlichen Welt überhaupt christlich sein soll.

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ter, je nachdem es die augenblickliche Lage eines jeden mit sich bringt. Wir lesen die Anzeigen auf den Anschlagsäulen: Nichts beleidigt unser Auge oder Sinn, sondern wir möchten überall hingehen. Statt vor dem oder jenem Lokal auf der Schwelle stehen zu bleiben und uns zu fragen, ob hier der Platz ist, wo ein Christenmensch, und überhaupt ein anständiger Mensch, sich niederlassen kann, ohne sich seiner schämen zu müssen, treten wir zuversichtlich ein, denn da tönen unskeine gemeinen Lieder entgegen. Über alles, waswir hören, können wir aufrichtig fröhlich sein; wir schlagen ein heiteres Blatt auf, das auf demTisch liegt, statt schlüpfriger Zeichnungen und schmutziger Witze heiterer, züchtiger Frohsinn; wir unterhalten uns mit ein paar jungen Leuten, die an einem Tisch sitzen: Sie sind fröhlich, aber man hört keine

gemeine Rede, keine Händel, keine Raufereien. So ist’s auch auf den Straßen: Wir treten in die Häuser: auch da helles Lachen und Frohsinn und viel Familienleben. Nun kommt der Abend: Man sieht keine Betrunkenen, kein Schreien, kein Brüllen – ausjedem Wort undjeder Rede, auf jedem Antlitz liegt etwas Fröhliches – man meint, es ist Sonntagsfreude. Dabei sind die Leute gar nicht, was man Kopfhänger heißt, und das Christliche zeigt sich gar nicht, wie man so meint, daß sie salbungsvoll reden und in jedem Ding Bibelsprüche anbringen, und man fühlt doch überall, daß diese Fröhlichkeit christlich ist, es liegt in ihr wie der Duft in einer Blume. Man fühlt, es ist nichts vorübergehendes: Auf diese Sonntagsfröhlichkeit kann kein ödes Montagserwachen folgen, sondern dieselbe Fröhlichkeit begleitet die Arbeit und mildert dasUnglück. Nun erwachen wir wieder zurWirklichkeit, und es will uns scheinen, als hätten wir geträumt, einen Traum, der nie Wirklichkeit wird. Hier möchte ich fragen: Glaubst du denn, daß er nie Wirklichkeit wird? Er gibt uns das Bild von der christlichen Fröhlichkeit. Glaubst du, daß die christliche Fröhlichkeit etwas ist, auf deren Erreichbarkeit wir verzichten müssen? Dann bedauere ich dich, denn dann gibst du den Glauben an die Überwindung der Welt durch das Christentum auf. Wir halten fest daran, daß einst die Zeit kommen wird, wo das Christentum alle Verhältnisse des menschlichen Lebens durchdringt und auch eine christliche Fröhlichkeit gibt. Daran zu arbeiten ist unsere Pflicht. Weil diese Zeit aber noch nicht da ist, so gilt es für uns zu fragen, zunächst, wie können wir daran arbeiten, und wie hat es der Christ unter den gegenwärtigen Verhältnissen mit der menschlichen Fröhlichkeit zu halten? Was können wir tun, daß das Christentum die menschliche Fröhlichkeit durchdringe und veredle? Wir wollen hier nicht allgemein reden, sondern sehen, was einjeder in seinem Stand und seinen Verhältnissen tun kann. Die schönste Rolle fällt hier den Eltern zu: Erzieht eure Kinder nicht nur zur Arbeit, sondern auch zur Fröhlichkeit. Das letztere ist oft noch

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schwerer und mühsamer als das erstere. Mischt euch in die Fröhlichkeit eurer Kinder. Ihr gebt ihnen damit einen kostbaren Schatz, der ihnen im ganzen Leben nachgeht. Es kostet ja oft eine große Anstrengung, am Abend oder am Sonntagabend sich noch mit den Kindern abzugeben und sich in ihre Spiele hineinzufinden, man ist müd, man möchte die Zeitung lesen, man möchte ausgehen. Da überwinde dich ein wenig, die Sache ist’s wert. Du hast vielleicht Dienstboten, die sie beaufsichtigen könnten, oder sie können untereinander spielen, oder sie können ein Buch nehmen, damit Ruhe ist: Das alles ersetzt es nicht, denn niemand als du kann in dem Kinde den Sinn für dasReine, für das Schöne, für dasWohlanständige in der Fröhlichkeit eingeben und in heiterem Spiel anerziehen als du, und dann kannst du dich und deine Kinder damit gewöhnen, die Fröhlichkeit nicht außer dem Hause, sondern im Hause zu suchen, und dasist eine wertvolle Gabe. Und wenn sie größer werden, dann rede auch einmal ernst mit ihnen. In der Welt werden sie noch genug den Grundsatz hören: Jugend muß ausgetobt haben. Lehre sie fröhlich sein und dabei ihre Würde wahren. Jeder Mutter möchte ich hier zurufen: Mach, daß dein Sohn, wenn er einst groß geworden, durch dich das Dichterwort in seine Seele gegraben: «Wollt ihr wissen, was sich ziemt, so fragt nur bei edlen Frauen an.» Und wenn sie dann einmal, groß geworden, aus dem Elternhaus hinausziehen, dann laß sie ruhig gehen. Sie haben den Sinn für dasEdle empfangen, das Unedle zieht sie nicht mehr an, sondern stößt sie ab, und dein Blick folgt ihnen, wenn sie der Fröhlichkeit nachgehen. Sie haben gelernt, wo die schönste Fröhlichkeit wohnt: im Familienkreis, und Gott gebe, daß sich ihnen hier und dort eine Tür öffnet, wo sie das wiederfinden, wassie imVaterhaus hatten. Wenn du bedenkst, wie froh du einmal bist, wenn deine Kinder in der Fremde Aufnahme gefunden, so erwäge, wie viele Eltern deiner Bekanntschaft jetzt in deiner Lage sind. Du weißt nicht, was du hier Gutes tun kannst mit ein wenig Selbstüberwindung: Gib einem Kind, das im Kosthaus ist, einem jungen Mann, der allein wohnt, sich vielleicht gewöhnen würde, seinen Sonntag stumpfsinnig im Wirtshaus zu verbrüten, gib ihm Gelegenheit, christliche Fröhlichkeit in christlichem Hause [zu erfahren]. Ich glaube, mancher junge Mann könnte da aus Erfahrung sprechen, welche Bedeutung solche Sonntagabende in seinem Leben gehabt. Noch eins: Du hast vielleicht einen Dienstboten oder eine Magd. Manchmal hast du darüber geklagt, daß sie am Sonntagnachmittag mit ihren Bekannten herumziehe, auf den Tanzplatz gehe und am Montag mürrisch und verdrießlich ist. Du hast es schon erlebt, daß ein solches Mädchen dann auf schlimme Wege geriet. Und wenn man dich nun fragte: Was tust du denn, um dein Mädchen von diesen Zerstreuungen,

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die ihm nichts taugen, und über die seine Eltern in Sorge wären, zurückzuhalten, so müßtest du vielleicht antworten: nichts. Wäre es denn so schwer, daß du dafür sorgtest, daß sie mit einer Freundin in deinem Haus einen fröhlichen Sonntagnachmittag, von dem sie auch etwas hat, zubringt? Laß sie nicht oben in ihrer Kammer sitzen und meine, du habest deine Pflicht getan, wenn du ihr die paar Stunden frei gibst, sondern wenn sie in deinem Haus dieWoche war, so sorge, daß sie auch in deinem Hause die Fröhlichkeit und Heiterkeit finde, der sie zur Erholung bedarf, und such auch auf sie einzuwirken, ihr den Sinn für das Gute und Edle auch in der Zerstreuung beizubringen. – Wer weiß, wie dankbar sie einmal darum ist, wenn sie sich verheiratet und Kinder hat. Um die Fröhlichkeit zu verchristlichen, gibt es aber Aufgaben, die den Rahmen der Familie bei weitem überschreiten. Wir stehen erst in den Anfängen, alles sind noch Versuche, die du nicht immer billigst, die du aber doch um des edlen Zweckes willen unterstützen mußt. Mit der Zeit wird sich die Sache schon klären. Mach nicht, daß du dir einen Vorwurf machen mußt, wenn diese Versuche aus Mangel an Interesse eingehen und die Männer, die sie ins Leben gerufen, den Mut verlieren. Am schönsten ist es, wenn du mit deiner Person helfen kannst. Du bist jung: Man wendet sich an dich, um in einem Jünglingsverein oder Jungfrauenverein mitzuhelfen, du sollst vielleicht gar einen Sonntagnachmittag opfern. Dann bitte ich dich auch hier, überwinde dich etwas, die Sache ist es wert, denn bedenke, es soll hier ein Ort geschaffen werden, wo Leute, die sonst am Sonntag allein stehen würden, Anregung, Fröhlichkeit finden und erquickt wieder an die Arbeit gehen. Dafür wäre dir ein Nachmittag, den man dir abfordert, zu teuer? Dann ferner: Laß dich nicht überall mit Gewalt herzerren, wenn du so etwas tun sollst, sondern biete dich an, lebe dich einmal hinein, und duwirst selbst, indem dufür Fröhlichkeit sorgst, Fröhlichkeit finden. Wenn man in solchen Sachen dich um eine Geldunterstützung angeht, prüfe sie, und wenn sie es wert ist und es dir möglich ist, dann gib. Es will dir zwar manchmal scheinen, als ob bei allen diesen Unternehmungen nicht viel herausschaue: Jünglingsvereine, Volksvereine, und wie sie alle heißen, Volksbibliotheken etwa, gar Volkskonzerte und Volkstheater – daswill dir nicht recht in den Kopf: Früher hat manja so etwas nie gekannt, und es ging doch. Das ist eine schlechte Entschuldigung, Faulheitstrost: Neue Zeiten, neue Verhältnisse, neue Forderungen. Vielleicht kannst du an irgend etwas sparen – an einem Vergnügen, dasnicht so edel ist. Hat dir Gott besondere Gaben zur Verschönerung und Erheiterung des menschlichen Daseins gegeben, bist du Künstler, Maler, Dichter, Schriftsteller oder was sonst noch und in welchen Grenzen, dann be-

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denke, daß du damit zu den Knechten gehörst, die viel empfangen und daher über viel Rechenschaft geben müssen. Besitzest du diese Gabe im kleinen, dann bilde sie für das Schöne, Edle und Nützliche aus und nicht für das Gemeine und diene damit der guten Sache, in welchem Masse du kannst. Gerade diejenigen, die solche Gaben empfangen haben, tragen eine große Verantwortung und haben eine große Aufgabe, eine große Verantwortung, wenn sie sie in den Dienst desGemeinen stellen. Ein geistreiches, aber gemeines Buch, ein gelungenes, aber unsittliches Bild, ein leichtsinniges Spottgedicht, ein schlüpfriges Theaterstück – was für Unglück richtet hier nicht eine Gabe an, die, in den Dienst des Edlen gestellt, der Menschheit unermeßlich nützen könnte. Ach, wenn doch alle Schriftsteller und Künstler dies bedächten, wenn sie doch nur den Gedanken hätten, daß das, wassie schaffen, den christlichen Meister erkennen lasse, die Hälfte derArbeit wäre getan. Ich will gar nicht sagen, daß es nur kirchliche Kunst soll geben – nein, das hielt ich für ein Unglück, sondern die profane Kunst soll die edlen Züge des Christentums tragen, das ganze Denken, Empfinden und Fühlen unserer Zeit unmerklich durchdringen und veredeln. Ich will hier nur an die Bilder von Ludwig Richter erinnern: Welche reine Welt strömt unsdaentgegen. Ich habe hier nur mit ein paar Worten andeuten können, wie jeder nach Stand undBeruf daran arbeiten könne, daßdieFröhlichkeit derWelt durch das Christentum veredelt werden könne. Vielleicht haben sie aber doch dazubeigetragen, unsin manchem einen Weg zuzeigen, denwir bisher nicht gesehen. Laßt mich noch eine Ermahnung anknüpfen, daß man ihn recht betrete. LaßdasChristentum nicht denMantel sein, denmander Fröhlichkeit umhängt, sondern denleuchtenden Grund, derdie Sonnenstrahlen durch dasWasser zurückwirft. Eine Fröhlichkeit ist nicht dann christlich, wenn sie auf Schritt und Tritt fromme Redensarten bringt, sondern wenn sie durch ihren Adel ihre christliche Abkunft zeigt. Nachdem wir nun gesehen haben, wie wir alle, welchen Ständen und Kreisen wir angehören, welches unsere Gaben sind, an dem großen und notwendigen Werk arbeiten können, nachdem wir gesehen, daß dieses Ziel nicht so unerreichbar ist, wie es auf den ersten Anblick scheint, wollen wir nun noch betrachten, wie sich der Christ in unserer Zeit, wo dies Ziel noch nicht erreicht ist, verhalten soll. Hier gilt zunächst der Satz: Unterstütze weder durch Geld noch durch Anteilnahme ein Unternehmen, das den edlen Charakter der christlichen Lebenslust und Fröhlichkeit verleugnet; wir handeln da oft ganz gedankenlos. Woher kommt es, daß die leichtfertigen Schauspiele, die ungesunden Theaterstücke, die schädlichen Bücher, die gemeinsten Witzblätter immer wieder in die Höhe kommen und edlere Unternehmen zugrunde gehen? Weil sie viel besucht und gelesen werden.

Freuet euch mit den Fröhlichen

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Aber die Leute, die dasbesuchen und lesen, dassind nur zum geringsten Teil solche, die sich hier wirklich in ihrem Element fühlen. Mehr als die Hälfte sind durch Neugier oder Gedankenlosigkeit dabei. Man will sich’s einmal ansehn, man kauft so etwas, um es gelesen zu haben – und diese Leute unterstützen so Unternehmen undVeröffentlichungen, die sie mißbilligen. Würde jeder hier ein wenig mehr Selbstzucht üben, sowürde mancher Schriftsteller oder Künstler seine Gaben nicht in diese Bahn lenken, und manches von diesen Vergnügungs- undSchauspiellokalen würde nicht so emporkommen und manches schlechte Theaterstück weniger Zugkraft üben. Wenn unsere Schriftsteller und Künstler so oft ihre Gaben in den Dienst einer unchristlichen, gemeinen Fröhlichkeit stellen und die edle Seite ihres Schaffens darüber zugrunde geht, so ist daran das Publikum schuld, oft nicht einmal seine Schlechtigkeit, sondern noch viel mehr seine Neugier und Gedankenlosigkeit. Darum ist es eine christliche Aufgabe fürjedermann, hier Selbstzucht zu üben und Neugier und Gedankenlosigkeit zu beherrschen und einmal durch ein herzhaftes Wort am rechten Platz dafür einzutreten, daß andere auch darüber nachdenken. Für die Art, wie man selbst an der derzeitigen Fröhlichkeit teilnehmen darf und soll, gibt es zwei Regeln, die für alle Fälle gelten. Die erste lautet: Nimm nur da teil, wo du fühlst, daß du deiner christlichen Würde nichts vergibst und nicht gleichsam vergessen mußt für einen Augenblick, daß du Christ bist. Wo über das Christentum gespottet wird und das Gemeine sich breit macht, wo dasEdle, sei es auch durch ein verdecktes Wort, in den Staub gezogen wird, ja nur wo du fühlst, daß eine Fröhlichkeit herrscht, die dich nicht innerlich bereichert, da halte dich fern und geh nicht hin. Und wenn du im Unklaren bist, ob du da hineinpaßt oder nicht, dann frage dich nur, ob dich da hinein in Gedanken deine Mutter, alle diejenigen, die dir lieb und teuer sind, begleiten könnten; wo nicht, so halte dich fern, denn eine Fröhlichkeit, wo du vergessen mußt, daß du Christ bist und wo du die Bilder derer, die dir teuer sind, nicht in Gedanken mitnehmen kannst, ist für dich keine Fröhlichkeit mehr. In diesem Grundsatz wirst du immer, wer du auch seist, die Entscheidung finden für dich selbst. Aber wir sind nicht allein und leben nicht für uns allein. Darum kommt noch der zweite Grundsatz hinzu: Wenn du fühlst, daß durch Teilnahme an dem oder jenem, wozu dein christlich Gewissen dir Erlaubnis gibt, Anstoß erregst bei andern, so verzichte darauf, damit du nicht Ärgernis gebest. Es ist das keine Charakterlosigkeit, sondern eine Art der Äußerung der christlichen Nächstenliebe. Ich will hier nicht alle heutigen Verhältnisse, wo dieser Fall eintreten könnte, besprechen, sondern ich will nur auf zwei Fälle im Leben und Wirken des Apostels Paulus hinweisen, die ein Licht auf unsere Frage werfen, gerade weil Paulus ein so charaktervoller Mann war.

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Der erste befindet sich im I Kor. 8. Das Fleisch, das man in Korinth auf dem Markt kaufte, kam von den Götzenopfern: Es waren die Stücke, die auf dem Altar nicht verbrannt wurden. Von den Christen nun wagten die einen kein solches Fleisch zu essen, weil es mit dem Götzendienst zusammenhängt. Andere erklärten, die Götzen seien ja als nichts erkannt, nur einen Gott gebe es, also könne man dasFleisch ruhig essen. Und was sagt Paulus: «Sehet aber zu, daß diese eure Freiheit nicht gerate zu einem Anstoß der Schwachen und daß nicht über deiner Erkenntnis der schwache Bruder umkomme, um welches willen doch Christus gestorben ist. Darum, so die Speise meinen Bruder ärgert, wollte ich nimmermehr Fleisch essen, auf daß ich meinen Bruder nicht ärgere» [I Kor. 8,9– 13]. In einer ebensolchen Angelegenheit sagt er im Römerbrief 14,14– 15: «Ich weiß und bin gewiß in dem Herrn Jesus, daß nichts gemein ist an sich selbst; nur dem, der es rechnet für gemein, dem ist’s gemein. So aber dein Bruder um deiner Speise willen betrübt wird, so wandelst du schon nicht nach der Liebe. Verderbe den nicht mit deiner Speise, um welches willen Christus gestorben ist.» Das sind goldene Worte, die bis heute nichts von ihrem Glanz und Wert verloren haben. Wie steht es aber des näheren mit dem Grundsatz, daß das Ärgernis, welches wir einem andern geben könnten, uns zurückhalten soll, etwas, was wir von uns aus für gar nicht verwerflich hielten, zu tun? Hier gilt, daßje mehr die Augen der Christen auf dich gerichtet sind, desto mehr mußt du dich durch die Rücksicht auf die Schwachen bestimmen lassen. Ein Pfarrer, ein Lehrer tut manches nicht, hält sich von manchem fern, woran er selbst innerlich keinen Anstoß nimmt. Er tut es also um der Leute willen. Weder wird er dadurch charakterlos, noch bekundet er, daß er die betreffende Fröhlichkeit für irdisch oder unheilig ansehe, noch daß die andern dazu hingehen. Und so sei es mitjedem Christen. Darin liegt aber zugleich eine Verpflichtung für ihre Mitchristen, die daran Anstoß nehmen könnten. Ich sage ausdrücklich ihre Mitchristen, denn ich finde, daß gerade die Leute, die sich um das Christentum gar nicht kümmern, die nur eine unlautere Fröhlichkeit kennen, die ersten sind, welche darüber reden, wo der Christ sein dürfe und wo nicht, weil sie nicht verstehen, daß ein lauterer Mensch nicht alles für gemein empfindet, wo sie sich der Gemeinheit freuen. Auf diese hämischen Leute hat dasWort vom Nicht-Ärgernisgeben keine Anwendung, man ist ihnen auch gar keine lange Erklärung schuldig, sondern man weise sie energisch in ihre Schranken zurück. Wer sich um das Christentum sonst nicht kümmert, der hat auch in solchen Fragen den Mund zu halten, denn er versteht nichts davon. Wie dem Reinen alles rein ist, so ist auch dem Gemeinen alles gemein.

DasLeiden Jesu

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Für die Christen gilt aber die Lehre, daß sie nicht so leicht in den Tag hinein Ärgernis nehmen, sich damit vielleicht noch wichtig machen wollen, sondern daß sie zuerst die Frage gründlich erwägen. Diese ganze Frage, an welcher Fröhlichkeit sich der Christ beteiligen dürfe und wovon er abstehen müsse, diese Frage, die in unserer Zeit zu so viel Streit und Rechthaberei Anlaß gibt, über die man ganze Stunden sprechen könnte, gegen die von beiden Seiten oft unwissentlich verstoßen wird, diese ganze Frage hat nur eine vorübergehende Bedeutung. Sie nimmt ab, je mehr das Christentum durch unsere Bemühungen in das Leben hineintritt, alles durchdringt, je mehr alle Fröhlichkeit durch dasChristentum veredelt wird und dasGemeine schwindet. Darum, wenn es sich um die christliche Fröhlichkeit handelt, ist nicht diese Frage, die einst verschwinden wird, die Hauptsache, sondern die Frage, wie wir, so weit an uns liegt, arbeiten können, daß überall christliche Fröhlichkeit herrsche, das Gemeine und Unedle vertreibe wie der Sonnenstrahl das Nachtgewölk, daß dasWort Pauli in seinem edelsten Sinn wahr werde: «Seid allezeit fröhlich.» Diese Aufgabe wollen wir uns mit Ernst vorsetzen, gerade in diesen Tagen, wo wir sehen, wie weit wir noch von diesem Ziele sind.

Abendpredigt Mittwoch, 7. März 1900¦10¿, Günsbach Passionswochengottesdienst

Mt. 21,45 f.: [Das Leiden Jesu]¦11¿ Wir haben das letzte Mal¦12¿ gesehen, welche Bedeutung die Passionszeit im allgemeinen für uns hat, und mit welchen Gedanken und Gesinnungen wir sie durchleben sollen. Heute wollen wir uns fragen, wie es kam, daß für Jesus eine solche Leidenszeit hereinbrach, wie es möglich war, daß der hohe Rat einen solchen Beschluß faßte. Wir wollen also, als gehörten wir zum Gefolge Jesu, dieWochen vor seinem Leiden an unserm Blick vorüberziehen lassen. Wie lange hat das uns bekannte Teil des Lebens Jesu gedauert? Kaum etwas über ein Jahr! Als er zu lehren anfing, war es die Zeit der Frühlingsaussaat, und am Tage vor Ostern des folgenden Jahres starb er. 30 Jahre alt war er, als er anfing zu lehren; als er starb, war er noch keine 10 [R] Fiançailles d’Adèle, papa à Strasbourg. 11 [Und da die Hohenpriester und Pharisäer seine Gleichnisse hörten, verstanden sie, daß er von ihnen redete. Und sie trachteten darnach, wie sie ihn griffen; aber sie fürchteten sich vor demVolk, denn es hielt ihn für einen Propheten.] 12 [Diese Predigt ist nicht vorhanden.]

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32 Jahre alt. WasJesus vor seinem 30. Jahr getan, das wissen wir nicht. Wir kennen von seinem Leben nur die 15 letzten Monate. In diesen 15 Monaten findet das alles statt, was uns vonJesus berichtet wird. So reich an Segen und göttlichem Wert dieses Leben ist, so reich ist es auch an äußeren Ereignissen. Der größte Teil dieser Ereignisse spielt sich in Galiläa ab. Nur die letzten 14 Tage vor seinem Tod hatJesus inJerusalem zugebracht. Wir können die größeren Abschnitte im Leben Jesu unterscheiden: 1. Die Zeit, die er in Galiläa zugebracht, sie umfaßt den Frühling und Sommer.

2. Die Zeit, die er auf der Flucht in der Gegend von Tyrus und Sidon

weilte (der darauf folgende Winter). 3. Die Zeit der Reise nach Jerusalem und der Aufenthalt in Jerusalem (die Frühjahrswochen bis zum Osterfest). Der erste Abschnitt – die Zeit, die er in Galiläa um den See Genezareth zubrachte, war die schönste, die glücklichste und die längste seines Lebens. Man stellt sich gewöhnlich gar nicht vor, daß Jesus auch einmal glücklich gewesen sei. Und doch ist es so: Die Leute in Galiläa nahmen ihn freundlich auf, in Kapernaum fand er ein gastlich Haus, wo er daheim war: Es war das Haus des Petrus. Im sonnigen Frühling zog er an den Ufern des Sees, redete in Gleichnissen und predigte. Ausjener Zeit stammen die Gleichnisse vom Sämann, vom Senfkorn, von der wachsenden Saat. Ausjener Zeit stammt auch die Bergpredigt mit ihren Seligpreisungen und ihrer Warnung vor irdischer Sorge. Und als er sah, daß dasVolk ihm zufiel, da sandte er seine Jünger aus, daß sie das Evangelium vom Reiche Gottes verkündeten. Das war um die Zeit der Ernte: «Die Ernte ist groß, der Schnitter wenig» [Mt. 9,37]. Und die Jünger kamen zurück: Man hatte sie freudig aufgenommen, ja sogar Kranke hatten sie geheilt. Da brach Jesus in denJubelruf aus: «Ich preise dich, Vater und Herr des Himmels und der Erde, daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart» [Mt. 11,25]. Aus dem Gefängnis sandte Johannes zu ihm und ließ ihn fragen, ob er der sei, der da kommen soll. UndJesus ließ ihm antworten, daß er es sei [Mt. 11,2–6]. So warJesu Leben glücklich und schön. Aber schon regte sich langsam der Widerstand: Er lehrte viel und schön, aber vom Gesetz sprach er nicht viel, ja manchmal sogar dagegen. Zuerst war dasnicht so aufgefallen, aber nach und nach wurde man darauf aufmerksam. Die Pharisäer und Gesetzeslehrer aus Galiläa, die zuerst für ihn gewesen waren (hatten sie ihn doch in der Synagoge sprechen und predigen lassen), wurden stutzig, weil er seinen Jüngern erlaubte, am Sabbat Ähren auszuraufen, weil er auch am Sabbat heilte. Unterdessen hatte man auch in Jerusalem von dem neuen Propheten gehört (besonders durch die Galiläer, die auf das Osterfest nach Jerusalem gekommen). Man wurde auf-

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merksam auf ihn; man schickte Gesetzeslehrer ausJerusalem nach Galiläa, sie sollten ihn auf die Probe stellen. Das taten sie auch, und zwar in der Frage desReinheitsgesetzes. Die Jünger Jesu aßen, ohne vorher die Hände gewaschen zu haben. Darüber stellen sie ihn zur Rede. Statt sich zu verteidigen, fährt Jesus sie an, und zeigt ihnen, daß sie nur auf Äußerliches gehen, daß sie Gottes Wort verdunkeln durch ihre Spitzfindigkeiten. Dann ruft er dasVolk und zeigt ihnen, daß diese Reinheitsgesetze gar keine Bedeutung haben. Nicht wasin den Menschen eingeht, sondern wasvon ihm ausgeht, macht den Menschen unrein: Nicht Speise, sondern Reden und Gedanken [Mt. 15,1– 11].

Jesus hatte die Probe, ob er für das Gesetz einstehe, schlecht bestanden. Also war er für die abgesandten Schriftgelehrten ausJerusalem ein schlechter Mensch und falscher Prophet. Sie fingen nun an, gegen ihn zu arbeiten. Er mußte zuerst ausKapernaum weichen, dann hielt er sich noch am See, auf dem entgegengesetzten Ufer, auf – und als sie ihm auch dort nachstellten, entwich er, allein mit seinen Jüngern. Er sah voraus, daß sie ihn töten würden, aber er wollte nicht sterben, bevor er seine Jünger auf seinen Tod vorbereitet hatte. So blieb er den Herbst und denWinter mit ihnen im heidnischen Land, in der Gegend von Cäsarea Philippi, und lehrte sie, daß er der Messias sei und daß er sterben müsse, damit dasReich Gottes komme. Erlebte still, sodaßwirausdieser Zeit garnichts über sein Leben wissen, nur daß er einem heidnischen Weib ihr krankes Kind heilte. Und als der Frühling kam und das Osterfest herannahte, da brach er auf aus dem Norden und durcheilte Galiläa, ohne sich aufzuhalten: Und sie gingen von dannen hinweg und wandelten durch Galiläa; und er wollte nicht, daßesjemand wissen solle. Kaum einige Tageblieb erin Kapernaum, dann setzte er seine Reise fort. Einige Weiber erkannten ihn undbrachten ihm ihre Kinder, daßersiesegne. Jesus wurde sehr gerührt undküßte sie. Bald überschritt er denJordan und war nun auf judäischem Gebiet; je näher erJerusalem kam, desto mehr Volk schloß sich ihm an. ZuJericho drängte sich alles auf den Weg, um ihn durchziehen zu sehen. Ein Blinder rief: «Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich mein!» [Mk. 10,47]; man sagte ihm, still zu sein. Und da er weiter schrie, blieb Jesus stehen, heilte ihn, und er schloß sich dem Zug an. Diese ganze Reise fand statt ungefähr in derJahreszeit, in der wirjetzt stehen. So kamen sie nach Jerusalem. Es war ein Triumphzug: DasVolk hieb grüne Zweige von den Bäumen und legte sie auf denWeg.Jesus ritt auf einer Eselin, und die Nachfolgenden schrien: «Hosianna, der da kommt im Namen des Herrn. Hosianna, dem Sohn Davids» [Mt. 21,9]. – Das war ungefähr 14 Tage vor dem Fest. Die Pharisäer waren ganz überrascht: Sie wagten ihm nichts zu tun vor demVolk, denn es hielt zu ihm; und heimlich verhaften konnten sie ihn auch nicht, denn Jesus

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blieb in der Nacht nicht in der Stadt, sondern er ging des Abends nach Bethanien, und früh am Morgen zog er wieder in die Stadt. Dort saß er in der Tempelvorhalle und lehrte. Gleich in den ersten Tagen hatte er, gestützt auf seinen Anhang, die Krämer undWechsler daraus vertrieben, ohne daß die Pharisäer es hindern konnten. Nun mischten sie sich unter dasVolk, dasJesus zuhörte, und suchten, ob sie in seinen Worten etwas gegen ihn fänden, und stellten ihm Fragen, um ihn in Verlegenheit zu bringen und vor demVolke bloßzustellen. Jesus redete in Gleichnissen, und die Pharisäer unterbrachen ihn durch Fragen. Die Gleichnisse ausdiesen Tagen sind gegen die Pharisäer gerichtet. Nehmen wir das Gleichnis von der königlichen Hochzeit [Mt. 22,1– 14]: Die Gäste, die nicht kommen wollen, die die Knechte totschlagen, es sind die Pharisäer. Darum kommen sie nicht ins Himmelreich, sondern die Zöllner und Sünder. Die Weingärtner, die den Sohn des Herrn erschlagen, um das Erbe an sich zu bringen, es sind die Pharisäer [Mt. 21,33–39]. Die Pharisäer antworteten, indem sie ihm schwierige Fragen stellten. Auswelcher Macht er denTempel gereinigt habe. Jesus stellt ihnen eine andere Frage, auf die sie nicht antworten können: Darum antwortet er ihnen auch nicht auf die ihre. Dann suchen sie ihn entweder bei der römischen Regierung zu verdächtigen oder ihn vor dem Volk bloßzustellen: Sie stellen ihm die Frage wegen des Zinsgroschens [Mt. 22,15–22]. Hätte Jesus gesagt, es ist recht, so hätten sie gesagt zumVolk: Seht, das ist euer Mann. Ihm ist es recht, wenn dasVolk Gottes gedrückt wird, wenn es an Heiden, die es vergewaltigen, Zoll bezahlen muß. Hätte er gesagt, es ist nicht recht, dann wären sie zum römischen Statthalter gelaufen und hätten ihn verklagt: Der Prophet aus Galiläa wiegelt die Leute auf. Er sagt, man brauche keinen Zoll zu zahlen. Laß ihn verhaften! AberJesus wies die ganze Frage von sich. Die Sadduzäer fragten ihn, wie es denn sei mit der Auferstehung; auch sie müssen ob seiner Antwort beschämt abziehen. Nun fragen ihn die Pharisäer nach dem größten Gebot: Das war damals eine große Streitfrage. Und Jesus antwortete ihnen also, daß sie nichts erwidern konnten. Und nun, da er ihre ganze Bosheit durchschaut, da fährt er gegen sie in einer gewaltigen Rede. Es ist Mt. 23, die großen Wehe. Nun war sein Tod gewiß: Die Pharisäer konnten ihm nicht verzeihen. Sie halten Rat, wie sie ihn heimlich töten. Sie glaubten noch, das Volk hinge an ihm. Aber wenn wir jetzt sehen, wie es später ging, dann hätten sie es auch wagen können, offen Hand an ihn zu legen! Das Volk hätte es zugelassen, denn was konnte man von einem Mann halten, der das Gesetz, die Pharisäer und die Satzungen nicht schützte und immer von Wahrheit und Liebe predigte? Als daher Jesus starb, war das Volk ganz gleichgültig: Es hatte erwartet, er würde noch Wunder tun, und als er keine tat, daward es seiner überdrüssig.

Der TodJesu

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Das war derVerlauf des Lebens Jesu, welcher auf seinen Tod hinführt. Waskönnen wir für uns ausdiesem Verlauf lernen? Von Äußerlichkeiten ging derWiderstand gegen ihn an, aus Äußerlichkeiten gingen die Pharisäer gegen ihn vor, und rein menschlich betrachtet, mußte er sterben, weil er es im Gesetz anders hielt als die andern. Und daswar auch so im Christentum: Wie oft wird da nur nach dem Äußeren geurteilt und verdammt und dadurch das Schöne und Herrliche verurteilt und ein Übel begangen nicht ausBosheit! Die meisten Juden waren gar nicht aus Haß gegen Jesus, nur, als sie hörten, er achte das Gesetz nicht, da dachten sie nicht weiter nach, sondern waren gegen ihn, ohne zu wissen, was er eigentlich wollte. Und wenn sie ihn recht gekannt hätten, dann wäre ein «Hosianna» ausgebrochen statt des «Kreuzige ihn!» So möge uns der äußerliche Verlauf der Leidensgeschichte unseres Herrn zeigen, daß wir, wenn gerade in den Fragen der Religion uns etwas sonderbar vorkommt, wir nicht gedankenlos uns nur an dem Äußerlichen stoßen, sondern daß wir ernstlich prüfen, damit wir nicht Gefahr laufen, wie die Juden, an Christus aus Gedankenlosigkeit ein Verbrechen zuverüben, wovor uns Gott bewahren möge.

Morgenpredigt Sonntag, 11. März 1900, Günsbach

II Kor. 5,15: [Der TodJesu]¦13¿ In der Passionszeit tritt die Frage nach der Bedeutung, die Jesu Leiden und Tod für uns hat, in den mannigfachsten Formen an uns heran. Es läßt sich viel darüber sagen. Heute wollen wir miteinander betrachten, welche Bedeutung Paulus dem Leiden und Sterben des Herrn für uns beimißt. «Christus ist darum für alle gestorben, auf daß die, so daleben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist.»

Washeißt dasnun: nicht sich selbst leben, sondern Christus? Man hat gemeint – und meint es vielfach noch – , ein Christus geweihtes Leben sei das, welches in der Zurückgezogenheit in frommen Betrachtungen verläuft. Das Leben des Mönchs oder das Dasein einer barmherzigen Schwester, das sei, nicht sich selbst zu leben, sondern dem für uns gestorbenen Herrn. Hat Paulus dies wirklich gemeint? Wenn man ein Wort des Paulus richtig verstehen will, muß man immer zuerst fragen, wie hat er dieses 13 [Und er ist darum für alle gestorben, auf daß die, so da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist.]

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Wort in seinem Leben betätigt, denn Reden und Handeln hängen bei ihm ganz eng zusammen. Paulus will nicht sich selbst leben, sondern dem Herrn, der für ihn gestorben ist. Wie tut er dies? Nicht indem er sich in beschauliche Betrachtung versenkt, sondern indem er rastlos von Stadt zu Stadt, von Land zu Land zieht, seinen Lebensunterhalt als Teppicharbeiter verdient, denJuden Jude, den Griechen Grieche wird, um sie zum Herrn zu bekehren: Er hängt dasBild des Gekreuzigten nicht in die Zelle, sondern trägt es hinaus in dieWelt, in dasLeben. Wie hat nunJesu Tod in dem Herzen des ehrgeizigen Pharisäerschülers Saulus eine solche Umwandlung vollziehen können, daß er ein neues, Jesus geweihtes Leben anfängt und nicht mehr sich selbst, sondern denen, die er fürJesus gewinnen will, lebt? Weil inJesuTod ein Leben sein Ende fand, welches nur für die andern, die Menschen überhaupt, da war. Auch Jesu Leben war nicht zurückgezogen, sondern es warTätigkeit, Dienen, Dahingabe für die andern bis zumTode. So heißt also, «nicht sich selbst leben, sondern dem, der für uns gestorben ist», leben im Hinblick aufJesus, leben wie er. Jesus ist uns hier nicht nur ein Vorbild, sondern es ist, als ob von seinem Leben und Tode eine Kraft ausginge, welche die Menschen zwingt, sich selbst zu vergessen und an andere zu denken, weil sie anJesus denken; es ist, als ob von Golgatha eine Quelle lebendigen Wassers entspringt, die zum Strom anwächst und die Menschheit mit sich reißt. Wenn in unsere Welt plötzlich ein Mensch träte, der von allem nichts wüßte, und man ihm erzählte von den Missionaren, die ihre Heimat verlassen, zu rohen Völkern in fernes, unwirtliches Land ziehen, um unter Todesgefahr von seiten der Heiden und oft unter Gleichgültigkeit von seiten ihrer Mitchristen zu predigen vor Leuten, die diese Predigt nicht begehrt haben – wenn man ihm das erzählte, so würde dieser Mann fragen: Ja, warum tun sie das? Woher nehmen sie denn die Kraft? Und dann würde man ihm antworten: Sie tun es im Hinblick aufJesus Christus, der vor Jahrhunderten für die Menschen gelebt und gelitten hat. Und wenn man ihm erzählte von Frauen, die ihr Leben in dumpfen Krankensälen zubringen, allen Ekel und alle Mühe überwinden, um Leute, die sie nie gekannt, ohne Hoffnung auf Lohn noch Dank, zu pflegen, so würde man ihn wieder auf seine erstaunte Frage hin auf das Leben und Leiden unseres Herrn verweisen. Glaubt ihr denn, dieser Mann wüßte dann, was es heißt, sich hinfort nicht selbst leben, sondern dem, der für euch gestorben ist? Gewiß hätten wir ihm gezeigt, was das Christentum Herrliches hervorbringen kann. Aber wenn er uns nun sagte: Es ist etwas Herrliches um eure Missionare, um eure Krankenschwestern – aber es können doch nicht alle Missionare oder Krankenschwestern sein oder sonst sich ganz dem Dienst des Herrn widmen. Hat aber der Herr für alle gelebt und gelitten, so sollen alle, wie es hier derApostel sagt, hinfort nicht ihnen selbst

Der TodJesu

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leben, sondern dem, der für sie gestorben ist. Wie könnt ihr nun in eurem gewöhnlichen Leben – ihr seid Landleute oder Handwerker oder Fabrikarbeiter oder Kaufleute oder was sonst noch – wie könnt denn ihr ein Leben im Hinblick auf den Heiland führen, und was tut ihr, um nicht euch selbst zu leben, sondern dem, der für euch gestorben ist? Auf solche Fragen würden wir nicht gleich eine Antwort finden. Wie können wir in unserm gewöhnlichen Leben nicht uns selbst leben, sondern Christus – wir, die wir in unserer Familie, in unserer Arbeit, in unserm Beruf drin stehen? Hier möchte ich auf etwas aufmerksam machen. Ist denn die brennende Julisonne, die heiß über unsern Weinbergen brütet, allein die wahre Sonne, der wir den Herbst verdanken, oder hat nicht der zaghafte Sonnenstrahl, der augenblicklich die Knospen der kahlen Reben unmerklich wachsen macht, gerade so viel Bedeutung für den kommenden Herbst? So ist es auch in geistigen Dingen. Nicht nur das Leben, das, von allen andern Verpflichtungen befreit, sich dem Christentum und der christlichen Liebestätigkeit widmen kann, ist ein Leben für den, der für uns gestorben ist, sondern auch das Leben, das der Familie, dem Beruf und der weltlichen Arbeit gewidmet ist, kann und soll, indem wir nicht uns selbst leben, Christus gehören und von ihm geheiligt sein. Wodurch zeichnet sich dann ein solches Leben aus? Dadurch, daß wir dem Herrn nachleben. Ich will hier nur ein Dreifaches hervorheben: Dadurch, daß es ein Leben in der Geduld, in Liebe und im Gottvertrauen ist, welche Jesu Leben so still, so schön und so heilig machen. Ein Leben in Geduld – im Hinblick aufJesu Leben und Leiden. Geduld ist oft schwerer als die größte Aufopferung. Wenn ich mir eine Frau denke, die einen Mann hat, der trinkt, nicht arbeitet oder den Lohn mit andern durchbringt, so daß das Hauswesen zurückgeht und Not, Zank und Kummer in ein Haus eindringen, wo sonst Friede und Freude herrschen könnte, – so glaube ich, ist die Geduld der Frau, daß sie still und ernst tut, was sie kann, um ihren Mann auf andere Wege zu bringen, und die Kinder zu nähren und zu erziehen, gerade so schwer, wenn nicht schwerer, als die feurige Aufopferung des Missionars. Und wo findet sie die Kraft zu dieser Geduld? Im Hinblick auf unsern Herrn Jesus, der duldete und litt, ohne zu murren. Wo findet der Kranke die Kraft zum Dulden? Im Hinblick auf das Dulden Jesu. So ist auch sein Leben, weil es sich Kraft ausJesu Leben und Leiden holt, ein Leben nicht sich selbst und nicht durch sich selbst, sondern für und durch den, der für uns gelebt und gelitten hat. Aber nicht nur diejenigen, die leiden, sondern auch die, welche Gott mit Leiden verschont, schauen auf zu dem, der für uns gelebt: Nur im Hinblick auf Jesu Leben und Leiden geht uns auf, was wahre Liebe in unserm Leben sein soll. Wer hat uns Barmherzigkeit gelehrt, wer hat

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uns das große Gebot der Liebe verkündet und vorgelebt? Jesus! Und wenn wir bedenken, daß er aus Liebe zu uns gelitten und gestorben, daß wir es ihm verdanken, wenn wir sind, was wir sind, können wir dann noch lieblos und kalt an unsern Mitmenschen vorübergehen? Nein – wer einmal empfunden hat, welche Liebe in dem Leben desHerrn ruht, welche Wärme von dort ausstrahlt, der kann nicht mehr sich selbst leben, sondern er muß für andere leben, ihnen Liebe erweisen – und dann wird auch sein Leben ein Leben für und durch den, der für uns gelebt und gelitten hat – ob er nun hinausziehen kann in das weite Feld christlicher Liebestätigkeit oder ob er zu Hause in der Familie und im Beruf bleibt: Liebe üben kann er überall – und wenn es gegen die eigene Familie wäre – wasoft das Schwerste ist. Ein Leben in Geduld – ein Leben in Liebe: Sie würden nur unvollkommen dem Leben Jesu nachgebildet sein, wenn ihnen das Gottvertrauen fehlte. Es liegt etwas Trübes auf der Geduld und der Liebe, wenn sie das Gottvertrauen nicht verklärt. Jesus hätte in seinem Leben vielleicht dieselbe Geduld und dieselbe Liebe üben können – aber wenn sie nicht von diesem Gottvertrauen begleitet gewesen wären, so würde diesem Leben dasSchönste, die Freudigkeit, fehlen. Jetzt beginnt wieder die Rebenarbeit: Geduld und Liebe zur Sache gehören dazu, um die beschwerliche Arbeit an den Stöcken zu führen. Aber das ist nicht alles. Welch ein großer Unterschied: Der eine besorgt seine Reben zwar gewissenhaft, aber bei jeder Verrichtung denkt er: Ach, wer weiß, vielleicht ist es doch umsonst: Ein kalter Maienregen, und alles geht zugrunde. Ein anderer kann auch seine Reben nicht mehr als gewissenhaft besorgen. Er tut es aber im Gottvertrauen: Gott, der durch seinen Sonnenschein diese Knospen zum Leben erweckt, er wird sie auch bewahren, – und so tut er seine Arbeit freudig und zuversichtlich. So ist es auch im Leben: Zu Geduld und Liebe muß das Gottvertrauen hinzutreten – das Gottvertrauen auch in Leid und Trübsal. Erst wenn wir aus der Betrachtung des Leidens unseres Heilands nicht nur die Kraft zur Geduld, zur Liebe – sondern auch zum Gottvertrauen schöpfen, erst dann ist unser Leben wahrhaft christlich, in Wahrheit nicht ein Leben für uns selbst, sondern dem, der für uns gestorben und auferstanden ist, weil es ein Leben in Freudigkeit, gegründet auf Gottvertrauen, ist. Dazu verhelfe uns Gott.

Die Bedeutung des Todes Jesu

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Morgenpredigt Sonntag, 25. März 1900, St. Nicolai

Röm. 6,3– 11: [Die Bedeutung desTodes Jesu]¦14¿ Der Text auf letzten Sonntag betraf die Heilung eines Stummen. Die Pharisäer werfen Jesus vor, er habe sie mit desTeufels Hilfe vollbracht. Aus dem Volk erschallt eine Stimme, welche Jesu Mutter selig preist, daß sie einen solchen Sohn habe. Jesus antwortet darauf: «Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren» [Lk. 11,28]. Auf dieses Wort gründete sich die Betrachtung des vergangenen Sonntags in unserer Gemeinde, indem es uns zeigte, waszumWesen des Christentums gehört. Unsere letztsonntägliche Betrachtung hatte einen doppelten Verlauf. Diejenigen, die in der kirchlichen Gemeinschaft drin stehen, wurden durch dieses Wort ermahnt, daß der Streit über diese undjene Lehrfrage, welcher uns schon so viel Unglück gebracht hat, wenn man bedenkt, daß Jesu Seligpreisung allen denen gilt, die Gottes Wort hören und bewahren, und nicht allein dieser oderjener Glaubensrichtung, unwesent-

lich ist.

Diejenigen, welche außerhalb der christlichen Gemeinschaft stehen und der Kirche entfremdet sind, sollten aus diesem Wort des Herrn lernen, daß, wenn sie diese oder jene Lehre des Christentums angreifen, kritisieren oder bespötteln, sie nur zeigen, wie wenig sie das wahre Wesen des Christentums verstehen. Wollten sie einmal die Lehrfragen ganz beiseite lassen, sich in dasWesen des einfachen Christentums versenken, so würden sie bald die Seligkeit empfinden, Gottes Wort zu hören und zu bewahren. Dabei würde ihnen auch der tiefere Sinn der Lehren des Christentums aufgehen, für welche sie bisher nur ein verständnisloses Achselzucken haben. Ich möchte diesen in der Predigt des vorigen Sonntags allgemein angegebenen Gedanken heute an einem Beispiel ausführen, welches uns 14 [Wisset ihr nicht, daß alle, die wir inJesum Christum getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, auf daß, gleichwie Christus ist auferweckt von denToten durch die Herrlichkeit desVaters, also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln. So wir aber samt ihm gepflanzt werden zu gleichem Tode, so werden wir auch seiner Auferstehung gleich sein, dieweil wir wissen, daß unser alter Mensch samt ihm gekreuzigt ist, auf daß der sündliche Leib aufhöre, daß wir hinfort der Sünde nicht dienen. Denn wer gestorben ist, der ist gerechtfertigt von der Sünde. Sind wir aber mit Christo gestorben, so glauben wir, daß wir auch mit ihm leben werden, und wissen, daß Christus, von den Toten erweckt, hinfort nicht stirbt; der Tod wird hinfort über ihn nicht herrschen. Denn was er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben zu einem Mal; was er aber lebt, das lebt er Gott. Also auch ihr, haltet euch dafür, daß ihr der Sünde gestorben seid und lebet Gott in Christo Jesu, unserm Herrn.]

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Predigten

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die Passionszeit, in der wir stehen, nahelegt: an der Lehre der Bedeutung desTodes Jesu für unsere Erlösung und für unsere Seligkeit. Wie viel ist darüber schon in der Christenheit gestritten worden, und wie viel von denVerächtern des Christentums schon gespottet worden! Wie groß ist aber auch die Gedankenlosigkeit und die Unwissenheit über diesen Gegenstand auch unter denjenigen, die zu den Christen zählen und am Christentum halten. Darum, glaube ich, wird unsere christliche Erkenntnis und unsere Erbauung gewinnen, wenn wir heute lehrhaft die Bedeutung desLeidens und Sterbens unseres Herrn miteinander betrachten.¦15¿

Was ist das für eine Lehre, so hört man oft sagen. Durch Adams Fall soll die ganze Welt in Sünde verfallen sein. Gott konnte ihnen nicht vergeben, ehe diese Sünde gesühnt war. Dazu mußte sein Sohn in dieWelt kommen, als Unschuldiger, Sündloser leiden und sterben, damit die Sünde getilgt würde und Gott die Menschen wieder in Gnaden annehmen könne. Wir sollen uns Gott vorstellen als zürnend unversöhnlich, der nicht vergeben will und kann, bis er ein unschuldiges Opfer hat. Wir sollen uns erlöst fühlen, weil wir glauben, daßJesus am Kreuz für uns gelitten, und diejenigen, zu denen noch keine Kunde von dieser Erlösung gedrungen, oder die gelebt haben, ehe dieses Opfer am Kreuz gebracht wurde, die sollen ohne ihre Schuld verdammt sein. Das kann man uns doch nicht zumuten, zu glauben. Wie oft haben wir nicht alle schon diese Rede vernehmen müssen, ohne gleich die richtige Erwiderung zu finden. Wie oft sind uns solche Fragen auch schon im eigenen Herzen aufgestiegen, zum Beispiel wenn wir Kindern die Bedeutung desTodes des Herrn klar machen wollten und auf ihr kindlich Fragen Red und Antwort stehen mußten. Wie können wir zu einem richtigen Einblick in das Leiden und Sterben unseres Heilands gelangen? Wir wollen einmal vom allgemeinsten ausgehen.

Ich habe schon oft denken müssen, wie ganz anders der TodJesu beurteilt würde, wenn es sich nicht um etwas handelte, dasim Neuen Testament steht und zu unserer Religion gehört. Es gibt eben in unserer Zeit Leute, deren Urteil schon fertig ist, wenn es mit der Religion oder dem Neuen Testament zu tun hat. Aberglauben, sagen sie, und meinen, damit alles gesagt zu haben. Ich brauche nicht hinzuzusetzen, daß, wenn man diese Leute fragte: Habt ihr denn das Neue Testament schon einmal gelesen, sie mit Nein antworten müßten. 15 [Gestrichen:] Die Verschiedenheiten der Lehrmeinungen und der Streit über diesen Punkt wird uns dann bedeutungslos vorkommen, die Lehre selbst wird für uns eine tiefere Bedeutung erhalten, und vielleicht dringt unser Wort zu dem oder jenem, der bisher an dieser Lehre Anstoß nahm, undbringt ihn dazu, ihre tiefe Wahrheit und tiefe Bedeutung wieder zu erkennen.

Die Bedeutung des Todes Jesu

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Nun wollen wir annehmen, wir wüßten von Jesus nichts weiter als eine uns überlieferte Nachricht, ein edler Mann aus dem Judenvolke, Jesus von Nazareth, sei für seine Überzeugungen denTod am Kreuz gestorben. Ich glaube, dieselben Leute, die heute von Jesus nichts wissen wollen, weil es mit dem Christentum zusammenhängt, würden in diesem Falle Jesus ihre Bewunderung nicht versagen: Ein edler Mann, der für seine Überzeugung stirbt – dieWeltgeschichte bietet diesen Fall so selten. Man würde Jesus in die Zahl der Heroen der Menschheit aufnehmen, ihn einem Sokrates und einem Seneca gleichstellen, die auch für ihre Überzeugung starben. Wir finden diese Anerkennung für Jesus zu gering; aber wäre diese geringe Anerkennung nicht schon ein großer Fortschritt gegenüber der Gleichgültigkeit und dem Spott der Menge heutzutage? Und wenn der Karfreitag kein christlicher Festtag wäre, und wenn es keine christliche Menschheit gäbe, so müßte doch derTodestag Jesu, als eines der edelsten Menschen, als eines Mannes, der für sein Ideal starb, der Menschheit, ob christlich oder nicht, heilig sein. Wie steht es aber bei uns? Gerade am Karfreitag legt es die große Menge darauf an, durch Verrichtung der gemeinsten Werktagsarbeiten zu zeigen, daß das Christentum, die Lehre von dem Gekreuzigten, für sie ein überwundener Standpunkt ist. Seid ihr denn so tief gesunken, möchte ich sie fragen, daß ihr für das Edle, das Erhabene im rein Menschlichen gar keinen Sinn mehr habt, daß der Karfreitag für euch nicht einmal mehr denWert einer Gedenkfeier an den aufopfernden Tod eines der edelsten Menschen hat? Ich glaube, wenn sich die Leute dasvorhielten, wenn einmal ein weltlicher Schriftsteller in einer weltlichen Schrift diesen rein menschlichen Gedanken ausspräche, die Leute würden in sich gehen und Jesus die Hochachtung nicht versagen, die sie jedem edlen, für seine Überzeugungen lebenden und sterbenden, großen Menschen zollen. Damit wäre schon viel gewonnen: Sie wären auf dem Wege, die Wahrheit zu finden. Wir wissen, daß in den ersten Jahrhunderten viele heidnische Philosophen durch die rein menschlich-sittliche Größe Jesu auf ihn aufmerksam wurden, ihn zuerst als weisen und reinen Sittenlehrer, als edlen Dulder erkannten und dann immer mehr zu ihm hingezogen wurden, zuletzt sogar als Märtyrer im Bekenntnis zum Gekreuzigten starben. Wenn einmal die große Menge der Gleichgültigen in Jesus nur den edlen Menschen, der für seine Überzeugung gestorben, ehrte, so würden viele von ihnen auch den Weg zuJesus weiter finden. Die meisten würden uns sagen: Ja, er war ein edler Mensch, aber er war eben ein Schwärmer, ein Phantast. Er paßt eben nicht mehr in unsere Zeit. Dieser Einwurf würde uns keine Sorge machen: Wir würden ihnen einfach das Neue Testament, die Evangelien aufschlagen und sagen:

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Siehe, darin steht das Leben dessen, den du einen Schwärmer nennst, beschrieben; nun gib dir die Mühe und lies es, und dann sag mir, ob du diesen Mann noch für einen Schwärmer hältst. Wie würde es diesem Mann beim Lesen ergehen? Seit seiner Konfirmation hatte er wohl kein Neues Testament mehr in der Hand. Nun liest er dieselben Geschichten, dieselben Gleichnisse, dieselben Sprüche wieder, die er einst gedankenlos und gezwungen auswendig gelernt. Diese Geschichten, die ihn damals gleichgültig gelassen, sie erfassen ihn jetzt merkwürdig. Sie fügen sich zur Einheit zusammen, sie gewinnen Leben, und vor ihm steht in seiner einfachen stillen Größe, er, unser Herr, Jesus von Nazareth. Diesen Mann konnte er einen Schwärmer heißen? Von diesem Mann in seiner Hingabe, in seiner Liebe, in seinem Gottvertrauen, mit seinem tiefen Verständnis für die Natur, für das Menschliche, von diesem Mann hatte er gesprochen als von einem Phantasten? Er kann es selber nicht mehr fassen. Er wird von der Größe Jesu ergriffen: Alles, wasihm bisher in der Menschheit groß und edel vorkam, erscheint ihm jetzt so klein imVergleich zu dem, wasihm inJesus aufgegangen. Und nun können wir ihm sagen: Du bist erst auf dem halben Wege zur Höhe, du stehst noch in der Vorhalle, du hast den vollen Glanz des Lichts noch nicht erfahren. Die wahre Größe und Bedeutung dieses Lebens und dieses Todes kannst du erst erfassen, wenn du sie in deinem eigenen Leben an dir erfährst, wenn dein ganzes Leben durch diesen Tod bestimmt ist.¦16¿ Es heißt, ein neues Leben beginnen. In unserm Textwort wird es beschrieben mit den Worten: [Haltet dafür, daß ihr der Sünde gestorben seid und lebet Gott in Christo Jesu, unserm Herrn.]¦17¿ So soll unser Leben ein Kampf gegen die Sünde sein.¦18¿ Ein Absterben der Sünde. Sünde: Mit diesem Wort fassen wir alle unsere Vergehen zu16 [Gestrichen:] Jesus muß mehr für uns sein als ein edles Vorbild: Er muß eine Kraft in uns sein. 17 [Gestrichen:] Die wahre und tiefste Bedeutung des Todes Jesu ist nicht etwas, das man durch Erwägung, durch denVerstand erfassen kann, sondern das man in sich erfahren muß. Die wahre Bedeutung desTodes Jesu erkennen wir erst, wenn wir wissen: Jesus lebt. Hier tritt dasWort Pauli an uns heran: «Haltet dafür, daß ihr der Sünde gestorben seid und lebet Gott in Christo Jesu, unserm Herrn.» Ein Dreifaches zeichnet dieses Leben aus: Es ist ein stetes Absterben der Sünde, es ist ein Leben für, esist ein Leben in Chri-

stus Jesus, unserm Herrn. Es ist ein Absterben der Sünde. Sünde – mit diesem Worte fassen wir alle unsere Vergehungen zusammen. Was ist aber dasinnerste Wesen aller Sünde? Die Eigenliebe, die Selbstbewahrung, nicht nur das: Mangel an Liebe, Gottvertrauen, Demut etc. Aber daswürden wir gar nicht erkennen ohne denTodJesu. 18 [Hier bricht das ausgeführte Manuskript ab. Ausder Mischung von Stichwörtern, unvollständigen und ganzen Sätzen wird im folgenden der Abschluß der Predigt angedeutet.]

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sammen: Lieblosigkeit, Mangel an Demut, Mangel anVergeben, Mangel an Gottvertrauen. Was ist aber das innerste Wesen dieser Sünden? Die Eigenliebe: Soll also unser Leben ein Kampf gegen die Sünde sein, ein Absterben der Sünde, so ist es ein Kampf gegen daseigene Ich, ein Absterben des eigenen Ichs. Was ist das Leben in Gott: Ein Leben in Liebe, in Demut, in Vergebung, in Gottvertrauen. Welche Bedeutung hat das Leben und Leiden unseres Herrn, wenn wir ein solches neues Leben anfangen wollen, der Eigenliebe absterben und Gott leben? Zunächst sagt man: Christus hat uns in seinem Leben ein Beispiel gegeben, das herrlichste Beispiel. Damit ist zu wenig gesagt. Ein Beispiel ist eine Verdeutlichung eines Unbekannten an etwas Bekanntem. Ein Beispiel wäre also das Leben Jesu, wenn wir schon irgendwo anders, etwa aus unserer Vernunft, ein Bild dieses Lebens hätten. Dies ist aber nicht der Fall. So istJesu Leben und Leiden nicht nur ein Beispiel, sondern eine Offenbarung. Gerade sein Leiden ist die höchste Offenbarung. Aber [es ist] nicht nur Offenbarung, sondern [geht] noch viel tiefer: Ein Leben, das abstirbt in Gott, ist ein Leben in Christus. Ein Leben in Christus: In diesem Ausdruck liegt ein großes Geheimnis. In Christi Tod liegen dieWurzeln für unser Leben und Sterben. Es ist, als ob wir ausjenem Leben die Kraft empfingen, uns selber abzusterben, als ob mit demTodJesu unser Sieg über unser irdisches Wesen gegeben sei. Durch denVerstand ist dieses nicht zu begründen. Nur so viel können wir sagen: Aus dem Tod Jesu [können wir] die Kraft hernehmen zum täglichen Kampf gegen die Sünde, aus dem Tod das Gottvertrauen, die Liebe, dieVergebung. InJesu Tod ist unsere Seligkeit. Jede neue Zeit spricht diesen Gedanken anders aus: Alte Formeln, die uns ferner liegen, vergehen, neue Gedanken gewinnen Leben. Warum eine solche Predigt, die mehr an andere [gerichtet ist], mehr Belehrung als Erkenntnis [bringt]? Um denjenigen, die fern sind, den Weg zu zeigen. Die Passionszeit ist Missionszeit.

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Nachmittagspredigt Sonntag, 1. April 1900, St. Nicolai

Mt. 22,2– 13: DasGleichnis von der königlichen

Hochzeit¦19¿

Wir stehen in der Zeit, die dem Leiden Jesu vorangeht. So ist es erklärlich, daß wir zu unserer Betrachtung ein Gleichnis nehmen, dasJesus in denWochen vor seinem Tod zuJerusalem geredet hat. Alle Gleichnisse ausjenen letzten Tagen tragen einen ernsten, fast drohenden Charakter: Es ist der letzte Ruf an das Volk Gottes, die Gnade Gottes, die ihnen durch Jesus geboten ist, nicht von sich zu stoßen. Es sei aber auch eine Mahnung an uns, die Güte Gottes nicht als etwas Gewohntes hinzunehmen, sondern mit Ernst danach zu trachten, ihrer würdig zu werden, und dieVerpflichtung, die diese Güte für uns enthält, zu erfüllen. Welche Bedeutung hatte das Gleichnis für die Leute, für die es geredet war? Sie waren dasVolk Gottes, das stolz war, vor allen andern auserwählt zu sein, und darüber vergaßen sie, daß es nicht genügt, einmal eingeladen zu sein, sondern auch, wenn die Stunde der Einladung kommt, ihr Folge zu leisten. Sie gleichen Leuten, die ein König, der das Hochzeitsmahl seinem Sohn macht, benachrichtigt hat, daß sie seine Gäste werden sollen. Darob sind sie sehr stolz. Als nun aber die Knechte kommen und sagen: Jetzt müßt ihr euch rüsten und auf den Weg machen, dapaßt es ihnen nicht: Die Einladung kommt ihnen gerade in die Zeit der häuslichen Geschäfte und der Feldarbeit. Es eilt nicht, denken sie, und lassen die Knechte unverrichteter Sache von sich gehen und nehmen sich vor, wenn ihnen die Zeit paßt, der Einladung zu folgen, und denken, der König wird sie auch noch freundlich aufnehmen und froh sein, daß sie kommen. 19 [Das Himmelreich ist gleich einem Könige, der seinem Sohn Hochzeit machte. Und sandte seine Knechte aus, daß sie die Gäste zur Hochzeit riefen; und sie wollten nicht kommen. Abermals sandte er andere Knechte aus und sprach: Saget den Gästen: Siehe, meine Mahlzeit habe ich bereitet, meine Ochsen und mein Mastvieh ist geschlachtet und alles bereit; kommt zur Hochzeit! Aber sie verachteten dasund gingen hin, einer auf seinen Acker, der andre zu seiner Hantierung; etliche aber griffen seine Knechte, höhnten und töteten sie. Da das der König hörte, ward er zornig und schickte seine Heere ausund brachte diese Mörder um und zündete ihre Stadt an. Da sprach er zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die Gäste waren’s nicht wert. Darum gehet hin auf die Straßen und ladet zur Hochzeit, wen ihr findet. Und die Knechte gingen ausauf die Straßen undbrachten zusammen, wen sie fanden, Böse und Gute; und dieTische wurden alle voll. Da ging der König hinein, die Gäste zu besehen, und sah allda einen Menschen, der hatte kein hochzeitlich Kleid an; und sprach zu ihm: Freund, wie bist du hereingekommen und hast doch kein hochzeitlich Kleid an? Er aber verstummte. Da sprach der König zu seinen Dienern: Bindet ihm Hände und Füße und werfet ihn in die Finsternis hinaus! da wird sein Heulen und Zähneklappen.]

Gleichnis von der königlichen Hochzeit

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Aber siehe, dem ist nicht so, der Gastgeber sendet nochmals die Knechte aus: Ihr müßt jetzt auf der Stelle kommen; dasEssen ist bereit, das Vieh geschlachtet; wenn ihr jetzt nicht kommt, dann ist das Mahl verdorben. Die Knechte reden eine eindringliche Sprache; es kommt zumWortwechsel; man höhnt sie; etliche kommen sogar um. Da schickt der König seine Heere aus und läßt ihre Stadt anzünden. Aus Freunden sind sie durch ihre Nachlässigkeit und Saumseligkeit zu seinen Beleidigern und seinen Feinden geworden. Daß aber das Gastmahl nicht verloren werde, schickt er auf die Straßen und läßt die Bettler und Lahmen einladen: Und sie kommen mit Freuden. Der Sinn dieses Gleichnisses konnte für die Leute zuJerusalem, denen Jesus es vortrug, nicht zweifelhaft sein. Der Gastgeber, der sie zum Feste entboten, es war Gott in denVerheißungen zu ihren Vätern. Als aber die Zeit kam, wo er sie durch seine Gesandten, die Propheten, mahnte, der Einladung Folge zu leisten, als er ihnen seine Propheten schickte, da empfingen sie sie mit Gleichgültigkeit, und als sie anfingen eindringlich zu reden, da höhnten sie sie, und als sie ihnen unbequem wurden, da töteten sie sie. Und den letzten, den Gott zu ihnen gesandt, ihn selbst, Jesus, werden sie umbringen, und dann wird das Strafgericht über sie hereinbrechen: Jerusalem wird zerstört und verbrannt werden; dasVolk Gottes wird zerstreut werden, und die Einladung Gottes wird ergehen an die Heiden, und diese werden kommen und das Reich ererben, sie, die von denJuden als Bettler und Blinde angesehen werden. Das ist der Sinn dieses Gleichnisses in denTagen, woJesus es gesprochen hat: Es ist die letzte Warnung an dasverstockte Volk. Es reicht aber in seiner Bedeutung über seine Zeit hinaus: Es zeigt uns nämlich die Art, wie Gott zu den Menschen ist, und wie die Menschen zu Gott sind. Betrachten wir zunächst Gott. Welches sind die Eigenschaften, die uns an ihm in diesem Gleichnis besonders hervortreten? Vor allem ist es seine Güte und Herablassung: Er, der König, lädt die Leute auseiner Stadt ein, daß sie bei der Hochzeit seines Sohnes sich mit ihm freuen sollen; und als sie es verschmähen, wird er in seinem Wohltun nicht abgeschreckt, sondern er steigt noch tiefer herunter: Bettler und herabgekommene Leute, wie man sie von der Straße aufliest, sollen seine Gäste sein. Neben der Güte zeigt der König in dem Gleichnis eine große Langmut: Die Leute kommen nicht; sie haben seine Einladung verscherzt. Eigentlich haben sie sich damit ihr Urteil selbst gesprochen. Er aber sendet zu ihnen hin, schildert ihnen, was er alles für sie bereitet, ob er sie möge bewegen, zu kommen. Er ist aber nicht nur langmütig, sondern er ist ein Herzenskündiger. Seine Knechte brachten von den Gassen, wen sie fanden. Die Leute

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haben kaum Zeit, sich ein wenig zu reinigen, ihre Kleider in Ordnung zu bringen, ehe sie den Festsaal betreten. Nun sitzen sie um dieTische, da heißt’s: Der König kommt. Er schreitet durch ihre Reihen: Sie haben alle abgenutzte Kleider an, mit den Schuhen sieht’s ebenso aus. Alle sehen sich darin äußerlich gleich; die Knechte am Eingang des Saales haben sie alle passieren lassen und keinen Unterschied bemerkt. Wie kommt es nun, daß der König vor einem stehen bleibt, ihn eindringlich anschaut und dann fragt: «Freund, wie bist du hereingekommen?» An der Kleidung selbst kann es nicht liegen, daß er kein hochzeitlich Kleid anhat: Sie haben ja alle abgenutzte Kleider. Er weiß, was der König mit der Frage meint, und schuldbewußt verstummt er. Als ihn des Königs Boten auf der Straße antrafen, dawar er wohl bereit, ihnen zum Gastmahl zu folgen, aber er hielt es nicht der Mühe wert, auch nur das Geringste zu tun, um seine Kleider etwas in Ordnung zu bringen, sein Schuhwerk zu reinigen, sein Antlitz zu waschen, sein Haar zu kämmen. Er sah vielleicht nicht schmutziger drein als ein anderer, die Knechte hatten nichts Besonderes an ihm bemerkt, für sie hatte er ein hochzeitliches Kleid an wie die andern. Als ihn aber der König sieht, dabemerkt er gleich: Das ist ein Mensch, dem hat es nicht angelegen, sein möglichstes zu tun, um meiner Einladung würdig zu sein. Und er verstummte: Ja, es war so. Und weil Gott ein Herzenskündiger ist, so ist er bei aller Güte und Langmut streng und gerecht. Er straft: Die Stadt der Männer, die seine Knechte verhöhnt, geht in Flammen auf, und der Mann, der es mit seiner Einladung so leicht genommen, er wandert in den Kerker. Wir finden diese Strafe zu hart; wir meinen, er hätte ihn nur sollen vor die Türe setzen lassen; aber weil Gott ein Herzenskündiger ist, ist das Verbrechen dieses Mannes, der sich mit ungewaschenem Kleid zu seinem Gastmahl einfindet, gerade so groß wie die Verstocktheit der Leute der Stadt. So vereinigen sich in dem Bilde Gottes, welches dieses Gleichnis uns bietet, Güte, Langmut, Herzenskenntnis und gerechte Strenge zu einem einheitlichen Bilde. Wie steht es nun mit dem Charakter der Eingeladenen? Sie sind sich alle gleich: Sie wissen die Güte Gottes nicht zu schätzen und tun nicht dasIhre, um sich dieser Güte würdig zu erweisen. Die ersten zeigen ihre Unwürdigkeit, indem sie noch höhnisch und gewalttätig sind: Sie empfinden die Art Gottes gegen sie gar nicht mehr als Güte. Die andern möchten wohl gern der Güte teilhaftig werden, aber sie haben nicht die Kraft und den inneren Antrieb, sich ihrer würdig zu erweisen: Darum sind auch sie schuldig – schuldig gerade wie die andern.¦20¿

20 [R] So reich die Eigenschaften Gottes, so arm die der Menschen.

Gleichnis von der königlichen Hochzeit

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Jahrhunderte sind vorübergerauscht, seitdem Jesus dieses Gleichnis gesprochen; aber seine Bedeutung hat sich um nichts verändert: Gott und die Menschen sind sich gleich geblieben. Noch immer besteht die Güte Gottes gegen die Menschen: Er läßt noch immer die Sonne leuchten über ihnen, er sendet ihnen den Frühling und den Herbst; noch immer segnet er die Menschheit mit Wohltaten und will, daß allen geholfen werde. Wir brauchen gar nicht in die Geschichte außer uns zu schauen, sondern nur unser Leben zu betrachten: Und dawird es uns aufgehen, wasGott an uns Gutes getan. Und wie mit seiner Güte, so steht es auch mit seiner Langmut: Er wird nicht müde, durch sein Wort und durch den Mund seiner Prediger zu den Menschen zu sprechen, und gerade in der Zeit, wo die Menschen sich am weitesten von ihm entfernen, die Gottentfremdung aufs höchste gestiegen, da erweckt er wie im alten Bunde gewaltige Männer, welche die Menschheit wieder ihm zuführen sollen, Leute wie Luther, wie Spener. Er ist auch ein Herzenskündiger geblieben; er läßt sich nicht täuschen durch den Glanz dieser oder jener Kirche, er läßt sich nicht täuschen durch die äußere Gleichheit derer, die in seiner Kirche sind, sondern wie er einst unter seinen Gästen gewandelt und sie mit eindringlichem Blick gemustert, so prüft er auch heute noch diejenigen, die sich äußerlich zu ihm bekennen, ob das Herz dem äußerlichen Bekenntnis auch entspreche. Gott ist aber auch streng und gerecht geblieben. Wir vergessen das oft. Wir wollen, daß uns immer nur der Gott der Liebe und der Vergebung gepredigt werde: Das sei der Gott, denJesus uns verkündigt habe. Gewiß, aber der Ernst des Christentums verlangt, daß wir nicht vergessen, daß wenn wir uns unwürdig erweisen, Gott streng und gerecht ist. Die Geschichte der Menschheit spricht hier eine beredte Sprache: Sie zeigt, daß ein Volk oder eine Gesellschaft, die sich von Gott abgewandt hat, früh oder spät dem Untergang anheimfällt. Und wie Gott sich gleich geblieben ist, so auch wir Menschen: Wir gleichen leider noch immer denjenigen, dieJesus im Gleichnis geschildert hat: Wir wissen die Güte Gottes gegen uns nicht zu schätzen. Da sind die Höhnischen und Gewalttätigen, denen etwas schon verhaßt ist, wenn es christlich ist. Von einer Güte Gottes zu sprechen, ist ihnen eine Dummheit; daß Gott sich zu den Menschen herablasse, sich um sie bekümmere, ist ihnen ein blinder Aberglaube. Wenn sonntags die Glocken rufen, dem Herrn die Ehre zu geben, dann treiben sie ihr Handwerk, und wenn sie nicht arbeiten, dann entweihen sie den Tag, der dem Herrn geweiht sein sollte. Wir wollen uns heute nicht mit ihnen beschäftigen – sondern wir sind zusammengekommen, um etwas für uns zu haben. Wem gleichen denn wir im Gleichnis? Ich meine, den Leuten, die die Knechte auf den Straßen aufgelesen und zum Gastmahl geladen. Wir

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hatten keinen Anspruch auf die Güte Gottes: Nun sind wir durch Jesus Kinder seines Reiches geworden. Sündige Menschen mit allen unsern Fehlern sind wir Gottes Kinder geworden: Wir sitzen in unsern gewöhnlichen Kleidern um das große Mahl unseres Herrn. Und wenn er nun zu uns hereinträte, und sein ernster Blick uns träfe, wie würden wir bestehen? Ich glaube, daß er nicht nur bei einem unter uns stehen bleiben würde, und er müßte auf seine Frage: «Freund, wie bist du hereingekommen?», verstummen, sondern wir alle, alle müßten die Augen niederschlagen und uns schuldig bekennen, denn er würde in unsern Herzen lesen. «Freund, wie bist du hereingekommen?» Diese Frage würde, in unsere Zeit übersetzt, lauten: Freund, wie bist du ein Christ geworden? Washast dugetan, um dich deines Christenstandes und der damit gegebenen Gnade Gottes würdig zu erweisen? Wie bist du ein Christ geworden? Wir müßten fast antworten, durch die Gewohnheit. Als Kinder wurden wir getauft wie die andern; dann wurden wir unterrichtet wie die andern, dann wurden wir konfirmiert wie die andern, undjetzt betrachten wir uns als Christen wie die andern. Wir gehen in die Predigt wie andere, wir gehen auch zum Abendmahl wie die andern, und wir hoffen, einmal auch zu sterben als Christen wie die andern. Wir wissen wohl, welche Gnade Gott uns erweist, wir sind ihm dankbar. Würde diese Antwort genügen? Sie würde genügen den Menschen gegenüber: Die Knechte ließen damals alle in den Saal, sie schauten nur aufs Äußere. Aber als der Herr in den Saal trat, da sah sein Blick, was sie nicht bemerkt hatten. So würde er sich auch nicht mit unserer Antwort zufrieden geben, sondern er würde unsfragen: Hast du alles getan, wasin deinen Kräften ist, umdieGüte, dieich dir erwiesen, umdesGlückes, ein Christ zu sein, würdig zu sein? War es dir immer ernst damit in deinem Leben, dich auch als Kind Gottes zubewähren – bist du in diesem Sinne würdig? Hast du ein hochzeitlich Kleid an in meinen Augen, die nicht durch das Äußere sich befriedigen lassen? Wir alle müßten die Augen niederschlagen: «Underverstummte», denn unsere Schuld wäreunsklar. Das ist der ernste Gedanke dieses Gleichnisses: Es genügt nicht, nur ein Kind Gottes sein zu wollen und auch äußerlich ein Christ zu sein, sondern um wahrhaft ein Christ zu sein, bedarf es eines inneren Entschlusses, unser Leben als Christen zu führen, so viel wir es können. In diesem einen Gedanken liegt viel, wenn wir ihn in unserm täglichen Leben anwenden wollen. Aber das Gleichnis, das uns diesen Ernst vorzeigt, gibt uns in unserem Streben zugleich Trost: Wenn wir tun, was in unsern Kräften steht, dann nimmt Gott unsere Unvollkommenheit alsVollkommenheit. Die Bettler in ihrer schäbigen Kleidung nahm er als Gäste auf, die nahm er als Gäste auf, als hätten sie kostbare Feierkleider an, weil er sah, sie hat-

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ten getan, was sie konnten, um ihre Kleidung der Einladung würdig zu machen. Und hätte der Mann dasBewußtsein gehabt, daß er das getan, was er konnte, dann hätte er auf die Frage können antworten: Herr, siehe ich bin nicht würdig, daß ich bei dir erscheine: Ich habe kein Feierkleid. Als du mich aber eingeladen, datat ich, wasich konnte, um dieses schäbige Kleid zu säubern und so zu deinem Tisch zu erscheinen. Dann hätte der Herr ihn als seinen Gast erkannt. So liegt in diesem Gleichnis die ernste Warnung und der ernste Trost zugleich. Wir sind Gottes unwürdig, aber er verlangt von uns nicht mehr, als man geben kann, und sieht unsere Unvollkommenheit für Vollkommenheit.¦21¿

Nachmittagspredigt Karfreitag, 13. April 1900, St. Nicolai

Mt. 27,21–26: [Jesus oder Barabbas]¦22¿ In der stillen Betrachtung des Bildes unseres edlen Dulders werden wir durch eine wild erregte Szene gestört. Kreuzige ihn, kreuzige ihn! Es ist, als ob dieses wüste Geschrei bis in unsere stille Versammlung dringe. Wir fragen unsimmer: Wie ist es möglich, daß dieselbe Menge, dieJesus bei seinem Einzug in Jerusalem zugejubelt hatte, jetzt von dem Landpfleger stürmisch denToddesHeilands fordert? Und doch war alles so einfach, so rein menschlich, allzumenschlich zugegangen. AlsJerusalem schlief, hatten die Hohenpriester Jesus verhaften lassen. Beim Morgengrauen hatten sie schon sein Urteil gesprochen. Kaum war die Sonne über dem Horizont emporgestiegen, da schleppen sie ihn zu Pilatus. Als die Kunde davon sich inJerusalem verbreitet, strömt das erwachte Jerusalem zum Palast des Landpflegers, um zu sehen, wassich da abspielt. Sie waren zu einem traurigen Schauspiel erschienen: Der Vertreter des Kaisers, der oberste Richter im Lande, ist durch seine Charakter21 [Der Schluß besteht aus Stichwörtern.] 22 [Da antwortete nun der Landpfleger und sprach zu ihnen: Welchen wollt ihr unter diesen Zweien, den ich euch soll losgeben? Sie sprachen Barabbas. Pilatus sprach zuihnen: Was soll ich denn machen mit Jesu, von dem gesagt wird, er sei Christus? Sie sprachen alle: Laß ihn kreuzigen! Der Landpfleger sagte: Washat er denn Übles getan? Sie schrien aber noch mehr und sprachen: Laß ihn kreuzigen! Da aber Pilatus sah, daß er nichts schaffte, sondern daß ein viel größer Getümmel ward, nahm er Wasser und wusch die Hände vor demVolk undsprach: Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten; sehet ihr zu! Da antwortete das ganze Volk und sprach: Sein Blut komme über uns und über unsre Kinder! Da gab er ihnen Barabbas los; aberJesum ließ er geißeln undüberantwortete ihn, daß er gekreuzigt würde.]

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losigkeit in eine hilflose Lage gebracht. Die Hohenpriester drängen auf ihn ein, er soll dasTodesurteil, das sie schon gesprochen, bestätigen. Er sieht, daß sie einen Unschuldigen verurteilt haben. Er könnte einfach seine Freilassung befehlen, aber er hat nicht den Mut, er hat Angst, sie verleumden ihn am Hofe in Rom. Da verfällt er auf einen Ausweg: Das Volk hat sich gesammelt, neugierig steht es herum. Da verfällt er auf einen rettenden Gedanken, wie er meint, daß er nicht zu sagen braucht: Jesus ist unschuldig, und zugleich sein Gewissen nicht belastet. DasVolk soll ihm helfen gegen die Pharisäer und Jesus wie einen von ihm verurteilten Verbrecher zurückfordern. Ich habe die Gewohnheit, euch auf das Fest, jedes Jahr, einen Gefangenen frei zu geben. Dieses Jahr lasse ich euch nun die Wahl nur zwischen diesen zwei: entweder Jesus oder den Mörder Barabbas; einen andern bekommt ihr nicht! Er ist gewiß, daß dasVolk sagen wird: Jesus; er glaubt, daß die Pharisäer nicht wagen werden, zu sagen: Barabbas – und daß er dann frei ausgehen wird. Und siehe, es kam alles ganz anders. Pilatus hat sich selbst, die Pharisäer und dasVolk vor eine merkwürdige Entscheidung gestellt: Sie müssen wählen zwischen dem edlen Heiland und einem Mörder, keiner von den Anwesenden kann sich dieserWahl entziehen. Die Zeit der Entscheidungslosigkeit ist vorüber: Sie ist vorüber für die Galiläer. Einst, vor einem Jahr, da war es anders, da konnte manJesus anerkennen und brauchte sich noch nicht für ihn zu entscheiden. Damals hatte Jesus selbst gesagt: «Wer nicht wider mich ist, der ist für uns» [Mk. 9,40]; damals konnte man ihn als den Mann ansehen, der gewaltig, und nicht wie die Schriftgelehrten predigte, man konnte ihn als edlen Menschen anerkennen, aber man brauchte sich nicht für ihn oder gegen ihn zu entscheiden. Noch vor wenigen Tagen konnte man dem in Jerusalem Einziehenden folgen, man konnte in das Hosianna einstimmen – aber damit brauchte man sich nicht für ihn zu entscheiden. Aber jetzt heißt es, wählen zwischen Jesus und dem Mörder. Wie den Galiläern, so erging es auch den Jerusalemiten. Als vor etwa zwei Wochen der Prophet ausNazareth in ihre Stadt gezogen kam, als sie ihn im Tempel reden hörten, als sie seine ernsten Gleichnisse vernahmen, da dachten sie: Welch ein Prediger! Und als er die Hohlheit der Pharisäer aufdeckte, als er die Sadduzäer zurechtwies und alle, die ihn mit Redeschlingen fangen wollten, beschämte, da sagten sie bei sich selbst: Er hat recht, und hatten ihre geheime Freude dran. Aber sich für ihn entscheiden, zu ihm hintreten und sagen: Dir wollen wir folgen, dasbrauchte man deshalb noch nicht, niemand verlangte esja. Aberjetzt heißt es auch für sie, die vielleicht von Neugier gelockt, gekommen waren, um zu sehen, was es denn vor dem Palast des Pilatus gebe, sich entscheiden für ihn oder für den Mörder.

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Auch den Pharisäern kam die Wahl unerwartet. Sie waren gekommen, um seine Kreuzigung durchzusetzen: Er mußte fallen, weil er das Volk verwirrte durch seine neuen Lehren. Er war ihnen unbequem; darum mußte er fallen. Daß er ein Missetäter war, wollten sie damit nicht gesagt haben. Undjetzt müssen sie sich entscheiden zwischen ihm und einem Mörder. Ebenso Pilatus: Noch vor einigen Minuten hatte er es in der Hand gehabt, zu sagen: Was ihr mit diesem Jesus wollt, was die neue Lehre ist, die er verkündigt, ist mir ganz gleich. Ich sehe nur, das er damit vor dem Gesetz nicht schuldig ist, und verbiete euch daher, ihn zu töten. Ein Anhänger dieses Menschen bin ich deshalb noch nicht. Meint ihr, daß ich, ein vornehmer Römer, mich mit einem Juden abgebe? O du armer Pilatus, weil du zu vornehm und zu weltgewandt warst, dich vorher für den Menschen, den du als edel und unschuldig erkannt hast, zu entscheiden, mußt du es jetzt gefallen lassen, daß der Pöbel von Jerusalem dir vorschreibt, zwischen Jesus und Barabbas zu entscheiden; denn wenn sie sagen: Gib uns Barabbas los, dann hast du gewählt und bist schuldig und kannst dir hundertmal die Hände waschen und der Wahl des Volkes die Verantwortung zuwälzen: Du bist doch schuldig; du hast ihnen, um nicht dich entscheiden zu müssen, diese Wahl gestellt und bist nun in deinen eigenen Stricken gefangen. So ist diese ganze Versammlung, die hoffte, hinleben zu können, ohne jemals für oder gegen Jesus Partei ergreifen zu müssen, nun plötzlich vor die Wahl gestellt: entweder Jesus oder einen Mörder. Und sie entscheiden sich für den Mörder. Es geht gegen ihren Willen, aber sie können nicht mehr anders. Die Pharisäer werden einen Augenblick gestutzt haben: Sie, dieVertreter Israels, der Religion, des Rechts, sie sollen einen Mörder losbitten. Aber nur einen Augenblick: Waren sie so weit gegangen, ihn, weil er ihnen unbequem war, zum Tode zu verurteilen, was sollten sie da noch im letzten Zeitpunkt schwanken und mit Gefühlen spielen und ihn vielleicht entrinnen sehen, weil sie nicht wagen, um die Losgebung eines Mörders zu bitten. So verteilen sie sich unter das Volk und stiften die Leute von Jerusalem auf, sie sollen um Barabbas bitten. Und sie gehorchen ihnen. Eigentlich war es den Leuten von Jerusalem leid um Jesus, und es war ihnen nicht recht, daß sie sich für einen Mörder verwenden sollten. Aber warum sollten sie sich mit der Obrigkeit verfeinden um eines elenden Galiläers willen? Die Pharisäer mußten ja wissen, warum sie an demTodJesu hielten, so traf sie dieVerantwortung nicht. So schrien sie ihr «Barabbas» und schrien sich gegenseitig in die Hitze und in den Eifer. Manche schrien nicht laut, aber ihr Schweigen bedeutete auch ein «Kreuzige ihn!» Warum bliebt ihr denn still, ihr Leute von Galiläa, die ihr ihn als Wohltäter, als Heiland kanntet, die ihr in sein Innerstes

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schauen durftet? Warum bliebt ihr still; warum rieft ihr nicht aus, daß

er kein Mörder sei? Ja, es war schon zu spät! Hättet ihr euch früher für ihn entschieden, es wäre nicht so weit gekommen, und ihr müßtet jetzt nicht durch euer Schweigen in das Geschrei derer miteinstimmen, die einen Mörder losbitten, daßJesus gekreuzigt würde. So seid ihr ebenso schuldig wie Pilatus: Ihr schweigt, er wäscht seine Hände, ihr stimmt nicht ein in das «Kreuzige», aber ihr seid schuld, daß es ertönt, denn ihr habt den Zeitpunkt versäumt, wo ihr euch für ihn entscheiden konntet – und nun ist’s zu spät, ihr seid überwunden und müßt dem Geschrei des Pöbels

folgen. So entschied sich Israel für denTod seines Heilands. Warum haben wir nun diese ganze Verhandlung vor Pilatus im einzelnenbetrachtet, unddieGefühle dereinzelnen, wiesiediekurze Texterzählung voraussetzt, nachzuempfinden gesucht? Um daseine mit Deutlichkeit zu erfassen: Die Böswilligkeit einiger weniger Menschen hätte Jesus nicht ans Kreuz bringen können, wenn diejenigen, die seine Unschuld und seine edle Größe erkannt hatten, zur rechten Zeit sich entschieden hätten, undnicht geglaubt hätten, ohne die Entscheidung herauszukommen. Die Gleichgültigkeit der Menschen hat unsern Heiland ans Kreuz gebracht! Die Gleichgültigkeit hat sie zu Verbrechern gemacht, durch die Gleichgültigkeit ist es zuerst so weit gekommen, daß sie zwischen Jesus und einem Mörder wählen mußten und keine Wahl mehr hatten. Darum ist daswüste Geschrei «kreuzige, kreuzige» eine so ergreifende Karfreitagspredigt, die uns in unserer Zeit noch mehr ergreift als alles, wasman über denTodJesu sonst zu sagen vermag. Ach, wenn es in unserer Zeit – es handelt sich für uns nicht mehr umJesus oder Barabbas, aber Jesus oder sein Werk – wenn es in unserer Zeit irgend einen Feind des Christentums gibt, so ist es die Gleichgültigkeit, die wohlwollende Gleichgültigkeit. Man führt die moderne Wissenschaft, die moderne Naturkunde als Feinde desChristentums an: Ach, sie sind ihm nicht gefährlich – gefährlich werden sie erst, wenn sie durch die Gleichgültigkeit unterstützt werden. Diese Gleichgültigkeit kleidet sich in ein schönes Gewand. Man hört oft solche Reden. Da sagt man: Ich stehe dem Christentum nicht unfreundlich gegenüber – Religion muß einmal in der Welt sein. Aber man verlange von mir nicht, daß ich mich in meinem täglichen Leben zum Christentum bekenne, daß ich allsonntäglich in die Kirche gehe. Das ist eine hohle Rede. Wollen denn diejenigen, die so sprechen, nicht sehen, daß sie das Christentum zugrunde richten? Es gibt kein Mittleres zwischen Christentum und Nichtchristentum. Der Satz: «Wer nicht wider uns ist, ist für uns» [Mk. 9, 40] ist auf unsere Zeit angewandt trügerisch. Sondern es heißt: «Wer nicht für mich ist, der ist wider mich» [Lk. 11, 23].

Jesus oder Barabbas

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Es wird unserer Zeit gehen, wie es den Zeitgenossen Jesu ergangen ist: Sie bedenkt sich, ob sie sich will zu ihm bekennen, nichts zwingt sie scheinbar, für ihn oder wider ihn Partei zu ergreifen, man glaubt, noch immer eine Mittelstraße zu haben zwischen dem Bekenntnis zur christlichen Kirche, und unversehens hat durch den Lauf der Zeit die Sache sich so gewendet, daß es heißt: Christentum oder Widerchristentum, eine christliche oder eine widerchristliche Welt, und die Entscheidung liegt nicht mehr in unserer Hand, sondern durch unsere Gleichgültigkeit haben die Feinde des Christentums so zugenommen, daß wir verstummen müssen und überschrien werden durch das«Barabbas» der gemeinen Schreier. Dann ist aber das Christentum nicht untergegangen durch seine Feinde; o nein: Wenn einst die folgenden Geschlechter nicht in eine christliche, sondern in eine widerchristliche Welt hineingeboren werden, so fällt die Verantwortung nicht denen zu, die durch ihre gehässigen Angriffe das Christentum zu Fall bringen wollten, sondern schuldig sind diejenigen, welche denWert des Christentums zu schätzen wußten und doch nicht den Charakter hatten, sich zur christlichen Kirche zubekennen. Glaubt nicht, ich sehe zu schwarz; nehmt nur das Beispiel, das uns am heutigen Tage so nahe liegt: Wenn jemand, als Jesus zum letzten Male im Tempel predigte, demVolk gesagt: Morgen um diese Zeit wird dieser, den ihrjetzt hört, vor Pilatus stehen, manwird euch dieWahl lassen zwischen ihm und einem Mörder, und dasVolk wird den Mörder wählen, und ihr werdet entweder geblendet mitschreien, oder nicht den Mut besitzen, für Jesus einzutreten, und wenn auch, es wäre zu spät, morgen um diese Zeit wird er gekreuzigt. – Hätte man so zu ihnen gesprochen, dann hätten sie gesagt: Ach, wie wäre so etwas möglich, wer sollte denn wagen, Hand an den Mann zu legen, dem dasVolk so zuhört – und wenn auch, geschehen kann ihm nichts, wir sind ja da, und wir wissen, daß er ein ehrenwerter Prediger ist. Diesen Toren gleicht unsere Zeit. Wir gehen dahin mit verbundenen Augen; wir wollen nicht sehen, wie die Maßen immer mehr vom Christentum abfallen. Es ist heute nicht derTag, euch das zu schildern. Sondern wir fragen nur: Wie hat es so weit kommen können? Nur durch die Gleichgültigkeit derer, die, obwohl sie den Wert des Christentums erkennen, obwohl sie sich innerlich zu ihm hingezogen fühlen, doch oft aus äußerlichen Gründen, aus Gewohnheit, sich nicht in ihrem Leben offen zur christlichen Gemeinde bekennen. So gilt denn unser Wort heute vor allem ihnen. Sie sind heute, wo die Karfreitagsglocken übers Land hallen, zur Kirche gekommen. Es ist nicht nur Gewohnheit, sondern ein inneres Bedürfnis, wenn sie auch sonst im Jahre der Kirche fern geblieben sind, heute wenigstens, am Karfreitag, zur christlichen Gemeinde sich zu bekennen und wieder in den Mauern eines Gotteshauses zu sein. Es ist das Bild des leidenden

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Heilands, das sie bewegt, wieder am Gottesdienst teilzunehmen, sich auch äußerlich für ihn zu bekennen. Im Angesicht des leidenden Heilands hatte Pilatus dem Volk die Wahl gestellt: ihn oder einen Mörder. Vor dem sterbenden Heiland, wenn die Karfreitagsglocken ertönen, stellt sich für viele die Frage: Gehörst du noch zu der christlichen Kirche? Und siehe, vor derWeihe desTages verschwindet die Gleichgültigkeit, und sie kommen wieder in dieses Gotteshaus. Wie sollten sie in ihrer Gleichgültigkeit beharren können, am Tage, wo auf allen Kanzeln die Predigt von der Dahingabe desHerrn erschallt. Aber siehe, damit ist es nicht getan: Die Predigt des Karfreitags soll nicht verhallen, wie der Sturm heute den Klang der Trauerglocken verweht, sondern sie mögen denjenigen, die heute ihnen gefolgt sind, etwas mitgeben, das sie zwingt und treibt, jeden Sonntag sich zum Herrn und seiner Gemeinde zu bekennen. Nicht nur den Karfreitag widme dem Herrn, sondern das ganze Jahr, die ganzen Sonntage, denn seine Dahingabe, die heute deinen Schritt hierher führte, sie hat nicht nur dort am Kreuze stattgefunden, sondern sein ganzes Leben war eine Dahingabe für uns, und so soll auch unser ganzes Leben, nicht nur der Karfreitag, ein Bekenntnis für ihn sein. Das möchte ich besonders euch, die ihr heute zum Tisch des Herrn gingt, oder die ihr heute nachmittag kommt, um euch auf das Abendmahl vorzubereiten, sagen. Ihr wollt euch aus dem brausenden Leben zurückziehen, um seine Gäste zu sein, ihr wollt denen gleichen, die mit ihm zuTische lagen bei jenem letzten Mahl und seinen segnenden Abschiedsworten lauschten. Bedenkt es, es lag niemand bei ihm zu Tisch als seine Jünger: Nicht nur in jener stillen Abschiedsstunde bekannten sie sich zu ihm, sondern seitdem sie ihn kannten, seitdem sie ihn einmal in seiner Tiefe erfaßt, seitdem bekannten sie sich zu ihm. So sei es auch

für uns: Das Abendmahl soll nicht eine Feier sein, durch die man einmal im Jahre, in der Festwoche, sich als Anhänger Jesu und seiner Kirche bekennt, sondern wie damals in jener geschichtlichen Feier diejenigen, die zu Tische lagen, zurückblickten auf die Zeit, wo sie sich täglich durch ihr Leben zu ihm bekannt, so wollen wir, weil er uns als seine Tischgenossen aufnimmt, ihm und uns, in die Zukunft blickend geloben, daß wir uns fernerhin, mehr als wir es bisjetzt getan, auch in unserm täglichen Leben zu ihm bekennen wollen.¦23¿ – Dann wird dieser Karfreitag und diese Karfreitagsbetrachtung eine gesegnete für uns sein.

23 [R] Warum waren die Leute zuletzt so leicht zu bewegen, Barabbas zu wählen? Weil es in dem Leben, als es noch Zeit war, ihnen nicht angelegen hatte, sich zuJesus zu bekennen.

Selig

sind die Friedfertigen

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Nachmittagspredigt Sonntag, 20. Mai 1900, St. Nicolai¦24¿

Mt. 5,9: Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen [Die Seligpreisungen bilden den] Anfang der Bergpredigt. In weihevollen Worten [wird hier] das Höchste zusammengefaßt. Dies [ist] die schönste, weil sie sich an alle Zeiten und alle Menschen wendet, nicht nur an die geistig Armen, die Leidtragenden, die Gerechtigkeit Suchenden, die mit Sanftmut begabt sind, die Barmherzigkeit üben können, die verfolgt werden, sondern an alle Menschen und auch an alle Zeiten. Alles sehnt sich nach Friede: Wenn uns etwas traurig stimmt, so ist es, zu sehen, wie auf der Welt vom Großen bis ins Kleine Krieg und Unfriede herrscht. Politisch – Stadt – Familien etc. Und wenn wir nun dies betrachten, da klingt in unsere trüben Gedanken das herrliche Wort: «Selig sind die Friedfertigen», als könnte es die Menschen aus allem Kampf und Streit zurückrufen. Wir sprechen zunächst vom äußerlichen Frieden: Völker, Stadt, Familien. Man hört oft sagen: Gilt denn da überhaupt diese Seligpreisung Christi? Krieg und Unfriede herrschten überall, seitdem es Menschen gibt: Es war so, bevor Christus in dieWelt kam, und es ist auch so geblieben, seitdem er gekommen ist, und es wird so bleiben, solange es Menschen geben wird. Das ist, wie alles dieses allgemeine Gerede, falsch. Seitdem Christus in die Welt gekommen ist, ist die Menschheit dem großen Frieden näher gekommen. Das Christentum hat nicht nur Zwietracht gesät, wie man oft sagt, sondern auch Frieden gestiftet. Ein Luther, ein Bucer haben alles daran gesetzt, um den Krieg zu vermeiden. Luther ist gestorben auf der Reise, um einen Hader in einem deutschen Fürstenhause zu schlichten. Und daß eine große Gesellschaft auf der Welt daran arbeitet, diesen Gedanken des Friedens immer weiter auszubreiten, gehört auch zu den Zeichen der Zeit. Sogar der Krieg selbst ist menschlicher geworden. Wir wollen aber nichts weiter von diesem Frieden behandeln. Wir sind wie Tropfen im Meer und können nichts machen. Mögen diejenigen, die über dem Schicksal derVölker wachen, bedenken, welche große Verantwortung sie vor Gott tragen, mögen sie bedenken, was ihnen einst die Welt danken wird, wenn sie statt für den Ruhm auf dem Schlachtfeld für den Frieden der Menschheit gearbeitet haben werden. Ich empfinde es immer als eine Erleichterung, daß Gott mich nicht an einen Platz gestellt hat, wo ich in die Lage kommen kann, über Krieg oder Frieden von Millionen Menschen zu entscheiden. 24 [R] Le commencement est seulement esquissé. Prière de me renvoyer bientôt.

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Desto mehr aber müssen wir uns fragen, ob wir in dem wenigen, worüber uns Gott gesetzt hat, getreu gewesen, ob wir in dem kleinen Kreis, in dem wir uns bewegen, friedfertig gewesen sind und noch sind. Wie sieht es denn bei uns zu Hause in unserer Familie aus? Ich weiß wohl, der eine hat einen friedfertigeren Charakter als der andere, es ist leichter, mit ihm auszukommen als mit einem andern. Darum handelt es sich aber jetzt nicht, sondern wir wollen uns fragen: Haben wir denn wirklich alles getan, auch in den kleinsten Dingen, um unser Heim zu einem friedlichen zu machen? Ich sage in den kleinsten Dingen – denn von da fängt alles an. Wenn in einer Familie Zwietracht und Hader herrscht, wenn sogar Feindschaft ausbricht, Schimpfworte und Beleidigungen hin und her fliegen und man sich zuletzt vor Gericht gegenseitig verklagt – ist das so von einem Tag gekommen? Wenn die Eltern und die Kinder untereinander sich kein freundliches Wort mehr gönnen, ist das so von einem Tag gekommen? Wenn langjährige Freunde sich entzweien, geht das so auf einmal? O nein. An dem, was wir leider selbst an uns erfahren und rings um uns sehen und hören, wissen wir, wie es zugeht. Zuerst gleichgültige Gesichter, ein gleichgültiger Gruß, dann unfreundliche Worte; zuletzt gar eine höhnische Bemerkung; der Riß wird immer größer; man fühlt es, man möchte zurück; man fragt sich: Warum wird man so gleichgültig, warum so feindlich? Aber da gibt es kein Zurück mehr; man läßt die Sache gehen – und wer weiß, wohin es zuletzt führt? Ach diese kleinen Dinge in unserem Leben haben eine so weittragende Bedeutung, und dieWorte unseres Herrn Jesus, die uns so schön und so leicht zugleich vorkommen, wenn wir sie hören, sie lasten auf uns, sie scheinen uns so schwer und drückend, wenn wir sie auf alle die kleinen Dinge in unserm Leben anwenden wollen. «Selig sind die Friedfertigen» – dasklingt so wundervoll. Man meint, wenn man es hört, ist man schon friedfertig. Aber: Selig sind die Friedfertigen in den kleinen Dingen des täglichen Lebens – das klingt schon viel schwerer und man fragt sich, ob man überhaupt noch darauf hoffen kann, friedfertig zuwerden: Denn da heißt es, friedfertig sein zu Hause, mit dem Mann, mit der Frau, mit den Kindern, mit der Herrschaft, mit den Dienstboten, friedfertig sein auf der Straße, im Geschäft, im Fabriksaal, auf sein Gesicht achten, daß es nicht unfreundlich ist, auf den verdrießlichen Zug um den Mund oder die übelgelaunte Falte auf der Stirn achten; die Zunge im Zaum halten, daß sie nicht ein bißchen neidisch oder boshaft redet, wenn man es auch nicht einmal übel gemeint haben will; sein Ohr bewachen, daß es nicht Böses über andere höre, worüber man die Freude nicht unterdrücken kann – ach, es gehört so viel zum Friedfertigsein in den kleinen Dingen des gewöhnlichen Lebens, daß ich hier nicht alles aufzählen kann. Wir wissen aber alle, was dazu gehört: Wir brauchen uns nur – ich will sagen nur einen Tag lang – in un-

Selig

sind die Friedfertigen

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serm Denken, Tun und Reden selbst zu beobachten – und wir wissen alle, worauf es ankommt, um friedfertig zu sein in den Dingen des gewöhnlichen Lebens. Und es kommt viel darauf an. Glaubt nicht, daß ich der herrlichen Seligpreisung Jesu etwas von ihrem Zauber und ihrem Glanz nehme, wenn ich sie so ins tägliche kleine Leben übersetze: Jesus leitet uns selbst dazu an, ja, er verlangt es von uns, wenn er, vom Morde redend, zeigt, daß es sich in demVerbot des Brudermords nicht nur um das Blutvergießen handle, sondern daß damit jedes unfreundliche, höhnische oder feindliche Wort gemeint sei, welches die Brüder zuletzt so entzweien kann, daß sie nicht davor zurückscheuen, mit derWaffe aufeinander los zu gehen. «Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch, wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha, der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: du Narr, der ist deshöllischen Feuers schuldig» [Mt. 5,21f.]. Und dann zeigt Jesus, daß alles Opfer, aller Gottesdienst keinen Wert habe, wenn man seinem Bruder zürne. Bemerkt wohl, Jesus behandelt diese Deutung des Gebots auf die Worte und Zwistigkeiten als erste in der Bergpredigt, während es in den zehn Geboten erst mitten in der Reihe erscheint! Es steht in demselben Kapitel, wie «selig sind die Friedfertigen», und folgt fast unmittelbar darauf. Beide sind inJesu Gedanken innig verbunden gewesen. Ich habe euch sozusagen die häusliche Bedeutung desWortes «Selig sind die Friedfertigen» dargelegt. So verstanden erhält dieses Wort eine besondere Wichtigkeit für diejenigen, denen gerade die kleinen Geschäfte im Haus und in der Familie zufallen. Ich möchte sagen, es gehört gerade zur Seligkeit der Frau, friedfertig zu sein. Ich will nicht einmal von dem Einfluß reden, den eine heitere, friedfertige Frau auf ihren Mann ausübt, wenn er verdrießlich von der Arbeit, vom Geschäft oder vom Beruf heimkommt. Es ist da etwas ganz anderes, ob ihn ein freundliches Gesicht empfängt, eine Hand ihm die Falten auf der Stirn wegstreicht, ihm zuredet, die Sache nicht von der bösen Seite anzusehn, es seija nicht so schlimm, oder ob ihm ein mürrisches Gesicht begegnet, kein freundliches Wort fällt, oder die Frau gar noch einstimmt: Ja, man hat dir unrecht getan, dasbrauchst du nicht zu leiden, und ihn so immer mehr in den Unmut hineinredet. Im ersten Fall geht er wieder fröhlich an die Arbeit, im zweiten verdrießlich – ja noch übelgelaunter als er gekommen – und alles das, weil die Frau das schöne Wort: «Selig sind die Friedfertigen» in ihrer Haushaltung nicht anzuwenden versteht. Es gehört zur Seligkeit der Frau, friedfertig zu sein, sagte ich. Das gilt nicht nur von der Gattin, sondern – vielleicht noch in viel höherem Maße – von der Mutter. O armes Kind, welches in einem mürrischen, verdrießlichen Haus aufgewachsen ist; o armes Kind, dem das Schelten

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und Keifen zu Hause etwas Gewohntes ist; o armes Kind, das du von deiner Mutter nicht die stille, heitere christliche Friedfertigkeit gelernt hast. Du hattest eine sonnenlose Jugend, und grau liegt dieWelt vor dir, wenn du aus dem Elternhaus ins Leben trittst. Ich kann es euch nicht genug sagen, ihr Mütter, welchen Schatz fürs Leben ihr euren Kindern mitgebt, wenn sie in eurem Hause vonJugend auf die Luft der Friedfertigkeit einatmen durften, wenn ihnen überall der Friede im Elternhaus alsTraum vorschwebt und in denJugendträumen nicht eine Erinnerung von Verdrießlichkeit, Schelten, böser Nachrede über andere mitzittert. Das Heim, das sie einst gründen werden, wird einst auch denselben Frieden atmen: Es wird sein, als ob sie vom elterlichen Herd ein brennend Scheit genommen und damit auf ihrem neuen Herd ein Feuer angezündet, dasfreundlich flackert, freundlich wärmt, und nie erlischt. O, selig die Mutter, von der so nicht nur eine neue Familie, sondern auch die Friedfertigkeit in einem neuen Heim sich herleitet. Ja, es ist wahr: Die Friedfertigkeit gehört zur Seligkeit der Frau. Es begegnet uns bei der Betrachtung des Lebens eines Mannes, der mitten im wildbewegten Leben stand, oft, daß wir uns fragen, woher er denn in allen diesen Kämpfen diese stille, friedfertige Natur bewahren konnte – und wenn sein Leben offen vor uns liegt, dann sehen wir, daß er sie aus dem Elternhaus mitgenommen hat oder alsVermächtnis von einer Frauengestalt überkommen hat, die ihm im Leben nahe getreten ist. Man trifft im Leben oft auf Gestalten, in allen Kreisen und in allen Altern, von denen es ausgeht, wie ein geheimnisvoller Hauch des Friedens, in denen dieWelt sich ruhig spiegelt wie Mond und Sterne in einem stillen See. Da möchte man sagen: Selig sind, die den Frieden bringen. Es ist nicht jedermann gegeben, eine solche stille Friedensnatur zu sein, aber jeder kann doch im Leben, an seinem Platz friedenstiftend wirken, Leute, die miteinander verfeindet sind, versöhnen. Es ist gewöhnlich weniger schwer, als man denkt. Man muß sich etwas überwinden, man muß nach den rechten Worten suchen, dann gibt eine Rede die andere, und man ist schneller am Ziel, als man zu hoffen wagte. Darum, wenn um dich herum solche Zwiste bestehen – und wenn sie schon jahrelang und jahrzehntelang bestehen – so laß nichts unversucht, um sie beizulegen. Die Seligkeit, die derjenige empfindet, welcher eine Versöhnung zustande gebracht hat, gehört zu den reinsten und edelsten Befriedigungen, welche je ein Mensch auf dieser Welt empfinden kann. Aber alle Zwiste, daswissen wir ja alle, lassen sich nicht aus derWelt schaffen. Wie soll sich nun der Spruch «Selig sind die Friedfertigen» in unserm Leben bewähren, wo wir rings von Unfrieden und Zwist umgeben sind? Es ist eine schwere Frage, die viele Christen bewegt. Wie weit soll unsere Friedfertigkeit gehen? Hier möchte ich sagen: Tue alles, wasin deinen Kräften liegt. «So weit an euch liegt», schreibt derApostel

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Paulus, «haltet Frieden mit jedermann» [Röm. 12,18]. Und wenn du das Gefühl hast, daß du das getan hast, wenn du in deinem Herzen vergeben hast, dann sei stille und ruhig, auch wenn es dir nicht gelungen ist, äußerlich den Frieden herzustellen oder aufrecht zu erhalten. Die Frage, ob wir mit allen Leuten Frieden halten, bewegt uns besonders vor dem Abendmahl. Unser Herr hat gesagt, daß ein Opfer oder ein Gottesdienst, solange wir mit dem Nächsten in Unfrieden leben, keinen Wert hat. So fragen wir uns in dieser Zeit immer, ob wir Frieden halten mit unseren Nächsten; wir suchen uns mit ihnen zu versöhnen: Die Abendmahlsfeier am Karfreitag hat schon manche Herzen zusammengebracht, die sich kalt und feindlich gegenüber gestanden hatten. Aber auch hier ist es uns nicht immer möglich, auch äußerlich den Frieden herzustellen. Ich glaube, euch aber zumTrost sagen zu dürfen, daß ihr doch würdig das Abendmahl feiern könnt, wenn ihr euch vor Gott und eurem Gewissen sagen könnt, daß ihr mit ganzem Herzen die Vereinigung versucht und aus vollem Herzen verziehen habt. Ich weiß aus dem Leben eines Mannes, den ich sehr hoch schätze, daß er deswegen sich viele Sorgen gemacht und zuletzt in diesem Gedanken beruhigt am Abendmahl teilnahm. Wenn wir aber so für unsere Auffassung der christlichen Friedfertigkeit den Gedanken aufgeben müssen, als ob wir jemals mit allen Menschen und diese wieder untereinander in vollem Frieden leben könnten, wie kann denn da dasWort noch bestehen «Selig sind die Friedfertigen?» Worin kann denn diese Seligkeit bestehen, wenn die volle Einigkeit in der Welt doch nicht erreicht werden kann? Sollte man nicht im Gegenteil meinen, daß gerade die Friedfertigen unter dieser Uneinigkeit allenthalben am meisten leiden und deshalb – gerade weil sie friedfertig

sind – sich am unglücklichsten fühlen müßten? Dieser Gedanke ist falsch. Die Seligpreisung über die Friedfertigkeit bleibt bestehen, und wenn die Uneinigkeit niemals aus der Welt weichen wird. Wie heißt denn die Seligpreisung? Heißt sie etwa: Selig sind die Friedfertigen, denn durch sie wird der Friede über die ganze Welt kommen? Nein, sondern: «Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen!» Also die Seligpreisung über die christliche Friedfertigkeit hängt gar nicht davon ab, ob dadurch, ob durch sie der Friede überall hergestellt wird. Wo man diese falsche Meinung hegt, da verwechselt man immer die christliche Friedfertigkeit mit dem Bestreben und der Kunst, es allen Leuten recht zu machen; gerade die Leute, die selbst mit dem Christentum nichts zu tun haben, deuten das so aus, weil es ihnen so bequem ist, und sagen, Christus habe seinen Anhängern befohlen, allen Leuten zu Gefallen zu leben. Das ist ganz falsch. Ich habe eine große Abneigung, ja geradeheraus gesagt, einen offenen Widerwillen gegen die Leute, die sich im Leben überall glatt durchschlängeln, die nirgends Anstoß erregen und es allen

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Leuten recht machen. Wenn ich solche Leute loben höre, daß sie es allen recht gemacht haben, so möchte ich immer sagen: Das kann schon wahr sein, aber etwas Rechtes haben sie auch nicht gemacht; um es allen recht zu machen, haben sie manchmal ein Wort, das gesagt werden mußte, unausgesprochen gelassen, haben sie manchmal eine Sache, die sie für richtig und edel erkannten, nicht unterstützt, oder vielleicht einmal gar mit der großen Menge dagegen gehandelt. Und wenn diese Art sich mit noch so viel christlichen Reden ziert, so sage ich, ist sie doch eine falsche christliche Friedfertigkeit, und mit ihrem rechten Namen heißt sie Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit, Charakterlosigkeit. Ich würde nicht wagen, dies in einer Predigt über die christliche Friedfertigkeit so scharf auszusprechen, wenn es sich nicht um einen Irrtum handelte, der in unsern Tagen die Sinne so vieler Leute verwirrt und gerade in den Fragen, die unsere Zeit bewegen, so viel Unheil anstiftet. Daß dies eine falsche Friedfertigkeit ist, dafür haben wir ein Beispiel, das alles in den Schatten stellt: unsern Herrn Jesus selbst. Den Blick auf den glatten, sonnigen Spiegel des Sees Genezareth gerichtet, hat er das herrliche Wort: «Selig sind die Friedfertigen» gesprochen! Aber sagt mir, ist er denn im Leben der Mann gewesen, der es allen Leuten recht gemacht hat und überall den Frieden verbreitet hat? O nein! Wie der stille See Genezareth unter dem Sturm aufbraust, so entfesselte Jesus Zwistigkeiten und Feindschaften, mehr denn je vor ihm und nach ihm jemand entzündete. Kennt ihr das gewaltige Wort nicht, wo er dies ausspricht? «Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon? Meint ihr, daß ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage nein, sondern Zwietracht. Denn von nun an werden fünf in einem Hause uneins sein, drei wider zwei und zwei wider drei» (Lk. 12,49– 52). Dann schildert er, wie in der Familie durch ihn, gerade durch ihn, die Zwietracht ausbrechen wird! Wie reimt sich dieses Wort mit der Seligpreisung der Friedfertigkeit in demselben Munde? Dieses Wort ist vielen Christen ein Anstoß; es paßt für sie nicht zum Bilde des Friedensfürsten. Und doch ist es so natürlich und zeigt uns dasWesen und die Grenzen der christlichen Friedfertigkeit: Sie hört da auf, wo es gilt, dasWahre, das Edle, das Gute in der Welt durchzusetzen; da heißt es, ankämpfen gegen die Mächte der Gleichgültigkeit, da heißt es, die Menge aufrütteln aus dem Schlaf, da heißt es, Feindschaft, Mißachtung, Verkennung auf sich nehmen zu wagen im Kampf gegen die ruhenden und schleichenden Mächte der Finsternis. Das Wort Friedfertigkeit hier falsch anwenden zu wollen, heißt Verrat begehen. So war es gerade der Friedefürst, welcher, weil er der edle Heiland, der Held derWahrheit war, den Feuerbrand in dieWelt schleuderte und dennoch der Friedefürst blieb. Auf ihn dürfen sich alle diejenigen beru-

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fen, denen man vorwirft, daß sie unfriedfertig gehandelt haben, weil sie den Kampf für das Wahre und Edle einer falschen Friedfertigkeit vorgezogen haben. Als Luther die Reformation begann, da redete man ihm von allen Seiten zu, er solle doch um Christi Willen die Ruhe in der Kirche nicht stören. Und eine Zeitlang glaubte er, es sei seine Pflicht, zu schweigen, aber bald erkannte er, daß dasfalsche Friedfertigkeit sei, und begann den großen Kampf für dasreine Evangelium.

Diese fürchterlichen Entscheidungen zwischen falscher Friedfertigkeit und der Entfesselung des Kampfes der Geister sind keinem der großen Helden erspart geblieben, welche die Sache des Christentums gefördert haben. Für uns liegen sie in der Ferne: Unsere Kreise sind enger. Wie in bezug auf diejenigen, welche über Krieg und Frieden ganzer Völker zu entscheiden haben, können wir auch hier sagen: Wir danken Gott dafür, daß er uns keine so schwere Verantwortlichkeit aufgelegt hat. Aber eines gilt auch für uns: die Erkenntnis, daß es eine falsche christliche Friedfertigkeit ist, für die heiligsten Güter des Christentums, dasWahre, dasEdle, dasGute, vor dem Kampf zurückzuschrecken. Noch ein Wort zum Schluß. Wenn nun die Seligkeit, welche der Friedfertigkeit verheißen ist, weder in der Ausdehnung des Friedens über die ganze Welt bestehen kann, ja wenn es sich sogar zeigt, daß der Friedensfürst von sich selbst und uns verlangt, daß wir kämpfen für das Heilige, dasWahre, das Edle, das Gute, worauf beruht denn dann das Gefühl der Seligkeit in der Friedfertigkeit? Ihr seht schon, diese Seligkeit kann nicht etwas Äußerliches sein, sondern etwas Innerliches; diese Seligkeit kann auch dann in unsern Herzen wohnen, wenn rings um uns der Kampf tobt und wir selbst in dem Kampf begriffen sind. Jetzt verstehen wir die volle Herrlichkeit vonJesu Seligpreisung: «Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.» Er will damit sagen: Durch die Friedfertigkeit, durch die Vergebung und Verzeihung werden wir immer näher zu Gott geführt. Dies drückt er in der nämlichen Bergpredigt so schön aus, wenn er sagt: «Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel!» [Mt. 5,44 f.]. Wo wir so durch die wahre Friedfertigkeit Gott immer näher kommen, immer mehr die Seligkeit empfinden, seine Kinder zu sein, so führt uns die falsche Nachgiebigkeit weiter von Gott ab; wir kämpfen nicht für die Wahrheit, das Edle, das Gute, das er uns durch Jesus gelehrt; so sind wir auch nicht mehr seine Kinder. So liegt in dieser Seligpreisung wie inJesu Leben die wahre christliche Friedfertigkeit und die wahre christliche Unnachgiebigkeit miteinander vereint zu enger Verbindung zusammen. Sei immer so friedfertig oder unnachgiebig, daß du dadurch dich als Kind Gottes bewährst. So wirst du in der Nachahmung unseres Herrn den rechten Weg finden.

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Wo deine Person allein im Spiel ist, sei friedfertig bis zum äußersten, wo die Güter des Christentums in Frage kommen, da zeige auch nicht die geringste falsche Nachgiebigkeit – so möchte ich die Grundgedanken unserer Betrachtung für unser tägliches Leben zusammenfassen.

Nachmittagspredigt Himmelfahrt, 24. Mai 1900, St. Nicolai

Mt. 25,23: Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude!¦25¿

Ihr könntet euch wundern, warum ich einen solchen Text für die Nachmittagspredigt auf Himmelfahrt gewählt habe. Was haben denn die obigen Worte mit diesem Fest zu tun? Mit dem Himmelfahrtsfest ist es eine eigene Sache: Der Sieg des Herrn über denTod, die Freude über sein verklärtes Dasein, wo er nicht mehr in Leibesgestalt dieser irdischen Welt angehört, hat uns schon am Osterfeiertag beschäftigt, und nun kommt noch ein Fest, wo uns dieselben Gedanken noch einmal begegnen: Himmelfahrt. Aber zugleich ist dieses Fest ein Abschiedsfest. So wollen wir uns einmal in Gedanken in die Lage derjenigen versetzen, welche der Herr bei seinem Heimgang zumVater allein auf dieser Erde im irdischen Leben zurückgelassen hat. Waswird wohl ihre Seele bewegt haben? 1. Zuerst eine Frage: Was wird aus dem, der sie verlassen; welches ist die Seligkeit, zu der er eingeht und die auch unser einst harrt? 2. Eine Erinnerung: Das letzte Wort, das er zu ihnen gesprochen, der letzte Blick, der sie getroffen – sie bleiben ihnen haften, jetzt, wo sie vereinsamt und verwaist wieder ins tägliche Leben treten. Diese beiden Gedanken wollen auch wir nun an Himmelfahrt betrachten. Wie stellen wir uns die Seligkeit unseres Herrn bei seinem Vater vor? Jesus spricht es nirgends aus, worin die Seligkeit, in Gottes Nähe sein zu dürfen, besteht. Eines aber wissen wir: Er denkt es sich nicht als eine Ruhe, ein Dahinträumen, ein Schlafen. Wir reden auch nicht von ewigem Schlaf, sondern von ewigem Leben. «Mein Vater wirket allezeit von Anfang an»[Joh. 5,17], sagt er. Die Seligkeit besteht gerade darin, zu wirken, nicht mehr in Kampf undNot wie auf Erden, sondern in Seligkeit. Das drückt er so schön in dem Gleichnis von den anvertrauten Pfunden aus.Wassagt der Herr zu den Knechten, die es sich haben sauer werden lassen, mit den anvertrauten Pfunden neue zu erwerben? Etwa: So, weil ihr so treu wart, will ich euch jetzt zur Ruhe setzen, daß ihr’s in 25 [Dieser Vers stammt ausdem Gleichnis von den anvertrauten Pfunden Mt. 25,14– 30.]

Ei, dufrommer undgetreuer

Knecht

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den folgenden Zeiten gut habt und nicht zu arbeiten braucht? Nein, im Gegenteil, er stellt ihnen nur noch größere Arbeiten, und darin soll gerade ihre Belohnung und ihre Seligkeit bestehen. «Du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines

Herrn Freude!» Die Knechte sind die Muster treuer Pflichterfüllung im Gleichnis – Jesus im Leben. Klein war der Kreis, in dem er gewirkt: Galiläa und Judäa. Nun aber geht er ein zur Seligkeit des Herrn – und wird über viel gesetzt – über die ganze Welt. Er ruht nicht, sondern er fährt fort, zu wirken, bis einst die ganze Welt das Evangelium, welches er in den Städten und Dörfern um den See Genezareth verkündet hat, angenommen hat. So besteht Jesu Seligkeit in der Fortsetzung seines Werkes, in seinem geistigen Wirken zur Vollendung des Reiches Gottes. Und wie wirkt er? Durch uns. Dies hat niemand schöner ausgedrückt als derApostel Paulus. Er vergleicht die Christenheit, die sich ausdehnt, bis sie einmal die ganze Welt umfaßt, mit einem Leibe, wo die Christen die tätigen Glieder sind und er, der verklärte Heiland, der Geist undWille, der sie alle belebt und alle bewegt. So ergibt sich für die Christen, welche zu ihrem verklärten Herrn aufschauen, eine Aufgabe: zu arbeiten an der Ausbreitung seines Reiches, ein Glied zu sein, dasdurch seinen Geist belebt wird. In diesem Gedanken stimmt unsere Himmelfahrtsbetrachtung zu den Abschiedsworten, die Jesus an die Seinigen richtet, bevor er diese Welt verläßt. Durch sie wurden dieJünger hingewiesen, wie sie die Vereinsamung überwinden, den Abschiedsschmerz niederdrücken könnten: durch Arbeit am Reiche desHerrn. So sagt er zu ihnen am Schluß des Evangeliums Matthäus, (28,18 20): «Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen desVaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.» In dieser Arbeit will er bei ihnen sein: «Und siehe, ich bin bei euch alleTage bis an derWelt Ende.» Am Schluß des Evangeliums Lukas segnet der Verklärte die Jünger und verheißt ihnen den Pfingstgeist, in dem sie sein Reich predigen sollen. «Und sie kehrten wieder genJerusalem mit großer Freude» berichtet der Evangelist [Lk. 24,52]. Der Evangelist Johannes erzählt uns im 21. Kap. wie der Verklärte am See Petrus, welcher noch immer durch das Andenken an die Verleugnung niedergedrückt war, zu sich rief und ihm neuen Lebensmut gab, indem er sagte: «Weide meine Lämmer» [21,15] und ihn damit zum Seelenhirten bestellt. Paulus, als ihm vor Damaskus derVerklärte erschien und ihn bekehrt, sagt nachher selber in einem seiner Briefe, daß in diesem Augenblick

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der Entschluß in ihm feststand, für dasReich dieses Verklärten sein ganzes Leben in Arbeit dahinzugeben: Er wird zugleich Christ – und zugleich Missionar.

So sehen wir: Überall, wo die Gestalt desVerklärten vor menschlichem Geiste erscheint, gibt er ihm ein heiliges Vermächtnis, zu arbeiten an der Ausbreitung seines Reiches. So ist Himmelfahrt, der Abschied desVerklärten, zugleich das Fest, welches die Christenheit immer wieder an ihre Aufgabe, dieAusbreitung seines Reiches, erinnert. Welcher Art ist nun diese Ausbreitung, und worin besteht unsere Arbeit? fragen wir an Himmelfahrt. Wenn wir dasWort «Ausbreitung des Reiches desHerrn» hören, dann denken wir immer zunächst an die Heidenmission. Gewiß, da tritt uns, in den vielen Völkern, die dem Christentum noch ferner stehen, die Aufgabe am deutlichsten entgegen. Es will mir aber immer scheinen, als ob wir in derAusbreitung desReiches Gottes noch etwas von denjenigen lernen könnten, die durch den Verklärten selbst zurArbeit angewiesen worden waren; es wäre der Grundsatz, die Mission nicht nur auf die Heiden, sondern auch auf die eigenen Glaubensgenossen zu beziehen. Wie sie damals, Paulus voran, ihren Stammesgenossen, den Juden im römischen Reich, das Evangelium predigten, so sollten auch wir unter unsern Stammesgenossen Mission treiben: Ich meine, die Arbeit am Reich Gottes besteht auch in der Ausbreitung desProtestantismus. Wenn man dieses Wort ausspricht, dann schütteln viele Leute, die einem freundlich zunicken, solange man von Heidenmission redet, den Kopf; Ausbreitung des Protestantismus, das heißt für sie Kämpfe und Streitereien bis in die entlegensten Dörfer. Nein, so etwas wollen sie nicht unterstützen. Ein jeder soll bei seiner Konfession bleiben: Man kannja injeder ein guter und frommer Christ sein. Wer so denkt undredet, ist gedankenlos. Wenn unsere Väter so gedacht hätten, dann wäre die Reformation nie zustande gekommen. Und was wäre dann aus dem Christentum geworden? Eine Religion des äußeren Dienstes, wo kein inneres Leben, keine Gewissensfreiheit, keine Freudigkeit ist. Und durch die Reformation ist die katholische Kirche selbst etwas ganz anderes geworden, als sie vorher war. Sie wurde gezwungen, sich aufzuraffen. Und daskönnt ihr noch heute sehn: In den Gegenden, wo er mit dem Protestantismus zusammen ist, wie z. B. bei uns, zeigt der Katholizismus eine ganz andere Gestalt als in Gegenden, wo er allein herrscht wie z. B. Spanien, Südamerika. Dort erst sieht man, wie tief er eigentlich steht verglichen mit dem Protestantismus. DasWort, daß alle Konfessionen gleich wert sind, ist also Gerede, und derjenige, welcher von der Zukunft nicht erwartet, daß einst die Reformation sich über die ganze Welt erstrecken wird, ist kein rechter Protestant. Wie stellen wir uns nun die Ausbreitung des Protestantismus vor? Ich denke zunächst als einen Schutz der Protestanten in den Gegenden,

Ei, dufrommer undgetreuer Knecht

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wo sie unter lauter Katholiken zerstreut wohnen. Das ist gerade die erste Aufgabe, die uns durch die Folgen der Freizügigkeit in unsern Tagen gestellt ist. Wie viele Protestanten in solchen Gegenden haben vergessen, daß sie Protestanten sind, weil sie jahrelang keinen Prediger gesehen, weil sie sich nicht kirchlich konnten trauen lassen, weil ihre Kinder nicht protestantisch getauft und konfirmiert werden konnten. Da gilt es, Hand anzulegen. Prediger müssen angestellt werden, die solche Gegenden bereisen, die die zerstreuten Protestanten aufsuchen, sie unterweisen, sie sammeln, so daß diejenigen, die sonst ihre Religion vergessen würden, sich zu kleinen Gemeinden heranbilden und gerade im katholischen Land protestantischen Geist und protestantisches Wesen verkünden und den Protestantismus da bekannt machen, wo die Leute nur Märlein und Fabeln über ihn hören. Das ist die große Aufgabe, die sich unserer elsässischen Kirche in Lothringen und manchen andern katholischen Gegenden stellt. Aber neben dieser Aufgabe wird uns die Zukunft noch eine andere bringen. Durch die katholische Welt geht augenblicklich ein Zug der Müdigkeit. In manchem ist sie wieder auf den Standpunkt wie vor der Reformation gerückt, und in ganz katholischen Ländern wie Frankreich, Österreich, Spanien zeigt sich ein Streben nach einer lautereren, wahreren Religion als die, welche ihnen die Kirche bietet. Es wird die Zeit kommen, sie ist nicht mehr fern, wo der Protestantismus begreifen wird, daß es seine Aufgabe ist, hier das reine Evangelium zu verkünden und diese Suchenden mit der Religion der Freiheit und der Befreiung von menschlicher Satzung bekannt zu machen. Es bricht für den Protestantismus eine neue Zeit herein – eine Zeit der Ausbreitung und neuer Aufgaben. Welches sind nun die Aufgaben, die sich den Protestanten dadurch stellen? Mit einem Wort, diejenigen Unternehmungen zu unterstützen, welche auf die Sammlung, Verteidigung und Ausbreitung des Protestantismus bedacht sind. Hier aber herrscht bei uns, in unserer Stadt, eine große Verständnislosigkeit und Gleichgültigkeit. Warum: Es geht uns zu gut; unsere Väter haben für uns die Gewissensfreiheit erkämpft, wir besitzen sie, und denken nun gar nicht mehr an die andern, die noch dafür kämpfen müssen. Vor einigen Tagen wurde das Fest des Gustav-Adolf-Vereins hier in unserer Stadt gefeiert. Dieser Verein hat sich den Schutz und die Ausbreitung des Protestantismus zur Aufgabe gemacht und unter den zerstreuten Protestanten in Lothringen Herrliches geleistet. Aber nur wenige Leute interessierten sich für diese Feier, die meisten wußten überhaupt gar nicht, was dieser Gustav-Adolf-Verein ist. Heute wurde eine Kollekte für diesen Verein abgehalten: Ich fürchte, die wenigsten gaben sich Rechenschaft, wozu sie beisteuerten und haben danach ihre Gabe bemessen. In unserer Pfarrschule sammeln wir

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nachjeder Stunde für dasKonfirmandenheim in Lothringen, wo protestantische Kinder aus katholischen Gegenden untergebracht werden, damit sie zur Konfirmation vorbereitet werden. Und wenn ich sehe, wie die Kinder gedankenlos ihr Scherflein beisteuern oder auch nichts geben, dann muß ich immer denken, ob sie sich auch klar werden, daß es dazu dienen soll, andern Kindern daszu bieten, wasihnen hier so gewohnt und einfach erscheint – christlich evangelischen Konfirmandenunterricht. Mit dem, wasich soeben gesagt habe, ist auch schon ausgeführt, wie die Protestanten an der Ausbreitung des Protestantismus sich beteiligen sollen. Die Gabe, die sie beisteuern sollen, die kommt nicht, wie man gewöhnlich meint, in erster Linie, sondern vor allem an erster Stelle steht das Interesse, das wir als Protestanten demWerk entgegenbringen. Hier muß es vollständig anders werden. Macht, daß die Leute, die diesemWerk ihr Leben widmen, wenn sie hier von ihren Bestrebungen reden, nicht auf allgemeine Teilnahmslosigkeit stoßen, die ihnen jede Schaffenskraft benimmt. Macht, daß, wenn wieder in unserer Stadt die Feier desWerks begangen wird, die Bänke nicht leer stehen und Straßburg sich vor jeder kleinen lothringischen Stadt schämen muß. Und wenn hier ein anderer Geist aufkommt, dann ist uns auch nicht bang, ob die Gaben zu unserm Werk reichlich fließen, das kommt da von selbst.

Noch ein Wort zum Schluß: Anteil nehmen, Mittel spenden, das ist nur eine indirekte Teilnahme an der Ausbreitung des Protestantismus. Nicht jeder kann hier das gleiche leisten. Es gibt aber noch eine andere Form der Ausbreitung, wo jeder das gleiche und höchste leisten kann. Das ist, im täglichen Leben seiner protestantischen Religion Ehre machen, sich ihrer würdig erweisen, sie durch seinen Wandel preisen, zeigen, wie man in dieser Welt gerade als Protestant ein Gotteskind ist, daß es vom Protestantismus heißt, «an ihren Taten sollt ihr sie erkennen» [Mt. 7,16] – dasist die wirksamste Form der Ausbreitung des Protestantismus. So wird die Arbeit an unserer eigenen Seligkeit zugleich zur Arbeit an der Ausbreitung des Protestantismus und des Reiches des Herrn.

Selig sind,

die dageistig armsind

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Predigt Sonntag, 10.Juni 1900, St. Nicolai

Mt. 5,3: Selig sind, die dageistig arm sind; denn dasHimmelreich ist ihr Vor wenigen Sonntagen haben wir miteinander eine Seligpreisung betrachtet, die uns so schön und einfach zugleich vorkam: «Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen» [Mt. 5, 9]¦26¿ Diejenige, die wir heute betrachten, scheint viel schwerer zu verstehen, und doch steht sie an erster Stelle und bildet gleichsam die Einleitung zu allen übrigen. Was soll denn das heißen, geistig arm? Nehmen wir die Worte, wie sie hier stehen, so würde es heißen, diejenigen, die arm an Geist, schwach an Geist sind. Ihnen, den Beschränkten würde die Seligpreisung des Herrn gelten. Nun wissen wir zwar, daß schon mancher vielleicht durch Mißbrauch der glänzenden Geistesgaben, mit denen ihn Gott ausgestattet hat, den Weg zum Reich Gottes verfehlt hat; aber doch wissen wir, daß dasMaß der geistigen Begabung nicht entscheidet für den Eintritt in die Seligkeit; jeder soll mit den Kräften wirtschaften, die ihm Gott verliehen hat, als mit einem anvertrauten Pfunde; diese Gaben sind verschieden, wie auch die Knechte der eine viel, der andere wenig empfangen haben und doch vor dem Herrn einst Rechenschaft ablegen müssen, ob sie das Empfangene, ob viel oder wenig, in seinen Dienst gestellt haben [Mt. 25,14–30]. Schon unter den Zuhörern herrschte verschiedenes Verständnis dieses merkwürdigen Wortes des Herrn; der Kreis, der um den Herrn versammelt war, bestand aus armen Fischern und Landleuten. Und so könnte man auf den Gedanken kommen, daß die Seligpreisung des Herrn ihrer Armut gelte, daß die Armen für den Eintritt in das Himmelreich einen Vorzug genießen vor den Reichen. In dieser Form berichtet uns der Evangelist Lukas das Wort des Herrn [Lk. 6,20]. Sicher ist zwar auch hier, daß es manchmal den mit irdischen Gütern reich Gesegneten viel schwerer fällt, dem Herrn nachzufolgen als den Armen, wie Jesus dies auch betrübt in der Erzählung vom reichen Jüngling ausspricht [Lk.

18,25]. Aber deswegen ist es doch nicht begreiflich, weshalb die Predigt des Reiches Gottes mit einer Seligpreisung der irdischen Armut begonnen hat; denn die irdischen Güter wie die geistige Begabung hat er uns lernen auffassen als ein Pfund, das wir in den Dienst Gottes stellen sollen. So kann die Seligpreisung sich nicht auf die geringe Begabung mit Verstand oder mit irdischen Gütern beziehen. Und das ist wahr, ist man denn mit demVerstand Christ? Oder ist man mit den äußeren Gütern, 26 [Siehe S. 153.]

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ob man viel oder wenig hat, Kind Gottes? Nein: Das sind nur Äußerlichkeiten. Christ und Kind Gottes ist man mit dem Herzen; und so ist die Armut, von der Christus hier redet, eine solche, die man mit dem Herzen empfindet. Eine Armut im Herzen – darauf fuhrt uns auch die Gelegenheit, bei welcher der Herr dieses Wort gesprochen. Wann spricht er es? Am Anfang der Bergpredigt, wo er sich anschickt, das Reich Gottes auf Erden zu verkünden. Wo spricht er es? Auf dem Berg am See Genezareth. Es ist einWochentag, und doch sieht man, soweit der Blick über die Hügel schweift, niemand an der Arbeit auf dem Felde; es ist kein Sabbat, und doch schaukeln die Fischerkähne untätig auf der sonnigen Flut des Sees Genezareth. Warum machen denn die Leute den Werktag zum Sabbat, indem sie sich zu den Füßen dieses Mannes sammeln? Genügt ihnen denn dieVerlesung des Gesetzes und der Propheten in der Synagoge am Sabbat nicht mehr? Genügt ihnen das väterliche Gesetz und die streng geregelte Frömmigkeit nicht mehr? Sind sie nicht reich in dem Gedanken, dem auserwählten Volk Gottes anzugehören? Sie waren es, aber sie sind es nicht mehr. Seit sie ihn gesehen, seit sie ihn gehört, fühlen sie sich so unendlich arm: Es kommt ihnen alles so leer vor, in ihrem Herzen empfinden sie eine Sehnsucht nach einer höheren Gerechtigkeit als die, mit der sie sich bisher brüsteten, sie fühlen sich so arm an geistigen Gütern. Nun sind sie zu ihm hinausgezogen; indem er sich erhebt, seinen Blick über sie schweifen läßt, dageht ein Leuchten über sein Antlitz: Er sieht nicht nur die äußerliche Armut, sondern auch die Armut im Herzen, die sie her zu ihm geführt hat, und indem er seine Predigt beginnt, preist er sie selig ob dieser Armut: «Selig sind die geistig Armen», das will heißen: Selig seid ihr, daß euch die geistigen Güter, an denen ihr euch bisjetzt erlabt, nicht mehr genügen, selig seid ihr, daß ihr, die ihr euch reich wähntet an Gottseligkeit, nun plötzlich tiefe Armut verspürt. Geistig arm heißt also nicht arm an Geist, sondern arm an geistigen Gütern. Geistig Arme gab es nicht nur zu jener Zeit, sondern zu allen Zeiten. In der Geschichte der christlichen Kirche kam das Bewußtsein dieser geistigen Armut manchmal wie eine plötzliche Hungersnot über weite Kreise desVolkes. Mit einem Schlage wurde ihnen klar, daß alles, wasihnen die Kirche und die Religion bot, die Sehnsucht ihres Herzens nicht befriedigen konnte: so dieWaldenser, so die Hussiten so unser Luther, der unsso ergreifend schildert, wie ihm plötzlich die Gottseligkeit des Mönches, um die er sich mühte, so schal und nichtig vorkam. Aus einer solchen Hungersnot geistiger Armut ist auch die Reformation hervorgegangen, weil das Gemüt desVolkes von der Lehre und dem Glauben der katholischen Kirche nicht mehr befriedigt wurde, und sich sehnte nach etwas Besserem.

Selig sind,

die dageistig armsind

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Geistige Armut gibt es auch heute noch: Gott sei Dank, daß es sie noch gibt. Es ist etwas so Innerliches, daß man es gar nicht mit Worten beschreiben kann: Die tiefsten Empfindungen des Herzens sind eben

unbeschreiblich.

Ich will aus dem was ich selbst erfahren habe, dir nur einige Fragen stellen, damit du erkennst, wo du diese geistige Armut schon empfunden hast. Als du ein Kind warst, da nahmst du die christliche Lehre an, und im Augenblick der Konfirmation glaubtest du, ein Christ zu sein. Als du aber ins Leben hinaustratest, als du größer wurdest, da kam ein Augenblick wo diese Befriedigung mit dem, was du besaßest, dich verließ, wo dusahst, daß alles das, wasdubisjetzt als dein Christentum besaßest, doch nur angelernt sei, daß dujetzt als Erwachsener dasdir noch einmal aneignen müßtest, was du schon als Kind zu besitzen glaubtest, wenn du Sprüche und Gesangbuchverse dir hersagtest. Dieses Gefühl von Öde, diese Sehnsucht, die dich ergriff, daswar geistige Armut. Oder wenn du am Sterbelager eines Lieben standest, oder sonst ein großes Unglück dich traf, da kam dir die Frage: Gibt mir denn das, was ich bisjetzt als Christentum betrachtet, gibt mir mein Glaube die Kraft, mich wie ein Kind unter Gottes Fügung zu beugen? Und da mußtest du dir sagen: Nein, sondern der Glaube, der mir diese Kraft gibt, den muß ich mir erst erringen. – Auch daswar geistige Armut. – Oder du tatest etwas, worüber dich alle Leute lobten. Du hörtest von dir sagen: Das ist ein rechtschaffener Christ, oder man sagte, du übtest christliche Liebe, Barmherzigkeit oder Vergebung. Einen Augenblick stimmtest du selbst in deinem Herzen zu, du warst befriedigt mit dir selbst, du glaubtest, an geistigen Gütern reich zu sein – aber dann kam plötzlich eine große Leere über dich; du nahmst dich selbst vor, du prüftest deine Taten nach ihren innersten Triebfedern: Da kamen sie dir so alltäglich vor, du lebtest unter dem Lob der Deinen, unter der eigenen Befriedigung – und in der Sehnsucht, die in deinem Herzen aufstieg, sahst du dich, wie du wirklich warst: arm, arm an geistigen Gütern, geistig arm. Oder dein Leben verlief glücklich: In dem Glück schlummertest du langsam ein. Da kam langsam ein Erwachen: Die Zufriedenheit wich, du wußtest nicht warum, aber dann erkanntest du, daß in dem Glück dein Herz welk geworden war, und eine Sehnsucht nach etwas Höherem und Besserem ergriff dich – auch daswar geistige Armut. Und was hat euch denn in dieser Nachmittagsstunde in dieses stille Gotteshaus geführt? Ist es nicht auch wieder diese Sehnsucht, etwas zu hören, das euch erbaue und stärke für die ganze Woche, weil ihr fühlt, daß ihr eine Kraft braucht? O, sicher auch das ist geistige Armut, und wer mit diesen Gedanken ein Gotteshaus betritt, der gehört zu den geistig Armen, gerade so gut wiejene Leute, die um den See Genezareth zu den Füßen desHeilands sitzen.

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Und nun, statt euch anzugeben, wie ihr diese geistige Armut überwinden könnt, statt euch neue Wege zu weisen, wo nicht stachelige Dornen, sondern üppige Fruchtbäume an dem Wegrand stehen – soll ich euch einfach dasWort des Herrn wiederholen, euch selig preisen gerade wegen dieser geistigen Armut? Ich kann es tun, denn diesWort gilt nicht nur den Leuten am See Genezareth, sondern es gilt euch, uns allen; der Herr sagt nicht: «Selig seid ihr geistig Armen, die jetzt um mich versammelt sind», sondern seine Rede lautet: «Selig sind die geistig Armen.» Und warum sind sie selig, diejenigen, die sich so arm an geistigen Gütern fühlen? «Denn dasHimmelreich ist ihr.» Hast du schon darüber nachgedacht, was es bedeutet, daß der Herr nicht sagt: Denn sie werden einst ins Himmelreich kommen, sie nicht auf die herrliche Zukunft der Kinder Gottes verwiesen hat? Wenn er so gesagt hätte, dann wäre es, wie wenn wir zu einem verhungernden Armen kämen und sagten: Sei glücklich, denn du wirst einst eine große Erbschaft machen, und er uns antworten würde: Ja, aber bis dahin bin ich längst Hungers gestorben. So tut aber der Herr nicht, sondern er tritt zu dem Armen hin und sagt: Weil du dich arm fühlst, will ich dir jetzt sogleich, auf der Stelle, Arbeit geben, durch die du zuWohlstand und Besitz kommen wirst. Die Seligkeit der geistigen Armut, die wir empfinden, besteht darin, daß wir damit fühlen, wie wir dem Herrn und er uns näher kommen, daß der Aufblick zu ihm allein uns die Kraft gibt, unser Tagewerk zu tun und alles zu überwinden. Selig sind die geistig Armen will sagen: Selig seid ihr, daß ihr euch arm an geistigen Gütern fühlt, denn nur so konntet ihr mich, den Heiland, finden – und indem ihr mich findet, seid ihr schon selig und schon im Reich Gottes. So bedeutet diese Seligpreisung dasselbe wie der Ruf, in den der Herr ausbricht, als dieJünger von der Missionsreise zurückkehren: «Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken» [Mt. 11,28]. Worin besteht eure geistige Armut, ihr, die ihr vor mir sitzt in dieser stillen Nachmittagsstunde? Ist es irdisches Unglück, der Verlust eines Wesens, das euch nahe gestanden, ist es das Nachdenken über das, was ihr bisjetzt als euren Glauben angesehn, ist es das Erwachen aus einem ruhigen, gleichmütigen Dahinleben in der Zufriedenheit, das euch diese Armut an geistigen Gütern in eurem Herzen zu Bewußtsein gebracht hat? Ich weiß es nicht: Aber eines weiß ich, wie glücklich und selig ich bin, euch und mir in dieser Stunde dieses Wort des Herrn haben zurufen zu dürfen, daß injeder Stunde, wo uns dieTraurigkeit über unsere innere Armut niederbeugen würde, wir uns dieses herrliche Wort Jesu vor Augen halten dürfen und uns daran aufrichten.

Selig sind,

die da Leid tragen 169

Nachmittagspredigt Sonntag, 24. Juni 1900, St. Nicolai

Mt. 5,4: Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet

werden|27¡

Wir fahren heute fort in der Betrachtung der Seligpreisungen, mit denen der Herr die Bergpredigt eröffnet. Letzten Sonntag wurde uns die Bedeutung der merkwürdigen ersten Seligpreisung klar: «Selig sind, die da geistig arm sind; denn das Himmelreich ist ihr» [Mt. 5,3]. Geistig arm, so sahen wir, will nicht heißen, beschränkt an Geist, sondern die geistig Armen sind diejenigen, welche sich arm fühlen an geistigen Gütern, deren Herz von einer Sehnsucht nach Höherem und Edlerem ergriffen ist. Die Seligpreisung, die wir heute unserer Betrachtung zugrunde legen, handelt nicht mehr vom Geistigen, sondern vom Irdischen. Das ist gerade dasWunderbare anJesus, daß er sich nicht allein an unser geistigesWesen wendet, sondern auch so menschlich mit Menschen empfinden kann. Ist es dir nie aufgefallen, wenn du dasVaterunser sprichst, wie mitten in den Bitten um geistige Güter die Bitte um das tägliche Brot, um die tägliche Notdurft tritt? Er stellt sie nicht an das Ende, wie etwas Angehängtes, sondern er fühlt mit uns als Mensch und nimmt sich auch unserer irdischen Dinge an. Dieses Mitgefühl ergreift ihn auch am Anfang der Bergpredigt. Die Leute sind zu ihm hinausgekommen, um seine neue Lehre zu hören. Indem er seine Rede beginnt, sieht er Augen, die geweint haben, und spürt Herzen, die von den Sorgen destäglichen Lebens beengt sind – er wird von Mitleid ergriffen: Ehe er weiterredet, will er sie trösten, das Herz erst von den irdischen Sorgen befreien, eh er zu ihm von geistigen

Dingen spricht. Was heißt das nun: «Selig sind, die da Leid tragen?» Wenn wir sagen: selig, so denken wir an die Toten, die ihren irdischen Lauf beendet und nun im himmlischen Vaterhaus von allem Leid befreit sind. Aber das meint der Herr hier nicht. Man hat dem Christentum vorgeworfen, daß es die Leute über dasirdische Leid gleichsam hinwegtäuschen wolle, indem es sie immer auf die himmlische Seligkeit, die ihrer wartet, vertröstet. Das ist nicht der Fall; es warJesu Gedanke gar nicht; denn er sagt ja nicht: Selig werden einst diejenigen sein, die jetzt Leid tragen, sondern er sagt, selig sind siejetzt, jetzt, wo sie Leid tragen! Wie kann aber nun Jesus Menschen, die mitten im irdischen Leben, mitten in der irdischen Sorge drinstehen, seligpreisen? Wir haben schon in unsern beiden letzten Betrachtungen gesehen, welche Bedeutung das 27 [R] N° 3 dessermons sur les béatitudes!

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Wort «Selig sind» im Munde Jesu am Anfang der Bergpredigt hat: Es will heißen, daß die Seliggepriesenen zum Reich Gottes gehören, daser gerade verkündigt und das mit ihm auf Erden beginnt. Die Sanftmütigen, die Barmherzigen, die reinen Herzens sind, die Friedfertigen, sie sind selig, weil sie zum Reich Gottes gehören. So sind auch die Leidtragenden selig, weil sie zum Reich Gottes gehören und Kinder Gottes sind.

Dasjüdische Volk, vielleicht auch manche unter den Zuhörern Jesu, erwarteten, daß, wenn einst der Messias, der Heiland auf Erden erscheinen und das Reich Gottes anbrechen werde, alles irdische Leid verschwinden und alles Weh aufhören werde. Und nun ist der Heiland gekommen, er sitzt mitten unter ihnen und verkündet das Reich Gottes; aber das irdische Leid hebt er nicht auf, sondern indem er sagt: «Selig sind, die da Leid tragen», gibt er auch zu verstehen, daß mit dem Reich Gottes das Leid nicht aufhöre. Und so war es auch: Er, der Heiland selbst, hat am meisten gelitten, und nicht nur durch dasWort, sondern auch durch das Leben; dieJahrhunderte, die verflossen sind, zeigen uns, daß das Leid immer noch auf Erden herrscht, und daß gerade diejenigen, die sich zum Herrn und seinem Reich bekennen, noch mehr leiden müssen als die andern. Und doch sagtJesus: «Selig sind, die da Leid tragen.» Mit diesem Worte hat er das Leid nicht aus der Welt geschafft, aber unsere Gedanken über das Leid werden durch seine Seligpreisung andere – und darin besteht unsere Seligkeit. Seit die Menschen denken, ist immer wieder die Frage vor sie getreten: Warum müssen wir armen Menschen auf dieser Welt so viel leiden? Auswie vielen Büchern, und wenn sieJahrhunderte alt sind, schallt uns nicht die Frage entgegen: Wie kann Gott es zulassen, daß die Menschen, seine Geschöpfe, so von Unglück verfolgt werden? Und auf diese Fragen, die in aller bekümmerten Menschen Herzen widerhallen, fand sich keine Antwort. Den andern erging es nicht besser: Heiden, Juden. Auch sie empfanden das Leid. Und da fingen sie an, irre zu werden: Es gibt keinen Gott, sagten sie. Dann grübelten sie nach: Sie wollten die Notwendigkeit des Leidens einsehen; sie suchten, sich begreiflich zu machen, daß es notwendig sei wie das Licht, weil es leuchtet und Schatten wirft, so muß auch auf der Welt Licht und Schatten, Freude und Leid sein. Und als dasLeid über sie kam, dahielt dieWeisheit, die sie sich zurechtgemacht hatten, nicht stand. Da sahen sie in allem Leid eine Prüfung Gottes und zuletzt in allem Unglück eine Strafe Gottes. Und so litten sie doppelt, nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrem Gewissen. Das waren die Gedanken der Menschen, als Jesus in die Welt kam. In allem Leid suchten sie eine Strafe Gottes. Der Turm in Siloah fiel um und erschlug viele Menschen. Da fragten sie sich: Washaben denn diese Menschen verbrochen, daß gerade sie von dem Unglück ereilt werden

Selig sind,

die da Leid tragen

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mußten [Lk. 13,4 f.]? Ein Mann war blind von Geburt an; da fragten sieJesus: Wer hat sich versündigt, dieser oder seine Eltern, daß ihn dieses Unglück trifft [Joh. 9,2 f.]? Und Jesus kann ihnen antworten: Keiner; schon hat er die Menschen von dem tiefen Abgrund des Leidens und Unglücks, in den sie immer wieder hineinstarren, abgewandt, ihren Blick aufwärts gerichtet und ihnen dieTränen abgewischt durch das einfache Wort: «Selig sind, die daLeid tragen.» Jetzt verstehen wir recht, was er damit sagen will; es will heißen: Grübelt nicht nach, wenn euch in diesem Leben Leid widerfährt. Verzweifelt nicht. Glaubt nicht, daß Gott euch damit züchtigen und strafen will, daß er euch von sich verstoßen hat, sondern auch im Leid seid ihr in seinem Reich, auch im Leiden seid ihr seine Kinder, auch im Leiden hält euch seinVaterarm; eskommt ausGottes Hand. Fragt nicht warum, sucht nicht zuverstehen; versteht ein Kind seinen Vater in all seinem Tun? Kann es immer begreifen, waser mit ihm vorhat? Nein – aber es kann sich ihm vertrauensvoll in die Arme schmiegen und gerade unter Tränen die höchste Seligkeit empfinden, sein Kind sein zu dürfen: Ja, «selig sind, die daLeid tragen.» DiesesWort warauch derLeitstern seines Lebens. In dieser Bedeutung ist der Spruch in Jesu Munde kein hohles Wort, sondern sein ganzes Leben legt Zeugnis davon ab. Er hat viel gelitten und wurde nie irre an seinem Vater. Und als ihm in der höchsten Todesnot derWille seines Vaters dunkel blieb, dabeugte er sich, wie er uns beten gelehrt hat: «Dein Wille geschehe» [Mt. 6,10], und dort in Gethsemane beendete er seinen Seelenkampf: «Nicht wie ich will, sondern wie duwillst» [Mt. 26,39]. Ich kann dieses Wort nicht lesen oder hören, ohne an ein Ereignis zu denken, das mich vor einigen Jahren in meinem Innersten erfahren ließ, welchen Trost in allem Leid wir in denWorten und in dem Leben unseres Heilands besitzen. Im Juli wird es 4 Jahre, daß ich in einer Gemeinde des Unterelsaßes predigen sollte. Ich weiß nicht mehr, welchen Text ich behandeln wollte. Am Donnerstag vor jenem Sonntag ging über jene ganze Gegend – auch über die Gemeinde, in der ich predigen sollte – das schwerste Hagelwetter, das seit Menschengedenken unser Elsaß betroffen hat, nieder. Als ich nun mit dem Zug am Samstagabend durch die Gegend kam, als ich sah, wie alle ihre Reben verwüstet waren und alles dahin war, da fühlte ich, daß ich die Predigt, die ich vorbereitet, nicht halten könnte, daß die Leute in die Kirche kämen, daß sie in Gottes Wort Trost über ihr Unglück fänden. Und da fragte ich mich: Was soll ich zu ihnen sagen? Daß Gott dieses Unglück gesandt, um sie zu prüfen oder um sie zubestrafen? Ich glaube, wenn ich diesen Gedanken damals ausgedrückt hätte, wäre er mir vorgekommen wie eine Gotteslästerung. Und während ich so nachdachte, da stand vor meinem Geiste das Bild des Herrn in Gethsemane, und ich predigte über dasWort «Herr, nicht wie ich will, son-

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dern wie du willst» [Mt. 26,39]; ich zeigte ihnen, wie wir Menschen Gottes Wege nicht verstehen, aber doch durch Jesus wissen, daß wir in allem Leid einen Vater im Himmel haben – und ich fühlte, wie die Herzen ruhiger wurden. Damals fühlte ich, das ist das Neue im Christentum, darin liegt der tiefste Trost. Und weil er weiß, daß wir dieses Trostes so sehr bedürfen, spricht er ihn in der zweiten Seligpreisung. Ich weiß, ihr seid es mit mir alle gewiß, daß in der Zuversicht, daß trotz alles Leidens wir nicht an Gottes Liebe und Treue zweifeln brauchen und daß wir trotzdem Erben seines Reichs und seine Kinder bleiben, der Trost liegt, der uns immer wieder über das Unglück erheben wird. Darum sagt auch der Herr so schön: «Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.» Jesus sagt nicht, welches Leid und welchen Trost. Und doch glaube ich, in seinem so menschlichen Empfinden hätte er für jedes Leid noch einen besonderen Trost gehabt. Saß vor ihm eine Frau, die ihren Liebling beweinte, blickte ihn ein armes Menschenkind an, das sich verwaist und einsam fühlte? Saß zu seinen Füßen eine gebückte Gestalt, von dem Verlust der ganzen Habe niedergebeugt? Oder befand sich unter den Lauschenden ein Wesen, das gebrochenen und betrübten Herzens auf ein verfehltes Leben zurückblickte: Für sie alle hätte er ein besonderes Wort des Trostes gehabt. Die Mutter hätte er auf Gott verwiesen, der die Macht hat, der ihr wieder schenken kann, was sie verloren; das verwaiste Herz hätte er wieder mit andern fühlen lernen, den Verarmten hätte er wieder zur Arbeit aufgerichtet und dem, der ein verfehltes Leben beklagte, hätte er Mut gegeben, ein neues zu beginnen, indem er ihm das Gleichnis vom verlorenen Sohn [Lk. 15,11–32] erzählte.

Und wenn wir zu ihm hingingen, dann würde er uns auch so trösten können. Er würde zu uns sagen: Schaut zurück in euer Leben! Was habt ihr da nicht alles als Leid betrachtet; undjetzt, wenn ihr darauf zurückblickt, seht ihr nicht denWeg Gottes? Seht ihr nicht, daß es vorübergehend war und oft das Glück daraus geboren wurde, wie die Sonne aus dem Frühnebel auftaucht? Und dann würde er uns ganz tief ins Auge schauen. Ich glaube, er hätte noch einen höheren Trost. Schau zurück in die Stunden deines Lebens, die ruhig und glücklich dahinflossen, würde er sagen. Wenn dein ganzes Leben nur eine Kette solcher Stunden gewesen wäre, weißt du, was du geworden wärst? Eigennützig, hartherzig, einsam, ohne Sinn für dasHohe, für das Edle, für dasReine, für Gott – und nie hättest du Seligkeit empfunden. Wo hast du zuerst empfunden, daß wir Menschen uns nicht selbst leben? Im Leid! Wo überkam dich die Seligkeit desMitleids? Im Leid. Wo näherte sich dein Herz denen, welchen du so fern und kalt gegenüberstandst? Im Leid! Wo ging dir eine Ahnung auf von der höheren Bestimmung unseres Lebens? Im Leid. Wo fühltest du Gottes Nähe? Im

Das Alte ist vergangen173

Leid. Wo lerntest du die Seligkeit kennen, einen Vater im Himmel zu haben? Im Leid. Und wenn er so zu uns spräche, dann würden wir zu ihm sagen: Jetzt verstehen wir, was es heißt: «Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.» Jetzt wollen wir still unsere Lebensstraße weiterziehen: Freude und Leid, Leid und Freude – so liegt sie vor uns. Aber das Leid schreckt uns nicht mehr, denn in diesen Stunden tönt in uns die Stimme des himmlischen Vaters, der uns zu sich und unserer höheren Bestimmung ruft. Und wenn einst der Tod, das letzte Leid, an uns herantritt, dann lächeln wir ihm entgegen, und in unserm Herzen klingt es: «Komm, o Tod, des Schlafes Bruder, komm und führe mich nun fort. Löse meines Schiffleins Ruder, bringe mich an sichern Port. Es mag, wer dawill, dich scheuen, du kannst mich viel mehr erfreuen, denn durch dich geh ich nun ein in meines Vaters ewiges Heim.»|28¡

Morgenpredigt Sonntag, 29. Juli 1900, St. Nicolai Predigt zum zweiten Examen|29¡

II Kor. 5,17–21: [Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!]|30¡

Die eben verlesenen Textworte sind euch bekannt, Ich glaube sogar, sie rufen in euch bestimmte Erinnerungen wach. «Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.» – Dieses Wort spricht den Grund28 [Schlußchor ausBachkantate BWV 56, letzte Zeile verändert.] 29 [Werke Bd. I, S. 45: «Diese zweite, hauptsächlich durch ältere Pfarrer abgehaltene Prüfung bestand ich – am 15.Juli 1900 – mit knapper Not. Ganz mit der Dissertation für das Lizentiatenexamen beschäftigt, hatte ich es unterlassen, meine Kenntnisse in den verschiedenen Fächern derTheologie aufdieses Examen hin gebührend aufzufrischen.] 30 [Darum ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden! Aber das alles von Gott, der uns mit ihm selber versöhnt hat durch Jesum Christum und das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. Denn Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet dasWort von derVersöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott vermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.]

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gedanken der christlichen Weihnachtsfreude aus. «Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.» – In diesem Vers liegt das große Geheimnis des Karfreitags beschlossen. Die Glocken aber, die uns heute zusammengerufen haben, sie erklangen nicht in die dämmrig schlummernde Wintererde hinaus, auch waren es keine Karfreitagsglokken, welche den Trauerklang in den Jubel der neuerwachenden Natur hineintragen; sondern das Feiergeläut der Straßburger Kirchen wird von einer Sommerluft hinausgeweht über sonnige Fluren, wo die reiche Ernte der Sichel des Schnitters harrt. Und doch, sollte eine Betrachtung eines Textes, der den Gedanken des größten christlichen Festes ausspricht nicht auch an einem Sonntag, der in der langen Reihe der festlosen Sonntage dahinfließt, eine bestimmte Berechtigung und Bedeutung haben? Fühlt nicht der Wanderer, wenn er von der Höhe der Berge herunter gestiegen ist, [das Bedürfnis], noch einmal sich umzukehren und die Höhen, wie sie sich aus der abendlichen Dämmerung erheben, noch einmal aus der Ferne zu begrüßen? Und nehmen dann diese Berge aus der Ferne nicht ganz andere Formen und Linien an? So ist es auch mit unserem Festtext. Zunächst möchte ich die beiden Feste nebeneinander rücken und fragen: Welches ist denn der Grundgedanke, in dem sie sich beide begegnen? Hier gibt uns unser Text das richtige Wort auf die Lippen: Versöhnung. Ob wir uns nun freuen, daß der Heiland in die Welt gekommen ist, oder ob wir andächtig das große Geheimnis von dem, was auf Golgatha geschehen, im Herzen bewegen, immer tritt uns das eine Wort

entgegen: Versöhnung. Nun wollen wir uns einmal in dieses Wort vertiefen und seinen ganzen Reichtum in uns erleben. Ihr wißt, wasman so allgemein unter Versöhnung versteht. Die Menschen waren durch die Sünde von Gott getrennt. Um sich mit ihnen versöhnen zu können, gab er seinen Sohn dahin, sandte ihn in dieWelt und ließ ihn leiden, daß Sühne geschehe. Gewiß ist, daß wir Gottes unergründlichen Ratschluß nicht ins Innerste verstehen können und nie die Bedeutung des Lebens und der Dahingabe unseres Herrn klar in menschliche Worte fassen können. Aber ebenso gewiß ist, daß wir alle über dieVorstellung von derVersöhnung, wie wir sie soeben geschildert, hinausgehen. Sie machen uns den Eindruck von etwas Äußerlichem, dasgerade weil esunsselbst nicht befriedigt, uns einlädt, tiefer zu graben. Ich möchte euch hier nun drei Gedanken, die euch, wenn ihr diese Frage in euch bewegt, schon oft gekommen sind und gerade beim Verlesen desobigen Textes vor euch treten, kurz zusammenfassen. Was stört dich denn zunächst am meisten an dieser äußerlichen Vorstellung vonVersöhnung? Nicht wahr, es ist doch zumeist dies, daß wir uns dabei Gott denken müssen wie jemand, der zürnt und dessen Zorn

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durch irgend etwas beschwichtigt werden muß, ehe er vergeben und sich versöhnen kann. Das fällt uns schwer. So hat zum Beispiel der berühmte Prediger Schleiermacher in einer Predigt über die Anfangsworte unseres Textes gerade darzulegen versucht, daß, wenn wir von Versöhnung reden, wir uns Gott nicht eigentlich als zürnend und seine Versöhnung an den Tod Christi knüpfend denken dürfen. Ich glaube, wir werden ihm hier alle Recht geben. Der Zorn Gottes ist nicht so zu denken, als ob er über dasBöse aufgebracht, wie beleidigt, versöhnt werden müsse, sondern ich stelle mir den Zorn Gottes mehr vor wie die Betrübnis und den Unwillen eines edlen Herzens, das nur daran denkt, wie es die Menschen von dem Bösen zurückbringen kann. Ich glaube, gerade uns Christen fällt es noch schwerer als dem Apostel Paulus, uns den Zorn Gottes vorzustellen. Er war aufgewachsen alsJude. Er stand unter einem Gesetz, welches drohte und strafte und wo Gott den Menschen das Böse und das Gute nachrechnete. Und nun fühlt der Mensch, er kann dieses Gesetz nicht erfüllen. Es überkommt ihn Angst undVerzweiflung, bis die Kunde zu ihm kommt, Gott verzeiht den Menschen, er handelt nicht mit ihnen nach dem Gesetz, sondern nach derVersöhnung. Wie ist es aber mit uns? Wir haben diese Schrecken nicht erlebt wie der Apostel Paulus, sondern vonJugend auf wissen wir: Gott handelt als Versöhnter mit den Menschen. Ehe wir noch recht begriffen, was es heißt, hörten wir als Kinder in der Weihnachtspredigt: Gott hat den Menschen alles geschenkt, und ehe wir noch die Tiefe der Sünde erkannten, vernahmen wir: Gott hat den Menschen durch Christi Leiden die Sünden vergeben. Darum ist es für uns nicht ganz richtig, wenn wir die ganze Herrlichkeit unseres Christenstandes begreifen wollen, uns immer zurückzudenken in die Lage, wo die Menschen noch nichts von Versöhnung wußten, wir müssen uns nicht mit solchen vergleichen, denen nach langen Entbehrungen ein großer Reichtum zugefallen ist, sondern mit Kindern, die, in ererbtem Reichtum aufgewachsen, vor allem lernen sollen, ihn richtig zu schätzen, zu vermehren und zu verwenden. Ihr seht, worauf es in unserer Betrachtung heraus will: daß wir nämlich von der Versöhnung nicht sprechen als solche, die einst nicht unter der Versöhnung standen, sondern daß wir die ganze Tiefe derselben als solche erfassen wollen, die immer unter der Versöhnung standen. Dann fällt auch ein anderes Licht auf die Sünde. Es ist dir doch schon öfters vorgekommen als wäre für uns die Sünde etwas Tieferes als die Übertretung dieses oder jenes Gebotes eines von Gott gegebenen Gesetzes. Auch hier dürfen wir uns nicht vorstellen, als wären wir als Heiden oderJuden Christen geworden, sondern wir müssen uns fragen: Worin besteht denn für uns die Sünde als solche, die von Kindern auf die Weihnachts- und Karfreitagskunde der Güte und der

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Versöhnung Gottes kennen? DasWesen der Sünde muß gerade für solche ein noch viel tieferes sein. Man meinte, es sei Ungehorsam. Andere sagten, es sei die menschliche Unvollkommenheit. Das richtige Wort darüber hat unser Reformator Martin Luther gesprochen, wenn er sagt, die Sünde will nicht an dem Maßstab eines Gesetzes gemessen werden, sondern sie ist in ihrem innersten Wesen Mangel anVertrauen, an Hingabe und an Liebe zu Gott. Dies ist die Sünde, wie sie uns Christen zum Bewußtsein kommt. Ich glaube, uns allen ist in einer Stunde unseres Lebens, wo uns unser sündiges Wesen vor Augen stand, gerade dies aufgegangen, was Luther sagt, daß dasWesen der Sünde in derAbkehr von Gott, Mangel an Vertrauen, an Hingabe und an Liebe zu ihm bestehe. In jenem Augenblick fragten wir uns nicht zuerst: Wird Gott uns vergeben, sondern: Wie kommen wir aus dieser Gottentfremdung wieder zu Gott hin, wie finden wir uns ausder Fremde wieder zur Heimat zurück?|31¡ Nachdem wir dies alles so betrachtet haben, da will es uns scheinen, als ob das Wort Versöhnung eine andere Bedeutung bekommt, als ob dort durch denTod auf Golgatha nicht nur Gott mit den Menschen versöhnt werden mußte, sondern vielleicht mehr die Menschen mit Gott. Man übersieht dies oft – und doch ist es eigentlich das Nächstliegende. Denn stand Gott den Menschen ferne, daß er mit ihnen versöhnt werden müßte? Nein, sondern er hat ihnen durch Christus gleichsam zuerst die Hand gereicht, aber sie standen ihm ferne und stehen ihm ferne. Sie müssen mit Gott versöhnt werden, sie müssen zu ihm hingebracht werden. Die Sünde der Christen besteht darin, daß sie zu Gott nicht das rechte Vertrauen, die rechte Liebe, daß sie nicht die rechte Hingabe haben. Die Versöhnung besteht darin, daß sie neues Zutrauen, neue Liebe und Hingabe zu Gott fassen, daß ihr Leben nicht sei wie ein verdrossenes Arbeiten in der Fremde, sondern ein freudiges Wirken daheim im Vaterhaus. Die Menschen werden versöhnt mit Gott, die Menschen sollen sich versöhnen lassen mit Gott: Dies ist auch der Grundgedanke unseres Textes; in jedem Vers bricht er durch: Gott hat uns mit ihm selber versöhnt durch Christus. Gott versöhnte in Christus die Welt mit ihm selber. – Wir bitten nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit

Gott. Die Menschen sollen mit Gott versöhnt werden: Dann liegt aber die Bedeutung des Werkes unseres Heilands nicht nur darin, daß er gleichsam wie ein Sühneopfer für die Sünden der Menschen gestorben ist, sondern daß er sie mit Gott versöhnt, ihnen neue Liebe, neues Vertrauen, neue Hingebung zumVater gibt, sie zu ihm hinführt. Dies hat er 31 [R] Laßt mich noch einmal den tiefsten Sinn desWortes Versöhnung in einem Wort zusammenfassen: die Freudigkeit desHerzens.

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aber nicht nur durch seinen Tod getan, sondern sein Tod ist gleichsam nur sein letztes Wort, sein Vermächtnis, das Ende seines Lebenswerkes.|32¡

Gott hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung, sagt derApostel in unserm Text. Er hat es aufgerichtet in dem Kreuz, dassich auf Golgatha erhebt. Gewiß, aber wenn wir nicht das Leben unseres Heilandes betrachteten, um seinen Tod zu verstehen, dann stände über diesem ragenden Kreuz dasWort Versöhnung in einer geheimnisvollen Schrift, welche die Menschen nicht zu entziffern vermöchten und das ihnen mit dem ganzen Reichtum, den es birgt, ein Rätsel bliebe. So aber wird sein Tod durch sein Leben und sein Leben durch den Tod erklärt, denn dieser Tod war nur der Abschluß eines Lebens, dessen Wesen darin bestand, daß es Gottvertrauen, Liebe zu Gott und Hingebung an ihn war. So hat er uns durch Tod und Leben zu Gott geführt, mit ihm versöhnt, Gottvertrauen, Liebe und Hingebung uns eingehaucht. Ich kann dieses Versöhnungswirken unseres Herrn nicht besser zusammenfassen als in einem Wort des Paulus: «Christus ist darum gestorben, auf daß alle, die da leben, hinfort nicht ihnen selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist» [II Kor. 5,15]. Christus hat uns versöhnt mit Gott: nicht nur das allein, sondern er hat uns auch das Amt gegeben, welches die Versöhnung predigt, Ich glaube, beides fällt miteinander zusammen. Paulus rühmt sich dieses Amts gegenüber den Korinthern: «So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott vermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott!» Paulus sagt nicht, von wem und seit wann er dieses Amt hat. Er hat es von dem Augenblick an, wo er, von Christus ergriffen, in Liebe, Vertrauen und Hingebung zu Gott hingezogen fühlt. Wassein Herz ergriffen, daszwingt ihnjetzt, die Versöhnung zu predigen. Er hat kein Amt empfangen wie die zwölf Apostel, denn er sagt ja vorher, dass er Christus nicht im Fleisch, das heißt nicht leiblich auf Erden, gekannt hat [II Kor. 5,16]. So ist sein Amt, die Versöhnung zu predigen, nicht etwas, das auf einem Auftrag beruht, sondern etwas, das aus seinem Herzen entspringt, weil es sich mit seinem Gott versöhnt weiß.|33¡ 32 [R] Man wirft oft die Frage auf, ob Jesus in seinem Leben sündlos gewesen sei, so daß man nachweisen kann, daß er niemals, und auch nicht als Kind, Sünde begangen. Ich glaube, ihr stimmt mir bei, wenn ich sage, dass diese Frage so äußerlich gestellt gar keine Bedeutung hat. Sündlos war Jesus, weil er durch sein Gottvertrauen, durch die Dahingabe, durch seine Liebe in so inniger Gemeinschaft mit Gott stand. 33 [R] Wir haben miteinander kurz betrachtet, was die Versöhnung ist, und gesehen, daß die Vergebung von Seiten Gottes nur ein Teil derselben ist, gleichsam die Einladung zum andern, daß wir uns mit Gott versöhnen, nämlich [daß wir] Liebe, Vertrauen und Hingebung für ihn fassen.

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Dasist aber auch für unsbedeutungsvoll. Ich glaube, wenn man unter uns von dem Amt der Versöhnung redet, dann denkt man zunächst an das Amt des Pfarrers, der jeden Sonntag Gottes Wort predigt und der am Karfreitag zu seiner Gemeinde von dem großen Geheimnis der Erlösung durch Christus reden darf. Aber ich glaube, daß nicht er allein dasAmt hat, dasdieVersöhnung predigt. Die Versöhnung predigen, soll jeder, der in seinem Herzen die Versöhnung fühlt und sich erlöst weiß. Und dazu bedarf es nicht vieler Worte. Jesus hat die Versöhnung unter uns aufgerichtet, Paulus hat sie gepredigt, aber was uns an ihnen ergreift, das sind nicht ihre Worte, sondern ihr Leben, ihr Tun. Und so ist auch der Christen Leben, ohne daß sie viel reden, eine beredte Predigt der Versöhnung. Ich denke, es geht dir wie mir: Du hast diese Predigt ohne Worte, die so ergreifend redet von Liebe, Vertrauen und Hingabe zu Gott auch schon im täglichen Leben vernommen, und sie hat dich mehr ergriffen als dasWort des gewaltigsten Predigers. Bist du noch nie über eine Schwelle getreten, wo durch das stille und fromme Wirken einer Hausfrau ein Heim Friede und Liebe atmet? Hat es dich nie ergriffen, wenn du in einem Gespräch mit einem Arbeiter auf ein Gottvertrauen und Freudigkeit in der Arbeit stießest, wo du vielleicht dem Mann nicht einmal hättest sagen können, warum er in seiner schlichten Weise einen solchen Eindruck auf dich gemacht hat. Ein Freund von mir in einer Großstadt ging vor einigen Jahren am Karfreitag in die Kirche. Er klagte mir oft, wie schwer es ihm fiele in der Großstadt, wo der Straßenlärm das Geläute der Glocken übertönt, in die rechte Feststimmung zu kommen. Nun predigte ein berühmter Prediger, aber seine Worte vermochten ihn nicht zu erwärmen. So ging er nüchtern und verstimmt nach Hause. Am Nachmittag kam es ihm ein, daß er für eine Diakonatsgesellschaft einen Krankenbesuch bei einem lahmen Mann zu machen habe. So stieg er die dunkeln Treppen hinauf, und dort in dem einsamen Zimmer, so erzählte er mir später, vor dem lahmen Mann im Sessel, der nicht klagte, sondern schlicht und einfach redete, mehr mit den Augen als mit dem Mund, dort erst wußte ich, daß es Karfreitag sei. Und dort habe ich Karfreitag ge-

feiert. Noch ein Wort zum Schluß: Wir haben miteinander in Anknüpfung eines Textes, der von der Versöhnung handelt, einige Gedanken, die jedem Christen über die Bedeutung und das innerste Wesen dieser Versöhnung [in den Sinn kommen], miteinander betrachtet. Eines

Damit ist aber eine neue Auffassung des Amts gegeben, das die Versöhnung predigt. Dieses Wort hat einen milden Klang, und es ist wirklich das Herrlichste. Was heißt denn das: das Amt, das dieVersöhnung predigt? Zunächst wohl das Apostelamt, dessen Paulus sich rühmt und kraft dessen er hinauszieht in die fernen Lande, um den Menschen dieVersöhnung zuverkündigen.

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wünschte ich aber vor allem und eines möge Gott uns schenken, daß wir immer mehr auch im täglichen Leben die Freudigkeit, die Liebe und das Gottvertrauen, die aus derVersöhnung fließen, an denTag legten und so in all unserm Tun die frohe Kunde von derVersöhnung predigten, daß es in unserm Leben und in der ganzen Christenheit immer mehr hervorbreche: «Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!».

Nachmittagspredigt Sonntag, 12. August 1900, Günsbach34

Mt. 22,1– 14: Die königliche Hochzeit35 Ich möchte mit euch in dieser Nachmittagsstunde ein Gleichnis betrachten, das ihr schon alle kennt, schon wohl darüber predigen gehört habt, das aber so einfach und schön ist, daß man sich immer wieder darin versenken möchte. Das Gleichnis von der königlichen Hochzeit. Die Deutung dieses Gleichnisses ist klar. In dem König hat uns der Herr Jesus das Bild unseres himmlischen Vaters gezeichnet. Aus diesem Bild spricht uns Güte, Langmut und Ernst entgegen. Güte: Ein König läßt sich herab, die Leute einer Stadt zur Hochzeit seines Sohnes einzuladen; und als diese nicht kommen, nichts verloren gehn, andere. Die Langmut: Er hat sie benachrichtigt; sie haben angenommen. Nun ist der Tag da: Da wollen sie einfach nicht kommen. Ein zweites

34 [R] Maladie depapa. 35 [Und Jesus antwortete und redete abermals durch Gleichnisse zu ihnen und sprach: Das Himmelreich ist gleich einem Könige, der seinem Sohn Hochzeit machte. Und sandte seine Knechte aus, daß sie die Gäste zur Hochzeit riefen; und sie wollten nicht kommen. Abermals sandte er andere Knechte ausund sprach: Saget den Gästen: Siehe, meine Mahlzeit habe ich bereitet, meine Ochsen und mein Mastvieh ist geschlachtet und alles bereit; kommt zur Hochzeit! Aber sie verachteten dasund gingen hin, einer auf seinen Acker, der andre zu seiner Hantierung; etliche aber griffen seine Knechte, höhnten und töteten sie. Da das der König hörte, ward er zornig und schickte seine Heere ausundbrachte diese Mörder um undzündete ihre Stadt an. Da sprach er zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die Gäste waren’s nicht wert. Darum gehet hin auf die Straßen und ladet zur Hochzeit, wen ihr findet. Und die Knechte gingen aus auf die Straßen und brachten zusammen, wen sie fanden, Böse und Gute; und dieTische wurden alle voll. Da ging der König hinein, die Gäste zu besehen, und sah allda einen Menschen, der hatte kein hochzeitlich Kleid an; und sprach zu ihm: Freund, wie bist du hereinkommen und hast doch kein hochzeitlich Kleid an? Er aber verstummte. Da sprach der König zu seinen Dienern: Bindet ihm Hände und Füße undwerfet ihn in die Finsternis hinaus! dawird sein Heulen undZähneklappen. Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.]

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Mal schickt er aus: Da verhöhnen sie ihn und schlagen seine Knechte tot. Und nun der Ernst: Er schickt seine Heere aus und zerstört ihre Stadt.

Um dieses Gleichnis richtig zu verstehen, muß man bedenken, daß esJesus gesprochen hat in den letzten Tagen seines Wirkens zuJerusalem, wo alle seine Gleichnisse einen so ernsten Zug bekommen. Die Leute der widerspenstigen Stadt, sie sind seinVolk: Er blickt zurück auf die Vergangenheit seines Volkes, wie Gott es vor allen erkoren, wie er gütig mit ihnen gewesen, wie er immer wieder, wenn sie ihn vergaßen, Propheten zu ihnen gesandt; und sie mißachteten sie.

Und nun blickt er voraus. Ihn auch, derjetzt zu ihnen tritt, um ihnen zu sagen: «Kommt, es ist alles bereit», ihn werden sie töten und so die letzte Einladung von sich stoßen. Und sein Blick schweift weiter: Er sieht über Jerusalem den Himmel gerötet vom Brand, er hört das Geschrei der stürmenden Soldaten, vor ihm fällt der gewaltige Tempel in Schutt und Trümmer: das Gericht Gottes, das wenige Jahrzehnte nachher über die Stadt hereinbrach. So einfach dieser erste Teil des Gleichnisses scheint, so schwer will uns der zweite vorkommen. Zwar eines ist klar: Waren dieJuden diejenigen, welche des Herrn Einladung verschmäht haben, so bedeuten die Leute auf den Kreuzwegen und an den Zäunen, an die nun des Herrn Einladung ergeht, die Heiden. Sie waren durch nichts vorbereitet. Und gerade sie kommen willig auf Gottes Einladung und werden Christen. Nun kommt aber ein Punkt, an dem man nicht vorübergehen kann, ohne Anstoß zu nehmen: Der König tritt in den Saal und läßt einen der Hergerufenen in den Kerker werfen, weil er kein Feierkleid anhat. Wir finden das ungerecht. Woher soll denn der Mann ein Feierkleid haben? Die Leute, die auf den Straßen nächtigen, besitzen keine Feierkleider. Wie kann dann aber der König eins von ihm verlangen? Worin besteht denn die Schuld dieses Menschen? Man hat gemeint, es so erklären zu müssen, daß man sagt: Am Eingang bekamen alle Ankömmlinge Feierkleider, und nun hat dieser eine gesagt: Bah, was brauch ich ein Feierkleid, ich bin so gerade gut genug, und habe sich mit seinen zerrissenen Kleidern in den Saal gedrängt. Aber ich glaube, dann hätten ihn die Knechte an der Tür zurückgewiesen, und wenn er sich hineingeschlichen hätte, wären die andern von ihm gerückt. Aber nein, die Knechte und die Hochzeitsgäste haben nichts an ihm bemerkt: Das macht, sie sind alle in ihren zerrissenen Kleidern gekommen, und er unterscheidet sich äußerlich nicht von ihnen. Aber nur äußerlich: Da kommt der König herein und durchwandelt die Reihen und bleibt gerade vor ihm stehen und fragt ihn: «Warum hast du kein

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hochzeitlich Kleid an?» Und er verstummt! Warum verteidigt er sich nicht? Warum sagt er nicht: Ich besitze keins? Warum weist er nicht auf die andern hin, die auch in Bettlerkleidung dasitzen? Weil ihn sein Gewissen anklagt. Denn dann würde ihm der Herr sagen: Ich lese in deinem Herzen. Als die andern herkamen, dahaben sie sich Mühe gegeben, ihre Kleider, so gut es ging, zu reinigen und zu flicken. Äußerlich sind es abgewetzte Bettlerkleider geblieben, aber weil ich ihr Herz sehe, sind sie für mich, als wären es Feierkleider. Du aber bist gekommen wie du bist, du hast dir keine Mühe gegeben, so gut es ging, meines Festes würdig zu werden, und weil ich dein Gewissen sehe, bist du schuldig, als hättest du kein Feierkleid an. Darum strafe ich dich also, und wenn du äußerlich gerade so gut und so schlecht aussiehst als die andern. So ist die Ungerechtigkeit des Königs nur äußerlich: Im Innersten aber ist er gerecht, weil er das Herz dieses Menschen im Innersten durchschaut hat. Ich möchte gerade in dem Schicksal dieses letzteren Mannes die Ermahnung finden, welche für alle Zeiten und alle Geschlechter in diesem Gleichnis des Herrn liegt. Ist euch seine Strafe nicht zu hart vorgekommen? Das Auffällige an dem Schicksal ist, daß er so hart bestraft wird, gerade so hart als diejenigen, die die Knechte erschlagen haben: ja noch härter: Jene werden getötet, er aber auf immer in die äußerste Finsternis und Marter geschleppt. Und äußerlich sind ihre Vergehen doch so verschieden: Jene haben getötet, er aber ist nur in den Festsaal getreten und hat sein Gewand nicht geordnet. Wir würden meinen, es würde genügen, wenn ihn der Herr hinausweisen ließe. Aber warum die Strafe? Darin liegt eben der tiefe Ernst: Vor Gottes Auge ist er gerade so schuldig wie die andern, die die Einladung mit Hohn und Morden ausgeschlagen haben; also, wenn man sich der Güte Gottes nicht würdig zeigen will, ist es geradeso strafbar. Wir blicken gewöhnlich auf dasVolk Israel und sind gleich bei der Hand, diejenigen, die den Herrn getötet, zu verdammen. Dieses Gleichnis aber lehrt uns, daß wir dieselbe Schuld auf uns laden, wenn wir des Christennamens, den wir tragen, uns nicht würdig erweisen. Mit dem Wort «alle Menschen sind unvollkommen, als Sünder eigentlich des Christennamens unwürdig», wollen wir uns nicht trösten, sondern wir wollen uns fragen: Waswürden wir antworten, wenn Gott, der uns ins Herz sieht, an den andern vorüberschreitend die Frage an uns richtete: «Freund, wie bist du hereingekommen und hast kein hochzeitlich Kleid an?» das heißt: Freund, wie trägst du den Christennamen und hast nicht gearbeitet, dieses hohen Berufes würdig zu sein? Gott gebe, daß wir dann nicht verstummen müßten.

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Sonntag, 19. August 1900, Günsbach Grabrede fürWitwe Spieser von Griesbach

[Ohne Text: Gott sei Dank für alles]

Ein Gefühl der Trauer ergreift uns an dieser offenen Gruft, die sich in wenigen Augenblicken über dem Sarg, den wir ihr anvertrauen, schließen wird. Aufs neue steigt in uns heute die Frage auf: Warum werden uns die entrissen, die uns lieb waren? So mag sich wohl dieVerstorbene gefragt haben, als sie nacheinander mehrere Kinder ins Grab legte und zuletzt auch ihren Gatten zur letzten Ruhe bettete. Nun stehen wir, die wir sie gekannt und geschätzt haben, hier um ihre Gruft, nun seid ihr, ihre Anverwandten und Kinder hier versammelt, um von ihr Abschied zu nehmen – und auf die Frage, warum sie von uns scheiden mußte, findet euer Schmerz und unsere Trauer keine Antwort. Und doch, trotz alles Kummers und aller Klage, drängt sich noch ein anderes Wort auf unsere Lippen: Sie ist erlöst und ist daheim in der himmlischen Heimat. Daheim in der himmlischen Heimat. Unser Leben ist eine Wallfahrt; wir wandeln als Gäste hier auf Erden; und während dieser irdischen Wanderschaft tönen Stimmen aus einer andern Welt an unser Ohr, die in uns Sehnsucht und Heimweh nach unserer wahren oberen Heimat erwecken. Diejenigen, die wir geliebt, sie scheiden von uns; undjedes liebe Wesen, dessen Tod wir beweinen, es weist uns hin auf die Stelle, wo wir uns einmal wiederfinden. So gingen der Verstorbenen mehrere Kinder und zuletzt der Gatte in die himmlische Heimat voraus und wiesen ihre Sehnsucht und ihr Heimweh nach der

himmlischen Heimat. Und noch andere Stimmen ließen sich vernehmen: Krankheit und Leiden. Sie hat viel erduldet und viel gelitten in ihrem Leben; sie hat mehr als andere verspürt, wie gebrechlich die irdische Hülle ist, die uns umgibt – und in den letzten Zeiten, als sie litt, als dasDasein für sie zur Qual wurde und sie aufs Krankenlager gefesselt war, da kamen ihr die Gedanken wie dem Apostel Paulus, als er in irdischen Banden schmachtete: «Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christus zu sein» [Phil. 1,23]. Und als sie letzten Sonntag das Gedächtnis des heiligen Abendmahls beging, dasJesus mit seinen Jüngern feierte in der Nacht vor seinem Tode, dablickte auch sie von diesem letzten heiligen Mahle zu demjenigen auf, von demJesus gesagt, er werde eswieder feiern mit seinen Jüngern in desVaters Reich. Nun ist ihr Leiden gestillt und ihre Sehnsucht nach der himmlischen Heimat erfüllt. Gott hat sie zu sich genommen. Wir aber sprechen an ihrer Gruft: Gott sei Dank für alles.

Sieg über den Toddurch Christus

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Sonntag, 19. August 1900, Günsbach Enterrement de la veuve Spieser de Griesbach

I Kor. 15,57 f.: Sieg über denTod durch

Christus|36¡

Ernst sind unsere Gedanken, wenn wir uns innerhalb der Wände dieses Gotteshauses befinden. Ein ganz besonderer Ernst aber beherrscht uns, wenn wir von dem Friedhof zurückkehrend diesen Raum betreten. Sind es nur Gedanken der Trauer, daß wir ein Glied unserer Gemeinde zur letzten Ruhe gebettet haben? Nein, in diese Trauer mischt sich noch etwas anderes. Die stummen Steine und Kreuze auf dem Friedhof reden eine beredte Sprache. Einst werden auch dir dieTotenglocken hallen, einst wirst auch du,jung oder alt, wer weiß, hier zur Ruhe gebettet werden, und zwischen Kränzen und Blumen wird man auf einem einfachen Kreuz deinen Namen lesen. So steht es heute deutlicher als sonst vor uns, daß unserm Leben ein Ziel gesetzt ist. So ersteht für uns die Frage: Welche Gedanken soll die Erinnerung, daß auch unserm Leben ein Ziel gesetzt ist, in uns als Christen erwek-

ken? Vor Jahren kam ich einmal in dasTrappistenkloster auf dem Ölenberg. Über den Treppen und den Schwellen steht überall in lateinischer Sprache: Mensch, gedenke, daß du sterben mußt. In den Einrichtungen der Zimmer, in den Bildern und Sprüchen, welche die Wände zieren, erinnert alles an den Tod. Schweigend verbringen die Mönche ihr Dasein. Nur wenn sie sich begegnen, grüßen sie sich mit dem Spruch: Gedenke, daß du sterben mußt. Die Erwartung des Endes und die Furcht vor dem Tode lastet wie eine dunkle Wolke über ihrem Denken und Handeln, auf ihrem ganzen Dasein! Ist dieses Gedenken desTodes wahrhaft christlich? Ich glaube, nicht. Furcht vor dem Tode darf unser Leben nicht beherrschen; dazu hat uns Gott nicht in die Welt gesetzt, daß wir in stetem Zittern und Bangen nur dem Ende entgegensehen sollen. So darf uns der Gedanke an den Tod nicht Furcht, nicht Angst einjagen, sondern er soll unserm Leben den rechten Ernst geben. Wohl wirft der Tod auch in unser Leben seine Schatten voraus; aber es sind nicht die Schatten, auf welche eine dunkle, schaurige Nacht folgt, sondern Schatten, die der Morgenröte vorangehen: nicht Schatten des Untergangs, sondern des Aufgangs. 36 [Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesus Christus! Darum, meine lieben Brüder, seid fest, unbeweglich und nehmet immer zu in demWerk desHerrn, sintemal ihr wisset, daß eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn.]

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Und worin besteht nun der Ernst, den die Erinnerung an das Ende unseres Daseins verleihen soll? Er besteht darin, daß wir unser Leben auffassen als eine Zeit, die uns Gott gestellt hat zur Arbeit und zur Bewährung; Gott hat unsjeden an seinen Platz gestellt, dort unsere Pflicht zu tun als die, so einst Rechenschaft ablegen werden, zu der Zeit, wo er sie von uns fordern wird. So vergleicht der Herr in seinen Gleichnissen die Menschen mit Knechten, welchen der Herr ihre Arbeit zugewiesen hat. Nun zieht er fort, niemand weiß, wann er wiederkommt. Die Knechte aber sollen während dieser Zeit wirken, nicht in Angst und Zagen, sondern als solche, die einem gütigen und gerechten Herrn gehören [Mt. 25,14–30]. So beschaffen soll der Ernst sein, welchen der Gedanke, daß Gott uns einst aus dieser Welt abruft, unserem Dasein gibt. Aber dieser Ernst genügt nicht. Er genügte, wenn alles im Leben Glück und Zufriedenheit wäre. Da aber unser Leben Mühsal und Kummer bringt, so reden die stummen Steine und Kreuze auf dem Friedhof zu uns nicht nur vom Ernst, sondern auch von der Hoffnung. Ruhe verkünden sie denen, die unter des Lebens Last zusammenbrechen, Erquickung denen, die vom Leid geprüft sind, von Wiedersehen reden sie zu den trauernden und verwaisten Herzen, und den Frieden verheißen sie denen, die sich in dem Unfrieden dieser Welt verzehren, uns allen aber verkündigen sie die höchste Seligkeit, bei Gott und Christus zu sein. So erweckt der Gedanke desTodes, der unser wartet, in uns Gefühle des Ernstes und der Hoffnung: Beide zusammen aber sollen sich vereinigen zu einem Gefühl tiefen Dankes gegen Gott: «Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesus Christus.» Bevor Jesuszu den Menschen geredet, da fürchteten sie sich vor demTode, er erschien ihnen als das grauenvolle Ende des Daseins, und da fragten sie sich: Was soll denn dieses Leben bedeuten? Und sie fanden keine Antwort darauf, und warfen sich in den Strudel der Freuden, um den Tod zu vergessen, oder sie verzehrten sich in Angst vor dem Ende. In diesen Gedanken würden auch wir unser Ende betrachten, wenn nicht Gott Christus zu uns gesandt; er hat demTod den Schrecken genommen und zu uns geredet Worte des Ernstes und der Hoffnung, daß hinfort über jeder Friedhofspforte in unsichtbarer Schrift seine herrlichen Worte leuchten: «Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken» [Mt. 11,28].

Selig sind die Barmherzigen

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Predigt Sonntag, 26. August 1900, Günsbach

Mt. 5,7: Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen Wir haben alle, ihr wie ich, hie und da schon ungefähr folgende Rede vernommen: Vom Christentum selbst halte ich nichts; ich mag mich zu seinen Lehren nicht bekennen; aber daß es die Barmherzigkeit seinen Anhängern ans Herz legt, dasschätze ich an dieser Religion. Jesus, sagen sie, war ein Schwärmer, aber daß er seine Jünger die Barmherzigkeit gelehrt hat, das macht ihn uns, auch wenn wir uns sonst nicht zu ihm bekennen können, lieb undwert. Zu den Leuten, die so reden, möchte ich – indem ich die Betrübnis unterdrücke, daß sie, in einem christlichen Lande aufgewachsen, nicht tiefer in das Christentum eingedrungen sind – sagen: Nun gut, ihr, die ihr über des Herrn Wort «Selig sind, die da geistig arm sind, selig sind, die da Leid tragen, selig sind die Sanftmütigen, selig sind die Friedfertigen» [Mt. 5,3– 10] lächelt oder die Achseln zuckt, wer weiß, wenn ihr euch in sein Wort «Selig sind die Barmherzigen» versenkt, ob ihr da nicht zu ihm ganz bekehrt werdet und seine ganze Tiefe empfinden werdet?

Ihr denkt genau wie ich: Denn ihr wißt es, daß die Barmherzigkeit, dasMitleid, eine Gabe ist, welche der Schöpfer selbst den Menschen, seinen Geschöpfen, alsunverlierbare Gabe ins Herz gelegt hat; sie ist wie ein Funke, der dieses Herz entzünden kann, auch wenn es äußerlich schon ganz erkaltet ist, ein Faden, an dem es denWeg zum Hohen und Edlen und zu Gott, seinem Schöpfer, zurückfinden kann, auch wenn es sonst vom Dunkel umhüllt ist und sich verirrt. In diesem Sinne rufen wir allen Menschen zu: »Selig sind die Barmherzigen», das heißt: Selig sind diejenigen, welche, wie es auch sonst um ihr Herz stehe, noch Barmherzigkeit verspüren, denn es ist ein Zeichen, daß sich in ihnen noch der edle Gottesgeist regt, den der Schöpfer den Menschen ins Herz gelegt. Wie steht es nun um die christliche Barmherzigkeit? Man hat nun oft darüber gestritten, ob es außer dem Christentum Barmherzigkeit gebe, oder ob die christliche Barmherzigkeit etwas Höheres sei als die andere.

Das ist ein Streit um leere Worte: Jede Barmherzigkeit ist christlich, weil sie zu den edlen Regungen des menschlichen Herzens gehört, unseren Blick auf den Herrn der Barmherzigkeit, Jesus, hinlenkt und durch das Christentum noch veredelt und geläutert wird. Es gibt keine Barmherzigkeit, die nicht etwas Christliches an sich trägt. Dasheißt aber auch: Jede Barmherzigkeit ist vom Christentum geboten. Man hat sich darüber Gedanken gemacht, daßJesus nicht die Barm-

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herzigkeit gegen die armen, leidenden Tiere, sei es auch nur mit einem Worte, berührt habe; manche haben gemeint, Barmherzigkeit gegen die Tiere gehöre nicht zum Christentum. Zu solchen Leuten möchte man sagen: Ihr oberflächlichen Menschen, schlagt doch einmal des Herrn Gleichnisse nach, seht, wie er in so feiner und sinniger Weise von den Tieren, ihrer Pein und ihrer Sorglosigkeit spricht, lest einmal das Gleichnis vom verlorenen Schaf [Mt. 18,12–14] – und ihr könnt noch glauben, daß der, welcher von sich dort als vom «guten Hirten» redet, nicht Erbarmen für dieTiere im Herzen verspürt? Barmherzigkeit gegen Tiere ist Christensache: Es sind Gottes Geschöpfe. Darum liegt auch in dem Wort «Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht» [Mt. 19,14] etwas, das uns auf die Barmherzigkeit verweist. Wir wollen Christus Kinder zuführen, ihr Herz empfänglich machen für alles Gute. Wie können wir dies aber, wenn wir ihnen nicht in zarter Jugend das Mitleid für die Tiere anlernen? Barmherzigkeit liegt in des Kindes Herz; aber die Gedankenlosigkeit erstickt oft dieses Mitleid, so daß ein Dichter gerade vom Kindealter sagte, eskenne kein Mitleid. Es ist die heilige Pflicht der Eltern, ihre Kinder zur Barmherzigkeit gegen Tiere anzuhalten, damit ihr Herz nicht verrohe; und wer es geduldig ansieht, wie sein Kind, sei es auch nur einen Käfer, quält und martert, der beklage sich einst nicht vor Gott, wenn das verrohte Kinderherz auch über die Eltern Kummer und Qual bringt. Eltern, haltet eure Kinder an zur Barmherzigkeit auch gegen dieTiere! Es gibt heutzutage Vereine, welche die Barmherzigkeit gegen Tiere zu ihrer Aufgabe machen. Das ist edel und christlich, undjeder soll diese Bestrebungen unterstützen. Wenn dennoch viele, sonst für das Gute empfängliche Menschen, die Sache hier abtun wollen mit dem Wort: Ich bekümmere mich um Menschenschutz, nicht um Tierschutz, so rührt dasausUnkenntnis und ausVorurteilen her. AusUnkenntnis. Wasweiß denn ein Mensch, der den ganzen Tag in der Stube sitzt und alles Unangenehme von sich fernhält, von den Martern, die täglich hunderttausende von Tieren unnötigerweise erdulden müssen? Aber wenn er liest, wie durch einen Fehler am Geschirr die Zugtiere unnötigerweise geschunden werden, fürchterlich Durst leiden, ohne daß wir’s ahnen, sich auf hartem Pflaster die Füße wund laufen, weil sie, obwohl es nicht teurer kosten würde, ein anders geartetes Pflaster herzustellen, langsam zu Tode gemartert werden, nur weil derjenige, dem dasblutige Amt übertragen ist, nur ausUnkenntnis oder Bequemlichkeit nicht die kürzeste Art wählt, um ihrem Dasein ein Ende zu machen – wenn man sich das alles vorhält, dann ist man demjenigen Verein von Herzen dankbar, der uns hier Belehrung und Aufklärung verschafft, damit wir nicht selbst durch Gedankenlosigkeit uns an Tieren, die sich nicht wehren können, versündigen.

Selig

sind die Barmherzigen

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Beispiel von den Zughunden in Berlin.|37¡ Aus Unkenntnis, sagten wir, wissen die Menschen die Bestrebungen derTierschutzvereine nicht zu würdigen. Nicht besser steht’s um dieVorurteile. Die Tierschutzvereine beförderten ein weichliches, ungesundes Mitleid, welches zuletzt injedem Zugtier ein gemartertes Wesen sieht und beijeder Tötung eines Tieres von Grausamkeit und Mitleidlosigkeit redet. Ein solches ungesundes Mitleidsgefühl ist falsch. Die Tiere, welche sich zur Arbeit eignen, sollen arbeiten; es steht dem Menschen zu, wenn es nötig ist, Tiere zu töten. Dies bestreitet kein Tierschutzverein. Aber es steht ihm nicht zu, aus Bosheit, Gedankenlosigkeit oder selbstverschuldeter Unwissenheit sie unnütz zu quälen. Dagegen sich zu wenden, ist jedes Christen Pflicht. Höher als die Tiere und uns näher stehen die Mitmenschen als unsere Brüder. Welches Christen Herz könnte sich hier gegen das Mitleid und die Barmherzigkeit verschließen, welche Gott in unsern Herzen gepflanzt und die unser HerrJesus Christus durch Wort, Bild und Beispiel uns so innig vor Augen gestellt. Ihr kennt es alle, das schöne Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Ihr kennt das herrliche Wort «Ihr sollt barmherzig sein, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist» [Lk. 6,36]. Wenn man aber in unserer Zeit von Barmherzigkeit redet, da überkommt einen etwas wie Trauer: Das Herz wollte schon, aber man macht so bittere Erfahrungen in der Stadt wie auf dem Lande, so daß man sich zuletzt fragt, ob Barmherzigkeit in unserer Zeit noch geboten ist. Es kommt ein Bedürftiger an unsere Tür: Wir geben ihm etwas; am Abend treffen wir ihn betrunken auf der Straße. Mit der Gabe haben wir vielleicht nur dasLaster unterstützt. Noch schlimmer ist es in der Stadt; kam da vor zwei Jahren zu mir auf mein Zimmer in Straßburg ein Mann in abgetragener Kleidung mit Empfehlungen von Herren, die ich kannte. Er verdiene sein Geld durch Abschreiben von Schriften, sei durch Krankheit in Not gekommen. Da ich gerade etwas für ihn zu tun hatte, bestellte ich ihn auf einige Tage später und gab ihm die Zahlung zum voraus. Zur Arbeit hat er sich nicht eingestellt, später traf ich ihn, sich liederlich in der Straße herumtreibend, und die Empfehlungen waren, wie ich erfuhr, alle gefälscht. Diese Fälle sind traurig, aber man muß sich nicht entmutigen lassen,

sondern daraus seine Lehren ziehen. Zum ersten: Sei barmherzig mit Verstand und nicht in Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit. Wenn zum Beispiel um die Mittagszeit

37 [In Berlin wares – wie anderwärts auch – bis in den Anfang unseres Jahrhunderts üblich, daß Handwerker und kleine Händler ihre Karren von Hunden ziehen ließen, die richtiggehend «ins Geschirr gespannt» wurden. Dieser Anblick wird dem Studenten Schweitzer während seines Berliner Aufenthaltes im Sommersemester 1899 ans Herz gegriffen haben.]

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ein Bedürftiger an deine Tür kommt, dann gib ihm nicht gedankenlos deine zwei oder vier Pfennige, daß er in Versuchung kommt, das Zusammengebettelte zu vertrinken, sondern gib ihm etwas zu essen; es ist nicht so bequem, aber es ist richtiger als die Geldgabe. Zum andern: Wo der einzelne irre geht, da kann eine richtig geleitete Gesellschaft die Barmherzigkeit üben und läuft weniger Gefahr, daß ihre Unterstützung an den unrechten Ort kommt. Darum übe Barmherzigkeit, indem du zu diesen Unternehmen beisteuerst. Nun werdet ihr sagen, daß eine Barmherzigkeit, die so durch dritte Hand geht, etwas Kaltes und Geschäftsmäßiges hat und das Herz weniger dabei beteiligt ist. Ganz richtig. Mich weht es auch kalt an, wenn ich an der Tür einer Wohnung in der Stadt die Worte lese: Bettler werden hier nicht zugelassen, sondern sie sollen sich wenden an die und die Gesellschaft, wo der betreffende Bewohner seine Gabe zusteuert. Aber ich glaube, was hier an persönlicher Wärme bei der Mildtätigkeit verloren geht, dasläßt sich auf anderem Wege wieder einbringen. Drum möchte ich zum dritten sagen: Laß diejenigen, welchen deine Barmherzigkeit zukommen soll, nicht erst zu dir ins Haus kommen, sondern suche sie selbst auf; glaube nicht, daß du genug getan, wenn du diejenigen, die bei dir anklopfen, mit einer Gabe abfertigst, sondern suche die Notleidenden in ihrem Hause auf, dort kannst du nicht nur deine Gabe, sondern auch dein Herz anbringen, und wenn du Auge und Ohr öffnest, siehst du bald, ob deine Barmherzigkeit angebracht ist und wie sie ambesten ist. Noch ein viertes: Die höchste Barmherzigkeit ist diejenige, welche nicht Gabe, sondern Arbeit bietet. Sie ist die höchste einmal darum, weil sie denjenigen, der empfängt, nicht demütigt – denn bei jeder empfangenen Gabe ist eine Demütigung – sondern ihn auch innerlich befriedigt. Arbeit ist die höchste und beste Gabe – denn sie hebt die Barmherzigkeit auf. Das Ziel, auf das alle christliche Barmherzigkeit hinzielen soll, ist nämlich, einen solchen Zustand herzustellen, wo die wenigsten, nur die Kranken und vom Unglück Heimgesuchten, unserer Barmherzigkeit bedürfen. Wir haben bisher die Barmherzigkeit als eine Christenpflicht gegen alle Geschöpfe [verstanden] und mancherlei Gedanken daran angeknüpft, wie man sie ausüben soll. Die Barmherzigkeit ist eine selbstverständliche Christenpflicht, die nicht sieht auf Lohn: Das hat unsJesus in Wort und Gleichnis gelehrt. Nun aber sagt er in unserm Textwort, daß sie eine Seligkeit mit sich führt: «Selig sind die Barmherzigen.» Worin besteht nun diese Seligkeit? Zuerst in dem inneren Gefühl der Glückseligkeit, seine Pflicht getan zu haben und andere beglückt zu haben. Und aus diesem glücklichen Herzen fließt dann noch etwas Höheres: Trost und Besserung. Wie oft kommen wir uns unglücklich vor. Dann sehen wir, indem wir selbst anderen helfen können, wie an-

Selig sind die Sanftmütigen

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dere ihr Leid mit größerer Geduld tragen, und schämen uns, in dem glücklichen Gefühl, helfen zu können, unseres Unmuts. Besserung aber bringt die Barmherzigkeit, weil sie das Herz weit macht, es veredelt. Wie kalt würde unser Herz, wenn es die Barmherzigkeit nicht erwärmte. Eine letzte Seligkeit hebt der Herr in unserm Worte hervor: «Denn sie werden Barmherzigkeit empfangen.» Er denkt hier an das Gleichnis von dem Knecht, gegen den der Herr barmherzig gewesen, der sich aber wieder seiner Schuld erinnert, da der Knecht gegen seinen Mitknecht unbarmherzig ist [Mt. 18,23– 35]. So besteht die Seligkeit des Barmherzigseins darin, daß sie uns immer würdiger macht der Barmherzigkeit, die uns Gott beweist, uns immer mehr Vertrauen zu ihm gibt und uns ihm immer näher zuführt.

Predigt Sonntag, 2. September 1900, Günsbach

Mt. 5,5: Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden dasErdreich besitzen Wir haben in den letzten Sonntagen mehrere Seligpreisungen miteinander betrachtet. Bei allen war es klar, warum der Herr gerade diese und diese selig preist und warum er sie gerade auf diese Art selig preist. So z. B. wenn die Friedfertigen gepriesen werden, weil sie Gottes Kinder heißen, die geistig Armen, weil dasHimmelreich ihr ist, die Barmherzigen, weil sie Barmherzigkeit erlangen, und die reinen Herzens sind, weil sie Gott schauen werden. Unsere heutige Seligpreisung scheint davon eine Ausnahme zu machen: «Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden dasErdreich besitzen.» Daß Jesus die Sanftmütigen selig preist, das verstehen wir; daß er sie aber selig preist, weil sie das Erdreich besitzen werden, das will uns nicht begreiflich erscheinen. Wir sehen, wie hier auf dieser Erde gerade dieVölker durch Gewalttat zur Herrschaft und zu Besitz derWelt gelangen. Wie sollen da die Sanftmütigen zur Herrschaft gelangen? Und wie soll ihre Seligkeit gerade darin bestehen, dasErdreich zu besitzen? Wir haben hier eines der Worte unseres Heilands, die auf den ersten Anblick dunkel erscheinen, weil sich durch die Übersetzungen der Sinn der Worte etwas verändert hat. Unser Herr Jesus sprach eine hebräische Sprache. Seine Worte wurden dann zuerst ins Griechische übersetzt, dann ins Lateinische und dann durch Dr. Martin Luther ins Deutsche. Welches war nun der Sinn der Worte in der Sprache, die der Herr zu den Galiläern redete? Sie lauteten ungefähr: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land (erben) in Besitz nehmen. Indem er die-

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sesWort sagte, wußte Jesus, daß diejenigen, die um ihn waren, ihn nicht mißverstehen würden, als redete er von einem irdischen Land. Das Land in Besitz nehmen, «erben», war damals ein Ausdruck für: «am

Gottesreich teilhaben». Wie war dieses Wort zu dieser Bedeutung gekommen? Dem Abraham war verheißen worden, er würde das Land, in das er auf seiner Wanderung gelangt war, besitzen [Gen. 15,7]. Als Jahrhunderte später dasVolk aus Ägypten kam und sich anschickte, denJordan zu überschreiten, daverhieß ihm Mose dieses gelobte Land, dashier mit seinen Bergen und herrlichen Tälern im Sonnenschein vor ihnen lag [Dtn. 32,52]. Eine Heimat in stillem Frieden erhoffte dasVolk – und es ward ihm nicht beschert. Kriegsstürme durchbrausten die Fluren, Jerusalem sank in Trümmer, dasVolk zog in dieVerbannung – undwieder erwacht dasHeimweh; ihr Herz wendet sich zu Gott, daß er ihnen gebe, ihr Land zu besitzen und dort errichte sein herrliches Reich. Je mehr sie seufzen unter der Fremdherrschaft, desto ängstlicher geht ihr Harren auf den Messias, den Heiland, der einst kommen werde in Macht, sein Reich gründen, die Heiden vertreiben, den Frommen das Land zu geben, daß sie dort leben «in großem Frieden», wie der Psalmist sagt [Ps. 119,165]. «Das Land besitzen», «Teilhaber am messianischen Reich sein» – beide Worte bedeuten dasselbe. Sie schließen den höchsten Gedanken der Seligkeit in sich, den dasHerz des frommen Israeliten zu fassen vermochte. Nun ist dieser Heiland gekommen – und wer sein Wort vernimmt von den Leuten in Galiläa, der weiß bald, daß er kein irdisches Heilandsreich bringt, und denen, die sich zu ihm bekennen, nicht den Besitz eines irdischen Landes verspricht. Aber den Ausdruck – in dem von Abraham bis zu dem galiläischen Fischer jeder fromme Israelit der höchsten Sehnsucht seines Herzens Worte verlieh – «das Land besitzen», d. h. in Friede und Seligkeit Gottes Verheißung endlich erfüllt zu sehen, diesen Ausdruck behält er in der Seligpreisung bei, um die höchste Seligkeit auszudrücken. In dem Augenblick, wojedes lauschende Herz fühlt, daß in denWorten, welche von den Lippen desHerrn fallen, alle Verheißungen erfüllt sind, da ertönt noch einmal jene Verheißung, wie sie zu Abraham, zum einziehenden Volke geschehen: Ihr sollt das Land besitzen, ihr sollt eine friedliche Heimat haben. Aber in diesem weihevollen Augenblick wird dasWort zum Gleichnis. Nicht auf das blühende Land, nicht auf die üppigen Felder weist Jesu Hand, sondern das Land ist das Reich Gottes, und die Heimat ist das Herz. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie gehören zu Gottes Reich. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie tragen in ihrem Herzen den Frieden eines himmlischen Vaterlandes, das ihnen nicht kann entrissen werden. Es ist, als ob des Abends Dunkel sich über das Land so vieler Hoffnungen und Enttäuschungen gelegt, und die flimmernden

Selig sind die Sanftmütigen

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Sterne den Blick zu dem ewigen Land der himmlischen Heimat lenkten, und dann dasAuge sich schlösse, um diese ewige Heimat im Herzen zu fühlen. So redet hierJesus im Gleichnis. So schließt sich diese Seligpreisung des Herrn eng an an zwei Worte Jesu. Als ihn die Pharisäer fragen, wann denn das messianische Reich komme, da sagt er: «Das Reich Gottes ist mitten in euch» [Lk. 17,21]: d. h. in seinem Herzen trägt jeder dasGottesreich. Als er seinen Heilandsruf erschallen läßt «Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid» [Mt. 11, 28], da sagt er nicht: Denn ich bin der Herr derWelt oder ich bin Gottes Sohn, sondern: «Denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig» [Mt. 11,29]. So schließen sich diese beiden Worte desHerrn zu der schönen Seligpreisung zusammen, wo der sanftmütige Heiland die Sanftmütigen selig preist, weil sie dasGottesreich in ihrem Herzen tragen. Der sanftmütige Heiland, die Seligpreisung der Sanftmütigen: Beide sind etwas Neues, beide gehören eng zusammen. Es liegt eine zauberhafte Welt in dem Wort Sanftmut, und in diesem Laut klingt uns ein wunderbarer Ton entgegen. Die alten Maler pflegten Jesus mit einem Lichtschein um das Haupt zu malen, um damit den Glanz der himmlischen Heimat, der ihn auch im Erdenleben umfloß, anzudeuten. Wollte mandiesen Lichtschein deuten, so müßte mandarunter schreiben «Sanftmut». Undwenn maneinem Christen begegnet, auf dessen Zügen undin dessen Wesen es sich ausprägt, daß er die himmlische Heimat im Herzen trägt, dann kommt uns wieder dasselbe Wort «Sanftmut» auf die Lippen. Wasist nun die Sanftmut, wie soll ich sie euch beschreiben? Die Sanftmut ist ein geheimnisvolles, himmlisches Wesen wie eine Engelsgestalt, die stille Zwillingsschwester der Friedfertigkeit. Doch fällt es schwer, sie zu beschreiben. Vergebens blättern wir die Blätter des Neuen Testaments, um zu suchen, woJesus uns die Sanftmut beschrieben. Und was würde daraus werden, wenn ein Prediger oder sonst ein christliches Herz das Bild der christlichen Sanftmut zeichnen wollte? Wenn wir jetzt miteinander das Leben irgendeines Mannes aus unserm Dorfe nehmen wollten, eines frommen Mannes, und nun bei jeder Tat, bei jeder Handlung sagen wollten: So und so hätte er handeln müssen, wenn er von christlicher Sanftmut beherrscht gewesen wäre – was meint ihr, daß das geben würde? Ein verkehrtes und verzerrtes Bild, von dem wir bald sagen würden: Ja, so kann es überhaupt keinen sanftmütigen Christen geben. Und wenn ich selbst euch jetzt einzelne Fälle vorlegen wollte, sei es in Familiensachen oder in öffentlichen Angelegenheiten oder sonst einer Frage, und euch zu zeigen versuchte, wie man in jedem Falle Sanftmut üben soll, und nun in Tagen oder Wochen jener Fall einträte, dann würdet vielleicht weder ihr noch ich Sanftmut beweisen – und ihr würdet euch vorwerfen müssen, des Predigers Worte nicht befolgt

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zu haben, und ich, der Prediger, müßte mir sagen, daß ich Worte rede, die ich selbst nicht befolgen konnte. Was will ich damit sagen? Daß, wenn man von der Sanftmut «in Theorie», wie man sagt, reden will, man immer ein falsches, überschwengliches und unwahres Bild bekommt. Man glaubt dann, daß die Sanftmütigen diejenigen sind, die in ihrem ganzen Leben in allen Angelegenheiten Sanftmut walten lassen. So ist es aber nicht. Schon bei der Friedfertigkeit sahen wir, daß die Friedfertigen nicht diejenigen sind, die in allen Dingen den Frieden erhalten wollen und mit allen gut stehen wollen. So ist es auch mit den Sanftmütigen: Sanftmütig sein, will nicht heißen, überall und in allen Stücken sanftmütig nachgeben. Wenn ich so in Büchern oder in Reden eine weinerliche, immer zum Nachgeben bereite Sanftmut als christlich anpreisen höre, dann freu ich mich immer, daß wir in einem kleinen Buch das herrliche Bild einer Sanftmut besitzen, das ganz andere Züge trägt: Das Buch heißt das Neue Testament, und das Bild trägt die Züge unseres Heilands, und darunter steht: «Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig» [Mt. 11,29]. So sagte er von sich – und doch, sein Leben war nicht ein immerwährendes demutsvolles Nachgeben, er konnte sogar heftig und leidenschaftlich werden, er konnte sogar entschieden auf seinem Recht bestehen, ja er konnte sogar seine Feinde mit scharfen Worten geißeln – und doch bleibt er der Herr der Sanftmut. Laßt mich in kurzen Zügen dieses Bild der Sanftmut entwerfen. Das Beispiel unseres Heilands lehrt uns Sanftmut gegen die Kinder. Als dieJünger die galiläischen Weiber mit den Kindlein zurückdrängen wollen, da wendet er mit sanften Worten sich an sie und zieht sie an sich. Das Beispiel Jesu lehrt uns Sanftmut gegen unsere Hausgenossen und diejenigen, die täglich um uns sind. Wie oft haben dieJünger Jesus mit unverständigen Fragen ermüdet oder durch Mißverstand betrübt, und wie sanft weist er sie immer zurecht. Und als zuletzt Petrus ihn in denTod betrübt durch seine Verleugnung, daverflucht er ihn nicht und droht ihm nicht, sondern sein sanftes Auge allein wirft ihm seinen Undank vor – «und er ging hinaus und weinte bitterlich» [Mt. 26,75]. Jesu Beispiel lehrt uns aber auch Sanftmut gegen die Leidenden und Unglücklichen; alle, die ihm nahten von Kummer und Schmerz gebeugt, durch seine Sanftmut richtete er sie auf und heilte ihr Herz, eh er sie noch von dem Gebrechen befreite. Zuletzt lehrt unsJesu Beispiel Sanftmut im Leiden: Als in der tiefsten Todesnot er kein hartes Wort für seine Peiniger fand, kein strafender Tadel für den Hohn des gekreuzigten Schächers über seine Lippen kam, da öffnet er den Mund, um mit sanftem Wort dem reuigen Schächer sein martervolles Ende zu erleichtern. So zeigt unsJesus in seinem Leben, wo und wie wir sanftmütig sein sollen. Diesem Beispiel eifern wir nach, wenn wir der Stimme unseres

Ihr habt nun Traurigkeit

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Herzens folgen und dort Sanftmut üben, wo uns eine innere Stimme dazu antreibt. Überhöre sie nie, diese Stimme, die nur du und sonst kein anderer vernimmt, laß dich nie abhalten, ihr zu folgen, auch wenn dich die andern nicht verstehen. Die Seligkeit, die dann dein Herz empfindet, wird ein Lohn sein, der höher steht als alle irdische Anerkennung; und in diesen herrlichen Augenblicken deines Lebens wird dir dann das ewig herrliche Wort in der Seele tönen: «Selig sind die Sanftmütigen.»

Sonntag, 9. September 1900, Günsbach Leichenbegängnis vonJ. Herrmann [Joh. 16,22: Ihr habt nunTraurigkeit]|38¡

Wir stehen hier an dieser Gruft, um einen letzten Abschied zu nehmen von einem Dahingegangenen. Ich soll zu euch reden von göttlichem Trost in dieser schweren Stunde. Damit wir nun das rechte Trostwort finden, folgt mir von diesem stillen Friedhof in den Garten Gethsemane. Dort ist auch eine letzte Abschiedsstunde; dieJünger fragen unsern Herrn Jesus, warum er von hinnen muß, mitten im Leben, da sie seiner noch so sehr bedurft hätten. Um sie über die Scheidung zu trösten, sagt er ihnen das schöne Wort «Ihr habt nun Traurigkeit; ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.» «Ihr habt nun Traurigkeit»: Er erkennt ihren Schmerz an und verwehrt ihnen die Tränen nicht. Auch wir hier an diesem Grabe, schwergeprüfte Witwe und schwergeprüfte Kinder, wir wollen euch die Tränen nicht verwehren – Gott sendet sie, daß sie das Herz erleichtern – wir trauern mit euch ausganzem Herzen. Aber nicht nur von Trauer laßt uns reden, sondern wie auch der Herr zu seinen Jüngern, von Trost und Freudigkeit. «Ihr habt nun Traurigkeit; ich will euch wiedersehen.» Über dieses finstere Grab hinaus schweift unser harrender Blick zu jenen lichten himmlischen Höhen, wo die Worte wiedersehen, wiedersehen uns entgegenleuchten. Unser Herz wird stille im Gedenken dieser Stunde, wo wir wiederfinden, was wir verloren. Kein Abschied wird mehr unsTränen auspressen, sondern Gott wird abwischen unsere Tränen von unsern Augen; wir werden uns freuen, und unsere Freude wird niemand von uns nehmen. 38 [, aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.]

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Und doch, zwischen diesem Abschied undjenem herrlichen Wiedersehn liegt noch etwas anderes: das Fortleben der Dahingegangenen in unserm Herzen. So war es bei den Jüngern nach jener schweren Abschiedsstunde. Ehe sie mit ihrem Herrn im himmlischen Reich beim großen Abendmahl wieder vereinigt wurden, dalebte der Herr in ihren Herzen wieder auf, sein Bild gab ihnen Kraft, den Schmerz zu überwinden, mit neuem Mut wieder ins Leben hinauszutreten und mit Freudigkeit die einsame Straße zu ziehen. So sei es auch bei euch, die ihr den Gatten und Vater beweint. Noch steht vor eurem Auge das Bild des toten Dulders auf dem Lager. Bald aber, wenn das alltägliche Leben mit seiner Arbeit und seinen Pflichten wieder an euch herantritt, dann wird dieses Totenbild in eurem Herzen Leben gewinnen, und er, den ihr beweint, wird wieder in eurer Erinnerung erstehen, wie er lebte und wie er war. Und dieses Bild soll euch im ferneren Leben begleiten: Es soll euch trösten, stärken und den rechten Weg weisen. Im rechten lebendigen Andenken an ihn, wirst du, trauernde Witwe, jetzt dem Hauswesen allein vorstehen und den Kindern als Mutter zugleich denVater ersetzen und sie in seinem Sinne heranziehen und leiten. Und euch, ihr trauernden Kinder, möge euch das Bild eures Vaters im Herzen leben, daß ihr durch doppelte Liebe der Mutter ersetzt, was sie verloren. Möge euch dieses Bild in eurem ganzen künftigen Leben begleiten, möge es euch geleiten, wo euer Lebenspfad am Abgrund des Bösen undderVersuchung dahinführt, daßihr würdig euren Lauf vollendet, bisihr mit ihm dasewige Wiedersehn feiert im himmlischen Reich.

Sonntag, 9. September 1900, Günsbach Leichenrede für dasBegräbnis von Matthias Herrmann

[Mt. 5,3:] Selig sind, die daLeid tragen; denn sie sollen getröstet werden

In den traurigen Augenblicken unseres Lebens, wo wir selbst vom Unglück betroffen sind oder mit denWeinenden weinen, da steigt in uns immer wieder die Frage auf: Warum schickt Gott so viel Elend und Leid über die armen Menschen? Auf diese Frage hat unsJesus keine Antwort gegeben. Er hat uns nicht den Schleier vor Gottes wunderbaren Wegen weggezogen; er hat uns nur gelehrt, an Gottes Güte nicht zu zweifeln, auch im Leide. «Was mein Gott will, gescheh allzeit.»|39¡ 39 [Albrecht von Preußen: Wasmein Gott will, gescheh allzeit, Str. 1.]

Selig sind,

die da Leid tragen

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Aber noch mehr hat er getan. Er hat uns getröstet: «Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.» Ein wunderbarer Trost liegt schon in dem Wort «Selig sind, die da Leid tragen.» Früher glaubte man, wenn Leid über die Menschen hereinbrach, Gott wolle sie züchtigen und strafen. Dazu schüttelt Jesus das Haupt: Nein, nichts von Strafe: «Selig sind, die da Leid tragen.» Worin soll nun dieser Trost bestehen? Zunächst ein himmlischer Trost. Unser Leben ist eine Prüfung kurzer Tage. Aber wenn es so ruhig dahinfließt, davergessen wir es.Wir möchten uns einrichten, für immer hier zu bleiben. Aber dann kommt das Leid und erinnert unsere Seele an die himmlische Heimat. Es bereitet unsere Seele, sich loszulösen von dieser Welt und sich der oberen Herrlichkeit zu getrösten; undje höher der Schmerz, desto naher die Hoffnung. Und wenn im letzten Schmerz die Seele sich losringt von der sterblichen Hülle, da geht sie ein zur himmlischen Heimat, zum ewigen Trost. So ist diese Seligpreisung ein Trostwort vor allem für die Sterbenden – aber nicht für sie allein, sondern auch für die Lebenden. Das Leiden in unserm Leben ist eine fortlaufende Läuterung unseres inneren Menschen. Hast du noch nie bedacht, wie welk unser Herz würde, wenn unser Leben in gleichmäßigem Glück dahin flösse und das Unglück uns nicht zur inneren Einkehr brächte? Hast du noch nie gefühlt, wie in den sonnigen Tagen unseres Lebens das Bild Gottes in immer weitere Ferne rückte, bis wir durch dasLeid wieder zu ihm hingebracht wurden, sein Vaterherz suchten und so unter den Tränen des Leids die Seligkeit empfanden, unsern Gott wieder gefunden zu haben? Das liegt auch in dem Spruch «Selig sind, die da Leid tragen; denn sie

sollen getröstet werden». Zu den Seligkeiten, die uns das Leid bringt, gehörten das Mitleid und dasVerzeihen. Ohne das Leid würden die Menschen stumm und kalt nebeneinander vorübergehen, ihr Sinn würde hart, und der Hader würde sich immer tiefer in ihr Herz einfressen. Nun kommt das Leid über uns, es kommt über andere; wenn die Tränen fließen, da wird das Herz weich, und an den Gräbern sinkt der Hader dahin, und Verzeihung gebend und Verzeihung heischend streckt sich unsere Hand über das Grab hin unsern Mitbrüdern zu. Das ist ein tiefer Trost des Leidtragens. Noch ein Letztes: Selig sind, die da Leid tragen; denn im Leid werden wir gewürdigt, Gottes Prediger zu sein. Ein Krankenbett, wo ein Leidender liegt, ohne seinen Mund zur Klage und zum Hader gegen Gott aufzutun, ist eine unvergeßliche Predigt ohne Worte. Wie nichtig und klein erscheinen uns dann alle unsere eigenen Klagen? Wie folgt uns dieses Gottvertrauen und Gottesharren, das uns an einem so ergebungsvollen Schmerzenslager begegnete durch das ganze Leben, auch in seinen dunkeln Stunden? So wirkt christlich ertragenes Leiden noch

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über das Grab hinaus, und mit tiefem Ernst sprechen diejenigen, die ein solches Schmerzenslager umstanden: «Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.»

Morgenpredigt 23. September 1900, [St. Nicolai]|40¡

[Mt. 5,8:] Selig [sind, die] reines Herzens [sind; denn sie werden Gott schauen]

Gott schauen will heißen, selig sein. Darum denken wir an die Seligkeit derjenigen, die ihren irdischen Lauf vollendet haben, als ein Schauen Gottes, dasheißt nicht nur als solche, die sein Angesicht sehen, sondern als solche, die immerfort in seiner Nähe sein und in seiner Gemeinschaft stehen dürfen. Gott schauen – In diesem Wort liegt auch dasGeheimnis desLebens unseres Herrn offenbart. Äußerlich betrachtet ist es eine Reihenfolge von Enttäuschungen, Verfolgungen, Leiden und Qual; durch diese äußere Hülle seines Lebens bricht aber himmlische Hoheit, und über allem liegt eine stille Seligkeit, die ihn über alles dies Leid hinweghebt; er steht in steter Gemeinschaft mit Gott, und von dort schöpft er diese Kraft. Dieses Geheimnis spricht er aus in demWorte: «Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.» Er schaut Gott, er steht in steter Gemeinschaft mit ihm, weil sein Herz rein ist. So ist diese Seligpreisung die höchste, weil Jesus in ihr uns das Geheimnis seines Lebens mitteilt. Die höchste – und zugleich diejenige, die wir am besten verstehen, weil wir sie in unserm Leben erfahren haben. Bei dieser Seligpreisung kommen uns die einzelnen seligen Höhepunkte unseres Lebens in Erinnerung, wo eine belebende Seligkeit unser Wesen durchströmte, wo wir Gott nahe fühlten, alles uns so leicht schien. Aber auf diese Stunden, wo wir die Gemeinschaft unseres Herrn fühlten, folgten andere, wo unser Herz nicht mehr die Reinheit besaß, wo Gott uns ferne stand. So läuft unser Leben dahin in diesem Wechsel zwischen Gottesnähe und Gottesferne. Zuletzt will es uns dann scheinen, als ob dieser Wechsel zwischen Gottesnähe und Gottesferne unzertrennlich mit unserm Leben und unserer Natur zusammenhänge. Wie ein Fluß, so sagen wir uns dann, wo er die Quelle verläßt, helles, klares Wasser führt, und wie dann die Fluten, die in glitzernden Wasserfällen, in Regenbogen sich spiegelnd, den 40 [R] Ordination. [Am 15. Juli 1900 bestand Schweitzer die zweite theologische Prüfung und wurde regulärer Vikar an St. Nicolai, wo er seit dem 1. Dezember 1899 als Lehrvikar gewirkt hatte. Am 23. September 1900 erfolgte dann die Ordination.]

Selig sind,

die reines Herzens sind

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Berg herunterstürzen, immer dunkler und trüber werden durch die Unreinigkeit, die sie auf ihrer Wanderung aufnehmen, so ist es auch mit unserm Leben, auch mit uns Menschen. Als Kinder, da ist unser Herz rein, aber je weiter wir ins Leben hinauskommen, je mehr der tägliche Kampf und die Leidenschaften auf uns eindringen, desto mehr wird die Reinheit unseres Herzens getrübt, so daß es das Bild Gottes nicht mehr widerspiegeln kann. Von diesem traurigen, falschen Trost, mit dem wir uns über die öden Stunden unseres Daseins hinwegzutrösten versuchten, soll uns dasWort Jesu hinausheben, und uns wahren Trost geben. Worin liegt der Trost, den unser Herz in dieser Seligpreisung finden soll? Er liegt darin, daßJesus dieses Wort, wie alles, was er spricht, aus der tiefsten Erfahrung seines Herzens redet, und daß er nicht zu Kindern, sondern zu erwachsenen Menschen redet. Nicht eine wehmütige Kindheitserinnerung schwebt ihm vor, sondern er redet von der Herzensreinheit, die er sich in seinem Leben erworben hat. So will er auch denjenigen, zu denen er spricht, nicht eine für immer entschwundene Herzensreinheit in traumhaft sehnende, verzichtende Erinnerung zurückrufen, sondern die Herzensreinheit, die er als Quell der Seligkeit preist, sollen sie erwerben im Kampf des Lebens. Jesus, der das sündige Herz der Menschen durchblickt, setzt voraus, daß sie Herzensreinheit erwerben können; das heißt: Herzensreinheit ist nicht, wie man gewöhnlich meint, Sündlosigkeit. Sündlos zu sein, hört der Mensch auf in dem Augenblick, wo er sich zum ersten Mal vergeht. Die wahre Herzensreinheit gewinnt er erst im Kampf mit der Sünde. Läge dieser Trost nicht in dem Worte Jesu, kein Prediger könnte über diese Seligpreisung reden, und kein Herz könnte sich an ihr erquicken, denn sie enthielte für uns ein unerreichbares Gut. Diese tröstliche Seite desWortes müssen wir voranstellen. Mit diesem Trost klingen die Stimmen unserer Erfahrung zusammen. Im tiefen Bewußtsein unserer Sündigkeit haben wir in unserm Leben dennoch Stunden, wo wir Gottes Nähe fühlen, und eine Reinheit des Herzens erfahren, die uns für einen Augenblick über alle Sünde und alles Leid hinaushebt. Aus diesem Trost fließt dann die Aufmunterung: Ringt danach, daß die Reinheit desHerzens nicht ein Gut weniger seliger Feierstunden sei, sondern daß sie euch durchs Leben hin beseligend und stärkend begleite. Wie erwerben wir bleibende Herzensreinheit? Laßt es mich zusammenfassen in zwei Worten, die Jesus gesprochen hat in dem schweren Augenblick seines Lebens, wo seines Herzens Reinheit durch die Gottesnähe, welche sie ihm verleiht, ihn emporhebt über Leiden und Tod: «Wachet und betet» [Mt. 26,41]. Herzensreinheit hängt ab von ununterbrochener Wachsamkeit gegen die Sünde.

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Nicht wenn des Belagerers Geschoß einen oder den andern Verteidiger tötet, fällt eine Stadt in desFeindes Macht, sondern, wenn sie sich in ihrer Wachsamkeit einschläfern läßt. Nicht durch den vorüberbrausenden Sturm wird eine Quelle für immer getrübt, so daß sie die Sonne nicht mehr zu spiegeln vermag, sondern wenn ihre Strömung langsam abnimmt, dann steht dasWasser ab. Unreinigkeit trübt langsam die Flut undWasserpflanzen überwuchern ihren Spiegel. Nicht dadurch, daß ein Mensch in dem oder jenem Augenblick der Sünde unterliegt, verliert er die Reinheit seines Herzens, sondern indem er sich von ihr einschläfern

läßt.

Er verliert sie, wenn unmerklich das ehrliche Bestreben, zu erwerben, in Habsucht und Geiz übergeht; er verliert sie, wenn sein Streben, Einfluß und Bedeutung auszuüben, in Herrschsucht übergeht; er verliert sie, wenn in seinen reinsten Zuneigungen unmerklich die Leidenschaft die Herrschaft gewinnt; er verliert sie, wenn seine angeborene Zurückhaltung in Charakterlosigkeit und Menschenfurcht ausartet, wenn Klugheit unmerklich zur Verschlagenheit wird, Gerechtigkeit langsam in Lieblosigkeit übergeht. So wird durch den Mangel an Wachsamkeit sein Herz durch Leidenschaften unmerklich in Besitz genommen und getrübt, während dasselbe Herz, wenn sie in ihrer wahren Gestalt ihm entgegengetreten wären, sie voll Abscheu zurückgewiesen hätte.

So ist Herzensreinheit von der Seite der Ermahnung stete Wachsamkeit gegen die Sünde, daß wir tagtäglich unser Herz betrachten und gerade in den Zeiten, wo unser Leben gleichmäßig dahinfließt, ob sich nicht langsam ein blinder Hauch über unser Herz legt. So führt die Wachsamkeit als Ermahnung zur Herzensreinheit zum Gebet als Probe der Herzensreinheit. Bete täglich, nicht als ob du etwas zu bitten hättest, sondern um einen Blick zu tun in den Spiegel deines Herzens, ob Gottes Bild dir rein daraus entgegenstrahlt. Und wenn es getrübt ist, dann weißt du daraus, woher dieser Hauch sich auf dein Herz gelegt, wenn du es sonst übersehen hättest – daß die Leidenschaft in deinem Herzen sich aufrankt oder daß du lieblos geworden bist oder daß der Ehrgeiz dich treibt oder daß sonst dein Herz verdunkelt; wenn du dasGottesbild nicht mehr erblickst, kommt es dir zu Bewußtsein. Ich las einst von einer Mutter, die, als sie ihren Sohn in dieWelt hinausziehen lassen mußte, ihm keine langen Ermahnungen mitgab, sondern zu ihm nur das eine sagte: Versprich mir, jeden Abend, wann und wie es auch sei, zu beten, und wenn es nur dasVaterunser wäre. Wenn etwas ihm in all den Versuchungen die Reinheit des Herzens wahren könne, so wares, daswußte sie, die tägliche stille Einkehr und der Blick ins eigene Herz. So ist das Gebet eine Probe der Herzensreinheit. Noch mehr: Es ist eineWiederherstellung derselben, wenn wir durch den Fall in die Sünde

Selig sind,

die reines Herzens sind

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sie verloren haben. Gebet und Herzensreinheit: Verbinde diese beiden Worte miteinander, so erklären sie das Geheimnis der göttlichen Sündenvergebung; sie ist weder Vergessen noch Nichtanrechnen, Übersehen, Abtun, sondern daß die begangene Sünde den Spiegel unseres Herzens nicht mehr trübt, sondern wir in unserm Herzen Gott wieder schauen können. Das Gebet ist eine Probe undWiederherstellung der Herzensreinheit: Dadurch ist es eine Stärkung derselben. Ein Herz, dasdiese Einkehr mit sich selbst im Gebet hält, wird immer lauterer und immer klarer, und die Gemeinschaft mit Gott, die wir dort empfinden, wird immer mehr die treibende Kraft unseres Lebens. «Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.» Laßt uns noch einmal auf diese Seligpreisung zurückblicken. Sie ist die höchste, weil Jesus in ihr uns das Geheimnis seines Lebens und seiner Größe ausspricht. Sie ist die unserm Herzen verständlichste, weil wir sie immerfort, zum Leid oder zur Freude, aus uns erfahren. Sie enthält Trost, weil sie uns die Herzensreinheit nicht als ein mit dem Kinderherzen verlorenes Gut darstellt, sondern als etwas, das wir uns mitten im Kampf des Lebens erhalten und erwerben können. Sie enthält eine Mahnung zur Wachsamkeit und zum Gebet, weil durch sie die Herzensreinheit erprobt, wiederhergestellt und gestärkt wird. Und weil sie so die herrlichste ist, ist sie auch die eindringlichste: Hüte deines Herzens Reinheit, denn von ihr hängt deine Seligkeit ab. Ich rede nicht von dem, was uns nach dem Tode erwartet: Es ziemt uns Menschen nicht, Gottes Entschluß vorzugreifen und zu verdammen. Ich rede von der Seligkeit und Verdammnis in diesem Leben. Wenn das Herz die Reinheit verloren hat, dann zieht Gott daraus aus. Wenn es immer trüber wird, dann kommt ein Augenblick, wo es ganz erkaltet und erblindet. Im Dunkel und fern von Gott sucht sich der Mensch seinen Weg; vertrieben aus dem Paradies geht er unter im Kampf mit der Mühe und dem Unglück des Lebens, und dasWort, das über des Paradieses Pforte steht: «Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen», es leuchtet hinaus wie ein flammendes Wehe in dasDunkel seines Lebens.

200

Predigten

desJahres 1900

Morgenpredigt Sonntag, 9. Dezember 1900, St. Nicolai 2. Advent

Mt. 3,1–10: Die Predigt desTäufers41 In der Adventszeit stimmt alles, wasuns umgibt, zu den Gedanken unserer Seele. Es ist die Zeit der langen Dämmerstunden, wo wir sinnend erwarten, daß der erste Stern erglänzt. Es ist die Zeit, wo in der Natur alles öd und traurig ist und unser Herz sich sehnt nach einem Sonnenstrahl. Diese Winters- und Adventsdämmerung erweckt in uns den Gedan-

ken, wieder von vorn anzufangen, wieder als neu zu erleben, was ewig wiederkehrend an uns vorüberzieht. Wieder als neu zu erleben, was wir in den vergangenen Sommerund Herbstmonaten als etwas Gewohntes hinnahmen: blauen Himmel, grüne Felder und Sonnenschein. Wieder als neu zu erleben, was wir im gewöhnlichen Christenleben alsetwas so ganz Natürliches voraussetzen: daß Christus auf dieWelt gekommen. So blättern wir denn bis auf die ersten Seiten der altgewohnten christlichen Geschichte zurück – und vor uns steht der Vorläufer, Johannes derTäufer! Was soll uns der Mann in der Wüste, mit Kamelhaar bekleidet, wie er Buße predigt, die Pharisäer schilt und das Kommen des Messias verkündet? Der Messias istja gekommen – und ganz anders als er ihn verkündet hat. Der Täufer ist der Adventsprediger für solche, die den Heiland noch nicht kennen. Kann der dann auch unser Adventsprediger sein, die wir von Kindheit auf uns zu dem Heiland bekennen? 41 [Zu der Zeit kamJohannes derTäufer undpredigte in derWüste desjüdischen Landes und sprach: Tut Buße, dasHimmelreich ist nahe herbeigekommen! Und er ist der, von

dem der Prophet Jesaja gesagt hat und gesprochen: »Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet dem Herrn denWeg und machet richtig seine Steige! Er aber, Johannes, hatte ein Kleid von Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Lenden; seine Speise aber war Heuschrecken und wilder Honig. Da ging zu ihm hinaus die Stadt Jerusalem und das ganze jüdische Land und alle Länder an demJordan und ließen sich taufen von ihm imJordan und bekannten ihre Sünden. Als er nun viel Pharisäer und Sadduzäer sah zu seiner Taufe kommen, sprach er zu ihnen: Ihr Otterngezüchte, wer hat denn euch gewiesen, daß ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet? Sehet zu, tut rechtschaffene Frucht der Buße! Denket nur nicht, daß ihr bei euch wollt sagen: Wir haben Abraham zumVater. Ich sage euch: Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken. Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum, welcher Baum nicht gute Frucht bringet, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.]

Die Predigt des Täufers

201

Gewiß, die Reden, die er dort amJordan geredet, sie sind begraben in derVergangenheit wie der, der sie sprach, und die, welche sie hörten. Aber wir sagten vorher, daß in der Adventszeit das Gewohnte uns neu erscheint; sie erweckt auch die Adventsworte desTäufers «Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, bereitet dem Herrn denWeg, tut Buße» für uns zu neuem Leben. «Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.» Man macht sich so seine Gedanken über das Himmelreich auf Erden. Es erscheint uns als etwas gar Fernes, als die Zeit, wo einst die ganze Welt Gott und Christus dient und des Herrn Geist alles beherrscht. Der Advent aber sagt zu den Gedanken, die in die ferne Ewigkeit und über die ganze Welt fliegen wollen: Bleibt daheim – dasHimmelreich ist nahe herbeigekommen. Es ist nahe herbeigekommen – der Zeit nach. Wenn Friede, Liebe undVersöhnung die Herzen der Menschen bewegen und ihr Mund von der Güte Gottes singt, dann öffnen sich die Himmel, und unter dem Lobgesang der Engel senkt sich das Himmelreich wie eine köstliche Dämmerung auf die Erde. Das Himmelreich ist ewige Weihnachten – so spricht der Advent. «DasHimmelreich ist nahe herbeigekommen», nicht nur derZeit, sondern auch dem Orte nach. DerAdvent ist dieZeit, wo desWinters Stürme uns zu Hause im Kreise der Unsrigen festhalten. Es ist die Zeit, in der wir unsvereinigen, unszuerfreuen undLiebe zuüben. Es ist die Zeit, wo das Wort «daheim» – d. h. Umgebensein von Liebe und Friede – seine ganze Herrlichkeit uns enthüllt. Darum predigt das Adventswort «Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen»: DasHimmelreich ist daheim. Und daszweite Täuferwort: «Bereitet dem Herrn denWeg»– es heißt in unseren Adventsgedanken: Bereite dem Herrn den Weg zu deiner Schwelle. Einst hieß es, als es zuerst ausProphetenmund ertönte: «Ebnet die Berge und füllet die Täler» [Jes. 40,4], damit er den Weg zu seinem Volke finde. Nun ist er aber gekommen, er zieht auf unsern Straßen, er wandelt in unsern Städten und Dörfern – und das Adventswort heißt: Bereite dem Herrn denWeg zu deinem Hause, reinige ihn von Steinen, Dornen und Unkraut, damit derWeihnachtsgast zu sich selber spreche: Dort in dem Hause erwartet man mich. Ich brauche euch dieses Bild kaum zu erklären. Injedem Hause bringt das tägliche Leben mit der Zeit etwas Mißstimmung und Kälte, die so langsam aus den hundert Kleinigkeiten des alltäglichen Verkehrs erwachsen. Jeder fühlt von sich selbst, wie er, sei es durch Verdrossenheit, durch Unfriedfertigkeit, durch Selbstsucht, durch Spottlust oder sei es sonst, was es will, an dieser Trübung der wahren Freudigkeit beiträgt. Um sich zu beruhigen, sagt man sich dann gedankenlos: Ich bin nun einmal so, jeder Mensch hat seine Eigenheiten – und denkt nicht, daß so langsam der Friede und das Glück unseres Hauses sich immer mehr

verdunkeln.

202 Predigten desJahres

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Nun kommt aber der Advent und spricht: Bereite dem Herrn den Weg zu deinem Hause. Dieses Wort soll uns zu denken geben, daßjeder von uns sich frage: Tue ich denn, was ich kann an Friedfertigkeit, an Freundlichkeit, an Liebe und an Verträglichkeit, daß in unserm Hause die rechte Freudigkeit herrsche, welche die Herzen weit macht, den Herrn aufzunehmen? «Bereitet dem Herrn denWeg», das will also heißen: Räume allen Schutt und alles Unkraut von demWeg, der zu deinem Hause führt. «Bereitet dem Herrn den Weg» – das will aber auch heißen: Steckt ein Licht an in dem Hause, daß der Herr den Weg finde. In deinem Hause wohnt Glück und Friede und leuchtet als ein Licht in dasDunkel hinaus – wohl dir! Aber da sind Häuser, die sehen unfreundlich, kalt und finster in die Adventsdämmerung hinaus, als erwarteten sie niemand. Not, Gram, Unglück und Hader mit Gott – so heißt dieses Dunkel. Wie vielen einsamen Seelen, die sich in Not und Gram verzehren, scheint dasKommen des Herrn um dieWeihnachtszeit eine leere Rede? Der Herr findet denWeg zu ihrem Herzen nicht, weil es umdüstert ist und kein Weihnachtsglanz ihm denWeg zu diesem Hause zeigt. Darum spricht der Advent zu uns: «Bereitet dem Herrn denWeg», d. h. geht zu denen, die an der Barmherzigkeit verzweifeln, und lehrt sie, daß es Barmherzigkeit gibt. Geht zu denen, die an der Liebe irre geworden sind – und erzeigt ihnen Liebe. Geht zu denen, deren Herz sich in Gram und Hader gegen den Herrn vergeht – und macht dieses Herz stille – damit durch euch diese Herzen für dieWeihnachtsbotschaft von der Liebe und Güte desHerrn empfänglich werden. Bereitet dem Herrn den Weg zum Herzen derer, die um euch sind; bereitet dem Herrn den Weg zum Herzen der Armen und Leidenden; bereitet dem Herrn den Weg zu eurem eigenen Herzen. Solches geschieht durch Buße. Darum dasdritte Adventswort: «Tut Buße.» Es ist mir, als ob wir bei Buße immer ausschließlich an die Erschütterung und Zerknirschung denken, die uns erfaßt, wenn ein tiefer Fall uns aus dem Dahinleben aufschreckt und uns zeigt, wie weit wir von Gott entfernt sind. Dabei vergessen wir, daß die Buße nicht nur ausdem tiefen Fall, sondern auch aus der stillen Einkehr bei uns selbst hervorgehen soll. Solches ist aber die Buße, die derAdvent predigt. In unser alltägliches Leben ruft er hinein: Der Herr kommt. Nicht der Herr des Gerichts, von dem die alten Evangelien in der Adventszeit reden, sondern der Herr, der in unsern Herzen wohnen und sie mit seiner Seligkeit erfüllen will. Nun halte, o Menschenherz, heimliche Zwiesprache mit dir selbst. Bist du liebeerfüllt, daß der Herr der Liebe in dir einziehen kann? Bist du friedeerfüllt, daß der Herr des Friedens in dir einkehren kann? Bist du rein? Bist du fromm? In dieser Zwiesprache mit sich selbst soll sich unser Herz in Advents-

Freunde

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buße demütigen, um sich dann aufzurichten an dem schönen, betenden Adventsvers:

«Wie soll ich dich empfangen, und wie begegnen dir, O aller Welt Verlangen, o meiner Seele Zier? O Jesu, Jesu, setze mir selbst die Leuchte bei, Damit, was dich ergötze, mir kund und wissend sei.»|42¡ Es ist das Eigentümliche der menschlichen Natur, daß sie sich an das Herrlichste gewöhnt, und dieses Herrliche in unserm Herzen verblaßt wie ein wundervolles Bild, dasimmer in der Sonne hängt. So war es mit den Zeitgenossen desTäufers. Sie nahmen es als etwas Selbstverständliches hin, daß alle, die von Abraham abstammten, zu den Auserwählten Gottes gehörten. Darüber vergaßen sie, daß diese wunderbare Berufung des Herrn in jedem Herzen lebendig werden müsse. Darum muß ihnen der Täufer sagen – was ihnen wie Gotteslästerung klingt – daß der Herr aus Steinen selbst sich ein auserwähltes Volk erwählen könne. Unser Herz sagt uns, daß auch wir Christen unsere Berufung, unseren Stand nicht immer in seiner ganzen Herrlichkeit schätzen. Aber darin ist der neue Bund höher als der alte, daß dort die Feste nur an das erinnerten, was Gott einst an seinem Volke getan, während bei uns in der festlichen Erwartung der Adventszeit das Gewohnte uns als neu erscheint. «Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, bereitet dem Herrn denWeg, tut Buße» – mögen diese Worte desVorläufers in der heiligen Adventszeit neu und lebend an unser Herz herantreten, daß Christenglaube, Christenhoffen und Christenliebe in neuem Frühling in uns erstehen mögen. Gott segne diese Adventszeit an unsern Herzen.

Freitag, 21. Dezember 1900, St. Nicolai Ansprache unter demWeihnachtsbaum der Kinder der Nicolaischule

[Ohne Text: Freude]

Es kommt mir eigentümlich vor, die Kirche mit Kindern statt mit großen Personen angefüllt zu sehen und zu Kindern in der Kirche zu reden. Wovon soll ich euch reden? Ich will euch nicht die Weihnachtsgeschichte erzählen und erklären – ihr kennt sieja alle fast Wort für Wort auswendig. Und dann – ihr seidja nicht hier, um etwas zu lernen, sondern um euch zu freuen. 42 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 1.]

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Worüber freut ihr euch denn? Die ganz Kleinen freuen sich der flimmernden Lichter und der Gaben. Die Größeren wissen es schon, daß Lichterglanz und Gaben allein die Weihnachtsfreude auf Erden nicht ausmachen, sondern daß sie nur äußerliche Zeichen sind für das Licht, das über die Welt aufgegangen ist durch die Geburt des Heilands, und die Gabe, die uns der liebe Gott in diesem Kindlein geschenkt. So freut euch denn von ganzem Herzen! Aber Weihnachten ist nicht nur das Fest, wo wir uns freuen sollen, sondern wo wir auch andern sollen Freude zu machen suchen. Wir verstehen, was das heißen soll, denkt ihr. Wir sollen von dem, was wir erhalten, auch andern, die vielleicht nicht beschenkt worden sind, mitteilen, damit sie sich auch freuen. – Ganz recht! Lernt, liebe Kinder, gerade anWeihnachten, daß die höchste Freude in dem Geben und Mitteilen besteht; dasistja dasSchöne amWeihnachtsfest. Aber ich meine, ihr sollt noch andere erfreuen, eure Eltern und Lehrer, die sich euer annehmen – und diejetzt rings um euch herumsitzen und sich freuen über eure Freude. Sie möchten nicht nur jetzt über euch froh sein, sondern auch wenn die Weihnachtszeit schon vergangen ist. Siehe, die Mutter Jesu hatte große Freude an ihrem Kindlein – nicht nur am heiligen Abend – sondern auch fernerhin, als es größer wurde. Und warum? Weil es «zunahm an Alter, Weisheit und Gnade vor Gott und den Menschen» [Lk. 2,52]. Solches möchten auch eure Eltern und eure Lehrer an euch erleben. Darum nehmt es euch vor, gerade in der Zeit der Weihnachten, in der Zukunft diejenigen, die euch jetzt erfreuen, eure Eltern und Lehrer, eurerseits wieder zu erfreuen, indem ihr zunehmt an Fleiß, an Gehorsam und allen Tugenden. Schreibt euch diesen Vorsatz jetzt unter dem Lichterglanz ins Herz und bewahrt ihn darin dasganze Jahr – solange ihr an Weihnachten zurückdenkt.

Advent

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Morgenpredigt Sonntag, 23. Dezember 1900, St. Nicolai

Lk. 1,68–80: [Advent]|43¡ DasWeihnachtsfest steht vor derTür. Bald singen wir: « Die Völker haben dein geharrt, bis daß die Zeit erfüllet ward; da sandte Gott von seinem Thron dasHeil derWelt, dich, seinen Sohn.»|44¡ «Die Völker haben dein geharrt» – es ist mir immer, als ob es in dieser Zeit lebendig würde um die Gruft der Patriarchen und Propheten und sie aus dem Grab erständen, um mit uns zu feiern, was sie im Geiste geschaut und durch Verheißung empfangen. Und trotzdem fragen wir uns dann wieder: Ist denn wirklich Christus die Erfüllung der Verheißung? Er ist so ganz anders, als die Weissagungen ihn schildern? Diese Frage drängt sich uns gerade heute durch unser Textwort noch stärker auf als sonst. Der Vater Johannes desTäufers sieht in den begeisterten, weissagenden Worten, die wir soeben verlesen haben, die Erlösung des Volkes Israel heraufziehen und seinen Sohn, wie er die Maßen dem Heiland zuführt. – Und was ist eingetroffen? DasVolk hat den Heiland verworfen und gekreuzigt, undJohannes der Täufer wurde zuletzt selber an ihm irre, weil Jesus so ganz anders war, als er und dasVolk sich den Verheißenen vorstellten. Wenn wir nun Kinder wären, würden wir wohl irre werden, daß das, was verheißen, nicht in Erfüllung gegangen, und würden uns darüber betrüben. Wären wir Spötter, so hätten wir wohl noch unsern Hohn damit, wie man es so oft hört, daß Gott jahrhundertelang ein 43 [Gelobet sei der Herr, der Gott Israels! denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet ein Horn des Heils in dem Hause seines Dieners David, wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten: daß er uns errettete von unsern Feinden und von der Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben, daß wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit, die ihm gefällig ist. Und du, Kindlein, wirst ein Prophet desHöchsten heißen. Du wirst vor dem Herrn hergehen, daß du seinen Weg bereitest und Erkenntnis des Heil gebest seinem Volk, die da ist in Vergebung ihrer Sünden; durch die herzliche Barmherzigkeit unsres Gottes, durch welche uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, auf daß er erscheine denen, die da sitzen in Finsternis und Schatten desTodes, und richte unsere Füße auf denWeg des Friedens. Und das Kindlein wuchs und ward stark im Geist; und war in der Wüste, bis daß er sollte hervortreten vor das Volk Israel.]

44 [Christian Fürchtegott Gellert: Dies ist derTag, den Gott gemacht, Str. 2.]

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Volk durch Propheten auf diesen Heiland vorbereitet habe, und zwar so, daß, als er kam, dasVolk ihn nicht annahm. Nun sind wir aber weder Kinder noch Spötter, sondern erwachsene Christen, die den Fragen, so an uns herantreten, offen und ernst ins Auge schauen. Das wollen wirjetzt tun. Was sind denn Weissagungen und Verheißungen? Es sind die Wege und Absichten Gottes mit den Menschen, wie er sie seinen Auserwählten im Geist kundtat. Es liegt aber in jeder Weissagung etwas wie ein Gleichnis. Gottes letzte Absichten können ja von unserm menschlichen Verstande nie rein begriffen oder in menschlicher Sprache voll wiedergegeben werden. Wenn daher erleuchtete Männer von Gottes Wegen in der Zukunft reden, dann bekommen Gottes Gedanken in ihrem Munde eine Sprache und eine Ausdrucksweise, daß dasVolk, zu dem sie reden, sie verstehe und sich an ihren Worten aufrichte. Geht es uns nicht gerade so, wenn wir zu Kindern sprechen? Wir sagen ihnen die Dinge in ihrer Sprache und in ihren Bildern, weil sie dieselben ja anders nicht begreifen würden – und wenn es dasTiefste und

Wahrste wäre. So reden die Propheten zum Volk, das in der Wüste darbt, vom Land, da Milch und Honig fließt. Dem Königreich Juda, das unter dem Ansturm der heidnischen Mächte zu unterliegen droht, verheißt einJesaja die Wiederaufrichtung des Hauses David. Unter den ersten Christen, die trauern, daß der Herr so schnell von ihnen geschieden ist, lebt dasWort von seiner baldigen Wiederkunft. Im Mittelalter, wo dasChristentum zu verrohen droht, schöpfen edle Geister wie ein Bernhard von Clairvaux ausdem Gedanken eines sichtbaren Reiches Gottes auf Erden die Kraft, die Kirche neu zu ordnen und neu zu beleben. Und wenn nun das verheißene Land, statt dem Volk ein Dasein des Genusses zu bieten, die Arbeit lehrte, wenn das herrliche Reich Davids nicht aufgerichtet wurde, wenn diejenigen, welche auf dieWiederkunft des Herrn harrten, ins Grab sanken, ehe die gewaltige Stunde schlug, wenn diejenigen, die an einem sichtbaren Gottesreich auf Erden arbeiteten, nicht zum Ziele kommen konnten – werden wir dann sagen, daß dieVerheißungen undWeissagungen, die ihnen vorschwebten, eitel und nichtig gewesen seien? – Nein, sondern an diesen Weissagungen haben jene Geschlechter und Männer, die für das Hohe begeistert waren, sich aufgerichtet. Ohne diese Verheißungen wären sie, statt für ihr Werk zu leben, zu streiten und zu leiden, kraftlos in den Staub gesunken. Wie sollen wir denn also Weissagungen undVerheißungen verstehen? Als die Gerüste an dem gewaltigen Bau, den Gott auf Erden unter den Menschen aufrichtet. Die Jahrhunderte der Geschichte und der Entwicklung der Menschheit sind die Bausteine daran. Die Menschen aber, die diesen Bau mit aufführen, stehen auf dem Gerüst – denn darauf fin-

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den sie Halt, um die Arbeit auszurichten, die ihnen Gott, der hohe Baumeister, aufgetragen hat. Sie verstehen den Plan des Baues nicht: Sie sehen nur ihr Gerüst und das Stückchen Mauer, an dem sie arbeiten. Wenn aber eine Reihe von Geschlechtern ins Grab gesunken, dann ist der Bau über das Gerüst hinausgewachsen – und die nachkommenden Generationen sehen das Stück, an dem jene gearbeitet haben, frei eingefügt in die erhabene Einheit des Baues. So geht es uns mit den alttestamentlichen Verheißungen: Wir erkennen sie ganz anders als die, zu denen sie gesprochen – ja als die, welche sie geredet! Es ist daher töricht, darum zu streiten, ob die Verheißungen wahr oder falsch sind, je nachdem sie eingetroffen sind oder nicht; denn es handelt sich hier nicht um eine menschliche «Wahrheit», sondern um göttliche. Wir Menschen nennen etwas wahr, wenn wir sagen «Es erfüllt sich», «estrifft ein». Das göttliche «wahr» dagegen will heißen, daß etwas Gott zum Mittel gedient hat, um die Menschen dorthin zu führen, wo er mit ihnen hinauswill, ob es sich ereignet hat oder nicht. Wo streiten denn zwei Menschen darum, ob das Gerüst zum Gebäude gehört oder nicht? Sie wissen wohl, es gehört nicht zum Bau, weil es nach der Vollendung verschwindet – und andererseits gehört es dazu, weil ohne das Gerüst der Bau gar nicht hätte aufgeführt werden können. So sind auch dieVerheißungen der Propheten in ihrem innersten Wesen wahr, weil sie das Kommen des Heilands vorbereitet haben. Es will mir scheinen, daßje mehr ich in die verwunderliche Geschichte desVolkes Israel eindringe, je mehr wird es mir klar, es mußte alles so kommen, damit aus diesem Volke ein Mann auferstehen könne, der so denkt und redet, wieJesus es getan. Darum ist dasWort: «Jesus ist die Erfüllung derVerheißungen» (dieses Weihnachtswort) wahr, in innerstem Grunde wahr, von den ersten Zeiten des Christentums an bis in die kommenden Jahrtausende. Ja, für uns, die wir vom Buchstaben uns loslösend in das Innerste der Schrift hineinzublicken suchen, wird diese Wahrheit immer überwältigender, daß wir zuletzt ausrufen wie der Apostel Paulus: «O welch eine Tiefe, beides, des Reichtums und der Erkenntnis Gottes! Wie gar unerforschlich sind seine Wege und gar unergründlich seine Gerichte!» [Röm. 11,33]. Wir wandelten bis jetzt auf einer Höhe, wo die Vergangenheit und die Geschichte derVölker im Lichte desChristenglaubens vor uns ausgebreitet lag wie eine weithin erleuchtete Ebene. Nun wollen wir aber in unser Land und in unsere Zeit zurückkehren und uns fragen: Wieso sind denn die alttestamentlichen Verheißungen in Christus für unserfüllt? Hast du schon einmal an einem Feste alle Glocken von allen Kirchen unserer ehrwürdigen Stadt Straßburg zusammen erklingen hören? Dann achte, wenn sie verhallt sind, schwebt noch ein unfaßbarer und unbeschreiblicher Ton in der Luft, der keiner Glocke entstammt, in dem

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sie aber alle zusammen aufgehen. So ist es mit den alttestamentlichen Propheten. Als ihre weissagenden und verheißenden Stimmen verhallt waren, da zitterte ein Wort nach, das keiner von ihnen so ausgesprochen, und das doch die höchste Harmonie ihrer Rede ist: Ihr sollt mein Volk sein. In der Rede des Zacharias, die der Nachhall aller alttestamentlichen Propheten ist, klingt dieses Wort nach, wenn er das Heil, das Israel widerfahren, in denWorten ausdrückt: «daß wir unserm Gott dienen ohne Furcht unser Leben lang» und »daß wir unserm Gott dienen in Heiligkeit, die ihm wohlgefällig ist». Dieses Wort ist in Christus erfüllt in doppelter Weise. Zunächst durch sein Leben. Denn dieses war ein Dienen Gottes ohne Furcht bis in den Tod und zugleich ein Dienen Gottes in Heiligkeit, die ihm wohlgefällig ist. Weil diese Verheißung sich in Christi Leben erfüllt hat, ist sie aber auch für unsvollendet – denn durch sein Dasein unddurch seine Rede hat Jesus sie mitten hineingezogen in den Kreis unseres Lebens. Versteht mich recht, wasich sagen will. JedeVerheißung enthält einen Trost undein Gebot. Aber beides hatten die alten Propheten fern hinweggerückt vom Leben derjenigen, zuwelchen sie sprachen, als ob erst eine neueWelt und eine neue Menschheit kommen müßte, damit man ohne Furcht vor den Mächten, die über unserm Schicksal walten, dem Herrn dienen und ohne denVersuchungen zuunterliegen, vorihm heilig wandeln könnte. Und nun blieb die Welt, wie sie war, und das Menschenherz, wie es war – und doch erstand durch Christus dasVolk Gottes, dasihm diente ohne Furcht und in Heiligkeit. Zuerst stellt Jesus das Gott Dienen mitten in unser tägliches Leben hinein. Es ist nicht eine geträumte, ewige Anbetung vor Gott, sondern es ist, so hat er uns gezeigt, die Erfüllung unseres Lebens und Berufes als einer Pflicht, an die uns Gott gesetzt. Dieses Dienen soll sein ohne Furcht unser Leben lang. Ohne Furcht! Noch toben in der Welt und in unserm Innern die gottlosen Mächte – aber er hat uns gelehrt, gläubig in täglichem Gebet zu sprechen: «Dein Name werde geheiligt» [Mt. 6,9]. Ohne Furcht! Noch liegt das Himmlische mit dem Irdischen im Kampf. Wir aber erheben uns aus diesem Getümmel, indem wir sprechen: «Dein Reich komme» [Mt. 6,10]. Ohne Furcht! Noch schwebt Angst und Unglück über uns, und Leid sucht uns heim. Doch dringen wir durch Nacht zum Licht, wenn unsere Seele Ruhe findet in der Bitte: «Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden» [Mt. 6,10]. Ohne Furcht! Noch lasten auf uns die Sorgen des irdischen Daseins und des Leibes Notdurft. Aber wir lassen sie dahinter, wenn wir beten: «Unser täglich Brot gib uns heute» [Mt. 6,11].

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So dienen wir durch Christus dem Herrn als sein Volk ohne Furcht unser Leben lang. Darin ist der Trost der Verheißungen an uns in Erfüllung gegangen. In diesem Trost suchen wir die Kraft, auch das Gebot derVerheißung zu erfüllen: Daß wir dem Herrn dienen als sein Volk in

Heiligkeit. Auch dieses alttestamentliche Wort hat Jesus aus der Zukunft in das tägliche Leben gestellt. Heiligkeit war vor ihm ein Heraustreten aus dem irdischen Wirken in der Erwartung einer Zeit, wo die Versuchung nicht mehr sein würde und wir nicht mehr fehlen können. Jesus aber lehrt uns, daß wir dem Herrn dienen müssen in Heiligkeit in dem täglichen Leben – den Kampf um die Heiligkeit. In Heiligkeit: Noch herrscht Sünde und Schuld auf Erden. Wir aber entfliehen ihrem Bann und finden neue Kraft und ein neues Herz, wenn wir vor Gott gebeugt zu ihm sprechen: «Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern» [Mt. 6,12]. In Heiligkeit: Noch lauert die Versuchung, und noch drängt das Böse sich an uns heran. Wir aber wissen, daß Gottes Geist mächtiger ist als die Versuchung und das Böse, denn wir beten: «Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen» [Mt. 6,13]. Weit ist der Weg, den wir zurückgelegt haben von der Zeit derVäter und Propheten bis zu derjenigen, in der unser stilles Dasein sich abspielt. Aber dieser weite Weg ist uns mit all seinen Krümmungen kein Rätsel, sondern wir sehen, wie Gott die Schritte der Menschheit darauf gelenkt hat, damit er sie zum Heil führe, dessen wir uns in jedem Vaterunser getrösten dürfen, dessentwegen wir mit den Weihnachtsglocken gläubigen Herzens hinausgingen in dieWelt: «Was der alten Väter Schar höchster Wunsch und Sehnen war, und was sie geprophezeit, ist erfüllt nach Herrlichkeit.»|45¡

45 [Heinrich Held: Gott sei Dank durch alleWelt, Str. 2.]

IV. Predigten desJahres 1901

Morgenpredigt Neujahr Dienstag, 1.Januar 1901, St. Nicolai

Ps.62,2: Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft

Wir sind auf unserer irdischen Wanderung wiederum an einem Meilenstein angelangt, wo wir einen Augenblick verweilen, um vor- und rückwärts zu blicken, ehe wir denWeg fortsetzen. Im Hinblick auf den gemeinsam zurückgelegten Weg und die Strecke, die sie noch miteinander gehen werden, schließen sich die Menschen, welche das Leben zusammengeführt hat, heute enger aneinander. Das ist der Gedanke, welcher sich in dem Neujahrswunsch ausdrückt. Wir wissen ja alle, unsere Wünsche vermögen nichts – waswir wünschen, steht nicht in unserer Macht. Aber hinter den hergebrachten Worten von Gottes Segen, Gesundheit, Glück, langes Leben, da bergen sich andere Gedanken, die demWunsch erst die rechte Weihe geben. Wir wollen treu miteinander wandeln, wir wollen uns ertragen, wir wollen unsverzeihen, die Freude miteinander teilen, dasLeid miteinander dulden, solange Gott uns hier auf Erden beisammen läßt, damit nicht einst, wenn der Tod uns auseinanderreißt, in die Trauer sich noch der Vorwurf mische, daß wir uns nicht das waren, was wir hätten füreinander sein sollen. Das sind die Neujahrsgedanken der Ehegatten. In dem Neujahrswunsch der Kinder liegt etwas von Dankbarkeit und ein Gelöbnis an die Eltern; undwennVater und Mutter ihr Kind an dem heutigen Tag begrüßen, enthalten ihre Worte ein inneres Gebet an Gott, er möge dieses Kind auf seinem Weg leiten und behüten. So vereinigen wir uns heute mit denen, die gemeinsam mit uns die Lebensstraße ziehen. Und doch – damit allein ist unser Herz noch nicht gerüstet und gestärkt zur neuen Wanderung, sondern es muß mit sich selbst ins klare kommen. Darum seid ihr dem Klang der Glocken gefolgt, um hier in diesem Gotteshaus eine Stunde der Sammlung zu verleben, ehe ihr wieder ins tägliche Leben hinaustretet. So verschieden wir sind, dieses selbe Bedürfnis hat uns heute hier zusammengeführt, ob wir geschützt vor Not und Sorgen dem neuen Jahr entgegensehen, oder ob wir in stetem Kampf mit dem Dasein uns fragen müssen: Wird jeder kommende Tag dieses Jahres uns auch das

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tägliche Brot bieten? In demselben Bedürfnis finden sich hier die zusammen, welche zu Hause umgeben sind von einer lieben Familie, und die, welche allein und vereinsamt sind, die, an welchen der Unglücksund Todesengel vorübergegangen ist, und die, welche ihre Hoffnung und ihre Liebe draußen auf dem Kirchhof begraben haben, die, welche bewahrt wurden vor Versuchung und Gefahr, und die, welche heute im Rückblick auf das alte Jahr zu ihrem himmlischen Vater sprechen müssen: «Ich bin nicht wert, daß ich dein Sohn heiße» [Lk. 15,21]. Wir tragen alle noch die Bürde des vergangenen Jahres auf unserem Herzen; ehe wir aber die neue Last auf uns nehmen, laßt uns die alte Bürde abwälzen. Ehe dasneue Treiben uns erfaßt, soll unser Herz ruhig werden, daß wir mit dem Psalmisten sprechen können: «Meine Seele ist stille zu Gott.» Wie ringen wir uns nun von der Vergangenheit los, um neu gestärkt der Zukunft entgegenzugehen? Indem wir zunächst Gott danken für alles Gute, waser uns imJahre erwiesen. An den großen Wendepunkten unseres Lebens vergessen wir oft gerade den Dank gegen Gott, weil die traurigen Erinnerungen auf uns einstürmen. Und doch, es ist kein Dasein so traurig, daß darin nicht auch die Liebe und Güte Gottes zu lesen wäre. Und gerade die Mühseligen und Beladenen, sie wissen mehr von der Liebe und Güte Gottes zu sagen als die, welche die Sorge nicht kennen. Darum, vergeßt die Dankbarkeit nicht, daß die Seele stille werde zu Gott in Freudigkeit. So wird sie bereitet, zur Ruhe zu kommen von dem Schmerz und den Leiden dieses Jahres. Ihr, die ihr an Gräbern weint, ihr, die ihr vom Unglück heimgesucht seid, geht nicht in das neue Jahr, ehe vorher die Frage: Warum mußte das alles uns treffen? von euren Lippen getan zu haben. Sprecht euch aus mit Gott, beugt euch unter seinen Vaterwillen als die, welche jetzt nicht verstehen, was er mit euch will, die es aber einst verstehen werden – so wird euer Herz stille werden zu Gott in der Ergebung. «Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, des Herrn Name sei gelobt» in Ewigkeit [Hi. 1,21]! Mit Ergebung aber allein kann der Mensch dieTrauer nicht überwinden. Die Ergebung wird erst vollendet durch die Erkenntnis, daß nur durch Leid unsere Seele geläutert wird. Nimm an, dieses Jahr hätte dir nur glückliche Tage gebracht. Meinst du, daß deine Last am heutigen Tag geringer wäre? Nein, – nur schwerer, ohne daß du es erkenntest. Denn in dem Glück hätte dein Herz verlernt, Gott zu suchen, höher zu streben, zulieben, mitzuleiden und zuverzeihen. Darum wollen wir nicht stehen bleiben bei einer Ergebung, wie sie in den Worten: «Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, des Herrn Name sei gelobt» in Ewigkeit ausgedrückt ist, sondern von dieser entsagenden Ergebung wollen wir fortschreiten zur höheren Ergebung, deren Wort ist: «Der Herr hat alles wohl gemacht» [Mk. 7,37]. Das Leid

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brachte uns Tränen – Gott aber hat diese Tränen an unserer Seele gesegnet. Ein Herz, dasso stille in dem Herrn geworden ist, wird auch eines können, wasuns sonst so schwer fällt: verzeihen. Nimm nicht Bitternis und Groll ausdem vergangenen Jahr ins neue. Bedenke, wir alle haben hier – nicht nur zu verzeihen – sondern auch nötig, daß uns verziehen werde, nicht nur von dem himmlischen Vater, sondern auch von den Menschen. Ein Herz, das nicht verzeihen kann, wird keinen Frieden finden – denn eskann nicht zuGott beten: Befreie mich von Sünde und Schuld. Und gerade dieses Wort von der Vergebung der Sünden ist nötig und kann allein unsere Seele aufrichten an diesem Wendepunkt zweier Jahre. Ich sagte vorhin, daß wohl unter uns sind, die am heutigen Tage sprechen müssen: «Ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße.» Rede ich aber da nicht zu uns allen? Wer von uns kann sagen: «Ich habe den guten Kampf gekämpft» [II Tim. 4,7]? Müssen nicht auch die, welche dem hohen Ziele nachstreben – wenn sie auf diesJahr zurückblicken, neben den wenigen Stunden, wo sie sich von einer reinen Luft umweht fühlten, so mancher Stunde gedenken, die sie aus ihrem Gedächtnis auslöschen möchten, ohne es zu können? Versuche es nicht, sie auszulöschen; suche nicht Vergessen, sondern Vergebung. Tritt vor Gott hin im Gebet und demütige dich vor ihm und glaube gewiß, daß dir die Schuld dieses Jahres von deinem Herzen getan wird und deine Seele stille wird zu Gott in der Vergebung der Sünden – dann nimm mit neuem Mut den Kampf mit der Sünde auf. Wohl wird die Erinnerung an die Schuld dieses Jahres in eurer Seele fortleben – aber sie wird euch nicht brennen, sondern sie wird euch immer sagen: So tief warst du gefallen, und Gott hat dir verziehen, daß du ein neues Leben beginnen darfst. Nun ist dasHerz bereit, nachdem es in der Dankbarkeit, in der Ergebung, im Verzeihen und in der Vergebung der Sünden Ruhe gefunden hat, zur neuen Wanderung. Ehe du aber den Fuß weitersetzest, beuge dich nieder zur Erde. Dort auf demWeg, den du gewandert durch Sorge und Leid, zwischen Dornen und Steinen, blüht eine Wunderblume. Pflücke sie und stecke sie an deinen Busen, daß ihr Duft dich auf der ferneren Wanderung erquicke. Sie heißt Hoffnung. Es ist keiner unter uns, der in diesem Jahr nicht Sorge und Not gehabt hat. Aber wir alle, wenn wir darauf zurückblicken, müssen uns sagen, daß eine höhere Macht uns durch alle Fährnisse leitete und begleitete und daß uns eine Hand erfaßte, gerade dann, wenn wir zu ertrinken wähnten. «Der alte Gott lebt noch.»¦1¿ Mag dies Jahr in seinem Schoße bergen, wases wolle, Unglück, Trübsal, Kummer, Elend, jetzt, wo wir ihm ent1 [Ernst Moritz Arndt: Waswillst du dich betrüben, Str. 1.]

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gegengehen, wissen wir schon, daß, wenn wir es durchwandert, wir freudig sprechen können: Gott hat alles wohl hinausgeführt. «Wer nur den lieben Gott läßt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten in aller Not undTraurigkeit. Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut.»¦2¿ So wollen wir mit Freudigkeit die Wanderung beginnen – denn wer nicht freudig auszieht, kann auch nicht freudig wandern. Und doch — unsere Freudigkeit ist keine vollkommene. DasVertrauen zu Gott haben wir wohl, aber dasVertrauen zu uns selbst ist bei uns erschüttert. Wir denken daran, wie wir jedesmal das neue Jahr mit guten Vorsätzen begonnen haben, anjedem Jahresanfang sprachen: Es muß anders mit uns werden, und wie dann bald die Kraft in uns erlahmte und wir in die alte Alltäglichkeit zurücksanken und unsere Vorsätze – Vorsätze blieben. Woran liegt das? Wir wollen uns nicht selbst etwas einreden von der Schwäche des menschlichen Herzens, sondern uns fragen, ob es nicht in unsern Vorsätzen selbst liegt, daß wir bald matt werden. Wenn ich unsere Herzen recht kenne, so will mir bedünken, schon die ersten Schritte auf der neuen Bahn sind bei uns immer verfehlt, und darum geht es trotz unseres guten Willens nicht weiterfort. Wir halten uns immer unsere Vorsätze vor, aber wir setzen sie nicht um in die Kleinigkeiten destäglichen und deshäuslichen Lebens. Wir haben denVorsatz, friedfertig zu werden, aber wir lassen die ersten Stunden undTage desJahres vergehen, ohne in den kleinen Dingen des häuslichen Lebens diese Friedfertigkeit zu üben – es scheint uns zu alltäglich, zu geringfügig neben der inneren Umgestaltung, die uns vorschwebt. Darum wollen wir es uns angelegen sein lassen, gleich heute, in den ersten Tagen, dieVorsätze, diejeder von uns im Herzen trägt, lebendig werden zu lassen und so Pfennig für Pfennig dasVermögen, das wir in diesem Jahr erwerben wollen, anzusammeln. Aber an den ersten Schritten liegt es nicht allein, wenn wir so schnell erlahmen, sondern vor allem daran, daß unsere Vorsätze in unserm Herzen nicht fest gewurzelt sind. Dann geht es ihnen wie der Saat, die schnell aufging; da aber die Sonne kam, verdorrte sie, weil sie keine Wurzeln hatte [Mt. 13,5 f.]. An unserer guten, freudigen Absicht fehlt es nicht, aber am Gebet. Durch das Gebet allein senken sich unsere Vorsätze tief in unsere Seele, durch das Gebet allein bekommen wir Kraft, sie auszuführen. Darum laßt es uns bedenken: Der erste Tag desJahres ist auch ein Gebetstag. Sucht heute Zeit – und wäre es nur eine Viertelstunde, bevor ihr die Augen schließt, um mit eurem Gott allein Kraft zu 2 [Georg Neumark: Wer nur den lieben Gott läßt walten, Str. 1.]

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fassen für die neue Wanderung, daß von diesem ersten Tag ein Segen ausgehe auf die andern. «Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft» – dieses Wort leite uns im neuen Jahr. Gott aber möge geben, daß dieses neue Jahr in unserer

irdischen Wallfahrt uns der himmlischen Vollendung näher bringe. In diesem höchsten Neujahrswunsch laßt uns unsere Herzen vereinigen, bevor wir zur täglichen Arbeit und zur Pflicht, die uns ruft, auseinandergehen.

Nachmittagspredigt Sonntag, 6. Januar 1901, St. Nicolai¦3¿

Mt. 25,14–30: Gleichnis von den anvertrauten

Pfunden¦4¿

Nun stehen wir schon im neuen Jahr drin, aber unsere Gedanken sind noch nicht zur Ruh gekommen. DasLeben geht wieder sein gewohntes Geleise, und doch hat unser Sinn noch nicht aufgehört zu fragen: Was soll denn eigentlich dieses Leben, von dem wir einen neuen Abschnitt beginnen, bedeuten? Wasist denn der Sinn aller dieser Müh und Arbeit 3 [R] Je n’ai pasle temps dete copier ce sermon comme je l’ai fait et tenu. 4 [Gleichwie ein Mensch, der über Land zog, rief seine Knechte undtat ihnen seine Güter aus; und einem gab er fünf Zentner, dem andern zwei, dem dritten einen, einem jeden nach seinem Vermögen, und zog bald hinweg. Da ging der hin, der fünf Zentner empfangen hatte, und handelte mit ihnen und gewann andere fünf Zentner. Desgleichen, der zwei Zentner empfangen hatte, gewann auch zwei andere. Der aber einen empfangen hatte, ging hin und machte eine Grube in die Erde undverbarg seines Herrn Geld.

Über eine lange Zeit kam der Herr dieser Knechte und hielt Rechenschaft mit ihnen. Da trat herzu, der fünf Zentner empfangen hatte, und legte andere fünf Zentner dar und sprach: Herr, du hast mir fünf Zentner ausgetan; siehe da, ich habe damit andere fünf Zentner gewonnen. Da sprach sein Herr zu ihm: Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der zwei Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, du hast mir zwei Zentner ausgetan; siehe da, ich habe mit ihnen zwei andere gewonnen. Sein Herr sprach zu ihm: Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der einen Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, ich wußte, daß du ein harter Mann bist: du schneidest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, dadu nicht gestreut hast; undfürchtete mich, ging hin undverbarg deinen Zentner in die Erde. Siehe, da hast du das Deine. Sein Herr aber antwortete und sprach zu ihm: Du Schalk undfauler Knecht! Wußtest du, daßich schneide, daich nicht gesät habe, und sammle, da ich nicht gestreut habe? so solltest du mein Geld zu denWechslern getan haben, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine zu mir genommen mit Zinsen. Darum nehmt von ihm den Zentner und gebt es dem, der zehn Zentner hat. Denn wer da hat, demwird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. Und den unnützen Knecht werft in die Finsternis hinaus; dawird sein Heulen undZähneklappen.]

Gleichnis von den anvertrauten Pfunden

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und dieser Leiden und Freuden? Es will mir scheinen, als nähmen es die einen mit dem Dasein zu schwer, die andern zu leicht. Darum wollen wir jetzt unsern Geist aufrichten an einem Gleichnis des Herrn, das wir soeben verlesen haben, und dort die rechten Gedanken finden, um mit neuer Hoffnung, neuem Ernst und neuem Mut an die Arbeit zu gehen.¦5¿

Der Herr zieht über Land und tut den Knechten seine Güter aus. Ihre ganze Arbeit besteht also im Verwalten der «Güter des Herrn». Das fällt uns schwer zu fassen. Also alles auf Erden sind Güter des Herrn, und alles, was wir tun, sollen wir in dem Sinne tun, als wäre es ein Arbeiten im Dienste Gottes? Ja, für manche mag das wohl zutreffen, für einen Pfarrer, der predigt, für einen Lehrer, der die Kinder zu sittlichen Menschen und Christen heranzieht, für einen Missionar, aber wenn ich meiner täglichen Arbeit nachgehe, wenn ich im Geschäft, in der Fabrik tätig bin, wenn ich am Waschzuber stehe, in meiner Haushaltung hantiere, wie kann ich mir denn denken, daß dasim Dienste Gottes geschehe?

Und doch, es ist so: Die Erde und ihre Güter sind des Herrn, und jede Arbeit hienieden geschieht im Dienste desHerrn. Für wen arbeitest du denn? Für die Deinen, um deinem Mann ein Heim zu bereiten, um deine Kinder ehrlich erziehen zu können, um deiner Herrschaft redlich zu dienen, und wenn du allein bist, um dich selbst rechtschaffen durch die Welt zu bringen. Sieh, was aber auf Erden geschieht für den rechtschaffenen Wandel, für dasEhrliche, dasRedliche, dasalles geschieht im Dienste des Herrn. Und wer in seinem täglichen Berufe treu erfunden wird, der arbeitet gerade so gut für den Herrn als ein Missionar, ein Pfarrer, eine Diakonisse oder ein Lehrer. Denn in dem großen Haushalt Gottes, da gibt es gar verschiedene Dienste, und Gott stellt jeden da an, wo er will, daß er wirkt. Darum heißt es: Der Herr teilt den Knechten dieTalente nicht so aus, daß er einem jeden gleichviel gibt, sondern einemjeden nach seinem Vermögen. Darin liegt ein doppelter Trost. Der erste wird unsdurch dasFest, daswir heute feiern, nahegebracht. Heute feiern wir nämlich das Fest der Mission. Es will uns da alle ein Gefühl der Beschämung überkommen, mich, der ich euch hier auf dieser Kanzel in Frieden dasWort Gottes verkünden kann, euch, die ihr daheim tagtäglich euren Geschäften nachgehen dürft, wenn wir heute derer gedenken, die in ferner, wilder Gegend unter stetiger Gefahr das Wort Gottes hinaustragen unter fremde Völker. Wastun wir doch so wenig für das Reich Gottes im Vergleich mit diesen Männern. Aber dann dürfen wir uns wieder getrösten, daß nicht alle Missionar sein können, 5 [R] Welches sind denn die Gedanken, mit denen wir unser tägliches Joch wieder aufgenommen haben? Die einen nehmen es ernst, die andern leicht, die einen freudig, die andern traurig – und doch, den rechten Weg findet doch nur der, welcher sich an GottesWort hält. Ein solcher Wegweiser soll uns dieses Gleichnis werden.

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sondern daß Gott auch tüchtige Handwerker, Hausfrauen und Arbeiter und Pfarrer braucht in seinem großen Reich und uns dazu gesetzt hat und daß, wenn wir diese unsere Pflicht treu erfüllen, wir von ihm ebenso als seine getreuen und guten Knechte angesehen werden, als die, welche er bereitet hat, daß sie seinen Namen in fremde Länder hinaustragen.¦6¿ Aber eines dürfen wir nicht darüber vergessen, daß es zu unserer Aufgabe gehört, daß wir nach dem Amte, daswir empfangen haben, diejenigen, die draußen arbeiten durch unser Interesse, durch unsere Gaben und durch unser Gebet unterstützen, denn das gehört auch dazu, daß wir handeln mit denTalenten, die wir empfangen haben. So stehen alle Menschen als solche, die im Dienste des Herrn arbeiten, gleich, und darum dürfen sich diese getrösten, deren tägliche Arbeit weniger im Dienste Gottes zu stehen scheint als die anderer, und die gleichsam Arbeiter im Verborgenen sind. So ist der erste Trost an unser Gewissen: Die Arbeit, die wir tun, ist uns übergeben von Gott. Der zweite bezieht sich auf unser Begehren und auf unsern Neid. Wenn wir jemand sehen, dann überkommt uns, daß wir so im Dunkel stehen. Wie kurzsichtig sind doch solche Gedanken. Aber nicht nur die Arbeit, sondern auch die Gaben sind verschieden verteilt. Der Herr tut seinen Knechten die Güter aus, einem jeden nach seinem Vermögen. So hat er dem einen viel irdisches Gut gegeben, dem andern weniger. So hat er den einen mit viel geistigen Gaben ausgestattet, den andern mit weniger. Wenn sich die Menschen in diesem Sinne immer des Satzes erinnerten: Und der Herr tat ihnen seine Güter aus, einem jeden nach seinem Vermögen, dann würde nicht so viel Neid und Eifersucht auf derWelt herrschen, denn sie würden nicht nur sehen, was der eine vor dem andern voraus hat an Besitz und Gaben, sondern auch bedenken, daß so viel sie mehr bekommen haben, so viel schwerer auch ihre Verantwortung ist, wenn sie ihre Güter nicht verwalten als Haushalter desHerrn. Ist es dir nicht schon vorgekommen, wenn du Reichtum und Not nebeneinander sahst, daß du eine Erleichterung empfandest, nicht zu jenen Begüterten zugehören, die dieVerantwortung an sovieler Not tragen? Oder wenn du an einen gewaltigen Staatsmann oder Feldherrn, die über die Geschicke der Völker entscheiden, oder an einen reichbegabten Geist dachtest, der vielleicht seine Gaben mißbraucht und statt die Menschen zum Kampf für das Edle und Gute zu führen, im Gegenteil viele Geister verführte – hast du da nicht manchmal im Innern Gott gedankt, daß er dir nicht solche Güter und Gaben verliehen, aber dir auch nicht eine so schwere Verantwortung aufgeladen hat, wie es in dem Worte heißt: Welchem viel gegeben ist, von demwird man viel fordern! 6 [R] Warum kommt uns aber dieser Trost so schwer? Weil wir wissen, daß wir unsere Pflicht für die Mission nicht voll tun.

Gleichnis

vondenanvertrauten Pfunden

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Es ist nötig, daß wir so manchmal mit andern vergleichen, um uns wieder in der Pflicht, dahin uns Gott gestellt, wohl und zufrieden zu fühlen, und in unserm Leben erfahren, was es heißen will, daß die Knechte, als ihnen der Herr, jedem in verschiedener Weise, seine Güter austat, nicht miteinander stritten, daß der eine mehr, der andere weniger bekommen hat. Nun ist es euch mit dem Fortgang dieses Gleichnisses vielleicht gerade so ergangen wie mir. Man fragt sich: Warum ist gerade der Knecht, der amwenigsten empfangen hat, derjenige, der seine Pflicht nicht tut, während, wenn wir um uns herum blicken, Veruntreuungen gerade von denen begangen werden, die viel unter sich haben? Wir wollen diesen verurteilten Knecht uns einmal näher betrachten. Was hat er denn verwerfliches getan? Scheinbar nichts. Der Herr hat ihm ein Pfund gegeben, und als er zurückkommt, gräbt er’s wieder aus der Erde und sagt: Da hast du dein Pfund wieder. Wir verstehen seine Gedanken ganz gut: Ich habja nur so ein Pfund empfangen, wasverschlägt es meinem Herrn, ob ich damit einiges neu erwerbe? Da sind die andern – ja, bei denen kommt es darauf an, die können meines Herrn Reichtum vermehren – und wenn ich an ihrem Platz wäre, dann würde ich auch mit dem, was ich habe, handeln. So redet er sich in seiner Untreue ein, indem er sich damit tröstet, daß er wenig empfangen hat – und findet dennoch keine Gnade vor dem Herrn, der ihm wiederholt: Das Pfund gehört mir, du hättest es in meinem Dienste verwalten und vermehren sollen. Versteht ihr nun, warum der Herr Jesus in seinem Gleichnis den, der wenig empfangen hat, untreu sein läßt? Weil er die Menschen kennt. Wir sind so leicht geneigt zu meinen, unsere tägliche Arbeit habe gar nichts mit dem Dienst am Reich Gottes zu tun, und daß, wenn wir sie nur so dahin tun, alles in Ordnung sei.Waskommt’s denn darauf an, so denkt eine Hausfrau, ob ich schlecht und recht meine Haushaltung in Ordnung halte, oder ob ich es mit Ernst und Gewissenhaftigkeit als einen Dienst vor Gott tue? Waskommt’s denn darauf an, ob ich meiner Herrschaft diene für meinen Lohn, was ich gerade zu tun habe, oder ob ich es vor Gott tue? Waskann ich, eine Magd, für dasReich Gottes tun? So denkt der Arbeiter: Ich mache meine Arbeit, weil im übrigen, was liegt an meiner Arbeit, die hat doch mit dem Reich Gottes nichts zu schaffen? So kann ein Lehrer denken: Ich unterrichte meine Kinder, wie esvorgeschrieben ist, im übrigen, waskönnte denn die Arbeit eines einzigen fördern am Reich Gottes? So könnte auch ein Pfarrer denken: Ich predige, halte Unterricht und besuche meine Kranken, wie es meines Amtes ist. Aber wie soll ich, ein einzelner, an dem Fortschritt des Reiches Gottes auf Erden arbeiten?¦7¿ Wißt ihr, was der Herr zu uns sagen 7 [R] Bei diesen Gedanken könnten wir ja unsere Arbeit recht gut ausführen, aber das Herz wäre nicht dabei, unser Pfund wäre vergraben wie das des Knechtes, und darum würde der Herr uns richten, weil wir nicht in seinem Geiste handeln.

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würde, wenn wir so dächten? Er würde uns so finster anschauen wie jenen Knecht mit seinem vergrabenen Pfund und zu uns sagen: du Schalk undfauler Knecht. Darum weg mit diesem Trost, mit dem wir es uns in der Alltäglichkeit bequem machen wollen. Wir wollen nicht bloß so unsere tägliche Arbeit tun, sondern dessen getrost und stolz sein, daß wir, wo wir auch seien, durch unsern Beruf am Reich Gottes mitarbeiten. Das gibt unserm Stand und Beruf erst die rechte Weihe, und niemand hat dies schöner ausgedrückt und das Licht evangelischen Geistes wieder auf den Leuchter gestellt als unser Reformator Luther. Wie mögen die Leute zu seiner Zeit gestaunt haben, als da plötzlich einer aufstand und sagte: Der christliche Handwerker und die christliche Hausfrau dienen Gott gerade so gut und besser als alle die, welche im Kloster leben und

beten. Ich kann nicht dasLeben und den Beruf eines jeden unter uns durchgehen und zeigen, wie es zwei Arten gibt, ihn zu verrichten – ihn zu verrichten, weil es so sein muß, und ihn zu verrichten im Dienste des Herrn. Das ist auch nicht nötig – denn etwas in unsern Herzen zeigt es uns an, wie es mit unserer Arbeit steht. Wenn wir verdrossen und mürrisch sind, dann ist das uns ein Zeichen, daß unsere Arbeit nicht die höhere Weihe empfangen. Aber dann, wenn wir eine innere Freudigkeit empfinden und uns eine Kraft durchströmt, dann wird es uns kund, daß wir Gottes Knechte sind, und Glück und Zufriedenheit wohnen in unsern Herzen, wenn wir auch äußerlich Enttäuschungen erleben. Und damit sind wir schon durch Gott belohnt. Nicht erst einst, wenn dieses irdische Leben abgeschlossen ist und wir treu erfunden werden, werden wir eingehen zu seiner Seligkeit, sondern schon in diesem Leben tragen wir sie im Herzen. So stell ich mir auch die Knechte vor: Nicht daß das Antlitz derer, die belohnt wurden, erst erstrahlte, nachdem der Herr sie belobt, und daß der unnütze Knecht erst finster und niedergeschlagen dreinschaute, nachdem der Herr ihn gerichtet, sondern schon bei der Arbeit empfanden die beiden treuen Knechte Freudigkeit und Zufriedenheit, während der andere, nachdem er sein Pfund vergraben, mürrisch und verdrießlich den ganzen langen Tag herumschlich. Und nun noch zum Schluß dasTröstliche in dem Gedanken, daß unsere Arbeit im Dienste Gottes steht: Es hebt uns hinaus über Mißerfolge und Enttäuschungen, denn der Herr beurteilt unser Leben nicht nach dem Erfolg, sondern nach dem, was wir erstrebt. Wenn einer der Knechte, die ihr Pfund richtig verwaltet, statt vor ihn hintreten zu können mit den Worten: Herr, ich habe so und so viel Pfund dazu gewonnen: Herr, ich habe im Handel alles verloren, nichts, was ich unternahm, ist mir geglückt, der Herr hätte ihn doch empfangen wie den andern, der sein Haus bereichert, mit denWorten: Ei, du guter und ge-

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ist der Wegunddie Wahrheit

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treuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen, gehe ein zu deines Herrn Freude. So auch wir, wenn wir einst von diesem Leben scheidend nur auf Mißerfolge zurückblicken und uns sagen müssen: Wir haben nichts ausgerichtet, so wird uns doch der Herr, wenn unser Streben gut war, uns als treue Knechte in sein Reich aufnehmen und zu uns sprechen: Gehe ein zu deines Herrn Freude.

[Morgenpredigt]¦8¿ Sonntag, 27. Januar 1901, [St. Nicolai]¦9¿

Joh. 14,6–10: [Christus ist derWeg und dieWahrheit und dasLeben]¦10¿ Jeder von uns hat sich schon einmal gesagt, wieviel leichter es uns fiele, zu glauben, und wieviel lebendiger unser Glaube wäre, wenn wir Christus in seinem Leben von Angesicht zu Angesicht gekannt hätten. Wir beneiden die Hirten, von denen es heißt: «Und sie fanden das Kindlein in der Krippe liegend» [Lk. 2,16]; wir beneiden die Jünger, die immer um ihn sein durften, daß sie ihm zuhören und ihn fragen konnten. Tun wir darin manchmal nicht unrecht? Was sahen denn die Hirten? Ein Kind. Und dieJünger? – Die heutige Erzählung zeigt uns, wie sie ihn oft in den einfachsten Dingen handgreiflich mißverstanden haben, weil ihnen alles, was er sagte, so neu war, und Jesus in einer höheren Sprache zu ihnen redete, die sie noch nicht verstanden. Darum, so leid es uns tut, nicht Jesus selbst gekannt zu haben, da er auf Erden wandelte, und unter dem Eindruck seiner Person gestanden zu haben, wie es in dem schönen Liede heißt: «O daß ich wäre mitgegangen den stillen Weg nach Emmaus»¦11¿, so wollen wir doch andererseits sagen, daß wir etwas vor denJüngern voraus haben, nämlich daß wir besser vorbereitet sind alssie,JesuWorte in ihrer ganzen Tiefe zuverstehen. 8 [Da eine Zeitangabe fehlt, kann nur aus der Länge des Manuskripts auf eine Morgenpredigt geschlossen werden.]

9 [Eine Ortsangabe fehlt. Da Schweitzer jedoch in dieser Predigt sagt: «Am Tage, wo wir hier in unserm Straßburg lebendige christliche Gemeinden haben ...» (S. 232), hat er sie gewiß in St. Nicolai gehalten.] 10 [Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater. Und von nun an kennet ihr ihn und habt ihn gesehen. Spricht zu ihm Philippus: Herr, zeige uns den Vater, so genügt uns. Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch, und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht denVater; wie sprichst du denn: Zeige unsdenVater? Glaubst du nicht, daß ich imVater und derVater in mir ist? Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst. Der Vater aber, der in mir wohnt, der tut dieWerke.] 11 [Möller: O daßich hätte mitempfunden, Str. 3.]

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Bei Philippus muß der Herr, damit er glaube, daß Gott in ihm ist und er in Gott, sich auf seine Werke berufen, auf die Zeichen, die er getan, weil darin sich Gottes Macht durch ihn offenbarte. Wir aber brauchten dieser Zeichen nicht; wennJesus auch nichts getan hätte, Heilungen und anderes dergleichen, das eine höhere Macht in ihm offenbarte, uns würde sein Wort allein genügen, daß wir an ihn glaubten. Denn mehr als in seinen göttlich hoheitsvollen Worten kann sich auch in seinen Zeichen nicht offenbaren, daß Gott in ihm wohnt. Darum dürfen wir heute, wenn die Frage auf die Wunder Jesu kommt, ruhig antworten: Die Zeichen, die Jesus getan, hatten eine Bedeutung für die, welche um ihn lebten. Es waren gleichsam die Krücken, an denen sich ihr Glaube aufrichtete, bis er auf eigenen Füßen stehen konnte, und sie ihm glaubten, nicht um der Zeichen willen, sondern weil sie es erfuhren, wie göttliche Kraft und göttliches Leben von ihm ausging. Wie dann Petrus ausruft: «Herr, wohin sollen wir gehen» [Joh. 6,68]? Jesu Wunder hatten nur eine Bedeutung für die, welche sie miterlebten, weil sie durch sinnenfällige Ereignisse aufmerksam gemacht wurden: Hier steht ihr vor etwas Geheimnisvollem und etwas Großem. Aber wir, die wir die Wunder nur aus der Erzählung anderer kennen, wo wir nicht wissen, wo das aufhört, was sich zugetragen, und wo das beginnt, was die Menschen hinzugetan haben, wir können ruhig sagen, wie es sich auch mit denWundern Jesu verhalte, unser Glaube an ihn beruht nicht auf seinen Zeichen. Und dann, wenn wir auf äußere Zeichen gehen wollen, kennen wir größere als die, welche dieJünger Jesu sahen; was will es bedeuten, daß durch ihn ein Lahmer wieder gesund, ein Blinder wieder sehend wurde, wenn wir jetzt, nach zwei Jahrtausenden, von unserm Standpunkt aus sehen, wie durch dasWort dieses Mannes, der dort verachtet und verschmäht am Kreuze starb, die ganze Welt aus den Angeln gehoben worden ist, und die Millionen und Millionen von Menschen, die sich in diesen zweiJahrtausenden auf der Erde gefolgt sind, durch ihn ergriffen wurden und sich zu ihm bekannten! Hätte Jesus dieWorte, die er redete, von sich selber geredet, so wären sie übertäubt worden von dem Hohn derJuden, so wären sie verhallt in dem Spott der geistreichen Griechen, so wären sie zertreten worden durch die rohen, barbarischen Horden, die die Welt überfluteten. Weil aber die Menschen und dieJahrhunderte ihnen nichts anhaben konnten, weil sie uns, die wir zwei Jahrtausende nach Jesus leben, noch so gewaltig in die Ohren klingen, wie denen, welche Jesu Stimme vernahmen, darum glauben wir, daß es nicht Menschenworte sind, sondern Gottesworte, und um dieses gewaltigen Zeichens willen glauben wirJesus. Aber wieJesus den Glauben desJüngers um der Werke und Zeichen willen nur als eine Vorstufe des wahren und tiefen Glaubens an ihn be-

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trachtet, so begnügen auch wir uns nicht mit dem Glauben um desZeichens willen, das uns gegeben ist, nämlich daß es eine christliche Welt gibt, sondern gläubig sind wir erst dann, wenn es uns zur lebendigen Gewißheit geworden ist: Christus ist «der Weg und die Wahrheit und das Leben», weil wir es in unserm Dasein an uns selbst erfahren haben, daß er der wahre Lebensweg ist. Philippus sagt zum Herrn: «Zeige uns den Vater»; wir reden nicht mehr so, denn der Weg liegt vor uns, wir wandeln darauf. Wir wissen, daß derWeg zu Gott nicht in äußerlichen Zeremonien, nicht in Opfern und Formeln besteht, sondern im kindlichen Vertrauen und Gebet zu ihm, im rechten Wandel und in der Übung der Liebe; der Weg zu Gott ist der Weg zum himmlischen Vater. Es kommt uns dies so ganz natürlich vor, wie jemand, der auf dem rechten Weg ist, sich gar nicht vorstellt, wie es wäre, wenn er auf dem falschen wäre. Ebenso ist es mit der Wahrheit. Wir sind dessen so gewiß, daß die Worte Jesu die Wahrheit enthalten, die unvergänglich und unübertrefflich bleibt bis in die Ewigkeit der Ewigkeiten. Wer wollte denn einmal noch höhere Wahrheit über Gott reden, ihn tiefer ergründen, als es in dem einen Wort geschehen ist: Er ist unser Vater? Wie könnte man dem Menschen die Wahrheit, wie er zu Gott und den Menschen zu stehen habe, anders ausdrücken als in dem Wort: «Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten als dich selbst» [Lk. 10,27]?! Das Christentum war mißtrauisch gegen die Wissenschaft, weil sie diese Sätze der christlichen Glaubenslehre angegriffen hat. Das mußte so kommen, weil die christliche Wahrheit sich in Formeln ausgedrückt hat, die einer vergangenen Zeit angehören. Aber gerade diese Auseinandersetzungen mit der Wissenschaft sind ein Zeichen von Leben. Ein Baum behält auch nicht immer denselben Blätterschmuck, sondern mit jedem neuen Frühjahr setzt er neue Blätter an, und darin gerade zeigt sich, daß er kräftig ist, daß aus diesem Stamm immer neues Leben hervorsprießt. So ist es auch mit dem Christentum. Dort ist es auch dieselbe Wahrheit, die mit jeder neuen Zeit sich einen neuen Ausdruck suchen muß, und diese Zeiten, wo Religion undWissenschaft miteinander im Kampf liegen, sind nicht unglückliche Zeiten für unsern Glauben, sondern es sind die Herbststürme, unter welchen das dürre Laub sich von den Bäumen löst, und die dürren Zweige abgebrochen werden, damit dieser Baum in neuer Frühlingskraft erstehen könne. Niemals – das dürfen wir gewiß glauben – wird menschliche Wissenschaft die durch Jesus gebrachte Wahrheit bezwingen können, sondern sie trägt auch im Kampfe zum Siege dieser Wahrheit bei; denn je mehr sie fortschreitet, desto mehr muß sie von Bewunderung ergriffen werden über die Reinheit undTiefe derWorte Jesu.

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Predigten

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Man hat darin, daß Jesus uns den Weg zum Vater gewiesen und die Wahrheit über ihn verkündigt hat, alles, was es uns gebracht hat, gesehen. Damit aber dasWichtigste und das Größte: Jesus hat uns dasLeben gebracht. Es gibt viele, die von sich sagen konnten, daß sie der Menschheit neue Wege gewiesen, es gibt viele, die ihr ganzes Leben der Wahrheit geweiht haben und für diese Wahrheit alles erduldet haben. Es gibt aber keinen, der von sich sagen konnte: Ich habe den Menschen dasLeben gebracht. Wahrheit aber und der richtige Weg, sie allein genügen nicht, um der Menschheit zu helfen; und wennJesus nur allein denWeg zu Gott gewiesen hätte undWahrheit gebracht, er stände nicht so einzigartig da. Aber er selbst sagt als das dritte und das Höchste: «Ich bin dasLeben.» Er redet hier nicht von einem zukünftigen ewigen Leben, sondern von dem Leben, das besteht in der lebendigen Gemeinschaft mit Gott, in der er steht. Das ist das tiefe, unergründliche Rätsel im Dasein Jesu, daß wie aus einer verborgenen Tiefe ihm immer neue Kraft zuströmt, die ihn über das Leid und die Mühe des irdischen Daseins hinweghebt. Jesus drückt das selbst so aus: «Der Vater ist in mir und ich in ihm.» Er denkt dabei nicht an eine wunderbare Art seiner Geburt – in seinem ganzen Leben hat er sich nie darauf berufen, daß es mit seiner menschlichen Abstammung anders stehe als bei andern – sondern er spricht nur aus, was er in sich fühlt: Er fühlt, wie sein ganzes Leben in Gott gewurzelt ist, wie göttliche Kraft ihn durchströmt. Und dieses geheimnisvolle Leben in seinem Wesen, dashat die Menschen um ihn ergriffen, denn es durchglühte seine Worte. Wie sind die Jünger gläubig an ihn geworden? Weil sie erkannten, daß er die Wahrheit redete? Ach – gerade die Erzählung, die unser heutiger Text enthält, zeigt unsja, wie weit ihr Verständnis zurück war für all das Neue, wasihnen Jesus sagt, und wie sie ihn oft ganz mißverstanden. Glaubt ihr denn dann, daß das, was diese Männer vonJesu Wahrheit verstanden haben, sie veranlaßt hat, sich nach dem Tode des Herrn zusammenzuscharen und sein Werk fortzusetzen? Nein, sondern es war der überwältigende Eindruck seiner Person und seines Lebens, unter dem sie standen. Eine Wahrheit muß man verstehen und begreifen, damit man sie sich von andern aneignen kann, das Leben aber, darin besteht ja gerade dasWesen des Lebens, teilt sich mit von selbst und weckt wieder neues Leben. Und darum glaubten die Jünger an Jesus, nicht weil er der Weg, nicht weil er die Wahrheit war, sondern weil er das Leben war, und sie von ihm ergriffen waren. Und so ist es in allen Zeiten gewesen und heute noch; gläubig ist man nicht und wird man nicht, indem man glaubt, daß, wasJesus gesagt hat, dieWahrheit ist, sondern indem man von dem Leben, das ihn durchglühte, ergriffen wird, indem sein Geist sich uns mitteilt und uns in unsere Lebensbahn zwingt.

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Es ist etwas Übernatürliches und Geheimnisvolles um diese Übertragung des inneren Lebens Christi auf uns, und die Stunden unseres Lebens, wo wir so von Jesu Wesen ergriffen worden sind, das sind die heiligen Stunden unseres Daseins, wo wir verstehen, was dieWorte Jesu heißen: «Selig sind» [Mt. 5]. Es sind die Stunden, wo unser Leben vor uns steht wie eine große Frage, und wo unser Tun undWirken in Grau gehüllt sich vor uns erhebt, und dann ein Geist der Freudigkeit, des Muts, der Gottesergebung über uns kommt, und es in unserm Inneren wieder heißt: Voran in den großen Kampf! Gottes Auge ruht auf uns.¦12¿

Jesu Lebensgeist ist in der Christenheit noch nicht erstorben – und es gibt Christen, aus welchen uns dieses Leben noch hervorstrahlt, und wo wir fühlen: Jesus ist die Lebenskraft dieser Menschen, und ohne ihn könnten sie nicht leben, wie sie leben. Wie mancher, der mit dem Christentum schon längst fertig war, und der sich etwas darauf einbildete, mit diesem Glauben fertig zu sein, und der dann in ein Spital kam, wo christliche Liebe ihn pflegte, dem ging es da auf nur unter dem Eindruck dieser stillen freundlich-geschäftigen Wesen, die um ihn walteten, daß dieses Christentum ein lebendiger Geist sei, der dem Dasein der Menschen erst seinen wahren Wert verleihe. Wir alle sind schon mit Personen zusammengekommen, aus denen uns dies Wort Christi entgegenleuchtet: «Ich bin das Leben.» Gar verschiedenartig äußert es sich.

Da sind wir in einer Krankenstube gewesen, und wenn wir die Tür hinter uns zugemacht haben, dann fragen wir uns immer wieder: Was hat nur dieser Mann, daß er unter diesen Schmerzen Friede bewahrt und Heiterkeit auf seinem Antlitz strahlt? Und die Antwort: Er besitzt Jesu Leben in sich, und du besitzest es nicht. Wie gar mancher junge Pfarrer, wenn ihm ein Kranker, den er besucht, sagt: Ich danke Ihnen, 12 [R] Ich weiß nicht, ob nach Anhören dieses Textes euch dieselbe Frage bewegt wie mich: Nämlich, wie sind dieJünger gläubig geworden, wenn sie ihn nach Monaten der Gemeinschaft mit ihm noch immer so mißverstehen konnten wie hier in unserer Geschichte? Sie sind nicht gläubig geworden, weil sie dieTiefe derWahrheit verstanden, die in Jesu Rede lag. Sie sind nicht gläubig geworden, weil sie begriffen, daß er derWeg und dieWahrheit war, sondern weil sie unter dem überwältigenden Eindruck seiner Person standen und mit dem Herzen erfaßten: Jesus ist das Leben. Eine Wahrheit muß man verstehen, um sie sich zu eigen zu machen. Das Leben aber teilt sich von selbst mit. Darum glaubten die Jünger an Jesus, nicht weil er der Weg und dieWahrheit war, sondern weil er das Leben war, und sie von ihm ergriffen waren. Darum will ich in dieser Stunde nicht davon reden, daß Christus der Weg und die Wahrheit ist – denn dasrechne ich zum Selbstverständlichen und Längstbekannten – sondern daß er das Leben ist. Das können wir noch heute erfahren, denn mit Jesu Tod ist sein Lebensgeist auf die Christenheit übergegangen, und er ist auch heute noch nicht erstorben. Geht hinaus in dieWelt undstoßt dort auf Menschen, wo eseuch aufgeht.

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Predigten

desJahres 1901

Herr Pfarrer, daß sie mich besuchen, hat nicht schon in seinem Herzen für sich sagen müssen: Nein, ich danke dir, du kranker Mann, denn bei dir finde ich Trost und Friede. Wenn wir mit einer Frau, die mit Sorgen und Not zu kämpfen hat, um sich mit den Ihrigen durchs Leben zu schlagen, sprechen, und auf ihrem abgehärmten Gesicht und in ihren Worten uns das Glück entgegenstrahlt, dasist wieder dasLeben Jesu, dasin ihr wohnt. Diese alle, die leiden in Frieden, die im Unglück nicht untergehen, die sich für die andern aufopfern, die für das Edle und Gute kämpfen, das sind die Lebenszeugen Jesu, die, in deren Dasein es sich offenbart, daßJesus lebt, und wenn er auch am Kreuze verschieden ist, ja weil er am Kreuze verschieden ist. In diesen Personen strömt dieses Leben weiter, und sie sind die Gemeinschaft der Gläubigen. Denn gar verschieden sind die Arten, wie man das Christentum auffaßt, der eine legt den Hauptnachdruck auf dies, der andere auf jenes. Anders war das Christentum eines Petrus, anders das des Paulus, anders dasChristentum eines Chrysostomus, anders daseines Augustin, anders das eines Luther oder das eines Mystikers wie Meister Eckehart und der Gesellschaft der Gottesfreunde, die sich im Mittelalter hier in Straßburg zusammenfanden, anders das Christentum eines Mönchs, anders das eines protestantischen Pfarrers, anders das Christentum eines Gliedes der Heilsarmee, die denVerlorenen und dem Elend auf der Gasse nachgeht, anders das einer christlichen Hausfrau, die fromm im Kreise der Ihren waltet, anders das Christentum eines Geistes, der nach Klarheit ringen muß, und einer Seele, die keine Fragen kennt, sondern kindlich alles behält. Alle diese, so verschieden sie sind, so verschiedenen Zeiten sie angehören, die sich vielleicht unter sich, weil ihre Anschauungen verschieden sind, bekämpfen müssen, sie bilden doch unter sich die Gemeinschaft der Gläubigen, denn ihr Glaube ist lebendig. Sie glauben, daß Jesus Christus das Leben ist, weil sein Geist sie ergriffen hat. Christus, wie sie ihn verstehen, ist die Kraft ihres Lebens. Der bekannte Philosoph Arthur Schopenhauer bildete sich ein, daß er als der erste die Gedanken Christi wieder rein erkannt habe, seine Lehre stimme nämlich mit der Lehre Jesu überein, daß die Welt vom Bösen sei, und daß wir durch Entsagung und Mitleid uns aus dieser Welt befreien müßten. Aber von allem dem, was er lehrte, hat er nichts gehalten, sondern er führte ein Leben in behaglichem Genuß, ohne sich um die Leiden der andern zu kümmern. Und als er einst Christen sah, die das weltentsagende Leben führten, das er gepredigt, ohne es zu leben, da sagte er: Ja, dasist Sache desGlaubens. Nein, es ist nicht Sache des Glaubens, sondern daß Jesu Lebensgeist uns ergreift, und wenn dieser Geist ihn, den Philosophen, ergriffen hätte, dann hätte er auch seine Worte im Leben bewährt und nicht Entsagung und Mitleid gepredigt, ohne danach zu handeln.

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Aber es geht diesen Christen wie diesem Philosophen, wenn sie mit solchen Personen zusammenkommen, wo ihnen wahres Leben entgegenweht, dann sind sie eine Zeitlang davon erstaunt und bewegt und lassen sich dann wieder von dem großen Strom dahintreiben und sagen: Ja, dasist Sache desGlaubens. Wenn ich noch so naiv wäre wie die, dann würde ich auch diesen Geist haben. Ich kann aber nicht mehr an diese Dogmen und Geschichten der Bibel glauben, dafür bin ich viel zu aufgeklärt. Und dann seufzen sie noch dazu und machen sich mit ihrem verlorenen Glauben interessant. Ach, sie merken es nicht, diese Leute mit dem überlegenen Ton und Lächeln, daß sie reden wie dieToren und wie die Blinden. Denn sie meinen, es gäbe einen christlichen Glauben ohne inneres christliches Leben, und als könne man glauben, daß Jesus die Wahrheit sei, ohne zuerst zu erfahren, daß er dasLeben sei. Warum haben denn diese Leute den Glauben verloren? Etwa weil sie besonders schwere Bedenken hatten? Nein, sondern weil sie nicht im lebendigen Christentum drin standen, und weil sie nicht im Christentum ihr Leben suchten, darum ist ihr Glaube ihnen genommen worden; hier gilt dasWort: «Wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, waser hat» [Mt. 13,12]. Sie gleichen sich fast alle, die da wichtig tun, daß sie den Glauben nicht mehr haben. Nach ihrer Konfirmation, da sind sie der Kirche fern geblieben, sie beteiligten sich nicht am christlichen Leben und christlichen Werken, und das Neue Testament haben sie nicht mehr aufgeschlagen. Wie wollen sie da noch christlichen Glauben bewahren, wenn sie nicht in ihrem Leben im Christentum stehen? Wie kann ein Baum, der keinen Lebenssaft hat, Blüten treiben? Dann sagen sie: Ich kann nicht glauben, daß in Gott drei eins sind, daß in Jesus zwei Naturen nebeneinander sind. Als ob das der Glaube wäre und nicht das, daß Jesus Christus das Leben ist? Aber wie kommen sie dazu, sich an solchen äußerlichen Dingen aufzuhalten? Weil sie in christlichen Dingen unwissend sind! Seit dem Konfirmandenunterricht haben sie nichts mehr vom Christentum gehört noch gelesen. Aber was kann denn ein Kind von fünfzehn Jahren vom Christentum, dem Höchsten und Tiefsten, begreifen? Es hat einmal ein berühmter Mann den Satz ausgesprochen: «Christ wird man erst mit zwanzig Jahren», und damit sagen wollen, daß gerade von der Konfirmation bis zu diesem Alter es sich entscheidet, wer sich christlichen Glauben erringt und erkämpft. Darum steht es in unserer Zeit damit so schlecht, weil gerade in dieser Zeit die meisten der Kirche, dem christlichen Leben und der christlichen Lehre fernbleiben. Und wenn dann nicht gewaltige Ereignisse in ihrem Leben sie wieder zum christlichen Leben zurückführen, gehen sie dahin als die Gleichgültigen und die Unwissenden.

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Predigten

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Als die Unwissenden: Die Stunden, die ein Pfarrer in der Gesellschaft der sogenannten Gebildeten zubringt, wenn zufällig, wasja selten geschieht, die Frage auf religiöse Dinge kommt, gehören wohl zu den qualvollsten seines Lebens, denn er sieht bei diesen Gebildeten in eine bodenlose Unwissenheit. Wenn man zufällig einmal die Frage stellt an jemand, der so von oben herab über das Christentum spricht: Ja, haben Sie denn das Neue Testament einmal gelesen?, dann bekommt man regelmäßig zur Antwort: O nein, dasweiß manja aus der Schule und aus dem Konfirmandenunterricht. Ich reiste vor einigen Monaten mit einem jungen Mann meiner Bekanntschaft, der als sehr gebildet und belesen gilt und als gelehrt geschätzt wird. Seine ganze Kenntnis vom Christentum beschränkte sich darauf, daßJesus die wenig begabten Leute selig gepriesen habe; und als ich ihm nun sagte, daß er dieWorte Jesu «Selig sind die geistig Armen» [Mt. 5,3] ganz mißverstanden habe und daß er dasin jeder Predigt richtig erklärt würde hören, dawar er ganz erstaunt. Diese Leute, die nicht mehr an das Christentum glauben, weil sie nie mit dem christlichen Leben in Fühlung gekommen sind, machen den Fluch unserer heutigen Zeit aus durch ihre Gleichgültigkeit. Wenn sie doch nur richtig gleichgültig wären. Aber nein, sie lassen ihre Kinder taufen, und man liest doch auf ihren Gesichtern, daß ihnen das eine gleichgültige, hergebrachte Form ist. Sie kommen in die Kirche, um sich trauen zu lassen, und zwingen durch dasAmt den Pfarrer, zu ihnen als einem christlichen Brautpaar zu reden, wo er doch müßte sagen: Ich kenne euch nicht; und ich werde euch nicht kennen, ich kenne niemand von dieser ganzen Versammlung, denn ich habe euch nie in der Kirche gesehen. Und dann soll ein christlicher Prediger noch auf dem Grabe eines Mannes reden, von dem er eigentlich nur das eine sagen könnte: Er hat sich nie um dasChristentum gekümmert. Er soll zu einer Trauerversammlung als Tröster reden, wo er weiß, daß die Leute sich nur darum bekümmern, ob er ihm eine schöne Leichenrede gehalten! Es stände um das Christentum besser, wenn diese Leute den Mut hätten, sich zu schämen, dasChristentum, dasihnen im Leben nichts ist, herabzuwürdigen, indem sie bei diesen Gelegenheiten das Christentum zum Gepränge benützen. Wenn unsere Zeit eine Zeit des Unglaubens ist, so liegt das nicht daran, daß es wegen unserer aufgeklärten Bildung uns schwerer fällt zu glauben als einer andern Zeit. Nein, im Gegenteil, wir haben es leichter, denn durch die Arbeit derWissenschaft ist das BildJesu wieder vor uns erstanden so lebendig und wahr, wie es noch für keine Zeit war, und seine Lehre liegt wieder vor uns, gereinigt von den Formeln, in welche sie während der verflossenen Jahrhunderte geschlagen worden ist. Die Christenheit unserer Tage darf sich sagen, [der Zugang] steht uns offen wie keiner Zeit vor uns, und es ist unserer Zeit leicht gemacht, anJesus

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zu glauben, denn er steht vor uns nicht mehr als ein Wesen, das sich in dogmatischen Formeln ausdrückt, sondern als eine lebendige Persön-

lichkeit. Aber die Wahrheit zu kennen über Jesus, nützt uns nichts, wenn wir nicht das lebendige Bild erfassen, ihn erfassen durch lebendiges Christentum. Der Weg zurück zum Glauben für unsere Zeit geht nicht durch Disputationen und Abhandlungen und Reden über die Wahrheit des Christentums, sondern derWeg zurWahrheit geht durch das christliche Leben. Es sei denen gesagt, die den Glauben an Christus verloren haben: Nicht anders kommt ihr zu Christus zurück als durch christliches Leben. Tretet heraus aus eurem gleichgültigen Leben, beteiligt euch am Christentum, an der christlichen Liebestätigkeit, versucht es, wieder zu beten, lest wieder dasNeueTestament als etwas, dasihr noch nie gelesen habt, haltet wieder den heiligen Sonntag, folgt wieder dem Klang der Glocken, und wäre es nur, um wieder einen christlichen Choral zu hören, dann kommt euch der Glaube wieder, ein Glaube so herrlich, so schön und so wahr, daß ihr lachen müßt über eure Torheit, mit der ihr wichtig tatet, daß ihr nicht mehr glauben könnt, weil euer Verstand es euch nicht mehr zuläßt, statt daß ihr sagtet, euer gleichgültiges, unchristliches Leben ließ euch nicht zum Glauben kommen. Der Weg zur Wahrheit geht durch das christliche Leben. Es sei auch uns gesagt, die wir noch in dem Glauben stehen. Denn wenn Gleichgültigkeit und Unglaube so mächtig sind, so ist dasunsere Schuld. Wenn in unsern christlichen Gemeinden ein lebendiges Leben herrschte, wenn wir wirklich Gemeinden bildeten, die unter sich reges Leben haben, statt Leute, die zusammen in dieselbe Kirche kommen, dieses Leben würde sich mitteilen, es würde auf die Kreise der Gleichgültigen überspringen wie ein elektrischer Funke. Wie drang denn das Christentum in die Welt ein? Durch Diskussionen über seine Wahrheit gegenüber heidnischer Religion und Philosophie? Nein, sondern durch die christlichen Gemeinden. Durch die christlichen Gemeinden staunten sie. Es erschien ihnen ein Rätsel, die Leute, die so rein lebten, die so eng zusammenhielten, die so Großes taten in einem Glauben, den sie von ihrer hohen Weisheit herunter als Torheit ansehen mußten. Da sahen die blasierten, in ihrer Weisheit sich brüstenden Leute, daß ihnen eines fehlte: inneres Leben! Da kamen sie dazu, die Philosophen und Gelehrten, sie als die ersten, einJustin, und blieben, wassie waren, aufgeklärt und gelehrt, und wurden Christen und Zeugen des lebendigen Geistes Christi. Was damals geschehen, es kann noch heute geschehen! Am Tage, wo wir hier in unserm Straßburg lebendige christliche Gemeinden haben, teilt sich dieses Leben auch den Gleichgültigen mit und weckt bei ihnen Hunger und Durst nach dem lebendigen Christentum.

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Predigten

desJahres 1901

Daß wir keine solche lebendigen Gemeinschaften sind, ist unser aller Schuld. Christus ist uns noch nicht lebendiges Leben geworden, weil unser ganzes Leben noch nicht vom Christentum durchdrungen ist, und weil wir Christus, den lebendigen Herrn, noch nicht kennen. Da müssen wir anfangen. Wir müssen wieder das Neue Testament lesen, nicht als eine Schrift, zusammengesetzt von geheimnisvollen Wahrheiten und erbaulichen Sprüchen, sondern als eine Schrift, aus der uns das Bild Jesu im Reden und Handeln lebendig entgegentritt, was er war in seinem Dasein, und wie seine Person die lebendige, alles erneuernde Kraft eines Paulus und der andern, die geschrieben haben, war. Mit diesem Gedanken wollen wir unsere Betrachtung schließen. Ich bitte euch, nehmt euch vor, für euch als erwachsene Christen, das Neue Testament zu lesen, besonders die Evangelien, als hättet ihr sie noch nie gelesen, und immer wieder, als hättet ihr noch nie [von Jesus] gelesen, den ihr nicht kennt, und den niemand euch schildern kann, wenn er nicht selbst ausdiesen Blättern euch entgegenspricht undihr es erfahrt an euch und von ihm ergriffen werdet; denn er ist das Leben. Und wer so von ihm Leben empfangen hat, dem wird er lebendige Kraft in seinem Dasein, und von dem geht wieder Leben aus auf andere, die tot und gleichgültig dahin leben. «Ich bin dasLeben» – so spricht derHerr.

Nachmittagspredigt Sonntag, 3. Februar 1901, St. Nicolai

Mt. 6,25– 33: [Sorget

nicht!]¦13¿

Wir stehen augenblicklich in der Zeit, wo die Sorge um die tägliche Notdurft des Lebens am ernstesten an uns herantritt. Womit schaffen 13 [Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht für euren Leib, wasihr anziehen werdet. Ist nicht dasLeben mehr denn die Speise? und der Leib mehr denn die Kleidung? Sehet dieVögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie? Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen möge, ob er gleich darum sorget? Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist als derselben eins. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr euch tun, o ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werdenwir unskleiden? Nach solchem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des alles bedürft. Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.]

Sorget nicht!

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wir Brot? Womit bezahlen wir die Miete, Holz und Kohle, um zu heizen? – Diese Fragen dringen jetzt in der grauen Winterszeit am heftigsten auf uns ein, und sie haben manchem Mann einen Seufzer und mancher Frau eine Träne entlockt. Ach, wenn wieder einmal Frühlingssonnenschein lachte, dann zieht auch neues Glück und neue Hoffnung in dasHerz hinein. Aus den Worten Jesu lacht uns ein solcher Frühlingssonnenschein entgegen. Er redet von den Lilien auf dem Felde und von den Vögeln unter dem Himmel, die nicht sorgen und sparen, und die der himmlische Vater doch nährt. Wonnesame, ewige Frühlingsluft Galiläas atmen diese Worte, und der blaue Himmel, der über dem See Genezareth lag, blickt hindurch. So konnte ein Mann reden in jenem herrlichen Land des ewigen Sonnenscheins. Aber wenn Jesus unter unserm grauen Himmel gewohnt hätte, wo die Vögel im Winter hungrig an die Fenster picken und der Sänger des Frühlings am Morgen erstarrt und tot auf der kalten Erde liegt – hätte er da noch dieselben Worte gefunden, wenn er jetzt auf unsern Straßen redete zu den Leuten, die für des Lebens täglichen Unterhalt kämpfen müssen, wo dieser Kampf so hart ist, daß alle, ob reich oder arm, ihn kämpfen, denn wer kann dem vermögenden Mann garantieren, daß morgen um diese Zeit nicht die Papiere, welche jetzt seine Habe ausmachen, wertlose Zettel sind? Wer nimmt dem reichen Fabrikherrn, den alle beneiden, die Sorge, daß über kurz seine Webstühle und Spindeln nicht stillstehen müssen und er bankrott wird wegen einer Geschäftsstockung? Wer nimmt einem Lehrer oder Beamten die Sorge, daß er nicht wegstirbt, ehe seine Kinder versorgt sind, und er seine Familie in bitterer Not zurückläßt? Die Sorge um des Lebens Unterhalt hat in unserer Zeit alle Stände ergriffen, sie ist so herb und so hart geworden wie noch kaum vorher. Und wenn nun unsere ganze Stadt um Jesus herumträte und ihm erzählte, reich wie arm, wie sie von den Sorgen desLebens sich verzehren, würde er noch sagen zu diesen Leuten, die im dumpfen Fabriksaal ihr Leben verbringen, wie dort zu den galiläischen Fischern, die um ihn am See gelagert waren «Sorget nicht»? Gewiß, er würde es noch sagen; denn jenes «Sorget nicht», er hat es nicht gesagt, weil um ihn blauer Himmel und Sonnenschein, sondern weil in seinem Herzen blauer Himmel und Sonnenschein war, weil es sich Gott öffnete, und Gottes Hoffnung lebt, und dieser Sonnenschein im Herzen, den würde ihm unser Winter und die Hast unseres Lebens nicht rauben, sondern er würde sagen: «Sorget nicht.» «Sorget nicht.» Da würden ihn die Leute zuerst mißverstehen: Er meint, wir sollen alle Sorgen des Lebens von uns abschütteln und sorglos dahin leben, weil Gott ja für uns sorgt. Und die einen würden lachen und spotten: Der hat gut reden, und die andern würden sagen:

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Predigten

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Wenn das das Christentum ist, das laß ich mir gefallen, das ist etwas

Schönes. UndJesus würde dasHaupt schütteln: So ist’s nicht gemeint, sondern «Sorget nicht», daswill ein Doppeltes heißen: 1. Sorget nicht auf die falsche, weltliche Weise, sondern 2. Sorget auf die rechte, fromme Weise. Sorget nicht auf die falsche irdische Weise. Das heißt zunächst: Laßt die irdische Sorge nicht euer ganzes Herz einnehmen, so daß ihr nichts Höheres und anderes mehr kennt. Dieses «Sorget nicht» richtet sich an alle, ob arm, ob reich. Denn der Spekulant, der ganz beherrscht wird von seinen Rechnungen und Unternehmungen, und der arme Mann, der sich sagt: Ach, das ganze Leben ist nur eine Jagd nach demTaglohn, und sonst nichts, – sie gleichen sich beide darin, daß sie des Herrn Wort vergessen: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein» [Mt. 4,4]. UndJesus würde wohl den Armen entschuldigen und den Reichen hart anfahren, aber zu beiden würde er sagen: Ihr sorgt auf falsche, irdische Weise. Sorget nicht auf falsche, irdische Weise, das will aber auch heißen: Sorget nicht ohne Hoffnung. Ihr tut euch mühen und grämen, ihr tut euch verbittern, als hinge alles von eurem Schaffen allein ab, als wär’s nur aus eigener Kraft getan; als ob es nicht auch an dem Segen läge, den der Herr auf eure Arbeit legt. Und darum sorgt ihr weiter falsch, weil ihr sorgt, ohne zu beten, Gott möge euch die Kraft in der Arbeit geben, und er möge seinen Segen auf euer Tun legen. Und weil ihr so falsch, irdisch sorgt, führt euch die Sorge immer weiter von Gott, sie nimmt euer Herz gefangen, daß es finster darin wird, und euer Leben euch eine unerträgliche Last wird. Aber so wird euch die Sorge zum Verderben – statt zu einem Segen; sie führt euch von Gott ab – statt euch zu ihm hinzuführen. Darum sorgt recht. Das heißt zunächst: Murrt nicht über die Sorge und verbittert euch nicht, als käme die Sorge von selbst. Sondern bedenkt, die Sorge kommt von Gott, und wenn er sie schickt, so ist es, weil er es gut für uns hält. Sie soll uns an Gott erinnern, daß wir nicht in dieser Welt aufgehen. Wenn das Leben für uns keine Sorge hätte, wenn alles von selbst da wäre für unsern Unterhalt und unsern Leib, dann würden wir nicht an Gott denken, sondern ganz in dieser Welt aufgehen. So aber ruft uns die Sorge immer wieder zurück und weist uns auf etwas, das über der Welt ist, und läutert uns. Mir hat einmal eine Person, als wir von den vielen Sorgen redeten, die sie bedrückte, gesagt: Schau, diese Sorgen waren für mich nötig, damit ich nicht leichtsinnig wurde und gedankenlos in den Tag hineinlebte. Und so wollen wir uns auch immer fragen: Sind diese Sorgen

Sorget nicht!

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nicht nötig, um uns an Gott zu erinnern und um unser Herz loszureißen von derWelt, die es gefangen nimmt. Freilich, es gibt auch hier Fragen, auf die es keine Antwort gibt: Wie kann es Gott zulassen, daß Menschen mitten in einer reichen Stadt Hungers sterben, daß eine Mutter keinen andern Ausweg mehr sieht als denTod für sich und die Ihrigen? Wie oft sind wir wohl schon selbst an einem Mann durchgegangen, von dem wir dachten, er sei betrunken, und nachher mußten wir uns fragen: Hat er nicht getaumelt, weil er hungrig war? Aber warum die Antwort nicht bei uns suchen, sondern bei Gott? Wir sollten da in uns gehen und uns sagen, daß wir noch nicht von der Sorge gelernt haben – nämlich Mitleid und Erbarmen und daß uns und unsere Gesellschaft, nicht Gott die Schuld trifft an diesen traurigen Ereignissen. So soll uns die Sorge zu Gott hinführen, sie soll uns lehren, zu trachten nach dem Reich Gottes, dann wird alles, worum wir trachten, uns zufallen. Von selbst? Nein, sondern weil dann auf unserer Sorge und unserer Arbeit ein Segen liegt. Denn die Sorge ist nicht mehr bitter und hoffnungslos, sondern sie wird getragen von der Hoffnung: «Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl»¦14¿. Auf ihn dürfen wir schauen und auf ihn hoffen. Und doch – die meisten Leute verstehen nicht, zu hoffen – weil sie nicht zu beten verstehen. Was sollen wir beten, sagen sie, Gott weiß ja, wessen wir bedürfen, und ob wir beten oder nicht, das ändert ja nichts an dem, waskommt. Das ist töricht gedacht. Jesus sagt uns selbst, wir sollen mit den täglichen Sorgen vor Gott kommen, und er lehrt uns beten: «Unser täglich Brot gib uns heute» [Mt. 6,11]. Also hat doch dasGebet eine Bedeutung. Zuerst einmal: Wir erleichtern uns unser Herz. Ihr wißt esja alle: Wenn wir unser Herz ausschütten können und erzählen alles, was uns bekümmert – und wenn die Person, zu der wir reden, uns gar nicht helfen kann, vielleicht auch gar kein Interesse an uns nimmt, es tut uns doch wohl. Und nun dürfen wir so vor Gott kommen, ihm täglich sagen, was uns bekümmert, ihm die Sorgen gestehen, die wir sonst verbergen – ist das nicht schon ein Trost? Wer es einmal erfahren, dem braucht man es nicht mehr zu sagen. Aber dann – wir beten noch zu Gott, um ihm unser Vertrauen zu zeigen. Denn Gott kann uns nicht geben, wenn wir ihm nicht Vertrauen zeigen. Und darum drängt Jesus immer wieder auf das Gebet als der Zuflucht in Not und Sorge, er sagt uns, daß das Gebet einen Einfluß hat auf Gott, darum betet er selbst immer zu ihm, weil er weiß: Gott hilft, 14 [Paul Gerhardt: Befiehl du deine Wege, Str. 7.]

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wenn wir ihm Vertrauen zeigen. Darum vergeßt in der Sorge das Gebet nicht, denn ohne Gebet keine Hoffnung und keine Hilfe. «Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein läßt Gott sich gar nichts nehmen, es muß erbeten sein.»¦15¿

Nachmittagspredigt Sonntag, 17. Februar 1901, St. Nicolai

Joh. 11,46–54: [Kaiphas]¦16¿

Er war ein sehr geachteter und ehrbarer Mann, der Hohepriester Kaiphas, und niemand konnte ihm etwas Übles nachreden. Er hielt auf Zucht und Frömmigkeit und war besorgt um das Volk, die Römer könnten irgendeinen Anlaß nehmen und sich noch mehr zu Herren des Landes machen. Nun hatte er aber Unruhe; da war einer mit Namen Jesus, aus Nazareth, der trieb seinWesen in Galiläa und kam auch in die Nähe vonJerusalem. Eigentlich war ihm nichts vorzuwerfen. Fromm war er und führte einen reinen Wandel und lehrte nichts Böses. Zwar redete er wenig, daß man Tag und Nacht an das Gesetz denken solle, ja manche behaupteten, er nehme es damit leicht. Gefährlich an ihm war die Aufmerksamkeit, die er erregte. DasVolk hing an seinem Munde, und Zeichen gingen von ihm aus. Wenn die Römer nun darin, in dieser Ansammlung der Massen, Empörung witterten? Etwa gar zum Hohen Rat sagten: Ihr könnt keine Ordnung halten im Land, hier müssen wir eine römische Regierung einsetzen! Was würde dann aus der Religion

und ausdemTempel?

15 [Paul Gerhardt: Befiehl dudeine Wege, Str. 2.] 16 [Etliche aber von ihnen gingen hin zu den Pharisäern und sagten ihnen, wasJesus getan hatte. Da versammelten die Hohenpriester und die Pharisäer einen Rat und sprachen: Wastun wir? Dieser Mensch tut viele Zeichen. Lassen wir ihn also, so werden sie alle an ihn glauben; so kommen dann die Römer und nehmen uns Land und Leute. Einer aber unter ihnen, Kaiphas, der desselben Jahres Hoherpriester war, sprach zu ihnen: Ihr wisset nichts, bedenket auch nichts; es ist uns besser, ein Mensch sterbe für dasVolk, denn daß das ganze Volk verderbe. (Solches aber redete er nicht von sich selbst; sondern weil er desselben Jahres Hoherpriester war, weissagte er. Denn Jesus sollte sterben für dasVolk; und nicht für dasVolk allein, sondern daß er auch die Kinder Gottes, die zerstreut waren, zusammenbrächte.) Von demTage an ratschlagten sie, wie sie ihn töteten. Jesus aber wandelte nicht mehr frei unter denJuden, sondern ging von dannen in eine Gegend nahe bei derWüste, in eine Stadt, genannt Ephrem, und hatte seinWesen daselbst mit seinen Jüngern.]

Kaiphast

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Das hatte sie lang beschäftigt, die Herren vom Hohen Rat, und sie konnten zu keinem Schluß kommen. Den Mann aus dem Weg räumen – das ging ihnen gegens Gewissen. Ihn ruhig sein Wesen treiben lassen, konnte zu Unzuträglichkeiten führen. Jetzt steht der Herr Hohepriester auf und spricht: Ich halte dafür, «esist besser, ein Mensch sterbe für das Volk, denn daß das ganze Volk verderbe.» Der versteht’ s, der ist klug! Wie schön er das ausdrückt! Er hat recht – so stimmen sie alle zu und sind froh, mit dieser fremden Weisheit ihr Gewissen einzuschläfern und dieVerantwortung amTodesbeschluß von sich zu wälzen. Weise ist dasWort – aber heidnisch ist es, der fromme Kirchenfürst aber, erbärmlich und gemein ist er, ihr ehrenwerten Pharisäer.

Wenn auch einer daran zugrunde geht, was macht’ s, wenn nur das Ganze gut wird – der Hohepriester hat’s zuerst ausgesprochen, und die Welt, die heidnische und die christliche, haben es sich angeeignet, weil es gar bequem die Herzen einschläfert. Da dringt verworrene Kunde von Grausamkeit und Greueltaten, die christliche Truppen an wehrlosen Chinesen¦17¿ verüben, zu uns. Aber man schläfert das Gewissen unseres Volkes, wenn es erschreckt aufwacht, ein. Die Zukunft unseres Staates, die Ausdehnung unseres Handels und die Ausbreitung unserer Macht verlangen es, sagen uns die Staatsmänner. Sicher sind manche Vorkommnisse zu beklagen – und es soll tunlich Abhilfe geschafft werden, aber um der paar Chinesen willen können wir nicht die Zukunft unseres Landes aufgeben. Der versteht’ s, sagen dann die Leute, was regen wir uns auf? Es ist nun einmal nicht zu ändern, und sind froh, daß sie ihr Gewissen einschläfern dürfen. So geht es in allem. Wenn durch ein Unternehmen Hunderte ins Unglück kommen – dann ist man wieder bei der Hand zu sagen: Es ist betrüblich – aber da ist nichts zu machen, der Fortschritt verlangt’ s. Und nicht nur in die Kreise der Hohen und Vornehmen ist diese Kaiphasrede gedrungen, sondern wenn wir in unser Herz blicken, da steht auch etwas davon drin. Wir sind kalt gegen dasUnglück, gegen das Leid geworden, weil wir immer mit dem Gedanken gefüttert werden: Der Fortschritt verlangt’ s, dasallgemeine Beste fordert’ s. Gewiß, in der Welt ist jeder Fortschritt an Unglück gebunden. Verheerungen, Kriege, Ärgernisse, sie müssen kommen, aber es steht in der Schrift: «Wehe dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt» [Mt. 18,7]! Keine dreißig Jahre waren vergangen, nachdem Kaiphas das frevelhafte Wort gesprochen – und Jerusalem lag in Schutt und Trümmern, und die Römer nahmen nicht nur Land und Leute, sondern sie metzelten alles nieder. Es gibt eine göttliche Gerechtigkeit, und der entfliehen weder die Völker noch die Menschen. Denn vor Gottes Gericht 17 [Niederwerfung des Boxeraufstands 1900.]

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Predigten

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wird nicht gefragt: Das mußte kommen, sondern: Hast du alles getan, um dasUnglück zu verhindern? Hast du alles getan, um zu verhüten, daß ein Mensch oder ein Menschenglück vernichtet wurde? Und dann lassen uns alle Reden, mit denen die Menschen und mit denen wir uns darüber hinaushalfen, wo unser Gewissen schlug, im Stich. Dann spricht der Herr: «Wehe dem,

durch den Ärgernis kommt.» Darum reißt diese Gedanken aus euren Herzen, weg mit diesem bequemen Kaiphaswort. Es gibt keine Entschuldigung für uns, wenn wir zusehen, wie Menschenleben und Menschenglück geopfert werden, und dafür sind wir alle verantwortlich. Aber dieses Kaiphaswort hat noch eine andere Bedeutung – eine christliche. Christus hat diesem Wort von Menschenwitz eine tiefere, göttliche Bedeutung gegeben. Als derjenige, welcher unser Evangelium schrieb, dies Wort des Hohepriesters vor sich auf dem Papier sah, da grauste es ihm. Wie konnte der, welcher über Religion und Frömmigkeit zu wachen hatte, so etwas sagen! Und während er so auf dasPapier schaute, da fiel es ihm ein: Und das Wort ist wahr, in einem andern Sinne wahr geworden, durch Christus göttlich wahr geworden, daß ein Mensch sterben mußte für dasVolk. Darum schrieb er dahinter: «Der Hohepriester redete dies nicht von sich selbst; sondern dieweil er desselben Jahres Hohepriester war, weissagte er.» Worin besteht nun die göttliche Wahrheit dieses Wortes? Daß alles Edle und Reine in dieser Welt mit Blut besiegelt werden muß. Gottes Kinder sind wir geworden nur durch Jesu Blut. Wenn er sich damals vor den Hohepriestern zurückgezogen hätte, wenn er sich gesagt hätte, du mußt dich für deine Sache, für dein Amt, für die Deinen schonen; denn wer sollte sonst das Evangelium predigen – meint ihr, daß wir heute den Christennamen trügen? Nein, Jesu Name wäre vergessen, seine Worte wären verweht, wenn er nicht in den Tod gegangen wäre für seine Sache. Als er aber gestorben war, da ergriff es die Leute, und wenn sie früher seinen Worten nicht geglaubt, glaubten siejetzt seinem Tode.

Wenn ein Mensch für das, waser lehrte, in denTod ging, dann mußte es wahr sein – und so wurden die Menschen Christen. Es liegt in dem Tode eines Menschen, der sich für seine Sache und für andere hingibt, eine geheimnisvolle Macht, – das Samenkorn muß im Boden ersterben, ehe die leuchtende Saat kann aufgehen [Joh. 12,24].¦18¿ Und wenn das Christentum sich über die Welt verbreitet hat, so ist es nicht durch die Predigt, sondern durch die Aufopferung und das Blut derer, die immer und immer wieder Jesus in denTod nachgefolgt sind. Da starben in den Flammen Sklaven und Männer, da wurden Weiber, Jungfrauen und Kinder den wilden Tieren vorgeworfen, und in ihrem 18 [R] Irdische Ordnung – göttliche Ordnung.

Kaiphast

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heldenmütigen, gottergebenen Leiden offenbarte sich Gottes Macht vor dem verweichlichten, heidnischen Volk, und keine zwei Jahrhunderte vergingen, da hatte dasChristentum gesiegt.¦19¿ Laßt mich euch aus unserm Jahrhundert ein Beispiel erzählen, wie durch die Dahingabe eines Mannes in denTod viele erlöst worden sind. An der Südspitze von Amerika liegen die Feuerlandinseln. Sie waren von Menschen bewohnt, die so tief verkommen waren, daß sich die Gelehrten fragten, ob sie zu den Menschen oder zu den Affen zu rechnen wären. Niemand dachte daran, durch dasChristentum diesen Leuten zu helfen. ImJahre 1822 fuhr ein englischer Marineoffizier, Allen Gardiner mit Namen, dort vorbei, und als er das Elend sah, jammerte ihn und er beschloß, sie zu Christus zu führen. Er verließ seine Stellung und widmete sich ihnen. Aber alle Versuche schlugen fehl. Die Leute, welche bis jetzt von den christlichen Europäern nur Grausamkeit erduldet hatten, waren mißtrauisch und verstanden ihn nicht. Sie beraubten ihn aller seiner Habe, und doch verzweifelte er nicht. 1850 kam er mit sieben Gefährten um – und alle verhungerten sie, weil die Einwohner sie aller Nahrung beraubten und sich von ihnen zurückzogen. Bei den Verhungerten wurde später sein Tagebuch gefunden, wo er, als der Tod schon seine Hand auf ihn legte, aufzeichnete, wie er diese Leute liebte, die ihn hier verhungern ließen. Diese Worte des Sterbenden wären wert, in das NeueTestament aufgenommen zuwerden. Aber sein Tod ergriff seine Freunde in England so sehr, daß sie doch beschlossen, sein Werk fortzusetzen. Aber zehn Jahre nachher, 1860, wurden alle, die sie dorthin entsandt, ermordet. Vierzig Jahre waren vergangen, seitdem Allen Gardiner den Entschluß gefaßt hatte. Sein Gebein und die Leichen derjenigen, die ihm nachgefolgt, bedeckten das Land, und noch war kein einziger Eingeborener bekehrt. Da endlich ging die Todessaat auf; 1872 wurden die ersten Eingeborenen getauft, und heute erheben sich friedliche, christliche Dörfer an der Stelle, wo früher rohe, heidnische Nomaden hausten. Diese ergreifende Geschichte hat für uns etwas Erhebendes und etwas Beschämendes. Etwas Erhebendes – wenn wir nämlich manchmal nach allem dem, waswir um uns sehen, verzagen möchten am Christentum, —dann richtet uns ein Beispiel solcher christlicher Aufopferung in unsermJahrhundert wieder auf. Aber dann hat es auch etwas tief Beschämendes. Stellt euch einmal die Frage: Wenn wir sollten unser Leben für das Christentum dahingeben, würden wir es so freudig tun, wie jener englische Marineoffizier? – Und siehe, wenn in unserm Innern kein freudiges Ja ertönt, so sind wir keine wahren Christen. O, man möchte manchmal wünschen, daß Drangsal und Verfolgung wieder über uns kämen, damit wir auf19 [R] Fortschritt nur durch Dahingabe.

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gerüttelt würden und das Christentum wieder schätzen lernten und vor den Gleichgültigen und Verächtern wieder zu Ehren brächten, damit sie lernten, daß es eine Kraft ist, die Leben undTod überwindet. Gott hat unser Leben nicht in eine solche Zeit fallen lassen; und dennoch sollen wir uns an dem Beispiel derjenigen aufrichten, die durch ihren Tod Hunderten undTausenden zum Segen geworden sind. Sie sollen unsimmer wieder ermahnen: In allem, wasihr tut, in Beruf undWirken, gebt euch eurer Christenpflicht hin und seht dabei nicht auf den äußeren Erfolg. Fürchtet euch nicht vor Mißerfolg undvor Enttäuschungen – Gott will nicht nureuer Herz, sondern euerWirken, euer Leben. Gerade wenn man als Christ seinen Beruf ausfüllen will, da wird man oft zurückgesetzt, man kann es weniger allen recht machen als ein anderer. Aber darum glaubt nicht, daß ein solcher Mann, wenn er zurückgesetzt ist, nichts wirkt, sondern glaubt, daß man auch in der Zurücksetzung und im Leiden Gott dient, und sich da erst recht die Kraft und die Macht des Christentums zeigt. Nicht die Leute haben etwas gewirkt, die in ihrer Zeit Erfolg hatten, sondern die, ob sie auch Verfolgung und Zurücksetzung erfuhren, christliche Ruhe und christliche

Würde bewahrten. Und solche Beispiele gibt es noch heute. Dies derTrost: Alles, wasMenschen leiden um Christi willen, ist gesegnet an den andern. Das ist ein göttliches Geheimnis, darin zeigt es sich: Unsere Religion ist nicht ausgegangen von der Lehre, sondern von dem Leiden, und darum wird sie die Welt überwinden. Laßt sie nur kommen, die Verfolgungen und Anfechtungen, die die Zukunft uns verbirgt. Sie werden das Christentum nicht erdrücken, sondern neue Kraft wird davon aussprießen. Wie kannJesuTod sich fortsetzen? Indem er sich in andern fortsetzt.

Morgenpredigt Sonntag, 24. Februar 1901, St. Nicolai

Mt. 16,21–24: Ich muß leiden¦20¿ An der Spitze unseres Textes steht ein Wort ganz kurz und einfach: «Ich muß leiden.» Das wollen wir heute miteinander betrachten. 20 [Von der Zeit an fingJesus an und zeigte seinen Jüngern, wie er müßte hin genJerusalem gehen und viel leiden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tage auferstehen. Und Petrus nahm ihn zu sich, fuhr ihn an und sprach: Herr, schone dein selbst; daswiderfahre dir nur nicht! Aber er wandte sich um und sprach zu Petrus: Hebe dich, Satan, von mir! du bist mir ärgerlich; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Da sprach Jesus zu seinen Jüngern: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.]

Ich muß leiden

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Um uns her hören wir es auch sagen, aber auf eine ganz andere Weise alsJesus. Da ist zuerst dasweltlich leichtsinnige: «Ich muß leiden.» Man muß die Sachen so nehmen, wie sie kommen; man kann dem Leiden nicht entrinnen, also muß man’s ertragen, bis man’s wieder in der Freude vergißt. Von einem solchen Menschen sagen die Leute: Der versteht das

Leben. Daneben gibt es das verbissene und grollende: «Ich muß leiden.» Da fragt man immer: Was hab denn ich Gott gemacht, daß solches über mich kommt? Ich bin doch nicht schlechter als andere. Da fragt eine Witwe: Warum mußte mir mein Mann genommen werden? Wir lebten in Frieden und werden auseinandergerissen, andere in Unfrieden, und die dürfen beieinander bleiben. So fragt die Mutter, die ihr Kind verliert: warum gerade mir; so fragt derjenige, den die Krankheit aufs Schmerzenslager zwingt: warum gerade mir? Und in diesem «Ich muß leiden» liegt Groll und Bitterkeit. Nun seht, wir, die wir hier beieinander sind, bis wir draußen auf dem Friedhof schlummern, wir müssen alle gelernt haben, zu sagen: «Ich muß leiden.» Es faßt uns eine Angst, ob wir es auch können werden. Du bist jung und froh und siehst nun einen Altersgenossen, den eine schleichende Krankheit erfaßt. Ist dir da noch nie die Frage gekommen: Und wenn mir dasvorkäme – wie würde ich mich darein schicken? Du schaust auf die, welche dir lieb sind; kommt dir da nicht manchmal die Frage: Wie werd ich’s tragen, wenn ich sie verlieren muß? Du stehst mit Freuden in deinem Beruf, aber die Leute, die alt geworden sind, die reden dir von Enttäuschungen und Undankbarkeit, die deiner noch harren. Da triffst du Pfarrer, die ihr Herz hingegeben haben für ihre Gemeinde und am Ende ihres Lebens sagen müssen: Es war umsonst. Da triffst du Männer, die in ihrem Beruf treu gewesen und die sich sagen müssen: Es war umsonst. Da triffst du Eltern, die ihre Kinder in Zucht erzogen, und sie sind auf schlechte Wege geraten – es war umsonst. Und wenn man dann mit solchen Leuten zusammenkommt, liegt eine solche Entmutigung und eine Bitterkeit über ihrem Wesen, daß man selbst mutlos wird, und was sie einem sagen über die Menschen, nimmt einem den Glauben an die Menschheit. Zu allen diesen körperlichen Leiden, zu allen diesen seelischen Leiden, zu allen diesen Enttäuschungen, die unser noch warten, müssen wir bereit sein, zu sagen: «Ich muß leiden.» Aber wie wollen wir dieses «Ich muß leiden», das heute, morgen, jedenTag auf unswarten kann, sagen? Nicht auf die weltlich leichtsinnige Weise, denn sie enthält keinen Trost, und wenn das Leiden schwer ist, dann wird dieses «Ich muß leiden» zum Fluch und zurVerwünschung. Auch das verbitterte «Ich muß leiden» wollen wir nicht aussprechen, denn die Last wird dadurch nur schwerer, und man soll nicht mit Gott hadern.

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Predigten

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Wie wollen wir nun das «Ich muß leiden» aussprechen? Christlich, wie esJesus hier zu seinen Jüngern sagt, im Augenblick, wo sie mit ihm nach Jerusalem zumTodesgang aufbrechen. Dies ist das erste christliche «Ich muß leiden», das auf Erden ertönt, und wer Christ sein will, muß lernen, es nachsprechen. In jenem Augenblick seines Lebens fühlt Jesus alle Leiden, die ein Mensch empfinden kann in seinem Herzen. Wenn wir vom Leiden Jesu reden, dann denken wir an seine Marter am Kreuz. Aber Jesu Leiden war noch ein viel tieferes. In dem Augenblick, wo er dies «Ich muß leiden» spricht, istJerusalem und die Kreuzesmarter noch weit. Ein anderer Schmerz erfüllt sein Herz: die Enttäuschung. Sein Lebenswerk ist vernichtet. Er hatte die Leute in Galiläa geliebt, er hatte ihnen gepredigt, ihre Kranken geheilt, und sie glaubten an ihn. Schon sah er die Anfänge des Reiches Gottes emporwachsen, da wurde alles zunichte gemacht durch die Schriftgelehrten und Pharisäer, die ihm die Liebe und dasVertrauen desVolkes nahmen, so daß sie zuletzt alle von ihm abfielen. Nur dieJünger halten noch bei ihm aus. Dieses Leiden ist schwerer als körperlicher Schmerz. Gar mancher würde dasLeiden, dasihn auf denTod bereitet, still ertragen, wenn ihm das Schwerste erspart bliebe: Zu sehen, wie alles, was er auf Erden edel erstrebt, durch die Gedankenlosigkeit und Lieblosigkeit der Menschen zerstört ist. Jesus hat mehr unter dieser Enttäuschung gelitten als ein Mensch je auf der Welt, denn sein Herz war reiner und liebevoller als unseres, und doch hat er diesen Schmerz überwunden und kann ruhig ohne Verwünschung zu denJüngern sagen: Ich muß hinauf nach Jerusalem gehen und viel leiden von den Schriftgelehrten und Pharisäern. Zu dieser Enttäuschung kommt die Sorge um die Seinen. Dort in der großen Stadt soll er von ihnen gerissen werden! Waswird ausihnen werden? Werden sie standhaft sein? Ist diese Sorge auch nicht das Schwerste für viele unter uns, die dem Tod entgegengehen. Gar mancher würde unter Schmerzen freudig beten: «Ach Gott, nun schleuß den Himmel auf, mein Zeit zuEnd sich neiget, ich hab vollendet meinen Lauf»¦21¿, wenn er sich nicht immer wieder fragen müßte: Was wird aus den Meinen? Und doch jammert Jesus nicht über seine Jünger, sondern er empfiehlt sie Gott. In seinem «Ich muß leiden» liegt noch mehr: Er zieht seine Straße nachJerusalem mit Freudigkeit; er seufzt nicht und klagt nicht, er redet nur noch zweimal zu seinen Jüngern von dem Leiden, das seiner wartet, um sie vorzubereiten. 21 [Abweichendes Zitat von »Herr, Gott, nun schleuß den Himmel im «Orgelbüchlein» bearbeitet, Neumeister-Choräle No. 8.]

auf»,

u. a. von Bach

Ich muß leiden

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So spricht er das christliche «Ich muß leiden» in dem Augenblick, wo er die Kreuzesqual in der Ferne sieht, wo sein ganzes Lebenswerk vernichtet ist, wo er sorgend denken muß, was aus denJüngern werden soll. Und doch kommt dieses «Ich muß leiden» ruhig, zuversichtlich, ohne Groll und Entmutigung, ja sogar freudig über seine Lippen. Einst, als sie ihn beten sahen, da sagten dieJünger zu ihm: «Herr, lehre uns beten» [Lk. 11,1]. So möchten wir jetzt sagen: Herr lehre uns sagen «Ich muß leiden.» Darauf würde er uns ein Dreifaches antworten: 1. Kämpfe mit dir selbst, um dich gottergeben in dasLeiden zu schicken. 2. Bereite dich auf dasLeiden vor. 3. Halte dich zu denen, die leiden. Kämpfe mit dir selbst, um dich gottergeben in das Leiden zu schicken. Wir meinen gewöhnlich, Jesus ist auf übernatürliche Weise zu seiner Ruhe im Leiden gekommen, und doch, wer in seine Seele blickt, der weiß, er hat müssen ringen und kämpfen, bis er diese Ruhe gewonnen, mit der er zu denJüngern spricht. Denkt nur, wie er in Gethsemane gerungen und gebetet hat, Gott möge die Marter von ihm abwenden! Und hier, gerade in der Stelle, die wir verlesen, können wir auch noch hineinblicken in den Kampf seines Herzens. Warum fährt er den Petrus so leidenschaftlich an, als dieser ihm besorgt sagt: «Herr, schone doch deiner selbst»? Weil ihm dieses Wort die Stunden des Kampfs in Erinnerung ruft, wo eine Stimme ihm einzureden suchte: Entziehe dich dem Leiden, schone dich um der Deinen willen, während ihm sein Herz sagte: Gott will, daß du nach Jerusalem ziehst. So hat Christus gerungen und gebetet, bis daß er so sagen konnte: «Ich muß leiden», und so müssen auch wir kämpfen, bis diese Ruhe und Ergebung über uns kommt. Um aber in diesem Kampf zu siegen, müssen wir auf das Leiden vorbereitet sein. Da meinen die Leute, die rechte christliche Vorbereitung sei, sich immer wieder vorzuhalten, was uns im Leben noch Trauriges begegnen wird. Es gibt solche Leute, die kein fröhliches Kind sehen können, ohne daß sie zu ihm sagen möchten: O du armes Kind, was mußt du noch alles leiden! Wenn ein Mann freudig im Beruf ins Leben hinausschaut, dann möchten sie ihm sagen: Waswerden deiner noch für Enttäuschungen warten? Wenn eine Mutter sich über ihre Kinder freut, dann reizt es sie zu sagen: O, liebe Frau, was werden Sie mit ihnen noch für Sorge haben. Diese Art, in jede frohe Stunde die Gedanken an das Leid wachzurufen, das ist nicht christliche Leidensvorbereitung, wie man gewöhnlich meint, sondern dasgibt nur vergrämte Menschen. Jesus hat sich nicht so auf das Leiden vorbereitet; die erste Zeit seines Lebens war freudig und glücklich. Niemand hat es dem Kind gesungen, daß es einst am Kreuze sterben würde. So hoffnungsvoll hat kaum einer in das Leben hinaus-

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geblickt wie er, als er, von seinen Jüngern und den Galiläern umgeben, am See Genezareth unter sonnig blauem Himmel lehrte und redete von denVögeln des Himmels in ihrer Sorglosigkeit und den Lilien auf dem Felde in ihrer Pracht. Und als nun auf all dieses Glück das Leiden kam, dawar er doch gefaßt und still. Bei den Menschen geht es gewöhnlich anders. Gerade denen, welche im Leben glücklich waren, fällt es so schwer, das Leid zu ertragen. Warum? Weil sie im Glück von Gott sich entfernt haben. Sie haben es hingenommen als etwas ganz Selbstverständliches und haben gar nicht daran gedacht, daß Gott ihnen dieses Gute zufügt, und haben ihm nicht dafür gedankt. Und nun sollen sie sich darein schicken, daß ihnen aus Gottes Hand Leid beschert wird. Sie, die das Glück nicht als aus seiner Hand kommend empfingen! Darum wird ihnen der Kampf so schwer, und sie können sich nicht darein schicken, weil sie im Glück den Gott nicht gekannt haben, den sie nun im Leiden kennen lernen sollen! Wer aber wieJesus auch im Glück Gott näher kommt und alles, was er Freudiges und Hoffnungsvolles erfährt, aus seiner Hand mit Danken nimmt, nur der ist bereitet, sich auch unter diese Hand zu beugen, wenn sie Leid bringt. Darum bereitet euch darauf vor auf das Leiden nicht durch trübselige Gedanken, sondern indem ihr euch freut in den Stunden desGlücks und Gott dankt für die Liebe, die er euch erweist. Nun noch das letzte. Bereitet euch auf das Leid vor durch Mitleid. So viele können sich an das Leid nicht gewöhnen, weil es ihnen etwas Fremdes ist. Sie sind den unglücklichen Menschen ausdemWeg gegangen, weil es sie angreift; sie haben sich ferngehalten von den Krankenzimmern und den Leidenden, weil sie es nicht ertragen können; und sie bedenken nicht, wie gut solchen leidenden Menschen ihre Teilnahme täte, und wie sie selbst bei diesen Ergebenen, still Leidenden Stärkung und Trost empfangen hätten, die ihnen einst in der Stunde der Trübsal

helfen würden. So tat esJesus nicht, sondern in seinem Glück war ihm kein Leiden fremd, und durch sein hilfreiches Mitleid war sein Herz auf das eigene Leid vorbereitet. Darum, auch wir wollen nicht, daß uns das Leid etwas Fremdes sei. Wer sich an dem Beispiel derer gestärkt, die in schweren Stunden gottergeben sprachen: «Ich muß leiden», der wird, wenn die Stunde über ihn kommt, dann auch sprechen können lernen als Christ «Ich muß leiden.» Darum hat unser Herr Jesus gelitten, damit die, so an ihn glauben, von ihm lernen, wie man sich in dasLeiden schickt.

Gethsemane

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Morgenpredigt Sonntag, 10. März 1901, St. Nicolai

Mk. 14,32–42: Gethsemane¦22¿

Ein italienischer Verbrecher wurde zum Schafott geführt. Der Priester hielt ihm das Kruzifix vor Augen. Ach, lassen Sie mich mit dem auf dem Kruzifix in Ruhe, sagte derVerbrecher. Als er denTodesweg betreten sollte, hat er gezittert und gezagt, ich aber gehe ohne eine Miene zu verziehen auf das Schafott. Diese Geschichte bildete den Stoff eines Gespräches in einer Gesellschaft. Die meisten kamen über einen gewissen Anstoß nicht hinaus, daß es Männer auf der Welt gegeben hat, die in den Tod gegangen sind, ohne daß es ihnen schwer fiel, während Jesus, der doch höher stehen sollte als sie alle, ringen und kämpfen hat müssen in Gethsemane. Darauf machte ein Herr folgende schöne Bemerkung: Ich will annehmen, sagte er, daß es der Natur Jesu schwerer fiel als manchen anderen Menschen, das Leid zu ertragen, aber vielleicht hat gerade darum Gott ihn zum Erlöser der Menschen auserkoren, weil sich in ihm dasWort bewährt: «Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig» [II Kor. 12,9]. Gerade daß er in Gethsemane kämpfen und ringen mußte, gehört zum Erlöseramt Jesu. Denn auf wen schauen die armen und schwachen Menschen, wenn sie hart mit Leiden und Tod kämpfen müssen? Auf die, welche mit dem Lächeln auf den Lippen desLeidens und desTodes spotten? Nein, sondern aufJesus, der in Gethsemane aufs Äußerste kämpfen und ringen mußte, bis er gefaßt und ergeben ist. Daß wir dieses Bild anschauen dürfen, das tröstet uns, denn es sagt dem Schwachen: Du kannst alles überwinden in Gott. Diese Bemerkung jenes Herrn spricht die richtige Art aus, wie wir Gethsemane betrachten sollen, nicht indem wir Jesus mit anderen ver22 [Und sie kamen zu einem Hofe mit Namen Gethsemane. Und er sprach zu seinen Jüngern: Setzet euch hier, bis ich hingehe und bete. Und nahm zu sich Petrus undJakobus undJohannes und fing an zu zittern und zu zagen. Und sprach zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an denTod; bleibet hier und wachet! Und ging ein wenig fürbaß, fiel auf die Erde und betete, daß, so es möglich wäre, die Stunde vorüber ginge, und sprach: Abba, mein Vater, es ist dir alles möglich; überhebe mich dieses Kelchs; doch nicht, wasich will, sondern wasdu willst! Und kam und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Simon, schläfst du? Vermochtest du nicht, eine Stunde zu wachen? Wachet und betet, daß ihr nicht in Versuchung fallet! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach. Und ging wieder hin und betete und sprach dieselben Worte. Und kam wieder und fand sie abermals schlafend; denn ihre Augen waren voll Schlafs, und sie wußten nicht, wassie ihm antworteten. Und er kam zum drittenmal und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr nun schlafen und ruhen? Es ist genug; die Stunde ist gekommen. Siehe, des Menschen Sohn wird überantwortet in der Sünder Hände. Stehet auf, laßt uns gehen! Siehe, der mich verrät, ist nahe!]

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gleichen, sondern indem wir sagen: In Gethsemane leidet unser Erlöser. Er leidet für uns, auf daß wir ausseinem Leiden lernen sollen. Und alles, wasuns in diesem Leiden entgegentritt, läßt sich zusammenfassen in das eineWort: Leiden im Glauben an Gott. WeilJesus uns daslehrt in Gethsemane, ist er unser Erlöser, nicht nur auf Golgatha, sondern auch in

Gethsemane. Leiden im Glauben an Gott: Das will heißen, daß wir das Leiden nicht mehr ansehen als etwas, das uns von ungefähr oder von den Menschen auszustößt, sondern als etwas betrachten, dasuns Gott schickt. In jener Stunde in Gethsemane, da denkt Jesus nicht mehr daran, daß der Haß der Pharisäer und die Charakterlosigkeit des Volkes die Ursache seines Todes ist, sondern er sieht es an als etwas, das von Gott kommt. Das macht ihm das Leiden leichter, denn es hilft ihm, den Menschen, die sich so schwer an ihm vergehen, zu verzeihen. Und auch wir, wir würden uns leichter in das Unglück schicken, wenn wir dächten, es käme von Gott. Das meiste Übel, dasuns begegnet, ist unsja von Menschenhand zugefügt, und weil wir nur immer sehen, wer es uns zufügt, fühlen wir uns erniedrigt, gedemütigt und beleidigt und können nicht verzeihen. Daher müssen wir wie dort Jesus in Gethsemane die Augen schließen, daß die Menschen unserm Blick entschwinden, und wir sehen, daß das Übel von Gott kommt, dann wird unswie ihm dasLeiden leichter, weil wir verzeihen. Aber der Glaube an Gott macht das Leiden auch schwerer, denn es liegt darin eine Versuchung des Glaubens. Fast möchte man die Menschen beneiden, die in stolzem Trotz alles Übel hinnehmen als etwas, das die Umstände oder eine finstere Macht ihnen bringt, weil esja keinen Gott gibt, wie sie sagen. Denn für den Christen ist alles Übel, dasihm begegnet, eine Versuchung des Glaubens. Es liegt in dem Übel in der Welt für den, der an Gott glaubt, ein Geheimnis, mit dem kein Mensch fertig wird. Wie kann Gott, der allmächtig ist, es zulassen, daß auf dieser Welt unter seinen Geschöpfen so viel Unglück und Elend ist? Aber nicht nur das, unser Glaube will, daß wir gewiß sind, an allem Übel, das er in dieWelt schickt, soll sich seine Güte offenbaren, denn wasunsMenschen ein Übel erscheint, dasist von Gott bestimmt, Gutes zuwirken. Manchmal ahnen wirja dieWege Gottes, und wer von uns in sein Leben zurückblickt, der wird sagen: Das und das, was du damals als ein so großes Unglück für dich angesehen hast, das war der Weg Gottes, um dich zum Glück zu führen. Aber unser Erkennen dringt nicht ein in Gottes Wege. Da sind schwere Schläge, die den einzelnen, die ganze Völker treffen, und keiner vermag, zu sagen, warum. Wer wollte sich denn ermessen, zu sagen, was die Fluten, die in den letzten Jahren ganze Küstenstriche mit ihren Bewohnern verschlungen haben, in Gottes Rat bedeuten sollen? Und doch sollen wir als Christen

Gethsemane

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glauben, alles Übel führe Gott zum Guten. Darum bildet jedes große Unglück für den, der da glaubt, eine Versuchung des Glaubens. Einen jeden erwartet sie im Leben. Wäre er der glücklichste und gläubigste zugleich, so steht er doch einmal vor einem Kranken- oder Totenbett, wo es in seinem Innern schreit: Warum, warum? Das kann nicht sein! Wenn Gott gut und allmächtig ist, so kann er uns das nicht schicken! Und wer durch diese Augenblicke hindurchgegangen ist, der weiß, sie gehören zu den schrecklichsten im Leben. Das ist die Versuchung, die Jesus in Gethsemane durchkämpft. Er weiß, Gott schickt ihm den Tod und daß dieser die Erlösung für die Menschheit bedeutet, weil die Liebe und das Gottvertrauen, das er im Todesleiden bewahrt, der Menschen Herz ergreifen wird. Und doch, so fragt seine innere Stimme, wenn Gott allmächtig ist, was braucht es die Todesqual eines einzigen, um die Menschen zu ihm zurückzuführen? Darum fällt Jesus im Gebet nieder und spricht: «Abba, mein Vater, es ist dir alles möglich, darum überhebe mich dieses Kelches.» Diese Versuchung ist die schwerste, die den Menschen trifft, und an dieser Klippe scheitert der Glaube vieler, denn sie können sich nicht zur Ergebung durchringen. Voltaire hatte an eine Güte Gottes geglaubt, und daß diese sich auch in dem offenbare, was wir Menschen als Übel ansehen; als aber das Erdbeben in Lissabon¦23¿ geschah, da wurde er im Glauben an einen gnädigen Gott irre. Freilich, Menschen undTrost von Menschen helfen in solcher Stunde nichts, sondern der Mensch muß allein sein mit seinem Gott. Jesus hatte wohl die geliebtesten unter seinen Jüngern um sich haben wollen, daß sie ihm beiständen; und als die Anfechtung über ihn kam, da schliefen sie. Aber er kämpfte sich zum Frieden durch im Gebet, und wer von den Menschen in einem großen Unglück oder an einem Totenbett diese Anfechtung überwindet, der tut es nur wie Jesus durch die Kraft des Gebets. Wasin einer solchen Seele vorgeht, die im Gebet mit Gott ringt, bis sie sprechen kann: «Nicht wie ich will, sondern wie du willst», das kann menschliche Sprache nicht ausdrücken. Eines aber wissen wir: Wer in jenen Augenblicken im Hinblick auf Jesus zu Gott betet, der ringt sich zur Ergebung durch. Vor einigen Jahren vernichtete ein Hagelschlag in einem Gau des Unterelsaß die gesamte Ernte zwei Wochen vor der Ernte. Als nun am Sonntag darauf der Prediger auf die Kanzel stieg vor Leuten, die alles verloren hatten, da wußte er nicht, was er zu ihnen sagen solle. Alle menschliche Erklärung oder gar:‹ Das hat Gott euch zur Strafe gesandt› oder‹ Er hat dieses Unglück über euch kommen lassen, damit ihr in euch geht›, wollten nicht über seine Lippen. Da redete er über Geth23

[1755 zerstörte ein Erdbeben mit einer Flutwelle und Bränden mehr als die Hälfte der Stadt. Dabei gab es 30 000 Tote von 110 000 Einwohnern.]

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semane. Und als er ihnen dort Jesus zeigte, wie er denWillen desVaters nicht versteht und doch im Gebet sich zur Ergebung in Gottes geheimnisvolles Walten durchringt, da ging ein Friedenshauch durch die Gemeinde, und die Frage: Warum mußte das uns geschehen? wurde stiller in demWortJesu: «Nicht wie ich will, sondern wie duwillst.» Wie wir aus dem frivolen Wort eines Verbrechers am Anfang unserer Predigt sahen, meint die Welt und die Leute, welche keinen Glauben mehr haben, Gethsemane seiJesu schwache Stunde gewesen. Sie reden, wie sie es verstehen. Was in Gethsemane vorgeht, das vermag nur der christliche Glaube zu erfassen, der den Erlöser in Gethsemane sucht. Und für diesen ist Gethsemane der Triumph des Glaubens an Gott über das Übel, das uns an Gott irremachen könnte. In diesem Kampfe Jesu suchen wir Menschen eben Stärkung in unserer Anfechtung. Und wenn in den schlichten Worten desEvangeliums dieser Garten im Kidrontal mit seinen dunklen Bäumen vor unserm Blick ersteht, wo angesichts der Zinnen vonJerusalem, die sich vom glänzenden südlichen Sternenhimmel abheben, eine Gestalt ringend zu Boden gesunken ist, dann heißt es für uns: «Zieh deine Schuhe aus. Denn der Ort, da du stehst, ist heiliges Land» [Ex. 3,5].¦24¿

Donnerstag, 14. März 1901, Straßburg Begräbnis der Ehefrau Horsch (geb. 12. Nov. 1847), welche nach langem schwerem Leiden gestorben ist

[Mt. 5,4:] Selig sind, die daLeid tragen, denn sie sollen getröstet werden

Im Hause Schwer hat die Mitschwester, die wir jetzt zur letzten Ruhe geleiten, in ihrer letzten Lebenszeit leiden müssen. Rührig und arbeitsam wurde sie gezwungen, untätig zu bleiben, und lange Schmerzen hat sie erduldet, bis derTod sie erlöste. Nun rufen wir ihr, die still in dem Sarg liegt, nachdem sie überwunden hat, das schöne Wort unseres Herrn zu: «Selig sind, die daLeid tragen.» Wie schwer wird es uns doch, dieses Wort zu sagen, wenn wir im Leben jemand schwer leiden sehn, denn da steigen uns immer wieder die Fragen auf, warum hat Gott ihnen das geschickt? Gewiß, wir wissen, daß, wenn wir auch Gottes Wege nicht verstehen, wir doch fest glauben dürfen, er schickt das Leiden nicht, um sie zu züchtigen und zu strafen. 24 [R] Ecrit samedi le 9/3/01 après cinq esquisses déchirées et quatre jours de travail.

Selig sind,

die da Leid tragen

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Gewiß, wir wissen, daß unser Leiden unsere Seele läutert und reinigt und daß Gott durch die Prüfung, die er über uns verhängt, uns immer näher zu sich will ziehen und unser Herz zu lösen von den Banden dieser Erde, bis er uns durch den Tod zu sich nimmt. Und doch, obwohl wir das wissen, fällt es uns schwer, an einem Schmerzenslager wie dem unserer Mitschwester, aus vollem Herzen zu sagen: «Selig sind, die da Leid tragen.» Jetzt aber, da sie eingegangen ist zu der Ruhe des Herrn, jetzt, da ihre Seele weilt bei dem, der sie zu sich gerufen hat auslauter Güte, jetzt können wir sagen aus vollem Herzen: Selig ist sie, die da Leid getragen, denn sie ist bei Gott, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Schmerz wird nicht mehr sein [nach Apk. 21,4]! Die Lebensstraße hat er sie geführt durch Dunkel undTrauer, daß sie bereitet würde, zu ihm zu kommen. Und wir, wir wollen an diesem Sarge nicht mehr trauern, sondern wir wollen auch etwas lernen für unser Leben. Wer weiß, ob nicht Gott auch uns durch Leiden und Dunkel führt, ehe er uns ausdem Leben abruft? Dann wird unser Herz murren und zagen und klagen wollen. Dann, daß es sich in Ruhe, Demut und Ergebung in Gottes Wille fasse, wollen wir an dasWort gedenken: «Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden» und stille werden in Gott, weil wir wissen, daß er uns nach der Prüfung dieser Erdentage aufnehmen wird in die Seligkeit, und auch über unserm Sarg es heißen wird: «Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.»

«Wie wird uns sein, wenn endlich nach dem schweren, doch nach dem letzten ausgekämpften Streit wir ausder Fremde in die Heimat kehren und einziehn in dasTor der Ewigkeit; wenn wir den letzten Staub von unsern Füßen, den letzten Schweiß vom Angesicht gewischt und in der Nähe sehen und begrüßen, was oft den Mut im Pilgertal erfrischt!»¦25¿

Am Grabe Nun, von dem Leid der Dahingeschiedenen haben wir geredet in dem Hause der irdischen Pilgerschaft, ausdem wir nun ihren Leib herausgetragen haben in stille Friedenserde. Hier am Grabe aber, wo es gilt, den letzten Abschied zu nehmen, da möchte ich euch, ihr Leidtragenden und dir besonders, du schwer geprüfter Gatte, ein Trostwort zurufen. Wir stehen in der Passionszeit; da scheidet Jesus von denJüngern, und 25 [Friedrich Spitta: Wie wird uns sein, Str. 1.]

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Predigten

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als sie weinen und klagen, da sagt er ihnen: «Ihr habt nun Traurigkeit; ich will euch wiedersehn, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen» [Joh. 16,22]. So steht auch ihr hier: Ihr habt nun Traurigkeit, daß die, welche euch im Leben lieb war, daß die, so durch ihre Rechtschaffenheit, ihren frommen Wandel, ihre Geduld euch wie ein Beispiel voranging, nun euch auf Gottes Ruf einsam ließ. Ich wehre eurem Schmerz nicht – und doch möchte ich euch sagen: Geht nicht auf in derTrauer desAbschieds, sondern gebet Raum in eurem Herzen der Hoffnung desWiedersehns. Über dieses Grab, das sich öffnet, schweift unser Blick hinauf zu den ewigen, lichten, himmlischen Höhen, wo dieWorte Wiedersehn, Wiedersehn uns entgegenleuchten, und euer Herz werde stille im Gedenken der Stunde, wo wir wiederfinden, wasihr verloren, und wo ein Wiedersehn sein wird, hinter dem kein Abschied sein wird. «Ich will euch wiedersehn, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.» Aber diese Hoffnung soll nicht allein euch helfen, die Trauer überwinden, sondern noch etwas anderes: das Andenken der Verstorbenen in eurem Herzen. Wenn ihr jetzt wieder nach Hause kommt, wenn ihr wieder von der täglichen Arbeit erfaßt werdet und euch einsam fühlt, daß sie nicht mehr bei euch ist, dann erhaltet ihr Bild in eurem Herzen, daß es euch begleite, wohin ihr geht und was ihr tut, daß der Geist der Entschlafenen euch umschwebe, ihr Andenken und ihr Vorbild euch voranleuchte in der Erfüllung der Pflicht, in der Frömmigkeit und in der Geduld – bis auch der Herr euch einst abrufe ausdiesem Leben.

Nachmittagspredigt Sonntag, 17. März 1901, St. Nicolai

Joh. 18,33–38: Jesus vor Pilatus¦26¿

Um dieWahrheit des Christentums handelt es sich in unserm Texte. Jesus hat die Wahrheit gepredigt über Gottes Liebe zu uns und wie wir uns ihm freudig und gläubig vertrauen sollen. Deswegen steht er vor 26 [Da ging Pilatus wieder hinein ins Richthaus und rief Jesum und sprach zu ihm: Bist du derJuden König? Jesus antwortete: Redest du das von dir selbst, oder haben’s dir andere von mir gesagt? Pilatus antwortet: Bin ich einJude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan? Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden kämpfen, daß ich denJuden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von dannen. Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt kommen, daß ich für dieWahrheit zeugen soll. Wer aus derWahrheit ist, der höret meine Stimme. Spricht Pilatus zu ihm: Wasist Wahrheit? Und daer dasgesagt, ging er wieder hinaus zu denJuden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.]

Jesus vor Pilatus

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Gericht. Zwei Richter verurteilen ihn. Die Pharisäer und Pilatus. Das sind die beiden Wahrheitsfeinde. Welcher von diesen beiden flößt uns nun den größten Abscheu ein? DieJuden schreien aufgeregt und verlangen das Blut Jesu. Pilatus versucht, ihn zu verteidigen, gibt dann aber achselzuckend nach. Mir gefallen aber dennoch dieJuden viel besser als Pilatus, denn in ihrer Verfolgung meinen sie es ehrlich und aufrichtig, während Pilatus ein Gleichgültiger ist; und ein Mann, der ausÜberzeugung etwas tut, und mag es auch noch so verkehrt sein, ist mir immer noch lieber als einer, der ausGleichgültigkeit alles geschehen läßt. Denn wir wollen einmal annehmen, dieJuden hätten anJesus geglaubt, dann wären sie ebenso heftig für ihn gegen Pilatus eingetreten, als sie ihnjetzt verklagen, aber Pilatus, und wenn er hundertmal gesehen hätte, Jesus ist unschuldig, er hätte niemals etwas getan, umJesus zu retten. Worin liegt dieser Unterschied? Er liegt darin, daß die Pharisäer Jesus bekämpfen, weil sie glauben, daß dasGesetz und die Propheten die einzige Wahrheit ist, die aber von Jesus angegriffen wird; obwohl sie die Wahrheit bekämpfen, glauben sie doch an eine Wahrheit; sie sind also Gegner der Wahrheit aus Verblendung. Pilatus aber ist Gegner der Wahrheit aus Gleichgültigkeit, und das ist viel schlimmer. Seht, der Kampf um die christliche Wahrheit wird noch heute auf der Erde geführt – und die beiden Gegner sind dieselben geblieben. Da sind zunächst die überzeugten Feinde. Das sind in unseren christlichen Ländern die Leute, die Gegner des Christentums sind, die es in Wort und Tat und in Büchern angreifen, weil, wie sie sagen: Es widerspricht unserer neuen Wissenschaft und der wissenschaftlichen Wahrheit. Da sind die Priester der heidnischen Religionen, die fanatisch unsern Missionaren entgegentreten, da sind die heidnischen Volksmengen, die durch sie aufgehetzt sind und gegen die Missionare aufstehen und ihr Leben bedrohen, weil ihnen ihre Priester sagen: Diese Leute, die da kommen, reden gegen das, wasihr und eureVäter bisher geglaubt. Aber diese Feinde, so grimmig sie tun, es sind nicht die gefährlichen, denn sie haben noch eine Überzeugung, sie glauben noch an eine Wahrheit; und wenn sie einmal zur Erkenntnis gekommen sind, daß das Christentum dieWahrheit ist, dann werden sie es mit demselben Eifer, mit dem sie es jetzt bekämpft haben, verteidigen und ausbreiten. Unter denJuden, dieJesus und das Christentum verfolgten, da war der erbittertste Paulus. Aber so gewaltig er es verfolgte, so gewaltig breitete er es auch aus, als er erkannt hatte: Das Christentum ist die Wahrheit. Und so erzählen uns die Missionare immer wieder, daß gerade diejenigen, die ihnen am Anfang am heftigsten widerstanden, nachher die geworden sind, die alles, Ehre, Verwandte, Stellung, Hab wie Gut aufgegeben haben um desChristentums willen. Die Feinde desChristentums, die sich leidenschaftlich und heftig gebärden, das sind nicht die gefährlichen, sondern die Schweigsamen, die

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Stummen und die Gleichgültigen; dieLeute, diewie Pilatus wegwerfend sagen: «Was ist Wahrheit?» und die sich vornehm und gescheit dünken, weil sie an keine Wahrheit mehr glauben. Diese wahren Feinde desChristentums, sie wohnen mitten in unsern christlichen Ländern; es sind die Leute, die in unserer Stadt, wenn die Kirchenglocken den Sonntagmorgen einläuten, sich im Bett herumdrehen und denken, dasgilt denen, die noch an sowasglauben, ich aber schlafe gut ausundgehe dann spazieren. Sie sagen kein Wort gegen das Christentum! Was sind das für tolerante Menschen, sagt dadieWelt: Ihnen ist es gleich ob Protestant oder Katholik oder ob Israelit; in jeder Religion kann manja ein braver Mann sein undselig werden. Diese Leute sind dieWölfe in Schafskleidern [Mt. 7,15], und sie in ihrer Gleichgültigkeit, weil sie nicht mehr an eine Wahrheit glauben, sie sind schuld an der Not desChristentums. Nun kehren wir zum Palast des Pilatus zurück. Wir haben gesehen, wer die Feinde derWahrheit sind undwie sie zu allen Zeiten gleich bleiben. Nun wollen wir uns fragen: Warum sind sie denn Feinde der christlichen Wahrheit? Warum können sie nicht glauben, daß Christus dieWahrheit predigt, wenn er so schön und einfach vomVater im Himmel, von seiner Liebe, die bei uns wieder Liebe gegen ihn und die Nebenmenschen erwecken soll, predigt? Nein, so schwer war es nicht, aber man kann eine Wahrheit nicht mit dem Kopf allein begreifen, sondern man muß versuchen, danach zu leben, und dann im Leben erweist sie sich alsWahrheit.¦27¿ Wenn diese Pharisäer, statt nur immer von den Propheten und vom Gesetz zu reden, zu sich gesagt hätten, wir wollen einmal versuchen zu leben, wie dieser lehrt, wenn der hohe römische Statthalter, statt über den Mann aus Galiläa zu spötteln und zu lächeln, sich gesagt hätte: Er ist edel und aufrichtig, und dasLeben, das er und die um ihn führen, ist rechtschaffen und rein, ich will auch einmal versuchen, so zu leben, dann wären sie von selbst dazu gekommen, daß, was er sagt, die Wahrheit war, und statt ihn zu kreuzigen, wären sie für ihn eingestanden.¦28¿ Und so ist es auch heute noch. Warum stehen die Leute dem Christentum feindlich oder gleichgültig gegenüber? Weil sie nicht mehr christlich leben. Ich kann’s euch nicht besser sagen als in einem Gleichnis. Der christliche Glaube ist ein edler junger Baum, aber er geht zugrunde, wenn er nicht in fruchtbare Erde gepflanzt wird. Und diese fruchtbare Erde ist der christliche Wandel. Nur der, welcher Christi Wort entsprechend leben will, nur für den ist, was Christus gesagt hat, Wahrheit. 27 [R] Thème de maconférence pour l’union libérale: der religiöse Zweifel. [Dieser Vortrag ist nicht mehr vorhanden.]

28 [R] Das wahre Christentum zeigt sich im wahren christlichen Leben. Spener, Franz von Assisi.

Ich habe Lust, abzuscheiden

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Wer will glauben, daß Gott der himmlische Vater ist, der muß es im Unglück erfahren haben. Wer will glauben, daß es einen Gott gibt, der verzeiht, der muß ihn angerufen haben in den Augenblicken, da seine Schuld und Sünde vor ihm standen, wer will glauben können, Gott ist die Liebe, der muß Liebe üben, der muß sein Herz warm erhalten für die Armen und Unglücklichen. Wie oft hört man Leute sagen: Ich bin irre geworden an meinem Glauben, mein Verstand erlaubt mir nicht mehr, zu glauben, und es gibt Leute, die ringen schwer und kämpfen schwer mit ihren Zweifeln. Ach, ich glaube sie sind schon über jeden Menschen gekommen. Da gibt es nur eines: Den Verstand und seine Fragen ruhen zu lassen und sich zwingen, zu leben, wie Christus uns gelehrt, und dann kommt der Glaube an dieWahrheit dessen, was er gesagt, von selbst.¦29¿ Und nun noch eins: Es gibt auch einen Fortschritt in der christlichen Wahrheit, und dieser fließt auch nur aus dem christlichen Leben, der Verstand tut nichts dabei. Wir alle streben ja nach immer vollkommenerer Erkenntnis: Darum wollen wir streben, immer vollkommener zu werden, bis uns Gott in der Ewigkeit zeigt vollendet, was wir hier im Glauben geschaut.¦30¿

Dienstag, 26. März 1901, Straßburg Begräbnis von Caroline Hägele, geb. 8/2/37 zuWeilheim a. d.Teck, gest. 24/3/01

Phil. 1,23: Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein Diejenige, deren entseelte Reste wir uns nun anschicken hinauszutragen zur ewigen Ruhe, hatte in diesem Leben Unruhe. Als sie herangewachsen war, gründete sie sich kein Heim. Es war ihr nicht beschieden, an der Seite eines liebenden Gatten, umgeben von liebenden Kindern ihre irdische Wallfahrt zu vollbringen, sondern sie zog ihre Straße einsam. Wohl war es ihr vergönnt, seit Jahren umgeben von ihren nächsten Verwandten, hier in dieser Stadt zu leben und etwas von dem Hauch der Liebe zu verspüren, der denjenigen besonders not tut, die einsam sind. Aber doch geht der Lebensweg derer, die nicht für Familie und Kind zu sorgen haben, einsam dahin. Es ist, als ob in diesem Leben ein größeres Sehnen sie erfaßte, aus dieser Welt abzuscheiden und zur ewigen Heimat zu gelangen. Darum

29 [R] Die Erkenntnis der christlichen Wahrheit ausdem christlichen Leben. 30 [R] Vergleich Kind – Alter: Konfirmandenunterricht – Schule des Lebens.

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rufen wir dieser Einsamen das Wort des Apostels Paulus nach: «Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein.» Noch in anderer Weise war unsere Mitschwester bereitet, aufzumerken auf den Ruf des Herrn, der sie aus dieser irdischen Welt abrief: durch das Leiden und das Siechtum, das sie in den letzten Jahren ihres Lebens befiel. Wir Menschen wissen nicht, was Schmerz und Leid in diesem Leben bedeuten sollen. Aber wenn wir an einer Bahre einer Dulderin stehen, die vollendet hat, dann geht uns ein Ahnen auf über das, wasGott mit dem Menschen will, wenn er sie durch Trübsal in dieserWelt führt. Er will die Bande, die unsere Seele an diese irdische Welt binden, lösen; er will unsern Blick hinaufrichten zur himmlischen Heimat, daß wir im Geräusch und Getriebe dieser Welt seine Stimme vernehmen, die uns ruft: Bereite dich, heimzukehren in die himmlische Heimat. Darum, wenn wir uns jetzt bereiten diesen Sarg hinauszubegleiten auf den Kirchhof: Gott hat alles wohlgemacht. Wohl verstehen wir nicht, warum er unsere Mitschwester so einsame Bahn geführt, warum ihr Weg durch Trübsal führte, aber eines wissen wir: Für sie, die jetzt überwunden hat, gibt es kein Geheimnis mehr, sondern bei dem, der sie zu sich gerufen hat auslauter Güte, hat sie erkannt, waswir hier nur ahnen. Darum wollen wir uns bereiten, sie zum Grabe zu geleiten mit Dank gegen Gott. «Wie wird uns sein, wenn endlich nach dem schweren, doch nach dem letzten ausgekämpften Streit wir aus der Fremde in die Heimat kehren und einziehn in dasTor der Ewigkeit; wenn wir den letzten Staub von unsern Füßen, den letzten Schweiß vom Angesicht gewischt und in der Nähe sehen und begrüßen, was oft den Mut im Pilgertal erfrischt!»¦31¿

[Nachmittagspredigt]¦32¿ Sonntag, 31. März 1901, St. Nicolai

[Mt. 21,5: Dein König kommt zu dir] Liebe Konfirmanden. Ich möchte euch an diesem Palmsonntagnachmittag das Palmsonntagswort zurufen: «Dein König kommt zu dir», weil ihr jetzt bereitet seid wie vielleicht nie mehr in eurem Leben, es in euer Herz aufzunehmen. 31 [Philipp Spitta: Wie wird unssein, Str. 1.] 32 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer am Nachmittag in St. Nicolai gepredigt.]

Dein König kommt zu dir

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Ihr werdet heute selbständig! Bisher glitt das Schifflein eures Lebens zwischen den sanften Ufern eines Flusses hin. Nun treten die Ufer zurück, und das Meer, das weite Meer tut sich davor auf. So sagt ihr jetzt, das Leben, das weite Leben liegt vor uns. Ihr sagt das, weil heute, wo ihr selbständig werdet, drei Worte, ausdenen sich dasLeben zusammensetzt, für euch eine neue Bedeutung gewinnen. Es sind dieWorte: Beruf, Arbeit, Sorge. Ihr meint, ihr versteht sie nun recht, weil ihr selbständig geworden seid. Doch das genügt nicht, sondern dasWort: «Dein König kommt zu dir», erklärt sie euch erst recht. Es erklärt euch das Wort: Beruf, und darum ist es ein ernstes Wort. Ihr wollt in einem Beruf euren Erwerb finden, darin glücklich werden und euren Platz im Leben ausfüllen. Alle, die um euch sind, wir wünschen euch, daß es euch gelinge. Ich glaube sogar, ihr hegt schöne Träume. Der eine denkt sich das Glück in seinem Beruf als eine stille, bescheidene Zufriedenheit, der andere will erwerben, vermögend werden und Einfluß gewinnen, der andere fühlt Ehrgeiz in sich: Er will durch die Gaben, dieer in sich fühlt, es zu etwas bringen, berühmt werden. Ich verwehre euch diese Träume nicht, ihr dürft und ihr sollt sie träumen; nur laßt nicht zu, daß ihnen die höhere Weihe fehle, daß ihr sie nämlich beschließt mit demWorte: Was ich auch werde, ich will in meinem Beruf und Amt Christus dienen. Der Altmeister Bach schrieb unter jedes seiner Werke: «Gott allein zu Ehren.» So gelobt auch ihr heute, bevor ihr mit dem ersten Werktag in dasneue Leben eintretet, daß für euch der Beruf nicht nur eine äußere Hantierung sein soll, sondern daß ihr dabei Jesus vor Augen haben wollt, um in eurem Wirken Gott zu dienen. Das zweite Wort, das heute in neuer Gestalt an euch herantritt, heißt Arbeit. In der Welt hat es keinen hellen Klang; denn man hört dahinter immer dasWörtlein: umsonst. Wer sagt Arbeit, der muß immer an die Mißerfolge denken, die gerade der redlichen Arbeit und dem guten Wirken beschieden sind. Aber dieses Wort Arbeit bekommt einen freudigen Klang durch das Palmsonntagswort: «Dein König kommt zu dir.» Denn dieses Wort sagt dir: Deine Arbeit gehört nicht nur dir, sondern sie gehört deinem König. Über dem äußeren Erfolg steht noch etwas Höheres: Der Segen Gottes, und «an Gottes Segen ist alles gelegen». Er, nicht der äußere Erfolg, gibt deinem Wirken den rechten Segen. In dem Leben werdet ihr Leute antreffen, die alle beneiden, weil über ihrem ganzen Schaffen etwas Stilles, Ruhiges und Freudiges liegt, obwohl dieWelt sagt, daß sie viel Mißerfolge und Enttäuschungen er-

lebt. Solche Leute sollt auch ihr werden. Darum müßt ihr heute, in eurem Herzen einen unerschöpflichen Vorrat von Lust, Freudigkeit, Hoffnung

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und Zuversicht ansammeln für die Arbeit eures Lebens. Diesen Geist der Freudigkeit sucht im Gebet; wenn ihr euch heute abend noch einmal sammelt, dann betet zu Gott, er möge seinen Segen auf die Arbeit eures Lebens legen, in das ihr morgen als selbständig hineintretet, dann wird er auch einen unvergänglichen Segen auf eure Arbeit legen, und ihr werdet es immer fühlen, daß über dem äußeren Erfolg und über dem äußeren Mißerfolg noch etwas Höheres eure Arbeit begleitet: der Segen Gottes.

Und nun dasdritte Wort: dasWort Sorge. Alle, die hier jetzt auf euch schauen, die bitten für euch, daß die Sorge euch noch lange fern bleiben möge. Und doch, essind welche unter euch, die sind an diesem Tage nicht so freudig, weil sie schon Not und Sorge kennen. Sie haben sie kennen lernen schon im elterlichen Haus, und sie fühlen sie heute doppelt, weil diese um sie fehlen, die sich an diesem Tage mit ihnen freuen sollten, und die gestorben sind, ehe sie diesen Tagerlebten. Euch, dieihr euch heute an dem Tage einsam, unglücklich fühlt, euch rufe ich dasWort zu: «Dein König kommt zu dir.» Habt ihr gleich in derWelt Sorge und fehlen euch gleich die, welche sich euer annehmen sollten, seid getrost, euer König kommt heute zu euch, Jesus; euer Leben gehört ihm, er wird euch leiten undführen, er will euch trösten undaufnehmen. Und auch ihr, die andern, schreibt euch dieses Wort ins Herz. Auch an euch werden die Stunden der Sorge herantreten. Aber ihr sollt darin nicht nur das irdische Unglück sehen, sondern die Stimme Jesu hören, der euren Sinn vom irdischen Glück, von der Welt und von den Menschen ablenkt und euch sagt: Blick hinauf zu mir, ich bin dein König; bis zum letzten Mal dieses Wort an euch ertönt, wenn der König euch heimholt ausdieser Welt in sein Reich. Meine lieben Konfirmanden! Der Palmsonntag ist der Tag, wo man im Gedenken jener Stunde des Einzugs in Jerusalem Zweige weiht; Palmsonntag sei für euch derTag, wo ihrJesus euer Leben weiht. So oft in eurem Leben noch Palmsonntagsglocken über die Erde ertönen, soll es euch feierlich ums Herz werden. Denn diese Palmsonntagsglocken fragen euch dann: Was ist aus der Palmsonntagsbotschaft geworden, die an eurem Konfirmationstag Palmsonntagsglocken euch ins Herz geläutet? «Ich bin dein, sprich du darauf dein Amen. Liebster Jesu, du bist mein. Drücke deinen süßen Jesusnamen brennend in mein Herz hinein. In dir alles tun und alles lassen, in dir leben und in dir erblassen, das sei bis zur letzten Stund unser Wandel, unser Grund.»¦33¿ 33 [Albert Knapp: Eines wünsch ich mir vor allem andern, Str. 4.]

Das Abendmahl

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Morgenpredigt Gründonnerstag, 4. April 1901, St. Nicolai

Mk. 14,22–24: [Das Abendmahl]¦34¿ Es liegt eine eigenartige Weihe über dem Gründonnerstag, dem letzten

Abend, den Jesus hier auf Erden verbrachte. Ich muß beim Gründonnerstag immer an den Advent denken. Dort liegt das Leben Jesu vor uns, hier blicken wir darauf zurück. Dort röten sich langsam die Wolken, ehe die herrliche Weihnachtssonne aufgeht, hier erstrahlt der ganze Himmel noch einmal in leuchtender Glut, ehe die Sonne untergeht. Dieser Vergleich des Gründonnerstags mit einem Sonnenuntergang ist nicht bloß ein Bild, sondern er enthält die Wahrheit. Denn in dem, wasJesus anjenem letzten Abend getan und gesagt hat, leuchtet noch einmal die ganze Herrlichkeit seiner Seele auf. Darum wollen wir uns sammeln und ihn an diesem letzten Abend in Gedanken begleiten. An dem letzten Tage war Jesus nicht in Jerusalem gewesen, sondern er hielt sich in dem stillen Bethanien auf. Und gegen Abend – als er seine Stunde gekommen wußte – zog er mit ihnen genJerusalem. Die meisten von euch, die hier versammelt sind, wollen sich am Gründonnerstag auf das Karfreitagsabendmahl vorbereiten. Das wollen wir nun tun, indem wir den Schritten des Herrn an jenem Gründonnerstag andächtig folgen. Als die Abendstunde gekommen war, setzte er sich zuTische mit den Seinen. Dort, beim letzten Mahle, nimmt er Abschied von ihnen und verdeutlicht ihnen im Brechen des Brotes und im Ausgießen desWeines die Bedeutung seines Todes. Habt ihr euch nicht schon manchmal gefragt: Wie kommt es, daßJesus eine solche heilige Handlung an eine Mahlzeit geknüpft, die doch etwas ganz Irdisches ist? Aber gerade darin zeigt sich die Art, wieJesus das Leben aufgefaßt hat. Für ihn gab es nichts Irdisches, nichts Gemeines, sondern alles, sein ganzes Leben, war geheiligt, weil er alles als von Gotteshand mit Dank empfing. So auch in dem letzten Mahle; um sich zu stärken auf den schweren Gang nimmt er zum letzten Mal Speise und Trank. Aber auch diese letzte Speise nimmt er mit Dank gegen Gott. «Er nahm das Brot, dankte, brach es und gab es ihnen.» Und durch diesen Dank gegen Gott, dawird dasAbschiedsmahl zum Mahl desfreudigen Dankes. Ehe er den Jüngern vom Tod spricht, da ermahnt er sie durch die Art, wie er das letzte Mahl feiert: «Dankt Gott allezeit um alles» [Eph. 5,20]. 34 [Und indem sie aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach’s und gab’s ihnen und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib. Und nahm den Kelch und dankte und gab ihnen den; und sie tranken alle daraus. Und er sprach zu ihnen: Das ist mein Blut des neuen Testaments, dasfür viele vergossen wird.]

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Predigten

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Wir wollen morgen zum Abendmahl gehen. Darum müssen wir auch wieJesus und seine Jünger den freudigen Dank im Herzen haben. Wenn morgen über diesem Brot undWein verlesen wird, Jesus habe gedankt am Abend vor seinem Tode über dem Brot undWein, den er genoß, dann sollen auch wir bereit sein, durch Dank gegen Gott für alles, auch das Geringste, was er getan an uns, würdig dieses Mahl zu feiern. Das gehört zur Feier desAbendmahles. Wir meinen, weil uns im Leben Trübes und Trauriges widerfährt, brauchen wir Gott nicht zu danken. Mancher hat schon bei sich gedacht: Ja, wenn mir alles glückte und ich nur Freude erlebte, wie wollte ich da Gott danken. Und dabei übersehen wir die Gnade Gottes, die sich auch in den geringsten Dingen unseres Lebens kundgibt. Wir nehmen Speise, Trank und alles, was wir haben, als etwas Selbstverständliches dahin, unser Herr Jesus aber hat im tiefsten Leid, in der Nacht vor seinem Kreuzestod, Gott für das letzte Stücklein Brot, das er über seine Lippen brachte, gedankt! Darum bedeutet das Abendmahl für uns auch eine Danksagung an Gott auch in derTraurigkeit und eine Danksagung an Gott auch für das Geringste. Darum wollen wir unser Herz bereiten Gott zu danken. Nach dem Mahle bricht Jesus mit den Seinen auf und verkündet ihnen, daß sie sich alle an ihm ärgern werden und ihn im Stiche lassen werden. Während im Mahle der freudige Dank gegen Gott, der seinem Leben dieWeihe verlieh, zum Ausdruck kommt, offenbart er hier zum letzten Mal die Nachsicht gegen die Seinen. Er hatte viel Geduld mit ihnen gehabt im Leben. Denkt nur daran, wie oft sie ihn mißverstanden haben, so daß, als er, das Herz von bangen Todesgedanken erfüllt, nach Jerusalem zog, sie sich darum stritten, wer der Größte sein würde im Himmelreich. Und nun zeigt sich nach dem Mahle seine höchste Nachsicht darin, daß er ihnen, indem er ihnen voraussagt, daß sie ihn verlassen werden, damit zumvoraus ihre Schwachheit verzeiht. Diese höchste Nachsicht übt Jesus nach dem Mahle. Sollte das uns nicht zu denken geben? Es ist keiner unter uns, der in dieser Stunde im Hinblick auf das heilige Mahl nicht in seinem Herzen den Gedanken desVerzeihens bewegte. Und es ist der Segen des Abendmahles, daß es uns in dieser feierlichen Stimmung leicht gemacht wird, Groll, Bitterkeit und Feindschaft eines ganzen Jahres vom Herzen zu wälzen und zu vergeben und verzeihen. Das Beispiel Jesu lehrt uns noch etwas anderes, und das oft viel schwerer ist als dies Verzeihen im Augenblick heiligen Ernstes: die Nachsicht gegen unsere Umgebung. Geben wir uns denn die richtige Mühe, wenn wir vom Abendmahl kommen, daß man in unserm Hause merkt, daß wir Abendmahl gefeiert haben?¦35¿ Sind wir gegeneinander 35 [R] Vonwelchen neuen Entschlüssen undheiligen Gedanken unser Herz bewegt ist.

Das Abendmahl

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nachsichtiger geworden? Zeigt sich in der Art, wie Mann und Frau gegeneinander sind, wie Kinder zu den Eltern, wie die Eltern zu den Kindern, wie die Geschwister zu den Geschwistern, wie Dienstboten zur Herrschaft und die Herrschaft zu den Dienstboten sind – zeigt sich denn da diese Nachsicht, dieses Ertragen der Schwächen der andern, wieJesus es seinen Jüngern nach dem Mahle zeigt, als er ihnen vorhersagt, daß sie ihn in der ersten Angst um ihr eigenes Leben verlassen werden? Ich glaube nicht. Darum wollen wir [es uns vornehmen]. Wer solchen Entschluß faßt im Abendmahl, dem ist die Feier gesegnet! Das letzte Ereignis in der Gründonnerstagsnacht zeigt uns zum letzten Mal die unendliche Liebe Jesu zu den Seinen. Er ringt mit sich selbst in Gethsemane; die Versuchung tritt in ihrer schrecklichsten Gestalt an ihn heran, als das Menschliche in ihm sich aufbäumt in dem Gedanken der schrecklichen Todesqual. Aber in dieser Stunde der Drangsal, da kommt ihm der Gedanke an die Seinen. Sie schlafen so ruhig, als ob sie am See Genezareth ruhten, und doch kommen schon von ferne die Kriegsknechte. Und wer sagt denn, daß die Häscher nicht auch die ergreifen, die um ihn sind, daß auch sie vor Gericht verurteilt werden, daß auch sie denTod erleiden und denselben Versuchungskampf durchkämpfen müssen wie er? Darum richtet er sich zu dreien Malen auf, tritt zu ihnen, rüttelt sie auf, sie sollen wach bleiben und Gott bitten, daß sie nicht in Versuchung kommen und eine solche Stunde durchkämpfen müssen.¦36¿ So ist diese Stunde des Kampfes und des Todes für ihn die Stunde der Liebe. Er vergißt sein eigenes Leiden in der liebenden Angst um sie.¦37¿

Das soll auch für uns ein Vorbild sein. Ich glaube, es fällt uns vieles schwer im Leben, weil wir, wenn wir ins Unglück kommen glauben, an uns allein denken, uns in unserm eigenen Leid vergraben. Nun wollen wir gerade von dieser Betrachtung des Gründonnerstagabends in Jesu Leben mitnehmen, daß wir gerade dann, wo wir selbst leiden, Liebe zu den Unsrigen in dem Leide zeigen, denn daswird uns und ihnen zum Segen sein. Die sorgende Liebe für die Seinen hatJesus geholfen, den Kampf in Gethsemane überwinden – und ich muß manchmal denken, daß sie von der Gefangennahme und dem Todesgang damals verschont wurden, weil er für die Schlafenden betete, Gott möge ihnen dieVersuchung ersparen. Um uns würdig zu bereiten, das Mahl zu feiern, dasJesus am Gründonnerstagabend eingesetzt hat, sind wir seinen Schritten in der Däm36 [R] Habt ihr schon darüber nachgedacht, warum Jesus seinen Platz verläßt? Er tat dies aussorgender Liebe. Er weiß, waser selbst leidet. 37 [R] Ist es nicht so, daß wenn wir – ich will sagen – nur einen Ärger haben, uns die ganze Welt gleichgültig ist? So aber entsagt man dem Schmerz nicht. Es ist kein Segen darauf. Und wieviel Segen könnte darauf liegen!

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merstunde gefolgt und haben da gesehen, daß sein Herz trotz der Trauer erfüllt war von freudigem Dank gegen Gott, von Nachsicht und Liebe gegen die Seinen. Und wenn er uns nun zu dem Mahle lädt, sollen auch wir kommen mit einem Herz voll Dank, mit dem Entschluß, nachsichtig undliebevoll zu sein.¦38¿ Nun laßt mich euch noch eine Frage stellen. Es waren viele Leute zu Jerusalem, und er hatte dort manche Freunde. Und doch hat er nur die Jünger zu diesem erhebenden Mahle eingeladen. Warum? Weil sie um und mit ihm waren und Umgang mit ihm pflegten, weil er die, die zu ihm gehören, die sich offen zu ihm bekennen, bei seinem Mahle haben wollte. Um ein Genosse des Mahles zu sein, muß man sich zuJesus halten! Das möchte ich manchen von denen, die an diesen Feiertagen zum Tisch des Herrn treten, zurufen! Sie möchten sich doch fragen, ob sie Jünger Jesu sind, indem sie sich allsonntäglich zu ihm hierherfinden. Man ist dann erst der rechte Abendmahlsgast, wenn man sonntäglich Kirchengast ist. Ich rede nicht im Vorwurf, sondern ich bitte die, welche morgen zum Mahle kommen, das Abendmahl, das sie feiern, zu heiligen, indem sie sich vornehmen: Ich bin Abendmahlsgast, ich will auch sonntäglicher Kirchengast werden.

[Morgenpredigt]¦39¿ Sonntag, 14. April 1901,

St. Nicolai

Joh. 8,12: Ich bin dasLicht derWelt; wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird dasLicht desLebens haben Es ist etwas Merkwürdiges mit den Worten Jesu. Dort in Palästina sind sie gesprochen worden zu den Jüngern oder zum Volk und haben sich erhalten bis auf den heutigen Tag. Nur erhalten? Nein, noch mehr, sie sind gewachsen und haben zugenommen. Sie sind nicht nur geheiligt, weil des Herrn Mund sie gesprochen, sondern auch durch dieJahrhunderte, die darüber hinweggegangen sind, und durch die Tausende und Tausende von Menschen, die sich daran schon aufgerichtet haben. Es ist, als ob ein Segen immer zunehmend an diesen Worten haften geblieben wäre, als ob sie, statt zu verblassen in der Zeit wie andere Menschenworte, immer leuchtender würden. Wenn man ein Wort Jesu vorliest, 38 [R] Nicht nur dann, wenn es leicht fällt, sondern gerade dann, wenn es schwer ist. 39 [Auf dem Manuskript steht nur, später hinzugefügt, März, April 1901. Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer am 14. April am Morgen und am Nachmittag gepredigt. Da er in der andern Predigt, S. 258, ausdrücklich von einer Nachmittagspredigt spricht, muß das die Morgenpredigt sein.]

Ich bin das Licht der Welt

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sollte man in Gedanken immer hinzusetzen: «Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen» [Mt. 24, 35]. Nun haben wir gerade eines von diesen monumentalsten Worten verlesen: «Ich bin das Licht der Welt!» Ein Wort, so gewaltig, daß es die Mauern unseres Kirchleins auseinandersprengen sollte. Habt ihr schon über dieses Wort nachgedacht? Es liegt etwas Auffälliges darin. Warum hat Jesus nicht gesagt: Ich bin das himmlische, das überirdische Licht, warum sagt er: «Ich bin das Licht derWelt?» Weil er derWelt sagen will, daß sie ein Licht braucht, und daß alles, was sie als Licht ansieht, nur Dunkelheit ist. Der Verstand ist das Licht der Welt, so sagt der menschliche Geist, was wir durch den Verstand erfassen, das ist klar, das ist Wahrheit. Die Wissenschaft und die Erkenntnis, die damit errungen wird, dasist dasLicht, vor dem dasDunkel weicht. Unser Herr war kein Verächter des menschlichen Strebens und des Durstes nach Weisheit. Er hat den menschlichen Verstand nicht wollen erniedrigen, sondern im Gegenteil, wo die Menschen einzudringen suchen in wahrem Ernste in die Geheimnisse der Welt, da steht er gleichsam hinter ihnen und treibt sie an, denn es geschieht und dient nur zur größeren Ehre Gottes. Je weiter sie vordringen, desto riesenhafter wächst das Geheimnis derWelt vor ihnen. Wenn sie meinten, daß die Erkenntnis desVerstandes Licht der Welt sein würde, so müssen sie es nun erleben, daß dieses Licht erbleicht und verblaßt, zuckt und verglimmt, wenn es hinuntergelassen wird in den Abgrund, um die letzte und tiefste Frage zu beantworten: Warum existiert die Welt – warum existieren wir? Was ist der Zweck des Daseins derWelt, was ist der Zweck unseres Daseins? Schlagt sie auf, die Bücher der Weisen von den ältesten Zeiten bis auf den heutigen Tag, fragt sie, ob sie dasWesen derWelt und unseres Daseins um einiges erhellt haben, sei es nur wie der Dämmerstreifen, der dasMorgenrot ankündet – und ihr müßt sie wieder zuschlagen, denn sie schweigen. Sie schweigen, denn sie müssen verstummen vor demWort: «Ich bin dasLicht derWelt» – ich, ein Mensch! Durch mein Leben und durch meinWirken, dadurch, daß die Worte, die ich geredet habe, in Menschenherzen aufgehen durch die Kraft meiner Person, dadurch bin ich Licht der Welt. Ich bringe den Menschen die höchste Erkenntnis: Die Erkenntnis ihrer selbst, daß sie wissen, warum sie auf der Welt sind, daß sie Gottes Wege und Absichten mit ihnen verstehen, dasist die höchste, die einzig wahre Erkenntnis. Und doch, unser Herr führt nun nicht aus, wieso und warum er das Licht derWelt ist. Er beweist es nicht, daß alle nun an ihn glauben müssen, sondern er sagt: «Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.» Nicht durch tiefsinnigen Verstand, nicht durch grüblerisches Nachdenken, sondern durch das Handeln und durch dasTun, durch das Streben wird das Licht

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derWelt, Christus, erkannt. Warum schallen denn dieWorte Jesu so vielen Gleichgültigen in die Ohren und wecken nichts in ihren Herzen? Warum hören sie dieWahrheit und merken sie nicht? Warum umleuchtet sie das Licht, und sehen sie es nicht? Weil sie nicht handeln, weil sie keine Anstrengung machen. Darum sagt der Herr nicht: Wer mich als das Licht derWelt erkennt, dem werde ich voranleuchten, sondern «Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird dasLicht des Lebens haben.» Wir haben schon alle dieWahrheit dieses Wortes an uns erfahren dürfen.Wann haben wirJesus am besten verstanden? Wann stand er klar, lebendig vor unserer Seele, als redete er mit uns? In den Augenblicken, wo wir strebten und handelten, wo wir etwas Gutes, etwas Edles taten, wo wir uns selbst überwanden, wo wir verziehen. War es da nicht, als ob plötzlich das ganze Neue Testament offen vor uns läge und die sonst so dunkeln und geheimnisvollen Worte uns brennend in die Seele hineinleuchteten und uns erfüllten mit Zuversicht, Freudigkeit und Hoffnung! Ist es in diesen schönsten Augenblicken desLebens nicht, als sprächejemand zu uns: Du bist nicht fern vom Reich Gottes, das heißt, du trägst es, du trägst die Seligkeit unverlierbar in dir, daß sie nichts dir entreißen kann! Darum sagt der Herr so schön: «Er wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird dasLicht desLebens haben.» Es wird nicht fern vor ihm herschweben, sondern er wird es haben und besitzen. Was ist das doch für ein herrlicher Spruch Jesu, wojedesWort seine tiefe Bedeutung hat!

[Nachmittagspredigt] Sonntag, 14. April 1901, [St. Nicolai]¦40¿

Mt. 7,7– 11:DasBittgebet¦41¿ Ich möchte heute nachmittag im Anschluß an unsern Text zu euch über das Bittgebet sprechen und einige der Fragen berühren, über die man oft die verschiedensten Meinungen hört und über die sich jeder 40 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer am Morgen und am Nachmittag Gottesdienst in St. Nicolai gehalten. Hier spricht er ausdrücklich vom Nachmittag. Vgl. Morgenpredigt, S. 256.] 41 [Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, demwird aufgetan. Welcher ist unter euch Menschen, so ihn sein Sohn bittet umsBrot, der ihm einen Stein biete? oder so er ihn bittet um einen Fisch, der ihm eine Schlange biete? So denn ihr, die ihr doch arg seid, könnt dennoch euren Kindern gute Gaben geben, wieviel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten!]

Das Bittgebet

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Christ schon Gedanken gemacht hat, wenn er sie auch nicht immer ausspricht, sondern für sich in seinem Herzen bewegt. Es handelt sich um unsere irdischen Sorgen. Sollen und dürfen wir denn da alles, auch das Geringste in unserem Leben, vor Gott bringen? Ist es nicht manchmal, das Gebet herabwürdigen, wenn darin Gott für die kleinen Sorgen unseres täglichen Lebens in Anspruch genommen wird? Ein frommer Matrose sagte einst zu einem Prediger, der ihn fragte, ob er auch bete: Ich bete nicht so viel als Sie. Ich bring es nicht über mich, Gott um jeder Kleinigkeit willen zu belästigen. Aber wenn ich dem wilden Meer ins Auge sehe, dann rufe ich ihn an und weiß, daß er mich erhört und mir nahe ist. Es gibt viele Christen, die ähnlich denken wie dieser Matrose. Sie meinen, man solle nicht so viel irdische Wünsche mit in das Gebet ziehen, denn das nehme ihm die Heiligkeit. Wenn wir vor Gott hintreten, dann solle das Irdisch-Menschliche an uns verschwinden und unsere Seele allein, nicht der schwache, irdische Mensch, soll zu ihm beten um geistige Güter. Gott kennt alle unsere irdischen Bedürfnisse; er hat nicht nötig, daß wir ihn darum bitten, denn er weiß sie, ehe wir den Mund auftun. Auf alle diese Erwägungen dürfen wir als Christen antworten: Jesus hat uns gelehrt und geboten, in unser Gebet auch die Bitte um die irdischen Dinge einzuschließen, indem er selbst, mitten zu den heiligen Bitten desVaterunsers des täglichen Brots gedenkt. Das gerade ist dasWunderbare an ihm, daß er in der Art, wie er uns auf Gott hingewiesen, immer das Menschliche hervorhebt. Gewiß, Jesus würde so hoch und heilig dastehen, auch wenn er wie einJohannes der Täufer das Sinnen der Menschen vom Irdischen ganz losgerissen hätte, aber es würde in seinem Bilde von Gott dasLiebliche, dasFreundliche und das Milde fehlen, wenn er uns nicht lehrte, daß Gott Anteil nimmt auch an unsern irdischen Dingen. Wer möchte sich das Vaterunser denken ohne die Bitte um das tägliche Brot? Es wäre wie eine herrliche Krone, der der herrlichste Diamant fehlte. Er erlaubt uns nicht nur, Gott darum zu bitten, sondern er ermuntert uns auch dazu: «Bittet, so wird euch gegeben!» Er verheißt uns, daß unser Gebet, wenn es im Glauben geschieht, erhört wird. Dazu hat er uns selbst das Beispiel gegeben, indem er über den Kranken, die er heilte, gebetet hat. (Einmal stellt er in einem Gleichnis dar, welche Kraft solches gläubiges Gebet hat [Lk. 18,1–8].) Über dieses Wort: «Bittet, so wird euch gegeben», könnte jeder Christ aus der Erfahrung seines Herzens erzählen. Jeder von uns hat es schon erfahren dürfen: Gott ist nahe. Für einen Christen sind die Ereignisse nicht Dinge, die durch eine blinde Macht herbeigeführt werden, sondern wir haben die Gewißheit, daß Gott sie unslenkt, und diese Gewiß-

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heit, die haben wir dann ganz besonders, wenn das, was kommt, uns die Gewißheit gibt: Gott hat dein Gebet gehört! Wer noch nie, wenn ihm eine große Freude zuteil geworden, es innerlich gefühlt hat: Gott hat es dir gesandt auf dein Gebet hin, wer noch nie um das Leben und um die Gesundheit eines ihm nahestehenden Wesens gebetet und es dann im Herzen erlebt hat, daß Gott es zum Guten gefügt hat, weil das Gebet vor ihn kam, der hat noch nicht den ganzen Trost des Christentums erfahren. Es ist ein Geheimnis: Niemand kann es erklären, wie Gott, der alles durchschaut und zum voraus weiß, auf das Flehen der Menschen hört und die Ereignisse darnach lenkt! Wir können dies Geheimnis nicht ergründen, aber wir glauben von Grund unseres Herzens, daß Gott auf unser Gebet uns hilft. Diesen Glauben kann uns nichts nehmen und darf uns nichts nehmen. Der Kirchenvater Augustin führte in seiner Jugend ein heidnisch wildes Leben. Seine Mutter Monica weinte und betete für ihn zu Gott. Da sagte der Bischof ihres Ortes zu ihr, ein Sohn so vieler Tränen und Gebete zu Gott könne nicht verloren gehen! Und er ging nicht verloren, sondern bekehrte sich. Und heutzutage, wenn wir lesen und um uns sehen, wie so viele, die lange geirrt, zuletzt doch auf wunderbare Weise den rechten Weg gefunden, da ahnt man, daß das Gebet einer frommen Mutter über dem Verirrten geschwebt und ihn zum Guten zurückgeführt hat. Ist es nicht, als ob Gott manchmal sich einer solchen Fügung bediente, wo er den Menschen gleichsam seine Fürsorge zeigen kann, um sie zu sich zurückzuführen? Das ist die Erfahrung so mancher jungen Frau, die in den Zeiten des Glücks langsam Gottes vergaß, ihren Glauben einschlummern ließ, bis nun, über dem Lager eines kranken Kindes es auf sie einstürmt, daß Gott ihr allein helfen kann, und sie nun in der Not wieder die Hände zum Gebet faltet und zu Gott ruft! Wie das Herrlichste im Christentum, so ist auch dieser Glaube an die Erhörung unseres Gebetes durch Gott veräußerlicht worden. Ihr habt schon von dieser «Gebetserhörung» reden hören. Es gibt Leute, welche sich anheischig machen, gleichsam alles durch Gebet zu verrichten; sie gehen so weit, daß sie meinen, daß das Gebet es über einem Kranken allein tun soll und kein Arzt zu holen sei und keine Heilmittel anzuwenden. Man findet in erbaulichen Schriften viele Beispiele von dieser Wunderkraft des Gebets. Ein Mann hat kein Geld mehr und muß an einem bestimmten Tage eine bestimmte Summe zahlen. Er betet gläubig zu Gott, und an jenem Tage trifft es sich, daß jemand ihm die Summe, die er gerade braucht, einhändigt. Ich habe auch schon gelesen, wie ein junger Mensch, der nicht die richtigen Kenntnisse hatte, durch ein schweres Examen gekommen ist, weil man für ihn betete – und solcher Beispiele hört man und liest man noch viele.

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Ich kann mich dabei des Eindrucks nicht erwehren, daß hinter diesem sogenannten gebetsstarken Christentum auch viel ungesundes Christentum steckt. Ich muß mich oft fragen: Ist das nicht eine Art, Gott zu versuchen, und tun die Leute nicht groß mit ihrem starken Glauben und rühmen sich gleichsam der Macht, die sie über Gott haben? Ich meine, sie reden zuviel darüber. Ich muß gestehen – und ich glaube, es geht euch wie mir – daß ich von diesen Augenblicken meines Lebens, wo ich glaube, daß Gott manches so und so gefügt hat, weil er mein Gebet erhörte, nicht sprechen könnte, auch nicht hier auf der Kanzel, sondern immer den Gedanken habe, daß dies ein Geheimnis ist zwischen ihm und mir und auch ein solches bleiben soll. Doch wir wollen hier nicht über diese Veräußerlichung des Glaubens an die Erhörung des Gebets durch Gott zu Gericht sitzen. Es ist doch nur eine äußerliche Auffassung desWortes: «Bittet, so wird euch gegeben», und der Herr selbst führt uns tiefer hinein. Gott erhört das Gebet – und er erhört es nicht! Schon über manchem Sterbelager hat eine bekümmerte Frau gebetet, Gott möge ihr den Gatten und den Kindern den Vater erhalten – und doch hat ihn Gott von der Erde abgerufen. Und der Fälle, wo Gott das Gebet der Menschen nicht erhört, sind viel mehr als derer, wo er es erhört. So war also das Gebet nutzlos und sinnlos? Nein. Warum bitten wir denn Gott? Um ihm zu zeigen, was er tun soll, als ob er es nicht wüßte? Um ihm unser Anliegen bekannt zu machen? Nein, sondern um ihm unser Leben und alles, was uns geschieht, gläubig zu befehlen; um ihm zu zeigen, daß wir an ihn glauben! Und wenn dies der Sinn unseres Gebets ist, dann hängt der Segen dieses Gebets nicht daran, ob nun, was wir erbitten, eintrifft, sondern der Segen des Bittgebets liegt im Gebet selbst: daß wir unser Herz darauf vorbereiten, daß, wasGott auch schickt, er es uns schickt, weil er es gut mit uns meint! Und darum beschließt der Herr den Spruch über die Erhörung des Bittgebets mit zwei Gleichnissen, daß Gott denen, die ihn bitten, nichts anderes als Gutes gebe, gerade wie ein irdischer Vater. Kein irdischer Vater gibt seinem Sohn, wenn er ihn um Brot bittet, einen Stein, kein irdischer Vater gibt ihm, wenn er um einen Fisch bittet, eine Schlange, sondern wenn er ihm auch nicht das gibt, was er von ihm bittet, weil er ihm kein Brot oder Fisch darbieten kann oder will, so wird er dem Kinde, das ihn um Nahrung, um etwas Gutes gebeten hat, doch auch gute Gabe geben. Und dieser Vater ist doch nur ein irdischer, arger Mensch! Wie viel mehr wird der himmlische Vater, dessen Wesen die Güte ist, denen Gutes geben, die ihn darum bitten, auch wenn es nicht dasist, worum sie ihn gebeten haben und oft gerade dasGegenteil! Die Güte Gottes zeigt sich nicht nur in dem, waser uns gibt, sondern gerade oft in dem, was er anders fügt, als wir ihn bitten. Jeder, der auf

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sein Leben zurückblickt, der muß sich sagen, daß so vieles, dasihm ein Unglück schien, das seine ganzen Pläne undWünsche über den Haufen warf, der Quell des Glücks und des Heils geworden. Freilich, es gibt auch hier Geheimnisse, Unglück, wo wir die Fügung Gottes nicht verstehen können. Aber auf dasVerstehen kommt es nicht an, sondern auf das Glauben. Nur der bittet recht und mit dem rechten Glauben, der zu Gott bittet in dem kindlichen Vertrauen, daß, was auch auf sein Gebet folgen werde, Gott es erhört, indem er ihm das Gute schickt und gute Gabe schenkt. Darum – und damit möchte ich schließen – ist unser christlicher Glaube an die Erhörung des Gebets durch Gott nicht davon abhängig, daß es auch immer so geschieht, sondern es ist etwas viel Höheres. Darum hat der Herr das Wort: «Bittet, so wird euch gegeben» nicht allein gesagt, sondern er hat es erklärt dahin, daß derjenige, der Gott im wahren Glauben bittet, gewiß sein darf, daß Gott für ihn alles zum Besten lenkt.

Morgenpredigt Sonntag, 5. Mai 1901, St. Nicolai

Joh. 17,9–19: [Das Hohelied des Christenstandes]¦42¿ Ist es euch noch nie aufgefallen, wie ganz anders die Reden Jesu sind, welche der Evangelist Johannes berichtet, als die, welche wir bei Matthäus, Markus und Lukas finden? Ich merke den Unterschied am meisten daran, daß ich die Reden beim Evangelisten Johannes viel schwerer auswendig behalten kann als zum Beispiel die Bergpredigt [Mt. 5–7] beim Evangelisten Matthäus. Dort, in der Bergpredigt, ist alles so einfach, ein Wort hebt sich vom andern ab, der Vers folgt so natürlich auf 42 [Ich bitte für sie und bitte nicht für dieWelt, sondern für die, die du mir gegeben hast; denn sie sind dein. Und alles, wasmein ist, dasist dein, undwasdein ist, dasist mein; und ich bin in ihnen verklärt. Und ich bin nicht mehr in derWelt; sie aber sind in der Welt, und ich komme zu dir. Heiliger Vater, erhalte sie in deinem Namen, die du mir gegeben hast, daß sie eins seien gleichwie wir. Dieweil ich bei ihnen war in derWelt, erhielt ich sie in deinem Namen. Die du mir gegeben hast, die habe ich bewahrt, und ist keiner von ihnen verloren, als das verlorene Kind, daß die Schrift erfüllet würde. Nun aber komme ich zu dir und rede solches in derWelt, auf daß sie in ihnen haben meine Freude vollkommen. Ich habe ihnen gegeben dein Wort, und die Welt haßte sie; denn sie sind nicht von der Welt, wie denn auch ich nicht von derWelt bin. Ich bitte nicht, daß du sie von der Welt nehmest, sondern daß du sie bewahrest vor dem Übel. Sie sind nicht von derWelt, gleich wie ich auch nicht von derWelt bin. Heilige sie in deiner Wahrheit; dein Wort ist dieWahrheit. Gleichwie du mich gesandt hast in dieWelt, so sende ich sie auch in dieWelt. Ich heilige mich selbst für sie, auf daß auch sie geheiligt seien in derWahrheit.]

Das Hohelied des Christenstandes

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den Vers – denkt zum Beispiel an die Seligpreisungen [Mt. 5,3– 10] – daß es einem ins Ohr fällt, wie man sagt. Es macht einem den Eindruck von einer einfachen und würdigen Choralmelodie, die man, einmal gehört, nimmer vergißt. Bei Johannes hingegen, da gehen die einzelnen Verse und Gedanken ineinander über wie die Farben des Regenbogens. Sie bilden keine Melodie, sondern eine Harmonie. Wenn ich ein Kapitel desJohannes lese, ist es mir immer, als hörte ich einen fernen, wundersamen Akkord, wie wenn hier im Münster die Orgel von der Höhe ertönt. So ist auch unser Text ein Akkord, eine große Harmonie in Worten. Jesus redet zu seinem Vater von denen, die ihn aufgenommen haben, was sie jetzt sind in der Welt, was sie durch ihn geworden und was sie sein sollen, wenn er sie verläßt. In diesen Worten redet Jesus in einer wunderbar schönen Weise von der Bestimmung und der Herrlichkeit des Christenstandes. Er denkt nicht nur an dieJünger, sondern, indem er zuletzt bittet für alle, die durch sie an ihn gläubig werden, sieht er vor sich alle Geschlechter, die einst seinen Namen tragen werden. Dieses Hohelied des Christenstandes setzt sich aus bestimmten Gedanken zusammen, wie eine Harmonie ausTönen besteht. Der Grundgedanke, der Grundton, wird angeschlagen in dem Wort «heilig». Die, welche Jesus angehören, sind geheiligt. Christsein heißt heilig sein. Darum hießen die ersten Christen, wie ihr es noch im Neuen Testament lesen könnt, in derApostelgeschichte und in den Briefen des Paulus: die Heiligen! Waswill nun dasheißen: die Heiligen? Warum hießen sie so? Wegen ihres Lebenswandels? Gewiß war es ihnen ernst, ein reines Leben zu führen, und wir können an diesem Ernst uns ein Beispiel nehmen. Aber «Heilige» waren sie dennoch nicht durch ihren Wandel. Wer möchte behaupten, daß die Apostel «Heilige» gewesen sind durch ihr Leben? Sie sindJesus nachgefolgt, und doch zeigen sich Züge in ihrem Charakter, die nicht heilig sind, so zum Beispiel, wenn sie sich streiten, wer den ersten Platz im Himmelreich einnehmen wird [Mk. 10,35–45] oder wenn sieJesus ersuchen, Feuer und Schwefel vom Himmel herabkommen zu lassen über die Städte, die sie auf der Reise nach Jerusalem nicht aufgenommen haben [Lk. 9,51–56]! Oder denkt nur, welch ernste Ermahnungen der Apostel Paulus oft an die Gemeinden richten muß über ihren Wandel, und doch nennt er sie «Heilige». Ihr seht, daß die Heiligkeit eines Christenmenschen nicht durch seinenWandel selbst erworben ist, sondern daß es auf etwas ganz anderem beruht. Wenn daher die katholische Kirche nur einen bestimmten Kreis von Christen «Heilige» nennt, als ob sie das durch ihren Lebenswandel verdient hätten, dann sagen wir: Das ist nicht richtig. Einmal, wenn Gott auf der Menschen Gedanken, Worte undWerke sieht, gibt es keine Heiligen und kein Verdienst vor ihm, sondern alle, auch die, welche wir

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bewundern, bedürfen seiner Gnade. Und dann: Heilige sind nicht nur eine bestimmte Anzahl, sondern es sind alle Christen, alle zusammen, sofern sie Christen sind. Das sind sie nicht durch sich, sondern Heilige sind sie, weil wir durch Jesus geheiligt sind. «Ich heilige mich selbst für sie, auf daß auch sie geheiligt seien in der Wahrheit», sagt Jesus in unserm Text. Durch ihn, durch sein Leben, durch seine Wahrheit sind wir geheiligt. Durch ihn hat unser irdisches Dasein eine höhere Weihe empfangen. DasWort heilig sagt selbst, worin diese Weihe besteht. Heilig bedeutet den Gegensatz zu weltlich. Was irdisch, was von derWelt ist, das ist an sich unheilig; heilig aber ist, was nicht von der Welt ist. Darum sagt Christus, die an ihn glauben sind geheiligt durch ihn, «denn sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin». Das ist der Grundgedanke, der immer durch Jesu Reden sich hindurchzieht beim Evangelisten Johannes! Darin besteht dieTiefe des göttlichen Geheimnisses, welches in ihm der Welt aufgeht, und welches er unter den Menschen verkündet. Nimmt man des Menschen Herkunft, dann ist er geboren von Menschen, die vergänglich sind – und darum selbst vergänglich, geboren von Menschen, die sündig sind – und darum selbst sündig, seine Gedanken, sein Tun, seine Worte, seine Freuden, seine Leiden, seine Tränen, sein Lachen, alles ist aufs Irdische gerichtet. Aber wenn er vonJesus ergriffen ist, wenn er sich hingezogen fühlt zu dieser Gestalt und zu demWesen, das sie belebt, dann zeigt und offenbart sich, daß, wenn er auch dieser Welt lebt, in dieser Welt geboren wurde und in dieser Welt stirbt, doch nicht von dieser Welt ist, sondern daß dasWesen, das unsere Person ausmacht, überirdisch ist, weil es sich angezogen fühlt von dem göttlichen Geiste, der in Jesus in irdischer Gestalt sich geoffenbart! Das ist der doppelte Ursprung des Menschen: als irdisches Wesen durch Menschen in dieWelt hineingeboren, als heiliges Wesen inJesus wiedergeboren für eine höhere Welt! In derWelt und nicht von der Welt: Das ganze Geheimnis des Christenstandes liegt in diesem einen Wort. Wie unser höheres Wesen in diese Welt gekommen, warum es hineingekommen, das bleibt Geheimnis. Wir gleichen Menschen, die als Kinder aus ihrer Heimat fortgezogen, und denen man will glauben machen, sie seien in dem Lande, dasiejetzt leben, daheim, während ein Sehnen, das immer wieder in ihnen aufsteigt, und eine traumhafte Erinnerung von einem Land, das anders ist als das, welches siejetzt bewohnen, sie an die wahre Heimat erinnert. Dieses Heimweh nach der Welt, die nicht von der Welt ist, hat Jesus in den Menschenherzen geweckt. Er selbst fühlt dieses Heimweh, denn was ist denn diese Bitte um Verklärung, mit der das hohepriesterliche Gebet beginnt, anders als das Sehnen nach der Heimat, das Irdische, welches ihm in derWelt anhaftet, abzustreifen und sein, waser ist, gött-

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liches Wesen! Und während er so selbst schon dem Irdischen entschwebt, bleiben die, in welchen er das Heimweh geweckt, auf der Welt zurück, und er vermag es nicht über, Gott zu bitten, daß er auch sie von derWelt nehme. Aber in den Geschlechtern, diejetzt über dieWelt ziehen, dalebt dasHeimweh, daser geweckt, und begleitet sie. Heimweh ist ein merkwürdiges Wort, zusammengesetzt aus der höchsten Seligkeit und dem höchsten Leid. Heim, daheim ist Seligkeit. Was unser Herz Schönes, Friedvolles, Liebevolles, Freudvolles und Herrliches denken kann, das schließt es ein in demWorte Daheim. Was es Trostloses, Bitteres, Trauriges gibt, das schließt es ein in dem Worte Weh! So bedeutet Heimweh: Seligkeit in der Traurigkeit und Traurigkeit in der Seligkeit. Darum ist Christsein Heimweh haben als die, die in derWelt und doch nicht von derWelt sind. Wenn man alles durchgeht, was Christen geredet und geschrieben haben, dann kommt immer das Heimweh durch. Ich möchte euch vorlesen, wie es beim Apostel Paulus hervorkommt. Es sind die ergreifenden Zeilen im 5. Kapitel des2. Korintherbriefes, 1– 9.¦43¿ Im Lauf der Zeiten haben die Christen ihren Glauben verschieden ausgedrückt – aber die Sprache des Heimwehs ist dieselbe geblieben, denn es ist die Sprache des Herzens. Ich möchte euch hier nur zwei Lieder ausdem Mittelalter vorlesen, die wohl zu den ältesten geistigen Gesängen in deutscher Sprache gehören: «Ich wollt, daß ich daheime wär.»¦44¿ 43 [Wir wissen aber, so unser irdisch Haus dieser Hütte zerbrochen wird, daß wir einen Bau haben, von Gott erbauet, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist, im Himmel. Und darüber sehnen wir uns auch nach unsrer Behausung, die vom Himmel ist, und uns verlangt, daß wir damit überkleidet werden; so doch, wo wir bekleidet und nicht bloß erfunden werden. Denn dieweil wir in der Hütte sind, sehnen wir uns und sind beschwert; sintemal wir wollten lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden, auf daß das Sterbliche würde verschlungen von dem Leben. Der uns aber dazu bereitet, das ist Gott, der uns das Pfand, den Geist, gegeben hat. So sind wir denn getrost allezeit und wissen, daß, dieweil wir im Leibe wohnen, so wallen wir ferne vom Herrn; denn wir wandeln im Glauben, und nicht im Schauen. Wir sind aber getrost und haben vielmehr Lust, außer dem Leibe zu wallen und daheim zu sein bei dem Herrn. Darum fleißigen wir uns auch, wir sind daheim oder wallen, daß wir ihm wohl gefallen.]

44 [«den Trost derWelt ich gern entbehr. 2. Daheim im Himmel meine ich, daich Gott schaue ewiglich. 3.Wohlauf, mein’ Seel, undricht dich dar, dort wartet dein der Engel Schar. 4. Denn alleWelt ist dir zu klein, du kommest denn erst wieder heim. 5. Daheim ist Leben ohne Tod und ganze Freude ohne Not. 6. Da sind doch tausend Jahr wie heut und nichts, wasdich verdriesst noch reut. 7.Wohlauf, mein Herz und all mein Mut,

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Das zweite ist das Pfingstlied, das in der Messe dasVolk auf deutsch anstimmte: «Nun bitten wir den heiligen Geist um den rechten Glauben allermeist, daß er unsbehüte an unserm Ende, wenn wir heimfahrn ausdiesem Elende.»¦45¿ In diesem Heimweh sind sich alle Christen gleich, welche Sprache sie reden und wie sie ihren Glauben auch ausdrücken. Jedes Christenherz hat es schon erfahren: Es kommt in traurigen Stunden, wenn wir derjenigen gedenken, die nicht mehr in der Welt sind. Es kommt auch in den freudigen Stunden; da faßt es uns zuweilen, als hätten wir Schwingen, als könnten wir diese Welt mit allem, was sie hat, hinter uns lassen und uns erheben zu einer nie geschauten Welt, deren Sehnen wir im Herzen tragen. Nun wißt ihr, es gibt ein gutes und ein böses Heimweh. Das böse Heimweh macht den Menschen verdrossen und mürrisch, zu nichts geschickt und drückt ihn nieder. Das gute Heimweh aber richtet ihn auf und hilft, alles tragen. Es folgt einem in der Fremde die Erinnerung an daheim, man fühlt seine Lieben um sich, man hängt ihre Bilder in das Zimmer, und wenn einem dann alles zu schwer wird, dann schließt man die Augen, und wasum einen ist, verschwindet, und mitten in der großen fremden Stadt mit ihrem Lärm undTrubel sieht man dasheimatliche Haus, den Rauch, der zum abendlichen Himmel aufsteigt, Glockengeläute zieht darüber hin, und stiller Friede umfängt einen. Und wenn man dann die Augen derWirklichkeit wieder öffnet, dann ist man getröstet – dieHeimat, die man im Herzen trägt, kann sie nicht rauben. Einen Menschen, der kein solches Heimweh hat, muß man bedauern, denn das Edelste in seinem Herzen ist erstorben. Er ist abgestumpft, oder er ist gefallen, so daß er die Erinnerung ausseinem Herzen gerissen hat. So ist es auch mit dem christlichen Heimweh; wer es nicht in seiner Seele verspürt, wer dieses Sehnen nicht mehr empfindet, dem fehlt und such dasGut ob allem Gut! 8.Wasdasnicht ist, dasschätz gar klein und sehn dich allzeit wieder heim. 9. Du hast doch hie kein Bleiben nicht, ob’s morgen oder heut geschicht. 10. Da es denn anders nicht mag sein, so fleuch derWelt gar falschen Schein. 11. Bereu dein’ Sünd, alswolltst dugleich schon morgen ziehn gen Himmelreich. 12. Ade,Welt, Gott gesegne dich! Gen Himmelreich nun fahre ich.» Heinrich von Laufenberg.] 45 [Aus dem 13.Jahrhundert: Nun bitten wir den heiligen Geist, Str. 1.]

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etwas – denn er erinnert sich nicht mehr, daß er in der Welt, aber nicht von derWelt ist. Was sollen denn die, welche Jesus hier in der Welt zurückgelassen und ihrem Herzen das Sehnen nach der höheren Welt eingehaucht? «Ich habe dich verklärt in der Welt», sprach Jesus zu Gott, «und nun bin ich verklärt in ihnen.» Was heißt das: verklären? Jesus hat Gott verklärt, indem das göttliche Wesen in ihm derWelt offenbar wurde. Und wenn er nun sagt: «Ich bin verklärt in ihnen», will er damit sagen: Mein Wesen wird offenbar in denen, die an mich glauben. Jesus verklärt in der Christenheit, Jesu Wesen offenbart in den Christen. Dieser Satz scheint zum Spott zu reizen. Man braucht da nicht lange in der Geschichte der christlichen Völker zu blättern, man braucht nicht nachzulesen, wie sie um der Religion und der Glaubenssätze willen sich gegenseitig zerfleischten und dabei unter dem Christennamen die schandbarsten Taten begingen. Man braucht nur einen Blick auf das zu werfen, washeute um uns geschieht. Wie wird in unseren christlichen Landen der Name Jesu verklärt? Wie offenbaren diejenigen, die in den fernen, heidnischen Landen leben – ich rede nicht einmal von denen, die mit denWaffen in der Hand hinausziehen und sich ihrer Grausamkeit und Härte noch rühmen – das Wesen Christi? Ist es nicht so, daßJesus statt in ihnen verklärt, in ihnen geschändet wird? – Und dennoch sage ich: Jesus ist in den Seinen verklärt. Die, von denen ich geredet habe, sind nicht die Seinen: Sie tragen seinen Namen – und darum können sie seinen Namen schänden, aber Jesus selbst wird davon nicht berührt, sondern er wird verklärt in den Seinen, dasheißt in denen, die durch seine Person, seinen Geist und sein Wesen ergriffen sind. Ich denke hier an alle großen Männer, in denen sich Jesu Geist offenbart. Ich frage mich: Was wäre aus ihnen geworden ohne Jesus? Was wäre der Apostel Paulus gewesen? Ein berühmter pharisäischer Schriftgelehrter, der sein Leben dahingebracht hätte in öden Disputationen über die Kleinigkeiten des Gesetzes. Und was ist er geworden durch Jesus: Ein Mensch mit einem von Liebe und Erbarmen, von Begeisterung für alles Hohe und Edle überreichen Herzen, der Ruhm und Ehre im Stich ließ, die Feindschaft seiner Volksgenossen auf sich nahm, um hinauszuziehen zu Menschen, die ihn nichts angingen, ihnen Frieden und Seligkeit zu bringen – und alles dasist er geworden nur durch Christus. Ist das nicht die Erfüllung desWortes: «Ich bin verklärt in ihnen»? Und so könnte man das Leben aller großen Männer der Christenheit durchgehen und fragen: Was wären sie, wenn nicht Christi Wesen in ihnen lebendig geworden wäre und sich in ihnen der Welt offenbarte? Was wäre Melanchthon gewesen? Ein stiller zaghafter Gelehrter, der zurückgezogen in der Welt seiner Bücher gelebt hätte, ohne jemand zu nützen. Durch Christus aber ist er ausdieser Stille herausgeworfen wor-

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den; und es ging ihm auf: Die Wissenschaft an sich ist tot, wenn sie nicht im Dienste des Evangeliums und der Menschheit steht. Und so wurde der stille Gelehrte einer unserer Reformatoren. Ist diese Umwandlung des Gelehrten in den Reformator nicht auch eine Verklärung Christi? Ihr habt schon alle von dem berühmten Philosophen Kant gehört. Wohl selten hat die Natur eines ihrer Geschöpfe mit so reichen Gaben und mit so durchdringendem Verstand ausgestattet wie ihn. Wie nahe wäre ihm gelegen, mit diesem Wissen zu prangen, es zu vergeuden; aber Kant war Christ durch die fromme Erziehung seiner Eltern. Und so sah er seine Lebensaufgabe darin, den Kampf aufzunehmen gegen den Eigendünkel menschlicher Weisheit, die sich vermaß, zu sagen: Außer diesem Leben und außer dieser Welt gibt es nichts. In allem, was er geschrieben hat, geht er immer wieder darauf aus, zu zeigen: Es gibt noch eine andere Welt als die Sinnenwelt, es gibt eine andere Kraft als die blinde, alles zermalmende Naturgewalt, es gibt einen Gott der Heiligkeit und der Liebe. Es gibt für den Menschen noch einen andern Ursprung als den irdischen, er gehört noch einer andern Welt an als der, in welche er durch seinen Körper hineingebannt ist, es gibt für ihn noch ein höheres Gesetz als Vorteil, Leidenschaft und Begierde, es gilt für ihn dasheilige Gesetz, dassich in seinem Gewissen offenbart, es gibt noch eine höhere Bestimmung für ihn als dieses irdische Leben, es gibt noch ein höheres Ziel als den Genuß: die Vollendung in der Ewigkeit! Und wenn man diese dunkel und schwer geschriebenen Seiten durchliest und von Zeit zu Zeit staunend verweilt an einem Satz, wo die ganze Tiefe und Lauterkeit seines christlichen Herzens und Gewinnes hervorquillt, dann muß man fragen: Ist hier nicht auch Christus verklärt, denn was wäre aus diesen reichen Gaben geworden, wenn Kant nicht Christ gewesen, wenn er nicht von frommen Eltern erzogen worden wäre? Und das alles sind nur die großen Namen aus der Zahl der Männer, von denen man redet, herausgegriffen. Aber wie viele einfache, schlichte und verborgene Existenzen hat es gegeben und gibt es noch, von denen die Welt nicht redet, deren Namen sie nicht einmal behält, die nur wenigen bekannt, in kleinem Kreise wirken, aber Christus in ihnen verklären, weil sie das, was sie sind, durch ihn geworden sind. Ist stilles Wirken, Ergebung, heitere Freudigkeit und Geduld nicht ein Verklären Christi? Wo man spürt: Hier weht sein Geist, hier ist sein Geist Lebenskraft? Unsere Evangelien erzählen uns, daß Jesus vor seinen Jüngern verklärt wurde auf dem Berge, indem ein himmlischer Glanz ihn umstrahlte [Mt. 17,1–13]. Was jene Verklärung war, das wissen wir nicht, wir können es uns nicht vorstellen, denn wir waren nicht Zeugen. Aber von der höheren Verklärung in den Geschlechtern der Menschen, des-

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sen sind wir Zeuge, und durch diese sind wir gläubig geworden. Denn wie werden die Menschen Christen, wie hat es sich fortgepflanzt unter den Geschlechtern? Durch die Lehre, indem man sagte: Was diese glauben, dasist wahr? Nein, sondern durch dasWirken der Personen, in denen Christus verklärt war. Jeder Christ muß sagen: Ich bin nicht Christ geworden durch die Lehre; alles, was ich darüber gelernt habe, das ist erst lebendig geworden durch den Eindruck, den diese und diese christliche Person auf mich gemacht hat – und das sind oft ganz stille, einfache Personen.

Was ist doch von einzelnen Personen, von einem Luther, einem Spener, einem Zinzendorf, einem Francke, einem Tholuck für eine große Bewegung ausgegangen, daß man sich fragt, wie konnte ein Mensch solches zustande bringen? Menschen haben es auch nicht zustande gebracht, sondern das Wesen Jesu, das sich in ihnen fortsetzt, und seine Person, die in ihnen nachwirkt, sein Glanz, der in ihnen ausstrahlt. Es ist da wie bei einem Sonnenaufgang: Die Sonne selbst sieht man nicht; aber die Spitzen der Berge erglänzen, und auf ihnen flammt das Licht der Sonne auf, von wo es Helligkeit auf die niederen Bergspitzen, dann über Tal und Ebene breitet. So sind diese Personen, in denen Christus verklärt ist, die Bergspitzen, über welchen seine Klarheit aufflammt, um von dort dieWelt zu erleuchten. Jesu Person setzt sich fort in den großen, frommen Menschen, und aus diesen wirkt sie auf die andern.

Ich habe bisjetzt noch nicht gefragt, ob Christus auch durch uns verklärt wird, und ich werde diese Frage auch nicht hier von der Kanzel stellen. Denn wenn ich in unserm Namen sagen wollte: Ja, er wird in uns und durch uns verklärt, dann müßte ich fürchten, zuviel zu sagen, und wenn ich sagen wollte, nein, er wird nicht in uns verklärt, sein Wesen wirkt nicht in uns, dann hätte ich zu wenig gesagt und vielleicht auch nicht wahr, denn dashieße doch, eingestehen, daß wir keine Christen sind, daß Christi Wesen gar nicht in uns ist. Auf diese Frage muß jeder sich selbst Red und Antwort stehen, aber die Frage muß sich ein jeder stellen. Daher möchte ich die Frage nicht auf der Kanzel stellen und nicht in eurem Namen beantworten. Sind wir so von christlichem Geist durchdrungen, ist unser Leben, unser Handeln und Reden christlich, daß diejenigen, die mit uns in Berührung kommen, ob es nun Hausgenossen, Gesinde, Untergebene, Vorgesetzte, Kinder, Schüler oder was es sonst sind, in unserem Wesen Christi Geist verspüren und von diesem Geist angeregt und belebt werden, daß wir ihnen zum Segen werden, indem wir sie auf den Herrn des Lebens, Jesus, hinführen, daß Christus in uns verklärt werde? Das ist die Frage, die wir heute ausder Kirche mitnehmen wollen. Es ist eine schwere Frage, denn bei dieser Frage handelt es sich um unsere Verantwortung an denen, die um uns sind. Eine Verantwortung

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drückt zunächst nieder. So ist es auch hier. Ich finde, es ist nicht recht, daß man den Menschen immer sagt: Euer Leben entscheidet über eure Seligkeit, dasist nicht der ganze Ernst des Christenberufs, sondern man sollte ihnen immer wieder sagen: Euer Leben entscheidet für die Seligkeit derer, die um euch sind. Euch ist es gegeben, durch ein christliches Wesen und Wandel sie zu Christus emporzuziehen und ihren Geist zu entflammen, und euch ist es gegeben, sie durch gottloses Wesen mit hinunterzuziehen.¦46¿ Und dieses Gefühl der Verantwortung, das bildet um uns wie einen Damm. Wenn wir uns selbst gehen lassen wollten, dann kommt es uns wieder in Erinnerung: Dein Beispiel entscheidet; und das muß uns vom Fall zurückbehalten.Wie oft ist einVater oder eine Mutter zurückgehalten worden, etwas zu begehen. Wenn sie allein gewesen wären, wäre es ihnen nicht darauf angekommen; aber um der Kinder willen kämpfen sie und ringen sie mit sich selbst. So ist die Verantwortung eine Mahnerin. Sie ist aber auch eine Hilfe; was uns für uns zu schwer scheinen würde, ein reines und edles Leben zu führen, das wird uns leicht gemacht durch den Gedanken, daß wir es nicht für uns selber tun, sondern in Rücksicht und zumWohl der andern. Es kommt dann eine Zuversicht, etwas Sieghaftes in unser Wesen, wir heben den Kopf empor und schauen den Kampf des Lebens und den Kampf wider die Sünde nicht als einen Kampf, in dem wir allein streiten, sondern wir kämpfen als die da geheiligt sind durch Christus, und wir kämpfen mit für die, welche auf uns blicken und um uns stehen als die, in welchen sich Christus, der Herr desLebens, verklären soll. Denn in derVerantwortung liegt auch etwas, das aufrichtet, das Flügel gibt, das erhebt. Ich erinnere mich von der Dorfschule in der Rechenstunde, daß immer kleine Gruppen um die Tafel versammelt wurden, und ein Schüler über sie gesetzt wurde, mit ihnen zu rechnen, während der Lehrer sich mit den andern beschäftigte. Von diesem Augenblick an war der Schüler durch den Gedanken, daß nun die Aufmerksamkeit der andern auf ihn gerichtet war, etwas ganz anderes. Er achtete auf sich selbst und ließ sich nicht gehen, weil er den andern gegenüber eine Verantwortung fühlte. Ist es nicht so auch mit den Arbeitern: Ein Arbeiter lebt unter den andern, tut seine Pflicht, murrt auch zuweilen, daß die Arbeit zuviel ist, sucht, sich die Mühe zu sparen, wo’s geht. Mit dem Augenblick aber, wo man ihn aus der Zahl der Arbeiter herausnimmt und ihm sagt: Siehe, ich stelle dich nun so, daß die Aufmerksamkeit der andern auf dich gerichtet ist: Er holt etwas auf, keine Arbeit ist ihm zuviel, keine Anstrengung zu schwer, und alles geht ihm leicht von der Hand. 46 [R] Was man im gewöhnlichen Leben das gute Beispiel nennt, das würde uns einen ganz andern Ernst geben. Aber nicht nur Ernst, sondern auch Kraft und Freudigkeit.

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«Es wächst der Mensch mit seiner höheren Pflicht», sagt ein Dichterwort. Ich glaube, wenn wir diese höhere Pflicht auch im Christenstande finden wollen, dann werden wir auch wachsen. Wir wollen denken, daß wir, wer wir auch seien, nicht für uns leben, für uns kämpfen, mit der Sünde in uns streiten für das Gute und Edle, so daß wir es tun als die, welche Christi Wesen denen, die um sie sind, lebendig offenbaren sollen, die Christus in derWelt verklären sollen. Dann ziehe auch in unser Herzjene frohe Zuversicht undjene Freudigkeit, und es breite sich über unser Christentum jener herrliche Frühlingssonnenglanz, der in Jesu Wort liegt: «Ihr seid dasLicht derWelt» [Mt. 5,14].

Nachmittagspredigt Himmelfahrtstag, 16. Mai 1901, St. Nicolai

Act. 1,9–12: [Himmelfahrt

Christi]¦47¿

Ganz Straßburg ist diesen Nachmittag hinausgezogen, an diesem herrlichen Himmelfahrtstage, des blauen Himmels sich zu freuen; nun seid ihr, einige wenige, hier zusammengekommen, um in stiller Nachmittagsstunde das Fest zu feiern. Laßt mich daher zu euch reden schlicht und einfach von der Himmelfahrt. Schlicht und einfach von der Himmelfahrt: Das will heißen, daß wir alle die Fragen, zu welchen dasEreignis, welches unser heutiges Fest feiert, Anlaß gibt, beiseite liegen lassen. Denn heute macht sich so mancher seine Gedanken und fragt sich: Wie ist denn das möglich, daßJesus so von der Erde zum Himmel aufgeschwebt sei? Die Menschen streiten sich darüber. Die einen sagen: Es muß so sein, man muß es glauben, weil es in der Bibel steht; darauf antworten die andern: Das Aufgenommenwerden in den Himmel, das ist nicht ein äußerlich sichtbarer Vorgang, denn der Himmel istja nicht ein Raum über den Sternen, zu dem man hinfliegt, sondern er ist etwas Unsichtbares, von demwir uns keine Vorstellung machen können. So reden die Leute hin und her, ihr selbst und ich, wir haben uns auch schon unsere Gedanken darüber gemacht – und ich finde, man soll darin jeden denken lassen, wie er will, denn die Seligkeit hängt gar nicht davon ab, wie man sich vorstellt, daßJesus von der Erde geschie47 [Und da er solches gesagt, ward er aufgehoben zusehends, und eine Wolke nahm ihn auf vor ihren Augen weg. Und als sie ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, siehe, da standen bei ihnen zwei Männer in weißen Kleidern, welche auch sagten: Ihr Männer von Galiläa, was stehet ihr und sehet gen Himmel? Dieser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen gen Himmel, wird kommen, wie ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren. Da wandten sie um gen Jerusalem von dem Berge, der da heißt der Ölberg, welcher ist nahe beiJerusalem und liegt einen Sabbatweg davon.]

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den, sondern die Bedeutung des Himmelfahrtfestes liegt darin, daß es Jesu Abschied von der Erde uns ins Gedächtnis zurückruft und daß uns dieser Abschied zu Herzen geht. Und was für ein Abschied? Er geht ein zum Frieden und zur Herrlichkeit – und dieJünger bleiben. DasWort, das mir im Text immer zu denken gibt, und wo ich immer verweilen muß, das heißt: «Da wandten die Jünger sich um gen Jerusalem.» Mit welchen Gedanken treten sie den Heimweg an? Mit welchen Gefühlen betreten sie wieder ihre Be-

hausung? Hast du schon jemand, der dir besonders lieb war, zum Bahnhof hinausbegleitet, hast dann den Zug langsam aus der Halle hinausfahren sehn, bis die weiße Rauchwolke in der Ferne verschwand, hast dich dann auf dem Absatz herumgedreht und dich gefragt: Wann sehen wir uns wieder? und bist dann still und gedrückt nach Hause gegangen, und da erschienen dir die Wände so öd und die Zimmer so verlassen, und es hat Tage undWochen gedauert, bis du dich daran gewöhnt hast, die Person, die von dir geschieden, nicht mehr um dich zu sehen, ob es nun eine Tochter war, die selbständig ihr eigenes Haus gründete, oder ein Sohn, der hinauszog in die Welt, oder ein Kind, das zu Fremden zog, oder jemand, dem du gewohnt warst, alle deine Gedanken mitzuteilen. Oder bist du schon vom Friedhof heimgekehrt und hast dir gesagt: Jetzt ist’s fertig, jetzt muß ich mich gewöhnen, ohne ihn zu leben, und da kamst du in die Zimmer, wo alles dich noch an ihn erinnerte, wo noch sein Odem wehte, der Tisch mit seinen Gegenständen, alles wie er es gelassen, seine Kleider, seine Bücher – und ist dir da alles so einsam, so öd vorgekommen, und es hat dir gar nichts wollen nützen, daß du dir sagtest: Es ist besser so, er ist jetzt im Himmel, wo er nicht mehr zu leiden braucht. Nun gerade so muß es denJüngern gewesen sein, als sie nach Jerusalem zurückkehrten und dort sich einrichteten, nun allein zu leben. Sie und wir, die ganze Christenheit überhaupt, sind wir nicht solche, die sich eingerichtet haben, allein zu leben, ohne den, dessen Namen wir tragen, und der uns ein solches Vermächtnis auf derWelt zurückgelassen hat? Nicht wahr, wir denken oft: Wie schön wäre es, wenn wirJesus gekannt hätten, und wir wagen uns gar nicht vorzustellen, wie schön es wäre, wenn er unter uns weilte, und wir denken nur immer, wie es uns doch so viel leichter würde, schön und fromm zu leben, wenn sein Auge auf uns ruhte und er in unserer Mitte wäre. Was macht man denn, wenn einer unserer lieben Hausgenossen zum Himmel eingegangen, den wir nicht vergessen können? Man schlägt einen Nagel in dieWand und hängt sein Bild daran auf und betrachtet es oft; dann sagt man sich: So hat er ausgesehen, daswaren seine Züge, das sein Blick. So haben es dieJünger auch gemacht. Freilich, ein

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Bild seiner äußeren Person, seiner Gesichtszüge, das hatten sie nicht, aber das Bild, wie er unter ihnen lebte, das holten sie nun hervor, und sie führten die andern, die ihn nicht gekannt hatten, vor dieses Bild, indem sie ihnen erzählten von den Gleichnissen und von seinen Reden in Galiläa, wie er unter ihnen gewandelt in heiterem Ernst und liebevoller

Sanftmut. Dieses Bild, das haben wir noch heute: Es sind unsere Evangelien. Ich frage mich, ob wir sie auch immer hochschätzen, diese einfachen, schlichten Evangelien, wo wir den Herrn Jesus so einfach und schlicht sehn und hören, waser geredet, als ob wir dabei gestanden hätten. Siehe, wenn wir dieses Bild vonJesus nicht hätten, wie traurig wäre es bestellt! Da müßten wir uns begnügen mit den Formeln, in denen die Menschen Jesu Wesen gefaßt haben, wir wüßten nichts, als daß er göttliche und menschliche Natur in sich vereinigte und daneben noch einige Märlein und Legenden über ihn! Aber den lebendigen Jesus, den hätten wir nicht. So müssen wir den Jüngern und denen, die unsere Evangelien geschrieben, dankbar sein, daß sie den Christen aller Zeiten bis in die fernsten Jahrhunderte ein so edles und schlichtes Bild des Herrn überliefert haben, an dem man sich nie satt genug kann sehen, und das, je länger man es betrachtet, desto lebendiger wird, so daß wir meinen, wir sind selbst seinen Schritten gefolgt, und daß wir von ihm eine Erinnerung haben. So haben wir nun eine Erinnerung an den Jesus, von dem uns der heutige Festtext erzählt, daß er von der Erde zum Himmel eingegangen sei. Eine Erinnerung aber ist etwas Heiliges im Herzen. Denkt an die Lieben, diejeder von uns im Himmel hat. Nicht wahr, eine Witwe, die allein auf der Erde geblieben mit ihren Kindern, an die kommen gar manche Fragen und Sorgen, wie sie nun die Kinder leiten und lenken soll, und sie wäre übel dran, denn die Menschen raten, der eine so, der andere so, wenn sie sich nicht sagen könnte: Das hätte der Vater über die Kinder bestimmt, so hätte er in diesem Fall gehandelt, also mach ich es so. Und wer eine Mutter oder einen Vater oder jemand, dem er sehr nahe stand, im Himmel hat, der fragt sich in allem, waser tut: Waswürden sie dazu sagen. Man redet von Schutzengeln: Hat nicht jeder Mensch seine Schutzengel, ich meine die Erinnerung und das Gedächtnis an die da oben, und lenkt nicht dieses Andenken ihre Schritte, bewahrt sie vor Bösem und gibt ihnen Kraft zum Guten? Ein Gefängnisgeistlicher erzählt in dem Bericht von seiner Tätigkeit, daß er gar oft denWeg zum Herzen der Gefangenen nicht finde; da rede er ihnen von denen, die sie droben haben, von einer frommen Mutter, einem frommen Vater, und dann finde er oft den Weg zu den verstocktesten Herzen.

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So haben wir alle jemanden droben. Neben allen unsern irdischen Angehörigen, jemand der uns nahe angeht und dessen Erinnerung, als hätten wir ihn gekannt, in unserm Herzen wohnt: Jesus, von dem wir uns immer sagen müssen: Was hätte er an unserer Stelle getan, und was würde er zu unserm Tun sagen? Was hätte er getan – dies überkommt uns manchmal wie eine heiße Reue, wenn wir leidenschaftlich, zornmütig, lieblos und gehässig gewesen sind. Waswürde er dazu sagen? Das gibt in unserem Herzen oft die Entscheidung zum Guten, wenn die Gedanken und Begierden sich darin streiten, und führt uns zurück auf den guten Weg, wenn wir auf bösem Pfad wandeln. So wollen wir immer Jesus im Herzen und vor Augen haben, damit wir bereitet sind, ihn wiederzusehen, ihn, denwir nie gesehen und doch kennen. Denn ein solches Wiedersehen wird es einst geben. «Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr und sehet gen Himmel? Dieser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen gen Himmel, wird kommen, wie ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren.» So sprachen die zwei Männer in weißen Kleidern zu denJüngern. Es ist anders gekommen: Nicht Jesus ist wieder auf Erden kommen, um Gericht zu halten, sondern dieJünger sind zu ihm in den Himmel genommen worden – und so wird es auch sein mit uns. Und doch – ein Gericht ist dieses Wiedersehen im Himmel: Die, welche sein Bild im Leben im Herzen gehabt, die werden ihm zu Füßen fallen, als sehen sie jemand wieder, nach dem sie sich schon längst gesehnt, und er wird sie aufheben. Und die, welche ihn auf dieser Welt nicht vor Augen gehabt, die werden stumm und fremd von ferne stehen bleiben, und er wird sie wehmütig und ernst anschauen. So stell ich mir dasletzte Gericht vor.

Nachmittagspredigt Sonntag, 19. Mai 1901, St. Nicolai Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten

Joh. 21,1– 17: [Jesu Erscheinung am See Genezareth]¦48¿ In dem Nachmittagsgottesdienst vom Himmelfahrtstage habe ich euch gesagt, daß jener Tag der Gedenktag ist des Abscheidens Jesu von der Erde. Wir haben da gesehen, mit welchen Gedanken wir dieses Abschei48 [Darnach offenbarte sichJesus abermals denJüngern an dem Meer bei Tiberias. Er offenbarte sich aber also: Es waren beieinander Simon Petrus undThomas, der da heißt Zwilling, und Nathanael von Kana in Galiläa und die Söhne desZebedäus und andere zwei seiner Jünger. Spricht Simon Petrus zu ihnen: Ich will hin fischen gehen. Sie sprechen zu ihm: So wollen wir mit dir gehen. Sie gingen hinaus und traten in das Schiff alsobald; undin derselben Nacht fingen sie nichts. Da es aberjetzt Morgen war, stand Jesus am Ufer; aber die Jünger wußten nicht, daß esJesus war. Spricht Jesus zu

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den Jesu feiern sollen, welches Andenken, welche Erinnerung er uns läßt und wie er im Himmel auf uns wacht. Und doch komme ich nun heute, am Sonntag vor Pfingsten, noch einmal auf den Verklärten, da noch sein Fuß die Erde berührt, zurück, weil es eine so gar schöne Erzählung ist. Gewöhnlich sucht man die Jünger nach Jesu Tod in Jerusalem. Hier aber finden wir sie in Galiläa am See Genezareth. Wie kamen sie dorthin? Es war ihnen unheimlich geworden in der großen Stadt, sie waren sich so verloren, so einsam vorgekommen und hatten noch nicht den Mut gefunden, vor demVolk aufzutreten und zupredigen. Da waren sie zurückgekehrt nach Galiläa und gedachten, wieder zu leben wie vorher als stille, friedsame Fischer, fernab von den Kämpfen derWelt. Es hatte sie dorthin gezogen. Dort in Galiläa am See, da konnten sie am besten an ihn, den Herrn denken, dort, wo das Plätschern der Wellen am Gestade, wo die Blumen und Büsche, wojedes Lüftlein von ihm erzählte! Jetzt war es gerade ein Jahr – es war ja auch im Anfang des Sommers, vor der Erntezeit gewesen – dass er dort in der Bucht im Nachen saß und dasVolk lehrte. So waren sie glücklich, in den stillen Frieden und an die Stätte der schönen vergangenen Tage zurückgekehrt zu sein und wieder Fischer zu sein. So wäre es geblieben, wenn nicht eines Morgens die Gestalt Jesu am Ufer gestanden hätte – und als sie ihn erblickten, da ging ihnen das Herz über voll Freude. Sie wagen kein Wort an diese Gestalt zu richten ihnen: Kinder, habt ihr nichts zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. Er aber sprach zu ihnen: Werfet das Netz zur Rechten des Schiffs, so werdet ihr finden. Da warfen sie und konnten’s nicht mehr ziehen vor der Menge der Fische. Da spricht derJünger, welchen Jesus lieb hatte, zu Petrus: Es ist der Herr! Da Simon Petrus hörte, daß es der Herr war, gürtete er das Hemd um sich (denn er war nackt) und warf sich ins Meer. Die andern Jünger aber kamen auf dem Schiffe (denn sie waren nicht ferne vom Lande, sondern bei zweihundert Ellen) und zogen das Netz mit den Fischen. Als sie nun austraten auf dasLand, sahen sie Kohlen gelegt und Fische drauf und Brot. Spricht Jesus zu ihnen: Bringet her von den Fischen, die ihr jetzt gefangen habt! Simon Petrus stieg hinein und zog das Netz auf das Land voll großer Fische, hundertunddreiundfünfzig. Und wiewohl ihrer so viel waren, zerriß doch dasNetz nicht. Spricht Jesus zu ihnen: Kommt und haltet das Mahl! Niemand aber unter denJüngern wagte ihn zu fragen: Wer bist du? denn sie wußten, daß es der Herr war. Da kommt Jesus und nimmt dasBrot und gibt’s ihnen, desgleichen auch die Fische. Das ist nun das drittemal, daßJesus offenbart ward seinen Jüngern, nachdem er von denToten auferstanden war. Da sie nun dasMahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon Jona, hast du mich lieber, denn mich diese haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich liebhabe. Spricht er zu ihm: Weide meine Lämmer! Spricht er wieder zum andernmal zu ihm: Simon Jona, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, duweißt, daß ich dich liebhabe. Spricht er zu ihm: Weide meine Schafe! Spricht er zum drittenmal zu ihm: Simon Jona, hast du mich lieb? Petrus ward traurig, daß er zum drittenmal zu ihm sagte: Hast du mich lieb? und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, duweißt, daßich dich liebhabe. Spricht Jesus zuihm: Weide meine Schafe!]

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aus Angst, sie könne sich im Morgendunst auflösen und verschwinden wie ein holder Traum. Nach dem Mahle nimmt er den Petrus bei Seite und stellt ihm nun dreimal eine Frage, die dem Jünger und auch uns so merkwürdig vorkommt: Simon Johanna, hast du mich lieb? Wie kann er so fragen? – einen Mann, der immer mit ihm war? «Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe», antwortet Petrus, das will heißen: Herr, denke doch daran: Auf dieser Stelle war’s, dakamst du dort am Meere hergewandelt; ich kannte dich nicht; hatte dich noch nie gesehen; da bliebst du vor mir stehen, schautest mich an und sprachst: Folge mir nach; da ließ ich alles liegen, wie es lag, und folgte dir nach. Und du wohntest in meinem Haus in Kapernaum, du heiltest meine Schwiegermutter, als sie schwer krank darniederlag; ich zog mit dir fort und blieb bei dir, ich kenne dich besser, als dich jemand auf derWelt kennt, mein Herz gehört dir – und du fragst noch, ob ich dich lieb habe. Das alles will er sagen in dem Wort «Herr, duweißt, daß ich dich lieb habe.» Und dieses Wort genügt dem Herrn nicht, sondern er will mehr; was er mehr will, dassagt er ihm zu dreien Malen in demWorte: Weide meine Lämmer! Du darfst nicht hier Fischer bleiben, sondern du mußt der Hirte meiner Herde werden! Ich weile nicht mehr unter euch, und daß du dich hierher zurückziehst und ein stilles Leben im Andenken an mich führen willst, das ist nicht die rechte Art, mich zu lieben, sondern wenn du mich recht lieb hast, dann mußt du hier fort. In Jerusalem leben viele, deren Herz fängt an, an mich zu glauben, gehe zu ihnen, sammle sie, richte sie auf, führe sie, leite sie – das ist die rechte Art, mich zulieben! Und Petrus verstand, was der Herr wollte, und kehrte zurück nach Jerusalem, und am Pfingsttag, als er Völker aus allen Ländern in der Stadt versammelt sah, da kam der Geist des Herrn über ihn, und er fing an, gewaltig zu demVolk zu reden. Wer von uns hat sich nicht schon in Gedanken ausgemalt, wie wir Jesus lieb gehabt hätten, wenn wir damals gelebt hätten, oder wie wir ihm Liebe erweisen wollten, wenn er in irdischer Gestalt unter uns erschiene? Wir schauen uns dann, wie wir alles verlassen würden, Spott und Hohn auf uns nähmen, um ihm nachzufolgen! Ich glaube, mit diesen Gedanken ist es uns allen Ernst – aberJesus gibt sich mit diesem unserem «Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe» nicht zufrieden. Es ist ganz schön, mich so zu lieben, würde er sagen, aber es muß noch etwas dazukommen, daß ihr nämlich wirkt in dieser Liebe, daß ihr sie betätigt in eurem Leben. Das ist die rechte Art, den Herrn Jesus zu lieben. Er ist im Himmel – ihm können wir sie nicht mehr erzeigen, aber den Menschen, die um uns sind. Das ist schwer, und dasfehlt uns. Wir, die wir uns so schön vorstellen könnten, wie wir alles dahingäben und alles erduldeten, um ihm nachzufolgen, wir sind gegen unsere

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eigenen Leute oft so ungeduldig und kurz angebunden. Wir tun es ja nicht aus Schlechtigkeit oder aus Bosheit, sondern aus Gedankenlosigkeit; wir denken uns eben weiter nichts dabei. Wenn uns die Frage des Herrn «Hast du mich lieb?» in den Sinn käme, wir würden oft anders sein. Dieses «Hast du mich lieb?», wenn wir es immer in Gedanken hören, das soll uns zu andern Menschen erziehen. Es soll unsere innere Stimme werden gegen die Ungeduld, liebloses Wesen und gegen die Selbstsucht. Das ist ja der Kampf unseres ganzen Lebens, der Kampf, den wirjeden Tag, jede Stunde von neuem beginnen müssen. Es ist etwas Merkwürdiges um die menschliche Natur: Was [der Mensch] aus sich selbst heraus nicht täte, das tut er um anderer willen. Von sich selbst würde er aufbrausen. Aber da steht jemand dabei, auf den er etwas hält, und um dieser Person keine Mühe zu machen, hält er an sich und überwindet sich. Manche sind schon ganz andere Menschen geworden dadurch. Da sind wir oft freundlich und liebevoll, dienstfertig und hilfreich gegen Leute, die uns nicht näher stehen, und von denen wir, wie es so Menschenart ist, sagen möchten, sie gehen uns nichts an, aber wir tun es um einer Person willen, die uns nahe steht; um der etwas Liebes zu erweisen, tun wir es. Und siehe, waswir hier im kleinen tun im täglichen Leben ausLiebe zu dem oder jenem Menschen, das sollen wir im ganzen Leben im großen tun um der Liebe zu Jesu willen. Er soll für uns sein wie jemand, den wir lieb hatten und der nun von uns genommen ist: Ihm selbst können wir keine Liebe mehr erzeigen, so wollen wir es denn an den Menschen tun, die seinen Namen tragen, und er wird es fühlen. «Wasihr getan habt einem unter diesen meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan» [Mt. 25,40] – dasist eines der schönsten Worte Jesu. So liegt in diesem «Hast du mich lieb?» etwas wie ein Vorwurf, eine Ermahnung und eine Ermunterung an einen jeden, der es zu Herzen nehmen will. Es liegt aber noch etwas anderes darin: ein Trost! Ein Vergeben! AlsJesus den Petrus bei Seite nahm, denke ich mir, daß es ihm angst ums Herz war – denn er hatte ja den Herrn verleugnet in der Stunde der Gefahr, er warja gefallen, er warja des Herrn nicht mehr wert, unwürdig, seinJünger zu sein! Denn wie hatte der Herr gesagt: «Wer mich verleugnet vor den Menschen, den werde ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater» [Mt. 10,33]. Ihn, den Gedemütigten, hebt er nun wieder auf! Er nimmt ihn in Gnaden an, indem er ihn fragt, ober er ihn denn lieb habe. Er bestellt ihn wieder zu seinem Apostel, zum Hirten seiner Herde, und er verheißt ihm denTod als Märtyrer für seinen Glauben, für seinen Namen, in welchem er wieder gut machen darf, was er durch seine Verleugnung gefehlt. Das ist das Schönste, das wir von dem verklärten Herrn wissen und das uns tief zu Herzen geht. Wir hatten alle schon Augenblicke in un-

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serm Leben, wo wir uns sagen mußten: Du bist des Herrn unwürdig – du bist gefallen – unwürdig, ein Christ zu sein. Ich brauch euch nicht zu sagen, wodurch wir oft so tief sinken – jedem sagt es sein Herz. Aber siehe, wenn wir so gedemütigt sind vor uns, wenn wir nicht mehr wagen zu beten und die Freudigkeit desWirkens und Lebens verloren haben – dann dürfen wir an das denken, wasJesus dem gebeugten Petrus sagte. Auch uns richtet er dann auf mit seinem «Hast du mich lieb?»; er will uns neuen Mut zum Leben geben. Wir sollen uns aus unsern gedrückten Gedanken aufrütteln und in der Arbeit in der Liebe zuJesus, indem wir ihm dienen, unsere Schuld wieder gut machen dürfen. Wasich euch hier sage, ist gewißlich wahr. DasWort von der Sündenvergebung, das bleibt kalt, wenn dasWort von demWiedergutmachen nicht dazu träte. Das gibt uns wieder Hoffnung, das hilft uns über die schweren Stunden der Reue. Wenn wir hier auf Erden uns gegen eine Person vergangen haben, so daß wir ihren Blick meiden und bedrückt und ängstlich sind, dann hilft es uns nicht viel, daß man uns sagt: Sie hat euch verziehen, sondern wir fühlen und glauben es erst, wenn wir etwas für sie tun dürfen, ihr wieder einen Dienst leisten können! Ist es nicht so? Ein Kind, dasübel gehandelt hat, dasist gedrückt und betreten vor seinen Eltern, und es bleibt es, man mag noch so vielmal sagen: Jetzt ist alles wieder gut. Nun sag ihm aber: Geh, hol mir dasund das draußen und bring es mir, da springt’s voll Freuden, denn nun fühlt es erst: Es ist alles wieder gut. So ist es auch für uns: Und wenn wir noch so tief gefallen sind, dann werden wir wieder uns emporarbeiten dürfen, wir werden wieder an uns selbst glauben dürfen und der Vergebung gewiß werden, wenn wir an unsere Arbeit gehen, alles tun, um vor Gott undJesus es wieder gut zu machen. Es ist das ein Trostwort, das man vielen Bekümmerten sagen sollte und nie genug sagen kann: Ihr, die ihr unter einer Schuld leidet, fangt ein neues Leben an, wirkt und schafft, dient Jesus in eurem Beruf und in eurer Arbeit, dann glaubt gewiß, er nimmt euch wieder in Gnaden an. Und dieses Wörtlein «Wiedergutmachen» – es kann uns lehren, Schweres, Unglück und Kummer ertragen und nicht murren. Den Petrus schickte der Herr zu leiden am Kreuz für ihn, um so gut zu machen, daß er ihn verleugnet, als er zum Kreuzestod verurteilt wurde. Und Petrus hat es so verstanden und war freudig. Ein Freund von Hus hatte ausAngst, mit ihm den Scheiterhaufen teilen zu müssen, zu Konstanz die Lehre nach dem Evangelium widerrufen und bekam die Freiheit und seine Güter wieder. Aber das ließ ihm keine Ruhe: Er konnte nicht leben, kehrte zurück, nahm alles zurück, was er abgeschworen, und starb freudig und selig auf dem Scheiterhaufen, daß er seinen Fall wieder gut machen konnte. Und nun wollen wir Gottes Wege verstehen: Er schickt uns Leid, Trübsal und Not, damit wir in der Bewährung

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Die Sünde wider den heiligen Geist

und in der Standhaftigkeit, in der Geduld und Ergebung wieder gut machen können, was wir gefehlt, und seiner wieder würdig werden dürfen. Möchte der Herr uns geben, daß wir dasimmer bedenken.

Nachmittagspredigt Pfingsten Sonntag, 26. Mai 1901, [Günsbach]¦49¿

Mk. 3,22–30: Die Sünde wider den heiligen

Geist¦50¿

Der verlesene Text scheint nicht recht zu passen in die frohe Stimmung des Pfingsttages. Da sollte man reden von der Ausgießung des heiligen Geistes, von seiner Macht, von seinem Wirken unter uns, und unser Text redet von der Sünde wider den heiligen Geist. Und doch, gehört nicht auch das zur Pfingstbetrachtung? Die Frage, was denn der Herr mit dieser Sünde gemeint habe und warum sie so schwer ist, daß sie nicht vergeben werden kann, die taucht für den Christen immer wieder auf. Sie hat schon manchem Unruhe verursacht. Darum habe ich gedacht, daß vielleicht gerade das Pfingstfest der richtige Tag sei, uns ernstlich zu fragen: Was ist es denn mit der Sünde wider den heiligen Geist, und welche Bedeutung hat dieses so ernste WortJesu für uns? Was ist das, Sünde wider den heiligen Geist? Die Geschichte sagt es deutlich genug. Jesus heilt arme, kranke, besessene Menschen. Das einfache Volk um ihn staunt darüber, und dann loben sie Gott, daß er durch Jesus solches vollbringe unter den Menschen! Sie erkennen also in dem, was er tut, dasWalten des göttlichen, des heiligen Geistes. Nun kommen die Pharisäer, sie sind Zeugen derselben Vorgänge, sie staunen auch, aber sie wollen nicht anerkennen, daß Jesus, der nicht zu ihnen gehört, in göttlichem Geiste wirke. Darum sagen sie so leichthin: In 49 [Auf dem Manuskript stand zuerst keine Zeitangabe, dann wurde 1902 vermerkt und später mit 1901 überschrieben. In der Überschrift heißt es «nach Pfingsten», die Predigt aber spricht vom Pfingsttag selbst. Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer an Pfingsten 1901nicht in St. Nicolai gepredigt. Deshalb liegt Günsbach nahe.] 50 [Die Schriftgelehrten aber, die von Jerusalem herabgekommen waren, sprachen: Er hat den Beelzebub, und durch den obersten Teufel treibt er dieTeufel aus. Und er rief sie zusammen und sprach zu ihnen in Gleichnissen: Wie kann ein Satan den andern austreiben? Wenn ein Reich mit sich selbst uneins wird, kann es nicht bestehen. Und wenn ein Haus mit sich selbst uneins wird, kann es nicht bestehen. Setzt sich nun der Satan wider sich selbst und ist mit sich selbst uneins, so kann er nicht bestehen, sondern es ist ausmit ihm. Es kann niemand einem Starken in sein Haus fallen und seinen Hausrat rauben, es sei denn, daß er zuvor den Starken binde und alsdann sein Haus beraube. Wahrlich, ich sage euch: Alle Sünden werden vergeben den Menschenkindern, auch die Gotteslästerungen, womit sie Gott lästern: wer aber den heiligen Geist lästert, der hat keine Vergebung ewiglich, sondern ist schuldig des ewigen Gerichts. Denn sie sagten: Er hat einen unsaubern Geist.]

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ihm wohnt der Geist des obersten der Dämonen, und darum gebietet er über die unsauberen Geister, daß er sie aus den Besessenen austreiben kann!

Sie sagen das so leichtsinnig hin, aberJesus hält ihnen ihr Verbrechen vor, daß sie nämlich, wo der göttliche Geist durch ihn sichtbar auf Erden wirkt, den Menschen zum Segen und zum Heil, nichts tun können als spotten: Das wirkt der Geist desTeufels. Dieses Vergehen wider den heiligen Geist, dessen haben sich die Menschen nicht nur gegen Jesus schuldig gemacht, sondern überall, wo der Geist wirkt, davergehen sich auch die Menschen wider den Geist. So geschah es auch in der Pfingstgeschichte. Als die Jünger vor der Menge auftraten, als sie aus dem langen, furchtsamen Schweigen sich aufrafften und in verzückter, begeisterter Rede verkündigten: Jesus, der Gekreuzigte, der ist der Messias, dafühlten die meisten, hier sei eine allmächtige, hohe, göttliche Kraft über die schwachen Jünger gekommen, und darum glauben sie demWort des Petrus um des göttlichen Geistes willen, der es belebt. Die andern aber stehen da und sehen nur das Äußerliche, die Verzückung und Begeisterung der Jünger, und wissen nichts anderes zu sagen als: «Diese sind voll süßen Weines!» [Act. 2,13]. Auch sie vergehen sich gegen den göttlichen Geist, weil sie sein Wirken nicht erkennen wollen in dem, wasgeschieht! Und so ist es gegangen überall und in allem, was der göttliche Geist wirkt. Denn Pfingsten ist nicht etwas, das einmal geschehen ist, sondern der Geist, der göttliche Geist, der dort denJüngern Mut undWorte eingab, der dort die Herzen der Menschen, die sich bis jetzt um Jesus nicht gekümmert hatten, erweckte, daß sie erkannten: Er ist der Heiland. Dieser Geist wirkt auch heute in allem, was auf Erden zur Ehre Gottes und zurAusbreitung seines Namens geschieht. Denn die Menschen können nichts von sich aus tun, wie es keine Helligkeit gibt ohne die Sonne. Seht dieJünger, die nach dem Ostertage wußten, daß der Herr nicht in desTodes Macht geblieben, sie wußten, daß er wirklich der Heiland sei, und doch wochenlang schwiegen sie stille und blieben furchtsam beieinander, unterwanden sich nicht, zu reden von dem, was ihr Herz erfüllte, als wollte Gott gerade an ihnen zeigen, die Menschen können nichts von sich selber, sondern, was sie wirken, das tut mein heiliger Geist in ihnen. Und als die Jünger am Pfingsttage von dem göttlichen Geiste getrieben, Jesus am Pfingsttag verkündigten und die ersten Gläubigen gewannen, dawar dies der blendende Aufgang der Sonne, deren Licht nun alles mit ihrer Helligkeit erleuchtet, und dasPfingstfest ist derAugenblick, wo sie im Morgendunkel plötzlich über der Berghöhe aufflammt.¦51¿ 51 [R] Pfingsten ist der Sonnenaufgang des heiligen Geistes, und wie ohne die Sonne kein Hälmchen wächst, so gibt es nichts Gutes, nicht Heiliges, nichts Schönes, das

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den heiligen Geist

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Der heilige Geist wirkt noch auf Erden, denn wie sollten wir sonst verstehen, daß die göttliche Wahrheit und das göttliche Wort stetig fortgeschritten sind auf Erden? Denn das Wort der Predigt bleibt totes Menschenwort und bringt keine Frucht, wenn der göttliche Geist es nicht belebt, und das Herz des Hörers bleibt verschlossen, wenn der göttliche Geist es demWorte nicht öffnet. Und alles, was geschieht zur Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden, ist Ausfluß des heiligen Geistes. Aber die Menschen, die haben nicht immer in dem, was geschah, dasWirken eines höheren Geistes verspürt, sondern sie haben sich oft dem verschlossen, nur auf dasÄußerliche gesehen, auf die Gebärde, wie beiJesus, wie beim Pfingstfest, sie haben leichtfertig gespottet oder verleumdet und gemeint, so mit der Sache fertig zu sein – und das war Sünde wider den heiligen Geist. Davon will ich euch einige Beispiele erzählen. Als Luther aus dem Kloster trat und den Kampf gegen die päpstlichen Mißbräuche aufnahm, um das einfache Evangelium wieder auf seinen Platz zu stellen, da fühlte er selbst und die, welche ihn verstanden, daß das große Werk nicht Menschentat sei, sondern daß göttlicher Geist in menschlicher Schwachheit wirke.¦52¿ Die andern aber sahen nur das Äußerliche und sagten: Dem Luther ist es im Kloster zu eng geworden, er wollte sich der Zucht nicht mehr fügen, sein Gelübde nicht mehr halten und um heiraten zu können, deswegen ist er aus dem Kloster getreten. Damit haben sie das große, göttliche Werk der Reformation gelästert, weil sie von dem göttlich gewirkten Werk sagten: Die fleischliche Lust hat’s gewirkt. Zu einer Zeit, da man auf fast allen unsern Kanzeln, statt Gottes Wort einfach zu verkünden, über spitzfindige Fragen der christlichen Glaubenssätze sich stritt, und die Leute, statt sich gegenseitig zu erbauen, sich gegenseitig verketzerten, da trat unser großer Landsmann Spener auf und sammelte Leute um sich und las mit ihnen die Bibel, einfach, schlicht und klar. Und als nun überall solche Gesellschaften entstanden, wo die Leute wieder miteinander das einfache Gotteswort suchten, da fühlten viele Leute dasWehen desgöttlichen Geistes in derWirkung, die Spener ausübte, nicht, sondern sie wollten darin nur dasTun eines Mannes sehen, der sich vor den andern wichtig machen wollte, sich von ihnen absondern wollte und etwas Apartes mit ihnen haben. Gerade so erging es dem frommen Grafen Zinzendorf. Wenn in einem Manne eine lautere Frömmigkeit wohnte, wenn in einem Herzen nicht durch den göttlichen heiligen Geist gewirkt ist. Von sich aus können die Menschen nichts Gutes tun. 52 [R] Wie konnte etwas so Großes aus diesen Anregungen entstehen? Hört ihn predigen!

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eine heiße Liebe für alle Menschen brannte, so war es in dem seinen. In dieser Liebe hat er Rang und Stand aufgegeben, hat die ganze Welt durchreist, die Vertriebenen und Verfolgten um sich gesammelt, sie in christlicher Gemeinschaft geeinigt und Gutes getan, wie nur je ein Mensch Gutes getan hat.WasZinzendorf getan, daskonnte nichts ande-

res sein als dasWerk desgöttlichen Geistes. Und was haben die Leute gesagt? Sie haben gespottet und gelacht. Zinzendorf und seine Anhänger hatten, wie es bei kindlich frommen und begeisterten Leuten vorzukommen pflegt, in ihrem Wesen und in ihrem Verkehr miteinander manche Eigenheiten und manch übertriebene Äußerlichkeiten. Statt aber nun hinter diesen Äußerlichkeiten den wahren Geist christlichen Glaubens und christlicher Liebe zu spüren, statt in dem, was sie Großes taten in derWelt, in der aufopferungsvollen Dahingabe für die Bekehrung der Heiden, das Walten des göttlichen Geistes zu spüren, da hielten sich die Leute an diesen Äußerlichkeiten auf, als wäre das die Hauptsache, und spotteten und lachten, und das nicht nur lose, ungläubige Menschen, sondern auch strenggläubige Männer suchten die Regierung gegen sie aufzubringen, legten ihnen überall Hindernisse in denWeg, bekämpften undverfolgten sie. Erleben wir nicht etwas Ähnliches in unserer Zeit? Ihr habt schon alle von einer Gesellschaft gehört, die man Heilsarmee nennt. Sie geht von England aus und hat sich zum Zweck gesetzt, besonders den verwahrlosten und verkommenen Menschen in den großen Städten nachzugehen, die zu keinem Pfarrer kommen, sondern die man in den elendesten Quartieren und Gassen aufsuchen muß. Fürwahr, in diesem hochherzigen Unternehmen, in dieser Aufopferung – es kann nicht anders sein – dawirkt der göttliche Geist, und er bezeugt sich in dem, was diese Gesellschaft schon in den Großstädten wie London, New York, Hamburg und Berlin Gutes gewirkt hat. Und doch, redet mit Menschen – nicht nur mit denen, die für nichts Gutes mehr einen Sinn haben, – sondern mit rechtlichen, frommen Menschen darüber, da begegnet ihr fast nur Hohn und Spott. Und warum? Weil diese Leute in ihrem äußeren Auftreten und Reden so viel Merkwürdiges und Ungereimtes haben, weil in ihren Versammlungen allerlei Volk sich zusammenfindet, weil sie fromme Lieder auf weltliche Weisen singen, weil in ihrem Dringen auf Buße manches Merkwürdige ist. An diesen Äußerlichkeiten halten viele unter uns sich auf und glauben sich berechtigt, zu spotten und zu höhnen – und bedenken nicht, daß sie damit sich wider den heiligen Geist vergehen, der durch diese Menschen an denVerkommenen und Gefallenen arbeitet. Und nun noch ein letztes Beispiel. In den letzten Wochen machte folgende Geschichte die Runde durch eine Reihe von Zeitungen, und ihr werdet sie wohl selbst gelesen haben. Zu einem Wirt, in Amerika, glaub ich, der einen großen Saal hat, kommt derVorstand eines Mäßig-

DieSünde

wider

denheiligen Geist

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und Enthaltsamkeitsvereins und fragt, ob sie wohl den Saal haben könnten zur Abhaltung einer Versammlung. Gewiß, sagt derWirt, umsonst sollen sie ihn haben, und er selbst werde in der Versammlung für ihre Sache das Wort ergreifen. Voll Freude gingen die Männer davon, daß selbst ein Wirt für die Sache der Enthaltung von geistigen Getränken sei. Die Versammlung fand statt, es wurden Reden gehalten, in denen gezeigt wurde, welches Unheil an Leib und Seele, welches Unglück in der Familie die Trunksucht anrichte. Und seht, so schloß der Präsident, sogar dieser Wirt, der uns den Saal zurVerfügung gestellt hat, der ist für unsere Sache, und er wird nun noch ein Wort zu euch reden. ‹Gewiß›, so redete der Wirt dann, ‹bin ich für diese Vereine der Enthaltsamkeit von geistigen Getränken – denn sie geben mir am meisten zu verdienen. Die gewöhnlichen Leute, die kommen und trinken ein Glas Schnaps bei mir, aber die meisten von den Anhängern der Enthaltsamkeit, die lassen Schnaps literweise heimlich durch die Hintertür bei mir abholen, um ihn im Stillen zu Hause zu trinken.› Warum wird diese Geschichte in allen Zeitungen abgedruckt? Weil die Leute ihre Freude daran haben. Da sieht man’s, sagen sie, diese Mäßigkeitsvereinler, das sind alles scheinheilige Heuchler und heimliche Trinker. Der Wirt, der hat’s ihnen aber gesagt. – Ich aber sage, er hat in einer greulichen Weise gelästert und gesündigt an etwas Ernstem und Heiligem, wo der Geist Gottes drin wirkt, indem er gesagt hat, es sei alles Heuchelei. Wer einmal nur einen Menschen vor sich gesehen hat, der früher ein Trinker, der sich selbst und seine Familie unglücklich gemacht hat, nun aber durch einen Enthaltsamkeitsverein ein ordentlicher, glücklicher Mensch wieder geworden ist, der wird nicht sagen, daß in diesen Vereinen nur Heuchelei ist, der wird nicht meinen mit der alten Redensart: «Wenn der liebe Gott Wein wachsen läßt, ist’s, damit die Menschen ihn trinken», sei alles abgetan, er wird sich nicht an kleinen Äußerlichkeiten aufhalten, sondern er wird Gott danken, daß er mit seinem Geist in diesen Leuten so vielen zum Segen wirkt. Ich glaube, daß durch diese Beispiele jedem klar ist, was unter der Sünde wider den heiligen Geist zu verstehen sei. Ihr seht, daß es nicht etwas ist, das sich nur zur Zeit Jesu zugetragen haben kann oder dasuns unbekannt ist, sondern daß es etwas ist, das in unserer Natur liegt, und gegen das wir immer ankämpfen müssen.¦53¿ Nicht wahr, es liegt dies so in uns, daß wir fast wie von selbst, wenn wir sehen, wie ein Mensch etwas Gutes und Schönes unternimmt und vollbringt, statt daß wir uns freuen und uns sagen, er hat es getan im Geiste Christi aus seinem Her53 [R] Eine moderne Sünde: Kein Geschlecht war so blasiert wie wir in diesem Jahrhundert.

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zen heraus, gleich bei der Hand sind zu sagen: Er hat’s getan, um des oder jenes Grundes wegen, damit man von ihm rede, damit er den oder jenen Vorteil davon habe. Und wenn man nun einen solchen, der so redet, zur Rede stellt und ihm zeigt, wie niederträchtig das ist, dann sagen sie: Ach, ich hab’s nur so gesagt, ich hab mir nichts Böses dabei gedacht! Die meisten Menschen sündigen da ausLeichtsinn, indem sie den bösen Einflüsterungen ihres Herzens Raum geben. So haben es auch die Pharisäer getan. Sie haben auch nicht gedacht, etwas so Schlimmes zu begehen, wenn sie so leichthin sagten: Ihm hilft der oberste der unreinen Geister, darum kann er die andern austreiben. Darum muß Jesus ihnen und uns in einem so gewaltig ernsten Worte die Größe einer solchen Verschuldung vorhalten, indem er sagt: Das ist das Schlimmste, was ein Mensch begehen kann, schlimmer noch als Gotteslästerung. Man muß dieses Wort recht verstehen: Jesus will hier nicht eine Sünde aufstellen, die nie vergeben kann werden, und eine Verdammnis aussprechen, die immer lastet, daß nun die Menschen sich immer fragen müssen: Haben wir uns vergangen wider den heiligen Geist, können wir noch selig werden, sind wir nicht ewig verdammt? – Wir wissen ja, er selbst hat am Kreuze allen seinen Feinden vergeben, und bei Gott sind alle Dinge möglich. Aber er hat so ernst und drohend gesprochen, um die Menschen zu warnen, um ihnen zu sagen: Durch solche leichtsinnige Rede stiftet ihr ein solches Unheil, ladet ihr eine Verantwortung auf euch, die größer ist als alles andere Verbrechen. Denn ein solches hingeworfenes Wort, dasist wie eine ätzende Lauge, die alles verzehrt, wie ein schleichendes Gift. Durch ein solches Wort kann das Edelste und Heiligste in der Welt zuschanden gemacht und vereitelt werden und das Reich Gottes aufgehalten und dasWirken des Geistes Gottes gehemmt werden, mehr als durch Kampf und Krieg. Wie viele, denkt ihr, die haben dasWort der Pharisäer bei sich wiederholt und sind dann abgefallen? Wie viel Gutes ist seitdem in der Welt zugrunde gegangen, wie viel Gutes ist unterblieben, weil die Menschen es durch mißgünstige, leichtfertige Bemerkungen tot gemacht haben. Denke doch jeder bei sich selbst nach, wie manchmal hätten wir etwas Gutes schon getan, wenn uns nicht im letzten Augenblick der Gedanke zurückgehalten hätte: Die Leute werden darüber spotten oder es dir schlecht auslegen. Und siehe, alles Gute, das geschieht, darin wirkt der heilige Geist, denn durch sich können die Menschen nichts Gutes tun. Und wo das Gute und Reine von uns missgedeutet und gelästert wird, dawird der heilige Geist gelästert, und wo das Gute durch uns gehemmt wird, da wird dasWirken desheiligen Geistes gehemmt. Darum, wenn wir an Pfingsten bitten, Herr sende deinen Geist, wollen wir dazu setzen: Herr, gib den Menschen um uns Ernst, daß wir

Selig

sind,

die da Leid tragen

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nicht in leichtfertiger Rede, nur auf das Äußerliche schauend, deinen Geist, wo er sich offenbart, verkennen und lästern.

Montag, 3.Juni 1901, Straßburg Leichenbegängnis von Emil Kiehl, Schreinergehilfe, gestorben im 37.Jahr an der Auszehrung

Mt. 5,4: Selig sind, die daLeid tragen; denn sie sollen getröstet werden

«Selig sind, die da Leid tragen» – so dürfen wir unserem verstorbenen Mitbruder nachrufen, der betenden Mundes und betenden Herzens aus diesem Leben geschieden ist. Während man sonst, wenn jemand, eh er aus dem Leben schied, so viel hat leiden müssen, sich fragt, warum er denn dies alles erduldet hat, wozu es gut war, während man sonst denen, die leiden, zureden muß, daß sie darüber nicht an Gott irre werden und mit ihm hadern, ist unser Mitbruder eine herrliche Auslegung des Wortes unseres Herrn; es ist gleichsam als redete sein toter Mund zu uns: Seht, dieses Wort Jesu von der Seligkeit des Leidens, das der menschliche Verstand nicht begreifen kann, esist herrlich wahr. Betrachtet man sein Leben äußerlich, so ist dasWort des Psalmisten noch zu heiter, denn dieses Leben ist mehr als Mühe und Arbeit gewesen [Ps. 90,10]. Wie gern hätte er sich abgemüht, wie gern bescheiden und gewissenhaft gearbeitet, wenn nicht diese Krankheit an ihn herangetreten wäre und ihm gesagt: So, nun gehörst du mir, nun beuge dich. Was da über ihn kam, es war fast mehr, als ein Mensch ertragen kann. Und doch – er hat es ertragen, er hat «Leid getragen», weil er an Gott glaubte. Und darum ist dieses Leiden ihm zum Segen geworden. Es hat ihn vorbereitet auf den Abschied von dieser Welt, es hat seine Seele stille gemacht zu Gott. Der Tod war für ihn kein Schrecken, kein Feind, sondern der Engel, den Gott ihm sandte, um ihn heimzuholen. Nun ist er bei Gott, und wir können aus vollem Herzen sagen: «Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.» Er ist eingegangen, da wo ewiger Trost auf kurzes Erdenelend folgt, wo kein Leid und keine Qual mehr ist, wo Gott die Tränen abwischt von aller Angesicht. Wir können unsnicht vorstellen, wie esdenjenigen ist, dievon dieser Erde erlöst sind, wir können uns nicht denken, wie die Herrlichkeit unseres Mitbruders ist, in welche er aus der Enge und dem Elend nun eingegangen ist, aber eins wissen wir: Er ist selig: Wer so stirbt, indem dasbrechende Auge schon den Himmel offen sieht, der ist beimVater. Selig sind die Leidtragenden – weil sie andern zum Segen werden. Neben all derTraurigkeit, die ihr nun habt, ihr, die ihr ihm nahe gestan-

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den seid, bei all dem Schmerz, nun wieder allein die Straße des Lebens zu wandeln, ihr, die traurige Witwe, da fühlt ihr alle, daß er euch etwas hinterlassen, das höher steht als alle Sorge und Kummer: ein tröstliches

Vorbild. Siehe, wir alle, die hier stehen, wir fragen uns oft, ob nicht auch unser ein Leiden wartet, und es ist unswie ein Gespenst, dasuns Angst macht. Darum müssen solche stille, fromme Dulder wie unser Mitbruder uns erscheinen, um uns diese Furcht zu benehmen und uns aufzumuntern, ein Beispiel zu sein, daß auch wir dann alles geduldig auf uns nehmen in demTrost, «daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen» [Röm. 8,28]. Darum in dem letzten Abschied ein Dank für den Segen, welchen er auf dieser Welt zurückgelassen hat und der ihm über das Grab nachfolgt.

Morgenpredigt Sonntag, 9. Juni 1901, St. Nicolai

Mt. 13,3–9: Das Gleichnis vom Sämann¦54¿ Unser Gleichnis läßt sich auf zweierlei Arten deuten. Der ersten zufolge ist es eine Mahnung. Von dem Samen, der bestimmt ist, auf gut Land zu fallen und Frucht zu tragen, geht gar manches verloren, welches auf den Weg, auf das Steinige oder unter die Dornen gesät wird. So geht auch dasWort Gottes an den Menschenherzen verloren, die nicht gegen ihre bösen Gedanken ankämpfen, in derTrübsal nicht bestehen und von der Sorge des Reichtums eingenommen sind. Das sind traurige, niederdrückende Gedanken, die Jesu Herz überkommen, da er auf die Körnlein blickt, die aus der Hand des Sämanns

fallen. Aber das Gleichnis hat noch eine andere Bedeutung: Trotzdem so manches Samenkorn verloren geht, bringt doch durch Gottes geheimnisvolles Walten die Ernte dreißig-, sechzig-, ja hundertfältig wieder, was ausgesät ist. Und das ist ein hoffnungsvolles Gleichnis. Ich möchte es dasGleichnis von derArbeitsfreudigkeit nennen.

54 [Und er redete zu ihnen mancherlei durch Gleichnisse und sprach: Siehe, es ging ein Säemann aus, zu säen. Und indem er säte, fiel etliches an denWeg; dakamen dieVögel und fraßen’s auf. Etliches fiel in das Steinige, da es nicht viel Erde hatte; und ging bald auf, darum daß es nicht tiefe Erde hatte. Als aber die Sonne aufging, verwelkte es, und dieweil es nicht Wurzel hatte, ward es dürre. Etliches fiel unter die Dornen; und die Dornen wuchsen auf und erstickten’ s. Etliches fiel auf ein gut Land und trug Frucht, etliches hundertfältig, etliches sechzigfältig, etliches dreißigfältig. Wer Ohren hat, zu hören, der höre!]

Das Gleichnis vomSämann

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Wenn ich ein Maler wäre, würde ich ein Bild über dieses Gleichnis malen. Im Schifflein am See sitzt Jesus. Um ihn her stehen die Leute aus Kapernaum im Arbeitsgewand, die Geräte auf der Schulter. Es ist morgens früh: Die Frühlingssonne steigt über dem See auf, und weißer Dunst erhebt sich über den Feldern. Auf dem Hügel geht ein Sämann: Jesus zeigt auf ihn und redet zumVolk. Auf seinem undihrem Angesicht ist eine Freudigkeit ausgegossen, daß man meint, denjubelnden Gesang derVögel in der Luft zu hören. So stell ich mir die Stunde vor, daJesus dieses Gleichnis sprach. Und die Leute gingen fort, ohne ihn zu bitten, das Gleichnis zu deuten, denn sie hatten es auf ihre Weise richtig verstanden. Tut eure Arbeit frohen Sinns und gläubigen Herzens; denn wenn es euch auch manchmal scheinen will, als ob vieles von dieser Arbeit verlorene Mühe sei, bei Gott gibt eskeine verlorene Mühe, sondern durch Gottes Walten ist der Erfolg immer soundso vielmal größer als die Arbeit, wie die Ernte bis zu hundertmal größer ist als die Aussaat. Darum darf niemand verzagen in dem, was er unternimmt, denn derselbe Gott, der über der Saat wacht, daß sie zur Ernte werde, der wacht überjeglicher Arbeit undjeglichem Unternehmen. In diesem Gleichnis hatJesus sich selbst freudigen Mut ins Herz geredet. Es ist das erste, womit er die Predigt vom Reich Gottes beginnt, von diesem Reich, das sich über die ganze Menschheit ausbreiten und aller Herzen zu Gott führen soll. Da fragt er sich: Wie kann denn so Großes ausgehen von meiner Predigt an diese um mich versammelten Leute? Was will doch ihre Zahl bedeuten gegen die ganze Menschheit, die dem Reich Gottes zugeführt werden soll? Unter diesen, die hier stehen, da sind noch soundso viele, bei denen wird mein Wort vergebens sein, die weltliche Sorge, der Leichtsinn, die Sucht nach Reichtum ist stärker. Und wasbedeuten dann für das, wasich auf derWelt will, diese wenigen, die es gläubig aufnehmen? Da fällt sein Auge auf den Sämann, und aus dem Geheimnis der Natur wird ihm das Geheimnis des Reiches Gottes offenbar. Dort geht ja auch viel verloren; aber wie aus den wenigen Körnern, die auf gut Land gefallen, die überreiche Ernte sprießt, so wird aus den wenigen, die sein Wort gläubig annehmen, das Gottesreich sich ausbreiten über die ganze Welt: Gott, der ausjener weltlichen Saat eine reiche Ernte weckt, wieviel mehr wird er aus dieser geistigen Saat eine überreiche Ernte kommen lassen! Das bedeutete das Gleichnis fürJesus damals. Das Gleichnis der hoffnungsvollen freudigen Arbeit, die sich durch anscheinende Mißerfolge den Mut nicht nehmen läßt. So enthält dieses erste Gleichnis die ganze Freudigkeit und hoffnungsvolle Zuversicht, mit der er die Predigt des Reiches Gottes begann, und an der ihn der Unglaube, die Mißerfolge und die Feindschaft, denen seinWort begegnete, nicht irregemacht haben.

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Uns allen, ja gerade unserer Zeit, tut dies Gleichnis von der freudigen Arbeit not. Denn unsere Zeit ist eine Zeit der Arbeit. Es werden an uns alle viel größere Anforderungen gestellt als an die Geschlechter vor uns; arbeiten wir aber auch in der rechten Stimmung? Ich fürchte, nein; wir arbeiten verdrossen, mürrisch; wir arbeiten wie Maschinen, wo sich die Räder drehen, weil jedes in das andere übergreift und es in Bewegung setzt. Und weil wir nicht mit Lust und Freudigkeit arbeiten, deswegen gibt es so viel unglückliche, unzufriedene Menschen. Wenn man morgen allen Menschen die rechte innere Arbeitsfreude einhauchen könnte, dann würde man dieWelt glücklicher machen, als wenn man den Leuten Reichtum geben und die Sorgen nehmen könnte. Warum haben wir nun keine rechte Freude an unserer Arbeit? Weil wir allesamt falsch rechnen und uns deshalb, was wir durch unsere Arbeit erreichen, so gering erscheint. Und gewiß, wenn man nur auf das, was man mit den Augen sieht, schaut, dann kann keine rechte Arbeitsfreudigkeit aufkommen. Was ist der Lohn, der bezahlt wird für einen ganzen Tag im Fabriksaal, im Geschäft? Was ist der Erfolg einer Hausfrau, die sich es sauer werden läßt, für ihre Kinder zu sorgen und sie in Rechtschaffenheit aufzuziehen? Was ist der Erfolg eines Lehrers, derJahr fürJahr Kinder unterrichtet? Daß er sich sagen muß, daß, wenn er sich auch noch so viel Mühe gibt, seine Mühe an vielen vergebens war.Wasist der Erfolg eines Menschen, der sein Leben derWohltätigkeit widmet? Daß er sich sagen muß, daß er imVergleich zu dem, waszu tun wäre, wenig tun kann und oft mißbraucht wird. Wasist der Erfolg eines Pfarrers? Daß er sich sagen muß, daß kaum ein Drittel der Kinder, denen er das Christentum ins Herz pflanzen wollte, wirklich lebendige Christen werden und daß, wenn er das ganze Leben Sonntag für Sonntag gepredigt, er sich fragen muß: Was hat mein Wort ausgerichtet? Kehrt es nicht leer zu mir zurück? Wenn sojeder Mensch den Überschlag machen wollte, waser eigentlich ausrichtet, wenn er sich Mühe gibt und schafft, wenn jeder da die verlorne Müh in Anschlag bringen will und die Mißerfolge abrechnen, dann soll man mir auf derWelt den Menschen suchen, der noch Freude an der Arbeit hat, denn jeder wird sagen: Der Erfolg ist gering für alle die Mühe, die ich mir gebe. Aber das ist eine falsche Rechnung. Was ein Mensch leistet durch seine Arbeit, und der Ertrag eines Menschenlebens, der kann nicht berechnet werden wie die Leistung einer Maschine, daß man sagen kann, auf soviel angewandte Mühe gehört so viel Erfolg, sondern mit der Wirkung der menschlichen Arbeit ist es geradeso wie mit dem Hervorbringen der Natur. Wie dort die Ernte, wenn auch scheinbar noch so viele Körner verloren gehen, dennoch die Aussaat sechzig- bis hundertfältig einbringt, so ist der Erfolg der menschlichen Bestrebungen, wenn an-

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scheinend dabei noch so viel verlorne Mühe und Mißerfolg ist, doch um viel, viel größer als die angewandte Mühe. Denn derselbe Gott, der aus wenigen Samenkörnern, die der Mensch in den Boden sät, durch seine geheimnisvolle Macht eine herrliche Ernte erweckt, der legt auch seinen Segen auf jede menschliche Arbeit, die in seinem Geist und in seinem Vertrauen getan ist, daß sie nicht verloren sei, sondern hundertfältig auf die mannigfachste Weise Frucht trage. Dieses Geheimnis seines Segens, den er auf jede Arbeit legt, das hat er in die Natur eingeschrieben, undJesus hat uns dieses Geheimnis darin lesen gelehrt, daß sie jedes Jahr zu uns sage: Der Gott, der das Samenkorn in der Erde nicht umkommen läßt, sondern daraus reiche Ernte weckt, sollte der nicht noch viel mehr darüber wachen, daß keine Arbeit der Menschen ohne Erfolg bleibe? Alles, was Menschen tun können, ist nur ein Säen. Und wie der Sämann, wenn er nun die Frucht in die Erde gesenkt hat, nichts mehr dazu tun kann, als daß er auf die göttliche Kraft vertraut, die die Saat sprießen und Frucht tragen läßt, also auch der Mensch in all seinem Beginnen kann nur die Arbeit des Sämanns tun, und Gott muß das übrige tun. Und wie der Sämann sehen muß, wie die Vögel die Körner, die Frucht bringen sollten, aufpicken, wie er dann, wenn die Sonne die Saat hervorgelockt hat, sehen muß, wie gar mancher Halm verdorrt, weil er auf Steiniges gefallen, wie er dann, wenn er dasKorn in den Ähren zu beschauen kommt, nochmals sehen muß, wie die Blumen des Feldes darin wuchern und die Dornen es ersticken, und er doch nicht nach diesem Augenschein daran zweifeln darf: Trotz alledem gibt Gott doch herrliche Ernte, so ist es auch mit jeder menschlichen Arbeit. Gewiß, oft müssen wir sagen: Das war umsonst, oft müssen wir sagen: Was sich so schön anließ, hat nicht gehalten, was es versprochen, was wir ausrichten wollten, das hat uns die Welt vereitelt, und doch, wie der Sämann dürfen wir unsere Sinne und unsere berechnenden Gedanken Lügen strafen und sagen: Unsere Arbeit ist dennoch überreich an Erfolg durch Gottes Segen!

Darum ist jedes Unternehmen, jede Arbeit verfehlt, die nicht im Glauben geschieht. Denn mit Augen und mit den Sinnen können wir den Erfolg unserer Arbeit nicht sehen, sondern wir müssen daran glauben, denn wir arbeiten für eine Zukunft wie der Sämann. Das sehen die am besten, die an den Kindern arbeiten: Eltern, Lehrer und Pfarrer. Sie können nichts anderes, als ihnen das, was recht, was gut, was fromm ist, ins Herz pflanzen, und dann müssen sie zusehen, was im Leben und in derWelt ausdieser Saat wird. Wer da nicht die Zuversicht setzt auf Gott, daß er das Gute in den Herzen Frucht bringen lassen wird zu seiner Zeit, der wird übel daran sein, weil er nur sieht, wie das Kind für manches noch nicht den richtigen Ernst besitzt, in anderem sich zeitweise vom Ehrgeiz oder von der

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Welt hinreißen läßt. Und wer da nur menschlich denkt, der ist gleich bei der Hand zu sagen: Aus diesem Kind wird nichts, alle Mühe, die man sich mit ihm gegeben hat, ist doch vergebens, und doch vergißt man, daß ein Höherer über dem guten Samen, den man ihm ins Herz gepflanzt hat, wacht, der daraus herrliche Frucht im Leben erwecken kann, wenn es uns auch scheinen mag, daß manches auf dem Steinigen, am Weg oder unter den Dornen zugrunde geht, und zuletzt wird aus dem Kinde doch etwas. Es fehlt unserer Arbeit, bei unserem Tun, der rechte Glaube. Und weil wir nicht mit den Augen desGlaubens sehen, sehen wir den Erfolg nicht. Wir gleichen dem Sämann, der, wenn er seine Körner in die Erde gesenkt hat, sagen wollte: Was ist denn mit meinen Körnern? Ich sehe sieja nicht: die verfaulen in der Erde! Wir wollen einmal ein Beispiel nehmen von der falschen und richtigen Beurteilung des Erfolgs. Ist das ein Lohn für meine tägliche angestrengte Arbeit? so denkt sich mancher, wenn er seinen Verdienst überschlägt und dabei den beneidet, der hundertmal mehr einheimst, ohne soviel arbeiten zu müssen. Und wenn er richtig überschlüge, dann würde seine Unzufriedenheit weichen. Geld allein ist nicht der Lohn einer gewissenhaften Arbeit, sondern er müßte sich sagen: Durch meine Arbeit kann ich mit den Meinen ein stilles glückliches Dasein führen, durch meine Arbeit kann ich ein redlicher Mensch bleiben und mein gutes Gewissen bewahren, keine Versuchung an mich herantritt. Durch meine Arbeit kann ich meinen Kindern dasKostbarste auf derWelt mitgeben, nämlich die Erkenntnis, daß, um glücklich zu sein, es nicht der Würden und des Reichtums bedarf, sondern daß man auch in bescheidenem Stande, wo man sich einrichten muß, glücklich und zufrieden sein kann. Und wer so als Christ seinen Zahltag überschlägt, der wird nicht mehr sagen: Diejenigen, die hundertmal mehr verdienen als ich, die haben halt andern, besseren Erfolg bei der Arbeit, sondern er wird sich fragen: Können sie ein so ruhiges Gewissen haben, so still und glücklich zu Hause sein? und dann wird er nicht mehr sagen: Ich verdiene zu wenig, sondern er wird Gott danken, daß er seine Arbeit segnet durch ein stilles, bescheidenes Glück mit den Seinen. Überschlagt doch richtig, das dürfen sich alle, die redliche Arbeit verrichten, gesagt sein lassen. Pfarrer und Lehrer, wenn sie auch keinen Erfolg ihrer Arbeit sehen, so sollen sie doch im Herzen daran glauben, daß in derVerborgenheit eine Ernte heranreift, auch wenn sie sie vielleicht selbst nicht mehr erleben, denn Gott bestimmt die Erntezeit, nicht die Menschen. Mein Vater ist Pfarrer; da begegnet es ihm manchmal, daß alte Leute im Dorf ihm erzählen, wie dies oder jenes Wort, das einer seiner schon längst vergangenen Vorgänger im Konfirmandenunterricht oder in der Kirche geredet, auf sie einen tiefen Eindruck gemacht und ihnen im

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ganzen Leben nachgegangen. Das tröstet ihn dann, denn er sagt sich dann, als dieser mein Vorgänger dieses Wort sagte, da hat er auch wohl nicht geahnt, daß es in einem Herzen soWurzel faßte und darin Frucht brachte für ein Leben. So werden auch die, die nach mir kommen, vielleicht eine Ernte von meinen Worten finden, wo ich meine, in den Wind geredet zu haben. Wenn manche Lehrer es nur ahnen könnten, was sie für diejenigen gewesen sind, die durch ihre Hände gegangen, welchen Einfluß sie ausgeübt haben und wie ihr Andenken in jenen kräftig lebt. Wenn man jedem Menschen den Erfolg seiner Arbeit zeigen könnte, wie ihn Gott schaut, was er durch sein Handeln, seine Rede, sein Beispiel gewirkt, wenn einer uns das aufdecken könnte, wenn einer einem die Ernte unserer Arbeit auf Gottes Saatfeld zeigen könnte, dann würde niemand mehr sagen: Es ist etwas vergeblich getan, sondern es wäre eitel Loben und Danken vor Gott. Es gibt in der Naturwissenschaft ein Gesetz von der Erhaltung der Kraft, das besagt, daß in der Natur auch nicht das Geringste an Kraft verloren geht, auch wenn es so scheint, sondern eine in die andere übergeht und in einer andern Form wirkt. An einem heißen Sommertag denkt mancher: Heute geht auch viel Wärme unnütz verloren, weil er nicht sieht, was sie wirkt. Wenn ihm doch der Gelehrte sagen könnte: Nicht das Geringste, diese Sonnenwärme zieht dasWasser aus den Flüssen und Meeren in dieWolken empor, und wenn es dann als erquickender Regen über dasLand kommt, dann ist es geschehen durch die Kraft der Sonnenwärme. Dieses Gesetz von der Erhaltung der Kraft, welches uns die Wissenschaft gegen den Augenschein in der Natur diktiert, dieses gilt in noch viel höherem Maße im geistigen Sinn von der menschlichen Arbeit, nur daß es dort nicht durch denVerstand, sondern durch den Glauben erfaßt wird. Sollte Gott, der es so eingerichtet hat, daß in der Natur nicht die Kraft eines Sonnenstrahls verloren geht, auf dem geistigen Gebiet die Arbeit eines Menschen unnütz geschehen lassen? Wer ist so töricht, das behaupten zu wollen? Darum öffnet die Augen des Glaubens über der Welt, dann werdet ihr es begreifen, daß nichts, nichts von irgendwelcher redlichen Arbeit verloren geht, auch wenn unser sinnliches Auge nichts davon merkt und es im einzelnen gar nicht verfolgen kann. Des Menschen Wirken gleicht dajenen Pflanzengebilden der Natur, wo die Samenkörnchen auf einem Stengel sitzen und dünne weiße Fäden und Härchen haben, damit sie in der Luft fliegen. Und wenn dann ein Wind kommt, dann lösen sie sich los, und er entführt sie in die Luft, wohin er will, zerstreut sie in alle Richtungen, läßt sie dann zu Boden sinken, und so hat die eine Pflanze an vielen Orten ihre Frucht hin zerstreut und neues Leben hervorge-

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So ist es auch mit dem Wirken der Menschen. Was ein Mensch gewirkt, daskann niemand ausrechnen, ebensowenig wie man ausrechnen kann, wohin die Samen jener Blumen entführt sind, um neues Leben zu erwecken. Denn Gott weht die Menschen durcheinander und führt sie zusammen, daßjeder auf den andern einwirke. Es soll sich einmal jeder unter uns fragen: Wenn ich das bin, was ich bin, wem verdanke ich es? Da wird eine ganze Reihe von Menschen vor seinem Geist aufziehen, Hohe, Niedere, Vornehme, Geringe, Gelehrte, Ungelehrte, Reiche, Arme, Alte, Junge, Gesunde, Kranke, denen er etwas verdankt, ohne daß sie es oft ahnen, und dann kann er sich sagen: Wie diese an mir etwas gewirkt haben, ohne daß sie es wissen, so darf auch ich glauben, daß ich in meinem Beruf oder in meinem Leben etwas an andern gewirkt habe und so mein Wirken einen Sinn und Erfolg hat. Ein Mann aus der vornehmen reichen Pariser Welt, der sein Dasein in Genuß dahinbrachte, traf in der Frühe, als er nach einer durchgejubelten Nacht ausseinem Club nach Hause ging, einen alten Straßenkehrer mit ehrwürdigem Gesicht, der ihm vorwurfsvoll ins durchwachte Antlitz schaute. Und in diesem Blick ging ihm die ganze Hohlheit seines Daseins auf; er bekam Ekel vor seinem nichtstuerischen Leben, raffte sich auf und widmete seine Kraft guten und edlen Bestrebungen. Und wenn einst Gott jenem Straßenkehrer im Himmel die Augen öffnet, wie er seine Arbeit auf Erden gesegnet, wird er da noch sagen, der Lohn war für die Mühe zu gering? Uns allen wird Gott einst so die Augen öffnen, und was wir hier im Glauben ahnen, daß er alles, was wir tun, überreich segnet, das werden wir dort im Schauen erfassen. Dieser Glauben des Herzens soll uns Flügel geben, daß wir uns über die düsteren Wolken, die uns umlagern, wenn wir unser Wirken mit menschlichem Verstand und menschlichem Rechnen betrachten, zur reinen Lebenssonnenluft erheben und dort Kraft und Freudigkeit für die tägliche Arbeit holen. Wer sich durch die Macht des Glaubens dazu erheben kann, der kann getrost dem Leben entgegensehen. Zuerst einmal wird er nicht sagen wie so viele unglückliche Menschen in unserer Zeit: Meine Existenz ist verfehlt, weil ich hier an einem Platze bin, wo ich nicht richtig meine Kräfte anwenden kann; ja, wenn ich dasund dasgeworden wäre, dann hätte ich etwas leisten können, aber so bin ich am falschen Platz. Niemand [ist am falschen Platz], so muß man zu diesem unglücklichsten, sich selbst verzehrenden Wesen sagen, sondern wenn Gott dich an diesen Platz gestellt hat, dann braucht er dich hier. Tue deine Pflicht, auch wenn dich der Beruf zu klein und der Kreis zu eng dünkt, denn durch Gottes Segen wirken die Menschen Großes im Kleinen. Und dann diese hohe Auffassung von unserer Arbeit, die wird uns auch aufrecht erhalten, wenn es uns begegnen sollte, daß wir nicht mehr arbeiten können, sondern leiden. Denn auch Leiden im Glauben ist für Gott

Der reiche Jüngling

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Form der Arbeit, der schwersten zugleich und der segensreichsten Arbeit an sich und andern, auf die er einen reichen Segen legt. Ein Mensch der leidet, der wirkt mehr denn hundert Könige und rastlose Gelehrte, denn er wirkt direkt auf das Herz und das Gemüt der andern. Er hat es in seiner Hand, die Menschen um ihn gut, geduldig, fromm und edel zu machen! Darum sind die Menschen, die Gott zum Leiden berufen hat, die Körner, die nicht dreißig-, nicht sechzig-, sondern hundertfältig Frucht bringen – und noch mehr als hundertfältig. Möge Gott geben, daß wir alles, was wir arbeiten, tun und leiden im Leben, so mit den Augen des Glaubens betrachten, wie unsJesus es in seinem Gleichnis, in seinem Leben und in seinem Leiden gelehrt hat – dann werden wir glücklich sein.

Nachmittagspredigt Sonntag, 16.Juni 1901, St. Nicolai

Mk. 10,17–27: Der reiche Jüngling¦55¿ Jesus hatte den reichen Jüngling lieb. Er hat’s ihm angetan, denn es heißt, da er ihn ansah: «UndJesus liebte ihn.» Wer hätte denn einen solchen Reichen nicht lieb? Fromme, rechtschaffene Eltern haben ihn von Jugend auf in Rechtschaffenheit erzogen, daß er durch seinen Reichtum nicht auf Abwege geleitet werde, sondern ein gottesfürchtiger Mann bleibe, der Sinn für dasGute und Edle hat. Was sie ihm ins Herz gepflanzt, ist auf guten Boden gefallen. Er denkt an seine Seele und möchte gern selig werden. AlsJesus bei seinem

55 [Und da er hinausgegangen war auf den Weg, lief einer herzu, kniete vor ihn und fragte ihn: Guter Meister, wassoll ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe? AberJesus sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott. Du weißt ja die Gebote wohl: «Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch Zeugnis reden, du sollst niemand täuschen, ehre deinen Vater und Mutter.» Er antwortete aber und sprach zu ihm: Meister, dashabe ich alles gehalten von meiner Jugend auf. UndJesus sah ihn an und liebte ihn und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach und nimm das Kreuz auf dich! Er aber ward unmutig über der Rede und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter. Und Jesus sah um sich und sprach zu seinen Jüngern: Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen! Die Jünger aber entsetzten sich über seiner Rede. AberJesus antwortete wiederum und sprach zu ihnen: Liebe Kinder, wie schwer ist’s, daß die, so ihr Vertrauen auf Reichtum setzen, ins Reich Gottes kommen! Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme. Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander: Wer kann denn selig werden? Jesus aber sah sie an und sprach: Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.]

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Orte durchzieht, fällt er ihm zu Füßen – so wenig hochmütig ist er – und fragt ihn, waser tun müsse, um selig zuwerden. In unsern Tagen hat man es so in der Gewohnheit, über die Reichen herzufallen. Man glaubt sich zu diesem Haß berechtigt, weil man mehr denn je sieht, wieviel Elend ein hartherziger Reicher, von dem Hunderte von Arbeitern abhängen, anrichten kann, weil wir sehen, wie die Söhne der Reichen in dem Gedanken aufwachsen, daß ihr Leben darin bestehe, diesen Reichtum aufjede Art zu vermehren, zu genießen. Dabei verlieren sie allen Sinn für Frömmigkeit und Rechtschaffenheit. Die Religion ist ihnen etwas, mit dem sie gleich nach der Konfirmation fertig sind, und eine Seele, ein Bedürfnis nach Seligkeit, das kennen sie nicht. Und doch, so trüb dieses Bild ist, vergessen wir nicht, daß es Reiche gegeben hat, dieJesus selbst geliebt hat und daß, wenn er heute wieder käme, er wieder solche finden würde, die er beim Ansehen lieb gewänne. Seien wir nicht ungerecht. Es gibt auch heutzutage viele Reiche, die von ihren Eltern in Rechtschaffenheit und Frömmigkeit aufgezogen sind, die ihren Besitz nicht für einen Raub achten, sondern ihn in Rechtschaffenheit und Mildtätigkeit verwalten, die über Religion nicht spotten, sondern ihr von Herzen zugetan sind und an ihre Seele denken. Und doch, gerade über einen solchen Reichen hat sich der Herr sehr betrübt, weil er seinen Besitz nicht aufgeben kann, da er ihm sagt: Tue es um desReiches Gottes willen. Jesus muß sehr im Herzen betrübt gewesen sein, als er ihn traurig davongehen sah. Er schilt nicht über die Reichen, er macht demJüngling nicht einmal einen Vorwurf, sondern er bedauert sie, daß es ihnen so schwer wird, in dasReich Gottes einzugehen, weil sie ein Gewicht nach sich ziehen, von dem sie sich schwer befreien können. Jesus bedauert die Reichen – und bedauern ist besser als schelten und hassen. Wer hat es nicht schon empfunden, dieses Bedauern? Wer hat nicht schon gedacht, wenn er so einen jungen Menschen sah, in dem die Seele ausgebrannt ist durch den Reichtum und dasVergnügen: Es wäre dein Glück gewesen, wenn du als arm auf dieWelt gekommen wärest, daß du dein Brot mit deiner Hände Arbeit hättest verdienen müssen, es wäre dir weniger schwer gefallen, gut, rechtschaffen und fromm zu bleiben und dein Herz zu behalten. Was hat denn Jesus eigentlich gewollt, als er ihm sagte, er solle alles verkaufen und den Armen geben? Hat er gemeint, der Reichtum schade der Seele desJünglings? Nein, dennjemand, denJesus liebt, der hat keinen Schaden an seiner Seele gelitten. Aber indem er ihn dazu auffordert, stellt er die Frage an ihn: Bringst du es über dich, alles, woran dein Herz hängt, aufzugeben, wenn Gott es von dir verlangt? Und diese Frage, die stellt er nicht nur an Reiche, sondern anjeden in seiner Art. Den einen

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fragt er: Bringst du es über dich, mit deiner Familie, die dich zurückhalten will, zu brechen, wenn Gott es verlangt? Den andern fragt er: Kannst du Haus und Hof aufgeben? Und diese Frage: Seid ihr bereit, das Letzte aufzugeben, wenn Gott es verlangt? die wiederholt er an jeden Menschen nach seiner Art. Wenn Verfolgungen über die Seinen hereinbrechen, dann tritt er an sie heran und fragt: Könnt ihr Entehrung, Spott, Marter und Tod für mich ertragen? Glaubt nicht, daß in ruhigen Zeiten, wie wir sie haben, er uns diese Fragen erspart, sondern er redet durch das, was er uns schickt, und durch die Stimme unseres Herzens. Wer an einem Sarg steht, der ihm dasLiebste birgt, den fragt er: Bist du gewillt, wasich dir hingenommen, dahinzugeben ohne Murren undTrotzen? Und wenn er einem eine Lebenshoffnung zerstört, ein großes Unglück bringt, dann fragt er: Willst du das tragen, weil ich es verlange von dir? Zu andern redet er durch die Stimme des Herzens. Sie haben geträumt von Ruhm, von hoher Stellung, Ansehen und Macht – und Gott spricht: Ich will, daß du es aufgibst, sie auslöschst in deinem Denken und mir dienst da, wo ich dich im Leben hinstelle. Zu dem andern spricht er: Bekämpfe deinen Stolz, zudemandern: Gib deine Eigenliebe auf – undsogeht an jeden Gottes Frage: Bist du gewillt, das Schwerste zu tun, das ich von dir verlange? Es gibt keinen ernsten Christen, der nicht so schon diese Stimme, «das Schwerste», gehört hat. Und wenn nun unsere Seligkeit davon abhängt, daß wir dieses Schwerste über unsbringen, wer könnte dann vertrauen, selig zu werden? Müßten wir da nicht alle in einer Angst leben, daß Gott uns verwerfe, weil wir es nicht über uns gebracht haben, weil wir über uns selbst nicht Herr geworden sind? Darum fahren die Jünger, alsJesus sagt, wie schwer es den Reichen wird, ins Gottesreich zu kommen, erschreckt auf und fragen: «Wer kann denn selig werden?» So fragen auch wir, wenn wir auf uns und die andern blicken: «Wer kann denn selig werden?» Und Jesus gibt zur Antwort, tröstet sie und uns: «Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott; denn bei Gott sind alle Dinge möglich.» Wo die Menschen sich sagen müssen: Wir können nicht selig werden, da dürfen sie glauben, daß Gott in seiner Gnade und Allmacht sie doch in sein Reich aufnehmen kann. Darum ist dieses Wort eines der schönsten, die aus seinem Munde gekommen. Er hat so sich selbst damit getröstet. Denn er vertraut Gott, daß er den reichen Jüngling, über den er sich jetzt betrübt, weil er das Schwerste nicht über sich gebracht hat für seine Seligkeit und von dem er deshalb sagen muß: Er kann nicht in das Reich Gottes kommen – er vertraut Gott, daß er in seiner Allmacht ihn doch zur Seligkeit aufnimmt. Und wennJesus dasUrteil, ob einer selig werden kann, Gott anheimstellt, dann sollen auch wir es tun. Darin liegt zuerst eineWarnung! Was

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sind doch die Menschen so vorschnell, zu sagen: Der kann nicht selig werden, der ist verdammt, der kommt nicht in den Himmel? Was wißt ihr davon? Und wenn der äußere Lebenswandel auch noch so sehr dafür spricht, wollt ihr Gottes allmächtiger Barmherzigkeit vorgreifen, daß er ihn ausGnaden selig werden läßt? Darum liegt ein Trost in demWort Jesu. Wie viele Herzen sind schwer und bang, weil sie an der Seligkeit jemandes, den sie liebhaben, verzweifeln! Da denkt eine Mutter an ein verlorenes, an Leib und Seele verdorbenes Kind, ein anderer an einen Freund, der eine schwere Schuld auf sich geladen, ein anderer an eine Person, die ihm lieb ist, und wo es ihn immer betrübt, daß sie nicht an ihre Seele denkt. Ist das nicht das Kreuz so mancher frommen Frau, die ihren Mann liebhat, schätzt, seine Rechtschaffenheit, sein gutes Herz ehrt und sich sagen muß, er glaubt an nichts, er ist nicht fromm! Und sich darob viele Sorgen macht. Ich möchte nicht Pfarrer sein, wenn ich nicht zu diesen allen und zu uns allen, die wir uns sorgen um die Seligkeit unserer Lieben und daran verzweifeln wollen, weil wir nach menschlichem Urteil sagen müssen, es ist unmöglich, wenn ich nicht zu ihnen aus voller Überzeugung sagen könnte: Werft eure Sorgen auf den Herrn, verzagt nicht an ihnen. – «Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott, denn bei ihm sind alle Dinge möglich.» Bittet ihn für sie im Gebet.

Morgenpredigt Sonntag, 23.Juni 1901, St. Nicolai

Lk. 13,23–30: DerWeg zur Seligkeit¦56¿ Luther wurde einst gefragt, was denn Gott getan habe, ehe er die Welt erschaffen. «Er ist in einem Birkenwäldchen gesessen», antwortete er, «und hat Ruten geschnitten für Leute, die müßige Fragen tun.» 56 [Es sprach aber einer zu ihm: Herr, meinst du, daß wenige selig werden? Er aber sprach zu ihnen: Ringet darnach, daß ihr durch die enge Pforte eingehet; denn viele werden, das sage ich euch, darnach trachten, wie sie hineinkommen, und werden’s nicht tun können. Von dem an, wenn der Hauswirt aufgestanden ist und die Tür verschlossen hat, da werdet ihr dann anfangen draußen zu stehen und an dieTür klopfen und sagen: Herr, Herr, tu uns auf! Und er wird antworten und zu euch sagen: Ich kenne euch nicht, wo ihr her seid. So werdet ihr dann anfangen zu sagen: Wir haben vor dir gegessen und getrunken, und auf den Gassen hast du uns gelehrt. Und er wird sagen: Ich sage euch: Ich kenne euch nicht, wo ihr her seid; weichet alle von mir, ihr Übeltäter! Da wird sein Heulen und Zähneklappen, wenn ihr sehen werdet Abraham und Isaak undJakob und alle Propheten im Reich Gottes, euch aber hinausgestoßen. Und es werden kommen vom Morgen und vom Abend, von Mitternacht und vom Mittage, die zuTische sitzen werden im Reich Gottes. Und siehe, es sind Letzte, die werden die Ersten sein, und sind Erste, die werden die Letzten sein.]

DerWegzur Seligkeit

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«Herr, meinst du, daßwenige selig werden?» – Ist dasauch so eine müßige Neugierfrage? Man sollte es fast meinen, denn der Herr beantwortete sie ja nicht. Und doch, wer die Art des Meisters kennt, der weiß, daß, wenn er scheinbar die Frage auch nicht beantwortet, in dem, waser sagt, doch eine Antwort enthalten ist für den, der ihn verstehen kann. Ob der Mann, der ihn damals gefragt hat, es aus bloßer Neugierde getan hat, wissen wir nicht. Es gibt aber Arten, diese Frage zu stellen, die nicht bloße Neugierde sind. Was ist aus denen geworden, die gestorben sind, ohne jemals Kunde vonJesus zu hören? Was wird aus denen, die wir um uns her dahinleben sehen, als kennten sie Christus und sein Evangelium nicht, obwohl sie seinen Namen tragen? Das sind Fragen, die, sooft wir sie abweisen, doch immer wiederkommen. Und dann, wenn wir uns der Gedanken über die andern entschlagen wollten, an uns selbst müssen wir immer denken: Gehören wir, die wir uns noch so weit vom Ziele fühlen, zu denen, die selig werden? Statt der Antwort sagt Jesus zwei Sprüche: 1. Ringt danach, daß ihr selig werdet, 2. Die Ersten werden die Letzten sein, und die Letzten werden die Ersten sein. Dazu zwei Gleichnisse: von der engen Pforte und von den Leuten, die Einlaß begehren. Diese beiden Gleichnisse sollen die Sprüche erklären. Was heißt, nach dem Reich Gottes trachten, und washeißt, nach dem Reich Gottes ringen? Das erste Gleichnis versteht man falsch, wenn man meint, der Herr rede von einer engen Pforte, durch die man sich hindurchzwängen muß. Ein Freund von mir, der im Morgenland reiste, erzählte mir: Als ich mich der ersten morgenländischen Stadt näherte, verstand ich Jesu Gleichnis. Da türmen sich – da kein Wasser ist – ganze Berge von Unrat und Kehricht um die Stadt. Eine Straße sieht man nicht, sondern man muß die Pforte suchen. Darum kommt nicht der in die Stadt, welcher sich einfach dem großen Haufen anschließt, die in die Stadt einzugehen trachten, sondern der sich für sich beiseits auf den Weg macht, um die Pforte zu suchen. Das andere Gleichnis hat denselben Sinn. Es stehen viele vor dem Haus und begehren Einlaß. Sie berufen sich darauf, daß sie den Herrn kennen, weil sie ihm schon zugehört haben; andere sagen, sie wären seine Tischgenossen gewesen. Er aber sagt: «Ich kenne euch nicht», weil keiner unter ihnen ist, der ihn persönlich kennt, der mit ihm geredet, in dessen Herz er geschaut. Washeißt also, trachten nach der Seligkeit? Es will heißen, daß man sich der Karawane anschließt, die zur großen Stadt des Herrn will. Es will heißen, daß man sich zum Bekanntenkreis Jesu hält, um Anspruch machen zu können, bei ihm aufgenommen zu werden, wenn es Nacht geworden ist. Die Trachtenden sind also die, welche den Christennamen tragen, die getauft sind, die etwas darauf gehalten haben, christlich getraut zu

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werden, ihre Kinder taufen lassen, sie in den Konfirmandenunterricht schicken und einst christlich begraben werden wollen. Es ist gewiß oft nur äußerlich, aber sie bekunden damit, daß sie etwas darauf geben, zu den Christen zu gehören. Sie trachten doch noch nach der Seligkeit. Sie trachten noch, so muß ich denken, wenn ich an den hohen Festtagen gar manches unbekannte Gesicht hier sehe, gar manchen, der den Choral nicht mitsingen kann, weil er den Choral nicht kennt, gar manchen, der auf den Nachbar schauen muß, um zu wissen, ob man jetzt aufsteht, oder wann man sich setzt, weil er schon gar lang nicht mehr hier war. Sie trachten, denk ich mit Freuden, wenn ich die bekannten Gesichter am Sonntag hier wieder sehe. Sie trachten, sag ich mir, wenn ich sehe, mit welchem Ernst sie zum Abendmahl kommen. Und wenn man in das tägliche Leben hineinschaut, da findet man auch viel christliches Wesen, Leute, die in ihrem Leben und Wandel dem Christennamen Ehre zu machen trachten. Darum soll man von unserer Zeit nicht immer nur Schlechtes sagen, sondern, wo man noch ein christliches Bestreben antrifft, gottlob! sagen, daß es noch ein Trachten nach der Seligkeit gibt. In diesem Zug zur Seligkeit, da sind die einen voll Eifer vorne dran, andere lassen sich in der Mitte mitführen, andere ziehen lässig hinterher, nur um noch dem Zug anzugehören. Die einen gehören zum Bekanntenkreis des Herrn nur, weil sie seinen Namen tragen, die andern, weil sie sein Wort fleißig hören, andere, weil sie als seine Tischgenossen um ihn sind und sich im Leben durch ihre Führung als seine Genossen bekunden. Und doch sagt der Herr: Dieses Trachten gehört zwar zur Seligkeit, aber es genügt nicht, sondern es gilt, zu ringen. Es gilt, danach zu ringen, daß wir nicht nur zu seinem Bekanntenkreis gehören, sondern ihm selbst angehören. Es gilt, zu ringen um Christi Geist, denn wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. Und dieses Ringen vollzieht sich im Herzen desMenschen. Äußerlich sieht man nichts davon. Es ist ein Ringen um ein neues Herz, ein Ringen, von dem keiner zu einem andern reden kann, sondern das das Geheimnis des Herzens ist. Ein Ringen gegen die Sünde und die Versuchung, nicht nur wenn sie in den äußeren Umständen, sondern auch wenn sie im Spiel der Gedanken an uns herantritt. Ein Ringen gegen unsere innerliche Selbstsucht und Lieblosigkeit, unser eigen Ich zu überwinden. Ein Ringen mit sich selbst, um sich zu überwinden und bereit zu sein, das Schwerste zu tun, das Liebste dahinzugeben, wenn Gott es von uns fordert, nicht nur äußeren Besitz, sondern daß wir nicht murren, wenn er uns die nimmt, an welchen unser Herz hängt, sondern stille werden in Gott, daß wir Leid und Not annehmen als etwas, das er uns schickt, daß, wenn er es anders fügt, als es unsere Pläne waren, wir nicht an ihm irre werden, sondern des Herrn Willen erkennen und uns ihm hingeben.

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Ringen heißt, sein Leben in den Dienst des Herrn stellen. Ringen heißt beten, um in der Gemeinschaft mit Gott Kraft zu finden, und sich demütigen. Ringen heißt: Suchen aufzugehen in Christus Jesus, wie es Paulus so schön sagt im Galaterbrief: «Ich lebe; doch nicht ich selbst, sondern Christus lebt in mir» [Gal. 2,20] oder im Philipperbrief: «Nicht, daß ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ichjage ihm aber nach, ob ich’s auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christus Jesus ergriffen bin» [Phil. 3,12]. Was soll aber nun das Wort: «Die Ersten werden die Letzten sein, und die Letzten werden die Ersten sein?» Auf den weltlichen Gang der Dinge angewandt, ist es richtig. Wir wissen, daß im Verlauf von ein paar Generationen diejenigen Familien, die jetzt auf der Höhe des Besitzes und der Macht stehen, andern Platz gemacht haben werden, die jetzt unten stehen. UndJesus wendet nun dies Wort auf das Platzmachen in geistigen Dingen an, die er um sich sah.Wenn jemand berufen war, die Seligkeit zu erlangen, so waren es die Pharisäer, denn sie ließen es sich sauer werden in ihrem Trachten nach der Seligkeit. Nichts war ihnen zu schwer, wenn es galt, durch Halten auch der kleinsten Gebote, ihre Zugehörigkeit zum Volk Gottes zu bekunden. Aber über diesem Trachten vergaßen sie das innerliche Ringen, und als Jesus kam undvon den Menschen Herzenserneuerung verlangte, da verstanden sie ihn nicht. Aber diejenigen, die bisher in Gesetzlosigkeit und Sünde gelebt hatten, die Zöllner und Sünder, denen man die Seligkeit absprach, die wurden durch ihn ergriffen, als Kranke erkannten sie den Arzt, sie leisteten diese innerliche Reue, sie kämpften um die Erneuerung ihres Wesens – und darum wurden sie, in dem Lauf um die Seligkeit, von den Letzten die Ersten, undjene aus den Ersten die Letzten. Etwas Ähnliches findet in unserer christlichen Zeit statt. Wir sind die Ersten, weil uns Christus und seine Wahrheit zugänglich sind, weil wir sie vonJugend auf kennen. Wir haben das Gefühl, daß wir Christen sind, daß wir zu seinem Kreise gehören – und darum lernen ihn so viele unter uns nicht persönlich, von Herzen, kennen. Es ist schon so für die Bekanntschaft unter Menschen; Leute, die von jeher zusammengehören, Glieder derselben Familie sind, unter demselben Dache wohnen, täglich miteinander leben, die kennen sich zwar genau, sie stehen gut miteinander, aber weil sie so aneinander gewöhnt sind, kommen sie nicht dazu, einander ihr innerstes Herz zu öffnen, während sie einer Person, die sie erst einige Male gesehen haben, mehr von ihrem inneren Leben und Denken eröffnen, als denjenigen, die täglich um sie sind. Freunde, die sich früher nicht kannten, kennen einander besser als Brüder, Freundinnen besser als Schwestern. Und so ist es auch im Christentum: Weil die Menschen Jesus als einen alten Bekannten ansehen, zu dessen Bekanntenkreis sie vonJugend gehören, dessen Namen sie tragen, darum werden sie von ihm nicht er-

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griffen, darum fühlen sie kein Bedürfnis, ihm ihr Herz zu öffnen und den Weg zu seinem Herzen zu suchen. Sie vergessen das Ringen, ihn persönlich zu kennen, in seiner Gemeinschaft zu leben und zu denken, – und so finden sie denWeg zur Seligkeit nicht. Wenn die Bibel ein unbekanntes Buch wäre und erst morgen aufgefunden würde, wenn übermorgen die Bergpredigt als etwas Neues in unseren Zeitungen abgedruckt würde, wenn am nächsten Sonntag die Leute, statt nur einige Schritte bis zur Kirche zu haben, Stunden Wegs müßten gehen, um etwas Mehreres zu hören über diesen Jesus – dann würden viele, diejetzt gleichgültig sich in der christlichen Kirche mitführen lassen, die die Bergpredigt noch nie gelesen haben, die kaum mehr in die Kirche kommen, dann würden die sich aufmachen, Jesus zu suchen. Ihr Gemüt würde von ihm ergriffen, und sie würden ihm ihr Herz hingeben und selig werden in ihm. So aber erfüllt sich des Herrn Wort an ihnen: «Die Ersten werden die Letzten sein»: Weil sie dem Heil am nächsten stehen, gehen sie daran vorüber, wie die Leute, die den Geruch der Speise aus der Küche gewohnt sind und davon nicht mehr essen mögen. Darum soll uns dieses Wort eine Mahnung sein, mit uns zu ringen und zu kämpfen, um unser inneres Wesen Jesus zu eigen zu geben, weil das Christentum uns etwas Gewohntes ist, sondern daß wir mit uns allein Jesus suchen, als kennten wir ihn noch nicht. Dann werden wir auch finden, wo denn die Antwort liegt in dem, was er auf jene Frage sagt.

Es erinnert mich anjene bekannte Erzählung vom Ackermann, der auf dem Totenbett seine drei Söhne um sich rief und ihnen sagte: Auf meinem Acker ist ein köstlicher Schatz verborgen. Grabt danach, und er ist euer. Und sie gruben den Acker um, ohne den Schatz zu finden. Als aber die Zeit der Ernte kam, brachte er herrliche Frucht, weil sie ihn umgegraben hatten. Da erkannten sie, welchen Schatz ihr Vater gemeint hatte; nämlich den Schatz, der in derArbeit beruht. So sagt Christus zu denen, die ihn nach der Seligkeit fragen, nicht, wie viele sie erreichen, nicht, worin sie bestehe, sondern er breitet darüber den Schleier der Gleichnisse ausund sagt nur: Ringt nach der Seligkeit. Damit gibt er eine Antwort auf die Frage. Denn alle die, welche nun nach der Seligkeit ringen, denen geht es auf, daß es nicht etwas Zukünftiges ist, auf das hin wir uns hier abmühen und abarbeiten, sondern daß das Ringen nach der Seligkeit die Seligkeit selbst schon in sich trägt, wie die Arbeit auf dem Acker den köstlichen Schatz selbst mit sich führt. Denn die Seligkeit besteht in dem Gefühl, wie wir in diesem Ringen mit uns selbst Jesus näher kommen, wie seine Gestalt groß mit ernster Milde uns zur Seite tritt, die Seligkeit besteht in der Erfahrung, daß in seiner Kraft wir auch das Schwerste überwinden, uns in gewissen Au-

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genblicken gleichsam über dieWelt erheben, um in der Welt nicht unterzugehen, Seligkeit sind die Momente, wo wir ein neues Herz in uns spüren, wo wir uns zur Liebe überwunden haben, wo wir barmherzig gewesen, wo wir uns die Reinheit des Herzens erkämpft und errungen haben, wo er wie ein höheres Licht unser Inneres erleuchtet. Das ist Seligkeit, und wer dies noch nicht in sich erlebt, der weiß nicht, was Seligkeit ist. Darum versteht mich recht, wenn ich sage, nicht zum Sterben, sondern zum Leben braucht der Mensch die Seligkeit. Denn wenn ihn nicht in diesem Ringen mit sich selbst die höhere Kraft durchströmt, die ihn in den großen und schweren Augenblicken über sich selbst erhebt, ihm Mut gibt, ihn aufrichtet, dann ist sein Leben ein zweckloses Hinschleppen desDaseins. Und weilJesus weiß, daß die Menschen die Seligkeit zum Leben vonnöten haben, hat er die Sanftmütigen, die Friedfertigen, die reines Herzens sind, die sich geistig arm fühlen, schon jetzt selig gepriesen, alle, die ringen, obwohl er selbst weiß, wie unvollkommen die Menschen sind. Er hat uns Mut und Freudigkeit zum Leben gegeben. Dafür danken wir ihm als dem Köstlichsten, was er uns gebracht hat.

Nachmittagspredigt Sonntag, 14.Juli 1901, St. Nicolai

Kol. 3,2– 15:Trachtet nach dem, was droben

ist¦57¿

In den Evangelien der letzten Sonntage war viel vom ewigen Leben die Rede: der reiche Jüngling, Wasser des Lebens, nächsten Sonntag: Verlassen desVaters etc. Darum wollen wir uns heute nachmittag fra57 [,nicht nach dem, was auf Erden ist. Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christo in Gott. Wenn aber Christus, euer Leben, sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit ihm in der Herrlichkeit. So tötet nun eure Glieder, die auf Erden sind: Hurerei, Unreinigkeit, schändliche Brunst, böse Lust und den Geiz, welcher ist Abgötterei, um welcher willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder desUnglaubens; in welchem auch ihr weiland gewandelt habt, daihr darin lebtet. Nun aber leget alles ab von euch, den Zorn, Grimm, Bosheit, Lästerung, schandbare Worte aus eurem Munde. Lüget nicht untereinander; ziehet den alten Menschen mit seinen Werken ausundziehet den neuen an, der daerneuert wird zu der Erkenntnis nach dem Ebenbilde des, der ihn geschaffen hat; danicht ist Grieche, Jude, Beschnittener, Unbeschnittener, Ungrieche, Szythe, Knecht, Freier, sondern alles und in allen Christus. So ziehet nun an, als die Auserwählten Gottes, Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und vertrage einer den andern, und vergebet euch untereinander, so jemand Klage hat wider den andern; gleichwie Christus euch vergeben hat, also auch ihr. Über alles aber ziehet andie Liebe, die da ist dasBand derVollkommenheit. Und der Friede Gottes regiere in euren Herzen, zuwelchem ihr auch berufen seid in einem Leibe; und seid dankbar!]

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gen: Was ist denn eigentlich das ewige Leben? Und wie sollen wir darnach trachten? Gewöhnlich stellt man es sich als ein glückliches Dasein im Himmel vor, das man durch einen frommen und ehrbaren Wandel auf Erden verdienen muß. Wir arbeiten hier für einen Lohn, der uns nach dem Tode ausgezahlt wird. Wenn ich mit Kindern oder mit Heiden redete, dann müßte ich ihnen das ewige Leben so erklären, damit sie es verstehen. Aber Christen, die in der Erkenntnis fortschreiten wollen, die dürfen nicht bei dieser äußerlichen Betrachtungsweise stehen bleiben, sondern sie müssen tiefer eindringen. Das will der Apostel hier seinen Kolossern klar machen, und darum redet er ihnen vom ewigen Leben. Sie sollen den tiefen Sinn von dem Wort erfassen: «Trachtet nach dem, was oben ist, und nicht nach dem, wasauf Erden ist.» Es handelt sich um ein großes Geheimnis: «Ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott» (3,3). Das ewige Leben, so will er ihnen sagen, fängt nicht erst an nach demTode, sondern schon jetzt seid ihr gleichsam gestorben, schon jetzt lebt ihr in dem ewigen Leben, nur daß es noch verborgen ist. Jeder, der Christus kennt, wer auf ihn getauft ist, wer an ihn glaubt, der trägt dieses verborgene Leben in sich. So sagt er einmal so schön im Galaterbrief: «Ich lebe; doch nicht hinfort ich selbst, sondern Christus lebt in mir» [Gal. 2,20]. Der wahre Mensch, das ist nicht der Mensch des Leibes, des Herzens, der Sinne, der Gedanken, der Mensch, der sich freut, der Mensch, der leidet, sondern das wahre «Ich» – das ist etwas geheimnisvoll Verborgenes. Das irdische Leben ist nur eine Hülle des geheimnisvollen Wesens, das wir in uns tragen, wie die Raupe nur die Hülle des Schmetterlings ist. So kommt auch für unsdie Zeit, daß die Hülle abfällt undunser verborgenes, ewiges Wesen offenbar wird. Wenn aber Christus, euer Herr, sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit ihm in der Herrlichkeit. Darum sagt Paulus im Philipperbrief: «Christus ist mein Leben und Sterben mein Gewinn» [Phil. 1,21]. «Unser Wandel ist im Himmel» [Phil. 3,20]. So schön wie er hat keiner das Geheimnis des ewigen Lebens ausgesprochen, – und am ergreifendsten gerade dann, als er gefangen saß und in der Erwartung seines Endes auf sein Leben zurückblickte: Das ist im Kolosser- und im Philipperbrief. Ich möchte, daß ihr euch die Zeit nähmt, wenn es geht, heute abend diese beiden Briefe für euch zu lesen. Sie sind so erhebend und so schön, und ein solcher Gottesfriede ist darüber ausgegossen, daß ein Mensch, wäre er noch so traurig, hier Ruhe und Frieden wiederfindet; und hätte er alle Hoffnung am Leben verloren: Hier kehrt sie ihm zurück. Wir sind tot, wir wandeln im Himmel. Darum sollen wir den irdischen Leib abtöten. Das will nicht heißen, daß wir ihn durch Fasten

Trachtet nach dem, was droben

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und Entsagen entkräftigen! Nein, wir müssen ihn erhalten, weil er die irdische Herberge des göttlichen Wesens in uns ist. DasTöten ist geistig zuverstehen: Wir sollen diese Hülle rein erhalten. Zuerst einmal, indem wir die niedrigen Leidenschaften niederkämpfen: Unreinigkeit, böse Lust und Geiz, und dann, indem wir ringen, daß wir uns enthalten des Zorns, des Grimms, der Bosheit, der Lästerung, der schandbaren Worte und der Lüge! Also indem wir unsern Mund und Sinn vor dem Gemeinen bewahren. So ziehen wir den alten Menschen mit seinen Werken aus. Wenn wir dasGemeine und Niedrige in uns wachsen lassen, dann erstickt es das innere, ewige Wesen in uns, daß unsere unsterbliche Seele nicht mehr atmen kann in uns. Dann möchte ich hier noch etwas nennen, was der Apostel nicht anführt: das gleichgültige Dahinleben. Es gibt so viele Menschen, denen man eigentlich nichts vorwerfen kann. Sie führen kein gemeines Leben, sie haben ein gutes Herz und eine gewisse Redlichkeit, aber sie lassen sich gehen, sie denken nicht an den ewigen, inwendigen Menschen, sie geben ihm keine Nahrung – und so erlöscht ihre Seele langsam in ihnen wie eine Flamme, die keinen Brennstoff mehr hat. Man hört die Rede «Es gibt keine Unsterblichkeit» nicht nur von denen, die damit frech Gott lästern wollen, sondern auch von andern, ehrbaren Leuten, die es sagen, weil sie nicht mehr daran glauben können. Warum wissen sie nichts mehr von einem ewigen Leben? Weil ihr inwendiger Mensch abgestorben ist! Und wenn ihr Leib ins Grab sinkt, dann ist es mit ihrem ganzen Wesen fertig. So haben sie recht für sich: Es gibt keine Unsterblichkeit. Darum müssen wir uns immer fragen: Atmet unsere Seele noch? Wächst sie, daß, wenn einst unser irdischer Körper ins Grab sinkt, unser inwendiger Mensch vollendet dasteht? Diesem inneren Wesen in uns müssen wir Anteil geben an unserm Sinnen und Fühlen, daß es unsere Gedanken erfülle. Das will es bedeuten, wenn Paulus sagt: «Ziehet den neuen Menschen an!» Es geschieht, wenn unsere Gedanken beherrscht werden von herzlichem Erbarmen, von Freundlichkeit, Demut und Geduld, von gegenseitigem Ertragen, von Vergebung und von der «Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit». Wenn so der innere Mensch in uns lebendig ist, dann regiert der Friede Gottes in unsern Herzen. Die meisten Leute meinen, «den neuen Menschen anziehen», das bedeute eine große Tat, etwas ganz Außergewöhnliches. Das Bild des Anziehens: Als ob man mit einem Satz in die Kleidung spränge und nicht ein Stück nach dem andern, indem man mit dem Notwendigsten anfängt. Dann warten sie immer darauf, mit dem neuen Leben zu beginnen – und mit dem Warten beginnen sie nie, denn der große Augen-

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blick bleibt immer aus. So gibt es auch im gewöhnlichen Leben Leute, die es zu nichts bringen, weil sie es immer groß anfangen wollen. Das ist nun gar nicht der Gedanke des Apostels. Sondern er fängt in der Aufzählung mit dem Kleinen an und steigt dann immer höher, bis er kommt zur «Liebe, die da ist dasBand derVollkommenheit». Womit soll ich anfangen in dem Streben nach der Seligkeit? Darauf antwortet er: Was fällt denn denen, die um dich sind im täglichen Verkehr, am meisten an dir auf? Worüber haben sie sich zu beklagen? Dort mußt du anfangen, den neuen Menschen anzuziehen! Bist du unfreundlich, dann erziehe dich zur Freundlichkeit, bist du hoffärtig und anmaßend, dann erziehe dich zum demütigen Wesen, bist du streitsüchtig, dann erziehe dich zur Friedfertigkeit, ist deine Schwäche, böse Reden zu führen, dann nimm deine Zunge in Zucht – und so weiter. Erst wenn die Deinen, deine Eltern, Geschwister, Herrschaften, Dienstboten, Kameraden den neuen Menschen an dir bemerken, wenn sie es auch nicht sagen, dann will es heißen, daß du begonnen hast, ihn anzuziehen, und dann wirst du auch fortschreiten in der Erneuerung. Sie wird deinen Sinn und dein Herz ergreifen, bis du zur Vollendung kommst in der Liebe. So wird das irdische Wesen aufgehen in dem überirdischen. Es gibt solche Menschen, besonders solche, die viel gelitten haben und schwer kämpfen mußten, die haben schon hier im Leben etwas Überirdisches an sich. Eine Ruhe und Sanftmut und Friede geht von ihnen aus, als ob sie schon jetzt in einer andern Welt lebten. Ihre Gedanken sind durchgeistigt. Es ist, als ob die Seele wie eine innere Helligkeit durch ihren Körper durchschiene. So sollen auch wir durch Arbeit an uns selbst zum ewigen Leben kommen, daß, wie der Apostel sagt, «der Friede Gottes in unsern Herzen regiert». Wer so den inwendigen Menschen in sich wachsen fühlt, der hat keine Angst und keinen Ekel am Leben, sondern er läßt den lieben Gott machen: «Ob mich derTod nimmt hin, ist Sterben mein Gewinn, und Christus ist mein Leben; dem tu ich mich ergeben. Ich sterb heut oder morgen, mein Seel wird er versorgen.»¦58¿

58 [Lübeck vor 1603: Auf meinen lieben Gott trau ich in Angst und Not, Str. 3.]

Der Friede

Gottes

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Morgenpredigt Sonntag, 4. August 1901, St. Nicolai

Phil. 4,4.6.7: Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft¦59¿ Warum gibt es auf Erden glückliche und unglückliche Menschen? Ich will damit nicht die Frage aufwerfen, warum ist es so eingerichtet, daß der eine mehr Glück hat als der andere und der andere mehr Unglück, denn da würde man mir gleich sagen: Es gibt überhaupt keinen glücklichen Menschen. Wenn man das ganze Leben zusammennimmt, dann ist es ein trostloses Ding, eine Kette von Leiden und Enttäuschungen. Das hat schon der Prediger Salomo gesagt. In unserer Zeit haben es die weltweisen Philosophen wie Arthur Schopenhauer wieder als neue Weisheit verkündet, und die Menschen reden es ihnen nach. Ist in diesem Gerede nicht ein gutes Stück Gedankenlosigkeit? Es ist nicht wahr, daß die Menschen notwendig unglücklich sind, sondern es gibt auch glückliche Menschen. Wer das Glück und das Unglück in einem Menschenleben zusammenrechnen wollte und dann sagen: So viel Glück, so viel Unglück, also war dieses Leben je nachdem glücklich oder unglücklich, – wer so rechnet, begeht einen Rechenfehler, denn daskann man nicht so äußerlich zusammenzählen. Es gibt Leute, denen geht es auf Erden nach Wunsch und Wille. Man würde ausrechnen, die Leute müssen glücklich sein. Gesundheit, Reichtum, Ansehen, Erfolg, alles ist da. Jetzt geht hin zu ihnen und fragt sie, da werden sie euch anlachen. Wir glücklich? Und sie werden euch erzählen, was sie vom Leben halten, wie der Mensch unglücklich ist, und werden damit kein Ende finden. So war Arthur Schopenhauer, der es sich zur Aufgabe machte, die Menschen darüber aufzuklären, daß dieses Dasein ein Jammer sei, nicht etwa einer, dem es schlecht ging, sondern ein Mensch, der von seinen Renten lebte. Bei andern hat man ausgerechnet, die müssen tief unglücklich sein. Sie haben schon viel Unglück gehabt, und das Leben lastet schwer auf ihnen mit seinen Sorgen. Dann wird euch eure Rechnung wieder zuschanden werden, denn vielleicht aus einem Bett, wo ein Mensch siech liegt, Wochen, Monate, Jahre, ja vielleicht sein ganzes Leben lang, da könnt ihr es hören: Ich bin glücklich. «Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich euch: Freuet euch!» «Freuet euch – sorget nicht!» Nun, ein Mensch, der so redet, muß doch glücklich sein. Wer sagt es? Der Apostel Paulus, siech 59 [Freuet euch in dem Herrn allewege! Und abermals sage ich: Freuet euch! – Sorget nichts; sondern in allen Dingen lasset eure Bitten im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu!]

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und krank im Gefängnis, nach einem Leben voll Leiden, Verfolgungen, Enttäuschungen, verlassen von seinen Freunden. Wie ist doch die Weltweisheit so töricht! Sie will die Menschen beglücken und vergißt die Hauptsache, daß sie nämlich ihnen sagt: Das Glück hängt nicht davon ab, waseinem im Leben widerfährt, sondern wie man’s erträgt.¦60¿ Freilich, wir sollen uns Mühe geben, uns gegenseitig zu helfen, den Leidenden ihr Los zu erleichtern, aber damit können wir die Welt nie glücklich machen. Und wenn wir alles könnten ausführen, alle Leiden stillen – meint ihr, wir hätten die Welt glücklich gemacht? Meint ihr nicht, daß wenn Gott so die Menschen glücklich machen könnte, er sie nicht mit einem Schlag von Sorgen, Not und Elend befreien würde? Aber glücklich wird dieWelt dadurch nicht. Wasunsbegegnet, darüber walten höhere Gewalten, denen wir nicht in den Arm fallen können, sondern die wir über uns ergehen lassen müssen. Aber über das Glück haben sie nicht zu bestimmen, sondern über das Glück bestimmt unser Herz. Nicht weil die Schicksale verschieden sind, sind die einen glücklich und die andern unglücklich, sondern weil die Herzen verschieden sind. Wir sehen die Natur nicht, wie sie ist, sondern wie sie dem Auge erscheint. Halt ein Glas vors Auge: Davon hängt es ab, ob die Dinge ganz nah oder ganz fern sind, ob dasKleine riesengroß und dasGroße winzig klein ist, ob alles leuchtet in herrlichen Farben, oder ob beim herrlichsten Sonnenschein alles grauschwarz ist. So ist dasHerz dasinnere Auge, womit wir dasLeben betrachten. Nicht wie esansich ist, erkennen wir es, sondern wie esunserem Herzen erscheint. Vom Herzen hängt’s ab, ob die Sorgen so nah sind, daß sie unserdrücken, oder ob sie fern sind. Vom Herzen hängt’s ab, ob große Sorgen klein sind und kleine Freuden groß. Vom Herzen hängt’s ab, ob es uns düster und grau oder trotz des Sorgenhimmels leuchtend schön vorkommt. «Jedermann ist seines Glückes Schmied.» Das ist zunächst ein unfrommes Sprichwort, wenn es besagen soll: Nutz deinen Vorteil aus, ohne dich um andere zu kümmern. Es ist aber auch ein frommes Sprichwort (– so möchte ich, daß ihr es behaltet –) in dem Sinne nämlich, daß jeder sein eigen Herz zum Glück schmieden muß. Mache dein Herz glücklich, dann bist du glücklich. Das Herz wird zum Glück bereitet durch Gebet. «Freuet euch allewege, sorget nichts, sondern in allen Dingen lasset eure Bitten im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kommen», sagt der Apostel. Ein verbrauchtes Rezept, werden manche sagen. Wir haben’s versucht. Als wir unglücklich waren, haben wir zu Gott gebetet, unsere 60 [R] Wir wollen annehmen, morgen habe niemand mehr Nahrungssorgen, Leiden oder sonst einen Schmerz. Meint ihr, dieWelt wäre glücklicher?

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Sorgen haben wir vor ihn kommen lassen. Die Dinge gingen doch ihren Gang, und eine Antwort hat uns Gott nicht gegeben. Haben sich die Leute, die so reden, schon gefragt, ob ihr Gebet bis zu Gott gedrungen ist, ob es im rechten Geist und in der rechten Art war? Denn nicht jedes Gebet bringt Glück ins Herz. Wenn Gott dem Herzen keine Antwort gibt, wenn dasMenschenkind, dasihn anruft im Gebet, keine Ruhe und Fassung findet, dann ist das Gebet nicht bis zu Gott gedrungen. Es war nicht im rechten Geist. Das Gebet, das Glück ins Herz bringt, ist ein Gebet in Flehen und Danksagung. Ein Gebet in Flehen heißt ein Gebet im Bewußtsein unserer Sündhaftigkeit. Als Jesaja im Gesichte zum Propheten berufen wurde und den Herrn sah, umgeben von seiner Herrlichkeit, und er vor ihn treten sollte, da war sein erster Gedanke: «Ich bin unreiner Lippen», und alsbald, so erzählt er sein Gesicht im 6. Kapitel, flog ein Seraphim zu ihm und hatte eine glühende Kohle, die er vom Altar genommen hatte, rührte des Propheten Mund an und sprach: «Siehe, hiermit sind deine Lippen gerührt, daß deine Missetat von dir genommen werde und deine Sünde versöhnt sei» [Jes. 6,7]. Werden denn wir, wenn wir uns dem Herrn nahen, uns unserer Sündhaftigkeit bewußt? Ich glaube, dasgeschieht bei uns zu wenig. Wir beten mit der Schuld und der Sünde auf dem Herzen – und merken es nicht. Wir beten mit unreinen Lippen – und merken es nicht. Wir merken es nicht, wie viel Herrschsucht, Zorn, Eitelkeit, Lieblosigkeit, sündiges Wesen unsern Bitten anhaftet! Wir meinen, unsere Bitten steigen vor Gott empor, – und siehe, der Erdenstaub lastet wie ein Gewicht darauf, daß es sich nicht über die Erde erheben kann. Dann wundern wir uns, daß es nicht vor Gott dringt, dass wir nicht im Herzen eine Antwort spüren. Darum, soll euer Gebet zu Gott kommen, bittet ihn, er möge euer Herz entsündigen und eure Lippen reinigen. Das ist ein Gebet in Flehen. «Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen» [Mt. 5,8]. Und wenn das Herz rein ist, dann könnt ihr die irdischen Sorgen, welche sie auch seien, vor Gott bringen: Das ist das große Geheimnis! Man fragt sich: Wie darf man Gott überhaupt mit irdischen Sorgen angehen? Er ist doch Geist – und nur das Geistige darf vor ihn kommen. Aus einem demütigen, entsündigten Herzen haftet den irdischen Sorgen nichts Irdisches mehr an, sondern sie streifen ab, was ihnen von sündigem und eitlem Wesen anklebte. So sendet der Mensch irdische Sorgen unbeschwert zu Gott, der Geist ist. Damit sie sich nun aus diesem Herzen leicht erheben, sich zu Gott zu schwingen, gebt euren Bitten Flügel – dasgeschieht durch die Dankbarkeit. Nur ein dankbares Herz versteht, zu bitten. Wenn ein Mensch von einem Menschen etwas bittet, ist es da nicht schon etwas ganz ande-

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res, ob er es tut in Dankbarkeit oder nicht? Und wie viel mehr vor Gott?¦61¿

Daß wir etwas zu bitten haben – daß wir aber etwas zu danken haben – denken wir denn daran beim Beten? Wie ganz anders ist aber dasBittgebet, dasanfängt, dem Herrn zu danken. Nur dasDanken gibt den richtigen Maßstab für die Sorgen. Beginnt mit dem Danken – und die Hälfte eurer Sorgen ist euch schon genommen, ehe ihr sie nur über die Lippen gebracht habt, denn wir müssen uns dann sagen: Wie kleingläubig sind wir doch! Der Herr, der solches an uns tut – und wir machen uns wegen dem undjenem solche Sorgen! Das ist das Gebet, welches Freudigkeit

und Sorglosigkeit gibt, von denen derApostel so schön redet. Wie soll nun aus einem solchen Gebet das Glück kommen? Indem Gott uns gibt nach unsern Bitten? Nein, sondern indem aus solchem Gebet der Friede Gottes über uns kommt, welcher höher ist als alle Vernunft. Das Gebet, das zu Gott steigt, das erhebt den Menschen mit sich in die Region des Gottesfriedens. Camille Flammarion, der große Astronom, beschreibt so schön, wie es ihm wunderbar zu Mute wurde, wenn er sich mit dem Luftschiff in die ewige Bläue über den Wolken erhob. Alles Irdische ist unter einem ausgebreitet, die Flur wie ein Teppich, die Ströme wie Silberfäden, die gewaltigsten Berge sind kleine Erhöhungen, Geräusche und Lärm klingen wie ein gedämpftes Gemurmel zu einem herauf. Wie ist dieWelt doch so ganz anders, wenn man sie so von oben, umgeben von ewiger Stille und ewigem Frieden, betrachtet, als wenn man mitten drin steht und sie mit den Augen der Vernunft an-

schaut! So entführt auch das wahre Gebet den Menschen in die Region des Gottesfriedens, wo dieses Leben, mit allem, was es bringt und enthält, mit allen seinen Sorgen undWünschen, mit allem seinem Trachten unter ihm ausgebreitet ist, wo der Lärm des Ehrgeizes, der Leidenschaft, der Lieblosigkeit und des Hasses nur mehr wie ein fernes Murmeln zu ihm dringen. Wie klein erscheint ihm doch alles, was ihm so groß, so beängstigend erscheint, wenn er mitten drin stehend, umtönt vom irdischen Getriebe, die Dinge mit den Augen der Vernunft betrachtet und nun berechnet, wasihm alles widerfahren kann und wasihm nicht nach Wunsch geht. Betrachte dasLeben mit den Augen derVernunft – und du wirst niemals, niemals glücklich werden. Erhebe dich im Gebet zum Gottesfrieden, bete, bis dieser Friede in dein Herz kommt, welcher höher ist als alle Vernunft, dann wirst du glücklich sein, was dein Leben auch sei, denn es kommt eine Ruhe über dich. Im Leben stehst du über dem Leben – dasist daswahre, daseinzige Glück. 61 [R] Nur ein entsündigtes Herz darf bitten, nur ein dankbares Herz kann bitten.

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Ja, wer so immer hoch schweben könnte – der wäre selig, sagt ihr. Aber wie der, welcher über denWolken schwebt, doch wieder notwendig herab muß, so ist auch das Leben stärker als wir. Es zwingt uns wieder in das alltägliche Getriebe, und wer vermöchte sich in der Hast der Tagesarbeit mit den Sorgen, der Aufregung und dem Ärger, den eine jede Stunde bringt – wer vermöchte sich da zum Gottesfrieden zu erheben? Gewiß, den Gottesfrieden erleben wir nur in den Stunden derWeihe und der Sammlung. Aber wenn diese Stunden vorüber sind, ist denn dann alles vorüber? Nein, sondern der Friede Gottes, den wir erlebt, der bewahrt Herzen und Sinne. Er bewahrt sie, daß sie nicht von den täglichen Sorgen erdrückt werden; er bewahrt sie, daß sie nicht von Leidenschaft, Habsucht, niedriger und kleinlicher Gesinnung erfüllt werden. Der Gottesfriede ruft den Herzen und Sinnen immer zu: Geht nicht auf in der Welt der Vernunft, laßt euch davon nicht gefangen nehmen, geht darin nicht unter, sondern gedenkt, wie ihr sie gesehen habt in dem Gottesfrieden, welcher höher ist als dieVernunft. Das ist die wahre Welt; die Welt derVernunft aber, dasist eine verzerrte Scheinwelt. Wer den Gottesfrieden erlebt hat, der kann getrost ins Leben hineingehen, denn was er gesehen, das begleitet ihn wie eine schützende und tröstende Erinnerung – und wir Menschen leben von Erinnerung. Darum sucht des Abends im Gebet den Frieden aus dem irdischen Getriebe. Nur der ist stark für den kommenden Tag, der am Abend die Friedensstunde im Gebet erlebt. Darum kommen wir auch am Sonntag, dem ersten Tag der Woche, zusammen, um hier im Gotteshaus miteinander den Frieden Gottes zu erleben, hier in der Kirche, wo der Lärm der Straßen und das Licht des Tages nur gedämpft hereindringen, wo Glockenton die Seele herläutet und geweihter Orgelklang sie nach oben führt. Hier entsündigen wir uns in gemeinsamem Gebet, hier danken wir in gemeinsamem Gesang. Und während das Evangelium verkündet wird und das Wort an euer Ohr dringt, da gehen eure Gedanken ihre eigenen Wege. Euer Leben, eure Sorgen, eure Pflichten, die vergangene und kommende Woche, die treten vor euch und ziehen in dieser weihevollen Stunde vor eurem inneren Auge vorüber. Das ist dann wahrer Gottesdienst – nicht was ihr hört, sondern was ihr selbst in eurem Herzen erlebt. Die Predigt ist nur das Begleitwort zu den Gedanken eures Herzens, nur der Ton der die Harmonie in eurem Herzen erweckt. Wenn ihr so eine Friedensstunde verlebt habt, dann seid ihr stark für die kommende Woche. Die Türen öffnen sich, die grelle Helligkeit desTages mit dem Geräusch der Straßen dringt herein; der weihevolle Orgelton, der euch hinausgeleitet und sich dann unter der Tür mit dem Lärm der Straße mischt, trägt euch dasWort, mit dem wir euch entlassen, in das Getriebe nach: «Der Friede Gottes, welcher höher ist denn

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alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.» Das will heißen: Der Friede Gottes, den ihr hier erlebt habt, der soll euch aushalten die ganze Woche, euer Herz und Sinn bewahren in der Alltagsarbeit und den Alltagssorgen von niedriger Gesinnung, Kleinmut undVerzagtheit. Er soll euch erinnern: In dem Leben steht der Christ über dem Leben. Das ist daswahre Glück.

Nachmittagspredigt Sonntag, 11. August 1901, St. Nicolai

Mt. 5,14–16: Ihr seid dasLicht derWelt|62¡ Warum hat Gott die Menschen geschaffen? Habt ihr euch diese Frage schon einmal vorgelegt? Die Welt bestände ja geradeso gut ohne die Menschen, ja vielleicht noch besser, denn gerade die Menschen bringen dasUnglück und die Grausamkeit in dieWelt. Da kann man lange darüber nachdenken: Was hat denn Gott nötig gehabt, die Menschen ins Dasein zu rufen? – und findet keine Antwort. AberJesus findet eine. Gleich im ersten Kapitel der Bergpredigt, wo das Gotteswort zum ersten Mal ganz rein den Menschen gepredigt wird – kaum hat er die Seligpreisungen beendet – dawirft er gleich die Hauptfrage auf: Warum seid ihr denn überhaupt da? Und die Antwort lautet: «Ihr seid dasLicht derWelt.» «Ihr seid das Licht der Welt!» In diesem einen Satz liegt eine ganze Welt von Weisheit. Es hat Gelehrte und Denker gegeben, die haben nichts gemacht, als nur immer [über] diesen einen Satz nachzudenken und alles auszuführen, wasdarin enthalten ist. So lebte in unserem Jahrhundert in Deutschland ein Philosoph namens Hegel. Der hat ausgeführt, wie Gott ohne dieWelt, ohne die Menschen, in ewiger Ruhe versunken wäre, sich selbst nicht einmal erkannt hätte, sondern wie er dazu eineWelt undMenschen schaffen mußte, daß er sich selbst, seinen Geist, sein eigenes Wesen, in diesen seinen höchsten Geschöpfen erfaßte! Durch die Menschen wirkt Gottes Geist in derWelt! Das haben auch die Denker schon vor Christus geahnt. Aber niemals ist es so einfach ausgesprochen worden, wie vonJesus: «Ihr seid dasLicht derWelt.» Nun gibt es wirklich Menschen, von denen man in gewissem Sinne sagen kann: Sie sind dasLicht derWelt. Wir meinen da die großen Männer und die großen Denker, auf die die Aufmerksamkeit ganzer 62 [Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es denn allen, die im Hause sind. Also lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen undeuren Vater im Himmel preisen.]

Ihr seid das Licht der Welt

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Völker und ganzer Geschlechter gerichtet ist, weil sie durch ihre Taten und ihre Gedanken alles bestimmen. Von manchen Männern sagt man es mit Stolz, sie sind das Licht der Welt, weil von ihnen dieWahrheit und neue Erkenntnis über die ganze Menschheit ausgegangen sind. Denkt an unsere Reformatoren und die Männer, welche für dasEdle und das Gute gekämpft haben. «Ihr seid das Licht der Welt!» Das möchte man manchmal sagen wie eine Mahnung und eineWarnung an hochstehende Männer oder solche, die durch große Geistesgaben ausgestattet sind. Dann will es heißen: Gebt acht, bedenkt es, die Augen von soundso viel Tausenden, von soundso viel Millionen sind auf euch gerichtet. Von eurem Beispiel in Wort undTat, da hängt so ungeheuer viel ab.Je nachdem ihr euren Verstand und Gaben oder eure Stellung braucht, könnt ihr der Welt ein Licht zur Wahrheit und zum Guten oder ein Irrlicht zum Schlechten werden. Die Herrscher und die großen Männer sollten diesen Spruch über ihrem Bett hängen haben, daß ihnen angst darob würde, wenn sie beim Einschlafen und beim Erwachen immer an die große Verantwortung denken müßten, die sie tragen. Aber Jesus meint mit seinem Wort nicht allein die großen, hervorragenden Menschen, auf denen die Augen derWelt ruhen, sondern jeden, auch den unscheinbarsten Menschen. Wer ist denn um ihn? Königssöhne, Prinzen, angehende Gelehrte? Nein, sondern arme Fischer, kleine Leute, Hausfrauen, Knechte und Mägde. Und zu denen sagt er allen: «Ihr seid dasLicht derWelt!» Ist dasnicht merkwürdig? Und damit sie es recht verstehen, daß er sie meint, sie, die außer ihren Hausgenossen niemand kennt, die ganz aufgehen in ihren täglichen Werken, die nicht einmal an etwas anderes denken können als an ihre tägliche Arbeit, an ihre Herrschaft, an ihre Kinder – damit sie’s recht verstehen, führt er’s ihnen aus. Licht derWelt ist man, wenn man in seinem Hause ein Licht ist. «Niemand», sagt er, «zündet ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter. So leuchtet es denn allen, die im Hause sind.» Das will heißen: Glaubt nicht, daß einer unter euch, und sei er noch so gering, nur dazu bestimmt ist, daß sein Leben nun unbemerkt vorübergehe. Wenn Gott einen Menschen erschafft, dann zündet er ein Licht an! Das Licht seines Geistes, denn der Mensch ist göttlichen Wesens. Ein Mensch schon zündet nicht ein Licht an, daß er es mit einem Scheffel überdeckt, so daß es keine Helligkeit verbreitet, sondern er stellt es auf einen Leuchter, daß es allen leuchte. Meint ihr nun, daß wenn Gott sein Licht in einem Hause anzündet, wenn er einen Menschen mit göttlicher Seele in diese Familie geboren werden läßt, wenn er ein Weib mit göttlicher Seele in dieses Haus als Hausfrau kommen läßt, wenn er einen Menschen mit göttlicher Seele als Dienstboten in dieses Haus führt, meint ihr denn, das hat keinen Sinn, sondern Gott

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will, daß diese Menschen denen, mit welchen sie zusammen sind, ein göttliches Licht seien. «Lasset euer Licht leuchten vor den Leuten!» Damit meint er nicht, wir sollen nun ein öffentliches Rühmen und Aufhebens von uns machen! Das ist ja ein Gedanke, derJesus so ganz fern liegt, sondern das Gleichnis erklärt esja: Er meint unser Wirken zu Hause. Wir sollen die Leute, die um uns sind, unsere guten Werke sehen lassen, daß sie unsern Vater im Himmel preisen. Woher kommt denn die Gottlosigkeit in der Welt, diese Finsternis in den Herzen so vieler Menschen? Man sagt da, das hängt an unserm Verstand, durch die Wissenschaft, durch die Zweifel, die sie in unserm Herzen erregt, da werden die Leute in unserer Zeit an Gott irre. Das ist alles Gerede. Die Leute in unserer Zeit verfallen in Gottlosigkeit, weil in dem Hause, wo sie aufwachsen, wo sie sind, weil da dasLicht Gottes nicht leuchtet, weil sie keine guten Werke sehen, von denen sie sagen müssen, Gott hat sie gewirkt. Man kommt nicht zum Glauben an Gott durch den Verstand, sondern indem man erstaunt und ihn preist, wenn man sieht, was er in den Menschen wirkt. Das gibt den Menschen den Glauben ins Herz. Das soll man gerade an den Hausgenossen sehen. Darum wollen wir nicht aus dieser Kirche gehn, ohne uns die Frage vorzulegen: Sind wir ein Licht in unserm Hause? Führen wir sie zu Gott hin? Wird ihr Glaube an Gott durch das, was sie an uns sehen, gestärkt? Meint nicht, daß es dazu frommer Reden bedarf. Es gibt fromme Menschen, die haben in ihrem Leben keine fromme Redensart über die Lippen gebracht. Nicht von dem Reden meint es Jesus, sondern von dem Wesen, von dem Geist, ich möchte sagen, von dem Zauber, der von demTun eines

Menschen ausgeht. Darum wählt er das Bild vom Licht. Das Licht ist stumm. Kein Mensch vermag je zu erklären, wie nun die Helligkeit einer kleinen Flamme ein Haus erfüllt. So ist es auch mit dem Tun eines Menschen. Kein Mensch vermag zu erklären, warum von dem einzelnen ein Segen ausgehen kann – und doch ist es so. Die Herrschaft kann die Dienstboten, die Dienstboten die Herrschaft, der Mann die Frau, die Frau den Mann, die Eltern die Kinder, die Kinder die Eltern zu Gott führen. Ich möchte euch die Stelle vorlesen, wo der Apostel Paulus das Verhalten der Hausgenossen zueinander beschreibt: Kol. 3,18– 24.|63¡ 63 [Ihr Weiber, seid untertan euren Männern in dem Herrn, wie sich’s gebührt. Ihr Männer, liebet eure Weiber und seid nicht bitter gegen sie. Ihr Kinder, seid gehorsam den Eltern in allen Dingen; denn das ist dem Herrn gefällig. Ihr Väter, erbittert eure Kinder nicht, auf daß sie nicht scheu werden. Ihr Knechte, seid gehorsam in allen Dingen euren leiblichen Herren, nicht mit Dienst vor Augen, als den Menschen zu gefallen, sondern mit Einfalt des Herzens und mit Gottesfurcht. Alles, was ihr tut, das tut von

Tut alles ohne Murren und Zweifel

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Das gilt für jeden nach seinem Stande. Für alle zusammen gilt das eine Wort, welches das christliche Wesen und Verhalten zusammenfaßt: Liebe. Hört, was der Apostel Paulus darüber schreibt: I Kor. 13,4– 7.64 Sind wir denn so die Leuchten christlichen, göttlichen Geistes in unserm Hause? Ich wage darauf keine Antwort zu geben, weder für euch noch für mich. Wir wollen diesen Gedanken mit hinausnehmen, wir wollen dies Wort: «Ihr seid das Licht der Welt», in unserm Herzen bewegen und Gott bitten, er möge seinen Segen darauf legen.

[Nachmittagspredigt] Sonntag, 25. August 1901, [St. Nicolai]65 Phil. 2,14: [Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel] Heute vor 14 Tagen haben wir ein schönes Wort Jesu betrachtet: «Ihr seid das Licht der Welt» [Mt. 5,14– 16].66 Ich habe es euch so ausgelegt, daß Jesus es nicht etwa von berühmten Männern, sondern von jedem einzelnen sagt. Was das Licht der Welt ist, erklärt er nämlich durch das Gleichnis von dem Licht, welches man auf den Leuchter im Hause setzt, daß es den Hausgenossen leuchte. So sagte ich: Wir sind das Licht der Welt, wenn sich unser Christentum im täglichen Leben zeigt und wir den Unsrigen in einem frommen Wandel in den Dingen des täglichen Lebens voranleuchten. Der Apostel Paulus hat dieses Wort Jesu gerade so aufgefaßt. Er ermahnt seine Philipper, daß sie als die Lichter der Welt hineinscheinen in das verkehrte und sündige Geschlecht. Um ihnen das zu sagen, wählt er nicht hohe Worte. Es handelt nicht vom Glauben, von der Liebe, von der Hoffnung, sondern er faßt dieses ganze Wesen, das er seinen Philip— pern wünscht, in zwei Worte zusammen: «Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel.» Damit hat er, möchte ich sagen, den Nagel auf den Kopf getroffen. Denn der Christ soll sich dadurch von der Welt unterscheiden, daß er alles tut ohne Murren und Zweifeln, und hingegen Murren und ZweiHerzen als dem Herrn und nicht den Menschen, und wisset, daß ihr von dem Herrn empfangen werdet die Vergeltung des Erbes; denn ihr dienet dem Herrn Christus.] 64 [Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit; sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles.] 65 [Im Manuskript werden Ort und Zeit nicht genannt. Doch nach dem Kirchenboten hat Schweitzer am 25. August den Nachmittagsgottesdienst in St. Nicolai gehalten.] 66 [Siehe S. 310.11.08.]

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fein gerade die Kennzeichen der unchristlichen, weltlichen Gesinnung sind.

Ihr wißt es selbst, wie gerade Murren und Zweifeln Unglück in das Haus bringen. Da ist zuerst das Murren und Zweifeln mit Gott! Beides hängt zusammen. Warum murren denn die Menschen wider Gott? Weil sie an ihm zweifeln. Sie wollten an ihn glauben, wenn ihnen alles nach Wunsch und Willen ginge, aber sie wollen es nicht verstehen, warum ihnen im Leben dasundjenes begegnet. Dann nehmen sie eine so innere Unzufriedenheit an, diejede echte Freudigkeit in ihnen ertötet. Es sind Menschen, die sind soweit gekommen, daß ihnen sogar das Läuten der Glocken am Sonntag verhaßt ist. Und diese Unzufriedenheit im Herzen, die zeigt sich dann auch in derArt, wie man den Menschen gegenüber ist. Man zweifelt dann auch an den Menschen, man hat kein rechtes Zutrauen zu ihnen, man versieht sich auch von denen, die einem nahestehen, nichts Gutes, man ist unzufrieden mit allen und lebt keinem zu Gefallen. Was gibt es doch nicht gar manche, gar viele Familien, wo die Leute miteinander so glücklich sein könnten. Und bei uns zu Hause, wo wir uns doch Mühe geben, miteinander christlich zu leben, ist denn da das Murren und Zweifeln nicht wie ein Unkraut, das immer wieder aufgeht? Nicht wahr, wenn wir mit uns selbst ehrlich sein wollen, dann müssen wir uns vorhalten, wie oft wir an der guten Absicht der Unsrigen zweifelten, wie oft wir sie durch Mißtrauen gekränkt unddurch unzufriedenes Wesen ihnen die Sachen schwer gemacht haben! Dieses unzufriedene, mißgünstige Wesen, das ist so oft eine Scheidewand zwischen uns und den Unsrigen. Wir fühlen innerlich Anhänglichkeit und Liebe zueinander, und doch kommen wir uns nicht näher, weil keines den ersten Schritt tun will. Darum kommt auch kein warmes, christliches, gemeinschaftliches Leben unter uns auf, wo einer dem andern eine Hilfe zu einem frommen, schönen Wandel ist. Dieses Mißtrauen und Unzufriedenheit ist ein Unkraut, daswir unter uns entfernen müssen. So hat der Apostel Paulus ganz recht, wenn er, statt dasschöne Wort: «Ihr seid dasLicht derWelt», deslangen und breiten auszulegen, den Christen, ich möchte fast sagen, die trockene Lebensregel gibt: «Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel», weil das der Anfang ist. «Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel»: die kleinsten Dinge wie die größten. Ich möchte sagen: Gebt acht gerade auf die kleinen Dinge, denn es ist hier wie überall im Leben: Was man im Kleinen nicht fertig bringt, daskann man auch nicht im Großen. Wenn man so sein Herz gehen läßt im Mißmut gegen die Menschen, über das, was sie tun und reden, wie hat man denn sein Herz bereitet, wenn der Herrgott uns selbst etwas antut, wenn er uns eine Prüfung schickt oder in einem schweren Unglück zu uns redet, daß wir dann

Tut alles ohne Murren und Zweifel

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nicht murren und zweifeln. Ach wie vielen Menschen würden die schweren Schicksalsschläge und die Schickungen Gottes leichter fallen, wenn sie ihr Herz erzogen hätten zur Zufriedenheit und zum Vertrauen! Das Herz ist etwas, das man erzieht. Diesen Satz können wir uns nie genug Vorhalten. Wir haben so eine Art Angst, unserm Herzen Gewalt anzutun, es zu etwas zu zwingen. Wir meinen immer, es wäre durch andere Mittel zu erreichen, es gäbe so eine Art Rezept, wie man ein zufriedenes Herz bekommt. Da hilft nichts als der Wille, sich selbst zwingen. Der Apostel redet nicht lang darum herum, sondern er sagt einfach: «Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel», das heißt: Macht einmal einen Anfang! Man kann es nicht genug sagen, was Gutes und Schönes in der Welt unterbleibt, nur weil der Anfang dazu nicht gemacht wird – und doch, wenn einmal entschlossen der Anfang gemacht ist, dann zeigt sich, daß es viel leichter ist, als man gedacht. Wenn sich so ein schwerer Zug in der Bahnhofshalle in Bewegung setzt, da spürt man an dem Ruck der Räder der Lokomotive, was da für eine Kraft dazu gehört, und doch nachher, wenn er einmal im Gang ist, da läuft er dahin wie von selbst. So ist es auch mit allem: Wenn einmal der Anfang gemacht ist, dann geht es. Wer es einmal unternimmt, sich selbst zu zwingen zu einem freundlichen, vertrauensvollen Wesen, der darf sicher sein, es wird gehen, wenn wir nur recht wollen. Denn wir haben jemand, der uns hilft: Das ist Gott. Und dieser Hilfe dürfen wir sicher sein, wenn unser Wille durch das Gebet geheiligt und gestärkt ist. Das ist das einzige Hilfsmittel: Wer je an sich erfahren hat, was das Gebet ist, der muß es sagen, daß eine solche Stärkung darin ist, daß das Schwerste leicht wird. Bete nur: Dieses Wort allein ist schon eine Predigt. Nun möchte ich euch zum Schluß noch auf eines aufmerksam machen: Der Apostel sagt nicht: Werdet Leute, die nicht murren und zweifeln, sondern: «Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel.» Er legt also einen Wert auf das Tun und das Handeln. Darin hat er recht. Wir denken zuviel nach, wir überlegen zuviel, wir reden auch zuviel, wir setzen uns zuviel auseinander, statt daß wir die Taten reden lassen. Ich will jetzt ein Exempel nehmen. Ihr habt es schon alle erlebt, daß über einer Kleinigkeit die Leute auseinander gekommen sind gerade durch langes Disputieren, wer im Recht oder im Unrecht ist, wo man dann vom Hundertsten ins Tausendste kommt, oder indem keines dem andern das erste gute Wort geben will. Nun lasse man einmal alles dahingestellt, und tu einer dem andern, er braucht dabei kein Wort zu reden und sich nichts zu vergeben, etwas Freundliches, wo man sieht, aller Zweifel und Mißmut ist geschwunden: Wie kommt dann alles wie von selbst ins rechte Geleise, und beide fühlen, daß jeder dem andern etwas zu vergeben hat. Ein freundliches «Guten Tag», ein herbeigerückter

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Stuhl, dasbringt die Leute einander näher, daserfüllt ihre Herzen wieder mit mehr Zutrauen als die längsten Auseinandersetzungen. So soll es auch sein zwischen uns und unserem Herrgott. Wenn er uns etwas schickt, was wir nicht verstehen, dann nur nicht dem Herzen folgen und uns ins Grübeln versenken, so in den qualvollen Müßiggang verfallen, sondern laß alles dahingestellt und tu etwas: Tue deine tägliche Pflicht, tue Gutes, es ist der einzige Weg, der aus dem Gram führt. Ach, wenn man das so vielen Leuten, die sich in Gram verzehren und im Hader mit Gott unglücklich sind, ins Herz hineinreden könnte, sie fänden denWeg aus dem Dunkel. Denn wenn man durch Tun dasHerz zur Zufriedenheit gezwungen, dann versteht es gar vieles von Gott, was es sonst nicht versteht. «Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel»: Ich möchte dieses Wort Pauli den Spruch vom sehenden Herzen nennen. Ein Herz, das murrt und zweifelt, dasist ein blindes Herz, welches dieWelt und Gott nur in der Nacht sieht. Das Herz aber, welches den Menschen und Gott glaubt und vertraut, dasist das sehende Herz, für welches alles hell ist, und das deshalb den rechten Weg findet und den andern voranleuchtet.

Morgenpredigt Sonntag, 1. September 1901, St. Nicolai

Mt. 16,13–20: Offenbarung desMessiasgeheimnisses|67¡ Dieser Text enthält einen Anstoß für uns als Christen und als Protestanten. Wir wollen ihn vorher abmachen, damit er unsere Aufmerksamkeit nachher in der Betrachtung nicht ablenkt. Es handelt sich um den 19. Vers, wo Jesus zu Petrus sagt: «Ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben. Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein.» Dieses Wort gab unsern Reformatoren viel zu schaffen, denn Jesus weist darin dem Petrus eine besondere Stellung an mit dem 67 [Da kamJesus in die Gegend der Stadt Cäsarea Philippi und fragte seine Jünger und sprach: Wer sagen die Leute, daß desMenschen Sohn sei? Sie sprachen: Etliche sagen, duseist Johannes derTäufer; die andern, duseist Elia; etliche, duseist Jeremia oder der Propheten einer. Er sprach zu ihnen: Wer sagt denn ihr, daß ich sei? Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn! Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir dasnicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Und ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben alles, wasdu auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein. Da verbot er seinen Jüngern, daß sie niemand sagen sollten, daß er,Jesus, der Christ wäre.]

Offenbarung

desMessiasgeheimnisses

317

Recht, zu richten und über die Gewissen zu herrschen. Dann, so sagt die katholische Kirche, ist dieses Recht auf seine Nachfolger auf dem rö-

mischen Bischofsstuhl übergegangen. Wir wollen nicht lang an dem Wort herumdeuteln. Hat Jesus, der Herr und Vorkämpfer der Gewissensfreiheit, ein solches Wort aussprechen können? Nein. Die andern Evangelien, wo sie diesen Auftritt berichten, wissen nichts von einem derartigen Wort, und der Evangelist Matthäus selbst sagt im 18. Kapitel, im 18.Vers, daßJesus die Befugnis, welche hier ein Vorrecht des Petrus bedeuten soll, allen Jüngern zugesprochen hat (Mat. 18,18: «Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, das soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel los sein.») Es kann sich in jenem Wort an Petrus nur um ein Mißverständnis handeln, dasja in einer so persönlichen Angelegenheit begreiflich ist. Jesus hat zu ihm ein Wort der Anerkennung gesprochen dafür, daß er ihn zuerst als den Messias begrüßt hat. Dieser Petrus nahm aber in der alten Kirche eine ganz hervorragende Stellung ein, und so kam man auf den Gedanken, daßJesus ihm damals so eine Autorität über die andern zugesprochen habe. Wie dem auch sei: Es handelt sich hier um eine ganz nebensächliche Frage. Ich wollte euch nur darauf aufmerksam machen, weil sie in der Reformation eine so große Rolle gespielt hat. Für uns ist sie bedeutungslos. Und nun betrachten wir unsern Text! Man meint gewöhnlich, Jesus habe gleich von Anfang an merken lassen, wer er sei. Nun sehen wir, daß dies nicht der Fall war, denn die hier erzählte Geschichte fällt in die letzten Wochen seines Lebens. Er ist im Begriff, von Cäsarea Philippi mit ihnen nach Jerusalem zu ziehen. 14 Tage vor seinem Tode – und noch niemand weiß, wer er ist. Die Leute halten ihn für den auferstandenen Täufer, für den Elias, der vor dem Gericht kommen sollte, für einen Propheten – aber keiner weiß, daß er der Heiland ist, auch seine Jünger nicht. Er hat gelebt und gelehrt, ohne daß er sich gedrungen fühlte, [zu erklären], wer er denn ist. Das hat er bis zu seinem Ende festgehalten. Nach der Tempelreinigung in Jerusalem möchten die Pharisäer und Schriftgelehrten gerne wissen, in welcher Vollmacht er dies getan, er aber antwortet ihnen ausweichend. Erst in der Nacht vor dem Tode bekennt er sich mit jenem «Du sagst es» [Mt. 26,64] als der Messias. Es liegt also auch für die, welche ihn kannten, welche ihn täglich sahen, wie ein Geheimnis über seiner Persönlichkeit – undJesus hat dasgewollt. Warum hat sich Jesus nicht früher, gleich von Anfang als Heiland offenbart? Hatte er vielleicht Angst, dasTodesschicksal würde ihn darauf gleich ereilen und aus dem Wirken herausreißen? Das war kaum der Grund, denn Angst hat Jesus kaum gekannt. Oder, meint man, er hat

318 Predigten desJahres 1901

mit der Eröffnung zurückgehalten, um die Jünger langsam durch sein Reden und Wirken zu dem Glauben zu erziehen, er sei der Heiland, auch wenn er so ganz anders war, als man ihn erwartete. Eine Ahnung sollte langsam in ihren Herzen aufdämmern, immer festere Formen annehmen, bis ihnen zuletzt die Gewißheit zum Durchbruch kam: Er ist der Heiland! Gewiß, Jesus war ein Erzieher, wenn es je einen gab. Aber man kann sich doch fragen, ob er in erzieherischer Absicht denJüngern und dem Volk seine Heilandswürde nicht kundgegeben hat. Der Grund ist wohl ein anderer, tieferer. Wir wollen einmal die Frage aufwerfen, was geschehen wäre, wenn Jesus vor die Leute getreten wäre und gesagt hätte: Ich bin der Heiland. Hätten sie ihm darum geglaubt? Nein. Das können wir aus unserer Zeit ersehen. Wir wissen alle, Jesus hat sich als der Heiland erklärt. Aber wenn man nun Umfrage hielte: Wer war Jesus? da würde man nicht die Antwort bekommen: der Heiland. Wie auf die Umfrage Jesu dieJünger antworteten, daß die Leute gar verschiedenes von ihm sagen, indem die einen ihn für den auferstandenen Bußprediger, die andern für den Elias, die andern für einen Propheten halten, so würde man auch heutzutage gerade so viel verschiedene Antworten hören. Wir wollen nicht einmal reden von denen, die sagen würden: Jesus war ein überspannter Schwärmer. Auch die andern, die ihm wollten Ehre antun, würden nicht sagen: Er war der Heiland, sondern dawürde man hören: Er war der edelste Mensch, er war dashöchste sittliche Vorbild, er war der tiefste Verkünder der Sittlichkeit, der Vorkämpfer der Wahrheit, der vollkommene Mensch! Gewiß, das war er alles – aber er war noch mehr: der Heiland. Was heißt denn das:Jesus, der Heiland? Man darf da nicht stehen bleiben bei dem oft gedankenlos mißverstandenen Satz: Weil er für die Sünden der Menschen gestorben ist. Gewiß, im Tode zeigt sich seine Heilandsliebe am tiefsten. Aber er ist nicht bloß Heiland in seinem Tod! Petrus, der ihn hier als Heiland begrüßt, der denkt gar nicht daran, daßJesus ihnen durch denTod entrissen werden kann; und alsJesus ihm von diesem Tod redet, da hält es für ihn schwer, sich mit diesem Gedanken vertraut zu machen. Jesus ist der Heiland in seinem Leben, durch sein Sterben und kraft des unvergänglichen Daseins, welches er in derVollendung führt. Er ist der Heiland als der himmlische Mensch, welcher, auf Erden zur Vollendung geläutert und durchgedrungen, unsjetzt ausdem Reiche des Geistes stärkt mit der Kraft seines Sieges. Es ist etwas, was man nicht in Worte fassen kann, noch mit dem Verstande zu begreifen vermag. Es gibt in der göttlichen Sphäre ein menschliches Wesen, das gestrebt, gekämpft und gelitten hat wie wir – und dieses Wesen nimmt sich eines jeglichen unter uns an, es umschlingt uns, es stärkt uns, es tröstet uns, es

Offenbarung

desMessiasgeheimnisses 319

richtet uns auf, daß auch wir uns in diesem Leben bewähren zur Vollendung. Es wird in uns eine Macht. Zwischen ihm und uns besteht eine geheimnisvolle Vereinigung. Und wer diese geheimnisvolle Vereinigung einmal im Herzen erfahren und erlebt hat, für den ist das Leben etwas anderes geworden. Man kann lange wissen: Jesus ist der Heiland, aber erst durch die Fügungen Gottes in unserm Leben, nicht durchs Nachdenken oder Studieren, steht es plötzlich lebendig vor unserm Herzen: Jesus ist unser Heiland, als etwas ganz Neues, von dem wir bisher nur dieWorte vernommen, aber nicht den Sinn verstanden. Das ist die Neugeburt unseres inwendigen Menschen, die Geburt von oben, wie der Evangelist Johannes den Herrn sagen läßt [Joh. 3,1–8], die Geburt von Gott – ein wunderbarer, unbegreiflicher Vorgang. So fragt Jesus den Petrus nicht weiter: Wie bist du zu dieser Erkenntnis, daß ich der Heiland sei, gekommen?, sondern er sagt ihm: «Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.» Wodurch und wie Gott ihm es offenbart, sagt er nicht. Und wenn wir das Ereignis auch wüßten – wir begriffen es doch nicht. Denn Gottes Wege sind hier wunderbar und unerforschlich. Auf der Straße nach Damaskus zieht der Pharisäer Saulus. Er weiß, Jesus von Nazareth beansprucht, der Heiland zu sein. Aber daserscheint ihm Gotteslästerung und erfüllt ihn mit Verfolgungswut. Und bei der Stadt bricht er plötzlich zusammen und fällt nieder; und als er wieder aufsteht, weiß er, Christus ist mein Heiland, denn während so seine menschliche Natur und damit sein Stolz zusammengebrochen war, da redete Christus mit seinem Herzen. Wer möchte daserklären? Wie er, so haben seither viele den Heiland gefunden. Sie lebten glücklich – und dann brach dieses Glück zusammen. Sie lebten gesund – und dann kam die Krankheit, das lange Siechtum. Sie lebten geehrt und geachtet – und dann wandten sich die Leute von ihnen. Nun, sollte man meinen, sie hätten sich aufgebäumt, sich verbittert – und siehe, sie fanden ihren Heiland. Und wenn man sie fragte, wie es ging, sie könnten’s einem nicht erklären. Die Romanschreiber, die sich heutzutage anmaßen, den Seelenzustand eines Menschen zu beschreiben und alles, wasdarin vorgeht, zu schildern und zu erklären – undwenn sie es wirklich vermöchten, so könnten sie doch nicht schildern und begreiflich machen, wie ein Mensch zu seinem Heiland kommt, denn das liegt über unserm Begreifen. Justin war ein gelehrter Philosoph. Trotz seines Wissens trug er in seinem Herzen eine unnennbare Sehnsucht nach einem Wissen, welches das Herz befriedigte und beseligte. Nun ging er einst an den Meeresstrand hinaus und traf dort einen Greis, und dieser fing mit ihm, dem Gelehrten, an, von dem Christentum zu reden – und zur selben Stunde wußte Justin, wasihm fehlte. Er hatte den Heiland gefunden. Waser er-

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Predigten

desJahres 1901

lebt, das hat dann mancher Weise und Denker nach ihm erlebt. Er suchte und forschte und grübelte und dachte, und die Probleme schienen ihm so schwer und die befriedigende Wahrheit so weit – und dann kamen sie mit einem schlichten gläubigen Mann zusammen, und die tiefste und letzte Wahrheit ging ihnen auf: Jesus ist der Heiland. Und dann können sie für diese Wahrheit leben und sterben wie der Justin, der Märtyrer. Denn beides ist voneinander unabhängig. Nun müssen wir an uns eine Frage richten: Ist Christus denn unser Heiland? Ich meine damit nicht, ob wir nun dem Satz zustimmen, daß er es ist, wie man es sagt, sondern ob wir in unserm Herzen in einem Augenblicke unseres Daseins schon erlebt haben, ob dieses geheimnisvolle Band zwischen Christus, dem Unsichtbaren, und uns – ich kann mich nicht besser ausdrücken – schon geschlungen ist. Ich kann mir denken, daß es uns hier erginge wie zu Caesarea Philippi: Manche unter uns, die möchten im Rückblick auf etwas, was in ihrem Leben vorgegangen, was ein Geheimnis ist zwischen ihnen und ihrem Gott, wie Petrus ausrufen: Ich habe es erfahren, ich weiß, daßJesus der Heiland ist. Andere, die möchten schweigen wie die übrigen Jünger, denn sie müssen sich fragen: Glaub ich denn nicht, daßJesus der Heiland ist, weil ich es vonJugend auf gehört habe, weil es in der Bibel steht und also gelehrt wird – oder hab ich es schon wirklich in meinem tiefsten Herzen erlebt, daß ich sagen kann: Darauf leb ich und darauf sterb ich? Es sind keine schlechten Christen, sondern es sind ernste Leute und Christen, Leute, die anJesus hängen, die hier keine Antwort zu geben wagen, ebenso wie die andern Jünger ernste Leute waren und anJesus hingen, wie man nur an jemand hängen kann, und doch schwiegen und nicht in das Wort des Petrus, du bist der Heiland, einstimmen, denn sie fühlen, der richtige Akkord ist in ihrem Herzen noch nicht erklungen. Und was würde Jesus tun und sagen? Was zu Cäsarea Philippi. Denen, die aus vollem Herzen, aus innerstem Erleben ihn als Heiland begrüßen, würde er sagen: Das hat Gott in euch gewirkt. Selig seid ihr darum. Aber er würde noch eines hinzufügen. Er würde sagen: Lernt von Petrus. Was hat er nicht noch alles durchmachen müssen vonjenem Augenblicke an, wo er dieses Wort «Du bist der Heiland» aussprach! Er vermaß sich, dem Herrn in den Tod zu folgen – und in menschlicher Schwachheit verließ er ihn wie die andern und verleugnete ihn, ihn, seinen Heiland. Und als er dann tief gebeugt in Schuld sein Haupt nicht mehr zu erheben wagte, da offenbarte ihm der zum Leben Erstandene, daß er ihm vergeben habe – und wurde so zum zweiten Mal sein Heiland. Dann erst war er tapfer und kräftig, mutig, da fing er an zu wirken für seinen Heiland – und als die Stunde kam, wo man sein Leben von

Offenbarung

des Messiasgeheimnisses

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ihm forderte, gab er willig seine Hände hin und ging in denTod für seinen Heiland. Daraus sollen die, welche Jesus von Herzen als ihren Heiland erkannt haben, lernen. Sie sollen sich darauf gefaßt machen, durch Schwachheit, durch Sünde hindurch, in derVergebung, in der Demütigung, im Wirken und im Erdulden, im Leiden und Sterben immer wieder sich zu ihrem Heiland aufs neue hindurchringen zu müssen. «Der Heiland ist in den Schwachen mächtig», hat Paulus gesagt [II Kor. 12,9]. Und die, die noch nicht im innersten Herzen dieses erlebt haben, welche wie die andern Jünger schweigen möchten – sie sollen getrost sein. Jesus sagte kein Wort zu denJüngern, er verlangte nicht, sie sollten jetzt, im Augenblick, ihn als Heiland von Herzen erkennen, sondern er schwieg und ließ sie schweigen, und es genügte ihm, daß sie ihn liebten und ihm folgten, denn er wußte, daß der himmlische Vater ihnen, wenn er es an der Zeit hielte, es jedem im Herzen offenbaren würde, wie er es dem Petrus offenbart. Und so sind sie ihm nachgefolgt – und wir wissen nicht, wann dasWort, du bist unser Heiland, über ihre Lippen gekommen, vielleicht erst nach demTodeJesu oder am Pfingsttag. So gehen auch viele Christen durch das Leben. Sie halten an Jesus, sie lieben ihn – aber die Stunde, wo sie von Herzen sprechen können: Er ist unser Heiland, ist für sie noch nicht gekommen. Sie wird kommen, wann Gott es will. Vielleicht in einem Ereignis, das er ihnen noch vorbehält, in einem tiefen Fall, in einem tiefen Schmerz, in einer Krankheit, in einem schweren Unglück, vielleicht erst im Augenblick des Sterbens, wo die menschliche Natur in ihrer Schwäche verzweifelnd zusammenbricht und sich fragt: Wasbleibt bestehen in demVergehen, wo ist der Halt in dem Abgrund der Ewigkeit, wo ist Erlösung von der

Schuld? Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit. Wenn seine Stunde gekommen, dann offenbart er in den Menschenherzen den Erlöser. Es mag uns das befremdlich und unbegreiflich scheinen, aber es ist so. Der Heiland selbst hat das Geheimnis von der Gottesstunde in ein Gleichnis gefaßt. Das Himmelreich, sagt er, ist gleich einem Herrn, der am Morgen ausging, Arbeiter zu dingen in seinen Weinberg. Und er fand welche und sandte sie hin. Und um die dritte Stunde sah er andere und dingte sie desgleichen. Und so tat er um die sechste Stunde und um die neunte Stunde. Und um die elfte Stunde, als schon der Tag sich neigte, sandte er die, welche noch nicht gedungen waren, in denWeinberg. Und als es Feierabend war, gab er ihnen allen den gleichen Lohn und sprach: «Die Letzten werden die Ersten sein» [Mt. 20,1– 16]. Gottes Geheimnisse sind groß, und kein Mensch vermag sie zu begreifen.

322 Predigten desJahres 1901

Morgenpredigt Sonntag, 15. September 1901, St. Nicolai

Mt. 12,38–

41|68¡

undJoh. 14,11 f.|69¡: DieWunder Jesu

Heute vor vierzehn Tagen sprachen wir von dem Glauben an Jesus.|70¡ Ist es zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß gerade der Glaube an die Wunder so vielen in unserer Zeit ein Hindernis ist, anJesus zu glauben? Der Dichter Björnson hat im vergangenen Jahr ein Stück verfaßt, das gerade den Glauben an die Wunder zum Gegenstand hat. Das hat den Leuten viel zu denken gegeben, und man hörte von solchen, bei denen man es gar nicht gesucht hätte, über die Frage diskutieren: Kann man ein Christ sein, ohne an dieWunder Jesu zu glauben? Diese Frage ist eigentlich so alt als das Christentum selbst. Die Leute zu Nazareth wollten es nicht glauben, daßJesus, den sie als Kind hatten in seiner Familie aufwachsen sehn, Wunder tue. Die Pharisäer verlangen ein Zeichen von ihm, und als er am Kreuze hing, da rief man ihm höhnend zu, er solle doch jetzt ein Wunder tun und vom Kreuz herabsteigen. Für uns als Menschen unserer Zeit ist die Frage noch schwieriger geworden. Wir kennen die Natur besser als die Zeitgenossen Jesu und sind durch die Wissenschaft zur Überzeugung gelangt, daß hier alles nach ewigen, unverletzlichen Gesetzen geht. Diese Gesetze haben gegolten zur Zeit Jesu gerade so wie zu der unsrigen. Washeute nicht möglich ist, war damals auch nicht möglich. Man darf hier die Wissenschaft nicht schelten, als blähe sie sich auf. Denn wer hat den Menschen den Verstand gegeben und erleuchtet, daß sie in die geheimnisvollen Gesetze der Natur eindrangen? Gott selbst. Und Gott will nicht, daß die Menschen, was sie auf der einen Seite als wahr erkannt nun auf der andern Seite wieder ableugnen. Soll das nun heißen, daß wir alles, was sich Wunderbares im Leben Jesu zutrug, einfach abtun und sagen: Es war nicht also? Wir wollen 68 [Da antworteten etliche unter den Schriftgelehrten und Pharisäern und sprachen: Meister, wir wollten gern ein Zeichen von dir sehen. Und er antwortete und sprach zu ihnen: Die böse und ehebrecherische Art sucht ein Zeichen; und es wird ihr kein Zeichen gegeben werden denn dasZeichen des Propheten Jona. Denn gleichwie Jona war drei Tage und drei Nächte in desWalfisches Bauch, also wird des Menschen Sohn drei Tage und drei Nächte mitten in der Erde sein. Die Leute von Ninive werden auftreten amJüngsten Gericht mit diesem Geschlecht undwerden esverdammen; denn sie taten Buße nach der Predigt desJona. Und siehe, hie ist mehr dennJona.] 69 [Glaubet mir, daß ich imVater und derVater in mir ist; wo nicht, so glaubet mir doch um derWerke willen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird dieWerke auch tun, die ich tue, und wird größere denn diese tun; denn ich gehe zum Vater.]

70 [Siehe S. 316]

Die Wunder Jesu

323

einmal hier einen Augenblick innehalten. Unter dem Namen «Wunder Jesu» faßt man gar verschiedenartige Dinge zusammen. Wenn uns berichtet wird, Jesus habe mit einigen Broten eine nach Tausenden zählende Menge gesättigt, oder er habe das Wasser bei einer Hochzeit in Wein verwandelt, oder er habe dem Sturm geboten, innezuhalten, und sei auf den Fluten des Meeres wie auf dem festen Land gewandelt, und wenn wir nun andererseits wieder erfahren, daß er Kranke, Lahme und Krüppel geheilt und den Geist des Irrsinns gebannt habe – ist denn da kein Unterschied zwischen beiden Arten vonWundern? Doch, das sieht ein jeder ein. Im ersten Falle handelt es sich um Naturwunder, im zweiten Fall umWunder an den Menschen, um Heilungen. Da ist ein großer Unterschied. Um diesen Unterschied dreht sich die Anfrage desPharisäers. Die Pharisäer hatten von Heilungen Jesu gehört – solche wohl gesehen, aber das genügt ihnen nicht. Ein Naturwunder mit Händen zu greifen, ein «Zeichen vom Himmel», wie sie sagten, wollten sie von ihm sehen, und er wies sie ab. Dafür ist er nicht zu haben. Er kann nicht darauf eingehen, daß sie ihren Glauben davon abhängen lassen wollen, ob er solche Wunder tun kann oder nicht. Was für damals galt, gilt auch für jetzt. Diese Abweisung Jesu, die gibt uns Mut, auch in unserer Zeit zu sagen, was gesagt werden muß. Der Christenglaube hängt nicht davon ab, daß man sich und die andern zwingt, für wahr zu halten, daßJesus mit wenig Brot so viele gesättigt [Mt. 14,13–21], daß er Wasser in Wein verwandelt habe [Joh. 2,1– 12], auf dem Meer gewandelt sei und dem Sturm Ruhe geboten habe [Mt. 14,22– 33]. Es gibt viele überzeugte Christen, die solches für unmöglich halten, und ihr Glaube anJesus ist deswegen doch der richtige. Die Christen der ersten Zeit haben unshier eine schwere Aufgabe geschaffen. Sie konnten der Wunder in dem Leben Jesu nicht genug tun. Wie das so geschieht, wenn eine Erzählung sich mündlich fortpflanzt: Jeder machte mehr daraus, und meinte, das der Ehre Jesu schuldig zu sein. Man übertrieb; wo man etwas nicht verstand, war man gleich bei der Hand, zu sagen, es sei ein Wunder geschehen – und so ist uns eine ganze Reihe Erlebnisse und Handlungen Jesu alsWunder berichtet, wo, wie wir mit dem besten Gewissen sagen können, ursprünglich gar keins war, und wo der Vorgang, wenn wir ihn kennten, nichts Übernatürliches hätte. Darum darf man von solchen Naturwundern nicht sagen: Es steht im Testament, also muß man’s glauben, denn in demselben Neuen Testament steht auch, daß der Herr selbst auf die Naturwunder, auf die Zeichen vom Himmel, nichts gegeben hat. Wir sprachen eben von derWundersucht der ältesten Christen, durch welche uns manches im Leben Jesu so schwer verständlich gemacht worden ist. Daß wir damit nicht zu viel gesagt haben, ersieht man aus dem Worte selbst, in welchem Jesus sich gegen die Wunder erklärt, in dem die alten Christen gerade etwas von dem Ihrigen hineinlegten, was

324 Predigten desJahres 1901

Jesus nicht gemeint hatte. Jesus sagt: «Diesem Geschlecht soll kein Zeichen gegeben werden, denn das Zeichen des Propheten Jona.» Was meint er damit? Wenn wir nun gleich lesen, daß es bedeuten soll: «Wie Jona drei Tage im Bauch des Walfisches war, so wird auch Jesus selbst drei Tage und drei Nächte mitten in der Erde sein», so merkt man gleich, daßJesus dies nicht gemeint haben kann, sondern daß die Christen erst nach seiner Auferstehung dieses Wort daraufhin gedeutet haben. Wir wissen ja, daßJesus nur seinen Jüngern gegenüber, im allertiefsten Geheimnis Andeutungen über seinen Tod und seine Auferstehung machte. Das ist also eine spätere Deutung desWorts. Der Evangelist Matthäus berichtet dasselbe über dasWunder desJona noch einmal im sechzehnten Kapitel und sagt nichts von der Deutung auf denTod und die Auferstehung. Jesus sagt einfach: «Es soll diesem Geschlecht kein anderes Zeichen gegeben werden, als das Zeichen des Propheten Jona – und er ließ sie und ging davon.» Was ist nun dasZeichen des Propheten Jona? AlsJona in der üppigen Heidenstadt auftrat und Buße predigte, da gingen die Leute, die Ungläubigen, die Sünder, in sich und taten Buße! Das ist das Zeichen des Propheten Jona! Jesus will damit den Pharisäern sagen: Ihr verlangt ein Zeichen von mir, ihr wollt, daß ich vor euch meine Macht erweise. Habt ihr denn keine Augen? Merkt ihr denn nicht das wahrhaftige Wunder, das um euch vorgeht? Daß die Zöllner, die Sünder und die Verworfenen, die Leute, die ihr von euch fern hieltet und die ihr verdammtet, daß diese Buße tun, daß diese nun Friede undVergebung gefunden und nun einen neuen, heiligen Wandel beginnen auf mein Wort hin – ist denn das kein Wunder, das größte, das man sich denken kann? Das größte Wunder, das einzige Wunder, das ich tue, will er hiermit sagen, ist, daß ich die zerschlagenen Herzen heile und die von der Sünde beladenen Gemüter aufrichte. So weist er uns selbst hin, seine Wunder zu verstehen. Nicht mit der Natur und mit ihren Gewalten wollte er es zu tun haben, sondern mit Menschen. Seine Wunder waren Heilungen! Er heilte nicht durch irdische, oder durch irgendeine Zauberkraft – sondern er heilte zuerst das Herz, und indem er das Herz heilte, kam es vor, daß er auch den Körper heilte. So sind seine Heilungen zu erklären. Wer sich mit den Krankheiten der Menschen beschäftigt hat, der weiß, welch ein geheimnisvolles Band zwischen dem Gemüt und dem Körper der Menschen geschlungen ist, gerade bei den Kranken, von denen uns die Evangelien berichten, Gelähmte, Fallsüchtige, Blinde, Irrsinnige, die man damals vom Teufel besessen glaubte. Da ist der Körper in Schwachheit geschlagen, nur weil der Geist geknechtet und umnachtet ist. Und wenn nun jemand den Geist befreit und aufrichtet, wenn eine machtvolle Persönlichkeit diese Gemüter erleuchtet und belebt,

Die Wunder Jesu

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ihnen einen neuen Willen einhaucht, dann fallen auch die Bande des Körpers. So müssen wir die Heilungen Jesu verstehen. Er kam, ein Befreier der Gemüter, und als solcher hat er auch eine Reihe von bestimmten Krankheiten behoben. Und wenn ihm derWeg zum Gemüte verschlossen war, wenn die Leute nicht an ihn glaubten, dann konnte er auch nicht helfen, so gern er gemocht hätte. So wird erzählt, daß er in Nazareth keine Heilung vollbringen konnte, weil die Leute nicht an ihn glaubten [Mt. 13,54– 58]. Nun wird man sagen: Jesus hatja gar nichts Einzigartiges getan. Diese Einwirkung auf bestimmte Krankheiten durch dasGemüt und den Willen, das kommt auch heute noch vor. Gewiß, man geht da immer falsch und meint, Jesus besondere Ehre anzutun, wenn man seine Heilungen als etwas ganz Einzigartiges hinstellt, das sich seither niemals mehr ereignen könne. Jesus selbst denkt darüber ganz anders. Er hat kein Monopol auf seine Heilungen genommen, sondern es anerkannt, daß auch andere solches tun. Als die Pharisäer zu ihm kamen und ihm vorwarfen, daß er seine Heilungen mit der Hilfe desTeufels vollbringe, da stellt er ihnen einfach die Frage: Mit wessen Hilfe heilen denn eure Schüler die Irrsinnigen, wenn ihr sagt, ich treibe denTeufel mit demTeufel aus? Er erkennt also an, daß auch fromme Pharisäer heilen können [Mt. 12,27]. Auch seine Jünger haben geheilt. Als er sie aussandte zur Predigt in den Städten Israels, da trug er ihnen besonders auf zu heilen und gerade durch ihre Predigt den Geist des Irrsinns zu bannen. Er gab ihnen Macht über die unreinen Geister, schreibt der Evangelist. Und die Jünger haben danach getan [Mt. 10,1]. Wie er aber über seine Heilungstätigkeit denkt, das zeigt am besten einWort aus den Abschiedsreden beim Evangelisten Johannes: «Wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue und wird größere denn diese tun, denn ich gehe zumVater.» Jesus sagt ihnen in diesem geheimnisvollen Wort: Meint nicht, daß, wenn ich von der Erde genommen, damit auch die Werke und die Heilungen aufhören werden, die ich als Heiland verrichtet habe, daß die Meinen nun wieder wehrlos den irdischen Mächten und Drangsalen ausgeliefert sind! Nein, solange der Glaube an mich lebendig fortlebt, wird auch meine Kraft in derWelt fortwirken, als wäre ich noch gegenwärtig! Wir sind nicht in der Lage, dieses Wort zu verstehen, weil wir nur an die äußerlichen Heilungen denken. Wie sollen wir dieses Wort verstehen, wir Menschen, die uns einbilden, daß wir in einer Zeit leben, wo keine wunderbaren Heilungen mehr geschehen? UmJesu Wort zu verstehen, muß man sich ihn einmal von der Menge der Heilungsbedürftigen umgeben denken. Zu Hunderten umlagerten sie ihn tagelang – und von diesen Hunderten hat er, wenn wir die Fälle in den Evangelien zusammenzählen, während seiner ganzen Wirksam-

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Predigten

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keit nur fünfzehn – zwanzig geheilt! Nur diese wenigen äußerlich in die Augen fallenden Fälle haben uns die Evangelisten berichtet. Aber die Heilungen, die sie nicht gesehen und nicht berichtet, weil sie nichts in die Augen Fallendes hatten, deren sind mehr, und sie sind größer. Ich meine zuerst die Kranken, die er geheilt hat, die weder Krüppel, noch lahm, noch blind, noch irrsinnig waren – und die er allein geheilt hat! Die Leute, die zu ihm kamen mit einer schweren Schuld auf dem Herzen, mit einem nagenden Wurm am Gewissen, mit einem schweren inneren Siechtum, die dahinwelkten, keine Freudigkeit und keine Hoffnung mehr am Leben hatten, die Leute, die krank sind, und denen doch keine Medizin und kein Arzt helfen kann: Diese hat er geheilt! Er sprach sie nicht einmal an, sie wechselten kein Wort mit ihm – und doch, als sie von ihm schieden, waren sie geheilt, denn sie hatten es vernommen: Es gibt eine Sündenvergebung! Krank an Seele und Leib waren sie gekommen, gesund und froh, als wären sie neu geboren, gingen sie von dannen. Sind dasnicht auch Heilungen? Von den Hunderten, die lahm, Krüppel und siech zu ihm gebracht wurden, hatJesus nur wenige geheilt. Und die andern, nachdem sie gehofft und geharrt, krank und schwach, wie man sie gebracht hatte? Man sollte meinen, die Verwünschungen, von denen, die er nicht geheilt, seien ihm nachgefolgt – dem war aber nicht so: Auch wo Jesus nicht heilte, heilte er doch. Keiner, der krank zu ihm kommt, geht fort, ohne daß er gesundet. Das Leiden des Körpers blieb dasselbe – und doch nicht dasselbe. Als sie kamen, da bäumten sie sich dagegen auf, da hielten sie sich für verdammt und unglücklich – und als man sie forttrug, dawar es still in ihnen, und Frieden lag auf ihrem Antlitz, denn vonJesuswar es ihnen gekommen, sich in denWillen Gottes zu fügen und an seine Güte und Barmherzigkeit zu glauben, auch unter körperlichen Leiden. «Dein Wille geschehe wie im Himmel» [Mt. 6,10]. Diese dreifache Art von Heilungen muß man sich vorhalten, um Jesu Wort zu verstehen, daß mit seinem Hingang von der Erde die Heilungen nicht aufhören werden, sondern durch den Glauben an ihn sich fortsetzen werden in allen Zeiten. Dann sieht man, daß die paar äußerlichen Heilungen, die uns berichtet sind, das Geringste, ich möchte fast sagen, nur etwas Zufälliges gewesen sind in seiner heilenden Tätigkeit, und daß er sich als Heiland inWahrheit gerade an denen erwies, von deren Heilung uns die Evangelisten nicht erzählen, oder an denen, die am Körper ungeheilt von ihm schieden. Diese Zeichen, die wahren Zeichen, die haben mit seinem Tode nicht aufgehört, sondern sie sind nur größer geworden. Jesus, obwohl nicht mehr auf Erden, ist dennoch der Helfer geblieben. Als er hienieden wandelte, war er Helfer nur für die Hunderte, die in Galiläa zu ihm kamen. In der Folge, als er von der Erde geschieden war, wurde er der Helfer von Millionen und Millionen und wird es bleiben und immer

Denen, die Gott lieben 327

mehr werden für die unzähligen Geschlechter, die sich noch auf der Erde folgen werden. Die Menschen, die unter der Sündenlast zusammenbrechen, die an Leib und Seele dahinsiechen, weil der Wurm an ihrem Gewissen nagt, sie werden gesund, wenn sie in dem Glauben an den Heiland derVergebung undder Gnade Gottes gewiß werden. Kein Mensch zeichnet diese Heilungen auf, sie haben nichts in die Augen Fallendes – und doch geschehen sie täglich um uns. Auch wir dürfen nicht fragen: Wo sind die Zeichen undWunder, Herr, sonst heißt es auch an uns: Öffnet die Augen und blickt um euch. Seht ihr nicht, was um euch vorgeht durch den Herrn? Und wenn ich sollte das größte Wunder nennen, das Jesus getan, dann würde ich euch vor dasBett eines Kranken führen, der weiß, daß er unheilbar dahinsiecht, und doch in stiller freudiger Gelassenheit, im Gebet zu Gott sein Los trägt. Wer hat dieses Wunder bewirkt, daß dieser Mann nicht Gott und dieWelt und sein Leiden verwünscht, sondern, obwohl geknechtet unter dem Leiden, doch größer ist, ein Sieger über das, wasihm widerfährt, in derWelt gequält, doch über derWelt steht? Jesus von Nazareth, der vor zweitausend Jahren über dieErde gewandelt! Und wer so alsJesu Jünger seine wahren Wunder versteht, der wird von dem Herrn kein «Zeichen vom Himmel» mehr verlangen, um zu glauben, der wird vom Herrn nicht mehr abgewiesen zu werden brauchen als ein Tor wie die Pharisäer, sondern er wird wie dieJünger in den Abschiedsreden dasWort Jesu verstehen: «Glaubet mir, daß ich im Vater und der Vater in mir ist; wo nicht, so glaubet mir doch um der Werke willen.» Ja, wir glauben Jesus um der Werke willen, nicht um der Zeichen undWunder willen, die uns von ihm in Galiläa berichtet werden; diese sind, man darf es ruhig sagen, für uns bedeutungslos, sondern wir glauben den Zeichen, die wir sehen, die wir um uns sehen. Wir glauben denen, die wir [an] uns erleben. Weil wir es an uns erfahren, daß er, er allein, uns in aller irdischen Not und Elend, über dieWelt und dasIrdische erhebt, uns davon frei macht, darum glauben wir, daß er in Wahrheit der Heiland, der Herr über dieWelt ist.

Nachmittagspredigt Sonntag, 15. September 1901, St. Nicolai

Röm. 8,28: Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen

Ein gar herrliches Wort, das wir soeben vernommen. Man kommt sich dabei vor wie einer, der bei den herannahenden Herbststürmen seine Fenster schließt, ein warmes Feuer im Ofen anzündet und nun ruhig

328 Predigten desJahres 1901

zusieht, wie derWind die Bäume entlaubt, der ruhig den ersten Schnee und die Kälte erwartet und sich nun sagt: Ich bin geborgen. Ich bin geborgen! Wer das auch sagen könnte vor des Lebens Stürmen, vor allem was es bringt! Das will dasWort heißen: «Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.» So sagt man nicht im gewöhnlichen Leben, sondern da heißt es: Der Mensch wird eben das, was die Umstände aus ihm machen. Hat einer Glück, so wird er eben glücklich, hat einer Unglück, so wird er eben unglücklich. Ist einer von ehrlichen, braven Eltern geboren, so wird er ein braver Mensch. Ist er in einer Familie aufgewachsen, wo er das Böse sieht, treibt ihn die Not zur Unehrlichkeit, so wird er ein Verbrecher. So will man bei jedem Menschen sagen, er ist das und das geworden, weil das, was ihm im Leben begegnet ist, ihn dazu gemacht hat. Man muß das Leben hinnehmen, wie es ist! So reden die Menschen. Wie weit sind sie von demWort des Apostels entfernt! Ja, sie widersprechen ihm gerade, sie sagen eigentlich: Alle Dinge dienen zum Schlechten. Die Not führt zumVerbrechen und zur Unzufriedenheit, und wer Glück hat, der wird lieblos und hartherzig und noch dazu verwöhnt, so daß, wenn ein Unglück über ihn kommt, es ihn nur desto [härter] trifft. Wer hat nun recht, der Apostel oder die Menschen? Ich möchte es nicht unternehmen, den Menschen nachzuweisen, daß sie im Unrecht sind. Sie haben ganz recht – für den gewöhnlichen Menschen! Der Mensch, wie er von sich ausist, der ist eben ein Spielball des Geschicks, er unterliegt dem, was ihm eben im Leben begegnet. Aber von dem gewöhnlichen Menschen redet der Apostel gar nicht, sondern von denen, die Gott lieben. Gott zu lieben, das ist das große Geheimnis, das den Menschen so umgibt, daß alles, was ihm das Leben bringt, nicht nur ihm keinen Schaden zufügt, sondern ihm zum Besten dient. Was heißt nun das: Gott lieben? Wie kommt man dazu, Gott zu lieben? Man meint, durch das, was er uns zufügt, daß wir durch das, was er uns im Leben zufügt und sendet, zur Erkenntnis kommen, Gott meint es gut mit uns, also wollen und müssen wir ihn lieben? Wenn die Menschen aus dem, was ihnen im Leben begegnet, schließen wollten, daß Gott sie liebt – kein Mensch auf der Erde würde an die Liebe Gottes glauben. Nehmt jeder euer Leben, betrachtet es und sagt euch nun, würdet ihr von hier aus zur Erkenntnis kommen, Gott liebt uns, er meint es gut mit uns? Nein. Nicht wahr, da ist so viel Trauriges, so viel Unglück, das wir nicht verstehen, da ist uns so vieles dunkel, daß wir von hier aus niemals dazu kämen, an die Güte Gottes zu glauben und ihn zu lieben. Die Liebe zu Gott, das ist etwas, das wir nicht von der Betrachtung unseres Lebens abhängen lassen dürfen, sonst kommen wir nie dazu,

Denen, die Gott lieben

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sondern es muß etwas sein, das uns unabhängig von vornherein feststeht. Versteht mich recht. Ich meine, man muß sich zwingen, Gott zu lieben! Man muß sich sagen, ich will Gott lieben, ohne auf meinen Verstand zu hören, und ob ich auch hundertmal daran irre werde und es mir überall entgegenschallt: Was bekümmert sich Gott um die Menschen – ich will ihn doch lieben; das kann man nicht besser erklären. Wir müssen Gott lieben mit dem Willen, gegen alles, was uns scheint. In der Liebe Gottes allein liegt dieWahrheit. Beispiel vom Sternenhimmel: Wenn wir den Himmel betrachten, da drehen sich die Sonne und die Sterne um die Erde. So erscheint es dem Auge. Aber innerlich wissen wir, das ist nicht die Wahrheit, sondern, wenn es auch noch so sehr gegen den Schein geht: Die Erde bewegt sich. Nun, so wie es in der Betrachtung der äußeren Welt eine Wahrheit gibt, die etwas anderes ist als die Art, wie die Dinge erscheinen – so auch in der Betrachtung des menschlichen Lebens. Der Augenschein sagt uns: Das kommt von ungefähr, aber wir zwingen, wir überwinden uns, zu glauben: Das kommt von der Hand Gottes! – obwohl wir es nicht beweisen können. Gott lieben – dasist dieVorbedingung, um dasLeben richtig zu verstehen. Gott lieben muß man, um zunächst das Glück ertragen zu können. Da sagt uns unser Verstand: Das hast du dir verdient, das hast du dir erschaffen, dann wird man selbstgefällig, stolz – aber wer sagt: Das hat Gott mir gesandt, der versteht erst das rechte Glück, denn der kommt durch das Glück Gott näher; die Dankbarkeit weitet sein Herz. Gott lieben, das muß man, um dasUnglück ertragen zu können. Da kommt gar viel über uns, was wir nicht erklären können, das uns irre machen könnte – und dann heißt es, Gott lieben, an ihm halten, ob man ihn auch nicht versteht, daran glauben, daß er unsliebt. Wer so durchs Leben geht – dem wird alles zum Besten dienen, er wird im steigenden Maße erkennen, daß Gott uns liebt. Aber alles können wir nicht erkennen – glauben. Aber wenn wir einst bei Gott sind, dann erkennen wir in Ewigkeit, daß er uns geliebt, daß das Gesetz von allem, wasuns zukam, die ewige, ewige Liebe war.

330 Predigten desJahres 1901

Nachmittagspredigt Sonntag, 6. Oktober 1901, St. Nicolai

Mt. 7,21: Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! in dasHimmelreich kommen, sondern die denWillen tun meines Vaters im Himmel

Um selig zu werden, muß man einTäter, nicht nur ein Hörer desWortes sein. Das liegt in dem Spruch Jesu, den wir soeben vernommen haben. Aber es enthält noch mehr. Jesus sagt nicht nur: Man muß die Gebote Gottes erfüllen, sondern er sagt: den Willen Gottes tun. Er sagt nicht, worin dieser Wille besteht, sondern er will, daß wir darüber nachdenken. Die Gebote ergehen an alle Menschen in gleicher Weise. Aber sie drücken den Willen Gottes nur allgemein, nicht vollständig aus. Gott aber hat es noch im besondern mit jedem Menschen zu tun, er hat noch einen besonderen Willen an ihn, der sich nicht in Gebote und Regeln fassen läßt. In den Geboten redet Gott zu Menschen durch die menschliche Sprache, derWille Gottes aber redet sprachlos mit dem Geiste des Menschen – und nur wer diese Stimme desWillens Gottes in sich vernimmt, in dem ist wahres Leben. Ist das nicht überspannt, daß man sagt: Der Christ muß Gottes Willen in sich vernehmen? Nein, denn dieser Wille, der weist ihm die besondere Stelle in derWelt an, die Gott ihm bestimmt hat, er zeigt ihm, was Gott mit ihm vorhat. Das kann einem kein anderer Mensch sagen, das kann man nicht in einem Gesetze finden, sondern der geheimnisvolle Wille Gottes allein offenbart es den Menschen, er offenbart ihnen, wozu sie Gott in diesem Leben ausersehen hat. Die ersten in der Welt, die so denWillen Gottes in sich vernahmen, waren die Propheten. Amos war ein einfacher Hirt im Lande Juda, und derWille Gottes war ihm offenbar, er solle hingehen an das Heiligtum zu Bethel und verkünden, daß Gott nicht das Opfer, sondern das Herz wolle [Am. 5,21–24]. Dieser Wille Gottes fragt nicht, wird man so glücklich, wird man so unglücklich, sondern er sagt: Das will ich von dir. Jeremia dachte sich sein Leben in stillem Familienglück, fern von allem Streit und Getümmel, und Gott verlangte von ihm, daß er solle aufstehen vor dem Volk in Jerusalem und das Unglück verkünden, das der Herr über die Stadt bringen werde [Jer. 1,1–10]. «Meine Speise ist, daß ich tue denWillen des, der mich gesandt hat» – so sagt Jesus zu denJüngern am Brunnen vor der Samariterstadt, wo er mit dem samaritischen Weibe geredet hat [Joh. 4,34]. Das Geheimnis seines ganzen Lebens liegt in diesem einen Worte. Dieser Wille des himmlischen Vaters hat ihn aus dem stillen Nazareth herausgerissen, er

Es werden

nicht alle

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führt ihn der Seligkeit zu, zu sehen, wie die Leute an seinem Munde hängen, er führt ihn aber auch dazu, die Feindschaft auf sich zu nehmen undin denTod zu gehen. Und wir, weil wir im Kreise der Unsrigen stehen dürfen, weil wir nicht aus unserm Leben und unserm Beruf herausgerissen werden – gibt es denn für uns keinen Willen des himmlischen Vaters? – Wer mit Gott die Gemeinschaft im Gebet aufrecht erhält, der weiß, es gibt einen solchen Willen Gottes für den einzelnen. Wir lassen uns im Leben so dahintreiben, wir wähnen unsern Platz auszufüllen, da gehen uns plötzlich, wir wissen nicht wie, die Augen auf. Habt ihr es noch nie erfahren, daß man es plötzlich inwendig fühlt, daß wir das und das tun müssen, daß wir etwas anderes werden müssen für die Leute, die um uns sind, um unsere Pflicht an ihnen recht zu tun, daß wir innerlich genötigt werden, uns um Leute zu bekümmern, von denen wir vielleicht sagen möchten, die gehen uns nichts an. Habt ihr nie so plötzlich einen Gedanken bekommen, der euch keine Ruhe ließ, bis ihr ihn ausgeführt, habt ihr nie dann eine Seligkeit empfunden, daß ihr euch selbst fragtet: Warum bin ich jetzt so glücklich und innerlich selig und still? Das war derWille Gottes, den ihr vernahmt. Wie oft würden wir diesen Willen Gottes vernehmen, wenn wir nicht gedankenlos dahinlebten, wenn wir uns sammelten im Gebet und über unser Leben undWirken mit Gott nachdächten! Wie oft überhören wir denWillen Gottes, wie machen wir uns unempfänglich, ihn zu vernehmen – und gehen so an dem wahren Glück des Lebens vorüber! Wir leben als blinde Menschen – denn denWillen Gottes tun – das ist das wahre, daseinzige Glück. Und wenn unser Herr sagt, daß die, welche den Willen Gottes tun, Himmelreichsgäste sind, so heißt das nicht nur, daß sie einmal im zukünftigen Leben selig sein werden, sondern daß sie, indem sie den Willen Gottes tun, dadurch selig sind. Des Lebens Rätsel schwinden für den, der in dem, was geschieht, und in dem, was er tut, Gottes Willen sieht! Die wahre Freudigkeit durchglüht dann, wie ein leuchtender Sonnenstrahl, alles – auch das Leiden. Wer so im Wirken den Willen Gottes getan hat, der erkennt denWillen Gottes auch im Leiden, und er weiß: Leiden in stiller Ergebung ist auch denWillen Gottes tun. Warum steht das Leiden wie ein großes Fragezeichen vor uns Menschen? Warum können wir uns damit so schwer abfinden, wenn es an uns herankommt? Weil wir nicht wissen, was das heißt: Gottes Willen tun, weil wir es nicht gelernt haben in der Zeit, da wir wirken und schaffen konnten. Darum müssen wir durch so viel Trübsal und Leiden, durch so viel innere Kämpfe hindurch, bis wir durch Leiden es gelernt haben, Gottes Willen zu tun. Das ist die tiefe Bedeutung des Leidens, die uns über alle Fragen, warum denn der allmächtige Gott dasUnglück und Leiden in derWelt

332Predigten desJahres 1901

bestehen läßt, hinweghebt. Menschen, die es im Leben nicht wußten, was es heißt, Gottes Willen tun, und die darum die wahre innere Seligkeit nicht kannten, die lernen im Leiden, was Gottes Wille ist, und kommen so zur Seligkeit. In ihrem Leben waren sie vielleicht klein und schwach, aber im Leiden, wenn sie den Kampf überwunden haben, wachsen sie, und eine sieghafte Ruhe kommt über sie, und eine stille Seligkeit erfüllt sie, denn sie wissen jetzt, was es heißt, Gottes Willen tun. Möge Gott diese Erkenntnis in allen unglücklichen Gemütern aufgehen lassen, möge er auch uns zu dieser Seligkeit durch unser Leben hindurchführen auf demWege, den er unsbestimmt hat. «Meine Seele senket sich hin in Gottes Herz und Hände und erwartet ruhiglich seiner Wege Ziel und Ende, lieget still undwillenlos in desliebsten Vaters Schoß.»|71¡

Morgenpredigt Sonntag, 13. Oktober 1901, [St. Nicolai]|72¡

Lk. 6,47–49: Schlußgleichnis der Bergpredigt|73¡ Das Gleichnis unseres Textes paßt zu der Zeit, in der wir unsjetzt befinden. Es ist die Zeit, wo Herbststürme und Herbstregen unser Haus umtoben. Wir fühlen uns geborgen unter unserm Dach, aber sie gemahnen uns zu denken, ob auch unser Herz im Glauben gefestigt und gegründet ist, in den Stürmen des Lebens auszuhalten. Wie wird es so gefestigt und gegründet? – Das sei unsere Herbstbetrachtung. In unserm Gleichnis antwortet der Herr auf diese Frage: Durch das Tun. Dieses Gleichnis geht nämlich darin nicht auf, daß der Herr nun am Schluß der Bergpredigt – denn es beschließt ja die Bergpredigt – die Leute ermahnt, das neue Gebot, das sie gehört, nun auch zu halten. Das ist ja etwas ganz Selbstverständliches. Die Bergpredigt ist noch mehr als die Verkündigung eines neuen Gesetzes: Sie ist die Offenba71 [Johann Joseph Winckler: Meine Seele senket sich, Str. 1.] 72 [Das Manuskript trägt keine Ortsangabe, doch hat Schweitzer nach der Liste im Kirchenboten den Morgengottesdienst in St. Nicolai gehalten.] 73 [Wer zu mir kommt und hört meine Rede und tut sie, den will ich euch zeigen, wem er gleich ist. Er ist gleich einem Menschen, der ein Haus baute und grub tief und legte den Grund auf den Fels. Da aber Gewässer kam, da riß der Strom zum Hause zu, und konnte es nicht bewegen; denn es war auf den Fels gegründet. Wer aber hört und nicht tut, der ist gleich einem Menschen, der ein Haus baute auf die Erde ohne Grund; und der Strom riß zuihm zu, undesfiel alsbald, unddasHausgewann einen großen Riß.]

Schlußgleichnis

derBergpredigt

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rung eines neuen Gottes, eines neuen Glaubens, einer neuen Religion. Und nun sieht Jesus, wie seine Zuhörer ergriffen sind, wie ihnen eine neue Welt aufgegangen ist, wie ihr Herz dieser neuen Wahrheit entgegenschlägt, wie sie dieselbe schon im Glauben zu besitzen wähnen. Aber ehe er sie entläßt, ruft er ihnen in dem Schlußgleichnis ein Wort zu, das besagen soll: Der Glaube, der euch so herrlich und einfach jetzt scheint, den ihr in eurem Herzen schon zu besitzen meint, den müßt ihr, soll er wirklich euer werden, erst erringen, festhalten und vertiefen durch die Tat, sonst wird er erschüttert durch die Ereignisse des Lebens, und die Stürme, die über jedes Menschendasein kommen, führen ihn in Fetzen davon. Der wahre Glaube wird erworben durch das Tun. So denkt Jesus über dasVerhältnis von Glauben undWerken! Wie kleinlich und wie unverständig erscheinen daneben die Auseinandersetzungen der Menschen, ob es einen Glauben ohne Werke und Werke ohne Glauben gebe! Was Jesus hier mahnend an die Zuhörer der Bergpredigt sagt, das hat sich in unserer Zeit als erschreckend wahr erwiesen. Die Leute, die sagen: Wir haben unsern Glauben verloren, die ehrlichen Zweifler und die blasierten Menschen, die für alles, was christlich, was Religion ist, nur noch ein müdes Lächeln haben: Alle diese haben einst eine Stunde gehabt – als sie zur Konfirmation vor dem Altare saßen, wo ihr Herz feierlich bewegt wurde durch den christlichen Glauben, wo es ihnen aufging, daß es eineWahrheit gibt, die Seligkeit ist – aber sie verstanden es nicht, diesen Glauben festzuhalten und zu erwerben durch die Tat – und darum verloren sie ihn. Man kann es nie genug betonen, wie falsch es ist, wenn man sagt, diese Leute, wie sie selbst meinen, haben den Glauben verloren durch dieVorstellungen und Einsprüche, die ihr Verstand dagegen erhob, daß sie zu gelehrt sind, um noch zu glauben. Gewiß, wenn dem so wäre, so müßten alle hervorragend begabten Menschen ungläubig und alle minderbegabten gläubig sein. Gerade dasGegenteil ist aber der Fall. Die tiefen Denker aller Zeiten waren gläubig. Nein, den Glauben haben diese Leute verloren, weil ihnen die Tat fehlte, weil sie dasChristentum nicht in ihrem Leben zu betätigen suchten und gleich nach der Konfirmation den Zusammenhang mit der Kirche, mit dem Gottesdienst, mit dem christlichen Wirken und Tun verloren. Sie meinten, der Glaube sei etwas neben dem Leben – und sie wußten nicht, daß dieser Glaube dann nur ein unlebendiges Meinen ist, das durch das Leben verschlungen und vernichtet wird. Darum verloren sie ihren Glauben – sie mußten ihn verlieren. Keinem Menschen werden die Zweifel erspart. Dem einen kommen sie mehr, dem andern weniger. Sie gehn uns nach durch unser ganzes Leben. Aber das ist kein Unglück; denn durch die Zweifel hindurch kommt man erst zum lebendigen Glauben.

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Predigten

desJahres 1901

Ein See, der daläge, ohne daß derWind von Zeit zu Zeit über seinen Spiegel fährt und ihn im Grunde bewegt, der verliert bald die lebendige Klarheit, er wird trüb, und Schlinggewächse überwuchern ihn. So ist es auch mit dem Glauben. Die Zweifel sind der belebende Wind, der darüber fährt, und in den Zweifeln besteht man, man überwindet sie durch

dasTun. Nehmen wir den Glauben an Gott als denVater. Dieser Glaube, den Jesus in der Bergpredigt verkündet, ist etwas so Herrliches und Einfaches, ich möchte sagen, etwas so Begeisterndes und so Tröstliches, daß er das Leichteste scheint. Und doch ist es wieder das Schwerste – denn immer kommt unser Verstand mit seinen Bedenken: Gibt es denn wirklich einen Gott? Ist das alles nicht Täuschung? Und dieser Gott soll der Gott der Liebe sein, wo doch in seiner Welt so viel Grausamkeit, Unglück und Ungerechtigkeit vorkommt. Ist es nicht viel natürlicher zu sagen, ein blindes Schicksal, ein unerbittliches Gesetz waltet über dieser Welt. Mag man diese Zweifel immer wieder zurückweisen, immer kommen sie wieder, und wenn man meint, man hat sie abgetan, dann ereignet sich etwas, und sie stehen wieder da. Aber dem, der in demTun besteht, können sie nichts anhaben. Zwischen dem neuen Gesetz und dem neuen Gott der Bergpredigt besteht ein enger Zusammenhang: Niemand kann an Gott glauben als denVater, als die Liebe, der nicht darum kämpft, in seinem Leben dieses Gesetz der Liebe zuverwirklichen. Und niemand, der ausinnerstem Herzen, dieses Gesetz der Liebe zu tun, mit sich kämpft, kann seinen Glauben an Gott verlieren, denn gerade in diesem Tun, in diesem Streben, geht es ihm auf, daß es noch etwas Höheres gibt, etwas Übernatürliches, das unser Verstand nicht ergreifen kann. Durch das Tun, durch das Kämpfen um die Vollkommenheit, werden wir in eine höhere Sphäre gehoben, wo uns die Wahrheit des Übernatürlichen, des Göttlichen aufgeht, wo wir in die Geheimnisse derWelt eindringen. Und wer in dem Tun, in dem Kämpfen besteht, dem kann nichts auf derWelt, kein Zweifel, den Glauben an etwas Höheres rauben, denn er trägt das Höhere lebendig in sich. Wer aber nicht handelt, wer nicht kämpft, in dem Gesetz der Liebe zu bestehen und der Vollkommenheit sich zu nähern – der verliert auch damit rettungslos den Glauben an Gott als die Liebe und Gott als das Urbild der Vollkommenheit, die höhere Welt versinkt in Trümmer, weil sie in seinem Innern vernichtet ist. Darum, um zum Glauben zu gelangen: Strebt nach der Vollkommenheit! Darum möchte man allen Zweiflern und besonders unserer heutigen Jugend zurufen: Wenn ihr wähnt, nicht mehr glauben zu können, handelt nur, tut nur, kämpft um das Reine, um das Edle – dann wird euch der Glaube zu seiner Zeit wiederkommen.

Schlußgleichnis

derBergpredigt

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Dann aber betet nur; denn auch das Beten ist ein Tun, das höchste Tun – und gerade dieses Tun hat der Herr in der Bergpredigt gelehrt. Es steht mitten in der Bergpredigt, denn dort, im 6. Kapitel, lehrt er das Vaterunser und das kindliche Vertrauen im Gebet. Nur im Gebet wird der Glaube an Gott erkämpft und erhalten. Im Gebet wird man gewiß, daß es einen über der Welt gibt, der uns von Sorge und Sünde befreit. Was vermögen denn alle Zweifel und Einwände gegen das, was ein Mensch im Gebet erfährt, gegen die Gewißheit, die uns im Gebet wird? Sollte denn der Gott nicht leben, der mitten in Not undTraurigkeit uns Frieden sendet ins Herz, sollte der Gott nicht leben, der uns aufrichtet, wenn die Sünde und die Reue uns niederdrücken, und der uns die innere Gewißheit gibt: Du darfst ein neues Leben anfangen! Darum «haltet an am Gebet!» [Röm. 12,12]. Auch wenn einer seinen Glauben verlor, wenn in die Worte seines Gebets immer sich Zweifel mischen: Ist dieser Gott denn wirklich, oder ist nicht mein Gebet ein Murmeln, das sich im Nichts verliert – und solche Stunden kommen fürjeden im Leben. – «Haltet an am Gebet!» undwenn es nur dasHersagen desVaterunsers aus Gewohnheit, aus Erinnerung wäre. Das Gebet führt zum Glauben. Gott fügt es also. Darum sendet er den Menschen gar oft Unglück undTraurigkeit, daß sie wieder zum Gebet gezwungen werden, oft nur ein äußerliches aus Not, aber führt zur Vertiefung, und so im Gebet den Glauben wiederfinden, den sie verloren, weil sie nicht mehr gebetet haben. «Wer zu mir kommt und höret meine Rede und tut sie, der ist gleich einem Menschen, der ein Haus baute und grub tief und legte den Grund auf den Fels», spricht unser Heiland. Dieses Wort ist eine Mahnung. Das Tun, das er meint, ist das Streben nach Vollkommenheit und dasBeten. Wer nicht «tut», der verliert seinen Glauben, er kommt nie dazu, will es heißen. Dann aber ist es ein Trost. Wer strebt nach Vollkommenheit, wer betet, der kann seinen Glauben nicht verlieren, sondern er dringt immer tiefer hinein, so daß das Leben, wenn es seine Wogen trüb heranwälzt, ihm diesen Glauben nicht nehmen kann, sondern er in demselben fest besteht und zur Herrlichkeit eingeht. «Drum weiß ich, wasich glaube; ich weiß, wasfest besteht, und in dem Erdenstaube nicht mit als Staub verweht. Ich weiß, wasin dem Grauen desTodes ewig bleibt, und selbst auf Erdenauen schon Himmelsblumen treibt.»|74¡

74 [Ernst Moritz Arndt: Ich weiß, woran ich glaube, Str. 6.]

336 Predigten desJahres 1901

Nachmittagspredigt Sonntag, 20. Oktober 1901, St. Nicolai

Apk. 21,5: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht zu mir: Schreibe; denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiß

Die Offenbarung ist ein dunkles Buch. Es mutet einen gar sonderbar an, wenn man liest, auf welche phantastische Weise hier die letzten Dinge beschrieben sind, und man möchte deswegen oft mit dem Lesen innehalten. Aber in diesen phantastischen Schilderungen liegen wieder Worte zerstreut, die zu dem Herrlichsten gehören, wasim Neuen Testa-

ment steht. Zum Beispiel 3,19: «Welche ich liebhabe, die strafe und züchtige ich.» Oder das gleich darauffolgende schöne Adventswort: «Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird und dieTür auftun, zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir». Oder dasWort: «Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach» (14,13). Oder 21,4: «Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn dasErste ist vergangen.» Zu diesen herrlichen Worten der Offenbarung gehört auch unser Textwort: «Siehe, ich mache alles neu!» Es enthält einen wunderbaren Traum, den die Menschen aller Zeiten geträumt haben, wenn sie diese Welt mit ihrem Elend, mit ihrer Sünde und ihrer Unvollkommenheit betrachteten: daß Gott nämlich an die Stelle dieser Welt eine neue Welt setzen möchte. So sieht der Prophet Jesaja im Geiste, wie Gott «einen neuen Himmel und eine neue Erde» schafft [Jes. 65,17]. Dieser Gedanke von der Erneuerung der Welt soll im Christentum erfüllt sein! Durch Jesus soll es geschehen sein. Freilich in anderer, innerlicherer Weise, als man es sich erwartete. Wenn wir um uns blicken, dann steigt uns die Frage auf: Ist es wirklich geschehen? Ist denn die Welt wirklich durch Jesus neu und besser geworden, oder liegt nicht alles im argen wie zuvor? Gerade zu unserer Zeit hat eine solche rohe Selbstsucht unter den Völkern Platz gegriffen, Unrecht und Gewalttat werden so gerechtfertigt und verherrlicht, daß man daran zweifeln möchte, ob denn das Christentum auch nur die geringste Wandlung auf derWelt hervorgebracht hat. Wenn wir von dieser Wandlung äußerlich auch noch so wenig sehen, wir glauben sie. «Schreibe», heißt es im Text, «denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiß!» Der Herr wandelt die Welt um von innen, er macht sie neu, auch wenn wir nichts davon bemerken und es uns zu

Siehe, ich mache alles neu

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langsam zu gehen scheint. Geht es uns nicht auch so im Frühjahr, wenn er die Natur neu macht? Da bleibt es auch oft kalt, und wir meinen, es geht nicht voran, wir glauben, mitten im Winter zu stehen – und dann über Nacht bricht die ganze Herrlichkeit, die fast unsichtbar geworden, hervor und preist den Herrn, der alles neu macht. So ist es auch in der Menschenwelt. Wir vermögen den Erfolg nicht immer zu sehen, aber es genügt uns, zu wissen, daß des Herren Kraft unter den Völkern wirkt, und wir glauben, daß auch einst der Tag anbricht, wo auch hier alles neu wird und Edelmut, Liebe und Friede Einkehr halten. «Siehe, ich mache alles neu!» An der Welt mag es in Erfüllung gehen zu seiner Zeit: Wenn es nur schon an uns wahr wäre! Aber wer vermöchte, das von sich zu sagen! Das Menschenherz ist ein «trotziges und verzagtes Ding» [Jer. 17,9], und Eigenliebe, Leidenschaft, Wankelmut und Sünde sind noch nicht daraus vertrieben. «Gib mir einen neuen, gewissen Geist!» [Ps. 51,12]. So möchten auch wir beten wie der Psalmist im alten Bunde. – Und doch, auch hier, für den, der so betet, ist es «wahrhaftig und gewiß»: «Siehe, ich mache alles neu», auch dasMenschenherz! Der Herr arbeitet in der Stille an der Erneuerung unseres Herzens – und wir spüren diese Arbeit. Wer betet, der weiß, es ist wahr, denn da fühlt man die Schläge der Arbeit Gottes, wie wenn man dumpf unter der Erde in einem Bergwerk arbeiten hört. Wir kommen in tiefer Kümmernis, traurig und mutlos zu Gott, alles ist uns verleidet – und in dieses verzagte Herz kommt durch das Gebet, durch den Verkehr mit Gott, von Gott her Friede, Seligkeit und neuer Mut. Ist es uns denn da nicht, als ob es uns ausallen Ecken zuklänge: «Siehe, ich mache alles neu!» Das ganze Christentum mit seiner Lehre von der Sündenvergebung hängt in diesem Wort: «Siehe, ich mache alles neu!» Das Herz, gerade das von der Sünde beschwert ist und von der Reue gebrochen ist, das macht der Herr neu. Das ist gerade das Geheimnis, daß es dann in uns heißt: Du darfst ein neues Leben beginnen! «Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!» [II Kor. 5,17]. Wer einmal in solch tiefer Niedergeschlagenheit zu Gott gebetet, und wer dann es erfahren, was es heißt «Sündenvergebung», der versteht dann auch erst dasWort «Siehe, ich mache alles neu!» in seiner ganzen Tiefe. Der Herr arbeitet an unserer Erneuerung – bis zujenem Augenblick, wo dasNeue dasteht und dasAlte abfällt wie eine vergängliche Hülle, zu jenem Augenblick, wo dieses irdische Dasein übergeht in das unvergängliche Leben, wo die Pracht des Frühlings eines Menschendaseins ausbricht. Waswir hier auf Erden erleben, dasist der bange Vorfrühling mit dem kurzen Sonnenschein und den trüben Regen- und Sturmtagen. Darum bleiben wir getrost und freudig – denn wir wissen, es ist das Walten des Herrn, der alles neu macht. Niemand hat das so über-

338 Predigten desJahres 1901

schwenglich herrlich gesagt als der Apostel Paulus im 2. Korintherbrief, am Ende des4. Kapitels. Laßt mich mit diesen Worten schließen: 16–18: «Darum werden wir nicht müde; sondern, ob unser äußerlicher Mensch verdirbt, so wird doch der innerliche vonTag zuTag erneuert. Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf dasUnsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, dasist ewig.»

Nachmittagspredigt Sonntag, 3. November 1901, St. Nicolai Reformationsfest

[Joh. 5,39:] Suchet in der Schrift; denn ihr meinet, ihr habet das ewige Leben darin; und sie ist’s, die von mir zeuget

Das Reformationsfest ist der Befreiungstag der Bibel. Das Licht, dasunter den Scheffel gestellt war, haben sie wieder hervorgeholt und auf den Leuchter gestellt, daß es leuchtet allen denen, die im Hause sind [Mt. 5,15]. Nie werden wir dasdiesen Männern genug danken können. Und doch, wenn sie sehen könnten, wie daskostbare Kleinod in unserer Zeit so gering geachtet wird, vielleicht würden sie es bereuen, daß sie uns den Zugang so leicht gemacht haben, denn es herrscht bei uns nicht mehr die Sehnsucht, der Hunger und der Durst nach der Bibel wie zu ihrer Zeit, wo man nach dem Kleinod schmachtete, sondern heute, wo jedes Kind sein Neues Testament besitzt, da ist es uns so etwas Gewohntes, daß wir denWert der Gabe nicht mehr zu schätzen wissen. Wir reden immer gegen die Pharisäer und die Juden zur Zeit Jesu. Aber eines könnten wir von ihnen lernen: den Eifer an demWort Gottes. Jesus hat ihnen nie brauchen vorzuwerfen, daß sie lässig waren, in der Schrift zu forschen, sondern er hat es alsVerdienst von ihnen anerkannt. Die Stelle nämlich, die wir zumText verlesen haben, heißt nicht: «Suchet in der Schrift», sondern ursprünglich sagt Jesus zu ihnen: Ihr sucht in der Schrift, weil ihr meint, ihr habet dasewige Leben drinnen. Nun ist durch ein Mißverständnis dieses Wort als eine Aufforderung übersetzt worden: «Suchet in der Schrift!» Und doch, in dieser Art, zu übersetzen, liegt eine tiefe Wahrheit, denn uns heutzutage muß man auffordern und drängen: «Suchet in der Schrift!», denn das gerade fehlt uns: Bibellesen. Geht einmal hin und fragt: Von hundert Konfirmanden sind vielleicht fünfzig, die nach der Konfirmation in ihrem Leben kaum mehr ein Neues Testament aufmachen, die den Christennamen tragen, und nicht einmal je das Neue Testament gelesen haben.

Suchet

in der Schrift

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Aber wir wollen unsjetzt nicht traurig machen, sondern von uns reden und uns fragen: Lesen denn wir die Bibel richtig, ist sie für uns das teure, werte Buch, dasherrliche Kleinod? Was suchen wir darin? Darauf antwortet Jesus in dem Textwort: mich und dasewige Leben. In der Schrift suchen wir Jesus. Zuerst seine äußere Erscheinung, ich möchte fast sagen, seine Gesichtszüge. Auf diesen Blättern, hier allein, steht alles, alles, waswir von ihm wissen! Aus diesen schlichten Berichten tritt uns seine Gestalt in ihrer stillen, einfachen Größe dar, Jesus im Kreise seiner Jünger, Jesus umgeben vom Volk, das er am Seestrande lehrt, Jesus auf dem Zug nach Jerusalem, Jesus inmitten seiner Widersacher, Jesus am Kreuze – so zieht alles auf diesen Blättern an uns vor-

über. Nicht wahr, es ist etwas Herrliches, sich so in diese Blätter versenken zu können. Und doch, diese Person Jesu, die wir in der Schrift finden, das ist nicht alles, nur der Anfang. Siehe, wenn uns die Schrift nur erzählte, daß dieser Herr einmal über die Erde gewandelt sei – ach, das könnte uns nie befriedigen. Höchstens, daß wir die beneideten, die ihn gekannt, die seine Stimme gehört, die um ihn waren, auf denen sein liebendes Auge geruht. Aber nein, in der Schrift ist mehr als das Zeugnis überJesu Person – es ist dasZeugnis über ihn als den Heiland. Da sind Leute, die Schreiber der Episteln, vornehmlich der Apostel Paulus, die haben den Herrn ebensowenig von Angesicht gekannt als wir, und doch reden sie von ihm und schildern uns, was er jedem von uns ist: der ewig nahe Heiland! Der Herr, der uns schwache Menschen annimmt, uns Mut und Kraft und Freudigkeit zum Leben gibt und uns hilft, das Schwerste überwinden und tun. In den Evangelien, da ist der Herr Jesus geschildert, aber beim Apostel Paulus der himmlische Heiland! Wer den in der Schrift findet, der hat darin den ewigen Frieden, dasneue, ewige Leben gefunden! Aber da genügt es nicht, mit den Augen und mit den Sinnen lesen, sondern mit dem Herzen! Und wen das Leben nicht lehrt, mit dem Herzen die Schrift zu lesen, der versteht sie nie! Und ob er auch jedes einzelne Wort liest und wieder liest. Da liest er dasWort Sündenvergebung – er versteht’s nicht, es ist wie ein Schall, der an seinem Ohr vorübergeht. Aber wenn er nun im Leben dahin kommt, daß er an sich selbst verzweifelt, daß er von seinen Sünden erdrückt wird, und nun liest er das Neue Testament, wie gehen ihm da dieWorte des Paulus auf von der Sündenvergebung und dem Frieden mit Gott! Das ewige Leben in der Schrift suchen: Wie wahr ist doch dieses Wort! Da allein ist, wasuns über dieWelt, die Sorgen und die Vergänglichkeit hinaushebt. Was uns keines Menschen Mund kann sagen, das steht hier auf diesen Blättern. Jahrhunderte sind schon darüber hingegangen – ohne sie zu berühren, alles hat sich verwandelt, nur sie nicht.

340 Predigten desJahres 1901

Es gibt Leute, denen war dasBibelbuch ihr Leben lang ein verschlossenes Buch. Vielleicht haben sie ab und zu einen Blick hinein getan – aber auf dem Krankenbett, da kommt es ihnen alsTröster. Zuerst darin herumlesen, dann langsam, als ob ihnen die Binde von den Augen fiele – hier, in dem Buch, ist dasewige Leben enthalten! Denn der Glaube an Christus als den Heiland, dasist dasewige Leben.|75¡

Morgenpredigt Sonntag, 10. November 1901, St. Nicolai Nach Reformationsfest

Mt. 5,13–

15|76¡

und Gal. 5,1.13|77¡: [Protestantismus]

«Ihr seid das Salz der Erde.» «Ihr seid das Licht der Welt» – in diesen Worten Jesu an seine Gläubigen liegt eine Anerkennung, die ihren Stolz wecken kann, und zugleich ein mahnender Ernst zur Selbstprüfung. Und wenn nunJesus von seinen Gläubigen als dem Licht der Welt gesprochen hat, müssen wir nicht als Protestanten bei diesem Wort an das Licht des reinen Evangeliums denken, das in der Reformation derWelt wieder aufgegangen ist, und das nun in uns, den Protestanten, seinen Glanz fortsetzt und in dieWelt hinausscheinen soll? Darum wollen wir an dieses Wort eine Nachreformationsbetrachtung anknüpfen. Der Protestantismus ist die Religion der Gewissensfreiheit und des innerlichen, persönlichen Herzensglaubens, wie ihn Jesus gelehrt. Als die Religion der Gewissensfreiheit und der Innerlichkeit ist der Protestantismus das Licht derWelt.|78¡ Haben denn die Protestanten unserer Tage von dieser ihrer Bedeutung für die Welt noch ein Bewußtsein? Man möchte fast daran verzweifeln und zu den Worten fortgehen: «Wo nun das Salz dumm wird, womit soll man’s salzen?»|79¡

75 [Der Schluß besteht nurausStichwörtern.] 76 [Ihr seid das Salz der Erde. Wo nun das Salz dumm wird, womit soll man’s salzen? Es ist hinfort zu nichts nütze, denn daß man es hinausschütte und lasse es die Leute zertreten. Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es denn allen, die im Hause sind.] 77 [So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, und lasset euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen. Ihr aber, liebe Brüder, seid zur Freiheit berufen! Allein sehet zu, daß ihr durch die Freiheit dem Fleisch nicht Raum gebet; sondern durch die Liebe diene einer dem andern.] 78 [R] Darin besteht seine Mission, die uns als Protestanten mit Stolz erfüllen soll. 79 [R] (Denn sonst hätten sie das Reformationsfest anders gefeiert, als sie es getan haben.)

Protestantismus

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Wie gar mancher Prediger ist am letzten Sonntag wohl gehobenen Mutes in freudiger Reformationsstimmung auf die Kanzel getreten – und als er oben stand und die Kirche überblickte, da überkam ihn die Trauer. Denn da erblickte er leere Plätze zwischen den Bänken, und die Gemeinde war kaum größer als an einem gewöhnlichen Sonntag – und das soll das erste Reformationsfest des 20. Jahrhunderts in unserer altprotestantischen Stadt Straßburg sein! Vielleicht die Hälfte der Straßburger Protestanten haben nicht einmal gewußt, daß es Reformationsfest war, und von den andern haben sich viele dabei nichts gedacht. Und daswar die Stimmung in einer altprotestantischen Stadt am ersten Reformationsfest des Jahrhunderts, das schwer und drohend für den Protestantismus heraufzieht, das dasReformationsfest in einer Zeit, wo die Mächte derVerdunkelung und des Gewissenszwang ihr Haupt stolz erheben und sich zu sagen beginnen: Der Sieg ist unser.|80¡ Wo ist der protestantische Stolz und das protestantische Selbstbewußtsein? Wenn man ihn finden will, muß man ausden Heimatländern des Protestantismus hinausziehen und ihn da aufsuchen, wo er um sein Bestehen kämpft, wo er die Fackel der Gewissensfreiheit in das Dunkel des Katholizismus hineinträgt, nach Belgien, Frankreich, Spanien, Italien, Österreich. Da ist protestantisches Selbstbewußtsein, weil sie das Gut der Gewissensfreiheit, da sie es stets wieder erkämpfen, zu schätzen wissen. Bei uns aber sind protestantischer Stolz und Selbstbewußtsein in den hohen und niederen Kreisen fast verschwunden, weil sie die Gewissensfreiheit, da sie darin aufgewachsen sind, der sie verdanken, was sie sind, nicht mehr zu schätzen wissen und deshalb ihrer unwert sind. «Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen», dieses Dichterwort gilt unserm heutigen Protestantismus. Wie der Apostel Paulus den Galatern, als sie nicht mehr wußten, was sie an der Freiheit hatten, die er sie gelehrt, und sie deshalb unvermerkt aufgeben wollten, so muß man den Protestanten von heutzutage zurufen: «So bestehet nun in der Freiheit!» Freilich, man muß der großen Zahl der Protestanten erst sagen, was die wahre protestantische Freiheit ist, denn die vielen halten wohl an einer Freiheit – aber an der falschen. Für sie besteht die Freiheit darin, daß die protestantische Religion keine Tyrannei auf ihre Gläubigen ausübt, sie finden es gar bequem und schön protestantisch, daß ein Mensch sich sein ganzes Leben um die Religion nicht kümmert, nie zur Kirche kommt, sich an nichts beteiligt und durch seine Gleichgültigkeit den Protestantismus entwürdigt vor derWelt, und daß doch, wenn er stirbt, 80 [R] (Wo die Prinzessinnen aus altprotestantischen Familien ihren Glauben ablegen um ausländischer Fürstenthrone willen.)

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Predigten

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der Pfarrer im Namen der Religion bei seinem Begräbnis redet und nicht seinem Gedanken folgen kann und es abweisen, indem er sagt: «Ich kenne den Menschen nicht» [Mt. 26,72]. Für wie gar viele Protestanten ist die Freiheit nichts als die autorisierte und anerkannte Gleichgültigkeit – ein Zerrbild der protestantischen Freiheit! Aber diese ist etwas ganz anderes: Sie ist nicht Gleichgültigkeit, sondern inneres Leben, persönliche Überzeugung, Betätigung der Frömmigkeit. Protestantische Freiheit ist protestantische Frömmigkeit, nicht die falsche Verträglichkeit, die da sagt, jede Religion ist gleich gut, und sich dabei recht protestantisch und klug vorkommt. – Man kann heutzutage nicht betrübt genug in die Zukunft des Protestantismus blicken, wenn man diese protestantische Gleichgültigkeit betrachtet. Und doch, wenn wir auch schweren Kämpfen entgegengehen, vielleicht bringen uns gerade diese Kämpfe, was uns fehlt: nämlich protestantisches Bewußtsein. Vielleicht lernt gerade in den kommenden Zeiten das protestantische Volk wieder, die Gewissensfreiheit schätzen, weil es darum kämpfen muß, und ein Prediger, wenn ein Menschenalter vorübergegangen, kann mit freudigerem Mut, als wir es heute können, der protestantischen Gemeinde zurufen: «So bestehet nun in der Freiheit.» Und dann das zweite Wort des Apostels Paulus: «Ihr seid zur Freiheit berufen.» Freilich werden da manche sagen: Ist das vielleicht nicht gerade dasUnglück desProtestantismus, daß die Freiheit zu seinem Wesen gehört? Denn was ist aus dieser Freiheit gefolgt? Daß in unserer Kirche sich so verschiedene Meinungen und Parteiungen gebildet haben und uns um die Einheit gebracht haben, die wir besäßen, wenn nicht die Freiheit das Wesen unseres Bekenntnisses ausmachte, sondern irgendeine äußere Autorität da wäre wie in der katholischen Kirche, die die Einheit in Glaubenssachen erzwingt und auferlegt. Gewiß, wenn man sieht, wie dieser Unterschied der Meinungen und Parteien oft dem Fortschritt des Guten und der Frömmigkeit entgegensteht, da möchte man es fast bedauern, daß wir zur Freiheit berufen sind. Aber anderseits, ist denn nicht gerade auch wieder dieser Unterschied der Meinungen und Parteien ein Zeichen desLebens in unserer protestantischen Kirche? Wo die Parteien fehlen, da ist es ein Zeichen, daß auch das wahre, geistige Leben fehlt, und wo die Parteien da sind, da regt sich geistiges Leben. Gerade da, wo das geistige Leben am stärksten ist, da tritt auch der Unterschied der Meinungen und Parteien am stärksten hervor. In den ersten Christengemeinden, da war geistiges Leben, aber das Neue Testament hat uns die Kunde erhalten, daß auch verschiedene Meinungen und Parteiungen aufkamen. Wenn man die Apostelgeschichte und den Brief an die Galater liest, da sieht man, wie die verschiedenen Meinungen gegeneinander stießen.

Protestantismus

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Da war auf der einen Seite der vorwärts stürmende Paulus, der Ernst machte mit dem Satz «Das Alte ist vergangen» [II Kor. 5,17] – und deswegen die alttestamentlichen Zeremonien und dasGesetz abtat und den Heiden das Evangelium predigte, ohne ihnen die jüdischen Satzungen aufzuerlegen. Da war auf der andern Seite der ängstlich zurückhaltende Petrus und der als Christ in jüdischer Frömmigkeit beharrende Jakobus, der Bruder des Herrn, das Haupt der Gemeinde zuJerusalem, der dem Petrus sogar einen Vorwurf daraus machte, daß er zu Antiochien mit Christen ausder Zahl der Heiden an demselben Tisch gegessen. Gewiß war dieser Gegensatz nicht erfreulich für diejunge Christenheit und hat die Gemüter gewaltig aufgeregt und manchen in Gewissensnot gebracht – aber was wäre aus dem Christentum geworden ohne diesen Gegensatz der Meinungen? Nach Petrus undJakobus wäre es so eine Art anJesus gläubige jüdische Sekte geblieben, undohne den ungestümen Paulus hätte es nie seinen Siegesgang in die heidnische Welt so

übermächtig unternommen, und ohne die zurückhaltende Mäßigung der beiden Urapostel hätte es den Boden unter den Füßen verloren und wäre vielleicht von heidnischem Wesen überwuchert worden. Ebenso war es, als nach der langen Nacht das reine Evangelium in der Reformation wieder an denTag trat: Gleich in den ersten Jahren sehen wir da den Unterschied der Meinungen wieder an den Tag treten, da heißt es zwinglisch, calvinisch, lutherisch. Äußerlich betrachtet muß man es beklagen, denn es hat die Kraft des Protestantismus in der Kampfzeit gelähmt, es hat ihn dieser Unterschied der Parteien an seiner Ausbreitung gehindert, und doch, jetzt, wo diese Gegensätze, lutherisch, calvinisch, zwinglisch, [überwunden sind] und es einen einheitlichen Protestantismus gibt, da müssen wir doch sagen: Es war ein Glück, daß diese drei Männer sich das Gegengewicht gehalten haben und sich gegenseitig ergänzt haben, daß nicht die Sätze eines einzelnen unter ihnen bindend und verpflichtend wurden und so im Augenblick, wo die evangelische Freiheit wieder aufging, sich zugleich ein neuer Bann auf die Gemüter legte. Und wenn nun in den vergangenen Zeiten der Unterschied und Gegensatz der Meinungen und Parteien, wenn er auch, äußerlich betrachtet, oft beklagenswert, dennoch unter einem höheren Gesichtspunkt betrachtet förderlich, ja notwendig war für die Entfaltung des Evangeliums, sollte dann nicht auch der Gegensatz der Meinungen in unserer Zeit, den wir so oft beklagen, einem höheren Zweck dienen? Da stehen sich gegenüber seit Jahrzehnten eine Rechtgläubigkeit, welche das alte Bekenntnis, das die Reformatoren aufgestellt haben, zäh festhalten will und sich dagegen wehrt, daß man davon abweiche, und auf der andern Seite eine vorwärtsdrängende Freigläubigkeit, welche sich nicht durch die ehrwürdig alte Form binden lassen will. Diese Gegensätze müssen sein: Warum sie denn beklagen? Die Rechtgläubigkeit, die auf dem

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Standpunkt des Alten verharren will, würde, wenn sie sich allein über-

lassen bliebe, dem Stillstand und derVerknöcherung anheimfallen.

Unser frommer Landsmann Spener, der sicher nicht zu den Neuerern gehörte, hat es gar ergreifend geschildert, wie unter der alleinigen Herrschaft der Rechtgläubigkeit der protestantische Geist in Fesseln geschlagen war und die Bibel und das einfache Wort Gottes unter den Formeln begraben war. Andererseits aber, wievielmal hätte der jugendlich vorwärts stürmende Drang aufklärerischer Geister die ehrwürdig alte Form zertrümmert, weil wir ihre Sprache nicht mehr gewohnt sind, und dadurch auch die tiefen und ewigen christlichen Wahrheiten ausgeschüttet, die in der alten Form geborgen sind, wenn nicht ein Gegengewicht dagewesen wäre, das das Recht des Alten verteidigt und dafür sorgte, daß der Protestantismus in demVorwärtsgehen nicht den ehrwürdigen Boden der christlichen Vergangenheit unter den Füßen verlor. Ein großer Denker hat gesagt, daß das Licht in der Welt nur in Gegensätzen fortschreitet. Und wenn man sich zu dieser Betrachtungsweise erhebt, dann sieht man, daß die sich heute im Protestantismus entgegenstehenden Meinungen einem höheren Zweck dienen, nämlich daß sie sich gegenseitig aufwecken, beleben, anspornen und vorwärtsbringen. Wer dies einmal erkannt hat, der wird nicht mehr eine unlebendige Einigkeit und einen gemachten Frieden für den Protestantismus ersehnen, er wird nicht mehr die Freiheit, die uns veruneint, beklagen, sondern er wird sagen: Gottlob, daß wir zur Freiheit berufen sind, daß bei unsjeder seine Überzeugung vertreten darf. Aber wer zur Freiheit berufen ist, der muß auch wissen, wie diese Freiheit gebrauchen, daß sie nicht entwürdigt werde. Darum sagt der Apostel: «Sehet zu, daß ihr durch die Freiheit dem Fleisch nicht Raum gebet; sondern durch die Liebe diene einer dem andern.» Durch die Freiheit dem Fleisch Raum geben: Das will heißen, daß sich nicht menschlich-irdische Gesinnung in diese Freiheit einmische, sich dahinter verstecke und sie in dasmenschliche Getriebe herabziehe. Mit einem Worte: Sehet zu, daß eure Freiheit lauter bleibe. Daß wir in unserm Lande es an dieser Lauterkeit oft fehlen lassen, dadurch sündigen wir gegen die Freiheit. Wie gar oft muß man es sehen, daß die Person und nicht mehr die Sache im Vordergrund steht, auf der einen Seite im Dienste der Rechtgläubigkeit persönliche Herrschsucht und anmaßende Unversöhnlichkeit, auf der andern Seite eingebildeter Wissensstolz und unverträglicher Belehrungsdünkel. Und wenn man in die Gemeinden hineinsieht, da merkt man, daß, wo die Verschiedenheit der Glaubensauffassung angerufen wird, es sich oft um Personen, um äußere Angelegenheiten, um Familienzwiste handelt, die nun auf das kirchliche Leben einwirken – zum Unglück. Wie gar manche Gemeinde unseres Landes ist dadurch in ihrem geistigen

Protestantismus

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Leben tief geschädigt, wie gar mancher Pfarrer, der hoffnungsvoll sein Amt antrat und der in der edelsten Absicht an die Arbeit ging, mußte nachJahren sagen, daß er nichts wirken konnte, weil er von dem unlautern und kleinlichen Gezänk der Parteien in seiner Gemeinde hin und her gezerrt und mißbraucht wurde. Mit allem dem, was dieser unedle Gebrauch der Glaubensfreiheit in unserm Lande schon angerichtet hat, könnte man ein Buch füllen. Darum, in dem Augenblick, wo wir als Protestanten uns freuen, daß wir zur Freiheit berufen sind, müssen wir uns dasWort zu Herzen nehmen, wodurch wir erst der Freiheit würdig werden: «Sehet zu, daß ihr durch die Freiheit dem Fleisch nicht Raum gebet; sondern durch die Liebe diene einer dem andern.» Der Apostel Paulus hat uns dieses sein Wort durch sein Leben vorgelebt, denn er hat wirklich den andern in der Freiheit gedient. Wohl blieb er bei seiner Freiheit und denjenigen inJerusalem, die die Gewissen seiner Gemeinden knechten wollten unter Satzungen, widerstand er auf das ernsteste. Aber derselben Gemeinde in Jerusalem diente er in der Liebe, als sie in der Not war. Da gab es keine Unterschiede mehr für ihn, sondern als sie in der Not war, reiste er in seinen Gemeinden herum und sammelte für sie, in seinen Briefen hielt er für sie an, wir sehen es aus dem Korintherbrief [I Kor. 16], daß die Gläubigen gäben, was sie könnten, daß er mit einer reichen Gabe nachJerusalem reisen könnte und ihnen dadurch zeigte, daß die Liebe höher ist als die Freiheit, daß nur die Freiheit in Liebe die wahre ist. Und immer ermahnt er seine Anhänger, daß sie nicht in Kleinigkeiten ihre Freiheit hervorkehrten und darauf pochten, sondern eher in diesen nebensächlichen Dingen überwänden, und nicht ihren Mitgläubigen unnötigen Anstoß gäben. So hat er uns ein herrliches Beispiel von dem wahren Gebrauch der Freiheit gegeben. Wenn man an eine neue Wegstrecke kommt, dann bleibt man einen Augenblick stehen, ehe man den Fuß weitersetzt, und überlegt, wohin man wandert. So stehen wir nach dem ersten Reformationsfest und blicken in die Zukunft des Protestantismus und auf die Strecke, die er noch zu durchwandern hat. Wohl ist sie dunkel verhüllt, aber in diesem Dunkel glänzt nur desto heller die Bestimmung des Protestantismus, das Licht derWelt zu sein, und seine Mission wird er in derWelt erfüllen, wenn wir, seine Anhänger, nach den Worten des Apostels Paulus wirken: «So bestehet nun in der Freiheit.» «Ihr seid zur Freiheit berufen. Sehet zu, daß ihr durch die Freiheit dem Fleisch nicht Raum gebet; sondern durch die Liebe diene einer dem andern.»

346 Predigten desJahres 1901

8. Dezember Advent

[Morgenpredigt]|81¡ Sonntag,

1901,|82¡ [St.

Nicolai]

Phil. 2,5– 11: Die Menschwerdung desGeistigen|83¡

Die Adventszeit hat etwas Geheimnisvoll-Verschleiertes an sich, gerade wie die Natur, über der die Dezembernebel dahinziehen. Warum ist Christus Mensch geworden, warum ist das Göttliche in menschlicher Gestalt erschienen? So lautet das Adventsgeheimnis. Wohl können wir dieses Geheimnis nie ganz ergründen, aber die Grundgedanken desselben können wir ahnend erfassen. Christus mußte erscheinen unter den Menschen, damit sich das Göttliche in der Menschengestalt voll offenbarte und die göttliche Wahrheit in der Sprache der Menschen verkündet würde. Christus mußte auf Erden erscheinen, um in menschlicher Gestalt als leidender Mensch ein Erlösungswerk zu vollbringen, das in Gottes Plan lag, und dessen Geheimnis wir nicht ergründen können. Christus ist also Mensch geworden für uns! Aber dasist doch nur eine Seite desGeheimnisses. Sollte dieses Herab-

kommen auf die Erde, dieses Durchmachen eines ganzen Menschendaseins, nicht auch eine Bedeutung für Christus selbst, für ihn persönlich gehabt haben? War dieses Menschenleben, das er annahm, nur eine Hülle, die er über sich warf unddurch die er seine himmlische Herrlichkeit verdeckte? Daß er des Kindes Unschuld erlebte, daß er dann versucht ward, daß er wirkte, daß er stritt, daß er litt – berührte denn das alles sein eigenes, innerstes Wesen nicht? Wir müssen sagen, das Menschendasein hatte auch für Christus selbst eine Bedeutung. Auch für ihn selbst war es eine Notwendigkeit, daß er Mensch wurde. Welches diese Notwendigkeit war, das führt der Apostel Paulus in denVersen aus, die wir soeben verlesen haben. Wir stehen damit auf einem hohen Gipfel, wo derBlick desGlaubens sich in dieUnendlichkeit derZeiten verliert. Christus, das Geistwesen, war durch Gott von jeher zu göttlicher Herrlichkeit bestimmt. Er sollte Herr und Helfer im Reiche des Geistes 81 [Im Kirchenboten erfahren wir, daß Schweitzer am Morgen in St. Nicolai gepredigt hat.]

82 [R] Wiederholt 26. Dezember 1920 St. Nicolai.

83 [Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war, welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er’s nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden, er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zumTode, ja zumTode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes, des Vaters.]

Die Menschwerdung des Geistigen

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sein. Aber dieses Gott-Gleichsein war etwas, das er sich nicht erworben hatte, etwas, das ihm zugefallen war, fast wie ein Raub, wie der Apostel sagt, weil Christus sich diese Würde selbst persönlich noch nicht verdient hatte. Und deswegen durfte er diese göttliche Herrlichkeit nicht behalten, alshätte er sie an sich gerissen wie ein Räuber seine Beute festhält, sondern er mußte sie erwerben und verdienen. Darum entäußerte er sich dieser Herrlichkeit, nahm Knechtsgestalt an, ward ein Mensch, erniedrigte sich selbst, ward versucht, bewährte sich im Gehorsam bis zumTode. Als sein geistiges Wesen nach dieser irdischen Laufbahn wieder zu seinem Ursprung zurückkehrte, da hatte es seine Bestimmung bewährt, Herr und Helfer im Reiche des Geistes zu sein. Jetzt nahm Christus von der göttlichen Herrlichkeit, die ihm nach desVaters Ratschluß zukam, Besitz. Es war nicht mehr etwas Unerworbenes, sondern es gehörte ihm, weil er es sich in seinem irdischen Dasein erkämpft hatte. Mit einem Wort: Christus, das Geistwesen, mußte Mensch werden, um sich zu bewähren. Das ist das Geheimnis seines Menschendaseins. – Ein Adventsgeheimnis? Das Geheimnis desMenschendaseins Christi, seiner Menschwerdung, sollte das nicht das Geheimnis der Menschwerdung, des Menschendaseins überhaupt erklären? Birgt nicht dasMenschendasein überhaupt ein Rätsel? Wenn uns nicht die gewohnte Alltäglichkeit dafür abgestumpft hätte, könnten wir keinem Menschenwesen begegnen, ohne daß diese Begegnung für uns die Frage bärge: Was bedeutet denn dieses Wesen? Welchen Zweck hat seine Existenz? Da sehen wir ein Kind: Es lächelt, es spielt, esweint; aber dieses Kind, in dem, wases tut, dasist nicht es selbst, sondern dieses «esselbst», dasist ein geistiges Wesen, dasin ihm schlummert, das an dieses Menschendasein gebunden ist, und das man manchmal in dem träumenden Blick desKindes zu erfassen glaubt. Da sehen wir die Menschen um uns her, wie sie geschäftig hin und her eilen, wie sie in ihrer Beschäftigung leben, Erfolg haben, Mißerfolg haben, glücklich sind, unglücklich sind. Aber dieses Wesen, welches uns ganz in seiner Beschäftigung und in dem, was es tut und erlebt, aufzugehen scheint, es ist nicht es selbst. Hinter dem Menschen, den wir mit den Augen sehen, dessen Worte wir hören, steht noch ein anderes Wesen, geistiger Art, unaussprechlich, unausforschlich – und das erst ist er selbst. Wir treten an ein Krankenlager, wir sehen eine abgehärmte, durch Leiden ermattete Gestalt, wir hören Seufzer und Klagen – aber in diesem kranken Menschen lebt ein Wesen, welches nicht leidet, welches nicht seufzt, welches nicht mit an derVergänglichkeit teilhat, – und das ist sein wahres Wesen, er selbst. Wenn wir in Stunden der Sammlung uns selbst betrachten, alles überlegen, was unsere Person ausmacht, unsere Wünsche, unsere Hoff-

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nungen, unsere Schwächen, unsere Freude, unser Leid, was wir tun, waswir erleben: Geschieht es uns da nicht manchmal, daß wir uns selbst fremd werden, daß wir in allem dem uns vorkommen wie eine fremde Person, daß uns einWesen in uns offenbar wird, das zwar mit dieser Person zusammengehört, und doch nicht in ihr aufgeht? Dann kommen diese Stunden unendlichen Heimwehs, die uns in den glücklichsten und in den unglücklichsten Stunden unseres Lebens überraschen, wo Glück und Traurigkeit ineinander übergehen! Man fragt sich, warum im Glück eine Sehnsucht aufsteigt, man fragt sich, wie einem in der Traurigkeit ein Gefühl des Friedens und der Herzensstille überkommt. Es ist das Heimweh nach der Unendlichkeit, das Heimweh nach etwas, dasman nicht kennt und nicht aussprechen kann, das Heimweh nach uns selbst. Es sind die Augenblicke, wo die Saiten unseres Wesens bis in den innersten Grund unserer Existenz erzittern und da einen Ton von sich geben, den wir selten vernehmen, wie ein fernes, wundersames Glockengeläute: Es ist derTon unserer Seele – unserer selbst. Wastut aber dieses «wir selbst» in dieser Welt? Wasbedeutet das, daß eine Seele an ein Menschendasein gebunden ist? Die Seele ist geistig, das Menschendasein irdisch; die Seele ist ungeworden, das Menschendasein geworden; die Seele ist unvergänglich, dasMenschendasein vergänglich; die Seele ist rein, dasMenschendasein ist voller Versuchungen und Leidenschaften. Warum sind beide, die Seele und die irdische Persönlichkeit eins, zusammengekettet, ineinander verschlungen in diesem Menschendasein? Wir fragten vorhin, warum wurde Christus Mensch? Wir fragen jetzt, warum wird dasgeistige, ewige Wesen, dasinjedem irdischen Dasein verborgen liegt, Mensch? Die Menschwerdung des Geistigen – damit stehen wir vor der Frage unserer eigenen Existenz. Warum gehen unsterbliche Seelen in ein Menschendasein ein? Ich kann es mir nicht versagen, den tiefen Gedanken desKirchenvaters Origenes darüber wiederzugeben. Von den reinen Seelen, die Gott umgaben, wandten sich welche von ihm ab; sie entfremdeten sich ihm, sie fielen. Ehe er sie wieder annehmen kann, müssen sie geläutert werden. Das sind die Seelen, die Gott in ein Menschendasein bannt. In der Ferne von dem Reiche des Geistes, da geht ihnen die Sehnsucht auf nach der Reinheit und dem Frieden, den sie bei Gott besessen. In denVersuchungen dieses Lebens und in den Leiden werden sie geläutert. Sie sühnen, daß sie sich von Gott abgewandt haben. Wenn sie diese Sühne geleistet, wenn sie dieses irdische Dasein durchlebt – dann erlöst sie Gott ausdiesem Leibe und nimmt sie wieder zu sich. Das irdische Leben, die Menschwerdung der Seele, ist eine Strafe und Sühne. Tief ist dieser Gedanke – aber düster und traurig. Der Advent gibt uns aber einen andern Gedanken. Der Apostel Paulus sagt: Christus verließ die göttliche Herrlichkeit und trat in dasendliche Men-

Die Menschwerdung des Geistigen

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schendasein ein, um sich zu bewähren durch Gehorsam und Leiden. So gehen auch die ewigen Seelen aus der reinen, göttlichen Seinsweise in ein Menschendasein ein, um in diesem irdischen Leben sich zur Herrlichkeit und Reinheit zu bewähren, die ihnen Gott bestimmt hat. Das ist die Bedeutung eines jeden Menschendaseins. Deswegen ist jedes Menschendasein heilig, weil es die Bewährung und Prüfung einer unsterblichen Seele ist. Gewiß, es gibt noch gar viele Fragen, die durch diese Erklärung der Bedeutung des Daseins nicht gelöst sind. Warum scheiden Kinder, die kaum einige Stunden gelebt, wieder aus diesem Dasein? Warum sind andere durch ihre Geburt gerade in die Hände solcher Eltern geliefert, wo sie nur das Schlechte und das Böse lernen? So gibt es gar viele Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Und doch, wer einmal zur Erkenntnis gekommen, der Zweck des Menschenlebens ist die Bewährung der Seele, der kann alle andern Fragen ruhig beiseite lassen. Er steht der Frage nach dem Zweck des Menschendaseins, die auch den gedankenlosesten Menschen nicht in Ruhe läßt, nicht ratlos gegenüber, sondern er weiß, daß er die Wahrheit erfaßt hat, soweit sie ein Mensch erfassen kann. Denn diese Erkenntnis lehrt uns das Leben richtig würdigen und dann die hohe und heilige Pflicht jedes Menschen gegen sich selbst. Das Leben richtig würdigen. Wie wenig Menschen verstehen das eigentlich. Es ist merkwürdig, zu sagen: Die meisten Menschen sind mit dem Leben zerfallen. Das Leben hat nicht gehalten, was sie sich von ihm erwarteten. Sie wollten Erfolg, und es brachte Mißerfolg, sie trachteten nach Glück, und es brachte Unglück, sie trachteten nach Wohlsein, und überall finden sie Not und Krankheit. Dieser herbe Ernst, dieses Beschwerliche, das über dem Menschendasein liegt, der schreckt sie ab. Sie können sich mit dem Leben nicht befreunden. Sie unterdrücken die Fragen, die wir Menschen an das Dasein zu richten haben. Sie finden sich mit dem Leben ab wie mit einem stummen Reisegefährten, den man nicht los wird. Die Gedankenlosigkeit hilft ihnen über dasDasein hinweg! Sie wollen sich selbst überreden, daß ihr Dasein in der Alltäglichkeit und in ihrem geschäftigen Tun aufgehe. Sie gleichen müden Soldaten, die in der Kolonne einhermarschieren, gedankenlos einen Fuß vor den andern setzen, ohne zu fragen, wohin es geht und was man mit ihnen vorhat. Welch ein Elend, welch eine Kraftlosigkeit, welch eine innere Müdigkeit liegt doch in dem Dasein so vieler Menschen, von denen man, weil man sie äußerlich sehr geschäftig sieht, sagt: Sie stehen mitten im Leben drin, während, wenn man in ihr Inneres sähe, man sagen müßte: Sie sind mit dem Leben fertig, denn sie wissen es nicht, was dieses Dasein für sie, für ihr innerstes, eigenes Wesen bedeutet. Aber wie ganz anders, lichtumflossen auch in den dunkelsten und traurigsten Momenten, steht dasDasein da für denjenigen, der im Glau-

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ben die Bedeutung des Menschenlebens ahnend ergreift. Was ist das doch für einTrost und eine Kraft, daß man sich sagt: Das Dasein, dasich hier auf derWelt durchmache, das ist nicht eine zwecklose Reihenfolge blinder Ereignisse, sondern dieses Leben ist mir gesetzt, daß sich dasunvergängliche Wesen, dasin mir wohnt, meine Seele, bewähre und würdig mache der Reinheit und Seligkeit, die ihr Gott im Reiche des Geistes bestimmt hat. Dann wird man nicht mehr an dem Leben irre, wenn es mehr Leid bringt als Glück, sondern wir wissen, die Traurigkeit und das Leid gehören zum Leben, weil das Leben eine Bewährung ist. Die Bewährung aber geschieht nur im Leid. Man hat das Christentum verspottet, indem man sagte, es zahle die Leute mit wertlosem Papiergeld aus, indem es sie auf ein zukünftiges Leben vertröste, wo es die, welche es hier schlecht haben, gut haben werden. So reden die Leute, die dasChristentum nur oberflächlich kennen. Für den wahren Christen ist aber die Unsterblichkeit nicht eine Vertröstung, sondern die Kraft, die uns alles überwinden läßt. Wie der Apostel Paulus im 2. Brief an die Korinther so schön sagt: «Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängsten uns nicht; uns ist bange, aber wir verzagen nicht; wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen; wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um» [II Kor. 4,8 f.]. «Darum werden wir nicht müde; sondern, ob unser äußerlicher Mensch verdirbt, so wird doch der innerliche vonTage zuTage erneuert. Denn unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit» [II Kor. 4,16 f.]. Und doch, dieser höchste Zweck des Menschendaseins, daß nämlich das innere Wesen des Menschen, die Seele, sich in diesem Dasein zur Herrlichkeit bewähre, wird nicht erreicht, weil die Menschen gerade an der höchsten Pflicht vorübergehen: der höchsten Pflicht gegen sich selbst. Sie kommen nicht zur Erkenntnis ihrer selbst, sie geben ihrem inneren Wesen keinen Anteil an dem, was sie erleben. Ihre Seele schlummert träumend in ihnen wie ein Samenkorn in der Erde, die nicht durch den Pflug gelockert ist. Wie dort dann Sonnenschein und Regen darüber hinziehen, ohne es zum Leben und Wachstum zu erwecken, so auch in dem Leben der Menschen. Ihre Seele, ihr inwendiger Mensch, nimmt nicht zu, bewährt sich nicht, erneuert sich nicht, weil sie ihr Leben nicht mit-

erlebt. Diese Pflicht gegen sich selbst kennen so viele Menschen nicht. Nicht nur diejenigen, die gedankenlos dahinleben, die sich betäuben, damit ihre Seele nicht ausdemTraum zum Leben erwache, sondern auch viele ernste Menschen, weil sie die wahre, segensreiche Einsamkeit nicht kennen, wo der Mensch mit sich, mit Gott, mit der Unendlichkeit allein ist. Es ist, als hätten die Menschen Angst, mit sich allein zu sein, und deswegen flüchten sie sich vor sich selbst in das Getriebe der Arbeit, in

Die Menschwerdung des Geistigen

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die Tätigkeit, in die Unterhaltung mit andern Menschen. Wie viele menschliche Freundschaften entspringen keinem andern Bedürfnis, als diesem schweigenden Alleinsein mit sich selbst zu entgehen. Und doch, gerade unser Herr hat uns dasBeispiel dieses gesegneten Alleinseins mit sich selbst gegeben. Wenn je ein Mensch für die andern gelebt hat, wenn je einer mitten in der Tätigkeit drinstand, so war er es. Aber wie oft lesen wir im Testament, daß er sich aus dieser Tätigkeit auf eine Stunde zurückzieht, um sich zu sammeln, um mit sich selbst allein zu sein. Aber unter den Menschen, wie viele gibt es, die dieses Alleinsein mit sich und Gott zum ersten Mal erleben, wenn sie in einem großen Unglück oder auf dem Krankenlager sind und dort nun plötzlich erfahren, wie sie doch trotz alles Freundeszuspruchs allein sind, ganz allein. Und wie schwer wird ihnen das, bis sie verstehen, warum Gott sie dieses Alleinsein lehrt – und bis es ihnen zum Segen wird und ihnen in jenen schweren Stunden die Bestimmung des Daseins aufgeht. So kann auch ein Mensch nur dann segensvoll sein Dasein durchleben, wenn er sich in dem geschäftigen Alltagsgetriebe Stunden erübrigt, wo er bei sich selbst Einkehr hält, wo er sich wie ein Mensch, der eine lange Strecke wandelt, zur Dämmerstunde auf den Meilenstein setzt, einen Augenblick verschnauft und sich fragt: Wohin geht denn der Weg, warum wandle ich ihn? Diese gesegnete Dämmerzeit, das ist die Adventszeit. Es liegt eine unaussprechliche Weihe über dieser Zeit, eine Weihe, der sich kein Mensch entziehen kann: die Weihe des Geheimnisses der Menschwerdung Christi. Diese weihevolle Stimmung bereitet uns, über das Geheimnis unseres eigenen Daseins nachzudenken, mit uns selbst ins reine zu kommen. Möge Gott dieses Nachdenken an allen segnen, an den Freudigen und an denTraurigen, an den Gesunden, die tätig im Leben drin stehn, und an den Kranken und Unglücklichen, die er lehrt, was es heißt, einsam sein. Möge er uns alle zur Erkenntnis führen, daß, was wir hier leben, das leben wir zur Bewährung und zum Erwerb der unvergänglichen Herrlichkeit, die er uns bestimmt hat. Das sei die Adventsbetrachtung eines jeden mit sich selbst, die wir aus dieser Kirche mithinausnehmen.

352 Predigten desJahres 1901

Nachmittagspredigt Sonntag, 15. Dezember 1901, St. Nicolai 3. Advent

Lk. 3,4: Bereitet denWeg desHerrn und machet seine Steige richtig!

Die Adventszeit ist die Vorbereitungszeit auf Weihnachten. Wir sollen da unser Herz bereiten, daß es gesegnete Weihnacht feiert, wir sollen es weiten und öffnen, daß der Herr darin einziehen kann. Aber noch in einem andern Sinne ist die Adventszeit Vorbereitungszeit. Sie mahnt nicht nur: Bereitet euer Herz, sondern sie selbst arbeitet an unserm Gemüt ohne unser Zutun. Sie weckt die Menschen ausihrem gleichgültigen Dahinleben auf. Es muß ein Mensch schon tief gefallen sein, daß er nicht mehr spürt, wie die Adventszeit und das kommende Weihnachtsfest an seinem Herzen arbeiten. Das Beste, was wir in uns tragen, das kommt in diesen Tagen an die Oberfläche unseres Gemüts. Kindheitserinnerungen wachen in uns auf. Mit diesem Fest, mit seinen Liedern, mit seinem Lichterglanz steht wieder unser Kindheitsglück, unsere Kindheitsunschuld lebendig vor uns – eine freudige Wehmut. Kein Mensch kann ihr entrinnen, jeden erreicht sie. Sie kommt alsMah-

nerin.

Da steht einer im Glück, im Erfolg drin. Er hat es sich eingeredet, daß dasWohlleben die Erfüllung des Daseins sei, und denkt, mit sentimentalen Kindheitsträumen fertig zu sein. Aber zur Advents- und Weihnachtszeit, da kommen diese Kindheitsträume, sie zaubern ihm ein längst entschwundenes Glück und einen verlorenen Frieden vor. Sie lassen sich nicht abweisen, sondern sie zeigen ihm, daß das, was er Glück nennt, keine Befriedigung gibt. Er fühlt eine Leere und eine Öde. Eine Sehnsucht nach wahrem Glück ergreift ihn. Für andere kommt sie alsWarnerin. Sie sind herausgerissen aus ihrer Familie, ausihrem Dorf und hinausgeschleudert in dasLeben der Großstadt. Sie kommen in das Getriebe hinein. Die Versuchungen umgeben sie. So werden sie mitgeführt von dem großen Strom. Es legt sich wie ein Schleier auf ihre Erinnerungen, und sie stehen im Begriff, ohne sich selbst davon Rechenschaft zu geben, in diesem Strudel unterzugehen, derVersuchung zu erliegen. Aber datreten mit derAdvents- und Weihnachtszeit die Erinnerungen an die Kindheit warnend vor sie hin – ihre Kirche, wo sie als Kinder gewesen, wo sie konfirmiert, steht vor ihnen, und es kommt ihnen zu Bewußtsein, daß sie schon lange nicht mehr den Sonntag gehalten, schon lange nicht mehr in der Kirche gewesen, schon lange keine Predigt gehört. Sie haben es bis jetzt nicht vermißt, aber jetzt, gerade in dieser Zeit, empfinden sie das Bedürfnis und die Sehnsucht danach.

Bereitet den Wegdes Herrn

353

Ändern wieder kommt die Adventszeit alsTrösterin. Sie sind hinausgestoßen ins Leben. Sie dienen fremden Menschen. Sie fühlen sich einsam. Gar gering ist die Liebe, die sie erfahren. Ihr Herz krampft sich zusammen, es will sich verbittern, es will kalt werden. Aber da kommt die Advents- undWeihnachtszeit und erleuchtet und erhellt dieses einsame, kalte Herz. Sie umgibt es mit allem, was seiner Erinnerung heilig ist, und spricht zu ihm: Verzage nicht, hoffe nur. In wie manches Magdszimmer, zu wie manchem Vereinsamten kommt so die Adventszeit als Trösterin und nimmt die Bitterkeit von dem Herzen. So bereitet die Adventszeit von selbst den Weg des Herrn zu den Menschenherzen. Darum darf sie von uns verlangen, daß wir selbst uns bereiten. Denn sonst verfliegt dieser Augenblick der Rührung, und das Weihnachtsfest ist an uns ohne bleibenden Segen vorübergegangen. Wie aber bereiten wir dem Herrn denWeg zu unserm Herzen? Durch rechte Dankbarkeit und rechte Traurigkeit. Durch rechte Dankbarkeit. DasWeihnachtsfest ist das Dankesfest für dasKommen unseres Herrn auf diese Welt und für die geistige Gabe, die uns Gott durch ihn geschenkt hat. Wie kann aber ein Herz Hosianna singen, das nicht dankbar gestimmt ist? Wie es begreifen, daß wir von Herzen Gott danken für eine geistige Gabe, die er vor bald zwei Jahrtausenden derWelt geschenkt hat, wenn es nicht hat danken lernen für das, wases selbst von Gott erfahren, waser für uns, im Leben eines jeden unter uns, tut? Wer nicht für irdische Gabe zu danken versteht, der versteht auch nicht für himmlische zu danken. Wir müssen unser Herz danken lehren, denn von Natur sind die Menschen so, daß sie sich fragen: Wofür soll denn ich Gott danken? Wir meinen immer, es geht uns nicht gut genug, daß wir Grund hätten, zu danken, und deshalb warten wir immer, bis wir ganz glücklich sind – und je besser es den Menschen geht, desto weniger danken sie Gott. Und doch, jeder Mensch, und ist er noch so unglücklich, hat Grund, Gott zu danken, denn in jedem Menschendasein offenbart sich Gottes Liebe. Sind es doch gerade die, von denen die Menschen sagen: Sie sind unglücklich, sie haben es schlecht, die uns dasBeispiel des Dankens geben und uns beschämen! Wer einmal tiefer in das Menschendasein geblickt, der merkt, daß die Menschen im Unglück danken lernen. In glücklichen Tagen, da nahmen sie alles als selbstverständlich von Gott hin, sie fragten nicht: Von wem kommt es? Aber wenn die unglücklichen Tage kommen, da lernen sie danken – danken auch für den geringsten Sonnenstrahl, der in ihr Zimmer scheint, denn nun wissen sie: Auch der Sonnenstrahl kommt von Gott. Ein solches dankbares Herz, das feiert recht Weihnachten. Es versteht zu danken für die geistige Gabe, es ist geöffnet, daß der Herr darin einziehe. Wo das gewöhnliche Menschenherz nur das Brausen desWindes und dasWehen des Sturmes vernimmt, da hört das dankbare Herz die

354 Predigten desJahres 1901

Engel in den Lüften singen: «Ehre sei Gott in der Höhe» [Lk. 2,14] – und stimmt froh mit ein: «Er ist auf Erden kommen arm, daß er unser sich erbarm und in dem Himmel mache reich und seinen lieben Engeln gleich. Halleluja!»|84¡

Bereitet ist das dankbare Herz: bereitet aber auch das trostbedürftige Herz. Ich denke an die Armen, an die Kranken, an die Elenden und an dieVerlassenen in dieser Zeit. Es gibt gar viele, viele, die traurig und unglücklich demWeihnachtsfest entgegensehen. Man findet sie in jedem Haus. Das sind die, welchen dasWeihnachtsfest traurige Erinnerungen mit sich bringt, die sich sagen: Wie war es doch vor einem Jahr so ganz anders, als der undjener noch unter uns war! Da sind die Kranken, die auf dasLager gefesselt dem Fest entgegensehen und sich sagen: Wie war es doch ganz anders vor einem Jahr, als ich herumgehen konnte und mich mit den andern freuen durfte. Und nun sollen gerade diese Herzen bereitet sein zumWeihnachtsfest? Freilich, Unglück undTraurigkeit tut es nicht, wenn sie dasHerz verbittern und verhärten. Dann geht dasWeihnachtsfest ergebnislos vorüber. Aber wenn Unglück undTraurigkeit dasHerz trostbedürftig machen, wenn sie in ihm dieses gläubige Sehnen erwecken nach einem Trost, nach einer Hilfe von oben, der über alles irdische Leid hinweghilft, dann ist das Herz bereitet, Weihnachten zu feiern, so herrlich und so schön, wie es noch nie keine gefeiert hat, denn dann senkt sich die geistige Gabe, der überweltliche Frieden, den der Herr uns durch seinen Sohn gesandt hat, in das bekümmerte Herz und erfüllt es mit Seligkeit – und es weiß dem Herrn besser zu danken alsjauchzende Kinder und glückliche Menschen. Wie schön steht dies in dem Adventslied «Wie soll ich dich empfangen?»:

«Was hat du unterlassen zu meinem Trost und Freud? Als Leib und Seele saßen in ihrem größten Leid, als mir dasReich genommen, da Fried und Freude lacht, da bist du, mein Heil, kommen und hast mich froh gemacht.»|85¡ Darum, wenn ihr mich fragt, wie sollen wir richtig Advent feiern, wenn ich euch sollte angeben, wie ihr das in den nächsten Tagen tun 84 [Martin Luther: Gelobet seist du,Jesus Christ, Str. 6.] 85 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 3.]

Weil ihr denn Kinder seid

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sollt, dann möchte ich sagen: Nehmt jeden Tag in dieser Adventszeit euer Gesangbuch zur Hand und lest darin für euch die schönen Adventslieder. Lest sie langsam und andächtig, daß euch dabei das Herz aufgeht, und wenn ihr Kranke oder Trostbedürftige um euch habt, dann gebt ihnen diese Adventslieder in die Hand oder lest sie ihnen vor. Denn diese Adventslieder sind eine Predigt für diese Zeit, schöner und ergreifender, als sie ein Mensch halten kann. Jeder findet darin, was er braucht, ob er freudig oder traurig ist, denn unsere frommen Dichter haben den Advent besungen in großer Freudigkeit und dann wieder aus Elend und Bekümmernis heraus. Darum wird es jedem so gehen, daß er bei einem Vers haltmacht und sagen wird: Das ist mein Vers, so ist es meinem Herzen zumute! Möge Gott geben, daß jeder von uns seinen Adventsvers finde und ihn bewahre in einem guten und feinen Herzen.

Nachmittagspredigt Sonntag, 25. Dezember, St. Nicolai, Weihnachtsfest der Sonntagsschule

Gal. 4,6: Weil ihr denn Kinder seid, hat Gott gesandt den Geist seines Sohnes in eure Herzen, der schreit: Abba, lieber Vater!

Es ist heute nachmittag das Weihnachtsfest der Sonntagsschule. Ich wende mich deshalb in der Predigt hauptsächlich an die Kinder und möchte ihnen recht begreiflich machen, wie diese Weihnachtszeit gerade für sie eine besonders gesegnete sein soll. In allen andern Religionen, nehmt dasJudentum, nehmt dasHeidentum, gilt das Kind nichts. Aber im Christentum, da steht es vorn dran. Unser HerrJesus wird als ein Kindlein abgebildet. Er fühlte sich zu den Kindern hingezogen, und als er nach Jerusalem wanderte, segnete er und herzte er die Kindlein, die man ihm brachte. So ist es ganz seinem Geist entsprechend, daß unser schönstes und fröhlichstes christliches Fest, Weihnachten, ein Kinderfest ist. Warum fühlte denn Jesus sich so zu den Kindern hingezogen? Weil er sein ganzes Leben sich einen kindlichen Geist bewahrt hatte und durch diesen kindlichen Geist Gott in Wahrheit erkennen und verkündigen konnte. Dieser kindliche Geist, der offenbarte es ihm, daß Gott unser lieber Vater sei. Um ihn her disputierten die Weisen, ob es überhaupt einen Gott gebe. Er aber, der tiefer in die Dinge hineinschaute als sie, er wußte mehr als sie, weil sein kindlicher Geist ihm sagte: Es gibt einen Gott im Himmel. Um sich her sah er, wie die Menschen sich Gott vorstellten als ein zürnendes und drohendes Wesen, aber sein kindlicher Geist offenbarte ihm: Gott ist ein Vater. Sein Volk ehrte Gott durch

356

Predigten

desJahres 1901

Opfer und Zeremonien. Sein kindlicher Geist aber offenbarte ihm: Gott will unser Herz, er will, daß wir ihn lieben. So ist unsere ganze Religion in Christus geoffenbart, weil er einen kindlichen Geist besaß. So wieJesus mußjeder, der glauben will, einen kindlichen Geist besitzen, ob er nun vornehm oder arm, gelehrt oder ungelehrt ist. Daß Gott unser lieber Vater ist, das kann man anders nicht begreifen als durch kindlichen Geist, denn keine Weisheit, und wäre sie noch so tief, kann es einem begreiflich machen. Im Gegenteil, die Erwachsenen, die hier um euch versammelt sind, können es euch bezeugen, und ihr selbst werdet es an euch erleben: Es wird euch, wenn ihr aus der Kindheit heraustretet, gar vieles begegnen, das euch den kindlichen Glauben an Gott anficht. Da kommt das ungöttliche Gerede und Lästern derWelt, da kommt das schlechte Beispiel, da kommen die Sorgen und Trübsale – und wohl dem, der in dem allem seinen kindlichen Glauben behält. Ihr kennt alle dasWort unseres Herrn: «Wer das Himmelreich nicht annimmt als ein Kind, der wird nimmermehr hineinkommen» [Lk. 18,17]. Ich möchte euch dieses Wort so deuten: Wer in seiner Kindheit, wo er durch Gottes Gnade einen kindlichen Geist besitzt, nicht von Herzen gläubig und fromm ist, dem wird es im späteren Leben schwer, ja fast unmöglich sein, zum friedvollen Glauben zu gelangen. Es gibt Personen, die von allen Leuten bewundert und glücklich gepriesen werden, weil man von ihnen sagt: Sie haben ihren kindlichen Glauben behalten. Und warum haben sie ihn behalten, warum wird ihnen der Glaube so leicht? Weil sie als Kinder von Herzen gläubig wurden und nun etwas besitzen, das ihnen niemand und nichts entreißen kann. So möchte ich auch, daß ihr einmal zu diesen Glücklichen gehört, daß ihr als Kinder einen Schatz sammelt in eurem Herzen, der euch aushält euer ganzes Leben. Sammelt in die Scheunen. Ihr seid groß genug, um mich zu verstehen, wenn ich euch sage: Benützt eure Kinderzeit, benützt sie, um von Herzen gläubig zu werden, denn sie kommt nie wieder. Ihr seid auch ernst genug, um es zu begreifen, denn ihr geht in den Konfirmandenunterricht, um im Glauben gelehrt zu werden. Heute, am Weihnachtsfest, da werdet ihr von den Erwachsenen beneidet. Was gäben sie darum, wenn sie wieder als Kinder Weihnachten feiern könnten! Nicht um der Gaben willen, sondern um wieder mit kindlichem Gemüt sich an der Güte Gottes freuen zu können. Wie mancher denkt in diesen Tagen mit Freuden und mit Sehnsucht an dieWeihnachtszeit seiner Kindheit zurück! So wird es auch euch einst ergehen. Es wird in euch einst ein Verlangen nach der Weihnachten der Kinderzeit aufsteigen, ihr werdet eine Sehnsucht empfinden nach dieser Zeit, in der ihr jetzt steht – und sie wird nicht zurückkehren. Darum schafft, daß ihr sie jetzt recht ausnützt. Tut nichts in diesen Tagen, was euch oder euren Eltern die Weih-

Siehe, ich stehe vorder Tür

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nachtsfeier trüben könnte. Bedenkt, es sind heilige Tage für euch. Öffnet Gott euer Herz. Nehmt einen kindlichen, freudigen Glauben an. Werdet fromm, dann habt ihr einen bleibenden Schatz in eurem Herzen im Vergleich zu dem alle irdische Weihnachtsgabe nur ein vergängliches Sinnbild ist. Möge es wahr werden an euch, das Wort des Apostels: «Weil ihr denn Kinder seid, hat Gott gesandt den Geist seines Sohnes in eure Herzen, der schreit: Abba, lieber Vater!»

Morgenpredigt Sonntag, 29. Dezember 1901, St. Nicolai

Apk. 3,20: Siehe, ich stehe vor derTür und klopfe an. Sojemand meine Stimme hören wird und dieTür auftun, zu dem werde ich eingehen und dasAbendmahl mit ihm halten und er mit mir

Was für einen Charakter trägt eigentlich dieser Sonntag? Er liegt mitten innen zwischen Weihnachten und Neujahr, zwei Festen, die ganz voneinander verschieden sind, ja, einander widersprechen. Das Weihnachtsfest, der Tag, wo alles sich freut, liegt hinter uns, dasJahresende, wojeder, auch derjenige, den die Menschen glücklich nennen, sich der traurigen Gedanken nicht erwehren kann. Der eine sieht die Rechnungen und Ausgaben durch und fragt sich: Wird’s reichen? Wie wird’s im nächsten Jahr gehen? Dunkel und schwer wälzt sich die Sorgenlast auf sein Herz. Für den andern kommen die traurigen Erinnerungen an das, was ihm dieses Jahr, dasnun in der Ewigkeit versinkt, an Freude, Glück und Friede mitgenommen hat, ohne daß es das nächste Jahr wiederbringen kann. Da sind die Kranken, die die Schwelle des kommenden Jahres zu überschreiten sich anschicken und dabei an das unbekannte Jahr die Frage stellen, ob es ihnen denn Gesundheit und frischen Mut wiederbringt: Und es naht stumm und gibt keine Antwort. Wer kann sie denn alle aufzählen, die trüben Gedanken und Sorgen, die die Menschen beim Herannahen desJahresendes in ihrer Brust bewegen, und das alles, nachdem dieWeihnachtslichter kaum verlöscht sind. Wie reimt sich denn diese Aufeinanderfolge zusammen? «Les extrèmes se touchent» – «die Gegensätze berühren sich», würde derWeltwitz sagen. Wir aber fragen: Hat es nicht einen tiefen Sinn, daß diese zwei Tage so eng aufeinanderfolgen? Zu der Weihnachtszeit klopft die Freude an unsere Herzenstür, dann, gleich darauf, beim Ablauf desJahres, kommt die Sorge und Unruhe und klopft an die Herzenstür. Das Klopfen ist beidemal verschieden – und doch, es ist dieselbe Hand, die anklopft: «Siehe, ich stehe vor

358 Predigten desJahres

1901

der Tür und klopfe an», ich, dein Herr und Heiland. Derselbe Gast zur Freude, derselbe Gast zurTrübsal. Und doch, wie viele Menschen erkennen sein Pochen nicht. Wohl fühlen sie, wie alles auf sie einstürmt, wohl fühlen sie sich unruhig und aufgeregt, sie merken, es rüttelt etwas an der Herzenstür, aber daß es der Herr ist, merken sie nicht. Es ist ihnen, wie man sich manchmal fragt, wenn am Herbstabend der Sturm das Haus umbraust und an der Türe rüttelt: Hat niemand geklopft? Nein, sagt man, es war der Sturm, und man schaut nicht nach. Und wer weiß, vielleicht hat im Sturm ein Gast an dasHaus gepocht, und ging dann weiter. So suchen viele Menschen in diesen Tagen, ihr unruhiges Herz zu beruhigen. Sei ruhig, sagen sie zu ihm, es sind die Sturmtage des Lebens, aber wenn das neue Jahr seine Sonne scheinen läßt, dann ist’s vorüber, dann gewinnt wieder alles ein anderes Ansehen. So ist für viele dasJahresende nur ein schwer zu überstehender Augenblick, den man eben aushalten muß, alle Erlebnisse eines ganzen Jahres dringen auf sie ein; aber daß der Herr bei ihnen Einlaß begehrte, daihr Herz voll Sorge und Unruhe war, das haben sie nicht bemerkt – und so ist er denn weitergegangen, und sie müssen allein die Schwelle des neuen Jahres überschreiten.

Aber wer hinhört, der hört nicht nur den Sorgensturm, der das Herz unruhig macht, sondern er vernimmt ein Klopfen und eine Stimme: Brauchst du denn niemand um deinJahr abzuschließen? Wirst du allein fertig? Kannst du deine Last allein tragen? Willst du nicht dein Herz jemand ausschütten mit aller Verbitterung, mit allem Groll, mit aller Hoffnungslosigkeit, die es erfüllen? Brauchst du keinen, der dir die ganze Sündenschuld eines ganzen Jahres vom Herzen nehme, der dich von deinen Gedanken undVorwürfen, über die du mit niemand sprechen kannst, befreie, der dir Vergebung und Verzeihung bietet, der dir als herrlichsten Neujahrswunsch sagt: Gehe hin, «deine Sünden sind dir vergeben» [Mt. 9,2]? Brauchst du wirklich niemand? Glücklich, wer die fragende Stimme hört und die Herzenstür aufmacht: Es bedarf nichts weiter, nur aufmachen: «So jemand meine Stimme hören wird und dieTür auftun, zu dem will ich eingehen und dasAbendmahl mit ihm halten under mit mir.» Das Abendmahl mit ihm halten! Wasbedeutet das? Es war am letzten Tag, daer bei ihnen war. Seine Jünger waren tief betrübt, und voll Sorge blickten sie in die Zukunft ohne ihn, wo sie nur die drei Worte lasen: Vereinsamung, Sorge und Kampf. Und er nötigte sie, mit ihm zuTische zu sitzen, und statt Worte der Trauer mit ihnen zu reden, sprach er vor allem mit ihnen den Dankesspruch an den himmlischen Vater: «Er nahm dasBrot, dankte, brach es und gab es ihnen und desgleichen auch den Kelch, dankte, gab ihnen den»– heißt es in der Bibel [Mt. 26,26 f.]. Und wenn er ihnen darauf in dem Gleichniswort von seinem Leib und

Siehe, ich stehe

vorder Tür

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seinem Blut das Geheimnis der Sündenvergebung ausspricht, dann will er sie nicht so sehr an das erinnern, was ihm bevorsteht, und was sie mit Grauen erleben werden, sondern sie sollen bei diesem letzten Mahl, wie sie für dasAlltäglichste danken lernen, auch für die Gnade Gottes in der Sündenvergebung danken lernen. «Ich will das Abendmahl mit ihm halten», das heißt, ich will eine Dankesstunde mit ihm feiern, wo er mit mir Gott für alles danken soll, was er von ihm empfängt, für die kleinsten Bedürfnisse und für die kostbarste geistige Gabe: Befreiung von Sünd und Schuld. Und zwar diese Dankesstunde will ich mit ihm halten gerade dann, wenn sein Herz unruhig ist, wenn Sorgen ihn umgeben, wenn er einer dunkeln Zukunft entgegengeht: Denn das ist das Mittel, stark, fest und getrost zu werden. Und deswegen klopft der Herr gerade in diesen Endtagen desJahres an unser Herz und fragt uns: Soll ich mit dir in deinem Herzen Abendmahl feiern, willst du, daß ich mit dir eine Dankesstunde abhalte? Man könnte fast lächeln über diesen Gegensatz. Wir verlangen nach jemand, der uns aufrichtet, tröstet in den trüben und sorgenvollen Gedanken, und nun heißt es: Dankt, wenn es euch am wenigsten ums Danken ist! Aber das ist gerade das übermenschlich Wahre, das Christliche, das unser Herr uns vorgelebt an dem Abend vor seinem Tod im Abendmahl! Dieses Danken ist sein Vermächtnis, die Zauberformel, die er seinen Jüngern mitgab, daß sie darin Kraft und Zuversicht schöpften. Und diese Zauberkraft, erprobt sie in diesen Tagen! Wenn es euch besonders schwer und sorgenvoll ums Herz wird, dann fangt an, Gott zu danken. Zwingt euch dazu. Euer Herz wird fragen: Warum, wofür denn danken? Es wird gleich mit den Klagen und Sorgen bei der Hand sein. Laßt es nicht zu Worte kommen, sondern zwingt es zum Danken. Fangt beim Gewöhnlichsten und Alleralltäglichsten an, bei dem, was Luther unter der Bitte um das tägliche Brot aufzählt. Und laßt nicht nach, wenn es daserste Mal nicht geht, versucht es zum zweiten und dann zum dritten Male, bis ihr es auf demWeg des Dankens habt. Dann werdet ihr plötzlich entdecken, was ihr alles dem Herrn zu danken habt, auch in diesem Jahr! Ihr werdet dann nicht bloß sehen, was er euch genommen, sondern was er euch erhalten und bewahrt hat. Man kann es dem Menschen nicht aufzählen, wofür er zu danken hat. Aber wer ernstlich Dankesstunde halten will, dem wird es das eigene Herz schon sagen, und wenn er anfängt, zu danken für das tägliche Brot, wird er zuletzt zum höchsten Dank gelangen: zum Dank für dieVergebung der Sünden. Dann aber werdet ihr die Zauberkraft des Dankens erfahren. Es wird euch gehen wie denJüngern zu Emmaus. Als einWanderer sich zu ihnen gesellte, während sie von ihrer Unruhe und Sorge redeten auf demWege, da erkannten sie nicht, daß es der Herr war. Als sie aber mit

360 Predigten desJahres 1901

ihm zu Tische saßen und gläubig die Hände falteten, während er das Brot unter Dankeswort brach, da wurden ihre Augen aufgetan, und sie erkannten, daß er der Herr war [Lk. 24,13– 31]. So ist ein Herz, das mit der Trübsal und mit den Sorgen Zwiesprache hält, mit Blindheit geschlagen, als begegnete ihm etwas Fremdes, wenn Gott ihm nicht nur Freude schickt. Aber das Herz, welches durch das Danken hindurchgeht, dem werden die Augen aufgetan und es erkennt in allem Gottes Fügung und Gottes Vaterwillen, auch in dem Leid und in derTrübsal. Darum haltet in diesen Tagen des zu Ende gehenden Jahres die Dankesstunde, daß die Augen eures Herzens aufgetan werden und ihr die Hand desHerrn faßt, um ausdem alten in dasneueJahr zu treten.

V. Predigten desJahres 1902

Nachmittagspredigt

1902|1¡

Phil. 3,12– 14: Nicht, daß ich’s schon ergriffen

habe|2¡

«Ihr sollt |v¡ollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist» [Mt. 5,48]. Das ist ein Wort, dasjedem Menschenherzen begreiflich ist. Denn die Sehnsucht nach dem Guten wohnt im Menschenherzen – und die Menschen können tun, wassie wollen – sie können sich betäuben durch ein leichtsinniges Leben, sie können lachen und spotten – die Sehnsucht nach dem Guten können sie nicht ertöten. So sagt dieses Wort: «Ihr sollt vollkommen sein» den Menschen ihre Bestimmung. Aber weil wir so fern sind, das zu sein, was dieses Wort verlangt, brennt es wie ein Feuer manchmal in unserer Seele; und wenn wir auf die Seite des Neuen Testamentes kommen, wo es steht, da möchten wir schnell umblättern, weil es uns an etwas erinnert, an das wir nicht gerne gemahnt sind. Nicht wahr, es gab in unserm Leben eine Zeit, wo wir so aus vollem Herzen heraus mit Zuversicht nach der Vollkommenheit strebten. So um die Konfirmation herum, da haben die Menschen Tage, wo sie sich des Morgens beim Erwachen sagen: Ich will heute leben, ohne zu sündigen; und wo man des Abends mit Seligkeit auf denTag zurückblickt, weil manweiß, daß er dem Guten geweiht war. Und doch: Wir sind erlahmt. Unser Leben gleicht einem Sommermorgen, wo die Sonne strahlend am wolkenlosen Himmel aufgeht – und dann wird er langsam weiß und verschleiert sich mit Wolken. Es kommt ein trüber, dumpfer Sommertag. So geht es oft gerade den hochherzigen Leuten. Eine der letzten russischen Kaiserinnen war eine deutsche Prinzessin von tiefem, frommem Gemüt. Als sie an den Hof kam, da stach ihr gütiges, freundliches Be1 [Die Angaben von Ort und Datum fehlen.] 2 [oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin. Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht, daß ich’s ergriffen habe. Eines aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, was da vorne ist, undjage – nach dem vorgesteckten Ziel, – nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu.]

362

Predigten

desJahres 1902

nehmen ab gegen das arglistige, gewissenlose, hartherzige Treiben dort. Nach ein paar Jahren war sie kalt und hartherzig geworden wie ihre Umgebung. Sie war erlahmt. Leo Tolstoi, der russische Schriftsteller, erzählt von einem reichen jungen Mann, der, als er in den zwanziger Jahren stand, mit reinen Augen in das Leben hinausblickte und nur einen Gedanken hatte: Ich will meine Gaben, meinen Reichtum benutzen, um die andern glücklich zu machen. Das soll mein Beruf sein. Aber als er weiter hinauskam, da erfaßte ihn das Getriebe. Er wurde in das selbstsüchtige, leichtsinnige Genußleben hineingezogen. Dann suchte er, sich wieder herauszuringen. Er fing, wie er sagte, eine neue Seite in dem Buch an, und dann, als er wieder gesunken war, noch einmal eine – und so mehrere Male, bis er es zuletzt aufgab und sich hintreiben ließ, wie es das Leben wollte. Haben wir nicht in unserm Leben auch schon mehrmals eine neue, weiße Seite aufgeschlagen – und dann, ehe sie beschrieben war, war sie schon mit Flecken beschmutzt? Denkt zurück in eurem Leben. Haben wir noch den Mut, einmal mehr eine neue Seite aufzuschlagen? Es gibt so viele Leute, die haben ihn nicht mehr. Sie haben sich darein ergeben. Sie haben sich mit dem Leben abgefunden und sich nun auf eine gewisse Ehrbarkeit und Gerechtigkeit eingerichtet. Sie sagen: Wir wollen unsere Pflicht tun, aber nach der Vervollkommnung, nach der Vollkommenheit zu streben, das ist ein Wahn. Ich tue das Mögliche, aber ich richte meinen Flug nicht höher, als mich die Flügel tragen. Wir dürfen nicht die Geheimnisse der Herzen unserer Mitmenschen erkennen wollen. Aber wenn man hineinschauen könnte, wenn man die Geschichte der Herzen erzählen könnte, wie ganz anders würden die Menschen, die um uns leben, vor uns stehen. Diese Leute, die jetzt so ruhig durchs Leben gehen, die alles nur praktisch anfassen, die sagen: Der Mensch hat keine höheren Ziele mehr, die höhnen, die spotten über alles Ideale, die vielleicht ein verworfenes und sündiges Leben führen – diese Menschen, die haben einst, als ihr Herz noch hoffnungsvoll und rein war, auch nach der Vollkommenheit gestrebt. Was müssen sie gekämpft und erlitten haben, bis sie zuletzt dahin kamen, das alles zu begraben, diese Regungen zu ertöten, das Leben durchzuleben ohne höheres Ziel! Wenn man so an die Geschichte des Herzens eines jeden Menschen denkt, dann überkommt einen ein Mitleid mit ihnen allen, ob arm, ob reich, Herrschaft oder Dienerschaft, vornehm oder gering. In der Wüste, da steigt vor den Karawanen zuweilen dasBild von einer feenhaften Oase mit schattigen Bäumen auf. Sie gehen darauf zu – aber die Oase bleibt gleich weit. Sie werden müde und sinken hin. Da kommt der Wüstensand und bedeckt sie langsam, während das Luftbild zerrinnt. Die Menschen gleichen dieser Karawane. Während das Ideal der Voll-

Nicht, daß ich’s schon ergriffen habe

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kommenheit, dem sie nachstreben, verbleicht, kommt der Wüstensand der täglichen Geschäfte, der täglichen Sorgen und der täglichen Sünden undgräbt sie ein. Es aufzugeben, dem Ideal der Vollkommenheit nachzustreben, das ist dasTraurigste, waseinem Menschen begegnen kann. Wer dieses Streben nicht mehr im Herzen trägt, ist geistig tot. Wie kann man aber nach der Vollendung streben, ohne matt zu werden, da man sieja doch nie erreicht? Nun seht, Paulus strebt immer danach und wird nicht matt. «Nicht als ob ich es schon ergriffen hätte, ich jage ihm aber nach, ob ich es ergreifen möchte, gleichwie ich von Christus ergriffen worden bin.» «Von Christus ergriffen worden bin!» Da liegt das Geheimnis. Wer von Christus ergriffen ist, der kann, der muß immer nach der Vollendung streben. Wer es aber nicht ist, der wird müde, der kann nicht! Was heißt dasnun: «Von Christus ergriffen sein?» Für gar viele Christen ist es eine Formel, eine Phrase. Es bedeutet aber, daß Christus unser Herz ergriffen hat, daß er mit seinem Geiste in unserem Herzen wohnt, es aufrichtet, es stärkt, es belebt. Wer das nicht in seinem Herzen erfahren hat, dem bleibt dasWort «Von Christus ergriffen sein» eine tote Formel. Warum bleibt nun so vielen dieses Wort eine tote Formel? Warum werden sie nicht ergriffen von Christus, ob sie auch sich danach sehnen? Weil sie nicht mit Christus verkehren, weil sie nicht mit ihm allein sind! Willst duvon ihm ergriffen werden, dann mußt du ihn zuerst ergreifen. Du mußt zu ihm kommen, wenn derTag zu Ende ist, und nun mit ihm sprechen, als redetest du zu dir selbst. Du mußt den Tag mit ihm betrachten, mit ihm dich erheben ausaller Zerstreuung, ausaller niedrigen Gesinnung, aus aller Kleinlichkeit und mit diesem besseren Selbst in dir Zwiesprache halten, gleichsam in einer höheren Welt leben, das Bild Christi vor deine Seele treten lassen, zu ihm beten um Vergebung und Stärkung, dann geht dir die höhere Bestimmung des Daseins auf, dann bekommst du Mut und Kraft für den kommenden Tag – und Freudigkeit.|3¡

Und wenn du so mit Christus dein Leben betrachtest, dann siehst du, wie all diese Sorgen, Mühen, Leiden, die wir sonst nicht verstehen, und in denen wir sonst im Leben untergehen, wie diese alle einen höheren Sinn haben: uns zur Vollkommenheit zu erziehen. Darum faßt nur derjenige das Leben recht auf, der es mit Christus betrachtet. Es kann kein Mensch seine Pflicht recht tun, der es nicht von diesem höheren Standpunkt ausbetrachtet. Ob du nun Magd bist oder Herrschaft, erhole dichjeden Abend von dem vergangenen Tag, indem du allein bist 3 [R] Diese Stunde braucht der Mensch.

364

Predigten

desJahres 1902

mit Christus, und stärke dich zum kommenden Tag. Dann wirst du dein Tagewerk verrichten in Sanftmut, Friede und Geduld, denn eine höhere Kraft wird dich stärken. Wer so, von Christus ergriffen, nach der Vollkommenheit trachtet, dem wird dann das Wort Jesu «Ihr sollt vollkommen sein», nicht nur eine Mahnung und eine Warnung, sondern auch eine Verheißung und einTrost sein: Ihr, die ihr hier strebt nach derVollkommenheit, ohne sie hier erreichen zu können, tröstet euch, werdet nicht matt! Ihr sollt vollkommen sein, wenn der Herr euch von diesem irdischen Platze zu sich heimruft. Dann werdet ihr erfunden werden, angetan mit der Vollkommenheit, die er selbst euch beilegen wird. Wenn ihr beim Vater sein werdet, so erfüllt sich das Wort: «Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.»

Nachmittagspredigt Sonntag, 26. Januar 1902, St. Nicolai

Ps. 139,1–12.23 f.: [Die Allwissenheit

Gottes]|4¡

Es gibt ein Wort, das einen gewaltig erfaßt. Dieses Wort heißt die Allwissenheit Gottes. Schon als Kinder, als wir dieses Wort zuerst vernahmen, da ging uns erst das richtige Ahnen der Größe Gottes auf. Es erschien uns unfaßbar, ein Wesen uns zu denken, in dem alles Wissen gegenwärtig sei. Und nun, wo wir größer geworden sind, hat denn da dieses Wort «Allwissenheit» etwas von seiner Größe für uns eingebüßt?

Nein, es steht nur majestätischer vor uns. Wenn wir bedenken, wie beschränkt dasWissen auch des gelehrtesten Menschen ist, wenn wir uns vorhalten, welche Grenzen dem menschlichen Wissen überhaupt gesetzt sind, wenn wir gewahr werden, wie unser Wissen durch dasVergessen versiegt, wie dasWasser in das Erdreich versickert, daß Dinge, die wir gewußt, die wir erlebt, nun für uns 4 [Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehest meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehest alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du Herr, nicht alles wissest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen. Wo soll ich hin gehen vor deinem Geist, undwo soll ich hin fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist duda. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muß die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch Finsternis nicht finster ist bei dir, und die Nacht leuchtet wie derTag, Finsternis ist wie das Licht. Erforsche mich Gott, und erfahre mein Herz; prüfe mich und erfahre, wie ich’s meine. Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.]

Die Allwissenheit

Gottes

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sind, als hätten wir sie nie erlebt – und hören dann dasWort «Allwissenheit», da ist es, als zuckte ein Blitz am schwarzen Himmel dahin, und wir erschauern. Die Menschen haben sich über Gottes Allwissenheit lustig machen wollen. Sie gedachten, sie zum alten Gerümpel zu werfen. Wie soll denn das denkbar sein, daß alles, was vorgeht auf der ganzen Welt, nun in diesem einen Wesen bewußt sei? Sie kamen und kritisierten, sie fanden, daß die Allwissenheit Gottes eine lächerliche Erfindung sei, oder es sei eine falsche Vorstellung von Gott. Aber wenn man nun alles dieses mit angehört hat, ja wenn man an der Allwissenheit Gottes dadurch irre geworden wäre, und träte nun abends ans Fenster und sieht das Sternenheer seine Bahn ziehen, diese Unendlichkeit der Welten, die sich hier nebeneinander bewegen, und wir fragen uns: Welcher Wille leitet denn diese Unendlichkeit? Wie hoch erhaben steht dann der Glaube an die Allwissenheit Gottes über allem kleinlichen, menschlichen Zweifel da! Oder wir nehmen unsern Psalm, dieses Hohelied auf die Allwissenheit Gottes zur Hand – tönt uns da nicht ausjedem Vers lebendig entgegen: Das ist wahrhaftig und

gewiß? Aber diese Allwissenheit Gottes ist nicht nur ein Glaubenssatz, etwas, das sich unserm Sinnen aufdrängt, sondern der Glaube an die Allwissenheit Gottes hat für uns selbst, für unser inneres Leben, für unsere Frömmigkeit eine tiefe Bedeutung. Und dies führt unser Psalm aus. Was heißt und bedeutet es denn für mich, daß Gott allwissend ist? Es bedeutet, daß Gott alle meine Handlungen und alle meine Gedanken kennt, daß mein Leben ganz vor ihm ausgebreitet liegt. Unser Leben ist aber darauf eingerichtet, daß eben unsere Gedanken und Handlungen nicht alle bekannt sind, daß die Leute nicht alles über uns wissen. Wer von uns müßte nicht erschrecken, wenn den Menschen um uns die Allwissenheit über uns verliehen würde, daß sie nun wüßten nicht nur alles unser Tun, sondern auch alles unser Denken. Könnte man sich denn eine größere Qual denken, als wenn die Menschen in uns lesen könnten wie in einem offenen Buch? Wäre das nicht schrecklich, wenn wir keinen Gedanken denken könnten, der nicht den andern sogleich bekannt wäre? Nun, das, was uns so schrecklich dünken würde – es ist wirklich der Fall. Zwar ist es kein Mensch, der so alles, alles von uns weiß, aber doch gibt esjemand: Gott. Vor ihm können wir kein Geheimnis haben. Was wir tun – und wenn es den Menschen verborgen ist, ihm ist es bekannt – und für ihn gibt es kein Vergessen. Was vor Jahren geschah, steht vor ihm, als wäre es heute. Was wir denken, was wir uns selber kaum einzugestehen wagen, die Menschen wissen es nicht, er aber weiß es. «Du verstehst meine Gedanken von ferne». «Es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht alles wissest.» Es liegt etwas in diesen Versen,

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das uns erbeben macht. Ich möchte euch hier gerade auf ein Wort hinweisen: «Du erkennst meine Gedanken von ferne.» Es gibt nichts Schwierigeres als den Kampf mit den eigenen Gedanken. Sie kommen über uns wie ein dunkles, mächtiges Heer. Wie schwach zeigen wir uns gerade da.Wir wissen, daß ein Gedanke schlecht ist, daß wir mit allen Kräften gegen ihn ankämpfen müssen, daß wir ihn von der Schwelle unseres Herzens abweisen müssen – und doch nehmen wir ihn auf und beherbergen ihn und meinen, es sei nicht Sünde, weil niemand darum weiß, weil er sich nicht in Worten und Taten kundgibt, sondern nur als verborgener Gedanke in uns lebt, und wir glauben, die Macht zu haben, ihn, wenn er uns gefährlich wird, abzutun und ausunserm Herzen zuvertreiben. Und doch, bedenken wir denn, daß einer, Gott, unsere Sünde sieht, auch wenn sie nur in Gedanken begangen! Bedenken wir, daß einer über unserm Kampfe mit unsern eigenen Gedanken wacht und die Sünde erkennt, auch wenn sie nicht ausgesprochen und getan ist! Bedenken wir genug, daß wir der Allwissenheit Gottes nicht entfliehen können? «Wo soll ich hingehen vor deinem Geist, und wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht?» Es sei aber ferne von uns, aus der Allwissenheit Gottes nur eine Art Schreckmittel machen zu wollen. Es liegt zwar ein furchtbarer Ernst darin. Gerade dieser furchtbare Ernst, der ist die Schuld, daß die Menschen gern die Allwissenheit Gottes als eine törichte Vorstellung ansehen oder in Gedankenlosigkeit nie daran denken möchten. Und doch, der göttliche Ernst ist nicht nur ein finsterer Abgrund, der uns erschaudern macht, sondern es leuchtet darin das Licht der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit. Ich sage, es liegt in der göttlichen Allwissenheit auch etwas Tröstliches. Er wacht über uns und unsere Gedanken; wir kämpfen den Kampf nicht allein, sondern er weiß darum. Sein Auge ruht auf uns. Er allein kann die Menschen beurteilen, weil er alles weiß. – Durch Gottes Allwissenheit allein wird die Ungerechtigkeit abgetan und die Versöhnung über dieWelt ausgegossen. Alles menschliche Urteil ist in höherem Maße ungerecht, denn es beruht nicht auf Wissen, sondern auf Schein und Mutmaßungen. Dieses Urteil ist falsch in gutem und in schlechtem Sinne. Sind wir nicht oft beschämt, wenn wir sehen, wie die Menschen, auch unsere nächsten Angehörigen, uns für besser halten, als wir sind, weil sie nur unsere Handlungen, das Äußere in unserem Leben, nicht aber auch die Gedanken unseres Herzens erkennen können. Aber auch wie ungerecht in dem schlechten Sinne sind die Urteile der Menschen. Sie halten sich nur an das, wasein Mensch begeht, aber seine Gesinnung kennen sie nicht, sie wissen nicht, was er gekämpft und gerungen mit sich selbst, bis er dahin kam, wo sie ihn verurteilen.

Die Allwissenheit

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Ich kann nie einen Bericht der Geschworenengerichte lesen in den Zeitungen, wo Zuchthaus und auch Todesstrafen von Menschen über Menschen verhängt werden, ohne ergriffen zu sein. Gewiß, menschliche Gerechtigkeit muß sein, die Tat muß gesühnt werden, aber dann fragt man sich, wenn wir nun die innersten Gedanken jenes Menschen kennten, wenn wir ausrechnen könnten, welchen Einflüssen er ausgesetzt war, was er durchgemacht, bis aus dem verdorbenen Herzen dieTat entsprang, um derentwillen er verurteilt wird – wo bleibt dann die Gerechtigkeit? Müßten wir uns nicht sagen, daß wir unter denselben Einflüssen auch so tief gesunken wären und ebenso schuldig daständen wie er? Da kommt uns wie eine Erlösung undVersöhnung der Glaube an die göttliche Allwissenheit, nach der wir alle gerichtet werden, an die ewige Gerechtigkeit, die über uns allen [waltet statt wandelt] und die menschliche Gerechtigkeit, der wir hier unterliegen, auslöscht. Gott, der nicht urteilt, was ein Mensch getan, sondern der seine Gesinnung kennt, der weiß, was ein Mensch erduldet und gekämpft, bis er in Sünde fiel, – und danach urteilt Gott, der durch sein Urteil die Verdammnis derWelt aufhebt, und den wunderbar tiefen Spruch zur Geltung bringt: «Dem Reinen ist alles rein» [Tit. 1,15]. Wie traurig stände es um die Menschenwelt, wenn nicht über dem menschlichen Urteil die Allwissenheit Gottes zu Gericht säße und die Wahrheit und Gerechtigkeit wahrte? Darum haben wir unsere Betrachtung auf die göttliche Allwissenheit gerichtet. Wir wollen daraus Ernst und Frieden schöpfen. Ernst, daß wir uns nicht durch eine menschliche Ehrbarkeit und Gerechtigkeit in den Schlaf wiegen lassen, daß wir nicht meinen, weil wir nun nicht zu den offenkundig Verworfenen gehören, wir seien nun auch wirklich ehrbar und gut, sondern daß wir auf die Gedanken unseres Herzens wachen, auf die geheimsten und dunkelsten, daß wir einen Kampf kämpfen gegen dasBöse in Gedanken, weil Gott in seiner Allwissenheit uns danach richten wird. Dann aber soll diese Allwissenheit Gottes uns auch zumTroste gereichen, indem sie uns, was uns auch begegnen möge, über das Urteil der Menschen innerlich hinweghebt und uns erlaubt, auch an den anderen, die der menschlichen Gerechtigkeit verfallen sind, nicht zu verzweifeln, denn wir wissen, es steht ein höherer Richter über ihnen, der in seiner Allwissenheit sie freispricht, wo wir Menschen «schuldig» sagen. So schließen wir unsere Betrachtung mit dem letzten Wort unseres Psalmes: «Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz; prüfe mich und erfahre, wie ich’s meine. Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.»

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Morgenpredigt Sonntag, 16. Februar

1902|5¡,

St. Nicolai

Mt. 13,12: Wer dahat, demwird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat Jesus beobachtete das Leben mit scharfem Blick. Was er dort bemerkte, dasfaßte er in einem Wort zusammen undwandte es auf dasGeistige an. Solcher Art ist das Wort: «Wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe, wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, das er hat.» Ein furchtbares Wort – und in unsern Ohren klingt es noch furchtbarer als den Zeitgenossen Jesu, denn unsere Zeit ist dazu angetan, den ganzen Ernst dieses Wortes zu Tage zu bringen. «Wer da hat, dem wird gegeben»: Das ist das eiserne Gesetz, nach dem die großen Geschäfte die kleinen aufzehren, und nach dem der Fabrikbetrieb das Handwerk ruiniert, denn bei dem einen ist Kapital, bei dem andern nicht. «Wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, das er hat»: Das ist das Gesetz, welches bei den Geschäftsstockungen und Handelskrisen sich bewährt. Die kleinen Webereien und Spinnereien müssen die Zahlungen einstellen, ihre Ware zu Schleuderpreisen hergeben. Die großen, gut fundierten Unternehmen aber überstehen die schwere Zeit, und wenn derAufschwung wiederkommt, heimsen sie doppelt ein, was sie eingebüßt, denn was die kleinen verloren, das strömt ihnen zu. So ist das Wort des Herrn ein furchtbares Wort. Er sagt es ruhig, ohne Bedauern, wie etwas, das man nicht ändern kann. Er sagt es nicht, weil es furchtbar ist, sondern weil es wahr ist, weil es auch auf dem geistigen Gebiete als Gesetz gilt wie in dem natürlichen Leben. Es gibt auch einen geistigen Bankrott. Er steht nicht in den Zeitungen, die Leute reden und tuscheln nicht davon, und doch – ist es nicht etwas Fürchterliches, sich sagen zu müssen, daß von den Menschen, mit denen wir tagtäglich zusammenkommen, soundso viele geistig bankrott sind: keinen Glauben, keine Hoffnung, keinen innerlichen Trost, keine innere Freudigkeit mehr haben, sondern seelisch und innerlich arm, bettelarm dahinleben. Um uns vor diesem Bankrott zu bewahren, darum sagt Jesus dieses Wort. Er will, daß wir darüber uns klar werden, ob wir denn an unserm Glauben einen wirklichen, innerlichen, wachsenden Besitz haben, oder ob wir nicht zu den Leuten zählen, die im Stillstand oder Rückschritt begriffen sind, die auf einen trügerischen geistigen Wohlstand hin leben und über Nacht geistig bankrott werden können. Denen, die wahrhaft Glauben haben, gibt das Leben immer noch etwas dazu. Den andern 5 [R] 17 X 21.Wiederholt Abendpredigt in St. Nicolai.

Werda hat, demwirdgegeben

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nimmt es ihn. Dieses Wort soll uns sagen: Ist denn der Glaube, den wir in der Schule und im Konfirmandenunterricht gelernt haben, unser innerliches Eigentum, unser eigener, innerlicher Reichtum geworden, oder gehören wir zu denjenigen, die seit ihrer Konfirmation zu ihrem Glauben nichts mehr hinzu erworben haben, die ruhig dahinleben zu können meinen mit dem, was sie dort mitgenommen haben, und nicht wissen, daß sie dem inneren Bankrott notwendig und unentrinnbar entgegengehen?|6¡

Es kommt früh oder spät, wenn siejung oder alt sind, aber es kommt. Einmal trifft etwas ein, ein Unglück, ein schwerer Schicksalsschlag, da wollen sie ihren Glauben hervorholen, sie wollen sich daran halten – und siehe, er ist von ihnen genommen. Plötzlich wird es ihnen klar: Gottes Hilfe, Gottes Liebe, Gottes Trost, Demütigung unter Gott, Hoffnung auf ihn, Glaube an die Unsterblichkeit und ein Wiedervereinigtwerden mit dem, was man verlor: Das alles zerbröckelt ihnen zwischen den Fingern, sie hören die Worte wohl, aber sie finden darin keinen Trost und keine Kraft. Sie sehen plötzlich, daß sie keinen Glauben hatten, daß das, was sie zu besitzen wähnten, nicht ihr inneres Herzenseigentum war, sondern etwas Anerlerntes, etwas Anhaftendes. Ich rede jetzt nicht von denen, die, wenn sie dies an sich bemerken, sich damit abfinden und sagen: Es wird auch so gehen, man kann auch ohne Glauben durchs Leben kommen, sondern ich denke an diejenigen Menschen, die über ihre plötzliche innere Armut erschreckt und verzweifelt sind. Ich denke an diejenigen, die es ahnen, daß man nur im Glauben den rechten Trost findet, die die andern darum bitten, man möchte ihnen im Glauben zureden und sie trösten, und denen man doch nichts geben kann, weil eben alles von ihnen genommen ist. Man redet ihnen von dem unerforschlichen Ratschluß Gottes, unter den wir unsbeugen sollen, aber sie bäumen sich auf gegen einen solchen unerforschlichen Willen; es erscheint ihnen wie Selbstbetrug und Selbstbetäubung.|7¡ Man redet ihnen von der Vaterliebe Gottes, die auch im Schwersten uns nicht verläßt, und diese Vaterliebe Gottes scheint ihnen Hohn. Sie wollen sich festklammern an die Hoffnung der Unsterblichkeit, aber weil sie diese Hoffnung nicht lebendig im Herzen tragen, versuchen sie vergebens, sich daran zu klammern, sie entgleitet ihren Händen. So möchten sie in der schweren Stunde glauben, aber das Herz kann es nicht, es hat nur Auflehnung und Trotz. Dabei sehen sie andere, die durch ebenso schweres, ja vielleicht noch schwereres Schicksal gefaßt und ergeben durchgegangen sind. Ja, diese haben ihren Glauben behalten, sagen sie, und deswegen haben sie solch eine innere Kraft. Jeder von euch kennt solche Leute, solche bedauerns6 [R] Denen, die wahrhaft Glauben haben, gibt das Leben immer noch etwas dazu. 7 [R] Warum gerade mir?

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werte und beklagenswerte, die nach Trost suchen und keinen finden, und wer es dann versucht hat, einer solchen Person denTrost des Glaubens zuzusprechen, wobei alle Worte wieder leer und unverrichteter Dinge zurückkamen, der hat es erfahren müssen, wie schrecklich wahr dasWort Jesu ist: «Wer da nicht hat, dem wird auch noch genommen, was er hat.» Und doch, es liegt auch wieder ein Trost in diesem Wort. Ist es denn nicht auch ein Gesetz, daß durch den Zusammenbruch erst der falsche Scheinbesitz vernichtet werden muß, daß nun eine neue, gesunde Existenz, ein neuer Erwerb, ein neuer, wahrer Wohlstand beginnen kann? Wir sehen esja im Leben, wie ein solcher Zusammenbruch ein Segen ist für manchen Menschen, indem er ihn zur Besinnung bringt über seine wahre Lage, daß er nun anfängt, zuarbeiten undselbständig zuwerden. Nicht anders ist es auf geistigem Gebiet. Viele Menschen müssen durch diesen innerlichen Bankrott hindurch, sie müssen erfahren, daß das, was sie für ihren Glauben hielten, gar kein wirklicher innerlicher Glaube ist, sondern daß sie sich ihren Glauben erst erringen und erbeten müssen; sie müssen innerlich arm werden, damit sie erst sehen, was für ein Reichtum der Glaube ist, der ihnen eine Gewohnheitssache war. Wer diese geistige Armut empfindet, der ist nicht verloren; wenn er auch schwer ringen muß, wenn er auch für den Augenblick durch das dunkle Tal der Verzweiflung hindurch muß – er ist, weil er zu diesem Bewußtsein seiner geistigen Armut gekommen ist, auf dem Weg zum wahren, innerlichen Glauben. Des sind wir gewiß. Gott wird sie dazu leiten. Es wird ihnen aufgehen, wie die Morgensonne das Dunkel zerbricht. Hat doch unser Herr Jesus gesagt als erste der Seligpreisungen: «Selig sind, die da geistig arm sind, denn dasHimmelreich ist ihr»; und gleich darauf: «Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden» [Mt. 5,3 f.]. Daswill doch heißen: Nicht verloren sind die, welche in tiefstem Leid ihre geistige Armut erst erfahren müssen, auch wenn sie noch so niedergeschlagen und betrübt sind, denn sie sind auf demWege zum innerlichen Glauben, zur Seligkeit. Sie hungern und dürsten nach lebendigem Brot und nach lebendigem Wasser – und sie sollen satt werden. Gehören wir zu denen, die erst noch durch diese innere geistige Armut hindurch müssen, ehe sie zum wahren, lebendigen Herzensglauben gelangen? Das weiß keiner von uns. Gewiß, es ist uns ernst mit unserm Glauben, wir fühlen, es ist das einzige, das uns Halt geben kann, und doch, keiner von uns kann sagen, daß trotzdem nicht für ihn einst eine Stunde kommt, wo dieser Glaube, den er zu besitzen wähnte, von ihm genommen wird, weil er noch nicht im innersten Herzen gewurzelt war, und er aufs neue den Glauben sich erkämpfen und erringen muß. «Wer da steht, mag wohl zusehen, daß er nicht falle» [I Kor. 10,12]. Vergessen wir dieses Wort nicht.

Werda hat, demwirdgegeben

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Aber der Herr hat auch gesagt: «Wer da hat, dem wird gegeben.» Das heißt: Wem der Glaube Herzenssache ist, wer um einen innerlichen Glauben ringt und betet, dessen Glaube wird zunehmen wunderbar. Was er selbst erwerben kann, ist gering, aber wenn er nur Glauben hat, wenn nur der Anfang gemacht ist, dann wird ihm Glaube zugetragen werden, er wird wachsen wie das Senfkorn [Mt. 13,31 f.], wie die Saat [Mk. 4,26– 29], ohne daß er etwas dafür kann, durch Gottes Macht und Gottes Hilfe; der Funke wird durch die Stürme desLebens zur Glut angefacht werden, und gerade in den dunkelsten Stunden wird er es erfahren, daß er viel mehr Glauben hat, daß sein Glaube ihm ein viel größerer Halt undTrost ist, als er zu hoffen wagte. Letzten Sonntagvormittag wurde von dieser Kanzel in der Betrachtung des Kampfes Jesu in Gethsemane gesagt, daß die Menschen oft viel mehr ertragen können, als sie selbst meinen. Oft sagen sie von sich selbst: Das ist zu schwer, daran gehe ich zugrunde, oder wenn sie sehen, wie ein anderer in tiefes Unglück gerät: Er wird zusammenbrechen unter der Last, dasist zu schwer für einen Menschen. Und siehe, dieses «zu schwer» war menschlich geredet. Sie haben sich wirklich durchgerungen und sind gestärkt aus dem Kampf hervorgegangen. Gott allein weiß, was jeder Mensch ertragen kann, besser als der Mensch selber, denn er allein kennt den Glauben des Menschen, und wo dieser Glaube an sich zu schwach wäre, wenn er nur ernst und innerlich ist, da tut er Glauben hinzu und macht ihn glaubensreich. «Wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe.» So bewegt nun dieses Wort Jesu in euren Herzen: «Wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe, wer da nicht hat, dem wird auch noch genommen, das er hat.» Äußerlich betrachtet ist dieses Wort hart, vernichtend, zermalmend, aber wenn man hineindringt, da quillt heraus ein Quell des Trostes für die, welche ernst um ihren Glauben ringen, und für die, welchen er, da sie nicht darum rangen, genommen wurde, daß sie nun innerlich bankrott, geistig arm sind. Es ist eben ein göttliches Wort, und wo das Göttliche uns Menschen begegnet, da müssen wir erst, durch den hoheitsvoll-göttlichen Ernst erschüttert, niedergeworfen werden, unser natürliches Auge muß erblinden, damit es die göttliche Klarheit und den göttlichen Trost innerlich erfassen kann.

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Predigten

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Nachmittagspredigt Sonntag, 23. Februar 1902, St. Nicolai

Joh. 12,32 f.: Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen. (Das sagte er aber, zu deuten, welches Todes er sterben würde) Alljährlich, wenn die Passionszeit wiederkehrt, drängt sich jedem ernst denkenden Christen von neuem die Frage auf: Was bedeutet denn der TodJesu? Wie ist daszu verstehen, daß dasLeiden und Hinscheiden jenes einzigen auf Golgatha uns, zu welcher Zeit wir auch leben, erlöst hat und für alle Menschen und alle Generationen ein Quell unsagbaren Segens geworden ist? Da kommt dasWort auf unsere Lippen: «Wenn ich diesWunder fassen will, so steht mein Geist vor Ehrfurcht still; er betet an, und er ermißt, daß Gottes Lieb unendlich ist.»|8¡ Jesus selbst hat nur in geheimnisvollen Worten von der erlösenden Bedeutung seines Todes gesprochen. So sprach er einst zu den Jüngern, sein Tod sei eine Sühne für viele, so sprach er in der letzten Nacht beim Abendmahl, sein Blut sei vergossen zurVergebung der Sünden für viele. Aber über dasWarum und über dasWie schwieg er. Es sollte ein anbetungswürdiges Geheimnis bleiben. Nur aus der Ferne andeuten wollte er es den Menschen, weil sie es nie ganz verstehen könnten. So ist auch unser Textwort eine solche Andeutung: «Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen.» Er sagt das, «zudeuten, welchesTodes er sterben» sollte, dasheißt, er wollte ihnen nicht nur in Aussicht stellen, daß er an einem Kreuz verbluten würde, sondern er wollte uns auch auf die tiefe, innere Bedeutung dieser Todesart aufmerksam machen. Auf einem Hügel, weithin sichtbar, die große Stadt mit ihrem geschäftigen Treiben überragend, hängt Jesus am Kreuz erhöht. Das will heißen: Jesus hängt da sichtbar vor aller Welt. Ob die Menschen wollen oder nicht, sie müssen ihn sehen. Ob sie wollen oder nicht, sie müssen sich Gedanken machen über das, was dort auf Golgatha vorgeht. Sie müssen es sehen, daß ein solches Beispiel unendlich liebevoller Hingabe in dieser kalten Welt existiert – ob das sie nun gleichgültig läßt, ob sie darüber spötteln, oder ob es sie merkwürdig bewegt im Innersten des Herzens, aber sehen müssen sie es. Ihr werdet sagen: Wenn es nur ein Beispiel ist, so ist es doch im Grunde genommen gar wenig. Es gibt ja so viele herrliche Beispiele, wo wir uns sagen mit vollem Ernst: Das möchtest du nachahmen, so 8 [Christian Fürchtegott Gellert: Dies ist derTag, den Gott gemacht, Str. 3.]

Wenn ich erhöht werde

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etwas möchtest du auch tun – und dann fehlt uns die Kraft dazu. Das Beispiel scheint uns nur da zu sein, um uns zu beschämen und zu zeigen, wie weit wir davon entfernt sind. Ihr habt recht. Aber ist denn der Tod am Kreuz nur ein Beispiel? Nein, sondern für den, der sich nun unter das Kreuz stellt, für den, derJesus anschaut mit dem inneren, geistigen Auge, für den ist derTodJesu eine Kraft. «Wenn ich erhöhet bin, so will ich sie alle nach mir ziehen», sagt Jesus. «Nach mir ziehen», das will heißen: Ich will eine Kraft ausüben auf ihr Herz. Vom Kreuze aus, am Stamme des Kreuzes schwebend, will ich eine Wirkung auf die Herzen der Menschen tun. Ich will ihnen Kraft und Freudigkeit geben, Dinge zu vollbringen, die sie sonst nicht könnten ausführen. Von meinem Kreuze aussoll eine Erneuerung des Sinnes in der Welt vorgehen. Wie ist doch dieses Wort so wahr. In allem, was das Christentum Schönes und Herrliches in der Welt vollbracht hat, was ist denn da für eine andere Kraft als die Kraft des Kreuzes Christi? Sie wirkt in allen denen, die Großes, Edles und Heiliges geleistet haben. Und wie zeigt sich diese Kraft in uns? Es liegt eine ernste Weissagung in diesem Worte: «Wenn ich erhöht sein werde von der Erde, will ich sie alle nach mir ziehen.» Nach sich in dasLeiden will uns der Herr ziehen. Das will heißen, alle will er uns durch das Leiden mit sich ziehen. Der Apostel Paulus schreibt von sich, als er schwere Trübsal hatte, er mache an seinem Fleisch das Leiden Jesu voll [Kol. 1,24]; ein schönes Wort. Auch wir sollen denken, daß wir alle durch das Leiden hindurch müssen. Wir sollen nicht zittern und uns fragen, sondern wir sollen wissen, daß die Trübsal zum Christenstand gehört, daßJesus uns in sein Leiden nachzieht. Und warum? Weil das Leiden Erhöhung ist. Wie dort Jesus auf Golgatha am Kreuzesstamm über der Welt erhöht ist und der Vollendung und Verklärung wartet, die ihm der himmlische Vater beilegen wird, so müssen auch wir leiden, daß wir über die Welt erhöht werden, daß wir sehen, es gibt etwas Höheres als irdisches Glück und irdische Zufriedenheit, daß wir uns langsam losringen von dem, was unsern Sinn hienieden gefangen nehmen wollte, damit wir unsern Blick auf das Unvergängliche, Überweltliche richten und höher und höher streben. Darum sagt der Herr: «Wenn ich erhöhet sein werde, will ich sie alle nach mir ziehen.» Was wir hier dulden und leiden, das ist die Hand unseres Heilands, die uns faßt und zu uns spricht: Höher, höher hinauf. Eine Frau sagte imVerlauf einer schweren Krankheit zu ihrem Pfarrer: Ich muß viel leiden, und es wird mir oft schwer. Und doch, trotzdem möchte ich nicht wieder auf den Stand zurückkommen, in dem ich war, ehe mich Gott durch diese Krankheit heimsuchte, denn ich weiß, wie ich durch das Leiden reicher am inwendigen Menschen geworden bin. Ist das nicht

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wirklich eine Bestätigung des Wortes: «Wenn ich erhöhet sein werde, will ich sie alle nach mir ziehen?» Ach, daß wir uns vonJesus so ziehen lassen möchten! Ich glaube, wir fänden alle dann unser Glück. Und nun, ehe ich schließe, will ich noch ein Wort hervorheben in dem Ausspruch unseres Heilands, das geheimnisvollste von allen: Das Wort «alle». «Ich will sie alle nach mir ziehen» – alle. Wir sehen, daß nicht viele sich von ihm nach sich ziehen lassen, wir müssen selbst fragen: Sind wir denn solche, die sich von ihm nachziehen lassen? Wie gar viele gehen ihren eigenen Weg, denWeg desVerderbens! Und doch verheißt der Heiland: «Ich will sie alle nach mir ziehen.» Dürfen wir denn nicht aus diesem Wort die Hoffnung schöpfen, daß auch diejenigen, die wir nach dem Augenschein verloren geben müßten, doch gerettet sind durch die Kraft des Kreuzes Christi, wenn wir es auch nicht verstehen können. Wie trostvoll wäre doch solcher Glaube für so manches arme Mutterherz, das über ein mißratenes Kind trauert, und für noch viele andere! Das sind Fragen, über die der Schleier des Geheimnisses gebreitet ist – aber in der Hoffnung und im Glauben ergreifen wir dasGeheimnis.

Nachmittagspredigt Sonntag, 9. März 1902, St. Nicolai Passion

Mk. 14,61: Jesus aber schwieg stille Das Merkwürdige an dem Leiden Jesu, was schon die Umstehenden und die Teilnehmer in Erstaunen setzte, ist sein Schweigen. Andere, wenn ihnen der Prozeß gemacht wurde, redeten und verteidigten sich, sie wehklagten oder flehten um Erbarmen – «Jesus aber schwieg stille». Er schweigt bei der Gefangennahme, er schweigt bei dem Reden der falschen Zeugen, er schweigt vor dem Hohenpriester, er schweigt vor Pilatus, er schweigt auf dem Kreuzweg, er schweigt bei der Kreuzigung – in diesem Schweigen offenbart sich seine Herrlichkeit und Majestät, in diesem Schweigen redet er zu uns. Darum laßt uns in dieser stillen Nachmittagsstunde den schweigenden Jesus betrachten. Ist euch nicht schon oft der Gedanke gekommen: Warum hat Jesus seine Richter nicht aufgeklärt über sich selbst, warum hat er ihnen nicht gesagt, in welcher Art er sich für Gottes Sohn hielt, daß es sich um ein Mißverständnis handelte, wenn sie meinten, er begehe einen Frevel gegen Gott? Warum schweigt er? Er will sie nicht belasten und ihre Schuld noch größer machen. Er weiß, sie verfolgen ihn aus blindem Eifer, er weiß, daß ihre Leidenschaft größer ist als ihre Einsicht, er weiß, daß sie sich nicht aufklären lassen werden, und darum schweigt er. Sie

Jesus aber schwieg stille

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sollen unwissend bleiben, unwissend die Sünde begehen, ihn zu töten, damit Jesus dann am Kreuz für sie beten kann, Gott möge ihnen die unwissentliche Sünde verzeihen! «Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, wassie tun» [Lk. 23,34]. Darum schweigt er vor den Obersten seinesVolkes. Sein Schweigen ist eine Bitte umVerzeihung für sie. Warum schweigt er aber vor Pilatus, der ihn retten könnte? Weil er es unter seiner Würde hält, dem heidnisch-leichtsinnigen Statthalter ein Schauspiel zu bieten, indem er ihm von seiner heiligen Person redet. «Ihr sollt die Perlen nicht vor die Säue werfen» [Mt. 7,6], hatte er einst zu seinen Jüngern gesagt. Nach diesem Wort handelt er hier – und würdigt den Statthalter keines Wortes. Sein Schweigen ist eine Verurteilung. Aus diesem doppelten Schweigen können wir viel lernen. Zuerst einmal: Wir sollen schweigen, um etwas nicht noch ärger zu machen. Woher kommt denn so viel Uneinigkeit und Unfriede unter den Menschen? – Weil sie nicht im rechten Augenblick schweigen können. Ich will jetzt nicht von der Widerrede im allgemeinen sprechen, die so viel Unglück anrichtet zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Herrschaft und Dienstbarkeit, wodurch manches Haus, dasso glücklich sein könnte, zu einer Hölle wird, und der geringste Anlaß zu einer großen Streitsache wird, wie ein Stein, den man insWasser wirft, immer weitere Kreise zieht – ich will nur davon reden, daß wir in bestimmten Fällen auch schweigen können sollen, wenn wir unschuldig sind, um die Sache nicht schlimmer zu machen. Wir meinen, wenn uns Unrecht geschieht, sollen wir nun immer uns bis zum äußersten verteidigen und die Sache unserer Unschuld führen, es nicht darauf beruhen lassen, wie wir sagen. Und nun redet der Herr zu uns in seinem Schweigen vor den Richtern und sagt: Siehe, als es sich umTod und Leben handelte, da habe ich geschwiegen, obwohl unschuldig, um meinen Gegnern zu dienen und um die Sache nicht ärger zu machen, und ihr könnt nicht einmal schweigen in Kleinigkeiten des Lebens, wo ihr unschuldig seid, und zwar schweigen, um euren Familienangehörigen, denen, die euch sonst lieb und wert sind, einen Dienst zu leisten und einmal um des Friedens willen ein bißchen Unrecht leiden! Das Beispiel unseres Herrn beschämt uns tief. Zum zweiten sagt uns dasBeispiel des Herrn, daß ein Christ schweigen darf, wenn er es unter seiner Würde hält, zu reden – ich meine, wenn die Ehre und die Heiligkeit unseres Glaubens in Frage kommen. Das gilt besonders in unsern Tagen. Was muß man nicht alles für Törichtes und für Freventliches über das Christentum hören und lesen in unsern Tagen. Wie oft möchte man auf alle diese Anklagen hören und zeigen, wie es nur Unverstand und leichtfertiges Gerede ist. Ja, wir halten es sogar für unsere Pflicht, den Mund aufzutun – und das ist recht. Aber, sagt uns der Herr, es gibt Fälle, wo wir das Christentum nicht vor

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leichtsinnigen Spöttern entweihen dürfen, indem wir es verteidigen, sondern wo es die Würde des Christentums erheischt, daß wir schweigen und an dasWort des Herrn denken: «Ihr sollt die Perlen nicht vor die Säue werfen.» Und nun möchte ich euch eine merkwürdige Frage stellen. Was tat Jesus, während er schwieg? Was tun denn wir, wenn wir schweigen müssen? Unser Mund ist zwar still, aber unser Herz, das redet. Es widerredet, es schilt, es flucht, es schmiedet Pläne, sinnt auf Rache, esjammert und klagt! Unser Schweigen ist nur ein äußerliches und scheinbares, und wenn die Gedanken unseres Herzens laut würden, müßten wir uns schämen – undwir schämen uns oft vor uns selbst. Aber beim Herrn ist es anders. Er schweigt nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Er läßt sein Herz nicht in Verwünschungen und Anklagen gehen, sondern er gebietet ihm Stille. Wodurch gebietet er ihm Stille? Indem er betet. Während Jesus schweigt, betet er. Das ist das einzige Mittel, wahr und innerlich zu schweigen und die bösen Gedanken desHerzens zu vermeiden. Ihr kennt alle das schöne Geschichtchen von dem weisen Mann, zu dem eine Frau kam, die sich durch ihre Widerrede ihr Glück verdarb und ihn nun bat um ein helfendes Mittel. Er gab ihr ein Fläschchen heiliges Wasser und sagte, sie müßte einen Schluck davon in den Mund nehmen und darin behalten, wenn die Widerredungssucht über sie käme, um zu schweigen. So gibt es auch ein Mittel, um das Herz zum Schweigen zu bringen, dasoft noch viel häßlicher redet als der Mund, – nämlich zu beten, statt zu den Menschen zu reden, Gott alles klagen. Das bringt das Herz auf andere Gedanken, zu einem heiligen, innerlichen Schweigen, wie Jesus es uns zeigt. Willst du wahrhaft schweigen, dann sprich leise für dich einen schönen Gesangbuchvers. Und nun noch das Letzte: Warum kann Jesus schweigen? Weil er glaubt. Er glaubt von Herzen, daß alles, was ihm begegnet, von Gott kommt, daß die Menschen nicht aus sich handeln, sondern nur Gottes Schickung erfüllen. Er weiß, Gott will etwas mit dem, was er ihm durch die Menschen antun läßt; darum verschwinden die Menschen für ihn, und nur die Frage, was Gott damit will, beschäftigt ihn – daß er nämlich zur Erlösung für die andern durch die Schriftgelehrten und Hohenpriester sterben muß. Um schweigen zu lernen, müssen auch wir glauben von Herzen, daß alles, was uns begegnet, von Gott kommt, da er etwas damit will, daß die Menschen nur seine Werkzeuge sind. Waswill denn der Herr damit? Er will uns prüfen, demütigen, läutern, er will uns auf einen andern Weg bringen, er will, daß wir Einkehr halten und Buße tun. Das ist, was wir uns fragen müssen. Nicht: Was wollen die Menschen mit uns? sondern: Was will Gott mit uns? Und wer immer in allem, was

DesMenschen Sohn istgekommen

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ihm die Menschen im Leben zufügen, sich diese Frage stellt: Was will Gott damit?, der wird das heilige Schweigen Jesu lernen. Der Herr helfe uns dazu.

Abendpredigt Dienstag, 25. März 1902, St. Nicolai Passion

Mk. 10,45: Des Menschen Sohn ist gekommen, daß er sein Leben gebe zur Sühne für viele|9¡ Draußen wogt dasWerktagsgetriebe. Ihr seid ihm für einen Augenblick entflohen, um euch hier zu erbauen, denn in der Passionswoche ist auch der Werktag heilig. So wollen wir uns denn erbauen, indem wir uns in das Geheimnis des Leidens Jesu versenken. Wir wählen dazu dasWort, wo er selbst zum ersten Mal denJüngern dieses Geheimnis verkündet: «Des Menschen Sohn ist gekommen in dieWelt, daß er sein Leben gebe zur Sühne für viele.» Was ist doch seit zwei Jahrtausenden über dieses Wort nachgedacht, geschrieben, geredet, den Kopf geschüttelt und oft auch gespottet worden! Man hat gesagt: Wie kann ein Mensch für die andern eine Sühne leisten, daß ihnen zugerechnet werde, wassie nicht verdient haben, oder was braucht Gott, der die Liebe und Verzeihung selbst ist, sich in Jesus ein Sühnopfer zu setzen, daß er den Menschen verzeihen kann? So wird dieses Kopfschütteln noch fortgehen weitere Jahrtausende, denn der menschliche Verstand kann dies nicht begreifen und soll es nicht begreifen: Es soll ein Geheimnis bleiben. Gleich zum ersten Mal, wo der Prophetenmund ahnend darauf hinweist, daß einst für die Menschen Sühne geleistet wird durch die Leiden des Gerechten, wird auch zugleich ausgesprochen, daß sie es nimmermehr begreifen können. «Wir hielten ihn für den, der von Gott geschlagen und gemartert würde», heißt es in dem 53. Kapitel des Propheten Jesaja [53,4]. Und doch, in denJahrhunderten, die verflossen, hat es Menschen gegeben, es gibt sie in unserer Zeit, und in den kommenden Jahrtausenden wird es sie weiter noch geben, die verstehen dasGeheimnis und können von Herzen sagen: Ja, es ist wahr, daßJesus für unsere Sünden gestorben ist. Und warum ist denn diesen die Erkenntnis aufgegangen? Weil sie wissen, daß sie Sünder sind – und die andern es nicht wissen und darum den Weg zur beseligenden Wahrheit des Geheimnisses nicht finden. «Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten» [Jes. 53,5], sagt der Prophet. Das versteht aber nur, wer einmal den Frieden ver9 [Lesung:] Jes. 53: [Stellvertretendes Leiden und Herrlichkeit des Knechtes Gottes.]

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loren hat. Die es an sich erfahren haben, daß aufjedem Menschendasein, auch auf dem äußerlich ehrbarsten, eine schwere Schuld liegt, die einmal zur Erkenntnis ihrer Sündhaftigkeit gekommen, die in Unruhe verfallen sind und die dann den Frieden wiedergefunden haben in Christus, sie verstehen das Geheimnis. Aber wer in Gleichgültigkeit wandelnd nie dasWort ausgesprochen hat: «Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir» [Lk. 15,21], dem bleibt es ein verschlossenes Buch. Jesus hat dasWort ausgesprochen ohne irgendeine Erklärung, sondern es ist ein Geheimnis, das seine Kraft in sich trägt. Er hat esjedem Menschen als Begleiter mit auf den Lebensweg gegeben. Es geht neben ihm her still, stumm und fremdartig, bis für den Menschen der Augenblick kommt, daß er den Frieden verliert, daß er sich sehnt nach innerlicher Ruhe und Seligkeit, und dann, an dieser Biegung desWegs, wird das Geheimnis der Sündenvergebung in Jesu Sühne, der fremde und stille Begleiter, plötzlich lebendig und redet den Menschen an, redet ihm ins Herz und offenbart sich ihm als Leben, Friede, Seligkeit. Darum setzt Jesus demWort nichts zu, sondern er weiß, daß jeder es verstehen wird, wenn die Stunde für ihn im Leben geschlagen hat. Wir wollen uns das Wort Sühne genau betrachten, denn es ist ein Wort, dasuns zu fremd ist, und deshalb stößt sich der menschliche Sinn daran. Wir verstehen nicht genug, warum das Leiden und Sterben Jesu, das Unglück, das ihm zugefügt wurde, eine Sühne ist, wodurch nun eine Schuld für die Menschen aufgehoben wird, weil wir uns nicht genug selbst gewöhnen, daß, was Gott uns auferlegt, eine Sühne ist dafür, daß er uns vergibt. Versteht mich recht. Ich will nicht sagen, daß wir nun dürften sagen, wo Gott in einem Hause mit Unglück einkehrt, daß er ihm nun eine Sühne auferlegt. Solches Urteil über andere steht uns nicht zu. Aber von dem, wasdir selbst im Leben begegnet ist, hast du da nicht manchmal etwas, das dir schwer wurde, als eine Sühne empfunden? Hast du noch nie den Gedanken gehabt: Das verlangt nun Gott von mir, daß ich es trage in Demut dafür, daß er mir dies undjenes verzeiht, was auf meinem Gewissen lastet? Gibt es nicht solche schwere Unglücke oft nach langer glücklicher Zeit, in denen wir uns demütigen müssen, damit uns die Gottentfremdung und die Gleichgültigkeit der glücklichen Zeit verziehen wird? Nicht wahr, es ist keiner unter uns, der nicht schon etwas Ähnliches in seinem Leben erfahren hätte. Und wer es erfahren, der wird nicht sagen, daß es etwas Düsteres und Dunkles ist, sondern es liegt Trost, Segen und Freudigkeit darin, daß Gott uns erlaubt, durch Demut im Unglück etwas wieder gut zu machen. Wie viele Menschen, meint ihr, gibt es auf derWelt, die sich nach langem Kampf mit Freudigkeit in etwas gar Schweres schicken lernen, daß alle sich darüber wundern? Und wenn sie ihr Geheimnis aufdeckten, so würde es lauten: Ich bin getrost

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und zufrieden, weil ichjetzt durch Demut und Dulden wieder darf gutmachen, was meine Seele beschwerte, weil ich in dem äußeren Leiden den inneren Frieden, die Seligkeit finde. Wir denken viel zuwenig daran, daß schwere Schickungen Gottes oft eine Gnade, ein Verzeihen für uns sind, daß Gott will, daß wir darin daserste Wort, daser uns durch Jesus verkündete, «Tut Busse» [Mk. 1,15], erfüllen. Vergessen wir es nicht. Wie ganz anders läge dasLeben vor uns, wenn wir uns dies immer gegenwärtig hielten! Dieses Erleben der Sühne, das ist das Licht, welches das Geheimnis des Leidens Jesu erhellt. Die, welche zur Erkenntnis ihrer Sündhaftigkeit kommen und in Demut sich in das schicken, was ihnen auferlegt, die sollen gewiß glauben dürfen, daß sieVergebung der Sünden haben, weil ihnen zugerechnet wird die Sühne, dieJesus für die ganze Menschheit geleistet. Selig, wer durchdringt und sich durchkämpft im Leben, daß er von Herzen sprechen kann: «Ich glaube an eine Vergebung der Sünden». Dieses Wort, welches Luther allen andern voranstellte, möge es auch wahr werden an uns. Dazu segne Gott diese Passionszeit.

Morgenpredigt Sonntag nach Ostern, 6. April 1902, [St. Nicolai]|10¡

Mt. 13,31 f.: Gleichnis vom Senfkorn|11¡ Am vergangenen Palmsonntag wurden hier ungefähr fünfzig Kinder konfirmiert. Dieselbe Zahl ungefähr auch in den vergangenen Jahren. Nun wollen wir annehmen, daß die Hälfte dieser Konfirmanden verzieht oder verhindert ist, zu kommen, wenn aber von den Konfirmanden der vergangenen Jahre diejenigen allsonntäglich kämen, die kommen könnten, wieviel Jugend würde da unser altes Kirchlein bergen! Nun ist dies aber nicht der Fall. Gerade die konfirmierte Jugend fehlt in unsern Gottesdiensten. Woran liegt das? Ich glaube, nur zum geringsten Teil an den Kindern selbst, denn jedes hat sich doch vorgenommen in der Stunde der Konfirmation, Sonntagsgast in dieser Kirche zu werden. Die Hauptschuld trifft die Eltern, die nach der Konfirmation ihre Kinder nicht zum Kirchgang anhalten. Sie tun dies mehr ausGedankenlosigkeit. Sie meinen, wenn ihre Kinder nun im Christentum unterrichtet sind, dann genügt das, damit sie 10 [Die Ortsangabe fehlt, doch der Inhalt weist auf St. Nicolai hin.] 11 [Das Himmelreich ist gleich einem Senfkorn, dasein Mensch nahm und säte es auf seinen Acker; welches daskleinste ist unter allem Samen; wenn es aber erwächst, so ist es das größte unter dem Kohl und wird ein Baum, daß die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen unter seinen Zweigen.]

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im Leben gute Christen werden können. Man kann ein guter Christ werden und sein, ohne in die Kirche zu gehen! – Mit diesem Satz beruhigen sie sich. Das ist ein grundfalscher Satz; wer ihn ausspricht, der weiß gar nicht, waswahres Christentum ist. Er meint, es sei, so einige Sätze für wahr zu halten, ihnen zuzustimmen, aber das Christentum ist inneres Leben! Und dieses Leben entwickelt sich nur, wenn man allsonntäglich aufs neue in der christlichen Gemeinde sich versammelt und allsonntäglich

Gottes Wort hört. Das Kirchengehen ist etwas Äußerliches, sagt man, und es macht den Christen nicht aus. Gewiß, das weiß der kirchliche Christ geradeso gut wie andere, aber er weiß auch, daß dieses, was man äußerlich nennt, notwendig ist für unser inneres, christliches Wachstum. Wie steht’s denn im Gleichnis Jesu, das wir soeben gelesen haben? Aus dem Senfkorn soll ein großer Baum werden. Der Vorgang, wie in dem Senfkorn keimendes Leben erwacht, wie es sproßt, und wie es sich zu einem Baum auswächst – das ist ein Geheimnis! Und doch ist das alles ganz abhängig von etwas ganz Äußerlichem: daß ein Mensch das Senfkorn nimmt und in den Boden steckt und es drin bleibe, weil aus dem Boden erst Leben und Kraft in es übergeht! Tut man das nicht, so kann das Senfkorn hundertmal Senfkorn sein, es wird kein Baum. Regen und Sonnenschein, die es zumWachstum bringen würden, wenn es in der Erde wäre, die töten es ab, so daß es bald auch die innere Kraft zumWachstum, die in ihm angelegt ist, verliert und zuletzt ein lebloses, unbrauchbares Körnlein ist. Ich glaube, dieses Gleichnis geht auf unsere Konfirmanden. Was sie vom Christentum wissen und begriffen haben, was sie wissen und begreifen können, das gleicht einem keimkräftigen Senfkorn. Damit es aber sprießen könne und zum lebendigen Christentum sich auswachsen könne, muß es in den Boden gesenkt werden, auf den Acker gesät werden. «Ein Mensch nahm das Senfkorn und säte es auf seinen Acker», so heißt es im Gleichnis. Lebendige Christen werden diejenigen Konfirmanden, welche man nach der Konfirmation zur Kirche führt, daß das Gotteshaus und die christliche Gemeinde ihnen zur freudigen Gewohnheit und zum sonntäglichen Bedürfnis werden! – Das ist die Deutung des Gleichnisses auf unsere jungen Christen. Tut man das nicht, dann geht es ihnen wie Senfkörnern, die man, statt auf den Acker zu säen, im Speicher läßt: Sie haben noch den Christennamen, sie haben noch dunkle Erinnerung an christliche Lehre, aber das Christentum ist für sie nichts Lebendiges, das im Verlauf des Lebens ihr ganzes Wesen immer tiefer erfaßt und ausihnen einen christlichen Charakter und eine christliche Persönlichkeit macht! Manche unter euch werden daran Anstoß nehmen, daß ich das Besuchen des Gottesdienstes vorerst ganz äußerlich auffasse, mehr als eine

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christliche Gewohnheit, und nicht von der Erbauung und von dem inneren Bedürfnis rede, welche dem Besuch des Gotteshauses erst die richtige Weihe geben. Ich würde dies nicht so sehr hervorheben, wenn es nicht meine Überzeugung wäre, daß die meisten, diejetzt dem Christentum gleichgültig gegenüberstehen, dazu gekommen sind, nicht weil ihr Herz weniger empfänglich ist als bei andern, sondern weil sie gleich nach der Konfirmation jeden Zusammenhang mit dem christlichen Wesen verloren haben dadurch, daß sie der Kirche fernblieben. Man sagt: In die Kirche soll man gehen, wenn man von einem inneren Bedürfnis getrieben wird; aber dieser Satz ist falsch, wenn man nicht dazu setzt, daß man das innere Bedürfnis erst dann kennenlernt, wenn man allsonntäglich in die Kirche kommt. Man muß mit der Gewöhnung anfangen! Bleiben wir bei unserm Gleichnis: Zuerst wird das Samenkorn ganz äußerlich in die Erde gesteckt und bleibt zunächst auch so darin liegen, bis es dann langsam zarte, weiße Fäden in die Erde aussendet, sich darin festhält, Nahrung, Kraft und Leben aus der Erde gewinnt und zuletzt so in der Erde gewurzelt ist, daß man es nicht herausreißen kann. Ist es nicht auch so für den Besuch der Kirche? Ihr, die ihr jetzt jeden Sonntag in die Kirche kommt, um in der Sammlung und in der Andacht Kraft und Leben für die kommende Arbeitswoche zu suchen, habt ihr dasselbe innere Bedürfnis von Anfang an so in euch gefühlt? Ich glaube nicht, sondern am Anfang seid ihr in die Kirche gegangen, weil man euch dazu angehalten hat, ausfrommer Gewohnheit, bis dann das innere Bedürfnis sich immer mehr einstellte und mit jedem Jahr der Sonntag in der Kirche euch mehr ein Lebensbedürfnis wurde. Das ist der natürliche Gang, den jedes Christen Erfahrung bestätigt: Der Kirchgang wird zum Bedürfnis durch die Gewohnheit. Die Leute, die dasUmgekehrte sagen, daß nur derjenige die Gewohnheit annimmt, in die Kirche zu gehen, der dazu ein inneres Bedürfnis fühle, die machen mir den Eindruck von Menschen, die, ehe sie die Körner säen, warten wollten, bis Wurzeln daran sind! Was verkehrt ist in der Natur, das ist auch verkehrt im Christentum; zwischen beiden besteht ein innerer Zusammenhang, dennJesus hatja seine Lehre gerade an Beispielen der Natur immer verdeutlicht. Aus dem Säen in die Erde sproßt natürliches Leben, aus dem Kirchenbesuch sproßt christliches Leben. Wie geht das zu, daß aus etwas, äußerlich betrachtet, so Geringfügigem etwas so innerlich Großes kommt? Das ist wie überall, wo es sich um das Sprossen, Leben, Wachsen handelt, ein Geheimnis, daswir nicht voll erklären können. Warum muß ein Mensch jeden Sonntag mit der Gemeinde Gottes Wort hören, um im Christentum zu wachsen? Der Pfarrer predigt ja einem nichts Neues! Wir wollen davon absehen, daß die Leute, die diesen Satz im Munde führen, in christlichen Dingen gewöhnlich unwis-

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sender sind als Kinder. Zugegeben: Kein Prediger auf derWelt, von Paulus bis auf den heutigen Tag, erhebt den Anspruch, etwas Neues zu predigen, sondern jeder möchte nur, so gut er es kann, dasAlte immer wiederholen, denn das Alte ist immer neu und wird immer neuer, je mehr man es hört. Wir müssen unser ganzes Leben hindurch dieses Alte immer wieder hören, denn es gibt keine Zeit, wo man sagen könnte: Jetzt hab ich das Christentum begriffen, sondern je weiter wir fortschreiten im Leben, je mehr wir erleben underfahren, desto tiefer dringen wir ins Christentum ein. Erlaubt mir hier ein modernes Gleichnis. Vor einigen Jahren machte man, wenn ich nicht irre, war es in Leipzig, folgenden Versuch: In einem dunkeln Zimmer wurde ein Gemälde aufgehängt; darauf wurde in gewissen Abständen das Gemälde durch einen elektrischen Funken für eine ganz kurze Sekunde erleuchtet. Beim ersten Funken sahen die Leute nur den Rahmen und die allgemeinsten Umrisse desBildes; als dann der zweite Funke wieder für einen Augenblick das Dunkel durchleuchtete, dasahen sie schon einzelne Figuren desBildes; undsobeijedem Funken; obwohl er nur so kurze Zeit dauerte wie der vorhergehende, sahen sie doch viel mehr bei dem Bilde, bis sie zuletzt beim letzten Funken das ganze Bild mit allem, wasdarauf war, erfaßten, während sie beim ersten nur den Rahmen unddie allgemeinen Umrisse erkannten! Ist es nicht so auch mit dem Christentum? Am Anfang, wenn es für uns im Konfirmationsunterricht beleuchtet wird, davermögen wir auch nur den Rahmen und die allgemeinsten Züge desselben zu erfassen. Wir lernen, daß es einen Gott Vater gibt, daß er uns liebt, daß wir in der Liebe wandeln sollen und daß die Sünde uns nicht von ihm trennen kann, weil er uns vergibt. Das sind so die allgemeinen Züge des Christenglaubens; aber dieser Glaube kann von uns nicht gleich in seiner ganzen Tiefe erfaßt werden, sondern erst im fortschreitenden Leben; da fällt fortgesetzt ein Licht auf diesen Glauben. Der christliche Glaube ist ein Buch, in welchem uns das Leben lesen lehrt. Jedes Dasein hat große Ereignisse und Höhepunkte, welche uns das Göttliche erfassen lassen! Ob es nun frohe oder traurige Stunden sind, jeder von uns hat in seinem Leben schon solche Augenblicke erlebt, wo eine christliche Wahrheit ihm durch die Ereignisse in lebendigem Glanze aufgegangen ist undwodurch dann diese Stunden desLebens für unser inwendiges Leben gesegnet werden. Unser Glaube lehrt uns, an die Güte und Liebe Gottes glauben. Aber lebendig wird dieser Glaube erst, das Fundament unseres Lebens, wenn in freudigen Stunden unser Herz sich diesem Sonnenschein der Liebe Gottes erschloß, wie eine Blume sich der Sonne erschließt. Lebendig wird dieser Glaube erst, wenn in den aufeinanderfolgenden dunkeln und schweren Stunden desLebens, wo unsUnglück trifft, wo wir dasLiebste verlieren, wir uns dennoch zu dem Glauben an die Liebe Gottes hin-

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durchkämpfen und uns an demWorte, das uns schon so längst bekannt ist und daswir hier erst wieder neu entdecken, aufrichten und trösten. Zum christlichen Glauben gehört, daß unsere Bestimmung hier auf Erden ist, Liebe zu üben. Aber damit diese innere Liebe unser Herz langsam durchdringe und erfülle, da müssen Stunden kommen, wo wir auf Augenblicke diese höhere Seligkeit empfinden, wenn wir uns selbst überwunden haben, oder wo wir von dem Beispiel einer so aufopfernden Liebe, wie sie sich im Leben eines David Livingstone oder anderer zeigt, ergriffen und beschämt sind, oder wo wir niedergedrückt sind, daß wir selbstsüchtig und lieblos gehandelt haben. Durch diese Stunden im Leben, dawird uns dasvorgehaltene Gebot der Liebe Leben und innereWahrheit. So ist es auch mit der Sündenvergebung. Gott vergibt den Menschen ihre Sünden, das ist zunächst ein Satz, der etwas behauptet. Daß aber dieser Satz Wahrheit und Leben erhält, das erfährt man erst, wenn man im Bewußtsein einer tiefen Schuld niedergedrückt war und im Aufblick und Gebet zu Gott wieder Ruhe und Frieden gefunden hat. So enthält das Leben für jeden einzelnen Stunden, wo ihn die Ereignisse, sei es nun Leid oder Freud, über dasDasein hinausheben und hineinblicken lassen in die Wahrheit des Christentums und ihm diese Wahrheit in einer immer lebendigeren Gestalt zeigen. Darum sind sie, ob Leid, ob Freud, gesegnet an unserm inneren Leben, weil das Christentum in uns zum Leben und Gedeihen erweckt wird, wie das Senfkorn unter Sonnenschein und Regen sproßt, bis zuletzt das Christentum in uns die Macht unseres Lebens geworden ist, unser Handeln, Denken undWollen bestimmt. Wir haben gesagt, jedes Leben birgt solche Stunden, die zum Segen werden können und müssen! Warum werden sie aber bei so vielen Menschen nicht ein Segen? Statt sie dem Christentum näher zu bringen, stumpfen sie sie nur ab oder führen sie weiter davon ab! Weil sie nicht im Christentum drinstehen! Weil sie das Bild, das ihnen lebendig beleuchtet werden soll, nicht vor Augen haben! Weil sie Gottes Wort, das ihnen durch das Leben erklärt und lebendig gemacht werden soll, nicht immer und immer wieder hören! Weil sie den Ort, wo man sich aus dem irdischen Getriebe sammelt, meiden! So gehen ihnen Regen und Sonnenschein, den ihnen das Leben schickt, verloren, ohne daß sie am inwendigen Menschen zunehmen, weil Regen und Sonnenschein über den Acker dahingehen, ohne daß das Senfkorn darin gepflanzt ist. Man redet vom zwecklosen Dasein! Das Dasein und alles, was es bringt, ist an sich nicht zwecklos, sondern eswird eserst, wenn die Menschen es zwecklos machen. Zweck desDaseins ist, daß durch die Erfahrungen des Lebens unsere Seele erfüllt werde von göttlicher Wahrheit und ihrer göttlichen Bestimmung, daß sie, schon jetzt in diesem Leben,

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dasLeben der Unsterblichkeit in sich trägt. Zwecklos wird dieses Leben, wenn alle Erlebnisse an dem Menschen vorbeiziehen, ohne daß dieses innere Leben in ihm geweckt und gefördert wird – dann allerdings ist dasLeben und alles, was es bringt, zwecklos wie Sonnenschein und Regen, die über ein Land dahingehen, danichts gesät ist. Ich habe heute im Anschluß an das Gleichnis vom Senfkorn mit euch darüber gesprochen: Washat dasKirchengehen für eine Bedeutung für unser Christentum? Ich habe das getan besonders im Hinblick auf diejenigen, denen es nun obliegt, dasWerk der Konfirmation fortzusetzen, indem sie die Konfirmanden dazu anhalten, sich zu gewöhnen, Kirchgänger zu werden, und nicht durch Gedankenlosigkeit diese Pflicht derJugend gegenüber, die ihnen anvertraut ist, zu versäumen, da es davon abhängt, ob diese Kinder lebendige Christen werden. Laßt mich dasGleichnis noch einmal kurz zusammenfassen: Das Senfkorn – das ist der Glaube, den die Kinder in diesem Alter haben. DerAcker – dasist die christliche Gemeinde. In den Ackerboden gesät werden, das ist etwas Äußerliches. So ist auch das Kirchengehen, wodurch man zur Gemeinde gehört, zunächst

etwas Äußerliches. Aber ausdiesem Äußerlichen entspringt geheimnisvolles Leben. Das Senfkorn schlägt Wurzeln – der christliche Glaube sendet auch seine lebendigen Fasern in dasHerz hinein. Wenn das Senfkorn so Wurzeln geschlagen, dann entwickelt es sich unter Regen und Sonnenschein zum großen Baum. Regen und Sonnenschein, das sind die schönen und traurigen Stunden unseres Lebens; durch sie entwickelt sich unser inneres, christliches Leben, wenn in unserm Herzen das Christentum gesät ist, bis zuletzt, wie der große Baum alles überschattet, auch unser Glaube alles lebendig macht.

Nachmittagspredigt Sonntag, 27. April 1902, St. Nicolai|12¡

Phil. 3,20: Unser Wandel aber ist im Himmel|13¡

Zu Philippi saßen die Christen zusammengedrängt im dumpfen Saal und lauschten der Verlesung des Schreibens, das Paulus aus einem Gefängnis an sie gerichtet. Als man aber an dasWort kam: «Unser Wandel aber ist im Himmel», da erbebten sie in ihrem Herzen. Wie ein im Sonnenschein leuchtender Bergsee zwischen dunkeln Felswänden, so lag 12 [R] 3.X.20 abends [wiederholt]. 13 [, von dannen wir auch warten desHeilands Jesu Christi, des Herrn.]

Unser Wandel aber ist im Himmel

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dieser herrliche, zuversichtliche Spruch zwischen den Ergüssen der Trauer des Apostels und seinen eindringlichen Mahnungen.|14¡ Ein überschwängliches Wort. Schon wandeln wir nicht mehr auf Erden, sondern im Himmel, denn wir warten des Heilands, daß er in Bälde erscheinen werde, den Himmel auf die Erde bringe und uns selbst verkläre zu seiner Herrlichkeit – das besagten die Worte des Paulus für sie. Um sie zu verstehen, müssen wir uns erinnern, daß Paulus und die ersten Christen die nahe Wiederkunft des Herrn auf Erden täglich, ja stündlich erwarteten. Wir denken nicht mehr so. Unser Glaube ist gealtert und geläutert. Jene ersten Christen brauchten eine solche sinnenfällige Hoffnung auf die nächste Zeit, um in den Verfolgungen freudig zu beharren. Durch die Geschichte der Christenheit aber hat uns der Herr zu einem vom Sinnenfälligen abgewandten, einzig auf das rein Geistige gerichteten Glauben erzogen. Und doch, ich würde es für uns beklagen, wenn wir deswegen weniger freudig gewiß wären als die Christen zu Philippi, daß unser Wandel eigentlich im Himmel ist, weil unser Heiland Jesus Christus den Himmel uns auf die Erde herniederbringt. Wir wären arme Christen, wenn diese herrlichen Worte desPaulus weniger für uns wären als für die, denen sie zuerst verlesen wurden. Nein, wir glauben gewiß, daß es eine übersinnliche, geistige Welt gibt, der wir schon hienieden angehören, weil wir es spüren, wie der verklärte Geist unseres Heilands in uns kräftig ist, uns stärkt, erhält und verklärt und den Himmel in unser Herz bringt, damit wir nicht aufgeben und untergehen in dem Treiben dieser sinnlichen Welt. Daß wir eine solche geistige Kraft in uns spüren, das ist für uns die Gewißheit, daß es einen Himmel gibt, auch wenn er anders ist, als wir ihn uns als Kinder vorstellten, und wenn wir auch keine Anschauung haben, wie diese ewige, geistige Welt denn ist, von der diese irdische Welt nur ein vergängliches Abbild ist. Darum warten wir auch des Kommens unseres Herrn – nämlich seines geistigen Kommens in unser Herz. Und wenn er nicht mit uns ist, da können wir uns nicht zu demWort aufschwingen: «Unser Wandel ist im Himmel.» Es ist dann übertrieben, unwahr für uns, denn er hat den Himmel nicht in unser Herz gebracht. Wir sinken in die Alltäglichkeit ein, als wandelten wir über einen Sumpf. «Ohne mich könnt ihr nichts tun»– so sprach er einst zu seinen Jüngern [Joh. 15,5]. Wir haben es schon alle erfahren. Es ist euch schon vorgekommen, daß ihr euch etwas Gutes vornahmt. Ich will annehmen, es war ein Werk der Liebe und Uneigennützigkeit gegen eure Nächsten, oder ihr nahmt euch vor, über kleinliche Zwistig14 [R] DasWort, das über dieVergänglichkeit alles Irdischen hinwegtröstet.

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keiten und Unzuträglichkeiten euch hinwegzusetzen, statt euch daran aufzuhalten, und so einWerk derVerträglichkeit, Geduld und Sanftmut zu tun, oder ihr hattet einen Schmerz, ein körperliches Leiden oder eine seelische Traurigkeit und wolltet euch nun wieder zur Klarheit und Freudigkeit heraufarbeiten. Ihr unternahmt es mutig und freudig, aber dann kam das Erlahmen und die Gleichgültigkeit wieder über euch, und ihr fielt in das Alltägliche zurück und dachtet bei euch selbst, es sei töricht, seinen Wandel höher stellen zuwollen. Keinem von uns sind diese Zeiten der Ernüchterung, des Irrewerdens an uns selbst und an unserm höheren Streben erspart geblieben – und wißt ihr, warum? Weil wir nicht des Herrn warteten. Wir waren allein, unser Streben und unsere Vorsätze waren nicht geheiligt im Gebet, es klebte ihnen etwas von Selbstgefallen und von Ehrgeiz an, keine höhere Kraft hielt uns, und so mußte diese Ernüchterung und dieses Irrewerden an uns selbst kommen, daß wir lernten, unseres Heilands Jesu Christi warten und ihn bitten, er möge mit seiner geistigen Kraft in uns wirken und stark sein, unser Streben und unsern Willen heiligen und verklären und sich untertänig machen. «Ja, komm, Herr Jesu», so schließt die Offenbarung des Johannes [Apk. 22,20], und in diesem Schlußwort liegt dasheiße Flehen jener ersten Christenheit, daß der Herr komme, die Gläubigen verkläre und den Himmel auf Erden schaffe. «Ja, komm, Herr Jesu» – auch wir beten noch so mit jenen ersten Gläubigen, komm und verkläre unsern inwendigen Menschen, bring den Himmel in unser Herz, heb es hinaus über das Alltägliche, mach es still und befreie es von der Selbstsucht. «Ja, komm, HerrJesu» – wir warten dein, bis du uns heimführst zu dir.

Morgenpredigt Sonntag, 11. Mai 1902, St. Nicolai

Lk. 10,17–21: Die Rückkehr der 70|15¡

Es war Erntezeit. Die Männer des Volkes, das um Jesus versammelt war und ihm von Dorf zu Dorf folgte, schickten sich an, nach Hause zurückzukehren, um die Ernte heimzubringen. Er aber wählte siebzig aus unter denen, die er kannte, weil sie oft um ihn gesessen (es war, nachdem die Zwölf ausgesandt waren [Lk. 9,1–6.10]), und sagte zu ihnen: 15 [Die Siebzig aber kamen wieder mit Freuden und sprachen: Herr, es sind uns auch dieTeufel untertan in deinem Namen. Er sprach aber zu ihnen: Ich sah wohl den Satanas vom Himmel fallen wie einen Blitz. Sehet, ich habe euch Macht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skorpione, und über alle Gewalt des Feindes; und nichts wird euch beschädigen. Doch darin freuet euch nicht, daß euch die Geister untertan sind; freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind.]

Die Rückkehr der 70

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Geht zuvor aus und predigt das Evangelium, dann kommt wieder, und ich entlasse euch. Siebzig Männer, sinnbildlich gewählt nach der Zahl der siebzig heidnischen Völkerschaften, so viele zählte man nämlich im Alten Testament. Es waren die Unfertigsten der Unfertigen, die er aussandte – und doch hieß er sie gehen undpredigen, denn er wußte, daß sie etwas empfangen würden, daß ihnen etwas offenbart würde bei dieser Tätigkeit. Und er täuschte sich nicht. Wir haben gekämpft und gesiegt, rufen sie freud erfüllt, als sie zurückkehren. Sie haben gekämpft und gesiegt gegen die dunkle Macht der Sünde, gekämpft und gesiegt durch ihn, der ihnen die Macht gegeben hat. Nun haben sie das Geheimnis des Christentums, sie tragen es in sich, da niemand es von ihnen nehmen kann, denn das Christentum ist Kampf und Sieg durch Jesus. Darum preist Jesus Gott in jener Stunde, daß er dieses Geheimnis, das den Weisen und Klugen verborgen ist, den Unmündigen geoffenbart hat. Er hat es ihnen nicht offenbart, weil sie Unmündige sind, sondern weil sie als die Unmündigen gewirkt und gekämpft haben. Nicht durch dasDenken und Nachsinnen erfaßt man das große Geheimnis, dasüber der Welt und unserm Dasein schwebt, sondern die höhere Erkenntnis, die geht erst auf in dem Wirken, in dem Arbeiten. Darum ist für diese höchste Erkenntnis kein Unterschied zwischen Weisen und Unmündigen, sondern dem Unmündigen wird geoffenbart, wasdemWeisen verschlossen ist – wenn er wirkt. In dem Wirken liegt Erkenntnis und Zuversicht. Ein Mensch, der nicht wirkt, der kommt nicht weiter als bis zu dem Satz: Das Leben ist Kampf und Not. Aber ein Mensch, der wirkt, der kommt zur höheren Weisheit: Das Leben ist Kampf und Sieg. Darum zwingt Gott die Menschen zur Arbeit, darum gibt er ihnen Kinder zu erziehen, darum legt er ihnen eine Pflicht auf, daß sie in dem Handeln zur tieferen Erkenntnis, zur Zuversicht und zum Glauben an einen Sieg durch Christus

kommen müssen. «Ich lag in schweren Banden, du kommst und machst mich los»|16¡ – ihr kennt diesen schönen Vers. Wie aber tritt Jesus zu denen, die in schweren Banden des Kummers oder der Reue liegen? Er tut vor ihnen eine Pflicht, eine Aufgabe auf, und dann finden sie in diesem Wirken, nicht ohne schweren Kampf, das Vertrauen und den Glauben wieder, denn in demWirken, da spüren sie die göttlichen Kräfte, die alles erhalten und beleben. Es ist mit dieser Erkenntnis des Lebens wie mit einem Menschen, der am Fenster sitzt und schaut, wie der Märzwind die dunkeln Wolken am Himmel daherjagt: Wie traurig, wie öde, sagt er, weiter kommt er 16 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 4.]

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nicht. Zur selben Zeit arbeitet ein Arbeiter auf dem Feld – er sieht, wie derWind dieWolken jagt, aber er erfaßt mehr. Er erfaßt den lebendigen Hauch, er spürt dasLeben, dassich allenthalben regt, die sieghafte Kraft, die nicht aufzuhalten ist. – Er allein hat den Märzwind verstanden, weil er als Arbeiter auf dem Felde stand. Und so merken auch nur diejenigen Menschen, die als Arbeiter auf dem Feld des Lebens stehen, den Lebenshauch und dasWalten des sieghaften, göttlichen Geistes in der Welt. Ein Mensch, der wirkt, kann nicht verzagen an dem Sieg des Göttlichen über dasBöse. Ihr habt schon alle den Namen des Philosophen Schopenhauer gehört, der durch seine Schriften den Menschen als die höchste Weisheit mitteilen wollte, daß das Leben nur Leiden, Kampf und Elend sei. Ich kann nie eine Seite von ihm lesen, ohne mich zu fragen: Was wäre aus diesem Menschen geworden, wenn er, statt sich fremd und vornehm von irgendeinem Beruf und von den Menschen zurückziehen zu können, gezwungen worden wäre, als Schullehrer in ein armes Gebirgsdorf zu gehen und dort die Aufgabe gefunden hätte, eine verkommene und verwahrloste Jugend zu brauchbaren Menschen heranzubilden? – Er hätte seine berühmten Bücher nicht geschrieben, die Leute hätten ihn nicht umjubelt, man hätte ihm keine Lorbeerkränze auf die weißen Locken gedrückt, aber er selbst hätte mehr gewußt, er wäre für sich zur tieferen Erkenntnis durchgedrungen, daß das Leben nicht Kampf allein, sondern Kampf und Sieg ist. Aber so war er nur ein Weiser, und die unmündigen und unwissenden galiläischen Männer, die Jesus ausgesandt hatte, daß sie wirkten, besaßen höhere Weisheit als er, denn es war ihnen offenbar geworden das Geheimnis, daß das Leben Kampf und Sieg ist in Christus. Aber sie trugen dieses Geheimnis noch in einer sinnlichen Form. Sie rühmten und freuten sich, daß sie durch Jesu Macht Gewalt an sich erfahren hatten, Zeichen zu tun, Kranke zu heilen und unreine Geister zu bannen. Jesus freut sich mit ihnen. Ja, gewiß, sagt er zu ihnen, die Zeit des siegreichen Kampfes mit der bösen Macht ist angebrochen. Und damit sie’s verstehen, redet er ihnen in der Sprache der Zeit. Ich sah den Satan als einen Blitz vom Himmel fallen, Schlangen und Skorpione können euch nichts anhaben, denn ich habe euch Macht gegeben, und nichts wird euch beschädigen. Aber nun mit einem Worte, ehe er ihnen den Segen gibt und sie nach Hause entläßt, wirft er einen Schleier über all diese sinnenfällige Freude, indem er sagt: «Doch darin freuet euch nicht, daß euch die Geister untertan sind. Freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind.» Was er wollte mit dieser höheren, innerlichen Freude, verstanden sie nicht. Aber in der Folge sollten sie es erfahren. Sie kamen nach Hause, und dasalltägliche Leben mit seinen Kleinlichkeiten und Sorgen nahm wieder Besitz von ihnen. Und da kam ein Kampf mit der bösen Macht, der

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war viel schwerer als der, den sie auf ihrer Predigtreise bestanden. Es war nicht der Kampf gegen den Satan, der in den Lüften wohnt und durch den Mund der Besessenen Lästerworte redet, sondern es war der Kampf gegen die böse Macht, die in ihrem Herzen wohnte. Es war der Kampf gegen die Sünde, um demWorte nachzutrachten: «Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist» [Mt. 5,48], es war der Kampf um die Herzensreinheit, um das Gottvertrauen, um die Hoffnung in Trübsal, um den Glauben. Und dieser stumme, innerliche Kampf war schwer, denn Jesu Auge ruhte nicht mehr auf ihnen, und er war fern von ihnen, nicht mehr auf dieser Welt. Und nun, in diesem inneren Kampf, da ging ihnen auf, was er gemeint, als er ihnen bei ihrer Rückkehr von einer höheren Freude redete. Jene Worte, die letzten, die sie von ihm gehört: «Ich habe euch Macht gegeben, nichts wird euch schädigen, freuet euch, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind», jetzt verstanden sie sie als ewige, innerliche, unvergängliche Worte. Sie verstanden sie, wie wir sie verstehen: Als dieWorte des Herrn an die Kämpfenden. Und noch heute leuchten diese Worte wie glänzende himmlische Sterne in die Herzen der Kämpfenden. «Ich habe euch Macht gegeben» – Christus ist eine Kraft in den Ringenden. Wer vermöchte dies zu erklären? Wer vermöchte, zu erklären, wieso seine Kraft und seine Macht damals in jenen Ausgesandten in Galiläa lebte, daß sie Zeichen taten wie er? Und doch, sie erfuhren es an sich. So ist auch Christus heute noch eine Macht in allen denen, die an ihn als ihren Heiland von Herzen glauben, sie haben eine Kraft in sich, von der man äußerlich nichts sieht und die man nicht erklären kann, eine Kraft, die sie vorwärts führt und die sie erhält. Und diese Macht zeigt sich erst dann recht an uns, wenn wir Schaden nehmen am äußeren oder inwendigen Menschen. «Nichts wird euch schädigen.» Der Herr hat’s gesagt. Nichts, keine Trübsal und keine Krankheit, kein Schmerz und keine Enttäuschung, sondern aus allem diesem schweren Ringen werdet ihr gekräftigt und erneuert, reich am

inwendigen Menschen hervorgehen. «Nichts wird euch schädigen»: Auch der Fall und die Sünde nicht, sondern wer an mich als den Heiland glaubt, der geht durch Erniedrigung und Reue zur Freudigkeit der Vergebung ein und darf ein neues Leben beginnen. Darum dieses Unvergängliche: «Freuet euch, daß eure Namen im Himmel aufgezeichnet sind», nicht als die der Seligen, nicht als die der Ruhenden, sondern als die der Kämpfenden und durch Jesus Christus zum Sieg Bestimmten. Freuet euch, daß ihr nicht verloren gehen könnt, weil Gott seine Hand über euch hält. Als jene Galiläer heimgingen, träumten sie Frieden und Friedensfreude. Aber in dem «Freuet euch», das er ihnen nachrief und das sie

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nicht verstanden, lag etwas von dem Wort: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern dasSchwert» [Mt. 10,34]. Es war ein prophetisches Wort. In den Kämpfen und Anfechtungen, da die Wogen über ihnen zusammenschlugen, da erklang es wieder für sie, jenes gewaltige «Freuet euch» an die Kämpfenden und die Ringenden – und nun verstanden sie und seither viele Tausende von Kämpfenden: «Freuet euch, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind.» Es wareiner, der stand nicht dabei undhat dieses «Freuet» nicht gehört. Aber die ganze Herrlichkeit, die in diesem «Freuet euch» liegt, hat er mit Engelszungen verkündet. Es war der Apostel Paulus – und seine Deutung des «Freuet euch» an die Kämpfenden steht im 8. Kapitel des Römerbriefes. Laßt mich mit seinen Worten schließen (Röm. 8,31– 39):|17¡

Nachmittagspredigt Pfingstsonntag, 18. Mai 1902, [St. Nicolai]|18¡

Joh. 16,13: Wenn aberjener, der Geist derWahrheit, kommen wird, der wird euch in alleWahrheit leiten

Es ist eine herrliche Geschichte, die Pfingstgeschichte, und man kann sie nie genug hören. Wohl verstehen wir nicht alles daran. Waswar dieser heilige Geist, der wie Feuerzungen auf dieJünger herniederkam und sie ergriff wie ein Sturmwind? Was war jener heilige Geist, der ihnen jene verzückten Worte eingab, daß alle meinten, sie sprächen ihre Sprache? Was warjener heilige Geist, von dem der Apostel Paulus erzählt, daß er, wenn die Gemeinde versammelt war, den oder jenen erfaßte, und er nun auftrat und redete dunkle Worte, also daß einer neben ihm stehen und dieWorte deuten mußte. Von dieser äußerlich-gewaltigen Wirkung des heiligen Geistes sehen wir in unserer Zeit nichts mehr – wir können uns nicht mehr erklären,

17 [Was wollen wir nun hiezu sagen? Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? welcher auch seines eigenen Sohnes nicht hat verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben; wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht. Wer will verdammen? Christus ist hier, dergestorben ist,ja vielmehr, derauch auferwecket ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns. Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert? wie geschrieben steht: ›Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.‹ Aber in dem allem überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn.] 18 [Nach dem Kirchenboten fand diese Nachmittagspredigt in St. Nicolai statt.]

Geist der Wahrheit

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wie es war – und doch, derselbe Geist, der damals sich kundgab, wirkt auch heute noch. Denn das Große, das jener Geist tat, das war nicht jenes Äußerliche, sondern daß er wirkte in den Herzen von dreitausend Menschen, sie in einem Augenblick umwandte und erneuerte, so daß sie sich taufen ließen undein neues Leben begannen. DasWirken desGeistes war, daß injener Zeit in kürzester Frist allenthalben, in Palästina, in Asien, in Italien, in Gallien, christliche Gemeinden entstanden, als wüchsen sie aus dem Erdboden hervor, so daß man nicht weiß, wer sie alle gegründet hat undwie es so schnell gegangen. Und dieser heilige Geist lebt und webt fort und fort in der Kirche und führt sie zur Wahrheit. Als Luther die Befreiungsworte gegen den Ablaß am letzten Oktober an der Schloßkirche zuWittenberg anschlug, dawar es, als trüge sie der Novembersturm bis in die entlegensten Orte Deutschlands. Und wer hat das gewirkt, daß überall diese Worte gegen den Aberglauben ein Echo fanden in den Herzen – war das nicht auch Wirken desheiligen Geistes? Es kann kein Mensch einen Blick auf die Geschichte der christlichen Kirche tun, ohne daß er sagen muß: «Ich glaube an den heiligen Geist», wie esin dem alten Bekenntnis heißt. Ich glaube, daß der göttliche Geist derWahrheit, der alles hervorgebracht hat, alles erhält und auch in Zeiten erhalten wird. Mögen Menschen spotten und lachen und alles natürlich wollen erklären – wie sieja auchjene verzückten Worte derJünger als Stammeln der Trunkenheit erklärten – das hat nichts zu bedeuten; wir sind es gewiß, daß eine höhere Macht dasalles wirkt. Wir glauben an den heiligen Geist – daß er um unswaltet, aber besitzen wir ihn? Gewiß, er lebt in denWorten der heiligen Schrift, in den Worten von Liebe, Erlösung und Sündenvergebung, die wir von Kind auf empfangen haben. Kein Mensch von allen denen, die anJesus Christus als ihren Heiland glauben, tut es, ohne daß dieser Glaube vom heiligen Geist gewirkt ist. Keiner erkennt, daß das Christentum die Wahrheit ist, es sei denn, daß der heilige Geist ihn erleuchtet habe. Der heilige Geist ist wie das Licht der Sonne; es umflutet uns, damit wir mit unserm irdischen Auge sehen können. So ist der heilige Geist das Licht unseres Herzens, daß wir das Evangelium erkennen können und uns daran getrösten und freuen mögen. Verspüren wir aber dasWehen des Geistes in unserm eigenen Herzen? Ich kann für euch keine Antwort geben. Aber doch – das wäre doch ein armer Christ, der nicht solche heilige Augenblicke hätte, da er fühlte, wie eine geistige Kraft an ihm wirkte und an ihm arbeitete, der nicht diese herrlichen Momente innerer Freudigkeit empfunden, wo man sich über alles Irdische erhebt, als ließe man die Welt hinter sich zurück.

Ihr seid schon draußen in der Natur gegangen, ihr beschäftigtet euch mit dem undjenem, ihr spracht und unterhieltet euch und hörtet

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nicht das leise Säuseln des Windes. Aber dann, wenn ihr euch setztet und alles still um euch war, dann hörtet ihr es. So ist es auch mit dem Wehen des Geistes. Wenn man im täglichen Leben dahingeht und die vielfältigen Beschäftigungen und Sorgen auf sich einreden läßt, hört man nichts vom Wehen des Geistes. Aber in den Augenblicken, da die Seele ausruht und sich sammelt, daverspürt man ihn. Und darum dürfen wir Gott gläubig um seinen heiligen Geist bitten. Es ist das höchste Gebet, daß er nämlich durch seinen Geist an unsern Seelen arbeite, uns läutere und verkläre. Des dürfen wir gewiß sein: In den Augenblicken, wo wir ihn bitten, daß er unserm Leben durch seinen Geist die höhere Weihe gebe, da läßt er sich nicht unbezeugt an uns, sondern wir dürfen es erfahren, daß es einen heiligen Geist gibt. «O heilger Geist, kehr bei uns ein.»|19¡

Morgenpredigt, Sonntag, 25. Mai 1902, [St. Nicolai]|20¡ Innere Mission

Lk. 10,25– 37: Der barmherzige

Samariter|21¡

Seit noch nicht allzu langer Zeit hat unsere Kirchenbehörde die Anregung gegeben, daß am Sonntag nach Pfingsten in unsern Gemeinden der inneren Mission gedacht werden soll. Diese Bestimmung ist mit Freuden zu begrüßen. Und wenn durch dieses «Fest» auch nur das eine 19 [Michael Schirmer: O heilger Geist, kehr bei unsein, Str. 1.] 20 [Der Kirchenbote nennt Schweitzer als Prediger am Morgen in St. Nicolai.] 21 [Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muß ich tun, daß ich dasewige Leben ererbe? Er aber sprach zuihm: Wie steht im Gesetz geschrieben? Wie liesest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten als dich selbst. « Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tue das, so wirst du leben. Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zuJesu: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging vonJerusalem hinab genJericho und fiel unter die Mörder; die zogen ihn ausund schlugen ihn und gingen davon und ließen ihn halbtot liegen. Es begab sich aber ungefähr, daß ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und da er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit; da er kam zu der Stätte und sah ihn, ging er vorüber. Ein Samariter aber reiste und kam dahin; und daer ihn sah,jammerte ihn sein, ging zu ihm, verband ihm seine Wunden und goß darein Öl undWein und hob ihn auf sein Tier und führte ihn in die Herberge und pflegte sein. Des andern Tages reiste er und zog heraus zwei Groschen und gab sie demWirte und sprach zu ihm: Pflege sein; und so du was mehr wirst dartun, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. Welcher dünkt dich, der unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Mörder gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zuihm: So gehe hin und tue desgleichen!]

Der barmherzige Samariter

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erreicht wird, daß wir mehr mit dem bekannt werden, was die innere Mission ist und will, so wäre schon gar viel erreicht. Denn ich glaube, es sind nicht allzuviele in unsern Gemeinden, die über die Ziele und das Wirken der inneren Mission genau unterrichtet sind, und die Gleichgültigkeit, die den Bestrebungen der inneren Mission entgegengebracht wird, hängt mit dieser Unkenntnis zusammen. Es ist unlängst ein klar geschriebenes Buch erschienen, das den Titel führt: «Wasjedermann heute von der inneren Mission wissen muß.» Ich hätte die Bitte, daß diejenigen, die den Preis des Buches (es kostet 1 Mark 50) dranwenden können, es sich anschafften und darin läsen, damit es auch in unserer Gemeinde seinen Zweck erfüllte, Kenntnis von der inneren Mission und Interesse an derselben zu verbreiten. Wir aber wollen in dieser Stunde ein ernstes Wort über diesen Gegenstand im Anschluß an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter reden, denn dieses Gleichnis ist geradezu das Gleichnis der inneren Mission. Es steht in demselben Kapitel, wo Jesus seine siebzig Jünger aussendet, daß sie für ihn wirken. Was ist die innere Mission? Es ist die geordnete und organisierte Zusammenfassung aller Werke der Barmherzigkeit, die in unserer Zeit notwendig sind, die durch unsere Zeit notwendig geworden sind. Zwar sind durch unsere geordneten Verhältnisse die Räuber und Mörder als Landplage von den Straßen verschwunden, aber die neuen Verhältnisse sind selbst zu Räubern und Mördern an soundso vielen menschlichen Existenzen geworden. Die Industrie mit der Macht des Kapitals beutet die Menschen aus und macht sie zu Arbeitsmaschinen. Sie greift ihre Gesundheit an, sie reißt sie aus der Heimat heraus und führt sie auf dem Weg des Verdienstes zur Großstadt. Sie entzieht sie dem Familienleben und macht durch die unmöglichsten Wohnungsverhältnisse eine stille und zufriedene Häuslichkeit, ohne die ein Mensch zugrunde geht, unmöglich. Sie nimmt den Kindern die Mutter, das Sonnenlicht und die roten Wangen. Durch unsere modernen Verhältnisse kommt es, daß so viele Kinder verkrüppelt und verwahrlost aufwachsen, zahllosen und unnennbaren Versuchungen ausgesetzt sind und oft den bösen Weg gehen, wo sie doch in andern Verhältnissen ehrbare und brave Menschen geworden wären. Gewiß, unsere modernen Verhältnisse sind schlimmer als Mörder und Wegelagerer, denn ihre Opfer zählen nicht nach Zehnen und Hunderten, sondern nach Tausenden und Abertausenden. Und die Arbeit an diesen Zerschlagenen, die Anstrengung, diesen Schäden entgegenzuwirken, das ist eben die innere Mission. Sie ist ein Werk der Barmherzigkeit, unsere Pflicht der Barmherzigkeit. Aber noch mehr: Sie ist ein Werk des Glaubens und der Versöhnung. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter kommen sie auch zusammen, der Ausgestoßene und der Gläubige, und der herrliche Ab-

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schluß der Geschichte ist, daß hier Samariter undJude, die beide sonst von Mißtrauen und Haß gegeneinander erfüllt waren, versöhnt werden dadurch, daß einer von ihnen dem andern die rettende Hand gereicht

hat. Auch in der inneren Mission handelt es sich um dieVersöhnung zwischen Gläubigen und Ausgestoßenen, denn alle die, welche an unsern heutigen Verhältnissen zugrunde gehen, fühlen sich als die Ausgestoßenen. Eine den christlichen Namen tragende Kultur, sagen sie, richtet uns zugrunde, und keine Hand streckt sich nach uns aus. Und darum fluchen sie dem Christentum, sie nennen es die Religion der besitzenden Klasse. Mit der sozialen Not wächst die Entkirchlichung und Entchristlichung und der Haß gegen dasChristentum. Darum ist die innere Mission mehr als ein Werk der Barmherzigkeit – sie ist ein Werk der Versöhnung, ein Werk, durch welches die Wahrheit des Christentums erwiesen wird. Früher schrieb man lange und gelehrte Bücher, die man Apologien des Christentums nannte, in denen man das Christentum wissenschaftlich verteidigte und die Angriffe gegen seine Lehren entkräftigte. Das hat für unsere Zeit keine Bedeutung. Die Verteidigung des Christentums unserer Tage ist die innere Mission. Gewinnt es durch sein Liebeswerk dieVerstoßenen, wirkt es durch sein TunVersöhnung, so ist es gerechtfertigt. Führt es aber dieses Tun nicht durch und bleibt weiterhin Gleichgültigkeit, dann ist es verurteilt und keine noch so gelehrte und noch so gekünstelte Verteidigung seiner Lehre kann es retten. Hat doch unser Herr selber gesagt: «An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen» [Mt. 7,16]. Ich brauche euch die Werke der inneren Mission nicht näher aufzuzählen. Es ist die Fürsorge für die Arbeiter, die Heimatlosen, die Arbeitslosen und die Erwerbsunfähigen, es ist die Fürsorge für die Gefährdeten, die Gefallenen und die entlassenen Gefangenen, es ist die Fürsorge für die Kinder, für dieWaisen, dieVerwahrlosten, die Siechen, Verkrüppelten, Idioten, Blinden und Taubstummen, es ist der Kampf gegen dasWohnungselend, gegen dieTrunksucht und gegen das Laster. Ihr sehtja alle diese Bestrebungen in unsern Mauern. Aber welches ist denn der Stand dieser Werke? Es ist derselbe Stand wie augenblicklich draußen in der Natur. Herrliche Ansätze allenthalben, daß man sich der Pracht nicht genug freuen mag, aber gar viel erfroren, verkümmert und zurückgehalten durch die unzeitgemäße Kälte und durch den Mangel an Sonnenlicht. So kann sich auch die innere Mission nicht entfalten, obwohl es an der Zeit wäre, weil die Gleichgültigkeit weiter christlicher Kreise darüber liegt wie ein Frühjahrsfrost. Und woher kommt denn diese Leblosigkeit der großen christlichen Masse? Sie kommt daher, weil gar viele nicht mehr wissen, wer ihr Nächster ist. Warum hat denn der Pharisäer diese Frage gestellt? Ist ihm

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der einfache Satz: Der Nächste ist derjenige, der deiner bedarf, etwas Unerschwingbares, so daß er sich nun vonJesus Lehre darüber erbitten muß? Nein, nicht eine Unkenntnis, sondern eine Untätigkeit liegt hinter der Frage. Es ist, als wollte er sagen: Lieber Meister, es gibt so viele Nächste, so viele Leute, die meiner bedürften für mich – und ich kann doch nicht jedem helfen. Wer hat diese Entschuldigung seinem eigenen Herzen nicht schon entgegengehalten, wenn es anfing, unsVorwürfe zu machen, daß wir zu gleichgültig und zu bequem waren, um der Not, die wir um uns sahen, zuwehren? Und nun antwortet der Herr mit einem Gleichnis auf diese Entschuldigungsfrage. Habt ihr schon darauf geachtet, wie merkwürdig dieses Gleichnis ausgeht? Es soll antworten: Wer ist mein Nächster? Und nun würde man erwarten, es schließe mit denWorten: Der unter die Räuber Gefallene war der Nächste des Samariters, weil er seiner bedurfte. Aber nein, der Herr läßt sich antworten: «Der die Barmherzigkeit an ihm getan hat», also der Samariter, der war der Nächste desGeschlagenen. Was bedeutet denn das, daß der Herr die ganze Frage umkehrt und aus dem Satz: Der Nächste ist der, der meiner bedarf, den Satz macht: Der Nächste bin ich selbst dem, dem ich Hilfe bringe? Daß es also gleichsam zwei Nächste gibt, einen, der leidet, und einen, der handelt? Jesus will ihm damit sagen: Die Menschen brauchen nicht zu fragen, wer ihr Nächster ist, denn Gott führt die Menschen also zusammen, daßjeder von uns weiß, wer sein Nächster ist und für wen ihn Gott zur Hilfe bestimmt hat. Aber daß wir nun diesem Menschen, den uns Gott als Nächsten bestimmt hat, durch dieTat der Nächste werden, dasist es, was Gott von uns verlangt und was die Menschen sich dann ausreden wollen. Der Priester und der Levit, will Jesus sagen, wußten, daß Gott sie umjene Stunde aufjener Straße vorbeiziehen ließ, daß sie dem Angefallenen Hilfe brächten. Gott hat ihnen klar gezeigt: Das ist dein Nächster, und doch haben sie Gott nicht gehorcht und sind nicht durch dieTat nun selbst der Nächste jenes Mannes geworden, sondern sie sind Gott entlaufen, nicht aus Bosheit, sondern aus Bequemlichkeit; sie haben sich ausgeredet, daß Gott ihnen diesen Menschen als Nächsten sandte, damit sie ihm persönlich Hilfe leisteten, sondern sie entschuldigten sich selbst und sagten bei sich: Welch ein Glück, daß ich hier vorbeikomme, ich werde von Jericho aus Leute hinaufsenden. Und nur einer gehorchte der Stimme Gottes und wurde so sein Nächster. Es ist wirklich so, wie es im Gleichnis steht, und der, welcher es leugnen wollte, müßte sich selbst belügen: Gott zeigt jedem Menschen, wer sein Nächster ist. Er läßt ihm durch eine innere Stimme sagen, daß er den und den Menschen auf seinem Wege antrifft, daß er ihm helfe, und was wir dann müssen, ist, daß wir der Stimme gehorchen und uns nicht ausreden wollen, es sei unser Nächster. Wenn ich euch jetzt fünf Minuten gäbe, daß jeder sich jene Momente ins Gedächtnis zurückriefe, wo

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er es klar und bestimmt innerlich wußte, der und der ist dein Nächster, von dir soll ihm Hilfe oder Trost kommen, und ihr es euch doch ausredetet und euch bei euch selbst entschuldigtet, es gäbe viele Selbstanklagen in diesen fünf Minuten. O wie gedankenlos und bequem sind wir doch, um Nächste zu werden und die Erkenntnis zurTat werden zu

lassen.

Ich erzähle euch auf der Kanzel nicht oft Geschichten und Beispiele und am wenigsten eigene Erlebnisse, weil ich finde, daß alle Menschen das gleiche erleben undjeder nur bei sich selbst anklopfen braucht, um für jeden wahren Satz, den ein Prediger sagt, überreich viel Beispiele in sich selbst zu finden. Und doch möchte ich euch für dies eine Mal gern erzählen, wie ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter in seinem inneren Gedanken erlebt und verstanden habe, damit ihr den Gedanken, den ich ausführen möchte, recht begreift. Es war im vergangenen Jahr in den ersten Tagen des März. Ein scharfer Wind wirbelte die Flocken wild durcheinander. Ich hatte eine Besorgung draußen beim Bahnhof zu machen. Und als ich nun über die Brücke ging, begegnete mir eine Frau. Sie schob einen Wagen mit einem Kind drin, und alte Hausgeräte schauten aus einem Pack heraus. Zwei andere, kümmerlich gekleidet, hielten sich an ihrem Rock. In dem Antlitz desWeibes aber lag eine solch unnennbare Traurigkeit und ein so tiefes Weh, daß man sah, sie wußte nicht, wohin. Und nun trieb es mich innerlich: Ich wußte genau, daß ich ihr auf dieser Brücke begegnet war, weil ich ihr helfen und mit einer Teilnahme an sie herantreten sollte – und doch ließ ich sie vorübergehen. Ich redete mir ein, daß sie ja den Polizisten am Eck fragen könnte, und der könnte ihr besser als ich sagen, wo Obdachlose unterkommen, ich wollte mir selbst glaubhaft machen, meine Besorgung eilte, und sagte mir: Wenn du sie auf dem Rückweg noch einmal antriffst, kannst du sie noch ansprechen, sie kommt nicht so schnell vorwärts mit ihren Kindern. Aber als ich zurückkam, war sie verschwunden. Ich habe stundenlang sie gesucht und gemeint, ich müßte sie finden, um wieder gut zu machen, was ich im Augenblick verfehlt – und sie blieb verschwunden. In der Erschütterung, die ich damals erlebte, habe ich erst verstanden, um was es sich eigentlich in der Frage handelt: Wer ist mein Nächster? Nämlich daß Gott jedem von uns zeigt, wer sein Nächster ist, daß wir ihm aber aus dem Weg laufen und uns immer sagen: Nein, der war’s nicht, und wieder: Der war’s nicht, und so bis ans Ende des Lebens kommen und tagtäglich an unserm Lebensweg den treffen, der uns von Gott zum Nächsten bestimmt ist, und doch nicht sein Nächster werden und so bis an unser Lebensende nicht wissen, wer unser Nächster ist. Und der Umstand, daß die meisten Menschen durchs Leben gehen und nie lernen, durch dieTat, wer ihr Nächster ist, dasist der Nachtfrost

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der inneren Mission. Diejenigen, welche sie ins Leben gerufen haben, die haben die Frage, wer ist mein Nächster, durch die Tat beantwortet. Den Epileptischen bin ich der Nächste, sagte der Gründer der Bielefelder Anstalt, den verwahrlosten Knaben bin ich der Nächste, sagte der Gründer des Rauhen Hauses, und so entdeckten sie alle durch die Tat, wem sie der Nächste waren. Aber sie können die Atmosphäre und die Luft in unserer Zeit nicht bessern und nicht erwärmen, so daß überall, wo Elend und Not ist, die warm-balsamische Christenluft hindringt, weil es zuviel Propheten Jona [Jon. 1,1–3] unter der Christenheit gibt und so viele, wenn ihnen der liebe Gott tagtäglich im großen oder kleinsten zeigt: Das ist dein Nächster, ihm entlaufen, daß sie nicht Nächster werden müssen. Der Mensch des alten Bundes, derjene fromme Prophetenlegende geschrieben hat von dem Propheten, der Gott entlaufen will, wenn er ihn hinschickt in die große Stadt zu den Entfremdeten und Verstoßenen, der hat das Menschenherz gekannt, denn was er geschrieben, ist die Geschichte von neunundneunzig Menschen auf hundert. Ich weiß, man möchte es uns heutzutage ausreden, daß die Forderung Jesu, jeder müsse der Nächste werden, wo es ihm Gott zeigt, heute noch so gelte wie vor zweitausend Jahren. Die Verhältnisse seien anders geworden, der einzelne könne nichts machen, laufe Gefahr, nur schlechte Dienste zu leisten, die Gesellschaft müsse alles machen. – Das ist alles bis zu einem gewissen Grade berechtigt. Aber wenn wir meinen, wir dürften uns deswegen die Frage ersparen, ob wir durch die Tat Nächste geworden sind an den Menschen, die uns als Nächste auf dem Lebensweg begegneten, [ist das falsch]. Ich habe auch schon gemeint, unsere Zeit erfordere es, daß man dieWorte Jesu etwas abmildere, aber sie sind so diamanten geschliffen, daß man nicht ein Stäublein davon abnehmen kann. Und wasJesus in den letzten Tagen zuJerusalem gesagt, wonach Gott sich ein Urteil über die Menschen bildet, das gilt heute noch wie vor zweitausend Jahren. Mt. 25,31–46. Was ist für uns das Fest der inneren Mission? Es ist für uns ein Tag der Buße, trauriger Selbstvorwürfe und Selbstanklagen. Es ist für uns aber, so Gott will, auch einTag gesegneter Entschlüsse, daß, wenn übers Jahr am Fest der inneren Mission von dieser Kanzel wieder über die Frage gepredigt wird: «Wer ist denn mein Nächster?», ihr und ich einen Schritt vorwärts gekommen sind durch die Tat zu lernen, Nächste für die zu sein, welche uns auf unserm Lebensweg begegnet sind.

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Nachmittagspredigt Sonntag, 15.Juni 1902,|22¡ St. Nicolai

Ps. 50,14 f.: Opfere Gott Dank|23¡ Heute morgen wurde auf den Kanzeln unseres Landes über ein ernstes, ich möchte sagen, fast düster gestimmtes Gleichnis gepredigt: Das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum (Lk. 13,6–9). Der Herr sucht schon drei Jahre Frucht an einem Feigenbaum, und er findet nichts daran als Blätter. Nun will er ihn abhauen lassen. Aber zuletzt geht er ein auf die Bitten des Gärtners, der den Baum noch begießen und düngen will, und verspricht, noch Zusehen zu haben. In dem Gleichnis liegt ein schwerer Ernst: Gott will etwas von den Menschen. Er hat ein Recht auf sie, etwas von ihnen zu wollen, wie der Besitzer eines Gartens ein Recht hat, von seinen Bäumen Früchte zu verlangen. Und der höchste Zweck des Menschenlebens besteht darin, daß Gott von ihnen empfängt, waser von ihnen begehrt – und wenn er das nicht empfängt, hat ihr Dasein kein Ziel und keine Berechtigung mehr, ebensowenig wie das Dasein eines Fruchtbaumes, der keine Frucht bringt. Wie ein Fruchtbaum, der nur Blätter trägt, dem lieben Gott Sonnenschein und Regen stiehlt, so geht auch alles, wasGott einem Menschenleben zuwendet an Freud und Leid, verloren, wenn es nur seinen äußeren Verlauf bestimmt und nicht innerliche geistige Frucht trägt, daß der Mensch durch das, was er erlebt, Gott durch Freud und Leid näherkommt, zu ihm hingezogen wird, in ihm Friede, Freude und Seligkeit, die unvergängliche Frucht des ewigen Lebens, findet. Diese Frucht soll hervorwachsen ausFreude, ausLeid, ausDanksagen und ausFlehen. Darum heißt es im Psalm: «Opfere Gott Dank und bezahle dem Höchsten deine Gelübde.» Es will einem manchmal scheinen, als ob die alten Völker mit allen ihren falschen, ungeistigen Vorstellungen von Gott doch in einem uns an Frömmigkeit überragt haben: in dem Gefühl des Dankes gegen Gott! Sie brachten ihm aus dem, was er ihnen schenkte auf dem Felde und in den Herden das Schönste und Beste als Opfer dar, und nie unterließen sie ihr Opfer. Wir aber, die wir die geistige Vorstellung Gottes haben und wissen, daß das Opfer, das er von uns verlangt, nicht in äußeren Gaben, sondern in dem innerlichen, frommen Dank unseres Herzens besteht: Wir vernachlässigen, ihm diesesDankopfer zu bringen. 22 [R] Wiederholt 24.X.1920 im Abendgottesdienst. 23 [und bezahle dem Höchsten deine Gelübde und rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisen.]

Opfere

Gott Dank

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Dieser Mangel an Dank liegt wie ein Frost über den Menschen. Es ist ein Stück Erbsünde, daß sie in dieser Gottferne verharren, keinen rechten, freudigen Dank zu ihm haben und durch dasGute, wassie von ihm empfangen an Gesundheit, äußerem und innerem Glück, ihm nicht näherkommen. Ach, wenn nur einmal alle Leute, die gesund sind an Leib und Seele, Gott dafür danken wollten, wenn nur einmal alle Eltern, die gesunde und frohe Kinder haben, Gott dafür danken wollten, wenn nur einmal die, welche geistige Gaben empfangen haben, Gott danken wollten! Aber so sind die Menschen wie Bäume, die nicht blühen! Die Bäume senden ihren Blütenduft zum Himmel empor als Dankopfer für den hellen Sonnenschein, die Menschen vergessen, den Dank empor zu senden für den Sonnenschein, den Gott ihnen in den glücklichen Stunden desLebens sendet! Und wollen wir uns dann noch wundern, daß Gott, weil durch des Glückes Sonnenschein die Menschen ihm nicht näherkommen, nun Frucht von ihrem Herzen sucht durch die Traurigkeit? Weil sie ihre Stimme nicht zu ihm erheben im Dank, sucht er sie durch Not zu bewegen, ihn anzurufen. In der Not, in der Traurigkeit sollen sie ihn finden. «Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisen.» Wie ist dasdoch so wahr. Durch Traurigkeit nach glücklichem gedankenlosen Dahinleben muß uns Gott oft dazu bringen, daß wir erst merken, wie fern wir ihm stehen, wie fremd wir ihm geworden sind. Wir müssen lernen, daß wir Gott brauchen. «Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten»: Das will nicht nur heißen, dir aus der äußeren Not helfen, denn wie oft tut dies der Herr nicht, er hilft nicht äußerlich, sondern innerlich. Ich will dir helfen, dasheißt: Ich will dich stärken, ich will dich erheben ausder Traurigkeit, ich will dir Geduld, Frieden und Seligkeit ins Herz geben, du sollst Ruhe finden in mir. Und du sollst mich dann preisen – preisen, wie es heißt: «Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Herr, unsere Zuversicht für und für» [Ps. 73,25 f.]. Oder wie der Apostel Paulus sagt: «Was kann uns scheiden von der Liebe Gottes?» [Röm. 8,35]. Oder wie es an einer andern Stelle heißt: «Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen wieder mit Freuden und bringen ihre Garben» [Ps. 126,6]. Unsere Seele, die einst verklärt in Gott Ruhe finden soll und in ihm aufgehen soll, muß schon jetzt in diesem Leben ihre Ruhe und ihren Frieden in Gott finden, in ihm gewurzelt werden. Das ist die Frucht, die Gott von einem Menschenleben verlangt. Und wenn er es nicht bekommt, dann versucht er das Letzte wie der Gärtner im Gleichnis. Er legt ein Menschendasein bloß bis auf dieWurzel, er gräbt darum herum

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und läßt reichlich Tränen fließen, ob die Lebenswurzel eines Daseins durch diese Tränenflut erreicht und belebt werde. Er nimmt, ehe er sie von derWelt abruft, die Menschen, legt sie aufs Krankenlager und sagt ihnen: Nun bist du allein mit mir. Gibst du mir dein Herz? Und wir Menschen fragen uns oft: Warum müssen die Menschen noch zuletzt durch soviel Trübsal und Traurigkeit hindurch, ehe sie von dieser Welt

scheiden? Es ist nicht Grausamkeit und Härte Gottes, sondern die Arbeit des liebevollen Gärtners, ob er nicht noch zuletzt von dem unfruchtbaren Baum Frucht schaffe. Selig, wer bis zur letzten Stunde in Freud und Traurigkeit den höheren Sinn dessen, was ihm geschieht, vernimmt und die Stimme Gottes hört: Bring Frucht, gib mir dein Herz. Und mancher, der im Leben keine Frucht gebracht, der hat auf dem Krankenlager Frucht gebracht, sechzigfältig und hundertfältig. «Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht» [Ps. 1,3].

Morgenpredigt Sonntag, 22. Juni 1902, St. Nicolai

Joh. 8,31–36: Wahrheit –

Sünde|24¡

Die Worte Jesu, welche der Evangelist Johannes berichtet, haben ihre Eigenart. Sie sind nicht so einfach und durchsichtig wie die Sprüche des Herrn bei einem Matthäus, Markus oder Lukas, sondern schon in der Form haben sie etwas, das einen gleichsam zwingt, tiefer einzudringen, um sie überhaupt zu verstehen. Die Gedanken Jesu sind hier so tiefsinnig, ich möchte sagen philosophisch gehalten, daß man meint, der Evangelist sei weit in dieWelt hinausgekommen und habe dort die griechisch-römische Weisheit und Philosophie kennen gelernt, habe ausden Reden Jesu gerade das ausgewählt, wasjene zum Nachdenken anregen mußte, und die Reden Jesu so gestellt, daß sie ihnen gleichsam als eine höhere Weisheit undPhilosophie erschien. Worte für Denker – das sind auch dieWorte unseres heutigen Textes, denn er enthält zwei Worte rätselhaft ineinander geschlungen: Wahrheit und Sünde. Washaben denn beide miteinander zu tun? Die Wahrheit ist 24 [Da sprach nunJesus zu denJuden, die an ihn glaubten: So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger undwerdet dieWahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Da antworteten sie ihm: Wir sind Abrahams Samen, sind niemals jemandes Knechte gewesen; wie sprichst du denn: »Ihr sollt frei werden «?Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Der Knecht aber bleibt nicht ewiglich im Hause; der Sohn bleibt ewiglich. So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei.]

Wahrheit



Sünde

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eine Erkenntnis, die Sünde ist ein Tun. Wie kann nun der Herr sagen: Weil ihr die Wahrheit nicht erkennt, seid ihr in Sündenknechtschaft, und dieWahrheit wird euch befreien ausder Sündenknechtschaft. Und doch, Jesus hat recht. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Wahrheit im allgemeinen Sinn und Sünde. Wer in der Sünde gefangen ist, der hat den Sinn verloren für die Wahrheit. Er glaubt nicht mehr, daß die Wahrheit etwas Heiliges ist, er glaubt nicht mehr, daß es eine Wahrheit gibt, sondern er meint, die ganze Erkenntnis der Menschen sind nur einander widersprechende Meinungen. Wahrheit und Sünde – die Verschlingung dieser Worte begegnet unsbei Pilatus. Er ist ein Sündenknecht, in Genußleben erschlafft, ohne Charakter, ohne Würde. Worin zeigt sich aber seine Knechtschaft, sein Niedergang am meisten? Darin, daß er nicht glauben will, daß es eine Wahrheit gibt, sondern über dieses Wort höhnt und spottet: «Was ist Wahrheit?» [Joh. 18,38]. Der Mensch, der uns hier in dem Prozesse Jesu entgegentritt, er ist nicht gestorben, sondern, wie er nur das gebildete Heidentum seiner Zeit verkörpert, so begegnet er uns wieder in den Völkern und in den Menschen aller Zeiten. Nehmt die Zeit des Genusses und der Sünde eines Volkes, schlagt seine Bücher auf, fragt seine Denker: Glaubt ihr, daß es eine Wahrheit gibt? – Und sie werden überlegen lächelnd den Kopf schütteln: Nein, werden sie sagen, es gibt Meinungen, aber keine Wahrheit. Fragt einen Mann, der im Genußleben dahingeht: Glaubst du, daß es eine Wahrheit gibt? – Er wird euch dieselbe Antwort geben. Menschen, die in der Zeit, da sie kämpfen und arbeiten mußten, an eine Wahrheit glaubten, die haben diese edle Überzeugung verloren, als sie zumWohlleben und zum Genuß kamen. Das Dahinleben in Genuß und Sünde ist eine Erschlaffung und Umnachtung des Geistes. Es gibt geistige Güter, die für diese Menschen und Völker nicht mehr existieren, die sie nicht mehr verstehen, und der Inbegriff aller dieser verlorenen Güter ist der Glaube an eineWahrheit. Wir stehen in einer solchen Zeit, die kein Verständnis mehr für eine Wahrheit hat. Man täuscht sich darüber hinweg, indem man an die Stelle der hehren Herrin Wahrheit die mindere Magd Wissenschaft gesetzt hat. DieWissenschaft, dasist dieWahrheit – so spricht unsere Zeit. Und wenn man einst, nach Tausenden von Jahren, unsere Zeit mit einem Worte kennzeichnen will, wird man sagen: Es war die Zeit, wo man dasWissen an die Stelle derWahrheit setzte. Dieses Wissensfieber geht durch alle Gebiete. Es beherrscht die Schule von der Elementarschule bis zur Universität. Wenn man die Ergebnisse dieses Unterrichts, das Wissen jedes einzelnen in Berechnung zieht, muß man sagen: Wir haben die Zeit vor uns weit überflügelt. Nimmt man aber die Herzens- und Geistesbildung, so müssen wir sagen: Wir sind zurückgegangen, denn unsere Zeit und unsere Schulen, es sei ge-

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Predigten

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sagt ohne irgend einen persönlichen Vorwurf, denn es liegt in unserer Zeit, bietet den Menschen nicht mehr an Bildung desGemüts undAdelung des Geistes, was sie ihnen noch vor einem oder zwei Menschenaltern bot, sie gibt ihnen keinen so erleuchteten und edel aufstrebenden Sinn mehr, denn dasWort Wahrheit ist verschlungen in dasWort Wissenschaft. Statt Brot bekommt man Steine. Die Wissenschaft und die Erkenntnis ist dieWahrheit. Das ist, möchte ich sagen, die große unbewußte Lüge unserer Zt.ei Denn diese Erkenntnis der Dinge durch denVerstand, und wenn sie bis zur äußersten Klarheit gediehe, ist nur das tote Abbild derWahrheit. Wenn wir das ganze Spiel der Natur durchschauen könnten, wir wären der Wahrheit um keinen Schritt näher gekommen. Denn dieWahrheit steht höher als das Wissen. Sie ist etwas Lebendiges und Belebendes. Sie hat es nicht mit seinem Verstand, sondern mit dem ganzen Wesen und der ganzen Persönlichkeit eines Menschen zu tun. Die Wahrheit ist ein Sehnen, ein Streben, sie ist ein Kämpfen, ein Ringen. Sie ist Friede und Seligkeit. DieWahrheit ist nämlich die Erkenntnis, daß daseinzelne Menschenleben einen ewigen unverlierbaren Wert besitzt. Die Wahrheit, die über dem Wissen steht – dem Gelehrten und dem Ungelehrten in gleicher Weise erreichbar – erfaßt ein Mensch da, wo es ihm zuerst aufgeht, daß er als geistiges Wesen, dem ewigen Reich des Geistes angehört und daß sein Wesen auf den Urquell alles heiligen und geistigen Seins, Gott den Geist gerichtet ist. Die Wahrheit ist eine Kraft: Die Kraft zu Gott hin. Wie die Magnetnadel trotz aller Verrückungen, Ablenkungen und Störungen immer wieder durch eine geheimnisvolle Kraft auf einen Punkt hingelenkt wird, so findet auch der Mensch, welcher die Wahrheit in sich trägt, trotz aller Irrtümer und Verirrungen, trotz Fall und Sünde, doch immer wieder den Weg zu Gott hin, durch die Kraft der Wahrheit. Darum, weil die Wahrheit die Kraft zu Gott hin ist, sagt Jesus: «Die Wahrheit wird euch frei machen» von der Knechtschaft der Sünde. Sie wird dieVölker wie den einzelnen frei machen, weil sie eine Kraft ist. Warum stehen wir in einer Zeit des sittlichen Niedergangs? Warum kündigt sich in dem Urteil der Völker eine solche sittliche Indifferenz, eine solche Abstumpfung undVerrohung des Gemüts an? Warum fehlt unserer Zeit trotz aller Wissenschaft und Aufklärung der sittliche Halt und das edle Streben? Weil dasWissen, das alsWahrheit ausgegeben ist, keine Kraft besitzt. Es gibt den Menschen keine innere sittliche Kraft zum Kampf mit der Sünde, zum Fortschritt. Darum ist bei aller Aufklärung und allem Fortschritt die Menschheit nicht sittlich vorwärts gekommen. Nur die Wahrheit kann unserer Zeit helfen. Nur wenn sie wieder einen Zug zum Geistigen, zum Ewigen, zu Gott hin bekommt, dann wird ihr auch die Kraft gegeben sein, aus der Sündenknechtschaft sich

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Gleichnis von den anvertrauten Pfunden

zu erheben. Und wenn nicht alles täuscht, so geht ein Hunger und Durst nach Wahrheit durch unsere heutige Zeit, und eine Sehnsucht nach geistigen Gütern macht sich bemerkbar. Und wie für die Menschheit und dieVölker so ist es auch für den einzelnen Menschen: Die Wahrheit allein macht ihn frei von der Sündenknechtschaft. Nicht daß sie ihn zum sündenlosen Menschen macht. Aber wer das Streben nach ewiger Wahrheit in sich trägt, wer den Zug nach dem geistigen Gott in sich trägt, der kann in der Sünde nicht untergehen. Er kann irren, er kann fallen, aber er ist nicht in der Gefangenschaft der Sünde, sie kann sein ganzes Wesen nicht in Besitz nehmen, sondern er ringt und kämpft, es zieht ihn nach oben zur reinen ewigen Heimat desGeistes. Das sind in kurzen Worten, die tiefsinnigen und ewig wahren Gedanken, die in der Verschlingung der Worte Wahrheit – Sünde, Freiheit – Knechtschaft gegeben sind. Freilich, wer es nicht an sich selbst erlebt hat, dem ist dasWort von der Freiheit durch die Wahrheit Schall und Ton. Aber wer es erlebt hat in seinem Inneren, der stimmt gläubig und freudig in dasWort ein: «So euch nun der Sohn frei gemacht hat, so seid ihr recht frei.» Christus hat der Welt dieWahrheit als geistige Kraft gebracht, und diese Kraft wirkt fort und fort, unverlierbar, sie wächst und nimmt zu, solange dieWelt besteht – denn nichts, kein Stillstand, keine Gleichgültigkeit, keine Verdunkelung kann den Sieg der Wahrheit aufhalten.

Nachmittagspredigt Sonntag, 29. Juni 1902, St. Nicolai

Mt. 25,14– 30:|25¡ Das Gleichnis von den anvertrauten

Pfunden|26¡

Um unser Textwort euch recht verständlich zu machen, habe ich euch fast das ganze 25. Kapitel des Evangeliums nach Matthäus vorgelesen, es ist so einfach, so durchsichtig klar wie der blaue Himmel draußen, und ein Wörtlein scheint daran als helle Sonne: dasWörtlein getreu. «Ei, du 25 [R] Motto: 25,23 [Ei dufrommer undgetreuer Knecht.] 26 [Gleichwie ein Mensch, der über Land zog, rief seine Knechte und tat ihnen seine Güter aus; und einem gab er fünf Zentner, dem andern zwei, dem dritten einen, einem jeden nach seinem Vermögen, und zog bald hinweg. Da ging der hin, der fünf Zentner empfangen hatte, und handelte mit ihnen und gewann andere fünf Zentner. Desgleichen, der zwei Zentner empfangen hatte, gewann auch zwei andere. Der aber einen empfangen hatte, ging hin und machte eine Grube in die Erde und verbarg seines Herrn Geld. Über eine lange Zeit kam der Herr dieser Knechte undhielt Rechenschaft mit ihnen. Da trat herzu, der fünf Zentner empfangen hatte, und legte andere fünf Zentner dar und sprach: Herr, du hast mir fünf Zentner ausgetan; siehe da, ich habe

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Predigten

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frommer und getreuer Knecht», sagt der Herr, «du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen.» Getreu – Wißt ihr, daß eine ganze Welt von Trost und Friede in diesem einen Wort «getreu» liegt? Dieses Wörtlein «getreu» hat schon der Apostel Paulus als Trost empfunden, und dieses Gleichnis des Herrn schwebt ihm vor, da er im 4. Kapitel des Briefes an die Korinther schreibt: «Nun sucht man nicht mehr an den Haushaltern, als daß sie treu erfunden werden» [I Kor. 4,2]. Die Welt fragt in der Beurteilung des Lebenswerkes eines Menschen nach dem Erfolg. Sie stellt diejenigen hoch, die etwas Großes, vor aller Augen Daliegendes erreicht haben. Sie verurteilt die, welche Mißerfolg gehabt haben, und übergeht mit Stillschweigen, als wollte sie sie der Vergessenheit anheimgeben, diejenigen, die im Verborgenen gewirkt haben. Wie sind die Kinder geraten und wassind sie geworden? Das will die Welt von den Eltern wissen, um sie zu beurteilen – und bedenkt nicht, wasEltern gesorgt und gekämpft haben mit ihren Kindern, ohne etwas zu erreichen. Was hat ein Leben gewirkt? fragt sie und urteilt nach dem Erfolg und bedenkt nicht, was er sich in der Stille gemüht, ohne zu erreichen, was er erstrebte. So urteilt sie über einen Kaiser, über einen Minister, über einen General, über einen Pfarrer, über einen Lehrer, über einen Familienvater, über einen Arbeiter mit dieser notwendigen und unabweislichen Ungerechtigkeit, weil wir Menschen nicht anders können, als unsere Meinung nach dem Erfolg uns zu bilden. Aber da kommt Gott mit seiner ewigen Gerechtigkeit und beurteilt die Menschen nicht nach ihrem Erfolg, sondern ob sie getreu gewesen. Ach, wenn wir einmal das Buch des Lebens ansehen könnten, wo Gott der Menschen Namen aufgezeichnet hat, wie ganz anders würden da die damit andere fünf Zentner gewonnen. Da sprach der Herr zu ihm: Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der zwei Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, du hast mir zwei Zentner ausgetan; siehe da, ich habe mit ihnen zwei andre gewonnen. Sein Herr sprach zu ihm: Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der einen Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, ich wußte, daß du ein harter Mann bist: du schneidest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, da du nicht gestreut hast; und fürchtete mich, ging hin und verbarg deinen Zentner in die Erde. Siehe, da hast du das Deine. Sein Herr aber antwortete und sprach zu ihm: Du Schalk und fauler Knecht! wußtest du, daß ich schneide, da ich nicht gesät habe, und sammle, da ich nicht gestreut habe? so solltest du mein Geld zu denWechslern getan haben, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine zu mir genommen mit Zinsen. Darum nehmt von ihm den Zentner und gebt es dem, der zehn Zentner hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. Und den unnützen Knecht werft in die Finsternis hinaus; da wird sein Heulen und Zähneklappen.]

Gleichnis

vondenanvertrauten Pfunden

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Namen geschrieben sein, als dieWelt es sich denkt. Namen, die sie mit preisenden Worten in Goldlettern unter Denkmäler schreibt, die wären dort unten an den Rand gekritzelt. Namen, die dieWelt ausgelöscht hat als derer, die nichts geleistet haben, die leuchteten dort in großer Schrift, und die Namen von Millionen und Millionen, die sie vergessen hat, weil sie ihr Werk nicht kannte, die stehen dort drin, weil in dem Buch des Lebens diejenigen aufgezeichnet sind, die getreu waren und getreu sein wollten, ob sie etwas erreicht oder ob sie nichts erreicht haben. Was meint ihr, daß der Herr zum Knecht gesagt, wenn er zu ihm gekommen und gesprochen: Herr, du gabst mir ein Pfund. Ich habe versucht, damit treu zu sein und etwas zu gewinnen, aber siehe, alles ist mir fehlgeschlagen, alles habe ich verloren, nichts kann ich dir zurückbringen? Da würde er nicht sagen: «Werft ihn in die äußerste Finsternis», sondern wie zu den andern: «Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, gehe ein zu deines Herrn Freude.» Wie viele Menschen, denkt ihr, die wir hinaustragen auf den Friedhof, treten so mit leeren Händen vor Gottes Thron und müssen ihm sagen: Herr, ich habe nichts erreicht in dem Leben, weder mit anderen noch mit mir selbst. Ich habe gekämpft und gerungen mit mir um Frömmigkeit, Glauben und Herzensreinheit – und doch habe ich nicht gesiegt. Ich hatte dasWollen, aber nicht dasVollbringen, aber ich wollte getreu sein. Dann wird der Herr sie doch aufzeichnen im Buche des Lebens, denn auf der ersten Seite desselben steht dasWort aus der Apokalypse «Sei getreu bis in denTod, so will ich dir die Krone des ewigen Lebens geben» [Apk. 2,10]. Und vielleicht – wer kann es sagen – treten auch wir einst so mit leeren Händen vor Gott. O daß wir dann doch sagen könnten: Ich wollte treu sein. Und doch, meine Freunde, so herrlich derTrost, der in diesem Worte «treu» liegt, so ernst die Mahnung. Denn was gehört dazu, daß ein Mensch sagen kann: Ich war treu, oder auch nur: Ich wollte treu sein? Getreu sein, darin liegt mehr, als seine Pflicht tun. Der Herr sagt den Knechten nicht: Tut eure Pflicht, sondern er erwartet von ihnen, daß sie ihr ganzes Wirken, ihr Denken und Wollen, in seinen Dienst stellen, ihm treu seien. So will er auch von den Menschen, daß sie treu seien. Er weist ihnen etwas an, wo sie ihm dienen sollen, einem jeden nach seinemVermögen wie im Gleichnis. Er sagt ihnen nicht, wasundwie, sondern sie müssen es von selbst finden. Er verlangt von uns, daß wir getreu seien gegen uns selbst. Er hat uns ein köstliches Pfund gegeben: unsere Seele. Und von dieser allererst wird er von uns Rechenschaft verlangen. Was hast du mit deiner Seele getan? Hast du sie gepflegt, hast du zugenommen am inwendigen Menschen? Bist du innerlich reich geworden? Oder hast du deine Seele vergraben, vergraben in den Sorgen und Freuden dieser Welt, daß sie erstickte und erstarb? Wie viele Leute leben so und haben ihr herrlichstes

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Predigten

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Pfund, ihre Seele, vergraben und waren nicht getreu in dem Herrlichsten, wassie empfangen haben. Warst du getreu in den geistigen Gaben? Hast du sie benutzt, um etwas zuwirken, oder waren sie dir nur dazur Befriedigung desEhrgeizesund des Stolzes? Oder hast du sie wie viele Menschen in den Dienst desSchlechten undWeltlichen gestellt? Warst dugetreu in deinen irdischen Gütern? Nicht getreu im gewöhnlichen Sinn, ob du nichts Unrechtmäßiges damit getan hast, sondern getreu gegen Gott? Hast du mit dem Gut, das er dir gegeben hat, Gutes getan, und bist du wohltätig gewesen im großen wie im kleinen, ob du nun über Tausende verfügst oder nur mit Pfennigen oder mit einem Teller Suppe wohltätig sein konntest – ja, mit einem GlasWasser, wie der Herr sagt? Ob du darin getreu warst, danach wird der Herr fragen. Warst du getreu denen gegenüber, die der Herr auf dich angewiesen hat? Hast du nicht nur deine menschliche Pflicht, sondern die Pflicht deines inneren, frommen Gewissens gegen sie erfüllt? Warst du ihnen, deinen Eltern, deinen Geschwistern, deinen Kindern und denen, an denen duwirktest, die Stütze, derTrost, die du ihnen sein konntest, und hast du dich selbst überwunden, um ihnen etwas zu sein? Ob du darin getreu warst, danach wird dich Gott fragen. Warst du getreu gegen die Menschen, die du auf deinem Lebenswege trafst, gegen die Armen, die Kranken, die Gefangenen, die Trostbedürftigen – gegen die, von denen man sich gerne einreden möchte, daß sie einen nichts angehen? Bist du ihnen nachgegangen, bist du ihnen nahegekommen, nicht nur mit deiner Hilfe, sondern mit deiner Person, mit deinem Herzen? Warst du darin getreu? wird Gott dich fragen. Man kann es nicht erschöpfen, dieses Wort «getreu», denn es schließt unser ganzes Leben ein.|27¡

Nachmittagspredigt Sonntag 13.Juli 1902, St. Nicolai|28¡

Mt. 7,12: Alles, wasihr wollt, daß euch die Leute tun|29¡ Unser Text klingt wie ein Volkssprüchlein. Ihr kennt alle ein Wort, das ungefähr ähnlich lautet und bei uns von Mund zu Munde geht: «Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu.» Dieses 27 [Der Schluß fehlt.] 28 [R] Ecrit à ma place au Rhin samedi matin. [Am 22. März 1902 hatten Albert Schweitzer und Helene Bresslau ihre Freundschaft besiegelt an einem Ort, den sie dann «ihren Platz am Rhein» nannten. Vgl. AS-HB, S. 64, Anm. 7.] 29 [sollen, dastut ihr ihnen auch. Das ist dasGesetz und die Propheten.]

Gleichnis

von den anvertrauten Pfunden

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Sprichwort war auch zuJesu Zeit schon bekannt. Es stammte, so sagte man, von dem milden und menschenfreundlichen Gesetzeslehrer Hillel. Und nun nahm Jesus dieses Sprichwort und gab ihm eine andere Form, nicht mehr von dem, wasman nicht tun soll, sondern von dem, wasman tun soll. Und so lautet es nicht mehr: Alles, wasihr wollt, daß euch die Menschen nicht antun, das tut ihr ihnen auch nicht an, sondern «Alles, wasihr wollt, daß euch die Menschen tun, dastut ihr ihnen auch.» Wie kommt nunJesus dazu, den Leuten, die seine Bergpredigt gehört haben, wo in einer so erhabenen Weise von der Liebe zu Gott und dem Nächsten die Rede ist, und uns, die wir sie lesen, ein solches einfaches Sprichwort mit auf den Heimweg zu geben? Ich redete vor einigen Tagen mit einem Herrn über dieses Wort, und der sagte mir, man sollte doch eigentlich über dieses Wort Jesu nicht predigen, denn es sei so nebenbei gesagt und enthalte doch dasEvangelium nicht. Was meint ihr? Ich glaube, erstens einmal ist jedes Wort, das ausJesu Munde gekommen ist, an sich heilig, undwenn er ein Sprichwort sagt, so ist dieses dadurch, daß er es geredet, in den Adelsstand erhoben und Evangelium

geworden. Zum zweiten aber hat unser Herr gar wohl gewußt, warum er uns so ein Stück Evangelium in der Münze eines Sprichwortes in dieTasche gegeben hat. Ein Pfarrer in hiesiger Stadt erzählte einmal bei einer Predigt folgende Geschichte: Ein Engländer trat hoch in den Alpen in eine Sennhütte und ließ sich ein Glas Milch geben. Als er aber den geringen Preis, der ihm dafür verlangt wurde bezahlen wollte, da konnte er nicht, denn er hatte nur einen Hundertmarkschein in derTasche, und niemand vermochte, ihm zu wechseln. Damit nun die Christen nicht in die Lage kommen, das Evangelium der Bergpredigt nur in der goldenen Münze des Wortes: «Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte, und deinen Nächsten als dich selbst» [Lk. 10,27], das ist das Gesetz und die Propheten [Mt. 22,40], gab er ihnen dasselbe Evangelium in der kleinen Münze eines Sprichwortes, damit sie es zu Hause und im täglichen Leben verausgaben könnten. Und um recht zu zeigen, daß er mit beidem dasselbe meint, schließt er das Sprichwort mit demselben Worte wie dasgroße Gebot der Liebe: «Das ist dasGesetz und die Propheten.» Er will uns also sagen: Wollt ihr das große Gebot der Liebe einmal ins Tägliche umzusetzen versuchen, da fangt nicht groß an wie die Leute, die große Pläne haben und dann, weil sie eben nicht klein anfangen, nie zu was kommen, sondern prüft euch, ob ihr den Menschen, mit denen ihr zusammenlebt und zusammenkommt, das getan habt, was ihr von ihnen erwartet und verlangen zu dürfen meint? Er gibt uns also so eine Art Prüfsprüchlein, einen Spiegel, in demjeder von uns sich

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Predigten

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selbst prüfen und beschauen soll, damit er erkennt, wo der Fehler steckt, warum er es im praktischen Christentum nicht weiter gebracht hat. Wir wollen nun einmal drei oder vier Blicke in diesen Spiegel werfen. Ich möchte euch nur sagen, an wasich bei diesem Spruch, derja alle Verhältnisse des Lebens umfaßt, am meisten denken muß.|30¡

Morgenpredigt Sonntag, 20. Juli 1902, St. Nicolai

Joh. 15,9–16: [Liebe]|31¡ Unser Textwort ist den Abschiedsreden unseres Herrn, wie sie beim Evangelisten St. Johannes sich finden, entnommen. Diese Abschiedsreden sind sein Vermächtnis an dieJünger und an die Gläubigen aller Zeiten. Hier ist dasLetzte undTiefste, was er ihnen zu sagen hatte, ausgesprochen. Der Herr redet von der Bedeutung seines Kommens in der Welt, von seinem Tode, von der Bestimmung der Seinen undvon seiner ewigen, geistigen Gegenwart unter ihnen. In erhabener und ewiger Form kehren noch einmal alleWorte wieder, die er ihnen während seiner Wirksamkeit hienieden gesagt. So auch das große Liebesgebot. Er hatte es ihnen gegeben, indem er zwei Sprüche des Alten Testamentes, die ihnen allen von Kindheit auf bekannt, zusammenschweißte und in seine Lehre aufnahm. Es sind die Sprüche: «Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele undvon ganzem Gemüte und deinen Nächsten als dich selbst» [Dtn. 6,5. Lev. 19,18. Lk. 10,27]. Er hatte ihnen dieses Gebot gesagt in der Form eines einfachen Sprichwortes für das tägliche Leben, daswir letzten Sonntag betrachtet haben: «Alles, wasihr wollt, daß euch die Menschen tun, dastut ihr ihnen auch; das ist das Gesetz und die Propheten» [Mt. 7,12].|32¡ Nun, hier in den Abschiedsreden, wo er im Begriff ist, von dieser Welt zu schei30 [Die Stichwörter des Schlusses nennen: Selbstbeherrschung, Nachsicht, Anteilnahme an allem, den andern Gutes zutrauen, dasgeistige Wohl.] 31 [Gleichwie mich mein Vater liebt, also liebe ich euch auch. Bleibet in meiner Liebe! So ihr meine Gebote haltet, so bleibet ihr in meiner Liebe, gleichwie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe. Solches rede ich zu euch, auf daß meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde. Das ist mein Gebot, daß ihr euch untereinander liebet, gleichwie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, so ihr tut, was ich euch gebiete. Ich sage hinfort nicht, daß ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, daß ihr Freunde seid; denn alles, wasich habe von meinem Vater gehört, habe ich euch kundgetan. Ihr habt mich nicht erwählt; sondern ich habe euch erwählt und gesetzt, daß ihr hingehet und Frucht bringet und eure Frucht bleibe, auf daß, so ihr denVater bittet in meinem Namen, er’s euch gebe.] 32

[Siehe S. 406.13.07.02.]

Liebe

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den, redet er noch einmal von der Liebe als dem Inbegriff alles dessen, waser derWelt gebracht, waser ihr durch seinen Hingang ist, waser ihr sein wird. Darum sagt er: «Das ist mein Gebot, daß ihr euch untereinander liebt, gleich wie ich euch liebe.» Die Liebe, die unser Herr in die Welt gebracht hat, ist mehr als eine neue Tugend, die er ihr durch die Rede verkündigt und durch das Beispiel vorlebt. Sie ist die Offenbarung Gottes an dieWelt durch Christus. Gott, der Allmächtige, offenbarte sich nicht als der Allmächtige: Denn Christus, wenn er Kraft über Kranke, und besonders geistig Kranke, besaß, war nicht allmächtig, sondern war als Mensch den Kräften und den Bedürfnissen dieser Welt unterworfen wie wir. Gott, der Allwissende, offenbarte sich nicht als der Allwissende, denn Christus war nicht allwissend, wenn er auch die Menschenseele kannte und ihre geheimen Gedanken lesen konnte. Aber die Seite seines unendlichen Wesens, die zu erkennen uns not ist und die wir erfassen können, die hat er uns in Christus geoffenbart. Er ist der Welt erschienen als die Liebe. In Christus hat er sein Wesen als Liebe über dieWelt ausgegossen; in ihm hat er diese innere Erneuerung derWelt durch die Liebe eingeleitet. Wie ein Sonnenstrahl von der Sonne ausgeht und mit ihr immer noch in Verbindung steht dadurch, daß er der kalten und dunkeln Welt jene Wärme undjenes Licht zuführt, also steht auch Jesus – so groß für uns auch das Geheimnis ist, das über seiner Person schwebt – mit Gott in einzigartiger Verbindung und ist seine vollkommene Offenbarung dadurch, daß in ihm sich derWelt jene ewige Liebe offenbart und mitteilt. Darum können die Menschen Gottes Wesen nur durch die Liebe erkennen. Der Apostel Paulus hat einst das tiefe Wort gesprochen, daß das Geistige nur dem geistig Gleichartigen erkennbar sei [I Kor. 2,13]. So ist Gottes Wesen nur dem Menschengeist, der durch die Liebe erleuchtet ist, erkennbar. Wenn unter den Menschen, die die Kunde des Christentums vernahmen, die darin erzogen, unterrichtet und konfirmiert worden sind, soundso viele, ichwage nicht, annähernd angeben zuwollen, wieviel Prozent, unter unsund mit unsleben, für die dasWort Gott ein toter Name, ein überwundener Begriff ist, woran liegt das? Daran, daß ihr Herz nicht von der Liebe erleuchtet ist. Und wenn wir selbst in unserm Leben Stunden haben, wo dieses Besitzen Gottes, dieses Fühlen seiner Nähe uns entschwindet und in der Dämmerung verblaßt, wo wir Gott suchen und Gott nicht finden können, so sind das gerade diejenigen Augenblicke, wo unser Herz durch Gleichgültigkeit und Selbstliebe verdunkelt ist. Habt ihr es nicht schon empfunden in eurem Leben, wie manchmal eine einzige Tat der Liebe – und wenn es nur die Darreichung einer Gabe an einen Bedürftigen oder der Zuspruch an eine bekümmerte Seele ist – den Bann, der über uns lastet, bricht und uns die Nähe Gottes zurückbringt? Ja, in diesen Augenblicken der Tat, da erkennen wir Gott und

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uns selbst in Gott. Da geht uns auf, was in demWorte des Paulus liegt, das er auf dem Areopag zu Athen von der Gotteserkenntnis gesagt hat: «Wir sind seines Geschlechts. In ihm leben, weben und sind wir» [Act. 17,28 f.], wie auch Zinzendorf|33¡ in einem seiner herrlichen Verse diese Gotteserkenntnis durch dieLiebe, dieunsChristus gebracht hat, preist: «Dakam ein Heiland, ein Befreier, Ein Menschensohn voll Lieb und Macht, Der hat ein allbelebend Feuer In unsern Herzen angefacht. Da sahn wir erst den Himmel offen Als unser wahres Vaterland. Wir durften glauben, lieben, hoffen Und fühlten uns mit Gott verwandt.»|34¡ Das Christentum, die Gotteserkenntnis durch die Tat der Liebe, beruht ja selbst auf einer Tat: dem Tode Jesu. Jesus hat das Christentum nicht gestiftet durch seine Lehre, auch nicht durch sein Beispiel, sondern durch seinen Tod. Und wenn Jesus im Kreise der Seinen wirkend und lehrend alt geworden und eines stillen und friedlichen Todes gestorben wäre, so gäbe es eine Lehre Jesu, aber keine christliche Religion. Jene Tat der Liebe, ein Geheimnis für uns, dessen Bedeutung wir nur im Bilde erfassen können, war eine Notwendigkeit, damit von dieser einen Tat als Kraft die Erneuerung der Menschheit ausging. Durch diesen Tod für die Menschen wird die Freiwilligkeit der Menschen, ob sie seinem Beispiele folgen wollen oder nicht, aufgehoben, sondern Jesus will sie zwingen, daß sie müssen in der Liebe bleiben. «Ich habe euch erwählt», sagt er zu uns. Das will nicht nur heißen, daß wir uns dessen getrösten dürfen, daß wir ihm angehören und er seine Hand über uns hält, sondern es liegt noch ein zwingender Wille darin. «Ihr habt mich nicht erwählt, sondern ich habe euch erwählt», sagt er, «und gesetzt, daß ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibe.» Alles, was wir an Liebe in der Welt wirken, das nimmt er in Anspruch als die von uns geschuldete Frucht für seinen Tod, durch den die Liebe in der Welt Tat geworden. Darum sagt er angesichts seines Todes: «Das gebiete ich euch, daß ihr euch untereinander liebt.» «Ich habe euch gesetzt, daß ihr hingehet und Frucht bringet.» Dabei denkt er an dasWort von demWeizenkorn, das er gesprochen: «Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt’s allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte» [Joh. 12,24]. So sieht er die Wirksamkeit seiner Persönlichkeit in der Welt und in den 33 [Das Lied stammt nicht von Zinzendorf, sondern von Friedrich von Hardenberg (Novalis).]

34 [Friedrich von Hardenberg (Novalis): Waswär ich ohne dich gewesen, Str. 6. Der Text ist leicht abgeändert.]

Liebe

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kommenden Generationen unter dem Bilde eines Weizenkorns, das in die Erde gesenkt ist. Es bringt eine Ähre – und aus dieser Ähre fallen die Körner wieder in die Erde. Der Wind trägt sie über das Land – und sie bringen wieder Frucht. Und so geht es fort in allen kommenden Generationen bis in alle Ewigkeit. Alles, was in der Liebe gewirkt und vollendet wird auf Erden, das ist die Frucht jenes Todes. Jenes eine Korn ersteht wieder in allen Körnern; durch sein Ersterben ist es ewig. So ersteht auch die Person Jesu wieder, ist gegenwärtig und dehnt sich in ewiger Größe über dieWelt ausin allen Generationen bis in Ewigkeit. So liegt in diesem Wort: «Ich habe euch erwählt und gesetzt, daß ihr hingehet und Frucht bringet» die geistige Deutung seiner ewigen Gegenwart in der Welt, die ja gerade den Grundgedanken derAbschiedsreden bildet. In diesem erhabenen Gedanken, daß in uns und in unserm Wirken das Lebenswerk Jesu sich fortsetzt, entfaltet und auswirkt, daß er unser, jedes einzelnen unter uns, bedarf, um in der Welt allgegenwärtig zu sein, liegt ein erschütternder Ernst. Es ist der Gedanke des unnützen, selbstigen Menschendaseins, das in seinem Teile den Tod Jesu unnütz und unwirksam macht, indem es keine Frucht bringt. Für diese Menschen wird dasWort: «Ich habe euch erwählt», das uns Trost und Stärkung sein sollte, zur Verurteilung und zum Gericht. Gott gebe uns, daß wir nicht zu diesen unnützen Existenzen, die durch ihr Dasein denTod Jesu verneinen und aufheben, gehören, sondern als Glieder jenes mystischen, ewigen Leibes Christi erfunden werden, der durch jenen Tod in dieser Welt allgegenwärtig ist und alles geistige Wesen, das der Vollendung zustrebt, zusammenhält. «Ach bleib mit deinem Segen bei uns, du reicher Herr; dein Gnad und allVermögen in uns reichlich vermehr.»|35¡ Bleibt in mir durch die Liebe – das ist das letzte Wort des Herrn an die Welt. Eine doppelte Verheißung knüpft er an dieses Bleibt in mir: Daß euer Gebet erhört werde, daß eure Freude vollkommen sei. «Ich habe euch erwählt und gesetzt, daß ihr hingehet und Frucht bringet, auf daß, so ihr den Vater bittet in meinem Namen, er es euch gebe.» Gott erhört alles Gebet. Er erhört das Gebet derjenigen, diejahrelang die Lippen nicht geöffnet haben, ihn anzurufen, und denen nun Schmerz undTrübsal einen Schrei zu Gott auspreßt. Aber wie oft kann er sie nicht erfüllen, weil sie, aus selbstiger, ungeheiligter Gesinnung kommend, dem Zweck, den Gott mit einem Menschen vorhat, zuwiderlaufen, und wie wenig verstehen dann die Menschen die Antwort Gottes und was er mit ihnen vorhat, weil sie eben nicht in Gemeinschaft 35[Josua Stegmann: Achbleib mit deiner Gnade, Str. 4.]

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Predigten

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mit ihm stehen. Und so meinen sie, er erhört sie nicht, weil ihnen die Art, wie er sie erhört, unbegreiflich ist. Aber denen, die in seiner Gemeinschaft stehen, denen verheißt Christus, daß ihr Gebet in seinem Namen zu Gott und wieder zu ihnen zurückkehren wird unddaß sie in geheiligter Gesinnung die Erhörung ihres Gebets, wenn Gott auch nicht nach ihren Wünschen tut, verstehen werden. Er weiß, daß, wenn sie in seinem Geiste stehen, ihr Gebet, wenn sie darin auch alle ihre Sorgen und Mühen vor Gott bringen, doch geheiligt und geläutert ist, und sie nicht für irdische, sondern auch für geistige Dinge bitten. An alle Menschen, die sagen: Gott erhört dieGebete nicht, sollte man die Frage richten: Habt ihr schon für geistige Dinge gebetet? Denn esgibt kein Gebet um Geistiges, dasnicht erhört würde. Und mit dieser Zuversicht zum Gebet, die uns über das Irdische hinausheben soll, gibt der Herr uns seine Freude. «Solches rede ich zu euch, auf daß meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde.» Seine Freude hat er uns vermacht. Lag denn in jenem Dasein, das er führte, überhaupt Freude? Wenn man sein Leben betrachtet, so möchte man sagen, es war – wenige Augenblicke, wo er fühlte, daß er

verstanden wurde, ausgenommen – wenig Freude darin. Vereinsamt, verkannt von Mutter und Brüdern, ohne Heimat, ohne Ruh, gehaßt, geächtet, zuTode gemartert – es warein unglückliches Dasein. Und doch, dieses Dasein, so überreich an traurigen Ereignissen, war wieder dasglücklichste auf dieser Erde durch die Freude in der Gemeinschaft mit Gott. Und diese Freude, weil sie dashöchste und einzige Gut ist, läßt er uns auf dieser Erde zurück, daß auch wir sie finden in der Gemeinschaft mit Gott. Keiner von uns, ich darf es wohl sagen, ist so arm an Erlebnissen seiner Seele, daß er nicht auf Stunden zurückblicken kann, wo er diese vollkommene Freude der Ruhe in Gemeinschaft mit Gott nicht schon empfunden hätte, und keiner von uns vermag in das Leben mit all dem Leid und der Traurigkeit, die es noch für uns birgt, ehe man uns hinausträgt auf den Gottesacker, hinauszublicken, ohne sich jener vollkommenen Freude in der Gemeinschaft mit Gott, wo alles irdische Wollen und Empfinden zurücktritt, zu getrösten. Und was wir alle empfinden, und wessen wir uns alle getrösten, das hat unser Dichter Paul Gerhardt in seinem herrlichen Verse ausgesprochen: «Gib dich zufrieden und sei stille in dem Gotte deines Lebens; in ihm ruht aller Freuden Fülle, ohn ihn mühst du dich vergebens; er ist dein Quell und deine Sonne, scheint täglich neu zu deiner Wonne.

Gib dich zufrieden!»|36¡

36 [Paul Gerhardt: Gib dich zufrieden, Str. 1.]

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Feuer vomHimmel

[Morgenpredigt]|37¡ Sonntag, 3. August 1902,

St. Nicolai

Lk. 9,51–56: Feuer vom Himmel|38¡ Jesus muß erschüttert gewesen sein, als dort auf demWege nach dem samaritanischen Dorf die unbezähmte Menschennatur mit ihrer Rache und mit ihrem Haß lodernd aus den Jüngern hervorbrach und sie sich dafür gar auf seine Macht und auf die Religion beriefen, indem sie sprachen: «Herr, willst du, so wollen wir sagen, daß Feuer vom Himmel falle und verzehre sie.» Das Wort vom Rückfall, wo der vertriebene, unsaubere Geist zurückkehrt und sieben andere mit sich bringt, die schlimmer sind als er [Mt. 7,43–45], dashatte sich an seinen Jüngern erfüllt. Die menschliche Rachsucht mit ihrem grausigen Haß kehrte zurück in die Herzen, grausiger und schlimmer als zuvor, weil sie sich auf seinen Namen berief. Was seine Seele damals ahnend durchzuckt hat, als er seinen Namen nennen hörte und sie sagten «Willst du», auf das schauen wir zurück als auf etwas Geschehenes – und was gäben wir nicht darum, es wäre nicht geschehen! Wer zählt sie alle, die unnennbaren Grausamkeiten, die in Christi Namen begangen worden sind. In Alexandrien erhob sich der christliche Pöbel gegen die noch nicht zum Christentum Übergetretenen. Sie schleiften die Philosophin Hypatia, eine edle und sittenreine Frau, in eine christliche Kirche und ermordeten sie daselbst. Innerhalb der christlichen Kirche selbst ist wegen der Lehrstreitigkeiten der alten Kirche Gewalttat über Gewalttat geschehen und Blut geflossen. Dann kamen im Mittelalter die grausigen Judenverfolgungen, wo auch der Name Christi zu den größten Schandtaten angerufen wurde. Und wie viele tausend Menschenleben sind den Ketzerverfolgungen zum Opfer gefallen! Man denke an den Kreuzzug gegen die Albigenser, wo eine blühende Gegend zur Wüste umgewandelt wurde! Man denke an Johannes Hus, der auf dem Scheiterhaufen zu Konstanz sein edles Leben aushauchte! – Und alles dasim Namen Christi. Mit der Reformation kam neues Licht, aber auch neue Feindschaft, nicht nur zwischen Protestanten und Katholiken, sondern auch unter 37 [Nach dem Kirchenboten predigte Schweitzer am Morgen in St. Nicolai.] 38 [Es begab sich aber, da die Zeit erfüllet war, daß er sollte von hinnen genommen werden, wendete er sein Angesicht, stracks genJerusalem zu wandeln. Und er sandte Boten vor sich hin; die gingen hin und kamen in einen Markt der Samariter, daß sie ihm Herberge bestellten. Und sie nahmen ihn nicht an, darum daß er sein Angesicht gewendet hatte, zu wandeln genJerusalem. Da aber das seine Jünger Jakobus undJohannes sahen, sprachen sie: Herr, willst du, so wollen wir sagen, daß Feuer vom Himmel falle und verzehre sie, wie Elia tat. Jesus aber wandte sich und bedrohte sie und sprach: Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten.]

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den Protestanten selbst, zwischen Reformierten und Lutheranern. Als Zwingli auf dem Schlachtfeld seinen Tod fand [11. 10. 1531], da hatte Luther nur Worte der Lieblosigkeit und der Verdammung für seinen großen, aber von ihm nicht verstandenen Mitreformator. Unsere Stadt Straßburg selbst war kaum ein Menschenalter nach der Reformation der Schauplatz der erbittertsten Kämpfe zwischen Reformierten und Lutheranern, und in Sachsen füllten sich bei diesen Kämpfen die Gefängnisse, unddie Henker bekamen zu tun. – Alles im Namen Christi. Im Namen Christi wurde die Sturmglocke zu St. Germain l’Aunerrois geläutet, die das Zeichen zum Blutbad in der Bartholomäusnacht gab. Im Namen Christi ruinierte Ludwig XIV. seinen Staat, indem er die Protestanten unmenschlich bedrückte und ausihrem Vaterland verjagte. Das sind die Greuel im Namen Christi auf dem Boden Europas. Sie sind gewaltig, aber man kann sie noch zählen. Aber noch gewaltiger, denn unzählbar, sind die Greuel im Namen Christi in den fernen Erdteilen. Da erheben die schon untergegangenen und die in unserer Zeit aussterbenden Völker eine Anklage gegen das Christentum, in die sich Stöhnen undJammern mischt. Was ist mit den Mexikanern geschehen, was ist mit den Indianern geschehen? Und die dunkeln Schachte in den Bergwerken von Peru, was würden sie erzählen, wenn sie reden könnten? Ist es möglich, daß die Sklaverei mit allen ihren Greueln aus der Bibel verteidigt und als von Gott und Christus gewollt dargestellt wurde? Ist es möglich, daß die Buren in Südafrika die Kaffern niederschossen, als wäre esWild des Feldes, und in ihrem christlichen Gewissen sich als die Kinder Israels unter den Amalekitern fühlten? Ja, wenn wir noch den Trost hätten zu sagen: Das ist alles geschehen im Namen Christi. Es ist grausig, aber es ist Vergangenheit, es kann nie mehr wieder vorkommen. Aber nein, es ist nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart und Zukunft.|39¡

Morgenpredigt Sonntag, 21. September 1902, Günsbach|40¡

Eph. 6,7 f.: [Dem Herrn dienen]|41¡ Schon gar mancher Pfarrer, wenn er sich vornahm, über diese Stelle der Schrift zu predigen, hat bei sich gedacht: Ich möchte denen, die 39 [Der Schluß fehlt.] 40 [R] Mon père et ma mère sont en Suisse par un beau ciel de septembre. [AS-HB, S. 26: «18/9/02. Ich muß mich an die Arbeit einer Predigt machen, da ich meinem Va-

41

ter versprochen habe, ihn Sonntag zu ersetzen.»] [Lasset euch dünken, daß ihr dem Herrn dienet und nicht den Menschen,

und wisset: Was ein jeglicher Gutes tun wird, das wird er von dem Herrn empfangen, er sei ein Knecht oder ein Freier.]

Dem Herrn

dienen

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mich hören, diese Stelle so recht eindringlich auslegen können, ich möchte, daß etwas von der Kraft des heiligen Geistes in meiner Predigt wäre, damit alle, die sie hören, wenn sie hinausgehen, wirklich eine lebendige Überzeugung mit in dieWoche, mit in dasLeben hinausnähmen, daß alle Verrichtung unseres Berufes nicht nur Menschendienst, sondern Dienst vor Gott, Gottesdienst ist. Denn was könnte man den Menschen Schöneres schenken, womit könnte man ihnen das Leben leichter machen, als indem man sie durch die Überzeugung, daß sie in ihrer irdischen Verrichtung auf ihre Weise Gott dienen, hinaushebt über die Eintönigkeit und Beschwerlichkeit des täglichen Berufes und ihnen Freudigkeit und Zuversicht gibt. Würdet ihr nicht alle, soviel ihr hier seid, dem, der euch solche Überzeugung und Gewißheit eingäbe, dankbar sein als dem größten Wohltäter, undwürde euch nicht alles doppelt leicht vonstatten gehn? Und doch, man möchte daran verzweifeln, nunjedem seine Verrichtung unter dem Gesichtspunkt eines Dienstes für den Herrn darzustellen. Gewiß, es sind Stände, wo dies natürlich auf der Hand liegt: Zum Beispiel im Beruf derer, die es mit den Kranken und Armen zu tun haben, in dem Beruf des Lehrers, dem die Erziehung der Jugend anvertraut ist, in dem Beruf derer, die regieren und herrschen, und von denen das geistige und leibliche Wohl soundso vieler Menschen abhängt, in dem Beruf der Denker und Gelehrten und Künstler, die in der mannigfachsten Weise den Sinn für das Höhere, Geistige in ihrer Zeit wachrufen und stärken können und arbeiten dürfen an dem Fortschritt und derAufklärung der Menschheit. Und ich möchte, daß alle diese sich’s bewußt wären, es immer vor Augen hätten. Diese alle sind nun bevorzugt, möchte ich sagen, weil sie in ihrem Berufe, wenn sie überhaupt christlichen Sinn haben, es allezeit in allem, was sie tun, lebendig gegenwärtig haben können, daß sie für Gott, für seine Ziele in derWelt arbeiten dürfen. Aber wehe ihnen, wird man auch sagen müssen, wenn sie in diesem Wirken dieses Bewußtsein hintansetzen und, statt Gott zu dienen, den Menschen dienen und sich von menschlichen Erwägungen, vom Ehrgeiz und vom Wunsche, den Menschen zu gefallen und vorwärts zu kommen, leiten lassen und so den hohen Beruf, den ihnen Gott gegeben, entweihen, indem sie ihn nicht in Gottes Geist verwalten. Sie werden einst doppelte Rechenschaft geben müssen. Dann aber gibt es Stände undVerrichtungen, die nur irdische Hantierungen zu sein scheinen, und bei denen man sich fragt, ob es nun möglich ist, daß man sie verrichte als ein Dienen vor Gott. Der Arbeiter, der auf dem Felde steht, der Fabrikarbeiter, der im dumpfen Saal Maschinen bedient, der Handwerksmann, der seinem Handwerk nachgeht, der Kaufmann, der seine Kunden bedient, der Fabrikant, der auf seinem Schreibtisch Tausende und Tausende zusammenrechnet, der Offizier

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und Unteroffizier, die auf dem Kasernenhof stehen und Soldaten ausbilden, der Polizist und Richter, denen die irdische Ordnung und irdische Vergeltung obliegt, der Eisenbahnbeamte, dem derVerkehr obliegt, die Frau, die die Haushaltung besorgt, der Knecht, die Magd, wie sollen diese alle es nun innerlich gegenwärtig haben, daß ihr irdisches, bürgerliches, profanes Tun eine geistige Bedeutung vor Gott hat, daß, wenn ihr Dienst ihnen nur als ein menschliches Verhältnis erscheint, wo das Geistige gar nichts damit zu tun hat, dies doch gleichsam nur die Hülle ist und ihre Verrichtung doch, von Gottes Standpunkt aus, zu seinem geistigen Wirken in derWelt gehört, daß (wie unser Reformator Luther gesagt hat) Gott der einfachen, rechtschaffenen Magd, die unverdrossen ihre Pflicht tut, gerade so bedarf, um durch sie in derWelt zuwirken, als eines Pfarrers, der ihm mit Leib und Seele dient? Und doch, es ist so – und daß es so ist, das gehört zu dem Schönsten, was das Christentum der Welt mitzuteilen hat. Freilich, dem Verstand will es nicht einleuchten, und wenn ich einem Menschen, der es bezweifelte und die Achsel schüttelte, die höhere geistige Auffassung von dem Beruf der Menschen in einem Gespräch mit Gründen und Gegengründen beibringen sollte, ich glaube kaum, daß ich ihn überzeugen würde. Zwar, ich könnte ihm das Beispiel einer Armee vorhalten, wo der oberste Feldherr, um seinen Plan zu verwirklichen, des einfachen Soldaten gerade so bedarf wie des Generals, der seine Order weitergibt. Oder ich könnte ihm sagen, es ist im geistigen Reich Gottes geradeso wie in der Natur, wo auch die kleinsten und unscheinbarsten Dinge, ein Bächlein, das vom Gebirge her Land und Erde in die Ebene herabschwemmt, einVogel, der Insekten vertilgt, ein Regenwurm selbst, eine Bedeutung haben, ohne die die größten Vorgänge unmöglich wären. Aber ihr fühlt es mit mir, das würde alles den Nagel nicht auf den Kopf treffen. Es wären zwar schöne Vergleiche, aus ihnen würde keiner von uns für sich eine lebendige und freudige Gewißheit schöpfen, daß er seine tägliche Arbeit im Dienste Gottes tut. Da hilft kein Reden und Überzeugen, da hilft nur der Glaube. «Lasset euch dünken, daß ihr dem Herrn dienet und nicht den Menschen», sagt der Apostel. Wenn man den griechischen Text liest, möchte man vielleicht sagen, daß Luther nicht genau übersetzt hat, indem er schrieb «lasset euch dünken.» Und doch hat er den Gedanken des Apostels richtig ausgedrückt. Denn er will sagen: Es kommt nicht von selbst an den Menschen herangeflogen, daß er nun die Erkenntnis hat, daß er in seinem täglichen, weltlichen Beruf Gott dient, sondern er muß eine Anstrengung machen; er muß seinen Sinn zwingen zu dieser höheren Auffassung, er muß sich sagen: Und wenn der Schein dagegen ist, so will ich es doch glauben. Darum heißt es in der Schrift nicht: Ihr dient dem Herrn und nicht den Menschen, sondern: Haltet dafür, «lasset euch dünken, daß ihr dem Herrn dienet und nicht den Menschen.» Betet zu Gott um diese Gabe,

Dem Herrn

dienen

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um diese Weihe eures Berufes und wenn ihr diese Überzeugung so errungen und erbeten habt, dann kann sie euch niemand mehr nehmen. Nicht wahr, wir wissen es alle, daß essolche Menschen gibt, die eine so hohe Auffassung von ihrem irdischen Beruf haben, denen man an allem, was sie anfassen und ergreifen, fühlt, daß sie Gott dabei vor Augen und im Herzen haben, als wäre er wirklich ihr guter Lohn- und Arbeitsherr, obwohl sie kein einziges Wort darüber sagen. Und oft habt ihr sie wohl schon beneidet um die Zufriedenheit und Stille, mit der sie wirken. Und ihr selbst, ihr habt doch auch Augenblicke, wo ein Sonnenstrahl über eure tägliche Arbeit gleitet und ihr von innerster Seele, aus eurem religiösen Gemüt heraus, eine christliche Freudigkeit an eurem Beruf empfindet. Und woran liegt denn das? Daran, daß ihr Gutes tatet durch euren Beruf, und in jenen Momenten, da ist es, als ob Gott zu euch redete und sagte: Siehe, nun weißt du, daß du in meinen Diensten stehst! Durch die Tat wird aus dem Dünken ein Wissen! Darum heißt es in der Schrift, nachdem gesagt ist: «Lasset euch dünken, daß ihr dem Herrn dienet» gleich darauf: «und wisset: Was einjeglicher Gutes tun wird, das wird er von dem Herrn empfangen, er sei ein Knecht oder ein Freier.» Was kann ich in meinem Stande Gutes wirken? – Darin liegt das ganze Geheimnis, und das hat der Christ vor dem, der keinen lebendigen Glauben hat, voraus, dadurch bekommt alles ein neues Ansehen. Gott hat mich gesetzt, daß ich in meiner Arbeit Gutes tue. – Da wird vieles Licht, was Dunkel war. Und dieses «Gutes tun» ist so mannigfaltig, daß esjede Arbeit umrankt. Denkt, ihr jungen Leute aus unserer Gemeinde, die ihr in das Alter gekommen seid, wo ihr etwas verdient, daran, daß Gott euch damit die Gelegenheit gibt, Gutes zu tun und denen zurückzuerstatten, die von Jugend an Sorge und Mühe auf euch verwandt haben. Meint ihr nicht, daß es zweierlei Arbeit ist, ob einer nur schafft, weil es einmal so muß sein, oder weil er dadurch sich dankbar erweisen kann? Und weiter, warum gibt es so viel verdrossene Arbeit in der Welt? Weil die Menschen nicht bedenken, nicht erkennen, daß Gott ihnen die Arbeit gesetzt hat, um Gutes zu tun, daß sie durch das, was sie erarbeiten, die Ihrigen, wenn auch mit Sorgen und Müh, ehrlich und brav durchs Leben bringen. Wer es erkennt, daß dies dasWohltun, das ihnen Gott in ihrer Arbeit verordnet, der hat einen andern Geist dabei und dankt Gott zu seinen Stunden, daß er ihm Gesundheit und Kraft zu arbeiten gibt und bittet ihn, sie ihm zu erhalten. Was sollten denn diejenigen machen, die einsam im Leben stehen, keine Eltern und keine Familie haben, wodurch sollten sie Freude und Lust an der Arbeit bekommen, wenn dasWohltun nicht wäre? Wer die Augen aufmacht im Leben, der sieht so manchen Menschen, der sonst einsam und freudlos leben würde, wenn ihm nicht Gott verliehen hätte, durch Arbeit Gutes zu tun. Ja, dasist sicher wahr: Ob jemand reich oder

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arm ist, ob er Hunderte kann geben oder wenig – vielleicht nur ungesehen ein wenig Essen über die Straße tragen – keiner, der nicht wohltut, kann innerlich Freudigkeit des Herzens an seinem Beruf haben. Und keiner andererseits tut wohl durch seine Arbeit, dem es dann nicht durch dieses Wohltun aufgeht, daß alle irdische Arbeit im Dienste Gottes steht, sofern sie wohltut. Ich möchte aber dabei nicht nur vom leiblichen, materiellen Wohltun reden, sondern auch vom geistigen. Jeder Mensch wirkt durch die Art, wie er in seinem Berufe steht, geistig auf andere. Nicht wahr, wenn in einem Fabriksaal ein Mensch steht, der mit stiller Zufriedenheit und Freudigkeit seine Arbeit tut, der ist eine Wohltat für die, welche mit ihm in Berührung kommen. Es ist, als teilte er ihnen etwas von seinem inneren Glück mit, ohne daß man sagen könnte, wie. Ich glaube, es ruhig sagen zu dürfen, daß ich noch mit keinem Menschen, der in stiller Freudigkeit wirkte, wo es nun auch war, zusammengekommen bin, ohne eine geistige Wohltat, eine innerliche Ermunterung von ihm empfangen zu haben. Gibt es denn einen Stand, dessen Verrichtung so äußerlich ist, darin ein Mensch nicht auch geistig, als Mensch zum Menschen wirken könnte? Wir reden in unserem Leben von der Pflicht – aber Pflicht im wahren Sinne desWortes kennt nur der Christ, denn er allein weiß, daß zur Pflicht nicht nur die äußerliche Verrichtung, wie sie bei den Menschen gilt, gehört, sondern daß zur Pflicht, wie sie vor Gott gilt, auch das geistige Wirken, ich möchte sagen, die geistige Verantwortung gegen die, mit welchen uns unser täglicher Beruf zusammenführt, gehört. Dieses geistige Wohltun, das tut unserer Zeit not, die meint alles gesagt zu haben, wenn sie von der irdischen Pflicht redet. Es ist jetzt die Zeit, wo die Jugend unseres Landes bald ihre Dörfer verläßt, um als Soldaten zu dienen. Es gibt keine rechtliche Mutter, die diese Zeit nicht mit Bangen kommen sieht und sich fragt, wasausihrem Sohn werden wird in dieser Zeit. Und wovon hängt das ab, was dieser Jüngling in dieser Zeit werden wird? Von der Art, wie seine Vorgesetzten ihren Beruf gegen ihn erfüllen. Denken sie dabei nur an ihre menschliche Pflicht, ihn marschieren, Griffe machen und schießen lehren, dann kann er verloren gehn. Wissen sie aber, daß in jedem irdischen Beruf man nicht den Menschen, sondern Gott auch dient, und wollen sie so ihren Dienst tun, dann schreibt ihnen ihre Pflicht auch vor, geistig über ihre Untergebenen zu wachen, sich ihrer anzunehmen, daß sie nichts Böses lernen und nicht auf bösen Weg kommen, ihnen geistig Gutes zu tun. Dann könnte die Mutter ruhig sein – denn nicht nur treu gegen den König, sondern auch gegen Gott. Waswarst du den Deinen geistig? Danach wird Gott einst fragen und den Offizier danach richten, waser seinen Soldaten geistig wohlgetan, den Herrn, was er seinem Arbeiter und

DemHerrn dienen

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Knecht, den Meister, was er dem Gesellen und Lehrling geistig wohlgetan hat, denn er wird ihnen sagen: Ich werde dich nach deiner Treue gegen Gott, nicht nur nach derTreue gegen die Menschen richten. Und er richtet schon jetzt. Schon jetzt empfängt ein jeglicher für das, was er in seinem Berufe, in seiner Arbeit Gutes tut, überreichlichen Lohn von dem Herrn, er sei ein Knecht oder Freier, niedrig oder hoch. Dieser Lohn besteht in der Freudigkeit und in der Zuversicht, die ihnen Gott zur Arbeit ins Herz gibt dafür, daß sie in ihrem Berufe ihm treu sind und leiblich und geistig wohlzutun suchen. Er öffnet ihnen die Augen, zieht den Schleier weg und zeigt ihnen, daß in Wahrheit alle irdische Arbeit in seinem Dienste steht! Nur diese, die in ihrer Arbeit wohltun, die sehen in das Innerste der Dinge und begreifen, warum Gott den Menschen die Arbeit gesetzt hat, damit sie nämlich durch die Arbeit lernen: «Unser keiner lebt sich selber!» [Röm. 14,7]. Was den andern eine Last, daswird ihnen ein freudiges Tun. Es gibt solche Menschen auf der Welt. Und wenn wir keine rechte, innere Freudigkeit an unserer Arbeit haben, so liegt das daran, daß wir darin nicht genug wohltun. Darum wollen wir, jeder in der Weise, die ihm verordnet ist, wohltun, leiblich und geistig, durch unsere Arbeit – und wenn wir treu sind, treu gegen Gott, dann sendet er auch seinen Lohn, die freudige Zuversicht und Arbeitslust in unsere Herzen. Sagt er doch selbst in der Schrift: «Nun verlangt man nicht mehr von den Dienern, als daß sie treu erfunden werden» [I Kor. 4,2], treu vor den Menschen – treu vor Gott.

Nachmittagspredigt Sonntag, 16. November 1902, St. Nicolai

Mk. 10,35–40: DasLeiden|42¡ Ihr erinnert euch noch desTextes vom letzten Sonntagnachmittag. Die Jünger fragten Jesus: Wie steht es mit dem Lohn, der unswerden soll dafür, daß wir alles verlassen haben und dir nachgefolgt sind? Und er sagt: Ja, ihr sollt tausendfältig belohnt werden. 42 [Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen: Meister, wir wollen, daß du uns tuest, waswir dich bitten werden. Er sprach zu ihnen: Waswollt ihr, daß ich euch tue? Sie sprachen zu ihm: Gib uns, daß wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisset nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, und euch taufen lassen mit derTaufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm: Ja, wir können es wohl. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und euch taufen lassen mit derTaufe, mit der ich getauft werde; zu sitzen aber zu meiner Rechten und zu meiner Linken stehet mir nicht zu, euch zu geben, sondern welchen es bereitet ist.]

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Predigten

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Da ich mit euch zusammensaß und mit euch die Predigt hörte, da hab ich bei mir selbst viel denken müssen: Was ist es denn mit dem Lohn im Christentum? Und ich suchte nach einem Beispiel, um mit euch die Gedanken vom letzten Sonntagnachmittag weiter fort zu spinnen. Der Text, den ich euch verlesen habe, ist dieses Beispiel. Haus, Hof und Gut, Weib und Kind zu verlassen um des Evangeliums willen, das verlangt Gott nicht von uns in dieser Zeit. Und wir müssen ihm darum danken, daß er es nicht verlangt, wenigstens nicht von uns allen, denn auch noch in unserer heutigen Zeit gibt es Menschen und muß es Menschen geben, die alles verlassen, um sich allein Gott zu widmen und seinem Dienste – und Gott möge geben, daß sich ihre Zahl mehre. Unsere Zeit bedarf ihrer. Aber eines verlangt Gott von allen und fragt nicht, willst du, oder willst du nicht, sondern legt es einem auf: dasLeiden. Wo dieJünger die Frage stellen um des Lohnes, der ihnen für das Leiden zuteil wird, da fragen auch wir mit. Trübsal, Leid und Traurigkeit, sie warten auf jedermann. Es laufen viele herum rüstig und frisch: Dann kommt ein Tag, wo sie nicht mehr herumlaufen, sondern als sieche Menschen mit bleichendem Haar im Bette warten, bis der Tod sie erlöse; und der Tod läßt vielleicht Monate undJahre auf sich warten. Bist du schon an einem solchen Bett gestanden und dachtest bei dir selber: Wenn einst ein solches Schicksal meiner wartete? Es lebt gar manche Mutter glücklich inmitten ihrer Kinder: Dann kommt die Zeit, wo sie eines nach dem andern hergeben muß, und der Todesengel alljährlich bei ihr einkehrt. Ich bekam vor einigen Tagen eine Todesanzeige, die mich tief bewegte. Vor wenigen Jahren sagten wir alle, die sie kannten: Gibt es eine glücklichere Mutter? Jetzt hat sie schon drei nacheinander, eine Tochter und zwei Söhne, alle in den

Zwanzigerjahren stehend, verloren. Wir haben nichts, das wir nicht drangeben müßten, keine Freude, die sich nicht in tiefes Leid verwandeln könnte. Die Mauern unserer Stadt, wasdecken sie nicht alles anTrübsal zu! Wenn die Stille der Nacht sich darüber senkt, ist es da nicht, als ob vom Ort, wo vorher Leben und Lärmen herrschten, ein verhaltenes Wimmern und Weinen, ein Schluchzen und Stöhnen zum Himmel emporstiege wie eine gespensterhafte Klagemelodie. Kann man denn, wenn der Glocken eherner Mund die Mitternachtsstunde verkündet, ans Fenster treten und hinaussehen in die schweigende Nacht, ohne sich zu sagen: Wie viele Menschen liegen jetzt wach mit brennenden Augen, wie viele sitzen, vom Leiden gequält, aufrecht im Bett und denken: Wenn nur die träg schleichende Nacht schon vorüber wäre! – Und wer weiß, wann auch wir zu den Leuten gehören, die am Morgen sagen müssen: Ich habe alle Viertelstunden schlagen hören!

DemHerrn

dienen

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Damit will ich euch nicht die Lehre der Menschen vortragen, die sich über nichts mehr freuen, weil im Hintergrunde doch überall das Leid unser wartet und so viel Traurigkeit um uns herum ist. Sie verbittern sich und den andern das Leben. Ich will euch auch nicht zujener trostlosen Gleichgültigkeit bekehren, die sich von Tag zu Tag hinschleppt und sich mit dem Gedanken tröstet, daß doch alles ein Ende nimmt. Eine Dame, die ich vor drei Monaten kennen gelernt habe und die mein Mitgefühl erregte, weil sie einen Sohn hat, der infolge einer schweren Krankheit nur schwer wieder gehen und reden lernt, schrieb mir vor einigen Tagen, als ich fragte, wie es bei ihr gehe: «Ich las letzthin einen Satz: Um neun Uhr ist alles aus, und dieser Satz, das ist mein einziger Trost.» – Ist diese traurige Gesinnung nicht trauriger noch als alles Elend, dasden Menschen treffen kann? – «Um neun Uhr ist alles aus»– wie viele Menschen leben von diesem traurigen Evangelium! Warum sage ich euch das alles? Damit wir uns miteinander fragen: Was kann allein diejenigen, die jetzt leiden, und uns, wenn unsere Leidensstunde kommt, aufrichten und trösten, was kann allein Kraft geben? Nichts, meine Freunde, nichts in derWelt als der gewisse Glaube, daß uns etwas dafür wird, daß Gott uns dafür belohnt. «Ihr werdet den Kelch trinken und mit der Taufe getauft werden, mit der ich getauft werde», hat unser Herr zu seinen Jüngern gesagt, und er ist an ihnen in Erfüllung gegangen. Und wie dort beim Abendmahl reicht er jetzt in alle Ewigkeit allen seinen Jüngern, wenn die Stunde gekommen ist, den Leidenskelch und spricht dazu: «Trinket alle daraus» [Mt. 26,27]. Und der Lohn: daß wir teilhaben an seiner Herrlichkeit. Das müssen wir von Herzen glauben, um die Kraft und die Freudigkeit zum Leben zu haben! Wie arm sind die, welche diesen Glauben nicht haben! Was diese Herrlichkeit ist, wie wir sie mit ihm teilen, das kann auch er nicht beschreiben. DenJüngern sagt er: Das steht allein Gott zu. Kein Sinn kann es ermessen und erfassen, welches diese ewige Herrlichkeit sein wird, denn sie liegt über allem Irdischen. Wenn unser Blick das Sternenmeer durchdringt und unser Sinn immer höher steigend bis zu den Gefilden der Unendlichkeit, bis zum Reich des Geistes dringen will, da kommt er nicht weiter als bis dahin, daß er alles Irdische wegdenkt. Ein großer griechischer Denker sagte von der Erkenntnis Gottes, das einzige, was wir an ihm erkennen könnten, sei, daß wir alle irdischen Begriffe und Gedanken beiseite lassen müßten und sagen: So ist es nicht. Nicht anders ist es mit der Seligkeit, die uns als Lohn zuteil [wird], wenn wir hier gläubig Traurigkeit und Leid erduldet. Wir wissen nur, es wird nicht so sein. Dann beschreibt St. Johannes in der Offenbarung (21,4) die Seligkeit derer, die überwunden haben, mit denWorten:

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«Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.» Welch herrliches, überirdisches unddoch wieder so menschliches Wort! Zuletzt noch eine Frage: Ist denn diese Zuversicht, daß wir durch Leiden zu einer ewigen Herrlichkeit berufen sind, nur ein Glaube, zu dem wir unser Gemüt zwingen? Oder wird nicht dieser Glaube gerade in den trübsten Stunden unseres Daseins zu einer innerlich erlebten Gewißheit? Wir haben alle, die wir hier sind, schon gewiß Trauriges durchgemacht. Aber nicht wahr, aus dieser Traurigkeit, da haben wir etwas Kostbares davongetragen, etwas, um dessentwillen wir diese traurigen Stunden nicht missen möchten. Habt ihr es nicht empfunden, wie gerade injenen Stunden, wo wir zur Erde niedergebeugt sind, wir es erfahren, wie weit wir über der Welt stehen, unserm inneren Wesen nach gleichsam schon von ihr losgelöst sind? Habt ihr es nie erfahren, nicht nur wenn wir im Unglück seufzen, sondern in Beschämung über unsere Sünde und in Reue über unsere Schuld traurig sind bis ins innerste Herz, daß wir uns dann plötzlich so reich, so überreich fühlen an Gottes Gnade und daß wir dann dasWort verstehen: «Laß dir an meiner Gnade genügen» [II Kor. 12,9]. Gewiß, jede Stunde der Trübsal trägt nicht nur die köstliche Frucht der Herrlichkeit schon für die zukünftige Welt in sich, sondern sie bringt schon herrliche Frucht für diese Welt. Selig sind, die trübe Stunden durchgemacht und durch Unglück hindurchgegangen sind. Sie haben einen Reichtum am inwendigen Menschen darin erworben und einen Schatz errungen, der ihnen ewig bleibt. «Dank sei Gott für alles», sagte St. Chrysostomus. Dank sei Gott für alles, wir danken ihm auch für die Stunden derTrübsal, darin er uns reich gemacht hat.

Morgenpredigt Sonntag, 7. Dezember 1902, St. Nicolai

Lk. 19,46: Mein Haus ist ein Bethaus Ihr kennt die Adventspropheten, den greisen Simeon und die fromme Hanna. Im Tempel warteten sie des Herrn im Gebet [Lk. 2,25– 38]. So predigen uns diese Adventspropheten: «Mein Haus ist ein Bethaus.» «Mein Haus ist ein Bethaus»: eine zeitgemäße Predigt, denn wir bedürfen ihr. Zweierlei ist unserer Zeit abhanden gekommen: 1. daß es heißt: mein Haus, 2. daß es heißt: Bethaus. Mein Haus, das Haus Gottes, ein Heiligtum. Wo ist der Respekt vor der Heiligkeit des Ortes? Geht einmal in eine unserer Straßburger Kirchen, wenn eine größere Hochzeit drin stattfindet und die Bekannten

Mein Haus ist ein Bethaus

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kommen, um sie zu sehen. Wasist dasfür eine Treiben, ehe der Zug hereinkommt? Sie kommen herein, keiner spricht einen stillen Gebetsspruch, sie nicken sich zu und grüßen sich laut von ferne, sie schwatzen und lachen, und wenn das Paar eintritt, recken sie die Hälse und tauschen Bemerkungen aus. Der Pfarrer, der am Altar das Gebet verliest, fühlt, wie wenig innerlich mitgebetet wird. Sie sind hier als Neugierige, und wenn die Feier zu Ende ist, drängen sie sich geräuschvoll hinaus. Wer das öfters mitansehen muß, der fragt sich: Wird nicht dieTür aufgehen und der Herr mit der Geißel in der Hand hereintreten und sie hinausstäupen mit den Worten: «Mein Haus ist ein Bethaus», und ihr habt es zumWartesaal gemacht? Meine Freunde, achtet mehr auf euch selbst und lehrt es euren Kindern, daß man in dem Augenblick, wo man das Gotteshaus betritt, bei welcher Gelegenheit es auch sei, unser Gebaren erkennen lasse, daß für uns hier heilige Stätte ist! Zu zweitens: «Mein Haus ist ein Bethaus.» Wir Protestanten sind zu nüchtern geworden und sehen das Gotteshaus als einen Versammlungsort zur Predigt an. Die Straßburger, wenn sie vom Kirchgehen reden, sagen: Ich gehe den und den Pfarrer hören. Gewiß, wir danken es unsern Reformatoren, daß sie dieVerkündigung desWortes Gottes wieder in den Mittelpunkt des Gottesdienstes gestellt haben, aber es ist falsch, wenn wir nun zu weit gehen und an die Stelle des Gottesdienstes das Anhören der Predigt setzen. Wozu hat es geführt? Daß die Leute nicht mehr wissen, daß sie um deslieben Gottes willen in die Kirche kommen und nicht um eines Predigers willen! Und nun meinen sie, weil sie kein Gelüst nach einer Predigt tragen und der Pfarrer ihnen doch nichts Neues sagen kann, könnten sie den regelmäßigen Kirchgang vollständig entbehren. Zuweilen, wenn ein großer Redner auf die Kanzel tritt, dann finden sie denWeg und kommen wie die Athener zu St. Paulus [Act. 17,16–21], um etwas Neues zu hören! Sie graben auf dem falschen Acker und wundern sich, daß sie den Schatz nicht finden [Mt. 13,44]. Wenn essowäre, daß die Predigt allein unsern Gottesdienst ausmachte und man wegen der Predigt allein in die Kirche geht, dann würde ich sagen: Arme Christen, arme Pfarrer. Arme Christen, weil ihr hier nicht mehr kommt suchen als dasWort Gottes, durch einen Menschen ausgelegt, arme Pfarrer, daß ihr euch müßt sagen, es hänge ganz allein von euch ab, ob einer hier etwas findet oder ob er leer nach Hause geht, und die ihr doch selber wißt, wie wenig ein Mensch geben kann. Doppelt arme Pfarrer, wenn euch dann noch vor leeren Bänken dasWort auf den Lippen erstarrt. Wieviel Pfarrer haben hier in Straßburg vor vierzehn Tagen im Angesicht der ärmlich gefüllten Kirche die rechte Freudigkeit können haben, um eine rechte Dankpredigt für dasErntefest zuhalten? Man hat unserm Gottesdienst aufhelfen wollen. Ganz recht, hat man gesagt, das ist zu eintönig und zu nüchtern, da muß mehr Gesangs

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herein, das muß man künstlerisch gestalten, damit es interessant wird. Man hat gleichsam die Gleichgültigkeit der Leute in Schutz genommen, man hat ihnen gesagt: Wir verstehen, daß diese nüchterne Art des Gottesdienstes euch nicht in die Kirche lockte, aber jetzt kommt, jetzt ist’s stilvoll und interessant. Und davon hofft man etwas für die Zukunft. Wenn dieses Lüftlein die schlaffen Segel schwellen soll, kommt das Schiff niemals von der Stelle. Solche Mittelchen helfen nichts. Das Übel liegt tiefer, viel tiefer. Es fehlt an der rechten Gesinnung und an der heiligen Gewöhnung. Was sollen wir in der Kirche suchen? Sammlung und Gebet, mit einem Wort: Andacht, eine Andacht, die wir nirgends so finden können wie in der Kirche und die wir brauchen, um die alte Woche gut zu beschließen und die neue gut anzufangen. Wer mit solchen Gedanken in die Kirche kommt, für den ist die Form des Gottesdienstes bedeutungslos, er erbaut sich injedem. Simeon und Hanna hielten amTempel, weil sie kamen, um sich zu sammeln und zu beten. Sie, die die Zukunft erwarteten, hätten sie nicht können sagen, der Opfergottesdienst könne sie nicht mehr befriedigen und die Diskussionen über das Gesetz hätten kein Interesse für sie? Und doch kamen sie, um zubeten. Der Grundton im Gottesdienst ist das Gebet. In dem Augenblick, wo du hereinkommst und still einen Spruch für dich sagst, ehe du dich setzest, beginnt für dich der Gottesdienst. An diesen Mauern sollen sich dieWogen des Alltagslebens brechen. Du hast nun eine Stunde, die dir gehört, dir allein, und wohl dir, wenn du Kraft darin findest für die ganze Woche. Die Sammlung zu Hause im stillen Kämmerlein, die Sammlung im Gotteshaus: Beides ist nötig; Gebet allein, Gebet mit andern: Beides ist nötig. Unser Herr Jesus hat es ja selbst angedeutet. In der Bergpredigt redet er zwar vom stillen Kämmerlein, dessen Tür man hinter sich zuschließt, aber lehrt er sie beten: Mein Vater, der du bist im Himmel, mein täglich Brot gib mir heute, vergib mir meine Schuld und führe mich nicht in Versuchung, sondern erlöse mich von dem Bösen? Nein, sondern ein Gebet der Gemeinschaft, daß sie es zusammen beten. Und so kommst du in die Kirche, damit du mit andern betest: «Unser Vater in dem Himmel, unser täglich Brot gib uns heute, vergib uns unsere Schuld, führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen» [Mt. 6,9– 13]. Was liegt doch für eine Kraft in dem gemeinsamen Gebet! Als ob einer durch den andern Kraft empfinge und geheiligt würde. Der Freudige gib von seiner Freudigkeit denen, die keine haben, der Traurige von seiner Traurigkeit, damit andere mit ihm tragen. So steigt es zu Gott empor, das Kirchengebet, und das arme Gebetlein, das für sich nicht die Kraft gehabt, vor den Thron Gottes zu gelangen, es wird von den andern getragen. In diesem gemeinsamen Gebet treten wir aus uns

Mein Haus ist ein Bethaus

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heraus: Wir besitzen keinen Acker, keinen Baum, und wir beten für die Früchte des Feldes, und wenn dann die Worte kommen von den Witwen, Waisen, Armen, Kranken und Gefangenen, dann verschwinden von selbst die Sorgen, mit denen wir für uns hereingekommen sind, wir werden ihrer ledig, indem wir zusammen beten für die Tausende undTausende, die trauriger und elender sind als wir. Dem Gebet als Grundton tritt die Predigt hinzu. Nur wer kommt, um zu beten, der hat auch etwas von der Predigt, und zwar von jeder, ob sie ein großer Redner hält oder ein schlichter, einfacher Mann, dem es nicht gegeben ist, dieWorte wirkungsvoll zu setzen. Wasist denn eine Predigt? Die Gedanken eines Menschen über ein Wort Gottes. Sie soll nicht so sehr belehren wollen. Denn was ist denn lehrbar an dem Wort Gottes? Wenn ich’s richtig will sagen, möchte ich es so ausdrücken: Die Predigt soll ein Nachdenken über das Wort Gottes in dem Hörer wecken und leiten. Die Predigt ist eine Melodie, die in einer andern Seele eine neue Melodie weckt, die nun selbständig erklingt. Wasdu für dich denkst bei der Predigt, was du in deinem Innern dir selbst predigst, dasist die Hauptsache. Der Prediger kann nur mehr dasAllgemeine sagen, aber dieses Allgemeine, daswird dann belebt durch deine eigene Erfahrung und Erinnerung, und die Predigt tritt gleichsam zurück hinter dem Spiel der eigenen Gedanken. So soll das gesprochene Wort des Predigers wortlose, innerliche Predigten wecken. Er kann sie nicht erbauen, wenn sie sich nicht selber erbauen. Wenn euch eine Predigt recht erbaut hat, hattet ihr nicht schon das Gefühl, als wärt ihr neben einer Straße allein für euch auf einem Pfad durch den Wald gewandelt; bald strebte der Pfad der Straße zu, bald lenkte er wieder von ihr ab in denWald, denn so bewegten sich eure Gedanken neben denen desPredigers her. Derjenige ist der rechte Hörer, der, durch das Gebet gesammelt, Zwiesprache mit seinem eigenen Herzen führt. Wer nur als Hörer kommt, der nimmt wenig hinaus, und dieses Wenige verliert er, ehe er recht zu Hause ist. Das ist ein Trost für den Hörer und für den Pfarrer: Für den Hörer, weil er in jeder Predigt etwas für sich findet, und wenn es nur ein einziger Satz ist, der in ihm Widerhall weckt. Ich kenne einen Mann, der kam auf der Durchreise in sehr tiefer Niedergeschlagenheit eines Sonntags in eine fremde Stadt. Er ging in die Kirche und sagte sich: Wenn nur der Pfarrer über einen echten Trostspruch predigt, das würde mir aufhelfen. Und der Pfarrer hielt eine Predigt für die Renovierung des Gotteshauses und ahnte nicht, daß ein Mensch da unten saß, der ihm gedankt hätte für einen Trostspruch. Aber ein Satz kam in der Predigt vor: von dem ehrwürdigen Gotteshaus, das nun schon Jahrhunderte stehe und in dasso viele Geschlechter schon Reue und Schuld, Unglück und Leid hereingebracht hätten und wären getrost und erleichtert wieder hinausgetreten. Und als der Mann diesen Satz hörte, da fing alles

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um ihn an, zu predigen: das heilige Schweigen in dem Raume, die kühn aufstrebenden Pfeiler und das bunte Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinspielte, und auch er ließ seine Sorge und seine Traurigkeit allda und trat fröhlich hinaus. So seid auch ihr schon in dieses Gotteshaus gekommen: Ihr wart traurig und man predigte freudig, ihr wart freudig, und man predigte traurig, aber habt ihr nicht immer einen Satz drin gefunden, der dann eure Predigt wurde? Daß es so ist, das ist der einzige Trost des Predigers. Wenn die Türen aufgehen, und er von der Kanzel herabsteigt, da muß er sich fragen: Was hast du nun denen gegeben, die hinaustreten auf die Straße? Nehmen sie etwas mit? War es für ihr Bedürfnis? Wie traurig wäre es für ihn, könnte er sich nicht sagen, daß ein einzelnes, schwaches Menschenwort seiner Predigt durch Gottes Segen zu einer inneren, stummen Predigt hat werden können! Darf ich nun noch nebenbei ein Wort sagen, das ich schon lange auf dem Herzen habe, nämlich ein gutes Wort für die Nachmittagskirche. Ich weiß nicht, ob die Glocken ein Herz und eine Sprache haben, aber es macht mir immer den Eindruck, als genierten sie sich beinahe, am Sonntagnachmittag ihre volle, metallene Stimme erschallen zu lassen, als fühlten sie selbst, es sei nicht am Platze, fröhlich zu klingen, wenn nur hie und da eine Person fast verschämt in die Kirche schlüpft. Warum diese Geringschätzung der Nachmittagskirche? Wir wollen gleich alle Reden, daß die Zeit schlecht gewählt sei, daß man sie mehr auf den Abend verlegen sollte, und dergleichen abtun; das ist nur Gerede. Man könnte die Stunde wählen, welche man wollte, die Leute kämen doch nicht. Eine sonst brave Frau sagte noch nicht zu lange zu ihrem Pfarrer, der sie besuchen kam: Sie sehen mich halt wenig in der Kirche, Herr Pfarrer, morgens bin ich gewöhnlich unabkömmlich beschäftigt und nachmittags will man eben seine Ruhe haben. Nachmittags will man seine Ruhe haben – dasist die Devise so vieler Christen. Wenn sie morgens nicht in die Kirche können, sind sie für sich entschuldigt; eine Nachmittagskirche gibt es für sie nicht, sie gehört den übereifrigen Christen! Wann kommt denn die Zeit, wo unsere Nachmittagskirche gefüllt ist von denen, die morgens nicht kommen können, wo die Hausmütter hier nachmittags sitzen unter ihren Kindern, und die Mägde und alle, die in Stellung sind, zu einer Stunde der Sammlung sich fänden? Warum kommen sie nicht? Weil der Nachmittagsgottesdienst nichts gilt. Wir müssen die Schmach von der Nachmittagskirche nehmen. Ich bitte euch, mitzuwirken dazu. Ihr Eltern, haltet eure Söhne undTöchter an, daß, wenn sie des Morgens nicht in die Kirche kommen, doch des Nachmittags, damit der Sonntag nicht ohne Segen für sie vorübergehe;

Das

Volk,

das im Finstern wandelt

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ihr Herrschaften, haltet eure Mägde an, daß sie des Nachmittags kommen, und gebt ihnen dasgute Beispiel, indem auch ihr des Nachmittags kommt. Und ist es denn zuviel, zweimal des Sonntags in die Kirche zu

kommen? Denkt nach über die Nachmittagskirche, und es wird hoffentlich unter euch geben, die mithelfen wollen, die in die Nachmittagskirche kommen, um den andern das gute Beispiel zu geben und ihnen Mut zu machen. Diese leeren Bänke der Nachmittagskirche sind eine Schande – dasWort sei gesagt – für uns in Straßburg (und hier ist es schlimmer als anderswo), denn es zeugt davon, daß Tausende und Tausende in unserer Stadt sind, die keine Sehnsucht nach einer stillen, friedvollen Stunde in der Kirche tragen, weil sie nicht wissen, daß die Kirche ein Bethaus ist. «Mein Haus ist ein Bethaus»: Grabt euch dieses Adventswort ins Herz und bewahrt es darin. Es heißt: Kommt in die Kirche und sucht Jesus im Gebet, denn wer ihn hier sucht im Gebet, der wird ihn finden. Möge Gott es an uns wahr werden lassen und uns als Adventsbeter segnen in seinem Hause in den Sonntagen dieser heiligen Zeit und Christi Herrlichkeit uns offenbart werden.

Nachmittagspredigt Sonntag, 14. Dezember 1902, St. Nicolai

Jes. 9,1: DasVolk, dasim Finstern wandelt43 Der Advent ist die Zeit, wo die Sonne zurücktritt und in heimlicher Dämmerung die Sterne am Himmel erglänzen. So ist es auch im Geistigen in dieser Zeit. Unsern Heiland und sein Evangelium erwarten wir, und die Größen, die sonst durch ihn verdunkelt sind, die heiligen Propheten, stehen vor uns. Sie werden wieder lebendig und reden zu unserer Zeit die geheimnisvollen Worte von einer großen Zukunft, in denen sich ihr höchstes Ahnen ausspricht, und die wie alte, herrliche Weisen an unser Ohr klingen. «Das Volk, das im Dunkeln wandelt»: Nimm den Globus der Erde und leg den Finger auf das innere Afrika, auf die großen Reiche Asiens, auf soundso viele Inseln, die größer sind als unser Vaterland, und zähle zusammen, wie viele Millionen noch im Dunkeln wandeln. Vernimm die Seufzer aus gequälten Menschenleibern und aus gequälten Menschenherzen, die in jeder Minute von dort zum Himmel emporsteigen, lies in den Blättern der Mission, was dort noch Unwissenheit, Roheit und Grausamkeit anrichtet, undwie lange geht es noch, bis sie dasLicht, 43 [, sieht ein großes Licht; und über die dawohnen im finstern Lande, scheint es hell.]

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Predigten desJahres 1902

das sie erlöst, sehen werden? – Und doch, lies dann auch wieder, wie das Licht über ihnen aufgeht und mit einem Schlag im dunkeln Afrika christliche Gemeinden entstehen, und mordlustige Volkstämme jetzt in Frömmigkeit und Ehrbarkeit leben – dann jubelt das Prophetenwort. «Mache dich auf, werde licht» [Jes. 60,1]. «DasVolk, das im Dunkeln wandelt»: Liegt denn nicht auch Dunkel über unsern Landen? Sie wandeln im Finstern und glauben, vorwärtszukommen, weil dasWissen und die Bildung zunimmt; sie meinen, das Licht gehe auf mit den neuen Entdeckungen, die allerseits die Welt in Atem halten und dieVerhältnisse umgestalten, und sie sehen nicht, daß wir dennoch im Dunkeln wandeln. Sie sehen nicht, wie der Unglaube, der Egoismus, die Herrschsucht, die Vergewaltigung und der Klassenhaß zunehmen und der christliche Geist vertrieben wird. «Und dasLicht schien in die Finsternis, und die Finsternis nahm es nicht auf», dieses Wort des Evangelisten St. Johannes [1,5] ist wahr geworden an den Zuständen unserer Zeit, möchte man sagen. Und doch, beachte dieWerke desChristentums, wie es, ein Sauerteig, unsere Zustände doch schon durchdrungen hat, die Liebestätigkeit, Fürsorge an den Unglücklichen – dann jauchzt auch hier wieder das Prophetenwort. «Und über die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell», heißt es weiter. Es scheint hell, Gott sei Dank: Aber wie vielen Tausenden und Tausenden nützt der helle Schein nichts, weil sie ihn nicht wahrnehmen und er ihnen dasHerz nicht erleuchtet. Es ergeht ihnen nach dem furchtbar ernsten Wort unseres Heilands: daß sie mit sehenden Augen sehen und doch nicht sehen [Mt. 13,13], weil ihr Herz blind ist. Der Genuß des Lebens nahm es in Besitz, der Leichtsinn betörte es, Unglück und Leid, statt es zu Gott hinzuführen, verhärteten es; derTrotz nistete sich drin ein, und, wasdasSchlimmste ist: Die Gedankenlosigkeit beruhigte es. «Das Auge ist des Leibes Licht. Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. Wenn aber dein Auge ein Schalk ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn aber dasLicht, dasin dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!» [Mt. 6,22 f.]. Wie viele wandeln, und es fehlt ihnen das geistige, innerliche Licht, weil ihnen die Einfalt fehlt, und wann kommt für sie die Stunde, da es heißt für sie: «Hephatha: Tue dich auf» [Mk. 7,34]? Und doch, auch hier wieder eine zweite, freudige Seite. Es gibt, Gott sei Dank, Menschen, die das Licht aufgenommen haben und die nun zum Licht für dieWelt geworden sind. «Ihr seid dasLicht derWelt», sagt der Herr in der Bergpredigt zu den Seinen. «Es mag die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter, so leuchtet es denen allen, die im Hause sind. Also lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen, und euren Va-

Das

Volk,

das im Finstern wandelt

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ter im Himmel preisen» [Mt. 5,14– 16]. «Die Gerechten werden leuchten als die Sonne» [Mt. 13,43]. Ich will euch nicht die Beispiele großer Christen, die ihrer Zeit Leuchten geworden sind, einen Spener, einen Oberlin, und wie sie alle heißen, nennen, sondern tut die Augen auf und seht um euch, ob ihr nicht solche findet, die durch ihre Frömmigkeit und ihr stilles Wesen Lichter geworden sind, und ohne daß sie es selbst wissen, die andern erleuchten und erwärmen. So spielt sich auf der ganzen Welt, im großen und im kleinen, der wunderbare Krieg zwischen Licht und Finsternis ab, wie wenn die aufgehende Sonne kämpft mit gespenstischen Wolkengebilden. Aber damit Gottes Licht voll erstrahlen kann über derWelt, muß es durch Men-

schenherzen widergespiegelt werden. Sind denn unsere Herzen von Gottes Licht erfüllt? Sind wir Leuchten, daß wir in unserm Wandel dasEvangelium in dieWelt hinausleuchten? Es ist ja licht in unserm Herzen, weil wir von Kindheit auf das Evangelium hören und weil wir getauft sind. In der alten Zeit hatte man einen schönen Namen für die Taufe: Man nannte sie «die Erleuchtung», um damit zu sagen, daß von Anfang an der Strahl göttlicher Gnade in unser Herz hineinscheint, wenn auch noch keine Gedanken da sind, um das Evangelium zu verstehen. Aber dann, wenn wir größer werden, wiederholt sich in uns, was in der Welt vorgeht: der Kampf zwischen Licht und Finsternis. Jede Stunde unseres Lebens ist davon angefüllt. Keinem Menschen bleibt er erspart, dieser Kampf zwischen dem natürlichen, fleischlich-egoistischen und dem geistigen Wesen, die in uns wohnen. Und je ernster ein Mensch es mit dem Leben nimmt, desto ernster ist der Kampf. Was steht doch in den Briefen des Apostels Paulus zu lesen von dem Gesetz desGeistes und dem Gesetz desFleisches, die sich in ihm bekriegen, und wie lebt er noch in diesem Kampf, noch da, wo er die Fesseln trägt um Christi willen. Sagt er doch im Briefe an die Philipper: «Nicht daß ich es schon ergriffen hätte; ichjage ihm aber nach, ob ich es ergreifen möchte» [Phil. 3,12]. In diesem Kampfe liegt aber Seligkeit. Selig sind, die kämpfen müssen. Denn in diesem Kampfe, da kommen die Stunden des Glückes und der Freude, wo das Licht fortschreitet in unserm Innern, und wo wir fühlen, wie wir der Seligkeit und ewigen Wahrheit näherkommen. Wir kämpfen ja nicht allein: Christus kämpft in uns und mit uns, und wo wir schwach sind, da ist er mächtig in uns. Er hat «Leben und unvergängliches Wesen ans Licht gebracht» [II Tim. 1,10] durch das Evange-

lium. Darum sind wir getrost: Mögen Licht und Finsternis in der Welt und in unsern Herzen miteinander kämpfen: Das Licht wird siegen. Gott hat uns «berufen von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht» [I Petr. 2,9].

VI. Predigten desJahres 1903

Morgenpredigt Neujahr Donnerstag, 1.Januar 1903, St. Nicolai

I Petr. 5,6 f.: So demütiget euch nun unter die gewaltige Hand Gottes|1¡

«Gehet ein durch die enge Pforte» [Mt. 7,13], hat unser Herr gesagt. Im gewöhnlichen Leben fragen wir oft: Wasist das, die enge Pforte? Es gibt ihrer vielerlei im Leben eines jeden Menschen, aber die sichtbarste für alle, die steht neben dem Meilenstein des neuen Jahres. Auf der großen Straße ziehen sie lachend und singend ins neueJahr hinein, die Lustigen und Gleichgültigen. Wir aber wollen hineintreten durch die enge

Pforte. Eng ist die Pforte, denn sie heißt Demütigung vor Gott. So demütigt euch denn unter die gewaltige Hand Gottes – zuerst die Glücklichen. Wir sind geneigt, bei derJahreswende die Traurigkeit in denVordergrund zu stellen und so eine Art Neujahrspessimismus zu kultivieren. Und doch, es gibt sicher manche unter uns, die sind hereingekommen als die Glücklichen. Sie haben Erfolg gehabt, ihre Geschäfte sind gut gegangen. Manche unter uns, die müssen sich sagen: Als ich dasJahr anfing, hätte ich nicht gedacht, es so glücklich zu beschließen. Es hat mir erhofftes und unverhofftes Glück gebracht und manche Befürchtungen und manche Sorgen begraben. Zu den Glücklichen kommen die Zufriedenen, die demJahr kein besonderes Lob singen, aber doch sagen: Alles in allem war es kein schlechtes. Nun, ihr Glücklichen und Zufriedenen: Demütigt euch vor Gott. Demütigt euch, indem ihr dankt. Nehmt, was euch Gutes begegnet ist, nicht als etwas Selbstverständliches hin, denkt nicht: Das hab ich mir erworben, oder das ist mir zugefallen, sondern nehmt es an als von Gott kommend. Ja dankt alle, nicht nur die Glücklichen und die Zufriedenen, sondern auch ihr, denen dieTränen nahe stehen: Dankt zuerst! Dankt für die Gesundheit und für das tägliche Brot, dankt für eure geistigen Gaben und dafür, daß ihr schaffen und wirken dürft, ihr Gatten dankt, daß Gott 1 [,daß er euch erhöhe zu seiner Zeit. Alle eure Sorge werfet auf ihn; denn er sorgt für euch.]

So demütiget euch nun

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euch beieinander ließ, ihr Eltern dankt für eure Kinder, ihr Kinder für eure Eltern. Dankt alle, daß unser Land verschont blieb von Teuerung, Pestilenz undKriegsnot. Es ist ein heiliger Moment, darum dankt. Dankt demütig, dann wird euch Gott erhöhen, erhöhen, indem er euch jene höhere, geistige Auffassung vom Leben kräftig ins Herz gibt. Der natürliche Mensch sieht ja nicht, daß Amt, Besitz, Gaben, Kinder ein Lehen Gottes ist, ein Pfund, das wir in seinem Dienst verwalten. Und weil er es nicht weiß, ist ihm dasLeben eintönig. Aber der Mensch, der alles dankend alsvon Gott kommend empfängt, dem singen die Engel jenes höhere Wissen vom Leben ins Ohr, göttlicher Morgenglanz liegt über der grauen Alltäglichkeit, und er tritt freudvoll ins neueJahr. Ich darf wirken: Gott ich danke dir. So demütigt euch nun auch ihr, die ihr die gewaltige Hand Gottes nicht als Helfershand, sondern als Schicksalshand erfuhrt. Wie viel Herzensbitternis wird heute ins Gotteshaus getragen – und wohl denen, die sie noch ins Gotteshaus tragen und nicht zu Hause sich darin verzehren. Heute wird mit dem alten Jahr abgerechnet. Die Enttäuschungen, die Demütigungen, dieVerluste und dasUnglück und die Krankheit, die es gebracht, stehen lebendig vor der bekümmerten Seele. Diejenigen, die in demJahr hinauszogen auf den Friedhof hinter einem lieben Sarg, sagen sich: Wie war es anders, als dasJahr anfing. Ja, in manchem Herzen ersteht schon längst verjährte Bitterkeit immer wieder neu gerade in diesen Tagen, und alte Wunden bluten aufs neue. Gibt es denn keine Antwort auf die vielen schmerzlichen Warum? Es gibt eine, keine fertige, wie sie die Denker erträumen, die seit Jahrtausenden darüber nachsinnen, wie das Übel und Unglück in der Welt zu erklären sei, aber doch eine, eine wahre Antwort. «Demütigt euch.» Nimm es an aus Gottes Hand. Sag: Der Herr hat es geschickt, er weiß, was er tut. Bete um Demut, denn sie will erbeten sein, und die wilden Horden des Trotzes weichen nicht menschlichen Erwägungen. Aber glaube fest, daß, wenn du demütig betest, der Herr dir helfen wird, denn er demütigt, um zu erhöhen, und die Erhöhung ist die Ruhe in Gott. Es ist ein Geheimnis, welches noch kein Mensch ausgedacht hat: Nie verstehen wir so, was heißt Glück und Seligkeit, als in den großen Trübsalsstunden. Was ist alles Glück der Glücklichen und Zufriedenen gegen die Seligkeit einer Seele, die in schweren Kämpfen stille wird zu Gott und nun ruht über der qualvollen Unruhe derWelt wie der Geist Gottes über dem Chaos, als der erste Lichtstrahl das Dunkel durchblitzte. Wer es noch nie erfahren, dieses Losgerissenwerden von allem zu jener unsagbaren Seligkeit, der weiß noch nicht, was das Leben heißt und wie herrlich es ist. «Wenn ich dich nur habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde» [Ps. 73,25].

432 Predigten desJahres 1903

Es sind unter uns, die es von sich wissen, daß ihr traurigstes Neujahr ihr seligstes war. Möge Gott denjenigen helfen, die heute ihr traurigstes durchkämpfen, daß auch über sie komme die Meeresstille des Gemüts.

«Gib dich zufrieden und sei stille in dem Gotte deines Lebens; in ihm ruht aller Freuden Fülle, ohn ihn mühst du dich vergebens; Er ist dein Heil unddeine Sonne, scheint täglich neu zu deiner Wonne. Gib dich zufrieden.»|2¡ So demütigt euch nun vor Gott – um den Menschen zu verzeihen. In einem Jahr sammelt sich eine Menge Groll an, Groll gegen die, welche uns geschadet, welche ungerecht und heimtückisch gegen uns gehandelt haben, die uns beleidigt und die uns das Leben verbittert haben. Groll wegen dieses undjenes Wortes, Groll gegen die Fernen, Verstimmung gegen die Nahen, die mit uns im Hause sind. Der gewöhnliche Mensch nimmt dieses Bündel Rechnungen mit ins neue Jahr, denn er versteht das Leben nicht. Er kann nicht verzeihen, weil er sich nicht demütigt vor dem Herrn, und alles, auch was Menschen ihm antun, annimmt als von ihm geschickt. Und doch, was ist das für eine schöne Erfüllung desWortes «so will ich dich erhöhen», wenn Gott uns dann dasVergessen und Verzeihen den Menschen gegenüber ins Herz sendet und uns hinaushebt über das menschliche Behalten und Nachtragen. Hast du keine solchen Rechnungen zu zerreißen? Und hast du nicht nötig, daß andere dir verzeihen? Und wenn kein einziger Mensch, einer hat dir etwas zu verzeihen; Gott: die Sündenschuld eines ganzen

Jahres.

«So demütigt euch.» Die Schuld eines ganzen Jahres. Was liegt nicht für jeden von uns in diesem einen Wort. Warum suchen so viele in lauter Festlichkeit in das neue Jahr einzutreten? Weil sie Angst haben, mit sich eine Stunde allein zu sein. Hast du denn diese Stunde mit dir allein gehalten und Rückblick geworfen auf dein inneres Leben? Da ziehen auf vor uns die sündigen Gedanken, denen wir Raum gegeben, die Stunden der Schwachheit, die Handlungen der Selbstsucht, so viele Augenblicke, die wir austilgen möchten. Was haben wir nicht alles unterlassen, wo wir hätten Gutes tun sollen? – und es ist nicht wieder gut zu machen. Und dieses alles, was uns herabzieht, vor unsern eigenen Augen entwürdigt, nimmt das alte Jahr mit in die Ewigkeit vor Gottes Thron. Was wäre doch eine Neujahrspredigt für ein trauriges Ding, wenn man das Wort von der Sündenvergebung nicht hätte. Können wir es

2

[Paul Gerhardt:

Gib dich zufrieden, Str. 1.]

So demütiget euch nun

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denn genug begreifen und uns genug darüber freuen, daß an jeden von uns in dieser ernsten Stunde, wo wir es erfahren wie kaum anders, was das heißt, «Ich sündiger Mensch» [Lk. 5,8], dasWort ergeht: Gehe hin, «deine Sünden sind dir vergeben» [Mt. 9,2]? und daß wir am Neujahrstage sprechen können: «Ich glaube an eine Vergebung der Sünden»? Zu welcher Freudigkeit erhöht uns doch Gott, daß wir nun dasVergangene abtun dürfen und neueVorsätze fassen können. So demütigt euch in Dankbarkeit, in Geduld, in Verzeihen und in Reue vor Gott, daß ihr mit der hohen, wahren, freudigen Gesinnung in das neueJahr hineintretet; und wenn ihr so reines Haus bei euch gemacht habt, dann laßt die ersten Gäste herein – es sind bei allen die Sorgen. Bei manchen unter uns sind es die Sorgen um das tägliche Brot, bei den andern dasGeschäft und das Fortkommen, bei andern die Kinder und ihre Zukunft, andere gehen mit Sorge um ihre Gesundheit oder die der andern, die ihnen lieb sind, in das neueJahr. Und die größten unter ihnen kennen wir noch nicht, die, welche uns an einem dieser kommenden Tage wie ein Räuber, der hinter einem Baum gelauert, überfallen und niederschmettern werden. Schließ die Augen nicht, sondern blick ruhig hinaus. Nur ein Wort vergiß nicht dabei: «All eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorget für euch.» Schreib es dir ins Herz:

«Es kann uns nichts geschehen, als was er hat ersehen und wasuns selig ist.»|3¡ Nun tretet heraus ausder engen Pforte. Zieht eure Straße fröhlich. Der Herr sei mit euch und führe euch. «Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft undWinden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auchWege finden, da dein Fuß gehen kann.»|4¡

3 [Paul Fleming: In allen meinen Taten, Str. 3.] [Paul Gerhardt: Befiehl dudeine Wege, Str. 1.]

4

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Predigten

desJahres 1903

Nachmittagspredigt Sonntag nach Neujahr, 4. Januar 1903, [St. Nicolai]|5¡

Röm. 1,7: Gnade sei mit euch und Friede|6¡ Menschen wünschen sich noch Neujahr. Wie habt ihr das Neujahr angefangen? Was wünschen sie sich vor allem? Gesundheit etc. Das ist schön, denn es ist etwas an einem aufrichtigen Wunsch. Weil es noch nicht zu spät ist, möchte ich auch euch, die ihr mir alle bekannt seid dadurch, daß ich euch nun seit so vielen Sonntagen nachmittags hier versammelt sehe, euch, die ihr mir Freunde geworden seid, einen christlichen Neujahrsgruß entbieten, und ich finde keinen schöneren als den, mit dem der Apostel Paulus seine lieben Gemeinden in seinen Episteln begrüßt: «Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!» «Gnade sei mit euch», Gottes Gnade. Was ist doch das für ein herrliches Wort: Gnade! Ist nicht alles drin enthalten? Gesundheit ist Gnade Gottes, Gut und Stellung sind Gnade Gottes, geistige Gaben sind Gnade Gottes, Kinder sind Gnade Gottes. Aber es liegt noch etwas mehr drin: das Wort «unverdient». Wenn die Menschen sich in diesen Tagen viel gewünscht haben, so haben sie dabei alle getan, als stände ihnen alles, was sie sich wünschen, zu, und als verdienten sie es. Und doch, wenn die Menschen sich nur das Gute wünschen dürften, was sie verdienen, wie wenig wäre das? Darum ist der höhere Wunsch: «Gnade sei mit euch»; Gott gebe euch nach seiner überreichen Güte, waser für euch gut hält. Noch etwas aber liegt in dem Wort Gnade Gottes: dasTraurige und die Kümmernisse. Nur Gutes wünschen sich die Menschen und tun, als ob nun das Ideal des Lebens darin bestehe, daß nun alles glücklich und eben gehe. Und doch wissen sie, daß es nicht so sein wird, sondern daß das neue Jahr für jeden unter uns Schönes und Trauriges bringen wird, aber sie wagen nicht, an dasTraurige zu denken. In dem Wunsch aber «Gnade sei mit euch», daliegt Schönes undTrauriges zugleich, wie es in einem unserer schönen Kirchengebete heißt: «Im Zeitlichen nimm uns nicht mehr und gib uns nicht mehr, als wir tragen können.» So geht denn der christliche Neujahrswunsch auch auf dasTraurige: Möge der Herr in den Prüfungen, die er euch schickt, es gnädig mit euch meinen und euch so damit bedenken, also daß ihr es könnt tragen. Und nun das zweite Wort des Grußes: «Friede». Das geht nun ganz über menschliche Wünsche hinaus. Die Menschen wünschen sich äu5 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer diese Predigt in St. Nicolai gehalten.] 6 [von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!]

Gnade sei mit euch undFriede

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ßere Güter, aber nichts fürs Herz. Es würde unsja merkwürdig vorkommen, wenn der eine dem andern sagte: Ich wünsche euch ein zufriedenes Herz. Und doch: Macht denn das, was uns begegnet im Leben, Glück und Unglück aus? Sind denn alle die, denen es gut geht, glücklich, und alle die, denen es schlecht geht, unglücklich? Nein, da ist ein kleines Ding, dasHerz, und daskehrt oft alles um und macht, daß Weinende glücklich sind, und diejenigen, die glücklich sein sollten, sich nicht freuen können. Und nun gerade die Hauptsache zum Glück, das Herz und die Gesinnung, die lassen die Menschen in ihren Wünschen unberücksichtigt! Darum wünsche ich euch Frieden. Das heißt zunächst, ein genügsames, zufriedenes Herz, ein Herz, das nicht unersättlich ist. Wieviel Menschen können sich keine Stunde freuen, auch wenn es ihnen noch so gut geht! Und wieviel andere dagegen in einfachsten Verhältnissen, ja, in solchen, wo sie vonTag zuTag sorgen müssen, sind glücklich, weil sie zufrieden sind. Ich wünsche euch ein Herz, das keinen Neid kennt. Ist doch der Neid ein Gift, welches so viele Leben vergiftet und soviel Unglück anrichtet; darum [gehört] zum Frieden, daß ihr euch an dem Glück der andern freuen könnt. Ferner aber: Zum Frieden gehört Friedfertigkeit. «Soviel an euch ist, habt Frieden mit jedermann», sagt der Apostel [Röm. 12,18]. So wünsche ich euch Friedfertigkeit, Friedfertigkeit in eurem Hause, dieses schöne, sanfte sich Dulden und Ertragen, ohne welche ja kein wahres Glück möglich ist, Friedfertigkeit auch mit den andern, denen draußen, im großen wie im kleinen, daß euer Leben nicht verbittert werde durch Haß und Zorn. Und doch, diese Zufriedenheit und diese Friedfertigkeit ist nur ein fahler Widerschein des wahren, inneren Friedens, das heißt, der Stille desGemüts in allem, waseinem begegnet. Dieser Friede ist etwas Überirdisches, sagt doch der Apostel: «Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne» [Phil. 4,7]. Darum ist dieser Friede nicht etwas, was sich Menschen selbst geben oder anerziehen können, sondern «eine gute und vollkommene Gabe von oben» [Jak. 1,17]; ein Geschenk der Gnade Gottes. Darum ist das Höchste, was man einem Menschen wünschen kann, daß Gott ihm aus Gnaden den wahren Frieden ins Herz gebe. Und diesen frömmsten und wahrsten Neujahrswunsch, den tue ich für euch, hat doch der Herr seine Jünger begrüßt, indem er sprach: «Friede sei mit euch!» [Lk. 24, 36].

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Morgenpredigt Sonntag 25. Januar 1903, St. Nicolai

Gal. 2,16–21: [Christus lebt in mir]|7¡ «In den Briefen des Apostels Paulus sind manche Dinge schwer zu verstehen», heißt es schon im Neuen Testament im (3. Kapitel des) 2. Petrusbriefes [II Petr. 3,16]. Was in jener alten Zeit schon galt, das habt ihr wohl auch an euch selbst wieder erfahren bei der Verlesung desTextes. Liegen uns doch diese Auseinandersetzungen über dasjüdische Gesetz so ganz ferne und erscheint doch in diesen Für- und Gegenreden ein fremder Apostel, der Rabbiner Paulus. Man hat den Eindruck, als ob man an steiler Berghalde über lockeres, unter dem Fuße nachgebendes Steingeröll wandelte. Und doch, es weht da oben herrliche Luft, und aus den Felsritzen lugen wundersame Blumen hervor, Blumen so schön, wie man sie im Tale nicht findet. So blühen auch aus jenen fremdartigen Ausführungen des Paulus die herrlichsten Sprüche hervor. «Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir»: Aber wer von uns darf dieses Wort dem Apostel Paulus nachsagen? Der Frömmste in silberweißem Haar würde es nicht wagen, auf die Kanzel zu treten und zu sprechen: «Christus lebt in mir», aus Bescheidenheit und Scheu. Aber bei sich selbst darf und muß sich doch jeder fragen: Lebt denn Christus in mir? Ich lebe, so sagt unser kreatürliches Wesen. Aber in uns ist noch ein Ich, ein geistiges Ich, dasEwigkeit will, ein Ich, dasmit diesem «Ich lebe von der Geburt bis zum Tode» nicht zufrieden ist, ein Ich, das seine Wurzeln senken will in den ewigen Urgrund des Seins. Erst wenn es fühlt, wie aus jenem Reich die Kräfte ewigen Seins ihm zuströmen, dann weiß es: Ich lebe. Auf einem Felde setzt man Bäume. Anfangs gedeihen sie alle, dann stehen die einen still und nehmen langsam ab, die andern aber grünen 7 [Weil wir wissen, daß der Mensch durch des Gesetzes Werke nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben anJesum Christum, so glauben wir auch an Christum Jesum, auf daßwir gerecht werden durch den Glauben an Christum undnicht durch desGesetzesWerke; denn durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch gerecht. Sollten wir aber, die da suchen durch Christum gerecht zuwerden, auch selbst als Sünder erfunden werden, so wäre Christus ein Sündendiener. Das sei ferne! Wenn ich aber das, wasich zerbrochen habe, wiederum baue, so mache ich mich selbst zu einem Übertreter. Ich bin

aber durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, auf daß ich Gott lebe; ich bin mit Christo gekreuzigt. Ich lebe aber; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich in dem Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben. Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn so durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.]

Christus lebt 7 3in mir 4

und wachsen. Warum? Es liegt nämlich unter dem Erdreich eine Kiesschicht und die, welche die Kraft haben, mit ihren Wurzeln die Schicht zu durchdringen, bis sie tiefer neue Nahrung finden, die leben; die an-

dern aber müssen absterben. So ist es auch mit den Menschen: Sie sind alle gepflanzt auf dem natürlichen Boden desLebens. Aber dieser natürliche Boden, getränkt mit allen Kräften desWissens, der Kultur und der Religion, genügt nicht, um ihr geistiges Leben zu ernähren, sondern es kommt für jeden der Augenblick, wo es heißt: Dring hindurch oder erstirb langsam. So hat Paulus den Boden derjüdischen Religion, ausdem er bisher seine ganze Kraft gesogen, durchbrochen und fühlt nun, wie überlebendige Frühlingskräfte sein ganzes Wesen durchströmen, weil eine Person ihm persönliches Leben mitteilt: Christus. Auch der Boden der christlichen Religion, auf dem wir aufwachsen, und wie sie uns überliefert wird, vermag uns nicht auf die Dauer die geistige Kraft zu geben, deren wir bedürfen, wenn nicht in einem Erlebnis die christliche Lehre und Überlieferung nun etwas in uns, etwas für uns wird, ich möchte sagen, eine Religion, die wir allein entdeckt haben, einen Christus, der so nur zu uns redet: unsere Religion, unser Christus! Das heißt dann: Christus lebt in uns. Ist es nicht das größte Geheimnis unseres Wesens, daß überhaupt etwas, was außen ist, in uns eingeht und nun geistig in uns lebt, und nun ausetwas Vergänglichem etwas Bleibendes wird? Wir erblicken mit den Augen eine Landschaft, das ist Gestalt und Farbe außer uns. Aber dieses außer uns wird lebendig bleiben in uns. Wir sehen sie wieder, die Berge, die Blumen, die grünen Matten mit den Wolkenschatten, die darüber ziehen, wir spüren die Lüfte und Düfte, die uns damals umspielten, auch wenn das Bild dem Auge entrückt ist und durch das gefrorene Fenster weiß glitzernde Dächer und kahle Bäume zu unshereinschauen. Wer vermag dieses Geheimnis zu erklären? Was ist ein Wort? Ton und Schall, der vergeht, oder ein Zeichen auf dem Papier. Und doch, durch diesen verhallenden Schall oder durch das Zeichen, das wir mit einem Federstrich auslöschen können, gehen Gedanken in uns ein, die unser unentreißbares Eigentum sind, von denen wir zehren undleben. Aber das alles ist nur ein unvollkommenes Gleichnis dafür, daß auch Jesus, der als äußerlich sichtbare Gestalt über die Erde gewandelt und vergangen ist, lebendig in uns eingeht und nun nachJahrhunderten und Jahrhunderten nicht unser Lehrer, nicht unser Vorbild – das ist alles viel zu wenig – sondern unser geistiges Leben, unsere Kraft, unsere Macht ist! Er lebt noch auf dieser Welt. Allgegenwärtig ist er jetzt. Sein ganzes, ungeteiltes, geistiges Wesen ist in jedem seiner Worte lebendig beschlos-

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sen, und darin offenbart er sich noch immer in seiner weltüberwindenden Herrlichkeit, wie er denJüngern und dem Apostel Paulus erschien. Und wann sich Christus offenbart, wenn plötzlich ein oft gelesenes, oft gehörtes Wort, etwas ganz anderes für einen Menschen wird, als es war, wenn es drin aufflammt und es ihn niederzwingt, dann kommt der geistige Christus über ihn, und von jenem Augenblick an trägt er ewiges Leben in sich. Es gibt im Leben eines jeden Gläubigen einen Moment, wo er erst Christ geworden ist, wo Christus gekommen ist, an des HerzensTür geklopft hat: Ich will in dir leben und wohnen, und ihn dann in seine Banden schlug. Für die einen kommt er als die Parusie des Menschensohnes wie der Blitz vom Himmel. Im fröhlichen Dahinleben ein Wort: Und er steht vor ihnen als Herr und Gebieter. Sie müssen, er zwingt sie unter sich, ob sie wollen oder nicht. Er reißt sie heraus, daß sie ihm leben müssen, und sie selbst könnten nicht schildern, wie es zuging. Das sind die Augustin, die Franziskus von Assisi, die Luther und so viele Hunderte und Tausende in unserer Zeit, deren Namen wir nicht kennen und deren innerstes Geheimnis wir nicht wissen, und auch zuwissen nicht dasRecht haben. An andere tritt er heran in der Form einer großen Lebensaufgabe. Zuerst wissen sie selbst nicht, welche Stimme sie rief, erst später sehen sie, daß er eswar. Und wieder andere, an die tritt er heran in der Form der äußeren Ereignisse. Er trat zu ihnen als Glück und Freude, und sie kannten ihn nicht, denn sie wissen nicht, daß er lächeln kann. Da wartete er vor der Tür, und mit derTrübsal und Krankheit trat er wieder ein. In den einsamen Stunden der Nacht setzt er sich zu ihnen auf des Bettes Rand: Ich bin’s, ich will in dir leben, daß sie ihn finden müssen unter Tränen und sein Leben in sie übergehe, wenn sie die Male seines Leidens und Sterbens an sich tragen. Es ist wie mit dem Herrn im Gleichnis: Die einen nimmt er in seinen Dienst in der Morgenstunde ihres Lebens, die andern zur Mittagszeit, die andern zur Abendstunde, wenn schon die Dämmerung da ist [Mt. 20,1– 16]. Wenn ich meinen Konfirmanden dieWorte des Evangeliums auslege, dann fühle ich deutlich, wie auch die ernstesten unter ihnen nicht alles begreifen können. Sie finden sie erhaben und herrlich, wahr und tief, aber daß diese Worte Leben sind, alles wahre Leben, was sie einst haben werden, daß alles andere daneben nur welkendes Laub ist, daswissen sie nicht und können es noch nicht wissen. Es kommt mir dann vor, als ob ich auf einer Geige Saiten aufzöge. Noch erklingen sie nicht. Aber einst wird eine göttliche Hand sie spannen, daß sie knirschen und klirren, und den Bogen darüber führen, und ein Ton wird in ihnen erklingen und zur Melodie ihres Lebens anschwellen.

Herr, h ilf mir

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Erst wenn Christus die Seele zum Erklingen gebracht hat, dann kommt das Glück. Alle Schwachheit und alle Kämpfe unseres menschlichen Ichs, alle unsere Versuchung und alle Trübsal, durch die wir hindurch müssen, sie können jenes Glück nicht ertöten; unser irdisches Ich geht darin unter, damit Christus desto mächtiger werde in uns. Wir müssen dies erfahren, damit wir lernen wahrhaft sprechen: «Ich lebe, doch nicht ich selbst lebe, sondern Christus lebt in mir.»

Nachmittagspredigt Sonntag, 1. Februar 1903, [St. Nicolai],8 Mission Mt. 15,21– 28: Herr, hilf mir9 Vor wenigen Sonntagen haben wir Missionsfest gefeiert; doch auch heute nachmittag möchte ich euch von Mission reden, da man heutzutage nicht genug davon reden kann; und man muß noch gar viel tun, bis man die Leute aus ihrer Gleichgültigkeit aufgerüttelt hat. Vorigen Herbst war ich mit einem Freunde zusammen, den ich sehr schätzte, und wir kamen ins Gespräch über Mission. Da sagte er zu mir: Wie kann man nur so viele Millionen ausgeben für die Mission? Das Geld könnten wir doch viel besser brauchen; es gibt noch viele Spitäler und Versorgungsanstalten zu bauen; ja, wenn wir einmal hier alles getan haben, dann wollen wir uns um die Heiden kümmern; sie leben ja glücklich in ihrer Religion, sie verlangen und kennen nichts Besseres. So sprach mein Freund, und so reden Tausende und aber Tausende und meinen, den Nagel auf den Kopf geschlagen zu haben, und doch, wie oberflächlich; weil sie das «Herr, hilf mir» aus Afrika, Indien und von den Inseln nicht hören, sagen sie, es ruft ja niemand. Und warum hören sie nicht? Weil sie nicht ein wenig hinausgehen. Sogar unser Herr Jesus hat dieses «Herr, hilf mir» nicht gehört, solange er in Galiläa war, 8 [Nach den Angaben im Kirchenboten hat Schweitzer in St. Nicolai gepredigt.] 9 [Und Jesus ging aus von dannen und entwich in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, ein kanaanäisches Weib kam aus derselben Gegend und schrie ihm nach und sprach: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich mein! Meine Tochter wird vom Teufel übel geplagt. Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten zu ihm seine Jünger, baten ihn und sprachen: Laß sie doch von dir, denn sie schreit uns nach. Er antwortete aber und sprach: Ich bin nicht gesandt denn nur zu den verlorenen Schafen von dem Hause Israel. Sie kam aber und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, h ilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht fein, daß man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aber doch essen die Hündlein von den Brosamlein, die von ihrer Herren Tisch fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: O Weib, dein Glaube ist groß! dir geschehe, wie du willst. Und ihre Tochter ward gesund zu derselben Stunde.]

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und als er dieJünger aussandte, da sprach er zu ihnen: Geht nur zu den Kindern Israels [Mt. 10,6]; aber kaum setzt er den Fuß auf heidnisches Gebiet in dasLand der Städte Tyrus und Sidon, da ruft es ihm entgegen: «Herr, hilf mir», und von diesem kanaanäischen Weib wird er erschüttert und ergriffen bis in das tiefste Herz, und er kann nicht anders, er muß helfen. Und die Menschen alle, die sagen: Die Heiden sind zufrieden für sich, ach, daß sie einmal hinausgingen, zu hören auf die Stimme der Heiden, daß sie nur einmal Bücher der Mission läsen! Da würden sie das «Herr, hilf uns» hören, wie St. Paulus noch im Traum [Act. 16,9], und es ließe ihnen keine Ruhe. Denn für die heidnische Menschheit gilt noch heute, was dasWeib dort von ihrer Tochter sagt: «Sie wird vom Teufel übel geplagt.» Wir wissen, es gibt keinen Teufel, sondern nur qualvolle Umnachtung der menschlichen Sinne, so daß Gott ihnen entschwindet, und sie in finsterer Angst leben. WasMenschen daleiden, können wir nicht ausrechnen, und niemand kann helfen dennJesus. Können wir es denn nur entfernt ermessen, was für ein trostloses Unglück in dem Worte «Fetisch» liegt, wo das ganze Leben darin aufgeht, die bösen, Unheil bringenden Geister zu versöhnen? Und da ist das aufgeklärte und edelste Heidentum so schlimm daran wie das wilde Negervolk. Man redet von der Brahmanenreligion der gebildeten Hindus! Wasist dies für ein trostloses Ding. Ich las dieser Tage in tiefer Ergriffenheit die Geschichte zweier vornehmer indischer Büßer, einer Frau und eines Mannes. Tschandra Lila, Spiel der Mondstrahlen, hieß die Frau. Ich will euch die Geschichte kurz erzählen. Als fünfjähriges Kind wurde sie einem Knaben zur Gattin bestimmt, und als dieser bald darauf starb, da war sie schon als Kind für ihr ganzes Leben Witwe, und nach demVolksglauben bedeutete dies, daß eine große Schuld auf ihr lastete. Die Schuld muß gesühnt werden, und nun macht sie sich auf, und über zwanzig Jahre lang wallt sie von Heiligtum zu Heiligtum, sie unterzieht sich den grausigsten Martern. Nächtelang steht sie während Jahren vor den berühmten Götzenbildern, vom Himalaja bis zum Meeresstrand. Man schaudert über alle diese selbstgemachte Pein ... ihre Haare sind weiß geworden, sie ist zum Gerippe abgemagert, und immer ist ihr noch nicht geoffenbart, daß die Schuld vergeben sei; und zuletzt findet sieJesus und den Frieden; und heute wallt sie wieder von Heiligtum [zu Heiligtum], vom Ganges bis hinauf zum Himalaja, wo sie einst Ruhe suchte ... und predigt das Evangelium. Und das ist eine von Tausenden und Abertausenden; und wir sollten diesen Gequälten, deren Qual wir nicht einmal ermessen können, nicht aus tiefstem Mitleid die Hilfe bringen, die ihnen helfen kann: Jesus Christus? Man sagt: Wir sollen uns an der Mission beteiligen aus Interesse. DasWort Interesse ist viel zu kühl: ausheißem Mitleid. Das ist daserste.

Herr, h ilf mir

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Das zweite aber: um uns zu erquicken. Wir haben es für uns selber nötig. Hat doch unser Herr Jesus selbst Erquickung gefunden bei den Heiden. Mit traurigem Sinn war er aus Galiläa gewichen, wo das Volk nicht wußte, was es an seinem Evangelium hatte, und nun darf er hier, wo er glaubte, unerkannt zu sein, er, der in Israel keinen Glauben gefunden hat, zu diesem Heidenweib sagen: «O Weib, dein Glaube ist groß!» Seine Jünger haben ihn sicher zu trösten gesucht bei dieser Wanderung in die Fremde, aber der wahre Trost, der ihn über Monate der Verfolgung hinweghob, das war der Glaube dieses Weibes. Und diesen Trost müssen auch wir bei den Heiden holen, den Trost über die Geringschätzung des Evangeliums in unseren christlichen Landen. Hier in Straßburg, im Elsaß, in Deutschland sitzen Tausende und Tausende am gedeckten Tisch, aber sie haben keinen Hunger und Durst nach der Vorgesetzten Speise des Wortes Gottes, denn weil sie dasselbe von Jugend auf kennen, wissen sie nicht, was das ist, Hunger und Durst darnach, wie wir nicht wissen, was das heißt: in der Wüste verdursten; aber die Speise ist doch nicht verloren, denn an den Brosamen, die vom Tische fallen, sättigen sich Tausende und Tausende von Heiden. Das Bibelbuch, das hier verstaubt steht, dort wird es verschlungen. Wer hineinschaut, wer unsern Verhältnissen entflieht, dem wird es wohl und leicht ums Herz. Die Seligpreisung des Herrn: «Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit» [Mt. 5,6] erfüllt sich noch jeden Tag. Das Evangelium geht seinen Weg, und wenn es bei uns jetzt wegen der Gleichgültigkeit Winter ist, auf andern Teilen der Erde ist es herrlich Frühling. Auf meinem Schreibtisch steht ein Globus, der ist mein tröstender Freund. Von Zeit zu Zeit nehme ich ihn und drehe ihn langsam: Da liegt A frika ... da Indien . . . da die Inseln der Südsee – und da geht jetzt die Sonne des Evangeliums auf. Da liegt die Zukunft des Christentums, und ich freue mich dann, daß Europa so klein ist, verglichen mit den andern Weltteilen, und der Name Straßburg steht nicht einmal auf dem Globus. Aus Mitleid und um uns zu erquicken, treiben wir Mission. Dazu noch ein drittes: um zu sühnen. Wir europäischen Völker haben eine schwere Schuld den Heiden gegenüber auf uns genommen. Wer hat die Bewohner Südamerikas zu Tieren herabgewürdigt? Die christlichen Europäer. Wer hat die Indianer Nordamerikas ihres Landes beraubt, daß sie nun als verhungernde Bettler aussterben? Die christlichen Europäer. Wer hat die Neger als Sklaven verkauft? Die Europäer. Ein Buch von hunderttausend Seiten wäre zu klein, um alle diese Greuel aufzuzeichnen. Und das ist nicht alles Vergangenheit. Noch heute geht es so! Wer beutet denn die Heiden mit dem Schein des Rechtes aus? Die christ-

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lichen Europäer. Wer vergiftet sie durch den Branntwein? Die christlichen Europäer. Wer stürzt sie ins Laster? Die christlichen Europäer. Wie ein Pesthauch geht es aus, wo der christliche Europäer hinkommt. Inseln der Südsee, die am Anfang 100 000 Einwohner zählten, die zählenjetzt noch 8000 bis 10 000, und diese sterben aus. Und diese Sündenschuld hat das Europa, das den Christennamen trägt, auf sich geladen und ladet sie noch immer auf sich. Da gibt es nur eine Sühne, ein Wiedergutmachen, daß wir den Heiden, die die Christen als reißende Wölfe haben kennen lernen, Hirten schicken, die sie weiden auf der Aue des Evangeliums. Die Mission ist nur ein Schuldund Sühnopfer, das noch viel zu gering ist. Nicht einmal 20 Pfennige kommen auf den Kopf der europäischen Bevölkerung für Mission! Ich rede so zu euch nicht nur, um euch zu überzeugen, denn ich glaube, ihr seid überzeugt, sondern daß ihr nun eurerseits, wo die Rede davon ist, auch eintretet für die Mission, daß ein wenig Verständnis über diese Sache in unser Volk hineingetragen wird und diese Missionsgleichgültigkeit weiche. Wir brauchen die Mission; denn wir geben nicht nur, wir empfangen.

Morgenpredigt Sonntag, 8. Februar 1903, St. Nicolai

Hebr. 12,1f.: Lasset uns ablegen die Sünde, die uns träge macht|10¡

Ihr wißt, daß man nicht darüber einig ist, ob Paulus selbst oder sonst ein gut frommer und in der Schrift wohl bewanderter Mann den Brief an die Hebräer geschrieben hat. Wie dem auch sei: Der heilige Mann, von dem die Worte unseres Textes stammen, hat die Menschen durch und durch gekannt, wenn er sagt, daß die Sünde, so uns immer anklebt, uns träge macht. Die Erbsünde tritt in die Erscheinung durch die Trägheit der Menschen zum Guten. Da bedarf es keiner langen Erörterung über die Erbsünde; jeder braucht nur bei sich zu Hause anzuklopfen, und da findet er sie. Nimm aus deinem Leben irgendeinen Tag: Da ist sie in dieser Gestalt. Zuerst einmal dieTrägheit in dem äußeren Tun. Es wohnt schon injedem Menschen eine Art angeborener Gutmütigkeit, die es ihm als etwas Natür10 [Lasset uns ablegen die Sünde, die uns immer anklebt und träge macht, und lasset uns laufen durch Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist, und aufsehen aufJesum, den Anfänger und Vollender des Glaubens; welcher, da er wohl hätte mögen Freude haben, erduldete dasKreuz und achtete der Schande nicht und hat sich gesetzt zur Rechten auf den Stuhl Gottes.]

Lasset uns ablegen die Sünde

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liches erscheinen läßt, zu helfen und zu trösten, wieviel mehr noch für die Christen, zu denen der Herr sagt: «Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben, ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt, ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet, ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen» [Mt. 25,35 f.]. Und was hält uns davon ab, von dem, was wir so klar erkennen: Das ist das Rechte, dasWahre? Die Trägheit. Kein Bußprediger – und wenn er die Sünde mit den schwärzesten Farben malte – könnte uns so demütigen als wir selbst, wenn wir uns nur zehn Minuten wollen Red und Antwort stehen, warum wir dem und dem und dem nicht geholfen und nun immer und immer wieder sagen müssen: Es warTrägheit. Die Viertelstunde, der kleine Gang, die Anstrengung, die Störung, das gute Wort selbst waren uns zuviel – und wegen solcher Kleinigkeiten lassen wir dasGute, zu dem uns unser Herz treibt, ungetan. Man hat zwar uns modernen Menschen noch ein Ruhekissen gegeben in dem organisierten Armen- und Krankenwesen, wo man mit einer Gabe dem Herzen Genüge tut. Das muß ja auch sein, aber Gott braucht Menschen in der Welt, lebendige, leibhaftige Menschen; und keine Gesellschaft, und wenn sie über 100 000 Millionen verfügte, kann ersetzen, wasein Mensch, wasdu persönlich tust: dasselber Nachgehen. Und daß sich die Menschen Gott entziehen, das ist die Schuld, die unsere Zeit auf sich lädt. Trägheit nach außen, Trägheit nach innen. Es gibt wohl nicht viele Menschen, die in ihrem Leben nicht einmal höhere Luft geatmet haben, die nicht einmal in ihrer Jugend, in den Tagen ihrer Konfirmation, eine lebendige Sehnsucht nach geistigen Gütern in ihrem Herzen trugen. Dann aber kommt es wie ein Schlaf langsam über sie herab. Wie man nicht weiß, in welchem Augenblick man einschläft, so wissen auch diese nicht, wann das Licht des Strebens nach etwas Höherem in ihnen erloschen ist. Wie die Nacht über dieWinterdämmerung, so kommt langsam die Dunkelheit über sie. Sie haben noch ein gewisses Interesse an höheren Dingen, aber nicht mehr die Kraft dazu. Die Sünde tritt an ihnen hervor alsTrägheit. Und wenn man es ihnen sagte, daß gerade diese ihre Ruhe und Befriedigung in ihrem bürgerlich ehrbaren Leben Sünde ist, und zwar die Sünde in ihrer schleichenden, unheilbaren Gestalt, sie würden es nicht glauben. Sie würden es auch nicht glauben, daß sie mehr an der Sünde kranken als solche, auf die die Welt mit Fingern zeigend sagt: Das und das haben sie getan – und die doch weniger Sünder sind, weil sie mit sich selbst nicht zur Ruhe gekommen sind. Auch hier könnte man von einer Umwertung der Werte reden. Sünde, das ist die Ruhe und die Zufriedenheit, das Nichtkämpfenmüs-

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Predigten

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sen. Das Ablegen der Sünde aber, das ist das Kämpfenmüssen. Darum sagt unser Text in so tiefsinniger Weise: «Lasset uns ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht, und lasset uns laufen durch Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist.» Das ist die Erkenntnis der Sünde und des Sieges über die Sünde, dieJesus Christus in dieWelt gebracht hat durch seine Person, durch sein Leben. Habt ihr schon darüber nachgedacht, was das eigentlich heißt: die Sündlosigkeit Jesu? Man sagt gewöhnlich, daß der göttliche Geist in ihm so stark war, daß er den bösen Geist, der in der Menschennatur liegt, von Anfang an überwand, und so niemals Sünde getan hat. Nun nimm an, dieser sündlose Jesus hätte in seiner Vaterstadt ruhig für sich gelebt. Da hätte er Freude gehabt, dasGlück eines reinen heiligen Menschen, ein Glück, von dem wir uns keinen Begriff machen können. Und doch, der wahre Jesus, der war mehr als sündlos – und das ist viel wichtiger als alles Reden über seine Sündlosigkeit. Mehr als sündlos: Weil er, daer hätte Freude haben mögen, gekämpft hat. Den Kampf, den er in seinem Innern nicht zu kämpfen brauchte, den hat er hinausgetragen in die Welt – und dort die Sünde bekämpft. Und weil er gekämpft hat, darum ist er mehr als sündlos. Sündlosigkeit das ist grau; Kampf gegen die Sünde, dasist heißes, weißes, flutendes Licht. Halten wir denn nicht da ein Stück des Geheimnisses seiner Menschwerdung in Händen? Der heilige, reine Geist, der seine Persönlichkeit ausmacht, mußte durch das Erdenleben hindurch, er mußte kämpfen und erfahren, was Sünde sei. Der Geist, der durch Christus in dieWelt eingegangen, ist durch den Kampf mit der Sünde etwas anderes geworden, er ist über seine ursprüngliche Reinheit erhöht, und darum heißt es in den Bekenntnissen, daß der Geist Christi, der wie alles Geistige, von Ewigkeit her ist, über die Welt erst herrscht, nachdem er durch dasErdenleben hindurchgegangen ist, nach seiner Rückkehr zumVater. Christus herrscht in der Welt als Geist des Kampfes mit der Sünde. Darum ist er der «Anfänger undVollender unseres Glaubens», denn Anfang und Ende des Christenglaubens sind zusammen in dem Worte Kampf. Wo Kampf ist, da ist Christus. Der Apostel redet von dem «Kampf, der uns verordnet ist.» Und das ist wahr; denn wenn ich euch fragte, da würde mir jeder von euch sagen können: Das und das ist der Hauptkampf meines Lebens, weswegen ich nicht zur Ruhe komme. Die einen blicken zurück auf eine tiefe Verschuldung, die mitten in ihr Leben hereingekommen ist, eine schwere Verfehlung, ein schweres Unrecht, etwas, das nicht wiedergutzumachen ist. Das peinigt sie, auch wenn es vor derWelt verborgen ist. Wohl ihnen, wenn sie kämpfen und nach Frieden ringen, denn Gott hat es manchen Menschen gesetzt, daß sie durch schwere Verfehlung hindurch müssen und ihre Zufriedenheit verlieren, daß sie als die Kämpfenden ihn finden können.

Lasset uns ablegen die Sünde

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Andere werden mir sagen: Mein Hauptkampf ist der Kampf mit den bösen Gedanken, die mich Tag und Nacht verfolgen: Gedanken des kalten Ehrgeizes, Gedanken eines unreinen Herzens, Gedanken des Hasses und der Rache – Gedanken so niedrig und so häßlich, daß, wenn die Menschen, die um mich sind, in mein Inneres sehen könnten, mich verabscheuen würden. Sei getrost, auch dieser Kampf ist dir von Gott verordnet, daß die Trägheit dich nicht berücke und du nicht einschläfst in der Sünde. Bei andern ist es das Murren wider Gott. Sie lebten zufrieden und glaubten, zu glauben und fromm zu sein. Da kam Unglück über sie, unverdientes Leid, und nun steigt es aus ihrem Herzen empor, Worte des Haders, Worte der Lästerung wider Gott, und es will ihnen nicht gelingen, dieses Murren niederzukämpfen. Und das ist ihr Kampf. Bei andern ist es wieder das einfache, alltägliche Hauskreuz. Wie manche Frau würde mir sagen: Das ist eigentlich mein einziger Kampf, daß ich geduldig und freundlich bleibe, so vieles übersehen und verzeihen kann im kleinen undim großen – aber der Kampf ist schwer. Wieder andere, sie sind zahlreicher, als man es annimmt, deren Kampf besteht darin, daß sie in ihrem Leben keine Befriedigung finden, sondern immer wieder in sich die Stimme hören, du bist ein unnützer Baum. Aus ihrem Heim, ausihrer Familie heraus müssen sie immer wieder blicken auf die Menschheit und ihre Leiden, ob sie auch die Augen schließen möchten, und die Stimme ihres Herzens sagt ihnen: Da bist du nötig, und ehe du dawirkst, wirst du keine Ruhe finden. Ich kann sie nicht alle aufzählen, die Kämpfe, die Gott den Menschen verordnet hat, daß sie wach bleiben und nicht von der Trägheit der Sünde übermannt in Todesschlaf verfallen. Ich kann sie nicht aufzählen, die Kämpfe, dieJesus Christus, allgegenwärtig in der Welt als Geist des Kampfes, in den Menschen entfacht. Nur eines frage ich euch: Kämpft

ihr?

Kämpft ihr? Dann seid getrost. Selig sind die Kämpfenden. Wiejeder Tag leuchtend kraftvoll neu geboren wird aus Kampf zwischen Licht und Finsternis, so geht auch unser inwendiger Mensch, solange wir in dem irdischen Lichte wandeln, immer neu wieder hervor aus dem Kampf zwischen Sünde und Streben, bis wir, von dieser Welt befreit, eingehen zum ewigen Licht.

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Nachmittagspredigt Sonntag, 1. März 1903, St. Nicolai Passion

I Kor. 8,2 f.: Gott lieben|11¡ Das ist ein herrlicher Spruch: Man kann ihn drehen und wenden, er glitzert von allen Seiten wie ein schön geschliffener Diamant. Ich will euch erzählen, wie St. Paulus dazu kam, den Korinthern diesen Spruch zu schreiben. Obwohl die Korinther Christen geworden waren, wurden sie doch noch von ihren heidnischen Verwandten zu den Gastmählern eingeladen. Diese Gastmähler aber waren gewöhnlich große Opfermahlzeiten, d. h. man aß das Fleisch eines Tieres, das der Gastgeber den Göttern zum Opfer dargebracht hatte und das von den Heidenpriestern den Göttern geweiht worden war. Nun sagten manche Christen, es sei Sünde, von diesem Fleisch zu essen, weil es den Götzen geweiht sei. Andere aber erwiderten: Es gibt ja nur einen Gott, keine Götzen, und also, wer das weiß, der kann mit ruhigem Gewissen von diesem Fleisch essen. Nun wurde der Apostel Paulus, der damals fern war, zum Schiedsrichter angerufen. Seine Antwort, die steht im 8. Kapitel des 1. Korintherbriefes. Er sagt: Gewiß, der eine weiß, daß es keine Götter gibt, und deswegen ißt er mit ruhigem Gewissen von diesem Fleisch. Der andere aber, dem sagt sein Gewissen, es sei Sünde, und der empfängt ein Ärgernis, wenn er einen christlichen Bruder bei so einem heidnischen Gastmahl sitzen sieht. Darum meint Paulus, das Rechte wäre, wenn die Christen aus Liebe zu den andern, die das als Sünde empfinden, nicht solches Fleisch essen. Höher als alle Erkenntnis sei doch die Liebe. Ist das nicht eine schöne Geschichte, wo wir so mitten in das Leben der ersten Christengemeinden hineinblicken, eine Geschichte, die sich heute, in so vielen Heidengemeinden täglich wiederholt, denn die Missionare berichten immerfort, wie gerade die Einladungen zu heidnischen Gelagen eine stete Versuchung für die Christen bilden, die in ihrem Glauben noch nicht gefestigt sind. Dann aber, ist es nicht eine schöne Geschichte besonders darum, weil wir da dem Apostel Paulus ins Herz sehen? Jedes Wort empfängt seine Bedeutung erst durch den Mund, der es ausspricht. Nun, wenn es je einen großen Denker gegeben hat, einen, der den Brunnen des Wissens ausgeschöpft hat und in die tiefsten Tiefen der Dinge sah, so war es sicher derApostel Paulus. Und nun sagt er gerade: DasWissen an sich ist nichts, sondern das wahre Wissen ist allein die Liebe – und zwar die 11 [So aber sich jemand dünken läßt, er wisse etwas, der weiß noch nichts, wie er wissen soll. So aberjemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt.]

Gott lieben

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Liebe als Nachsicht gegen andere, die Liebe, welche nicht auf ihrem Recht besteht, die Liebe, welche vor allem kein Ärgernis geben will. Unter uns gibt es keine Götzenopfermahlzeiten mehr, aber jenen Spruch des Paulus kann man doch unserer Zeit nicht genug wiederholen.Wiederholen kann man ihn einmal nicht genug allen verschiedenen Glaubensrichtungen gegenüber. Da sind die einen strenggläubig und wollen nur den Glauben gelten lassen, der sich wie der ihrige in den alten Formen bewegt – und für sich haben sie ja recht, aber wieviel Ärgernis geben sie den andern, weil sie nur ihr Wissen haben und nicht die Nachsicht und Duldung gegen die, welche anders denken. Andere, deren Glaube ist freier gerichtet. Sie wissen, daß die Form veraltet, und dieses Wissen, das ist ihnen ein Gewinn, aber wie oft geben sie damit auch andern, die sich zu dieser Auffassung nicht aufschwingen können, ein Ärgernis, wiejene freier Gerichteten in Korinth den andern ein Ärgernis gaben. Wie oft könnte da in unsern Tagen der Apostel Paulus dazwischen treten zwischen die Kämpfenden und ihnen sagen: «Wer sich dünken läßt, er wisse etwas, der weiß noch nichts, wie er wissen soll. So aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt.» Ist das nicht aber auch ein Alltagswort für uns? Wir suchen denWeg zu Gott und doch, wie oft haben wir den Eindruck, als ob Gott ferne von uns rückte. Ist es nicht, als ob wir ein Tal hinaufwanderten, dassich in unzähligen Windungen endlos hinzieht, und derWeg ist verwachsen, und Hindernisse sperren ihn? Sind da nicht so Zeiten im Leben, wo wir danach schmachten, daß Gott unser Herz rühre, daß er sich uns zu erkennen gebe, daß unser Herz warm und sonnig werde? Das ist ja, was Paulus meint, wenn er sagt, von ihm «erkannt werden», d. h. fühlen, daß er uns nahe ist. Wann aber kommen denn diese Augenblicke, wo Gott sich den Menschen so zu erkennen gibt? Denkt in eurem Leben zurück: Sind es nicht die Augenblicke, wo wir uns für andere selbst überwinden, wo wir die Liebe emporschießen lassen über das Recht und über das Wissen und nun nachsichtig sind, wenn wir wissen, wir sind im Recht, schweigend verzeihen, wenn wir berechtigt wären, zu grollen, freundlich sind, wenn wir Grund hätten unfreundlich zu sein. Ich brauch es euchja nicht näher auszuführen, ich meine, jene Augenblicke, wo unsere ganze Religion in einem freundlichen Lächeln, in einem herzlichen Gruß, in einem warmen Händedruck oder in einem ›Reden wir nicht davon, das hatja nichts zu sagen‹ oder in einem ›Das hab ich nicht übelgenommen‹ oder ›Es war nur ein Mißverständnis‹ liegt. Äußerlich betrachtet ist dasalles so klein, und doch, wasist es für unser Seelenleben so groß! Dann sind wir von Gott erkannt. Sind wir nicht alle Gottes Kinder von Anfang an, aber Kinder, die fern vomVater sind und die es nun nötig haben, daß er sich ihnen bezeuge und ihnen

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aus der Ferne einen Gruß zukommen lasse, daß er sie anerkennt und sich an ihnen freut? Hat doch unser Herr Jesus als er in der Bergpredigt die Vollkommenheit Gottes beschrieb, wo es heißt «Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist» [Mt. 5,48], darauf hingewiesen, daß die Vollkommenheit Gottes sich gerade kundgibt darin, daß er seine Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte. Und in dem Augenblick, wo wir uns selbst überwinden, um seine Kinder zu sein, da geschieht in kleinen Dingen etwas Großes: Gottes Vollkommenheit geht auf über derWelt in einem schwachen Menschen. Darum ist Freude im Himmel und Sonnenschein auf Erden, und wem dieser Sonnenschein ins Herz scheint, der hat Seligkeit, denn er weiß, wasdasheißt: «der ist von Gott erkannt».

Morgenpredigt Sonntag, 8. März 1903, St. Nicolai

II Kor. 8,7–9: DieWohltätigkeit|12¡ Vor einigen Wochen saßen in einer Stadt des Oberelsasses einige Damen zusammen und sprachen über dies und das. Diese Pfarrer, sagte die eine, haben immer etwas zu betteln: Ist’s nicht für die Äußere, so ist’s für die Innere Mission oder für die Ferienkolonie oder für irgendein anderes Unternehmen. Der Gegenstand wurde lebhaft aufgegriffen, alle waren derselben Meinung, obwohl sie alle zu der Klasse der Geberinnen gehören, die kaum jemals eine Gabe verweigern werden. Haben sie aber bedacht, wie schwer einem Pfarrer diese Bittgänge werden, und wie viel Gutes oft unterbleibt, weil er nicht wagt, allzu oft lästig zu fallen? Das ist aber nicht nur von heute, sondern St. Paulus erging es schon so. Auch er sammelte, und zwar für eine Festgabe an die arme Gemeinde zuJerusalem; das Sammeln wurde ihm nicht leicht gemacht und ist ihm nicht leicht geworden. Im ersten und im zweiten Korintherbrief kommt er darauf zu sprechen und nimmt eine gar sanfte Stimme an, um ihnen zu zeigen, daß das ihre schöne Pflicht ist. Wenn man diese Abschnitte liest, hat man den Eindruck, daß sie nicht so von selbst ausder Feder geflossen sind. Er wagt ihnen kein Gebot zu geben, sondern er möchte nur ihre Liebe versuchen, ob sie rechter Art ist. Darüber wollen wir mit12 [Aber gleichwie ihr in allen Stücken reich seid, im Glauben und im Wort und in der Erkenntnis und in allerlei Fleiß und in eurer Liebe zu uns, also schaffet, daß ihr auch in dieser Wohltat reich seid. Nicht sage ich, daß ich etwas gebiete; sondern, dieweil andere so fleißig sind, versuche ich auch eure Liebe, ob sie rechter Art sei. Denn ihr wisset die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, daß, ob er wohl reich ist, ward er doch arm um euretwillen, auf daß ihr durch seine Armut reich würdet.]

Die Wohltätigkeit

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einander jetzt nachdenken und jeder sich selbst vor seinem Gewissen zur Rede stellen. Wenn wir über Wohltätigkeit sinnen, da kommt uns immer ein Gedanke zuerst, nämlich der Gedanke: Ja, wenn ich reich wäre. Dieser Gedanke ist uns ein lieber Besuch; wir richten ihm eine Gaststube in unserm Herzen ein, setzen uns mit ihm unter die Laube, legen die Hände in den Schoß, und er erzählt uns schöne Märchen. Da malt er uns unser Bild alsWohltäter erster Klasse. Wir sehen die Fundamente von Versorgungshäusern und Spitälern, die wir gründen, aus der Erde wachsen, wir stehen unter der Bahnhofshalle, und der lange Zug mit Kindern, die auf unsere Kosten in die Gebirgsluft geschickt werden, fährt eben hinaus. Wir ziehen zwar immer klüglich vorher ab, was wir zu einem guten, soliden Haushalt brauchen würden, aber mit dem ungezählten, reichen Rest sehen wir unsdannWohltätigkeit im großen Stile übend. Aber dieses ›Ja, wenn ich reich wäre‹, das gehört nicht zur Liebe rechter Art; es ist ein Freund, der einen gut unterhält, aber von dem man nichts hat, wenn er wieder fort ist; ein Freund, der uns zum Handeln untauglich macht, weil er uns vor uns selbst entschuldigt. Die Liebe rechter Art, das ist dasWohltun der Besitzlosen. Das Wohltun der Besitzlosen: Es ist befremdlich, und doch, es ist ja der tiefe Grundgedanke der Predigt unseres Herrn. Die Reichen läßt er, möchte ich sagen, links liegen und redet nur von der kleinsten Gabe: von der Speise, die man dem hungrigen Gast vorsetzt, von dem Becher Wassers, mit dem man den Dürstenden tränkt, und von dem getragenen Kleid, das man dem Armen schenkt [Mt. 25,31–46]. Danach wird er sie richten. Es ist, als hätte er vorausgesehen, daß sich die Menschen einst vor sich selbst entschuldigen würden und sagen: Ich habe nichts zu geben; darum sagt er es ihnen allen zum voraus bis herunter zum Ärmsten: Du hast etwas, und mit diesem wenigen, was du hast, kannst du andere reich machen. Um den Menschen dies zu zeigen, ist er arm in dieWelt gekommen. Nicht als ein König wurde er geboren, sondern als ein armer Mensch. Seine Geschichte könnte man so erzählen: Es war ein Mensch, der hatte weiter nichts als seine Person. Zur selben Zeit lebten welche, die hatten Millionen und Milliarden – und dieWelt ist durch sie nicht reich geworden. Zur selben Zeit lebten welche, die waren gelehrt und besaßen alles Wissen – und dieWelt ist durch sie nicht reich geworden. Er aber war weder reich noch gelehrt: Er hatte nichts weiter als seine Person, und da er nichts weiter hatte, gab er der Welt seine Person. Er gehörte nicht mehr sich selbst an, sondern der Welt – bis zum letzten Atemzug am Kreuz. Und durch diesen Menschen, der nichts weiter zu geben hatte als seine Person, ist die Welt reich geworden, überreich an einem Reichtum, der ins Unendliche wächst. Reich an geistigen Gütern – denn wer hat uns Freude, Friede, Trost und göttliches Streben gege-

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ben? Er. Reich an Wohltaten: Denn wer hat die Spitäler gebaut, wer hat die Ferienkolonien gegründet, wer gibt die Millionen für die Anstalten und für die Armen? Er. Das muß die rechte Art der Liebestätigkeit gewesen sein, weil sie die Welt reich gemacht hat. Und das Geheimnis derselben, worin liegt es denn? Es heißt: Gib zuerst deine Person, und ob ein wenig mehr oder ein bißchen weniger irdisches Gut zum Austeilen an deiner Person klebt, dasist nebensächlich und gleichgültig, denn in deiner Person, da liegt der Reichtum. In jeder menschlichen Persönlichkeit, in diesem Unerfaßbaren und Unergründbaren eines Wesens, das lebt, das denkt, das fühlt, in welchem die Welt mit ihren Freuden und Leiden sich widerspiegelt, und welches teilhat an den Leiden und den Freuden der andern, in jeder menschlichen Persönlichkeit, sage ich, liegt ein Reichtum verborgen, der größer ist als alle ungehobenen Schätze derWelt. Wieviel Milliarden Edelmetall im Schoß der Erde schlummern, das vermag man vielleicht einmal auszurechnen, aber was eine einzelne menschliche Persönlichkeit der Welt an Reichtum geben kann, das kann nicht ermessen werden.

Denn ist denn nur Gabe und Unterstützung Reichtum, der Reichtum, den die Welt braucht? O nein, wenn das die Welt reich machen könnte, dann wäre sie nicht mehr so arm durch die Tausende, die jährlich auf Wohltätigkeitslisten gezeichnet werden – und wenn hunderttausendmal mehr gegeben würde, dieWelt wäre doch nicht reich, sondern arm. Steigt einmal die verwinkelten Treppen hinauf in die düstern Wohnungen, wo keine Sonne hineinscheint: Warum sind sie arm, diese Leute? Weil nicht genug gegeben wird? Nein, sondern weil sie nur Gaben, keine Menschen geschenkt bekommen. Sie müssen arm bleiben, weil der ganze Reichtum, der in den Persönlichkeiten liegt, vermauert ist und nicht zur Verausgabung kommt. Persönlichkeiten, lebendige Menschen, daran ist unsere Welt arm – und das sagt man ihr nicht genug.

Der Hunger nach Brot bei unsern Armen ist nichts im Vergleich zu dem Hunger nach Menschen; nach Menschen, die zu ihnen kommen, die mit ihnen reden, die sich erkundigen, ob sieArbeit haben, die sie trösten – wie soll man das sagen: die ihnen nicht Gabe, sondern Liebe geben, die nicht ihre Wohltäter, sondern ihre Freunde sind, zu denen sie Vertrauen haben können. Das ist die wirkliche, die schreiende Armut unserer Zeit, die Armut an Menschen, die arm werden, um andere reich zu machen, d. h., die sagen: Ich will meine Person geben. Denn nicht die Gabe kann reich machen, sondern Anteilnahme, Trost und Zuspruch. Zum Reichtum gehört Geistiges und Irdisches – und Geistiges mehr als Irdisches, hat doch unser Herr dieWelt geistig reich gemacht. Meint ihr nicht, daß das die größte Armut der Armen ist, daß sie nur Gaben gehn

Die Wohltätigkeit

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in Empfang nehmen und fast alle Wohltat vermittelt bekommen durch die Hand dazu bestallter Personen: Almosenpfleger undPfarrer? Unsere persönliche Bequemlichkeit und Untätigkeit: Das ist die große Armut unserer Zeit, eine Armut, die nicht in den statistischen Berichten steht und doch der Grund aller Armut ist. Es kommt mir vor, als wäre unsere Zeit zu stolz auf unsere geregelte Armenpflege und auf unsere Vereine. Wir ruhen auf ihnen ausund sind froh, daß sie uns die persönliche Bemühung abnehmen. Wir reden uns ein: Ja, der einzelne kann heutzutage nichts mehr tun, er wird hintergangen und gibt dann an Unwürdige. Das magja manchmal zutreffen, aber eine Maschine kann

keinen Menschen ersetzen. Meint ihr nicht, daßjeder von uns, wenn er ehrlich ist mit sich selbst, sich eingestehen muß, daß das nur Entschuldigungen sind, nach denen wir suchen, um uns vor uns selbst zu entschuldigen, daß wir nicht selbst handeln. Wir wollen uns einreden, daß es nicht anders sein könne, daß die Wohltätigkeit und Liebe, wie wir sie üben, rechter Art ist. Und doch, sie ist es nicht: Es fehlt uns allen die persönliche Hingabe, das Selbstaufsuchen, das Selbstnachgehen. Wir leben alle zu sehr für uns, für unsere Behaglichkeit und Bequemlichkeit, wir halten uns für gut, wenn wir wohltun mit unseren entbehrlichen Gütern, aber das Wohltun mit unserer Person, dashaben wir nicht.|13¡ Es ist ein gar ernstes Gericht, daswirjeder mit uns selbst halten müssen, wenn wir uns einmal alle gewohnten Ausreden und Entschuldigungen abschneiden und uns selbst offen ins Herz blicken. Wohl uns, wenn wir solche Augenblicke haben, wo uns unser eigenes Wesen so nichtig, so unzulänglich vorkommt, wo uns die Zufriedenheit mit uns selbst genommen wird. Christus hat einmal gesagt: «Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert» [Mt. 10,34]. Ja gewiß, er ist in dieWelt gekommen, daß er den Menschen ihren Selbstfrieden nehme und ihnen das Schwert der Selbstunzufriedenheit ins Herz stoße. Darum ist er geworden arm und hat seine Person gegeben, daß wir nicht zur Ruhe kommen und es immer vor Augen haben: Er will die Person, und so lang er die Person nicht in seinem Dienste hat, ist’s nicht gut. Ich glaube, da nur ausgesprochen zu haben, wasihr schon selbst jeder bei euch selbst gedacht habt. Aber wenn man etwas miteinander denkt, in einer Stunde der gemeinsamen Andacht, dann, mein ich, hat es mehr Kraft und gräbt sich tiefer ins Herz ein, besonders in der Passionszeit, in 13 [R] Die Notiz über Robertson: In allen Zeitungen [stand die] Notiz, daß ein armer alter Mann mit dem Hausrat auf [die] Straße gesetzt wurde etc. [Es] sei das Bild eines traurigen Elends gewesen. Mit Ausrufungszeichen [wurde der Bericht] abgebrochen. Daß [er] hier abbrach, das[ist das] Traurige; à lire dans le silence. Keiner [hat] ihn heißen mitgehen – und dasTraurigste: Wenn wir dort mitgestanden wären: Hätten wir eingegriffen oder auch nur gesagt: Da muß man die Polizei benachrichtigen?

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der wir stehen, wo wir auf unsern Herrn blicken, der hinaufzieht zum

Tode.

Wie ein jeder von uns nun anfangen wird, seine Person zu geben, das kann und braucht nicht beschrieben zu werden. Wem es mit dem Wollen ernst ist, der braucht nur die Augen zu öffnen, und er wird den Weg finden, wo gerade er mit seiner Person die Welt reich kann machen, der Kreis, in den er hineingestellt ist, mag noch so klein sein. Jesus wirkte nur in Galiläa unter seinen Volksgenossen. Galiläa ist ein kleines Ländchen, aber die ganze Welt ist durch jenes Wirken im kleinen Land

reich geworden. Und nicht nur die andern werden reich, sondern ihr selbst. Wir sind alle reich durch ihn, unendlich reich, aber wir wissen es nicht, denn wir geben nicht genug aus.Weil wir nicht genug mit dem, was wir erarbeiten, dienen und nicht genug sehen, was wir damit Freude und Reichtum zu den Bedürftigen bringen, weil wir nicht genug Getröstete und Beglückte sehen, deshalb wissen wir nicht, wie reich wir sind. Und wie im Irdischen, so auch im Geistigen: Wir wissen nicht, wie reich wir sind an geistigen Gütern, weil wir nicht andern genug mit geistigen Gütern dienen; wir wissen nicht, wie reich wir sind an Trost, weil wir nicht Trost zu andern tragen. In einem Wort: Wir wissen nicht, wie reich wir sind am Evangelium, weil wir nicht genug Evangelium ausgeben. Es war wenige Wochen vor seinem Tode, da sie hinter ihm her nach Jerusalem zogen, da fragten ihn die Jünger, was ihnen darum würde, daß sie «arm» geworden um seinetwillen, und er mußte sie darauf hinweisen, daß sie alles hundertfältig wiederbekämen [Mt. 19,27–29]. Wir brauchen diese Frage nicht zu stellen, denn wir wissen es, daß wir tausendfältig wiederbekommen am inneren Glück und am inneren Reichtum, was wir an geistigen und irdischen Gütern verausgaben. Möge uns Gott helfen, daß wir ernst mit uns selbst werden und ausgehen, solchen Reichtum zu suchen.

Nachmittagspredigt Sonntag, 15. März 1903, St. Nicolai Passion

Röm. 8,31f.|14¡: [Das Leiden Jesu]

In einem leidenden, verfolgten und gekreuzigten Menschen hat Gott der Welt etwas, alles geschenkt. Jetzt stehen wir in der Zeit, wo man 14 [Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? welcher auch seines eigenen Sohnes nicht hat verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben; wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?

Das Leiden Jesu

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jeden Sonntag diese geheimnisvolle Bedeutung des Leidens unseres Herrn von einer andern Seite betrachten möchte und dabei immer wieder sieht, dass es unfaßbar ist. Unfaßbar, weil es etwas Wahres, etwas Lebendiges ist. Etwas Totes, Lebloses, das kann man ausrechnen, aber etwas Wahres, Lebendiges das ist unfaßbar, immer wieder ein neues Wunder. Daß die tote Natur zum Leben erwacht: Wir haben es schon soundso vielmal gesehen – und doch, wenn wieder die Knospen schwellen, so ist’s, als hätten wir es noch nie so gesehen. Und in dieselbe Zeit fällt immer wieder die Betrachtung von dem toten Heiland, von dem neues Leben über die Welt ausging, und auch da scheint es uns jedesmal, als hätten wir es so noch nicht verstanden. Was hat er uns aber geschenkt? Das kann man nicht so in einem Worte sagen, und ich glaube, jeder empfindet dieses Geschenk auf seine Weise. Ist es nicht merkwürdig, daß unser Herr seine Jünger niemals ausführlich belehrt hat über die Bedeutung seines Todes, sondern er wußte, daß sie nach seinem Tode es in ihren Herzen verspüren würden, was ihnen dieser Tod gebracht, und dann wüßten sie esja. So muß auch in unserer Zeit jeder Mensch es in seinem Herzen verspüren, daß Gott ihm in jenem sterbenden Heiland etwas geschenkt hat, daß jener gekreuzigte Heiland etwas für ihn ist, sonst könnte man ihm die schönste Passionspredigt halten, und er verstände es doch nicht. Geschenkt hat uns Gott in Christus dieVergebung der Sünden. Man hat vor Zeiten – und schon der Apostel Paulus hat damit den Anfang gemacht – viel über diese Erbsünde und Sündenvergebung nachgedacht und nun erklären wollen, warum Gott, den Menschen zu vergeben, Jesus Christus am Kreuz sterben ließ; es gab Kirchenlehrer, die haben das beweisen wollen, wie man beweist, daß 2 mal 2 vier ist – aber daist nichts zu begreifen. «Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken», heißt es in der Schrift [Jes. 55,8]. «Wer hat des Herrn Sinn erkannt, und wer ist sein Ratgeber gewesen?» [Röm. 11,34].Da ist nichts fürs Denken, denn wo fühlen wir es wahrhaftig: Es gibt eine Vergebung der Sünden durch dasBlut unseres Heilandes? In den Stunden, wo wir nicht denken können und nicht denken wollen, sondern wo wir niedergeschlagen sind und uns selbst verachten, in den Stunden, wo wir an uns verzweifeln, da geht uns das Licht auf, das von dem Kreuz auf Golgatha über die dunkle Welt erstrahlt. «DasVolk, das im Dunkeln wandelt, sieht ein helles Licht» [Jes. 9,1]. Wer noch nie dahin gekommen, daß er sich sagen muß: Ich brauche Vergebung, daß ich weiterleben kann, der versteht nicht, daß uns Gott in unserm Herrn Sündenvergebung geschenkt hat. Ich glaube, daß ich es aus vollem Herzen predigen kann: Es gibt eine Vergebung der Sünden, ich glaube, daß ich in Zuversicht zu dem verworfensten Verbrecher treten könnte, wenn er Trost suchte, und ihm sagen: Im Namen Jesu Christi verkünde ich dir als ein Diener seines Evangeliums, deine Sün-

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den sind dir vergeben, aber erklären könnte ich es nicht. Aber von Herzen singe ich: «O Lamm Gottes unschuldig».|15¡ Aber unser Gott hat uns in Christus nicht nur Sündenvergebung geschenkt, sondern die Sündenvergebung ist nur ein Teil von jenem «alles», da der Apostel sagt, wie sollte er uns in ihm nicht «alles» schenken? Jenes alles, dasist in einem Wort: die Freiheit von der «Welt». Wie Christus am Kreuz über der Welt erhöht ist, so zieht er uns in seinem Tod nach sich, daß auch wir über derWelt stehen. Wenn dieWelt das größte Recht auf uns zu haben glaubt, dann kommt er und sagt nein. So löst er die Bande der Sünde, in welchen uns die Welt gefangen hält. Dieser Bande sind es aber noch mehr – und er bricht sie alle. Ich will euch nur zwei nennen: die Bande der Mutlosigkeit und die Bande desLeidens. Die Bande der Mutlosigkeit. Ihr wißt, was man Pessimismus nennt: jene Auffassung der Dinge, die überall nur das Traurige entdeckt, die sagt, die Welt wird durch Undank, Mißverstand, Neid, Bosheit und Grausamkeit regiert, daß alles Gute tot gemacht wird, und die dann fragt: Wo ist denn der Gott, der alles leitet und dasGute zum Sieg führt? Nun nehmt die Leidenszeit unseres Herrn: Ist da nicht auf wenige Wochen und auf eine Person zusammengehäuft, was die Welt an Undank, Mißverstand, Neid, Bosheit und Grausamkeit hervorbringen kann? Es ist, als hätte Gott unsern Herrn Jesus der Welt preisgegeben und wiese nun mit dem Finger auf das Schauspiel und sagte: Seht, das kann die Welt!! Aber unser Herr Jesus und die Sache, die er führt, ist trotz alledem nicht untergegangen, sondern in allem diesem Widerstand der Welt brach der Sieg des Guten leuchtend hervor, undjener gekreuzigte Jesus Christus hat uns geschenkt freudigen Mut, daß wir nie verzweifeln, daß über derWelt der Herr steht und alles herrlich hinausführt. Gelöst hat unser Heiland die Bande des Leidens. Gott hat seiner nicht verschont. Er, der Reinste, der Edelste von allen mußte dulden wie die andern und mehr leiden wie sie. Alles Geistige, daszur Herrlichkeit und Verklärung eingeht, muß hindurch durch das Leiden. Das ist der unerforschliche Wille unseres Vaters. Darum ist dasLeben hienieden mit Leiden besät, und darum ringt sich im Leiden der unsterbliche Geist des Menschen von dem vergänglichen Leibe los. Unser Herr hat uns leiden gelehrt. Wir leiden mit ihm, daß wir mit ihm zu seiner Herrlichkeit gelangen, wie dies so schön beschrieben ist im 1. Brief St. Petri. Nehmt doch an einem Passionssonntagabend euer Testament und lest diesen schönen Brief durch – man versteht ihn erst recht in der Passionszeit. Das hat Gott uns geschenkt in Christus Jesus: Friede von der Sünde, Lebensmut und Leidensfreudigkeit. Und das sind keine ausgeklügelten Predigtworte, denn ich darf es von euch, die ihr das Leben kennt, und 15 [O Lamm Gottes unschuldig, Str. 1]

Durch Christus frei von der Welt

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von mir sagen: Ja, das ist wahr, das haben wir in unserm Leben schon verspürt. Als der Landsknecht unserm Herrn die Lanze in die Seite stieß, da floß Wasser und Blut heraus. Sie haben es gesehen mit ihren Augen. Aber dass von jenem Leichnam noch etwas ausging und die Welt tränkte, der triumphierende Geist unseres Herrn, dashaben sie nicht gesehen, denn dassieht man nur mit dem geistigen Auge. Bist du schon einmal an dem Lager eines christlichen Kranken gestanden: Wer hat ihm denn diesen Geist der Stille und der freudigen Sanftmut gegeben? Unser sterbender Heiland.|16¡ Und wenn du da herausgehst, hast du von jenem leidenden Menschen nicht etwas empfangen, etwas, das dich reich macht, daß du durch jenen leidenden Menschen selber getröstet bist? Ich selbst muß sagen, daß ich von dem Krankenlager frommer Menschen immer wieder Seligkeit mithinausnehme: eine Predigt vom Kreuz Christi ohne Worte. So scheint es mir am klarsten: Was unser Herr Jesus leidend der Menschheit geschenkt hat, das wird ihr immer wieder lebendig dargeboten in denen, die in seiner Nachfolge geduldig und freudig leiden. Die Weinenden, das sind die großen Prediger des Kreuzes Christi. Mögen auch wir in Trübsal und Not der Welt etwas schenken!

Morgenpredigt Sonntag, 22. März 1903, St. Nicolai Passion

Jes. 52,13–53,9: [Durch Christus frei von derWelt]|17¡ Dieses Kapitel im Propheten Jesaja gehört zu den Stellen, wo sich die Bibel eines Christen von selbst öffnet; denn hier ist zum ersten Mal der Gedanke von einem leidenden Erlöser ausgesprochen. Diese Stelle bleibt 16 [R] Nicht Exempel, sondern vom Geist in derWelt zurück geblieben. 17 [Siehe, mein Knecht wird weislich tun und wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Gleichwie sich viele an dir ärgern werden, weil seine Gestalt häßlicher ist denn anderer Leute undsein Ansehen denn der Menschenkinder, also wird er viele Heiden besprengen, daß auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn welchen nichts davon verkündigt ist, die werden’s mit Lust sehen; und die nichts davon gehört haben, die werden’s merken. Aber wer glaubt unsrer Predigt, und wem wird der Arm des Herrn offenbart? Denn er schoß auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dünnem Erdreich. Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war derAllerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und

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ein Rätsel in der Schrift. Wie ist ein Prophet dazu gekommen, so klar zusehen, daß dasLeiden eines Menschen dieWelt erlösen würde? Doppelt heilig aber ist uns diese Stelle, weil Jesus in ihr den Willen Gottes vorgezeichnet fand, dem er folgen mußte. Auf diesen Buchstaben ruhte sein Auge – und er sagte sich: Das bist du, das geht auf dich. Zu diesem Prophetenkapitel kehrten die ersten Christen immer wieder zurück, um zu begreifen, daß der Herr leiden mußte. Sie haben sich davon genährt; zum Beispiel der erste Brief Petri ist ganz durchzogen mit

Versen dieses Kapitels.

Auch für uns ist es das rechte Passionskapitel, denn es liegt etwas so Ursprüngliches, so tief menschlich Einfaches darin. Da sind noch keine Lehrsätze über den Kreuzestod Christi, wie sie Paulus und die späteren Kirchenlehrer aufgestellt haben. Da ist noch nichts Ausgedachtes und Begriffenes – gewiß, es liegt ja viel Tiefes in diesen Lehrsätzen – , sondern wie eine Landschaft in der Morgendämmerung so breitet sich der Leidensgedanke in diesem Prophetenkapitel vor uns aus. Sind nicht zuletzt alle Lehrsätze über das Leiden Christi doch nur Gleichnisse? Wenn wir sagen: Christus ist als Sühnopfer für unsere Sünden gestorben – ist das nicht ein Gleichnis? Aber die ewige Wahrheit, die hinter diesem Gleichnis steht, das ist das Menschliche, das tief Menschliche. – Von dem tief Menschlichen ist dieses Prophetenwort und Prophetenahnen ausgegangen. – Und unsere Zeit sucht gerade wieder zu dem tief Menschlichen zurückzukehren. Gerade in der Passionszeit tritt das Menschliche an der christlichen Religion hervor. So laßt mich denn einmal ohne Formeln zu euch von dem Leiden Christi reden und gleichsam ausder Ebene des Menschlichen aufsteigen zur Höhe, da die göttlichen Geheimnisse vor uns ausgebreitet liegen. Jesus war nicht der einzige, der für eine gute Sache gestorben ist. Vor ihm und nach ihm hat es Märtyrer gegeben, und es wird sie geben in allen Zeiten. Jene sind gerade so tapfer in denTod als er. Hier taucht immer das Bild des Sokrates, der den Giftbecher trank, vor uns auf. Was besteht nun für ein Unterschied zwischen der Hingabe Jesu und der Hingabe eines Sokrates? Eine solche oder eine ähnliche Frage ist euch sicher schon allen gekommen. um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in der Irre wie Schafe, einjeglicher sah auf seinen Weg; aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. Da er gestraft und gemartert ward tat er seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, dasverstummt vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut. Er ist aber ausAngst und Gericht genommen; wer will seines Lebenslänge ausreden? Denn er ist ausdem Lande der Lebendigen weggerissen, da er um die Missetat meines Volkes geplagt war. Und man gab ihm bei Gottlosen sein Grab und bei Reichen, da er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat noch Betrug in seinem Munde gewesen ist.]

Durch Christus frei von der Welt

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Äußerlich betrachtet ist kein Unterschied, sondern nur in dem Bewußtsein, in den Gedanken, mit denen sie in denTod gingen. Sokrates tat es, um sich selbst treu zu bleiben und um seinen Jüngern ein Exempel der Standhaftigkeit zu geben, Jesus aber mit dem Gedanken, daß er durch seinen Tod die Menschheit erlöse und eine neue Welt schaffe. Als Sokrates starb, blickte er auf den Kreis seiner Schüler in dem Gemach. Jesus aber schaute vom Kreuz hinaus über dieWelt. Die Bedeutung, die er selbst seinem Tod gibt, nicht die Art seines Leidens an sich hebt ihn heraus ausder Reihe aller andern, die für ihre Sache gestorben sind. Daß er selbst seinen Tod loslöst von den äußeren Umständen, durch die er herbeigeführt ist, daß ihm selbst sein Tod nicht einVerbrechen der Hohepriesterpartei, sondern eine von Ewigkeit her vorgesehene Tat Gottes ist – darin liegt das Übernatürliche, das Einzigartige in dem Sterben Christi. Christus am Kreuz war sich bewußt, mehr zu sein als ein leidender Gerechter, mehr zu sein als ein hehres Exempel: Er wußte, daß er eine welterneuernde Kraft war. Er weiß, daß dasMenschliche an seinem Leiden nur die äußere Hülle ist für dasschöpferische Wirken der göttlichen Kraft in derWelt. Mit einem Wort: Die einzigartige Bedeutung des Leidens Jesu liegt darin, was er sein will: Er will sein mehr als ein Exempel, er will sein die Kraft, welche eine neue sittliche Welt er-

hofft!!

Jesus war also mehr als ein Exempel: Von seinem Leiden ist eine Kraft ausgegangen und hat sich auf dieWelt und die Menschen übertragen. In diesem Wort übertragen, da liegt das große Geheimnis, wo unsere Erkenntnis nur in verhülltem Gleichnis etwas erfaßt. Wie kann sich etwas von einer Person auf die andere übertragen? Hast du schon einmal beobachtet, wie eine rollende Kugel auf eine andere stößt, die ruhig daliegt? Was geschieht? Die bisher ruhig liegende fängt an, sich zu bewegen, und die bisher bewegte bleibt ruhig liegen. Nun frag die Gelehrten: Wie kommt das? Dann werden sie dir sagen: Die eine Kugel hat ihre Bewegungskraft der andern mitgeteilt. Aber nun fragt weiter: Wieso ist die Kraft der einen auf die andere übergegangen? Dann werden sie verlegen lächeln und sagen: Das kann man nicht erklären, denn niemand weiß, wie die Mitteilung der Kräfte stattfindet. Und wir Menschen, die nicht einmal die Mitteilung der alltäglichen Kräfte der Natur erfassen können, wie wollen wir es begreifen, daß vom Kreuz Christi aus eine neue geistige Kraft der ruhenden Welt mitteilte undihr eine neue Bewegung verlieh? Wie mit Absicht hat es Jesus unterlassen, seine Jünger des näheren über die Bedeutung seines Todes zu belehren. Sie waren unvorbereitet, sie waren nicht die kundigen Fortsetzer seines Werks – die göttliche Kraft seines Todes hat alles allein gewirkt, und die menschliche Vermitt-

lung fiel ganz weg. Nicht mehr hat Jesus ihnen und der Welt über die Bedeutung seines Todes gesagt, als wasin dem Propheten Jesaja steht. In

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zwei Worte hat er es zusammengefaßt, als er sie zurechtwies, da sie sich um den ersten Platz im Reich Gottes stritten. Diese zwei Worte heißen: Dienen und Sühnen. «Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zur Sühne für viele.» «Daß er diene» – darin ist enthalten dasWort des Propheten: siehe, mein Knecht! «Daß er gebe sein Leben zur Sühne für viele» – darin ist enthalten: Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten. Nicht mehr hat er gesagt, weil er nicht wollte, daß die Menschen an einer Formel zehrten, und ausinnerstem Herzen heraus selbst nach einem Ausdruck suchten für das, was er ihnen geschenkt hat. Undje weiter die Zeit voranschreitet, desto sichtbarer wird die Umgestaltung der Welt, die durch ihn vorgegangen. Wir im zwanzigsten Jahrhundert, wir können viel mehr sagen und davon sehen als seine Jünger, denn das Kreuz erhebt sich über Erdteilen, von deren Bestehen sie noch keine Ahnung hatten, und inJahrhunderten von uns auswird man noch mehr von der Umgestaltung der Welt durch Christus reden können, als wir es vermögen. Aber bis an der Welt Ende faßt sich, was er wirkt, in dieWorte: Dienen und Sühnen. Dienen und Sühnen: Nun reden wir nicht mehr von der Welt, sondern von uns, denn nur wenn es in uns wahr ist, ist es Leben für uns – sonst ist es ein ferner Ton, dessen Klang wir hören, ohne seine Bedeutung zu verstehen. Sind wir hineingezogen in dasWirken des Gekreuzigten in der Welt? Lebt und webt in uns die Kraft, die er sterbend der Welt mitgeteilt hat? Wirkt das Dienen Christi in uns? Wir gingen alle schon in der Irre wie die Schafe. Ein jeglicher sah auf seinen Weg. Und dieses auf seinen Weg sehen, das ist das Irren, die Ursünde des Menschenherzens. Für sich sein, nur für sich sein! Wir spüren im Herzen, daß dieses Natürliche, mag es äußerlich noch so ehrbar sein, Sünde ist, spürst du in deinem Innern das Feuer, das Christus gekommen ist, in der Welt zu entzünden und den Menschen mit sich selbst uneins zu machen, hast du dieses wahre Unbefriedigtsein mit dir selbst – wie soll ich sagen: Steht es dir klar vor der Seele, daß dieWelt und die Menschen nicht für dich, sondern du für die Welt und die Menschen da bist. Diese Unruhe, die dich aus deinem natürlichen Leben herausreißt und mit dir selbst nicht zur Ruhe kommen läßt, die immer vorhält, was du für die andern sein solltest, das ist das Dienen des Gekreuzigten, das in dir arbeitet. Man darf dasWort ruhig sagen: Jesus hat uns verwirrt, er hat die natürlichen Maßstäbe, die wir ans Leben legen möchten, zerbrochen, undjeder ist nur so viel und nur so reich an Glaube und Seligkeit, als er für andere da ist. Auf zweierlei Art hält uns die Welt fest. Sie verheißt uns Glück und Zufriedenheit, die wir aber nicht mehr als Glück und Zufriedenheit erfassen, wenn Christi Geist uns berührt hat. Sie will uns festhalten mit

Durch Christus frei von der Welt

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der Sünde. Sie sagt uns: Ihr Menschen, die ihr durch eure Sünden und Vergehen mir angehört, was wollt ihr euren Flug höher nehmen? Sie sagt: Ich habe ein Recht auf euch. Wie viele Menschen, von denen wir uns wundern, daß sie ganz in der Welt aufgehen und ihre Ziele nicht höher richten, sind so, nur weil sie durch die Sünde gelähmt sind. Die Fesseln der Sünde verstricken sie mit der Welt, und nun ermüden sie und suchen ihr Glück nicht höher alsdieWelt. Ihr kennt sie auch, diese Augenblicke, wo die Welt an uns herantritt und uns sagt: Nun bist du mir verfallen, jene Augenblicke, wo wir alles höhere Streben aufgaben möchten, weil wir unwürdig geworden sind und nicht mehr als die Geheiligten leben. Aber in diesen Augenblicken, da befreit uns der Gekreuzigte von der Welt. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten. Der Welt und der Sünde ist er gestorben, wie es derApostel Paulus so schön sagt, daß dieWelt und die Sünde kein Recht mehr an uns hat. Er hat uns erlöst von der Welt. Ich weiß nicht, ob ihr in derselben Weise empfindet wie ich: Mir aber wird die Sündenvergebung lebendig bewußt als neuer Mut und neue Zuversicht, dem Guten wieder nachstreben zu dürfen. Er hat uns versetzt in ein Reich, in dem die Sonne nicht untergeht. Das wirkt die Kraft, die vom Kreuz ausgeht: Unfriede mit uns selbst und Friede von der Sünde und von der Welt. Die erste sichtbare Welt schuf Gott ausTag und Nacht, die zweite geistige Welt schafft die Kraft desGekreuzigten in uns ausnacht undTag. Ich habe versucht, mit euch vom rein Menschlichen aufsteigend die Bedeutung des Leidens Jesu ohne Formel zu verstehen. Vielleicht mögt ihr sagen, daß es nicht so einfach und klar ist, alswenn zum Beispiel Luther in kindlicher Einfalt von dem Opfer am Kreuz redet. Und doch – sind wir deswegen weniger fromm und erWahrheit ferner stehend, weil wir nun dieses Einfache nicht mehr so einfach begreifen können, sondern es uns verständlich zu machen suchen? O nein, denn ob man auch von dem rein Menschlichen ausgeht – das rein Menschliche führt uns gerade darauf, daß hier ein göttliches unfaßbares Geheimnis verborgen sei. Christus hat uns frei gemacht von der Welt: Das ist das Letzte und Tiefste, das wir an diesem Geheimnis erlernen können, ob wir es nun in der heiligen Sprache der alten heiligen Formeln und Gleichnisse aussprechen oder es in unserer natürlichen Sprache auszudrücken suchen.

460 Predigten desJahres 1903

Nachmittagspredigt Palmsonntag, 5. April 1903, [St. Nicolai]|18¡ Abschiedswort an die Konfirmanden

Lk. 11,1: Herr, lehre uns beten Noch einmal seid ihr heute in die Kirche gekommen, und ich möchte das als ein Wahrzeichen nehmen, daß ihr wirklich ernste Kirchgänger werdet. Aber wie viele sind schon in denselben frommen Gedanken gewesen, sind dann abgewelkt und haben das große Heer der Gleichgültigen vermehrt! Und wenn man sie fragen tät, wie es gekommen, sie vermöchten es nicht zu sagen. Sie waren nicht bewahrt, weil sie nicht gebetet haben. Darum laßt mich euch in dieser Nachmittagsstunde zurufen: Betet, betet morgens und abends, laßt keinen Tag vorübergehen, ohne zu beten, ob es ein glücklicher oder ein unglücklicher war. «Herr, lehre uns beten», sagten dieJünger zum Herrn. «Lehre uns beten». Sie beteten ja schon, die Gebete, die sie vonjeher hergesagt hatten, aber sie fühlen nun: Jetzt muß eine neue Art zu beten kommen. So auch ihr: Ihr habt gebetet bisher, ihr habt die gelernten Gebete hergesagt, aberjetzt muß kommen die wahre, innerliche Art desBetens, dasGebet, in welchem euer Herz seine innersten Gedanken ausspricht. So bittet auch ihr den Herrn: «Lehre uns beten.» Und was tat der Herr? Er lehrte dieJünger dasVaterunser, daß sie an dem Vaterunser beten lernten. So haltet auch ihr dasVaterunser heilig und betet esjeden Tag. Dafür hat es uns der Herr gelehrt, daß wir es des Abends still für uns beten, ehe wir einschlafen, und die Ereignisse, die Sorgen und Gedanken desTages an diesem Gebet sammeln. Ach das Vaterunser, man kennt es nicht mit einem Mal, sondern man muß es alltäglich beten, um zu fassen, wasdenn alles in diesen einfachen Worten liegt. Jede der Bitten enthält eine Predigt, bald mahnend,

bald tröstend. «Dein Name werde geheiligt, dein Reich komme»: Sprich diese Bitten und hör dann auf die Fragen deines Herzens. Ist denn durch meinen Wandel, durch mein Tun und Reden am heutigen Tag der Name Gottes geheiligt worden oder entweiht, ist sein Reich auf der Welt gefördert oder aufgehalten worden? «Dein Wille geschehe»: Bis ein Mensch zu allem, was ihm begegnet, sprechen kann «dein Wille geschehe», muß er viel geübt sein – und wie anders kann er’s werden, alswenn erjeden Abend durch diese Bitte alles, was ihm amTag begegnet, als denWillen Gottesannimmt?

18 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer am Palmsonntagnachmittag in St. Nicolai gepredigt.]

Herr, lehre

uns beten

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«Unser täglich Brot gib uns heute»: Das werdet ihr beten in Freude und sagen: Ja, der Herr hat es gegeben. Ihr werdet es aber auch beten in Traurigkeit, wenn große oder kleine Sorge über euch kommt. Aber wie ihr es auch betet, vergeßt nie, es beten es Hunderte von Darbenden jeden Tag mit euch und warten, daß Gott ihnen durch eine Hand das tägliche Brot schenke – denkt besonders daran, wenn ihr im Glück

seid.

Es gäbe nicht so viele hartherzige und geizige Menschen, wenn sie allejeden Tag beteten: «Unser täglich Brot gib uns heute». «Und vergib uns unsere Schulden»: Das ist ein herrliches Wort. Ihr werdet es vielleicht oft beten, und es wird euch nicht besonders bewegen, aber dann kommen Tage, wo ihr dabei stehen bleibt, wo ihr es wiederholt, es zwei-, dreimal sagt und euch zwei- und dreimal fragt: Ist’s denn wahr, Gott will uns unsere Schuld vergeben? Erst dann, wenn ihr euch an dieses Wort anklammert, dann versteht ihr, wie herrlich dasVaterunser ist. «Wie wir vergeben unsern Schuldigern»: «Lasset die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen!» [Eph. 4,26]. Ihr habt diesen Spruch gelernt. Und jeden Abend, wenn ihr betet «wie wir vergeben unsern Schuldigern», dann erinnert euch des Spruches und bleibt bei dieser Bitte, bis ihr keine Bitterkeit und keinen Zorn mehr im Herzen habt, im Großen wie im Kleinen. «Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen»: Verweilt dabei, denn es ist die Bitte, die wir mitbitten für euch. Jetzt tut sich das Leben vor euch auf, und jetzt tritt die Versuchung in allen Gestalten an euch heran, und wie viele werden davon verschlungen, denn sie achten sie nicht und gehen geschlossenen Auges einher. Ihr aber, betet diese letzte Bitte, daß der Herr euch die Augen auftue und bewahre. Wenig ist es und viel, was ich euch möchte abverlangen: Daß ihr den Entschluß faßt: Ich will keinen Tag vergehen lassen, ohne einmal das Gebet des Herrn zu sprechen. Wenig ist es; denn es sind kaum zwei oder drei Minuten, die [ich von] euch verlange. Viel ist es; denn ihr werdet einen Segen fürs ganze Leben mittragen. So lang ihr das tut, könnt ihr nicht ganz fallen, sondern es wird euch immer wieder eine Stimme zurückrufen. Und gerade wenn ihr in jene Lagen des Lebens kommt, wo ihr kein Bedürfnis habt, zu beten, dann haltet doppelt daran, und wenn es nur ein äußeres, gewohnheitsmäßiges Hersagen ist, haltet daran alltäglich – und nach Jahren werdet ihr mir sagen können, was dasVaterunser euch geholfen hat, denn wenn ich sagen sollte, was es mir schon geholfen hat, ich glaube, ich könnte stundenlang reden. Werdet Beter desVaterunsers – dasist meine Bitte an euch.

462 Predigten desJahres 1903

Morgenpredigt Gründonnerstag, 9. April 1903, St. Nicolai

[Mt. 26,26– 30: Das Abendmahl]|19¡ Ihr habt soeben vernommen|20¡, was alles sich am Gründonnerstag zugetragen hat. Ist es nicht, als ob die ganze Welt, in dem, was sie Schönes und Häßliches birgt, nun für einen Augenblick vonJesu Licht beleuchtet würde? Da ziehen auf: dienende Frauen, die zuversichtlich treuen und nachher doch so schwachen Jünger, der Verräter, die rohen Landsknechte, verblendete Richter, lügenhafte Zeugen. Nun, das alles ist versunken in der Vergangenheit, Aber etwas von dem, was dort am Gründonnerstag spielte, ist bestehen geblieben und bleibt bestehen, solange die Welt besteht: Das Abendmahl. Und jedesmal, wenn ihr euch nun bereitet, dieses heilige Mal zu feiern, da taucht vor euch die Frage auf: Was bedeutet denn dieses Mahl eigentlich? Ihr wißt, zu allen Zeiten hat man viel darüber gestritten und man meinte, diese Bedeutung in eine menschliche Meinung zusammenfassen zu können, und man beachtete nicht, daß man viele menschliche Meinungen zusammennehmen muß, um nur von ferne die Bedeutung dieses vom Herrn gestifteten Mahles ausmessen zu können. Der Herr selbst hat keine Auslegung gegeben, sondern er wollte, daß seine Jünger und alle Gläubigen von ferne demütig verehrten, was er in der letzten Nacht

geheimnisvoll gestiftet. Zunächst ist das Abendmahl ein Gleichnismahl. Unser Herr hat viel immer in Gleichnissen geredet, nun zuletzt vollzieht er ein Gleichnis vor ihren Augen. Daß er Brot brach und den Wein vor ihnen vergoß, dasbedeutet seinen Tod. Daß er aber gerade Brot undWein nahm, dasbedeutet noch mehr. Brot undWein ernähren, erhalten und stärken den irdischen Menschen. Damit will er anzeigen, daß aus seinem Tode der geistige Mensch geistige Nahrung, Stärkung und Kräftigung, erhalten wird, daß die Welt von seinem Tode leben und zehren wird. Noch ein Gleichnis liegt aber darin: In dem einen Brot sind viele Körner und in dem Kelch Weines viele Beeren vereinigt. So sollen auch in diesem Mahle die Menschen sich zusammenfinden und eins sein in Christus. 19 [Da sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach‹s und gab’s denJüngern und sprach: Nehmet, esset, dasist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus; dasist mein Blut desneuen Testaments, welches vergossen wird für viele zurVergebung der Sünden. Ich sage euch: Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs desWeinstocks trinken bis an denTag, daich’s neu trinken werde mit euch in meines Vaters Reich. Und da sie den Lobgesang gesprochen hatten, gingen sie hinaus an den Ölberg.] 20 [R] Verlesung von Mt. 26,1– 75.

Das Abendmahl

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Dieses so reiche und tiefsinnige Gleichnismahl hat er gestiftet als Erinnerungsmahl, damit die Menschen, wenn sie dieses Mahl feierten, sich in den heiligen Tagen der Passion immer wieder erinnerten, was er für uns sein wollte und anschauten die Bedeutung seines Leidens und Sterbens, wie er sie uns im Abendmahl vor Augen gemalt hat. Aber dieses Mahl ist noch mehr: Es ist ein Bundesmahl. «Das ist mein Blut des neuen Bundes, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.» Er denkt dabei an die Erzählung des Alten Testamentes, wo Moses, da er den Bund am Sinai schloß, dasVolk mit dem Blute der Opfertiere besprengte. Nun ist die Stunde gekommen, da er mit diesen wenigen den neuen Bund gründet. Aber weil dieser neue Bund etwas Innerliches ist, besprengt er sie nicht, sondern sagt: Trinket, nehmt Gottes Gnade in euch auf. Ihr kommt als die, so da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit: Nun sollt ihr satt werden. Ihr kommt als die da hungert und dürstet nach Vergebung der Sünden, ihr sollt satt werden. Darum hat er ein Mahl eingesetzt, in welchem immer wieder Gott uns seines Gnadenbundes versichert, nicht als wollte er sagen, daß Gottes Gnade auf übernatürliche Weise in diesem Mahl nun in uns eingeht, sondern er will damit sagen: Wer hungrig und durstig ist, wer demütig und zerschlagen ist, der darf sich getrösten, daß dieses Mahl wirklich die Erneuerung des Bundes mit Gott bedeutet und als ein Gesättigter davon gehen, neu gestärkt durch die Gnade Gottes, welche uns unsere Sünden vergibt. Darum, wenn euch im Herzen hungert und dürstet nach Gerechtigkeit und Sündenvergebung, seid ihr wahrhaft bereitet, dieses Mahl des neuen Bundes zu feiern. Vergesst aber nicht, daß es heißt: Vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern; damit das Herz bereitet ist zum Mahle des Herrn, muß es vergeben und verziehen haben. Und weil es das Bundes- und Vergebungsmahl ist, so ist es auch ein Freudenmahl. Ihr wißt, daß die Propheten und auch unser Herr Jesus viel geredet haben von dem neuen messianischen Mahl, wo alle Seligen in der Herrlichkeit zu Tische liegen werden. Sie haben es mit überschwenglichen Farben geschildert, aber Jesus erfüllt es, wie er alles erfüllt hat, geistig. Aus dem üppigen Mahl wird eine einfache Feier bei Brot und Wein, auf daß das Irdische zurücktrete und das Geistige alles sei. Und das Geistige: Es ist das Lob- und Dankopfer zu Gott. Jesus dankte, brach es, gab es ihnen und sprach: Da er dankte, hat er gedankt für die irdische Speise, er hat gedankt für die Sündenvergebung und für die geistigen Gaben, die Gott der Welt geschenkt. Darum, wenn ihr vom Altar zu eurem Platz zurückkehrt, dann dankt Gott in jenem Augenblick für alles Irdische und Geistige, was ihr von ihm empfangen habt, für das tägliche Brot, für die Gesundheit, für die geistigen Kräfte

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und für die Vergebung der Sünden, beschließt das Mahl mit einem innerlichen freudigen Lobgesang, denn auch Jesus läßt seine Jünger am Ende des Mahles den Lobgesang singen. Und wenn ihr dankt, dann wird euer Abendmahl gesegnet sein vor dem Herrn.

Morgenpredigt Sonntag, 3. Mai 1903, St. Nicolai

Mt. 26,6– 13: [Die Salbung in Bethanien]|21¡ Einer Frau, deren Namen er nicht kennt, die er nur eine Viertelstunde gesehen und über deren Leben, ob sie sündig oder fromm war, er nichts weiß, verheißt Jesus das Höchste und Schönste, was er je einem Menschen verheißen: daß sie ewig im Gedächtnis der Menschen fortleben wird: «Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, dawird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, wassie getan hat.» Ja, was hat sie dann Besonderes getan? Und der Herr sagt: «Sie hat ein gut Werk an mir getan.» Ein gut Werk – ich weiß nicht, ob ihr alle diese Streitigkeiten über die Lehre von den guten Werken kennt. Die katholische Kirche legte auf die guten Werke ein so großes Gewicht, daß unter ihren Gläubigen die Anschauung aufkam, man müsse sich den Himmel und die Seligkeit mit guten Werken verdienen. Dann kamen unsere Reformatoren und sagten mit Recht, dassei Mißbrauch, denn der Mensch könne gar keine guten Werke tun, denn er seija von Natur ein Sünder und habe also kein Verdienst, Gutes zu tun. Das ist sehr schön, aber ich habe doch immer das Gefühl gehabt, es liege darin eine Geringschätzung der guten Werke und als würden damit die Leute nicht genug angetrieben, freudig gute Werke zu tun. Daß darin etwas Wahres liegt, ersieht man daraus, daß Luther einen so schönen Brief wie denJakobusbrief fast verächtlich gemacht hat, weil er zu guten Werken anhalte, und ein Schüler der Reformatoren sich einst zu dem Satz verstiegen hat: «Die guten Werke sind schädlich zur Seligkeit.» 21 [Da nunJesus war zu Bethanien im Hause Simons, des Aussätzigen, trat zu ihm ein Weib, das hatte ein Glas mit köstlichem Wasser und goß es auf sein Haupt, da er zu Tisch saß. Da das seine Jünger sahen, wurden sie unwillig und sprachen: Wozu dient diese Vergeudung? Dieses Wasser hätte mögen teuer verkauft und den Armen gegeben werden. Da dasJesus merkte, sprach er zu ihnen: Wasbekümmert ihr dasWeib? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Ihr habt allezeit Arme bei euch; mich aber habt ihr nicht allezeit. Daß sie dies Wasser hat auf meinen Leib gegossen, hat sie getan, daß sie mich zum Grabe bereite. Wahrlich, ich sage euch: Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.]

Die Salbung in Bethanien

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Das sind nun alte Streitfragen; lassen wir sie ruhen, denn wir haben es nicht mit katholisch oder protestantisch, sondern mit uns selbst zu tun. Ich möchte euch fragen: Ist nicht beides miteinander vereinbar? Kann nicht auch ein sündiger Mensch gute Werke tun? Man hat die Lehre von der natürlichen Sündhaftigkeit der Menschen aufgestellt und keiner kann wagen, ihr zu widersprechen. Aber ich glaube, man sollte daneben auch die Lehre von der natürlichen Güte der Menschen stellen, denn es wohnt in den Menschen ein Zug zur Güte natürlich inne, der in der größten Gleichgültigkeit nicht völlig erlischt und auch durch die größte Sünde und das größte Verbrechen nicht ausgetilgt wird. Verabscheuenswerte Menschen haben in manchen Augenblicken Gutes

getan. Darum möchte ich sagen, die Menschen sind nicht böse und sind nicht gut, sondern sie sind böse und gut, sie bergen den Gegensatz von Böse und Gut in sich. Hat doch der Herr selbst einmal in einem Spruch gesagt: «So doch ihr, die ihr böse seid, könnet euren Kindern gute Gabe geben» [Mt. 7,11]. Und zu dem Weib in Bethanien sagt er: «Sie hat ein gutes Werk an mir getan.» So ist seine, des Reinen Meinung, daß wir sündige Menschen guteWerke tun können. Was sind das nun aber, gute Werke? Im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Sprache sind gute Werke Almosen an Arme. Man tut ein gutes Werk, wenn man auf einer Wohltätigkeitsliste etwas zeichnet, manche Leute meinen, sie tun ein gutes Werk, wenn sie auf einem Armenbazar etwas kaufen oder sich Billette zu einer Armenlotterie aufdrängen lassen. Auch dieJünger denken sich das gute Werk darin, daß nun der Erlös der Salbe unter die Armen verteilt werden soll. Aber für den Herrn sind das keine guten Werke – das nennt er nur, seine Pflicht tun an den Armen. Darum sagt er ihnen: «Arme habt ihr allezeit bei euch»; wohl euch, wenn ihr eure Pflicht an ihnen tut. «Und wenn ihr alles getan habt, was ihr zu tun schuldig waret, dann sprecht: Wir sind unnütze Knechte» [Lk. 17,10]. Aber gute Werke sind das nicht – denn guteWerke, dasist viel mehr! Dazu gehört viel mehr. Was sind denn aber gute Werke? Ich stand am Meer, und eine Welle schob sich ruhig und stetig über die andere den weißen Strand hinauf. Aus welcher Kraft taten sie es? Aus der Kraft des unendlichen Meeres – denn es atmete in diesen Wellen und darunter unendliche Tiefe und Ruhe. So ist auch die Liebe Gottes ein unendliches, unergründliches Meer, das sich bewegt und atmet in den fühlenden und empfindenden Menschenherzen. Menschenherzen sind die Wellen, in welchen die unendliche Liebe Gottes sich über die Erde hin bewegt, und ohne Menschen kann Gott keine Tat tun. Die Wellen heben und senken sich, und es ist keine, die nicht folgte dem Odem des großen Meeres. Und wenn ein Menschenherz Welle der Liebe Gottes ist, dann erlebt die Welt ein gut Werk. So war jene Frau.

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Sie war Welle. Sie überlegte nicht, sondern sie handelte, weil sie nicht anders konnte. Sie trat in das Zimmer, in welchem sie zuTische lagen – weil sie ihm etwas Liebes erweisen mußte. Sie fürchtete nicht, zu stören – denn sie konnte nicht anders. Sie überwand die Scheu – denn sie konnte nicht anders. Sie fürchtet nicht, daß er fragen wird: Was will sie denn? – denn sie kann nicht anders. Wie ein Kind geht sie auf ihn zu und redet nicht – sie folgte ihrem Herzen und ließ sich nicht beirren, und darum hat sie das Größte an ihm getan, was ein Mensch auf Erden

ihm getan: ein gut Werk. Ein gut Werk an ihm – ihm, dem Reichen, dem Großen, dem Reinen hat sie etwas gegeben. Sie hat ihm gegeben mehr, als sie ahnte, denn die Liebe Gottes redete durch sie zum Heiland, in jenen schweren Tagen, und ohne zu wissen, was sie tat, kam sie, ihn zumTode zu bereiten. Ein gutes Werk – was ist es anderes, als daß wir Gott wirken lassen in unsern Herzen, daß wir uns nicht beirren lassen, daß wir – versteht mich recht – natürlich sind. Es sind so wenig gute Werke in der Welt, weil wir nicht natürlich sind und der Liebe Gottes, die in unsern Herzen atmet, nicht folgen. Es fehlt uns das Unvermittelte – wir sind zu verständig, wie dieJünger. Nicht die bösen Triebe verhindern so viel Gutes als die kleinen Rücksichten des Lebens. Versteht ihr, was ich meine? Was hält uns davon ab, dasGute zu tun, gerade – ich rede nicht von der Mildtätigkeit, denn der Herr hat ja darauf hingewiesen, daß es noch eine andere Art, Gutes zu tun, gibt, die zu ihrer Zeit eintreten muß: die Anteilnahme und dasErweisen der Liebe.|22¡ Brauche ich euch zu sagen, wie oft wir uns gedrängt fühlten, jemand unsere Anteilnahme zu zeigen durch ein Wort oder nur durch einen Druck der Hand und es nicht tun, weil wir ihn nicht genug kennen, weil wir uns auffällig zu machen fürchten oder aus andern äußerlichen Gründen mehr? Wie viel Gutes geht daverloren! Vor einigen Tagen erzählte mir ein Herr folgendes. Es war in einer Großstadt, und er war in Gesellschaft eingeladen. Am Tisch wies ihn seine Nachbarin auf einen Lohndiener: Sehn Siejenen Menschen? Es ist ein tüchtiger Musiker, kam mit Frau und Kind hierher, um sein Glück zu suchen, wie so viele, und muß nun, um sich über Wasser zu halten, alle Dienste tun, die sich für ihn finden, und sich alsLohndiener verdingen. Und während jenes ganzen Abends fühlte sich jener Herr gedrungen, ein teilnehmendes Wort anjenen Diener zu richten, ihm Gutes zu tun, und was mich zurückhielt, sagte er mir, daswar einzig die Befürchtung, indem ich wie ein Freund zu ihm, dem Diener, redete, mich auffällig zu machen oder daß er meine Anteilnahme falsch deuten könnte und sich verletzt fühlen – und doch hätt ich es tun sollen, sagte er, denn es trieb mich dazu, ich weiß nicht warum. Ich brauche kein weiteres 22 [R] DieVerschwendung der Güter, dasÜberflüssige – Hunger nach Anteilnahme!

Unser Wandel aber ist im Himmel

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Beispiel zu sagen: Jeder findet in seinem Leben Dutzende davon, wo er das Gute, zu dem es ihn innerlich drängte, nicht tat aus rein äußerlichen, kleinen Rücksichten und Befürchtungen, ob arm oder reich, niedrig oder hoch – darin sind wir uns alle gleich. Und daran ist die Welt arm, daß wir den Impulsen unseres Herzens folgen, ohne diese kleinen alltäglichen Rücksichten, die uns lähmend anhaften, daß wir sind Menschen zu Menschen, und einer etwas haben am andern. Denn wenn ein armes Weib dem Heiland etwas gewesen, wie viel mehr können wir Menschen untereinander uns etwas sein – und wie viel Gutes tun wir uns an, wir, die täglich miteinander wohnen, wir, die wir uns Freunde nennen? Ich hätte es euch noch gern an Beispielen gezeigt, was ich damit meine, daß wir natürlich und unmittelbar dem Atem der göttlichen Liebe in uns folgen. Aber es kamen mir alle so entlehnt und so steif vor, wenn man sie erzählte, daß ich glaube, es ist etwas, was man nicht an Beispielen erklären kann, sondern das ein jeder nur danach verstehen kann, was er mit sich selbst und an sich selbst erlebt – an der Freude, die er gehabt, wenn er dem natürlichen Zug seines Herzens folgte, und an der Stärkung, die er empfand, wennjemand ihm so Gutes tat. Seid natürlich, seid unmittelbar, laßt euch durch Sitten, Gewohnheiten, Befürchtungen und Vorurteile nicht abhalten, die guten Werke zu verrichten, zu denen die Liebe Gottes eure Herzen anregt, das ist die Predigt von den guten Werken, die uns dieses einfache Weib zu Bethanien hält – das doch stumm zum Herrn kam und stumm von ihm ging. Äußerlich betrachtet war es wenig, was sie tat, und doch war es so viel, weil sie es tat, indem sie ihrem Herzen folgte. So können auch wir, wenn wir nur unbeirrt unserm Herzen folgen, Gutes tun über Wissen und Gebühr. – Solche Kraft zu guten Werken möge uns der Herr geben.

Morgenpredigt Himmelfahrt Donnerstag, 21. Mai 1903, St. Nicolai

Phil. 3,20: Unser Wandel aber ist im Himmel Himmelfahrt wird nicht als ein christliches Fest etwa wie Weihnachten und Karfreitag empfunden, sondern von den meisten als ein freier Tag zum Ausflug in die Frühlingsnatur. Naturfest. Wenn man es ihnen nehmen wollte, würden sie sich wehren, nicht wegen der religiösen Bedeutung, sondern weil man ihnen einen freien Tag nehme. Himmelfahrt haftet ganz an der Oberfläche desreligiösen Bewußtseins. Gründe dafür sind: Es ist ein junges Fest, es ist erst verhältnismäßig spät aufgekommen. Aber noch mehr: Ist es ein unnötiges Fest? Daß

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Predigten

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Jesus zur Herrlichkeit eingegangen, wurde schon an Ostern gefeiert. Was hat es dann noch für eine besondere Bedeutung? Unserem religiösen Denken ist es fremd geworden, dem religiösen Denken auch des frommen und ernsten Christen. Ihr könnt es glauben, daß an dem heutigen Tag viele Prediger mit schwerem Herzen und Bangen auf die Kanzel gehen und mit sich selbst ringen, um wahrhaftig zu bleiben, weil sie, um es mit einem Wort zu sagen, weil sie nicht an die leibliche Himmelfahrt Jesu, wie sie uns in der Apostelgeschichte erzählt wird, glauben können. Sie können es sich nicht vorstellen, daß er noch 40 Tage in einem übernatürlichen Dasein mit den Jüngern umher gewandelt ist und dann sichtbar von der Erde zum Himmel entschwebt sei. Ich gehöre zu diesen Predigern. Ich sage dasnicht, umjemand Anstoß zu geben, denn unser Herr hat gesagt: «Wer da ärgert einen von diesen Geringsten, die an mich glauben, dem wäre es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt würde und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist» [Mt. 18,6]. Und er hat auch gesagt, daß die Menschen werden Rechenschaft geben müssen von jedem unnützen Wort, das aus ihrem Munde geht [Mt. 12,36]. Wie ganz besonders gilt dies aber von dem Prediger, der gewürdigt ist, auf der Kanzel allsonntäglich das Evangelium zu verkünden. Also nicht leichten Herzens sage ich das, sondern weil ich nicht anders kann und nicht anders darf um derWahrhaftigkeit willen. Ich habe nicht das Recht, es irgendwie vor euch zu verschweigen oder zu verschleiern, daß ich es weder einem andern noch mir auferlegen möchte, gegen die innerste Überzeugung an eine leibliche Himmelfahrt unseres Herrn zu glauben, weil sicher auch euch schon Fragen darüber aufgestiegen sind. Gewiß, man darf sich nicht leichten Herzens über etwas hinaussetzen, dasin der Schrift steht. Und doch gibt uns die Schrift gerade in diesem Falle selbst ein Recht dazu, denn unser Herr hat seinen Jüngern gegenüber nie eine Andeutung von seiner Himmelfahrt gemacht, der Apostel Pauls erwähnt eine solche nie in irgend einem seiner Briefe, und die Evangelisten St. Markus, St. Matthäus und St. Johannes berichten davon nichts. Nur der Evangelist Lukas, der, wie er selbst eingesteht in den ersten Versen seines Evangeliums, nichts selbst als Augenzeuge miterlebt hat, sondern auf das angewiesen ist, was er hat erzählen hören, berichtet eine biblische Himmelfahrt. Ich glaube, gerade in dieser Erzählung zeigen sich schon die ersten Versuche, das Leben des Herrn mit Legenden auszuschmücken, wie man es mit dem Leben der Propheten getan, indem manvon Elia erzählte, er sei auf einem feurigen Wagen zum Himmel gefahren, und wie man es später mit der Mutter Jesu tat, indem man auch von ihr erzählte, sie sei zum Himmel gefahren.|23¡

23 [R] Ich frage mich, ob ich euch erbaut habe.

Unser Wandel aber ist im Himmel

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Aber lassen wir diese aus der biblischen Wissenschaft geschöpften Gründe. Es gibt noch einen andern, viel tiefer liegenden, den ihr alle innerlich empfindet. Der Glaube an die sichtbare Himmelfahrt Christi wird uns fremd, weil uns diese Vorstellung selbst von einem räumlichen Himmel, der sich über der Erde ausdehnt, fremd geworden ist. Es ist ein altes Gesetz, daß alles menschliche Denken mit dem Sinnlichen beginnt und sich von dort langsam auf das Geistige hin bewegt. Ein Kind kann sich alles Geistige nur in sinnenfälligen Formen vorstellen. Gott ist für es ein Mann und die Engel sichtbare Gestalten mit Flügeln. So war es auch in den Kindheitsjahren des Christentums. Auch da versuchte man, sich alles mehr sichtbar vorzustellen Ihr wißt zum Beispiel wie dieJünger und die Zeitgenossen Jesu sich das Reich Gottes als ein äußerliches irdisches Reich vorstellten und wie sie nach dem Heimgang unseres Herrn sehnsüchtig warteten, daß er auf den Wolken des Himmels erscheine, dasWeltgericht abhalte und dann das Reich Gottes auf Erden gründe. Und hat denn nicht Gott selbst, indem er dies alles nicht eintreten ließ, die Christenheit langsam erzogen, daß sie das Reich Gottes nicht als etwas Sinnenfälliges, sondern als etwas Innerliches, Geistiges begriffe, nach dem Wort: «Das Reich Gottes ist mitten in euch» [Lk. 17,20]? Ja, ist das nicht die Geschichte des Christentums überhaupt seit bald 20 Jahrhunderten, daß es immer mehr – und das gilt für alle seine Lehren – vergeistigt und verinnerlicht wird. Und unsere Zeit bildet gewissermaßen den Abschluß dieser großen Vergeistigung, denn die Astronomie und die Naturwissenschaft haben uns die Unendlichkeit der Welt gelehrt und uns damit den Glauben an einen räumlichen ausgedehnten Himmel, der sich über der Erde ausbreitet, genommen. Haben sie uns den Himmel genommen – wie manche fromme Christen fürchten und manche gottlose Gelehrte in ihrer Unkenntnis sich prahlerisch rühmen? Nein! Den Himmel kann uns niemand rauben, wir tragen in ihm Herzen, sondern sie haben uns nur dazu gebracht, was schon der Evangelist Johannes und der Apostel Paulus geahnt und angedeutet haben, den Himmel uns geistig, und nur geistig, zu deuten. Der Himmel, das ist das große geistige Reich, das unsichtbar in dem unendlichen All sich ausbreitet, das Reich, in dem der Urquell alles Geistigen, Gott, wirkt, das Reich, an dem auch wir schon hienieden teil haben durch das unvergängliche geistige Wesen, das in uns wohnt. Diese Vergeistigung des Christentums konnte sich nicht ohne Kämpfe vollziehen, und heute noch wogt dieser Kampf, und manche leiden schwer darunter. Aber trotzdem: Beklagen wollen wir es nicht, denn in dieser Vergeistigung erkennen wir Gottes Hand. Nie empfinde ich so dasWalten Gottes in der Geschichte, als wenn ich diese Vergeisti-

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gung des Christentums an mir vorüberziehen lasse. Ich habe dann den Eindruck, den die Zuschauer beim Stapellauf eines Schiffes haben müssen, wenn das Gerüst abgetragen, das letzte Stützholz abgeschlagen ist, und das Schiff von der Erde hinuntergleitet in dasweite Meer, auf dem es in Zukunft frei schwimmen wird. So war auch das Christentum gestützt und zugleich beengt durch die natürlichen menschlichen Vorstellungsweisen, und als es nun langsam eine dieser Stützen nach der andern verlor und die moderne Naturwissenschaft die letzte wegschlug, da standen sie drum herum und fürchteten, es möchte umfallen und zerbersten. Aber nein, siehe, vollendet und befreit von aller Beengung gleitet es auf das Meer hinaus, und dort wird es in Zukunft fahren. Keine irdische Vorstellungsweise wird es in Zukunft mehr beengen, keine wissenschaftliche Erkenntnis ihm mehr Gefahr bringen. Es läßt das alles hinter sich zurück, es steht über Erkennen undWissenschaft, als rein geistige Religion fährt es frei und leicht auf der Unendlichkeit dahin. Wir aber sehen zu und freuen uns. Darum darf ein christlicher Prediger gerade auf Himmelfahrt die Gelegenheit ergreifen, in Wahrhaftigkeit und Freudigkeit von der Vergeistigung des Christentums zu reden, darum darf er mit voller Zuversicht es jedem Zweifelnden an diesem Tage sagen, daß der Glaube an eine leibliche Himmelfahrt unseres Herrn niemand mit Gewalt auferlegt werden darf, denn die Himmelfahrt Christi ist ja doch zuletzt nur ein Gleichnis für die Himmelfahrt des Christentums. Wie dort die Person Jesu sich loslöst von allem Wirken zur reinen geistigen Daseinsweise, nachdem er 40 Tage noch auf Erden geweilt, so vollzieht sich dasselbe an der Religion, die er auf Erden gestiftet: Auch sie erhebt sich über alle irdische Bedingtheit und geht ein in dasrein Geistige.¦24¿ Das sind aber nur die Vorhallen der Himmelfahrtsfeier, und wer nichts mehr von diesem Fest hat als das Bewußtsein, daß wir in einem vergeistigten Christentum leben, für das manches, was die ersten Christen sich sinnreich dachten, nur Gleichnis ist, er hat wenig mit nach Hause zu nehmen. Nein, wir wollen die wahre Himmelfahrt Christi feiern und die Himmelfahrt unserer Seele! Die wahre Himmelfahrt Christi, das war nicht mit Augen zu schauen, nicht etwas, dasnur einmal vorkam, sondern es war etwas Tägliches, Innerliches, der Geisteszustand unseres Herrn. «Unser Wandel aber ist Himmel» – schöner als der Apostel Paulus kann man es nicht sagen. Ja, Jesu Wandel war im Himmel – das war das Große an ihm. Und wenn es wahr und bewiesen wäre, daß er leibhaftig zum Himmel 24 [R] Wird dassie auch erbauen? Mehr einVortrag als eine Predigt? Manche nicht Anstoß? Nein, Himmelfahrt doch gern: die Himmelfahrt unserer Seele. Jugenderinnerungen, dann immer im Himmel.

Unser Wandel aber ist im Himmel

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aufgeschwebt, das wäre doch nichts im Vergleich zu dieser immerwährenden innerlichen Himmelfahrt. Und diese Himmelfahrt, die sehen wir gerade so gut wie dieJünger, denn wir brauchen nur dasNeueTestament aufzuschlagen und da zu lesen, was er gesagt, was er getan, da sehen wir, wie sein Geist über den Dingen dieser Welt schwebte, wie er im irdischen Leben dahinschreitend im Himmel wandelte. Freude, Sorgen und Unglück zogen ihn nicht in das Leben hinein, sondern er stand darüber. Immer wieder zog er sich zurück und sammelte sich, immer wieder fand er Ruhe und Frieden in der Gemeinschaft mit Gott – und wenn es heißt, er ging hin zu beten – dasist die wahre Himmelfahrt Jesu. Das ist die wahre Himmelfahrt Jesu, weil es nicht etwas ist zum anstaunen, sondern etwas, was er uns gebracht hat.¦25¿ Darum sagt der Apostel: «Unser Wandel ist im Himmel.» Unserer Seelen Himmelfahrt – das ist das Fest, daswir feiern. Himmelfahrt drückt unsern ganzen Glauben aus. Christus hat uns versetzt in dasReich seines lieben Vaters. Ja, es ist nötig, daß einmal imJahr uns dieses Wort «Himmelfahrt» entgegenleuchte, in diesem schönen Frühlingsfeste, wo schon die Herrlichkeit, die uns draußen umgibt, emporzieht von der Erde. Himmelfahrt – schon das Wort allein ist Evangelium. Und dann – ja, es liegt noch etwas drin wie Heimweh und Traurigkeit, etwas von einem Frieden und von einer Seligkeit, die wir uns entgehen lassen, weil wir auf der Erde in den Dingen, von ihnen gefangen genommen, wandeln. Wir feiern zu wenig Himmelfahrt. Unser Trachten geht zu sehr auf dasIrdische. Und da kommt dieses Fest und wiederholt dasWort: Himmelfahrt, Himmelfahrt.¦26¿ Und wer es wirklich hört und es in sein Herz aufnimmt und heute, wo alles singt undjubiliert, zu seiner Seele sagt: Nun fahre hinauf, nun feiere, laß alles Irdische zurück und fülle dich mit Friede und Freude, wer heute eine stille Stunde für sich nimmt und sich sammelt, eine jener stillen Stunden, wo dasHerz reich wird – der hat recht Himmelfahrt gefeiert.

25 [R] Gebracht hat: nicht nurVorbild, Anleitung, sondern Ruhe in ihm. Himmelfahrt: Wir haben es schon gehabt, wo wir gebetet: «Gib dich zufrieden» [Paul Gerhardt]. 26 [R] Nun kommt dieses Fest im Jahr, es kommt nicht allein, sondern die blühende undjubelnde Natur – dank ihm für Sonnenschein undBlumen etcetera.

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Morgenpredigt Sonntag, 14.Juni 1903,¦27¿ St. Nicolai

Mt. 18,3: Werdet wie die Kinder¦28¿

Es gibt Worte unseres Herrn, die werden um so größer, je älter die Welt wird, die wie die Schatten wachsen mit der Abendsonne. Das Wort, wir müßten werden wie Kindlein, gehört dazu. Man möchte fast fragen, ob dieJünger, zu denen er es sagte, dieses Wortes eigentlich bedurften, denn sicherlich waren sie, die einfachen Fischer, die alles verließen, um ihm nachzufolgen, kindlichen Sinnes. Nun wächst es und wächst es, dieses Wort, durch dieJahrhunderte hindurch mit dem Fortschritt der Kultur, derWissenschaft und der Erkenntnis, wie ein kleiner Efeuzweig sich bis in die obersten Äste derjahrhundertealten Eiche hinaufspinnt, und für uns bildungs- und fortschrittsstolze Menschen des 20. Jahrhunderts gewinnt es erst seine größte und tiefste Bedeutung. Es wirdJesu Wort an uns. Und wie mit denJahrhunderten, so wächst es mit einem jeden von uns. Als Kinder verstehen wir es nicht; aberje weiter wir ins Leben hinauskommen, desto näher rückt es uns und ergreift uns wie eine Art schmerzvollen Heimwehs, nicht nur die Frommen, nicht nur die Denkenden, sondern auch die Gedankenlosen und die Hartherzigen, denn sie alle fühlen, daß in dem Gemüt des Kindes eine Tiefe, ein Reichtum und ein Frieden liegt, die kein Wissen und kein Besitzen uns zurückbringen kann. Doch machen sie etwas Sentimentales draus. Sie reden sich in eine Art Rührung hinein mit Redensarten von verlorener Kindesunschuld und Kinderreinheit und von entschwundenem Kinderglück, aber sie kommen durch dieses Wort nicht vorwärts. Und was nützt das schönste Wort, wenn man dadurch nicht vorwärtskommt? Bei andern wieder ist dieses Wort als Seligpreisung derjenigen Menschen aufgefaßt, die sich, wie man so sagt, ihren Kinderglauben bewahrt haben und nicht berührt worden sind von den Zweifeln und Anfechtungen des Glaubens, durch welche andere hindurchgehen. Aber das alles reicht an die eigentliche Größe und an die eigentliche Bedeutung desWortes Jesu bei weitem nicht heran, denn er hatja nicht gesagt, es sei denn, daß ihr bleibt wie die Kindlein, sondern «es sei denn, daß ihr werdet wie die Kindlein». Es sei denn, daß ihr werdet! Das ist mehr 27 [Als Datum ist angegeben: 13. Juli 03. Am Ende des Manuskripts aber steht: samedi 13/6/03. Es handelt sich deshalb hier um die Morgenpredigt für den 14.Juni 1903. Für den 12. Juli existiert eine so datierte Predigt. Zudem hat Schweitzer nach dem Kirchenboten am 14.Juni Morgen- und Abendpredigt gehalten.] 28 [Wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.]

Werdet

wie die Kinder

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als sentimentaler Schmerz über ein verschwundenes Glück, das ist ein Aufrütteln, ein Befehl zum Handeln. Der Befehl zum Umkehren zur

Kindlichkeit. Umkehr zur Kindlichkeit! Kann man denn dem belaubten Zweig sagen: Kehre zurück in die Knospe? Kann man zum Fluß sagen: Kehre zurück in die Quelle! Kann man zur Mittagssonne sagen: Kehre zurück hinter die Berge, von da du ausgegangen! Es gibt ja überall nur ein Vorwärts, ein Vorwärts, das die Welt und die Dinge in ihr samt den Menschen mitfortreißt, aber einen Stillstand, ein Zurück gibt es nicht. Und doch, in diesem unaufhaltsamen Vorwärts kehrt das Vergangene wieder. Der Zweig kann sich nicht zur Knospe zurückwandeln, und doch, wenn die Zeit da ist, fällt das Laub ab, und er steht wieder in Knospen. Der Fluß kehrt nicht wieder zur Quelle zurück, und doch, sind es nicht seine Wasser, die als Wolken die Berge tränken und als Quelle wieder hervorkommen? Die Sonne kann nicht auf ihrer Bahn rückwärts wandeln, und doch, obwohl sie keinen Schritt rückwärts macht, so kehrt sie doch, wenn sie des Abends im Untergang versunken, des Morgens im Aufgang wieder. So gibt es, und das ist dasWunder in der Natur, nur ein Vorwärts, ein unaufhaltsames Vorwärts, aber in diesem Vorwärts wird dasVergangene immer wieder neu: Es ist ein großes Umkehren! So muß auch in der geistigen Entwicklung desMenschen dasKindliche zurückkehren, er muß diese einfache Größe und Tiefe des Geistes, der unberührt in dieWelt hineintritt, wiedererlangen. Während dasselbe aber sich im Reiche der Natur draußen aus ewiger, innerer Notwendigkeit vollzieht, muß der Mensch als ein freier Geist es sich selbst schaffen. Um ein Kind zu werden, muß er innerlich handeln und kämpfen. Als Kinder haben wir jene Einfachheit und Einfältigkeit des Gemüts besessen, jene natürliche Güte, jenes aufrichtige Vertrauen, jene einfache Wahrhaftigkeit vor Gott und den Menschen. Nun kam das Leben mit seinen Eindrücken und nahm von uns Besitz. Zu dem einen kommt die Welt alsWissen und Gelehrsamkeit, zu dem andern als Macht und Ansehen, zu dem andern als Ruhm und Erfolg, zu dem andern als Wohlleben, zu dem andern als alltägliche Arbeit, und unser inneres Ich öffnet sich und gibt sich hin. Und das alles betört uns. Wir meinen, das ist Leben, wir reden uns ein, daß wir darin Befriedigung finden, und merken nicht, wie wir darin verarmen, daß, wenn wir das alles in uns aufgenommen, es ein Zurück geben muß. Ich kann es in einem Bild erklären: Die Menschen sind wie Bäume, die Laub bekommen haben und dieses Laub behalten und nicht merken, daß es an der Sonne gelb geworden und daß der Staub der Straße grau darauf liegt, daß es dürr ist und raschelt im Wind; wie Bäume sind wir, die ihr Laub behalten, als ob Gott es nicht in der Natur so geordnet, daß hinter dem welkenden Laub

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neue Knospen sich bilden, die als die zukünftige Herrlichkeit, als neue Kindheit desBaumes dastehen. So ist’s mit uns. Wer es nicht empfindet, daß alles dies, was uns für einen Augenblick so befriedigt, Arbeit, Glück, Ehre, Erfolg, nur Laub ist und welk wird in dem langen Sommer des Lebens, und neue Knospen ansetzt, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes, ebensowenig wie der Baum zum Frühling taugt, der sein Laub behalten will. Für das Kind ist alles Tand, Spiel, Phantasie. Und wer nun nicht wird wie ein Kind und in höherem Sinn alles das, was das Leben der Menschen für gewöhnlich ausmacht, als Tand ansieht, der kann nicht ins Himmelreich kommen. Du gibst einem Kind ein Spielzeug. Wenn es ein wenig damit gespielt, bricht es dasselbe auf, um zu sehen, was darin sei. So ist es mit denen, welche umkehren und werden wie die Kindlein. Wenn sie mit dem Leben gespielt, dann wollen sie sehn was drin ist, während die andern, die nicht zur Kindlichkeit zurückkehren, weiter damit spielen. Wie viele Menschen gibt es, die tragen ihr welkes Laub und meinen, sie grünen, wie viele sind nicht wieder Kinder geworden und nehmen nun ernst, wasTand ist, und wie viele wollen nicht sehen, was drin ist! Das sind die Menschen, denen ihre Zufriedenheit, ihr Ansehen, ihr Wohlleben, ihr Glück, ihr Wissen, ihr Ruhm genügt, die darin leben und aufgehen und sich nicht zu der einfachsten und doch größten Tat aufschwingen, der Tat der kindlich naiven Wahrhaftigkeit gegen sich selbst. Das ist die Bedeutung, die dasWort: «Kehret um und werdet wie die Kindlein» für unsere Welt und unsere Zeit hat. Wenn ich es soll ausdrücken, wie es mir vor den Augen steht, heißt es: Macht euch nichts vor, nehmt nicht die Dinge, die keine wahren Güter sind für wahre Güter, sondern wagt es, euer Leben mit der naiven Wahrhaftigkeit des Kindes zu betrachten, was davon noch als wahres Gut übrig bleibt. Wagt es, diese Wissenschaft und Fortschritte, auf die man so stolz ist, wahrhaftig zu betrachten und zu fragen, was ist daran wahres Wissen und wahrer Fortschritt, der uns innerlich glücklich und reich macht? Was ist unter all demTun solches, was wahrhaftig gut ist? Einfach, wahrhaftig sein, uns nicht selbst mit dem Leben betören, das ist die Kindlichkeit, die wir uns wieder erkämpfen und erringen müssen, dasist der innere Mensch, den wir ansetzen müssen, wenn wir nicht wollen nackt und bloß erfunden werden, wenn dies Vergängliche sich wandelt ins Unvergängliche. Ihr sagt mir vielleicht: Jesus hat in diesem Wort die Rückkehr zu der einfachen natürlichen Güte, die Rückkehr zum kindlichen Verzeihen, die Rückkehr zum kindlichen Vertrauen zu Gott und den Menschen gemeint – und gewiß, das Wort ist herrlich auch in diesem einfachsten Sinn. Aber ich sagte euch schon zu Anfang, dieWorte Jesu wachsen wie die Schatten, wenn die Sonne fortschreitet, denn die Sonne leuchtet.

Werdet

wiedie Kinder

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Und was ich euch hier sage, das ist das vergrößerte Schattenbild des Wortes Jesu in unserer Zeit, das Schattenbild, wie ich es sehe. Denn unserer Zeit gebricht es an kindlichem Sinn, nicht nur in der Liebe, in der Güte, im Verzeihen, im Vertrauen, sondern in der Gesinnung, in der Auffassung des Lebens überhaupt. Was die Leute unserer Zeit, die Reichen wie die Armen, die Gelehrten wie die Ungelehrten, so oberflächlich, gedankenarm und herzensarm macht, das ist der Mangel an kindlich einfacher Wahrhaftigkeit gegen uns selbst, und wer diese kindlich einfache Wahrhaftigkeit hat, der ist groß unter uns. Dies empfand ich wieder, als ich unlängst in einer ruhigen Stunde die Selbstbekenntnisse des großen russischen Schriftstellers und Wohltäters Tolstoi, dessen Namen ich hier schon manchmal ausgesprochen habe, wieder zur Hand nahm. Er beschreibt da, wie er auf dem Gipfel seines Ruhmes, reich begütert, von seinen Freunden verehrt, doch sich nicht freuen konnte, weil immer wieder in seinem Innern einfache, kindliche Fragen, von denen er meinte, sie wären schon längst gelöst, auftauchten, ohne daß er sie abweisen konnte. Immer wieder mußte er fragen, ist denn das das Glück, welches mein Leben ganz ausfüllen kann, ein reicher Schriftsteller zu sein, ist denn das ein Wirken, welches mein Dasein ganz ausfüllen kann, zu schreiben und dadurch ein berühmter Mann zu werden? Es war dasWort: «Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kindlein», das bei ihm anklopfte. Und dann ging eine große Veränderung mit ihm vor; er erkannte erst, als er sich selbst Fragen stellte, wie ein Kind Fragen stellt, die Leere, die Armut seines Daseins und suchte nach einer höheren Bedeutung seines Lebens und wurde nun ein Wohltäter im Irdischen und Geistigen, denn derjenigen, denen er geistig wohlgetan hat, sind so viele, als denen er leiblich Hilfe gebracht hat. Und wenn ich dasWort lese: «Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder», muß ich an diesen Mann denken, an die geistige Kraft kindlicher Wahrhaftigkeit, die von ihm ausgeht und mit der er mir persönlich gerade schon viel Gutes getan.¦29¿ Nun, so klopft dieses Wort: «Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kinder», auch bei uns an, und ich glaube, ihr und ich, wir haben schon gespürt, daß es an uns arbeitet in den Augenblicken, wo uns das ganze Getriebe, in dem wir drinstehen, wie eine große Frage vorkommt, wo der Gelehrte fragt: wozu meine Weisheit, der Reiche: wozu mein Geld, der Berühmte: wozu mein Ruhm, der Geschäftige: wozu meine Geschäftigkeit. Und wenn sich die Menschen erzählen wollten von diesen innerlichen Fragen, sie hätten sich manches zu erzählen. So aber gehen sie nebeneinander her, der Mann neben der Frau, der Freund neben dem Freund, und keiner weiß, daß den andern innerlich dieselben Fra29 [R] Die Kinder durch ihr Fragen oft das Scheinwissen der Großen aufdecken.

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gen bewegen wie ihn selbst. Ich selbst bin schon manchmal erstaunt, wenn ich mit Menschen, denen ich jahrelang begegnet, die an mir und ich an ihnen vorübergegangen sind, ins Reden gekommen bin und da plötzlich sah, wassie alles bei sich gefragt undbei sich gedacht haben. Aber nicht nur neben andern, neben uns selbst gehn wir vorüber, denn wir stehen uns selbst nicht Rede und unterdrücken die innerlichen Fragen, die immer wieder in uns auftauchen, und manche Menschen eben so lange, bis die Fragen tot sind und schweigen, und sie selbst nun ruhig in dem Getriebe dahingehen können. Und diese Fragen, sie waren der Ruf zur Umkehr zur Kindlichkeit, zur Sinneseinfalt, und sie haben sich dagegen gewehrt, wie ein törichter Baum sich gegen die Knospen wehrt, um sein welkes Laub zu behalten, und nun sind sie innerlich verarmte Menschen, denn es fehlt ihnen, was zum Reich Gottes gehört, unsere wahre Größe und unsern wahren Reichtum ausmacht, der einfache, kindliche Sinn. Ihr wißt es, das ist keine außerordentliche, sondern eine alltägliche Geschichte, die ich euch erzählt habe. Nun möchte ich meine ganze Predigt in eine Bitte zusammenfassen: Wagt es immer, den Fragen, die in euch aufsteigen, in einfacher Wahrhaftigkeit Gehör zu geben und eine Antwort darauf zu suchen, denn mit diesen Fragen führt Gottes Geist die Menschen von der äußerlichen Betrachtung der Dinge zur innerlich wahren zurück. Diese Fragen sind dieWegweiser der Rückkehr zur höheren Kindlichkeit, und wer ihnen folgt und sich nicht betäubt durch äußeres Wissen und äußere Meinung, den führen sie zurück zur wahren Kindlichkeit, da nicht mehr ist gelehrt noch ungelehrt, reich oder arm, sondern geistiger, inwendiger Reichtum, durch den wir schon jetzt Gottes Kinder sind, wieJesus, unser Herr, Gottes Sohn war durch die kindliche Wahrhaftigkeit seines Sinnes, welche ihn über alles irdische Wissen erhob und ihn zum Lehrer und Heiland derWelt gemacht hat. samedi 13/6/03

Nachmittagspredigt Sonntag, 14.Juni 1903, St. Nicolai

Jak. 1,22: Seid aber Täter desWorts und nicht Hörer allein, womit ihr euch selbst betrügt. Meine Hochachtung für den Apostel, der den Brief verfaßt hat. Luther [hat ihn eine] stroherne Epistel [genannt]. Der einfache, gerade, gesunde Menschenverstand [kommt hier zum Zuge]. Wie er Jesus verstanden hat, [bringt er zum Ausdruck]: Denn Jesus hat auch immer auf dasTun hingewiesen. «An ihren Früchten [sollt ihr sie erkennen]» [Mt. 7,16].

Seid aber Täter des Worts

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Das Bild vom letzten Gericht: «Wasihr getan habt einem dieser Geringsten unter meinen Brüdern, dashabt ihr mir getan» [Mt. 25,40]. Die Frage, ist die Religion ein Glauben oder ein Tun, [taucht hier auf]. Die Reformatoren legten auf den Glauben den Hauptnachdruck. Schon bei Jakobus [aber heißt es]: Glaube und Werke. Joh. 2 [macht deutlich]: Die Werke müssen zum Glauben hinzutreten. Schleiermacher [meint]: Kein Tun, sondern aus dem Glauben kommen die richtigen Werke von selbst. Darum [erwartet Jesus] Früchte. Darüber [könnte man] endlos streiten. Wir wollen es aber gehen lassen. Ich hab darüber meine eigenen Gedanken. Meine Erfahrung im täglichen Leben [sagt]: Die Werke [kommen] nicht ausdem Glauben, sondern der Glaube aus den Werken. Ich spüre selbst meinen Glauben so erst wie einen Nachgeschmack meiner Handlungen, und wenn ich meines Glaubens froh werden will, muß ich etwas tun. Die Augenblicke geistiger Verdrossenheit – ihr wißt, was das ist: [Man] fühlt sich fern von Gott, [man hat] keine innere Freude, [man ist] so inwendig leer. Wo sich so die Gedanken oft tagelang drin herumbewegen wie ein schwer beladener Wagen in einer Kiesgrube, dann weiß ich: Du mußt Vorspann holen, du mußt etwas tun, und wenn mir dann jemand in den Weg läuft, dem ich helfen kann auf irgend eine Weise oder Liebes erzeigen, dann mein ich, das ist der Vorspann, den mir der liebe Gott schickt – und dann wird es mir wieder leicht, es ist, als sähe ich wirklich den Himmel offen, ich habe wieder Glauben an Gott und die Menschen, und dasEvangelium erglänzt wie neu im Sonnenschein. Dann muß ich immer denken: Wie leicht haben es doch die Menschen, die Täter sind, zu glauben, denn die haben den lieben Gott so nahe, so lebendig nahe. «Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott» [I Joh. 4,16]. Alles Tun ist nur Auswirken, Ausstrahlen der Liebe Gottes. Wer tätig [ist], der [steht] mit Gott in Verbindung: darum diese unaussprechliche Seligkeit in unsern Herzen. Warum ist so viel Unglaube in derWelt, [warum gibt es] so viele, denen Gott nichts mehr ist? [Dafür hat man] verschiedene Erklärungen: Wissen und Glauben, moderne Zweifel etc.. Das Wahre: kein Tun. Ich möchte alle darauf hinweisen: Fangt einmal an zu handeln! Ihr könnt nicht glauben, nicht beten – daskommt dann von selbst. Unsere Lauheit. Woher kommt sie? Wir tun nicht genug! Unser Herz ist innerlich arm, dunkel, kalt, [weil das] Licht der göttlichen Liebe nicht mehr hineinscheint. Aus demTun [kommt die] Erkenntnis: Gott ist Wirken. [Gott ist] nicht durch denken erkennbar; ein einfältiger Mann, der handelt, erkennt Gott und alle Geheimnisse besser als alle Denker. Kein Wort weiter: Ihr wißt es von euch selbst. Aber sich aufraffen, zu tun, dasist die Hauptsache! Die Versöhnung der verschiedenen Bekenntnisse [tut not]. Unsere

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Zeit [erregt] viel Streit umWorte, Glaubensformeln etc.. [Wir müssen] hinausblicken über den Zaun. [Wir warten auf eine] Zeit, wo das alles einmal anders wird. Wie aber sollen sie zusammenkommen? Durch das Tun, nicht durch dasDisputieren. DieVerwandtschaft desTuns. Darum ist dasso recht dasWort für unsere Zeit: «Seid Täter desWortes und nicht Hörer allein.»

Nachmittagspredigt Sonntag, 21. Juni 1903, St. Nicolai

Hebr. 13,14: Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir

Heut ist der längste Tag; es geht aufJohannis zu.Jetzt werden sie wieder kürzer bis zur Adventszeit, anfangs langsam, unmerklich, dann immer mehr und immer mehr. Als Kind ging ich einst zur Sommerzeit mit meinen Eltern spazieren, und wir kamen zurück, als die Abendglocke läutete. Und alles blühte und duftete in dem herrlichen Sommerabend. Da sagte mein Vater zu meiner Mutter: Jetzt werden die Tage wieder kürzer. Das erschreckte mich und tat mir weh, und ich wollte es nicht glauben, denn es warja noch der Anfang des Sommers, undjetzt sollte es schon zurück gehen? Seither liegt im Johannistag ein schmerzlicher Ernst.

Die Tage werden nunmehr kürzer; da liegt Grund zum Ernst. Es gibt auch einen Johannistag in unserm Leben, einen Tag, wo sich die Reihe unserer Tage zum Niedergang wendet. Aber er steht in keinem Kalender. Keiner von uns weiß, ob seinJohannistag schon dawar – und wir meinen, es könne nicht sein, weil in unserm Leben es noch Sommer ist – und doch, der Johannistag war vielleicht schon da, und unsere Tage nehmen ab, wir wissen es nur nicht. Und dasist dasErnsteste amJohannistag: Er zeigt, daß es nichts Bleibendes gibt. Kaum ist der längste Tag da, da gibt es nicht eine Reihe gleichmäßiger langer Tage, sondern es kommt der Niedergang. So auch für uns. «Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.» Was heißt denn Vollbesitz des Lebens, Vollkraft des Schaffens? Mitten drin, wie mitten im Junisommer heißt es: «Die

zukünftige suchen wir.» Auch der gedankenloseste Mensch wird täglich daran erinnert: Wir haben hier keine bleibende Stadt. Wenn ihm selbst nichts begegnet, das ihn aus dieser Lebenssicherheit herausreißt, dann kommt er an das Krankenlager eines Freundes, oder er geht hinter dem Sarge eines Menschen, der jäh dem Leben entrissen wurde. Oder er liest die Zeitung: Dort am Eingang des Hafens von Marseille über hundert Personen auf

Undsojemand auch kämpft

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einmal ertrunken, dort in Amerika durch einen Wolkenbruch eine ganze Ortschaft weggeschwemmt und hunderte von Menschen umgekommen, dort in England ein Arsenal mit seinen Arbeitern in die Luft gesprengt – und das in kaum 14 Tagen. Aber was hilft es, zu wissen, daß wir hier keine bleibende Stadt haben? Ich bin immer betrübt, mit welcher Gleichgültigkeit sich die Leute mit der Erkenntnis abfinden «Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen»¦30¿ und wie gedankenlos unchristlich sie darüber reden, und wie sie dadurch nicht zum Suchen der zukünftigen Stadt kommen. Sie leben wie solche, über die der Bankrott in kurzer oder ferner Zeit hereinbrechen muß, und die nicht daran denken, was sie daraus retten werden. Wir aber suchen die zukünftige Stadt: Wir suchen sie schon unbewußt. Es lebt in uns ein Sehnen nach einer friedvollen, lichtvollen Welt, ein Heimweh, und das erwacht dann in uns und führt unsern Geist aus dem irdischen Getümmel heraus und hebt uns selber wie im Traume über dieWelt. In einer solchen Heimwehstunde hat der Apostel im Hebräerbrief das schöne Wort geschrieben, welches wir zum Text gewählt haben. Aber suchen heißt nicht nur Heimweh haben – wohl sucht man nichts, wenn man sich nicht danach sehnt, sondern suchen heißt: gehen, handeln.¦31¿

Nachmittagspredigt Sonntag, 5.Juli 1903, St. Nicolai

II Tim. 2,5: Und sojemand auch kämpft, wird er doch nicht gekrönt, er kämpfe denn recht

Man könnte, glaube ich, alle Menschen der Welt zusammenrufen und sie fragen: Nicht wahr, das Leben ist ein Kampf? Und sie würden alle ja sagen, so kommt es uns vor. Da würden die einen besonders denken an den Kampf ums Dasein, an dasRingen um die Existenz, ein anderer besonders an den Kampf mit dem Unglück. Mein Leben, würde er sagen, wäre so schön gewesen, aber dann kam dies Unglück und dann jenes, und bis ich mich drein ergeben hab, daswar ein Kampf. Als ich vorgestern nach Hause kam, da fand ich einen Brief vor und darin stand, daß einem meiner ehemaligen Konfirmanden wegen eines Knieleidens der Fuß abgenommen werden mußte. Ich hatte ihn immer sehr lieb gehabt, und während seines Leidens, da ich ihn besuchte, immer lieber gewonnen. Undjetzt, bis er gelernt hat, ruhig zu beten «Dein 30 [Vorreformatorisch: Mitten wir im Leben sind von demTod umfangen, Str. 1.] 31 [Hier bricht dasManuskript ab mit der Randbemerkung:] Bild von Bäumen.

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Wille geschehe» [Mt. 6,10], wie viel Nachtstunden muß der 16jährige Knabe in dem großen Krankenzimmer der Klinik kämpfen und ringen? Einen Kampf gibt es noch, den wir alle kennen: den inneren verborgenen Kampf gegen uns selbst. Was wohnt doch in unserem Herzen eine Welt von bösen Gedanken. (Ich brauche sie ja nicht aufzuzählen, unser Herr hat sieja aufgezählt, da er sprach: «Aus dem Herzen kommen arge Gedanken» [Mt. 15,19]). Und wenn wir uns gehen ließen und nicht kämpften, waswürde ausuns werden? Warum müssen denn die Menschen so kämpfen? Wenn ich nur einige Sekunden nachdenke, da stehen etwa ein Dutzend Menschen vor mir, deren Schicksale ich kenne, wo ich mich dann immer wieder fragen muß, warum es diese so ganz besonders schwer haben und wasdenn Gott damit verfolge, daß er ihnen eine solche Last auflade. Dann wieder von mir selbst: Warum muß ich das Ehrbare und Gute so erkämpfen und erringen? Un dann manchmal wage ich nicht hinanzudenken: Wenn ich sehe, was andern begegnet, was ihnen genommen wird, und ich muß denken, das kann Gott auch dir schicken, wenn er es für gut hält. Aber wasmüßte ich kämpfen, bis ich mich darein gefunden hätte? Ich besuche öfters einen Mann, der bringt nun schon vier Jahre als Krüppel im kräftigen Alter auf dem Lager zu, und nur derTod wird ihn erlösen. Und wenn ich hinausgehe, da wartet manchmal die Frage vor derTür: Und wenn Gott einst solches von dir verlangte? Was ich euch hier laut sage, das habt ihr euch – ich weiß es – schon selbst im Zwiegespräch mit euch selbst gesagt. Was könnte man Schlechtes und Trostloses über die Welt und das Leben sagen, wenn man sie bei Lichte mit derVernunft betrachtet? Was haben die Menschen auch geklagt und sogar gehöhnt über die schlechte und traurige Einrichtung desLebens? Aber so vernünftig es ist, so falsch. Denn auf dasWort Kampf antwortet nur eines: dasWort Sieg! Wenn einer in Griechenland bei denWettspielen in der Bahn die Läufer und die Ringer und die Kämpfer sah, da hätte er auch fragen können: Warum strengen die sich denn so an?Und manhätte über ihn den Kopf geschüttelt und geantwortet: um ein Ölzweiglein, um einen Lorbeerkranz. So antworten auch wir. Wir kämpfen, um zu siegen, um gekrönt zu werden. Es istja mit derVernunft nicht zu begreifen, aber wer es an sich erlebt hat, wases heißt siegen, innerlich überwinden, der versteht ja erst das Leben, denn er weiß, daß es kein größeres Glück gibt. Gott hat uns diesen Kampf verordnet, damit wir innerlich vorwärts kommen, damit unser geistiger Mensch wachse über unsern irdischen Menschen. Jedem Menschen verordnet er den Kampf, den er braucht. Erklären können wir es ja nicht. Wenn wir wollten sagen: Der oder jener Mensch hätte es nötig, daß ihm Gott gerade diese Anfechtung

Der Herr ist mein Hirte

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und diesen Kampf auferlegte, damit er innerlich vorwärts komme, [würde das nichts bringen]. Aber an uns selbst, da können wir es erkennen; denn alle die Kampfes- und Trübsalsstunden, die wir durchgemacht, sie haben uns etwas gebracht, etwas Kostbares, darum wir sie nicht missen wollten, so schwer sie damals auch für uns waren. Wir wissen auch, daß alles, was uns die Zukunft noch bringen wird, es mag sein, so schwer es wolle, uns von Gott geschickt ist, damit wir daran wachsen, wenn wir es überwinden in seiner Kraft. Darum sind wir still und ruhig: Es kann uns nichts geschehen, als was er hat ersehen, und wasuns heilsam sei.¦32¿ Kampf – das ist unser Leben. Man kann dasWort auf zweierlei Weise aussprechen. Traurig und verdrossen: so tun es die meisten Menschen. Ergeben und mutig: So wollen wir es sprechen und den rechten Kampf kämpfen. Kämpfen müssen ja alle Menschen, aber sie haben nichts davon, sie kommen nicht innerlich voran, sie werden nicht innerlich fest und reich. Sie haben nichts vom Leben, könnte man in einem andern Sinn sagen, als man es gewöhnlich tut. Denn es heißt: «Und sojemand auch kämpft, wird er doch nicht gekrönt, er kämpfe denn recht.» Er kämpfe denn recht? Was heißt das? Daß in dem Kämpfen und Ringen unser Sinn zu Gott geführt wird. Das will Gott; darum kann er uns dasLeben nicht leicht machen.

Morgenpredigt Sonntag, 12.Juli 1903, St. Nicolai Psalm 23: Der Herr ist mein Hirte¦33¿

Ein einfaches Hirtenlied habt ihr gehört. Und wenn man die 10 schönsten Gedichte auf der Welt zusammenstellte, würde ich sagen, daß es dazu gehört. Es liegt Sternenhimmel drüber und weihevolle Stille des Abends, und drin – Herzensfriede. «Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.» Darüber ist schön zu predigen und schwer zu predigen. Schön gepredigt darüber hat unser Herr, da er sprach: «Sehet dieVögel unter dem Himmel an, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen, und 32 [Nach Paul Fleming: In allen meinen Taten, Str. 3.] 33 [Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele; er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, undich werde bleiben im Hause desHerrn immerdar.]

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euer himmlischer Vater nährt sie doch» [Mt. 6,26]. Und an wie vielen Menschen hat sich dieses «Mir wird nichts mangeln» erfüllt. Sie nannten nichts mehr ihr eigen, aber sie vertrauten auf ihren Hirten und sind nicht zuschanden geworden. Gebe Gott, daß wir in allen Lagen unseres Lebens gläubig beten können «Der Herr ist mein Hirte.» Aber wie viele sind untergegangen, weil ihnen eine liebende Mutter, eine rettende Hand, ein schützendes Dach, ein Stück Brot mangelte. Wer zählt sie, die verirrten und hungernden Schafe auf dieser Erde? Haben sie denn keinen guten Hirten? Ich gestehe euch, daß ich darüber nichts sagen kann. Alles, was ich gelesen habe darüber, daß das Elend auf derWelt zuletzt doch mit Gottes Güte übereinstimmt, hat mich nie befriedigt, und was ich mir selbst zurechtgelegt habe ebenso wenig. Manchmal denke ich, daß für Gott, der auf das Geistige sieht, das Irdische viel weniger Bedeutung hat als für uns, und daß wir gerade darum seine Wege hierin nicht verstehen. Dann wieder denke ich, daß wir schuld sind; wenn wir mehr Liebe hätten, dann könnte auch der Ärmste und Elendeste des Morgens beim Erwachen zuversichtlich sagen: «Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.» So aber fehlen ihm die Menschen, die er zu seinen vielen armen und verlassenen Schafen senden könnte. «Der Herr ist mein Hirte.» In der Niederung der irdischen Bedürfnisse bleibt es noch dunkel, denn irdische Nebel wogen um das Himmelslicht. Aber je höher man zum reinen Geistigen emporsteigt, desto reiner erstrahlt es. Es erquickt meine Seele! Hast du das denn schon empfunden, was das heißt: «Er erquicket meine Seele»? Durch Dürre des Lebens ging’s hindurch, durch alltägliche Sorgen und Plackereien, dann plötzlich eine Stunde der Freude. Eine Stunde, nein, washat denn die Zeit damit zu tun, eine Viertelstunde, eine Minute Freude! Was soll ich sie euch aufzählen, die Erquickungen? Für den einen sind sie so, für den andern so! Manchmal sind die großen Freuden kleine Erquickungen, und die kleinen große, und das Äußere der Erquickung, was man davon erzählen kann, besagt für das, was sie wirklich war, so wenig als das Stationsgebäude für die Stadt, die sich dahinter ausdehnt. Erquickung? Es war ein Sonnenstrahl an einem trüben Morgen, ein Glockenton ins unruhige Gemüt, ein glückliches Kinderlächeln, ein Mensch, den wir plötzlich verstanden, vielleicht redeten wir mit ihm, vielleicht war es ein Gedanke, den wir in einem Buch lasen. Erquickung? Es war ein Wort der Ermutigung, eine unverhoffte Anerkennung, ein Vergeben, ein Echo eines unserer Worte oder einer Tat. Erquickung – es war kein äußerer Anlaß, aber ein stiller Friede, der uns überkam wie ein lächelnder Traum, ein Atemzug ausfreier Brust. Aber ich fürchte, ihr und ich, wir haben es nicht immer gewußt: Das ist der Herr, der unsere Seele erquicken will! Die Menschen sind wie unachtsame Wanderer, die auf Aussichtspunkte losgehen und die

Der Herr ist mein Hirte

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Quelle nicht hören, die still am Wege quillt. Sie gehen vorüber und merken es nicht, daß sie über der Freude einen Augenblick rasten und weilen sollten, daß er am Brunnen sitzt, der Herr, der mit uns freundlich reden will wie mit der Samariterin [Joh. 4,1– 30], uns vom Irdischen zum Geistigen führen, um unsere Seele zu erquicken. Sie wandeln nicht auf der Straße, auf der rechten, da sie der Herr führen will, sondern auf der selbstgewählten sonnverbrannten Höhe irdischer Geschäftigkeit, irdischer Erfolge und irdischer Ehren, wo keine Quellen frischen Wassers zu finden sind. Sie trinken an irdischen Quellen, aber sie dürsten nicht nach demWasser, dasder gute Hirte ihnen bietet, von dem er zu der Samariterin gesagt hat: Wer dieses Wasser trinkt, den wird nimmermehr dürsten [Joh. 4,14]. Sie wollen nicht an die Quellen gehen. Sie haben die Bibel – aber sie schlagen sie nicht auf. Von all den verborgenen Schätzen, von den Lebensworten, die darin sich finden, wissen sie nichts. Sie hören die Kirchenglocken läuten, aber sie dürsten nicht nach einer Stunde Sammlung. Was Gebet ist, wissen sie nicht mehr. Daß in jenen Augenblicken Gott unsere Seele mit Manna speist und mit Lebenswasser tränkt, ist ihnen verborgen. Auch die höchste Erquickung, Gutes tun und Barmherzigkeit, ist ihnen verborgen, und sie ahnen nicht, daß man darin immer wieder, wie durch eine innere Gemeinschaft mit dem höchsten Liebesgeist, den Glauben an Gott und den Glauben an die Menschheit wiederfindet. So sind sie wie Schafe, die keinen Hirten haben, und gehen ihre eigene Straße. Aber da wird es dunkel, die Straße führt von der Höhe herunter, und sie wandern im finstern Tal. Sie wissen, daß sie allein gehen, darum fürchten sie sich. Nun müssen sie ihn suchen, ob sie ihn finden möchten, und nach ihm rufen, ob er zu ihnen kommt. Ehe ein Mensch durch tiefes Unglück hindurch ist, weiß er gar nicht, was es heißt, einen Hirten haben, denn er weiß nicht, wases heißt: «Sein Stekken und Stab tröstet mich.» Trost, das ist mehr als Erquickung: Es ist die Harmonie, welche auf die gehäuften Dissonanzen folgt, der Lichtstrahl, welcher aus der Dunkelheit aufflammt. Und in diesem Lichtstrahl, da sehen sie plötzlich den Herrn neben sich stehen. Ist es nicht so? Mit manchen Menschen haben wir lange gelebt, aber wir kannten sie nicht; dann haben sie uns einmal getröstet, und da kannten wir sie; und Menschen, die wir kaum gesehen, sind durch ein Trostwort in einem Augenblick uns etwas geworden. So ist es auch vielen Menschen bestimmt, als die Verzagenden und die Trostbedürftigen, Jesus, den Freund der Seele, zu finden. Was besagen dagegen alle Leiden und alle Trübsal, die sie dazu durchmachen mußten? Auf dem alltäglichen Pfade fanden sie die Wasserquellen des Herrn nicht; aber nun hat er sie in die Wüste geführt, und da empören sie sich zuerst, sie murren, aber dann lernen sie, was es heißt, vor Durst nach geistiger Erquickung verschmachten, und aus ihrem eigenen har-

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ten Herzen schlägt er ihnen dann mit seinem Stab eine Quelle, wie MosesWasser aus dem Felsen schlug [Ex. 17,6]. Jahrhunderte sind vergangen, seitdem ein frommer Hirt vor seiner Herde herzog und sinnend wie in einem Gleichnis, das er an sich selbst erlebte, das ganze Evangelium ahnte wie ein Prophet und halblaut Vers für Vers zu einem Psalm zusammenfügte, den unser Herr dann geheiligt hat, indem er seine schönsten Sprüche und Gleichnisse daraus nahm. Waser gesehn: Es ist dasewige Gleichnis jedes Menschenlebens. Jeder muß gehen denWeg, den ihm der Herr weist. Für die einen geht er eben durch die Niederung, für die andern über Berg und Tal, durch Höhen undTiefen, für die andern durch trostlose Wüste, und wir alle, wir gehen geschlossenen Auges und wissen nicht, wohin das morgige Wegstück uns bringt. Aber eins wissen wir: Er führt uns, er führt alle Menschen. Und wenn wir einst hinübergeschritten sind in die leuchtende Helle, womit die untergehende Sonne die dunkle Welt umstrahlt, dann steht er da, und wir blicken zurück auf denWeg, den wir über dieser Erde zurückgelegt haben undverstehen nun alles, daß dasunser Weg war, um zu ihm zu kommen; und auftun wird sich insVollkommene die stückweise Erkenntnis von seiner Führung, die wir uns in diesem Leben in schönen und traurigen Stunden zusammengekämpft und zusammengebetet haben. «Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich es stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleich wie ich erkannt bin» [I Kor. 13,12].

Nachmittagspredigt Sonntag, 19.Juli 1903, St. Nicolai

Apk. 2,10: [Sei getreu bis an denTod, so will ich dir die Krone desLebens geben]

Oft wird der Pfarrer etwas gefragt, worauf er keine Antwort weiß. Wie weit geht unsere Verantwortung, fragte mich jüngst jemand. Es handelte sich um eine Person, die in ihrem Dienste stand und die sie nicht mehr gebrauchen konnte. Aber sie hatte Angst, daß, wenn sie dieselbe entließe, jene unbeaufsichtigt Schaden leiden könnte und auf Abwege geraten. Darum: Wie weit geht meine Verantwortung? Und ich konnte keine Antwort geben, denn unsere Verantwortung gegen die Menschen ist eben ohne Ende. Das Merkwürdige an unserer Religion ist, daß sie eben keine Grenzen gelten läßt; sie sagt nicht: Bis da und da hin geht deine Pflicht; sie führt einen nicht auf einen umzäunten Weg, sondern stellt esjedem anheim. Wie weit geht unsere Verantwortung? Eine Frage, die sich uns oft stellte. Wenn einer von euch mir sagte: Mir ist es noch nicht vorgekom-

Sei getreu bis an den Tod

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men, dann müßte ich antworten: Dann weißt du noch nicht, was Christ sein heißt. Verantwortung [besteht] nicht nur, wo sie angezeigt ist: Pfarrer gegen seine Gemeindeglieder, Lehrer gegen seine Schüler, Eltern gegen Kinder, Meister gegen Untergebene, sondern wir haben eine Verantwortung alle gegen alle. Der Mensch, mit dem wir zufällig eine Minute zusammentreffen und dem wir etwas helfen können, ob mit irdischen Dingen oder geistig, gegen den [haben wir] eine Verantwortung. Das bequeme Wort: Das geht mich nichts an, das gibt es für einen Christen nicht. Gott will nicht, daß wir einen Augenblick zur Ruhe mit uns selbst kommen. Darum ist das Christentum so eine schwere Religion. Gott stellt die Menschen in dieWelt hinein und sagt ihnen nun nicht, dasund das mußt du verrichten, sondern nur: Sei getreu! Sei getreu gegen diejenigen, die dir auf deinem Wege begegnen, Sei getreu über das, was ich dir selbst an geistigen und irdischen Gaben mitgebe und nütze es alles ausin meinem Geiste. [Er sagt] nicht wie. Im Gleichnis von den anvertrauten Pfunden [Mt. 25,14–30] sagt der Herr den Knechten nicht: Du machst dies, du machst das, sondern er gibt einem jeglichen nach seinem Vermögen.

So wird er die Menschen einst fragen: Warst du getreu über Geld und Gaben? [Dabei besteht] Gleichheit: [Er fragt] nicht nur die Großen, sondern auch die Kleinen. Ihr denkt gewiß oft, was kann denn ich tun in derWelt? Wenn ich in dem Kreis, in dem ich stehe, meine Pflicht tue, dann ist alles [in Ordnung]. Aber nun laß einmal dasWörtlein getreu mit dir reden: 1) viel mehr als Pflicht, 2) viel weitere Wirksamkeit. Es wird dir sagen: Das und dashast du unterlassen. Es führt uns heraus.

Getreu sein gegen unser innerstes, unvergängliches Wesen, dies ist die höchste Treue. Treu gegen seine eigene Seele. [Wenn wir] um uns blicken, [sehen wir]: Das ist die allgemeinste, die größte Sünde: nicht treu sein gegen seine Seele. [Sie hat] verschiedene Namen: Gleichgültigkeit, Genußsucht, Weltliebe, Leichtsinn etc. – aber es ist eine Sünde, nicht treu zu sein gegen die Seele. Jesu ernstestes Wort: «Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, damit er seine Seele wieder löse» [Mt. 16,26]? In der ersten Zeit des Christentums, da wußten sie es besser als wir heute, was es heißt: treu gegen sich selbst. Entscheiden: Seele oder irdisches Leben: bis in denTod.¦34¿

34 [Nach einigen Stichwörtern heißen die letzten Sätze:] Das Leben ist ein Geheimnis. Gott wirkt durch Menschen.

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Nachmittagspredigt Sonntag, 2. August 1903, St. Nicolai

Lk. 17,20 f.: DasReich Gottes ist inwendig in euch¦35¿ Wann kommt das Reich Gottes? Die Frage ist alt und neu, und sie folgt dem Christentum wie sein Schatten. Wann kommt dasReich Gottes? So fragten die Pharisäer den Herrn. Manche meinten es spöttisch, andere ernst. Wann kommt das Reich Gottes? So fragten die ersten Christen untereinander. Sie zählten die Stunden, sie schauten nach den Zeichen aus, und wenn sie Verfolgung und Trübsal erduldeten, frohlockten sie, denn sie sagten: Nun ist das Reich nahe. Sie warteten, daß der Himmel sich auftue und das ersehnte himmlische Jerusalem sich auf die Erde niederlasse. Man muss die letzten Kapitel des Hebräerbriefes und der Offenbarung desJohannes lesen, um mit ihnen zu fühlen und die überschwenglichen Hoffnungen zu fassen, in denen sie lebten. Und dasReich kam nicht – daswar dasschmerzvolle Erlebnis der ersten Generationen, und unter den Gläubigen selbst standen Spötter auf, die machten sich lustig über die Hoffnung, in der manbis dahin gelebt, wie im 2. Petrusbrief und im Judasbrief steht. Die wahren Gläubigen aber getrösteten sich und ergaben sich darein, daß tausend Jahre vor dem Herrn sind als wie ein Tag [Ps. 90,4], und daß er, der Ewige, die Zeit anders mißt alswir kleinlebige Menschenkinder. Tausend Jahre sind vergangen, zweitausend – das Reich Gottes ist noch nicht da. Wir hören sie noch die Frage: Wann kommt das Reich Gottes? Wir wollen uns bescheiden: Wir meinen kein übernatürliches Reich Gottes, kein himmlisches Jerusalem, dessen Tore aus Perlen und dessen Fundamente aus Edelstein sind, sondern wir möchten nur eine Umgestaltung der irdischen Zustände und Verhältnisse durch das Evangelium, daß es in der Welt in allem christlich zuginge. Aber auch unser Reich Gottes kommt nicht. Wie oft müssen wir die Frage hören: Was ist denn durch das Christentum in der Welt besser geworden? Wie weit hat dieser Sauerteig den Teig durchsäuert? Und das, was wir als durch das Christentum gewirkt und verbessert anführen können, ist so wenig im Vergleich zu dem, was noch nicht vom Christentum berührt ist. Es wäre Grund, überreicher Grund zum mutlos werden – wenn das Wort des Herrn nicht wäre. Da ist einmal so ein Fall, wo wir sehen, wie 35 [Da er aber gefragt ward von den Pharisäern: Wann kommt dasReich Gottes? antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier! oder: da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.]

Das Reich

Gottes

ist inwendig in euch

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seine Worte durch die Jahrhunderte an Wahrheit nur gewinnen, und wie wir sie viel besser und viel klarer verstehen als seine Zuhörer, auf Grund dessen, was seither vorgegangen ist. Die, welche seine Worte aus seinem Munde vernahmen, die konnten es noch nicht so verstehen wie wir, was es hieß: Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier! oder: Da ist es! Wir aber, wir haben ein Buch des Kirchenvaters Augustin, wo er drin beschreibt, wie die katholische Kirche das Reich Gottes auf der Erde verwirklicht – und wir brauchen nur die Augen aufzutun, um zu sehen, daßje weiter sie sich ausgebreitet hat undje mächtiger sie geworden, desto weniger sie das Reich Gottes auf Erden darstellt. So oft man gesagt hat: Da und da ist dasReich Gottes auf Erden, da brachte alsbald Gewalttat, Zwietracht, Unordnung und Blut den Beweis, daß es eben nicht da gewesen. Ihr kennt die Geschichte des Thomas Münzer,¦36¿ der zur Reformationszeit in der Stadt Münster das Reich Gottes aufrichten wollte und in Krieg und Aufruhr umkam. Das Reich Gottes ist eben kein Reich. Ein Reich beruht auf sichtbaren Einrichtungen und Gesetzen, das Reich Gottes aber auf den Menschen, nur auf Menschen. Nur auf Menschen. Ich glaube, man muß uns das ganz besonders sagen, weil wir, wenn ich unsere Zeit richtig beurteile, ein zu großes Gewicht auf christliche Vereine und Gesellschaften legen, um irgend etwas hinauszuführen, und darüber vergessen, daß alles auf die Menschen, auf uns selbst ankommt. «Das Reich Gottes ist inwendig in euch.» Natürlich. Jeder [fühlt] sein Glück inwendig in sich selbst. Das ist eine allgemeine Lebensweisheit. Kinder machen Pläne fürs Leben: Wenn ich dasund dashabe, dann bin ich glücklich. Nachher [merken sie, daß man vom] Glück nur so viel [findet], wie man von sich selbst hinzutut. [Daß diese] einfache Lebensweisheit zusammenstimmt mit Gedanken über das Höchste, wundert einen. Jesus [hat auch] Sprichwörter [verwendet]: «Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch» [Mt. 7,12]. Manchmal hat er seine Lehre in ein festes Sprichwort gefaßt. Überall ist es so.¦37¿ Es ist dasselbe und doch viel mehr.¦38¿ 36 [Thomas Münzer wirkte als Prediger eines enthusiastischen Christentums und Revolutionär im Bauernkrieg und wurde nach der entscheidenden Niederlage 1525 enthauptet, mit der «Aufrichtung des Gottesreiches in Münster» hatte er jedoch nichts zu tun.]

37 [Dazu sind stichwortartig Beispiele angeführt:] Zahlen Marktfrau – Gewinn. Astronom – Sterne. Ton – Musik (unser Herz ergreifen, wenn sie zusammengesetzt werden). Farben – auf ein Stück Leinwand: Steht lebendig vor uns, und doch nur einfache, schlichte Farbe. 38 [Auch dazu Stichwörter:] Glück – Reich Gottes. Übergang. Geistiges. Sokrates: Leute zum Nachdenken über das wahre Glück. Wahre Glück suchen und Reich Gottes finden. Kostbare Perle [Mt. 13,45 f.]. Gott in uns herrschen lassen. Unabhängigkeit vom Äußeren. Inwendig Ruhe und Frieden mit Gott zu haben.

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Merkwürdig: Wenn ich nachdenke, wasich euch in der Predigt sagen will, dann kommt ein Punkt, wo ich selbst unsicher bin. Frage: Verstehen sie es? Ich möchte es deutlicher machen, kann es doch nicht deutlicher machen; es ist ja fast jedes Wort zu viel, weil es so weit zurückbleibt hinter dem, was es beschreiben will. Wie soll ich euch das sagen, wasdasist: «Das Reich Gottes ist inwendig in euch»? Am liebsten würde ich sagen: Besinnt euch auf Stunden, da ihr euch wahrhaft glücklich fühltet, so ein Glück, wovon ihr euch sagtet: Das kann mir niemand mehr nehmen. Instrumente haben ihren Ton in sich. Wenn es anders [wäre], könnte man so viel Mal mit dem Bogen darüber fahren, noch so geschickt, [es würde] nicht klingen. So kommt es mir auch immer vor, wenn ich zu euch von dem Evangelium reden darf, und es mir manchmal so schön und doch wieder so schwer scheint, daß ihr eben euren Ton in euch tragt, und die schwachen Worte, die ich rede, in eurem inneren Herzen eine Melodie wiederklingen lassen, die drin ruht. [Das ist mein] Trost, wenn ich meine, es euch nicht so recht habe sagen können.¦39¿

Morgenpredigt Sonntag, 9. August 1903, St. Nicolai

Lk. 14,28–33: Wer ist aber unter euch, der einen Turm bauen will?¦40¿ «Wo nicht, so schickt er Botschaft, wenn jener noch ferne ist und bittet um Frieden.» Da hätten wir also Jesus in der Gesellschaft der vernünftigen Menschen! Wie sie sagt er: Nur nichts unternehmen, was über die Kräfte hinausgeht. So wenigstens verstand ihn ein Bekannter von mir aus Mülhausen, der die Theorie zu der Seinigen gemacht hatte, es sei den einen Menschen gegeben, «den Glauben zu haben», wie er sich ausdrückte, und den andern nicht, und diese andern wären deshalb entschuldigt und brauchten gar keine Anstrengungen zu machen, christlich fromm zu sein, weil ihre Kräfte von Natur eben dazu doch nicht ausreichten. Ich fürchte nur, er hat diese vernünftige Theorie aus Bequem39 [Der Schluß besteht ausStichwörtern.] 40 [Wer ist aber unter euch, der einen Turm bauen will, und sitzt nicht zuvor und überschlägt die Kosten, ob er’s habe, hinauszuführen? auf daß nicht, wo er den Grund gelegt hat und kann’s nicht hinausführen, alle, die es sehen, fangen an, sein zu spotten, und sagen: Dieser Mensch hob an zubauen, undkann’s nicht hinausführen. Oder welcher König will sich begeben in einen Streit wider einen andern König und sitzt nicht zuvor und ratschlagt, ob er könne mit zehntausend begegnen dem, der über ihn kommt mit zwanzigtausend? Wo nicht, so schickt er Botschaft, wenn jener noch ferne ist, und bittet um Frieden. Also auch einjeglicher unter euch, der nicht absagt allem, waser hat, kann nicht meinJünger sein.]

Werist aber unter euch

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lichkeit für sich aufgestellt, denn er gehörte eben zu diesen andern. Im Sinn desHerrn Jesus liegt sie wohl nicht. Vernünftig anJesu Ausspruch ist eben nur das, daß er nichts Unüberlegtes will. Die Menschen sollen sich klar werden, daß, wenn sie seine Jünger sein wollen, sie etwas Außerordentliches leisten müssen. Er stellt uns die Sache nicht leicht, sondern schwer vor – und das ist nun gerade das Gegenteil von der menschlichen Vernünftigkeit. Wenn einer einen andern zu einem Geschäft bereden will, dann stellt er ihm nicht alle Schwierigkeiten dar, sondern zeigt ihm die Sache von der unverfänglichsten Seite und denkt, wenn er einmal drin ist, wird man schon weiter sehen. Geradeso macht’s die Regierung, wenn sie etwas vom Lande bewilligt haben will: Sie teilt ihre Forderungen in Raten ein, und nachher kommen die Nachtragsforderungen. Aber nicht so Jesus: Er stellt die ganze Forderung auf einmal. Und zwar kommt er in unserer Zeit an jeden Menschen zwei oder dreimal mit seiner Forderung. Zuerst in der Konfirmation. Auf der Schwelle vom Kindes- zumJünglingsalter verlangt er, daß wir ihm geloben sollen, seine Nachfolger zu werden. Man hat gesagt, das ist zu schwer, zu verantwortungsvoll, besonders in diesem Alter. Heute sind, wie ihr wißt, die Ansichten über die Konfirmation geteilt. Die einen sagen, die Bedeutung der Konfirmation liege darin, daß die Kirche diese Kinder als erwachsene Mitglieder annimmt, weil sie es eben zu schwer finden, daß die Kinder versprechen sollen, ihr ganzes Leben Christi Jünger sein zu wollen. Die andern aber halten daran, daß die Konfirmation ein Gelöbnis sei. Der Herr würde auf der Seite der letzteren stehen, er, der den Grundsatz vertritt, daß man es den Menschen nicht schwer genug machen kann, und er wäre nicht dafür, daß man den Kindern kein Gelöbnis abnehme. So ist auch die kirchliche Einsegnung der Ehe ein Gelöbnis, daß diejenigen, welche zusammen ins Gotteshaus treten, ihren Bund zu bestätigen, es zusammen geloben, christlich miteinander zu leben und danach zu trachten wie eines dasandere mit sich in den Himmel bringe. Und die Eltern und Paten, die ein Kindlein zurTaufe bringen, die geloben für dieses Kindlein, daß sie es christlich vermahnen und erziehen wollen und ihm ein christliches Leben vorleben wollen. Meint ihr, daß es an der Zeit ist, daß man ihnen vorhalte, wie groß und schwer das ist, was sie geloben? Ich meine, man kann es ihnen nicht schwer und heilig genug vorstellen. Nicht leicht, sondern schwer soll man es den Menschen machen. Denn je schwerer, desto leichter wird es den Menschen. Einer von diesen alten Fabrikgründern in Mülhausen pflegte zu sagen: Wenn ich etwas habe, das schnell fertig werden muß, übertrage ich es einem, der mit Arbeit überladen ist, denn dann bin ich sicher, daß es schnell und gut erledigt wird. So meine ich, es ist so wenig Christentum unter uns,

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weil zu wenig von uns verlangt wird. Es hat es heute niemand schwer, ein Christ zu sein, aber dasWenige, waswir verlangen, daßjeder sich zu einer christlichen Gemeinde halte, in das Gotteshaus komme, sich an seiner Bibel erbaue, daserreichen wir nicht. Aber wenn nun eine Verfolgung hereinbräche, wenn die Menschen ihr Ansehen, ihr Vermögen, ihr Leben aufs Spiel setzen müßten, um sich zur christlichen Gemeinde zu bekennen, dann würden sie im Gottesdienst hier sitzen bis auf die letzte Staffel der Kanzel hinauf, daß es eine Lust wäre, Pfarrer in Straßburg zu sein, und diejenigen, denen esjetzt zuviel ist, in die Kirche zu kommen, von denen wir nicht einmal wissen, ob noch ein Fünkchen Christentum in ihnen schlummert, die würden mit Freuden für ihren Glauben sterben. So in den Zeiten, wo Gott viel von den Menschen verlangt hat, da sind arme schwache Menschen Helden geworden, jene Helden und Märtyrer der alten Kirche, die wir heute noch bewundern. Blickt um euch: Wir in der geordneten Kirche, wir verlangen wenig und haben die große Masse der Gleichgültigen. Aber die Sektengemeinschaften und die Heilsarmee, die verlangen 10-, 100mal mehr als wir, sie verlangen persönliche Aufopferung, sie verlangen, daß man Spott und Lächerlichkeit auf sich nimmt – und diese erreichen etwas, wo die Kirche nichts mehr erreicht, sie machen aus gleichgültigen Menschen begeisterte Christen, warum? weil sie mehr verlangen. Ihr wißt, dass ein Ton davon herrührt, daß eine Saite hin und her schwingt, vibriert. Aber wir hören einen Ton erst, wenn die Schwingungen eine gewisse Höhe erreichen. So sind auch unter den Gleichgültigen viele, die den Ton des Christentums noch nicht vernehmen, weil die Schwingungszahl noch nicht hoch genug ist. Wenn man einen schweren Wagen die Höhe heraufbringen will, so darf man nicht hübsch bedächtig und langsam fahren wie in der Ebene, sonst geht’s nicht, sondern man muß einen Anlauf nehmen und vorwärts hasten, dann geht es von selbst. Ich hätte eine Frage an euch: Habt ihr euch das Christentum schwer genug gemacht? Ich denke mir das so. In früheren Zeiten hat Gott den Menschen Großes aufgezwungen und ihnen das Christentum schwer gemacht im Erdulden und Leiden. Jetzt ist es anders geworden. Es ist nicht mehr die Zeit der großen Leiden, sondern die Zeit der großen Aufgaben. Unsere Zeit ist ernst, es ist die soziale Zeit. Sie hat für jeden von uns eine bestimmte Forderung, eine bestimmte Aufgabe, die gerade dieser erfüllen kann, erfüllen muß, damit sie erfüllt wird. Es kommt mir vor, als hätte man das Soziale in unserer Zeit in falschem Sinne verstanden, als könnten uns nur die Gesellschaften helfen, so für jede Notlage eine besondere Gesellschaft. Ihr wißt, ich bin der Letzte, der etwas gegen die Gesellschaften sagt, aber es kommt mir immer vor, als nähmen sie auch viel Gutes weg, weil sie die einzelnen Menschen von Aufgaben entbinden. Es scheint mir manchmal, als sähe ich eine große

Gott aber derHoffnung

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Maschine, und die Menschen stehen drum herum, und einer sagt zum andern: eine schöne Maschine! Eine schöne Maschine – und wie genau und kompliziert sie gearbeitet ist. Ja, eine schöne Maschine! Aber warum läuft sie nicht? Ja, warum läuft sie nicht? Sie suchen nach dem Fehler, stellen die Schieber anders, drehen hier, drücken dort – eine so schöne Maschine, und sie läuft nicht! Ja, warum? S’ist kein Dampf drin, sondern nur lauwarmes Wasser! Man muß sie heizen.¦41¿

Nachmittagspredigt Sonntag, 8. November 1903, [St. Nicolai]¦42¿

Röm. 15,13: Gott aber der Hoffnung¦43¿

Es sind manche Sonntage vergangen, seitdem ich zum letzten Mal euch die Nachmittagspredigt gehalten habe; und wenn ich es nun heute wieder tue, so habe ich wohl das Recht, meine ich, euch mit einem Wunsche zu begrüßen und habe deshalb gerade diesen Spruch gewählt,

denn man könnte wohl kaum einen schöneren finden; klingen doch schon dieWorte «Freude und Friede» wie Musik. Können wir uns denn etwas Schöneres denken als ein Herz voll Freude, noch mehr, ein Herz voll Friede? Und ist es nicht jetzt gerade die Zeit, vor euch mit einem Wunsche hinzutreten? Zwar scheint die Spätherbstsonne lachend freundlich vom Himmel, aber sie kann uns nicht täuschen: Morgen, übermorgen, überübermorgen früh, wenn wir erwachen, ist das letzte Lächeln verschwunden, und in trüben Tagen gehn wir demWinter entgegen. Und wenn das Dunkel sich jetzt über der Erde ausbreitet, und ein Morgen trüber ersteht als der andere, dann sehnen wir uns doppelt nach Freude und Friede; wenn die Sonne draußen erbleicht, sehnen wir uns nach Freudenlicht im Herzen, und wenn die Stürme draußen an Tür und Fenster rütteln, sehnen wir uns doppelt nach Frieden im Herzen. Ich weiß, es sind welche unter euch, die sehen den Winter kommen mit schweren Sorgen, mit Sorgen für irdische Notdurft, für Nahrung, für Kleidung, für Holz und Kohlen; mit Sorgen für die Gesundheit, für die ihrige und für die, die um sie sind. Jenen möchte ich es ganz besonders zurufen: «Gott fülle euch mit Freude und Friede.» Ich kann es tun mit voller Zuversicht, denn Freude und Friede sind ja Gaben Gottes, Gaben, die er ins Herz legt. 41 [Das Manuskript hat von hier an keine ganzen Sätze mehr.] 42 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer am Nachmittag in St. Nicolai gepredigt.] 43 [Der Gott aber der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, daß ihr völlige Hoffnung habet durch die Kraft desheiligen Geistes.]

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Wir Menschen irren ja: Wir meinen, Freude und Friede sind die Eindrücke, welche die Ereignisse in uns zurücklassen; um freudig zu sein, müsse man Freudvolles erleben, um friedvoll zu sein, Friedvolles. Aber es ist ja nicht so, undje weiter wir im Leben vorankommen, je mehr erkennen wir: Es ist nicht so. Auch die freudigsten Erlebnisse geben keine wahre Freude: Ist es denn nicht wahr, daß wir die schönsten Augenblicke unseres Lebens nicht recht genossen haben, weil eine Unruhe, ein neues Verlangen uns darüber hinaustrieb? Es ist mit den Ereignissen des Lebens wie mit den Gegenständen der Welt: Sie leuchten nicht von selbst; sie haben keinen eigenen Glanz, sondern aller Glanz kommt ihnen von oben; denn was leuchtet, was flimmert hienieden, es erhält seinen Glanz von der Sonne, und wenn die Sonne nicht leuchtet, ist es blind. So auch unsere Erlebnisse: Nicht von selbst erleuchten sie unser Herz mit Freude und Friede, sondern sie müssen ihren Glanz von oben empfangen. Wir können uns nicht von uns selbst freuen, sondern Gott muß uns die Freude schenken. Und wie sich die irdische Sonne am blendendsten spiegelt, wenn sie gegen dunkle Wolken scheint, so vermag auch der Herr seine Freude und seinen Frieden hell in unsere Herzen scheinen zu lassen, wenn es dunkel darin ist. Wenn ich reden soll von dem, was ich an mir selbst erlebt habe, so kann ich es ruhig sagen: Die Augenblicke des Glückes und der Befriedigung sind es nicht gewesen, wo es mir aufging, was Friede und Freude sei, sondern die Augenblicke des Kampfes, der Sorgen und des Unglücks, wo ich plötzlich über mich selbst erstaunte und von Friede und Freude überwältigt wurde. Und seither weiß ich es: Friede und Freude sind eine Gabe Gottes. Was er einem Menschen beschert hat, ob viel oder wenig Glück, viel oder wenig Unruhe, das bedeutet nichts für das, was er ihm geben will an Friede und Freude. In einem Perlmutterknopf spiegelt sich die Sonne wunderbarer als im herrlichsten Spiegel. Darum wünsche ich euch und mir, wo wir dem Winter und seinen mannigfachen Sorgen entgegengehen, Friede und Freude von Gott und daß wir völlige Hoffnung haben durch die Kraft des heiligen Geistes. Der natürliche Mensch weiß nicht, was Hoffnung ist; er weiß nur, was heißt, etwas «erhoffen», und sein Erhoffen ist etwas Qualvolles und Unruhiges, ein Sichausstrecken nach einer unsichern Zukunft. Wir aber wissen, was die «völlige Hoffnung» ist, ein Dahingehen mit geschlossenen Augen, umflutet von Licht und Helligkeit, eben der Friede und die Freude Gottes in unsern Herzen. Wir hoffen nicht, sondern er erfüllt uns mit Hoffnung; darum heißt es so schön im Texte: «daß ihr völlige Hoffnung habet durch die Kraft des heiligen Geistes.» Friede, Freude, Hoffnung: Was sind sie anders als der göttliche Geist, der in unsern Herzen ist und weht, als die göttliche

Opfere

Gott Dank

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Kraft, die in uns Kraft wird und uns hinaushebt über alles irdische Erleben und stille macht in ihm. «Gib dich zufrieden und sei stille in dem Gotte deines Lebens; in ihm ruht aller Freuden Fülle, ohn ihn mühst du dich vergebens; er ist dein Quell und deine Sonne, scheint täglich hell zu deiner Wonne. Gib dich zufrieden!»¦44¿

Nachmittagspredigt Sonntag, 22. November 1903, [St. Nicolai]¦45¿ Ernte- und Dankfest

Ps. 50,14: Opfere Gott Dank und bezahle dem Höchsten deine Gelübde

Das Erntefest in der Stadt ist heute etwas Trauriges; man wird nicht so recht warm dabei. Es will uns bedünken, als ob es für uns kein rechtes Erntefest gäbe, weil wir nichts ernten; wir besitzen kein Feld, keine Matte, keinen Garten, nicht einmal einen Obstbaum; waswir brauchen, kaufen wir ein, sackweise, pfundweise oder dutzendweise, auf dem Markt oder im Laden, kurz, wir können nicht dieselbe natürliche Freudigkeit empfinden wie die auf dem Dorf, welche heute, dem Ruf der Glocken folgend, zum Ernte- und Dankfest in die Kirche gehen. Aber darum meine ich noch nicht wie manche Leute, man sollte deswegen in der Stadt kein Erntefest feiern. Im Gegenteil bin ich der Ansicht, daß es doch ein schönes und bedeutungsvolles Fest ist, auch für die Leute, die übers Straßenpflaster und nicht auf dem Weg durch die herbstlich erschöpfte Flur in die Kirche gekommen sind, und zwar aus zwei Gründen. Zum ersten heißt es «Freuet euch mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden» [Röm. 12,15]. Nun wollen wir uns am Erntefest freuen mit den Fröhlichen und danken mit den Dankenden, sonst wäre es ja nicht christlich. Ja noch mehr: danken an Stelle derer, die nicht danken. Es gibt ja viele, die haben Scheune und Speicher und Keller voll und denken nicht daran, Gott zu danken, sondern überschlagen nur, was es ihnen einbringt. So wollen wir denn an ihrer Stelle danken, jetzt, heut nachmittag, wir, die wir keinen Acker und kein Feld haben und alles, was Gott in der Natur hervorbringt, nur aus zweiter 44 [Paul Gerhardt: Gib dich zufrieden, Str. 1.] 45 [Nach dem Kirchenboten hielt Schweitzer den Nachmittagsgottesdienst in St. Nicolai.]

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Hand haben; ich glaube, gerade unser Dank wird dann Gott eine besondere Freude machen. Zum zweiten aber brauchen wir das Ernte- und Dankfest für uns selbst, daß wir des Dankens nicht vergessen. Weil wir unsern Erlös nicht aus der Erde ziehen, sondern ihn wöchentlich, monatlich oder vierteljährlich in kaltem Geld aus der Hand irgend eines Menschen empfangen, sind wir gar leicht geneigt, zu vergessen, daß auch das vom Herrn kommt. Darum, an dem Tage, wo ihm die andern für die Gaben des Landes danken, wollen wir ihm danken für das, was er uns gegeben. Auch wir wollen unsern Abrechnungstag mit ihm halten und ihm Dank opfern und unsere Gelübde bezahlen. Es ist etwas ganz Merkwürdiges um das Danken. Gott brauchte ja den Dank der Menschen nicht; ja die Menschen selbst nicht, ja dieWelt nicht, ja nichts außer ihm. Er ist sich selbst genug. Und wenn er nun dennoch eine Welt und Menschen darauf erschaffen hat, so meine ich, ist es in letzter Linie darum, daß alles, was er in dieWelt hineinlegt, ihm durch die Menschen wieder zurückkehre. Gott ist dasunendliche Meer, das in sich zurückflutet. Daß die Menschen ihm in irgendeiner Form daszurückbringen, waser in die Erde gelegt hat, dasist so etwas wie ein göttliches Bedürfnis in ihm. Gott braucht unsern Dank; so fließen die Flüsse in den Ozean zurück und füllen ihn nicht, denn sie sind genährt von denWolken desHimmels, die sich ausdem Meere erheben und sich an den Bergen entleeren. Darum liegt etwas Tiefes und Wahres in den Opfern. Gewiß, jene Menschen, die Gott die Erstgeburt des Viehs und die Erstlinge der Früchte des Feldes darbrachten, sie besaßen keine vollkommene Erkenntnis, und doch, sie ahnten, daß Gott will, daß seine Wohltaten und seine Gaben, alles, was er in dieWelt hineingelegt hat, durch die Menschen ihm wiederkehren. So ist es auch mit den Gelübden. Es ist ja eine ganz rohe Frömmigkeit, die zu Gott spricht: Wenn du mir dies und das gelingen läßt, so will ich das und das dafür tun. Aber jene Menschen, wenn auch viele nur eine Art Geschäft darin sahen, hatten doch den Drang, ihre Dankbarkeit Gott durch eineTat zu zeigen. Ich möchte, daß die Zeit der Opfer, Gelübde und Zehnten, wenn auch in einer höheren, geistigen Art, für uns wiederkehrte und daß wir – ihr versteht mich ja nicht falsch – etwas wieder Pharisäer würden, und zwar in der Frömmigkeit und Dankbarkeit durch dieTat. Wir haben in manchem eine zuvergeistigte Frömmigkeit – eine vergeistigte Frömmigkeit, die wir lieben, weil sie bequem ist. Wir reden gern im allgemeinen davon, daß unser irdischer Besitz, unser Gut, unser Geld, unsere Kraft, unser Wirken und unsere Arbeit im Dienst des Reiches Gottes steht; aber ich meine, jeder von uns stellt sich nicht genug etwas Einfaches, Greifbares darunter vor. Wir üben eine leblose Dank-

Opfere

Gott Dank

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sagung. Früher haben die Menschen mit ihren Opfern und Gelübden Gott lebendiger gedankt als wir. So meine ich, sollten auch wir wieder mehr zujener natürlichen, einfachen Dankbarkeit zurückkommen und jedesmal Gott von allem Guten, was er uns schenkt, einen Teil zurückgeben. Unser allzu vergeistigtes Christentum hat uns in mancher Hinsicht arm gemacht an einfachem, christlichem Handeln; wir sind daran arm geworden wie die Leute, die vom Lande in die Stadt gezogen sind, dort bessere Häuser und besseres Einkommen haben und doch ärmer sind, weil sie nicht mehr die Früchte ihres Landes und Bodens genießen. So ist auch unser Christentum an Erkenntnis und geistigem Reichtum fortgeschritten und doch arm geworden an den einfachsten Früchten desselben. Ich meine doch, Gott führt mit jedem Menschen Rechnung und wird ihm einst vorhalten: Siehe, das und das habe ich dir Gutes getan, diese Freude, dieses Glück habe ich dir beschert, was hast du mir davon dankbar zurückgebracht? Er will Zins haben, so hat’s ja der Herr im Gleichnis geschildert [Mt. 25,14–30], und wer keinen Zins vorweisen kann, den zählt er zu den unnützen Menschen in deren Händen alles Gute, womit er sie betraut hat, tot war. Wenn Gott einem Menschen Gutes tut, zündet er in ihm ein Licht an, damit es in die dunkle Welt hinausleuchte und denen, die in Not und Sorge sitzen, den Weg weise zu einem Menschen, der Gott ein Dankopfer zu bringen hat und es an ihnen abtragen will. Ich kannte eine Dame, die hatte ein Kind, das kränkelte. Als es sich aber kräftigte, war sie so von Dank gegen Gott erfüllt, daß sie an die zwei schwächlichen Knaben einer armen Frau die Mittel wandte, wie sie den Reichen zu Gebote stehen, sie in Heilbäder und Kurorte sandte, daß sie auch gekräftigt würden. Ich erfuhr es durch Zufall von ihr selbst und weiß, daß sie es in einfachem, frommem Sinn tat. Das sind Opfer und Gelübde, die Gott wohl gefallen, undjeder sollte sein Leben reich in solchen Opfern und Gelübden machen. Anwandlungen dazu haben wir schon alle gehabt. Ich könnte euch eine Geschichte erzählen, die uns allen nicht einmal, sondern schon öfter begegnet ist. Wir waren glücklich und sagten uns: Nun wollen wir etwas Gutes tun. Nach einigen Tagen hatten wir schon etwas davon abgestrichen; dann wurde derVorsatz immer bescheidener, bis wir ihn zuletzt ausführten, ohne es zu spüren. Es war aber dann kein Opfer mehr, denn zum Opfer gehört, daß man ein Opfer bringt. Sind wir nicht dieselben Menschen wie die, welche der Prophet zeichnet, die statt eines schönen Lammes eines nehmen, das hinkt und einen Fehl hat, um es Gott darzubringen? [Mal. 1,7– 14] Ich meine, es ist gut, daß wir Ernte- und Dankfest feiern. In diesen kurzen Augenblicken, wo ich diesen schönen Spruch: «Opfere Gott Dank und bezahle dem Höchsten deine Gelübde», euch vor Augen

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malte, ist, ich hoffe es, manches durch eure Seele gegangen, und es ist euch die Erinnerung überkommen von gar manchem, wofür ihr Gott noch nicht durch dieTat gedankt habt. Also verlaßt dieses Gotteshaus als solche, die wahrhaft Erntefest feiern wollen und die hingehen, dem Herrn ihre Opfer zu bringen. Alles Glück, was wir besitzen, ist kein wahres Glück, bevor wir es nicht bei Gott gelöst haben. Geh hin, bring deine Opfer dar. Kein Mensch wird sie dir nachrechnen und keiner wird wissen, daß, was du tust, ein Opfer ist für den Herrn. Aber Gott weiß es; er sieht die verborgenen Dankopfer – und er freut sich. Wir armen, schwachen Menschen können Gott erfreuen, und indem wir ihm zurückbringen, was er uns gegeben, ihn reicher machen! Ist das nicht etwas ganz Wunderbares? Er segne dieses Erntefest an euch und mir.

Morgenpredigt Sonntag, 29. November 1903, St. Nicolai 1. Advent

Mt. 7,11: So denn ihr, die ihr doch arg seid¦46¿

Es ist wieder Advent. «Wie soll ich dich empfangen, und wie begegn’ ich dir?»¦47¿, haben wir gesungen. Aber es ist kein stiller Advent, den die geheimnisvolle Winterdämmerung mitgebracht hat, sondern ein wilder, stürmischer Advent mit aufgetürmt dahinjagenden Wolken, daß man meint, es geht in Erfüllung sein Wort: «Ihr werdet sehen des Menschen Sohn kommend auf den Wolken des Himmels» [Mt. 24,30; 26,64]. Ja, möge er kommen über die Menschheit wie dieser Adventssturm, der alles bewegt und alles beugt. Das Adventsdunkel ist ein Bild des Dunkels, dessen wir uns bewußt werden, wenn wir ihn in seiner Herrlichkeit aufs neue aufgehen sehen, denn Sündennacht ruht über der Menschheit; und doch ist Advent «Licht in der Nacht». Darum laßt mich reden von unserer Sündhaftigkeit und von den guten Gaben, die Gott in die Menschennatur gelegt und durch seinen Sohn neu entfacht hat. Ich sage, von unserer Sündhaftigkeit, denn ich vermag nicht über die Sündhaftigkeit der Menschheit allgemein zu reden. Was nützt es, wenn man im allgemeinen von der Sündhaftigkeit redet und der Beispiele viel macht, wie man es oft hört und liest? Es macht keinen Ein46 [So denn ihr, die ihr doch arg seid, könnt dennoch euren Kindern gute Gaben geben, wie viel mehr wird euerVater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten!] 47 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 1.]

So denn ihr, die ihr doch arg seid

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druck; wir sagen’s und hören es, als handelte es sich um etwas uns Fremdes. Die menschliche Sündhaftigkeit ist nicht etwas, was man allgemein beschreiben kann, sondern wahrhaftig daran ist nur das, was man selbst erlebt hat. Wenn ein Mensch von Sündhaftigkeit zu andern spricht, so ist einjedes Wort, das er sagt, wenn er ein wahrhaftiger Mensch ist, seinem Gemüte abgerungen. Es ist ein Bekenntnis, ein Schrei seines eigenen Herzens, den ein anderer hört. Darum ist es schwer für den, welcher nicht in allgemeine Beschreibung verfallen will, der Angst hat vor wertloser Münze, von Sündhaftigkeit zu sprechen, und er muß sichjedesmal dazu überwinden. Aber er darf mit Worten geizen; denn ein einziges, wahrhaftiges Wort über Sündhaftigkeit ruft in dem Menschenherzen, das es versteht, mehr Gedanken wach als alle Rede. Wir können von unserer Sündhaftigkeit nicht genug sagen, von der Sündhaftigkeit von uns ehrbaren Menschen. Hinter jedem dieser äußerlich ehrbaren Leben steht ein Leben von Begierden und Gedanken, das tief sündhaft ist. Wir kämpfen sie nieder, diese Gedanken, wir siegen, wir bleiben ehrbar und rechtschaffen in unserm äußeren Tun; aber was ist es in den meisten Fällen, dasunsbewahrt und erhält vor dem Fall? Es sind oft nur die Umstände: unsere Familie, unsere Stellung, unser Beruf, unser Ruf, die Angst vor dem Urteil der Welt. Ich meine manchmal, unsere Ehrbarkeit selbst ist unsere Sünde. Wir wandeln immer am Abgrund, und wenn wir nicht hineinstürzen, so ist es, weil wir uns an Grasbüscheln festhalten. Und viele, die gefallen sind, sie sind nicht sündiger und schuldiger als wir, die Ehrbaren: Das Grasbüschel, dassie faßten, hat nachgegeben. Es ist hier kein Unterschied; wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollten [Röm. 3,23]. Nur dieses kurze Wort von unserer Sündhaftigkeit; ich darf mich für die Kürze auf unsern Herrn selbst berufen, denn er selbst hat nur in kurzen und seltenen Worten von der Sündhaftigkeit gesprochen und deswegen nicht weniger ernst und tief davon gedacht als die vielen, welche lang und viel davon reden. Alles liegt ja in dem einen Wort: «So denn ihr, die ihr arg seid.» Und doch, er gerade gibt uns das Recht, nicht nur von der sündhaften, sondern auch von der guten Menschennatur zu reden. Er gibt uns das Recht seinen Jüngern und Lehrern gegenüber. Es war eine Zeit, da meinte man, Gottes Ehre verlangte es, daß nichts Gutes in der Menschennatur anerkannt würde. «Glänzende Laster» glaubten manche Kirchenlehrer die Tugenden der Menschen nennen zu müssen. Es ist gut, daß der Meister mehr ist als derJünger. Und er hat gesagt: «So denn ihr, die ihr böse seid, könnet euren Kindern gute Gabe geben.» Ja, dasist dasMerkwürdige, dasUnbegreifliche, daß die tiefste Sündhaftigkeit, das Gute in der Menschennatur nicht zu zerstören ver-

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mochte. In den tiefsten Nächten der Menschheit stand es am Himmel wie die Abenddämmerung, die auf den Morgen harrt; und in der verkommensten Menschennatur liegt immer noch etwas unzerstörbar Gutes. Es ist kein Wasser so trüb, daß sich nicht Gottes Himmel darin spie-

gelte. Aber ebensowenig wie man die Sündhaftigkeit an Beispielen dartun kann, ebensowenig das Gute. Und wenn man alles, was von den Menschen Gutes getan worden ist auf der Welt, nebeneinanderstellte, man wüßte ja nicht, ob auch die Gesinnung, in der es getan, gut war und ob es wahrhaftig ausder guten Menschennatur kommt. Und doch, es ist wahr, von uns sündigen Menschen geht etwas Gutes aus. Eltern, die doch sündige Menschen sind, können ihren Kindern etwas Gutes geben, nicht nur irdisch, sondern an geistigen Gaben, indem sie ihnen Gottesfurcht, Liebe, Frömmigkeit ins Herz legen. Ein armer, sündiger Mensch wird einem andern zum Segen: Er kann ihn stärken, trösten, aufrichten, er kann ihm geistig wohltun. Ist das nicht etwas Wunderbares? Die Menschen, von denen wir alles, waswir Gutes an geistigen Gaben haben, das waren auch nur arme, sündige Menschen, und an manche Menschen, von denen wir viel empfangen haben, denken wir wie die Kinder, denen es schwer wird, zu begreifen, daß ihre Eltern auch Sünder sein sollen. Immer wenn Menschen einander geistig nahekommen, macht einer den andern reich an geistiger Gabe; und es ist da nicht wie im irdischen Leben, daß keiner mehr gibt, als er hat, sondern jeder gibt mehr, als er hat, und wird nicht ärmer, sondern reicher. Sündige Menschen, und doch vermögend, gute Gabe zu geben; jede letzte und höchste Erkenntnis trägt einen Widerspruch in sich, damit wir nie mit unserer Erkenntnis zur Ruhe kommen. Daß wir Kraft zum Guten in uns tragen, dasist nicht Menschenlehre, sondern Lehre des Herrn. Die Propheten drohten und schalten, die griechischen Philosophen haben den Menschen ihre natürliche Kraft zum Guten vorbeweisen wollen, er aber hat an die Kraft zum Guten in den Menschen geglaubt. Es liegt nichts Niederdrückendes in seiner Predigt. Es will mich immer fast als das Schönste bedünken, daß er die Bergpredigt nicht anfängt, indem er den Menschen ihre Sündhaftigkeit vorhält, sondern indem er selig preist die Barmherzigen, die Sanftmütigen, die Friedfertigen, denn er glaubt noch, daß in den sündhaften Menschen, die zu ihm gekommen sind, Barmherzigkeit, Friedfertigkeit und Sanftmut wohnen. Er glaubt an die gute Kraft in den Menschen. Wißt ihr, was das heißt, an jemand glauben? Es gibt Menschen, die leben davon, daßjemand an sie glaubt; sie finden ihren Weg durch alle Versuchungen, weil ein Mensch ihnen das Gute zutraut und sie durch seinVertrauen aufrecht erhält. Und es gibt Menschen, die sind zugrunde gegangen, weil sie niemand hatten, der an sie glaubte, der sie für gut

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hielt, d. h. niemand, der ihnen helfen konnte. Denn wenn wir einem helfen wollen, müssen wir an ihn glauben. UndJesus hat an alle Menschen geglaubt, an alle, auch an die sündigsten und die verworfensten. Und darum konnte er Helfer und Erlöser sein. Denn wenn wir vor uns selbst nicht mehr das Recht haben, etwas Gutes anzufangen, und meinen, daß alles, was wir unternehmen, entweiht ist, dann spricht er zu dem Menschen: Du darfst noch. Für ihn gibt es kein zu spät, kein vorüber, kein verloren, sondern in jedem Augenblick des Lebens spricht er zum Menschen: Du darfst noch. Und weil er diesen Glauben, dieses Zutrauen zu den Menschen hat, ist er, um einmal ganz menschlich zu reden, ihr Helfer und ihr Erlöser. Wenn ich so das Allgemeinste des Advents aussprechen sollte, dann möchte ich sagen: Es kam einer, der hatte keine Sünde, und trotzdem er wußte, daß die Menschen Sünder sind, traute er ihnen Gutes zu und ermunterte sie zum Handeln. Jesus hat den Menschen Mut gemacht, dem Guten nachzustreben. Es ist menschlich von der Erlösung gesprochen, und doch, in diesem Menschlichen liegt viel tiefe Wahrheit verborgen. Denn ausjedem Tun kommt neue Kraft. Und er darf ihnen Mut machen, denn er selbst ist Kraft. «Um wie viel mehr wird euer himmlischer Vater gute Gabe geben denen, die ihn bitten.» Er gab derWelt diese gute Gabe, ehe sie ihn bitten konnte; denn Jesus Christus selbst ist diese gute Gabe. Durch ihn kam die Flut geistiger Kraft über dieWelt, eine Flut, die nimmermehr versiegt und die in jedem Menschen, der sich ihr erschließt, zur Quelle ewigen Lebens und geistiger Kraft wird. Jesus ist die Kraft zum Guten, die Kraft, in der wir alles tun können. Advent. Was ist unsere Adventsbitte? Unser himmlischer Vater möge uns gute Gabe geben, Kraft und Stärke zum Guten. Er möge die Gabe in uns reichlich mehren, die er in seinem Sohn der Welt geschenkt hat. Und wir bitten getrost und in voller Zuversicht, denn er selbst hatja gesagt: «So denn ihr, die ihr arg seid, könnt euren Kindern gute Gabe geben, um wie viel mehr wird euer himmlischer Vater gute Gabe geben denen, die ihn darum bitten.»

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Nachmittagspredigt Sonntag, 6. Dezember 1903, St. Nicolai 2. Advent

Phil. 2,5– 10: [Die Menschwerdung

Gottes]¦48¿

Die eben verlesenen Textworte sind euch nicht unbekannt; denn wer von uns hat sich nicht schon im Konfirmandenunterricht gefragt, was dasheiße: «Er hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an.» Es ist eines der schönsten Adventsworte in der ganzen Schrift; darum möchte ich in dieser Stunde mit euch darüber reden. Was heißt es denn: «Er hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein?» Christus besaß ewiges Leben und göttliche Herrlichkeit von Anfang und von Ewigkeit her, weil er ja ewiger Geist Gottes ist. Aber er legte diese Herrlichkeit ab und wurde ein armer Mensch und durchlief dieses irdische Dasein, um sich in Gehorsam und Dienen die göttliche Herrlichkeit zu verdienen. Er ist nicht nur um der Menschen willen, sondern um seiner selbst willen Mensch geworden; das ist der tiefe Gedanke des Apostels Paulus. Mensch ist er geworden, hat sich in die Demut und den Gehorsam und dasLeiden geschickt, damit er wieder in seine Herrlichkeit zurückkehrte, aberjetzt nicht mehr als eine Herrlichkeit, die ihm nur beigelegt ist, sondern die er besitzt, weil er sie verdient hat durch Gehorsam im Erdenleben. Christus ist Mensch geworden, um sich seine Unsterblichkeit, Herrlichkeit und Herrschaft über die Welt zu verdienen. Und in dieser Gesinnung hat er sein Dasein hienieden zugebracht. Nun sagt der Apostel: «Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war.» Ja, können wir denn mit derselben Gesinnung unser Leben ansehen? Liegt da nicht eine Vermessenheit drin? Die Kluft zwischen ihm und uns istja so groß, daßwirja unser Leben gar nicht mit dem seinen zuvergleichen wagen. Aber doch, er hat uns seine Brüder genannt, weil auch in jedem irdischen Menschenleben etwas von dem ewigen, göttlichen Wesen Mensch geworden ist. Wir glauben alle, daß in uns etwas Ewiges, Göttliches wohnt, dasetwas von unserm sonstigen, natürlichen Dasein Verschiede48 [Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war, welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er’s nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden; er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zumTode, ja zumTode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht undhat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes, des Vaters.]

Die Menschwerdung

Gottes

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nes ist und gleichsam nur Anteil hat an unserer irdischen Existenz. Unsere unsterbliche Seele und der Geist, den Gott in uns wohnen läßt, die existierten, ehe ein Mensch in ein Buch aufschrieb, daß wieder ein armes Menschenwürmlein mehr auf der Welt ist. Sie waren von Anfang an da und waren in demWesen Gottes, ewig und unsterblich, und er hat sie nur mit einem Menschendasein auf eine bestimmte Zeit verbunden nach seinem unerforschlichen Ratschluß, wie er auch die Fülle seines Wesens mit einem Menschen, Jesus, verbunden hat und in ihn eingegangen ist. So ist die Menschwerdung Gottes nicht etwas, was nur in unserm Herrn Jesus sich vollzogen hat, sondern das sich immerfort in den Menschen wiederholt, in denen Gott einen Funken seines ewigen Geistes wohnen läßt. Die Menschwerdung Gottes, dasist die Geschichte derWelt und die Geschichte eines jeden unter uns. Ach, wir müssen ja unser irdisches Dasein anknüpfen an ein höheres, ewiges Sein. Unser inwendiges Wesen treibt uns dazu, denn was ist sonst noch an unserm Leben, wenn wir nicht jenes höhere Leben, das in unslebt, empfinden. Manchmal wagen wir ja gar nicht, so hoch von unserm eigenen Leben zu denken, daß auch in uns ein Teil des unendlichen Wesens Gottes Mensch geworden ist und unser Dasein auch in den Augen Gottes eine unendliche, ewige Bedeutung hat. Da sind unsere Sünden, da ist das alltägliche Dahintreiben in Gedankenlosigkeit und Geschäftigkeit, wo uns diese hohe Auffassung unseres Lebens verloren geht, weil sie uns unerschwinglich wird. Und doch, unser Leben ist etwas Heiliges, etwas für Gott auch Heiliges und Wertvolles, nicht ein Körnlein Sandes, das am Strand verloren; sondern jedes Menschenleben ist wie ein Stern: Mit dem bloßen Auge betrachtet ist es ein leuchtender Punkt unter vielen andern leuchtenden Punkten, wir wissen aber, daß es in Wirklichkeit eine große Welt ist. So ist auch jedes einzelne Menschenleben eine Welt in der Unendlichkeit des göttlichen Weltalls, nicht des sichtbaren, sondern desunsichtbaren. Ich meine, das sind Adventsgedanken; denn in dieser heilgen Zeit, da entzündet sich an dem Geheimnis der Menschwerdung Christi das Geheimnis unseres eigenen Menschseins. Was wir gelebt, es scheint uns nichts, sondern es ist uns, als würden wir jetzt von neuem in die Welt eintreten. Wir sehen das Dasein an, als würden wir als wissende und denkende Menschen von neuem in dieWelt hineingeboren, ja jetzt erst wahrhaftig geboren, denn die wahre Geburtsstunde des Menschen ist nicht der Augenblick, wo er den ersten Schrei ausstößt, sondern wo ihm das Bewußtsein und die Erkenntnis aufgehen, daß dieses Dasein mit dem ewigen, geistigen Sein verknüpft ist. Das ist die tiefe Bedeutung des Advents, daß an dem Dasein Jesu uns die Bedeutung unseres eigenen Daseins aufgeht und wir mit heiliger Scheu von uns selbst sagen dürfen: «Auch wir sind göttlichen Geschlechts» [Act. 17,28].

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Und darum sagt der Apostel: «Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war.» Wir sollen unser Dasein erfassen in derselben Gesinnung, wie er sein Dasein hienieden betrachtete, als Gehorsam gegen Gott. Sein Leben warWahrheit verkündigen, Liebe, Tugend und Sanftmut üben, Reinheit bewahren, Leiden erdulden, aber alles zusammen war doch zuletzt nur eins: Gehorsam gegen Gott, Gehorsam gegen die Bestimmung seines Daseins. – So auch ist die letzte Bestimmung jedes Menschendaseins Gehorsam gegen Gott; ich meine dasWort Gehorsam in seiner tiefsten, geistigen Bedeutung als eine Gesinnung des Lebens, daß unser ganzes irdisches Dasein nur ein Dienen ist für den göttlichen Geist, der in uns wohnt; als eine Bewährung, Läuterung und Prüfung dieses göttlichen Geistes in einem irdischen Dasein, nach Gottes unerforschlichem Ratschluß. Ein Gehorsam wie der Gehorsam derWelle, die gegen das Gestade schlägt. Warum bewegt sie sich auf und nieder, kommt und kehrt zurück? Sie tut es, weil der unendliche Ozean ihr diese Bewegung mitteilt. So sind auch die Menschengeister die Wellen, in denen der unendliche, göttliche Geist über das Gestade des natürlichen Lebens hienieden fährt. Fürjeden von uns heißt dieser Gehorsam gegen Gott etwas anderes. Für den einen freudiges Wirken, für den andern stilles Dulden; für den einen Treue im großen, für den andern Treue im kleinen. Und doch, wenn wir nur alle gehorsam sind und auf den göttlichen Geist, der unserm Geiste sich kundgibt, hören; wenn wir nur die Ehrfurcht vor der Heiligkeit unseres Daseins bewahren; denn dasist die wahre Gesinnung, in der dieses Leben gelebt sein will. Vielleicht denkt ihr, das ist ein Evangelium zu hoch für das Leben des Alltags. Aber gibt es etwas überhaupt, das zu hoch wäre? Ich meine, unsere Schwäche ist, daß wir zu sehr unser Leben als etwas Alltägliches betrachten und uns nicht genug erinnern, wie heilig es ist und wie hoch es, seiner ewigen Bedeutung nach, über dem Alltäglichen steht. Darum bin ich in dieser Stunde mit euch hinausgefahren auf die Höhe, um mit euch im Glanze des Advents unser Leben zu betrachten, und die heilige Gesinnung, mit der wir unser Dasein leben sollen, diese möge uns hinausbegleiten und uns aushalten in dem alltäglichen Dasein.

Morgenpredigt Sonntag, 27. Dezember 1903, St. Nicolai

Lk. 12,49: Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden Der Sonntag nach dem Fest! Er hat etwas Nüchternes; und darum ist er geschaffen zum nüchternen, ernsten Sinnen. Wer von euch hat nicht schon einmal das Bedürfnis gefühlt, kalt und ruhig, ohne Voreinge-

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nommenheit und ohne Ängstlichkeit, wohin es führen könnte, zu fragen: Waswar er denn eigentlich derWelt, und wasist er ihr heute noch, sagen wir im Guten und im Bösen? Wozu ist er gekommen? Und er antwortet: «Ich bin gekommen, ein Feuer zu entzünden» und «ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern Zwietracht». Habt ihr schon einen Waldbrand gesehen? Was erblickt man zuerst? Dunkle Wolken, die sich vor dem Feuer herwälzen. Dunkle Wolken haben sich auch vor dem Feuer hergewälzt, das er gebracht hat. Ich höre den christlichen Pöbel von Alexandria, wie er, nachdem das Christentum Staatsreligion geworden, nach dem Blute derjenigen schreit, die den Mut hatten, nicht Christen zu werden; ich höre dasWimmern der Tausende, die Karls desGroßen Schwert hingeschlachtet, um dem Christentum denWeg zubahnen; ich sehe die Scheiterhaufen desMittelalters qualmen und den Rauch, der im 30jährigen Krieg über tausenden von Dörfern aufsteigt. Das alles um desChristentums willen. Und auch wir ersticken ja im Qualm, der sich um sein Feuer lagert. Wer erlöst uns von diesem qualvollen «Katholisch-Protestantisch», das immer mehr das geistige, wirtschaftliche und soziale Leben in seine Bande schlägt und unüberwindliche Schranken aufrichtet vor Werken reiner Menschlichkeit und reiner Sittlichkeit. Wir gehen einer Zeit des Rückschritts edeln Menschentums entgegen, die durch den Kampf der Selbstbehauptung der christlichen Konfessionen heraufgeführt wird. Und in unserm Nachbarland Frankreich, das in einer der edelsten Aufwallungen, welche die Völkergeschichte kennt, die Heiligkeit der allgemeinen Menschenrechte in der Welt zur Anerkennung gebracht hat, in unserm Nachbarland stockt jetzt dasganze geistige Leben in dem Kampfe zwischen freiem Geist und katholischem Christentum. In der Mission eilt der Kampf katholisch-protestantisch dem Christentum voraus. Ich las letzthin einen ausführlichen Bericht über die Mission auf Madagaskar. Ehe man daran denken kann, einen Madegassen zu einem sittlichen Menschen zu erziehen, muß darum gestritten werden, gehört er den Katholiken oder den Protestanten. Wie oft erschließt noch heutigen Tages brutale Europäermacht dem Christentum denWeg, so daß nackte Leichname und brennende Hütten seine Straße bezeichnen! So lagert sich dunkler Rauch um dasFeuer, das er entzündet, so dunkel, daß man manchmal die Flamme gar nicht sieht. Das Schwert, daser in dieWelt gebracht hat, ist seinem Worte vorausgeeilt, und manchmal meint man, Gott ziehe in einer Rauchsäule dem Christentum voran, wie weiland demVolke Israel. Hier hilft keine Erklärung, als hätte nur menschlicher Unverstand das alles angerichtet. Wenn wir Protestanten in dieser jetzigen Zeit gegen unsere innerste Überzeugung engherzig werden und zuletzt sogar in der Wohltätigkeit gegen die reine Menschlichkeit sagen müssen: Nicht jeder ist mein Nächster; ihr wollt überall Schranken aufrichten,

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gut, wir ziehn dann auch Schranken – ist das Unverstand? Nein, grausame Notwendigkeit. Alles Schlechte und Trübe, was das Christentum der Welt gebracht hat, kommt aus Notwendigkeit. Er wußte es; erklärt hat er es nicht, aber geweissagt, daß es so kommen würde. Als er sprach: «Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer entzünde», sah er auch im Geist die dunkle Rauchwolke, die sich davor herwälzen würde. Wie hat er doch gesagt: «Es muß ja Ärgernis kommen!» [Lk. 17,1]. Wir leben in einer solchen Zeit des Ärgernisses, des kleinlichen Ärgernisses, des unsympathischen Christentums. Einmal werden ja aus diesen Rauchwolken die lebendigen Flammen emporschlagen, aber wir sehen vielleicht nur noch, wie der Qualm immer dichter wird, und die kommenden Geschlechter werden uns einst bedauern, daß wir in einer so freudlosen Zeit des Christentums gelebt haben. «Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer entzünde.» Feuer ist Gier, ist Verzehren. Aus sich selbst wächst es ins Unendliche und erfaßt allen Stoff, der brennbar ist. Es überstürzt sich, rast und springt, und aus der Ferne ruft es Brand hervor durch seine Glut allein. So ist auch der Weltenbrand, den er hervorgerufen. Es liegt eine tiefe Idee in dieser alten Vorstellung desWeltenbrandes, daß die Welt im Brand sich zum Anfang zurückerneuern werde. Aber wasist diese äußerliche Welt? Nur eine Erstarrung der wahren, geistigen Welt, und diese geistige Welt kehrt in dem Brand, den er entfacht hat, zuihrem Uranfang, Gott, zurück. Es gibt kein geistiges Leben, dasnicht zu seiner Zeit von seinem Feuer entfacht wird. Wenn ihr einen Brief des Paulus lest und von diesem Fremdartigen und doch wieder soTiefen erfaßt werdet, wasist’s denn, dieses fremdartig Tiefe? Die rabbinisch-jüdische Geisteswelt, die im Feuer desChristentums brennt. Es ist ein unvergeßlicher Eindruck für jeden, der die Geschichte des Christentums studiert, wenn er plötzlich sieht, wie alle tiefen und edeln Gedanken, die die griechische Philosophie in Jahrhunderten aufgespeichert, plötzlich vom Feuer des Christentums ergriffen werden, und nun eine mächtige Feuergarbe zum Himmel schießt. Als ich zum ersten Mal in meinem Leben die Schriften des ersten christlichen Philosophen, Justin, las, meinte ich, geblendet zu sein von flackerndem Feuerschein. Und mit dem geistigen Leben der heutigen Zeit ist es ebenso. Ob es für oder wider das Christentum ist: gleichviel; wenn nur geistiges Leben drin ist, daß sein Feuer Nahrung drin findet. Darum liebe ich die Schriften der freien Geister, undwenn ich sie lese, frage ich mich: Wann brennt ihr? Ich betrachte sie manchmal, wie man einen Holzschopf betrachtet, der im Bereich eines brennenden Hauses steht, und auf dasSchauspiel wartet, daß die Flamme ihn erfaßt. Feuer ist’s, was er gebracht, etwas, das unzerstörlich dasselbe ist in fortwährendem Verzehren. Es ist etwas Geheimnisvolles: nicht Kennt-

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nis, nicht Wissen, nicht Meinen, sondern ein von jeder Erkenntnis unabhängiges zehrendes Leben des Geistes. Jesu Weltanschauung war eine andere als die des Paulus, die des Paulus eine andere als die Augustins, Augustins eine andere als die Luthers, Luthers eine andere als die unsrige: Washat daszu besagen? Das Christentum brennt und lodert weiter in dem geistigen Urstoff der Menschheit, nur daß die Flamme manchmal in einem andern Lichte brennt. Darum dürfen wir an die Unzerstörbarkeit des Christentums glauben, wie wir an die Unzerstörbarkeit desFeuers glauben. Es waren aber nicht flammende Worte, die die geistige Welt in Brand gesetzt haben. Gewiß, Jesu Worte flammten, aber denWeltenbrand hätten sie nicht entzündet, den hat sein Tod entzündet. Als Kind ging ich einst neben meinem Vater her, der sich mit einem Freund, einem Pfarrer aus der Umgegend, unterhielt; aus dem ganzen Zwiegespräch fing ich nur einen Satz auf: Was wäre aus der Welt geworden, wenn Jesus mit weißem Haar als ein Gefeierter seines Volkes sanft verschieden wäre? Ich stelle die Frage noch so, wie ich sie damals als Knabe aufgefangen habe, und kann nur das eine antworten: Es gäbe kein Christentum. Nicht, als ob ich die Notwendigkeit seines Todes besser verstände. Ich verstehe nur eines: daß er notwendig war, daß dasFeuer, das er derWelt brachte, seine Existenz verzehren mußte, um den großen Brand zu entfachen, daß er getauft werden müßte im Feuer, damit er dieWelt taufte mit Feuer und heiligem Geiste, wie der Täufer von ihm geweissagt hat

[Mt. 3,11]. Aus seinem Leichnam schlägt immer wieder eine neue Glut heraus, und diejenigen, die von ihm ergriffen werden, werden von dem Gekreuzigten ergriffen. Wer vermag das zu erklären? Menschlich gesprochen: eine vor der Zeit verzehrte Existenz; göttlich gesprochen: ein Leben, das, indem es sich verzehrt, erst wahres Leben für dieWelt wird. «Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer entzünde» – ein Feuer, das auch in unserer Zeit weiterbrennt. Wie steht es mit unserer Zeit? Wie soll ich es sagen? Es ist alles im Christentum ausgeglüht, und darum verspürt man so wenig Feuer. Alle unsere Einrichtungen und Zustände

sind verchristlicht, christlicher Geist ist überall hingedrungen. Darum bricht es nicht mehr so unmittelbar hervor. Feuer ist da, viel Feuer oft, aber gezähmtes Feuer. Manchmal meint man, das Christentum wäre zur Straßenbeleuchtung geworden. Geht an die Kessel der Gasgesellschaft und an die Maschinen der elektrischen Zentrale: Da liegt viel Feuer aufgespeichert, genug, um die Stadt in Brand zu setzen, aber es wird in Röhren und Drähten geleitet und brennt in kleinen Flammen, wo es angebracht scheint. So ist es auch mit dem heutigen Christentum: Es ist zu wenig ursprünglich, zu wenig ungebunden, zu gut reguliert, als daß eine wirkliche Flamme hervorbrechen könnte.

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Predigten

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Und auch in der Gleichgültigkeit unserer Zeit ist viel Ausgebranntsein; es ist, als ob ausgebrannte Asche über glühenden Kohlen läge; das Gleichnis Jesu von dem Licht unter dem Scheffel [Mt. 5,15] ist den Menschen unserer Tage unverständlich, weil es bedeutungslos wird, ob man in einem hell erleuchteten Hausgang ein Licht auf oder unter den Scheffel stellt. Kurz, wie soll ich’s sagen? Das Christentum ist für unsere Generation etwas Unlebendiges geworden, weil es zu alltäglich ist; seine tiefsten Ideen sehen sie nicht in ihrem wahren Glanze erstrahlen, weil die natürliche Helligkeit, welche es in derWelt geschaffen hat, diesen Glanz für sie dämpft. Es gibt christliche Worte und Ideen, die verbraucht sind, weil sie sie von Jugend an kennen, ich möchte sagen, in den Händen halten. Dies «verbraucht» ist eigentlich ein furchtbares Wort, es bezeichnet einen Zustand des Scheintodes auf geistigem Gebiete. Und dennoch: Unter der ausgebrannten Asche schlummert die Glut, und wenn die Zeit kommt, dann wird derWind, der weht, wohin er will [Joh. 3,8], über diese Asche dahinfahren und die Glut zu großem Feuer entfachen. Wann wird dies sein? Auch das wird unser Geschlecht vielleicht nicht mehr erleben. Nun nehmt an, daß dasalles, wasich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesagt, nur eine Art Einleitung war, etwas, dasich vorausgeschickt habe, weil ich es euch bei Gelegenheit schon lange gerne gesagt hätte, und weil es sich mit dem berührt, wasihr schon oft selbst bei euch gedacht. Aber jetzt laßt alles dieses Allgemeine, diese geschichtlichen und zeitgemäßen Reflexionen versinken als etwas, dasnichts mit der Sache, mit der Hauptsache zu tun hat. Jetzt handelt es sich nicht um vergangene noch um gegenwärtige Generationen, sondern nur um zwei: um ihn und dich. Er ist gekommen, daß er ein Feuer entzünde – in dir. Daß es in dir brenne, dafür hat er sein Leben verzehrt. Trägst du sein Feuer in dir? Brennt es in dir? Was ist dieses Feuer? Etwas, das leuchtet; etwas, das erwärmt; etwas, das schmerzt; etwas, das verzehrt; etwas, das man muß, ob man auch nicht will; es ist eine tiefe Niedergeschlagenheit, so wenig zu tun, und dann wieder kurze Augenblicke der Freude, etwas tun zu dürfen und zu können gegen die Neigung unseres natürlichen Menschen; es ist ein Denken, das nicht zur Ruhe kommt, und ein Sehnen, das nicht gestillt wird. Was ich euch hier beschreibe, ist ein glimmender Docht [Mt. 12,20], ein Licht, das hin und her fährt und seine Helligkeit und seine Schatten auf derWand hin und her bewegt. Es ist, wie ich es von mir selber sagen kann: Sein Feuer brennt in mir. Keiner darf größere Worte reden, als er selbst ist. Es müßte ein Größerer vor euch stehen als ich, daß Flammen ausseinen Worten schlügen, der euch fragen dürfte als einer, derVollmacht hat, Rechenschaft zu verlangen und zu strafen. Ich darf nur fragen als ein Mensch mit einem

Ich bingekommen

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glimmenden Docht, dessen flackernde Helligkeit euch hie und da vielleicht ein Wort von ihm beleuchtet, daß es euch etwas gegeben; als ein Mensch, der weiß, daß dieser glimmende Docht das Kostbarste ist, was er in sich trägt, und die Zuversicht hat, daß der Herr den glimmenden Docht nicht auslöschen wird. Als ein solcher darf ich euch fragen: Spürt ihr in euch das Feuer, das er gebracht? Lebt in euch von seinem Leben? – und wünsche, daß viele von euch in Bescheidenheit und doch in Freudigkeit dürfen sagen: Ja; ja, er ist uns etwas; er ist unser geistiges Leben; durch ihn haben wir Unruhe, Kampf und Freude, die wir sonst nicht hätten; durch ihn fühlen wir uns über unser eigenes Leben hinausgehoben. So bitten wir Gott, er möge den glimmenden Docht in uns nicht auslöschen. Wir bitten ihn auch für die Kinder, in deren reinen Herzen im weihnachtlichen Lichterglanz sein Feuer sich entzündet hat, er möge sie bewahren, daß nicht ein sündiges Leben dieses Feuer in ihnen erlösche, ehe es ihre Seele erfaßt hat, und sie dann in Finsternis und Gleichgültigkeit zweck- und freudlos an wahrer Freude durch das Leben gehen müssen. Und wenn ich euch ein Wort mithinausgeben darf, so sei es dieses: «Lasset euer Licht leuchten vor den Menschen, daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen» [Mt. 5,16]. Ein dunkles Wort – ein Wort an die Tatenlosen. Ist es nicht unsere größte Schwäche, daß wir tatenlos sind?

VII. Predigten desJahres 1904

Morgenpredigt Sonntag, 3.Januar 1904, [St. Nicolai]¦1¿

Lk. 10,38–42: Maria und Martha¦2¿ Was ist denn das Kennzeichen unserer Zeit? Der ernste Arbeitsgeist. Jesus hat zwar selten einWort über dieArbeit geredet, unddoch ist gerade derArbeitsgeist unserer Zeit eine Frucht desChristentums. Anders ist die Aussaat, anders die Frucht. Unser Arbeitsgeist und unsere Arbeitsfreude kommt aus einem Samen, der im Evangelium verborgen schlief und erst viel später als manche andere Gedanken der Predigt Jesu aufging. Wie ist es denn im Frühling? Da geht ja auch nicht alles zugleich auf, sondern manches früh und manches spät. Was am frühsten aufgeht, das verweht auch am schnellsten und steht später als abgeblühtes Gras unter der neuen Vegetation wie die Maiblumenstauden im Sommerwald. So ist es auch mit dem Christentum. Manche Ideen sind schnell aufgeblüht und dann abgewelkt. So war es mit der Erwartung desWeltendes und der sichtbaren Aufrichtung desReiches Gottes. Die Apostel und die ersten Christen lebten und zehrten davon, und nach zwei, drei Generationen war diese Hoffnung abgeblüht, und in unserm Christentum steht sie wie ein welkes Gras zwischen neuen Ideen, die später aus dem Samen des Evangeliums emporgeblüht undwiderstandsfähiger und ausdauernder sind.¦3¿ Und zu diesen spät emporgeblühten christlichen Ideen gehört der Gedanke der Arbeit, die wie ein kurzes, zwar bluten- und duftloses 1 [Der Kirchenbote nennt Schweitzer alsPrediger dieses Gottesdienstes in St. Nicolai.] 2 [Es begab sich aber, da sie wandelten, ging er in einen Markt. Da war ein Weib mit Namen Martha, die nahm ihn auf in ihr Haus. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich zuJesu Füßen und hörte seiner Rede zu. Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht darnach, daß mich meine Schwester läßt allein dienen? Sage ihr doch, daß sie es auch angreife! Jesus aber antwortete und sprach zu ihr: Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe; eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.]

3 [R] Jesus zur Zeit der Sklaverei lebte, kein Wort, sie abzuschaffen und doch sein Evangelium die Sklaverei abgeschafft.

Maria undMartha

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Herbstgras über dieWelt kam, das aber aushält bis in denWinter hinein und grün bleibt bis zum Frühling. Es ist eigentlich erst Luther, der zum ersten Mal in christlichem Geiste von dem Ernst und der Freude der Arbeit geredet hat, und unsere heutige Welt, auch da, wo sie nichts vom Christentum wissen will, ist doch christlich durch den Arbeitsgeist. Was verlangte das Volk Roms in der alten Zeit? Unentgeltliches Brot und Zirkusspiele. Und was verlangt dasVolk unserer Zeit? Gerecht und menschenwürdig bezahlte Arbeit. Das ist der gewaltige Unterschied, der von dem Geist des Christentums wie von einem Sauerteig unsichtbar in derWelt gewirkt ist. Es ist wirklich eine Freude, über unsere Zeit auch einmal etwas Gutes sagen zu können, etwas, das einen mit dieser Zeit wieder innerlich versöhnt. Es ist einTrost, sich sagen zu können, daß dasChristentum in der Welt, wenn auch keine große religiöse Bewegung da ist und man meint, die Religion gehe zurück, etwas Allgemeines, Sittliches gewirkt hat. Der Apostel Paulus muß seine Christen immer wieder vor dem Laster des Müßiggangs warnen, und die Missionare müssen unter den Heiden jahrelang wirken, ehe sie sie nur einigermaßen zur Arbeit erzogen haben. Wir aber dürfen wirklichen Arbeitsgeist, das heißt den christlichen Lebensernst in seiner allgemeinsten [Art], in unserer Umgebung mit Augen sehen und mit Händen greifen. Auf diesem allgemeinen Arbeitsgeist baut sich nun eine allgemeine Tätigkeit an Werken christlicher Liebe und Wohltätigkeit auf. Ich rede nicht von christlichen Wohltätigkeitsvorstellungen und Basaren. Sie sind mir unsympathisch und kommen mir vor als Tand und Spiel mit sehr ernsten Dingen. Freilich, wenn ich mir dann sage, was mit dem Geld, das so zusammenkommt, Gutes gewirkt wird, das vielleicht sonst unterblieben wäre, bin ich wieder halb versöhnt. Doch dies nur im Vorübergehn. Vielleicht, nein, hoffentlich erleben wir noch die Zeit, wo Wohltätigkeitsvorstellungen und Basare überflüssig sind und die Menschen wirklich um der Sache willen ohne unschuldiges Spiel geben. Aber ich meine, man darf es unserer Zeit ohne Schmeichelei sagen, daß sie fähig ist zu Dingen allgemeiner und christlicher Menschenliebe. Spitäler, Waisenhäuser, Versorgungshäuser, Fürsorge für Invalide und Greise und noch so viel anderes mehr sind für uns selbstverständliche Dinge geworden. Es ist christlich-sittlicher Geist überall hingedrungen, auch in dieVerwaltung und Gesetzgebung. Ich weiß zwar, daß vielleicht das wenigste Geld, das allen diesen Werken dient, in innerlich christlichem Geist gegeben ist, und daß mancher Taler zum Häuflein gerollt ist, nur weil er rund ist, und doch darf man sagen: Unsere Zeit hat eine Lust amWirken und Geben. Ich meine, es ist unschwer, die Martha in unserer Zeit zu erkennen. Wie dort in jenem Weibe der gesunde weiblich-geschäftige Sinn erwacht bei der Ankunft des Herrn und sie nun geschäftig hin und her

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läuft unddenTisch deckt, so ist auch in unserer Zeit durch dasChristentum der gesunde soziale Sinn und der freudige Arbeitsmut, der in der Menschheit ruht, geweckt worden und regt sich allenthalben. Darum, wenn der Herr wiederkäme und auch in vielem strafen und drohen müßte, an dieser Geschäftigkeit hätte er Freude und würde darob unserer Zeit manches verzeihen und sein mildestes Wort über sie sprechen: «Wer nicht wider mich ist, der ist für mich» [Mk. 9,40]. Ließ er ja doch auch die Martha gewähren und hat sich vielleicht noch an ihrem Eifer erheitert. Aber dieses Gewährenlassen hatte ein Ende, als Martha sich wichtig vorkam und meinte, Arbeit und Geschäftigkeit sei alles. So ist es gerade auch mit unserer Zeit, denn wir leben in der Zeit der Marthareligion. Wie oft müssen wir hören: Ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft im besten Sinne zu sein, das ist doch die wahre Religion. Darum darf man auch unserer Zeit, jetzt gerade, wo sie sich wieder in die Geschäftigkeit eines neuen Jahres stürzt, zurufen: «Eins ist not!» Nicht strafend gesagt, sondern freundlich ernst, wie der Herr mit Martha sprach. Maria saß für sich beim Herrn. Sie war keine untätige Frau und hat sicher alles mithelfen vorbereiten, um ihn zu empfangen. Als er aber kam, da fand sie mitten in der Geschäftigkeit und Arbeit einen Augenblick, um mit ihm zu sein, weil sie Sehnsucht hatte nach stiller Sammlung. Die Geschäftigkeit – ich rede von der guten Geschäftigkeit, nicht von der Geschäftigkeit der Habgier – frißt uns auf, und wir werden innerlich arm, weil es uns an Sammlung fehlt. Ich freue mich oft an dem regen wissenschaftlichen Interesse und an der Arbeitslust unserer Studenten, die sich auf den Pfarrberuf vorbereiten. Und doch möchte ich ihnen gern manchmal sagen: «Eins ist not!» Habt ihr auch genug stille Stunden, wo ihr alle Wissenschaft beiseite laßt, die Augen schließt und wartet, daß seine Worte in eurem einfältigen, stillen Herzen nachtönen? Das ist nur ein Exempel, das man ins Beliebige vermehren kann. Wir freuen uns alle über den Stand des heutigen Schulwesens und das tüchtige Wissen, das derJugend mitgeteilt wird, und doch müssen wir uns mehr und mehr sagen, daß dasWissen die wahre Herzensbildung bei ihnen verdrängt und den geistigen Hunger, der in jedem Menschen wohnt, scheinbar gestillt hat, so daß sie nicht merken, daß ihnen dasinnerliche, geistige Leben fehlt. Es gibt heute so gar viele Menschen: Sie sind ehrbar, tüchtig und ernst, daß man nicht leicht etwas Böses gegen sie sagen könnte, und doch fehlt ihnen jedes innerliche Leben, weil sie keine Stunden innerer Sammlung kennen. Sie sind eben so geschäftig in allem, daß sie für sich selbst keine Zeit finden, undwenn sieje einmal in Gefahr kommen, mit sich allein zu sein, greifen sie nach der Zeitung oder nach einem Buch, ausAngst, mit ihren Gedanken allein zu sein.

Maria undMartha

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Diese rastlose Geschäftigkeit ist die große Gefahr für uns alle, und wenn ihr auf das vergangene Jahr zurückblickt, die einen dankbar, die andern traurig, so ergeht es euch doch allen wie mir selbst, daß ihr euch nämlich sagen müßt: Es waren der Stunden der Sammlung und des gesegneten Alleinseins mit sich selbst zu wenig. Darum, wenn ich euch, der Sonntagsgemeinde von St. Nicolai, einen Neujahrsgruß entbieten darf, so sage ich: Ich wünsche euch in derArbeit deskommenden Jahres

gesegnete, stille Stunden. Ihr habt wohl manche Neujahrswünsche gehört dieser Tage. Sie handelten von Gesundheit, Glück, Fortkommen und langem Leben, und mancher, der sie euch entbot, hat auch mehr dabei gedacht, Tiefes und Gutes, es aber nicht ausgesprochen, weil wir Menschen in unserem gewöhnlichen Verkehr das Schönste und Herrlichste nicht auszusprechen wagen, wie ausgeheimer Scheu, es vielleicht, indem wir es aussprechen, entweiht zu sehen. Nun, ich darf euch meinen Neujahrswunsch aussprechen ohne diese Angst, weil wir hier in den Mauern der Kirche sind. Ich wünsche euch stille Stunden der Einkehr bei euch selbst und des Alleinseins mit ihm, ich wünsche sie euch zu Hause und in denWänden des Gotteshauses, Stunden, wo eure Seele den Lärm derWelt weit unter sich läßt, Stunden wahren Gebets, wo das Gebet nicht ein Bitten ist, sondern eine Gemeinschaft mit dem ewigen, göttlichen Geiste, der allgegenwärtig in der Welt ist, Stunden, wo euch die Sprüche unseres Herrn wiederkommen, als hättet ihr sie nie gehört, und ihr sie in ihrer ganzen Tiefe kennt, Stunden, aus denen man aufwacht und sagt: Nun wohlan, frisch und freudig ins Leben zurück! «Der Wind weht, wohin er will; du hörst sein Brausen wohl, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt» [Joh. 3,8]. Glücklich die Menschen, die dieses geheimnisvolle Wehen des göttlichen Geistes vernehmen! Und noch etwas wünsche ich euch: Ich wünsche euch unter euren Bekannten und unter denen, die ihr zuTische ladet, Menschen, die euch geistig etwas sind und geistig wohltun. Wenn ich auf das vergangene Jahr zurückblicke und mich frage: Wenn es mit all seinen frohen und traurigen Ereignissen in das Chaos der vergangenen Jahre zurücksinkt, waswird davon noch immer in dem Dunkel aufleuchten? Die Stunden, wo Menschen mir geistig wohlgetan haben und ich reich geworden bin von denen, mit denen ich redete. Es ist so eine seltene Freude für uns Menschen, wenn wir mit einem andern aus der gewöhnlichen Unterhaltung heraustreten können und von unseren innersten Gedanken und Fragen mit ihnen reden dürfen, und sie uns auch die Gedanken, die in ihnen schlummern, offenbar werden lassen, und plötzlich der gewöhnliche Mensch zurücktritt und das geistige Wesen vor uns steht. Es gibt Menschen, die sind arm, weil sie niemand getroffen, der ihnen geistig wohltat, und diejenigen unter uns,

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die sich innerlich reich fühlen, die wissen, daß ihnen alles von Menschen kommt, die ihnen geistig wohlgetan haben. Darum wünsche ich euch nicht nur stille Stunden, sondern auch Menschen, die euch geistig wohltun. So wolle Gott dieses Jahr an euch segnen.

Nachmittagspredigt Sonntag, 10.Januar 1904, St. Nicolai Missionsfest

Lk. 5,4– 11:Petri wunderbarer

Fischzug¦4¿

Heut ist Missionsfest; unwillkürlich kommen mir da die Gespräche über die Mission, die ich im Laufe desJahres gehabt habe mit den verschiedensten Leuten, in den Sinn, und zwar mit kirchlichen und unkirchlichen. Die Mission ist nicht beliebt und nicht populär, auch in kirchlichen Kreisen, hier wie anderswo. Das ist für mich der Gesamteindruck der Gespräche. Vor wenigen Wochen waren die Protestanten von Paris in das Oratoire, eine der größeren dortigen protestantischen Kirchen, geladen worden, um denVortrag und Bericht eines Missionars anzuhören, der von dem Arbeitsfeld der französischen Missionsgesellschaft kam. Die leeren Bänke gähnten einen an, so schrieben mir Bekannte, und man schämte sich für alle, die nicht gekommen waren. Bei uns ist es nicht anders, denn leere Bänke gehören bei uns auch zum Mis-

sionsfest. Woher denn diese Gleichgültigkeit? Die Menschen sind zu klug und vernünftig, und immer, wenn sie zu klug und vernünftig sind, werden sie töricht. Sie sagen so: Man sollte zuerst bei uns anfangen; bei uns gibt esja auch viel zu tun. Es ist nicht recht, Zeit und Kräfte und Personen für die Mission aufzuopfern, wenn hier noch so viel zu tun ist. Ein Bekannter von mir entschuldigte sich sogar auf diese Weise, daß er nichts für die Mission gebe. So kommen sie sich sehr vernünftig vor. 4 [Und als er hatte aufgehört zu reden, sprach er zu Simon: Fahre auf die Höhe und werfet eure Netze aus, daß ihr einen Zug tut! Und Simon antwortete und sprach zu ihm:

Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich dasNetz auswerfen. Und dasie dastaten, beschlossen sie eine große Menge Fische, und ihr Netz zerriß. Und sie winkten ihren Gesellen, die im andern Schiff waren, daß sie kämen und hülfen ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Schiffe voll, also daß sie sanken. Da das Simon Petrus sah, fiel er Jesu zu den Knieen und sprach: Herr, gehe von mir hinaus! ich bin ein sündiger Mensch. Denn es war ihn ein Schrekken angekommen, ihn und alle, die mit ihm waren, über diesen Fischzug, den sie miteinander getan hatten; desgleichen auchJakobus undJohannes, die Söhne desZebedäus, Simons Gesellen. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht; denn von nun an wirst du Menschen fangen! Und sie führten die Schiffe zu Lande und verließen alles und folgten ihm nach.]

Petri wunderbarer Fischzug

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Aber dasVernünftige ist eben nicht immer das Rechte. Darum disputier ich auch nicht lange, sondern sage: Gut, so wollen wir etwas Unvernünftiges tun, denn wird nicht vieles, was unvernünftig schien, durch den Erfolg nachher gerechtfertigt? Als der Herr, nachdem er gepredigt im Schifflein, zu Petrus sagte: «Fahre auf die Höhe und werfet eure Netze aus, daß ihr einen Zug tut», da schien es ihm auch unvernünftig. Mitten im See sind ja die Fische nicht, und noch dazu in der grellen Mittagssonne. Darum sprach er: «Meister, wir haben die ganze Nacht gefischt und nichts gefangen.» Aber er gehorchte dem Herrn: «Auf deinWort will ich dasNetz auswerfen.» So könnten auch wir sagen: Wenn das Christentum bei uns keinen Erfolg hat, wo es doch Sonntag für Sonntag gepredigt, wo es den Kindern von Jugend auf bekannt ist, wo alles mit christlichem Sauerteig durchsäuert ist, wie soll man es dann in heidnische Länder hinaustragen, und was kann es dort wirken? So haben am Anfang viele geredet. Und wasgeschah? «Und da sie das taten, beschlossen sie eine große Menge Fische, und ihr Netz zerriß», heißt es im Evangelium, und das ist nur ein Gleichnis auf das, was in der Mission geschah. Das Christentum, das bei uns die Leute auf den Gassen zertreten, sozusagen, das in der Gleichgültigkeit der als Christen Getauften ohnmächtig zu Boden sank, das wurde begierig aufgenommen von den Heiden, und zu Tausenden strömten sie dem Evangelium zu. Das Unvernünftige ist also gerechtfertigt worden. Wenn der Herr Jesus auch etwas Unvernünftiges gebietet, darf man es ruhig tun – zuletzt wird es doch immer etwas Rechtes. Und bei Lichte besehen ist das Unvernünftige doch dasVernünftige. Warum ist das Christentum bei uns nicht, was es sein sollte? Weil die Leute es geistig zu gut haben. Sie brauchen sich nur an den gedeckten Tisch zu setzen, und darum haben sie keinen Hunger. Das Christentum gehört für sie zum täglichen Brot, und dann schätzen sie es nicht. Es war schon einmal so: beimVolk Israel. Warum hat dieses Volk, dasdurch die Propheten und das Gesetz auf Christus vorbereitet war, den Herrn nicht aufgenommen? Nicht aus innerer Schlechtigkeit; o nein; es hat selten noch so ein ehrbares, frommes Volk gegeben, wie es dieJuden zur Zeit Jesu waren. Aber sie waren eben satt, und darum wußten sie nicht, was das für köstliche Speise war, die er ihnen bot; die Heiden aber waren hungrig: Darum nahmen sie das Evangelium an, und das auserwählte Volk blieb draußen stehen. Das hat sich heute wiederholt. Unsere christlichen Länder sind satt. Darum ist es an der Zeit, sie eben gehen zu lassen, und wie es der Apostel Paulus tat, zu den Heiden zu gehen; man trage die Schüsseln ab und gebe sie denen, die hungrig sind.

Als nun die Jünger ein großes Netz voll Fische hatten, konnten sie es nicht allein herausziehen, sondern sie winkten ihren Gesellen, die im

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andern Schiff waren. So ist’s auch mit der Mission: Die ruft auch: Kommt herbei und helft uns das Netz heben, weil es übervoll ist. Ich rede nicht davon, daß sie um Geld ruft; dasist nur nebensächlich, denn Geld bekommt man heutzutage noch von den Menschen, obwohl ja für Mission so wenig gegeben wird. Aber ich bin der Zuversicht, daß, wenn morgen die Missionsgesellschaften Europas dasDoppelte brauchten was bisher, und sie sagten: Soundso viel brauchen wir, sie brächten es zusammen. Aber wie heißt es in der Schrift? Kommt herbei; ihr sollt herbeikommen und über dasWasser dorthin fahren, wo man euch braucht [Act. 16,9]. Menschen braucht die Mission – und Menschen findet sie nicht. Es tut einem in der Seele weh, wenn man die Berichte der Pariser Mission liest, und es immer heißt: Soundso viele Stellen sind noch zu besetzen, findet sich niemand? Und nach Wochen und Monaten immer wieder dieselbe Bitte. Da fehlt es! Ja, unsere ganze Gleichgültigkeit kommt daher, daß so wenig Menschen aus unserer Familie und aus unserm Bekanntenkreis dort sind und in jener Arbeit drinstehen, darum haben wir so wenig Interesse, denn unser Herz ist da, wo die Menschen sind, die wir lieben und kennen. Mir erging es ebenso: Ich dachte früher auch lau über die Mission, denn sie war mir nicht lebendig nahegebracht worden, aber als ich einmal anfing Tagebücher und Schriften von Missionaren zu lesen, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich sagte: Also das ist Mission? Ich meine, die Zeit ist nicht mehr allzu fern, wo auch aus unsern Gemeinden und aus unsern Bekanntenkreisen viele in der großen Arbeit auf dem Felde der Mission stehen werden. Jetzt ist es noch etwas Seltenes, und es ist wie eine Angst, die uns zurückhält, Ernst zu machen. Ich empfinde das selbst. Wie gern hätte ich schon manchmal zu meinen Konfirmanden ein Wort gesagt: Ist keiner unter euch, der einmal Missionar werden wollte, und ich habe auch schon Studenten gesehen, auf die ich gerne zugegangen wäre, um ihnen zu sagen: Hören Sie, möchten Sie nicht Missionar werden? Sehen Sie, Pfarrer haben wir genug und übergenug, und man ruft nach Missionaren. Aber ich wagte noch nicht, denn ich fürchte, sie den Eltern und ihrer Familie zu entreißen und sie in die Ferne zu senden, wo sie vielleicht, kaum angelangt, am Fieber dahinsterben. Aber wenn der Geist, der sich jetzt von ferne vernehmen läßt, einmal weht, dann verweht auch damit diese Ängstlichkeit. Und dann zuletzt, wenn ich euch meinen innersten Gedanken sagen soll: Die Mission ist ein Sühnewerk. Wer wird einst wagen, dasBuch zu schreiben über die Schuld, welche die europäischen Völker den Heiden gegenüber auf sich genommen haben? Menschen, die den Christennamen trugen, haben die Indianer Nordamerikas ausgerottet und die

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Peruaner in die Bergwerke gesteckt; Menschen mit Christennamen haben auf die Australier Treibjagden gehalten wie auf dasGetier des Feldes; Menschen mit Christennamen haben die Schwarzen Afrikas zu Sklaven gemacht, wenn sie sie nicht niederschossen; und Menschen mit Christennamen schwingen noch heute die rohe Peitsche über die Kongoneger. Das ist eine Schuld, die gesühnt werden will und muß – und nur die Mission kann sie sühnen. Die Missionare, die von den Keulen erschlagen und von dem Fieber dahingerafft wurden, sie sind nicht umsonst gefallen: Sie haben gesühnt. DieTotenkreuze am Strand und die stillen Kreuze im Urwald, sie bezeichnen denWeg, den das Kreuz von Golgatha in seiner Wanderung über dieWelt genommen hat. Und wenn auch Hunderte von Missionaren gefallen sind, die Sühne ist noch nicht geleistet für die Millionen und Millionen derer, die im Laufe der Jahrhunderte dahingemordet worden sind. Darum müssen wir helfen mit Gaben und Menschen, denn es ist daschristlichste Werk, dasSühnewerk Jesu.

Morgenpredigt Sonntag, 17.Januar¦5¿1904,¦6¿ St. Nicolai

Mk. 1,21f.:¦7¿Und er predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten¦8¿ Was haben sich denn die Leute damals bei jener ersten Predigt gedacht, daß sie sagten: Er predigt gewaltig? Warum sagen sie nicht: Er predigt neu, er predigt interessant? Warum wagen sie nicht einmal, sich zu ärgern an der neuen Lehre, die er vorträgt? Warum? Sie wissen nur das eine: Ob er uns beleidigt, oder ob er uns tröstet, ob er uns in die Hölle stößt oder in den Himmel erhebt – er hat das Recht dazu. Sie haben einen gefunden, der das Recht hat, die Wahrheit zu sagen, jegliche Wahrheit, und darum spüren sie nur das eine: Gewalt. Sie wissen nicht, daß er dieses Recht hat, weil er rein und heilig lebt bis in seine innersten Gedanken, weil er nicht für sich, sondern nur für die andern lebt, weil er entschlossen ist, für die Menschen in denTod zu gehen und ihre Schuld auf sich zu nehmen – sie fühlen es aber an der Gewalt seiner Worte.

5 [Das Manuskript nennt keine Jahreszahl. Doch der 17. Januar war nur 1904 und 1909 ein Sonntag. Schweitzer aber steht 1904 im Predigtplan.] 6 [R] Wiederholt 30.Januar 1921. 7 [Diese Formulierung stammt ausMt. 7,28.] 8 [Und sie gingen gen Kapernaum; und alsbald am Sabbat ging er in die Schule und lehrte. Und sie entsetzten sich über seine Lehre; denn er lehrte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten.]

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Predigten desJahres 1904

Das Recht haben, die Wahrheit zu sagen. Es genügt nicht, daß etwas wahr ist. Man muß auch das Recht dazu haben, die Wahrheit zu sagen, sonst ist sie wie ein Stein, von Kinderhand geschleudert, der vor den Füßen desWerfenden niederfällt. Wir leben in einer Zeit der Kraftlosigkeit der Wahrheit, weil keine Menschen da sind, die das Recht haben, sie zu sagen. Wahrheit ist viel da: Schlagt die Bücher auf, die unsere Zeit hervorbringt, lest ihre ernsten Romane und seht die Dramen, die sie schafft – da ist viel tiefe und ideale Wahrheit drin. Aber es fehlen die Menschen dahinter. Wo ist der Dichter, der uns die ideale Idee seines Stückes vorlebt und, statt weiter Stücke zu schreiben, der Menschheit seine Person, seine Kraft, seine Ideen, seine Ideale dahingibt und nun erst das Recht hat, alles Tiefe, das er in seinen Stücken gesagt hat, als Mensch zu sagen?¦9¿ Es gibt viele gewissenhafte Lehrer, es gibt viele gewissenhafte Eltern in unserer Zeit, aber es geht keine Gewalt und Kraft von ihnen aus, denn sie haben nicht dasinnerliche Recht, dieWahrheit, die sie aussprechen, mitzuteilen. Nur zwei Fragen, denn ich meine, ihr versteht, was ich sagen will: Wieviel Väter haben dasRecht, zu ihren Söhnen zu sprechen: Halte deine Jugend heilig, und wie viele Mütter haben dasRecht, ihrem Kinde bei der ersten Lüge in die Augen zu schauen und zu sprechen: Du sollst nicht lügen? Soll ich von uns Predigern reden? Es gibt in unserer Zeit keine großen, aber mehr als zuje einer Zeit ernste, gewissenhafte Prediger. Und doch, gewaltig ist unser Wort nicht, denn sonst wäre eine andere Zeit da.Wir brauchen nicht dieWirkung auf die Zeit in Betracht zu ziehen, wir wissen es von uns selbst. Es sind die höchsten und wahrsten Gedanken, die ein Prediger nicht so aussprechen darf, wie sie ihm vorschweben, sondern er muß sie abtönen, bis sie zu seiner Person passen. Wie manchmal möchte er glühend reden von der Bruderliebe, heiß von dem Vergeben, aber er darf es nicht so glühend sagen, wie er es sich denkt, weil er sich nicht das Recht dazu erworben hat. Wie oft, meint ihr, daß unten an der Kanzeltreppe auf den ernsten Prediger die Frage wartet: Mit welchem Recht hast du das soeben gesagt? Und er kann nur antworten: Weil ich ein verordneter Prediger des Evangeliums bin. Aber er kann nicht sagen: Weil ich von mir aus das Recht habe, so zu reden – und dann weiß er, daß seine Worte nicht gewaltig waren. Laßt mich euch ein Beispiel geben. Letzten Sonntag war Missionsfest. Da hat gar mancher junge Prediger sich seinen Text gesucht und sich voll Begeisterung an seine Predigt gemacht, um seine Gemeinde für die Mission zu begeistern. Und dann kam alles so unlebendig heraus, es kam ein Unbehagen über ihn, und die schönsten Gedanken bra9 [R] Die Menschen, die es ganz ernst mit dem Leben nehmen. Frei sind von dem, was geredet wird. Ihre eigene Melodie haben!

Underpredigte gewaltig

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chen ihm unter der Feder zusammen, und die Predigt, die er wirklich hielt, war nur aus denTrümmern derjenigen zusammengesetzt, die ihm vorgeschwebt hatte. Warum? Er hörte eine Frage, klar oder verworren, aber er hörte sie, wenn er mit sich aufrichtig war: Wenn die Mission etwas so Herrliches ist und der Arbeiter so viele braucht, warum bist denn du hier, wo der Arbeiter genug, und nicht dort, wo sie fehlen? Da verlor er seine Unbefangenheit und konnte nur noch erbaulich, aber nicht gewaltig predigen. Man sagt, die Predigten unserer Zeit sind nicht mehr so feurig und so hoheitsvoll wie vor hundert oder zweihundert Jahren. Ganz gewiß. Vor Zeiten wagten es die Prediger, als Richter auf die Kanzel zu treten und mit schwungvollen Worten die höchsten Wahrheiten als selbstverständlich auszusprechen, aber unser Geschlecht ist zurückhaltender und ängstlicher geworden, denn die Zeiten haben sich verändert: Wir sind Realisten geworden, im Bösen, aber auch im Guten, und viel strenger in der Wahrhaftigkeit gegen uns und andere. Wir verlangen – ihr und ich, wir gehören dazu – daß überall hinter jeder Autorität, welche sie auch sei, ein Mensch steht, der das Recht zur Autorität hat.¦10¿ Vor unsern Augen sehen wir, wie alle Autorität, im Irdischen wie im Geistigen, untergraben ist, und wie die christliche Kirche selbst Risse bekommt, daß man sich fragt: Wird sie nicht zusammenstürzen? Aber sagt nicht, das ist nur Geist der Unordnung, der Gleichgültigkeit, der Zuchtlosigkeit: Es ist dieWahrheit selbst, welche die unterirdischen Minen gräbt und die unterirdischen Sprengungen macht, deren Detonation uns erschreckt; die Worte und Autoritäten sind verbraucht, nur die Menschen können helfen. Unsere Zeit braucht Menschen, die das Recht haben, die Wahrheit zu sagen, Menschen, die Gewalt haben.¦11¿

Ihr erinnert euch, daß ich einmal die Notwendigkeit der Menschwerdung Christi so erklärt, daß die göttliche Wahrheit für uns Menschen unfaßbar ist und bleibt, wenn sie sich nicht mit einer menschlichen Person, einem menschlichen Geiste und einem menschlichen Leben verbindet und so unserm Geiste mitteilsam wird. Aber jene Menschwerdung der Wahrheit ist nur der Anfang einer bis in Ewigkeit sich fortsetzenden Menschwerdung der Wahrheit, die sich immer und immer auf Grund der Menschwerdung der Wahrheit in Christus in der Menschheit vollziehen muß. Es ist so viel göttliche Wahrheit in der Welt, als davon sich mit menschlichen Wesen verbunden hat und getragen wird von einem menschlichen Geiste. Siehe, ihr und ich, wir können den Menschen, mit 10 [R] Wir kommen vom Schriftgelehrtentum ab. Ein Fortschritt. 11 [R] Wagt zu reden von dem, was ihn bewegt. Du bist in der Synagoge. Jetzt mußt du eine Predigt über dasGesetz halten.

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denen wir es zu tun haben, nicht mehrWahrheit vermitteln, wir können ihnen nicht mehr geistig geben, als was in uns zu lebendiger Kraft geworden ist. Und wenn wir die Wahrheit in die herrlichsten Worte kleiden könnten, lebendig ist davon nur soviel, als wir innerlich das Recht haben, zu sagen, und das übrige sind kraftlose Worte, die derWind uns vom Munde verweht.¦12¿ Das einzig Reale in der sinnlichen und in der geistigen Welt ist die Kraft, und nichts kann darüber hinwegtäuschen, wenn die Kraft nicht da ist. Das ist nun nicht etwas Allgemeines, sondern etwas für uns alle, denn wir alle brauchen Kraft für die andern, denn keiner von uns, auch der einsamste nicht, lebt ihm selber und stirbt ihm selber [Röm. 14,7], sondern wir sind alle da, daß wir einander etwas sind und miteinander der Wahrheit entgegengehen.¦13¿Ja, alle brauchen wir Gewalt: Die Eltern zum Erziehen der Kinder, die Lehrer zum Lehren, die Prediger zum Predigen, die Leiter zum Leiten, dieVorsteher zumVorstehen. Da ist es gut, daß wir schonungslos klar sehen. Die Welt entschuldigt die Menschen gern, wenn sie nichts ausrichten. Sie redet von Gaben, von Umständen, vom Verfahren und von den Methoden. Aber wir wissen, das betrifft alles nur dasÄußerliche – das, worauf es allein ankommt, ist das Innerliche.¦14¿

Wir können nur das an andern ausrichten, was in unserm Leben selbst lebendige Wahrheit geworden ist. Darum möchte ich besonders euch Eltern fragen, die ihr von Gott mit der hohen Aufgabe betraut seid, Kinder zu erziehen: Habt ihr an das eine, das einzige, was hiezu not, gedacht und denkt ihr immer daran?

Ich meine manchmal, das Leben beginnt erst dann recht, wenn wir in die Lage kommen, andern etwas zu geben, und wir uns nun immer und immer wieder fragen müssen: Was hast du denn eigentlich zu geben? Was ist denn von aller Wahrheit, von allem Streben dein Eigentum geworden, daß du andern davon geben könntest, und was hast du das Recht, ihnen zu sagen?¦15¿ Alle müssen wir in die Wahrheit hineinwachsen. Ich meine das nicht so in der allgemeinen Bedeutung: Es mußjeder auch tun nach dem, was er lehrt, sondern etwas viel Höheres. Die christliche Wahrheit, die wir derWelt und unsern Kindern geben wollen, steht hoch über allem, was wir mit unsern Kräften vermögen. Aber wenn wir auch nicht das Recht haben, sie andern mitzuteilen als dieVollkommenen, so haben wir es als

die Kämpfenden. Siehe, wer sprechen kann aus innerstem Herzen: «Nicht daß ich es schon ergriffen hätte, ichjage ihm aber nach, ob ich es 12 13 14 15

[R] AlleTöne richtig. Aber eslebt nicht! [R] Jeder Mensch muß dem andern etwas sein. Wir leben voneinander. [R] Es ist nichts verborgen, dasnicht offenbar werde [Mt. 10,26]. [R] Ein Mensch, der in derWahrheit ist, hat nie umsonst gelebt!

Dein Wille geschehe

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ergreifen möge» [Phil. 3,12] – der hat das Recht, die Wahrheit, alle Wahrheit, zu sagen, und in dessen Worten liegt Kraft. Wenn ein Mensch so strebt und ringt, da ragt die Kraft Christi in sein Leben hinein und geht von ihm aus. Und wenn man einmal dieses Ringen an einem Menschen verspürt hat, dann ist er etwas anderes geworden für uns, als er war.¦16¿

Ich kenne einen Pfarrer, der ungerechterweise schwer gekränkt worden war von einem Mitglied seiner Gemeinde. Als er sich an seine Karfreitagspredigt machte, da ließ es ihm keine Ruhe, und obwohl er der Gekränkte war, tat er den ersten Schritt, um dieVersöhnung herbeizuführen, mit schwerer Selbstüberwindung. Dieser hatte ein Recht, zu predigen am Karfreitag. Meint ihr, daß die, so um euch sind, dieses Ringen in euch verspüren? Ihr Ehegatten, weiß eines vom andern, was es für ein Sehnen und Kämpfen im Herzen trägt? Ihr Eltern, meint ihr, daß eure Kinder fühlen, daß euer innerstes Trachten aufwärts geht? Ihr Lehrer, meint ihr, daß die Kinder in den Bänken vor euch wissen und spüren: Da ist mehr als ein Lehrer, da ist ein christlicher, lebendiger Mensch? Wenn dem nicht so ist, dann seid ihr nichts füreinander und könnt nichts ausrichten. Aber überall, wo dieses Ringen, dieses Ernstmachen mit dem Christentum im Leben ist, da ist dieWahrheit lebendig und gewaltig. Ernst machen mit dem Christentum an uns und in unserem Leben, das ist, wasuns allen fehlt. Wir leben so in einer Art christlicher Ehrbarkeit dahin, aber da steckt keine Kraft drin, denn es ist kein Kämpfen und kein Überwinden. Ach, möge der Herr uns geben Mut und Entschlossenheit, Ernst zu machen mit dem Christentum, daß es in uns lebendig werde und sich wieder kräftig und gewaltig erweise an derWelt und besonders an den Menschen, die geistig auf uns angewiesen sind.

Nachmittagspredigt Sonntag, 7. Februar 1904, St. Nicolai

Mt. 6,10: DeinWille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden Warum beten wir denn: «Dein Wille geschehe?» Gottes Wille geschieht

ja von selbst im Himmel und auf Erden. Die Sonne und die Sterne zie-

hen am Himmel dahin in ihren Bahnen nach seinem Willen; in der Bewegung der unendlichen, durcheinander kreisenden Weltkörper vollzieht sich nur eines: sein Wille. Die Wolken, die sich über die Berge daherschieben, derWind, der fährt, wohin er will, daß man nicht weiß, woher er kommt und wohin er geht [Joh. 3,8], alles was sproßt und 16 [R] Unser Herr Pfarrer predigt nicht, er redet! (Aussage eines Bauern).

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Predigten

desJahres 1904

grünt, was lebt und vergeht, was sich regt und bewegt, die ganze Natur

– dasist Gottes Wille. Und alles wassich in unserm Leben ereignet, die Freude und das Leid – alles ist Gottes Wille. Kein Sperling fällt vom

Dach, kein Haar von unserm Haupte, sagt der Herr, ohne den Willen Gottes [Mt. 10,29 f.]. Und doch beten wir: «Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden», denn wir fühlen und wissen, obwohl dieWelt von GottesWillen erfüllt ist und durch ihn besteht, gibt es in derWelt eineWelt, wo er nicht von selbst geschieht: die Menschenwelt; und in dieser Menschenwelt wieder eine Welt im kleinen, wo Himmel und Erde zusammenstoßen: Ihr – ich. Das ist das letzte, ich möchte sagen, das einzige Rätsel der Schöpfung, daß Gott alles, wasist, geschaffen hat um geistiger Wesen willen, die nun ihren eigenen geistigen Willen haben und nun Gottes Willen erfüllen können, oder – wenn sie wollen – nicht erfüllen können. Das ist dasUnerklärliche, daß Gott einen Funken seines Geistes in diese Menschen sendet, ob dieser Funke in ihrem Sinnen undWillen Zündstoff finde und nun ihr ganzes Dasein dem Willen Gottes dient, oder ob dieser Funke göttlichen Geistes verglüht underlischt. Wie viele Tausende von Existenzen gibt es, von denen wir sagen müssen, daß nichts von Gottes Willen in ihnen geschieht, weil sie nur ihrem eitlen, irdischen Menschenwillen leben. Man kann sich dies alles nicht anders erklären, als daß Gott es nicht hat ertragen können, daß sein Wille überall von selbst mit Naturnotwendigkeit sich vollziehe, wie in den Bahnen der Gestirne, sondern daß er seinen höchsten geistigen Willen von freien geistigen Wesen ausgeführt wollte sehen, und so sein eigener Wille als freier Wille in derWelt wirke und wieder zu ihm zurückkehre. Darum hat er Welt und Menschen geschaffen – bis am Ende der Dinge, wie St. Paulus sagt, alles wieder in ihn zurückkehrt und er ist alles in allen [I Kor. 15,28]. Gott hat die Erfüllung seines Willens in die Hände der Menschen gelegt. Ihr wißt, das sind keine zusammengedachten Gedanken, sondern es ist so. Es weiß esjeder von sich selbst: Der Herr braucht mich. Gewiß, er fände Mittel undWege, alles zu tun ohne die Menschen – er könnte die Hungernden speisen, die Elenden trösten, den Gefallenen aufhelfen – aber er will, daß es von Menschen geschehe, daß alle seine wahren und guten Gedanken durch Menschen ausgesprochen und durch Menschen getan werden. Das ist so unerklärlich und doch wieder so einfach, weil jeder von uns weiß: Ja, es ist so,ja, der Herr braucht auch mich. Darum beten wir täglich für alle Menschen und für uns: «Dein Wille geschehe.» Und wenn wir so beten, bitten wir zunächst darum, daß er uns seinen Willen offenbare. Ja, was ist denn sein Wille? Alles, was wir vor uns sehen und tun müssen. Ich möchte es noch klarer sagen: Gottes Wille ist alles das, wovon wir wissen, wir sollen es tun, und das unserer Bequemlichkeit und Eigenliebe zuwiderläuft. Nehmt einmal alles das,

Dein Wille geschehe

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was ihr in dieser nächsten Woche tun sollt, im Kleinen und im Großen, und daseuch zuwider ist und Überwindung kostet: Siehe, dasist Gottes Wille. Ich kann euch nicht sagen, an was ihr jetzt denkt, ich könnte euch nur sagen, an wasich selbst denke – aber ich meine, einjeder von euch, der sieht jetzt etwas ganz Bestimmtes vor Augen, dem er hätte wollen entgehen, und weiß doch: Es ist Gottes Wille. Ich meine, es ist jemand unter euch, der Geduld haben muß mit einem Menschen, oder einer, der etwas von einem andern hinnehmen muß oder einem Menschen verzeihen muß oder etwas tun, wofür ihm niemand Dank weiß, oder sich um einen Menschen kümmern, der ihn nichts angeht. – Siehe, dasist Gottes Wille, und dafür müßt ihr beten: «Dein Wille geschehe.» Ist es nicht schon etwas gar Herrliches, wenn ihr nun in dem, was ihr tun sollt, den Willen Gottes erkennt. Ich meine, da steht alles vor einem wie im Sonnenschein. Mag auch unser Leben so öd und trüb sein wie ein Wintertag, wenn da der Wille Gottes hineinleuchtet, da glänzt es und flimmert’s wie die Winterdächer in der Februarsonne. Und was ist das schönste und glücklichste Leben, wenn ein Mensch nicht lebt mit dem Gedanken und dem Bewußtsein, denWillen Gottes zu erfüllen? Ich weiß es gewiß und gewisser von Tag zu Tag, daß das einzige Glück eines Menschen darin besteht, in dem, waser tun soll, denWillen Gottes zu erkennen und es mit seiner Hilfe auszuführen. Die meisten Menschen sind so innerlich arm, weil sie nicht wissen was das heißt «dein Wille». Es ist für sie ein totes Wort; sie können in ihrem Leben nichts damit anfangen. «Dein Wille», sie erkennen ihn nur in den schweren Schicksalsschlägen, wenn ihnen ihre Freunde erfolglos zureden, sich in denWillen Gottes zu beugen, aber sie wissen nicht, was für eine Seligkeit und friedvolle Zuversicht in diesem Wort «dein Wille» liegt, wenn man denWillen Gottes in seinem Leben erkennt – und wie das Wissen vom Willen Gottes in unserm Leben immer klarer wird, wenn man danach sucht, und ein Mensch dann in seinem Leben den Willen Gottes herausliest bis in die Kleinigkeiten, alsläse er in einem geschriebenen Buch. Es scheint mir immer mehr, als liege etwas Freudiges in der Bitte «Dein Wille geschehe», und ich meine, man kann sie manchmal so übersetzen: Herr, wenn ich nur weiß, daß es dein Wille ist, dann will ich es schon tun mit Freuden, und du wirst mir Kraft geben. «Dein Wille geschehe», das ist nicht nur eine Bitte für bedrückte und bekümmerte Seelen, die durch das finstere Tal wandern, sondern man muß lernen, es in den guten und schönen Tagen, nicht für das, was man erleidet, sondern für das, was man tun will, freudig und zuversichtlich beten, dann erst kann man es auch getrost und gefaßt im Unglück beten, wenn wir Gottes Willen über uns ergehen lassen müssen. Seht, wenn unser Herr in Gethsemane so ruhig und – als sagte er etwas Selbstverständliches – sagen kann: «Nicht wie ich will, sondern wie du willst» [Mt. 26,39], so kommt das daher, daß er in seinem Leben

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alles tat, auch das Freudvolle, mit der Bitte: «Dein Wille geschehe»; und so war er gelehrt, diese Bitte zu sprechen. Und wenn so viele Menschen im Unglück nicht es über sich bringen, zu sagen: «Dein Wille geschehe», so ist es, weil sie eben in ihrem sonstigen Leben diese Bitte nicht gekannt. Nun wollen wir als Menschen, die froh im Wirken und in der Arbeit drinstehen, fröhlich beten: «Dein Wille geschehe.» Dann sind wir gelehrt, so zu beten, wenn der Herr es uns auflegt, in Trübsal undLeid zubeten: «Dein Wille geschehe.»

Morgenpredigt Sonntag, 14. Februar 1904, St. Nicolai

Joh. 7,17 f.: So jemand will des Willen tun, der wird erkennen¦17¿ Das ist wieder eines dieser Worte, die für uns noch viel mehr bedeuten als für die Menschen, denen Jesus selbst predigte. Sie vernahmen seine Lehre heiß und lebendig aus seinem Munde und getragen von seiner überwältigenden Person: Da war es nicht schwer, zu glauben, daß sie von Gott sei, denn die göttliche Flamme schlug ja aus ihm heraus. Wir aber heutzutage, wir kennen seine herrlichsten Worte nur eingepreßt in tote Buchstaben und seine Lehre nur, wie sie von Menschen unterbaut und ausgebaut ist. Ich gestehe, daß mir dieses Wort im Evangelium desJohannes nie aufgefallen war; ich hatte darüber hinweg gelesen, bis es mir letzthin auffiel und ich mir sagte: Das ist ja ein Wort für unsere Zeit. Warum ist denn in unserer Zeit und für unsere Zeit seine Lehre etwas so Unlebendiges geworden? Warum hat sie für so viele Menschen ihre göttliche

Kraft verloren? Man sagt, sie ist unmodern geworden, weil sie nicht mehr zu unserer wissenschaftlichen Welterkenntnis paßt. Daran ist etwas Wahres: Unsere Erkenntnis von vielen Dingen ist eine andere als die, welche mit der überlieferten christlichen Lehre verbunden ist. Aber es scheint mir, als würde davon heutzutage zu viel Wesens gemacht. Ich muß dabei immer wieder denken an das Wort Jesu im Gleichnis von der königlichen Hochzeit: «Und sie fingen an, sich zu entschuldigen» [Lk. 14,18] und manchmal noch an ein anderes, an dasWort von den Leuten, die Mükken seihen und Kamele verschlucken [Mt. 23,24]. Mehr und mehr scheint es mir, als seien alle diese Bedenken der Vorwand, aber nicht der Grund des Unglaubens und der Gleichgültigkeit 17 [, ob diese Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selbst rede. Wer von sich selbst redet, der sucht seine eigene Ehre; wer aber sucht die Ehre des, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig, undist keine Ungerechtigkeit an ihm.]

Sojemand will des Willen tun

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unserer Zeit, und es dünkt mich, daß sich die Lehre Jesu, wie man sie heute dem modernen Menschen mundgerecht machen will, etwas von ihrer Würde vergibt. Und wenn man unserer Zeit morgen alle Schwierigkeiten und Anstöße zum Glauben aus dem Wege geräumt hätte, sie würde nicht einen Schritt weiter vorankommen, denn es fehlt ihr eines, gerade das, was der Herr in dem Worte ausgedrückt hat: «So jemand will denWillen Gottes tun». Weil ihr dasfehlt, deswegen kann sie nicht zur Erkenntnis des göttlichen Wesens der Lehre unseres Herrn kom-

men.

Es fehlt das Fundament aller Religion, nämlich das Ahnen, das unmittelbare Bewußtsein, daß in ihrem Leben einWille, der größer ist als ihr Menschenwille, sich auswirken will; es fehlt ihnen das Wollen zu diesem Willen und damit die geistige Kraft, welche sie über die selbstische, natürliche Erkenntnis hinausheben kann. Das kann man ihnen aber nicht durch Reden beibringen, es muß da sein; und wenn es nicht da ist so natürlich wie dasLeben selbst – denn dieses höhere Wollen, das ist das Lebensprinzip des geistigen Lebens – , dann hilft es auch nichts, wenn man den modernen Menschen das Christentum zurechtlegen will, um es ihnen annehmbar zu machen. Es ist gerade so, wie wenn man einer Person, die keinen Appetit hat, das Essen niedlich auf dem Teller bereitet und ihr das Fleisch in kleine Stücke schneidet: Sie ißt doch nicht, weil sie eben sich nicht zum Willen zum Essen aufraffen kann. Darum sind es nicht diejenigen, die, mit aller wissenschaftlichen Erkenntnis ausgerüstet, unserer Zeit das Christentum annehmbar machen wollen, indem sie mit ihrer Erkenntnis ihnen zeigen, was an der heutigen christlichen Lehre von Menschen formuliert und ausgebildet, und was reines göttliches Wesen daran ist – nicht diese werden sie auf sanfte und milde Art zum Christentum zurückbringen, sondern diejenigen, in deren Tun sich Gottes Wille offenbart. Auf diese Menschen warten wir – sie mögen gelehrt oder ungelehrt sein – daß sie kommen und ihr Wille nach Höherem sich derWelt machtvoll mitteile, daß sie dieser ob ihrer Mattigkeit gleichgültigen Welt einen neuen Willen einflößen, aus dem ihr dann wieder eine höhere Erkenntnis, ein Glaube an die göttliche Wahrheit kommt. Wir wissen ja alle, was für ein gewaltiges Ding derWille ist und wie er sich von einem Menschen aus den andern mitteilt und unmittelbar den erstorbenen Willen da weckt, wo kein Reden und Überzeugen mehr etwas wirken konnte. Aus dem höheren Willen kommt die Erkenntnis, denn Gottes Wesen ist Wille, und nur der, dessen Wollen, Wirken und Streben in diesem Willen drinsteht, der erkennt jenen ewigen Willen und die Gedanken desgöttlichen Wesens, von dem er ausgeht. «Mein Vater wirket» von Anfang, sagt Jesus [Joh. 5,17]. Das Wesen aller Dinge ist der ewige Wille Gottes, der gewissermaßen aus sich selbst heraustrat und das Nichts an

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sich riß und aus dem Nichts die endliche Unendlichkeit alles dessen schuf, was ist. In allem aber, was ist, ist sein Wille. Er offenbart sich in den einfachsten und doch unbegreiflichen Gebilden; denn wasist die Kraft und die Ordnung, nach der sich die kleinsten Teilchen eines Wassertropfens zu der wunderbaren Figur einer Schneeflocke zusammenschließen? Sein Wille. Und so arbeitet sich im Reiche der Natur der Wille Gottes immer klarer heraus, bis er zum bewußten Willen wird in den Wesen, die bewußten Willen haben, und zuletzt zum bewußten Menschenwillen, der als bewußter Wille von dem dunkeln, in der Materie gefangenen Naturwillen sich losringt und sich in den geistigen Willen Gottes hineinstellt – denWillen von oben ergreift. Das ist dasWesen der Religion: Sie ist nicht ein Beschauen, nicht ein Begreifen, nicht ein Verstehen, sondern eine Tat des Menschenwillens, der sich ausder Endlichkeit gleichsam in die Unendlichkeit hinausdehnt und dort Gottes Willen sucht, um sich von ihm durchdringen zu lassen. Das ist das Wesen der Religion; alles andere ist nur die Form, die Lehre, der mannigfaltige Ausdruck dieses wahrhaftigen Erlebens der

Religion. Es ist jetzt die Zeit, wo ein Pfarrer, gedankenvoller noch als sonst, seine Konfirmanden anblickt. Noch wenige Wochen, und er wird sie nicht mehr erreichen und hat keine Macht mehr über sie.Waswird dann ausihnen werden? So blicke ich auch die meinen an und frage: Waswird ausihnen werden? Ich habe ihnen seine Lehre übermittelt so, wie ich sie verstehe und selber zu leben suche; ich habe versucht, jedem Anstoß vorzubeugen, den das Denken, den der Spott der Welt ihrem Glauben bereiten kann in Zukunft. Aber es ist nur eine Lehre, die ich ihnen mitgebe – und ich weiß, daß diese Lehre in ihnen abwelken und von ihnen abfallen kann wie ein Kleid, dem man entwächst. Dieser Augenblick, wo es sich entscheidet, ob diese Lehre ihnen nun etwas Lebendiges wird oder ob sie sie mit den Schulbüchern in den Winkel legen, dieser Augenblick, er kommt sicher für sie, für den einen früh, für den andern spät, aber er kommt. Darum, wenn nur eines in ihnen geweckt ist, derWille zu etwas Höherem, derWille zu Gott hin: Wenn sie dieses innerliche Leben verspürt haben, dann wird es mit ihnen wachsen, und die Lehre wird ihnen nicht etwas Totes, sondern

etwas Lebendiges werden. Sie gleichen den Bäumen, wie wir sie jetzt sehen: Diese haben ihre Knospen überkommen vom vergangenen Sommer, und ob nun diese Knospen etwas Totes oder etwas Lebendiges sind, ob Frühlingsleben – jetzt noch verborgen – in diesem Baum ist, das dann in die Knospen dringt, so auch bei ihnen: Sie haben die Lehre erhalten – und wenn nur der sehnende Wille nach etwas Höherem, nach Gott in ihnen geweckt ist, dann können Winterstürme und Frühlingsstürme das Leben nicht

Sojemand will des Willen tun

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aufhalten – und kein Denken und kein Zweifel kann sie irre machen – sie werden erkennen, daß diese Lehre, die ihnen in menschlichem Wort und in menschlicher Schwachheit mitgeteilt ist, von Gott ist. Vorgestern waren es hundert Jahre, daß der Philosoph Kant gestorben ist. Er ist wie ein lebendiges Beispiel zumWort desHerrn, daswir heute betrachten. Seine fromme, gläubige Mutter hatte ihn christlich, gläubig erzogen, und er behielt diesen unbefangenen Glauben bis in dasmittlere Mannesalter. Da kamen die Zweifel – von außen heran und von innen heraus, vom eigenen scharfen Denken. Die überkommene Lehre geriet ins Wanken und stürzte; nur eines blieb ihm unerschütterlich gewiß: daß ein höherer Wille in uns Gehorsam verlange und daß dieser Wille aus einer göttlichen, geistigen Welt stamme, und in dieser tiefen Erkenntnis des göttlichen Willens erstand ihm die Religion in neuer,

lebendiger Kraft und unanfechtbarer Gewißheit. So ist es fürjeden einzelnen unter uns. Das Lebendige, Unentreißbare des Glaubens, dasist die Erfüllung des göttlichen Willens, wodurch wir eins werden mit Gott. Und wenn unser Glaube so matt, ich möchte sagen, so angelernt ist, dann kommt es daher, weil wir dem göttlichen Willen nicht dienstbar sind. Was ist denn dieser göttliche Wille in unserm Leben? Zunächst ein Wille, an uns selbst zu erfüllen, daß wir kämpfen und ringen, rein und heilig zu leben in Gedanken und Tun, wie es der Apostel Paulus so schön sagt im 1. Brief an die Thessalonicher: «Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung» [I Thess. 4,3]. Meine Freunde, wer von uns darf sagen, daß er mit dem ganzen Ernste seiner Person in diesem Willen Gottes drinsteht? Aber ich möchte jetzt von der andern, nach außen gewendeten Seite des göttlichen Willens sprechen. Mit jedem Menschenleben hat Gott einen Zweck in derWelt. Jeder von unsist da, um auf derWelt einen bestimmten Willen von ihm auszuführen. Es ist für jeden ein anderer, und es ist schwer, von außen einem Menschen zu sagen: Das und das ist der Wille Gottes, den du in deinem Leben erfüllen sollst. Ich glaube, ich vermöchte es nicht einmal denjenigen unter euch zu sagen, deren Leben ich genau kenne. Aber das ist gewiß: Es gibt einen Willen Gottes für jeden Menschen, und wer nach dem Willen Gottes in seinem Leben sucht, demwird er offenbar. Und wenn so viele Menschen nicht wissen, daß es einen Willen Gottes für sie gibt, der für ihr Leben bestimmend ist, so ist es, weil sie nie danach gesucht haben, sondern weil sie sich einfach dahinleben lassen. Man sagt, dasWesen der uns vonJesus offenbarten Religion besteht darin, daß wir uns als Gottes Kinder fühlen. Nun, was ist denn die Art des Kindes? Wenn esjemand sieht, der etwas vorhat, stellt es sich in den Weg und fragt: Darf ich mithelfen? Wir sehen, wie Gott so gar vieles in der Welt vorhat; sind wir ihm schon in den Weg gestanden und haben

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ihn gefragt: Kann ich mithelfen? Habt ihr schon in eurem Gebet gefragt: Lieber Gott, wozu brauchst du mich? Wer ihn so fragt, dem wird sein Wille offenbart – und ich denke, es sind manche unter euch, die können sagen, daß es so ist. So mannigfach ist derWille Gottes, daß man es gar nicht beschreiben kann; von dem einen verlangt er seine ganze Existenz, sein ganzes Glück für seinen Willen, für den andern läuft sein Wille gewissermaßen neben seinem Leben hin und besteht in etwas ganz Unscheinbarem, das er zu erfüllen oder zu ertragen hat. Und oft merken die Menschen den Willen Gottes nicht, weil er in etwas Unscheinbarem besteht. Und dieser kleine Wille Gottes ist oft viel schwerer zu erfüllen als der große – denn er ist manchmal ein Sichüberwinden, ein Geduldhaben, ein Schaffen ohne Anerkennung. Und manche Menschen wissen den Willen Gottes – aber sie können sich nicht überwinden, ihn zu tun, denn er reißt sie heraus ausihrer Bequemlichkeit und aus dem Leben, das sie sich zurechtgemacht haben. Darum sind so viele Plätze, wo Gott einen Menschen brauchte, in der Welt leer, weil ein Mensch nicht wollte Gottes Willen tun. Das alles ist so sehr das innerste Erleben eines Menschen, laßt mich dasWort sagen: die direkte Offenbarung Gottes anjeden einzelnen, daß manes nur andeuten kann. Und zuletzt geht es auch hier wie im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg: Zu den einen kommt er in der ersten Morgenstunde ihres Lebens und nimmt sie in seinen Dienst, zu den andern in der vollen Mittagszeit ihres Daseins, zu den andern, wenn schon die Schatten sich herabsenken [Mt. 20,1–7]. Wenn wir nur da sind und warten und in dem, was uns begegnet, erkennen, daß er an uns herantritt, damit wir seinen Willen tun – im Wirken oder im Leiden. Von außen betrachtet sagen dann die Menschen: Es ist diesem dies und das zugestoßen, aber dieser selbe Mensch in seinem Innersten sagt nicht so, sondern: Gott verlangt das und das von mir – und ist seliger, als wo er

glücklich dahinlebte. Denn wenn einem Menschen einmal Gottes Wille offenbar geworden ist, dann besitzt er eben eine höhere Erkenntnis. Alle Religion und aller Glaube beruht auf Offenbarung, und nur der hat einen lebendigen Glauben – der höher ist als alleVernunft und Erkenntnis – der eine Offenbarung empfangen hat, und dies geschieht in dem Augenblick, wo er klar den Willen Gottes in seinem Leben erkennt: Da steht er direkt mit Gott in Verkehr. Darum haben es die Menschen, deren Leben ganz in der Erfüllung desWillens Gottes steht, so leicht, zu glauben – diejenigen, welche sich für die andern aufopfern und hingeben, und die, welche ihr Leiden und ihr Unglück hinnehmen als von ihm. Als die römischen Kaiser die Verfolgungen über das Christentum brachten, um es auszurotten, da ahnten sie nicht, daß gerade das Gegenteil sich erfüllen würde, denn da rief Gott so viele Menschen vor der

Under ist darum für alle gestorben

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Welt mit Namen auf, seinen Willen zu tun bis in den Tod. Da war der Wille Gottes mit Händen zu greifen in der Welt, und darum mehrte sich der Glaube ins Ungemessene. Aber auch in unserm verborgenen stillen Dasein ist es so.Wer in seinem Leben Gottes Willen erkennt, dessen Glaube wird lebendig. Es ist dann, als ob die ganze Verkündigung Jesu, die ganze christliche Lehre erleuchtet würde von dieser Erkenntnis desWillens Gottes, als fügten sich einzelne Sätze derselben für ihn zu einem einzigen lebendigen Gedanken zusammen. Denn die Religion eines Menschen besteht zuletzt nur in einer einzigen Idee, in einem einzigen Gedanken, den er aus der religiösen Überlieferung herausgegriffen, und der durch die Erkenntnis des göttlichen Willens, wie sie ihm geworden, lebendiges Leben für ihn wird. So findet er seinen Weg durch alles Erleben, durch alles Denken, durch alles Zweifeln, durch alles Fragen hindurch, denn er ist gefestigt und erleuchtet durch denWillen Gottes, den er erkannt hat und dem er sich hingibt. Gott gebe, daß wir alle in der Erfüllung seines Willens die wahre Erkenntnis, den wahren Halt des Lebens finden.

Nachmittagspredigt Sonntag, 6 März 1904, St. Nicolai

II Kor. 5,15: Und er ist darum für alle gestorben, auf daß die, so da leben, [hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist]

Ich suche nach einer einfachen, verständlichen Erklärung der Bedeutung desTodes Jesu. Schon als Knabe, wenn ich in der Passionszeit in der Kirche saß und der Pfarrer anfing zu predigen, fragte ich mich: Wird er es mir erklären können – aber ich ging nie befriedigt nach Hause. Als ich anfing, Theologie zu studieren, dachte ich, die gelehrten Herren werden es dir erklären können. Aber als ich dieVorlesungen gehört und die wissenschaftlichen Auslegungen der Bibel durchstudiert hatte, mußte ich mir sagen, daß ich um keinen Schritt weitergekommen

war. Seid ihr nicht in derselben Lage wie ich? – Oder habt ihr schon jemand gefunden, der es euch begreiflich gemacht hat? Wenn es in der christlichen Lehre heißt: Christus ist gestorben für unsere Sünden, daß er Gott eine Sühne leistete für uns und er uns nun die Sünde verzeihen könne: Nicht wahr, dann steigen eine Reihe unerklärter Fragen in uns auf. Ist dasnicht zu menschlich von Gott gedacht, daß er, um verzeihen zu können, erst einer Sühne bedarf? Und wie kann denn einer für den andern Sühne leisten?

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Predigten

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Darum glaube ich nicht, daß mit Nachdenken es jemand verstehen wird. Es bleibt dann eine Formel, eine heilige, trostreiche Formel, deren sich viele gewiß im Leben und im Sterben getrösten – aber dennoch eine Formel. Und doch, wir tragen ein Bedürfnis in uns, es lebendig zu verstehen, und diese Umwandlung zu erfassen, die der Tod Jesu im Himmel und auf Erden vollbracht – ein Streben nach Erkenntnis. Sagt ja auch der Apostel: Strebt nach Erkenntnis [Kol. 1,11] und meint damit nicht eine andere Erkenntnis als den Glauben, sondern eine Erkenntnis, die den Glauben erhellt, wie wenn leuchtende Sonne über die Erde scheint. Aber wie kann ein Mensch begreifen, was dort zwischen Himmel und Erde vorging, was durch denTodJesu neu geworden ist? Die Menschen werden euch sagen: Es ist nichts dadurch auf Erden verändert, alles ist beim alten geblieben, die Menschen sind gerade so schlecht und so lieblos geblieben. Nun woher willst du dann erkennen, was auf der Erde und im Himmel neu geworden ist, wenn du nicht eines sagen kannst: In mir ist etwas anders geworden? – Siehe, der Mensch ist nicht nur ein Teil der Welt, sondern weil in ihm Geistiges und Körperliches zusammen sind, gewissermaßen eine Welt im Kleinen, und in dieser Welt im Kleinen spiegelt sich nun alles wider, was in der unendlichen Welt geschehen. Und wenn nun der Tod unseres Herrn das größte Ereignis der Welt ist, so kannst du nur verstehen, daß es ist, und begreifen, wie es ist, wenn eben für dich, für dein Leben auch derTod dort am Kreuz etwas ist, das in dein Leben eingegriffen hat. Ich meine nun nicht den Glauben an dieVergebung der Sünden, sondern ob durch diesen Tod etwas in deinem tätigen Leben anders geworden ist. Ist etwas in deinem Leben anders geworden? Kannst du auch nur eine bestimmte Tat dir ins Gedächtnis rufen, von der du dir selbst sagen kannst: Ich habe es nur getan im Hinblick auf ihn am Kreuz? Kannst du dich an etwas erinnern, wo du dich überwunden hast und wo du dir sagen mußt: Ich hätte es nicht gekonnt ohne die Kraft, die mir von ihm, dem Gekreuzigten kam? Siehe, wenn es so ist, dann hast du Erkenntnis davon, was sein Tod für dieWelt bedeutet, und hast nicht nötig, daß dich jemand lehre, und wenn es dem nicht so ist, dann könnte man mit Menschen- und mit Engelszungen dir reden von dem großen Geheimnis desTodes unseres Herrn, duwürdest es doch nicht verstehen. Wenn zwei Menschen einander verstehen wollen, muß irgend etwas Gemeinsames zwischen ihnen sein. Warum hat denn Jesus dieses Geheimnis erkannt, daß seine Dahingabe – undwasist ein Menschenleben in der unendlichen Welt – daß seine Dahingabe in den Tod die ganze Welt umgestalten würde? Weil er nicht für sich selbst gelebt hat – darum ist es ihm offenbar geworden. So können auch wir dieses Ge-

Der Blinde zuJericho

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heimnis nur dann verstehen, wenn die Kraft seines Kreuzes auf uns ausgeht und wir einmal erleben, was es heißt, sich nicht mehr selbst leben, sondern ihm leben. Und je mehr einer von seinem Leben dahingibt für ihn, desto mehr empfängt er von dieser Erkenntnis, sechzigfältig und hundertfältig. Der Apostel Paulus war ein armer Mensch – aber als er ihm sein Leben ganz hingegeben hatte, als er seine Freunde, seine Verwandten, sein Glück, seinen Stolz, alles verloren hatte, da bekam er es tausendfach wieder in überschwenglicher Erkenntnis. Er hatte ihn nie gehört, er war nie von ihm gelehrt worden, und doch bekam er gerade die Erkenntnis des Evangeliums vom Kreuz und schrieb diese wunderbaren Worte von dem Geheimnis des Gekreuzigten, von denen wir alle noch leben und zehren. Und siehe, diese überschwengliche Erkenntnis, ist sie nicht ein tausendfacher Lohn für alles, waser für ihn ausgestanden hat? Und doch, es sind nur Gleichnisse, verschlossene Worte; der natürliche Mensch vermag wohl dieWorte zu erklären und den Sinn sich zurechtzulegen, in dem sie gedacht sind; aber die Kraft, die darin liegt, die Leben spendende Weisheit, die sie enthalten, die erfaßt erst der, der weiß aus sich, was das heißt, sich nicht selbst leben, sondern dem, der für uns gestorben ist. Habt ihr euch noch nie gewundert, daßJesus seine Jünger nicht über die Bedeutung seines Todes belehrt hat? Gar keine Erklärung hat er ihnen gegeben, kaum eine Andeutung, sondern er hieß sie, ihm nachfolgen auf demWege nach Jerusalem – denn er wußte, daß hier Worte nichts vermögen, sondern nur die Nachfolge. Das ist so geblieben bis auf den heutigen Tag. Ihm nachfolgen, ihm leben, nicht uns selbst – darum wollen wir uns alle fragen in dieser heiligen Passionszeit: ob wir denn wissen, wasdasheißt, nicht uns selbst leben – . Stückweise erkennen – in Gemeinschaft mit ihm.

Morgenpredigt Sonntag, 13. März 1904, St. Nicolai

Mk. 10,46–52: Der Blinde zuJericho¦18¿ Ich weiß nicht, ob es ist, weil wir in unserer Gegend nicht viele Kruzifixe draußen sehen und daher nicht zur Gedankenlosigkeit abgestumpft sind, oder ob eine wirkliche tiefe Bedeutung drin liegt: Ein Kruzifix an 18 [Und sie kamen genJericho. Und da er ausJericho ging, er und seine Jünger und ein großes Volk, da saß ein Blinder, Bartimäus, desTimäus Sohn, amWege und bettelte. Und da er hörte, daß esJesus von Nazareth war, fing er an zu schreien und zu sagen:

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der Landstraße macht mir immer einen tiefen Eindruck. Ein gekreuzigter Mensch hängt da; ob der Frühjahrssonnenschein blinkt, ob die Blumen sprießen, ob das Herbstlaub fällt, ob die Zugvögel kommen oder gehen, ob die Winterstürme brausen, ob die Erde lacht oder weint: Er hängt da, der gekreuzigte Mensch, als wollte er sagen: Ich allein erkläre alles; um die Welt zu erkennen und zu verstehen, müßt ihr mich anschauen, dann wird euer Auge sehend in Wahrheit. Manchmal möchte man sich auflehnen, daß ein gekreuzigter Mensch alsWahrzeichen über der Welt schwebt, und doch ist es wahr: Nur das Auge, das auf den leidenden Heiland blickt, ist sehend. «Ich bin das Licht der Welt» [Joh.

8,12]. Darum hat jene Erzählung, die ihr soeben vernommen, neben ihrer natürlichen Bedeutung, daß er einem armen Menschen das Augenlicht wieder geschenkt, noch eine höhere, symbolische: Sie ist ein in der Wirklichkeit dargestelltes Gleichnis. Auf dem Leidensweg tut er ihm die Augen auf, schon in derVollmacht als leidender Heiland; es war sein größtes Wunder, denn daraufhin zogen siejubelnd vor ihm her und riefen «Hosianna, der da kommt im Namen des Herrn!» [Mt. 21,9]; es war sein letztes, sein bleibendes Wunder an der Menschheit. Der natürliche Mensch ist blind, denn er vermag nicht, die Liebe Gottes in der Welt zu erkennen. Statt des Lichtes sieht er das Dunkel, statt der Liebe Härte und Grausamkeit. Wir waren eine unruhige Klasse in der Naturgeschichte, und der Lehrer stand an den Insekten. Als er aber erklärte, wie eine Reihe dieser Insekten nur da sind, um den Eiern, die andere Insekten in sie hineinlegen, bei ihrer Entwicklung zur Nahrung zu dienen und von innen heraus aufgezehrt zu werden, und nun schloß: So grausam ist die Natur, da wurde die unruhige Klasse still, und 40 Knaben blickten starr auf ihn, von einem geheimnisvollen Erschrecken erfaßt. Und dies Erschrecken kommt für jeden Menschen einmal und dann wieder und immer wieder, bis Dunkel und Frage über seiner Erkenntnis liegen. Hier gilt nicht glücklich und unglücklich; undwenn einer der glücklichste Mensch auf der Welt ist, von dem Erschrecken über der gesetzmäßigen Härte und Grausamkeit in der Natur und im Menschenleben kommt er nicht los. Hier gilt nicht gelehrt oder ungelehrt, denn es handelt sich um das, wasman alltäglich sieht und hört. Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich mein! Und viele bedrohten ihn, er sollte stillschweigen. Er aber schrie viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich mein! UndJesus stand still und ließ ihn rufen. Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost! stehe auf, er ruft dich! Und er warf sein Kleid von sich, stand auf und kam zu Jesu. UndJesus antwortete und sprach zu ihm: Waswillst du, daß ich dir tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, daß ich sehend werde. Jesus aber sprach zu ihm: Gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und alsbald ward er sehend und folgte ihm nach

auf demWege.]

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Und weil es etwas ist, wasihr alle wißt, brauche ich es euch nicht auszuführen, denn ich meine, blitzartig zieht an eurem Auge alles das vorüber, was ihr an euch und mit andern erlebt, und wo ihr euch fragen mußtet: Wo ist die Liebe und Güte Gottes? – Das ist der immerwährende Anstoß desGlaubens, der nicht in uns, dasheißt in unserer sündigen Natur, sondern im Wesen der Dinge selbst liegt. Und doch sagt uns ein inneres Ahnen, daß es kein wirkliches Dunkel ist, sondern nur eine Finsternis, die von einer natürlichen Blindheit herrührt, und daß dennoch über derWelt, die uns so dunkel scheint, die Sonne der göttlichen Liebe erglänzt. Was haben die Menschen nicht alles für Versuche gemacht, durch Operationen diese Blindheit zu heben, daß die Liebe Gottes wirklich sichtbar werde trotz dem Dunkel. Der Kirchenvater Augustin erklärte es so, daß er sagte, das Übel in der Welt gehöre mit zur Liebe Gottes wie der Schatten zum Licht – aber was ist das anderes als ein Verlegenheitsgleichnis, das nichts erklärt? So sind sie an der Arbeit seit Jahrhunderten, die guten Advokaten Gottes, um dasunbegreifliche Übel in der Welt begreiflich zu machen und von Gott abzuwälzen. Sie sagen, daß alles gekommen ist durch die Sündhaftigkeit der Menschen; dadurch sei die Menschheit und die Natur selbst dem Übel unterworfen worden. Und daran ist etwas Wahres, denn wie viel Übel geht gerade auf die Menschen zurück. Aber wird es darum von Gott aus verständ-

licher? Zu mir kommt ein junger Mensch von 16 Jahren, dem das Laster und dieVerkommenheit auf der Stirne geschrieben sind, und sucht mir unter erlogenen Angaben etwas zu entlocken. Ich gehe nach und erfahre, daß sein Vater ein Lump und seine Mutter eine verkommene Frau ist; jetzt weiß ich, warum dies Menschenleben von vornherein ruiniert ist. Aber wie kann Gott es zulassen, daß ein Mensch, der doch eine ewige Existenz für sich ist, durch andere Menschen von vornherein mit Notwendigkeit zugrunde gerichtet wird? Eine deutsche Prinzessin bat den Philosophen Leibniz, er möge ihr Aufklärung geben über die Frage, wie die Güte und Liebe Gottes mit dem tatsächlichen Zustand der Dinge in der Welt vereinbar sei. Er unternahm esund schrieb seine Theodizee, aber dieses Werk, bei allem aufgewandten Scharfsinn, überzeugt in nichts. Man mag von dem großen Haufen des Elends wegnehmen einmal übers andere, und noch einmal, und dies so und jenes anders erklären, man mag den Anteil menschlicher Sünde und Schlechtigkeit noch so groß bemessen, es bleibt ein Rest, den niemand wegschaffen kann. Manchmal scheint er uns ganz klein, dieser Rest, daß man fast davon absehen zu können glaubt, aber plötzlich bei irgendeinem Ereignis strebt wieder alles, was man meinte, weggeschafft zu haben, von selbst zum Haufen zu – und die ganze Mühe war umsonst. Das, was man nie

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wegschaffen kann, sind die Übel, welche dasWesen desMenschen selbst angreifen. Solange ein Mensch wirklich Mensch ist und seine klaren Sinne hat, mag geschehen, was will, es hat eine Bedeutung. Mag er am Glück, am Leibe oder am Leben heimgesucht werden – Gott läutert ihn. Aber wenn der Verstand zerrüttet wird und die edle Menschennatur selbst zerstört ist, wassoll dasfür eine Bedeutung haben? Wer von euch kann ohne Erschrecken über dasWeh derWelt an der Station Stephansfeld durchfahren und an die zerrütteten Menschenexistenzen denken, die dort vegetieren bis sie auslöschen. Diese Blindheit der Erkenntnis kann keine Operation menschlichen Scharfsinns heben. Und darum ergeben sich die Menschen für gewöhnlich in ihre Blindheit und sind wie Blinde, die sich an bekannten Zäunen und Häusern auf ihrem täglichen Weg entlangtasten und in glücklicher Gedankenlosigkeit vergessen, daß sie blind sind, weil sie eben nicht weiter hinauswollen als dasalltägliche Getriebe der Gedanken. Oft sagt man auch: Wir können die Güte Gottes nicht erkennen, man muß daran glauben. Man denkt sich manchmal den Glauben wie eine wohltuende Betäubung der Gedanken; aber mir kommt dies manchmal so äußerlich vor, wie wenn man zu einem Menschen, der sagt: Ich kann es nicht mehr ansehen, spricht: Bitte schauen Sie doch auf die andere Seite. Als sie unserm Herrn Jesus am Kreuze Galle zu trinken geben wollten, um ihn zu betäuben, da wollte er es nicht nehmen, sondern alles klaren Geistes erleben. Wer einmal verstanden hat, wasdieses sein letztes Kopfschütteln bedeutet, der weiß, daß ein Glaube, der Betäubungsmittel ist, kein wahrer Glaube sein kann, sondern nur der lebendige Glaube kann helfen. Habt ihr schon einen Menschen aufzurichten gesucht, der unter diesen Fragen litt? Habt ihr ihn aus dem Kreislauf seiner Gedanken herauszureißen versucht, in dem er herumtrieb wie ein Stück Holz, dasin einen Strudel geraten ist? Dann wißt ihr auch, nur einer kann helfen, der, der Wunder tut an den Menschen: Jesus. Menschen aber können nur tun, was dort die Menschen mit dem Blinden taten, ihm sagen und wieder sagen: «Sei getrost, stehe auf, er ruft dich.» Stehe auf, es ruft dich der Herr der Barmherzigkeit. Stehe auf, er ruft dich durch die leidenden Menschen, daß du ihm helfest die Not lindern. Auf aus der Untätigkeit! Das muß geschehen, ehe er etwas an dir tun kann. Habt ihr schon bemerkt, was für ein Unterschied in der Betrachtung der Dinge besteht zwischen den untätigen und den tätigen Menschen? In allen Menschen, welche wirken und arbeiten gegen das Elend in derWelt, ist eine gewisse Hoffnungsfreudigkeit, die ihnen das Elend und das Übel, das sie um sich sehen, nicht nehmen kann. Sie sehen alles, aber sie kommen darüber hinweg und werden getroster und zuversichtlicher im Glauben an die Liebe Gottes, dennoch und trotz alledem, weil sie die Liebe Gottes in sich tragen, und diese Liebe Gottes

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erleuchtet ihnen Sinn und Gemüt, daß es helle wird um sie von der Güte Gottes. Worin besteht die Finsternis des erblindeten Auges? Darin, daß es aus irgendeinem Grunde nicht empfänglich ist für das Sonnenlicht. Und die Dunkelheit des geistigen Auges? Daß es nicht empfänglich ist für die Liebe Gottes. Und warum nicht? Weil keine tätige Liebe und Barmherzigkeit in dem Menschen ist. Aber wenn diese da ist, dann wird es hell, von selbst, und es sieht die göttliche Liebe. «Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen» [Röm. 5,5], wie es in der Schrift heißt – dasgeht dann an euch in Erfüllung. Darum, wenn du willst sehend werden, «steh auf, er ruft dich». Bleib nicht sitzen, wie so viele sitzen bleiben und deswegen blind bleiben müssen. Die großen Philosophen des Pessimismus, das heißt der Lehre von derTrostlosigkeit derWelt, waren untätige Menschen, die sich noch in ihrer Blindheit interessant vorkamen. So sitzen sie allenthalben am Wege: Ganze-, Halbe-, Drittels- undViertelsphilosophen und diskutieren über die Trostlosigkeit der Welt, führen interessante Gespräche und schreiben Artikel drüber und finden ihr Vergnügen dran, leeres Stroh zu dreschen, statt daß sie aufstehen, daß ihnen geholfen werde. Manchmal möchte man ergrimmen über die Gedankenlosigkeit der Menschen. Der HerrJesus hat mehr menschliches Elend gesehen und erlebt alsje ein Mensch, mehr als alle pessimistischen Philosophen, und doch blickte er mit übernatürlicher Heiterkeit und unerschütterlicher Hoffnungsfreudigkeit in die Welt hinaus. Warum? Weil er Liebe und Barmherzigkeit übte mehr denn ein Mensch. Darum sah er die Welt im Sonnenschein. Und der Apostel Paulus, ein kranker, armer Mensch, verfolgt, gehaßt, mit Undankbarkeit belohnt von den Gemeinden, für die er sich die Augen ausgerissen hätte, der schreibt: «Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn» [Röm. 8,38 f.]. Er war sehend, weil die Liebe des Herrn Jesus Christus auf ihn übergegangen. Darum, willst du sehend werden, stehe auf aus der Untätigkeit und taste dich zu ihm hin. Wirke Barmherzigkeit und Liebe mit deiner Person, wirf auch dein Kleid hin, dasheißt: Laß etwas von dem fallen, was dir jetzt zum Leben und zur Bequemlichkeit notwendig erscheint. Tue es unentwegt; und wenn du dennoch nicht siehst, wisse, daß du noch nicht bis zu ihm herangekommen bist und nicht weit genug voran bist in der Liebe. Dann taste dich weiter. Es gibt keinen andern Weg für uns Menschen zu ihm und zu der vollkommenen Erkenntnis, die über allem Wissen und Erkennen steht, als daß wir uns durch Liebe und Barmherzigkeit auf Hoffnung hin, auf das Zeugnis seiner Jünger und der Menschen, denen er etwas geworden ist, zu ihm hintasten, bis wir

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ihn finden, seine Hand fassen, und er dasWunder an unstue unduns erfülle mit Helligkeit und überschwenglicher Freudigkeit. Darum ist es wenig und viel, was dem Prediger verliehen ist: Er kann nur immer sagen in schwacher menschlicher Vollmacht: «Stehe auf, er ruft dich» und es auf jede Weise wiederholen und doch mit der felsenfesten Gewißheit, daß an denen, die aufstehen und sich zu ihm hintasten, das letzte, ewige Wunder des Heilands sich vollziehen wird, wenn sie bis zu ihm hinkommen. Die Tätigen, die Gewalttätigen finden ihn. Hat er doch selbst von den Gewalttätigen geredet, die das Reich Gottes an sich reißen. So muß man gewalttätig ein Stück der Liebe Gottes, die in der Welt ist, an sich reißen, damit man sehend werde. Und um zu dieser Gewalttat zu rufen, ist er in die Welt gekommen als Herr der Barmherzigkeit, damit sie in dasinnere Wesen derWelt eindringe. Er ist aber auch gekommen als der Herr des Leidens. Auf dem Weg zum Leiden hat er den Blinden geheilt, und als leidender Heiland ruft er die Menschen unmittelbar. In seinem Leiden ruft uns der Herr zu sich, nun selbst ein Gewalttätiger. Und der Leidende spricht nicht mehr als der, welcher in Galiläa die ersten Jünger berief: Komm, folge mir nach [Mt. 4,19]! Siehe, wer daleidet undTrübsal hat, ist nahe bei ihm. Wie viele Menschen, die in ihrem gesunden Leben nicht hörten, da es hieß: «Stehe auf, er ruft dich», die nicht gewalttätig die Liebe Gottes ergreifen wollten, denen tut er nun selbst Gewalt an. Sie, die es nicht mehr gemerkt hatten, daß sie blind waren, weil sie denWeg im alltäglichen Denken und im alltäglichen Glück fanden, reißt er heraus und stellt sie dahin, wo sie selbst den Weg nicht mehr finden können und nun sie zu ihm sich hintasten müssen, ob er sie, da sie die Gemeinschaft seiner Liebe nicht suchten, in die Gemeinschaft seines Leidens aufnehmen will, daß sie so sehend werden und ihren Gott finden durch Schmerzen und Trübsal hindurch. Aber was müssen sie kämpfen und zweifeln, bis sie es wirklich erkennen, daß es der Herr war, der in dem Leiden sie angerührt hat, und dasWunder an ihnen geschehe und ihre

Augen aufgetan werden. Selig aber die, die schon vorher sehend geworden sind, und wenn nun Schmerz undTrübsal kommt, ihn gleich erkennen und wissen, daß es seine Hand ist, die ihnen das Kreuz auflegt. Die sind selig wie jener Blinde, denn es heißt von ihm: «Und alsbald ward er sehend und folgte ihm nach auf demWege» – eswar derWeg zum Leiden und Sterben.

Wir tragen das Sterben desHerrn

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Nachmittagspredigt Sonntag, 20. März 1904, St. Nicolai, Passion

II Kor. 4,10: Wir tragen allezeit das Sterben desHerrn Jesu an unserm Leibe, auf daß auch dasLeben desHerrn Jesu an unserm Leibe offenbar werde

«Wir tragen allezeit das Sterben des Herrn Jesu an unserm Leibe» – der Apostel Paulus durfte so sprechen. Habt ihr gelesen, was er im elften Kapitel eben des zweiten Briefes schreibt über das, was er um Christi willen erduldet? Ich will es euch lesen: «Ich habe Schläge erlitten, ich bin gefangen gewesen, oft in Todesnöten gewesen. Von denJuden habe ich empfangen fünf mal 40 Streiche weniger eins. Ich bin dreimal gestäupt, einmal gesteinigt; dreimal habe ich Schiffbruch gelitten. Tag und Nacht habe ich zugebracht in der Tiefe des Meers; ich bin oft gereist; ich bin in Gefahr gewesen zuWasser, in Gefahr unter den Mördern, in Gefahr unter denJuden, in Gefahr unter den Heiden, in Gefahr in den Städten, in Gefahr in derWüste, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter den falschen Brüdern; in Mühe, in Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und in Blöße» [II Kor. 11,23 – 27]. – Ja, er hatte ein Recht, zu sagen, daß er das Sterben des Herrn allzeit an seinem Leibe trage; und darum gerade hat er, mehr als dieJünger des Herrn, gewußt, was die Bedeutung des Leidens und Sterbens Jesu sei, weil er es täglich an sich erfuhr. Ja einmal schreibt er an die Kolosser ein Wort voll erhabenen Stolzes, das niemand mehr nach ihm aussprechen durfte, Kol. 1,24: «Nun freue ich mich in meinem Leiden, das ich für euch leide, und erstatte an meinem Fleisch, was noch mangelt an Trübsalen in Christus für seinen Leib, die Gemeinde.» Er macht also in seinem Leiden dassühnende Leiden unseres Herrn vollkommen! Aber dürfen wir auf uns auch dieses Wort beziehen, daß wir das Leiden und Sterben unseres Herrn an uns herumtragen? Ich habe immer eine Angst, die gewaltigen Worte auf uns zu übertragen, da wir doch so klein sind, und ich meine manchmal, es ist fast eine Sünde, dann zu sagen: Das gilt auch von uns, von mir, als hätten wir, da wir so wenig für den Herrn getan, kein Recht auf diese großen Worte. Und wer von uns könnte sagen, daß er für unsern Herrn so viel erduldet, daß sein Leiden und Sterben darin an ihm offenbar wird? Aber dennoch ist dieses Wort auch an uns wahr, und ich möchte es euch in kurzen Worten erklären, wie dies zu verstehen sei. Unser Glaube beruht auf dem Leiden und Sterben desHeilands; wenn unser Herr nur gelebt hätte auf der Welt, er wäre nicht unser Heiland, nicht die vollkommene Offenbarung, denn die göttliche Herrlichkeit, die er in sich trug, die ist erst in seinem Leiden an ihm offenbar geworden. Es ist mit

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der göttlichen Kraft und Herrlichkeit wie mit einem Licht: Wenn man es in irgendein Gefäß hineinstellt, dann kann es noch so leuchtend sein, es scheint nicht durch, wenn dieWände dieses Gefäßes nicht durchsichtig gemacht werden. So, wenn ein irdischer Leib und ein irdisches Leben eine göttliche Existenz in sich schließen, so kann diese doch nicht wahrhaft durchscheinen, ehe das irdische Leben und das irdische Glück durch das Leid und das Unglück aufgezehrt werden: Dann erst leuchtet die göttliche Kraft und die göttliche Herrlichkeit daraus hervor. Darum mußte der Heiland der Menschen leiden, daß in seinem Leiden sich die göttliche Herrlichkeit offenbarte – darum muß auch unser Glück und unser Wohlsein angetastet und aufgezehrt werden, daß das göttliche Leben, das in uns ist, durchscheinen kann. Das Leiden des

Herrn zur Offenbarung der göttlichen Kraft ist nicht etwas, das einmal irgendwie und irgendwann gewesen, sondern das noch immer da ist und da erscheint, wo Gottes Herrlichkeit sich offenbaren soll. Siehe, so ist alle Trübsal, die dir begegnet, leibliche und geistige, das Leiden des Herrn Jesu, das an dir offenbar wird. Alle, die ihm angehören, die sind mit seinem Leiden und Sterben als mit einem geheimnisvollen Siegel gezeichnet. Erinnert ihr euch, daß die Offenbarung desJohannes von dem Siegel des Lammes [Apk. 7] redet, das die Auserwählten unsichtbar an sich tragen? Und St. Paulus im 6. Kapitel des Briefes an die Römer [6,3] sagt also: «Wisset ihr nicht, daß so viele ihrer aufJesus Christus getauft sind, die sind auf seinen Tod getauft!» Darum muß an uns sein Leiden und Sterben offenbar werden, damit es offenbar wird, daß wir ihm angehören. Wir sind sein Leib auf Erden, wie es der Apostel Paulus lehrt [Eph. 5,30], der Leib eines leidenden und gekreuzigten Menschen: Darum stehen wir in seiner Gemeinschaft erst dann, wenn wir etwas erleiden. Das Leiden Christi ist nicht mit ein zur Verklärung gegangen, sondern es ist auf Erden zurückgeblieben, daß es wie ein Sauerteig das unendliche Elend und das Leiden auf der Welt durchdringe und durchsäuere, und daß die Menschen in allem, was sie durchmachen müssen, erkennen – dasLeiden Christi, dassich an ihnen auswirkt. Wasist doch das Unglück an sich so schwer zu tragen? Aber wenn ein Mensch erkennt, daß es das Leiden Jesu ist, dann kann ihm nichts mehr etwas anhaben. Er steht dann in Gemeinschaft mit dem Herrn durch das Leiden, er gehört zu seinem Leibe – darum wird dann auch das Leben, die Lebenskraft Jesu in ihm offenbar – und niemand kann sagen, wie dies zugeht. Er aber spürt es durch die Kraft und den Frieden, die er in sich trägt. Kennt ihr diese Augenblicke, wo man vor nichts mehr Angst hat? Wenn ich manchmal einen Menschen sehe, der schweres Unglück erdulden muß, oder durch einen Spitalsaal gehe, dann kommt es wie eine Angst über mich: Ja, wenn du das an dir erführest, wenn die Zukunft

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dir das aufbewahrte? Wenn ich einen sehe, dessen Wirken und Schaffen mitten abgebrochen ist, und der nun als ein siecher Mensch untätig den Rest seines Daseins dahinlebt, dann kommt über mich ein Erschrecken, und ich frage mich: Könntest du dich darein finden? Und solche Fragen des Erschreckens hat jedes von euch – und wir alle gehen dem entgegen, was uns bestimmt ist, aber wir sind froh und zuversichtlich: Wir wissen, daß alles, wasuns geschehen wird, ob es von Gott oder von den Menschen kommt, ob es körperlich oder geistig ist: Es ist sein Leiden, das an uns offenbar wird. Wir wissen, und wir haben es schon in dunkeln Stunden erlebt, daß dann etwas Wunderbares geschieht; wenn wir im dunkelsten Dunkel umherirren und anstoßen und keinen Ausweg finden, dann erscheint sein stilles, ernstes Gesicht und blickt dich milde an, und seine Hand faßt die deine, und er sagt: Ich bin’s; ich bin mit dir; verstehst du’sjetzt? – Was kann es denn auf dieser Welt noch Schweres geben? Und nun, tut die Augen auf – erfahrt ihr nicht schon jetzt das Leiden Christi an euch? Denn das Leiden Christi war nicht nur körperliches Leiden und Drangsal, sondern es war auch geistiges Leiden daran – viel geistiges Leiden. Da war der Undank der Menschen, da war das Stillehalten unter Hohn und Spott, da war die Gleichgültigkeit und die Charakterlosigkeit seiner Jünger – (Was meint ihr, daß er gelitten, als er kam und fand sie schlafend – und als sie von ihm flohen – und als Petrus ihn verleugnete?) – dawar dasVerzeihenmüssen.¦19¿ Nun sieh, dieses seelische Leiden war mehr und schwerer als das körperliche Leiden. Und dieses seelische Leiden: Istjemand unter euch, der noch nichts davon erfahren hätte? Nein, denn ihr wißt es, je mehr wir Gutes wirken wollen, je mehr wir in seinem Geiste arbeiten wollen, desto mehr müssen wir durch den Unverstand und die Charakterlosigkeit der Menschen seelisch erdulden. Dann lehnen wir uns auf und finden dasungerecht – aber es mußja so kommen, dennje mehr wir in unserm Streben in ihm aufgehen, mit ihm eins werden, desto mehr muß sein Leiden an uns offenbar werden. Ach, wenn man es nur allen Menschen, die so geistig leiden, die aufgezehrt und aufgerieben werden, sagen könnte: Es ist dasLeiden Christi, dasan euch offenbar wird. Und das hauptsächlichste Leiden unseres Herrn, das, was ihm am schwersten wurde, bestand es nicht darin, daß er einen andern Weg gehen mußte, als er gedacht? «Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir» [Mt. 26,39] – und dieses größte Leiden des Herrn wird immer und immer wieder aufs neue offenbar an den Menschen. Wer kann es beschreiben, das Elend der Menschen, die gerne etwas tun wollten, die in sich die Kraft fühlen, etwas Großes zu wirken und zu schaffen, die ins Leben hinaustreten möchten und dort etwas vollbrin19 [R] Die Milde, die von seinem Leiden ausstrahlt.

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gen und sich verausgaben – und die dann Gott so führt, daß sie in einem kleinen Kreise gebannt bleiben und sich dort in kleinen, unscheinbaren Diensten verausgaben müssen? Aber auch dasist dasLeiden Christi, das offenbar wird an ihnen. Und was ihnen klein und zwecklos erscheint, das gerade ist groß vor Gott. Ich will mit einem Passionsgleichnis schließen. Da sie waren im Hause Simons, des Aussätzigen, kam zu ihm ein Weib, da er zu Tische saß, und hatte ein Glas mit köstlichem Wasser – und sie zerbrach es und goß es aus, daß der Duft das Haus erfüllte [Mk. 14,3–9]. Das war eine Weissagung auf ihn – daß sein Leib mußte gebrochen werden im Tode, damit die geistige Kraft und Herrlichkeit, die er in sich trug, ausgegossen würde über die Welt. Ein Gleichnis für uns: daß auch an uns sein Leiden müsse offenbar werden, damit die geistige Herrlichkeit, die wir in uns tragen, auch offenbar werde.

Abendpredigt Dienstag in der Karwoche, 29. März 1904, St. Nicolai

I Petr. 4,1:Weil nun Christus im Fleisch für unsgelitten hat¦20¿ Ich möchte euch von derVergebung der Sünden predigen: Das ist herrlich, aber es ist schwer. Es ist herrlich, aus innerster Gewißheit, wie ein Botschafter Gottes, euch sagen zu können: Es gibt eine Vergebung der Sünden; und wenn es das Schrecklichste ist, was ihr getan habt, es gibt für dich Vergebung. – Aber es ist schwer, etwas Lebendiges zu sagen über die Vergebung, etwas, worunter man sich etwas Wirkliches vorstellen kann. Dieses alte Evangelium: Christus ist für unsere Sünden gestorben, damit wir Vergebung hätten, das darf nicht einfach hergesagt werden, sondern es muß den Menschen lebendig gemacht werden, sonst bleibt es leer und inhaltslos. Wasnützt es, immer zu reden von seiner Schönheit undHerrlichkeit, wenn es nicht als etwas Lebendiges den Menschen gegeben wird. Ich möchte die Menschen immer wieder fragen: Hast du einen lebendigen Glauben an dieVergebung der Sünden? Weißt duwirklich, wases ist? Kannst du davon reden als von etwas, was du erlebt und erfahren hast? Als ich zu predigen anfing, da mußt ich mich fragen: Was kannst du ihnen Lebendiges sagen über dieVergebung der Sünden? Wie kannst du ihr Wegweiser werden, daß sie die Gnade Gottes finden? – Und was ich euch sagen kann, daswill ich euchjetzt sagen. 20 [, so wappnet euch auch mit demselben Sinn; denn wer am Fleisch leidet, der hört auf von Sünden.]

Den Frieden

lasse

ich euch

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Was ist Sünde? Sünde ist alle Vergehung, alles Gemeine und Niedrige, was in uns sich auswirkt. So kennt ihr die Sünde alle. Aber Sünde ist noch mehr: alles, wasuns von Gott trennt, alles Natürliche. An allem deinem Glück, an all deiner Zufriedenheit, an all deinem Fortkommen ist Sünde, weil es selbstsüchtig ist, und wenn es noch so ehrbar und gut ist, Sünde ist daran, weil es zum natürlichen Menschen gehört. Wer noch nie seine gemütliche, geheizte Stube und seinen gedeckten Tisch wie als Sünde empfand, als etwas, was er eigentlich nicht behalten dürfte, beim Gedanken an die, welche nichts haben – der weiß nicht, was Sünde ist. Daß alles natürliche Glück Sünde ist – ihr seht es daran, daß wir nie ferner sind von Gott als im Glück und der Zufriedenheit. Wassind dieWolken, die sich zwischen dieErde unddie Sonne schieben, daß das Licht verbleicht? Es sind die Ausdünstungen der Erde – ihre natürlichen Ausdünstungen. So liegt auch über jedem Menschenleben ein Dunst, das sind die Sünden, die aus ihm hervorgehen – und wenn die göttliche Gnadensonne diesen Dunst nicht aufzehrt, dann wird es dunkel. Das ist Sündenvergebung, daß wir den lieben Gott wieder sehen und sein Licht in unser Herz dringen kann. Es gibt viele Menschen, die leben ohne Sündenvergebung, bewußt oder unbewußt. Sie wollen gute Menschen sein, sie wollen vielleicht sogar nicht als schlechte Christen gelten, aber sie wissen nicht, was Sündenvergebung ist, sie wissen es nicht als etwas Lebendiges, das ihnen widerfahren – und darum kennen sie Gott nicht, und es ist kein Sonnenschein und keine Freudigkeit in ihrem Leben. Und wenn sie einmal in schwere Sünde kommen, finden sie keinen Weg mehr. Was ist Sündenvergebung? Daß uns Gott wieder Lebensfreudigkeit gibt.¦21¿

Nachmittagspredigt Ostersonntag, 3. April 1904, [St. Nicolai]¦22¿

Joh. 14,27: Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch Heute trägt jeder Kirchgänger eine Entscheidungsfrage an seinen Pfarrer mit sich: Wie denkt er über die Auferstehung? Stellt er sich die Auferstehung des Herrn als etwas Leibliches oder Geistiges vor? Und ich darf gleich hinzusetzen, daß ihr heute manchen Pfarrer in Verlegenheit bringt, daß er seine Worte so wählt, daß er sich weder für das eine noch für das andere ausspricht, um keinem Anstoß zu geben.

21 [Es folgen noch einige Stichwörter. Der Schluß fehlt.] 22 [Im Kirchenboten ist Schweitzer als Prediger in St. Nicolai angegeben.]

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Da ich nun aber meine, es muß zwischen mir und euch immer offen und ehrlich zugehen, so schicke ich voraus, daß ich über die Auferstehung mehr geistig denke, und meine auch, daß der geistige Christus denJüngern sich offenbart hat und daß es mit dem innerlichen Glauben nichts zu tun hat, wieviel sie nun nach den Berichten der Evangelien an dem geistigen Christus noch Leibliches schauten oder zu schauen meinten. Aber wie jeder auch darüber denken mag, wenn nur heute allenthalben der lebendige Christus lebendig gepredigt wird, wie schon St. Paulus schreibt an die Philipper: «Daß nur Christus verkündigt werde auf allerlei Weise» [Phil. 1,18]. Darum ist es meine einzige Sorge, euch den lebendigen Christus lebendig zu verkünden, den wahren Auferstandenen, wie er sich jetzt noch den Seinen offenbart, und nur sofern und soweit er mir selbst offenbar geworden, kann ich euch lebendig und wahrhaftig von ihm reden. Vom Auferstandenen reden, heißt reden von dem, was man gesehen hat, nicht etwas nachreden. Denn er ist heute noch derselbe wie am ersten Ostermorgen, und als derselbe geht er noch heute unter den Menschen um: als der Friedenschristus. «Friede sei mit euch!» [Joh. 20,19], das war sein Gruß. Und als sie diesen Gruß hörten und sein Frieden über sie kam, dawußten sie, daß er dagewesen. Und wer heute diesen Gruß hört und mit seinem Frieden beglückt wird, der weiß, daß er lebt. Denn was lebendig von seiner Person auf der Erde zurückgeblieben, dasWesen seiner überirdischen Person, das ist sein Friede. Hat er doch selbst zu denJüngern gesagt: «Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.» Wer kann beschreiben, was dieser Friede ist? Es ist nicht ein Zufriedensein. Das ist der Friede der Welt, nach dem sie strebt undjagt, und der doch nirgends ist, weil er nicht ist. Ein Mensch meint, den Frieden zu finden, wenn er in seinem Leben alles eingerichtet, alles geglättet, alles ausgepolstert hat. Aber wenn er es auch für einen Augenblick erreicht, sie dauert nicht an, die Zufriedenheit, und macht Platz der Leere und der Unruhe. Dem inwendigen Menschen aber gibt sie gar nichts, diese Zufriedenheit: Sie läßt ihn arm. Darum glücklich die, welche diesen Trug des Lebens durchschaut haben, die wissen, daß alles Glück und alle Freude, aller Erfolg und alles Erreichen ihnen nur Zufriedenheit, aber nicht Frieden geben kann. Ich meine, glücklich die Menschen, die in diesem Sinne mit dem Leben fertig sind und nicht mehr von ihm erwarten, als es geben kann, und wissen, daß es das innerlichste, tiefste, das wahre Glück, das Glück, von dem wir leben müssen, nicht geben kann. Glücklich die Menschen, die dem Leben abgestorben sind. Manche sterben ihm schmerzlos ab, weil das Sehnen nach dem wahren, inneren Glück ihnen die Augen öffnet über das, was ihnen das Leben nicht geben kann, und die dann ihr Leben so gebrauchen, daß an ihnen das

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Wort des Apostels Paulus in Erfüllung geht: «Und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die da kaufen, als besäßen sie es nicht» [I Kor. 7,30]. Andere muß Gott schwere Wege führen, damit sie über das Leben hinauskommen, und nicht schmerzlos sterben sie dem Leben ab. Sterben heißt: frei werden von dem Leben, nicht erst mit dem leiblichen Tod, sondern schon im Leben selbst. Nur diese Menschen sind empfänglich für seinen Frieden; denn sein Friede ist der Friede des Gestorbenen und Auferstandenen. Kennt ihr diesen Frieden? Dann wißt ihr, daß Christus lebendig ist, und keiner kann es euch besser verkünden und besser lehren, als ihr es selbst wißt; denn dieser Friede, das ist sein unsichtbares Wesen selbst, dasimmer wieder und immer wieder lebendig wird in den Menschen. Und wenn mich jemand fragte: Glauben Sie an die leibliche Auferstehung Christi, dann würde ich sagen: Ja! Wo der Friede des Auferstandenen in irdischen, leiblichen Menschen wohnt und ihnen zum Leben wird, das ist die wahre, ewige, leibliche Auferstehung Christi. Das ist die Lehre des St. Paulus, da er sagt: «Ihr seid der Leib Christi» [I Kor. 12,27] und in der Epistel an die Römer: «Wißt ihr nicht, daß alle, die wir inJesus Christus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, auf daß, gleichwie Christus ist auferweckt von denToten durch die Herrlichkeit desVaters, also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln» [Röm. 6,3 f.]. Nun, siehe, so viel ein jeder von euch weiß, was das heißt, der Welt gestorben sein und innerlich von dem Frieden Christi leben, so viel feiert er Ostern in Wahrheit. Und wenn diese Worte für ihn keine lebendige Bedeutung haben, wenn nichts in seinem Leben ihnen entspricht, dann kann er Ostern mitfeiern, aber für sich feiern kann er es nicht; er kann sich freuen, aber es ist noch nicht die wahre Freude, denn er hat seinen Frieden noch nicht empfangen. Er ist wie die Jünger, die den Herrn auch kannten und liebhatten, da sie seine Worte hörten und mit ihm lebten: Aber zum wahren Leben in ihm erwachten sie erst, als er ihnen erschienen. Sie hatten viel von ihm gehalten und wußten, daß er groß war, aber erst als sie in Niedergeschlagenheit und Furcht dasaßen und sein Friede dann über sie kam, dawußten sie wirklich, wer er war. So kennen auch diejenigen unter euch, über die sein Friede gekommen, ihn besser, als er in der Schrift beschrieben und in seinem Worte lebt: Sie kennen ihn als den lebendigen Herrn des Friedens. Aber er gibt ihn nicht umsonst, diesen Frieden; denn es ist kein Ausruhen, keine Zufriedenheit, nicht Abendfriede, sondern Sonnenaufgangsfriede, ein Friede des Lebens der Tat. Als er denJüngern erschien, da fing das Leben für sie erst an, und sie mußten nun hinaus, ob sie wollten oder nicht, und für ihn leben. Und immer noch ist es so: Wer von euch wirklich seinen Frieden empfangen, der weiß, daß etwas

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daran ist vom Nichtmehrkönnen, wie man will, mit dem dann diese Freudigkeit, diese Zuversicht, dieses Hinausgehobensein über dasLeben verbunden ist. Im Mittelalter kam es vor, daß freie Menschen ihren Besitz einem mächtigen Herrn zuwiesen, um ihn von ihm wieder zum Lehen zu empfangen, damit sie unter seinem Frieden lebten. So meine ich, daß die, welche mit seinem Frieden beglückt werden, ihm ihr Leben zu eigen geben, um es als sein Lehen wieder zu empfangen. Wir sind nur bescheidene, schwache Menschen, und doch, ein klein wenig von dem größten Worte seines größten Apostels dürfen wir für uns nehmen, wenn wir wirklich Frieden gefunden haben in ihm: «Ich lebe, doch nicht hinfort ich lebe, sondern Christus lebt in mir» [Gal. 2,20]. So komme er denn und halte Ostern in uns; daß er doch in uns einen Saal finde, gepflastert und bereitet wie dort, da er zu Jerusalem seine Jünger sandte mit denWorten: «Gehet hin zu dem und dem und sprecht zu ihm: Der Meister läßt dir sagen: Ich will bei dir Ostern halten» [Mt. 26,18].

Morgenpredigt 3. Sonntag nach Ostern, 24. April 1904, St. Nicolai¦23¿

Mt. 28,20: Siehe, ich bin bei euch alleTage bis an derWelt Ende Es ist einWort wie ein Sonnenaufgang: als stände man auf einem hohen Berge und sähe die fernsten Gipfel und Täler von einem Lichtstrahl erleuchtet: «Ich bin bei euch alleTage bis an derWelt Ende.» Das letzte Wort des Auferstandenen an seine Jünger. Für manche unter euch könnte es dadurch etwas von seiner Schönheit und Wahrheit einbüßen, da sie nicht annehmen können, daß Jesus, nachdem sein menschliches Dasein aufgehört, zu seinen Jüngern noch in Menschenworten geredet habe. Aber ich meine, es kommt vor allem auf die ewige Wahrheit an. Die Einkleidung dieses Wortes, wonach der Auferstandene dieses Wort an seine Jünger richtete, um sie zu stärken und zu trösten, mag ein Symbol, mag ein Gleichnis sein, das, worauf es für uns ankommt, ist, ob wir wissen, was es heißt, ob wir es an uns erfahren haben: «Ich bin bei euch.» Was ist doch schon die geistige Gemeinschaft mit einem Menschen für eine Kraft. Was sind doch die Menschen so arm, die geistig allein 23 [AS-HB, S. 66] «Ich schreibe eine Predigt für Sonntag morgen: ‹Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an derWelt Ende›, und ich spreche darin von denen, die uns helfen, weil sie mit ihren Gedanken bei unssind, dieToten und die Lebenden, die Nahen und die Fernen! Sie wissen, daß ich dasohne Sie nicht so klar sagen könnte.»

Siehe,

ich bin bei euch alle Tage

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sind, die niemand haben, der sie versteht und ermutigt, doppelt arm, wenn sie nicht einmal dasBedürfnis danach haben. Je mehr man im Leben vorwärtskommt, desto mehr erkennt man, wie die wahre Kraft und daswahre Glück unsvon denjenigen Menschen herkommt, die uns geistig etwas sind, ob sie nah oder fern sind, ob sie noch leben oder schon gestorben sind, wir brauchen sie, um denWeg durchs Leben zu finden, und das Gute, was wir in uns tragen, das wird erst durch ihre geistige Nähe Leben undTätigkeit. Wenn ich dasWort ewiges Leben höre, denke ich nicht zuerst an das fried- und freudvolle Dasein derer, die überwunden haben, sondern an das ewige Leben, wie es mir als geistige Gegenwart solcher, die nicht mehr sind, und solcher, die noch sind, offenbar geworden, an die Menschen, die ich nahe fühle, nicht als irdische Existenzen, sondern als geistige Wesen. Und wenn schon irdische Menschen mit ihren Schwächen und Gebrechen so viel für uns sein können, wieviel mehr er, in welchem alles Reine, alles Geistige, alles Ewige beschlossen ist. In diesem Worte «Ich bin bei euch» liegt das Schicksal eines jeden Menschenlebens. Diejenigen, welche sagen können: Ja, es ist so, ich weiß, was das ist, seine geistige Nähe, die sind reich und glücklich, daß man es nicht in Worten ausdrücken kann, und die andern, denen es nichts Lebendiges, nichts Erlebtes besagt, dieses Wort, sind arme, arme Menschen, wenn sie es auch selbst nicht ahnen. Aber wie ihn finden? Er ist da, in den Evangelien, in der Lehre der Kirche, wahrhaftig da. In den Evangelien steht sein Leben hienieden beschrieben, und in der kirchlichen Lehre, waser für uns war, und doch gehen so viele an ihm vorbei und finden ihn nicht und verbringen ihr Leben, ohne wahrhaft seine geistige Nähe zu verspüren. Ich rede nicht bloß von denen, für die das Christentum nichts mehr ist, sondern auch von denen, die von Herzen glauben möchten und die ihn doch noch nicht persönlich kennen, so daß sie sein Auge auf sich ruhen und ihren Willen in dem seinen aufgehend fühlen. Ich meine diejenigen, die noch nicht seine Nähe so verspürt haben, daß alles, was sie über geistige Gemeinschaft mit ihm lesen und hören, ihnen nur ein schwacher Ausdruck ist für seine Nähe, wie sie sie empfinden. Denn geistige Gemeinschaft ist etwas, das alle Worte und alle Vorstellungen tief unter sich läßt, etwas, dasman erlebt, aber nicht beschreiben kann. Nun aber, wie kommt es, daß dieser Jesus der Evangelien, dieser Heiland der Kirchenlehre als ein lebendiges, geistiges Wesen in unser Leben hineintritt? Ihr erinnert euch, daß es in den Briefen des St. Paulus einmal heißt: «Ich will auf menschliche Weise zu euch reden» [Gal. 3,15]. So möchte ich auch auf menschliche Weise zu euch reden, denn ich fürchte, es wird in dieser Welt nicht genug auf menschliche Weise von ihm gesprochen.

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Am letzten Karfreitag, während wir in tiefer Ergriffenheit seines Todes gedachten, fing man in Frankreich an, sein Bild aus den Gerichtssälen, wo er bisher nach einem alten, ehrwürdigen Brauche auf die Richter herniedergeschaut hatte, zu entfernen. Diejenigen, die das veranlaßt haben, zu denen hat man nie menschlich von ihm gesprochen, sondern nur in toten Formeln und Lehrsätzen; so meinten sie, er gehöre nur der Kirche an, und hatten keinen Respekt für seine einfache, menschliche Größe. Manchmal meint man, daß dieWelt denWeg nicht mehr zu ihm findet, weil er in Lehren eingeengt ist, so, wie es herrliche, alte Kathedralen gibt, an die die Häuser so nahe herangerückt sind, daß man sie nicht mehr in ihrer ganzen Größe sieht. So muß man auch um Jesus den Platz freilegen. Ich weiß nicht, ob ich mich irre, aber ich meine, daß viele vergebens darauf warten, daß sie seine Nähe verspüren, und daß dieses «Ich bin bei euch» an ihnen in Erfüllung gehe. Sie warten und warten, bis zuletzt diese lebendige Gemeinschaft mit ihm, wo doch erst die wahre Religion anfängt, für sie etwas Ungreifbares, Unerreichbares wird, das sich an ihnen nicht erfüllt, und auf das sie dann verzichten. Wenn uns das religiöse Leben der Menschen, denen wir begegnen, und vieler, die allsonntäglich mit uns in der Kirche sind, offenbar wäre, so wüßten wir um manches stille, unerfüllte Sehnen und um manches langsame Bescheiden, mit ihm in lebendiger, geistiger Gemeinschaft zu leben, ihn nahe zu fühlen. Es ist, als ob sie sich eine falsche Vorstellung von ihm gemacht haben. Sie erwarten einen Heiland alsTröster. Und gewiß ist er vielen als Tröster erst offenbar geworden, da sie in schweren Banden der Sünde und desUnglücks saßen. Und doch, ihr versteht mich recht, wenn ich es nur ganz unvollkommen und kurz sagen kann, meine ich manchmal, es sei fast etwas Unnatürliches, daß nunjeder Mensch in seinem Leben auf ein gewaltsames Ereignis oder inneres Erlebnis warten müsse, wie etwa Augustin oder Luther, daß ihm nunJesus nahe erscheine. Das ist nicht derWeg für alle. Ich meine, viele in unserer Zeit finden ihn nicht, weil sie so auf eine besondere Trostbedürftigkeit warten, wo er ihnen soll offenbar werden, und weil diese nicht für sie kommt, kommt er auch nicht zu ihnen. Wie trat er an die ersten Jünger heran? Nicht als der Trostheiland. Er tritt nicht an Menschen heran, die besonders unglücklich sind, und sagt ihnen: Kommt, ich will euch trösten, sondern an Menschen, die gesund und frisch im Leben stehen, und spricht: Kommt, «ich will euch zu Menschenfischern machen» [Mt. 4,19], das heißt: Kommt, ihr sollt mitarbeiten an meinem Lebenswerk. Und ist es nicht bedeutungsvoll, daß vor unserm Textworte «Ich bin bei euch alle Tage bis an derWelt Ende» ein Befehl steht, sein Werk fortzusetzen: «Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker» [Mt. 28,19]?

Siehe, ich bin bei euch alle Tage

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Das Ich in diesem «Ich bin bei euch» ist vor allem einWille. Es heißt: Ich laß euch nicht los, ihr müßt mein Lebenswerk fortsetzen. Und so geht dieses «Ich bin bei euch» über die ganze Welt von Menschengeschlecht zu Menschengeschlecht. Und als sie sein Lebenswerk fortsetzten im Kämpfen und Arbeiten für ihn, daerfuhren sie erst, wasdieses «Ich bin bei euch» bedeutete. Das hat sich nicht geändert: Der natürliche Weg zu ihm ist, an seinem Werke zu arbeiten; und aus dieser Gemeinschaft des Arbeitens mit ihm, da kommt eine immer stärkere Gemeinschaft des geistigen Lebens, ein persönlicher Verkehr mit ihm. Ist es nicht schon so in der geistigen Gemeinschaft unter den Menschen? Diejenigen, welche uns nahegekommen sind, sind uns etwas geworden, weil ein selbes Streben, ein selbes Ideal uns mit ihnen verbindet. Das hält uns mit Menschen zusammen, mit denen wir sonst nichts Gemeinsames haben und mit denen wir uns sonst nicht verstehen würden. So muß auch unser Menschenwille in den allgewaltigen Willen Jesu eingehen, dann wird die Gemeinschaft mit ihm geschaffen, und dann erfährt der Mensch, was es heißt: Ich bin bei dir. Darum, wenn ich auf Menschenweise das Evangelium verkündigen darf, möchte ich zu allen Zweiflern und zu allen denen, die sich vergebens sehnen, daß sie seine lebendige Nähe fühlen, sagen: Gut, laßt alles, alles dahingestellt, wenn euch nur das eine bleibt: Daß er ein Mensch ist, der das Recht hat, von euch zu verlangen, daß ihr an demWerke, das er begonnen, mithelft, und ihr dies tun wollt, dann wird schon seine herrliche Nähe über euch kommen, und ihr werdet reich und reicher werden, reicher, als ihr es euch denken könnt. Das ist ein Gedanke, zu dem ich immer wieder zurückkehre und von dem ich ausgehe, ein Gedanke für mich wie eine Lichtung imWald, auf der sich alle Pfade finden, weil er mein Trost war und noch ist. Man hört und liest, daß diejenigen, welche Theologie studieren, durch schwere Kämpfe hindurch müssen wegen der Zweifel, die ihnen aufsteigen bei der genauen Prüfung und Erforschung der christlichen Lehre und ihrer Geschichte und wo sie sich fragen: Ja, waskann ich denn einmal Gewisses und Sicheres predigen? Ich kann nicht aus Erfahrung sprechen, denn ich habe nicht eine Sekunde diesen Gemütszustand gekannt, da ich mir immer sagte: Und sollte alles fallen, das eine bleibt, daß wir armen, schwachen Menschen sein Werk dürfen fortsetzen und dadurch unser Leben, Sinnen und Trachten und all unser Tun geheiligt wird. Ist dasnicht genug und übergenug zur wahren Freude, zur Seligkeit und zum Frieden? Und weil ich so seiner geistigen Nähe gewiß war, habe ich nie Zweifel und Glaubensanfechtung gekannt. Nun werdet ihr sagen: Das ist eine zuwenig demütige Religion. Man kommt zum Heiland als ein gleichberechtigter, nicht als ein ge-

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demütigter, gebrochener Mensch. Ich meine, die Demütigung und die Demut kommen von selbst. Wer ist in den Schatten eines großen Berges getreten und fühlt sich nicht klein? «Ich bin bei euch alle Tage» – daliegt etwas drin, dasheißt: Ich bin bei euch alle Tage, um euch zu demütigen. Denn was tun wir für ihn, daß wir das Recht haben, uns als solche zu fühlen, die ihm dienen? Ihr kennt alle die Legende vom heiligen Christophorus, der ein Kindlein über den Fluß setzen wollte, dasimmer schwerer und schwerer wurde, bis es ihn ganz niederdrückte. Nun, in diesem «Ich bin bei euch» liegt so etwas Niederdrückendes. Denn wer ihn nahe fühlt, der wird niedergedrückt von ihm. Nur diejenigen, die ihn nahe fühlen, die wissen, wie unheilig und sündig ihr Wille ist, ja, ich möchte sagen, nur die wissen wahrhaftig, wasSünde ist. Nun zuletzt: «Ich bin bei euch», um euch zu trösten und euch über die Welt und alles Erleben hinwegzuheben. Wer die geistige Gemeinschaft mit ihm erlebt, wer Fragen an ihn richtete, auf die ihm eine Antwort ward – der weiß, es gibt nichts auf Erden, kein Unglück, keine Sorge, kein Elend, das größer wäre als der Trost, der von ihm kommt. So hat er dort die Jünger gestärkt: In Verfolgung und Verlassenheit, in Kampf und Todesnot durften sie es von ihm hören: «Ich bin bei euch.» Steht es nicht aufjeder Seite der Briefe des St. Paulus, dieses «Er ist bei mir». Ihr erinnert euch dieses Wortes: «Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Jesus Christus» [Phil. 4,13]. So kommt auch die Fülle unendlichen Trostes über jeden, der in seiner Gemeinschaft drinsteht. Selig, wer ihn gefunden.

Nachmittagspredigt Sonntag Cantate, 1. Mai 1904, St. Nicolai

Kol. 3,16: Singet dem Herrn in eurem Herzen Dieser Sonntag heißt Cantate: Singet. Nun, draußen singen die Vögel, und die blühenden Bäume und die Wiesen und Felder prangen zum Himmel und verkünden Gottes Güte und Gnade. Welcher Mensch ist so vergrämt, welcher so verbittert, daß er jetzt nicht selbst ein Stücklein Natur wird und von Dank und Preis bewegt wird? Aber dasist alles nur ein Gleichnis, eine Erinnerung an unser Herz, ob es nicht vergißt, zu danken – das böse Menschenherz, das immer zum Danken will gezwungen sein. Nun, da Sonne und Blüten uns helfen, wollen wir es einmal zwingen und so Cantate feiern. Denn wenn man es sich selbst überläßt, dann wartet es immer auf ein besonderes Glück, und kein Glück ist ihm groß genug, so daß wir zuletzt am Ende des Lebens stehen und nie von Her-

Singet demHerrn

in eurem Herzen

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zen dankbar gewesen sind. Wie wenn man durch ein Ährenfeld geht und sieht die hohen Halme und denkt: Ein Stück weiter müssen noch höhere kommen, und geht immer noch ein Stück und immer noch ein Stück, und zuletzt steht man am Ende des Feldes, man weiß nicht wie. So kommen viele Menschen ans Ende ihres Lebens und haben nie einen Augenblick innegehalten, um zu danken. Letzten Sonntag auf einem Spaziergang begegnete ich einer Frau mit ihrem Mann; vier Knaben, kerzengerade und üppig gesund, gingen vor ihr her und schauten froh in dieWelt. Und wenn es nicht uns anerzogen wäre, daß man Menschen, die man nicht kennt, nicht anreden darf, so wäre ich auf sie zugegangen und hätte ihr gesagt: Sie müssen aber glücklich sein. Vielleicht hätte sie mir dann gesagt: Nein, sie wissen nicht, dasund dasbekümmert mich. Wir kennen unsja alle. Unser natürlicher Mensch ist nie glücklich. Wenn wir etwas erreichen, waswir uns so lange gewünscht, dann ist ein kleines Etwas, das die Zufriedenheit stört. Seid ihr schon in einem hügeligen Lande gewandert? Da habt ihr eine Anhöhe gesehen vor euch und gedacht: Von da oben sieht man in die unbegrenzte Weite. Und als ihr oben wart, versperrten wieder andere Hügel euch die Aussicht. So lockt und treibt uns das Leben vorwärts, und wenn wir meinen, wir sind auf der Höhe, so sehen wir wieder steile Wege vor uns. Darum kann der natürliche Mensch gar nicht wirklich dankbar sein. Ich würde es nie unternehmen, einen Menschen zur Dankbarkeit gegen Gott zu belehren, indem ich ihm aufzählte, was er alles im Leben Gutes erfahren hat; denn alsbald käme der Teufel und bliese ihnen ein, wofür sie nicht zu danken haben, und zuletzt gäben sie ihm recht, und ich zöge den kürzeren. Nein, danken, wahrhaft danken kann nur der geistige Mensch – denn er allein ist vollkommen und wahrhaft glücklich. Er dankt nicht für das Glück allein, nicht für diesen oder jenen Erfolg, sondern für alles. Als sie den Chrysostomus, den großen Prediger von Konstantinopel, in dieVerbannung geführt und er dort in trostloser Einsamkeit den Tod herannahen fühlte, sprach er: Gott sei Dank für alles. So sage ich zu euch: Dankt Gott, und weiß nicht, ob nicht welche von euch in tiefer Trauer über einen Verlust, den sie erlitten, hier sitzen, ob nicht andere mit banger Sorge aller Art hergekommen sind, ob sie vielleicht einWort desTrostes hören möchten. Zu allen sage ich: Dankt Gott jetzt; zwingt euch zu danken. Die Alten sagten, daß die Sterne in ihren Kreisen auf eine geheimnisvolle Harmonie gestimmt seien und so durch ihre Bewegung eine unsagbare Melodie, dem irdischen Ohr nicht vernehmlich, hinauf zu Gott dringe. Wir wissen, die Sterne geben keinen Ton von sich, sondern diese unsagbare Melodie, die von niemand gehört zu Gottes Thron hinaufdringt, kommt aus den Menschenherzen. Und diese geistige Melodie,

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die soll jetzt aus unsern Herzen zu ihm aufsteigen. Wir sind nur wenige Menschen in einem kleinen Kirchlein versammelt, aber wenn es wirklich wahrer Dank ist, dann ist es für ihn etwas unendlich Wertvolles. Es kommt mir vor, als wäre meine Predigt heute die Nebensache und die Hauptsache die Gedanken, die sich jetzt in euch unterhalten, diese geheimen, unfaßbaren Gedanken, die ich nicht vernehme noch ahne und von denen ich doch weiß, daß sie wirklich da sind. Ihr fragt euch: Für was soll ich danken? Zuerst wißt ihr fast nichts, aber fangt doch an dem Zufälligsten, am Kleinsten an, dann kommt eines nach dem andern und zuletzt so viel, daß ihr es nicht bewältigen könnt. Wenn wir von lieben Bekannten lange fort waren und sehen sie wieder, dann geschieht es, daß wir zunächst ihnen gar nichts zu erzählen wissen, und erst nach und nach, was wir erlebt und gedacht haben, ihnen mitteilen können. Mit dem Danken zu Gott ist es ebenso: Wir sind zu lange von ihm fern, und wenn wir dann dafür zu ihm kommen, wissen wir nicht gleich, wassagen. Und wenn ihr dankt, dankt vor allem für das Geistige. Alles, was euch begegnet im Leben, auch das Geringste, hat eine geistige Bedeutung, und erst in dieser geistigen Bedeutung zeigt es sich in seinem wahren Wesen. Habt ihr schon den Himmel und die Bäume sich im Wasser spiegeln sehen? Was ist doch das etwas Geheimnisvolles, wenn sie einem da, leise bewegt, körperlos erscheinen – wirklich und doch unfaßbar. So spiegeln sich für den, der das geistige Auge hat, alle irdischen Ereignisse im geistigen Leben wider. Aber weil sie dieses Auge nicht haben, können sie nicht wirklich danken. Warum danken so wenige Mütter Gott für ihre Kinder? Weil sie sie nicht betrachten als etwas, was er ihnen gegeben, daß sie es erziehen für ihn, für das Edle, für dasWahre, für das Gute. Warum danken ihm so wenige für ihr Amt, für ihr Vermögen, für ihre Gaben? Weil sie es nicht betrachten als Dinge, mit denen sie geistig für ihn etwas ausrichten können. Siehe, nur für das, wasdir etwas Geistiges bedeutet, kannst du Gott wahrhaft danken; denn dasistja dieWahrheit: Alles Irdische, Natürliche ist für Gott nur da, damit etwas Geistiges dadurch geschaffen werde. Und wer das findet, der versteht das Leben. Und wer wirklich das Leben versteht, der kann Gott danken für alles: für das Schöne und für dasTraurige. Denn wer von uns ist nicht durch dasTraurige innerlich geistig reich geworden? Und wie arm wären wir alle, wenn Gott uns nicht seine Wege – oft steil und hart – geführt hätte, wie arm wären wir geistig! So wollen wir denn diesen herrlichen Cantate-Sonntag, an dem er selbst durch Sonne und Blüten unser Herz zum Danken bereitet hat, durch Danken feiern. Die Sonne wird verschwinden hinter den Wolken, die Blüten werden abfallen und die Blätter werden verwelken, aber

Bittet,

so wird euch gegeben

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im Herzen, das dankbar ist zu Gott, ist unvergänglicher Frühling und unvergänglicher Sonnenschein – und Friede und Kraft und Freudigkeit zum Leben.¦24¿

Morgenpredigt Sonntag Rogate, 8. Mai 1904, St. Nicolai

Mt. 7,7 f.: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan¦25¿ Dieser Sonntag heißt «Rogate» – «Bittet», und dasEvangelium der alten Kirche für heute findet sich aufgezeichnet im Evangelium desJohannes, im 16. Kapitel, und lautet: «Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: So ihr denVater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er’s euch geben. Bittet, so werdet ihr nehmen, daß eure Freude vollkommen sei» [Joh. 16,23 f.]. Den Spruch für unsere Gebetsbetrachtung habe ich frei gewählt, weil ich ihn besonders liebe. «Bittet – suchet – klopfet an»: Ich meine, es sind dies wie drei Wegweiser des Herrn auf dem Weg zum wahren Gebet und in seinem Namen und in seinem Geist. Es ist schwer, von dem Gebet öffentlich vor andern zu reden, denn es heißt, ein Stück seines innersten, geistigen Lebens preisgeben. Schon über unser geistiges Verhältnis zu einem Menschen mit andern zu sprechen, ist schwer, wieviel mehr über den geistigen Verkehr mit Gott. Und doch, es ist notwendig, daß wir uns überwinden zuweilen und ein Stück unseres geistigen Lebens preisgeben, denn wir wissen ja alle, wie manchmal ein Blick in das geistige Leben eines andern, wenn er auch nur eine Sekunde dauert, uns hilft und uns reich macht. Nichts Geistiges, wasein Mensch preisgibt, ist verloren; unsere wahrhaftigen Worte und Gedanken sind wie ein schlicht Samenkörnlein, das derWind in der Luft herumführt: Man meint, es sei verschwunden, verloren, und siehe, wenn es Frühling, blüht eine Blume auseiner Felsritze. Wir Menschen haben einander geistig nötig. Spann eine Saite – sie gibt nur einen dünnen, kurzen Ton; aber wenn sie auf einen Resonanzboden gespannt ist, dann klingt sie tief und lang, weil ihre Schwingungen durch die Schwingungen desBodens verstärkt werden. So müssen auch die Gedanken der andern mit den unsrigen mitschwingen, damit wir die Melodie unseres eigenen, geistigen Wesens hören. Es ist der Gottes24 [AS-HB, S. 69] «Aus der Kirche kommend. Ich habe meinen braven Weiblein über die Dankbarkeit gepredigt – wasnicht schwer fällt, wenn einem dasHerz voll ist von Dankbarkeit gegen ‹Gott› wie mir. Ich frage mich oft, ob ich ihm genug danke für alle Gaben, die er mir geschenkt hat.» 25 [Denn wer dabittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.]

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geist in den andern, dessen wir bedürfen. Alle Dinge erkennen wir nur in Gott. In der letzten Stunde habe ich meinen Konfirmanden gesagt: ›Betet; betet jeden Tag; hört nicht auf; und wenn es nur ein Vaterunser ist, und da nur ein Hersagen, nur eine Formel, tut es; und wenn euch alles, was christlich ist, fremd geworden, wenn jeder Glaube in euch erstorben, tut es dennoch, wenn es auch nur ein Gewohnheitsgebet ist.‹ Ich weiß nicht, ob daserlaubter Aberglaube ist, aber ich meine, Christi Geist umschwebt dieses von ihm geheiligte Gebet und behütet und bewahrt sie, undwenn es amdunkelsten um sie ist, dann werden dieWorte desVaterunsers Licht für siewerden undsiezuGott zurückführen. So viele Leute gehen dem Gebet verloren, weil sie nicht am Gewohnheitsgebet festgehalten haben, bis sie gelernt haben, selbst beten; wer weiß, was wahrhaft beten heißt, der hat erfahren, daß wir alle vom gelernten Gebet zum eigenen, vom äußerlichen zum innerlichen uns hindurchringen müssen. Aber daskann dann nicht mehr verloren werden. Nur diejenigen, welche eigentlich noch nicht wahrhaft wissen, was beten heißt, können immer wieder die Frage der Gebetserhörung zur Hauptfrage des Gebets machen, manche im Ernst, manche, um das Gebet ins Lächerliche zu ziehen. Ich habe immer Angst, wenn die Rede darauf kommt. Seit ich als Kind dabeistand, wie einer der Notablen zu meiner Mutter bei einer Periode der Trockenzeit auf der Dorfstraße, um ein Späßchen zu machen, sagte: Ja, Frau Pfarrer, die Leute werden am Sonntag nicht recht gebetet haben in der Kirche, und eigentlich zum ersten Mal das Christentum ins Lächerliche ziehen sah, fürchte ich, daß man mit äußerlichen Beispielen sogenannter Gebetserhörung demWorte unseres Herrn «Bittet, so wird euch gegeben» vor der Welt etwas von seiner Würde nimmt. Ich lese diese Beispiele nicht gern in den frommen Schriften. Was nützt es, wenn einer erzählt, wie er in größter Geldverlegenheit zu Gott gebetet, und da hätte es geklopft und hereingekommen sei ein Mann, der ihm seit zwanzig Jahren 40 Mark schuldete, und hätte sie ihm mit Zins und Zinseszins gebracht? Das überzeugt die Welt nicht, denn sie sagt: Er wäre vielleicht auch so gekommen. Und doch glaube ich für mich an die Erhörung des Gebets und bin überzeugt, daß Gott mir in bestimmten Fällen meines Lebens geholfen hat, weil ich ihn darum bat; und viele unter euch blicken sicher auch auf solche Stunden zurück. Es sind auch welche unter euch, die haben für jemand gebetet, vielleicht für jemand, der selbst nicht betete, und sie sahen eine große Gefahr an seinem Haupte vorübergehen und wissen, Gott hat sie erhört. Aber esist etwas, daszwischen Gott und dem einzelnen allein besteht und das man nicht erzählen kann und noch weniger verstehen und begreifen. Alle Dinge sind von Ewigkeit her bestimmt,

Bittet,

so wird euchgegeben

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wie willst du es begreifen, daß Gott es so eingerichtet hat von Anfang an, daß es geschehe, wie du bittest? Und weil ich diese innere Überzeugung habe, darf ich euch sagen: Treibt keine Äußerlichkeit und kein Gottversuchen damit. Luther war sicher ein Mann des Gebets; hört, was er sagt: «Zum andern ist auch genugsam gelehret, daß man Gott im Gebet nicht versuchen solle, dasist, ihm nicht Zeit, Maße, Ziel, Weise oder Person stelle, wie, wen, wo oder durch dasMittel er uns erhören müsse.» Und wenn du ihn um etwas Äußerliches bittest, frage dich immer zuerst: Ist es nicht, ihn versuchen, es darauf ankommen zu lassen? Denn siehe, wie oft würden wir gegen unser wahres Glück bitten und gegen das, was Gott mit uns in der Welt vorhat! Und dann: Wie kann denn Gott eigennützige und selbstische Bitten der Menschen erhören? Ich meine, die wahre Gebetserhörung ist nicht die, wo Gott uns denWillen tut, sondern wo unser Wille in dem seinen zur Ruhe kommt. Solange man von Gebetserhörung in irdischen Dingen spricht, bleibt alles dunkel und abgerissen, denn derWille Gottes ist in allem irdischen Geschehen für uns unerforschlich und unbegreiflich. Darum, willst du wissen wahrhaftig, was es heißt, der Herr erhört Gebete, bitte um Geistiges. Hier ist kein Dunkel, hier ist alles Licht. Hast du schon einmal von Herzen gebetet in einer Versuchung, daß Gott dir beistehen solle – und warst nicht stärker? Hast du schon einmal gekämpft gegen Groll und Haß gegen einen Menschen und riefst ihn an – und er half nicht? Hast du schon einmal gefleht um Frieden – und er sandte dir ihn nicht? Hast du schon einmal gebeten, er möge dir Sünde vergeben und dich losmachen von einer Erinnerung, die dich niederdrückte – und du wurdest nicht aufgerichtet und durftest wieder freudig ins Leben blikken? Hast du ihn schon einmal gebeten um Freudigkeit und Kraft, Gutes zu tun – und es kam nicht Zuversicht über dich, daß du meintest, es

könne nichts Schweres mehr geben? Siehe, das ist Gebetserhörung. Und wenn mir einer von euch sagte: Ich kann nicht an eine äußere Gebetserhörung glauben, so würde ich ihm antworten: Gut, quäl dich nicht darum; aber bitte eine Woche lang jeden Abend aus tiefstem Herzen um das, wovon der Herr in den Seligpreisungen redet, um ein reines Herz und Friedfertigkeit, um Sanftmut, um Barmherzigkeit, dann wirst du es erfahren, es ist wahr, was der Herr sagt: «Bittet, so wird euch gegeben.» «Suchet, so werdet ihr finden.» Wassollen wir denn im Gebet suchen? Die Wege, welche Gott uns führt. So dunkel das Leben ist, eines ist sicher: Alles, was dir begegnet, hat eine geistige Bedeutung. Aber die können die andern für dich nicht erkennen; du selber kannst sie aus dir nicht erkennen, sondern nur in der Gemeinschaft mit Gott. Darum heißt beten, sein tägliches Leben in Gott betrachten und seinen Willen suchen. Er muß uns manchmal hart führen, bis daß wir ihn suchen. Er

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muß uns Ereignisse schicken, mit denen wir ausuns nicht fertig werden, daß wir zu ihm kommen. Wehe den Menschen, die das Beten verlernt haben. Man sagt zwar, Not lehrt beten. Aber das ist nur zur Hälfte wahr, denn es gibt solche, die es nicht mehr lernen können und an denen alle Schickungen des Lebens fruchtlos vorübergehen wie Regen und Schnee, die über Steinfelder dahinziehen. Habt ihr ihn auch schon gesucht in der Freude? Ich meine, das Gebet der Freude ist das höchste und das reinste. Unser Herr Jesus betete nie laut, auch nicht vor seinen Jüngern. Aber als sie zurückkamen und ihm verkündeten, wie die Menschen ringsum das Evangelium aufgenommen, da betete er laut vor ihnen, daß sie an seiner Freude teilnähmen und mit ihm zu Gott entrückt würden, wie es bei St. Matthäus im 11. Kapitel heißt: «Ich danke dir,Vater und Herr Himmels und der Erde, daß du solches denWeisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart» [Mt. 11,25]. So sucht ihn euer ganzes Leben in allem, was euch begegnet, durch dasGebet. Euer Leben sei wie dasdes Flusses: Wo er noch zwischen den hohen Felsen rauscht, sucht er schon dasMeer; nichts, wasihm begegnet, kann ihn aufhalten; wenn esnicht geradeaus geht, dreht er sich, kehrt fast zurück, wendet sich, stürzt vor, bis er endlich die Richtung gefunden, wohin er strebt, und nun zieht er still und ruhig dahin, bis dasMeer ihn aufnimmt. So sucht Gott in eurem Leben, sucht unablässig, dann findet ihr ihn und dann, mag es außen noch so bewegt sein, inwendig zieht es ruhig undstill dahin, denn ihr habt dieRichtung auf Gott gefunden. «Klopfet an, so wird euch aufgetan.» Washeißt das? Es ist etwas zwischen dir und Gott, das nicht von selbst weicht, sondern das er aus Gnade auftut, daß du ihn findest – dasist deine Sünde. Kennt ihr dieses eigentümliche Gefühl, wenn man auf einer Schwelle steht, ehe man eintritt, und diese merkwürdigen Gedanken, die auf einen eindringen, daß man die Hand wieder möchte lassen sinken? So bleibst du auch auf der Schwelle stehen, wenn du bedenkst, wasdasfür ein großes Ding ist, mit Gott reden, und fragst dich: Darf ich denn? Dasselbe Denken, welches so viel unheilige Gedanken gedacht, wendet sich an ihn; dieselben Lippen, die unnütze und arge Worte gesprochen, bewegen sich für ihn.Wer noch nicht dasUnfaßbare, daß wir irdischen, sündigen Menschen zu ihm reden dürfen, begriffen hat, der weiß nicht, wasfür ein großes Ding dasBeten ist. Und es ist keine Bedingung, keine Voraussetzung, nichts vorher, jeder, und wenn er auch der tiefstgesunkene Mensch ist, er darf kommen und anklopfen, und es wird ihm aufgetan. Darum hat es der Herr ans Ende gestellt, um uns Mut zu machen und um uns zu warnen. Klopf an heißt: Bleib auf der Schwelle stehen und sammle dich, fang nicht an zu beten, ohne daß du dich fragst: Herr, bin ich würdig, daß ich mit dir reden darf?

Unser Wandel aber ist im Himmel

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Klopf an heißt: Faß Mut, du darfst; wir brauchen es in den Stunden, wo wir vor uns selbst nicht das Recht haben, zu Gott zu beten, wo wir durch unsere Sünden fern von ihm zurückgeworfen sind. Da denkt daran, seid fröhlich und getrost, der Herr hat gesagt: «Klopfet an, so

wird euch aufgetan.»

Nachmittagspredigt Donnerstag, 12. Mai 1904, St. Nicolai Himmelfahrt

Phil. 3,20: Unser Wandel aber ist im Himmel Heute wird viel gefragt, ob die Himmelfahrt leiblich oder geistig zu verstehen sei. Ihr wißt, daß ich immer sage: Das Geistige ist die Hauptsache; und wenn jemand sehr daran hielte, daß man glauben müsse, Jesus sei leibhaftig in den Himmel hinaufgeschwebt, würde ich ihm sagen: Ja, aber diese äußere Himmelfahrt ist zuletzt doch nur ein Gleichnis der ewigen, geistigen Himmelfahrt unseres Heilands, daß er sich immer, auch hienieden, in der Nähe Gottes wußte. Darum wollen wir jetzt nicht darüber reden, nicht am Strand entlang fischen, sondern sein Wort befolgen: «Fahre hinaus auf die Höhe» [Lk. 5,4], und wirf dein Netz aus, daß du inWahrheit Himmelfahrtsgedanken einholst. Es ist schwer auszudrücken, was ich euch fragen möchte. Was hast du für Beziehungen zum Himmel? Verstehst du dasWort: «Unser Wandel aber ist im Himmel»? Ist es dir denn eine gewisse Zuversicht, daß schon unser armes, irdisches Leben sich im Himmel abspielt? Siehe, alles, was wir hienieden erleben, das ist im Himmel beschlossen. Nicht der Zufall, nicht eine äußere, irdische Notwendigkeit, nicht dein Ringen und Sorgen, nicht die Menschen um uns machen dein Leben aus, sondern was Gott mit dir vorhat. «Freuet euch, daß eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind» [Lk. 10,20], hat der Herr einmal zu seinen Jüngern gesagt. Freut ihr euch wirklich genug darüber? Habt ihr es euch schon genug gesagt, daß wir alles, alles im Leben verlieren können, Glück, Ehre, Gesundheit, daß uns die Menschen, an denen wir hängen, können genommen werden, daß wir irren, fehlen und leiden können, und daß, wenn alles dies kommt, es nicht von ungefähr kommt, sondern weil er es gut für uns hält, und daß wir über alles, alles hinwegkommen, wenn wir es aus seiner Hand nehmen? Alles, was wir erleben werden, ist schon aufgeschrieben dort oben. «Eskann mir nichts geschehen, als waser hat ersehen und was mir selig ist.»¦26¿ 26 [Nach Paul Fleming: In allen meinen Taten, Str. 3.]

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Warum können wir uns dessen aber nicht immer so richtig freuen? Weil unser Denken und Sinnen zu sehr gefangen ist in den irdischen Dingen. Weiß deine Seele, was Himmelfahrt ist? Vor einigen Wochen las man in den Zeitungen von einem grausigen Fall: Ein Taucher hatte sich in der Tiefe verstrickt; die andern kamen ihm zu Hilfe, aber da sie nicht imstande waren, die Hindernisse von ihm wegzuräumen, mußten sie zusehen, wie er vor ihren Augen umkam. Ich war tief erschüttert, als ich dachte, welchen Todeskampf dieser arme Taucher durchgemacht

hat.

Wie viele Seelen kommen auf dieselbe Art um! Sie sind hinuntergetaucht in die irdische Welt und haben sich dort in irdischen Genüssen und irdischen Sorgen verfangen, und kein Mensch kann sie mehr losmachen, sondern sie werden betäubt und ersticken, weil sie nicht mehr hinauf können, um Luft zu holen. Spürt ihr nicht an euch die Gefahr, daß wir alle zu vernünftig werden? Ich meine das nicht in irgendeinem besonderen, bösen Sinn, sondern auch von der ehrbaren, guten Vernunft, daß alle unsere Erwägungen und Entschlüsse irdischer, vernünftiger Art sind. Ihr wißt, daß unsere Staatsmänner, klein und groß, sich etwas darauf einbilden, daß sie nur Realpolitik treiben, das heißt, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, nicht nach unerreichbaren Idealen zu streben, sondern sich mit dem Erreichbaren zu begnügen. Erst später wird man es einmal sehen, wie kurzsichtig sie gewesen sind in ihrer übermäßigen Vernunft und wie der Niedergang unserer Staaten daher kommt. Aber in dem Menschenleben ist es noch ärger. Wenn du nicht an diesem Leben ersticken willst, wenn dich nicht Meinungen hin und her werfen sollen, wenn du deine innere Kraft bewahren willst, dann mußt du alle diese Vernunfterwägungen undVernunftentschließungen zerreißen wie ein Garn, dasdieWelt dir über den Kopf wirft, um dich zu fangen, und mußt deine Entschlüsse im Himmel, vor Gott fassen. Dann findest du den richtigen Weg, dann bist du stark vor den andern, unbesiegbar vor dir selber, und nichts kann dich irremachen. Hast du heute, am Himmelfahrtstage, keine Entschlüsse, große oder kleine, für die kleinen ist es oft noch notwendiger als für die großen, die du im Himmel fassen könntest? Tu es doch, und dann verstehst du dasWort: «UnserWandel ist im Himmel.» Zum letzten: Kennst du die wahre Todessehnsucht? Nicht meine ich diesen banalen Lebensüberdruß, mit dem oft die Kinder derWelt wichtig tun, sondern jenes wunderbare Sehnen, das der Apostel Paulus in diesen Worten ausspricht: «Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christus zu sein» [Phil. 1,23]. Es gehört zum wahren Seelenleben, dieses Heimweh. Niemand ist in der Fremde so gut gestellt, daß er nicht Heimweh empfinde. Und keiner ist auf Erden so gesund und glücklich, daß nicht seine Seele nach ihrer wahren Heimat sich sehne. Es ist wie eine Befrei-

Wenn aber der Tröster kommen

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ung, dieses Heimweh, eine Befreiung von dem Trug und dem Glück dieser Welt. Wie willst du sie beschwichtigen, deine Seele? Wie willst du sie trösten? Du mußt ihr sagen, daß du hier bleibst, weil du nötig bist. Das ist die überirdische Lebensfreude, im Leben zu stehen nicht für das Glück, das man von ihm erwartet, sondern weil man nötig ist. Siehe, wer von euch sagen kann: Ich muß hier bleiben, weil ich nötig bin, nötig, weil mich Menschen im Irdischen und im Geistigen brauchen, der ist stark und glücklich. Wir alle sind so nötig. Aber das Unglück der Menschen ist das, daß sie dieses herrliche «Nötig» nicht erkennen. Darf ich euch einen Himmelfahrtsspruch von mir mit hinausgeben? Laß deine Seele aufsteigen gen Himmel, daß sie geistige Luft atme, und laß sie teilnehmen an all deinem irdischen Tun, auch in den geringsten Dingen, daß es nichts rein Irdisches mehr für euch gibt. Dann erfüllt sich an euch dasWort: «Unser Wandel aber ist im Himmel.»

Morgenpredigt Sonntag vor Pfingsten, 15. Mai 1904, [St. Nicolai]¦27¿

Joh. 15,26: Wenn aber derTröster kommen¦28¿ Die Jünger haben nicht alles verstanden, wasJesus in den letzten Tagen zu ihnen sprach. Er wußte es, sagte er doch: «Ihr könnt es jetzt noch nicht tragen» [Joh. 16,12]; ihr werdet es nachher erfahren. Das erste, was sie nachher erfuhren, das war, daß sie wirklich einen Tröster brauchten.

Wie hatten sie sich doch dasHimmelreich so nah vorgestellt! Sie konnten es nicht erwarten, daß er wiederkäme auf denWolken des Himmels, daß er Gericht hielte, daß die alte Erde und der alte Himmel vergingen und sie versammelt würden samt allen Heiligen zu der Herrlichkeit des Vaters.

Der Himmel blieb verschlossen, die glühende Hoffnung erlosch, die noch aus den Worten der Offenbarung des Johannes hervorleuchtet. Paulus mußte sich bescheiden, dieWiederkunft desHerrn nicht mehr zu erleben – und sie mußten ausharren in derWelt, da alles irdisch zuging. Da kam derTröster und half ihnen. Wasist er denn, dieser Tröster? Eine Zuversicht, die sich nie überwältigen läßt, die aussichtslos arbeitet, weil sie von Christus ist. Die Welt nennt das Optimismus und verwechselt es mit einer natürlichen Anlage, immer die gute Seite an den Dingen herauszufinden. Aber es ist etwas anderes: Es ist der Geist Christi, der als 27 [Schweitzer ist für diesen Gottesdienst im Kirchenboten aufgeführt.] 28 [wird, welchen ich euch senden werde vomVater, der Geist derWahrheit, der vom Vater ausgeht, der wird zeugen von mir.]

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Tröster über die Menschen kommt und sie fertig werden läßt mit dem Worte: aussichtslos. Kennt ihr die Gefahr des Gehenlassens, die über die Menschen kommt, die Geistiges in der Welt wirken wollen? Ist denn unsere Enttäuschung geringer geworden als die derJünger? Es geht ja alles noch natürlich zu, nur natürlich. Gewalt, Unrecht, Mißverstand und Gewohnheit – das sind die Kräfte, die in den Ereignissen sich kund tun. Woher willst du denn den Glauben an den Sieg des Guten, den Glauben an die Welt und an die Menschen nehmen, einen Glauben, der stärker ist als alle Enttäuschung? Wenn Gott uns nicht den überirdischen Tröster in die Herzen sendete, wir wären alle arm und schwach. Kennst du das Mattwerden in deinem Hause? Du hast wollen eine wahre geistige Gemeinschaft haben mit den Deinigen, du hast wollen, mit ihnen Höheres denken, Höheres reden – und siehe, alles fällt zurück in die einfachen, natürlichen Verhältnisse. Was ist das doch für ein Kampf, für ein langsames, trostloses Entsagen, wenn Mann und Frau sich nicht geistig finden, sondern sich zuletzt darein ergeben, gut und herzlich miteinander zu leben, aber fremd doch im Innersten, weil jedes sein geistiges, höheres Leben für sich behält. Und dasselbe in der Erziehung der Kinder – man hatte es sich so schön gedacht, sie wahrhaft innerlich, geistig zu erziehen, sie zum Höchsten zu leiten, und zuletzt geht alles natürlich zu: Es wird eine ehrbare, gute Erziehung, aber nicht

mehr.

Ist einer unter euch, der diese trostlose Mutlosigkeit nicht kennt, daß wir in der Welt Geistiges wirken sollen und doch nur Natürliches sehen, diese Betrübung, die uns alle Kraft nimmt? Wer sich ihr ergibt, ist verloren, innerlich verloren für sich und die andern, ob es nun eine einfache Frau in ihrem Haushalt oder ein hervorragender Geist ist, der einen weittragenden Einfluß ausübt. Waswürden wir tun ohne den Tröster, den lebendigen Geist unseres Herrn, der diejenigen, die sich ihm hingeben, tröstet mit überirdischem Trost, daß sie immer wieder von vorn anfangen und von dem Leben nie überwunden werden können. Das sind starke Menschen, die die Stunden desTrösters kennen. Geist derWahrheit heißt er, dieser Tröster als Kraft. Wenn man der Welt glauben dürfte, so hätten wir in unserer Zeit eine so überreiche Ernte des Geistes der Wahrheit, daß man wie der Mann im Evangelium darauf sinnen müßte, Scheunen dafür zu bauen [Lk. 12,16–21]. Überall neue Erkenntnis: Die Naturforschung deckt die Vorgänge in derWelt auf, die Geschichtsforschung die der Geschichte – aber das alles, so herrlich es ist, ist Menschenwahrheit, kein Geist der Wahrheit. Wer davon trinkt, den dürstet wieder, und wer davon ißt, den hungert wieder, wenn der geistige Mensch in ihm noch nicht gestorben ist. Es ist eine Wahrheit, die Wissen ist – aber der Herr verheißt eine Wahrheit, die Geist ist.

Wenn aber der Tröster kommen

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Eine Wahrheit, die Geist ist. Bedenkt, was das heißt. Nicht, daß man eine Lehre zusammenstellt aus christlichen Glaubenssätzen und sagt: Das ist dieWahrheit, sondern der Herr sagt selbst: Sie ist Geist. In dem, wassie tun und wollen, da findest du den Geist derWahrheit oder dufindest ihn nicht. Die irdische sittliche Wahrhaftigkeit ist noch nicht der Geist der Wahrheit. Daß wir in unserm Reden und Tun wahrhaftig sind, das ist, möchte ich sagen, dieVorbedingung dazu, daß wir Gefäße der höheren geistigen Wahrhaftigkeit werden können. Wir alle haben einen Kampf kämpfen müssen und müssen noch ringen, um in unsern Reden und Taten wahrhaftig zu sein – und in unsern Gedanken. Und diejenigen, die in diesem Kampf unterlegen sind, denen ist jene höhere geistige Wahrheit unerschwinglich, und sie gehen des Glückes verlustig, Träger des Geistes derWahrheit zu werden. Das ist die Geschichte so vieler, die Ohren haben und hören nicht, und Augen haben und sehen nicht, weil sie blind und taub geworden sind für jede Wahrheit durch denVerlust, ich möchte sagen, ihrer menschlichen Wahrhaftigkeit. Aber der Geist der Wahrheit, das ist unendlich viel mehr. Der Geist der Wahrheit ist ein Suchen, daß ein Mensch, in welchen Verhältnissen und Ereignissen er sich auch befinde, immer wie mit einem innern Gesicht begabt nach demWeg und dem Ziele Gottes geht. Geist der Wahrheit ist eine unaussprechliche Kraft, die auf einem Menschen ruht, der sich in seinem Herzen Gott ergeben und in diesem Leben sucht, was Gottes ist, eine Kraft, die von ihm ausgeht, ohne daß er es ahnt und weiß. Geist der Wahrheit, das ist jener einzig wahre Geist der Gemeinschaft, ohne den es keine wahre geistige Gemeinschaft auf derWelt zwischen Menschen gibt. Liebe und Haß können die Menschen verbinden, aber wassie zusammenhält, höher als Liebe und Haß, höher als Menschenfreundschaft, was Menschen zusammenhält, die sich sonst nicht verstehen könnten und verstehen wollten, dasist der Geist derWahrheit, sich verbunden zu fühlen in dem Streben nach Gott hin. Nur wo die letzte Einigkeit, ausgesprochen oder unausgesprochen, Gott ist, da ist Geist der Wahrheit, wahre Gemeinschaft, sei es zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Freund und Freund. Das allein ist stärker als alles Irren, stärker als alles Fehlen, stärker als alles Mißverstehen. Es ist in diesen Tagen die Sitzung unseres Oberkonsistoriums, und zu eben dieser Stunde findet der Gottesdienst, derdieTagung einleitet, statt. Möge der Geist der Wahrheit über dieser Versammlung schweben, und mögen sie in den an sich geringen Fragen, die zuerledigen sind, nicht nur einig und ehrlich miteinander verhandeln, sondern miteinander hinauskommen über die menschliche Diskussion und sich einig fühlen in Gott, freudig eins, daß sie miteinander sorgen und arbeiten dürfen für dasGeistige, und auch dieVersammlung ein Zeugnis von Christus sei.

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«Der wird von mir zeugen.» Wir wissen gar nicht, wie viele Menschen Christus suchen. Menschen, von denen wir es gar nicht glauben würden, in denen wir alles Interesse für Religion erstorben wähnen, die warten auf etwas, daß sie einmal etwas Lebendiges von ihm erfahren. Ich meine diese Menschen, denen man nicht helfen kann, indem man ihnen sagt «Suchet in der Schrift» [Joh. 5, 39], sondern die etwas Lebendiges, Warmes haben müssen, um daran wieder zum Leben erweckt zu werden. Das ist auch der Gedanke gewesen des Herrn. Ja, gewiß, seine Jünger predigten von ihm, sie wiederholten seine Sprüche und Gleichnisse, sein Lebensbild wurde in den Evangelien niedergelegt, aber das sollte nur das äußere Zeugnis sein. Sein lebendiges Zeugnis, dasist sein Geist, der in ihnen lebt. Dadurch ist er lebendig in jeder Zeit drin. Wie ist die Welt bekehrt worden? Nicht durch Reden, man predigte damals sicher weniger alsjetzt, sondern durch seinen Geist, der sich in dem Tun der Seinen offenbarte. Und siehe, wasdieWeltjetzt braucht, waswir brauchen, um zu einem lebendigen Glauben zu kommen, das ist Wirken seines Geistes. Nicht Apologie, nicht Nachweis, daß das Christentum mit der Wissenschaft vereinbar sei – von all dem nichts – , sondern Zeugnis von ihm durch

den Geist. Das ist dies Beseligende und Niederdrückende zugleich. In uns muß er leben, wenn er in derWelt leben soll. Das Höchste, waswir hienieden gewesen sind, ist, ein Hauch von ihm, ein Hauch seines Geistes zu sein, wodurch sein Geist in andern geweckt wird, wie eine Leuchte, die an andern angezündet wird.

Nachmittagspredigt Pfingstsonntag, 22. Mai 1904, St. Nicolai

Eph. 4, 25–32: Und betrübet nicht den heiligen

Geist¦29¿

Eine Pfingstpredigt soll ich euch halten und sagen, was der heilige Geist ist, und ich hätte gewollt, daß es eine jubelnde Festpredigt wird. Und 29 [Darum leget die Lüge ab und redet dieWahrheit, einjeglicher mit seinem Nächsten, sintemal wir untereinander Glieder sind. Zürnet, und sündiget nicht; lasset die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen. Gebet auch nicht Raum dem Lästerer. Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit den Händen etwas Gutes, auf daß er habe, zugeben dem Dürftigen. Lasset kein faul Geschwätz auseurem Munde gehen, sondern wasnützlich zur Besserung ist, wo es not tut, daß es holdselig sei zuhören. Und betrübet nicht den heiligen Geist Gottes, mit demihr versiegelt seid auf denTag der Erlösung. Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei undLästerung sei ferne von euch samt aller Bosheit.]

Undbetrübet

nicht

den heiligen Geist

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doch, ihr seht es schon am Textwort, daß wie ein Hauch der Trauer über meinen Gedanken liegt. Vonjeher empfand ich an Pfingsten etwas Wehmütiges; wenn da im Evangelium verlesen wurde von dem Geist, der allgewaltig über dieJünger kam, da mußte ich mich fragen: Warum offenbart sich dieser Geist nicht so gewaltig an uns? Daß wir in einer Zeit leben, wo keine Wunder mehr geschehen, das könnte man verschmerzen; aber daß wir nicht mehr sagen können: Siehe, da ist heiliger Geist und da – das ist betrübend. Wenn man die Briefe des St. Paulus und die andern im Neuen Testament durchliest, da reden sie alle von dem heiligen Geist als von etwas, das sie besitzen, von dem sie spüren und merken, daß es in ihnen ist, daß es sie bewegt und treibt – der Geringste unter ihnen weiß davon – und uns ist dieses lebendige Gefühl entschwunden. Wir reden noch vom heiligen Geist, aber wie von etwas, dasnur einmal so war, wie es dort unter den ersten Jüngern war, aber bei uns nicht mehr so machtvoll wirkt. Es hat sich daerfüllt, wasdem Propheten Elia einst geschehen: Er fand Gott nicht im Sturmwind und nicht im Feuer, sondern in dem leisen Wehen desWindes [I Reg. 19,11–13]. «Der Wind weht, wohin er will, du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, von woher er kommt und wohin er geht» [Joh. 3,8]. So leben wir in der Zeit des leisen Wehens des Geistes, der dort am Pfingstfest wie ein Sturm über dieJünger einhergefahren war. Aber nicht wahr, etwas von demWehen des Geistes habt ihr verspürt, daß ihr von euch aus sagen könnt: Ich weiß, was der heilige Geist ist. Nicht wahr, ihr habt es schon erlebt, daß etwas Unbegreifliches, Übernatürliches in euren Gedanken sich bemerkbar machte. Ihr habt es schon erlebt, daß ihr einen Gedanken hattet und über euch selbst erstauntet, woher er euch gekommen, weil ihr wußtet, daß euer natürliches Denken ihn euch nicht eingegeben hatte. Und es stand auch schon ein Entschluß vor euch, der nicht aus irdischen Erwägungen geflossen, und es kam schon ein Frieden über euch, daß ihr euch selbst fragtet, wie Frieden in euer Herz kam. Nun sieh, daswaren Regungen des heiligen Geistes in euch, Regungen wie eines geheimnisvollen Wesens, das mit unserm Menschengeist verbunden ist. Was uns immer bleibt, wenn wir an allem zweifeln möchten, das ist, daß wir etwas Heiliges in uns tragen, undje mehr ein Mensch dies fühlt und weiß, desto stärker ist er im Leben. Man möchte manchmal innehalten und ungläubig fragen: Ist es denn wirklich wahr, daß Gott seinen Geist in uns armen, schwachen Menschen hat wohnen lassen? Er hat uns versiegelt mit dem heiligen Geist, wie es in der Apokalypse heißt, ein unsichtbares Zeichen auf unsere Stirn gedrückt [Apk. 7,3]. Und dieses Siegel sollen wir an uns tragen und es rein und heilig bewahren, daß unser ganzes Leben, alles, was wir tun und denken, geheiligt sei durch dieses Siegel.

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Die Heiligkeit, die göttliche, ewige Bedeutung unseres Daseins durch den Funken Gottesgeist, den er in uns wohnen läßt, das ist das Pfingstgeheimnis. Meine eigenen Gedanken kehren immer wieder und immer wieder zu diesem Anfang zurück, und ich meine, ich verstehe die Schrift jetzt besser als früher, weil ich immer wieder davon ausgehe und davon überzeugt und froh bin. Und ich meine, man kann es den Menschen nicht genug sagen: Ja, ihr habt den heiligen Geist, seid freudig und getrost – und besonders am Pfingstfest kann man es nicht genug sagen. Und wenn ihr ihn nicht spürt und merkt, ja, wenn mir jemand sagte: Ich habe noch nie eine Regung des heiligen Geistes in mir gefühlt, so würde ich sagen: Er schweigt in euch, weil die andern Gedanken ihn übertönen und er nicht reden kann aus Schmerz über das, was sich in euren Herzen bewegt und über eure Lippen kommt. Darum sagt derApostel: «Und betrübet nicht den heiligen Geist Gottes, womit ihr versiegelt seid.» In dieser einen Bitte liegt die ganze Schwäche unseres Menschenlebens – und auch wieder alles, was uns Kraft geben kann. Es kommen Versuchungen über uns, wo nichts mehr standhält: weder der Gedanke an unsere Eltern und an die Menschen, die uns lieben und achten auf Erden, noch eine Furcht vor dem Zorn und der Strafe Gottes, wo gleichsam alle Ketten, mit denen unsere Existenz verankert war, abgerissen sind und wir nun allein, nur auf uns selbst angewiesen, in dem Strudel desLebens dahintreiben. Da gibt es nur noch einen Gedanken, der uns aufrechterhält und den richtigen Weg finden läßt: die Ehrfurcht vor dem göttlichen Wesen in uns.Wer diesen Gedanken ergreift, bei dem siegt der heilige Geist in ihm über alle Sünde, und es wird Tag. Darum redet der Apostel immer wieder von der Heilighaltung des Geistes Gottes in uns, um uns zu mahnen und zu trösten, weil darauf alles ankommt. «Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt», sagt er einmal. «Sojemand denTempel Gottes verderbt, den wird Gott richten, denn derTempel Gottes ist heilig, der seid ihr!» [I Kor. 3,16 f.]. Denkt ihr denn im Leben an die Heiligkeit eures Daseins durch den heiligen Geist? Der Apostel fleht euch an: «Und betrübet nicht den heiligen Geist.» Und wenn ich euch jetzt noch einmal die ganzen Textworte vorläse, womit er diese Bitte erklärt, von dem Lügen, von dem Zürnen, von dem faulen Geschwätz, von der Lästerung, es wäre Wort fürWort für einen jeden von uns, wie wir den heiligen Geist betrübt haben von der letzten Pfingsten bis zu dieser. Darum sind wir des Besitzes des heiligen Geistes nicht froh geworden – und damit wir es in diesem Jahr mehr werden, damit er sich lebendig in uns regen kann, wollen wir kämpfen, ihn nicht zubetrüben. Wir sind gedankenlose Menschen und wissen gar nicht, daß wir in diesem alltäglichen, gewöhnlichen Sündigen den heiligen Geist in uns

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niederdrücken, so daß er sich nicht mehr regen kann und verstummt in unsern Gedanken, so daß wir nun dahinleben ohne heiligen Geist, d. h. ohne Freude, ohne Kraft. Und darum darf ich euch zum Schluß noch einmal das Gesetz des Paulus für die Bewahrung des heiligen Geistes in uns lesen, dasso schön und so einfach ist, daß man kein Wort der Erklärung hinzusetzen kann. Und jeder von euch möge in Gedanken bei dem Satz verweilen, der für ihn besonders bestimmt ist.

Morgenpredigt Sonntag Trinitatis, 29. Mai 1904, St. Nicolai Fest der inneren Mission

I Kor. 4,20: Das Reich Gottes steht nicht inWorten, sondern in Kraft Das Fest der inneren Mission ist ein neues Fest. DasWort «innere Mission» selbst ist neu; in der Bibel steht esnicht, undLuther redet nicht davon. Ein neues Wort, ein neues Fest; ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Sagen wir, ein gutes. Innere Mission gab es zwar von jeher, denn waseiner leiblich und geistig an einem Nebenmenschen um Christi willen tut, ist das nicht innere Mission? Aber die Verhältnisse sind gewachsen und komplizierter geworden; es hat etwas Großes und Organisiertes unternommen werden müssen – und alles, was in dieser Hinsicht entstanden ist, nennt man innere Mission. Es gab früher auch Verkehr, und man brauchte keinen Eisenbahnminister – heute aber ist er nötig. Ebenso gab es früher christliche Liebestätigkeit, aber keine innere Mission, dasheißt, keine ins Große organisierte und geregelte Anstrengung in diesem Sinne, wie wir sie kennen: Krankenpflege, Waisen-

pflege, Heime, Blödenanstalten, Ferienkolonien, Gefangenenfürsorge. Das Ideal des Festes der inneren Mission wäre, wenn jeder von uns Predigern heute seine Kanzel irgendeinem Menschen abtreten könnte, der in einer dieser großen Unternehmungen drinsteht, daß er euch sagte: Seht, das haben wir unternommen, daran arbeiten wir; wir brauchen euch, kommt, helft mit! Ich denke, wenn jetzt einer zu euch spräche, der an der Fürsorge für entlassene Gefangene wirkt, und gewänne zehn von euch, daß sie ihm nachher schrieben: Können sie unsbrauchen zur Mithilfe? – daswäre ein rechtes Fest der inneren Mission. Oder, da ich zu euch reden soll, möchte ich euch den Lebensgang eines der Helden der inneren Mission schildern, daß wir uns daran erbauen, das Leben eines von jenen Männern, die mitten unter der Gleichgültigkeit und den beengenden Formen unserer Gesellschaft ein großes Liebeswerk in Angriff genommen und es durchgeführt haben, so daß man von ihnen sagen kann: «Und ihre Werke folgen ihnen nach» [Apk. 14,13].

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Aber wir wollen von uns reden, ich hätte fast gesagt, von uns, den Zuschauern der inneren Mission, von den Hörern und von dem Prediger, und dafand ich kein anderes Textwort als das, welches ich euch verlesen: «Das Reich Gottes stehet nicht in Worten, sondern in Kraft.» Es ist keine Festpredigt, denn feiern dürfen nur die, die etwas getan und geleistet haben, und wir in unsern Kirchen haben es allzu lange gemeint und meinen es noch zuviel, daß das Reich Gottes in Worten besteht, und vergessen die Kraft! Die Kraft? Was ist denn das? Ich brauche euch nicht zu fragen. Die meisten von euch, alle, die es einigermaßen vermögen, stehen in Verbindung mit mehreren wohltätigen Unternehmungen, zeichnen jährliche Beiträge – jedesmal so viel, wie sie das letzte Jahr gegeben haben – bekommen dieJahresberichte, sitzen wohl auch in einem Komitee, und wenn sie sterben, vermachen sie noch etwas. Das ist schön – aber ist dasKraft? Wer ist unter den Geistlichen, die sich auf heute ihre Predigt niedergeschrieben und dabei sich nicht gar viele Fragen stellen mußten? Warst du mehr denn ein Prediger desWortes? Hast du denn gewirkt in Kraft unter den Verlorenen und Enterbten, daß du darfst vor deine Zuhörer treten und sie heiß und glühend machen für dasWerk der inneren Mis-

sion?

In der Offenbarung desJohannes, in dem Sendschreiben an die Gemeinde zu Laodicea, heißt es: «Ich kenne deine Werke; du bist weder kalt noch warm. Ich möchte, du wärest kalt oder warm. So aber sprichst du: Ich bin reich» [Apk. 3,15–17]. Auf uns redet die Schrift, denn heute ist die Gefahr, daß wir uns für reich halten und vergessen, daß wir nur lau sind. Ich habe immer Angst, daß unsere Wohlfahrtseinrichtungen und alle unsere organisierten Unternehmungen uns zum Ruhekissen und zur Entschuldigung für uns selbst werden. Wie oft hört man heute das bequeme Wort: Ja, in unserer Zeit sind die Verhältnisse so, daß der einzelne nichts tun kann, sondern die Gesellschaft muß an seine Stelle treten. Hier gilt dasWort: «Das eine tun und das andere nicht lassen» [nach Mt. 23,23]. Wir sind zu stolz auf unsere Organisationen. Wenn wir von Zeit zu Zeit lesen, daß hier eine Familie im Elend umgekommen, dort eine Mutter mit ihren Kindern dem Hungertode nicht zu entrinnen meinte und die Erlösung durch das Kohlenbecken suchte, da zählen wir wie halb entrüstet in Gedanken die Gesellschaften auf, an die sie sich doch hätten wenden können, und vergessen, daß sie so weit gekommen, weil sie keine Menschen gefunden haben, die ihnen halfen. Die Gesellschaften, das sind die Maschinen, die auf Schienen laufen. Die Schienen der Eisenbahnen, nicht überall führen sie hin, sondern wenn man zum Menschen will, gibt es zuletzt doch nur einen Pfad, zum Tor hinein ins Haus. Ebenso machen die Schienenwege und die Maschinen in denWohlfahrtseinrichtungen den Menschen nicht über-

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flüssig – das ist eine lebendige Kraft, die durch keine Maschinenkraft kann ersetzt werden. Und dann, wenn ich Jahresberichte lese der verschiedensten Unternehmungen, dann kommt es mir vor, als wäre langsam ein Stillstand eingetreten. Man stößt da immer wieder auf so merkwürdige Sätze wie zum Beispiel: Die alten Freunde desUnternehmens sterben langsam dahin und neue sind noch nicht genügend an ihre Stelle getreten. Ja, die Maschinen laufen nicht von selbst, wenn nicht ihnen immer neue Kraft kommt von neuer Glut, die unter dem Kessel loht – und die Kraft und die Glut, essind nur die, welche die Menschen in sich tragen. Darum wollen wir nicht reden von den herrlichen Maschinen der inneren Mission, sondern von den Menschen, welche die innere Mission braucht. Man möchte meinen, es geht eigens auf uns, daßJesus nie redet von dem, was sie gemeinsam Gutes tun, sondern immer nur vom einzelnen. Wenn er wiederkäme, so würden wir ihm alles erzählen wollen, was unsere Zeit getan, und die Jahresberichte würden wir ihm in die Hand drücken, und er würde sie nehmen und zum Nächstliegenden sprechen: Sag mir, was hast du getan? Da bekämen wir alle Angst, er könnte uns dasselbe fragen – denn washätten wir anzugeben? Geistige Kraft, Menschenkraft, dasbraucht die innere Mission. Innere

Mission heißt, den Armen helfen und sie zu Gott zurückbringen. Ja, warum sind sie von der Kirche abgefallen? Ich lasse den Materialismus und die übrigen bösen Fremdwörter, die an der Gottlosigkeit und an dem Abfall von der Religion unserer Tage [schuld] sein sollen, in Ruh. Ich muß immer denken, ein Schwungrad von Eisen oder Stahl kann sich drehen, so schnell es will, wo doch nach den Gesetzen der Physik jedes kleinste Teil sollte davon mit Vehemenz losfliegen – und nichts löst sich los, denn die Kraft, die Anziehungskraft ist da, die alles zusammenhält. Aber warum sind ganze Volksschichten von der Kirche abgekommen durch die Bewegung der Zeit und durch die Umstände? Weil von uns auskeine Kraft daist, die sie mit der Kirche lebendig zusammenhält. Unser Kirchenchristentum ist ein schön eingefaßter Teich, dessen Spiegel zu niedrig liegt, als daß er das umliegende Land bewässern könnte. DasWasser muß höher steigen, daß es nach allen Seiten überläuft, dann grünt dastrockene Land ringsum. Vor einem dürren Baum stehen sie und sagen, das kommt von der Sonne. Aber die Sonne könnte brennen und stechen, wenn er Wurzel hätte, würde er nicht verdorren. «Da es nicht Wurzel hatte, verdorrte es», sagt der Herr im Gleichnis [Mt. 13,6]. Nun sieh, die Wurzeln des Glaubens an Gott, die liegen bei einem Menschen nicht in seinem Herzen allein, sondern sie dehnen sich auch aus nach den Herzen anderer Menschen, um dort Nahrung zu suchen. Der, welcher liebe Menschen gleiches Sinnes wie er um sich hat, der hat leicht, an Gott glauben, aber

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die, welche niemand haben, die können fast nicht glauben. Was hilft da alle Gesellschaft und alle Unterstützung – die Hilfe, die ihnen über die spanische Wand gereicht wird? Die Verlorenen brauchen Menschen, an denen sich das Gute, das in ihnen noch schlummert, wieder entzünde und in deren Herzen sie wieder ihren Glauben an Gott finden. Um an Gott glauben zu können, muß man wieder an die Menschen glauben. Und das ist die wahre innere Mission, daß ein Gefallener, ein Mensch in Not, überall einen Menschen finden kann. Und das kann er heutzutage nicht. Und darum geht von der christlichen Menschheit keine Kraft und kein Licht aus über die da im Dunkel sitzen [nach Jes. 9,2].

Warum steht auf den Treppen «Betteln verboten»? Unter hundert sind sicher neunzig Schwindler und Tagediebe, aber zehn, sagen wir fünf, sagen wir einer, der nicht um Brot, Essen, Kleider, sondern ein bißchen Gottesliebe bettelt, ein bißchen Gottesliebe in einem fremden Menschen. Und um dieses einen willen muß das Schild entfernt werden, das ist der eine auf neunundneunzig, von dem der Herr in den Gleichnissen redet [Mt. 18,12– 14]. «Entziehe dich nicht dem, der dich bittet», heißt es in der Schrift [Mt. 5,42]. Unsere ganzen Verhältnisse sind so geworden, daß wir uns alle uns selbst entziehen denen, die da bitten. Die Menschenleitung zwischen Gott und denen, die in Not sind, ist unterbrochen, und wenn die Leitung unterbrochen ist, hilft die größte Kraft nichts, denn sie kann nicht wirken. Und wie die Kräfte in der Natur, so geheimnisvoll sie sind, sich zuletzt in ganz einfachen Bewegungen äußern, so ist es auch etwas ganz Einfaches, worin sich die Liebeskraft Gottes äußert: Daß du ihn anhörst, seine Adresse aufschreibst, hingehst, wo er wohnt, dich erkundigst, ob seine Angaben stimmen, daß du ihm, sagen wir, eine halbe Stunde opferst, freundlich und ohne Ungeduld – da spürt er schon, es ist umJesu willen, und gleich ahnt er eine Liebeskraft, die von einer andernWelt ist. Und wenn dich die Zeit nicht dauert – die Zeit, mit der wir so verschwenderisch sind zum Zeitungslesen – und du nur einmal zehn, die an deiner Tür etwas heischen, genau ausfragst und ihnen nachgehst, dann darfst du sicher sein, daß fast der ganze Schwarm der Tagediebe und der Schwindler wie durch ein Wunder von deiner Tür wegbleibt. Denn dieses ganze Schwindel- und Ausbeutungssystem beruht nur auf der Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit der Menschen, die mit zwanzig Pfennigen durch die halboffene Tür sich gleichsam davon loskaufen, sich um einen Menschen kümmern zu müssen. Was die innere Mission bis jetzt geschaffen hat, ist ein herrliches Werk, und wir dürfen Gott aus vollem Herzen danken, daß er solche Macht über Not und Elend den Menschen gegeben hat. Aber die innere Mission der Zukunft, die kommen muß, ist doch noch etwas anderes:

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Die Mission, wo jeder ein innerer Missionar ist, und dieser Hauch der kalten Zurückhaltung, welcher über unserer Zeit liegt, verschwindet. Wir sind alle zu eingeengt in unsern Mauern, in unsern Familien, eingeengt durch gesellschaftliche Einrichtungen und Stellung und bewegen uns hinter einer künstlichen Schutzmauer, die uns unsere Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit geschaffen. Was liegen doch nicht in allen Schichten für herrliche Kräfte brach, Menschen, die nicht mehr verlangten, als etwas zu tun, und die nicht dazu kommen um dieses oderjenes kleinen Umstandes halber. Und nicht daskleinste Hindernis ist oft, daß wir uns voreinander genieren, unsere Angst, aufzufallen, wenn wir irgendwo mitanfassen und etwas tun, das nicht in der gewöhnlichen, bürgerlichen Beschäftigung oder Nichtstun vorgesehen ist. Ich weiß nicht, versteh ich unsere Zeit recht, aber es kommt mir vor, als ob wir alle hinter künstlichen Mauern gefangen sitzen und deswegen nicht tun, was wir, von unserm Herzen und von der Liebe zuJesus getrieben, gerne tun möchten. «Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen» [Mt. 25, 36], das ist eines der letzten Worte, die er gesprochen, damit er die Menschen ermutigte. Nun sieh, eine ganze Welt sitzt gefangen im Elend, gefangen in derVereinsamung, gefangen in der Verbitterung, gefangen in der Sünde, gefangen in der Gottentfremdung – undwir sollten zuihr undkommen nicht zuihr. Es wird aber so kommen: Mitten in dem geistlosen und beschränkten Getriebe unserer Gegenwart ist es mir manchmal, als hörte ich den Schritt einer neuen Zeit. Und es ist eine Freude, von dieser Umgestaltung zu predigen, denn da handelt es sich nicht darum, neue Gesetze aufzustellen und neue Vereine zu gründen, sondern nur den Leuten zu sagen: Sucht euren Weg. Erwacht nur aus der Gedankenlosigkeit und sucht! Klopft an hier und dort, ob man euch brauchen kann, und wenn ihr eine Spur des Elends findet, geht ihr nach auf eigene Faust und laßt euch besonders nicht betören durch die vernünftigen Gründe eurer Bequemlichkeit. In der Vernunft redet bald Gott, bald der Teufel zu den Menschen: Redet sie bequem, dann ist es der Teufel, redet sie unbequem, dann ist es sicher Gott. Und wenn ihr euren Weg, auf dem ihr den Menschen Gottesliebe bringen könnt, sucht, dann werdet ihr vielleicht lange vergebens suchen müssen, ihr werdet vielleicht warten müssen, bis sich euch das Richtige zeigt, was für euch bestimmt ist. Denn auch dasGute zu tun macht Gott den Menschen nicht leicht; er ist kein sentimentaler Herr, sondern ehe er einen anstellt, erprobt er ihn zuerst auf Geduld und auf Ausdauer. Darum laßt es euch nicht verdrießen, wenn ihr auf euer ‹Wassoll ich tun?› zuerst keine Antwort findet und auch kein anderer euch klar sagen kann, das oder das könntest du tun, sondern harrt aus und sucht weiter, dann plötzlich, ihr dürft es gewiß sein, tut sich die Tür vor euch auf zum wahren Wirken für Jesus. Zum wahren Wirken –

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Predigten

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zum wahren Glück. Wirklich glücklich sind wir alle nicht, weil wir zuwenig getan haben fürJesus. Wahre Freude ist nur da, wo die Kraft Gottes ist, und Kraft Gottes nur da, woJesus ist. UndJesus findest du wahrhaftig erst dort, wo du etwas für ihn tust. «Was ihr getan habt einem dieser geringsten unter meinen Brüdern, dashabt ihr mir getan», sagt er [Mt. 25,40]. Auf demWege, den du für ihn gehst, triffst du ihn lebendig an, und tausendfältig empfängst du wieder, was du für ihn getan, an Friede und Kraft und Freudigkeit, die in dein Herz kommen.¦30¿

Morgenpredigt Sonntag, 19.Juni 1904, St. Nicolai

Joh. 21,15–

18¦31¿:

Hast du mich lieb?¦32¿

Petrus saß in seiner Kammer zu Jerusalem in tiefer Betrübnis. Zwei Worte kämpften in seiner Seele: «Du bist der Fels, auf den werde ich meine Kirche bauen» [Mt. 16,18] – das hatte der Herr zu ihm gesagt, und er war so stolz darauf gewesen. «Ich kenne den Menschen nicht» [Mt. 26,72] – dashatte er selbst gesagt am Feuer im Hof desHohenpriesters. Sein Wort hatte des Herrn Wort ausgelöscht. Nein, er hatte kein Recht mehr, jetzt sein Evangelium zu verkünden, alles hatte er verwirkt. In die Verborgenheit zurückzukehren, wieder Simon, Jonas Sohn, der einfache Fischer zuwerden, ja, daswar seinWeg. Nun stand er wirklich wieder auf dem Boot, und dasTau des Netzes lief durch seine Hand; das war wieder das Schaukeln der Wellen wie vordem und die dunklen Berge am jenseitigen Ufer und die Gesellen von damals im andern Boot. Da, eine Gestalt auf dem Ufer: der Herr. 30 [AS-HB, S. 70– 71] «Heute habe ich gepredigt, um mich zu trösten. [...] Ich habe gesagt, Gott sei nicht ein sentimentaler Mann, der sich die erste Begeisterung der Menschen zunutze mache, sondern er stelle sie auf die Probe, um zu sehen, ob sie durchhalten, und erst dann nehme er sie in seinen Dienst. Aber ich halte durch, und ich habe die Gewißheit, daß alles gut werden wird. Gerold [Schweitzers Vorgesetzter und Kollege], der doch sehr zurückhaltend ist, sagte mir beim Hinausgehen bewegt: Ihre Predigt war schön.»

31 [Da sie nun dasMahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon Jona, hast du mich lieber, denn mich diese haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr. Du weißt, daß ich dich liebhabe. Spricht er zu ihm: Weide meine Lämmer! Spricht er wieder zum andernmal zu ihm: Simon Jona, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, duweißt, daß ich dich liebhabe. Spricht er zu ihm: Weide meine Schafe! Spricht er zum drittenmal zu ihm: Simon Jona, hast du mich lieb? Petrus ward traurig, daß er zum drittenmal zu ihm sagte: Hast du mich lieb? Und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge. Du weißt, daßich dich liebhabe. Spricht Jesus zuihm: Weide meine Schafe!] 32 [AS-HB, S. 73] «Danke für Ihren schönen Brief. Ich denke viel daran, während ich meine Predigt für Sonntag mache: Joh. 21: Simon Petrus, hast du mich lieb? Beim Lesen Ihres Briefes habe ich meinen Text entdeckt.»

Hast dumich lieb?

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Er kann nicht anders, er muß sich ins Meer werfen und zu ihm schwimmen. Schweigend nahmen sie dasMahl. Und nachher fragte er ihn dreimal: «Hast du mich lieb?» Und dreimal durfte er ihm antworten: «Ja, du weißt, daß ich dich liebhabe.» Das erste für die erste Verleugnung, das zweite für die zweite, das dritte für die dritte. Nun ist er wieder Petrus, und der Herr spricht zu ihm: «Weide meine Lämmer.» Und er will ihm folgen, aber er entschwindet. Das Rauschen des Sees wird stärker und stärker, und er erwacht in seiner Kammer, und der Lärm vonJerusalem dringt zu ihm herauf. Da steht er auf, ein neuer Mensch in neuer Kraft, geht fröhlich zumTempel und fängt an zu predigen. Später erzählte er seinen Vertrauten diese wunderbare Erscheinung des Herrn, die ihn befreit, und als derTraum von Mund zu Mund ging, wurde sieWirklichkeit. Darum lesen wir heute im letzten Kapitel desEvangeliums desJohannes, daßJesus dem Petrus am See Genezareth erschienen sei.

«Hast du mich lieb?» Das ist sein letztes Wort, das nun auf Erden umgeht und sich an die Menschen heranmacht. «Hast du mich lieb?» Das müssen diejenigen, die sein Evangelium verkünden, wiederholen und immer wiederholen. Wenn man sie nur erreichen könnte, die Menschen, die es brauchen! Denkt euch: Auf einem großen Platz sitzen Tausende von Menschen mit gefesselten Händen, und es wird einem ein scharfes Messer gegeben, daß er die Reihen langgehe und mit einem Schnitt unversehens ihnen die Bande durchschneide. So ist es, wenn man zu den sündigsten und verworfensten Menschen treten darf, um ihnen zu sagen: Hast du ihn lieb? Du darfst ihn liebhaben! Dann ist alles ausgelöscht, alles wird gut, und du bist ein neuer Mensch. Denn was den Menschen, wenn er gefallen ist, niederdrückt, das ist die Mutlosigkeit. Sie fühlen in sich nicht mehr das Recht, etwas Gutes wieder anzurühren, sie dürfen nicht mehr, und in dieser Mutlosigkeit sinken sie tiefer und tiefer ein, bis sie in den schlafähnlichen Zustand der Gleichgültigkeit kommen und sich zuletzt damit zurechtfinden, auch so zu leben. So ein unnützer, mutloser Mensch wäre Petrus geworden, wenn dasEvangelium Jesu nicht das Evangelium des Mutmachens

wäre.

Ich glaube, ich wäre nur mit halbem Herzen Prediger, wenn ich es nicht gewiß wüßte, daß wir zujedem Verwundeten, zujedem Mutlosen, zujedem Gefallenen sagen dürfen: Siehe, dasist unser Herr! Kannst du es über dich gewinnen, ihn ein wenig nur zu lieben und dich noch einige Schritte weiterzuschleppen, dann kommst du bis zum Wegweiser, wo draufsteht: Hier geht ein neuer Weg für mich. Sie sind nicht hier, jene ganz Mutlosen, sie finden nicht einmal den Weg zur Kirche mehr. Aber es gibt ihrer so viele, und wenn ihr einen antrefft, so sagt es ihm mit voller Überzeugung: Nur Liebe fassen zu ihm, dann ist alles gewonnen, und es ist alles vergangen, vergessen, ausgelöscht.

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Und zu den andern Müden muß man es auch tragen, zu den Zweifelsmüden, zu diesen Menschen, die sich fragen, ob sie noch glauben, ob das, was sie mit Christus verbindet, noch Christentum ist. Wenn einer zu mir käme und sagte: Daran kann ich nicht glauben und daran nicht, und darüber komme ich nicht hinaus, erklären Sie mir dies, erklären Sie mir das, da würde ich ihn bis zu Ende reden lassen und dann nur fragen: Haben Sie ihn lieb? Hast du Ehrfurcht vor dem Herrn, möchtest du zu ihm kommen, besser werden durch ihn, etwas für ihn tun, dann laß dich nicht aufhalten durch dies und das, sondern dräng dich an ihn heran, und wenn du zu ihm kommst und sagen kannst: «Herr, du weißt, daßich dich liebhabe», dann ist dir ausallem geholfen. Wenn es gilt, ein Land zu verteidigen, da besetzt man nicht jede kleine Ortschaft undjede Straße an der bedrohten Grenze, sondern man läßt ruhig den undjenen Punkt unbesetzt und sammelt alle Truppen an einem Punkt und wagt die Schlacht. So ist es gerade im Kampf um die Religion heute. Mir graut vor diesen Verteidigungsschriften, wo zuerst gezeigt wird, daß eigentlich unser modernes Wissen und der christliche Glaube, wenn man beide richtig zusammenbringe, vereinbar sind, und dannjede einzelne Lehre noch besonders bekräftigt wird. Nein, ein einziger Kampf ist zu kämpfen, um die Sache Christi zu retten und Sünde, Unglaube und Gleichgültigkeit zugleich zu überwinden: der Kampf um die Liebe Jesu. Laßt alles, liebt ihn nur, diesen Herrn, mit ehrfürchtiger Liebe als den einzig Hohen! Er gehört euch allen, er gehört euch als Menschen, keine Lehre darf ihn von euch abschließen; und wenn ihr nicht anders könnt, liebt ihn als den größten und reinsten Menschen, nur daß ihr in dies Getriebe der Liebe hineinkommt, das er hienieden in Gang gesetzt hat, und er euch zuletzt erfaßt. Habt ihr es schon gesehen in einem Fabriksaal, diese unzähligen Räder, die sich bewegen durch die Kraft eines unsichtbaren Schwungrades? Aber wenn der Treibriemen von einem heruntergeglitten ist, dann kannst du drehen und machen, wie du willst, es kommt nicht in lebendige Bewegung, sondern den Treibriemen mußt du wieder drauflegen, was etwas ganz Einfaches ist, und dann läuft es. Als die ersten großen Irrlehrer in der Kirche auftraten, dawußten die Schüler und Enkelschüler der Apostel nichts zu sagen als: Sie sind aus der Liebe gefallen. Auch die Menschen unserer Zeit sind so kalt und tot, weil der Treibriemen, der sie mit Christus verbindet, abgeglitten ist, und nun schauen sie verwundert als stillstehende Räder, daß andere sich noch bewegen. Beim Gleichnis von der königlichen Hochzeit [Mt. 22,1– 14], über das letzten Sonntag gepredigt wurde, habe ich bei mir denken müssen, vielleicht wollten sie zuletzt nicht kommen, weil sie sich sagten: Ich kann mir selbst ein gutes Essen machen und brauche mich nicht zu derangieren und noch einen langen Weg zu machen. Aber wenn sie den

Hast du mich lieb?

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Sohn geliebt hätten, dann wären sie gekommen, der eine trotzdem er ein Joch Ochsen gekauft, der andere trotzdem er ein Weib genommen. So macht sich auch heute mancher sein bißchen Lebensphilosophie zurecht und sagt sich: Das hält mich schon aus anstelle der Religion, und sieht nicht, daß es eine geistige Speise ist, dabei er verhungert. Aber wenn es gelingt, ihm Liebe einzuflößen für unsern Herrn, dann würde er von selbst zu demTisch kommen, woWasser desLebens und Brot des Lebens die Fülle ist. Nun meinst du vielleicht, der Herr hat gesagt: «Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht» [Mt. 11,30] – aber so lehren, das heißt, es zu leicht machen. Und ich selbst, obwohl ich innerlich überzeugt bin, daß das Letzte und Einzige in der Religion die Liebe zu ihm ist, habe manchmal Angst, es so geradeheraus zu sagen, weil man es so verstehen könnte, aber es ist keine leichte Religion, denn der Herr fragt dreimal: «Hast du mich lieb?» Und nachher kommt ein Befehl und ein Wort von sich nicht mehr selbst gürten und nicht mehr hingehen können, wohin man will. Bisher sprachen wir nicht von uns, sondern von denen, die nicht hier sind, und um die wir uns sorgen, weil wir sie fern vonJesus wissen. Jetzt müssen wir für uns antworten. Er fragt zum ersten Mal. Du antwortest: «Herr, du weißt, daß ich dich liebhabe.» Woher soll er es wissen? Ja, dubist hier in der Kirche; du hast Freude an seinem Wort; du erquickst dich an seinem Evangelium; du spottest nicht über ihn, wie die Welt tut; er ist etwas, er ist viel für dich, ohne ihn wäre dein Leben öd und wertlos; du dankst ihm, daß er dich erquickt und stärkt. Das weiß er und muß daher auch wissen, daß du ihn liebhast. Und du meinst, er ist zufrieden? – Aber noch einmal kommt es: «Hast du mich lieb?» Wer von euch wagt, noch einmal zu antworten: «Du weißt, daß ich dich liebhabe?» Du weißt, weiter geht es nicht mehr. Wasweiß er? Er weiß, daß wir ihn verleugnen vor den Menschen, nicht mehr plump und grob wie St. Peter vor den Knechten und Mägden, sondern fein und taktvoll wie wohlerzogene Menschen. Nur nicht als christliche Menschen auffallen! Im Gespräch wird gehöhnt und gewitzelt über seine Worte, wird leichtfertig von ihm gesprochen; wir lächeln verlegen oder machen, als wenn wir es nicht gehört hätten. Ich persönlich habe mich oft nachher vor mir selber schämen müssen. Früher sagte ich mir, du bist zu jung, um jemanden zurechtweisen zu dürfen; oder: Es ist unhöflich gegenüber den Leuten, deren Gast du bist, vielleicht einen Wortstreit heraufzuführen; oder: Von ihm hier reden, hieße, die Perlen vor die Säue werfen [Mt. 7,6] – aber das waren alles nur Entschuldigungen. Der Hauptgrund des Schweigens und des verlegenen Lächelns ist die Feigheit. Daß man von ihm in leichtfertiger, unehrerbietiger Weise darf reden, dasist unsere Schuld und unsere Schande.

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Woher soll er wissen, daß wir ihn liebhaben? «Hast du mich mehr lieb, als diese da mich lieben?» Wie ihn die andern lieben, das können wir nur nach dem Äußerlichen beurteilen. Mehr lieb, das will heißen, hast du etwas vor den Menschen Verborgenes, woraus ich deine Liebe weiß? Verborgen sind die Gedanken des Herzens. Jetzt wag einmal, zu gestehen, daß er die Gedanken deines Herzens kennt. Dann weiß er, daß es Dinge gibt, die du mehr liebst alsihn. Ich rede jetzt nicht so allgemein davon, daß wir die Welt und ihren Tand mehr lieben als ihn. Sooft ich über diesen Gemeinplatz reden höre, höre ich zugleich einen falschen Ton mitklingen; denn im Grunde meines Herzens bin ich esdoch gewiß, daßihr undich, bis auf die kaum Erwachsenen herunter, wenn wir morgen vor dieWahl gestellt würden: Jesus oder die Welt, wir, ohne einen Augenblick zu zögern, und wenn wir ins tiefste Elend kommen sollten, sagen würden: Jesus. Das gehört auch zu dem Evangelium desMutmachens. Aber ich meine, ob wir ihnjetzt mehr lieben, dasheißt, mehr an ihn denken als an alle irdischen Dinge? Und weil er unsere Gedanken kennt, weiß er, daß es nicht der Fall ist, daß wir mehr an unsere Bequemlichkeit, unser Wohlsein, an unser bißchen Menschenruhm denken als an ihn. Und weil er sie alle kennt, auch die geheimsten, weiß er auch, daß wir Gedanken Herberge gewähren, denen wir keine gewähren dürften, wenn wir ihn wahrhaft liebten und vor Augen hätten. Ich will euch nur einen Spruch sagen: «Die Liebe freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber der Wahrheit» [I Kor. 13,6]. Wievielmal aber freuen wir uns der Ungerechtigkeit! Und von den finsteren Gedanken wage ich nicht zu reden. «Du weißt, daß ich dich liebhabe!» Wenn er von uns Taten wüßte, die wir aus Liebe zu ihm getan haben, nur zehn, nur fünf Entbehrungen, die wir für ihn auf uns genommen, wenn nur drei oder vier Menschen vor ihn treten könnten: Ja, mir hat er dies und dasgetan ausLiebe zu dir. Aber wer würde es wagen, jetzt zu sagen: «Du weißt, daß ich dich liebhabe», wenn wir vergeblich bis in die äußersten Winkel unseres Denkens undTuns gegangen, um etwas zu finden, daswirklich ihm ge-

hört? Und das dritte «Hast du mich lieb?» Wer fürchtet sich nicht? Er ist über dieWelt gegangen, um uns alle nach sich zu ziehen, in ihm reich zu machen – und arm stehen wir vor ihm. «Hast du mich lieb?» Ich wollte dich liebhaben, aber ich bin zu sehr verstrickt im Leben undhabe zuwenig Mut vor mir selber und vor der Welt. Und wenn er fragt «Hast du mich lieb?», dann fordert er etwas wie bei Petrus, dem er befiehlt: «Weide meine Lämmer» und dem er sagt, daß er jetzt nicht mehr hingehen wird, wohin er will, und sich nicht mehr selbst gürten wird. Ihn lieben wollen, ist ein Anfang ohne Ende! Er will alles, alles an dem Menschen, und du kannst nicht sagen: Bis hierher übergebe ich mich

Hast du mich lieb?

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ihm, aber einen Rest will ich für mich behalten, sondern er nimmt mehr und mehr, und wer ihn anfängt wahrhaftig zu lieben, der ist nicht sicher, ob er ihn nicht ausdem natürlichen Geleise seines Lebens heraushebt und ihm die Hände bindet, daß er nicht mehr tun kann, was er will. Wir sind wie Menschen, die am Meeresstrand dahingehen, und von Zeit zu Zeit läuft eine Welle bis an ihren Fuß und benetzt ihn. Sie weichen aus und denken mit Angst, wie es wäre, wenn die Flut wüchse und käme und sie mitfortrisse, und gehen ängstlich weiter auf dem Strand, manchmal benetzt von einer Welle, die in ihrer letzten Bewegung bis an unskommt, und dasist unser Leben. Ich sage das alles nicht, um euch zu entmutigen. Im Gegenteil, ich freue mich, das Evangelium des Mutmachens verkündigen zu dürfen, nicht nur denen draußen, die von ihm abgeirrt sind, sondern auch euch, die ihr daran haltet. Aber siehe, es ist eine Gefahr für uns alle; wir müssen uns selbst die Augen öffnen! Gewiß, wir lieben Jesus, aber es kommt mir vor, wir lieben ihn wie einen guten Bekannten, der sich genügen läßt an unserer Sympathie und an unserem freundlichen Wesen. Ist es euch nicht, als ob dasWort «ihn lieben» für uns etwas ganz Unlebendiges ist? Wir lieben ihn nicht mit innerer Anstrengung des Herzens wie jemand, der etwas von uns verlangt und fordert, sondern unsere Liebe für ihn hört auf, wo es schwer wird, ihn zu lieben. Wir kämpfen nicht, um ihn zu lieben, und darum kennen wir nicht die Befreiung und Seligkeit, die in der Liebe zu ihm liegt; darum ist unser Glaube, unser Vertrauen, unser Friede so gering. Es liegt eine schwere, schwüle Atmosphäre über unserm Leben, und wenn ein frischer Luftzug kommen soll, daß du frei aus voller Brust atmen kannst, dann mußt du ihn lieben, eine Anstrengung machen, ihn zu lieben. Und wenn unter euch sind, die durch das Bewußtsein einer Schuld, die sie mit sich herumtragen, niedergedrückt sind, wenn unter euch sind, die an Zweifel leiden und zu keinem rechten, freudigen Gedanken kommen können – es gibt nur eins: eine Anstrengung machen, um ihn zu lieben. Dann kommt dasGlück und die Seligkeit. Und wenn ihr heute abend eure Gedanken in der Andacht sammelt, dann tretet vor ihn hin und fragt euch vor ihm, ob ihr ihn denn wirklich liebhabt und was ihr denn schon für ihn getan habt an anderen Menschen und im Kampf gegen die bösen Gedanken des Herzens. Habt keine Schonung mit euch selbst – und dann, wenn ihr seht, wie wenig ihr ihn liebt, dann gelobt euch, zu kämpfen und zu ringen, ihn wahrhaftig zu lieben, und bittet ihn, daß er euch seine Hand entgegenstrecke und euch zu sich ziehe, denn sonst gibt es kein Glück und keinen Frieden für uns.

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desJahres 1904

Nachmittagspredigt Sonntag, 19.Juni 1904, St. Nicolai

Act. 17,27 f.: Daß sie den Herrn suchen sollten, ob sie doch ihn fühlen und finden möchten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir Ich predigte heute morgen über das Evangelium des Mutmachens, jenes herrliche letzte Kapitel des Evangeliums des St. Johannes, wo der Herr dem Petrus erscheint, der ihn doch verleugnet hatte, und ihn fragt: «Hast du mich lieb?» Und als er antwortet «Herr, du weißt, daß ich dich liebhabe», nimmt er ihn wieder in Gnaden auf und bestellt ihn zum Hirten seiner Herde. Es ist ein herrlich Ding um dasMutmachen, schon in irdischen Dingen. Du hast etwas Schweres vor, und es wächst noch immer vor deinen Augen, daß du zuletzt meinst, nicht fertig werden zu können; da kommt einer und macht dir Mut – und es geht wie von allein. Oder es zieht sich etwas in die Länge, so daß du kein Ende absiehst, und wenn es fertig scheint, ist es wieder von vorn anzufangen – da brauchst du auch jemand, der dir Mut macht. Nun, ist es nicht mit der Hauptsache im Leben, mit Gott, auch so, daß wir immer wieder von vorn mit ihm anfangen müssen? Die Menschengeschlechter hat er auf Erden wohnen lassen, daß sie den Herrn suchen sollten, ob sie ihn doch suchen und finden möchten. So sagt derApostel. Aber wer ist je fertig damit, ihn zu suchen und noch einmal zu suchen? Undwer ist nicht über diesem Suchen nach seiner lebendigen Nähe schon mutlos geworden? Ja, ihr seht so viele, viele Menschen, die ihn gar nicht mehr suchen, weil sie meinen, er ist überhaupt nicht zu finden. So viele finden ihn nicht, weil sie ihn in der Ferne suchen und mit leeren Händen zurückkehren; oder sie suchen ihn nur mit dem Verstande zu begreifen in dem, was sich unter dem Himmel ereignet – und sie finden ihn nicht. Und wenn sie ihn finden, so ist es ein kalter Gott, mit dem sie nichts anfangen können. Ja, man wird mutlos, Gott zu suchen, wenn man das eine nicht bedenkt: «Er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns.» Nicht fern, sondern nahe mußt du ihn suchen. Siehe, alles, was draußen vorgeht, blauer Himmel, Regen, Sturm, Sonnenschein, so groß und verschieden es alles ist, zuletzt hängt es damit zusammen, daß in einer Glasröhre das Quecksilber hoch oder tief steht, je nach dem Druck der Luft. So ist es auch in deinem Leben. Was kommt, Freud oder Leid, Zufriedenheit oder Unzufriedenheit, das hängt damit zusammen, wie du mit deinem Gott stehst, ob du weit von ihm oder nahe bei ihm bist, ob du ihn fern oder nahe fühlst, ob dich die Schwüle des Lebens herniederdrückt oder ob dein Geist sich zu ihm

Daß sie denHerrn

suchen sollten

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erhebt. Die unglücklichsten Stunden unseres Lebens sind nicht die, wo wir etwas Schweres erleben, sondern die, wo wir uns ferne von Gott fühlen, und die glücklichsten nicht die, wo es uns am besten geht, sondern die, wo wir uns eins fühlen mit Gott, und der trostloseste Zustand, dasist dieVerdrossenheit. Und wenn diese Verdrossenheit über dich kommt, wenn du fühlst, wie Gott dir entschwindet, dann mußt du nicht fragen nach dem und jenem und nicht den Grund hierin und dort drin suchen, sondern wie man einen Brunnen, der kein Wasser mehr gibt, alsbald aufdeckt, um zu sehen, woran es liegt, so deck alsbald dein Herz auf. Ein Brunnen wird gespeist aus den unterirdischen Strömen und Seen, die sich hinziehen, wir wissen gar nicht wo und wie, hundertarmig unter dem Boden hin. Aus diesen steigt dasWasser in die Quellen, daß sie nie versiegen können. Aber wenn der Zufluß sich verstopft, da kann sie nicht mehr herauf, die geheimnisvolle Flut, und trotzdem ihre ganze Fülle da ist, trocknet die Quelle aus. So ist es, wenn das Menschenherz austrocknet: Es hat keinen Zufluß mehr von dem unendlichen göttlichen Wesen her, weil es sich verstopft hat. Und wenn du Gott ferne fühlst wie ein Wesen, mit dem du nicht sprechen kannst, da mußt du nachsehen in deinem Herzen. Vor allem schau, ob keine Verbitterung und keine Mißgunst drin wohnt, denn das widerstrebt demWesen Gottes am meisten. Siehe, wenn du einen Menschen haßt, dann kannst du Gott nicht in dir fühlen. Dann kehr aus mit den vielen irdischen und äußerlichen Gedanken, die emporgeschossen sind, und wie diese üppigen Wasserpflanzen, diejetzt überall die Bäche bedecken, dein Herz überwuchern. Die meisten Menschen wissen gar nicht, daß sie Gott nicht mehr finden können, weil ihr Herz ganz verwachsen ist, und kommen nicht auf das Einfachste, auf das Allereinfachste, den Schutt und das Geröll aus ihrem Herzen wegzuräumen wie von einem Brunnen, der lange nicht in Gebrauch war. «Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen» [Mt. 5,8]. Darum finden sie ihn manchmal erst, wenn sie in tiefe Sünde gefallen und sehen, wie es mit ihnen steht. «In ihm leben und weben und sind wir»: Bei diesen Worten siehst du eine Flamme, die in geheimnisvollem Glühen aufsteigt und sich bewegt. Sieh, der göttliche Geist ist wie ein wunderbarer Stoff, der in den Menschenwesen verborgen ist, der sich nun mit unserm Geist entzündet und eine wunderbare Flamme gibt. Eine Flamme desWesens Gottes zu sein, das ist unser aller Bestimmung. Aber die irdischen Gedanken brennen mit, und zuletzt gibt es eine schlechte, unreine Flamme, die ganz in Qualm aufgeht. Schon im Irdischen kann der Mensch nicht in der Qualmluft atmen, sondern er muß darin ersticken, wieviel mehr noch im Geistigen. «Wenn aber das Licht, das in euch ist, Finsternis ist!», hat unser Herr gesagt [Mt. 6,23].

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Predigten

desJahres 1904

Die Flamme des göttlichen Wesens in dir kann nicht erlöschen; sie ist wie eine Flamme aus einem brennbaren Stoff: Der Wind fährt darüber her, sie biegt sich hin und her, aber erlöschen tut sie nicht. Aber wenn du fühlst, daß es dunkel und kalt in dir wird, dann schaff die unreinen und irdischen Gedanken fort, die in der Gottesflamme deines Herzens brennen – und in dem Augenblick, wo du kämpfst, da wirst du die Flamme wieder reiner aufleuchten sehn, und wenn du nur einen Tag, eine Stunde aufrichtig kämpfst, dann erscheint dir Gott wieder, und dufühlst seine Nähe. Es ist etwas so unendlich Tiefes und doch wieder so Einfaches, das in demWort desApostels liegt. «In ihm leben und weben und sind wir», wir sind seines Geschlechts – einWort für die Denker und Philosophen, die ihm zuhörten, und doch wieder ein Trostwort an die einfachsten Menschen, denen er sagt: Sucht nicht in der Höhe und nicht in der Tiefe, sucht nicht in der Weisheit, sucht in eurem Herzen unverzagt, grabt und grabt darin, dann werdet ihr in eurem eigenen Herzen Gott finden. Ist das nicht ein wahres Evangelium des Mutmachens? So wollen wir Mut fassen und Gott suchen, ob er sich finden läßt.

Nachmittagspredigt Sonntag, 26. Juni 1904, [St. Nicolai]¦33¿

Joh. 3,30: Er muß zunehmen, ich aber muß abnehmen¦34¿ Zweimal im Jahr müssen wir an Johannes den Täufer denken: im Advent, wo er die Größe des Heilands ahnend verkündet, und in der Zeit des längsten Tages, wo sein Wort «Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen» ihm seinen Platz für den Namenstag angewiesen hat. Er hat etwas Wehmütiges, derlängste Tag: Noch scheint alles herrlich, noch merkt man es nicht, daß dieTage abnehmen, aber wir wissen, daß der Lauf der Sonne kürzer wird, und wir, ehe wir uns dessen versehen, plötzlich merken werden, daß es wirklich abwärts geht. So ahnt von uns auch keiner, ob er den längsten Tag seines Lebens nicht schon hinter sich hat. Wir leben gesund und froh dahin, einen Tag wie den andern, und wer weiß von sich, ob er noch einmal das Zunehmen der Tage erleben wird oder ob nicht in den nächsten Wochen schon des Herrn Wort an ihm sich erfüllen wird «Du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern» [Lk. 12,20].

33 [Der Predigtplan im Kirchenboten gibt Schweitzer als Prediger an.] 34 [R] Wassehen wir an diesem Manne? Esquisse pour Günsbach 7.Juli 1912. [Anschließend folgt stichwortartig ein Predigtaufbau für Günsbach.]

Er muß zunehmen

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Darum malt uns der Herr jedes Jahr diesen Untergang der Herrlichkeit der Natur vor Augen, von dem wir wissen, daß er notwendig kommt, wenn auch alles noch in Kraft und Frische dasteht, damit wir mitten im gesunden Leben uns mahnen lassen, daß auch unser längster Tag schon vorüber sein kann. Noch etwas anderes: Die Kraft des irdischen Wachstums, wenn ein gewisser Punkt gekommen ist, steht ab und kann nichts weiteres mehr hervorbringen. So ist es auch mit der Kraft unseres geistigen Wachstums. Von uns selbst, und wenn wir auch gute, ehrbare Menschen sind, kommen wir nicht hoch hinauf, wir können uns nicht wahrhaft über dasIrdische undVergängliche erheben, sondern wir brauchen, um zuleben, jemand, der größer ist als wir selbst. Johannes der Täufer war der Größte von denen, die von Weibern geboren sind [Mt. 11,11], aber dennoch erkannte er, daß er einen Größeren brauchte als er, und das war

seine wahre Größe.¦35¿ Ist das euer lebendiger Gedanke, daß ihr den Größeren, Jesus, unsern Herrn, zum Leben braucht? Siehe, es gibt viele, die hören seinen Namen gern und halten sich zu seinem Evangelium, aber sie wissen noch nicht so recht lebendig, daß sie ihn brauchen. Sie wissen noch nicht, was es

bedeutet:

«Fahr hin! Ein andre Sonne,

meinJesus, meine Wonne, gar hell in meinem Herzen scheint»,¦36¿ und nicht, was es heißt: «Ich lebe, doch nicht ich lebe, sondern Christus lebt in mir» [Gal. 2,20]. Ich meine, dasist die innerste Geschichte unseres Lebens, daß wir zuerst hingehen, zuversichtlich auf unsere Kraft und auf unsern Willen, und Jesus steht ganz in der Ferne unseres Lebensweges. Und je weiter wir vorankommen, desto näher rückt seine Gestalt, desto größer richtet er sich vor uns auf, und desto kleiner werden wir.Wir können esja nicht ausdrücken, wie wir das erleben, und kein anderer kann es einem andern nachempfinden; aber wenn du auf diesem Wege bist, dann bist du auf dem rechten Wege. Und wie das Größte zuletzt immer etwas ganz Einfaches ist, so auch hier. Er muß wachsen, das will heißen, daß er dir bis in die kleinsten Dinge deines Lebens mithineinspricht. So vielen Menschen ist er nicht, was er ihnen sein könnte, weil sie ihn fernhalten von den gewöhnlichen und kleinen Dingen ihres Lebens. Sie wollen ihn wohl empfangen, aber sie führen ihn in die Fremdenstube und unterhalten ihn dort, aber lassen ihn nicht mit im Haus herumgehen.

35 [R] Er wargroß undhielt sich nicht für den Größten. 36 [Paul Gerhardt: Nun ruhen alleWälder, Str. 2, 2. Teil.]

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Predigten

desJahres 1904

Kennt ihr eine Frage, die euch verfolgt? Ich meine die Frage: Was würde Jesus dazu sagen? O sie soll recht aufdringlich sein, diese Frage, dann istJesus wirklich bei dir.Wenn du unmutig bist und ungeduldig – hörst du sie, die Frage: Was würde er dazu sagen? Und wenn du lieblos bist und hartherzig, hörst du sie wieder? Hörst du sie besonders da, wo die Menschen dich nicht beurteilen können oder wo sie vielleicht sagen, daß du ganz recht hast? Wenn du noch nicht beschämt bist worden durch diese Frage, dann ragt Jesus noch nicht groß in dein Leben herein, und wenn du nicht manchmal schon erfreut bist worden durch sie, indem er dir recht gab, wo die Menschen dir unrecht gaben, dann kennst du noch nicht die wahre Zuversicht desLebens. Gewiß, ihr kennt sie, diese Frage, ihr seid durch sie schon gedemütigt und erhoben worden, wir alle kennen sie nicht genug. Er muß zunehmen, und unser eigenwillig Ich, das muß abnehmen. Aber dieses «Muß», das geschieht nicht von allein, sondern es erfordert Kampf und Demütigung. Da fängt erst das Leben mit Christus an, wo du dich vor ihm gedemütigt hast. Was würde Jesus wollen? Spielt diese Frage in deinem Leben eine Rolle? Er will etwas anderes, als wir wollen, wir wissen es wohl, und darum hüten wir uns, uns vor ihm zu fragen. Wir fragen die Menschen und beruhigen uns selbst, wenn sie mit uns übereinstimmen. Aber darum ist auch so wenig Halt und so wenig Kraft in unserm Tun; er muß wachsen: Wir müssen unsern Willen in seinen Willen hingeben, daß er geheiligt und gestärkt werde durch ihn. Was würde Jesus können? Was sind wir doch für feige und schwache Menschen, und wie lassen wir uns dahintreiben wie in einem Strom, ohne einen Arm zu rühren, um dorthin zu kommen, wohin wir kommen möchten. Wir wissen, was wir bei ihm an Kraft und Mut holen könnten, aber wir tun es nicht. Es ist, als ob wir Angst hätten, daß er zuviel wird in unserm Leben, und wir nicht mehr genug uns selbst angehören dürfen und unsere eigenen Wege gehen. Und doch wissen wir, daß, sooft wir uns ihm ergeben, etwas getan haben im Aufblick zu ihm, daß wir dann ganz andere Menschen waren, so stark und so zuversichtlich, daß wir uns selbst nicht mehr erkannten. Er muß wachsen, jetzt, wo wir noch gesund und rüstig sind, damit er da ist in uns groß und mächtig, wenn wir unsern längsten Tag hinter uns haben, und das Dunkel des Leidens die Lebensfreude und die Lebenskraft überschattet. Wir wollen es als Bitte aussprechen: Komm, wachse du in uns und erfüll uns ganz, werde du unsere Kraft, unsere Stärke, mach uns willig, dir uns anheim zu geben und dich herrschen zu lassen über unser Leben.

Petri Fischzug undBerufung

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Morgenpredigt Sonntag, 3. Juli 1904, St. Nicolai

Lk. 5,1– 11: Petri Fischzug und Berufung|37¡ In seinem 1. Brief an die Korinther [I Kor. 9,9] legt St. Paulus den Spruch aus: «Du sollst dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden» [Dtn. 25,4], und sagt, wenn die Schrift von Tieren redet, so meine sie doch immer die Menschen. Sorgt Gott für die Ochsen? Oder sagt er’s nicht alles um unseretwillen, denn es ist ja um unseretwillen geschrieben?

Da nun St. Paulus, der doch der beste Schriftausleger ist, solches tut und nicht von den Tieren, sondern von den Menschen redet, so werdet ihr es nicht unbillig finden, wenn ich nicht von den Fischen in meinem Texte rede und nicht von demWunder, wie sie sich so viele im Netz gefangen, sondern von den Menschen und davon, daß wir sollen Menschenfischer sein. Dabei überlasse ich es jedem, ob er in dieser Erzählung ein großes Naturwunder finden will oder, wasmeine Meinung ist, ein schönes Gleichnis Jesu, dasman später als ein Erlebnis und Geschehnis erzählt hat. Nun beachte das erste: Als er aufgehört hat, zu reden, spricht er: «Werfet eure Netze aus.» Es heißt zwar: «Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen» [Mt. 24,35], und seine Worte sind ewig da, aber die Menschen gehen daran vorüber und laufen im Bogen darum herum, wenn man sie nicht einfängt für das Evangelium. Darum, kaum hat er fertig gepredigt, bestellt er sich Menschenfischer. Und wenn heute sein Wort für die Welt seine Anziehungskraft verloren hat, so liegt es daran, daß nicht genug Menschenfischer da sind.

37 [Es begab sich aber, da sich dasVolk zu ihm drängte, zu hören dasWort Gottes, daß er stand am See Genezareth und sah zwei Schiffe am See stehen; die Fischer aber waren ausgetreten und wuschen ihre Netze. Da trat er in der Schiffe eines, welches Simons war, und bat ihn, daß er’s ein wenig vom Lande führte. Und er setzte sich und lehrte dasVolk ausdem Schiff. Und als er hatte aufgehört zu reden, sprach er zu Simon: Fahre auf die Höhe und werfet eure Netze aus, daß ihr einen Zug tut! Und Simon antwortete und sprach zu ihm: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf deinWort will ich dasNetz auswerfen. Und dasie dastaten, beschlossen sie eine große Menge Fische, und ihr Netz zerriß. Und sie winkten ihren Gesellen, die im andern Schiff waren, daß sie kämen und hülfen ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Schiffe voll, also daß sie sanken. Da dasSimon Petrus sah, fiel erJesu zu den Knieen und sprach: Herr, gehe von mir hinaus! ich bin ein sündiger Mensch. Denn es warihn ein Schrecken angekommen undalle, die mit ihm waren, über diesen Fischzug, den sie miteinander getan hatten; desgleichen auch Jakobus undJohannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gesellen. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht; denn von nun an wirst du Menschen fangen! Und sie führten die Schiffe zu Lande und verließen alles und folgten ihm nach.]

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Nun sagst du:Was? Es sollten nicht genug Pfarrer da sein? Sind nicht an jeder Kirche mehrere und einer in jedem kleinsten Dorf? Ja, sind denn die Pfarrer die Menschenfischer, die der Herr meint? Dann hätte er wohl einen gut frommen Schriftgelehrten, der am Ufer saß, zu seinem Dienste bestellt, aber nicht gewöhnliche Fischersleute. Mit den Menschenfischern meint er euch alle. Ich meine, es ist eine Schwäche unserer Zeit, daß alle Tätigkeit für dasEvangelium als die Sache eines bestimmten Standes angesehen wird. Gerade weil sie das Christentum amtlich vertreten, sind dem Pfarrer manchmal Grenzen gesetzt, daß er nicht der richtige Menschenfischer sein kann. Gewiß, wir wissen alle, daß sie ernst und gewissenhaft|38¡... bringt, aber gerade auf die gleichgültigen Menschen, die man doch am ersten einfangen müßte, hat oft dasWort des Pfarrers, wenn sie ihn bei Hochzeiten oder Begräbnissen einmal hören, keine Macht, weil sie sich sagen: Er tut eben, was seines Amtes ist. Dieses Amtliche, dashat schon jeder richtige Prediger als etwas Lähmendes empfunden, und ich meine, es legt auch Kräfte bei euch lahm. Ihr würdet viel mehr persönlich für das Evangelium tun, wenn nicht nach derjetzigen Ordnung der Dinge ein bestimmter Stand alles in Händen hätte. Gar viel guter Wille liegt unbenützt; manchmal, wenn man unbefriedigt mit sich selbst das Amen spricht, muß man daran denken, daß einer oder der andere von euch unten so viel Schönes zu sagen gehabt hätte, weil er gerade in dieser Zeit etwas Geistiges erlebt hat und es unausgesprochen mitgenommen hat. Es ist wirklich zu bedauern, daß Luther aus Angst vor Unordnung nicht unsern Gottesdienst freier gestaltete, wie es dasallgemeine Priestertum verlangte. Wenn wir einen hörten reden, der die ganze Woche hinter seinem Ladentisch gestanden, den wir dort gesehen, und der nun redet, weil sein Herz übervoll ist, was wäre das für eine Erbauung! Das ist ja das Große am Apostel Paulus, daß er nicht ein Berufsprediger war, sondern die Woche über an seinen Teppichen webte. Und meint ihr, seine schönsten Gedanken stehen in seinen Briefen? Seine schönsten sind nicht aufgezeichnet: Er sprach sie aus zu Aquila und Prisca am Teppichrahmen, während die Hände einen Augenblick ruhten. Aber warum warten, bis diese Zukunft, die einmal kommen muß, kommt? Könnt ihr nicht schon jetzt mehr für dasEvangelium tun? Wie soll ich sagen: Könnt ihr nicht mehr verausgaben von dem, was ihr in euch tragt? Es kommt mir vor, als glichen wir alle dem Knecht, der sein Pfund vergrub [Mt. 25,18], und dieses Pfund, das ist das Evangelium. Der christliche Mensch, der kommt nicht zur Geltung in der Art, wie wir mit den andern sind, wie wir mit ihnen reden und verkehren. Du bist Hausvater, Hausmutter, Kaufmann, Beamter oder sonst 38 [Das Manuskript ist hier unleserlich.]

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was, aber daß du ein Mensch bist, der von Christus ergriffen ist, daß du lebst und denkst in Gemeinschaft mit ihm, daß du ringst und kämpfst, so zu leben, wie du als sein Jünger leben mußt, daß du etwas tust um seinetwillen, was du sonst nicht tun würdest, das ahnen oft die Menschen, die dir am nächsten stehen, nicht. Du gibst dich den Menschen als der Herr Soundso oder als die Frau Soundso, aber nicht als der christliche Mensch, derdubist. Unter den Schlagworten unserer Zeit ist mir keines lieber als «Religion ist Privatsache». Das heißt für mich erstens: Die Religion hat nichts mit äußerer Macht oder äußeren Einrichtungen zu tun; zweitens aber – und deswegen liebe ich es: Religion ist Sache der Privatleute. Als Privatmann, als Mensch mußt du, wenn dirJesus etwas ist, für sein Evangelium wirken. Und wenn die Privatleute es nicht tun, die Pfarrer retten die Religion nicht. Mehr sichtbare Religion in deinem Leben. Du kennst das Wort des Herrn: «Lasset euer Licht leuchten vor den Menschen, daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen» [Mt. 5,16]. Das ist das Wort an unsere Zeit, die wir unser Christentum ängstlich, als schämten wir uns sein, unter den Scheffel stellen, so daß es nicht einmal denen leuchtet, die im Hause sind [Mt. 5,15]. Dafür haben wir keine Entschuldigung. Es ist mir nicht verliehen, meine Religion auf andere wirken zu lassen; ich bin nicht mitteilsam und müßte jedesmal eine Anstrengung machen. Wie heißt es aber im Evangelium? Der Meister spricht: «Fahre hinaus auf die Höhe und werfet euer Netz aus», und Simon, dem es gar nicht darum ist, antwortet: «Auf dein Wort hin will ich es tun.»Jesus befiehlt. Meinst du nicht, daß er schon oftmals einen christlichen Mann brauchte, und du standest am Platze und verbargst dein Christentum, und es entging ihm ein Fang, und ein Mensch, dem du von ihm aus hättest Gutes tun sollen geistig,

ging arm weg? Oder du rechnest als ein rechtes Kind unserer Zeit aus, was nun dabei herauskäme, wenn du dich mehr als Christ gäbest und ob dasirgendwie Erfolg bei deinen Bekannten hätte. Oder was ändert das an der Welt? Wer von uns hat das Recht, mutlos zu sein? Wir haben nichts getan, und wenn wir etwas taten, war es viel zu wenig. Wenn einer unter euch dasRecht hätte, mutlos zu sein, ich würde ihn beneiden. Und dann, wie heißt es im Evangelium? Wir haben die ganze Nacht gefischt und nichts gefangen – und nun soll er noch auf die Höhe fahren, wo kein Fischer je einen Zug tut; aber wo es den Menschen am aussichtslosesten scheint, daweiß der Herr, daß er nicht vergebens befiehlt. Wie dort viel Fischlein unter dem Spiegel des Sees verborgen waren und lustig ins Netz gingen, da der Herr kam, und ein Mensch das Netz auswarf, so sind auch unter den Menschen, die du täglich begegnest, viele, viele verborgen, die sich geistig arm fühlen und gefangen wären

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für ihn, wenn etwas christliches Wesen von dir ausginge. Aber so bist du wie ein Fischer, der sich auf dem Strom desLebens dahintreiben läßt und sein Netz im Kahn behält. Und warum tust du nicht dieses Allernatürlichste? Weil du es dir als etwas gar Schweres denkst, dich in dieser gleichgültigen Welt als Christen zu geben; es geht uns jungen Predigern auch so. Keiner von uns tritt ins Amt, ohne sich ängstlich zu fragen: Wie willst du dich denen draußen, für die du nur ein christlicher Redner bist, den sie bei Hochzeiten und Begräbnissen in Anspruch nehmen, als Diener des Evangeliums geben? Nun schau wieder in die Schrift. Da heißt es: Wirf dein Netz aus – eine einfache Bewegung. Aus dem Gleichnis ins Leben übersetzt: Gib dich, wie du bist. Wenn dir ein Wort aufsteigt, das der Christ in dir dir eingibt, schluck es nicht hinab, sondern wirf es aus. Sei unaufdringlich natürlich als Christ, aber sag immer alles, was du als Christ denkst und sagen mußt – dann ist es recht; dann ziehst du still ein Netz nach dir, und der Herr tut seinen Fang damit. An dir liegt esja nicht, sondern Jesus brachte die Fische ins Netz; undwenn sie nurJesus hinter dir fühlen, ist alles gewonnen. Ich will euch ein Beispiel geben: Wenn Leute, von denen wir wissen, daß ihnen das Christentum nichts ist, in schweres Leid kommen, und wir drücken ihnen unsere Anteilnahme aus, soll danur der Mensch oder der Christ mitreden? Ich habe lange geschwankt und früher manchmal solchen Bekannten geschrieben und geredet, daß nur der mitfühlende Mensch in mir sprach, und was ich als Christ dachte, für mich behalten, da sie es doch nicht verständen oder gar darin nur Phrase sähen. Jetzt aber denke ich anders, und ich meine, daß wir ihnen manchmal etwas vorenthalten, dessen sie bedurften und nach dem sie sich schweigend sehnten, wenn nicht der Christ auch mit dem Menschen redet und mit ihm trauert. Man darf mit dem lebendigen Wasser nicht an den Durstigen vorübergehen. Nun das Schönste am ganzen Evangelium: Da sie das Netz voll hatten, winkten sie ihren Gesellen. Ich habe es gegen unsere Zeit und gegen uns, daß wir uns viel zu viel untereinander bereden, ehe wir etwas tun. Wir wollen alles gleich ins Große machen und haben verlernt,

allein klein anzufangen. Wie so ein Wirt in einer Gegend, wo sich der Strom der Fremden hinwendet, statt langsam sein Haus zuerst durch einen Anbau zu vergrößern, nun gleich mit geliehenem Kapital ein Hotel ersten Ranges mit allem Komfort hinstellt und dann gewöhnlich verkracht, so sehe ich auch im Christentum viel verkrachte Unternehmen, und ich fürchte, in den nächsten zwanzig Jahren werden wir sie erst recht sehen. Dasist nicht die rechte Art. Petrus hatte wohl seine Gehilfen im andern Schiff, aber als der Befehl des Herrn kommt, fährt er allein und sein Bruder, der bei ihm war, und

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sagt nicht: Halt, wir wollen uns vorerst mit den andern vereinbaren, daß wir einen rechten Zug tun. Erst als er es allein nicht mehr tun kann, winkt er. Er winkt: Sie brauchen keinWort zu sprechen, um sich zu verstehen, sie brauchen auch nicht abzumachen, wie sie es teilen, sondern sie können nicht anders, als helfen. Das ist auch eine Auslegung von «Religion ist Privatsache». Sei selbständig unternehmend. Wenn du etwas siehst, das für Jesus zu tun ist, sag niemand ein Wort, geh deines Wegs und fang an, ob groß, ob klein. Wenn du dann etwas getan hast, und dasWerk wird dir zu groß, daß du Menschen brauchst, so hast du ein Recht an sie und eine Gewalt, daß sie dir beistehen, ob siewollen oder nicht. Es ist ein Jahr, daß wir den General Booth von der Heilsarmee hier hörten; es war ein Saal, zu zwei Drittel Gleichgültige und Neugierige. Aber es ging dann eine solche zwingende Macht von diesem Menschen aus, der so viel getan und sein Netz in allen Weltteilen ausgeworfen, daß, wenn er vom Podium herunter zu irgendeinem getreten wäre und gesagt: Komm, hilf mir, ich brauch dich gerade, er wäre ihm wehrlos wie ein gefesselter Mensch gefolgt, und wenn er ihn bis nach Sibirien geschickt hätte. Zuerst das Recht erwerben durch das, was man tut, die Hilfe der andern zu verlangen – daran denke in allem, was du tust. Das Letzte aus dem Evangelium brauche ich euch nicht auszulegen: «Da das Simon Petrus sah, fiel er Jesu zu den Knien und sprach: Herr, gehe von mir hinaus; ich bin ein sündiger Mensch.» Solange wir nichts tun, wo Jesus nahe bei uns ist, merken wir gar nicht, wie sündig wir sind. Aber wenn wir etwas für ihn tun, und er mit seiner Kraft hinter uns steht und es uns gelingen läßt, da plötzlich sehen wir erst, daß wir sündige Menschen sind. Wenn du je einem Menschen geistig wohlgetan hast, und er dir dankt, hast du da nicht wie ein Erschrecken eine Beschämung gehabt, daß solches durch dich gewirkt ist? Wer von euch hat andere in geistigen Dingen unterwiesen, wer nur einem Kinde einen Spruch des Herrn gelehrt oder ihm vom Herrn Jesus erzählt, daß er sich nicht bestürzt fragte: Ja, darfst du denn das? Darfst du, ein sündiger Mensch, das Heiligste vermitteln? Wenn du in irdischen Dingen Erfolg hast, dann sagst du: Das hab ich verdient durch meinen Fleiß; das ist die Frucht meiner Berechnung und Arbeit. Aber wenn etwas Geistiges, das du gewirkt, zu dir zurückkehrt, dann weißt du nur eines: Ich bin ein sündiger Mensch, Herr, ich verdiene nicht, daß ich etwas für dich tun durfte. Gott möge euch die Seligkeit dieses höchsten Sündenbewußtseins bescheren.

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Nachmittagspredigt, Sonntag, 10.Juli 1904, [St. Nicolai]|39¡

Sach. 4,6: Es soll durch meinen Geist geschehen|40¡

Ich predige euch selten über die Propheten, und manchmal mache ich mirVorwürfe deswegen, denn es stehen so viel wundervolle Sprüche in ihren Büchern. Aber es heißt in der Schrift: «Wenn aber kommen wird dasVollkommene, so wird das Stückwerk aufhören» [I Kor. 13,10]. Und weil wir dasVollkommene in den Sprüchen des Herrn haben, so reden wir so selten von dem Unvollkommenen, den Propheten. Aber kürzlich fiel mir dieser Spruch in die Augen, und alsbald dachte ich daran, mit euch davon zu reden. Von dem, welchem er galt, Serubabel, wissen wir nichts; nur daß er ein Nachkomme desKönigs David war und unter denen herrschte, die ausderVerbannung nachJerusalem zurückgekommen, um die Stadt und denTempel wieder aufzurichten und dasReich Davids neu zu gründen. Er wollte Gott ein heiliges, frommes Volk erziehen und hatte viel mit ihrer Halsstarrigkeit zu kämpfen wie weiland Moses. Da läßt ihm der Herr durch den Propheten zurufen: «Essoll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.» Ich bin kein Prophet und ihr keine Königskinder, aber dasWort, ich meine, es ist doch für uns, denn wir brauchen es so nötig. Denn unsere große Schwäche, dasist, daß wir meinen, mit unserer Kraft ist etwas getan. Ich weiß nicht, ob es euch geht wie mir, aber manchmal ist es mir, als müßte ich mitten in der Arbeit stehen bleiben, und da merke ich, daß ich ganz allein mit meiner Kraft es habe wollen tun und daß meine Person zu sehr vorn dran stand. Es ist dann, als ob etwas im Räderwerk sich sperrte. Und fühlt ihr dasselbe nicht? Ich meine manchmal, die Menschen, wenn sie etwas ausrichten wollen, verzehren sie sich; undje mehr sie fühlen, daß es nicht vorangeht, je mehr verzehren sie sich. Das mein’ ich besonders von dem Einwirken auf Menschen, das Schönste, was wir hienieden überhaupt ausrichten können. Wir wollen ja alle etwas ausrichten unter Menschen: Du willst deine Kinder erziehen, eine gute Gewalt über sie gewinnen; ihr, Mann und Frau, wollt einen guten Einfluß aufeinander ausüben, du willst die Achtung und die Freundschaft der Menschen, die über dich gesetzt sind, erringen; oder noch mehr: Du willst das böse Vorurteil, das man gegen dich hegt, widerlegen, dir eine Achtung, eine Zuneigung erzwingen, die man dir versagt: Was ist die Hauptsache? Nicht was du redest 39 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer am Nachmittag in St. Nicolai gepredigt.] 40 [Das ist dasWort des Herrn von Serubabel: Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.]

Es soll durch

meinen Geist geschehen

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und tust, alles, was du unternimmst, sondern ob die Leute etwas an dir verspüren, das sie überwältigt und zwingt. Siehe, wenn du in irgendeiner Art etwas Gutes tun willst, und es gelingt dir nicht, und du kannst es nicht zwingen, dann möchtest du als Mensch gern sagen: Es liegt hierin oder hierin, an den Umständen, an dem bösen Willen der Menschen, aber sei immer offen gegen dich selbst und sag: Es liegt an mir. Ich allein, ich Soundso, ich will es tun, und sie spüren nicht den Geist desHerrn. Ist das nicht ein zu großes Wort für unser tägliches Tun, überhaupt für das, waswir ausrichten? Muß ich mich nicht selbst scheuen, euch zu sagen, ich predige euch das Evangelium im Geist des Herrn? Ich will euch sagen, was dieser Geist des Herrn ist, den die andern in euch spüren müssen, daß ihr etwas ausrichten könnt. Er kommt nicht angeflogen, sondern man muß ihn sich erringen und erkämpfen. Zuerst der Geist der Selbstprüfung. Wißt ihr denn, was das für eine Macht ist, die Selbstprüfung? Sich vor sich selbst immer Rechenschaft geben, hast du denn das innerliche Recht zu dem, wasduwillst ausrichten? Siehe, dasist die stählerne Kraft eines Menschen, daß die andern ahnen, er braucht es nicht zu sagen, daß er mit sich selbst kämpft, damit er nicht, wie der Apostel Paulus es einmal sagt, andern predigt und selbst verwerflich werde. Diese ernste Arbeit an dir selber, dasist’s, wasdich für Gottes Geist empfänglich macht, daß du einen Kampf führst mit den Gedanken deines Herzens und durch diesen Kampf demütig gemacht wirst. Siehe, der braucht kein Wort zu sagen, aber aus diesem inneren Ringen heraus, da wirkt der Geist Gottes auf die anderen geheim und still. Warum sind so viele Eltern trotz allen Redens und Scheltens so schwach und so einflußlos auf die Kinder? Weil diese nichts von diesem Ringen und Kämpfen an ihnen verspüren, und keine höhere Kraft hinter denWorten und dem Schelten steht. Und das Zweite des Geistes Gottes ist Geduld und Hoffnung. Geduld. Wo ein Mensch aussich selbst allein etwas tut, daist weder Geduld noch Hoffnung, sondern Ungeduld, und wenn es nicht geht, überdrüssige Mutlosigkeit. Und die wahre Geduld kommt auch nicht von selbst, sondern du mußt dich dazu zwingen, zur Geduld mit den Menschen. Siehe, hat nicht Gott Geduld mit uns allen, und schickt uns Gutes und Böses, Regen und Sonnenschein und wartet, daß wir Frucht bringen. Und siehe, zu dieser hoffnungsvollen Gottesgeduld mußt du dich selbst erziehen und zwingen, zu dieser Geduld, die vieles übersieht in Freundlichkeit und Langmut, und die immer wieder von neuem hofft, und jeden Morgen wieder und jeden Abend wieder, und wenn diese Geduld von dir ausgeht, dann wirkt auch ein Stück Gottesgeist ausdir. Und noch eins: Der Gottesgeist besteht in der Liebe. Wenn du etwas an Menschen arbeiten willst, müssen sie spüren, daß Liebe in dir ist,

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nicht nur etwas von dieser guten natürlichen Menschenliebe, sondern sie müssen spüren, daß du sie, ich will es mit dem schönsten Worte sagen, in Christus liebst, daß du an ihnen arbeitest, daß du etwas ausrichten willst umjenes Höheren willen, der uns alle überragt und von dem allein wir Kraft haben. – Die Liebe Christi drängt mich, ausgesprochen und unausgesprochen, mich selbst zu erziehen zu einem Gefäß des Geistes Gottes im großen oder im kleinen.

Nachmittagspredigt Sonntag, 24. Juli 1904, [St. Nicolai]|41¡

Mk. 4,26–29: Die selbstwachsende

Saat|42¡

Jetzt ist Erntezeit draußen; aber wir sehen nichts davon zwischen den hohen Häusern unserer Stadt. Nun, es sehen’s viele und schneiden tagelang Korn von Morgen bis Abend, und die Hauptsache sehen sie doch nicht: daß es ein Wunder ist, daß sie nun ernten dürfen, und meinen, es versteht sich von selbst. Wir aber wollen, wenn auch nicht mit dem leiblichen Auge, der Ernte zusehen, so doch mit dem geistigen, wie Jesus seine Jünger hat sehen lernen, da er ihnen am Meilenstein das Gleichnis erzählte. Ich weiß nicht, ob ich euch in den Jahren, da ich euch nun kenne, schon über dies Gleichnis gepredigt hab. Es könnte wohl sein, denn ich liebe es vor allen andern, weil es so ein rechtes Arbeits- und Trostgleichnis ist. Ein Wunder liegt in demWort ernten, denn ernten heißt doch, vielfältig wieder bekommen, was man dahin gegeben, mehr als seine Arbeit, mehr als sein Vermögen. Und wodurch? Durch den Segen Gottes. Der Mann hat den Samen in die Erde gestreut, und nachdem er dies Äußerlichste verrichtet, tut er nichts mehr dazu, sondern wacht und schläft, liegt und steht auf, und alles andere wirkt die Kraft Gottes, die in der Erde schlummert. Ist es nicht so schon in allen irdischen Dingen, in unseren Geschäften und im Beruf, daß wir viel bekommen im Vergleich zu dem, was wir tun? Nur daß es die meisten Leute nicht sehen. Um es zu sehen, muß man zuerst an den Spruch denken: «So wir aber Nahrung und Kleidung haben, so lasset uns genügen» aus dem Brief an Timotheus [I Tim. 6,8] und dann noch, daß das, was wir erwerben, wenn es auch noch so be41 [Nach dem Kirchenboten predigte Schweitzer am Nachmittag in St. Nicolai.] 42 [Und er sprach: Das Reich Gottes hat sich also, als wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und steht auf Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst, daß er’s nicht weiß. Denn die Erde bringt von selbst zum ersten dasGras, darnach die Ähren, darnach den vollen Weizen in den Ähren. Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er bald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.]

Die 5selbstwachsende 8 5 Saat

scheiden ist, dennoch nicht nur erarbeitet, sondern auch Gottes Gabe ist. Und wer so denkt, der ist mit seinen bescheidenen Gaben reicher als der, welcher gedankenlos einholt, was sein ist. Siehe, das ist das wahre Glück, in allem, was uns gelingt, nicht unsere Macht und Kraft, sondern Gottes Segen zu finden. Aber im Geistigen noch viel mehr, denn da ist es so klar, daß das, was wir tun können, so äußerlich und so wenig ist. Du erziehst ein Kind. Ja, waskannst du denn machen? Du kannst es ermahnen und lehren, den guten Samen in sein Herz senken, betend in deinem Herzen seinen Weg begleiten, aber das ist alles. Denn ob dieser Same aufgeht, dazu kannst du nichts tun, sondern mußt zusehen und warten und nochmals zusehen und warten wie der Mann im Gleichnis. Denn das geistige Land, worauf deine Worte fallen, das bringt wie das irdische Ackerland die Frucht hervor von selbst durch die Kraft Gottes. So müssen wir in allem, was wir Geistiges wirken, mit gebundenen Händen zusehen, ob Gott es Frucht tragen läßt, ihr an euren Kindern, wir an unsern Konfirmanden, der Lehrer an seinen Schülern, und wer sonst noch an Menschen und für Menschen arbeitet. Und das ist schwer, geduldig warten. Wie vielmal, meint ihr, war es dem Mann im Gleichnis bang um seine Ernte, da die Kälte kam und dann die Nässe und dann die Dürre, und dann wieder ein Hagelgewitter am Himmel stand. Aber doch ging er froh und still herum, denn er vertraute auf Gott. Er wußte, daß die Vögel davon pickten, daß unter der Sonne männigliches, das auf dem Steinboden lag, verdorrte, und unter den Dornen vieles erstickte, aber er wußte auch, daß das Ende dennoch viel, viel mehr sein würde, als was er ausgesät, auch nur bei einer Mittel-

ernte.

Wer von euch vermag das Gleichnis Lügen zu strafen? Alle habt ihr Enttäuschungen gehabt, und Undank habt ihr alle geerntet, aber sag, was dir von dem Guten wiederkam, was du getan hast, was du versucht hast, zu tun, war es nicht 60– und 100 fältig und noch mehr im Vergleich zu dem, was du wirklich getan hast? Warum diese Verdrossenheit, diese Weltübersättigung so vieler Menschen? Sie sagen, sie sehen keinen Erfolg, und sind wie der Landmann, der nach der Ernte lamentieren wollte, er hätte seine Körner verloren in der Erde, der sich fragte, was er denn mit dem grünen Gras auf seinem Acker machen soll, und nicht gläubig wartet, bis die Ähre sich golden senkt. Siehe, so wird es uns auch schwer, die Ernte zu erwarten. Dann kommt die Enttäuschung und die Undankbarkeit der Menschen, ihre Gleichgültigkeit, wenn wir meinen, sie stehen zu uns, und wir müssen sehen, wieviel von dem, was wir glaubten, gewirkt zu haben, verloren ist, wir sehen, daß, was wir geschafft, in Gefahr ist – und doch, wenn wir Wochen und Monate lang uns dahinschleppen mußten, da kommt ein Tag, der alles hundertfach wiederbringt, ein Mensch, der uns sagt,

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daß wir ihm wohlgetan, etwas Gutes, das entsteht, wo wir den Grund gelegt haben, und ist hundertmal mehr, als wir getan haben und hoffen durften, und entschädigt für alles, wasvergebens und auf Undank gesät war. Und soll ich euch einen geheimen Gedanken sagen? Ich meine, daß Gott uns nicht alles sehen läßt, was wir gewirkt haben mit unsern schwachen Kräften, damit wir nicht eingebildet werden und meinen, wir haben es getan, sondern die Ernte, die wir hienieden aussäen, reift erst in denen, denen wir unser Bestes gegeben, wenn wir nicht mehr hienieden sind. Wir sind alle Sämann und Samenkorn zugleich, denn erst wenn die Erde unser vergängliches Wesen zerstört hat, reift unsere Ernte. Darum heißt es in der Schrift: «Denn ihre Werke folgen ihnen

nach» [Apk. 14,13]. So seid denn fröhlich und getrost wie die, die sich freuen in der Ernte, wenn ihr auch kein Äckerlein habt, in das ihr könntet die Sichel schicken, und freut euch über die geistige Ernte. Und laßt euch diese Heiterkeit nicht nehmen, weder durch Enttäuschungen noch durch Undank, und auch nicht durch die bösen Gedanken der Menschen.|43¡

Morgenpredigt Sonntag, 14. August 1904, St. Nicolai

Lk. 18,9–14: Pharisäer und Zöllner|44¡ Ich soll vom Pharisäer und vom Zöllner predigen und meine doch, es gibt keine Pharisäer mehr unter euch. Gewiß, pharisäischer Geist, das heißt Geist der Selbstgerechtigkeit und der Selbstüberhebung wohnt ja in uns von Jugend an, und wir müssen alle dagegen ankämpfen. Aber nicht wahr, wir kämpfen, und darum sind wir keine Pharisäer. Wir sind es schon deswegen nicht, weil wir nicht mehr diese naive Zuversicht haben, daß wir durch uns selbst gut werden können. Christus hat dieses Ideal der selbsteigenen Gerechtigkeit so fern von uns gerückt, daß wir 43 [Das Manuskript bricht hier ab.] 44 [Er sagte aber zu etlichen, die sich selbst vermaßen, daß sie fromm wären, undverachteten die andern, ein solch Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in denTempel, zu beten, einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe. Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.]

Pharisäer

undZöllner

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gar nicht mehr wagen, die Hand danach auszustrecken; er hat den Pharisäer in uns durch seine Worte erschlagen. Pharisäer und Zöllner, wie sie Jesus gekannt hat, sind tot, und ich fürchte, wenn ich nun über jenen Pharisäer undjenen Zöllner predigen würde, könntet ihr vielleicht stolz werden, indem ihr nur merktet, daß ihr keine Pharisäer seid, und noch bei euch selbst dächtet, daß ihr doch auch keine Zöllner seid. Nun kennt ihr das Sprichwort: «Von denToten soll man nur Gutes sagen.» Und dajener Pharisäer und Zöllner tot sind, wollen wir nur dasGute an ihnen bedenken undvon ihnen lernen. Von beiden, werdet ihr sagen, auch vom Pharisäer, den Jesus verdammt? Die ihr mich nun schon mehrere Jahre predigen hört, ist es euch noch nicht aufgefallen, daß ich noch niemals etwas gegen die Pharisäer gesagt habe? Sooft ich es tun wollte, mußte ich mich fragen, ob wir denn von uns ausdasRecht dazu haben, diese Menschen zu richten. Mehr noch: Ich möchte manchmal, es gäbe wieder richtige Pharisäer unter uns und daß der Eifer für den Herrn wieder so lebendig würde zu unserer Zeit wie damals. Was war doch für eine Freudigkeit zu Gottes Sache unter ihnen! Welch ein Eifer für das Haus Gottes! Und wie ließen sie es sich schwer werden, im Leben dem Herrn zu dienen. Gewiß, dieser Eifer, den ihnen auch der Apostel Paulus zugesteht, war auf falsche Bahn gekommen, aber es war Eifer, nicht das Nichts der Gleichgültigkeit wie zu unserer Zeit. Es war ein Feld, üppig bestanden von Wildlingen; da riß man die Wildlinge heraus und pflanzte Edelreben. Aber die Edelreben standen ab; dürres Laub daran und wenig Frucht. Glaubt ihr nun, daß die Edelrebe dasRecht hat, sich über denWildling zu erheben? Meint ihr nicht, daß es schrecklich ist, daß die Leute, welche unser HerrJesus gescholten und verdammt hat, daß diese uns, die wir seine Jünger sein wollen, noch beschämen?

Nimm nur etwas heraus von dem, was unser Pharisäer sagt: «Und gebe den Zehnten von allem, was ich habe.» Wir wollen nicht davon reden, ob viele Menschen heutzutage den Zehnten ihrer Habe geben, um wohlzutun, und nicht nur ihrer Habe, sondern ihrer Zeit und ihrer Person, sondern ob wir den Zehnten unseres Verdienstes und unseres Gutes für Gott verwenden. Meint ihr nicht, wir haben noch alle ein gar weites Stück Weg zu gehen, bis wir dies in aller Demut von uns selbst sagen dürfen?

Und dann merk noch: In diesem Gebet des Pharisäers, in dem wir so gerne nur Selbstüberhebung finden, ist da nicht noch etwas darin, wo er uns auch beschämt? Wie sagt er denn? «Ich danke dir, Gott!» Er weiß zuletzt doch, daß, wenn er ein ehrbarer, frommer Pharisäer ist, nicht wie der Zöllner, den er in der Ferne stehen sieht, er dies ist durch Gottes Güte, weil der Herr ihn einen andern Weg geführt hat alsjenen und ihm Eltern gegeben hat, die ihn in Frömmigkeit und Ehrbarkeit

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erzogen. Denkt ihr denn genug daran, Gott im richtigen Sinn zu danken, wie ihm der Pharisäer gedankt? Ist es euch noch nicht vorgekommen, daß ihr von dem Schicksal eines tief gesunkenen Menschen hörtet und euch nun plötzlich in ihm selbst erkennt, in euch diese besonderen Anlagen, diese besonderen Fehler entdeckt, diejenen in den Abgrund geführt, und erschreckt euch gestehen müßt, daß, wenn Gott es nicht gnädig mit euch gemeint und euch einen andern Weg geführt, ihr auch dort zuletzt angekommen wäret, wo dieser jetzt ist? Standet ihr nie im Geiste vor den Schranken des Gerichts und wurdet mit einem Menschen verurteilt – und habt ihr dann Gott gedankt für euer bißchen Ehrbarkeit, womit ihr euch vor der Welt zudecken könnt und euch selbst im graden Weg erhalten? Weil er Gott dankt, wenn auch in falscher Selbstüberhebung, gehört dieser Pharisäer zu denen, die «nicht fern vom Reich Gottes» [Mk. 12,34] sind, und dennoch nicht hineinkommen. Er ist nah und doch fern, weil er dennoch nicht wahrhaft beten kann. Der Zöllner aber ist fern und doch näher, weil er richtig beten kann. Denn siehe, das ganze Reich Gottes, dasin uns ist, steht im Gebet. Und wie viele gibt es unter uns, die sind nahe und doch fern und stehen vor demTore des Reiches Gottes und finden die Pforte nicht, weil sie nicht beten können. Was ist denn das Besondere an diesem Gebet, daß Jesus von ihm sagt, er sei gerechtfertigt hinuntergegangen, den Himmel im Herzen? Das Besondere liegt zunächst in dem, worum er nicht betet. Als er die Stufen desTempels heraufschritt, dadachte er an seine Armut, an seinen schweren, verachteten Beruf; er hatte vielleicht zu Hause Frau und Kinder, die er nicht wußte, wie durchbringen, und die Schmach und Schande seines Berufes lastete schwer auf ihm. Das alles hatte er im Gebet vor Gott bringen wollen. Als er aber vor dem Herrn stand, dachte er an nichts Irdisches mehr, sondern nur an seine Seele. Darum ging er gekräftigt und neugeboren ausdiesem Gebet hervor. Warum ist denn unser Gebet nicht das rechte? Warum finden wir nicht darin den Trost und die Erquickung, die wir so notwendig brauchten zum Leben? Weil, meine ich, zuviel Irdisches an unserm Gebet klebt und es beschwert. Unser Herr hat gesagt: «Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen» [Mt. 6,33]. Das gilt vor allem im Gebet. Gewiß, wir wissen es alle, was für eine Beruhigung und welcher Trost es ist, alle irdischen Sorgen auch vor Gott bringen zu dürfen, aber höher ist dasGebet, wo wir unser inneres Leben vor Gott bringen – höher und kräftiger, denn es wird immer erhört. Wie sind doch die Menschen so oberflächlich, wenn sie von Gebetserhörung sprechen. Da meint man, ob dasGebet etwas sei oder nicht, das hänge davon ab, daß nun auf eine irdische Menschenbitte Gott in irgendeiner Weise in denWeltlauf eingreife, damit der vielleicht törichte Wunsch eines Menschen erhört werde. Nun

Pharisäer und Zöllner

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sieh, das sind eitel kleine Menschengedanken; hier in diesem Gleichnis, da steht die wahre, nie versagende Gebetserhörung. Sie trifft sicher ein, wenn du für dasallein Wahrhaftige betest: für die Gnade Gottes. In allen Glaubensbekenntnissen und Katechismen fehlt mir etwas bei derLehre von der Sündenvergebung, wasmir sieeigentlich erst recht verständlich macht. Sie lehren nämlich, es gäbe Sündenvergebung für die Menschen, weil Christus für uns gelitten hat und für uns Sühne geleistet hat. Aber wo empfängt denn der Mensch diese Vergebung? Wo wird er froh und gewiß? Nur im Gebet. Siehe, alles andere ist Nebensache. Der Zöllner weiß noch gar nichts von der Sündenvergebung, die Christus erworben hat, er weiß nur, daß esGnade braucht, um ihn wieder aufzurichten und zu stärken, und darum betet er – und was er bittet, wird ihm gegeben. Siehe, so kommt es auch gar nicht darauf an, wie wir uns nun vorstellen, daß wir Sündenvergebung haben durch Christus ob seines Leidens willen – manchmal meine ich, wir werden es nie verstehen – sondern nur, daßwir alles andere im Gebet beiseite lassen undGott austiefster Seele um seine Gnade bitten. Wer von euch wahrhaftig weiß, wasSündenvergebung ist, wer weiß, wases heißt, von der schweren Last befreit zuwerden und wieder aufgerichtet weiterzugehen im Leben, der weiß, esist ihm alles gekommen ausdem Gebet, nur ausdem Gebet. Und zuletzt, was ist eigentlich dasWunderbarste an dem Gebet des Zöllners? Daß er überhaupt noch betet. Er ist verstoßen und verachtet und weiß, daß er nach dem Gesetz desAlten Testaments zu den Verworfenen undVerdammten gehört, die Pharisäer und Schriftgelehrten sprechen ihm das Recht ab, zu beten im Tempel, und er selbst weiß nicht, mit welchem Recht er betet, er weiß nur, er muß beten. Und darum betet er. Siehe, dasist dasFurchtbare in unserer Zeit, daß diejenigen, die so tief gefallen, daß nur Gott allein ihnen helfen kann und ihnen wieder Lebensfreudigkeit geben kann, daß diese nicht daran denken und es nicht mehr wagen, vor sein Angesicht zu kommen, daß er sie befreie. Darum sage ich es den Konfirmanden eindringlich in der letzten Stunde, wo ich sie versammelt habe: Vergeßt es nicht, ihr dürft immer beten. Ich weiß nicht, wohin euch euer Weg führt, ob aufwärts oder abwärts. Aber siehe, und wenn es mit einem von euch so weit kommen sollte, daß er keinem Menschen mehr ins Angesicht sehen darf, auch vor sich selbst gar keinen Respekt mehr haben darf, das eine vergesse er nicht: Vor Gott darf er immer treten. Ich weiß nicht, ob welche unter euch sind, die nur noch, mehr als einmal, das Zöllnerrecht hatten, zu Gott zu beten, aber ich meine manchmal, Gott müsse auch manche Menschen, die ihm anhangen und ihn lieben und die sich befleißigen wollen, als seine Kinder zu leben, tief erniedrigen und fallen lassen, damit sie ihn in der Verzweiflung erst recht finden, während er andere auf ebenem Pfade zu ihm gelangen läßt. Und sollten unter uns welche sein, denen er es bestimmt hat, daß sie

590 Predigten desJahres 1904

noch durch die tiefste Erniedrigung und Sünde hindurchmüssen und alles Selbstvertrauen verlieren, so bitten wir ihn von Herzen, daß er ihnen dann auch die Zuversicht desZöllners gibt, daß sie in der schwersten Gefangenschaft der Sünde dennoch, von innerster Zuversicht getrieben, die Hände zu ihm emporheben, und dann von ihm gerettet werden und es erfahren, was es heißt: «Laß dir an meiner Gnade genügen» [II Kor. 12,9].

Nachmittagspredigt Sonntag, 13. November 1904, St. Nicolai

[Joh. 15,5: Frucht bringen]|45¡

Drei Monate ist es her, daß ich nicht mehr mit euch zur Nachmittagsandacht versammelt war. Es ging mir aber wie dem Apostel: Wenn ich auch leiblich abwesend war, im Geiste fand ich mich doch mit euch zusammen [nach Kol. 2,5] in dieser Stunde und feierte mit euch Nachmittagsandacht. Manchen Gedanken, der mir kam, hielt ich fest, um ihn euch mitzuteilen, und in meinem Neuen Testament habe ich manches Wort angezeichnet, um es mit euch zu betrachten. DasWort, dasich soeben verlesen, fiel mir besonders auf, und deshalb habe ich es zur ersten Andacht gewählt. Ihr habt schon bemerkt, daß ich in meinen Predigten eins vor allem suche, den Menschen Mut und Freude zum Leben zu machen. Wenn wir aus der Nachmittagskirche heraustreten, möchte ich, daß ihr und ich zuversichtlich derWoche entgegenblicken, uns freuen der Arbeit, die sie bringt, und getrost sind in Hinsicht auf Schickungen, die sie für unsbereithält. Auch unser HerrJesus hat gewollt, daß seine Jünger freudig ins Leben hinausschauten, und darum hat er in den Abschiedsreden zu ihnen das Wort gesprochen, welches ich euch soeben verlesen habe: «Ihr werdet viele Frucht bringen.» Wir, seine Jünger, wir sind bestimmt, Frucht zu bringen für ihn. Etwas von der Güte und der Liebe und Erkenntnis, die er in dieWelt gebracht hat, die sollen in uns weiterwirken. Er sagt nicht nur, ihr sollt Frucht bringen, sondern mehr: «Der bringt viel Frucht.» Fragt mich nicht, wie ein jeder von euch für ihn Frucht bringt. Ich würde euch reden von den Kindern, die euch anvertraut sind, von Menschen, an denen ihr arbeitet, von Menschen, denen ihr geistig wohlgetan habt, ohne es zu wissen, von der geistigen Frucht, die eure Kämpfe und eure Anfechtung für euch abgeworfen haben undvielleicht für die andern. 45 [Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viele Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun.]

Frucht bringen

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Aber ich brauche euch das nicht alles auszuführen, denn ich glaube, ihr habt alle schon erfahren dürfen, daß ihr etwas Geistiges gewirkt habt im Leben, daß ihr einem Menschen geistig geholfen habt. Und wenn ihr es nur einmal in eurem Leben erfahren habt, so wißt ihr doch, es ist mehr Glück als alles Glück undaller Erfolg derWelt, undesflutet damit ein Sonnenlicht in euer Leben herein, das alles erleuchtet und erwärmt, und alles, was dunkel ist, hell macht, denn es ist eben geistig, und was geistig ist, ist ewig. Noch köstlicher und noch reicher als die sichtbare Frucht, die wir wirken, ist die unsichtbare, das, was wir nicht sehen und

doch gewirkt haben. Ihr erinnert euch, daß ich einmal zu euch sagte, daß Gott vor uns verbirgt, was wir geistig in der Welt ausrichten, damit wir demütig bleiben. Es ist kein Leben so bescheiden und verborgen, daß nicht eine geistige Frucht für die Welt daraus entspringe. Ist doch auch kein Gras zu klein, daß es nicht blühe und Frucht bringe, winzige Körnlein, aus denen doch wieder neues Leben hervorgeht. So erneuert sich die geistige Welt ausder unscheinbaren, geistigen Frucht vieler stiller und verborgener Menschenleben. Im Spruch des Herrn kommt aber noch ein Wort vor, das lautet: «Ohne mich könnt ihr nichts tun.» Das ist auch ein Trost- und Freudenwort, das das Leben erklärt und erhellt wie das erste, wenn man es ihm auch nicht gleich ansieht. Ich meine, wer diesWort versteht und beherzigt, der kann im Leben eigentlich nie ganz verzagt und mutlos werden, denn es enthält für ihn das «Darum» aller Dinge, daß er immer weiß, wo es fehlt. Es ist euch schon allen begegnet, nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal, daß ihr etwas Gutes ausrichten wolltet im Leben, ja, daß ihr etwas fürJesus tun wolltet, und kamt nicht vorwärts, wie wenn ihr von einer unterirdischen Strömung immer wieder abgetrieben würdet. Ihr erreichtet nichts. Vielleicht steht einer von euch gerade in einer Periode seines Lebens, über die er das Wort «umsonst» schreiben möchte. Unser natürlicher Verstand gibt den Menschen und den Umständen schuld und möchte sich ereifern und verzehren über den Widerstand. Aber siehe, es gibt eine höhere Weisheit als die, welche die Dinge ausihren natürlichen Ursachen erklärt, eine Weisheit, die zu dir spricht: Du vermagst nichts, du hast keine Kraft, weil du ohne ihn bist. Es dauert oft lange, bis wir es erkennen, daß wir ohne ihn sind. Wir meinen manchmal, er ist noch mit uns, und er hat uns schon verlassen. So sitzen wir auch manchmal im Zimmer, und die Abenddämmerung bricht herein, und wir merken’s nicht, bis wir keinen Buchstaben mehr unterscheiden können in dem Buch, das wir lesen. So merken wir es auch nicht, daß Christi Geduld, seine Freundlichkeit, seine Lieblichkeit, sein gütiges Wesen und seine Demut uns verlassen hat und unser eigenes Wesen mit seiner Selbstliebe und Herrschsucht uns unversehens immer

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Predigten

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mehr beherrscht, bis wir eben nichts mehr ausrichten können. Das sind oft lange und schwere Entmutigungen, bis wir erkennen, warum keine Kraft mehr von uns über die Menschen ausgeht; aber wenn wir es erkannt haben, dann hat auch schon die Traurigkeit aufgehört, und die Kraft unddie Freudigkeit kommt wieder. Der Geist Jesu ist das einzige, was die Welt überwindet, was stärker ist als aller Widerspruch, als alles Mißverstehen, als aller böseWillen der Menschen. Darum, wenn du nichts ausrichtest, liegt es nicht an Umständen und Zuständen, sondern daran, daß du aus Christus entwurzelt bist. In ihm gewurzelt sein, das ist das eine, was not tut; alles andere ist Nebensache. Die Menschen sagen es dir nicht, aber sie spüren es, wenn einer hinter dir steht, der größer und stärker ist als ein Mensch, und wenn deine Gedanken und deine Entschlüsse in ihm geläutert und gestählt sind. Wir haben nicht zu kämpfen gegen dieWelt, sondern nur gegen uns selbst. Darin liegt aller Trost und alle Kraft. Darum wollen wir lebensmutig und lebensfroh sein, wenn wir auch keine Frucht und keinen Erfolg sehen und die Enttäuschungen und Unbilden des Lebens über uns hinweggehen. Siehe, jetzt stehen die Bäume kahl, ohne sichtbare Hoffnung auf Frucht. Sie werden so Monate und Monate stehenbleiben, im Regen, im Schnee, im Sturm und in der Kälte, und doch, sie müssen wieder ausschlagen und Frucht bringen, weil sie im fruchtbaren Erdreich gewurzelt sind und von dort Kraft und Nahrung empfangen, wenn Gottes Zeit gekommen ist. So gibt es auch in unserm Leben Wochen und Monate, wo wir fruchtlos dastehen und keine Aussicht haben, etwas auszurichten. Aber wenn wir nur tiefer und tiefer wurzeln in Christus, in dieser Zeit neue Kräfte sammeln in ihm, laßt alles kommen und alles gehen, die Schrift wird sich doch erfüllen: «Bleibet in mir und ich in euch, so werdet ihr viele Frucht bringen.» Wie wollen wir sein? Wir wollen sein wie die herbstentlaubten Bäume im heutigen Sonntagssonnenschein.

Morgenpredigt Sonntag, 20. November 1904, St. Nicolai Ernte-, Herbstfest

Apk. 4,11: Herr, du bist würdig|46¡

Am letzten Sonntag in der Sonntagsschule redete ich den Kindern von dem Ernte-, Herbst- und Dankfest und fragte sie dann, wer denn von 46 [, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft; denn du hast alle Dinge geschaffen, und durch deinen Willen haben sie dasWesen und sind geschaffen.]

Frucht bringen

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ihnen etwas geerntet habe. Einer hatte helfen müssen einen Apfelbaum abmachen, dieser ein Rebstück herbsten, dasihm nicht gehört; die meisten aber hatten von Ernte und Herbst nichts gesehen, nur daß sie wußten, daß es ein gutes Jahr gewesen. Um ihnen begreiflich zu machen, daß wir doch Erntefest feiern sollten, erinnerte ich sie an dasWort des Herrn: «Freuet euch mit den Fröhlichen!» [Röm. 12,15]. Undjetzt auch möchte ich fast lieber in einer Dorfkirche stehen und predigen vor Leuten, die sich, ehe sie ins Gotteshaus kamen, überschlugen, wieviel sie geerntet, und die vielleicht diesen Nachmittag in die Reben gehen, um zu sehen, wie es mit dem Holz für das nächste Jahr aussieht, statt mit euch von Erntefreude zu reden, die ihr nichts direkt aus der Hand Gottes empfangen habt, wo doch die wenigsten von euch ein Grundstück oder nur einen Baum besitzen. Es wird uns heute schwerer inmitten der Häuser und Gassen, Gott nahe zu fühlen als denen draußen, zu denen das abgeerntete, im Herbstnebel ruhende Feld redet von ihm und seiner Güte, viel beredter und begeisterter, als Menschenmund es vermag. Dennoch bitte ich euch nicht nur, euch zu freuen mit den Fröhlichen, sondern auch euch zu freuen anstelle derer, die sich nicht freuen. Es gibt viele, die haben geerntet und in die Scheunen gesammelt und danken heute nicht; im Bann unserer Stadt stehen Felder, die stehen nicht nur vor den Menschen kahl, sondern auch kahl vor Gott, denn er hat darauf keinen Dank geerntet. Darum müssen wir Gott danken für diejenigen, die heut Erntefest feiern sollten und ihm nicht danken, damit dasDanklied, das ausunserm Gau zu ihm aufsteigt, vernehmlich werde. Wozu braucht Gott unsern Dank? Ihr meint, das ist eine fast gottlose Frage auf der Kanzel. Wer aber von euch hat sie sich noch nicht schon gestellt, und zwar schon als Kind? Ich möchte sie euch aber in dem frommen Sinn stellen und euch fragen, ob ihr es schon bedacht habt, wasfür eine Bedeutung unser Dank für Gott hat. Ich meine, wir danken nicht genug, weil wir nicht wissen, was für ein großes Ding es ist um dasDanken. Es ist wie ein Instinkt in der Menschheit, daß Gott unsern Dank brauche. Schon auf der tiefsten Stufe der Erkenntnis fühlen die Menschen das Bedürfnis, ihm etwas darzubringen, Früchte des Feldes oder Tiere. Sie wissen zwar, daß es ihm gehört, daß es durch ihn geschaffen ist und Bestand hat, und doch ahnen sie, daß diese Garben und diese Tiere, weil sie ihm durch Menschen dargebracht sind, für ihn viel mehr Wert haben als alles andere, wasdieWelt hervorbringt durch seine Kraft. Was dort im groben Gleichnis den Menschen vorschwebte, wir erkennen es klarer und deutlicher, soweit wir Menschen ein großes Geheimnis begreifen können. Gott braucht unsern Dank; er lebt davon; ohne unsern Menschendank ist er, der Ewige, Unendliche, Allmächtige, arm, denn sein Reichtum kehrt nicht zu ihm zurück.

594 Predigten desJahres 1904

Ist nicht ein irdischer Herrscher, so groß sein Reich und sein Volk sein mögen, arm ohne den Dank der Menschen, über die er gesetzt ist, arm, wenn er nur Herrscher ist? So ist auch Gott arm, wenn er nur Herrscher ist über alles, was ist, und wenn nicht der ganze Reichtum seines Wesens, den er in das, was er geschaffen hat, hineingelegt hat, als Menschendank zu ihm zurückkehrt. Darum hat er etwas geschaffen außer sich und blieb nicht in der Beschauung seines einzigen Seins. Warum hat er denn überhaupt etwas geschaffen außer ihm? Damit er in dem Leben, das er schuf, seinen eigenen Reichtum erlebte. Er, der Allmächtige, dessen Wille Tat ist, hat Wesen geschaffen, die ihren eigenen Willen haben, ob sie seinen Willen tun möchten, und wartet nun, daß sein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden [Mt. 6,10] – dann ist dasZiel derWelt erfüllt. So wartet er auch, daß seine Güte und Liebe, die er in die Schöpfung hineingelegt hat, wieder zu ihm emporgetragen werde. Wohl ist es Dank, wenn die Vögel singen und die Bäume in ihrer Blüte dastehen und wie einJauchzen undJubilieren über der Erde schwebt, wohl ist es Dank, wenn die schweren Ähren gegeneinander rauschen und die goldbehangenen Weinberge unter dem blauen Septemberhimmel dastehen, aber dieser Dank der Welt kommt nicht über die Sphäre des Kreatürlichen hinauf bis zu ihm, denn er ist Geist, und alles Kreatürliche muß als Geistiges zu ihm gelangen. Darum kehrt von der Kraft, dem Leben und der Güte, die er in die Welt hineingelegt hat, nur so viel zu ihm zurück, als geistiger Menschendank zu ihm hinaufgebracht wird, wie auch von demWillen, den er in die Schöpfung gelegt, nur so viel zu ihm zurückkehrt, als von den Menschen erfüllt wird. Das ist das Leben und der Reichtum Gottes: Daß sein Wesen aus der Welt durch den Menschengeist zu ihm zurückkehre, und was nicht durch Menschengeist zu ihm zurückkehrt, ist für ihn verloren, gefangen geblieben in der Kreatürlichkeit. Darum, siehe, ist der Dank, der von den Menschen zu Gott aufsteigt, das größte Geschehen zwischen Erde und Himmel. Die meisten Menschen aber gehen dahin undwissen nichts von diesem höchsten Geschehen und ahnen nicht, daß ihr Leben für Gott verloren ist, weil es ihm keinen Dank gebracht hat. Aber es ist hier wie im Gleichnis: Einiges fiel an den Weg, einiges auf das Steinige, einiges unter die Dornen und brachte keine Frucht, aber das wenige, das auf gut Land fiel, brachte dreißig-, sechzig- und hundertfältig und ersetzte alles, wasverlorenging [Mt. 13,3–8]. So ist es mit dem Dank zu Gott; die Güte, die er in diesem Jahr über die Menschen ausgestreut, ist an vielen verloren, und nur die wenigsten sind wie der Baum, gepflanzt an Wasserbächen, und bringen Gott ihre Frucht zu seiner Zeit [Ps. 1,3]. Aber wenn nur die paar tau-

Frucht bringen

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send, diejetzt zu dieser Stunde in den Kirchen unseres Landes versammelt sind, ihm wirklich austiefstem Herzen danken, so ist daseine köstliche und reiche Frucht für ihn. Aber das Danken ist nicht nur ein Geschehen, welches den ganzen Endzweck der Welt in sich faßt, sondern es ist auch ein Erleben. Wer Gott von Herzen dankt, der erlebt etwas: Er wird selber reich. Wir fühlen uns oft arm an Glück und Freudigkeit, unser Leben erscheint uns leer und unbefriedigend, ohne daß wir wissen, warum. Nun, merkt auf euch selbst: Die Zeiten der innerlichen Armut sind die Zeiten, wo ihr Gott nicht dankt. Was das Leben bringt, hat an sich keinen Wert: Es bekommt ihn erst durch den Dank zu Gott. Heute am Erntefest sind nicht die die Reichen, welche viel in die Scheunen gesammelt haben, sondern die, welche Gott viel danken. So hängt auch unser inneres Glück nicht davon ab, was wir erleben, sondern daß wir es in Dank zu Gott erleben. Dein Leben ist etwas Trübes und Undurchsichtiges, solange du es nur mit dem natürlichen Menschensinn betrachtest, aber wenn du es gegen das Licht der göttlichen Güte hältst, dann leuchtet es undwird durchsichtig und strahlt und glänzt, und du fragst dich, ob denn das wirklich noch dein Leben ist, dasso vor dir steht. Der kennt sein Leben nicht, der es nicht im Dank zu Gott bespiegelt. Was es birgt an Kostbarkeit, ist dem natürlichen Geiste verborgen; die Körner werden erst offenbar, wenn du alles vor Gott ausbreitest. Und nicht nur reich wirst du, sondern auch stark, stark durch die Gemeinschaft mit Gott. Schon unter Menschen schafft der Dank die tiefste Gemeinschaft, welche zuletzt stärker ist als alles, was sich zwischen sie schieben kann. Wieviel mehr mit Gott. Wir haben keine Gemeinschaft mit ihm, weil wir nicht danken. Darum fühlen wir ihn so fern; es fehlt das Opfer, das uns mit ihm versöhnt und verbindet. Wir kennen das Wort wohl: «Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisen» [Ps. 50,15], haben’s auch wohl schon erfahren, aber wir vergessen das andere: «Opfere Gott Dank» [Ps. 50,14]. Beten können, heißt zuerst, danken können, und gar viele kommen nie in die rechte Gebetsgemeinschaft mit ihm, weil sie nicht mit dem Danken anfangen. Sieh, unser Herr Jesus war immer mit Gott und fühlte ihn nahe, verstand ihn in allen seinen Führungen, weil er immer dankte. Das hat ihn zumVater emporgehoben. Siehe, dieses Glückes kannst auch du teilhaftig werden, wenn du anfängst, Gott aus tiefem Herzen zu danken; und wenn dein Danken den Weg zu Gott nimmt, dann wirst du selbst ausder irdischen Betrachtung der Dinge herausgehoben, und alles verschwindet und versinkt unter dir; du fühlst, wie dein Dasein in ihm ruht; du erkennst die Dinge in ihm; was schwer schien, wird leicht, was als unüberwindliches Hindernis vor dir stand, wird eben, und als ein anderer Mensch kehrst du zu

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Predigten desJahres 1904

deinem eigenen Leben zurück. Glücklich die Menschen, die im Dank gegen Gott für dasLeben gestählt sind. Darum, wenn du dich schwach, matt und unglücklich fühlst, fang an zu danken, damit es besser mit dir werde. Zwing dein Herz dazu. Und wenn es verdrossen fragt, wofür? laß ihm keine Ruh und zwing es, zu suchen im Augenblick etwas, wofür es danken müsse; und wenn du nur das erste gefunden hast, dann kommt eines nach dem andern, und duwirst zuletzt nicht mehr fertig mit danken. Das Größte ist, danken für alles; wer das gelernt hat, der weiß, was Leben heißt, und ist durch alles hindurchgedrungen. Danken für alles. Wenn dukeine Acker und Felder besitzest, so nimm doch den Dank des Erntefestes zum Gleichnis, wie auch unser Herr, der kein Feld hatte, alles in der Natur zum Gleichnis nahm und es so im Geistigen besaß. Der Dank, der heute dargebracht wird für die Frucht, die die Erde getragen, er geht nicht nur auf den Sonnenschein, sondern auch auf den Regen, der die Erde befeuchtete, auf den Wind, der den Blütenstaub von einer Pflanze zur andern trug, auf die Kälte, welche die Saat in der Erde zurückgehalten, auf den Frühlingssturm, der dasLand von Schnee und Eis befreit. So sind es nicht nur heitere und sonnige Ereignisse, welche in deinem Leben die Frucht zeitigen, für die du dankst, sondern es ist auch viel Trübes und Schweres dabei, für dasdu Gott auch danken mußt, weil es dich in deinem inneren Leben weitergebracht hat. Und wenn es so schwer ist, daß du meinst, nicht damit fertig zu werden, dann such, worin du Gott dafür dennoch danken könnest, denn manchmal sind wir blind für das, was Gott mit uns will, und werden erst sehend, wenn wir versuchen, ihm zu danken. Ihr aber, die Glücklichen, helft denen danken, die kämpfen und überwinden müssen, bis sie dazu kommen durch dasDankgebet, dasihr emporsendet. Es ist mir manchmal, wenn ich an den Altar trete, um das Eingangsgebet zu sprechen, als müßten unter euch welche sein, die in derWoche etwas Herrliches erlebt haben und nun kommen, zu danken. Ich meine dann, daß ihre Gedanken, losgelöst von denWorten des verlesenen Gebets, dasselbe umspielen, wie wunderbare Harmonien eine schlicht einfältige Melodie umsingen und umklingen, und daß dann das Gebet der Bekümmerten durch diese Gedanken des Dankes, die durch den Raum ziehen, gekräftigt und zu Gott emporgetragen wer-

den.

Die zehnJungfrauen

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Nachmittagspredigt Sonntag, 27. November 1904, St. Nicolai 1. Advent

Mt. 25,1– 10: Die zehnJungfrauen47

Es fängt so schön an und hört so traurig auf, dieses Adventsgleichnis. Darum mein ich, es ist ein besonders wahres Bild desLebens. Sie waren zur Hochzeit geladen: Das will heißen, daß das Christentum etwas Freudiges ist. Man kann das eigentlich nicht genug sagen; denn die Menschen meinen gewöhnlich, es sei dasGegenteil, eine trübe Betrachtung derWelt. Nein, es ist der größte Anspruch auf Freude, den man an dasLeben stellen kann. Und worin besteht denn diese Freude? Mit Jesus im Leben vereinigt sein; ihn zu erkennen, ihn nahe zu fühlen, in ihm zu leben und zu denken, durch ihn über alles irdische Sorgen hinausgehoben zuwerden; ihn zu kennen, wie wir es niemand sagen und erklären können, uns geborgen zu wissen bei ihm. «Weicht, ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister, Jesus, tritt herein.»48 Ihn als Freudenmeister zu erkennen, dasist dashöchste Verlangen, daswir an dasLeben stellen können. Und alle Menschen haben ein Recht dazu, denn sie sind alle geladen; noch mehr: Es hat für sie alle eine Zeit gegeben, wo sie mit brennenden Lampen ausgegangen und seiner warteten. Man hat ihnen allen verkündet, wozu sie berufen sind, und in ihnen die Erwartung geweckt von etwas übernatürlich Herrlichem, das sie sollten erleben und wodurch sie Christen werden sollten. Wenn wir wüßten, was die Kinder denken zur Zeit der Konfirmation, wo sich in ihnen die ersten selbständigen Gedanken regen, dann wüßten wir auch, daß kaum eines unter ihnen ist, das nicht sehnsüchtig

47 [Dann wird das Himmelreich gleich sein zehnJungfrauen, die ihre Lampen nahmen

und gingen aus, dem Bräutigam entgegen. Aber fünf unter ihnen waren töricht, und fünf waren klug. Die törichten nahmen ihre Lampen; aber sie nahmen nicht Öl mit sich. Die klugen aber nahmen Öl in ihren Gefäßen samt ihren Lampen. Da nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt; gehet aus, ihm entgegen! Da standen diese Jungfrauen alle auf und schmückten ihre Lampen. Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsre Lampen verlöschen. Da antworteten die klugen und sprachen: Nicht also, auf daß nicht uns und euch gebreche; gehet aber hin zu den Krämern und kaufet für euch selbst. Und da sie hingingen, zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür ward verschlossen. Zuletzt kamen auch die andern Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! Er antwortete aber und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht. Darum wachet; denn ihr wisset weder Tag noch Stunde, in welcher desMenschen Sohn kommen wird.] 48 [Johann Franck: Jesu, meine Freude, Str. 5.]

598 Predigten desJahres 1904

darauf wartet, nun etwas wirklich zu erleben von dem, was man ihm verkündigt, etwas Übernatürliches, das in sein Leben eingreift. Und wenn es käme, dieses Übernatürliche, zu jener Zeit, wenn sie fühlten Jesus an sich herankommen, sie würden sich freudig hingeben, ihm zu Füßen fallen und zu ihm sagen: Sei du allein die Freude meines Lebens. «Mein Herze soll dir grünen in stetem Lob und Preis und deinem Namen dienen, so gut es kann und weiß.»|49¡ Ich kenne Männer und Frauen, die jetzt spotten und lachen über Glaube und Frömmigkeit, und die ich doch einst in einer solchen Verfassung des Gemüts gekannt habe, daß, wenn damals nur ein Funke von oben in ihr Herz gefallen wäre, esheute brennen würde vor Liebe zuihm. So aber ist die Lampe, die sie in der Hand trugen, erlöscht, und ihr Herz verlangt nichts mehr. Alles, wassie erleben, geht spurlos an ihrem geistigenWesen vorüber. Jesus könnte ihnen auf demWeg begegnen, sie würdenihn nicht mehr erkennen, denn esist Dunkel um sieundin ihnen. Und warum kam dasalles? Nur weil sie töricht waren und nicht warten konnten, da der Herr verzog und immer wieder verzog, zu ihnen zu kommen und ihre Herzen zu rühren. Warum er verzieht und die Menschen, die auf ihn warten, harren läßt, bis es zu spät für sie ist, das verstehe ich nicht, weder im Gleichnis noch im Leben. Das ist für mich gerade dasunsäglich Traurige daran. Ich verstehe das Gleichnis vom Sämann [Mt. 13,3–8], wo die Vögel den Samen aufpicken und anderes umkommt, weil es auf das Steinige oder unter die Dornen gefallen, dasheißt, wo dasEvangelium in einem Menschen verkümmert, weil die irdischen Freuden und Sorgen im Herzen stärker sind als das Evangelium und die Versuchung stärker als der gute Wille, aber hier sind es Menschen, die gut sind und die nur deswegen nicht zuJesus kommen, weil sie zu lange warten mußten, bis er sich ihnen zeigte. Ihr kennt sie, diese Menschen, innerlich gut undedel, rein und lauter, aber denen eines fehlt, daß sie Christus kennen, und die darum, wenn man von Religion redet, lächeln und sagen: Das ist nichts für mich. Ihr kennt sie, diese Menschen, die es vor allem wert wären, Christen zu sein, und die nun innerlich arm und unbefriedigt durch das Leben gehen und die höchste Freude nicht kennen. Mir tun sie weh. Ich trauere über sie wie über die Bäume, die im Frühling, wenn alles sproßt und blüht, kahl und schwarz dastehen. Warum? Sie waren gesund und voll Knospen im Herbst und versprachen herrliches Wachstum für den Frühling: Da kamen einige Tage, wo es zu kalt für sie war, und sie erfroren. So sehe ich im Leben viele Menschen, die geistig erfroren sind und nur darum keine Frucht gebracht haben. 49 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 2.]

Die zehnJungfrauen

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Und dasTraurigste ist, daß wir ihnen nicht helfen können, ob wir auch wollten, wie es auch der Herr im Gleichnis sagt, da die klugen Jungfrauen ihnen nichts von ihrem Öl geben können. So fühlen wir uns auch vielen Menschen gegenüber, denen wir geistig etwas geben möchten, ohnmächtig und arm. Manchmal sind es solche, die wir sehen verlorengehen an Leib und Seele, und was wir auch tun, es gelingt uns nicht, sie auf den rechten Weg zu bringen. Manchmal sind es Menschen, die innerlich leiden und die wir möchten zum wahren Glück und zum wahren Frieden führen – und wir können es nicht. Es ist eine traurige Adventsbetrachtung, werdet ihr sagen. Aber seht, ich meine, es ist etwas nicht mehr so traurig, wenn man einmal erkannt hat, daß es eben so von Gott bestimmt ist. Er weiß ja das Ende aller Dinge und führt alles herrlich hinaus [Jes. 28,29]. Alle Gleichnisse ergänze ich mir immer nach dem Gleichnis von dem Herrn, der ausging, Arbeiter in seinen Weinberg zu mieten und dann in der letzten Stunde noch welche dingte. Darum, wenn ihr euch um solche Menschen sorgt, die ihr gerne innerlich glücklich in Christus sehen möchtet, und doch nichts dazu vermögt, sagt euch, daß Gottes letzte Stunde noch nicht mit ihnen gekommen ist. Und wenn sogar für uns die letzte, mögliche Stunde gekommen scheint, das Ende des Lebens, Gottes letzte ist es noch nicht, sondern seine letzte ist es, wo der Geist des Menschen, der Leiblichkeit entkleidet, zu ihm zurückkehrt. Und da glaube ich nicht, daß irgendein Wesen verlorengeht, sondern daß er alle zu sich nimmt. Und wenn sie auch in der Nacht des irdischen Lebens draußen standen und vergebens riefen und warteten, und er ihnen sagen mußte: «Ich kenne euch nicht», wenn der Morgen des ewigen Lebens und die unvergängliche Sonne scheint, wird er ihnen auftun und doppelt milde zu ihnen sagen: «Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig undbeladen seid» [Mt. 11,28]. Wir haben nun gedacht an die Menschen, um die wir uns sorgen, und die für sich keinen Advent feiern. Was bedeutet aber das Gleichnis für uns? Wir sind noch nicht versammelt mit ihm da, wo es heißt «Gloria sei dir gesungen mit Menschen- und mit Engelzungen»,|50¡ sondern wir stehen noch in diesem Leben und warten. Er legt uns dasWarten auf, und wir wissen, daß er gerade dann, wenn wir ihn am meisten suchen, und wenn wir ihm am liebsten dienen möchten, uns warten läßt und uns erprobt, ob wir’s auch aushalten. Wenn wir das nicht wüßten, daß es sein Wille ist, uns warten zu lassen, wir würden verzagen. So aber wissen wir, es ist sein Wille, und darum sind wir getrost und warten, daß er uns offenbar werde und unser Herz erfülle mit Friede und Freude: 50 [Philipp Nicolai: Wachet auf, ruft uns die Stimme, Str. 3.]

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Predigten

desJahres

1904

«Er kommt, er kommt mit Willen, ist voller Lieb undLust, all Angst und Not zu stillen, die ihm an euch bewußt.»|51¡

Nachmittagspredigt Sonntag, 11. Dezember 1904, St. Nicolai 3. Advent

Am. 8,11 f.: [Hunger und Durst nach demWort Gottes]|52¡

Das ist einmal eine Prophezeiung aus dem Alten Testament, welche nicht nur unvollkommen, sondern vollkommen in Erfüllung gegangen ist, und nicht nur einmal, zu einer bestimmten Zeit, sondern vielmals und immerfort. Ich bewundere ihn, diesen Propheten, den ich überhaupt für einen der größten Menschen halte, dieje über die Erde gegangen, daß er inmitten einer rohen, nur auf Genuß bedachten Zeit, da man seiner Worte spottete, dennoch nicht den Mut verlor, sondern gewiß war, daß eine Zeit des Hungers und des Durstes nach dem Worte Gottes über dieWelt kommen würde. Hunger und Durst: eine Schwäche, aber ein Zeichen, daß noch gesundes Leben da ist. Hunger und Durst: ein Sehnen, an dem man zugrunde geht, wenn es nicht gestillt wird. Hunger und Durst: etwas ganz Unberechenbares, das sich regt, wenn man am wenigsten daran denkt. An mir selbst bin ich immer erstaunt, wenn ich den geistigen Hunger und Durst an mir erlebte. Manchmal in den Zeiten des glücklichen, zufriedenen Dahinlebens, manchmal in mancherlei Trübsal, manchmal auch mitten in der Beschäftigung der Theologie, da kam es über mich, unerklärlich und unaussprechlich, das Sehnen nach etwas LebendigGeistigem, dasmich sättigte und zufrieden machte. Alles, was ich geistig hatte, das Wort, das ich las, und die Predigt, die ich hörte, befriedigte mich nicht, sondern ich suchte, ohne mir selbst darüber klar zu sein, etwas ganz Lebendiges, das Wort Gottes kraftvoll lebend in einem Menschen und von ihm auf mich übergehend, nicht etwas nur zu hören, sondern etwas Geistiges, das an mich herankäme, wie ich mich erinnere, als Kind im Fieber einen Becher sich 51 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 7.] 52 [Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, daß ich einen Hunger ins Land schicken werde, nicht einen Hunger nach Brot oder Durst nach Wasser, sondern nach dem Wort desHerrn, zu hören; daß sie hin und her von einem Meer zum andern, von Mitternacht gegen Morgen umlaufen und des Herrn Wort suchen, und doch nicht finden werden.]

Hunger

undDurst nach dem Wort

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meinen Lippen nähernd gefühlt zu haben. Und die wenigen Male in meinem Leben, wo ich wirklich erquickt wurde, das war, wo ich Menschen antraf, in denen das Wort Gottes sichtbar und kräftig Wohnung genommen. Denn das Wort Gottes ist nicht Schall und Ton, sondern etwas Geistiges. Ich meine dasWort Gottes, von dem der Evangelist St. Johannes anhebt: «Am Anfang war dasWort, und dasWort war bei Gott, und Gott war dasWort. Und dasWort ward Fleisch und wohnte unter uns» [Joh. 1,1.14]. Nun mein ich, wir haben alle Hunger nach diesem geheimnisvollen Wort Gottes, das sich als etwas Wesenhaftes in Christus mit der Menschennatur verbunden hat undjetzt unter uns wohnen soll, daß wir es in den Menschen antreffen und es uns stärke. Zuletzt ist auch das Abendmahl nur ein Gleichnis des großen Sakramentes seines Leibes und Blutes, das er auf Erden gestiftet hat, nämlich daß sein göttliches, reines, weltüberwindendes Wesen uns in Menschen leibhaftig entgegentrete, und wir dadurch gestärkt und erquickt werden. Das ist das Wirklichkeit gewordene, große Abendmahl, das messianische Mahl, von dem die Propheten redeten. Und ich glaube, unsere Zeit ist mehr als eine andere eine Zeit des Hungers und des Durstes nach demWort Gottes. Wir sind unbefriedigter als die Geschlechter vor uns.Wir haben dasWort und die Predigt wie sie, wir haben Gottesdienst und Schrift, aber wir sehnen uns nach etwas ganz Kraftvollem, das uns erfasse, nach fleischgewordenem Wort Gottes, nach Menschen, die in der Kraft Gottes vor uns treten und auf uns wirken, nach Menschen, denen wir geistig gehorchen müssen. Wir suchen Menschen, an denen wir unser Leben aufrichten. Wir fühlen, daß etwas Größeres kommen muß, als esjetzt ist, und nach dieser größeren Zeit hungern und dürsten wir. Und glaubt nicht, daß nur wir, die wir uns zu Gottes Wort halten, hungrig und durstig sind, nein, unsere ganze Zeit ist es mit uns. Es tut mir manchmal weh, wenn ich unsere Zeit schelten höre, sie sei nur materialistisch. Es ist wahr, noch ist die Zeit nicht fern, wo sie zu stolz war auf alle Erfindungen des Menschengeistes und auf die Herrschaft, die sie über die Natur gewann. Aber diese erste Versuchung, wo ihr der Teufel die ganze Welt ausgebreitet vor ihr zeigte von dem hohen Berg desMenschenstolzes aus, beginnt, vorüber zu sein, und dasWort unseres Herrn erhebt sich über der Welt: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes geht» [Mt. 4,4]. So geht durch unsere Zeit ein Sehnen nach etwas Geistigem. Dieses Sehnen ist da, sogar in derVerkehrtheit. Aller dieser Aberglaube, der sich regt, der Spiritismus, die Theosophie und alle diese Erscheinungen, was sind sie anders als Regungen des geistigen Hungers? So essen auch manchmal die Leute in der Hungersnot Baumrinde.

602 Predigten desJahres

1904

Wer nicht die Stimme der Zeit in den Zeitungen, sondern das stille Sehnen und Seufzen hört, der weiß, es ist Hunger und Durst da nach dem Wort des Herrn, sogar mancher Spott und manche Lästerung kommt auseinem hungrigen Herzen. «Daß sie hin und her von einem Meer zum andern, von Mitternacht gegen Morgen umlaufen und des Herrn Wort suchen, und doch nicht finden werden. Zu der Zeit werden Jungfrauen und Jünglinge verschmachten vor Durst», das geht bei uns vor. Ohne daß wir es wissen, verschmachten die Leute um uns an geistigem Hunger und Durst, und wir sind manchmal wie die, welche neben einem durchgehen, der vor Hunger taumelt, und sagen: Er ist betrunken. Aber warum kommen sie nicht in die Kirche, wo Gottes Wort gepredigt wird? Warum lesen sie nicht im Neuen Testament? Sie brauchen das lebendige Wort, sie brauchten Menschen, sie brauchten uns: Und weil sie von uns keine Erquickung haben, verschmachten sie. Ich rede nicht von unsern Worten, nicht von unsern Taten, sondern von unserm Wesen, von dem Unaussprechlichen an einem Menschen, wie soll ich sagen, von der Atmosphäre, die er verbreitet. Wir schaffen keine christliche Atmosphäre um uns.Wir sind, was wir sind in unserm Beruf, in unserer Familie, unter unsern Freunden, aber der Christenmensch in uns, der kommt nicht zur Geltung. Die Menschen harren, daß wir irgendwie nach höheren Grundsätzen handeln, daß in unserm Leben höhere, geistige Triebkräfte sich bemerkbar machen, und wir lassen sie immer nur sehen, daß wir nach denselben natürlich-menschlichen Regeln handeln wie sie, nach Recht, nach Zuneigung, nach Abneigung, nachVergeltung, undwo sie, ohne es zu gestehen, nach einem Christenmenschen hungerten und dürsteten, finden sie nur einen Menschen! Seht, ich glaube, der Fehler von uns allen ist, daß wir nicht genug von dem Christenwesen, das wir wirklich haben, in den Umgang mit den Menschen legen, oft sogar mit denen, die mit uns im selben Hause wohnen, ich meine nicht einmal das Reden, sondern nur das Sein, das Sichgeben, [daß wir] manchmal das Beste, was wir haben, für uns behalten. Wir sind ja nicht reich, geistig, aber ich meine, noch genug manchmal, um einen andern mitessen und mittrinken zu lassen. Wenn ihr im Sommer in unsere Vogesentäler kommt, seht ihr oft ganze Strecken dürrer Matten neben den Flüssen. Wie kann denn solche Dürre sein, wo daneben soviel Wasser ist? Ganz einfach: Das Strombett ist reguliert, eingedeicht der Fabriken wegen, und dasWasser fließt zu tief, als daß etwas auf die Matten kommen könnte. So ist es auch mit unserm Christentum: Es ist zu reguliert und zu eingedämmt, als daß etwas davon überflösse, und so kommt Dürre über unsere Zeit trotz unserer christlichen Gemeinschaft und auch Dürre um uns her. Ich sage euch dasalles, weil ich mich in derAdventszeit immer fragen muß: Was gibst du den Menschen, die um dich herum leben, mit denen

Werseine Hand an den Pflug legt

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du etwas zu tun hast? Inwiefern bereitest du dem Herrn ebene Bahn zu ihrem Herzen dadurch, daß sie etwas von seinem Geiste, von seiner Freundlichkeit, von seiner Milde in dir spüren? Und oft auch, wie ihr wohl desgleichen, muß ich mich noch fragen, ob ich nicht, statt dem Herrn bei ihnen ebene Bahn zu bereiten, ihm Hindernisse geschafft habe, und daß sie um meinetwillen vielleicht Bitterkeit im Herzen tragen und deswegen nicht recht Advent feiern. Ihr werdet jetzt mit denselben Fragen an euch selbst hinausgehen, und sie werden euch nicht freudig stimmen, sondern trüb. Aber siehe, wir müssen manchmal abrechnen mit uns selbst, waswir fürJesus getan und was wir nicht getan, und diese höhere Reue empfinden, die niemand gereut, sondern die uns läutert und reinigt und uns geschickt macht, etwas für ihn zu tun hienieden und die zu erquicken, die nach ihm hungern und dürsten und vor unsern Augen verschmachten.

Morgenpredigt Sonntag, 18. Dezember 1904, [St. Nicolai]|53¡ 4. Advent

Lk. 9,62: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes Ihr wißt, was diesem Text vorangeht. Es waren Menschen entschlossen, Jesus nachzufolgen, und er verbot ihnen, zu tun, was ihnen natürlich schien. Der eine wollte zuerst noch sein Hauswesen in Ordnung bringen und Abschied nehmen: Er läßt es ihm nicht zu. Der andere will zuerst seinen Vater begraben, und der Herr spricht zu ihm: «Laß dieToten ihre Toten begraben» [Lk. 9,60]. Es ist ungerecht, was er fordert. Aber so ist es mit dem Reich Gottes, daß um seinetwillen Dinge, die nach unserm natürlichen Menschengefühl an der Zeit scheinen, nicht an der Zeit sind, damit dasNotwendige geschieht. Ich muß immer im Advent daran denken, warum denn dasVolk Israel, das so herrlich Advent gefeiert und mit einer Sehnsucht auf einen Herrn und Erlöser gewartet, wie sie nie mehr ein Geschlecht bewegt hat, warum dieses so vorbereitete Volk dem Reich Gottes verlorenging. Nicht aus mangelnder Frömmigkeit, nicht aus Verstocktheit, sondern wegen unzeitgemäßer Pietät gegen Gesetz und Propheten! Es hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden, und deswegen konnte ihm der Herr Jesus selbst nicht helfen. Noch einmal, am Ausgang des Mittelalters, kam eine große Advents53 [Im Kirchenboten ist Schweitzer als Prediger in St. Nicolai aufgeführt.]

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zeit, ein Harren der Geister. Die Zeit stand vor dem Pflug wie ein stampfendes Pferd, das die Nüstern bläht, und Morgenwolken röteten den Himmel: Und sie schauten zurück auf Kirchenväter und Konzilien und blieben stehen. So leben Judentum und Katholizismus unter uns als solche, die zurückgeschaut haben und die menschlich-natürliche und pietätvolle Erwägungen verhindert haben, dem Herrn zu folgen. Wohl enthalten sie noch viel edle und tüchtige Frömmigkeit, viel edles Wollen und reine Kraft, aber sie ist nicht geschickt zum Reich Gottes, sie bleibt gebunden in Gedanken derVergangenheit und ist nicht Salz der Erde. «Wenn aber dasSalz dumm wird, womit soll man’s salzen [Mt. 5,13]?» Darum hab ich immer Angst, daß wir in einer Adventszeit drinstehen und sie verpassen, weil wir zurücksehen. Sollte es keine Adventszeit sein? Ich höre Lästerung und Gericht. Nun steht esja in der Schrift, daß, wenn die Lästerung und das Gericht sich mehren, daß dann die Zeit erfüllt ist, wo er wieder in derWelt erscheint. In der Lästerung und in den Anklagen gegen die mittelalterliche Kirche erschien der Christus der Reformation. Darum horcht, ob nicht in dem Spott und Hohn der heutigen Welt über das Christentum ihr den Schritt des Herrn vernehmt, und forscht, ob es nicht die dritte große Adventszeit derWelt ist! Schaut nicht zurück, sondern blickt nach vorn, ob nicht vor dem Pflug eine leuchtende Gestalt steht. Ich fürchte, wir schauen zurück. Wir reden zuviel von den Reformatoren und meinen, unserer Zeit mehr Kraft zu geben, wenn wir die reformatorische Zeit auf jede Weise wieder lebendig erstehen lassen mit all ihren großen Gestalten, als würden wir dadurch zu unserer Aufgabe erneuert und gekräftigt. Wir feiern zuviel Vergangenes. Wenn man unsere Zeit reden hört, möchte man manchmal sagen: Weniger Luther, weniger Gustav Adolf, mehr Christus. Ich würde es nicht wagen, zu sagen, daß wir zuviel Reformatorenkult in unserer Zeit treiben, wenn nicht dasWort Christi wäre vom Nichtzurückschauen, und wenn er nicht in seiner harten Weise zu dem Manne, der zuerst seinen Vater begraben wollte, gesagt hätte: «Laß dieToten ihre Toten begraben» und täusche dich nicht mit der Pietät über die wahre Pflicht dieses Augenblicks hinweg. Ein Mönch schrieb unlängst ein ungerechtes, schmähsüchtiges Werk über Luther, und nun bringt fast jede Woche eine Schrift zur Verteidigung Luthers, als wäre dies die Aufgabe des Protestantismus. Warum? Braucht er’s? «Laß dieToten ihre Toten begraben» und laß die Zeit vorüber sein, wo die Engel wider den Teufel um einen Leichnam stritten. Laßt ihm den Leichnam. Der Geist lebt ja. Es ist an der Zeit, Größeres zu tun, als Pietät zu üben. Fühlt ihr nicht, daß es wirklich Selbstbetrug ist, wenn unsere Zeit auf gewisse Dinge so großen Wert legt und meint, weil sie uns von un-

Werseine Hand an den Pflug legt

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serm natürlichen Gefühl diktiert sind, seien sie für das Reich Gottes zeitgemäß? Und siehe, esist nur das«Laß zuvor», dasder Herr mit einem ungeduldigen Worte abschneiden würde. Es ist, wie wenn wir ihm sagten: Laß uns zuvor uns mit dem Katholizismus auseinandersetzen, und dann, wenn der Protestantismus stark geworden ist gegen seinen Widersacher, dann soll’s vorwärts gehen. Oder: Laß uns zuvor das Christentum gegen die Angriffe der Wissenschaft rechtfertigen, dann ... Oder: Laß uns zuerst die modernen Formen finden für den alten Glauben, den modernen Geist sich mit dem Evangelium aussöhnen, dann an die neuen Aufgaben gehen. Oder: Laß uns zuvor Organisationen schaffen, die protestantischen Kirchen miteinander aussöhnen und untereinander verbinden, dann soll eine neue Zeit für das Evangelium kommen. Und siehe, über diesen zeitgemäßen Aufgaben vergessen wir die unzeitgemäßen, über der Zeit die Zukunft. Aber das Reich Gottes ist unzeitgemäße Arbeit an der Zukunft. Wer von uns darf unsere ehrbare, brave Zeit richten, ohne sich selbst zu verurteilen? Wir alle arbeiten ja an diesem zeitgemäßen «Laß zuvor». Was uns fehlt, das sind die Männer, die groß genug sind, um unsere Zeit in ihren ehrbaren Bestrebungen richten zu dürfen, die dasRecht haben, ungerecht zu sein gegen uns. Es fehlen die großen Männer des Advents. Aber dieWelt richtet und höhnt. Mag sie noch so ungerecht sein, zuletzt müssen wir doch stille halten und uns demütigen, denn in dem einen hat sie recht: Das Christentum ist keine Kraft in unserer Zeit, und weil es keine Kraft ist, ist es gerichtet. Wohl wird dasWort Gottes gepredigt und in der Schrift verbreitet, aber das Evangelium ist wie ein herrlicher Same, der allenthalben in der Luft herumfliegt, allenthalben niederfällt und nirgends aufgeht, weil keine Menschen da sind, die Furchen ziehen. So kommen die Vögel des Himmels und fressen ihn auf [Mt. 13,4], und er geht derWelt verloren. Wir müssen werden wie die, so pflügen. Das erste beim Pflügen ist hoffen. Was wäre der, der im Herbst die Furchen zieht, wenn er nicht auf den Frühling hoffte? So können auch wir nichts tun ohne Hoffnung, ohne die gewisse, innere Hoffnung, daß eine neue Zeit im Anbrechen begriffen ist. Hoffen ist Kraft. Es ist soviel Energie in derWelt, als Hoffen drin ist, und wenn nur ein paar Menschen miteinander hoffen, dann wirkt um sie eine Kraft, die nichts niederhalten kann, sondern die sich ausdehnt auf die andern. Das zweite am Pflügen ist das Schweigen. Wir müssen lernen, daß unser Reden, unser Beschlüssefassen kraftlos ist, und daß bescheidene, stille Arbeit am Reich Gottes an der Zeit ist. Das dritte am Pflügen ist allein arbeiten. Wir erwarten alles Heil von Zusammenschlüssen, Kongressen, organisiertem Zusammenwirken und täuschen uns damit. Die weihevollste Arbeit können wir nur

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allein verrichten, und wir müssen es geradezu wieder lernen, etwas für uns allein zu tun. Und wenn auch mehrere ein Feld zusammen pflügen, geht jeder allein hinter seinem Pflug her, und sie sprechen sich nicht, sondern sehen sich nur und fühlen sich nahe und verbunden. Hoffen, schweigen, allein wirken, das müssen wir lernen, wenn wir wirklich im wahren Geist Arbeit tun wollen. Aber worin besteht denn das Pflügen? Der Pflüger zieht nicht den Pflug, er schiebt ihn auch nicht, sondern er gibt ihm nur die gerade Richtung. So bewegen sich auch die Ereignisse unseres Lebens, und wir können nichts tun, als die gerade Richtung halten, die Richtung auf unsern Herrn Jesus Christ, daß wir in allem, was wir erleben und tun, ihm zustreben. Ihm zustreben – dann zieht sich die Furche von selbst. Das müssen die Menschen an uns fühlen, wenn eine Kraft des Christentums von uns ausgehen soll, daß wir in allem, was uns begegnet, in allem, was wir tun, ihn suchen, daß nicht die natürliche Richtung der Dinge unser Leben beherrscht, sondern daß wir eine gerade Linie drin

ziehen. Als Knabe wollte ich pflügen lernen. Ich glaubte, es sei leicht: man brauche sich nur an den Handgriffen zu halten und den Pflug zu regieren. Da mußt ich erfahren, damit es eine Furche gebe, müsse man sich mit der ganzen Schwere auf den Pflug legen. Im Leben hab ich es seitdem wieder erfahren, daß alles nichts nützt und keine Furche zustande kommt, wenn wir nicht unsere ganze Schwere aufwenden, das heißt, wenn wir uns dasLeben nicht schwermachen. Ich empfinde sie als Verantwortlichkeit Jesu gegenüber. Ich möchte, daß man es an uns spürte, daß wir dasLeben schwernehmen und uns in jedem Augenblick unserm Herrn gegenüber verantwortlich fühlen für das, was unser Dasein ist für die Menschen, mit denen wir zusammen sind, und was es bedeutet für das Kommen des Reiches Gottes in unserer Umgebung, und daßin dieser Verantwortung nicht etwas Niedergeschlagenes, sondern etwas Freudiges, etwas, das stark macht, ist. Sie müssen an unsfühlen, daß wir ringen und kämpfen, um so zu sein, daß wir unserm Herrn in derWelt würdig dienen, damit sie, wenn wir stark sind, von demWehen einer höheren Welt in uns gerührt werden, und wenn wir schwach sind, um unsertwillen den Christennamen nicht lästern, weil sie wissen, daß wir kämpfen. Denn das Christentum, weil sein Ziel so hoch ist, braucht Nachsicht in derWelt, und diese Nachsicht erfährt es nur, wenn ein ernstes Kämpfen an uns verspürt wird. Es ist etwas ganz Merkwürdiges mit diesem «das Leben schwernehmen». Der sich auf den Pflug legt, sieht wie eine grüne Welle unter der Schar hervorfluten und sich verwerfen, und durch einen einfachen Druck hat er all das Unkraut, das die Erde vor ihm bedeckte, unter der Scholle begraben, das er sonst nicht hätte können ausrotten. Ein Dut-

UndJesus nahm zu an Weisheit 607

zend Menschen könnten den Acker kaum in einem Tag säubern, und der, der hinter dem Pflug geht, tut es in wenigen Stunden. So verwerfen sich auch für die, welche das Leben schwernehmen, die mannigfachen Versuchungen, die sie auf demWege begegnen, und sie haben es leichter als die andern Menschen, gerade weil sie sich’s schwermachen, um eine Furche fürJesus zu ziehen. Und wo sie durchgehen, da reinigen und läutern sie undhelfen andern kämpfen. Denn schwer ist der Kampf nur für die, die kein Ziel haben, und viele Menschen gehen zugrunde, nur weil sie kein Ziel haben, dasihnen dasLeben schwermacht. In der Sprache derWelt sagt man von einem Menschen, der etwas geleistet: Er hat eine Spur hinterlassen. Es weiß von ihm dieser undjener, waser getan hat. Unser HerrJesus setzt unsein anderes Ziel: eine Furche ziehen. Das heißt, etwas Segensreiches zu tun, das verschwindet. Wenn die Ähren auf dem Felde wogen, wer sieht noch die Furche? Und wer dieses goldwogende Meer überschaut, wer weiß die Namen derer, die die Furchen gezogen haben? Aber sie waren da, unter trübem Herbsthimmel, da der Sturm brauste und dieWolken sich am Himmel dahinschoben, und zogen ihre Furchen voll Hoffnung. So wollen auch wir still und klein werden und auf den Herrn schauend eine Furche ziehen, indem wir dasLeben schwernehmen. Ob dann so die Erde zu einer neuen Saat bereitet wird, und wenn wir nicht mehr sind, unsere Furche verweht ist von dem Leben, dasdaraus sproßt.

Nachmittagspredigt Weihnachtssonntag, 25. Dezember 1904, St. Nicolai

Lk. 2,52: UndJesus nahm zu an [Weisheit, Alter und Gnade] bei Gott und den Menschen Weihnachten ist das Fest desJesuskindes! Ist das nicht etwas Merkwürdiges, eine Religion mit einem Kinderfest? Der Herr Jesus hat seinen Jüngern nie von seiner Kindheit erzählt; wir wissen von seinem Kindheitsleben weniger als von dem irgendeines Weisen oder Helden, nicht das Kindlein, sondern der Mann hat uns gepredigt, hat uns erlöst: Und doch müssen wir immer wieder an das Kindlein denken, und unsere Gedanken verweilen bei ihm, und wir möchten mit den Hirten vor der Krippe knien und es anbeten. Wie kommt es nun, daß das Kindlein Jesus uns so vertraut und so wert ist, das Kindlein, von dem wir nichts wissen? Weil Jesus ein Kind geblieben ist bis in die dreißiger Jahre, da er starb. Ich glaube, wenn einer nie etwas von ihm vernommen hätte, und man gäbe ihm die Evangelien zu lesen, dann wäre das erste, was er nachher sagen würde:

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Was dieser Herr Jesus doch etwas Kindliches an sich hatte. Wieviel mehr werden wir, die wir seine Reden und Taten kennen, denen er lebendig vor der Seele steht als ein alter Bekannter, von dem Kindlichen in ihm erfaßt. Man kann nicht genau sagen, worin diese Kindlichkeit besteht. Es ist nicht nur diese wunderbare Einfachheit in den Gleichnissen, das kindliche Verstehen der Natur, die Natürlichkeit und Unbefangenheit, mit der er sich unter den Menschen bewegt, sich ihnen hingibt, jedem etwas ist, die Kindlichkeit, mit der er liebt und Mitleid hat, die Art, wie er sich von den Kindern angezogen fühlt; das alles ist gewissermaßen nur ein äußerliches Sichtbarwerden von etwas, das wir an ihm fühlen und mit den innerlichen Sinnen der Seele erfassen, das ich nicht anders nennen kann als die übernatürliche Einfältigkeit unseres Herrn. Und wenn ich von der Gottheit Christi reden sollte, wozu heute ja der Tag ist, dann würde ich anfangen mit der Kindlichkeit, mit der übernatürlichen Einfältigkeit unseres Herrn, welche für mich gewissermaßen die Atmosphäre seiner Göttlichkeit ist, ja, ein Stück seiner Göttlichkeit

selber. Ich hätte keine Angst, wenn die gelehrtesten undweisesten Menschen derWelt sich in dieser Kirche versammelten, soviel ihrer hineingingen, und ich sollte ihnen nun dartun, daßJesus mehr ist als ein Weiser, daß etwas Göttliches an ihm ist. Ich würde sie nur fragen, ob es einen Menschen gegeben, dessen Weisheit so kindlich-einfach wie die seine, oder ob er seine Weisheit von menschlichen Lehrern empfangen habe, und darauf müßten sie alle schweigen. Und wenn ich von der Sündlosigkeit des Herrn reden sollte, dann würde ich wieder mit seiner Kindlichkeit beginnen. Denn nicht darin, daß wir nachweisen können, Jesus habe keine Sünde getan, besteht seine Sündlosigkeit, sondern darin, daß wir ihm anfühlen, er sei unberührt von aller Versuchung durch dasLeben gegangen. So ist es überall. Wo uns die Größe unseres Heilands erscheint, da offenbart sie sich als eine übernatürliche Einfalt undKindlichkeit. Wir wissen von seiner Jugend nichts, fast nichts; dreißig Jahre ist er alt, da er zum ersten Mal vor dasVolk tritt. Und doch wissen wir mehr von seiner Kindheit undJugend, als uns alle Erzählungen und Berichte kundtun könnten: Wir wissen, daß er seine Kindlichkeit nicht verlor, sondern daß seine Kindlichkeit mit ihm wuchs. Von keinem andern Menschen könnte man sagen, wasder Evangelist von ihm sagt: «Und er nahm zu anWeisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen», denn wir wachsen nur nach einer Seite hin, nach der Seite der Menschen, nach der Seite der Menschenweisheit hin, und das Kindliche, Einfältige, das die Anlage zur göttlichen Weisheit in uns ist, daswächst nicht mit uns, sondern es stirbt ab. Aber beiJesus blieb es, und es wuchs beides miteinander, die kindliche Weisheit vor Gott und

UndJesus nahm zu an Weisheit

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die Menschenweisheit, und dieWeisheit vor Gott durchdrang die Menschenweisheit – und es entstand dasEvangelium. Und waswill dieses Evangelium? Es will uns wieder zu Kindern machen. Wenn wir uns heute an die Krippe versetzen, da sehen wir nicht nur das Kindlein, sondern Menschen drum herum, Hirten vom Felde, Weise aus dem Morgenland, und die Kindlichkeit des Kindes geht auf sie über, und sie sind weiser und glücklicher als alle Gelehrten derWelt, weil sie denWeg zu diesem Kinde gefunden haben, und seine Kindlichkeit sich ihnen mitteilt. Was dort vorgeht, siehe, es ist nur ein Gleichnis für das, was sich immer in der Welt wiederholen soll, damit Menschen wahrhaft weise und glücklich werden: daß wir denWeg zuJesus finden und seine Kindlichkeit auf uns übergehe. Das ist für mich eine Seite an der Erlösung, und zwar die, welche ich fast am besten verstehe, weil ich sie am klarsten erlebt habe. Es kommt für uns alle ein gefährlicher Augenblick im Leben. Es ist der Augenblick, wo wir das letzte Kindliche verloren haben und nun gewissermaßen in derWeltweisheit schwimmen und stolz sind auf unsere Erkenntnis und Erfahrung, mit der wir uns das Leben vorteilhaft und glücklich einzurichten gedenken. Das ist der Augenblick, wo uns die Täuschung derWelt gefangennimmt, wie wenn einer aus der stillen Bucht in die Brandung hinauskommt und dort hin und her geworfen

wird. Diesen Moment erlebt jeder, nicht nur derWeise und Gelehrte, sondern auch der Niedrige und Ungelehrte, jeder auf seine Weise. Der eine wird von der Weltweisheit des Erwerbs, der andere von der Weltweisheit des klugen Lebensgenusses, der andere von der Weltweisheit der Ehre, der andere von der Weltweisheit der Sorge gefangengenommen, und nun meinen wir, dasLeben zuverstehen, weil sich alles um uns bewegt, und siehe, wir sind nur solche, die aus der stillen Bucht in die Brandung gekommen sind und nun dort herumgetrieben werden. So leben die meisten Menschen und kommen nie aus der Brandung heraus. Aber das ist nicht Glück und Weisheit, sondern Qual und Torheit, und das Glück und die Erkenntnis kommen erst, wenn wir aus der Brandung hinausgeworfen werden in das große, stille, ruhige Meer und uns von einer Strömung einem fernen Ziele zugetragen fühlen, wenn wir durch Christus die Kindlichkeit wieder finden, nicht die Kindlichkeit, die wir hatten als Kinder, sondern die höhere Kindlichkeit und Einfältigkeit der Gedanken undWünsche, welche Weisheit ist vor Gott und uns hinaushebt über Menschenweisheit und Menschenziele. Das kann aber niemand in uns vollbringen alsJesus. So ist der Apostel Paulus durch ihn, ohne daß er ihn je gesehen und gesprochen hat, nur weil er ihn nahe gefühlt hat, über die ganze stolze Gesetzeswissenschaft hinausgeführt worden und wurde wieder ein einfacher, schlichter Mensch und

610 Predigten desJahres 1904

verkündigte nun diese schlichte Weisheit von oben, wobei die Erinnerung an seine ehemalige Gelehrsamkeit wie Schatten der Bäume vor seinem Fenster in seinen Briefen sich bewegt. So etwas erlebt jeder von uns, dem Christus etwas wird. Keiner auf dieselbe Weise und doch so, daß wir durch ihn eine gewisse Einfältigkeit des Sinnes zurückerhalten oder mit seiner Hilfe uns zurückerkämpfen, die uns über unsere eigene Lebensweisheit, auf die wir sonst so stolz wären, hinaushebt. Es heißt im 1. Brief des St. Petrus: «Er hat uns erlöst von unserm eiteln Wandel» [I Petr. 1,18]. Wenn ich diesWort lese, muß ich immer an die Erlösung denken, die in uns zustande kommt dadurch, daß wir durch seinen kindlichen Sinn loskommen von derWeltweisheit und dadurch stark werden.

VIII. Predigten desJahres 1905

Nachmittagspredigt Sonntag, 8. Januar 1905, St. Nicolai Missionsfest

Mt. 28,18–20: Mir ist gegeben alle Gewalt|1¡ Wenn ich mich verbürgen sollte, daßJesus diese Worte wirklich so gesagt, so wäre ich in großer Verlegenheit. Es sindWorte desAuferstandenen, und ich kann mir nicht vorstellen, daß das geistige Wesen, das den Jüngern erschien und mit seiner tröstenden Nähe aufrichtete, zu ihnen in Menschenworten geredet habe. Und doch meine ich auch nicht, daß ein Mensch dieses Wort erfunden habe, sondern es ist mir, als ob der Geist Christi, der lebendig auf Erden umging, ein paar Menschenworte zu einigen Sprüchen zusammengeworfen habe, die sein irdischer Mund nicht geredet und die doch wahr sind wie dieWorte eines Vermächtnisses, dasman nach demTode eines Menschen öffnet. Solche Worte des Vermächtnisses finde ich bei dem Evangelisten St. Johannes und eben in unserm Spruch. Unser Spruch gehört zu denWorten, die wachsen, je weiter die Zeit der Welt fortschreitet, wie die Schatten der Dinge wachsen, wenn der Tag sich zum Abend neigt, immer größer, immer größer. Alles an demWort ist gewachsen. Gewachsen ist dieWelt. Das Mittelländische Meer, das für sie dasWeltmeer war, ist heute ein See, verglichen mit den Ozeanen, die seither zurWelt hinzugekommen sind. Gewachsen ist die Zahl derer, die dasKnie vor ihm beugen: Elf waren es dort auf dem Berge, heute sind esTausende und Abertausende. Aber mehr als alles ist gewachsen der Zweifel, der Zweifel nicht der Welt, sondern derer, die das Knie vor ihm beugen. Woran zweifeln sie? Nicht daß er ihr Herr sei, sondern daß seine Macht ausgehe über die ganze Welt, die sie zuihren Füßen ausgebreitet sehen. Jahrhunderte, zwei Jahrtausende sind vergangen, und wir zweifeln, ob der Herr, der über unser Herz herrscht, demwir angehören wollen, Herr derWelt wird. 1 [im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen desVaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.]

612 Predigten desJahres 1905

Es sind nicht mehr nur Zweifel von Zweifelnden, sondern Zweifel der Erfahrung. Wir haben das christliche Europa bei der Arbeit gesehen in den fernen Weltteilen. Feuersäule und Rauchwolke bezeichnen seinenWeg, aber nicht Feuersäule und Rauchwolke, in denen der Herr seinem Evangelium voranzieht, sondern die den sengenden Kriegsscharen nachfolgen und dem Evangelium denWeg verwüsten. Darum zweifeln wir. Ist des Herrn Macht stärker an den Herzen der Heiden als die rohe Gewalt unserer Christenstaaten, die seinen Namen tragen, um ihn in der Ferne zu schänden? Ist seine Gewalt stärker als die Gleichgültigkeit derer, die unter uns meinen: Wozu das Geld in die Ferne tragen zur Bekehrung der Heiden? Man lasse sie doch bei ihrem Glauben und in ihrer Unwissenheit, dann werden die europäischen Staaten draußen gefügige Untertanen finden. Ist seine Gewalt stärker als diese Torheit der klugen Welt, die wir überall müssen mitanhören und gegen die wir ohnmächtig sind? «Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden!» Alle Gewalt! Wir sehen ihn nicht, wir hören ihn nicht, aber wir fühlen ihn nahe in seiner Kraft, und seine Worte sind wie etwas, das sich unsichtbar vor uns reckt und dehnt. Dann sehen wir dieWelt gegen den Schein der Dinge mit Augen der Hoffnung an, daß aus diesem Chaos, wo die christlichen Staaten mit Gewalt dieWelt aufteilen und das Evangelium sich daneben denWeg sucht, sich lossagend von aller dieser christlichen, irdischen Gewalt, dennoch dasReich Jesu Christi hervorgehen wird. Wer die Augen auftut, der sieht schon die sanftmütige, stille Gewalt desHerrn, die daswilde Wesen roher Völker bezwingt. Die Prediger seines Evangeliums haben nicht nötig, daß europäische Waffen sie schützen, sondern der Geist der Sanftmut Jesu Christi schützt sie. Livingstone bewegte sich ohne irgendeine Waffe ungefährdet im dunkelsten Afrika. In der Inselwelt des indischen Ozeans wirken Missionare als Schiedsrichter nicht nur zwischen Stämmen, die sich schon dem Christentum zugewandt haben, sondern auch zwischen noch ganz heidnischen Völ-

kerschaften.

Und bei dem Herero-Aufstand in Deutsch-Südwestafrika, wo Ausbeutung und Erpressung einerseits so furchtbar geahndet wurde, oft an Unschuldigen durch dieTücke auf der andern Seite, da hat sich doch die Kraft Christi herrlich gezeigt, daß in der wildesten Empörung die Missionare geschont wurden und ruhig wohnen durften wie mitten im Frieden! Was muß das für eine Kraft der Sanftmut sein, die sogar da triumphiert, wo in halbvertierten, durch Alkohol ruinierten Menschen Rache undVergeltung das einzige Gesetz sind. Und sogar da, wo der wilde Wahn die sanftmütigen und stillen Menschen erschlägt, die nicht kommen, um zu holen, sondern um zu bringen, triumphiert dennoch das Wort: «Mir ist gegeben alle Gewalt!»

Mir istgegeben alle Gewalt

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Denn es ist ja dasWort eines Gestorbenen, eines Gemordeten, der dennoch lebt; so muß es triumphieren in denen, die mit ihm begraben sind in demselben Tod und gerade durch ihren Tod weiterleben und weiterwirken. Wir wissen es alle, daß oft erst die Kreuze sich häufen müssen auf der fernen, meerumbrandeten Düne oder unter dem großen, einsamen Baum, ehe das Kreuz Christi über dem neuen Lande aufgeht, und daß Menschen sterben müssen, um andere von dem geistigen Tode zu befreien. Aber was kann die Kraft der um Christi willen Gestorbenen aufhalten? Welche Erde ist so hart, daß sie das schwache Gräslein des keimenden Saatkorns kann hindern, hervorzubrechen? «Darum gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker!» Alle menschlichen Berechnungen und Erwägungen von verlorenem Geld und Menschenleben versinken in nichts. Mag auch ein bekehrter Heide, wenn man es ausrechnet, noch so teuer zu stehen kommen, wie heißt es in der Schrift? «Ihr seid teuer erkauft» [I Kor. 6,20]. Warum soll die Schrift die Wahrheit nicht reden? Ich muß lächeln, wenn ich höre, die Mission könne erst in den Spuren der europäischen Zivilisation einhergehen und erst dann Ersprießliches leisten, wenn europäische Gewalt draußen geordnete Verhältnisse geschaffen habe. Als der Knabe David auszog zum Kampf wider den Riesen Goliath, lieh ihm König Saul seine Rüstung. Wenn David sie anbehalten hätte, wäre er von Goliath erschlagen worden. So zog er sie aus und siegte ohne Helm und Panzer mit der Schleuder. Ein Gleichnis für die Mission. «Darum gehet hin in alle Welt.» – Wenn ich als Kind diesen Spruch bei den Taufen in der Kirche hörte, kam ein Heimweh über mich, ein Heimweh nach einer unbekannten Ferne, wie es uns auf hohen Bergen befällt. Und wenn ich dasWort wieder lese, immer wieder kommt diesesHeimweh. Es gibt wohl kaum einen unter uns Geistlichen, der dieses Heimweh nicht kennt, der es nicht erfährt heute, wo er über Mission predigt. Es ist keiner unter uns, den man nicht morgen an der Stelle, die er innehat, ersetzen könnte, und draußen fehlen die Arbeiter. Manchmal frage ich mich, ob nicht welche unter uns sind, die mit Menschengründen die Stimme überhören: «Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will» [Gen. 12,1]. «Und lehret sie halten alles, wasich euch befohlen habe.» Wir schicken Menschen hinaus, die gerade das Gegenteil von dem halten, was er befohlen hat.Wenn nur unsere Kaufleute draußen etwas christlicher wären und nicht manchmal derAbschaum der christlichen Gesellschaft auf die heidnischen Stämme losgelassen würde und das Christentum für ganze Generationen dort verworfen und unmöglich machten! Kongo! Was für namenloses Elend und namenlose Schande steckt doch in diesem einen Wort! Kongo, das Land des Kautschuks! Wenn die Gummiräder der

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Automobile, die über unser Pflaster gleiten, erzählen könnten! Es wären Geschichten lautlosen Elends und stummer Qual derjenigen, die den Rohstoff zu diesen Rädern an der Station im Urwald abliefern mußten. Darum gleiten diese Räder so lautlos über das Pflaster dahin, weil sie nichts verraten dürfen vonjenem erstickten Elend im dunkeln Afrika. Es kommt mir vor, als hätte ich nicht für euch gepredigt; denn wenn ihr mich nun fragt: Was sollen wir tun? ist meine Antwort zu klein. Ich möchte sagen: «Gehet hin in alle Welt!» Ich möchte zu manchem Studenten, den ich kenne, sagen: Suchen Sie Ihren Platz nicht in einem unserer Dörfer, sondern draußen in der Welt. Ich möchte von meinen Lieblingskonfirmanden aussondern zu dem Dienste der Mission; aber ich darf es nicht. Denn um die Menschen aus ihrer natürlichen Bahn zu werfen, muß man ein großer Mensch sein und Vollmacht haben. Niemals fühlen wir es mehr als an diesem Tage, wo unser Blick über die ganze Welt schweift, daß wir bestallten Prediger nur reden können als die ehrbaren, bescheidenen Schriftgelehrten, die suchen zu erbauen diejenigen, die ihre Worte in Schwachheit annehmen, daß wir aber für die gewaltigen Worte desBefehlens, die mitwirken zur Umgestaltung der Welt, warten müssen auf die, welche größer sind denn wir und denen es gegeben ist, gewaltig zu predigen.|2¡ Daß ihr Geld geben sollt, wage ich euch hier nicht zu sagen, denn es ist etwas Selbstverständliches. Ich bin gewiß, daß die Mission alles Geld, das sie braucht, finden wird, und wenn sie zehnmal so viel braucht als jetzt. Ich sehe noch immer das Gesicht des Sekretärs der französischen Missionsgesellschaft, der vor mir stehend auf die Karte von Madagaskar deutete und zu mir sagte: Als diese Insel zu Frankreich kam, brauchten wir mit einem Mal fünfmal so viel Geld wie vorher: Wir haben es! So will ich meine Missionspredigt nur mit zwei bescheidenen Bitten beschließen als Antwort auf euer: Wassollen wir tun? Die erste: Hoffet! Wir müssen alle miteinander hoffen, daß unser HerrJesus Herr wird über dieWelt. Wir müssen miteinander hoffen gegen alles, was wir sehen, alles, was wir hören; denn wenn dasWerk der Mission nicht von einem übermenschlichen Hoffen getragen ist, hat es keine Kraft. Das andere: Wir müssen reden! Ich möchte euer Versprechen haben, daß ihr niemals duldet, daß in eurer Gegenwart gedankenlos und leichtfertig über Mission geredet wird, sondern daß ihr jedesmal die Men2 [AS-HB, S. 90 schreibt Helene Bresslau am 24. April 1905 vor ihrem nächsten Treffen mit Albert Schweitzer: «Und wir werden von der Predigt über die Mission sprechen, und Du wirst mir sagen, ob Du es in Wahrheit glaubst, daß Du nur ein glimmender Docht bist und nicht groß genug und nicht Vollmacht hast, Flammen zu entfachen, gewaltiglich zu reden, zu gebieten – die Menschen herauszureißen – freilich wenn Du sie hättest, dürfte Dir kein Zweifel mehr kommen und dann – müßtest Du voran gehen.»]

Jesus zu Nazareth

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schen, welche die Mission als etwas Unnötiges, Unnützes, Unzeitgemäßes mit einem geistreichen Wort abzutun glauben, zur Rede stellt und ihnen sagt, wasdie Mission ist undwassie will ... unddaß sie die Sühne ist für alle Gewalt und Frevel, welche Menschen, die den Namen Christi tragen, an ihren wehrlosen heidnischen Brüdern begangen haben.

Morgenpredigt Sonntag, 15.Januar 1905, St. Nicolai

Lk. 4,14–30: Jesus zu Nazareth|3¡ Ihr wißt, daß das Epiphanienfest, welches jetzt auf Weihnachten folgt und durch das Fest des Kindleins Jesus verdunkelt wird, wie ein Mond durch seine Sonne verdunkelt wird, das erste und größte Fest der Christenheit war. Man feierte darin die Offenbarwerdung Jesu als des Trägers desheiligen Geistes; man feierte denTauftag Jesu, wo er als erwachsener Mann demTäufer und den Harrenden bei ihm offenbar wurde als der, welcher derWelt helfen sollte. So wollen wir denn heute dieses alte Fest nachfeiern. Wird es ein Freudenfest sein? Ist denn Jesus unserer Welt, derWelt, die uns umgibt, offenbar geworden?

3 [Und Jesus kam wieder in des Geistes Kraft nach Galiläa; und das Gerücht erscholl von ihm durch alle umliegenden Orte. Und er lehrte in ihren Schulen undward vonjedermann gepriesen. Und er kam gen Nazareth, da er erzogen war, und ging in die Schule nach seiner Gewohnheit am Sabbattage und stand auf undwollte lesen. Da ward ihm dasBuch desPropheten Jesaja gereicht. Und daer dasBuch auftat, fand er den Ort, da geschrieben steht: «Der Geist des Herrn ist bei mir, darum daß er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, zu verkündigen dasEvangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden dasGesicht und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zu verkündigen dasangenehme Jahr desHerrn.» Und alser dasBuch zutat, gab er’s dem Diener und setzte sich. Und aller Augen, die in der Schule waren, sahen auf ihn. Und er fing an zu sagen zu ihnen: Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren. Und sie gaben alle Zeugnis von ihm und wunderten sich der holdseligen Worte, die aus seinem Munde gingen, und sprachen: Ist das nicht Josephs Sohn? Und er sprach zu ihnen: Ihr werdet freilich zu mir sagen dies Sprichwort: Arzt, hilf dir selber! Denn wie große Dinge haben wir gehört, zu Kapernaum geschehen! Tu also auch hier in deiner Vaterstadt. Er sprach aber: Wahrlich, ich sage euch: Kein Prophet ist angenehm in seinem Vaterlande. Aber in derWahrheit sage ich euch: Es waren viel Witwen in Israel zu Elias Zeiten, da der Himmel verschlossen wardreiJahre und sechs Monate, daeine große Teuerung war im ganzen Lande; und zu deren keiner ward Elia gesandt denn allein gen Sarepta der Sidonier zu einer Witwe. Und viel Aussätzige waren in Israel zu des Propheten Elisa Zeiten; und deren keiner ward gereinigt denn allein Naeman aus Syrien. Und sie wurden voll Zorn alle, die in der Schule waren, da sie dashörten, und standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn auf einen Hügel desBerges, darauf ihre Stadt gebaut war, daß sie ihn hinabstürzten. Aber er ging mitten durch sie hinweg.]

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Wir haben anWeihnachten uns gefreut mit den Hirten, den Kindern und den kindlichen Seelen, denen das Kindlein in der Krippe sich als der Heiland der Welt offenbarte. Am letzten Sonntag freuten wir uns mit der großen Heidenwelt, denen seine Herrlichkeit in unsern Tagen sich offenbart.|4¡ Und heute sehen wir ihn zu uns kommen: zu denen, die ihn schon kennen. Man sollte meinen, es ist die herrlichste Offenbarung, und siehe, es ist nicht so. Die Geschichte, welche unser Text erzählt, ist wahr; nicht nur weil sie sich einmal ereignet hat dort in Nazareth, sondern weil sie sich immer wieder wiederholt, wenn Jesus zu Menschen kommt, die sagen: Den kennen wir ja! Da ist es so schwer, daß er ihnen in seiner wahren

Herrlichkeit offenbar werde. Als der Prophet in die Schule trat, der Prophet, von dem ganz Galiläa seit einigen Wochen sprach, und, nachdem ihm das Buch gereicht, las und in holdseliger Rede die Schrift auslegte, da waren sie entzückt. Als es sich aber aus den hintersten Reihen nach vorn fortpflanzte: Der Prophet ist ja Josephs, des Zimmermanns, Sohn, da war er nur mehr der Mann, den sie schon kannten. Sie fragten nicht: Was kann er uns bringen, was kann er uns geben; sie kennen ihn nicht, wie er vor ihnen steht, sie kennen nur den Menschen, der ihnen vonJugend auf bekannt ist, sonst nichts. Die Leute, die ihn in Galiläa zum ersten Mal gesehen, als er dort in Kapernaum zum ersten Mal auftrat, die sich ganz dem Eindruck hingaben, den seine Worte auf sie machten, die hatten etwas von ihm, und die in Nazareth nichts – obwohl sie nicht schlechter und nicht besser waren – nur weil sie ihn kannten! So hat unsere den Christennamen tragende, im Christentum erzogene Mitwelt nichts von ihm, weil sie ihn von Jugend an kennt. Die herrlichen Worte der Evangelien sind einmal vor ihren Ohren vorübergerauscht, einmal durch ihr Gedächtnis hindurchgegangen, aber die Persönlichkeit des Herrn, die in diesen Worten gebannt liegt, hat keine Macht, sich ihnen lebendig zu offenbaren, weil sie ihn von Kindheit auf kennen. Sie kennen nur das Äußere wie die Nazarener von ihrem Landsmann, haben etwas von ihm in der Schule gehört, und darum ist es so schwer, daß er sich ihnen offenbaren kann, wie er wirk-

lich ist. Das ist ein geistiges Gesetz, an dem wir nichts ändern können, und es ist nicht einmal ein Trost für uns, daß das Gesetz schon zuJesu Lebzeiten in Kraft trat. So bleibt Jesus für sie ein Mensch, der holdselige Worte geredet – aber er offenbart sich ihnen nicht lebendig. UndJesus selbst fühlt, daß seine Macht gelähmt ist, weil sie ihn kennen und deswegen nicht kennen: Er kann keine Zeichen tun. In Kapernaum waren ihm Kräfte an 4

[Siehe S. 611.08.01.05.]

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ihm offenbar geworden, die er selbst kaum vorher geahnt, Kranke und Lahme gesundeten, durch seine Hand aus der Welt der natürlichen Schwachheit herausgerissen, und durch die Gewalt, mit der ihre Seele sich nach ihm sehnte, wurden die Schranken der Natur niedergeworfen. Hier nichts. Er ist ohnmächtig und kann keine äußeren Zeichen tun, die für seine Herrlichkeit zeugen. Und da er ihr Fordern fühlt, sagt er es ihnen selbst, daß er bei andern mehr vermag als bei ihnen, wie auch Elia nicht einer Witwe zu Israel half [I Reg. 17] und Elisa nicht einen der Aussätzigen seines Volkes, sondern den Syrer Naeman heilte [II Reg. 5]. Und auch darin ist das Evangelium bei uns wahr. Wir hören von denWundern, dieJesus verrichtet bei denen, zu welchen er als ein Unbekannter tritt. Wir wissen, daß Christus im Innern Afrikas ausRäuberund Mörderstämmen fromme Völker gemacht und auf Inseln der Südsee, die noch vor kaum zwei Jahrzehnten von Kannibalen bewohnt

wurden, sein Friedensreich aufgerichtet: durch seine Kraft allein. Wir haben nicht die Hoffnung, daß er ähnliche Wunder der Umgestaltung der Zustände bei uns vollbringe – die einzigen, die wir noch von ihm zu verlangen wagen. Es geht uns wie den Leuten von Nazareth: Wir hören von Wundern, und es geschehen keine bei uns. Wir wissen, daß er diese Menschenwelt um uns, die seinen Namen trägt, nicht umschaffen kann, nicht aus ihrem Geleise herauswerfen kann, daß neues Leben in sie kommt, daß er sie nicht von ihrer Blindheit heilen und von ihrer Lahmheit heilen und von ihrem Aussatz befreien kann, weil wir selbst in den Banden der ehrbar christlich-bürgerlichen Welt gefangen sind. Das fühlen wir, wenn wir so leben wollen, wie wir nach dem Evangelium leben möchten. Hast du es versucht, nur in einer Angelegenheit denWeg zu wählen nach dem Evangelium und dich zu richten nur nach dem, was du alsJesu Jünger tun wolltest, du bist kaum einige Schritte gegangen, so hat dich die Welt gefangen und mißverstanden und dich wieder in ihre bürgerlich-christliche Gewohnheit eingezwängt. Wenn ich bete: «Und erlöse uns von dem Übel» [Mt. 6,13], so denke ich manchmal an die Formen derWelt, in der unser Leben verläuft, und ich möchte bitten, daß der Geist Christi diese Formen sprengte und die Welt umschaffte, daß wir mehr betätigen könnten, was wir in uns tragen, daß wir uns freier als Christen bewegen könnten und nicht das Schauspiel immer wieder miterleben müßten, daß Menschen zugrunde gehen oder nutzlos und unbefriedigt über dieWelt gehen, weil sie durch unsere natürlichen gesellschaftlichen und bürgerlich-christlichen Zustände gelähmt sind, daß sie nichts an innerlicher Kraft ausgeben können. Aber diese Umgestaltung kann er bei uns nicht bewirken, denn Christus ist hier mit den alten Zuständen verbunden, in ihnen gefan-

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gengenommen wie dort Jesus, der vor ihnen steht, in der Erinnerung an den Knaben, den sie alle gekannt, gefangen und gebannt ist. Daß wir ohne äußere Wunder, ohne Hoffnung auf äußere Wunder seine Offenbarung suchen müssen, dasist es, was er uns auferlegt dafür, daß wir seinen Namen kannten schon mit dem Namen derer, die unsere Kindheit bewachten. Aber eines bleibt uns, und das ist zuletzt das Größte und Einzige: der Mensch. Ich meine, die Offenbarung, die wir alle suchen, das ist, wasdort jenen angeboten wurde, daß der Geist Gottes in einer menschlichen Wirklichkeit uns entgegentrete. Es genügt uns nicht, daß wir Jesus geistig in uns tragen und ihn geistig unfaßbar nahe fühlen, sondern wenn er uns nicht lebendig in Menschen entgegentritt, verbunden mit irdischer Wirklichkeit, daverschmachten wir. Das war ihnen angeboten worden zu Nazareth, den Geist Gottes in einem wirklichen Menschen zu erfassen. Und statt daß sie ihn ergriffen und mit ihm rangen und nicht ließen, bis er sie segnete [Gen. 32,27], ließen sie ihn davonziehen, ohne etwas von ihm zu haben. So lassen wir auch die Menschen ziehen, die uns ein Stück Christus geben könnten – weil wir sie kennen. Wir kennen sie, wie sie sind, wenn man auf der Straße mit ihnen spricht vom Wetter, von Geschäften, von Politik, wie man sich gibt als gute Freunde, als Kollegen, aber das, was sie in sich tragen, der Geist Christi, der in ihnen schafft und ringt und kämpft, dasbleibt uns verborgen. Und wenn nicht manchmal ein großer Schmerz oder eine gemeinsame Aufgabe, ein gemeinsamer Kampf uns fast gewaltsam zusammenbrächte, so daß auch das Innere sichtbar wird, so würden wir von Menschen wegsterben, die wir so nötig hätten zum geistigen Leben, ohne uns gefunden zu haben. Wir sehen vor uns nur immer den umwölkten Himmel, aber nicht den still glänzenden Himmel, den sie in sich tragen und der sichtbar wird, wenn die Wolken gewichen sind. Und wenn ich in einem Menschen ein Stück himmlische Welt entdecke, dann weiß ich, wie es ist, wenn man ein Wunder erlebt, und ich beneide diejenigen nicht, die Zeugen der Wunder Jesu waren, denn ich meine, es kann keine größeren geben als dieses. Kann es denn ein größeres Erleben geben, als wenn hinter einem Menschen, den wir kannten, weil wir seine Gestalt, seine Gewohnheiten, seine Ansichten, seine Interessen kannten, nun ein anderer Mensch erscheint, losgelöst von den irdischen Anschauungen und Gedanken, dieselbe Sehnsucht in sich tragend wie wir, dieselben Hoffnungen, dieselben Kämpfe, und wo wir nun fühlen, daß wir den verborgenen Weg, den unser geistiges Wesen geht neben dem sichtbaren Weg desLebens, nicht allein gehen, sondern andere denselben verborgenen Weg gehen? Wir sind alle geistig arm. Und doch ist es unendlich viel, was wir von einem andern empfangen, wenn wir nur für einen Augenblick

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etwas von seinem geistigen Leben erfassen, denn es ist nicht, was er selbst hat, sondern es ist ein Stück Christus, Christus selbst, der in ein

Menschenleben hineinragt.|5¡ Das ist dasWunder, nach dem wir suchen müssen, dasWunder, um daswir beten müssen als um daskostbarste Gut, welches das Leben uns bringen kann: ein Stücklein Christus in Menschen zu finden.|6¡ Wir sind so arm, weil wir so wenig voneinander haben. Ich beneide die ersten Christen nicht um die Apostel, ich beneide fast nicht einmal die, welche Jesus von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten, ich beneide sie nur um ihre Gemeinschaft, um das, was sie voneinander hatten, darum sie so reich waren. Es kam dieser Tage einer meiner früheren Konfirmanden zu mir und teilte mir mit, daß erjetzt sich zu einer der kleinen Sektengemeinschaften halte – er war ein fleißiger Kirchgänger gewesen – und dort so glücklich sei; ob ich nicht Böses daran finde? Ich beruhigte ihn und sagte ihm, er solle ruhig gehen, wohin er sich angezogen fühle, und ich fühlte, daß er dort suchte, was wir suchen, geistige Gemeinschaft, und daß er es dort leichter findet als bei uns. Habt ihr noch nicht darunter gelitten, daß wir aus der Kirche auseinandergehen, nachdem wir eine Stunde durch die Andacht zusammengehalten worden und unsere Gedanken dieselbe Richtung genommen, daß wir dann wieder auseinandergehen als fremde Menschen, bis es wieder Sonntag wird, und daß keine geistige Gemeinschaft aus diesem sonntäglichen Zusammenfeiern entstehe, die uns auch im Alltagsleben derWoche zusammenhält! Habt ihr nicht darunter gelitten, daß ihr allsonntäglich hier Menschen seht, von denen ihr manche gerne kennen möchtet und an die ihr eben doch nicht herankommen könnt, weil ihr nur Kirchenbekannte von Angesicht seid und ihren Namen nicht einmal erfahren könnt; und auf der Straße wagt ihr sie kaum zu grüßen und nicht anzureden – weil ihr eben nur Kirchenbekannte und nicht auch bürgerliche Bekannte seid. Was meint ihr, daß uns geistige Kraft und Erquickung verlorengeht, weil keine wahre geistige Gemeinschaft von der Kirche auf unser Leben übergeht? Unser Herr Jesus hat einmal gesagt, was für eine Bedeutung der Becher Wassers habe, mit dem man um seinetwillen jemand labe [Mt. 25,35]. DasWort hat aufgehört, seine natürliche Bedeutung zu haben, denn es verdurstet niemand mehr auf unsern Straßen. Aber wenn 5 [R] Wir sind wie die müden Soldaten, die nicht zur Schlacht kommen, sondern sich auf dem Marsch dahinschleppen durch eine dürre Gegend; denn es ist eine an Ideen arme Zeit.

6 [R] «Esstreit’t für unsder rechte Mann.» [Martin Luther: Ein’ feste Burg ist unser Gott, Str. 2.]

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ein ewiges Wort seine natürliche Bedeutung verliert, dann gewinnt es eine geistige. Die geringste geistige Labung, die du einem Menschen gibst, den du dürstend triffst, die will dir der Herr Christus selbst lohnen; undwer dich tränkt, dem soll es ebenso gelohnt werden. So bekommen wir die ganze geistige Kraft und Herrlichkeit Jesu, die von seinem irdischen Dasein lebendig in derWelt ist und sich gemehrt hat, von den Menschen, die uns geistig etwas sind. Das Wort der Offenbarung seiner Herrlichkeit für uns Nachgeborne ist: «Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen» [Mt. 18,20]. Und wenn ihr wollt, daß er euch offenbar werde und euch aus dem Leben entgegentrete, laßt nicht die Menschen ziehen, von denen ihr etwas empfangen könnt, und entzieht euch nicht denen, denen ihr selbst etwas Geistiges geben könnt. Und wenn ihr in diesem Augenblick an Menschen denkt, von denen ihr etwas empfangen, und an solche, denen ihr in aller Unvollkommenheit etwas durftet geben, so dankt

Gott dafür.

Nachmittagspredigt Sonntag, 5. Februar 1905, St. Nicolai Gedenkfeier für den 200. Todestag Speners

Apk. 14,13: Selig sind dieToten, die in dem Herrn sterben|7¡

Es sind heute, am 5. Februar, zweihundert Jahre, daß einer der edelsten Söhne unseres Landes, Philipp Jakob Spener, zu Berlin verschied. Er gehörte zu denen, die unter unser Textwort fallen: «Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an.Ja, spricht der Geist, daß sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach.» Er war wirklich einer von denen, denen, nachdem sie zur Ruhe gegangen, ihre Werke nachgefolgt sind. Er hat kaum können übersehen, was er in seinem bescheidenen Leben gewirkt. Wir können es ausmessen an den Werken, die sein Geist in den zweihundert Jahren, die seit seinem Tode verflossen sind, gewirkt hat. Darum möchte ich diese Nachmittagsstunde seinem Andenken zu unserer Erbauung weihen. Sein Leben ist eine Predigt an

uns. Spener war geboren zu Rappoltsweiler anno 1635 mitten unter den Stürmen des Dreißigjährigen Krieges. Er empfing fromme Eindrücke nicht nur in seinem Elternhause, sondern auch von seiner Patin, der Gräfin von Rappoltstein. Nachdem er in Straßburg und Genf studiert, 7 [von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach.]

Selig sind die Toten

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kam er, einunddreißig Jahre alt, als Hauptprediger nach Frankfurt und verblieb dort zwanzig Jahre. Von dort wurde er nach Dresden als Hofprediger berufen, blieb aber nur wenige Jahre in dieser Stellung und kam dann nach Berlin an die Nikolaikirche, wo er vierzehn Jahre noch bis zu seinem Tod in Segen wirkte. Dies der äußere, glänzende Gang dieses Lebens. Aber was es so reich und groß macht, das sind nicht die hohen Stellungen, in denen sich Spener befand, sondern der innere, geistige Reichtum desTrägers des Amtes und die ernste, stille Frömmigkeit desPredigers. Spener war kein Gelehrter, er war nicht einmal ein glänzender Redner, wie er es selbst beklagt. Aber er hatte immer eine Frage, die seinen Sinn bewegte: Was tut uns not? Und nur eine Antwort: Herzensfrömmigkeit. Damit ist alles gesagt, waser erstrebte, waser wirkte, waser an Anfechtungen durchmachen mußte. «Vergeßt das eine nicht, was not tut: die innere, wahre Frömmigkeit.» Das war sein erstes und letztes Wort. Dadurch wurde er manchen ein Helfer und Erretter, andern ein Stein desAnstoßes. Man warja fromm in jener Zeit, mehr denn zuje einer andern. Die Frömmigkeit war gewissermaßen eine bürgerliche Tugend und das Kirchengehen eine Pflicht, die niemand versäumte. Aber es war gar viel eitles, äußerliches Wesen in dieser Frömmigkeit. Statt einfach das Wort Gottes zu predigen, stritten die Prediger auf den Kanzeln über den wahren Glauben und glaubten, Seelen zu retten, wenn sie wider die Katholiken, Juden und Calvinisten predigten. Der Unterricht der Jugend im Katechismus lag darnieder. Die meisten Pfarrer hielten ihren Konfirmandenunterricht nicht selbst, sondern hatten Helfer angestellt, die oft selbst nur notdürftig lesen konnten und deren ganzer Unterricht darin bestand, die Kinder den Katechismus auswendig lernen zu lassen. Die Studenten des Pfarramtes, statt daß sie sich in die Bibel vertieften, übten sich im Disputieren über theologische Streitfragen. So war das Licht des Evangeliums, das Luther wieder auf den Leuchter gestellt hatte, heruntergebrannt und schien zu verlöschen. Wohl fühlten manche die Schäden der Kirche hinter dieser äußerlichen Frömmigkeit, aber sie schwiegen, denn Gott hatte den Sprecher noch nicht erweckt. Es war Spener. Merkwürdig war auch hier dieWahl Gottes. Einen stillen, schüchternen Menschen hatte er sich erwählt und ein schlichtes, ängstliches Gemüt zum Kampfe für das Evangelium bestimmt. Dieser Mann sollte auftreten in Frankfurt, in Dresden, in Berlin als Richter und die Leiter der Kirche zurechtweisen. Aber gerade diese Schlichtheit und Einfalt war seine Stärke. Er hatte viele Feinde, leidenschaftliche Feinde, aber sie wurden zuletzt immer wieder bezwungen von seiner Herzenseinfalt. Sie fühlten, daß, wenn er seine Stimme erhob, er eben nicht anders konnte, weil er sprechen

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mußte, daß kein persönlicher Stolz, keine Eitelkeit ihn hervortreten ließ. Darum respektierten ihn die Pfarrer zu Frankfurt, obwohl er der Jüngere war, während der zwanzig Jahre, die er dort war. Der Kurfürst zu Sachsen, dem er als Diener Gottes Vorhaltungen wegen seines leichtfertigen Lebens machte, wagte nichts wider den unerschrockenen Mann

zu tun. Soll ich’s mit einem Worte sagen, was ihn groß und stark machte: Es war die Lauterkeit seiner Gesinnung. Mehr als seine Worte wirkte sein Leben. Er erweckte die Menschen. In allen Ständen sammelten sie sich, seine Erweckten, die Menschen, die nach Herzensfrömmigkeit sich sehnten. Sie taten sich zusammen, um die Bibel zu lesen und um sich gegenseitig zu erbauen. Man nannte sie spottend die Pietisten und ihr Wesen mag auch wohl zum Spott Anlaß gegeben haben, und Spener selbst hatte manchmal Angst, daß diese Versammlungen ausarteten. Aber es war doch wieder wahre Herzensfrömmigkeit in der Welt, ein Sauerteig, der bestimmt war, den ganzen Protestantismus zu durchsäuern. Die zukünftigen Prediger ließen ab von den öden Übungen im Disputieren und lasen und studierten die Bibel. Und die Kinder wurden nicht mehr vernachlässigt, sondern ein ernster Unterricht trat an die Stelle desgeistlosen Auswendiglernens. Spener selbst ahnte gar nicht die gewaltige Umwälzung, die sich im Protestantismus durch ihn vollzog. Er starb mitten in den Kämpfen. Und auch die, die nach ihm kamen, die sahen nicht, was er gewirkt. Erst heute können wir es beurteilen, was wir ihm verdanken. Wir erst sehen, wie im Lauf von zweihundert Jahren der ganze Teig von dem Sauerteig seiner Lehre und seines Geistes durchsäuert ist, und wie wir alle, welcher Richtung wir auch angehören, ihm viel verdanken. Manche haben ihn den zweiten Reformator genannt und gesagt, erst durch ihn sei die Reformation vollendet worden. Ist es nicht so auch im Reiche der Natur? Wenn der Pflug zum ersten Mal über dasFeld gezogen wird, dann dauert es nicht lange, und das Unkraut wächst nach, und es muß zum zweiten Mal gepflügt werden. So war es in der Reformation: Spener pflügte zum zweiten Mal, nachdem Luther zum ersten Mal gepflügt. Aber wir wollen nicht nur zurückblicken, sondern den Blick vorwärts richten. Von dem, was Spener verlangte, ist noch vieles unausgeführt und übriggeblieben, daß wir es verwirklichen. Vor allem eines, was er immer wieder betont, worin er die Zukunft des Protestantismus sieht: dieVerwirklichung des allgemeinen Priestertums, daß nämlich in der Kirche Christi nicht nur die Pfarrer tätig sind in derArbeit desReiches Gottes, sondern daß sich alle in gleicher Weise, jeder nach seinen Gaben, an dieser Arbeit betätigen. Ein lebendiges, einfaches Christentum, das alle Glieder der Gemeinde erfaßt, wo jeder tätig ist in seiner Art, jeder gebend mit seinen

Man zündet auch nicht ein Licht an623

Gaben, keiner nur empfangend, das war sein Traum, das ist der Traum von uns Predigern allen, denn wir fühlen esje mehr und mehr, daß die Schwäche des Protestantismus darin besteht, daß den Pfarrern keine Helfer aus der Gemeinde zur Seite stehen, daß unser Gemeindeleben nicht lebendig ist. Lebendige Gemeinden zu schaffen, deren Glieder durch wahre Frömmigkeit verbunden sind, das schwebt uns vor. Wir sind wie Offiziere ohne Armee, wenn wir die Arbeit desReiches Gottes allein tun sollen, und können nichts erreichen. Und in welchem Geist sollen wir denn dieses Ziel verfolgen, lebendige Gemeinden zu gründen? Nicht mit großen Plänen, nicht mit großen Reden, sondern in bescheidener, stiller Arbeit, wie sie unseben unser Elsässer Pfarrer Spener gezeigt hat, nicht als die, die auf den Erfolg des Augenblicks sehen, sondern als die, die wissen, daß die Kraft jeder Arbeit, die für Christus geschieht, gerade in der Bescheidenheit und der Stille liegt. Möge Gott uns helfen, daß wir etwas beitragen können zur Ausbreitung der wahren Frömmigkeit auf Erden und uns segnen als die Fortsetzer der Arbeit seines Knechtes Spener, dessen Werk er sichtbar gesegnet hat vor unser aller Augen.

Morgenpredigt Sonntag, 12. Februar 1905, St. Nicolai

Mt. 5,15: Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter, so leuchtet es denn allen, die im Hause sind Ich sehe noch unser Licht imVaterhause. Man zündete es an, ehe es ganz dunkel wurde, und es stand auf einem vorspringenden Mäuerchen an derTreppe. Wennjemand etwas in einem Zimmer oder im Keller zu besorgen hatte, kam es vor, daß er das Licht nahm, statt sich eine Kerze in der Küche zuholen. Dann hieß es:Wer hat wieder dasLicht weggenommen? Und derVater war unwillig und sagte, er wolle nur sehen, wann er es einmal dahinbringe, daß man dasHauslicht stehen lasse. Als ich dann zum ersten Mal den Spruch hörte: «Niemand zündet ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter, so leuchtet es allen denen, die im Hause sind», verstand ich ihn sogleich, denn ich dachte an das Licht auf demTreppenmäuerchen und an

seine Bedeutung. Nur stand im Spruch nichts, daß man das Licht aus Bequemlichkeit, ein anderes anzustecken, wegnehme, sondern daß man es unter einen Scheffel stellte. Das hatte ich noch nicht gesehen. Das tat sogar unsere Magd nicht, mit der der Vater immer wieder von neuem den Kampf wegen desTreppenlichtes kämpfen mußte. Und wenn ich beim Bäcker

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oder in der Mühle einen Scheffel sah, fragte ich mich, wie man denn darunter ein Licht stellen könnte, wie überhaupt jemand auf die Idee kommen könnte, etwas so Unnatürliches und Sinnloses zu tun. Jetzt aber verstehe ich das Gleichnis, denn ich sehe, daß wir alle im Geistigen das Unnatürliche wirklich tun, vor dem uns der Herr im Gleichnis warnt: daß wir nämlich unser geistiges Leben in uns verbergen, daß die Menschen, die mit unsleben, nichts davon haben. Wir sind so arm, weil wir geistig nichts voneinander haben, das sagte ich euch in meiner letzten Morgenpredigt, als ich euch auslegte, wie die Leute ausNazareth Jesus, als er zu ihnen kam, ziehen ließen, ohne etwas von ihm zu haben, nur weil sie ihn kannten.|8¡ Heute möchte ich jenen Gedanken fortspinnen und fragen, warum wir so sind, und was wir dagegen machen müssen. Warum wir so sind? Weil unsere Zeit so ist. Als Zola in seinem «J’accuse» die Regierung und die Generale der Ungesetzlichkeit gegen Dreyfus beschuldigte und vor Gericht gestellt wurde, da warf der Vorsitzende jedesmal, wenn die Frage aufgeworfen wurde, ob es denn wirklich bei derVerurteilung von Dreyfus streng gesetzlich zugegangen sei, sein «La question ne sera pas posée» dazwischen, und man redete und diskutierte, ohne die Hauptsache, auf die alles ankam, die Angelegenheit, die alle innerlich bewegte, zu berühren. So waltet wie ein unsichtbarer Geist über unserer Zeit und verhindert die Menschen, wenn sie miteinander reden und verhandeln, auf dasWichtigste, auf die geistigen Fragen, die sie bewegen, zu sprechen zu kommen. Als Kinder unserer Zeit haben wir alle diese Scheu, die tiefsten Fragen mit andern zu berühren. In dieser Scheu, die uns wie eine Krankheit anhaftet, liegt zunächst etwas Berechtigtes. Ein Mensch, für den die Musik ein schöner Zeitvertreib ist wie ein anderer, der kann Musik hören in einem Biergarten, während die Gläser klingen und die Menschen reden. Wer aber die Musik in ihrer Tiefe empfindet, der kann das nicht mitmachen. Es ist für ihn Profanation. Wenn er der Sprache der Töne lauscht, muß Weihe und Schweigen über dem Ganzen schweben. So haben wir auch mehr Angst, die Religion zu entweihen, als irgendeine Zeit vor uns. Sie ist für uns nicht mehr so in die Dinge des natürlichen Lebens hineingemischt wie für die früheren Geschlechter. Wir reden davon nicht mehr mit Unbefangenheit, sondern möchten, was wir geistig erleben, in uns verschließen, und wenn wir etwas davon preisgeben an einen andern, müssen wir uns selbst vergewaltigen. In diesem Sinne ist dasWort «Religion ist Privatsache» wahr geworden. Ich hatte einen Studiengenossen, einen der lautersten und reinsten Menschen, die ich kenne. Wir standen beide nicht fern vom Examen. 8

[Siehe S. 615. 15.01.05.]

Man zündet auch nicht ein Licht an

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Da überraschte er mich eines Tages, indem er mir sagte, er könne nicht Pfarrer werden, weil er seine innersten Gedanken nicht mitteilen könne. Er ist es auch nicht geworden. Mich aber erfaßte ein Schreck, ob ich es einst über mich vermöchte, und ich habe es nur langsam unter vieler Selbstüberwindung gelernt und muß noch jedesmal darum kämpfen. Darum verstehe ich, wenn wir, die wir an heiliger Stätte zu geweihter Stunde unsere Gedanken über Religion nur unter Kämpfen aussprechen, daß es euch so schwer ist, eure Gedanken andern preiszugeben. Zum zweiten verbergen wir dasLicht unserer Gedanken, weil wir bescheiden geworden sind. Wir haben immer Angst, daß unsere Gedanken größer sind als unser Leben, daß man sie dann an unsern Taten mißt, an unserer Schwachheit zerbricht und sie uns im Augenblick selbst oder später einmal höhnend vor die Füße wirft. Wir haben einen großen und ernsten Begriff von der Wahrhaftigkeit wie Menschen, die früh alt sind, weil sie in einer alten Zeit geboren. Aus dem jahrhundertelangen Ringen der christlichen Idee haben wir erkannt, daß etwas wahr ist, nicht weil es an sich wahr ist, alswahr überliefert ist, sondern nur wenn es von dem Menschen, der es mitteilt, erlebt und gelebt ist. Wir fühlen, daß jedes Wort über Religion jedesmal neu wahr werden muß durch das Leben dessen, der es ausspricht. Wir haben eine Angst vor der religiösen Phrase und unsbangt, daß unsere geistigen Gedanken, wenn wir sie andern mitteilen, zur Phrase werden durch sie undwir so den Besitz, von demwir leben wollten, verloren haben. Ich las letzthin im Protestantenblatt einen Artikel, worin sich ein gebildeter Kirchgänger beschwert, daß wir Prediger uns zu sehr in rhetorischen Allgemeinheiten bewegen, statt daß wir als schlichte Menschen einfach und schmucklos sagen, was wir über das Evangelium denken und was uns innerlich bewegt. Ich auch finde, daß wir Prediger gar oft unser Licht unter den Scheffel stellen und das Beste und Wahrste, was wir sagen könnten, verschweigen und dafür eine unpersönliche, unlebendige Darstellung desTextes geben. Warum? Weil wir uns zu klein fühlen, anders zu predigen. Habt ihr schon bedacht, was dazu gehört, wahrhaftig über Liebe, Barmherzigkeit undVergeben zu predigen, und wie wir dasHerrlichste, was wir darüber sagen könnten, zurückstellen müssen, weil unser Leben und das, was die andern von unserm Leben wissen, uns kein Recht dazu gibt? Dann müssen wir in allgemeinen Gedanken uns bewegen, damit wir nicht mehr sagen, als wir dasRecht haben. So gehen wir Menschen unserer Zeit aneinander vorüber und verschließen in Befangenheit unsere Gedanken voreinander. Man sagt, unsere Zeit sei irreligiös, weil man nicht von Religion miteinander spricht. Und ich meine, sie ist so religiös wie je eine; sogar die irreligiösen Menschen unserer Zeit sind religiös. Nur verschließt jeder sein

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Licht. Es wird heller um unswerden, wenn wir diese Scheu voreinander überwinden. Aber wie kommen wir dazu, in geistigen Dingen natürlich gegeneinander zu werden? Ich kann euch darüber nicht mehr sagen, als ihr wohl schon bei euch selbst gedacht, undich wage es fast nicht, denn es ist so wenig. Und doch glaube ich, daß es eine Bedeutung hat, wenn ich öffentlich, gewissermaßen in eurem Namen, uns sage, wasjeder bei sich selbst schon oft gedacht hat, und daß gerade, wenn wir laut miteinander darüber nachdenken, schon etwas Gemeinsames zwischen uns geschaf-

fen ist.

Zuerst, meine ich, müssen wir einander Mut machen zur Aussprache. Wir haben alle Angst, daß unsere Gedanken, wenn wir sie andern aussprechen, profaniert werden. Aber es gibt eine Art, Vertrauen bei einem andern zu erwecken, daß er, wenn der Augenblick sich findet, es dann wagt, seine Gedanken preiszugeben. Etwas von Hochachtung und Ehrfurcht vor dem geistigen Wesen und Erleben des andern soll in unserer ganzen Art, mit ihm zu sein, sich bemerkbar machen. Wir müssen einander entgegenkommen und, ehe wir miteinander sprechen können, uns fühlen lassen, daß einer es von dem Geist des andern ahnt, daß er über die Dinge desalltäglichen Lebens hinausstrebe. Siehe, eine undefinierbare Art Ehrfurcht vor dem innersten, unbegreiflichen Wesen des andern ist die Grundlage aller Verhältnisse zwischen den Menschen, der Freundschaft und der Liebe, so auch der geistigen Gemeinschaft. Darum laß die Menschen um dich diese Ehrfurcht fühlen. Es liegt so viel Unausgesprochenes drin, das vielleicht einmal

ausgesprochen wird. Ein junger Pfarrer erzählte mir von seinen Antrittsbesuchen in seiner Gemeinde. Sie waren alle sehr freundlich, sagte er, aber sie haben mich nur als Besuch behandelt. Sie fragten mich, wie mir der Ort gefalle, ob meine Frau schon vollständig eingerichtet sei, ob ich den undjenen von ihren Bekannten kennte, aber keiner ließ mich fühlen, daß ich als Pfarrer zu ihm gekommen war, und da brachte ich nichts heraus und ging eben fort als ein Herr, der einen Besuch gemacht hat, und habe alle gesehen undvon keinem etwas gehabt, und sie nichts von mir. Unter den Gliedern dieser Gemeinde waren sicher viele, die erfreut gewesen wären, wenn der Pfarrer nicht in den Besuchsbanalitäten stehen geblieben wäre, sondern sie ein bißchen von seinem Herz und Geist hätte sehen lassen, aber sie waren nicht natürlich genug, ihm Mut zu machen, und verschlossen ihm so den Mund, ohne es zu wissen. So verschließen sich die Menschen manchmal den Mund für die ganze Zeit, die sie im Leben nebeneinander hergehen, Gatten, Eltern und Kinder, Freunde, Kollegen, weil sie sich nicht durch das Merkenlassen dieser inneren Ehrfurcht Mut machen. Ihr wißt alle, daß das

wahr ist.

Man zündet auch nicht ein Licht an

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Zum zweiten: Laßt die Gelegenheit nicht vorübergehen, wo ihr mit den Eurigen zusammen durch gemeinsame Ereignisse, Freude oder Schmerz, aus dem alltäglichen Leben herausgehoben seid, und ihr zusammengeführt seid, miteinander auf etwas Höheres zu blicken. Im geistigen Leben, nicht anders als im gewöhnlichen, gibt es Augenblicke, die so nie wiederkommen. Und wenn er vorüber ist, ohne daß dasWort kam, das er sollte zwischen denen, die vereinigt waren, hervorbringen, dann war dasEreignis umsonst gewesen. Es gehen Menschen fremd im Geistigen aneinander vorüber, weil sie vergebens, ohne sich auszusprechen, an einem Totenbett miteinander gestanden; es gehen Ehegatten fremd nebeneinander her, weil sie als Verlobte nur kosten und keines den Entschluß faßte, von den höheren, geistigen Gedanken, die es bewegten, zu reden. Und weil sie in den großen Freudens- und Leidensaugenblicken stumm waren gegeneinander, bleibt ihnen der Mund doppelt geschlossen im alltäglichen Leben. Die aber, welche dort den Mut faßten, sich einander zu offenbaren, die sind verbunden durch ein heiliges gemeinsames Band, welches kein alltägliches Nebeneinandersein mehr lösen kann, und verstehen sich jetzt ohneWorte. Ihr denkt wohl jetzt zurück an vieles, was ihr umsonst mit Menschen erlebt, und doch nicht nur an diese, sondern auch an solche, die ihr nicht umsonst erlebt, sondern wo euch das Meer etwas an den Strand spülte, dasihr als etwas Kostbares bargtet. Zum dritten: Fürchtet euch nicht zu sehr, mißverstanden zu werden und in eurem Innersten verletzt zu werden. Oft, wo ihr am meisten fürchtetet, mißverstanden zu werden und das, was ihr von euren Gedanken preisgabt, mit Spott aufgenommen zu sehen, werdet ihr Verstehen finden, mehr, Dank ernten. Ihr wißt gar nicht, wie die Menschen hungrig und durstig sind nach etwas Geistigem, das sie nicht in einem Buche lesen, sondern das ihnen ein Mensch als seinen erlebten Gedanken darbietet. Und wenn sie gar nicht danach aussehen, sie sehnen sich danach, daß einer das Schweigen bricht. Wenn sie oberflächlich und spöttisch reden, so ist es, daß sie sich nur mehr sehnen und sich über ihr Sehnen hinwegtäuschen wollen. Drum seid mutig. Und wenn ihr meint, daß es der Augenblick sei, einen Gedanken eures Herzens preiszugeben, tut es ohne Angst, denn es ist eure Pflicht, und ihr wißt nicht, wasihr für Segen und Freude davon

haben werdet. Enttäuschungen und Verletzungen können euch nicht erspart werden. Das ist das Schwerste zu tragen, wenn man christlich handeln wollte in einem Fall, wenn man freudig war, das Rechte getroffen zu haben, und dann die Menschen, die man ins Herz sehen ließ, höhnen und spotten sieht. Aber dasist ein Stück von Christi Leiden, daswir ertragen müssen, und wenn wir im Augenblick meinen, dieWunde könne

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Predigten

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nicht heilen. Ich meine, das war die größte Qual unseres Herrn, der Hohn der Menschen, denen er sein Herz gegeben. Der aber, der am meisten die Schmach Christi trug, St. Paulus, der hat auch am meisten hier darunter gelitten. Wollt ihr wissen, welche Scham und welcher Schmerz ihn peinigten, den Menschen sein ganzes Herz preisgegeben zu haben, dann lest die dunkeln Kapitel der beiden Briefe an die Korinther. Darum ist es allen bestimmt, die etwas von Christi Geist der Welt mitteilen wollen, also auch zu leiden. So wundert euch nicht, wenn es euch begegnet, als widerführe euch etwas Fremdes. Wenn ich noch etwas sagen darf, so wäre es: Bleibt einfach. Es ist mir, als meinten die Menschen, sie müßten von hohen Dingen in einer fremden, erhabenen Sprache mit angelernten Ausdrücken reden. Sie umhüllen ihren Gedanken mit einem wallenden Mantel und kommen so den andern fremd vor. Sagt alles einfach, wie ihr es empfindet, mit euren Worten, und wenn sie noch so unbeholfen sind. Dann erst geht euer Gedanke lebendig und Leben weckend von euch aus. Das ist’s, waswir einander zu sagen hatten. Ihr fühlt, wie unvollkommen es ist; und ich fühle es noch mehr wie ihr. Wie gern möchte ich euch mehr geben. Wie gern möchte ich euch machtvolle Worte geben, die wie eine Kraft umgestaltend und bereichernd in euch wirkten. Und ich kann nicht mehr, als in Einfalt sagen, worüber ihr euch schon Gedanken gemacht habt, undwaseuch bewegt. Es sind mancherlei Gaben. Die Menschen, denen es gegeben ist, nicht befangen zu sein, sich auszugeben an andere, Feuer aus ihnen zu schlagen, sind zu beneiden. Sie sind wirklich zu beneiden, diese Menschen, deren inneres Leben aus ihnen unverdeckt ausstrahlt, und die Leben wecken, wohin sie kommen. Wir aber müssen uns bescheiden. Wenn wir auch nicht alle so sein können wie die Menschen dieser Art – ich denke hierbei an manche einfache Menschen, von denen ich viel empfangen habe – , so wollen wir doch eine Anstrengung machen, nicht so befangene Menschen zu bleiben, die dasUnnatürliche tun, wovor der Herr im Gleichnis warnt, und nicht unser inneres Leben so zu verschließen, daß kein Strahl unseres inneren Lichtes aus uns hindurchscheine. Und ich glaube, wenn wir eine wirkliche Anstrengung machen, werden wir glücklicher und reicher werden, als wir sind – über alle Maßen reich.

Lasset euch die Hitze

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Nachmittagspredigt Sonntag, 26. Februar 1905, St. Nicolai

I Petr. 4,12 f.: Lasset euch die Hitze|9¡ Wir sind manchmal betrübt, daß wir nicht mehr alle Worte der Schrift so auf uns anwenden können wie diejenigen, an welche die Apostel schrieben. Stellt euch vor, wie dasWort, welches wir soeben verlesen haben, in der Zeit derVerfolgung wirkte, wo es sich von selbst lebendig erklärte, lebendiger als irgendein Prediger es auslegen könnte. Wie würden wir es verstehen, wenn wir zusammen etwas für den Namen Christi

leiden müßten.

Es will uns gar nicht in den Sinn, es auf uns selbst, auf die kleinlichen Leiden und Plackereien, die wir mitnehmen müssen, anzuwenden. Wir möchten am liebsten sagen, die Religion habe damit nichts zu tun. Aber was mit ihnen anfangen, mit den Widerwärtigkeiten, die uns in unserm Amt und in unserm Haus begegnen, mit so vielen kleinen Dingen, die wir hinunterschlucken müssen, mit den Mißhelligkeiten und den bösen Gesinnungen, die uns oft gerade das Schönste an unserm Leben verderben? Wir möchten sie vergessen und können’s nicht; wir glauben, damit fertig zu sein, und es ist wieder von vorn anzufangen; wir haben sie ins Meer versenkt, und sie schwimmen wieder obenan. Es ist falsch, wenn wir meinen, wir könnten es von unserm christlichen Leben loslösen, weil es klein und gering ist. Denn die Bitterkeit, die es erzeugt, lastet auf unserm Herzen, undjeder gute Gedanke, der aus dem Herzen emporsteigt, geht durch jene Atmosphäre der Bitterkeit hindurch, wird damit getränkt, unddasmacht unsdann zum Guten untauglich. Diese innerliche Verbitterung ist wie eine schleichende Krankheit, die langsam auch den besten Menschen zum Guten kraftlos macht. Es darf aber in unserm Leben nichts sein, das wir nicht im Lichte Christi betrachten. Wir müssen auch die kleinsten Falten unseres Lebens auseinanderlegen, damit das Licht Christi hineinscheint. Da heißt es, lernen und wieder lernen, kämpfen und wieder von vorn anfangen. Wenn dein Herz anfängt, sich zu beschweren, wenn es bitter über die Menschen denkt und gar sinnt, wie es Vergeltung übe, dann mußt du ihm sagen: Mein Herz, schau doch auf Christus! Und damit die bösen Gedanken gebannt werden, mußt du die Hände falten. Aber dazu müssen wir uns zwingen. Denn was wir am liebsten tun, das ist dann, uns 9 [, so euch begegnet, nicht befremden (die euch widerfährt, daß ihr versucht werdet), als widerführe euch etwas Seltsames; sondern freuet euch, daß ihr mit Christo leidet,

auf daß ihr auch zur Zeit der Offenbarung seiner Herrlichkeit Freude undWonne haben möget.]

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Predigten

desJahres 1905

den Menschen mitzuteilen, ihnen von unserm Ärger zu reden. Wie wenig Menschen verstehen, uns dann zu besänftigen. Gewöhnlich ist’s, wie wenn ein Feuer, das bisher nur qualmte, plötzlich durch eine Öffnung Zug bekommt und hell lodernd um sich frißt, daß wir zuletzt selbst erschrecken, wie wir uns in dieVerbitterung hineinreden. Mir ist es dann manchmal, als fühlte ich Unkraut nach einem Regen um mich aufschießen.

Aber der einzige, mit dem du damit sprechen sollst, ist Christus. Dann verliert, was du erlebt, das Befremdliche und Seltsame, und du verstehst, warum es so kommen mußte und wieso es dennoch gut war für dich. Siehe, die Bächlein und Flüsse alle strömen dem Ozean zu und vergehen darin, daß sie nicht mehr sind. So muß auch unser Erleiden zustreben dem Meer des Leidens Christi. Wenn du es in dem Meer des menschlichen Vergessens willst versenken, steigt esimmer wieder an die Oberfläche, und du bist nie damit fertig. Aber in dem Ozean des Leidens Christi, daist es geborgen. Und wie die Wolken aus dem Ozean zurückkehren und befeuchten die Erde, lassen köstlichen Regen niederfallen, daß sie Frucht bringt, so kehrt dir alles, was du erduldet, aus dem Leiden Christi wieder zurück als ein köstlicher Gewinn für dasgeistige Leben. Dann hat es seinen Zweck erfüllt. Alles, waswir auf Erden durchmachen, das Kleine wie das Große, soll ja eines: uns geistig voranbringen. Wir müssen einen Segen davon haben, eine geistige Freude, etwas für den inwendigen Menschen. Ihr kennt die wunderbare, geheimnisvolle Geschichte im Alten Testament: AlsJakob zurückkehrte, da rang er an der Furt desJabbok mit einem Engel die ganze Nacht und ließ ihn nicht, sondern sprach: «Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn» [Gen. 32,27]. So müssen auch wir ringen mit allem Widerwärtigen, wasunsin denWeg tritt, bis daß wir ihm einen Segen abgewinnen. Wir sagen manchmal von den Widerwärtigkeiten: Sie reiben uns auf. DasWort aber hat einen doppelten Sinn. Christus ist auch durch das Leiden aufgerieben worden, aber so, daß alles Gute, das er in sich trug, nun an ihm sichtbar wurde; und als er gar zerbrochen wurde, da ergoß sich der ganze Reichtum seiner Seele über die Welt und erfüllte sie mit köstlichem Dufte wie die Salbe im Hause zu Bethanien, die aus dem zerbrochenen Glas herausfloß [Mt. 26,6– 13]. So brauchen wir alle Enttäuschung, Widerwärtigkeit, Leiden, damit das Gute und Ewige, was wir in uns tragen, in die Erscheinung tritt, sich entwickelt, sich hinauskämpft über die irdischen Gedanken. Daran wollen wir denken in denWiderwärtigkeiten, die uns begegnen: sie nicht mit Menschenmaß messen, mit Menschenvernunft begreifen und mit Menschenärger schlimmer machen, sondern es annehmen als etwas, das uns Gott schickt, daß wir darin in Sanftmut und Geduld geübt werden. Dann wird sich auch an uns die Herrlichkeit

Habt nicht lieb die Welt

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Christi offenbaren. Denn wenn wir mit uns selbst gekämpft haben werden, um uns als Kinder Gottes zu beweisen, wird Friede und Freudigkeit über uns kommen, und wir werden wieder stärker sein als die Widerwärtigkeit und freudig ins Leben hinausblicken.

Habt nicht lieb dieWelt, 5. März 1905, St. Nicolai

I Joh. 2,15 f.: Habt nicht lieb dieWelt|10¡ Nie stehen sich Christus und dieWelt so fremd gegenüber alsjetzt um die Fastnachtszeit. Jedem soll zugeteilt werden, wasihm zukommt. Zuerst nimmt die Welt ihr Stück. Wenn dann im Scherz und Taumel viel Gut, manchmal auch viel Ehre und Ehrbarkeit verbraucht ist, dann soll Jesus an die Reihe kommen, der leidende Jesus. Nie scheint uns die Freude der Welt unnatürlicher als jetzt, wo das ausgelassene Spiel im Schatten, den das Leiden Jesu vorauswirft, vor sich geht. Das Leiden Christi in der Zeit, da die Menschen die Lustbarkeit genießen wollen, um dann auf einige Wochen ihr zu entsagen, äußerlich wenigstens, ist trostloser als das Leiden, welches er unter der Roheit der Kriegsknechte erduldete.

Aber wenn hier die lustige, ausgelassene Welt und Christus so unversöhnlich nebeneinander stehen, sind sie denn in dir ausgesöhnt? Stoßen sich denn Christus und das Stücklein Welt und Weltfreude, das du für dich in Anspruch nimmst, nicht? Ja, wenn dieWelt nur bestände aus der sündigen Lust, aus der Hoffart, der Eitelkeit, allem dem, was den Stempel der Sünde auf der Stirn trägt, dann könnten vielleicht manche unter euch sagen: DieWelt ist besiegt in mir durch Christus, er gibt mir Kraft, in derVersuchung zu kämpfen. Aber dieWelt ist eben nicht nur das Sündige in der Welt, sondern es ist mehr. Es ist alles, was du hienieden für dich in Anspruch nimmst, an sich vielleicht unschuldig, rechtschaffen und gut und doch Welt. Es ist deine Bequemlichkeit, dein Wohlsein, dein Gut, deine Stellung, dein irdischer, ehrbarer Ehrgeiz, deine Freunde, die Menschen, die dich gern haben – kurz alles, was dich hienieden festhält, alles, was dir lieb ist. Nichts ist davon ausgenommen, wie Jesus ausdrücklich sagte, da er noch Vater und Mutter und Schwestern und Brüder einschloß, die man müsse verlassen können, wenn sie ein Hindernis sind, für ihn zu leben [Mt. 19,29]. 10 [noch wasin derWelt ist. Sojemand dieWelt liebhat, in dem ist nicht die Liebe desVaters. Denn alles, wasin derWelt ist: desFleisches Lust und derAugen Lust undhoffärtiges Leben, ist nicht vomVater, sondern von derWelt.]

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Predigten

desJahres 1905

Nicht nur die Sünde und Christus kämpfen in uns, sondern auch die Welt, die an sich gut ist, und Christus, die aber zur Sünde wird, wenn sie uns abhält, ihm zu dienen. Wohl wiegt uns unsere Vernunft in die Ruhe, indem sie uns sagt, daß auch irdisches Wohlsein und irdische Freude, wenn sie in ehrlicher Arbeit erworben sind, nichts Unheiliges sind; und die Gewohnheit läßt uns nicht mehr nachdenken über unser Recht auf das, waswir zum Gewohnten rechnen. Aber ich glaube nicht, daß viele unter uns sind, welche nun wirklich darüber ganz zur Ruhe gekommen sind, und die, welche es wären, dürften wir nicht beneiden, denn dieser Kampf darf nie zu Ende sein. Solange der Mensch wirklich lebt, gibt es keinen Frieden in ihm zwischen der Welt und Christus. Wir glauben, auf festem Boden zu leben. Da hören wir nicht nur von Zeit zu Zeit von schweren, fernen Erdbeben, sondern zuweilen bebt hier im Rheintale selbst die Erde unter unsern Füßen, und wir sehen dann, daß gewaltige Kräfte unter uns schlummern, für die diese Festigkeit desBodens nicht existiert. So wird auch die Festigkeit der irdischen Verhältnisse, auf denen unser Leben sich erbaut, für einen Augenblick erschüttert. Saßest du nie an einem Tisch mit Freunden beim behaglichen Mahle, daß du dann plötzlich, ohne es zu wollen, daran denken mußtest, wie viele Hungernde in jenem Augenblick mit diesem Überfluß gesättigt werden könnten? Und du konntest dich wehren und dir zurVernunft reden; es war dir, als äßest du Brot, dasdir nicht gehörte, dasBrot derer, die injenem Augenblick hungerten. Oder du hast dir zusammengelegt längere Zeit für etwas, das du anschaffen wolltest. Der Augenblick ist gekommen, die Summe, oft nachgezählt, in deiner Hand; es wird dein sein. Warum kannst du dich aber nicht recht freuen? Warum wie eine Unsicherheit? Weil du plötzlich mußt denken, was du mit dem Gelde tun könntest, wenn du es nicht für dich gebrauchtest. Da ist’s dir, als erfreutest du dich mit etwas, das dir nicht gehört. Wenn wir nicht so schlafend durchs Leben gingen, wir würden viele solche Erdstöße verspüren. So aber verspüren wir nur die, welche in gewissen Augenblicken unseres geistigen Wachseins eintreten. Aber sie nehmen uns die Illusion, daß die Dinge, die wir fest glauben, fest sind. Wir bekommen wie eine Angst, daß das, worauf sich unser Leben erbaut, zusammenbrechen könnte, daß eine Katastrophe eintreten könnte in unserm geistigen Leben. Wenn ihr an die Menschen denkt, die aus der Welt herausgetreten sind, alles aufgegeben haben, nur noch sich selbst behalten haben, um Jesus zu dienen, seht ihr das, was unser Leben ausmacht, wie durch den Nebel des Unerlaubten. Welche von euch kann aus dem Krankensaal heraustreten, wo sich die stillen, geschäftigen Wesen bewegen, die nichts mehr von der Welt behalten haben als das Dienen für Christus, ohne einen Augenblick nach dem Gleichgewicht suchen zu müssen, um sich

Habt nicht lieb die Welt

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in ihrem gewohnten Kreise und in ihrer gewohnten Beschäftigung wieder zu bewegen? Es gibt nichts Festes, da man sagen könnte: Das ist Welt, die nicht mit Christus streitet, sondern Welt ist alles, was nicht Christus ist, und

kann für uns zur Sünde werden. Keiner ist unter uns, auf dessen Stücklein Welt, mag es noch so klein und bescheiden sein, nicht eine Sündenhypothek lastet. Denn wievielmal haben unsere Freunde und Bekannten, unsere Geselligkeit, unsere Neigungen, unser Vorwärtskommen, unsere Gewohnheit, unsere Wissenschaft, unsere Kunst uns verhindert, das Gute zu tun, das wir vor uns sahen! Es ist eine Hypothek, die uns niemand nachrechnen kann, von der niemand etwas weiß als Gott und wir – aber wer sie wagte zu kündigen, der wäre ein Lügner. «Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist»: Es ist zuviel von dieser Liebe zurWelt in uns. Aber wie kein Mensch das Recht hat, die Menschen zu beruhigen, wenn sie den festen Boden unter sich erzittern und wanken fühlen, und ihnen zu sagen: Es ist nichts, so hat auch keiner das Recht, sie aus der Welt, in die sie Gott hineingestellt hat, alle herauszureißen. Wir haben es gesehen, wohin es führt. Die katholische Kirche hat das Experiment gemacht. Sie hat gesagt, um wahrhaft fromm zu sein, müsse man aus der Welt heraustreten, in der Einsamkeit und im Kloster leben. Sie hat damit Verheerungen unter der Menschheit angerichtet, die kein Mensch beschreiben kann, undTausende undTausende von Existenzen vernichtet, indem sie sie in eine Bahn drängte, die nicht die ihre war, so daß sie unnütze, durch eine innere Unwahrhaftigkeit gebrochene Menschen wurden. Und wie oft, wenn sie denWeltgeist ausgetrieben hatte, sah sie ihn nachher zurückkommen mit sieben Geistern, die schlimmer waren als er selbst, und konnte nicht wehren [Mt. 12,45]. Die Fastnachtsfreude, die sie demVolk zugestand für die Fastenentsagung, ist sie nicht dasZurückkehren desbösen, weltlichen Geistes? Es war eine Erlösung, als die Reformation die Lüge der falschen Weltentsagung zerstörte und dasIrdische ausdem Bann des Unheiligen herausführte und zu den Menschen sagte: Im Namen Jesu, alles ist euer. Aber ich fürchte, wir sind zu protestantisch. Wir reden viel gegen die falsche katholische Weltentsagung, aber wir vergessen darüber die wahre Weltentsagung und meinen, protestantisch sein heißt, alle irdischen und geistigen Güter derWelt, die nicht schlecht sind, unbefangen genießen. Darum, weil wir nicht genug in Spannung mit der Welt stehen, als Protestanten harmlos in der Welt drinstehen, ist keine Spannkraft im Protestantismus. Er steht zu gut mit der Welt und ist darum wie ein abgespannter Bogen, mit dem man schießen möchte. Ich sprach einmal darüber mit einem philosophisch denkenden Menschen, undwir gestanden unsbeide, daß, wenn einst nach demWort gerichtet wird: «An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen» [Mt. 7,16], der

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Predigten

desJahres 1905

Katholizismus größer dastehen wird als der Protestantismus, denn unter seiner vielen falschen Weltverleugnung steht doch viele große und wahre Selbsthingabe und Selbstaufopferung, mehr, denn man bei uns findet. Darum glaube ich, ist es nicht not, uns zu beschwichtigen und vor der falschen Weltverneinung zu warnen, sondern uns zu beunruhigen, daß wir uns fragen, ein jeder sich selbst, ob wir die Welt nicht zu lieb haben. Aber du allein kannst dir eine Antwort darauf geben, denn die Menschen sind nicht gleich. Gott hatjedem gesetzt, wie viel er von der Welt annehmen darf, um das hienieden zu wirken, was er ausrichten soll. Die innere Stimme sagt es ihnen, wenn sie sie nur hören. Es gibt welche, denen ist es gesetzt, aus derWelt herauszutreten, um frei zu sein für Christus, gegen jegliche menschliche Überlegung auf das zu verzichten, was sich ihnen darbietet, um unbehindert von allem für Gott zu arbeiten. DieWelt braucht sie, undwenn sie fehlen und ihren eigenen Weg gehen, fehlt eine Kraft im geistigen Leben der Menschen. Andern ist es gesetzt, wenig von der Welt zu empfangen, andern viel, noch andere sind über sehr viel gesetzt. Aber nicht dasentscheidet, wie viel und wie wenig sie haben und empfangen von derWelt, sondern wie sie innerlich dazu stehen. Der Mann, der nur ein Pfund empfangen hatte, war untreu, und die, die mehr empfangen hatten, waren treu [Mt. 25,14–30]. So findet Gott auch manchmal viel mehr Weltliebe bei uns, die wir nur ein geringes Stücklein Welt und Weltfreude haben, als bei denen, die über Millionen verfügen. Hier gilt kein äußeres Urteil. Darauf kommt es an, wie weit du innerlich frei bist von derWelt, wie weit du sie gebrauchst als etwas, dasdein Herz nicht gefangennimmt. Und es gibt keinen Augenblick, wo wir sagen können: Jetzt sind wir innerlich frei von der Welt, keinen Augenblick auch, wo wir sagen können: Jetzt haben wir das Recht, das und das zu genießen, sondern es kommt mir, je länger mich die Frage bewegt, immer mehr vor, als müßten wir alles, waswir von derWelt empfangen, reinigen und heiligen, ich möchte fast sagen, abbüßen durch etwas, was wir für die Welt tun. Ja, als müßten wir die Unbefangenheit durch etwas erkaufen. Ich empfinde immer wieder eine neue Verwunderung über die Unbefangenheit Jesu den Freuden derWelt gegenüber. Er hat die Weltverneinung gepredigt, und doch liegt eine sonnige Heiterkeit über seinem Leben. Er konnte fröhlich mit den Menschen zu Tische sitzen, und Kostbarkeiten nahm er auch für sich an. Er wies das Weib nicht, die köstliche Salbe zu verkaufen, wie dieJünger meinten, sondern sie gehörte ihm [Mt. 26,6– 13].Weil er so viel für dieWelt getan, darum durfte er auch etwas von ihr empfangen. Wir dürfen uns mit Jesus nicht vergleichen, aber wir fühlen, daß wir etwas von derWelt empfangen dürfen, wenn wir etwas dafür getan

Gethsemane

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haben. Das sind glückliche Freuden, die wir an uns herankommen lassen, inwendig in uns die Freudigkeit tragend, etwas Gutes getan zu haben. So such, an der Welt selbst zu erkaufen, was du von ihr empfängst. Überwinde die Liebe der Welt durch die Liebe des Vaters. Wenn die Liebe des Vaters in dir ist, dann bist du rein von der Welt. Was heißt denn das: die Liebe des Vaters? Lies das Evangelium des St. Johannes [Joh. 15]. Du wirst finden, es ist nicht die Liebe, mit der wir Gott lieben, sondern die Liebe, mit der Gott die Welt liebt. Durch dich soll diese Liebe desVaters in dieWelt kommen, in ihr wirken. Diese Liebe desVaters zurWelt, das ist die wahre Liebe für dieWelt, die leidet, körperlich und geistig. So viel diese Liebe desVaters in dir wirkt, so viel du ihr in dieser Liebe gibst, soviel ist dieWelt um dich durch die Liebe Gottes geheiligt. Es ist kein Evangelium des Friedens, das ich predige, keine Versöhnung der Gedanken und Gefühle, die in dir kämpfen. Wie könnten wir auch solchen Frieden predigen, da unser Meister gesagt hat: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert» [Mt. 10,34]? So predigen wir das Schwert, den Kampf. Möge er nie zur Ruhe kommen in euch, der Kampf zwischen der Weltliebe und der Liebe Gottes, mit der wir dieWelt lieben sollen. Mögt ihr nie ruhig genießen können, was das Leben euch bietet, sondern immer jedes Recht auf irdische Freude euch innerlich erkämpfen müssen. Denn diese Unruhe ist Leben und Seligkeit. Möge diese Unruhe in euch kostbare Frucht tragen.

Morgenpredigt Sonntag Oculi, 26. März 1905, St. Nicolai

Mt. 26,36–46: Gethsemane|11¡ Zwischen dunkeln, großen Bäumen, deren Zweige in der Dämmerung des Abends die Hitze desTages noch gefangenhalten, liegt hingesunken ein Mensch und kämpft und ringt. «Zieh deine Schuhe aus, denn der Ort, dadu stehst, ist heiliges Land» [Ex. 3,5]. 11 [Da kamJesus mit ihnen zu einem Hofe, der hieß Gethsemane, und sprach zu seinen Jüngern: Setzet euch hier, bis daß ich dorthin gehe undbete. Und nahm zu sich Petrus und die zwei Söhne desZebedäus und fing an zu trauern und zu zagen. Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibet hier und wachet mit mir! Und ging hin ein wenig, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst! Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet undbetet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach. Zum andernmal

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So groß war Jesus, daß er seine Bangigkeit vor den Seinen nicht zu verbergen brauchte. In dem Leben derer, die die Menschen als Helden verehren oder hassen, sind Augenblicke, die sie verbergen mußten, damit sie groß blieben: die Augenblicke, wo sie nicht mit sich selbst fertig waren; und die, welche die Geschichte der Helden schreiben, löschen jene Augenblicke aus. Das eben ist dasKleine an den großen Menschen, daß sie daran denken, wie sie vor den Menschen erscheinen, Jesus aber, wie er vor Gott erscheine. Wie haben sie doch die heiligen Evangelisten verdächtigt! Jesus sei nur ein schlicht frommer Gesetzeslehrer gewesen, und sie hätten, was sie mit ihm erlebt, ins Sagen- und Heldenhafte gesteigert und für die Nachwelt den Messias aus ihm gemacht – aus einem Menschen einen Helden. Aber schlagt doch auf die Geschichte von Gethsemane! Wo ist der Held? Ich höre die Helden dieser Welt. Sie sagen – die Helden des Bösen und des Guten: Er hatte einen Augenblick der Schwäche; er legte die Rüstung der Unerschütterlichkeit einmal ab; nicht gehört er mehr zu uns. Er ist kein Held, nur ein Mensch. Dank sei dir, Jesus, für Gethsemane, daß du nicht den Helden, sondern unsMenschen gehörst. Es ist ganz menschlich, alles, was sich da abspielt; kein übernatürliches Licht umflutet die Erzählung. Menschlich ist, daß ein Mensch in der höchsten Seelenangst Hilfe suchte bei Menschen und sie anflehte «Bleibet hier und wachet bei mir», und daß sie es nicht tun konnten, die treuesten der Menschen, weil die Natur ihr Recht verlangte. Menschlich ist, daß er im Gebet rang und keine Ruhe fand, sondern sich immer wieder erhob und zu den Schlafenden trat. Menschlich ist, daß keine Stimme vom Himmel ihm antwortete und ihm sagte, was des Vaters Wille sei, sondern das ferne Klirren der Waffen kündigt ihm, welchen Weg er gehen müsse. Und weil es menschlich ist, kann sich Gethsemane an dir wiederholen. Du wirst in der größten Bangigkeit zu deinen Treuesten gehen und ihnen sagen: Helft mir kämpfen und überwinden – und sie werden dir nichts sein können. Du wirst Stärkung im Gebet suchen, einen überirdischen Trost herabzwingen wollen, und deine Unruhe wird nicht von dir genommen. Du wirst auf eine Stimme Gottes warten – und ein rohes Ereignis wird dir antworten. ging er wieder hin, betete und sprach: MeinVater, ist’s nicht möglich, daß dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille. Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs. Und er ließ sie und ging abermals hin und betete zum drittenmal und redete dieselben Worte. Da kam er zu seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Ach wollt ihr nun schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist hier, daß des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird. Stehet auf, laßt unsgehen! Siehe, er ist da, der mich verrät!]

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Aber wirst du dann in dem rohen Ereignis die Stimme Gottes erkennen und heiter und ergeben den Weg gehen, der sich dir öffnet, wie Jesus, da er sprach: «Stehet auf, lasset uns gehen»? Das hängt von deinem Herzen ab, wie weit es voran ist im Gebet: «Herr, ist’s möglich ... nicht wie ich will, sondern wie duwillst.» «Herr, ist’s möglich?» Ihr wißt, daß ich immer Angst habe, daß wir Dinge von Gott fordern, die unmöglich sind, und daß ich meine, wir müssen bei jeder irdischen Bitte uns sehr ernst fragen, ob es nicht heißt, Gott versuchen, und ob wir nicht über dem Irdischen das Geistige vergessen. Nun bittet hier Jesus selbst um etwas Irdisches: von schwerem Leiden verschont zu werden, und indem er bittet, weiß er, daß er es bitten darf, und daß es möglich ist. Wo es sich eben um ein Menschenschicksal handelt, da gibt es keine Grenzen desmenschlichen Gebets, dadarf man alles bitten, und dakann Gott alles geben. «Bei Gott sind alle Dinge möglich», hat der Herr selbst gesagt [Mt. 19,26], als er mit seinen Jüngern betrübt war, daß der reiche Jüngling davonging unddasirdische GutderSeligkeit, nach derer forschte, vorzog. Mit jenem Worte tröstet sich unser Heiland, denn er weiß, daß Gott dasHerz desJünglings umkehren kann undihn dennoch erretten. Undjetzt weiß er, daß Gott Macht hat, die Herzen derer, die ausgezogen sind, ihn zu fangen, zu wenden, daß sie vor ihm niederfallen und ihm angehören und seine Herrlichkeit über seinen Feinden aufgeht. Ja, bei Gott sind alle Dinge möglich! Wie könnten wir denn sonst uns beruhigen über das Schicksal derer, die im Verbrechen geboren, im Verbrechen erzogen sind, deren Los es ist, dem Verbrechen anzugehören, über die wir keine Macht haben, für die wir keinen Trost hätten, wenn wir nicht wüßten, daß der Herr Macht hat, die Herzen derer zu wenden, die wir verloren geben müssen. Aber dennoch, können wir denn so gläubig, wie man es muß, beten «Ist’s möglich», mit der Gewißheit im Herzen, daß es möglich ist? Das wissen nur die gewiß, die es erlebt haben. Hast du schon einmal einen Becher sich deinen Lippen nähernd gefühlt und dann vorübergehen? Ich möchte fragen, ob nicht jemand unter euch ist, der einmal an einem bestimmten Punkte seines Lebens einen Weg vor sich sah, den er gehen mußte, einen Weg der Schmach und der Demütigung vor der Welt. Und er wußte, warum er diesen Weg gehen mußte, warum Gott ihn in dieTiefe führen müsse, warum Gott etwas Schweres von ihm verlangen müsse, ehe er ihn wieder erhöhen könne; und er hatte sich darauf gefaßt gemacht und sich darein ergeben, aber noch im letzten Augenblick Gott angefleht, ob er ihn nicht einen andern Weg führen könne als diesen schweren – und Gott hatte noch einen andern. Auf schwankender Brücke ging er über den Abgrund, in den er hätte hinunter müssen. Wenn er nur drüben Gott dankte, denn dann ist etwas zwischen ihm und Gott, dasdurch nichts mehr kann erschüttert werden.

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Ich will also sagen, daß, wenn unser Herr dort so ergebungsvoll betet und ihn um einen andern Weg bittet, wenn’s möglich ist, er dies in dieser schwersten und letzten Stunde kann, so kann, weil er es in seinem Leben schon erlebt hat, daß der Herr einen andern Weg vor ihm auftat als den, welchen er vor sich sah. Gewiß, er hat schon solche Augenblicke gekannt, wo er den Kelch sah vorübergehen. Einen können wir noch ahnen. Denkt an die Rede Matthäi am zehnten, da er die Jünger aussendet. Er sieht nur dunkle Wolken am Himmel: Die Menschen werden sich gegen das Evangelium empören, Mord und Aufruhr wird entstehen; dieJünger werden gehaßt werden um seines Namens willen; von einer Stadt müssen sie in die andere fliehen; sie werden gegeißelt, vor Fürsten und Könige geführt. Das war der Weg, den er sah, als er sie sandte «wie Schafe unter dieWölfe» [Mt. 10,16]. Nichts aber erfüllte sich davon. Sie kamen wieder, ohne daß ihnen ein Haar gekrümmt worden war, und erzählten voller Freude, wie das

Evangelium überall aufgenommen worden war. Damals dankte unser Herr dem himmlischen Vater und sprach: «Ich preise dich Vater und Herr Himmels und der Erde, daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart» [Mt. 11,25]. So kann Jesus in wahrem kindlichem Sinn zu Gott sprechen: «Ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir, doch nicht wie ich will, sondern wie du willst», und kann dann ruhig und gefaßt aus dem, was kommt, lesen, daß es nicht möglich ist, auf Grund dessen, waser mit Gott schon erlebt hat. Aber an uns habe ich eine Frage: Sind wir denn durch das, was wir mit Gott erlebt haben, bereitet, aus der schwersten Prüfung, wo Gott uns unsern Willen nicht tun kann, als ungebrochene, mit Gott noch innerlicher verbundene Menschen hervorzugehen wie unser Heiland und ausdem dunkeln Schicksal unseres Lebens denWillen Gottes zu lesen? Haben wir denn die Ereignisse, welche unser Lebensschicksal ausmachen, mit Gott erlebt und dasWalten seines Willens darin verspürt? Wenn wir sagen «den Willen Gottes», dann meinen wir gewöhnlich etwas, das wider unsern Willen ging, etwas Schmerzliches, Trauriges. Aber wenn derWille Gottes mit unserm Willen übereinstimmte, wenn der Wille Gottes etwas Glückliches, Freudiges war, da sahen wir es nicht, und wir fühlten nur, daß unser Wille sich erfüllte und nicht GottesWille. Waswir denken sollen, wenn wir die Bitte beten «Dein Wille geschehe!» [Mt. 6,10]: Etwas Dank. Nicht einmal, ein Dutzendmal hat es jeder von uns erlebt, daß, wenn zwei Wege sich auftaten, Gott ihn den leichteren führte und das andere vorübergehen ließ. Aber da es vorüberging, erschien es uns natürlich, und wir dachten nicht, daß Gott einen Kelch vor unsern Lippen vorübergeführt habe, weil wir ihn noch nicht zu trinken vermochten. Du wirst krank; die Symptome sind gefährlich; die Deinen sind voll

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Angst und du mehr, als du sagen kannst. Und nach einigen Tagen geht alles vorüber; es war nur ein Unwohlsein; deine Angstgedanken weichen. Aber hast du Gott gehört, der zu dir sprach: Ich habe dir etwas erspart? Und bleibt von der Angst eine friedvolle Freudigkeit in deinem Herzen, von der du fühlst, daß sie dich in allem Traurigen, waskommen kann, aushält? Wenn nicht, war alles umsonst. Wenn die Menschen es einander erzählten, was sie alles für Wege schon vor sich offen sahen, welchen Zusammenbruch jeder schon hat kommen sehen! Der eine den Zusammenbruch seiner Ehrbarkeit und seiner Ehre vor derWelt, der andere den Zusammenbruch seines Vermögens, der andere den Zusammenbruch seines Glückes, der andere den Zusammenbruch der Hoffnung, die sein Leben ausmachte – undes ging vorüber, und die Menschen um ihn wissen nicht, was er durchgemacht hat – und er selbst nicht, denn er lebte wieder auf nach Menschenweise und vernahm nicht die Stimme Gottes: Siehe, so gütig bin ich zu dir. Wir sind wie die, welche des Nachts reisen. Sie schlafen. Von Zeit zu Zeit ein Ruck, wenn es über ein Gewirr von Geleisen geht. Einen Augenblick öffnen sie das Auge, schlafen aber gleich weiter. Am Morgen finden sie es natürlich, wohlbehalten angekommen zu sein, und gedenken nicht der treuen Menschen, die wachten und das richtige Geleise stellten, daß dasfliegende Rad sicher über die Schienen glitt. So denken wir nicht daran, daß, wenn unser Leben von selbst auf dem richtigen Geleise geht, Gott dieWeiche gestellt hat. Das ist das Unglück der Menschen, daß sie alles schlafend erleben und darum so arm sind an wahrer Ergebung. Denn die wahre Ergebung ist nicht etwas Trauriges, sondern etwas Freudiges, ein Schatz, ein himmlischer Schatz, den man sich in des Lebens freudigen Stunden, in den Stunden der Errettung sammeln muß. Und es kommt auch nicht in dem Augenblick an die Menschen herangeflogen, wo sie es brauchen, sondern es muß da sein, damit es sie aushält. «Wachet und betet», sagt der Herr, «daß ihr nicht in Versuchung fallet.» Wir erleben alles in der Betäubung der alltäglichen Geschäftigkeit. Jesus aber ist wach bis zum Tod. Er kennt keine Betäubung. Er ist so stark, weil er wacht und betet. Weil er wachend und betend die Stimme Gottes in den Ereignissen vernommen, die sein Leben ausmachen, vernimmt er sie auchjetzt und wird still und gefaßt; und sie, die schliefen, fliehen. «Wachet und betet»: Erlebt euer Leben im Wachen und Beten, sammelt euch einen Schatz an Dankbarkeit, Vertrauen und Ergebung gegen Gott, daß euer Geist nicht nur willig, sondern freudig und stark werde in Gott und ihr in derVersuchung nicht fallt, sondern steht, wenn Gott, der so vielmal in eurem Leben den Kelch an euren Lippen vorüber führte, euch nun prüft, ob ihr seinen schweren Willen gelassen und freudig erfüllen wollt.

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Wie heißt es doch von den klugen Jungfrauen: «Sie nahmen Öl in ihren Gefäßen samt den Lampen» [Mt. 25,4]. Da hatten sie Licht zur Mitternacht. Die andern aber saßen im Dunkel, als die Stunde kam und sie umsonst die Menschen anflehten – und die Menschen ihnen nicht helfen konnten.

Nachmittagspredigt|12¡ Sonntag,

2. April 1905, St. Nicolai|13¡

Mk. 12,41–44: Das Scherflein derWitwe|14¡

Als sie abends das Geld des Gotteskastens zählten, warfen sie die beiden Scherflein achtlos beiseite; mit dem Rest aber ließen sie eine eherne Tür für den Tempel machen. Da dann der Tempel brannte, bog sich die eherne Tür und wand sich unter den Flammen und ward begraben unter Schutt und Trümmern mitsamt der Herrlichkeit desTempels. Die zwei Scherflein aber wurden nicht mitbegraben, sondern erhalten mit dem Evangelium und mehrten sich und breiteten sich aus über die ganze Welt. Denn wo einer sein Testament aufschlägt, findet er die zwei Scherflein der Witwe. So hat sich Jesu Wort erfüllt, daß sie mehr eingelegt hat als die Reichen zusammen. Sie war aber auch reicher als die Reichen, denn es war ihr beschieden, Jesus etwas zu geben. Da sie die Scherflein einwarf, um mitzuhelfen, zu bauen an dem irdischen Tempel – denn das Geld des Gotteskastens war für den Unterhalt desTempels bestimmt – , erbaute sie den Gründer des neuen, wahren Tempels. Sie wußte nicht, wer auf sie schaute und wen sie erbaute. Sie wußte nicht, daß dort einer saß, der alles Leid der Menschheit in sich trug, der in dem Kampf mit der dünkelhaften Frömmigkeit der Pharisäer den Glauben an sein Volk verloren, und dem die Schalkheit und Bosheit der Menschen das Herz gebrochen und den 12 [R] Gehalten morgens zu Colmar für Alfr. Erichson, der zur Hochzeit seines Bruders ist. [Alfred Erichson, 1873– 1911, wirkte von 1904 bis 1906 als Vikar in Colmar. Sein Vater war Leiter desThomas-Stifts in Straßburg gewesen. 1901 löste ihn Schweitzer für ein halbes Jahr alsNachfolger ab.] 13 [R] A mademoiselle B. S. en souvenir. Albert Schweitzer. Mai 05. [Berthe Schoenlaub, 1872– 1944, war eine langjährige Bekannte Schweitzers, die an seinem Werk von Anfang an großen Anteil nahm.] 14 [UndJesus setzte sich gegen den Gotteskasten und schaute, wie dasVolk Geld einlegte in den Gotteskasten; und viele Reiche legten viel ein. Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; die machen einen Heller. Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt denn alle, die eingelegt haben. Denn sie haben alle von ihrem Überfluß eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut alles, was sie hatte, ihre ganze Nahrung, eingelegt.]

Das Scherflein der Witwe

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Glauben an die Menschheit erschüttert hatten. Als sie vorüberging und ihn sitzen sah, hatte sie bei sich gedacht: Der Mensch ist müd; aber sie wußte nicht, wie müd seine Seele war – und daß es ihr beschieden sei, weil sie ein wahres Opfer brachte, seine Seele zu erfreuen und ihm den Glauben an die Menschheit wiederzugeben. Sie wußte nicht, daß sie ewig dort stehen würde am Gotteskasten, ein unbekanntes, abgehärmtes Weib, umleuchtet von der Klarheit Christi, weil sie von Gott begnadet worden, unserm Herrn auf Erden etwas zu geben. Wir verstehen diese Geschichte so gut, weil wir alle schon einmal das erlebt haben, wasJesus hier erlebt. Wir waren einmal tief niedergeschlagen, verbittert, vergrämt, wir litten unter der Falschheit und Bosheit der Menschen, was noch schlimmer ist, unter ihrer ungerechten Verständnislosigkeit; der Glaube an die Menschheit war uns entschwunden. Da geschah etwas an sich Unbedeutendes. Ein unbekannter Mensch trat in unsern Gesichtskreis und tat etwas, wo ein Stück Menschenherz dran hing. Vielleicht war es eine kleine Hilfe, die er in einer natürlichen Regung des Herzens einem Unbekannten erwies, vielleicht nur einWort warmer Teilnahme oder eine Tat desErbarmens mit der leidenden Kreatur. Er wußte nicht, daß jemand, der zerschlagenen Herzens war, auf ihn geschaut und wieder den Glauben an die Menschheit durch ihn gefunden und froh davonging, als wäre eine dunkle Last von ihm genommen. Wenn wir uns die Geschichte unseres Lebens vorstellen, nicht die Geschichte des äußeren Lebens, sondern des inneren Erlebens, wo die großen Ereignisse klein und die kleinen groß werden, wer von uns sieht nicht namenlose, unbekannte Menschen, denen er von ganzem Herzen danken möchte für etwas, wassie ihm gegeben, ohne es zuwissen. Manchmal denk ich dann, daß auch wir für andere solche Namenlose, Unbekannte sind und daß das Kostbarste in unserm Leben das ist, was wir, ohne es zuwissen, Menschen, die sich nach einem Stück Menschenherz sehnten, gewesen sind. Gott wird es nehmen, um damit zu bedekken, waswir wissentlich in Neid und Mißgunst Böses getan haben. Was war’s denn eigentlich so Besonderes, was das Weib tat? Sie brachte ein Opfer dar im Sinne Jesu. Zum Opfer gehört Hingabe eines Lebens; denn ein Leben ist das Unerklärlichste und Kostbarste, was die Welt besitzt. Darum opferten sie Tiere in dunkelm Ahnen. Wir verstehen, er befiehlt es. Nicht fremdes Leben macht ein Opfer aus, sondern wieviel von deinem Leben an dem, was du gibst und tust, hängt. Das ist die Umwertung aller Werte, die unser Herr dort proklamiert hat. Ich brauche sie euch nicht darzulegen: Es ist uns etwas Selbstverständliches geworden, und wir finden es ganz natürlich, eine Gabe nicht nach ihrem äußern Wert, sondern nach dem Stück Menschenherz, das dranhängt, zu beurteilen.

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Predigten

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Christus hat hier den Unterschied zwischen reich und arm aufgehoben und den Reichen arm und den Armen reich gemacht. Er hat uns befreit von dem guten Neid gegen die Reichen. Wenn wir hören, daß ein Mensch, der über viele Güter verfügt, mit einem Entschluß Gutes gestiftet hat, dann überfällt esunswie Neid, dies nicht auch zukönnen. Ich hörte einmal, wiejemand sagte: Wie glücklich sind doch die Reichen, da er vernahm, wie eine reiche Frau zum Andenken an ihr verstorbenes Kind zwei schwächliche Knaben für einen Sommer ins Meerbad schickte. Aber meint ihr nicht, daß wir glücklicher sind, die wir, wenn wir irgend etwas Gutes tun wollen, von unseren eigenen, vielleicht manchmal recht überflüssigen Bedürfnissen etwas abstreichen müssen,

unddaßwir die Freude desGebens viel lebendiger empfinden? Ich kenne manche Reiche und manche Reiche, die ich bewundere für die Art, wie sie daran denken, zu helfen und Freude zu machen, wobei ich mich vielmal frage, ob wir, die wir manchmal davon träumen, was wir alles Gutes tun würden, wenn wir reich wären, in derselben Weise an die andern denken würden. Ich bin gewiß, daß der Herr in unsern Tagen mit Freuden auf manche Reiche blickt, die viel einlegen, und daß er ihre Gaben von Herzen segnet, aber ich bedaure sie immer ein wenig im Herzen, daß Gott es ihnen so schwer gemacht hat, das Scherflein derWitwe zu geben. Ich möchte, daß wir jetzt nachdächten, ob wir, die wir nicht zu den Reichen der Welt gehören, schon einmal ein Opfer gebracht haben; nicht eine Gabe, die wir mehr oder minder spürten, sondern ein Opfer, das will heißen, etwas, das uns recht schwer wurde und das wir recht freudig dahingaben. Im ersten Augenblick denkt ihr an dieses oderjenes und meint, das war ein Opfer. Aber denkt länger nach! War es wirklich ein wahres Opfer? Ein wahres, freudiges Opfer? Wenn ich uns fünf Minuten Zeit ließe, wären kaum ein Dutzend unter uns, welche ein wahres Opfer in ihrem Leben aufzeigen könnten, und wenn wir alle ganz wahr mit uns wären, würde vielleicht keiner unter uns sich mehr finden, der von sich ein Opfer wüßte, das er gebracht. Wir sind alle zu vernünftig; unsere Vernunft erstickt unser Herz nicht, aber sie regiert es zu sehr. Als wir von Opfern sprachen, sagte mir ein Mensch: Ich habe in meinem Leben nur ein einziges wirkliches Opfer gebracht; das war als Kind, da wir am Sonntag unter dem blühenden Akazienbaum am gedeckten Tisch saßen und ich in plötzlichem Entschluß mein Stück Kuchen einem Bettler für seine Kinder gab. Seither habe ich mich angestrengt, Gutes zu tun, aber das Bewußtsein, freudig ein Opfer zu bringen, habe ich nie mehr so gehabt und dieses innere Glück nie mehr so besessen. Wir werden alle zu vernünftig, und wenn wir ein Opfer bringen müßten, da kommt unsere Vernunft und sagt: Ei, sollte Gott das verlangen? Sollte es nicht möglich sein, einen Weg zu finden, das-

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selbe zu tun, ohne ein solches Opfer zu bringen? und zeigt uns denselben, und wir danken ihr, ohne zu bedenken, daß sie uns um ein Stück Glück betrogen hat. So sitzt Christus am Gotteskasten und wartet, daß wir das Scherflein einwerfen, daran er uns als die Seinen erkennt. Und meint ihr, er wartet nur auf irdische Gabe? Merkt ihr nicht, daß um den Herrn der Gleichnisse nicht nur seine Worte, sondern auch alles, was geschieht, zum Gleichnis wird, dasIrdische ein Sinnbild des Geistigen! DasTatsächliche verliert seine Wirklichkeit, und nur das Geistige wird wirklich. Kaum sind sie aus dem Tempel hinaus, da verkündet er den Jüngern, daß in Bälde der Tempel, dessen machtvolle Quadern sie anstaunten, aufhören wird, daß nicht ein Stein auf dem andern bleiben wird. Dann kommt ein neuer Tempel, nicht von Menschenhänden gemacht, nicht sichtbar, sondern einTempel Gottes, erbaut in Menschenherzen. Das ist der Tempel, von welchem St. Paulus so herrlich redet in der Epistel an die Epheser: «erbaut auf den Grund derApostel und Propheten, daJesus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn, auf welchem auch ihr mit erbaut werdet zu einer Behausung Gottes im Geist» [Eph. 2,20– 22]. Vor dem Gotteskasten dieses neuen Tempels sitzt Christus und schaut, was die Menschen einwerfen zur Erbauung desTempels Gottes in den Menschenherzen. Und weil der Tempel ein geistiger ist, treten die irdischen Gaben hinter den geistigen zurück. Was hast du zur Erbauung deines Nächsten getan? Christus fragt nach den unscheinbaren, kleinen Gaben, die du nicht deiner irdischen Notdurft, sondern den Bedürfnissen und Wünschen deiner selbstigen Menschennatur abgerungen hast. Nach was fragt er? Nach einer Viertelstunde, die du gern für dich gehabt hättest, um ruhig zu sein, und wo dann ein Mensch kam und dir diese Viertelstunde nahm, ohne zu wissen, daß es dir schwer wurde, sie zu geben, weil er sie brauchte. Und Christus fragt nun, ob du sie freudig dir abrangst und keine Enttäuschung und Ungeduld merken ließest. Dann fragt er noch nach einem freundlichen Blick, zu dem du dich zwangst, nach einem freundlichen Wort, das du dir abrangst, da du lieber nach dem Bedürfnis deines Menschenherzens ein unfreundliches gesagt hättest, nach einer Freundlichkeit, die du freudig erwiesest, indem du sie deinem Herzen abtrotztest, das sprach: Was geht dich dieser Mensch an? Der gerade hat es nicht um dich verdient. Dann will er noch die ganze, böse, kleine Kupfermünze, an der dein Herz hängt, die es im Leben angesammelt hat, die es in einen Beutel tut und ihn schüttelt, um zu hören, wie es klingt. Das sind die bösen Worte, welche Menschen einmal wider dich geredet haben und die du ihnen behältst, um sie ihnen einmal heimzuzahlen; das ist die Falschheit und Hinterlist, die sie dir einmal bewiesen haben und die du nicht vergessen

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magst, wenn du auch äußerlich nicht so tust. An dieser häßlichen Kupfermünze desLebens hängt dein Herz mehr als an allen irdischen Schätzen, und leichter ringt man ihm einen Hundertmarkschein ab als solch ein schmierig, grünspaniges Kupferstück, das ihm der Unverstand oder die Bosheit der Menschen in die Hand gespielt haben. Und warum? Weil das Opfer äußerlich so klein und doch so schwer ist, weil es dem natürlichen Bedürfnis des Nachtragens und Vergeltens abgerungen werden muß und die Menschen keine Notiz davon nehmen oder tun, als ob es selbstverständlich wäre, was uns so schwer fällt. Aber einer sieht diese schweren, kleinen Opfer, die uns so schwer werden, weil sie unbemerkt bleiben: Jesus. Er sitzt am Gotteskasten und wartet, daß du diese kleine, böse Münze, statt sie den Menschen wieder in die Hände zurückzuspielen, dort einwirfst zur Erbauung des reinen Tempels Gottes in deinem Herzen und in den Herzen, denen du, menschlich gesprochen, ein Recht hattest, etwas nachzutragen. Und wenn die Menschen meinen, du legst nur ein Scherflein ein, weiß er, daß du viel eingelegt, weil du es dir abgerungen hast, und weil es lauter böse Dinge waren, die deine Erbauung und die der anderen hinderten mehr denn alles große Ärgernis derWelt. Und am Ende der Tage wird er den Gotteskasten vor dir aufschließen und dich all daskleine Kupfer, dasdu eingeworfen hast, in reines, köstliches Gold verwandelt sehen lassen – und wenn du recht schaust, siehst du diese Verwandlung schon hienieden.|15¡

Morgenpredigt Sonntag, 9. April 1905, St. Nicolai

Joh. 18,33–38: Die Wahrheit|16¡ Sie standen sich ihrer drei gegenüber. Zwei glaubten an eine Wahrheit, einer nicht. Und dieser war der Bedauernswerteste unter ihnen. Wie traurig steht er da, der indifferente, fast wohlwollende Pilatus, der alle Mittelchen versucht, um Jesus zu retten, und zuletzt doch nichts aus15 [Der Schluß fehlt.] 16 [Da ging Pilatus wieder hinein ins Richthaus und rief Jesum und sprach zu ihm: Bist du derJuden König? Jesus antwortete: Redest du das von dir selbst, oder haben’s dir andere von mir gesagt? Pilatus antwortete: Bin ich einJude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan? Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden kämpfen, daß ich denJuden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von dannen. Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in dieWelt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme. Spricht Pilatus zu ihm: Wasist Wahrheit?]

Die Wahrheit

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richtet, weil er nicht an eine Wahrheit glaubt und darum auch nicht für dieWahrheit kämpft. Sie stehen sich noch ihrer drei gegenüber heute: Christus, seine Hasser und die Gleichgültigen, die an keine Wahrheit glauben. Und zu fürchten sind nicht die Hasser, sondern die Pilatusmenschen, welche die Achseln zucken. Denn die, welche dort Christus vor Pilatus schleppten, glaubten an eine Wahrheit; und die, welche ihn heute mit Leidenschaft bekämpfen und sagen: Rein weg mit dem Christentum! sie glauben auch an eineWahrheit; eine andere zwar, als die wir predigen. Sie hassen das Christentum um derWahrheit willen, die sie zu erkennen glauben, einer vernünftigen, hausbackenen Menschenwahrheit. Aber sie glauben an eine Wahrheit; darum kann ihnen geholfen werden. Denn noch steht es Gott frei, zu tun, wie er zu Damaskus tat: aus den Hassern einen zu nehmen und ihn zu zwingen, seine Wahrheit aufzugeben, zu verachten, mit Füßen zu treten und für die andere zu kämpfen, zu leiden, verachtet zuwerden. Darum fürchten wir nicht die Hasser, sondern die Gleichgültigen, die über den Glauben an eine Wahrheit hinausgekommen sind, für die alles nur ein Spiel der Ideen ist. Mehr als wir sie fürchten, bedauern wir sie. Den Hungrigen kann man speisen, aber den, der sich satt dünkt, wer vermöchte ihm Hunger zu erregen? Wer vermöchte sie nur zu widerlegen? – und je weniger, je weiter die Welt voranschreitet. Wie viel überlegener könnte heute Pilatus sagen: «Was ist Wahrheit?» Schau doch, Nazarener, was aus deiner Wahrheit geworden ist! könnte er Jesus zurufen. Schau doch auf diese verschiedenen Kirchen, diese Kinder deiner Wahrheit! Schau, wie sie sich hassen! Schau, wie jede nach Macht ringt, um die andere zu vernichten, und wie eine wider andere vor die weltliche Obrigkeit tritt und ihre Gunst und Hilfe anruft! Und in derselben Kirche diese Parteien, die sich befehden und den Kampf bis in die kleinsten Erdenwinkel tragen. Hör diesen Lärm und dies Gekreische, Nazarener! Alles für die Wahrheit, alles Wahrheit. Was ist nunWahrheit? AberJesus schwieg stille; wie er, so auch wir. Die Menschen, die seine Diener sein wollten, haben es versucht, mit den Waffen der Beredsamkeit, derWissenschaft, des Geistes für ihn zu kämpfen, daß er dem Gespött des Unglaubens nicht überantwortet, dem Gelächter der gleichgültigen Menge nicht preisgegeben werde. Aber sein Reich ist nicht von dieser Welt. Seine Diener können nichts für ihn tun wider dieWelt. So steht er noch wie dort – verspottet und verhöhnt – und siegt, denn er ist dieWahrheit. «Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme!» Sie hören sie aus dem lärmenden Streit der menschlichen Meinungen. Für die draußen ist’s eitel Streiterei, dem Gelächter der Menge preisgegeben. Für die

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Predigten

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Seinen aber, die Ohren haben, die Wahrheit zu vernehmen, schwebt es über der erregten Brandung der Meinungen wie fernes Glockengeläute. Sie wissen, daß alle, die da streiten, kämpfen für ihn und hören nicht die menschlichen Töne des Gedankens, der nach Ausdruck ringt, sondern sie hören die Seelen derjenigen reden, die für dieWahrheit Christi ringen und kämpfen. Dann gibt es nur einen Ton. Für den, der so zu hören versteht, singen sie alle eine Melodie, für den, der es von innen heraus hört, nicht von außen. Er kann dann sogar lächeln über die mißlautenden Nebentöne, welche menschliche Eitelkeit und Rechthaberei in die große Melodie einmischt, denn sie verschwimmen darin. Und in den größten Widersprüchen findet er die höhere Einheit, die Stimme Christi. Was ist aber Wahrheit? Wenn ich versuchte, euch zu reden von den Fundamentalsätzen unseres Glaubens, dem Vertrauen zu einem gütigen Vater im Himmel, dem Glauben an die Vergebung der Sünden, an ein unzerstörbares geistiges Wesen in uns, dann würde ich reden von der Wahrheit. Und doch würdet ihr fühlen, es handelt sich nicht um die Wahrheit selbst, sondern um die wahren Gleichnisse der Wahrheit. Es sind Triebe derWahrheit, aber dieWahrheit selbst, aus der sie hervorgegangen sind, durch die sie lebendig werden, ist noch tiefer. Die Wahrheit ist etwas, das man in Worten nicht malen kann, das keine Gestalt noch Form hat: DieWahrheit ist Leben! Durch dasLeben Christi wurde dieWahrheit. Er redet nicht von seiner Lehre, sondern sagt zu Pilatus: «Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich von derWahrheit zeugen soll.» Ausder Wahrheit sein, heißt in dem Leben Jesu gewurzelt und gekräftigt sein; durch ihn sehende Augen für die Beurteilung des Irdischen und ein sehnendes Herz für dasGeistige haben. Die Wahrheit ist ein Geheimnis: Spüren, wie unser innerstes Wesen durch sein Wesen bestimmt ist, und daß unser Wollen und Können in ihm liegt, wie St. Paulus so herrlich sagt: «Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir» [Gal. 2,20]. Das Regen des Lebens Christi in uns spüren, das ist die Wahrheit. Wenn dudeinen Menschenwillen bestimmt undbeengt fühlst durch etwas, das du nicht willst und das nicht in deinem Willen lag, und selbst deinem Leben nicht mehr die Richtung gibst, sondern dich dahintreiben fühlst wie in einem Strom, das ist Wahrheit. Soll ich es in einem Wort sagen: Daß dasLeben Christi Macht über dich gewinnt, dasist die Wahrheit. Was dann die Menschen als ihren Glauben dargestellt haben, und wie sie es ausgedrückt haben in Sätzen menschlicher Überzeugungen, daswaren nur Gleichnisse derWahrheit, die über sie gekommen war, sie überwältigt und stark gemacht hatte. Nur die verstehen diese Gleichnisse, welche wissen, was die Kraft ist, ausder sie entsprangen.

Die Wahrheit

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«Der Wind weht, wohin er will, du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, vonwo er kommt undwohin er geht» [Joh. 3,8], so deutet Jesus daswunderbare Geschehen, wenn sein Geist über den Menschen kommt und er von neuem geboren wird – aus derWahrheit geboren wird. So stehen die Bäume desWaldes leblos und harren, daß Leben über sie kommt. Und wenn das Rauschen über sie dahinfährt, erbeben sie, und ihre Zweige bewegen sich im unsichtbaren Winde. Dann geht es vorüber, und sie stehen still, ergriffen von dem, was ihnen das Rauschen zugeraunt, und horchen demWinde nach, der weiterrauschend in der Ferne singt. So erbebt die Seele der Menschen, wenn der Geist Jesu über sie kommt, und dieses Erbeben ist Leben und Freude, und wenn sie zum ersten Mal erbebt; dann beginnt das wahre Leben jenes Menschen. Über manche Menschen kommt es sanft und still, dieses erste Rauschen, daß sie es nicht ahnen, was es ist, das ihre Seele erbeben machte, und es erst nachher merken, daß es das erste Regen der Wahrheit war. Über andere fährt es dahin, daß sie sich beugen und bis in die tiefsten Wurzeln erschüttert werden, daß die Zweige splittern und das dürre Geäst zu Boden fliegt und sie als verwundete, gebeugte Menschen, nachdem sie verloren, was den Stolz und die Kraft ihres Lebens ausmachte, von derWahrheit bewegt werden. Manchmal steht ein Gedanke wie ein fernes weißes Wölklein am Horizont. Wir achten sein kaum und beschäftigen uns nicht mit ihm. Und plötzlich bewegte es sich und dehnte sich aus und überschattete unser ganzes Denken: Es war dieWahrheit.|17¡ Einer unserer großen Denker hat als das höchste Erleben des Lebens das ewig ungestillte Sehnen undJagen nach der unerreichbaren Wahrheit bezeichnet. Aber ich meine, die Wahrheit kommt über uns ohne unser Zutun und nur dassei schwer, alle unsere Gedanken in der Wahrheit zu heiligen und ihr unser Leben zu öffnen – daß wir in der Wahrheit bleiben. Daß alles unser Denken und Wollen von der Oberfläche des Lebens hinuntersinke bis in die tiefste Tiefe unseres Herzens, wo die Wahrheit 17 [AS-HB, S. 87] «Wenn du meine letzte Predigt liest über ‹Was ist Wahrheit›, findest du dort einen Satz von einem kleinen weißen Wölkchen, das am Horizonte unserer Gedanken stand und, ohne daß wir es merkten, plötzlich wuchs, bis es unser ganzes Denken überschattete – und daß dasWölkchen dieWahrheit war. So stand auch mir der Gedanke, hier entwurzelt zu werden, wenn mein Kinderplan unausführbar wäre, wie ein weißes Wölkchen am Horizont, und plötzlich fühlte ich, wie er mein ganzes Denken überschattete. Was daraus werden wird? Ich kann dasWort Kongo nicht mehr hören, ohne zu erzittern – und ich habe ein Ahnen von einer vollen Menschenkraft (nicht Gelehrtenkraft), die in mir brach liegt und dann erst entfesselt wird. So schau ich auf dieWolke, ob sie sich noch weiter fortschiebt am Horizont, aber arbeite fest am Abendmahl.»

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wohnt, und dann durch die Wahrheit gereinigt und geheiligt wieder emporsteige ausunserm Herzen und in unserm Leben Leben werde. So sickert das Wasser von der Oberfläche der Erde hindurch und läßt sich nicht aufhalten durch Moos und Sand und Geröll und Gestein, bis es gereinigt hinuntergedrungen ist zum tiefsten Fels und als lebendigesWasser wieder heraufsteigt. Wir aber wollen nicht, daß unsere Gedanken und Entschlüsse hinuntersinken bis zu dem tiefsten Fels, der da ist Christus, um, als durch die Wahrheit lebendig gemacht, aus derTiefe wiederzukehren, sondern wir möchten sie festhalten an der Oberfläche desLebens. Wir haben Angst, unser ganzes Leben in derWahrheit Christi zu betrachten; wir möchten ein Stück außerhalb davon für uns allein behalten, das neben der Wahrheit geht und nicht unter ihr Gericht fällt. Die Wahrheit aber will herrschen, oder sie erlischt. Darum der große Kampf um die Wahrheit; nicht der Kampf der Wahrheit mit der Welt außer uns, sondern mit der Welt in uns; der Kampf um die Wahrhaftigkeit mit uns selbst, daß wir keine Gedanken und keine Handlungen außerhalb der innersten, heiligen Gedanken unseres Herzens sich bewegen lassen, nicht Leben und Ideal auseinanderfallen lassen und dasLeben nach rein menschlichen Maßstäben beurteilen, sondern uns zwingen, unser Leben bis in die innersten Winkel der Gedanken durch dieWahrheit zu durchleuchten. Der weiß nicht, wasWahrheit ist, der sich nicht schon in seinem Leben von der Wahrheit verlassen fühlte, weil er nicht den Mut gehabt hatte, den Kampf um dieWahrhaftigkeit mit sich selbst zu führen. Der weiß nicht, wasWahrheit ist, der nicht fühlte, wie die höchsten und heiligsten Ideen seines Herzens plötzlich Worte und Phrasen wurden, tote Gespenster, weil dasLeben sie verlassen, da er unwahrhaftig wurde und glaubte, sie lebendig behalten zu können und dennoch nicht alles in seinem Leben damit in Einklang bringen zu müssen, und erst in Selbstdemütigung und Kampf und Gebet das Leben wieder in die heiligen Gedanken seines Herzens zurückkommen spürte. Welche sind ausderWahrheit? Die kämpfen müssen, mit sich im Leben wahrhaftig zu bleiben, und die fühlen, daß sie ohne diese Wahrhaftigkeit schwache, gebrochene Menschen sind und nicht leben können. Was sagt die Stimme Christi, die sie hören? Fortgekämpft, bis dein ganzes Leben von derWahrheit durchdrungen ist und mir gehört, dem König derWahrheit! «So bist du dennoch ein König?» – «Du sagst es, ich bin ein König.»

Vorbereitung

auf dasAbendmahl

[Morgengottesdienst]|18¡ Gründonnerstag,

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20. April 1905, St. Nicolai

Mt. 26,17– 19:Vorbereitung auf dasAbendmahl|19¡ An diesem Tage hat der Herr das Abendmahl gestiftet. Und wir sind hier, um ernstlich der Heiligkeit dieses Mahles zu gedenken, damit wir es würdig feiern mögen. Es heißt in der Schrift: «Der Mensch aber prüfe sich selbst, und also esse er von diesem Brot und trinke von diesem Kelch. Denn welcher unwürdig isset und trinket, der isset und trinket sich selber zum Gericht» [I Kor. 11,28 f.]. Das Gericht, dasheißt: Er geht hin und hat nichts davon, keinen Trost und keine Kraft, weil er nicht mit den rechten Gedanken gekommen ist. Da kann ihm der Herr Jesus selbst in seinem Mahle nichts geben. Und das ist das Gericht, daß ihm der Herr Jesus selbst nichts geben kann. Damit wir aber sehen, ob wir richtig bereitet sind, möchte ich drei Fragen an uns stellen. Die erste: Ob wir uns aller Bitterkeit gegen die Menschen wirklich entäußert haben. Das ist dasWunderbare bei Jesus, daß er, umgeben von Feindschaft, amTisch selbst umlauert von Verrat, dieses Mahl feiert und doch hehr und mild ist, als wäre dieWelt draußen geblieben, da er in das Gemach trat. Darum verlangt er von uns, daß wir, ehe wir zu seinem Mahle kommen, draußen alle Bitterkeit niederlegen müssen. Sonst kommt er auf dich zu und fragt: «Freund, wie bist du hereingekommen und hast doch kein hochzeitlich Kleid an [Mt. 22,12]?» Beim Spenden des Kelchs, wenn man ein Gesicht nach dem andern vorüberziehen sieht, kommen einem viele Fragen. Und immer wieder muß ich mich fragen: Haben siejetzt denn alle, die ergriffen zum Mahle des Herrn treten, ihre Bitterkeit und ihren Groll abgelegt? Wenn man ihnen ins Herz sehen könnte! Weil es etwas so Schweres ist, darf ich euch praktisch davon reden? «Wenn du deine Gabe auf dem Altare opferst, so gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder», hat unser Herr gesagt [Mt. 5,23 f.]. Ich meine, wir alle empfinden das Bedürfnis, allen Menschen, denen wir etwas zu verzeihen haben und deren Verzeihen wir brauchten, die Hand 18 [Nach dem Kirchenboten vom 15. April 1905 hat Schweitzer Morgengottesdienst gehalten.]

19 [Aber am ersten Tage der süßen Brote traten dieJünger zuJesu und sprachen zu ihm: Wo willst du, daß wir dir bereiten das Osterlamm zu essen? Er sprach: Gehet hin in die Stadt zu einem und sprecht zu ihm: Der Meister läßt dir sagen: Meine Zeit ist nahe; ich will bei dir die Ostern halten mit meinen Jüngern. Und dieJünger taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und bereiteten dasOsterlamm.]

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zu reichen und, was zwischen ihnen und uns liegt, abzutun, daß der alte, böse Sauerteig ausgefegt werde. Und viele böseWorte und Gedanken sind schon von Menschen begraben worden, die miteinander zum Abendmahl gingen. Und vielleicht wißt ihr, wem ihr heute noch ein Wort sagen wollt und müßt, um morgen in der rechten Stimmung zu

kommen. Aber ihr wißt es auch alle, daß es unmöglich ist, mit allen Menschen, zwischen denen und uns etwas liegt, Aussprache zu halten. Für manche wäre es eine Komödie, in der sie nichts verstehen würden; eine Gelegenheit, um das Christentum lächerlich zu machen. Und gar manches schwebt ja auch unausgesprochen zwischen den Menschen; wenn es auch im Herzen einen großen Raum einnimmt, so kann es doch nicht in Worte gefaßt werden. Da fürchte ich, daß wir es uns zu wohlfeil machen, indem wir sagen, wir vergeben ihnen im Herzen, und daß dieses Vergeben kein wahres Vergeben ist, sondern etwas, das wir uns einreden, um zum Abendmahl zu gehen. Ich meine, wir können es nicht ernst genug nehmen mit diesem innerlichen Vergeben und nicht genug bedenken, ob es auch wahr ist, daß wir, um Abendmahlsgäste zu sein, alle Schuldscheine, die wir gegen Menschen in Händen hatten, zerrissen haben und nun keinen, auch nicht den allerkleinsten besitzen! Es muß dein Herz wissen, daß, wenn der Tag kommt, wo es dieses undjenes gegen einen Menschen ausspielen möchte, weil sich die Gelegenheit dazu bietet, es dies nicht mehr darf um dieser heiligen Stunden willen. Wenn duohne Bitterkeit zum Abendmahl gehen willst, mußt duwissen, daß deinVerzeihen unausgesprochen in all deinem Tun und deinem Unterlassen liegen muß! Du mußt wissen, daß dueine stille Saat desFriedenswillst säen, ob siemit Gottes Hilfe Frucht bringen wird zuihrer Zeit, wenn duauchjetzt keine Aussöhnung inWorten herbeizwingen kannst. Betrügt euch nicht mit dem im Herzen Verzeihen. Wißt, wenn wir es tun in dieser Stunde, so binden wir uns für die Zukunft, und wenn wir uns selbst das Wort brechen wollen in Zukunft, so wäre es besser, wir hätten diesen Selbstbetrug nicht vor uns selbst aufgeführt und uns dabei noch eingeredet, wie edel undgroßmütig wir sind. Möge Gott uns lehren, wie schwer es ist, zu verzeihen, und uns die Kraft desVerzeihens und dasVerzeihen, daswir unsjetzt geloben, in Zukunft zu halten, ins Herz geben.|20¡ Zum zweiten wollte ich uns fragen: Kommen wir denn als dankbare Menschen? Es heißt: «Jesus nahm und dankte.» In der dunkelsten 20 [AS-HB, S. 98 f.] «Ich habe Dir etwas geben können, habe den einen Gedanken, der Dich kränkte und Dir das Leben vergiftete, aus Deinem Herzen entfernt. Ich wußte, daß Du dabei leiden würdest – wie sehr, das wußte ich erst an dem Tag, als ich Dir meine Gründonnerstags-Predigt vorgelesen hatte.»

Vorbereitung

auf dasAbendmahl

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Stunde läßt er sich nicht abhalten, Gott ein Dankopfer zu bringen, und preist ihn für das letzte Stücklein Brot und den letzten Trunk Weines auf Erden. Das setzte er dann zum heiligen Mahl, um die Menschen, die ihm angehören wollen, zu zwingen, dankbar zu sein. Dankbar zu sein in den dunkeln Stunden desLebens! Wir warten immer auf ein großes Glück im Leben, um dankbar zu sein. Und wenn Gott es uns schickt, dann vergessen wir das Danken über dem Glück. Darum hat Christus uns das Beispiel des Dankens gegeben in der dunkelsten Stunde für die geringste Gabe, die ihm Gott geschenkt. Dieses «Ich danke dir» beim Brechen des Brotes war das Herrlichste in seinem Leben. Wie oft hat er wunderbaren Dank zu Gott empor geschickt, aber so herrlichen nie, als daerjenes letzte Mal dankte. Jetzt aber, da er uns zu seinem Mahle ruft, fragt er, ob wir auch mit dankbarem Herzen kommen. Wo nicht, da können wir es nicht recht essen. Darum prüft euch, ob denn euer Menschenherz genug voll Dankbarkeit ist; nicht nur jetzt, sondern auch in den stillen Stunden zu Hause. Bringt es zum Überfließen! Seht, es ist ja nur ein Gleichnis, wenn Jesus über Brot undWein dankt und uns Speise der Danksagung genießen läßt. Er hat sicher nicht nur für Irdisches gedankt, sondern auch für Geistiges, für alles, was ihm Gott an Liebe und Güte durch Menschen erwies, für die Erquickung, die ihm dasWeib zu Bethanien bereitete, für dasVerständnis, das ihm die Jünger in aller Schwachheit entgegenbrachten.

Wie nun bei dem Abendmahl alles Äußere nur Träger und Sinnbild eines Geistigen ist, so mußt du, indem du die Speise kostest, welche Christus durch sein Danken geheiligt hat in schwerer Stunde, danken für alles Geistige, für alle Erquickung, die dir Gott gesandt, durch Menschen gesandt. Weil’s dir sonst so schwer wird, nimmt er dichjetzt in die Kraft seines Dankes mit auf bei seinem Mahle, daß dein Herz sich jetzt ausdankt, auch wenn es sonst geängstigt und betrübt ist. Wenn du dein ganzes Erleben, mit dem Freudigen dasTraurige, zum Himmel empor bringst, Gott zum Opfer, wenn’s im Herzen unaussprechlich singt undjauchzt, dann ist’s ein recht Abendmahl. Gott möge uns helfen danken. Das dritte, was ich fragen wollte: Kommen wir als Menschen, die wahrhaft Sündenvergebung suchen? Was heißt das, an die Vergebung der Sünden glauben? Heißt es nur, daß wir zu ihm als unserm himmlischen Vater dasVertrauen haben, daß er uns unsere Sünden vergeben wird? Ich meine manchmal, unsere Vorstellung von der Sündenvergebung ist etwas zu Unlebendiges, weil etwas fehlt, was gerade die Sündenvergebung Gottes in Christus ausmacht. Und dieses Etwas ist das Wort «kämpfen». Christus hat die Sündenvergebung Gottes als Mensch für uns in schwerer Todesqual erkämpft. Und wenn er vergab, sprach er: «Gehe

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hin und sündige hinfort nicht mehr!» [Joh. 8,11], das heißt wiederum «kämpfen». Sündenvergebung zu erlangen, das heißt bereit sein, viel aufzugeben, woran unser Herz hängt, um näher zu Gott zu kommen. Und euch, die ihr Sündenvergebung sucht und darum zu diesem Mahle kommt, möchte ich fragen: Ist es euch wahrhaft ernst damit? Sucht ihr nicht Sündenvergebung und zugleich Gedanken und Pläne festzuhalten, die Sünde sind und mit der wahren Sündenvergebung streiten? Ihr wollt fertig werden mit Dingen, die auf euch lasten, und mancher von euch, ohne daß er es die Menschen wissen läßt, harrt angstvoll, ob denn dieWorte «für euch gegeben zurVergebung der Sünden» in der Stunde der Weihe über der Speise und dem Wein gesprochen, die ihm im Namen Jesu gereicht werden, an ihm ihre befreiende Macht offenbaren werden. Wie viele sind dann schon hinausgegangen als arme Enttäuschte, weil sie nichts von dieser Kraft derWorte erfahren hatten. Und warum nicht? Weil sie nicht als Kämpfende und Ringende hereingekommen waren und nicht durch wahrhaft heilige Entschlüsse die Sünde in sich niedergekämpft hatten. Darum hinderte sie die Sünde, der Sündenvergebung froh zu werden. Herr, hilf uns ringen nach der wahrhaftigen Sündenvergebung!

Nachmittagspredigt Karfreitag, 21. April

1905,|21¡

[St. Nicolai]|22¡

I Petr. 4,1: Weil nun Christus im Fleisch für uns gelitten hat, so wappnet euch mit demselben Sinn; denn wer am Fleisch leidet, der hört auf von Sünden Um diese Stunde war es, daßJesus laut schrie und verschied. Viele sind vor ihm den Heldentod gestorben, viele seither. Viele sind vor ihm als Märtyrer der Wahrheit von den Menschen zu Tode gebracht worden, viele seither. Warum bedeutet aber dieser Tod so etwas Einzigartiges in derWelt? War es seine Geduld und Standhaftigkeit? War es seine Gottergebenheit? War es die Reinheit dieses Menschenlebens, die den unendlichen Wert dieses Todes ausmacht? Ja, und doch nicht allein, sondern das Große daran ist, daßJesus weiß, warum er stirbt. Zwar die Helden und Märtyrer haben es auch gewußt. Sie sahen die Notwendigkeit zu sterben ein, weil sie mit derWelt zusammengetroffen 21 [AS-HB, S. 89] «Karfreitag nachmittags. Ich muß Dir sagen, wie glücklich ich bin ... Auf Wiedersehen. Ich gehe in die Kirche und predige.» 22 [Nach den Angaben im Kirchenboten hat Schweitzer am Nachmittag in St. Nicolai gepredigt.]

Weil Christus im Fleisch gelitten hat

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waren und nun, um sich selbst und ihrer Wahrheit treu zu bleiben, nicht anders konnten, als sich von der Welt vernichten zu lassen. Sie starben durch dieWelt für ihreWahrheit. Aber Jesus weiß mehr von seinem Tode als diese natürliche Notwendigkeit: Er weiß, daß durch sein Leiden Sünde getilgt wird. Das wußte er von Gott aus. Damit gibt er seinem Tod eine Bedeutung, die weit über dem liegt, wasderTod für dieWahrheit bei andern bedeutet. Erklärt hat er es nicht, warum nun seinem Tod diese Bedeutung zukommt. Den Jüngern nie, und sich selbst vielleicht nicht einmal. Er weiß es von Gott her; die Stimme hatte es ihm gesagt. Darum kann ich es euch auch nicht erklären, sondern nur eines immer wieder sagen: Es ist wahr, daßJesus wußte, er sterbe für unsere Sünden. Die Glaubens- und Lehrsätze, die die Menschen aufgestellt haben, um es euch zu erklären, können nicht befriedigen. Wer von euch erschrak nicht schon als Kind, wenn er hörte, daß Gott ein Opfer haben mußte, um den Menschen vergeben zu können? Wer von euch ist befriedigt davon, wenn wir bei Paulus lesen, daß Christus sterben mußte, damit das Gesetz abgetan sei? Wir fühlen alle, daß diesVersuche sind, etwas von außen heraus zu erklären, das nur verstanden wird, wenn man es von innen heraus versteht, wenn sich erfüllt: «Sein Geist gibt Zeugnis unserm Geiste» [Röm. 8,16]. Das kommt, wenn du weißt, was das Leiden Christi ist, nicht so, daß es dir jemand erklärt hat, sondern du es an dir erleidest. Das ist die wahre Erkenntnis der Welt: das Leiden Christi an sich erleiden. Sagen doch St. Paulus und St. Petrus so herrlich von diesem Leiden Christi, das dort nicht am Kreuz fertig ist, sondern sich fortsetzt und ausbreitet über alle Menschen in alle Zeit, undvon unsvollendet wird. Nun erduldet zwarjeder dasLeiden und dieTrübsal, die ihm für diese Welt bestimmt sind. Aber ob es zum Leiden Christi an ihm wird, das hängt von ihm ab. Denn das Leiden Christi besteht nicht in dem, was man erduldet, sondern mit welchen Gedanken man es erduldet, was man von seinem Leiden von Gott aus weiß. Soll ich es klar sagen: Ob es dir offenbar ist, daß du, was du tragen mußt, darfst tragen, um damit Sünde zu sühnen! Das meint St. Petrus in seinem Brief, daer sagt: «Wer am Fleisch leidet, der hört auf von Sünden! Weil nun Christus im Fleisch für uns gelitten hat, so wappnet euch mit derselben Gesinnung.» Wenn wir wüßten, was dasWort «Sühne» heißt; was es früher hieß, und was es durch Christus geworden ist. Früher ein hartes Wort: Strafe auferlegt von Gott für die Schuld. Ein Rechnen undVergelten, furchtbar und unerbittlich. Durch Jesus aber etwas anderes geworden: etwas Freudvolles, Freiwilliges. Erinnert ihr euch, daß er predigte: «Tut Buße»

[Mt. 4,17], geheiligte Buße. Und wißt ihr, worin sie besteht? Daß ihr

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euch unter alles, was ihr Schweres im Leben zu tragen habt, beugt als unter etwas, das euch Gott schickt, daß ihr durch Demut und Geduld seiner Vergebung gewiß werdet für alles, wasihr getan. Ich predige euch nicht eine äußerliche Vorstellung der Buße. Niemals dürfen wir Menschen von dem, was über einen andern kommt, sagen: Das hat ihm Gott geschickt zur Buße. Nicht einmal denken dürfen wir es. Denn wer will Gottes Willen verstehen, wenn er von außen in die Dinge hereinsieht? Aber dein eigenes Leben siehst du von innen heraus. Da findest du den Zusammenhang von dem, was außen vorgeht, und von dem, was in deinem Herzen sich ereignet. Und du wirst mit vielem im Leben, mit Großem und Kleinem, fertig werden, wenn duweißt, wasBuße ist. Einem Menschen wirst du es nie erklären können und sollst es auch nicht. Aber für dich sollst du suchen, warum du dasdarfst tragen. Gott will uns die Dinge sichtbar machen. Darum ließ er es zu, obwohl er kein Opfer nötig hatte, daß Christus am Kreuze unschuldig litt, daß durch Leiden seine Vergebung sichtbar würde. Und dieses Leiden Christi schickt er nun über die Menschen. Äußerlich ist es nicht erkennbar. Es sind die Schickungen, Leiden und Trübsale, die jedem Menschenleben beschieden sind. Aber durch Christi Geist kannst du darin erkennen das Leiden Christi und von Gott aus wissen, warum du das mußt tragen, damit du seiner Vergebung für deine Sünden gewiß wirst. Glaub nicht, daß es etwas Trauriges ist, das Leiden Christi in seinem Leben finden! Kam nicht schon Prüfung über euch, wo Gott mit dem Finger darauf wies: Das trägst du nun fürjenes! Und in tiefer Erniedrigung durch die Sünde habt ihr nicht mit freudiger Angst darauf gewartet, daß etwas komme und die Gleichförmigkeit eures Lebens gestört würde und ihr etwas zu tragen bekämet, wozu ihr sagen könntet «Komm, süßes Kreuz»|23¡, und wo ihr fühltet, daß ihr durch eure Geduld und Demut vom andern erlöst wurdet? Habt ihr nicht manchmal es im Leben gehört, als ob Gott zu euch spräche: So,jetzt mußt du fest auf mich schauen, daß meinVerzeihen dir hundertmal mehr wert ist als alles, wasdujetzt zu tragen hast. Und sagt mir, ob dasdie traurigsten Stunden eures Lebens waren. Mit diesen Gedanken wollen wir vom Kreuz Christi scheiden und weiterziehen, weiterziehen als starke Menschen. Denn waskann uns das Leben noch Schweres bringen, wenn wir alles, was wir tragen müssen, verstehen und wissen, daß es ein Stück von Christi Leiden ist, Gnade Gottes, wo wir durch Demut und Geduld der Vergebung der Sünden froh werden! 23 [Dieses Wort stammt aus der Nr. 66 der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach.]

Ihr seid das Salz derErde

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Morgenpredigt Sonntag, 7. Mai 1905, St. Nicolai|24¡

Mt. 5,13 : Ihr seid das Salz der Erde|25¡ Warum wohl dieJünger nach demTodeJesu nicht in die Stille nach Galiläa zurückkehrten, um dort wieder als Fischer unerkannt zu leben? Ihr Meister hatte sie stolz gemacht. Es gibt große Menschen, auch große Menschen des Guten, deren Größe sich darin kundgibt, daß sie alles, wasin ihren Bereich kommt, beugen und knicken und geistig herrschen über Menschen, denen sie ihre Persönlichkeit und Selbständigkeit genommen haben. Da, wo sie durchgehen, gedeiht kein wahres Leben, und ihre Spur ist wie die des Sturmwinds: gebrochene Äste, entwurzelte Bäume. Ihr findet sie in großen und kleinen Verhältnissen, diese Gewaltnaturen. Es gibt viele Menschen, die sind nichts geworden, weil der Einfluß ihrer Eltern und Lehrer so war, daß ihr persönliches Leben niedergehalten wurde und verkümmerte. Ihr alle, die ihr Menschen erzieht, gebt acht, daß ihr sie nicht erdrückt. Unser Herr Jesus war auch eine Gewaltnatur, aber eine von jenen wenigen, herrlichen und die unvergleichlich größte unter ihnen, die die Selbständigkeit der Menschen nicht unterdrücken, sondern wecken und dadurch die kleinen Menschen durch die Größe, die sie ihnen geben, groß machen. Jetzt versteht ihr, was ich sagen wollte, da ich meinte, Jesus habe seine Jünger stolz gemacht. Beachtet, daß er sie nicht vorbereitet hat, wie sie sich nach seinem Tode verhalten sollen; denn er wußte, daß diese schüchternen, unbedeutenden Menschen durch ihn groß genug geworden waren, den Kampf mit der Welt aufzunehmen. Als ein prophetisches Wort hatte er es ausgesprochen, da er zum ersten Mal das Evangelium vor ihnen predigte und in der Bergpredigt alsbald nach den Seligpreisungen zu ihnen sagte: «Ihr seid das Salz der Erde.» Von sich redet er nicht. Warum sagt er nicht: Ich bin das Licht der Welt? Warum nicht: Ich bin das Salz der Erde? Warum: «Ihr seid das Licht derWelt, ihr seid dasSalz der Erde?» Um ihnen und uns zu sagen: Was ich in derWelt tue, will ich durch euch wirken. Er hat eine Art, zu sagen: Ich brauche euch, daß der, welcher es wirklich hört, das heißt der, anwelchen nicht nur der Schall, sondern auch dasLeben desWortes heranschlägt, injenem Augenblick ein anderer Mensch wird. «Du kommst und machst mich groß.»|26¡ In unserer Unscheinbarkeit 24 [R] Wiederholt in Günsbach 13.8.22. 25 [Wo nun das Salz dumm wird, womit soll man’s salzen? Es ist hinfort zu nichts nütze, denn daß man es hinausschütte und lasse es die Leute zertreten.] 26 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 4.]

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will er uns. Was ist ein Körnlein Salz? Es glänzt trüb und leidet von derWitterung. Zwischen den Fingern kann man’s zerreiben. Der Kiesel glänzt herrlicher, und das Gold ist köstlicher. Aber es ist köstlicher als alles auf der Welt, denn man kann es nicht ersetzen. Alles, was die Menschheit sonst braucht, kann eines durch das andere ersetzt werden, ein Metall durch das andere, eine Nahrung durch eine andere, aber das Salz kann durch nichts ersetzt werden, und man braucht es doch zu allem. Ohne diese Körnlein könnten die Menschen nicht leben. Und seine Kraft gibt es her von selbst. Das Holz muß man zum Balken behauen, den Stein zum Block, das Korn muß man säen, ernten, dreschen, mahlen. Das Salz aber, wenn es nur hingezettelt ist, gibt seine Kraft den Dingen ab von selbst. Was macht’ s, wenn die Menschen ungerecht sind gegen das Salz, weil sie es haben und nicht einmal teuer bezahlen? Diejenigen, die die Geheimnisse der Ernährung und des Wachstums studieren, wissen, daß ohne Salz nichts besteht, und alle Kraft vom Salz kommt. Warum sich dann wundern, daß dieWelt das Geistige nicht begreift, wenn sie das Natürliche nicht einmal versteht. Warum sich darüber befremden, daß dieWelt das Salz Christi nicht schätzt, trotzdem sie davon lebt? Die, welche die Geheimnisse der geistigen Ernährung und des geistigen Wachstums der Menschheit kennen, wissen, daß das ganze geistige Leben unserer Gegenwart in dem, was es Gutes hat, gewürzt ist mit dem Salz Christi, daß alles, was wahrhaft groß und gut ist, vom Evangelium kommt, und daß, was die Menschen feiern als Errungenschaft der Humanität, in Wahrheit gewirkt ist durch die Kraft desEvangeliums. Entzieht dem menschlichen Körper das Salz und schaut dann den krüppelhaften Leib! Entzieht unserer Zeit dasEvangelium, zieht es heraus überall da, wo es verborgen ist, wie ein Chemiker einen Stoff aus einem andern zieht, und schaut dann, was von eurer Kultur und Humanität noch übrigbleibt. Was liegt aber daran, ob die Unverständigen verstehen, wovon sie leben und zehren? Wenn wir es nur verstehen, die Salz sein müssen, damit es derWelt daran nicht gebricht. Fühlt ihr daslebendig, daß euch Jesus ausgestreut hat unter die Menschen, daß ihr Salz seid und seine Kraft um euch herum abgebt in aller Stille und Bescheidenheit? Fühlt ihr in eurem Sein undWesen, wie etwas von Christi Geist in euch ausgeht und wie von selbst in eure Art, zu sein, hineingelegt ist? Fühlt ihr, daß Menschen von euch etwas gehabt haben, durch euch etwas vom Geist Jesu berührt sind? Man kann es nicht beschreiben, was es ist, sich als Salz Christi zu fühlen. Es ist ein Wollen, eine Kraft, ein Stolz, durch daswir größer und stärker und freudiger werden, als wir es irgendeinem Menschen sagen können, innerlich unabhängig von der Welt und den Menschen als solche, die ein Ziel desLebens gefunden haben: an seinem Werke arbeiten zu dürfen.

Ihr seid das Salz derErde

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Ich denke jetzt an die Menschen, die mir sagen: Siehe, das ist unser Leben; so verläuft es Tag für Tag; und die Arbeit, die uns auferlegt ist, hat nichts gemein mit der Arbeit für die Ziele Christi. Es leiden viele Menschen darunter, im Leben so gestellt zu sein, daß ihr Wirken so gar nichts Sichtbares für Christus enthält, sondern ganz in menschlichen Verhältnissen aufgeht. Aber siehe, wenn du Christus nur treu bist an dir, wenn du in tiefem Ernst an dir arbeitest, in seine stille Art hineinzuwachsen, seinen Geist festzuhalten, dann kann es nicht anders sein, als daß etwas von seiner Kraft von dir ausgeht, und du ein Körnlein Salz bist, dasnicht vergebens liegt, wo es hingefallen ist. Was wir äußerlich tun, das ist an sich nichts; sondern was wir tun, wird, was es sein soll, erst durch das, was wir innerlich sind. Arbeiten wir genug an uns, sind wir streng und wahrhaftig genug mit uns, um etwas für Christus sein zu können? Denn er ist unerbittlich gegen die Menschen, die er in seinen Dienst nimmt. Ihr hört es wohl: Er sagt nicht nur «Es ist hinfort zu nichts nütze», sondern noch «als daß man es hinausschütte und lasse es die Leute zertreten». Wenn ihr hört, wie sie höhnen und spotten undjohlen, wenn der lärmende Haufe über das Christentum lästert, geht nicht hinaus und erhebt eure Stimme nicht dagegen. Sie sollen auch keine irdische Gewalt rufen, daß sie die Religion schütze: Denn beim Haufen würden sieJesus selbst finden. Er rief sie und schüttete das dumm gewordene Salz vor ihnen aus und lud sie ein, es zu zertreten. Jetzt sieht er dem Treiben zu und sagt: Ich hab es so gewollt. Er hat die Welt zum Richter gesetzt über die Seinen. Es ist eine Ungerechtigkeit. Den Ihrigen verzeiht die Welt alles. Aber diejenigen, die irgendwie ihr Christentum bekennen, hat sie im Auge; und wehe, wenn sie auch nur im Geringsten dem Geiste des Meisters untreu waren und sich eine Blöße geben. Dann fällt sie erbarmungslos über sie her und läßt nicht los, ob sie diesen Menschen vernichten könnte. Sie mißt mit zweierlei Maß. Wir möchten fragen: mit welchem Recht? Welches Recht haben sie, die keine Anstrengung zum Höheren gemacht haben, über einen Menschen herzufallen, der es ernst genommen hat, derJesus nachleben wollte und nun in einem Falle menschlich fehlte? Mit welchem Recht richten sie den, der innerlich hoch über ihnen steht, und werfen mit Schmutz nach ihm? Mit welchem Recht richten sie nach dem Maßstab der Barmherzigkeit Jesu die Seinen, die nicht barmherzig waren? Mit welchen Rechten richten sie die Seinen, die nicht friedfertig waren, nach dem Maßstab der Friedfertigkeit Jesu, die lieblos waren nach dem Maßstab der Liebe Jesu, die eigennützig waren nach dem Maßstab der Uneigennützigkeit Jesu, die sich gegen die Wahrhaftigkeit verfehlt haben nach dem Maßstab der Wahrhaftigkeit Jesu? Wer gibt ihnen ein Recht dazu, da sie diese Maßstäbe für sich nicht kennen? Wie dürfen sie alles, wasein Mensch erstrebt und getan hat, für

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nichts achten, wenn es doch hundertmal hinreichte, das, worin er menschlich gefehlt, zubedecken? Vor einer Reihe von Jahren hatte ein Hofprediger, der durch seine Bestrebungen in der Fürsorge für Arbeiter sehr bekannt ist und seine Ansichten auch politisch betätigte, wie es die Politik mit sich bringt, sich in Widersprüche verwickelt, so daß ihm in einem Fall leichtfertiges Umgehen mit der Wahrheit nachgewiesen werden konnte. Da fiel er unter das Gericht derWelt, und es begann die Hetze. Die Menschen taten sich zusammen, ihn, den sie haßten, weil sein Streben viel edler war als das ihre, zum toten Mann zu machen. Wir haben das miterlebt und durften ihn nicht schützen, wenn wir uns auch innerlich gegen das widerliche, ungerechte Schauspiel aufbäumten. Was dort im Großen geschah, geschieht überall; es herrscht dieses Gesetz bis in das kleinste Dorf – und wir selbst stehen unter diesem Gesetz. Jesus hat der Welt das Recht gegeben, gegen die Seinen ungerecht zu sein. Und in der Ungerechtigkeit liegt doch eine Gerechtigkeit. Die Menschen derWelt sind wahrhaftig: Sie haben ihr Ziel nicht höher gesteckt als ihre Kraft. Ihr Leben und ihr Ideal decken sich. Wir aber, weil unser Ziel höher ist, laufen alle Gefahr, unwahrhaftig zu sein, ein Ideal zur Schau zu tragen, hinter dem keine Wirklichkeit ist, Pharisäer, übertünchte Gräber zuwerden, die eben unter dasGericht fallen. DennJesus war gegen die Pharisäer auch ungerecht. Er hat sie erbarmungslos gerichtet darin, daß sie unwahrhaftig waren, und dabei nicht in Betracht gezogen die Lasten, die sie sich auflegten, um Gott gefällig zu sein. Aber seine Ungerechtigkeit ist eben die ewige Gerechtigkeit. Unwahrhaftig werden wir in dem Augenblick, wo wir aufhören, gegen uns unerbittlich streng zu sein und uns selbst zu richten als solche, dieJünger Jesu sein wollen, als solche, die stolz und freudig sind, etwas für ihn tun zu dürfen. In dem Moment, wo wir aufhören, zu kämpfen und mit uns selbst zu ringen, daß wir so leben in allem, daß wir ein Recht haben, etwas für ihn zu tun – in dem Augenblick verläßt uns die Kraft, und es tritt ein, was der Herr gesagt hat: «Wenn aber das Salz dumm wird.» Es ist uns nach den Festen, als geschähe es uns wie denJüngern damals, als wären wir jetzt allein auf derWelt, um fürJesus zu wirken. Da ich sein Wort auslegte, wollte ich uns in seinem Namen mit Stolz und Freude erfüllen, etwas so Großes erstreben zu dürfen, aber auch mit unerbittlicher Härte gegen uns selbst, daß wir nicht aufhören zu kämpfen und unter dasGericht derWelt fallen. Er aber möge uns helfen, daß wir als bescheidene Salzkörnlein, die er unter die Menschen ausgestreut hat, das wirken, wozu er uns bestimmt hat.

Werüberwindet, derwird alles

ererben

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Nachmittagspredigt Sonntag, 14. Mai 1905, St. Nicolai

Apk. 21,7: Wer überwindet, der wird alles ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein

Wir sagen, das Neue im Christentum bestehe darin, daß wir Gottes Kinder sind, und berufen uns dabei auf die herrlichen Sprüche Jesu, in denen er uns dieser Kindschaft versichert. Aber ich frage mich, ob wir uns da nicht mit Worten täuschen und ob wir uns in Wahrheit als Gottes Kinder fühlen. Ob wir wissen, wie es ist? Schon in dem gewöhnlichen Leben hören wir oft von Dingen und Erlebnissen reden, welche uns darum, daß wir viel davon reden hören, nicht wirklicher werden, ob man es uns auch erkläre, bis wir es erlebt haben undwissen, wie esist. Daß es uns mit der Gotteskindschaft nicht auch so gehe, daß wir davon reden und reden hören, und es doch etwas Fremdes bleibt, möchte ich die Frage an uns stellen, ob wir denn wissen, was es ist, Kinder Gottes zu sein.|27¡

Wenn man sich dasWort vorstellt, so sieht man, daß es den höchsten Reichtum unddashöchste Glück enthält. Ein Mensch, der sich wirklich als Gottes Kind fühlt, der muß mit den Füßen den Boden nicht mehr berühren, sondern über alles hinausgehoben sein. Aber ich weiß nicht, ob einer von uns dieses Glück wirklich besitzt und sagen kann: Ich fühle mich wirklich als Gottes Kind. So unbefangen glücklich ist keiner von uns. Aber es ist keiner auch so unglücklich unter uns, daß er sagen müßte: Ich weiß nicht, was es in Wahrheit heißt, Gottes Kind zu sein, und habe diese Seligkeit nie gespürt. In gewissen Augenblicken des Lebens wußten wir, was es ist, Gottes Kinder zu sein; wir hatten dieses Gefühl des Geborgenseins und des Reichseins in Gott, welches die Kindschaft ausmacht, und wir fühlten eine Kraft und einen Trost, die nicht von hienieden waren, sondern unserem Geiste von seinem Geiste kamen. Aber das ist unser Unglück, daß dies nur Momente waren und daß wir für gewöhnlich ohne dieses Glück dahinleben und sind Gotteskinder nur unserem hohen Beruf nach, nicht nach derWirklichkeit. Ihr wißt, daß Esau sein Erstgeburtsrecht verkaufte für ein Linsengericht, und sein Vater konnte ihn nachher nicht dazu machen und ihm das Erbe nicht geben, weil er es für eine Kleinigkeit verscherzt hatte [Gen. 25,29– 33]. 27 [R] Nicht erklären will ich es euch, wie ihr es schon hundertmal gehört, sondern fragen, ob ihr wißt, was es ist.

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Ich meine, wir sind alle wie Esau, Menschen, die, weil sie es zu leicht nahmen, um ihre Kindschaft betrogen worden sind. Es ist der Hunger nach Welt undWeltfreude, der uns betrog, ein Stück Welt, das nicht in uns überwunden war, das uns um unser Erbe brachte. Und nun gehen wir dahin als solche, die wissen, sie sind Gottes Kinder, und doch wissen, daß sie es nicht sind. Wie soll ich sagen: Wir sind in einer falschen Stellung Gott und derWelt gegenüber. Ihr kennt sie, diese langen Wegstrecken des Lebens, die wir müd und gleichgültig dahinziehen, weil wir Gott nicht nahe fühlen, sondern meinen, er sei entwichen und throne in der Ferne wie ein unlebendiger Begriff. Und du brauchst nicht lange zu suchen, warum die Sonne untergegangen und alles in Grau vor dir liegt: Du weißt, waszwischen dir und Gott liegt. Ein Stück Welt, gute oder böse Lust, die du willst festhalten, etwas, wovon du dir willst einreden, es sei mit Gott in deinem Herzen vereinbar. Und wenn ich in diesem Augenblick uns fragte, warum wir uns nicht freudig als Gotteskinder fühlen, so wüßte jeder von uns das«Warum» zu nennen. So sind wir Menschen. Wir wissen, wasuns im Leben die Freudigkeit und Seligkeit raubt, eine unaussprechliche Freudigkeit und Seligkeit, und wir lassen es gehen, daß die Welt uns betört und um unser Erbe bringt und daß alle Anstrengungen, die wir für Gott gemacht haben, umsonst bleiben, weil wir nicht die eine noch machten, die nötig ist. Wir sind wie der reiche Jüngling: Ohne falsche Werkheiligkeit konnte er sagen, daß er dies undjenes getan habe, aber er hatte nicht die Energie, das Letzte zu tun, was er mußte, war so nah am Ziel und kam doch nicht an [Mt. 19,22–24]. Ist das nicht unser Los auch, wenn ich uns recht kenne, daß wir nicht fern vom Ziel sind und doch nicht hinkommen, weil wir die letzte Anstrengung nicht machen? Unsere Bestimmung und unser Dasein ist so verschieden, und darin gleichen wir uns doch alle, daß wir die letzte Anstrengung nicht wagen und wie von einer unbegreiflichen Lahmheit erfaßt werden, mit dem fertigzumachen, womit wir fertigmachen müssen. Wir ertrinken im Leben wie die, welche von ihren Kräften verlassen wurden, da sie nur noch eine Armeslänge vom Land waren. Darum ergreift mich dieses Wort so, daß ich davon mit euch reden mußte: «Wer überwindet, der wird alles ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein.» Die Augenblicke, wo wir uns als Kinder Gottes fühlten, das waren die, wo wir etwas überwunden hatten, eine Versuchung, einen bösen Gedanken, einen Schmerz. Dann kam es von selbst, jenes wunderbare Gefühl des Geborgenseins und des Reichseins in Gott. Wir ererbten das Glück und den Frieden, und wir wußten, was es war, Gottes Kinder zu sein.

Die 10 Aussätzigen – Die Dankbarkeit

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Wenn ich uns daher ermahne, zu überwinden, was uns von Gott fernhält, um in Gott glücklich zu werden, dann sage ich euch nicht etwas, das ihr nicht wüßtet, sondern ich will uns zur Tat erwecken. Ich möchte uns zurufen, daß wir nicht fern vom Reich Gottes sind und uns Energie geben, den letzten Schritt zu tun, zu überwinden fort und fort, um glücklich zuwerden in Gott. Ich kann es nicht jedem von euch sagen, was es überwinden muß, und wenn ich es sagen könnte, so vermöchte ich es nicht so gut zu sagen, wie es es selber weiß. Denn ihr kennt alle die Gedanken, mit denen ihr fertig werden müßt, und die Versuchungen, die ihr ein für alle Mal aus eurem Leben entfernen müßt, um Gott wirklich nahe zu fühlen. Aber der Mut fehlt uns, damit ein Ende zu machen. Möge Gott uns allen die Kraft und Entschlossenheit geben, nachdem wir uns zusammen erbaut, etwas zu überwinden, was uns von ihm trennte, und uns sehnsüchtig machen, seine Kinder zu werden.

Morgengottesdienst Sonntag Cantate, 21. Mai 1905,|28¡ St. Nicolai

Lk. 17,11–19: Die 10 Aussätzigen – Die Dankbarkeit|29¡ Wir kommen zu Jesus, um zu lernen, wie man freudig Gutes tut und sich durch die Undankbarkeit, die man erntet, nicht irre und nicht müd machen läßt. Er lehrt uns, die Undankbarkeit überwinden, wie er uns überall überwinden lehrt: als einer, der selbst gelitten und überwunden hat. Wieviel Dankbarkeit durfte er in der Welt suchen – und was hat er gefunden!! Aber ich muß mit dem Ende beginnen. Ich frage mich nämlich, ob wir nicht enttäuscht sind, weil wir einen falschen Dank bei der Welt

28 [AS-HB, S. 94] «Samstag abend, 20. Mai 05. Morgen predige ich. Während ich die Predigt schrieb, schwebte ich im Blau des Himmels.» [Und am nächsten Tag schreibt er:] «Quand j’écrivit le sermon, befand ich mich in Verklärung.» [Brief im Zentralarchiv Günsbach.]

29 [Und es begab sich, da er reiste genJerusalem, zog er mitten durch Samarien und Galiläa. Und als er in einen Markt kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer, die stan-

den von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesu, lieber Meister, erbarme dich unser! Und da er sie sah, sprach er zu ihnen: Gehet hin und zeiget euch den Priestern! Und es geschah, da sie hingingen, wurden sie rein. Einer aber unter ihnen, da er sah, daß er geheilt war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel auf sein Angesicht zu seinen Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind ihrer nicht zehn rein worden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte und gäbe Gott die Ehre, denn dieser Fremdling? Und er sprach zu ihm: Stehe auf, gehe hin; dein Glaube hat dir geholfen.]

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suchen, denJesus nicht bei ihr gesucht hat, und ob in unserer Erwartung des Dankes nicht zuviel Menschenegoismus steckt. Nun schaut, welchen Dank der Herr annimmt. Ihr erinnert euch der Worte, die er zu dem Zurückgekehrten sagt: «Stehe auf, gehe hin!» Wundert euch dies Wort nicht? Wenn er gesagt hätte: «Folge mir nach» – er hätte ein Recht dazu gehabt. Er hätte diesen Menschen an sich gefesselt, daß er ausDankbarkeit ihm gefolgt wäre bis zum Kreuze, dort zu seinen Füßen zu sterben. Aber siehe, der Herr, der sonst so gewalttätig in das Leben der Menschen eingreift und sie aus ihrer Bahn herausreißt, der die Fischer am See mit seinem Blick an sich schmiedet, daß sie alles verlassen müssen [Mt. 4,18–22], gibt diesen Menschen frei, wie man die Hand öffnet und einen gefangenen Vogel fliegen läßt. Wie ganz anders wir. Wir wollen uns die Menschen verpflichten durch Dankbarkeit; mit dem, was wir ihnen Gutes tun, werfen wir ihnen eine Schlinge über und zerren sie damit hinter uns her. Und wenn sie sich sträuben, ziehen wir fester und schelten über die Undankbarkeit der Welt und meinen, ein Recht dazu zu haben, und sehen nicht, daß wir sie erwürgen. Wie viele Menschen seufzen unter der Fessel der Dankbarkeit, weil man sie dasGute, wassie empfangen, als einen Schuldschein empfinden läßt, dessen Zinsen sie bis an ihr Lebensende bezahlen müssen. Fühlt ihr, daß in der Dankbarkeit, die wir naiv verlangen, etwas Unmoralisches liegt? Aber Christus sagt: Gib die frei, denen du Gutes getan hast. Er öffnet uns die Augen über den Egoismus, der in der Art liegt, wie der natürliche Mensch Dankbarkeit in der Welt sucht. Ich meine, das gibt unsviel zu denken. Was sagt er noch? «Dein Glaube hat dir geholfen.» Er fürchtet, daß der Mensch ihn rühme und preise, und um dem vorzubeugen, sagt er ihm: Du selbst hast es verdient und gewirkt durch deinen Glauben. Auch etwas, was er so natürlich tut, und was uns so schwer ankommt. Wenn ihr euch kennt, so wißt ihr, daß in dem Momente, wo ihr Gutes tut, eine große Gefahr der Eitelkeit für euch heraufzieht, weil wir dann ein Recht zu haben glauben, uns von denen, denen wir geholfen, mit Behagen rühmen zu hören. Undje besser ein Mensch ist, desto größer diese Gefahr. Es gibt herrliche Menschen, die fast daran zugrunde gehen. Und wir selbst sind oft dieser Gefahr erlegen oder haben uns mit ein paar Phrasen weltlicher, innerlich unwahrhaftiger Bescheidenheit einreden wollen, daß wir von unserer Person absahen. Aber welcher Weg, bis wir zu dieser wahren und einfachen Art Jesu kommen, die Menschen, die uns danken, aufzurichten, sie nicht mit unserer Person und Güte zu erdrücken, sondern ihnen Mut zu machen und Vertrauen in ihre eigene Kraft zu geben.

Die 10Aussätzigen – Die Dankbarkeit

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Und das dritte Wort ist geradeso verwunderlich. Er fragt: «Hat sich keiner gefunden, der wieder umkehrte und gäbe Gott die Ehre?» Nicht fragt er: Mir zu danken? Nichts von Egoismus in dem Dank, den er in derWelt sucht. Er sucht ihn nur für Gott. Was er in derWelt Gutes tut, das sät er aus, daß es eine Frucht des Dankes für Gott bringe und daß es Herzen, die fern von Gott waren, in der Freude zu Gott hinführe. Und wir? Wir stellen unszwischen Gott und die Menschen undwollen etwas für uns selbst sein und für uns selbst ernten, statt still guten Samen zu säen, daß Gott eine köstliche Ernte tue und Menschen durch uns von seiner Liebe ergriffen werden. Versteht ihr, was der Herr in seinem einfachen Wesen tut? Er hebt uns hinaus über das Sprichwort «Undank ist der Welt Lohn», indem er uns den Unterschied zwischen dem Dank zeigt, den dasMenschenkind in derWelt sucht, und dem, den er selbst sucht. Er nimmt uns die Unbefangenheit und zwingt uns, nicht bei der Welt, sondern bei uns selbst anzufangen und die Eitelkeit und Selbstliebe und den ganzen irdischen Sinn aus unserem Dankbarkeitsfordern an die Welt auszusondern, daß wir dann dasböse Menschensprüchlein «Undank ist derWelt Lohn» mit Füßen treten können, daß es uns nicht mit giftigem Biß mißgelaunt und mutlos mache, da es nur auf die Dankbarkeit geht, welche dieWelt von derWelt erwartet oder in derWelt sucht. Was liegt dann daran, ob dieser Dank sichtbar zu dir kommt oder ob er still zu Gott geht? Anjenem Abend saßJesus auf der Bank vor der Tür, und traurig kam ihm immer dieselbe Frage wieder: «Wosind denn die neun andern?» Und da er sann, ward plötzlich die ganze Traurigkeit von ihm genommen, und sein Angesicht leuchtete. In einer fernen Hütte weit über Berg und Tal knieten ein Mann und eine Frau und die Kinder und dankten Gott in überschwenglicher Freude, daß er sie wieder vereinigt hatte. Es war einer von denen, die nicht wiedergekehrt waren. Da lächelte Jesus; aber da er nichts sagte, und sie nicht in die Ferne hörten und sahen, erfuhren die Jünger das Ende der Geschichte von den zehn Aussätzigen nie und konnten es nicht ins Evangelium schreiben. So kehrt auch von dem, was du tust, nicht aller Dank zu dir. Aber meine nicht, daß es umsonst war, wenn es im wahren Geiste Christi gewirkt war. Ihr erinnert euch, daß ich euch einmal sagte, daß Gott das Gute, das wir wirken dürfen, vor uns verbirgt, damit wir bescheiden bleiben, denn manchmal wirkt er durch etwas Kleines, das wir tun, Großes, und wir könnten dann meinen, wir hätten’s getan. So läßt er nicht allen Dank zu uns zurückkehren und verbirgt vor uns die Stunde, wo er erntet, waswir gesät haben. Und wenn du auch zu sehen meinst, wie es umsonst war, und siehst, wie das, wasdu Gutes tatest, von der Erde eingeschluckt wird, laß dich’s nicht kümmern. So schluckt sie auch den Regen Gottes ein und behält

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ihn, und niemand weiß, was daraus wird, und in der sprudelnden Quelle gibt sie doch wieder, was sie getrunken. Und wenn selbst alles, was du tust, verschwindet und kein Dank zu dir zurückkehrt, so wisse, es muß erst die Welt durch uns mit Gottes Güte und Liebe gesättigt werden, es muß viel Liebe und Güte darin scheinbar vergeudet werden, bis hie und da eine Quelle des Dankes zu Gott emporsprudeln kann. Sind wir nicht die Kinder dessen, der über dem Ozean regnen läßt? – und doch ist keiner der Tropfen verloren. So will er durch uns seine Güte über das Menschenmeer regnen lassen – und wie darf derTropfen fragen, wasihm dafür wird? Wir sind hier, um das Bild der Liebe Gottes auf Erden zu zeichnen. Wenn aber einer ein Bild auf der Leinwand entstehen läßt, muß er sie erst durch unzählige Pinselstriche mit Farbe tränken, bis langsam die Umrisse des Bildes erscheinen. Meint ihr, daß wir schon genug Liebe Gottes aufgetragen haben, daß die Menschen das Antlitz Gottes sehen und davor niederfallen und anbeten? Aber doch ist er so gut, daß er uns manchmal, wenn wir es nötig haben, etwas Dank sehen läßt, der uns von den Menschen zurückkehrt, daß wir ihn ihm opfern dürfen. Und wer das Egoistische überwunden hat, dasin unserer Forderung des Dankes liegt, dasAllzumenschliche in unserm Bedürfnis, Dank zu erhalten, der kann sich mit diesem Wenigen begnügen und die Mutlosigkeit zum Guten überwinden, der, welcher gelernt hat, was es heißt: «Die Liebe sucht nicht das Ihre» [I Kor. 13,5]. Sie sucht Christus. Wir sind die, welche durch ihn rein geworden sind vom Aussatz der Sünde; und wie er jene zu den Hohenpriestern sendet, so sendet er uns unter die Menschen, daß sie merken, wasfür eine Kraft von ihm ausgeht. Unser Leben ist der lange Weg, auf dem wir zu ihm zurückkehren, verlassend, was uns hienieden lieb ist, ihm unsern Dank zu bringen, indem wir nicht müde werden, Gutes zu tun, bis wir zuletzt zu ihm gelangen, ganz rein, befreit von allem Irdischen, seine Füße zu umfassen und ihn zu preisen. Dann wird er uns aufheben und sprechen wie damals: «Dein Glaube hat dir geholfen» – geholfen, rein zu werden und denWeg der Dankbarkeit zu mir zurückzufinden.

Nachmittagspredigt Sonntag, 4. Juni 1905, St. Nicolai

II Kor. 12,9: Laß dir an meiner Gnade genügen

Das Wort «Gnade» sieht anders aus, je nachdem es von Gott oder von den Menschen kommt. Wenn es von den Menschen kommt, ist es ein böses Wort, und die Dinge, die uns sonst Freude machen würden, ver-

Laß dir an meiner Gnade genügen

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lieren an Wert und werden oft unerträglich, wenn sie mit dem Wort Gnade gestempelt sind. Es ist leichter, den Haß und die Ungerechtigkeit der Menschen als ihre Gnade zu ertragen. Gibt es etwas Traurigeres, als auf die Gnade jemandes angewiesen zu sein oder gar von der Gnade jemandes zu leben? Ich hörte eine Mutter einst sagen: Ich liebe meine Kinder, und meine Kinder lieben mich, aber will’s Gott, kommt es nie dazu, daß sie mich erhalten brauchen und ich von ihrer Gnade lebe, auch wenn sie es mich ausLiebe nicht merken lassen. Und wie viele Menschen hängen von Gnade ab und müssen es täglich zu hören bekommen. Darum denkt daran, wenn ihr in die Lage kommt, jemand etwas aus Gnade zu tun, daß ihr es euch nicht merken laßt, sondern die Gnade in Liebe und Freundlichkeit und Selbstverständlichkeit einkleidet, denn Gnade von Menschen ist etwas, das immer niederdrückt. Darin sündigen wir so leicht, denn unsere Eitelkeit läßt es uns als etwas Natürliches erscheinen, daß wir unsin unserer eigenen Gnade sonnen dürfen. Ich weiß nicht, ob das nicht menschlich zu stolz gedacht ist. Aber ich empfinde so, weil ich nichts Niederdrückenderes kenne als die Gnade der Menschen. Wenn ich in der Zeitung lese, daß ein Fürst allergnädigst geruhte, einem Menschen, der es verdient hatte, eine Auszeichnung zu verleihen, nehme ich an diesem Ausdruck immer etwas Anstoß. Denn wenn jener es verdient hat, so ist die Auszeichnung sein Recht und keine Gnade. Auch bewundere ich die, welche in der Umgebung der Fürsten leben können, und die jeden Morgen, damit es recht tage, den Aufgang von zwei Sonnen, der lieben Sonne Gottes und der Sonne der fürstlichen Gnade erwarten müssen. Doch damit sei es genug von dem bösen Klang desWortes Gnade. Ich meine, es macht den Menschen nicht schlecht, wenn er sich Menschen gegenüber stolz undunabhängig fühlt, wenn esnur dasrechte Unabhängigkeitsgefühl ist, das sich mit der Liebe verträgt und nicht eine Stiefschwester der Eitelkeit ist. Darum ist mir der Apostel Paulus so sympathisch. Er war stolz im guten Sinn und konnte sich aufbäumen, wenn seine Gemeinden ihn verletzten. Injedem Brief fast rühmt er sich seiner Unabhängigkeit, daßer, wo er doch ein Recht habe alsihr Prediger, etwas zu seinem Unterhalt von ihnen zu beanspruchen, es doch vorziehe, sich mit seiner Hände Arbeit durchzuschlagen und ihre Gnade nicht in Anspruch zu nehmen, daß sie sie ihn nicht einmal merken lassen können. Und dieser innerlich gegen Menschen so stolze Apostel redet so herrlich von der Gnade Gottes, daß man meint, es müsse doppelt wahr sein, weil er es sagt. Denn Gottes Gnade ist etwas ganz anderes als Menschengnade: Sie erhebt und drückt nicht nieder. Was ist aber eigentlich Gnade Gottes? Da denken wir zuerst an die Sündenvergebung. Aber ich meine manchmal, daß wir in angelernten Sätzen über Sünde und Sündenvergebung denken, als ob das die vor-

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nehmste Gnade des Herrn ist, daß er uns von der Angst eines zukünftigen Gerichts befreit. Ich habe erst recht empfunden, was Sünde und Sündenvergebung ist, als ich fühlte, unter einem gegenwärtigen und nicht unter einem zukünftigen Gericht zu stehen. Dies Gericht bestand nur in dem Satz: Du bist unwürdig, noch mehr etwas Reines und Heiliges in dieser Welt zu wirken. Undjedesmal, wenn dieser Bann kommt und dann wieder von mir genommen wird, weiß ich, was die Gnade Gottes heißt. Sie heißt: Du darfst mithelfen an meinem Werk, und das Fünkchen meines Geistes und meiner Kraft, das in dir ruht, soll nicht von dir genommen werden, auch wenn du gefallen bist. Sie heißt: Sei wieder froh und frei zu freudigem Schaffen. Wenn man doch nur lebendig reden kann von dem, was man erlebt hat, so kann ich euch sagen, daß ich es als Gnade Gottes empfinde, sein Evangelium predigen zu dürfen, und daß er die Gedanken, die jedem Prediger aufsteigen, ob wir nach dem, waswir innerlich sind, wenn wir uns schonungslos selbst betrachten, das Recht haben, das Evangelium zu predigen, und ob von unserer Predigt, die mit so viel menschlichem Irren und Sündigen beschwert ist, irgendein Segen ausgehen kann, daß er uns von diesen Gedanken befreit und uns ansehen will, als ob wir rein wären. Ich meine, ihr empfindet die Gnade Gottes auch so, jedes in seiner Art, daß ihr, wie soll ich sagen, noch zu etwas gut sein dürft in derWelt. Wenn er euch Kinder zum Erziehen gibt, fühlt ihr nicht, daß es Gnade ist, daß er nun eine Menschenexistenz in eure Hand legt, als hielte er euch für würdig und stark, eine so hohe Pflicht zu erfüllen? Wenn doch die Menschen nur die Gnade Gottes in ihrem Leben zusammensuchen wollten überall da, wo er ihnen vertraut, daß sie etwas Gutes tun werden, wie reich wären sie. Zwar, es kann es kaum einer einem andern sagen, was die Gnade Gottes ist, denn sie ist, trotzdem sie immer dieselbe bleibt, so reich und mannigfaltig, wenn sie in ein Menschenleben hineinscheint als ein lichter Sonnenstrahl, der sich in tausend Farben bricht. Gnade Gottes ist das Freudigste, wasunser Herz in den traurigsten Stunden erlebte, alles zusammen, Großes und Kleines. Und wenn ich euch alles aufzählen würde, was ich als Gnade Gottes empfand, so würdet ihr euch vielleicht wundern und von manchem nicht verstehen, warum dies gerade zur Gnade Gottes gehörte. Bei euch wäre es auch nicht anders. Es ist eben immer nur ein Stück der geistigen Welt in uns, das wir andern aufdekken können; das andere bleibt ihnen verborgen, und wir können es ihnen nicht offenbaren. Aber wenn dein Herz nur die Stimme Gottes vernahm, die zu ihm sprach: «Laß dir an meiner Gnade genügen.» Es ist etwas Merkwürdiges, bis die Menschen diese Stimme Gottes vernehmen. Manche bringen das Gehör dafür aus der Unbefangenheit

Den Geist

dämpfet nicht

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und Reinheit des Kinderglaubens mit und erfahren die Gnade Gottes kampflos. Andere müssen durch schwere Kämpfe hindurch. Gott entreißt ihnen alles, was ihr Leben ausmacht, ein Stück ums andere, zerbricht ihr Glück, vernichtet, was ihr Reichtum war, daß wir, die zusehen, schaudern und schreien möchten: Herr, halt ein! Und es war alles umsonst. Sie stehen zwischen den Trümmern ihres Lebens und fanden ihn nicht. Wieder andere wissen, was seine Gnade ist, und haben sich in vieler Trübsal daran aufgerichtet. Aber als kennten sie sie noch nicht genug, schickt er ihnen noch immer Trübsal, daß ihnen zuletzt nichts mehr bleibt als seine Gnade. So ist der Sinn von allem, was sich vor unsern Augen abspielt, daß die Menschen in allem, was ihnen begegnet, horchen sollen, ob sie die Stimme Gottes hören, die zu ihnen spricht: «Laß dir an meiner Gnade genügen.» Je weiter wir im Leben vorwärts kommen, desto mehr besteht nur noch dies eine. Alles andere, eins nach dem andern, verliert seinen Wert und seine Kraft. Unser Vertrauen auf uns selbst und auf die andern wird geringer, und wir fühlen nur immer, wie die Aufgabe schwerer und die Kräfte schwächer werden. Wenn es nur das rechte Gefühl der Schwachheit ist, die ihre einzige Kraft in Gott sucht und von seiner Gnade still und freudig leben will, dann darf das Leben bringen, was es will, es hat nur erfüllt, was Gott von ihm wollte: daß wir seine Gnade suchen, auf daß sie uns stark mache. Der Herr führe uns zu seiner Gnade und verleihe uns in Gnaden, daß wir es erfahren dürfen zu seiner Stunde: «Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.»

Morgenpredigt Pfingstsonntag, 11.Juni 1905, [St. Nicolai]|30¡

I Thess. 5,19: Den Geist dämpfet nicht Ich erinnere mich dessen, als wäre es gestern gewesen. Wir saßen in der Dorfschule am Pfingstsamstag; die Schwalben flogen lustig vor den Fenstern herum, und der Lehrer erklärte dasLied «O heilger Geist, kehr bei uns ein»|31¡. Ich dachte nicht anders, als daß er müsse genau wissen, was der heilige Geist sei, wie die Erwachsenen ja alles wüßten, und sehnte mich nach der Zeit, wo auch ich groß wäre und wüßte, was der heilige Geist ist. 30 [Nach den Angaben im Kirchenboten hat Schweitzer am Pfingstmorgen in St. Nicolai gepredigt.]

31 [Michael Schirmer: O heilger Geist, kehr bei unsein, Str. 1.]

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Seither, wenn ich nur die sonnendurchleuchtete Melodie jenes Liedes höre, kommt die nämliche Sehnsucht über mich. Denn das Leben hat die Erwartung des Knaben nicht erfüllt, und ich meine gar, daß in weihevollen Stunden der Kindheit der heilige Geist uns unmittelbar näher war alsjetzt, nur daß wir nicht wußten, daß jenes ahnungsvolle, reine Sehnen der heilige Geist selbst war. Es muß etwas Wunderbares gewesen sein, jene Frühlingstage des Christentums, da Menschen wie St. Paulus in Vollmacht des Geistes redeten und schrieben, und jener Geist so übermächtig unter den Gläubigen umging, daß er wie eine Naturgewalt wirkte und sie in verzückte Zustände warf, jene Zeiten, da niemand zu erklären brauchte, was der heilige Geist sei, und keiner war, der sich nicht des Geistes rühmte. Wir aber versammeln uns am Pfingstfest nicht als Reiche, sondern als Arme, und auch die, welche zu dieser Stunde allenthalben auf den Kanzeln stehen, können zu ihren Brüdern nicht als Besitzende reden, nicht als solche, die ihnen etwas von ihrem Überfluß geben können, sondern als Mitsehnende und Mitsuchende, um ihnen zu sagen: Werdet nicht matt. Und doch liebe ich das Pfingstfest vor allen andern und meine, an keinem Tage desJahres mit solcher Freudigkeit vor euch predigen zu können. Denn es gilt ja heute nicht wie an den andern Festen, etwas zu feiern, das einmal anJesus geschehen ist und so nie wiederkommt, sich auch so nicht an uns wiederholt, sondern etwas, was wir erleben sollen. Und nicht etwas, das wir erleben sollen und nicht können, sondern wo man den Menschen sagen darf: Sehne dich recht, wolle recht, und du wirst etwas davon erleben. Denn schon brauche ich euch nicht zu erklären, was der heilige Geist ist. In eurem Sehnen wißt ihr es: Es ist der Geist Christi mit all seiner Kraft und Freudigkeit zum Guten, mit seiner reinen Begeisterung, mit seiner Liebe, seinem Frieden, seinem Trost, seinem tiefen, einfachen Wissen, es ist der lebendige Inbegriff all des Reichtums, den er auf Erden gebracht hat: Sein Geist, der nun umgeht und sucht, sich mit einem Menschengeist zu verbinden, daß er in ihm wieder Person werde und fortfahre, dieTaten zu wirken dessen, der ihn auf dieWelt gebracht, und denen, die sich ihm ergeben, jenen Frieden undjene Seligkeit zu bringen, die er besessen. Ein Fünklein jenes Geistes liegt in unser aller Seelen. Und das Sehnen nach heiligem Geist ist wie der heilige Rauch jenes erstickten Feuers, der in schwankenden Linien zum Himmel emporstrebt. Das Feuer kann nicht ausbrechen, weil es keine Luft und Nahrung hat. Daß nun aber unsere Pfingstsehnsucht nicht eine Erbauung in der Sehnsucht sei, die doch keine Frucht trägt, habe ich dieses herbe Wort desPaulus gewählt: «Den Geist dämpfet nicht.»

Den Geist

dämpfet nicht

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Wodurch der heilige Geist gedämpft ist? Durch die Ordnung und durch die Vernunft. Habt ihr schon gesehen, daß ein Bach, der in den Windungen einherfließt, die er sich selbst geschaffen, von Tang und Schlinggewächsen in Fesseln geschlagen wird? Wohl aber der Bach, dem man sein Bett gerichtet hat, und der Kanal. So liegt es an unsern wohlorganisierten Kirchen, daß der heilige Geist bei uns gedämpft ist. Der heilige Geist ist freie Betätigung des Glaubens, Tat, etwas, das durch die Betätigung geweckt wird, etwas, das keine Schranken anerkennt. Bei uns aber, wo Lehre und Predigt zum Amt geworden sind, wird viel Kraft niedergehalten und manches erstickt, weil es nicht zur Betätigung gerufen wird. Es sind nicht Gedanken von heute, sondern Gedanken, die seit Jahren sich mir immer mehr und mehr aufdrängen. Es wird mir immer gewisser, daß so, wie sie sind, unsere Kirchen nicht zu wahrhaftigem lebendigem Leben gelangen können, sondern erst, wenn einst diese Formen zerbrochen sind, die Gemeinden Gemeinschaften werden, das Amt hinter der Begabung und Begeisterung zurücktritt, unddie Kräfte, diejetzt gebunden sind, entbunden werden. Es muß einmal so kommen, und wenn die Zeit da ist, wird es kommen. Ob wir es noch erleben, weiß ich nicht. Wenn wir nur bis dahin auch in diesen Verhältnissen unsere Pflicht tun in Treue undWahrheit. Aber wenn wir nurjetzt nicht in der Angst vor dem Außergewöhnlichen und Auffälligen so befangen wären und es wagten, die Befangenheit vor uns selbst zu überwinden. Wir haben Angst voreinander, und in dieser Angst ersticken wir die edelsten und idealsten Gedanken, die in unserm Herzen aufsteigen, die uns vom Geiste Christi eingegeben sind. Sagt mir, wie viele der edelsten und frömmsten Impulse ihr unterdrückt habt aus Scheu vor den Menschen, indem ihr euch selbst einredetet, es sei überspannt und nicht zu verwirklichen. Das klebt uns von unserer Jugend an und macht uns lahm, immer dieses: Was werden die Menschen dazu sagen, daß wir zuletzt den natürlichen Regungen des Mitleids und der Teilnahme nicht mehr wagen nachzugeben aus Angst, aufzufallen. Ich kann es euch nicht im einzelnen erklären, aber wenn ihr es verstehen könnt nach dem, was ihr erlebt habt an euch selbst, und wenn ihr am Worte keinen Anstoß nehmt, so möchte ich sagen: Der heilige Geist ist ein Unbekümmertsein um das Urteil der Menschen, eine absolute Freiheit von dem, was sie sagen werden, wenn ihr wollt, eine gewisse Überspanntheit. Jedesmal wenn ihr einen Gedanken in euch verschlosset oder eine Tat ungetan ließet aus jener Scheu, oder wenn ihr, selbst gegen eure tiefste und innigste Überzeugung, mit dem Chor der Menschen das, was außerhalb der gewöhnlichen Bahn desTuns und der bürgerlichen Frömmigkeit lag, belächeltet oder tadeltet, habt ihr getan, wovor der Apostel hier warnt: Ihr habt den heiligen Geist gedämpft.

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Was wäre dieWelt geworden ohne die in diesem Sinne unvernünftigen Menschen, ohne die, für die Menschenurteil und Vernunftgründe keine Schranken sind? Was mögen sie bei sich gedacht haben, jene frommen, jüdisch-vernünftigen Festpilger, die auf demWeg zum Tempel am Christenhause vorüberkamen und die verzückten Menschen auf dem Söller des Daches sahen? Und doch ist von diesen unvernünftigen Menschen der Geist Christi über dieWelt ausgegangen. Darum heißt es am Pfingstfest, nach unvernünftigen Menschen rufen, an vernünftigen ist kein Mangel, aber an solchen, die unverrückt im Geiste Christi handeln und reden und daher derWelt überspannt erscheinen. Seid nicht zu vernünftig, wenn 99mal das, wasihr in Christi Geist unternahmt, resultatlos verlief, dashundertste Mal gelingt es, und aufjenes eine Mal kam es an. Der Rest warda, um die Löcher auszufüllen. Was redet man so viel von dem Widerstreit zwischen Vernunft und Glaube? Er hätte nichts zu sagen, wenn nur in jedem von uns der Widerstreit zwischen Vernunft und Geist Christi, der uns im großen und im kleinen lähmt und uns mit all unserer gutgemeinten Frömmigkeit zu unnützen, tatenlosen Menschen macht, überwunden wäre, und wir uns durch gegenseitiges Verständnis dazu helfen täten. Vor sieben Jahren hielt ich hier meine erste Pfingstpredigt.|32¡ Ich redete von dem heiligen Geist als dem Geist der Selbständigkeit und der Freiheit, die über dieJünger Christi kommt und sie frei macht von allen Dogmen und Formeln. Meine Kreise sind seither weiter geworden; heute predige ich euch wieder den Geist Christi als Geist der Freiheit, aber in der Erkenntnis, daß die Freiheit von Dogmen und Formeln ein kleines ist neben jener höheren Freiheit, in Entschlüssen und Tun, frei von Vernunft und Menschenurteil, den Regungen jenes Geistes zu

folgen. Ich möchte hier halten können und uns beim Glauben lassen, daß wir die Regungen des Geistes Christi niederhalten nur in menschlicher Befangenheit. Aber ihr wißt alle, daß wir sie noch anders niederhalten durch etwas, was mit andern Menschen nichts zu tun hat, sondern allein in uns vorgeht. Es kommt mir immer vor, als ob etwas wie Bußtagsstimmung über unserm Pfingstfest läge, da wir mitten in dem Sehnen nach dem heiligen Geist der Augenblicke gedenken, wo wir ihn verscherzt haben, wo Gedanken der Eigenliebe und der Sünde seine Stimme in uns zum Schweigen brachten und wir dann Wochen und Monate lang mit ödem Herzen uns weiterschleppten, vergebens auf jene Regungen wartend, die uns wieWellen eines fernen Meeres wieder geistiges Leben brächten. «Und betrübet nicht den heiligen Geist», den Gott hat in euch wohnen lassen [Eph. 4,30], schreibt derApostel. Daß es sich an uns allen er32 [Diese Predigt fehlt.]

Den Geist

dämpfet nicht

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füllt hat und zwar immer gerade in den Augenblicken, wo er am kräftigsten in uns emporstrebte, und es nur einer reinen Anstrengung bedurft hätte, um ihn festzuhalten und auf eine Höhe des Lebens zu kommen, wo wir in der Sonne Gottes wandelten – das ist für uns alle das traurigste Kapitel unseres Erlebens. Es ist gerade, als ob jede Regung des heiligen Geistes die ganze Gewalt unseres sündigen Wesens wachriefe, und wir wie durch eine unheimliche innere Gewalt uns gezwungen fühlten, all das Herrliche und Schöne, was wir im Ahnen des Geistes erschaut, mit einem Schlag zunichte zu machen und uns hinabzustürzen in die trübe Flut der irdischen Gedanken. Das aber ist dasVerhängnisvolle dabei, daß wir etwas verletzen, das uns nicht gehört, und daß nicht wir allein, sondern die Welt mit uns ärmer wird. Es ist immer ein Stück Weltgeschichte, das sich in uns abspielt, dennjener Geist ist Weltengeist. Alles erstickende und qualmende Feuer in den Menschenherzen ringsum wartet auf eine einzige hell lodernde Flamme, um selbst zum Brennen zu kommen; und wenn der heilige Geist in einem Menschen Kraft gewinnt, so weckt er, rein durch sich selbst, schlummernden Geist zum Leben. Es brennt mehr verborgenes Feuer um uns her, als wir ahnen, aber es kann nicht aufflammen, weil wir in uns selbst die Flamme nicht auflodern lassen. So geht derWelt der größte Reichtum verloren. Ihr wißt, was ein einfacher, begeisterter Mensch im Leben schafft. Darum beschwört uns der Apostel: «Den Geist dämpfet nicht.» Wenn wir ihm doch folgen könnten und so, um des heiligen Geistes willen, des göttlichen, der uns irdische Menschen fleht und bittet: Laß mich in dir auflodern, zum Leben und Schaffen kommen, den Kampf wider die bösen und unheiligen Gedanken aufnehmen täten! Warum soll denn das ein Wenn bleiben? Warum ist heute Pfingsten? Da geht der Geist Jesu um und sucht bei den Menschen heilige Entschlüsse. Und wenn sie in Wahrhaftigkeit und Freudigkeit gefaßt sind und sich ihm nur das Herz mit Jubel öffnet, zieht er ein und fängt seine Arbeit von neuem an, denn er verzagt nicht an uns. Der Herr mache uns geistig arm, das heißt arm, uns zu sehnen nach seinem Geist, daß wir ihn bitten und flehen: «Komm, heilger Geist»|33¡, und er komme und unsere Seelen reich mache, und wir ein Stück Himmelreich ins Herz hineinlassen und sich an uns erfülle die erste seiner Seligpreisungen: «Selig sind, die da geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihr» [Mt. 5,3].

33 [Heinrich von Laufenberg: Komm, heilger Geist, Str. 1.]

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Nachmittagspredigt Trinitatissonntag, 18.Juni 1905, St. Nicolai Fest der Inneren Mission

Gen. 4,9: Soll ich meines Bruders Hüter sein? «Soll ich meines Bruders Hüter sein?» Diese Frage hat lange auf Antwort warten müssen, seitdem sie jener erste Mörder aufwarf, um sich vor Gott zu entschuldigen. Aber es kam einer und beantwortete sie, unser HerrJesus. Und die Antwort hieß Ja. Dieses Ja feiern wir heute, da wir das Fest der Innern Mission begehen. Es ist zwar etwas ganz Selbstverständliches, nur daß das Selbstverständliche uns fast wie Kindern wieder dadurch nahegebracht werden muß, daß es uns unter fremdem Namen wieder nahegebracht wird. Doch das Wort «Fest» der Innern Mission will nicht recht passen. Wenn man Fest sagt, so denkt man an eine Feier zur Erinnerung an etwas Großes, das geschehen ist. Nun gedenken wir zwar auch heute dessen, was schon in der Liebestätigkeit für die Innere Mission geleistet worden ist, und erinnern uns der Männer und Frauen, die sich darin aufgeopfert haben für die Gefallenen, die Gefangenen, die Verkrüppelten, die Unterdrückten. Aber wasist dasimVergleich zu dem, wasnoch zu tun ist? So scheint das Fest eher dazu bestimmt, uns an das zu erinnern, was versäumt worden ist – versäumt durch uns.Wenn wir es so ernst feiern, dann feiern wir es recht. Schon beim Fest der äußeren Mission überkommt uns die Beschämung, daß wir im Verhältnis zur Größe der Aufgabe so wenig tun, und daß es noch immer gilt: «Die Ernte ist groß, der Schnitter wenig» [Mt. 9,37]. Dort kann sich noch jeder entschuldigen: Die Aufgabe liegt so fern, und wir können nicht alle aus unsern Verhältnissen heraustreten. Aber hier bei der Innern Mission liegt alles im Bereich unserer Hand. Vor unsern Augen spielen sich die Dinge ab – und wir greifen nicht ein; Menschen gehen zugrunde, weil sich niemand fand, ihnen die Hand zu reichen. Da möchten wir so gern sagen: Weil ihnen jemand die Hand nicht gereicht hat, irgendeine Person, deren Pflicht es gewesen wäre, und müssen doch sagen: Weil wir ihnen die Hand nicht gereicht haben. Daß wir überall «wir, wir» sagen müssen, daran istJesus schuld. Er erlaubt uns nicht, uns auf den Kreis der Leute zu beschränken, mit denen wir zusammenkommen, und die menschliche Unterscheidung zu machen von Leuten, die uns etwas angehen, und solchen, die uns nichts angehen. Er hat dieses bequeme Wort vernichtet und gesagt: Alle Menschen gehen dich etwas an. Auf jene Kainsfrage antwortet er nicht nur: Ja, du sollst deines Bruders Hüter sein, sondern gibt uns dazu tausend

Soll ich meines Bruders Hüter sein?

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und tausend Menschen zu Brüdern, alle, die uns begegnen und die uns brauchen.

Es ist eine Verantwortlichkeit ohne Ende, die er uns auflädt. Menschlich gedacht erkennen wir nur die Verantwortlichkeit für das an, was wir verschuldet haben. Aber der Herr Jesus hat in seiner Person die ganze Menschheit so in eine Persönlichkeit zusammengeschweißt, daß nunjeder von uns dieVerantwortung für alle mitträgt und denen angehört, die in unserer Zeit durch die Schuld der Menschen oder die Schuld derVerhältnisse zugrunde gehen. Fürjene ganze Masse von Menschen, die nur ihren Vorteil kennen und keine Verantwortung anerkennen, müssen wir die Verantwortung tragen, ihn, unsern Herrn, auf der Erde ersetzen und dem nachgehen, wasverloren ist. Das ist schwer, denn man ist nie damit fertig; wenn man meint, man habe genug getan, steht der Herr wieder vor einem und schickt einen hin wie damals die Jünger, überall da hin, wohin er selbst gehen wollte. Er will auch nicht, daß wir die Menschen an uns herankommen lassen und nur denen helfen, die mit einer Bitte an uns herantreten, sondern daß wir ausgehen und suchen, wie er selbst von sich gesagt hat: «Des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, die verlorengehen» [Lk. 19,10]. Aber wenn ich unsjetzt sage, was wir für eine große Verantwortung haben, so möchte ich euch nicht nur mit tiefem Ernst, sondern auch mit herrlicher Freude erfüllen. Es gibt im Christentum nichts Niederdrükkendes, nicht einmal dieVerantwortung, sondern es liegt in allem etwas Erhebendes und Freudvolles. Der größte Redner der Welt könnte es euch nicht ausführen, was es für ein herrliches Ding ist, daß wir nun das Werk Jesu fortsetzen und wie er auf der Welt umgehen dürfen, zu suchen und zu retten, was verloren ist. Ist es euch nicht zuweilen, als ob ein Sonnenstrahl unser Leben durchflutete, so daß wir es gar nicht fassen können, wie unser Leben durch ihn so herrlich ist. Nun höre ich aber einige Fragen. Zunächst: Ist das wenige, dasjeder von uns tun kann, nicht wie ein Tropfen, der nichts wirkt, sondern alsbald in der Sonne verdunstet? Ihr wißt, daß dies menschlich gefragt ist und nichts gilt, wenn es sich um das handelt, was wir für Jesus tun. Bei ihm gilt nicht klein und groß, und man braucht nicht immer wie bei menschlichen Dingen nach dem Erfolg auszusehen, sondern das steht ihm allein zu. Uns genügt es, zu wissen, daß nichts, was für ihn getan ist, vergeblich ist, und daß er durch seinen Geist und Segen ausKleinem sich Großes bereitet. Weiter fragst du: Was soll ich tun? Da ist es schon schwerer, zu antworten, denn die Aufgaben sind für einen jeden verschieden. Ihr meint auch nicht, daß ich euch sagen soll, daß ihr euch an den Liebes- und Rettungswerken beteiligt, denn das ist ja selbstverständlich, und daß

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ihr gebt nach Kräften und auch über eure Mittel, sondern was ihr persönlich für die Innere Mission tun könnt. Da sag ich: Augen auf, Herz auf! Werdet Menschen! Werdet Menschen! Das geht nämlich nicht von selbst; man muß sich zwingen und sich immer wieder selbst überwinden und wird es

erst durch Christus. Christus heißt «Menschensohn» – darin liegt eine tiefe Bedeutung, denn es will heißen, daß er nicht nur Mensch ist wie die Söhne der Menschen, sondern noch mehr Mensch als sie, seinem innersten Wesen nach Mensch. Er war’s so zu seiner Zeit. Die andern waren, was ihr Stand war: Hauptleute, Priester, Leviten, Kaufleute, Handwerker, durch ihre Ämter in Anspruch genommen, durch die Anschauungen ihres Standes beengt, und sahen nicht die Leiden der Menschheit und hörten nicht die Stimme ihrer Qual. Er aber sah und hörte alles und litt die Leiden der ganzen Menschheit mit und konnte denen helfen, denen sie nicht helfen konnten, weil er nicht im Namen eines Standes oder eines Amtes, sondern im Namen eines Menschen, nur als Mensch an sie herantrat. Wir gehen auch eingeengt von unseren Gewohnheiten, unserer Gesellschaft, unserem Stand und Beruf durchs Leben hindurch und tragen dasalles auf uns wie die Schnecke ihr Haus, und wenn wir auf etwas stoßen, wo man den Menschen in uns brauchte, sucht man ihn vergebens: Er hat sich in sein künstliches Haus zurückgezogen wie die Schnecke. Ich rede nicht von einem bestimmten Stande, sondern es sind alle darin gleich, ob hoch oder niedrig: Sie sind der Herr Soundso, die Frau Soundso, der Arbeiter Soundso, die Arbeiterin Soundso, ganz gefangen in ihren Anschauungen und Beschäftigungen, und sehen nicht, was sie als einfache Menschen tun sollten. Darum fehlt’s an Menschen auf der ganzen großen Welt, weil wir alle den einfachen Menschen in uns verkümmern lassen und nicht mehr Menschenauge und Menschenherz und Menschenhilfsbereitschaft haben. Gerade uns tut es not, daß uns der Menschensohn zu Menschen und Menschenfischern mache wie seine Jünger, uns die Menschenaugen und dasMenschenherz wieder öffne, denn wir sind mehr alsje durch die Anforderungen des Berufs und des Standes in Anspruch genommen. Wir werden mehr vom Leben abgehetzt als die vor uns.|34¡

34 [Der Schluß fehlt. Im Entwurf zu dieser Predigt lauten die letzten Sätze:] Nicht hoch genug geredet. Keine Festpredigt. Nun, ihr wißt, daß ich zu euch, meinen lieben Nachmittagsgästen, nicht als Prediger mit Liedern im höheren Chor rede, sondern als Mensch zu Menschen. Und wenn ihr nur, wasich gesagt, als wahr empfindet und einmal mehr im Gedanken bestärkt werdet, wo ihr esbei euch selbst anfassen wollt, dann war dieses Fest nicht vergebens.

Ihr werdet wiedie Kindlein

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Morgenpredigt Sonntag, 25. Juni 1905, St. Nicolai

Mt. 18,3: Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kindlein

Da braucht’s eigentlich keinen Prediger, denn das ist ein Spruch, der von selbst redet. Auch die, welche im übrigen für dasEvangelium kaum

Verständnis besitzen, können sich dieses Spruchs nicht erwehren. Er löst ein Gefühl aus, das kaum in Menschen ganz erstorben ist, und weckt ein schmerzliches Sehnen, dasdoch nicht Schmerz ist, ein Sehnen nach etwas Wunderbarem, das wir wachend nie besaßen, denn kein Kind hat das Bewußtsein der Kindlichkeit, das wir in Träumen der Erinnerung erleben, wenn es nicht mehr ist. Und die Menschen, die sich noch ein Stück Kindlichkeit ins Leben hineingerettet haben, nennen wir glücklich, voran die, welche, wie man sagt, ihren Kinderglauben bewahrt haben; die glauben mit derselben Unbefangenheit, wie sie als Kinder das, was man ihnen sagte, als etwas Selbstverständliches angenommen haben. Ich persönlich beneide sie eigentlich nicht, denn ich weiß nicht, ob dies der wahre Glaube ist, der von allen Fragen, Erkenntnissen und Erlebnissen, die uns das Leben bringt, unberührt bleibt. Denn ich meine, unser Glaube muß durch Erkenntnis und Erlebnis reicher werden, und die Form muß sich ändern. Ich frage mich sogar, ob Jesus bei jenem Wort an diese Menschen hat denken können, da er doch gekommen war, sie von dem, was sie als Kinder gelernt hatten, loszureißen und einen neuen Glauben von ihnen zu verlangen. Es kommt mir da immer St. Paulus ein: «Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, waskindlich war» [I Kor. 13,11]. Oft auch habe ich gefunden, daß die, welche ob ihres Kinderglaubens gepriesen wurden, für die andern verständnislos und ungerecht waren. Darum preise ich die mehr glücklich, die nicht im Glauben, sondern im Menschlichen kindlich geblieben sind, die sich ein kindliches Gemüt bewahrt haben, natürlich gut, natürlich barmherzig, natürlich rein, natürlich friedfertig sind, so wirklich kindlich, weil sie es eben nicht anders sein können. Dabei wundert mich aber eins, daß ich viele solche sympathische und kindliche Gemüter unter den gleichgültigen und unkirchlichen Menschen finde, und ich habe den Eindruck, daß diese wegen ihrer Kindlichkeit am Reich Gottes vorbeigegangen sind. Sie hatten eine gewisse natürliche Güte und Unberührtheit vom Leben, die ihnen genügte und sie nicht nach Höherem verlangen ließ, so eine Art geistigen Wohlstand, der die Sehnsucht, geistig reich zu werden, nicht in ihnen aufkommen ließ. Ihr alle kennt solche Leute.

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Darum meine ich, daß der Herr nicht von der Kindlichkeit als solcher redet, weil nicht jede Kindlichkeit zum Reich Gottes führt, und weil es eine gewisse Kindlichkeit gibt, die den Eingang eher erschwert. Eigentlich ist esja auch eine Art von Kindlichkeit, welche dieJünger hier vom Reich Gottes fernhält, denn wir können ihr Benehmen, sich auf dem Leidensweg nachJerusalem darum zu streiten, wer der Größte im Himmelreich sein wird, nicht anders als mit kindlich bezeichnen, und würden erwarten, daß der Herr dazwischen gefahren wäre und sie gefragt hätte: Wie lange wollt ihr noch so kindisch sein? Wenn er sie nun gerade zur Kindlichkeit ermuntert, so muß es eine ganz andere sein als die gewöhnliche Menschenkindlichkeit. Diese Menschenkindlichkeit, die wir einmal alle unbewußt besessen haben, fällt von uns ab, wenn die Zeit kommt, wie das Laub von den Bäumen fällt zu seiner Zeit. Jeder rettet sich zwar noch ein Stückchen Kindlichkeit ins Leben hinüber und bleibt in irgend etwas kindlich. Auch die kompliziertesten und gekünsteltsten Menschen haben noch irgendein Eckchen, wo sie kindlich sind. Aber das meint der Herr Jesus nicht, sonst hätte er gesagt: Es sei denn, daß ihr bleibt wie die Kinder. Nun sagt er aber: «Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kinder.» Er meint also eine höhere Kindlichkeit, die uns nie verliehen war, die wir also auch nicht behalten können, sondern die wir erwerben und erkämpfen müssen. Die menschliche Sprache hatte für das, was er sagen wollte, kein Wort, weil es etwas Neues ist. Darum muß er es in einem Gleichnis ausdrücken: Werden wie die Kinder. Und er weiß, daß ein tiefes Sehnen in unserm Herzen diesem Gleichnis zu Hilfe kommt. Es ist, als wären wir Kinder gewesen, umjenen Zustand, den wir unbewußt erlebten, zeitlebens als einen bewußten zu ersehnen. Aber Jesus will nicht, daß dies unfruchtbare Sehnsucht bleibt, sondern daß etwas daraus werde und sie sich in Tat und Leben umsetze. Es liegt so unendlich viel in diesem Wort: «Werden wie die Kinder.» Rein werden, fromm werden; wieder vertrauend werden; nicht mehr berechnend eigennützig; offen werden ... man kann es nicht alles aufzählen. Aber wenn ich’s in einem Wort ausdrücken sollte, würde ich sagen: frei von der Welt werden. Das ist’s, was als Sehnen in uns lebt, wasJesus in heilige Bahnen leiten und in uns zur Tat machen möchte. Das Kind, obwohl es eigentlich am meisten von der Welt abhängig ist, hat von dieser Abhängigkeit und Unselbständigkeit kein Bewußtsein, sondern fühlt sich frei, imWiderspruch mit derWirklichkeit, weil sein inneres Wesen von der Welt noch unberührt ist. Nachher wird’s umgekehrt. Wir treten aus der Kinderunselbständigkeit in die Freiheit; aber mit dieser äußeren Freiheit und Selbständigkeit wächst die innere Unfreiheit. Denn dieWelt hat sich in unser Herz eingenistet und es um die Freiheit betrogen.

Ihr werdet wie die Kindlein

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Sie hat es gefangengenommen durch den Trug der Sünde, indem sie dem Herzen immer wieder Freude vorspiegelt, wo keine Freude ist, und Genuß, der es arm und elend macht, und Lust, dieWunden drin zurückläßt. Und wenn wir das Wort hören «Werden wie die Kindlein», sehnen wir eine Zeit herbei, die der gleicht, wo dieWelt uns mit all den Dingen, durch die sie jetzt Macht über uns hat, noch nicht versuchen konnte, weil es keinen Preis für uns hatte. Wenn wir dann nur recht kämpfen, von diesem sichtbaren Trug freizukommen: «Es wird keiner gekrönt, er kämpfe denn recht» [II Tim. 2,5]. Aber dieWelt hat noch einen andern Trug, wo sie nicht als Sünde erscheint, durch den sie nicht die sündigen Gedanken, sondern die guten bis zu den besten gefangennimmt. Man kann ihn kaum in einem Worte zusammenfassen, diesen vielgestaltigen Trug. Er hat böse Namen: Ehrgeiz, Egoismus, Herrschsucht; weniger böse: Streben nach Anerkennung und Einfluß; manchmal hüllt er sich in das Gewand der Tugend und nennt sich Zielbewußtsein und Charakter. Überall, injedem einzelnen Gedanken, ist es derselbe Trug, gröber und feiner, und heißt: groß sein. Und wenn einer mit derWelt sonst fertig ist und von ihr freigekommen zusein wähnt, betrügt sie ihn damit noch undhält ihn gefangen. Ihr seht es bei den Jüngern. Sie haben sich frei gemacht von der Welt, um ihres Meisters willen alles aufgegeben; in seiner Nähe sind sie dem Reich Gottes so nahe, als man ihm nur sein kann; und doch betrügt sie die Welt noch, jene einfachen, kindlichen Menschen, mit dem Groß-sein-Wollen; daß der Herr ihnen nun sagen muß: Eins fehlt euch, was ihr nun lernen müßt, von den Kindern lernen müßt: klein sein können. Klein sein können – das meint er also, wo er sagt: «Werdet wie die Kindlein!» Er meint nicht jene falsche Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit, mit der wir uns zuweilen als mit einem durchlöcherten Mantel vor den Menschen zudecken und uns gar noch vor uns selbst betören, sondern er meint die wahre Aufgabe unseres Ichs. Er will, daß wir in jener Sehnsucht nach höherer, wahrhaftiger Kindlichkeit sehend werden und nicht mehr in der Torheit der Welt uns in allem, waswir tun, selber suchen. Das ist erst die wahre Freiheit von der Welt, wenn sie uns nicht mehr unser eigenes Wesen unter die Dinge und Menschen stecken kann, daß wir es darin suchen und nicht wissen, daß wir nur uns selber suchen. Wir verlangen von der Welt zuviel, das ist unsere Unfreiheit. Daß wir zuletzt nichts mehr von ihr verlangen, nicht einmal uns selbst mehr, dasist die kindliche Freiheit, durch welche wir Kinder des Reiches Gottes werden. Seid ihr nicht schon über euch selbst erschrocken, wenn ihr in all eurem Tun euch selbst mit eurem Bedürfnis, etwas zu sein und zu gel-

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ten, wiederfandet, wie man erschrickt, wenn man sich plötzlich unerwartet in einem Spiegel sieht? Wir tun Gutes, nur um durch das Gute Einfluß zu haben; wir leisten Dienst, um uns die Menschen zu verpflichten. In unserer Zuneigung, in unserer Dankbarkeit, in unserer Anhänglichkeit, in unserer Treue, überall ist unser Ich. Ihr könnt fast die Sekunden in eurem Leben zählen, wo ihr euch selbst nicht gesucht habt; und wenn ihr solche Sekunden gehabt habt, so sind sie wie die Blitze, die mit ihrem Leuchten nur zeigen, daß es sogar amTage dunkel ist. Und wenn ihr einen Menschen habt, in welchem ihr euch nicht selbst sucht, durch ihn und in ihm etwas zu sein, dann wißt ihr nur um so mehr, wieviel Streben nach Einfluß, wieviel Eitelkeit in eurer Art, mit andern Menschen zu sein, liegt. Sich bescheiden zu können, klein zu werden: Das ist die einzige Errettung und Freiheit. Wirken in derWelt als solche, die von ihr und den Menschen nichts verlangen, nicht einmal die Anerkennung, das ist das wahre Glück. Wer diesen Weg gehen könnte! Die Welt selbst zeigt ihn uns, undJesus lehrt ihn unsbegreifen. Fällt euch nicht auf, wie nachsichtig er die Jünger zurechtweist, da er doch sonst nicht so sänftiglich wider ihren Unverstand einherfährt? Er weiß nämlich, daß die Welt selbst den eiteln Gedanken, den sie in denJüngern erweckt hat, wieder zerstören wird durch die Enttäuschungen, die sie ihnen bereiten wird, wo sie dasHerrschen dahingeben müssen und sich in das Leiden schicken. In dieser Schule, weiß er, werden sie zum Himmelreich geläutert werden. Durch dieselbe Schule müssen wir hindurch. Die gewöhnliche Vernunft versteht diese Schule nicht. Sie läßt den Menschen sich verbittern, daß er in verwundetem Stolz sich auf sich selbst zurückzieht, und nun keine Kraft mehr ist. Aber die, welche beiJesus in die Schule gegangen sind, die verstehen, wasgeschieht. Jede Enttäuschung heißt für sie: Kleiner und anspruchsloser werden; und in den Menschen, die sie verlieren, verlieren sie sich selbst; nicht die Menschen, denn diese besaßen sie nicht, weil sie sich nur selbst in ihnen suchten, und es keine wahre und reine Zuneigung war. Es gibt Dinge, die kann man nicht ohne Jesus tun. Ohne ihn kann manjene höhere Kindlichkeit nicht bekommen, wenn wir nicht in den Enttäuschungen der Schule des Lebens auf ihn blicken und in ihm die Kraft suchen, in jenem höheren Sinne kindlich und klein zu werden. Man muß zu ihm gehen und sich dem Zauber der Kindlichkeit hingeben, der in seiner Art und seinen Worten liegt, und der jeden ergreift, der in seinen Kreis tritt. Aber bis wir etwas von jener Kindlichkeit, die von der Welt und von den Menschen nichts verlangt, in unser Leben hineinziehen, kostet’s viel Kampf und Überwindung. Es ist eine Welt von Selbstverleugnung, die in den Worten liegt: «Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kindlein.»

Erneuert euch im Geist eures Gemüts

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Wer aber durch jene Welt des Kleinwerdens hindurchgegangen ist, der ist aus dem Reiche dieser Welt in das Reich Gottes eingetreten. Er ist über die Grenze gegangen, wie einer in einem dunkeln Wald über die Grenze geht: Er hat sie nicht in acht genommen. Der Weg bleibt derselbe und die Dinge ringsum auch, und erst langsam sieht er, wie alles bekannt und doch anders ist, wie dasLeben dasselbe und doch anders ist ob der Klarheit, die in ihm aufleuchtet, und des Friedens und der Kraft, die ihn überkommen, da er klein und mit sich selber fertig geworden ist.|35¡

Morgenpredigt Sonntag, 23.Juli 1905, St. Nicolai|36¡

Eph. 4,23: Erneuert euch aber im Geist eures Gemüts

Ihr habt es letzten Sonntag gehört: Es ist heute zum letzten Mal für eine Reihe von Sonntagen, daß wir in dieser Kirche uns zusammengefunden haben, die nun inwendig renoviert werden soll. Wir hatten es gar nicht bemerkt die Reihe vonJahren hindurch, wie dasWeiß der Decke und derWände immer trüber wurde, und erst jetzt, wo es uns gesagt worden ist, wie gebräunt und gefleckt alles ist, sehen wir es. Woher ist es denn kommen? Niemand hat sie beschmutzt. Aber sie konnte sich der Sonne, der Feuchtigkeit, des Staubes nicht erwehren, und so ist es gekommen, daß ihre Wände eines Gotteshauses nicht mehr würdig sind.

Jetzt wißt ihr zum voraus, was ich sagen werde, daß ich euch von dem geistigen Tempel, der wir sind, reden werde, und ob es uns dort nicht auch so geht, daß wir nicht merken, wie der Staub derWelt seine Reinheit beeinträchtigt hat, und ob wir dort auch zur richtigen Zeit den Entschluß fassen, ihn in seiner Reinheit wiederherzustellen. Der Gedanke liegt so nahe, daß mancher wie ich letzten Sonntag bei der An35 [AS-HB, S. 97. schreibt Helene Bresslau am Abend des 25. Juni 1905 an Albert Schweitzer: «Ihre Predigt heute morgen, so von innen heraus, das sind sieja immer, aber so fühlbar vom Herzen, vom Innersten ... Seltsam, wie mir’s war; nicht religiöse Andacht, aber tiefe, tiefste Ehrfurcht – ich habe kein Urteil mehr darüber, wie’s auf andere wirken mag, weil ich mehr drin höre, anders dabei empfinde, als sie hören und

empfinden können. Montag früh. Soweit kam ich gestern und wollte Dir dann von einem urteilsfähigen Menschen sagen, auf den sie starken und nachhaltigen Eindruck gemacht hat, weil ich denke, es freut und ermutigt Dich doch, das zu hören, wenn Du’s auch nicht brauchst, sondern so stark und so kraftvoll Deinen Weg gehst.»] 36 [R] Bei Gelegenheit der Renovierung derKirche.

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kündigung an das Bild gedacht hat. Und vielleicht liegt er zu nahe, daß man fast sagen könnte, er sei banal. Aber im Gottesreich gilt nicht selbstverständlich und nicht banal, sondern waswahr und ernst ist. Und weil es wahr und ernst ist, will ich, daß ihr über das Gleichnis von dem, wasjetzt an unserem Gotteshause geschieht, nachdenkt. Und wenn ich etwas wünschte, so wäre es, daß wir sagen könnten, dasGleichnis gehe uns nichts an. Nun geht es uns aber etwas an. Denn in denTempel unseres Herzens, obwohl wir ihn vor ihr verschlossen halten, kommt die Welt dennoch. Durch Ritzen und Fenster kommt sie bis ins Allerheiligste unseres Herzens und macht alles trüb und düster darin. Das kommt unmerklich und langsam; und plötzlich merken wir, daß dem so ist. Ihr versteht, wovon ich rede, ohne daß ich es euch lange zu erklären brauche. Ich meine, daß es uns ernst ist, Jesu Jünger und Gottes Kinder zu sein, und daß, wenn die Welt käme und uns sagte: Gib mir dein Herz, ich will dir’s füllen mit Ehre und Freude und Genuß, wir es ihr nicht geben würden, so wenig wir ihr diese Kirche zu einer Warenhalle überlassen täten, sondern sprächen: Dieses Herz gehört Gott und soll ihm unentweiht erhalten bleiben. Aber zugleich meine ich, daß wir, dieselben Menschen, die sich vernichtet fühlen würden, wenn sie ihr Herz durch Lust und Sünde an dieWelt verloren hätten, uns nicht klar sind über die Gefahr, die uns droht von Gedanken, die wir dulden, weil sie unsungefährlich scheinen. Wir haben Gedanken, mit denen wir spielen, mit denen wir stehen wie mit Menschen, die wir nicht ganz kennenlernen wollen, weil wir sie dann vielleicht nicht mehr ertragen dürften und sie doch gern zu unsern Bekannten zählen, obwohl sie uns für unser Leben kein Bedürfnis sind. Es sind diese Gedanken, die sich auf dem Rande unseres Lebens bewegen, die wir nicht in unser Leben hineinkommen lassen, für die wir besonders Buch führen, die wir besonders verrechnen, Schuldscheine an dieWelt, die wir unserm inneren Menschen nicht eingestehen wollen, weil er es nicht ertrüge, wie eine törichte Frau, die für Putz und Staat kleine Schulden macht und ihrem Mann nichts davon sagt und meint, sie durch unauffällige Ersparnisse zu decken, und sie legt den Grund zum Ruin ihres Glückes und ihres Hauses. So töricht wie dieses Weib in ihrer Unbesorgtheit sind wir alle. Aus dem Leben wissen wir, daß Schulden, auch die kleinsten verschleppten Schulden, einen Menschen ruinieren, aber wir führen Jahre undJahre eine Menge kleiner wissentlicher Schulden an dieWelt fort und meinen, daßjenes natürliche Gesetz sich an uns nicht erfüllt und wir nicht daran zugrunde gehen. Diese Gedanken, welche wir mit unserm innersten Leben nicht in Einklang bringen zu müssen glauben, nenne ich geheime Schulden an die Welt. Und weil es geheime Schulden sind, ist es schwer zu sagen,

Erneuert euch im Geist eures Gemüts

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welches sie eigentlich sind. Es sagt fast gar nichts, wenn ich sie euch so aufzähle: Gedanken des Hasses, irgendein Nichtverzeihenwollen, wenn wir auch Größeres, viel Größeres um Christi willen verziehen haben; Gedanken der Lust, irgendeiner Lust und Sünde, die wir nicht missen möchten, wenn wir auch viel lockenderer Lust und Sünde, um Jesus nicht aus dem Herzen zu verlieren, entsagt haben und so mit ihr fertig geworden sind, daß sie uns nichts anhaben, uns nicht einmal mehr versuchen kann; irgendein Gedanke desTrugs und der Unrechtmäßigkeit, den wir dulden, mit dem wir halb Ernst machen, obwohl wir vor jeder ausgesprochenen Unrechtmäßigkeit zurückscheuen würden ... und so weiter: immer etwas Kleines, das wir vom Großen, mit dem wir fertig geworden sind, behalten, indem wir denken, daß es uns nichts anhaben kann, weil unser Herz mit den großen Versuchungen fertig geworden ist. Wenn wir einander gegenseitig diese geheimen Schuldscheine an die Welt zeigen könnten, wir würden einer über den andern erschrecken und uns fragen: Mit diesen Schulden hast du leben können? und uns anflehen, sie in Richtigkeit zu bringen. Aber so sehen wir die Gefahr gar nicht, daß wir Gedanken und Handlungen haben, die wir mit unserm wahren, inwendigen Leben nicht in Einklang bringen. Sie sindja ruhend; sie bestimmen unser Leben nicht. Ja, sie sind dieWagen, dieaufdemtoten Geleise stehen. Undihr meint, sie können eurem Leben nicht gefährlich werden – und bei der geringsten falschen Weichenstellung fährt der Zug eures Lebens auf dieWagen des toten Geleises, undihr seid vor euch, wenn nicht vor derWelt, vernichtet. Und wenn ihr nur vor euch vernichtet werdet, wenn ihr durch eine Fügung eures Lebens anjenen Gedanken, mit denen ihr spieltet, innerlich zugrunde ginget, es ist gerade wie wenn ihr öffentlich vor der Welt zugrunde ginget, denn ihr lebt nur noch wie euer eigener Schatten. Wie viele Menschen bescheint die Sonne, die so innerlich an dem, womit sie nicht fertig hatten wollen werden, zugrunde gegangen sind und als verschmachtende Menschenschatten die Last des verspielten und verlorenen Lebens tragen. Und weil jeder von uns von dieser Katastrophe bedroht ist, laßt euch von diesen gebräunten und angedunkelten Wänden des Gotteshauses, die der Erneuerung harren, dasWort der Schrift predigen: «Erneuert euch im Geiste eures Gemüts.» Ich möchte, daß Gott ihnen eine geheime, überwältigende Sprache liehe, daß keiner unergriffen von ihrer Predigt hinausginge. Ihr müßt dasWort «Erneuert euch» recht verstehen. Es enthält eines der größten Geheimnisse des Christentums, daß nämlich das Alte keine Macht über den Menschen hat. In derWelt geht alles an seiner Vergangenheit zugrunde. Sie ist wie ein Strom, der den Menschen nachläuft, daß sie darin vor unsern Augen ertrinken, die Sündflut, die furchtbare

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Sündflut, die immer wieder aus den Tiefen der Erde ausbricht. Und wenn ein Mensch sich vor seiner Vergangenheit retten möchte und sich auf eine Höhe hinaufarbeitet, daß ihn die Flut nicht mehr erreichen kann, dann kommen die Menschen und werfen ihn hinein, denn sie können es nicht sehen, daß ein Mensch sich von seiner Vergangenheit losarbeitet und gerettet wird. Es ist zuwenig gesagt, daßJesus den Menschen hilft, von ihrer Vergangenheit loskommen: Er ist gekommen und hat die Menschen für ewige Zeiten im Namen Gottes von dem Recht, das dieVergangenheit auf sie hat, freigesprochen. Dieser Schlange, die lautlos neben den Menschen hinraschelte, hat er den Kopf zertreten. Habt keine Angst mehr vor ihr! Die, welche sein Evangelium predigen, hat er ermächtigt, den Menschen zu sagen, daß sie in jedem Augenblicke ihres Daseins ein neues Leben anfangen dürfen; ich meine fast, es sei zuviel der Vollmacht, daß ein Mensch in seinem Namen dies den Mitbrüdern verkünden dürfe, aber ich weiß, daß esso ist. Undwenn ich dessen nicht gewiß wäre, so gewiß wie daß ich denke und atme, so würde ich es nie mehr wagen, euch im Namen Jesu zu predigen. Es ist eine Gnade, die ihr erfassen dürft ... Und ihr sagt mir: Wir haben sie schon erfassen wollen, und dawir sie glaubten in der Hand zu halten, hielten wir nichts; und da wir meinten, sie zu verspüren, und meinten, es müsse nun plötzlich anders werden als vorher, es müsse Sonntag werden in unserm Herzen, war esWerktag wie vorher, und im Werktag ging dasLeben weiter. Aber wir wollen uns nicht eingestehen, warum wir vergeblich harrten und nichts erlebten ... und ihr wißt es doch: Weil ihr dasWort «Erneuert euch» nicht in seiner Länge und Breite und Tiefe durchmessen habt, weil ihr unwahrhaftig gegen euch selbst wart und wissentlich Dinge zurückbehalten wolltet, sie nicht zu verlieren, und meintet, ihr könntet sie verbergen. Es geht den Menschen wie Ananias und Saphira [Act. 5,1– 11], die auch dem Herrn etwas opfern wollten und daran zugrunde gingen, daß sie etwas zurückbehielten. Sich selbst kann der Mensch betrügen, aber Christus, der in ihm wohnt, kann er nicht betrügen. Und ihr seid es nicht selber, die euch erneuert, sondern der Geist Christi wirkt es in euch. Von euch selbst bekommt ihr keine neue Kraft, keinen Frieden, keine Freudigkeit. Der Geist Christi gibt sie euch. Wasihr aber tun müßt, worin ihr die Erneuerung herbeiführt, das ist, daß ihr schonungslos wahrhaftig gegen euch selbst seid, alles, was ihr vom Leben an bösen Gedanken, Lüsten, Freuden,Versuchungen behalten möchtet, da ihr meint, es könne euch nichts anhaben, in das hellste Licht eures Herzens zerrt, da es euch erscheint, wie es wirklich ist, unwahr und häßlich, nicht umkleidet mit dem Reiz, den es im Dunkeln der Ungewißheit hatte ... und daß ihr dann wagt, zu sagen: Es sei fertig, ich will nicht mehr.

Die Liebe

höret nimmer

auf

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Hört die Predigt der Mauern gut und nehmt sie zu Herzen, daß ihr wißt, was ihr zu tun habt, und daß ihr nicht sagt: Morgen oder übermorgen. Und wenn ihr euch überwunden habt bis aufs Blut und euren äußeren Menschen zur Wahrhaftigkeit gegen den inwendigen Menschen gezwungen habt, dann erlebt ihr etwas, was euch kein Mensch beschreiben kann und das kein Wort zu fassen vermag: Daß ihr fühlt, wie ihr durch eine wunderbare Kraft erneuert werdet im Geiste eures Gemüts ... denn der Herr ist da, wo Wahrheit undWahrhaftigkeit

ist.

Nachmittagspredigt Sonntag, 12. November 1905, St. Nicolai

I Kor. 13,8 f.: Die Liebe höret nimmer auf|37¡ Ich liebe im allgemeinen die Leute nicht, die es allzu oft sagen, daß unser Wissen Stückwerk ist, und damit nur alle menschliche Erkenntnis wollen herabsetzen. Es istja selbstverständlich, daß unser Wissen Stückwerk ist, aber das natürliche Licht desVerstandes, das ist doch auch eine Gabe Gottes. Versteht mich recht: Es gibt so eine oberflächliche Art, von dem Stückwerk unseres Wissens zu reden, und ich meine, nur die wahrhaft tiefen Menschen, die haben das Recht, davon zu sprechen, denn nur sie erkennen wirklich, daß es Stückwerk ist. Und zu denen, die das Recht haben, so zu reden, gehört der Apostel Paulus; weil er es sagt, ist es ein wahres, heiliges Wort, und weil er gleich das wahre Wort daneben setzt: «Die Liebe höret nimmer auf.» So scheint der sternenbesetzte Himmel zwischen den zerrissen einherziehenden Wolken durch. Beides gehört zusammen: Er weiß, was er an die Stelle des Stückwerks setzt.

Es ist merkwürdig: Wie gehören denn diese beiden Sätze zusammen «Die Liebe höret nimmer auf» und «Unser Wissen ist Stückwerk»? Was ist denn dasfür einWissen, das aufhört, so daß nun gleichsam die Liebe, die nicht aufhört, an die Stelle desWissens treten muß? Als ständen die Menschen vor dem tiefen Brunnen der Erkenntnis: Das Seil desWissens reicht nicht bis auf den Grund; nun müssen sie das Seil der Liebe erfassen und sich daran hinunterlassen. Mich dünkt, der Apostel will sagen und reden von der Liebe als der höchsten Erkenntnis des Lebens, die dann beginnt, wenn die Erkenntnis durch dasWissen ein Ende genommen hat. Das ist nun etwas so wunderbar Tiefes, das Tiefste, was man 37 [, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk.]

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über die Erkenntnis sagen kann, und doch wieder etwas so wunderbar Einfaches. Was ist denn das Wissen? Das Wissen ist nicht nur Gelehrsamkeit, sondern die Gelehrsamkeit ist nur ein kleiner Teil des Wissens. Nein, Wissen ist etwas viel Allgemeineres, etwas, dasjeden Menschen angeht, den gelehrten wie den ungelehrten; und der gelehrte ist oft viel ärmer an Wissen als der ungelehrte. Denn was ist der Zweck alles Forschens, alles Nachdenkens und alles Ergründens? Wir selbst. Wozu sind wir auf der Welt? Was tun wir hier? Was bedeutet unser Leben? Das sind die einzig bedeutenden Fragen, womit es dasWissen zu tun hat. Es ist das Wissen vom Leben; und gar viel Gelehrsamkeit, die so wichtig tut, ist nichts als Suchen nach demWissen vom Leben, dassich verirrt hat. Alle Menschen haben ihr Wissen vom Leben, ob ein wenig gelehrter oder ungelehrter, das tut nichts zur Sache. Ich möchte sagen: Ein jeder hat eine Vorstellung vom Leben, auf die hin er lebt. Für den einen ist das Leben: glücklich sein. So versteht er’s. Für den andern: genießen und sich freuen. Für den andern: vorwärts kommen und herrschen. Für einen andern besteht das Wissen vom Leben in der Erkenntnis, daß es eine Kette von Mühsalen ist, die man eben ertragen muß, Alltagsarbeit, die man eben tut. Es gibt auch Menschen mit einem schöneren Wissen vom Leben. Sie sagen: Das Leben besteht darin, seine Arbeit und seine Pflicht zu tun. So baut sich jeder sein Gedankenhaus, in dem er sein Leben zubringt. Beim einen ist dieses Gedankenhaus eine armselige Hütte, beim andern ein kunstvoller Palast. Manchmal, wenn ich die Werke eines Philosophen las, dachte ich bei mir: Er baut sich seinen Palast, um drin zu leben. Das macht jeder Mensch; er baut sich sein Gedankenhaus, denn es liegt in seinem Wesen: Er muß eine Erkenntnis desLebens suchen. Und viele wohnen darin ihr ganzes Leben und fühlen nicht, daß es zu eng wird. Aber andere, die können nicht drin bleiben: Manche fühlen, wie sie ersticken und erfrieren, weil sie nicht genug Licht und Sonne drin haben; andern muß der Herrgott Sturm senden und ihnen das Dach abdecken, andern Blitz, daß er’s anzünde, andern ein Erdbeben, um ihnen ihr Gedankenhaus zu zerstören, daß sie es verlassen. Und diese Menschen, die dann vor den Trümmern ihres Wissens vom Leben stehen, darin sie sich bisher geborgen hatten, die allein wissen, was es heißt: «Unser Wissen ist Stückwerk», und sie allein haben das Recht, dasWort in seinem wahren heiligen Sinne nachzusprechen. Paulus als Beispiel: Zusammenbruch seines frommen jüdischen Gesetzesglaubens. Es bedeutet nicht, wie man’s so gewöhnlich meint: Wir können nicht alles wissen, sondern: Alles Erkennen und alles Wissen kann keine wahre Befriedigung geben und reicht nicht aus zum Leben. Es hört auf. Nur eine Erkenntnis hört nimmer auf: die Liebe; und ein Wissen vom Leben besteht: dasWissen durch die Liebe. Daß unser Leben nur

Die Liebe

höret nimmer

auf

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einen Wert hat, wenn es nicht uns selbst gehört, das ist die einzige Erkenntnis, die bleibt, daseinzige Glück, daserwärmt. Erst dann erkennen wir das Leben, wenn wir leben aus Liebe für die andern, wenn wir gar nicht mehr das Bedürfnis haben, etwas zu erklären, Erfolg zu haben, sondern nur Liebe zu tun und alles dahingestellt sein lassen. Unser eigenes Leben ist uns nur ein großes Geheimnis, aber kein totes, sondern ein lebendiges. Unser Woher, unser Wohin und alle Warum können wir nicht erklären. Aber wenn dasWissen auch aufhört, die Liebe hört nicht auf, undin ihr haben wir eine freudige, sonnige Erkenntnis desLebens. Ich möchte heute nicht erklären müssen, was nun diese Liebe, welche die geheimnisvolle Kraft und der Zweck unseres Lebens ist, für jeden besonderen von uns bedeutet und wie sie dem Leben eines jeden einzelnen von euch erst seine wahre Bedeutung gibt. Wenn ich das Wort «Liebe» sage, sehe ich vor mir ein Feld, bedeckt von zahllosen Blumen. Nun möchte ich aber nicht einige davon abreißen, um sie euch zu zeigen, sondern jedem ist bestimmt, sich für sein Leben einen Strauß zusammenzubinden zur unverwelklichen Zierde. Und er allein weiß, welches die Blumen sind, die er nehmen soll. «Die Liebe höret nimmer auf.» Alles, was wir uns ersonnen und gedacht haben im Leben, darf zusammenbrechen – «die Liebe höret nimmer auf.» Ja, es muß zusammenbrechen, es muß in Trümmer sinken und zur Einöde werden. Nur die Menschen, über welche die Einöde gekommen ist, wissen, was es heißt: «Die Liebe höret nimmer auf.» Wenn über die großen Städte derWelt dieVernichtung einhergefahren ist und der Fleck Erde, den sie überbaut, zum Trümmerhaufen geworden ist, dann kommt die Natur wieder zu ihrem Recht, es sproßt und grünt zwischen den geborstenen Säulen, und die Blüten überwuchern die toten Steine. Es ist die geheimnisvolle, nimmer aufhörende Kraft der Natur, die es schafft. So auch, wenn das menschliche Denken undWissen in Trümmer gesunken, kommt die geheimnisvolle, nimmer aufhörende Kraft der Liebe und schafft neue Erkenntnis. Dieses «höret nimmer auf» steht zweimal in der Bibel. Einmal im Alten Testament: «Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht» [Gen. 8,22]. Das ist gesagt von der Kraft Gottes, welche die Natur erhält. Dann kommt dieses «höret nimmer auf», wie im geistigen Gegenbild, von der Liebe, der Kraft Gottes im Reiche des Geistes, welche schaffend wirkt im Menschengeist, ihn heiligt und erneuert. Sie kann nicht aufhören, denn sie ist dasWesen Gottes, wie es in den Menschen Gestalt gewinnt, wenn das menschliche Denken und Trachten zurückgetreten ist. Dann sind wir in Gott, und die Kräfte des ewigen Lebens fließen uns zu – «in ihm leben, weben und sind wir» [Act. 17,28].|38¡ 38 [R] Samedi soir. Ecrit à une table du Stift.

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Morgenpredigt Sonntag, 19. November 1905, [St. Nicolai]|39¡

Mt. 14,22–33:Jesus auf dem Meere wandelnd|40¡ Ihr wißt, daß die eben erwähnte Erzählung nur ein Gleichnis ist, denn wenn ihr den Herrn Jesus und seine Art kennt, ist euch nicht verborgen, wie sehr er sich davor fürchtete, durch äußere Zeichen auf die Menschen Eindruck zu machen, und daß es ihm klein vorgekommen wäre, seine geistige Herrlichkeit also zu offenbaren. Und wenn unter uns auch solche sind, die ausRespekt vor dem Buchstaben der Schrift daran festhalten zu müssen glauben, daß Jesus wirklich auf dem Meere als auf dem festen Lande gewandelt und daß Petrus desgleichen getan, so stimmen sie doch mit unsüberein, dasie die Hauptbedeutung dessen, wasdort geschehen, nicht darin suchen, daß es nun dort einmal so geschehen, sondern in dergeistigen, ewigen Bedeutung, die daserzählte Gleichnis oder Wunder für unshat.Vondieser geistigen Bedeutung laßt unsreden. DieJünger fragen sich, ob es derlebendige Jesus ist oder ein Gespenst. Warum? Weil sie von ihm getrennt sind, da er nicht leibhaftig zu ihnen kommen kann und sie nicht zu ihm. Sie waren schon einmal von ihm getrennt bei der Aussendung – aber sie wußten jeden Augenblick, daß ihr Fuß sie zu ihm zurückbringen konnte, und hatten keinen Zweifel und keine Sorgen [Mt. 10]. Jetzt aber liegt dasWasser und das Dunkel der Nacht zwischen ihnen, und die Strömung und der Sturm treiben sie zurück, daß sie nicht zu ihm kommen können. So erschrecken sie und meinen, die Gestalt, die im Dunkeln ganz nah vor ihnen aufsteigt, sei ein Gespenst. Diese Jünger sind wir. Eine Zeit, da wir ihn neben uns fühlten, ihm jederzeit die Hand geben konnten, liegt hinter uns: die Zeit der un39 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer in St. Nicolai gepredigt.] 40 [Und alsbald trieb Jesus seine Jünger, daß sie in dasSchiff traten und vor ihm herüberfuhren, bis er dasVolk von sich ließe. Und daer dasVolk von sich gelassen hatte, stieg er auf einen Berg allein, daß er betete. Und am Abend war er allein daselbst. Und das Schiff war schon mitten auf dem Meer und litt Not von denWellen; denn derWind war ihnen zuwider. Aber in der vierten Nachtwache kamJesus zu ihnen und ging auf dem Meer. Und daihn dieJünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und sprachen: Es ist ein Gespenst! und schrieen vor Furcht. Aber alsbald redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so heiß mich zu dir kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus trat aus dem Schiff und ging auf demWasser, daß er zuJesu käme. Er sah aber einen starken Wind; da erschrak er und hob an zu sinken, schrie und sprach: Herr, hilf mir!Jesus aber reckte alsbald die Hand ausund ergriff ihn und sprach zu ihm: O duKleingläubiger, warum zweifeltest du? Und sie traten in das Schiff, und derWind legte sich. Die aber im Schiff waren, kamen und fielen vor ihm nieder und sprachen zuihm: Du bist wahrlich Gottes Sohn!]

Jesus auf demMeere wandelnd

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befangenen Kindheit. Nun sind wir ins Leben hinaus getrieben und sehen, was zwischen ihm und uns liegt. Jahrhunderte trennen uns. Das Dunkel zweier Jahrtausende liegt zwischen ihm und uns, und was uns noch mehr hindert: Die Strömung unserer Zeit ist gegen ihn und treibt uns zurück. Habt ihr nicht das Gefühl, als ob die Menschheit unserer Tage von ihm abgetrieben würde? – Washaben wir nur in den letzten zehnJahren an Zurückgehen des kirchlichen Lebens bemerkt? Wo ist die lebendige Kirche, in der wir Jesus lebendig im Geiste wirkend finden möchten und daß wir sagen möchten: Hier ist er, hier wollen wir bleiben? Der Strom der Zeit und der Sturm der Ideen ist über das Christentum Herr geworden und reißt es mit fort. Es ist nicht mehr die ideale, geistige Macht, welche unserer Gesittung undBildung dieWeihe gibt und unserer Zeit die großen Aufgaben zeigt und lösen hilft. Wenn es noch eine Rolle im öffentlichen Leben spielt, so besteht sie in politischen Ansprüchen und imVerklagen der Konfessionen wider einander vor dem Richterstuhl der Machthaber und der öffentlichen Meinung. Und doch wird unsere Zeit mit Jesus nicht fertig. Die Strömung mag sie noch so weit vom Gestade wegtreiben, auf welchem er wandelte: Immer taucht er wieder vor ihr auf. «Ein Gespenst», sagen sie. Ein Mensch, von dem seine Jünger sagten, er sei auferstanden, und der nun nicht sterben kann, sondern als ein Gespenst umgeht. «Ein Gespenst», sie sagen es äußerlich mit Hohn, innerlich mit einer geheimen Angst, daß er Macht über die Welt und sie gewinne und dasTreiben, woran sie Gefallen haben, ein Ende nehme. «Ein Gespenst», sie sagen es mit Haß, weil sie durch das, was die christliche Religion in dem Leben unserer Zeit ist, an ihm irre geworden sind und in ihm nur den erblicken, der, ohne geistiges Leben in unserer Zeit schaffen zu können, das geistige Leben aufhält. «Ein Gespenst», nur ein Gespenst, sie sagen es mit Wehmut, denn sie ahnen es, daß er unserer Zeit die Hilfe und die Güter bringen könnte, deren sie bedarf. Er allein ... und sie denken bei sich: Wenn er lebendig wäre und ihr helfen könnte, wenn er nicht nur eine Idealgestalt wäre, die nichts mehr über dieWelt vermag! So treibt unsere Welt von ihm ab und kann nicht glauben, daß er etwas Lebendiges ist. Und er allein könnte ihr helfen. Und uns reißt sie mit sich! Wir suchen den lebendigen Jesus in seinem Wirken an unserer Zeit und finden ihn nicht. Es ist uns manchmal zumute wie solchen, die aus dem Traum erwachen und eine Anstrengung machen, um sich klar zu werden, ob das, was sie vor sich haben, Traum oder Wirklichkeit ist. Wie werden wir dessen gewiß, daß uns nichts daran irre machen kann? Und wir stellen die Frage nicht nur, weil wir ihn in derWelt machtlos sehen, sondern weil auch jene, unsere eigenste Welt, unser Leben, von seiner Macht nicht berührt ist. Wir fühlen alle, daß unser Leben erst dann wahrhaftiges Leben ist, wenn etwas Größeres, als wir sind, in das-

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selbe hereinragt, und daß jenes Größere nur er sein kann. Es kommen Augenblicke, wo wir meinen, wir müssen ihn herbeizwingen können, daß er uns helfe, die Augenblicke, wo wir zu ertrinken meinen, wo wir ihn sehen, ohne daß er zu uns tritt, um uns zu helfen, wo wir dann mit Petrus rufen: «Herr, bist du es?» Für den einen sind es die Stürme der Gedanken, die sein Inneres aufwühlen, wo man ihm doch äußerlich nichts ansieht. Er sucht nach Richtung, Halt, Kraft und Freudigkeit für sein Leben. Die Güter, die ihm das geben sollten, haben ihren Wert für ihn verloren, und er sucht nach einem Lebensinhalt ... er fühlt, wie er abtreibt, nichts innerlich wird, sondern am Gestade der Einöde als ein erstorbener Mensch landen wird, wenn Jesus ihn nicht rettet. Ein anderer kämpft in Versuchung und weiß, er siegt nicht, wenn jener Jesus nicht lebendig wird und ihn bei der Hand faßt. Ein anderer muß mit etwas fertig werden, mit etwas, das ihm das Leben genommen hat, mit etwas, das er dahingeben mußte, er muß über eine Verzweiflung hinwegkommen und weiß, er findet keinen Trost und Frieden, wenn jener Jesus nicht leben-

dig ist und zu ihm kommt. So bringt das Leben jedem seine Stunde, wo durch seine Sorgen angelernter Glaube von ihm abfällt, und er in Wahrheit fromm wird durch die versucherische Frage an ihn: Wenn du wirklich lebendig bist, wenn du nicht ein Name, eine Idee bist, die die Menschheit jahrhundertelang nach sich gezogen hat, komm und hilf mir. Sie werden euch sagen, und ihr wißt es von euch, Jesus kommt nicht! Er kam ebensowenig wie dort zu denJüngern, die mit Wind und Sturm kämpften, sondern ließ euch ringen und weiter verzweifeln. Hier aber steht es im Gleichnis, daß Jesus einen Menschen bei der Hand faßte und ihn rettete. Nun lest aber auch, welches die Frage war, die dieser Mensch an ihn stellte: «Herr, bist du es, so heiß mich zu dir kommen auf dem Wasser.» Und Jesus sagte nicht: Nein, das kannst du nicht, dasist vermessen, sondern er antwortete einfach: «Komm her!» Dieses «Komm her»spricht er nicht bloß in diesem Gleichnis, es steht auch in dem Wort, wo er den Mühseligen und Beladenen Trost und Erquickung verheißt, da er ja sagt: «Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!» [Mt. 11,28]. – Auf die Frage: «Bist du es?», antwortet er: Komm, komm grad auf mich zu über dasWasser. Es ist nicht erquickend, in unserer zweifelnden und gleichgültigen Zeit Pfarrer zu sein. Man möchte den Menschen unserer Tage geistig etwas geben, ihnen Jesus bringen – und kann es nicht. Sie will, daß man ihr Zweifel ausrede, und will keine Anstrengung machen. Und wenn dieVerkündigung desEvangeliums darin bestände, Zweifel auszureden, eine Lehre zu verteidigen, so wäre Prediger sein dastraurigste, erfolgloseste Amt, wie wenn man Leute reich machen wollte, indem man ihnen auf dem Papier vorrechnete. Aber es ist so ganz anders, so viel schöner,

Jesus auf demMeere wandelnd

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denn die Verkündigung besteht in etwas ganz anderem. Sie lautet: Bleibt nicht stehen, sondern geht auf ihn zu! Und dieses Evangelium darf man freudig und gewiß verkündigen, denn die, welche ihn ernstlich suchen und sich aufmachen, auf ihn zuzugehen, müssen ihn finden. Sie können nicht anders. Niemand kann euch helfen als ihr selbst. Schau nicht vor dich und nicht hinter dich, hör nicht, was sie sagen und lehren, sondern, den Blick auf ihn gerichtet, schreite auf ihn zu. Bleib nicht stehen, sondern suche deinen Weg zu ihm. Schau nicht, ob dieser Weg sicher oder gangbar ist, ein Weg für den natürlichen Menschen gebahnt, sondern schau nur, ob er grad auf Jesus führt. Petrus kann nun zum Herrn kommen, indem er alle menschlichen Erwägungen beiseite läßt. Wir aber lassen uns durch menschliche Erwägungen zurückhalten.

Nur der ist geschickt, den Weg zu gehen, der weiß, daß Jesus mehr für ihn ist als alles, was ihm das Leben bringen konnte. Nur für den Menschen ist der Lebensweg der Weg zum lebendigen Jesus, der ihn geht mit der inneren Gewißheit, daß alles, was kommt, das Gute und dasTraurige, die Schwachheit und die Kraft, alles Schwerere muß kommen und nur das eine über ihn vermögen und vermögen sollen: ihn die Hand des lebendigen Jesus erfassen zu lassen. Es muß einer mit der natürlichen Betrachtungsweise des Lebens fertig sein, ehe er geschickt ist, über die Untiefen zu wandeln, die ihn von Jesus trennen, und wo der Mensch, mit den natürlichen Gedanken beschwert, nicht den Mut hat und einsinken würde. Was gab Petrus die Kraft, auf den sturmbewegten Wogen als auf dem festen Lande zu wandeln? Der Wille, zu Jesus zu kommen. Und wenn ihr diesen Willen habt, und wenn ihr dies eine, aber nur dies eine, innerlich von dem Leben fordert, daß es euch zu Jesus bringe, dann herrscht ihr über das Leben, und seine natürlichen Gesetze und Gewalten haben keine Macht über euch. Das ist keine Theorie, sondern Leben; denn bei jedem Schritt fühlst du, wie du ihm näher kommst. Ein Mensch tut nichts um des Herrn willen, ohne daß er fühlt, daß es für einen lebendigen Herrn getan. Willst du anJesus glauben, so tu etwas für ihn. Es gibt für unsere zweifelnde Zeit keinen andern Weg zu ihm. Und wenn du nur das Geringste um seinetwillen getan, einem Menschen, indem du innerlich seinen Namen nanntest, um dich zur Liebe zu zwingen, mit einem Stück Brot oder einem Schluck Wasser oder einem Kleid geholfen, jene geringsten Dinge, worauf er seinen Segen zu legen versprach, als wären sie ihm getan [Mt. 25,31–40], so wirst du sehen, daß du es wirklich ihm getan, denn er wird als ein Lebendiger dir näher rücken. Ich darf von den kleinen Dingen reden, weil Jesus ausdrücklich gesagt hat, daß er den Segen seiner lebendigen Gegenwart auf sie legt, als wüßte er, daß er den Menschen Mut machen muß, denWeg zu ihm zu

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begehen. Du zwingst dich zu nichts um seinetwillen, ohne daß du ihn wie durch ein Zauberwort in deine Nähe bannst. Du willst ungeduldig werden, weil dich ein Mensch eine Viertelstunde beansprucht und braucht, die du für dich haben wolltest, und du zwingst dich, sie ihm umJesu willen zu geben. Da ist’s dir wie manchmal, wenn wir das Gefühl haben, daßjemand hinter uns steht und uns anschaut. Du weißt, daßJesus lebendig ist, weil er dir etwas genommen hat: Tote nehmen nichts. Siehe, alle geheimen «Um seinetwillen», die kleinen und leichten wie die großen und schweren, sind der Weg zu ihm. Kein Mensch kann dir sagen, wie er nun sein wird, deinWeg, welche die «Um seinetwillen» sind, mit denen dich der Herr auf ihn zukommen heißt. Für die einen die, für die andern jene. Vor einigen Wochen hörte ich jemand sagen: Es sind Menschen, die zum Tun, andere zum Leiden geboren sind. Es war der Satz eines resignierten Menschen. Bei ihm verklärte sich dasWort: Es gibt Menschen, von denen Jesus dasTun, andere, von denen er dasLeiden um seinetwillen verlangt, wenn sie nur bereit sind, es ihm zu geben, daß sie zu ihm kommen. Keiner, der zu ihm will, kann zugrunde gehen. Denn in dem Augenblick, wo Petrus versank und schrie: «Herr, hilf mir», ergriff ihn Jesus bei der Hand ... und er war bei ihm gerettet und geborgen. Wie der Sturm sich legte, wird nicht erzählt, es ist von keiner Beschwörung die Rede, dieJesus angewandt hat. Nur daß er sich gelegt hat, wird erzählt. Wenn der Mensch Jesus gefunden hat, legen sich alle Stürme. Und was ist das für ein lebendiger Mensch, Jesus? Sucht nicht nach Formeln, ihn begreiflich zu machen, und wenn sie durch Jahrhunderte geheiligt sind. Mich wollte letzthin schier der Unmut erfassen, als mir ein frommer Mensch sagte, nur der könne an den lebendigen Jesus glauben, der an die leibhafte Auferstehung und an die verklärte, ewige Leiblichkeit Christi glaube. Wenn ein Mensch dessen ungewiß wird, daß Jesus eine lebendige Kraft ist, die sein Leben bestimmt, die ihn stark und reich macht, [muß er ihn erfahren]. Lebendig istJesus für die, als ging er unter uns, um uns in kleinen und großen Dingen zu sagen: Tu das so und das so, und die einfach, als hätten sie einen Herrn vor sich, dessen Gestalt sie mit dem geistigen Auge sehen und dessen Befehle sie mit dem geistigen Ohr hören, ja sagen und still dahingehen

und tun. Daß der Herr in unserer Zeit befiehlt, ist für mich ein Beweis, daß er kein Gespenst und kein Toter, sondern ein Lebendiger ist. Um der Suchenden in unserer Zeit willen möchte ich sagen: Haltet sie nicht auf mit Formeln und Lehren, sondern ermutigt sie, sich auf den Weg zu ihm zu machen. Wenn ich es auf meine Weise erklären darf, so möchte ich sagen: Der ewige Leib Jesu, dassind seine Worte, denn von ihnen hat er gesagt:

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«Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen» [Mt. 24,35]. Diese Leiblichkeit nimmt sein Geist im Menschengeist immer aufs neue an, um sich dem Menschen im Abendmahl darzubieten, auf das er hinwies, da er Brot und Wein als seinen ewigen Leib und Blut weihte [Mt. 26,26– 28], und dasda ist in Wahrheit, wo ein Mensch im geistigen Hunger und Durst ein Wort Jesu in sich aufnahm, um davon zu leben, dasWort, welches ihm bestimmt war: Denn da hat sich der lebendige Jesus mit jenem Wort verbunden, und sein Leben ist in das Leben des Menschen übergegangen und schafft Friede und Freude.

Nachmittagspredigt Sonntag 26. November 1905, St. Nicolai Erntefest

Lk. 13,6–9: Der unfruchtbare

Baum|41¡

Es ist so schwer, in der Stadt Ernte- und Herbstfest zu feiern. Wir wohnen zwischen unsern engen Mauern, unsere Bäume sind die Bäume des Stadens,|42¡ deren Wachstum wir eifrig verfolgen, aber von denen wir keine Frucht verlangen, unsere Wiesen sind die Gräschen, die zwischen dem Pflaster hervorsprießen. Kaum einer oder der andere von euch besitzt einen Garten oder Acker, kaum einer hat Früchte vom Baum gepflückt oder solche erhalten, die an des Freundes Baum gewachsen. Wir bekommen die Frucht, die das Land bietet, aus der Hand des Händlers und müssen schon eine Anstrengung machen, um uns zu vergegenwärtigen, daß sie dennoch aus der Hand Gottes kommt. Und doch meine ich, es hat sein richtiges Bewenden, daß wir doch Erntefest feiern, mit denen im Geiste vereint, die heute zur Kirche kommend ihren Acker und ihren Rebberg von ferne geschaut, und daß auch wir Erntefest feiern sollen, wahres Erntefest, wenn auch in anderm Sinne als die, welche Sense, Sichel undWinzermesser zur Ruhe gestellt

haben.

Ich war letzthin draußen vor den Toren der Stadt, und eine wellige Linie verbarg mir die fernen Häuser, daß ich meinte, fern auf freiem 41 [Er sagte ihnen aber dies Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberge; und kam und suchte Frucht darauf, und fand sie nicht. Da sprach er zu demWeingärtner: Siehe, ich bin nun drei Jahr lang alle Jahre gekom-

men und habe Frucht gesucht auf diesem Feigenbaum, und finde sie nicht. Haue ihn ab! washindert er dasLand? Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, laß ihn noch diesJahr, bis daß ich um ihn grabe und bedünge ihn, ob er wollte Frucht bringen; wo nicht, so haue ihn darnach ab.] 42 [Der Staden ist eine Uferstraße in Straßburg.]

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Predigten

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Feld zu sein. Am Boden auf einem Felde lag ein Stamm, die weißen Späne noch drum herum und die Äste zu Reisigbündeln gebunden. Er wartete, daß sie ihn auf den Wagen luden und heimholten. Die Raben schritten die Furchen ab, und derWind sang sein Herbstlied in den Tele-

grafendrähten. Ich hatte gerade darüber nachgedacht, was euch zum Erntefest predigen. Da erinnerte mich der Baum an das schöne Gleichnis Jesu, und ich wußte alsbald, wie ich es euch zum Fest auslegen wollte. Ich dachte nämlich an die Heilung des Blinden, die bei Markus, im 8. Kapitel, erzählt ist, wo Jesus einen Blinden vor den Flecken führt und ihm die Hände auf die Augen legt, undwojener dann sagte: «Ich sehe Menschen gehen, als sähe ich Bäume» [Mk. 8,24]. Mir ging es gerade so.Während ich weiterging, wurden die Bäume zu Menschen und die Menschen zu Bäumen, so man doch an beiden Frucht sucht. Und es schien mir, daß auch für Gott Bäume wie Menschen und Menschen wie Bäume sind. Denn er hat bestimmt, daß das Gute, wovon der Mensch lebt, vom Lebendigen kommt. Er läßt nicht Brot und Frucht vom Himmel regnen, sondern er weist den Menschen an, daß er es an Baum und Halm suchen soll. Und auch die geistigen und leiblichen Güter, wovon ein Mensch lebt, sendet er nicht vom Himmel herunter, sondern will sie als Frucht in einem Menschen wirken und daß die andern sie von ihm empfangen. So geht ein großer geistiger Wille, ein großes geistiges Gesetz durch Natur und Menschheit, und unser Herr Jesus sagt uns, daß alles, was lebt und ist, Baum Gottes ist. Zuerst denkst du nun an die Menschen, an denen du Frucht suchtest und keine fandest, an denen du ein Recht hattest, Frucht zu suchen, und die dir keine gaben. Der enttäuschte Herr im Gleichnis bist du. Du kannst sie in einer Sekunde aufzählen, die Menschen, die dich nicht enttäuscht haben, und die andern alle haben dir nicht gegeben, was sie dir geben sollten, und wohl dir noch, wenn es nicht Brüder und Schwestern oder vielleicht gar Kinder waren, die versagten, wo du etwas, leiblich oder geistig, von ihnen brauchtest. Es fühlt sich keiner der Landleute, deren Feld oder Rebstock nicht gehalten, was er versprach, enttäuschter als du, wenn du an die Menschen denkst, an denen du hättest dürfen Frucht suchen, und keine fandest, an den Menschen, die dir durch Dankbarkeit, die sie dir schuldeten, angehörten, ob es Schüler oder Freunde oder Fremde waren oder auch nur ein Dienstmädchen, dasdu angelernt hattest, und dasdich verließ, wo es endlich etwas durch dich konnte. Und nach menschlichem Empfinden bist du im Recht. Der Herr dort im Gleichnis ist auch im Recht – und doch nicht ganz im Recht. Denn du kommst nur als Herr. Dort aber, neben dem Menschen, den du ausdeiner Erinnerung austilgen möchtest, steht einer und hat Fragen an dich. Er fragt dich: Weißt du, warum dieser Baum keine Früchte

Der unfruchtbare Baum

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brachte? Ich sah ihn blühen und freute mich an ihm. Und eines Morgens kam ich. Da leuchtete er noch so weiß in seiner Pracht wie tags zuvor. Ich aber wußte, daß er keine Frucht bringen könnte, denn in der Nacht war die Blüte erfroren. Und ich wartete wieder ein Jahr, und er blühte und verblühte schön, und nachher kam Regen und Kälte, und derWurm setzte sich in die Frucht, und ich wußte, daß alles abfiele, und daß er im Herbst leer dastehen würde. Nun kommst du Menschenherr, sagt der HerrJesus zu dir, und suchst Frucht an diesem Menschen. Ich, der ich hundertmal mehr mich um ihn gesorgt habe als du, ich, der ich nicht sein Herr war wie du, sondern an ihm arbeitete, vergebens, ich grolle ihm nicht, denn ich weiß, warum er keine Frucht bringen konnte. Ich weiß, daß er einmal erfror in dem hoffnungsvollsten Momente, weil er nicht genug Liebe bekam, und daß er ein andermal keine Frucht brachte, weil derWurm der Bitterkeit an seinem Herzen nagte, und niemand die Bitterkeit von ihm nahm. Nun komm, sei nicht Herr, sei nicht mit diesem Menschen fertig, sondern hilf mir, an ihm graben und arbeiten, hilf mir, ihm neue geistige Kraft geben, ob er dann blühe und Frucht bringe. Ich meine, daß die Menschen, an denen wir Frucht suchen, gar oft keine bringen konnten, weil wir nur als die Herren kamen, die etwas an ihnen suchten, und nicht als die, welche in der Liebe Gottes an ihnen arbeiteten und mit der Liebe Gottes sie erwärmten, daß sie in der kalten Welt nicht erfroren und an der Bitterkeit nicht zugrunde gingen. Drum feiere dein Menschen-Herbst- und Erntefest mit dem Gärtner, unserm Herrn Jesus, als einer, der sich nicht enttäuschen und nicht verbittern läßt, sondern der sagt: Ich habe noch nicht genug getan, um ernten zu dürfen. Und vergiß nicht, daß du, der Herr, der vom andern ernten will, vor Gott Baum bist. Ich sage dasjetzt nicht, um uns daran zu erinnern, wievielmal Gott vergebens an uns Frucht gesucht und welch ein ärmliches Erntefest er heute feiern würde, wenn er bei den Menschen Dank und Frucht suchte. Wir wissen jeder bei uns selbst, daß wir unfruchtbare Bäume sind, und daß das, was wir hier und dort tun konnten und durften, uns weder vor uns selbst noch vor Gott rechtfertigt. Aber was ich euch sagen wollte, bezieht sich auf das, wie wir das Gute, dasuns begegnet, annehmen sollen. Habt ihr noch nie den Eindruck des Unverdienten gehabt, wenn auf einen Tag, eine Stunde sich des unerwarteten Guten so viel zusammendrängte, daß ihr davon wie erstickt wurdet, wie aus dem Geleise eures Lebens herausgehoben? Kennst du diese Augenblicke nicht, wo du die Augen mit der Hand bedecktest, wo dir ein Mensch etwas ward zur Freude und zumTrost, oder wo dir etwas geriet, und wo du im Hinblick auf so viele, die mit dir dieselbe Straße zogen, dich fragtest, warum das mir? Womit habe ich es verdient?

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Dann laß jenen Augenblick nicht vorübergehen und warte nicht, bis du wieder in die Alltäglichkeit zurückgesunken bist, sondern wisse, was es bedeutet. Es bedeutet nicht, daß du sagst: Nun will ich glücklich sein, sondern es bedeutet, daß du sagst: Nun will ich schaffen. Denn die Freude kommt von Gott, von demJesus bei Johannes sagt: «Mein Vater wirkt bisher» [Joh. 5,17]. Und die Freude soll dir die innere Kraft zum Wirken geben, daß du als ein Baum Gottes Frucht bringst unter den Menschen. Eines wird mir immer klarer: Daß, wer die Freude und das Glück, mit dem Gott zuweilen unser Leben erhellt, recht versteht, nicht anders kann, als davon die Kraft empfangen, lebendige Frucht zu bringen. Mit diesem ernst-freudigen Gedanken geht wieder hinaus aus der Kirche, Advent entgegen, in den Winter und die Arbeit hinein. Und habt die Augen offen, daß ihr seht die, welche euer bedürfen, die, welche euer leiblich bedürfen, die mit Sorgen um das tägliche Brot Erntefest feiern, und die, welche euer geistig bedürfen, um sich aufzurichten. Denn Gott, der nichts durch Wunder schaffen will, wartet, daß seine Bäume Frucht geben und den Hunger derWelt stillen.

[Morgenpredigt]|43¡ Sonntag, 3. Dezember 1905,

1. Advent

[St. Nicolai]

Mt. 12,36: [Unnütze Worte]|44¡ Schon wieder ist es Advent. Ist es denn schon so lange her, daß an einem Sonntag, wo unsere Bäume im Frühlingslaub standen, von den Festen Abschied genommen und verkündet wurde, nun beginne die festlose Hälfte desKirchenjahres? Es flog alles so dahin. Wir sahen dasLaub fahl werden, abfallen und sagten uns: Das ist nun der Herbst. Erst muß es Advent werden, ehe der Winter kommt. Und wir sahen die Sonntage im Spätherbst dunkel wie die Telegrafenstangen vorübergleiten, wie wenn man in der Bahn fährt, und es Abend wird. Nun winken in der Ferne die Lichter der Stadt. Und wir kommen zur Adventszeit wiejedes Jahr als die, so etwas erwarten. Alle ungestillte Sehnsucht, die wir im Herzen tragen und die lange Monate begraben lag, feiert ihre Auferstehung, wie es in der Schrift heißt, daß die Auferstandenen bei der Wiederkunft des Herrn 43 [Nach dem Kirchenboten vom 2. Dezember 1905 hat Schweitzer am Morgen in St. Nicolai gepredigt.]

44 [Ich sage euch aber, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben amJüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Wort, dassie geredet haben]

Unnütze Worte

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ihm entgegengehen werden [Mt. 25,1]. Und zwingt sie nicht ins Grab zurück alle eure sehnsüchtigen Hoffnungen und Gedanken. Sagt nicht: Es war schon so vielmal Advent, und wir hofften, daß etwas, was in uns nicht zum Leben kommen konnte, in der heiligen Zeit, da wir seine Ankunft feierten, lebendig würde, und es blieb tot, sondern laßt euch durch sie zum Leben fortreißen. Feiert Advent als stille, ernste, hoffende

Menschen. Wenn man doch denen draußen, allen Menschen, von der Sehnsucht predigen könnte. Zu wecken brauchte man ihnen die Sehnsucht nicht, denn sie wird von selbst wach in diesen Tagen, wo die Menschen abends in freudiger Geschäftigkeit die Straßen beleben, und das Dunkel der Dämmerung selbst etwas Verheißungsvolles hat. Aber heißt Advent predigen nurVerheißung predigen? Lest die Evangelien, die die alte Kirche für die Adventssonntage bestimmte! Sie reden vom Schall der Posaunen und vom letzten Gericht, von verlorenen Menschen. Nun wißt ihr, daß ich euch nie das Evangelium der Furcht gepredigt habe, daß die Religion, die von der Furcht desTodes und der Ewigkeit eingegeben ist, nicht die wahre ist, sondern nur die, die aus Jesus geboren ist, die spricht: Ich will dein sein, nimm mich in deinen Dienst; mehr als alle künftige Seligkeit ist für mich das Glück, dir hier in Demut und Schwachheit zu dienen, dienen zu dürfen. Und doch gibt es ein Gericht, das uns zwingt, im Advent mit der Sehnsucht das Gericht zu predigen, das Adventsgericht. In jener alten Vorstellung des Gerichts sahen sie Jesus auf den Wolken des Himmels, die Erwählten um ihn geschart, die Verdammten von ihm weggerissen [Mt. 25,31–46]. Das Adventsgericht, das wir predigen, ist anders und doch dasselbe. Auch dieses Gericht entscheidet über die Seligkeit, ob die Menschen mit ihm vereinigt werden oder nicht. Aber kein Trompetenstoß verkündigt es. Lautlos geht es um, jetzt in diesen Tagen, bei den Menschen, welche von der Sehnsucht ergriffen sind. Horch, ob es nicht bei dir umgeht! «Siehe, ich stehe vor derTür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir» [Apk. 3,20]. Er steht draußen und klopft – sie hören’s nicht. Er klopft wieder. Sie hören es nicht. Noch einmal. Sie hören noch nicht. Wer ist’s, der so müd die Treppe herabkommt und durch den Torbogen ins Dunkel hinaustritt? Es war der Herr. Und die Menschen, die drinnen saßen, hatten sich nach ihm gesehnt. Vielleicht wußte es das eine vom andern nicht. Aber sie hatten sich nach ihm gesehnt und auf sein leises Klopfen gewartet. Und sie überhörten es.Warum? Sie redeten miteinander unnütze Worte, und dasGericht, dasnach demWort desHerrn auf den unnützen Worten steht, vollzog sich an ihnen. Weil er, ohne daß wir es ahnen, durch unsere unnützen Worte von uns weggebannt ist, daß er nicht zu uns kommen

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kann, will ich zu uns von den unnützen Worten reden, davon im Advent predigen, daß wir nicht unter dasAdventsgericht fallen. Es ist gut, daß Schweigen hier in der Kirche Gesetz ist, denn es könnten sonst gar viele unter euch in Versuchung kommen, zum Nachbar zu sagen: Er predigt nicht für mich, ich gehöre nicht zu denen, die böse Nachreden führen. Ja, wenn der oder diejetzt dawäre, für die wäre das, was erjetzt sagen wird, wie gemacht. Die könnten es brauchen. Schade, daß sie nicht dasind. Nun ist aber Schweigen hier Gesetz, und du kannst nur mit dir selber reden. Und wie lange wagst du es, vor dir selber zu sagen, daß diesWort dir nicht gilt? Wie lange wagst du, dem Spruch ins Auge zu blicken, ohne von Entsetzen ergriffen zu werden, daß du wirklich Rechenschaft von den unnützen Worten ablegen mußt, ohne daß du die Hände vorstrecken möchtest, um ihn dir vom Leibe zu halten? Es ist keiner unter uns, dem ich sagen könnte: Dir brauch ich’s nicht auszulegen, du kannst währenddem an andere Sachen denken, sondern ich flehe euch an, daß ihr die unvollkommenen Worte, die ich zu euch rede, nur das Geräusch sein laßt, unter dessen Schutz ein jeder von euch sich die Predigt hält, die er allein sich halten kann. Und wißt, sich predigen heißt, sich die Ausflüchte nehmen und sich demütigen. Kommt, wir wollen zusammen ein Wort erwürgen und zertreten, ein Wort der Ausrede, das wir so lieb hatten. Faß es feste an, daß es dir nicht entgleite, nimm deinen Mut zusammen, daß du nicht ruhst, bis es langgestreckt leblos vor dir liegt wie die tote Schlange auf dem Pfad, der am Bach entlang führt. Und dasWort? Ich hab es ja nicht bös gemeint. Dieselbe Art kommt noch etwas anders gesprenkelt vor. Sie heißt: Ich hatte mir nichts dabei gedacht. Und noch ein bißchen anders: Ich konnte nicht wissen, was daraus entstehen würde. Aber immer, wie dasTier auch gesprenkelt ist, ruh nicht, bis du es zertreten hast. Und warte nicht, bis es ausgeschlüpft und ausgewachsen ist und dir entläuft, sondern vernichte es im Ei. Ich brauche euch keine Beispiele zu geben von hingeworfenen Worten und Andeutungen, die ihren Weg gemacht haben, wo manchmal derWeg für einen Menschen zuletzt insWasser führte. Es ist noch nicht so lange her, daß in unserem Lande ein Buch erschien, in welchem die Persönlichkeiten so gezeichnet waren, daß jeder die Namen zu den Menschen fand. Die Gerichte beschäftigten sich damit, und die Menschen diskutierten darüber: Ich aber sah nur Menschen, die erwürgt wurden, und fragte mich, wie ein Mensch mit einer solchen Verantwortung noch leben könne. Und wenn ihr um euch blickt, seht ihr überall die Saat grünen, die aushingeworfenen Worten aussproßt, zur Ernte reifend, dreißig-, sechzig- und hundertfältig Frucht tragend, wenn sie auf gut Land gefallen, wie es in der Natur Gesetz ist [Mt. 13,8]. Und hier ist alles gut Land.

Unnütze Worte

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Was tust du, wenn du die Frucht siehst, die du ausgesät hast, und kannst nichts mehr dagegen machen? Du entschuldigst dich, und die Schlangen, von denen wir oben sprachen, leihen dir ihre Weisheit, und dieWelt hilft dir, dich entschuldigen, und ihr kommt überein, dich freizusprechen und dieVerantwortung von dir zu nehmen. Aber einer richtet nach einer andern Weisheit und verurteilt. Es ist nicht der sanfte, gute, liebe Herr Jesus, den sich die Menschen so gerne gefallen ließen, sondern der ernste, strenge Herr, aus dessen Munde die Worte wie Flammen hervorlodern, er, den St. Paulus nicht anders nennt als den Herrn. Und ich meine, es ist an der Zeit, daß man der Welt den «Herrn» wieder predigt. Er sagt: Sie werden Rechenschaft geben von einem jeglichen unnützen Wort. Von einem jeglichen. Das ist der Unterschied zwischen ihm und der Welt. Die Welt kann dir so schön sagen: Für das bist du verantwortlich – für das nicht, und dir das letztere beweisen, daß du deine Freude dran hast. Er aber hat jedem eine grenzenlose Verantwortung aufgeladen, in allem. Er erlaubt dir nicht, zu sagen: Dieser Mensch geht mich nichts an, ich kenne ihn nicht, sondern er sagt: Du bist’s dennoch, und wenn du es dir mit tausend Vernunftgründen ausreden kannst. Und er kennt auch kein Wort, für dessen Folgen du nicht verantwortlich wärest, und wenn du sie tausendmal nicht vorausgesehen, sondern fürjedes sollst du ihm verantwortlich sein. Das ist das Furchtbare an ihm, daß er alle Grenzen derVerantwortlichkeit aufgehoben hat! Wegen dieser unendlichen Verantwortung, die er dem Menschen auflädt, scheidet er nicht, wie dieWelt scheidet, zwischen bösen unnützen und guten Worten, sondern nur zwischen guten und unnützen. Wasist ein unnützes Wort? Worte, die zuviel sind! Wir reden alle zuviel. Wir kommen zusammen und wollen reden und haben nichts zu reden und reden doch. Habt ihr noch nie den Eindruck in einem Gespräch gehabt, als kämt ihr mit dem andern auf Steingeröll, das Steingeröll gibt nach, und ihr kommt immer tiefer herunter. Und jeder fühlt’s und möchte schreien: Halt, wohin kommen wir? Und keiner tut’s; und wenn ihr eine halbe Stunde beisammen seid, seid ihr wie die, welche in den Abgrund gefallen sind, und das Geröll der Steine, die nachgleiten, hüpfen und tanzen, bedeckt euch und verwundet euch, das Geröll eurer unnützen Worte, das nachrutscht, ohne daß ihr’s hindern könnt. Ihr geht auseinander als verwundete Menschen – verwundet und zerschunden von euren unnützen Worten! Und wenn ihr euch wiederseht, müßt ihr gegen die Befangenheit kämpfen, die sich auf euch legt, weil ihr zusammen von unnützen Worten bedeckt wurdet. Unnütze Worte sind böse Worte, denn sie kommen nur aus dem bösen Herzen. Da urteilt er wieder anders als die Menschen. Für sie ist ein Wort nur bös, wenn es böse ist und als solches sich von außen erkennen läßt. Der Herr aber fragt: Aus welchem Herzen kommt das Wort? Aus

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dem guten, sagst du. Kam’s von selbst? Ja. Dann ist’s nicht aus dem guten. Denn dasgute ist ein tiefer Brunnen. Eine lange Röhre fuhrt herauf und durchbricht das böse Herz; und kein Tropfen steigt in der Röhre auf, ohne daß du pumpst, dich mühst und arbeitest. Das böse Herz aber liegt ganz oben, und es fließt aus deinem Munde heraus von selbst wie ein Laufbrunnen. Da gibst du alles wieder, was so von derWelt in dich eingesickert ist. Und fürchte dich vor demWort, dasvon selbst kommt, das von innen drängt und heraus will: Es fließt aus dem bösen Herzen. Darum stellt der Herr die beiden Sprüche, den vom bösen und guten Herzen und den vom unnützen Wort, nebeneinander – daß sie nur ein Gesetzlein bilden.

Es ist, wenn man von christlicher Moral redet, eine große Gefahr, daß man miteinander auf das Gebiet des Unwirklichen und Unwahren kommt und sich zuletzt gewissermaßen gegenseitig selbst etwas vormacht, so daß das, was man sagt, zuletzt nicht mehr ins Leben hineinpaßt. Ich habe immer eine gewisse Angst, etwas fast wie mit dem geheimen Hintergedanken zu sagen, daß es sich nicht verwirklichen läßt. Und ihr könntet dasselbe Gefühl haben, wenn ihr mich nun so verständet, als wollte ich sagen, daß ein Christenmensch nur Liebes und Gutes reden darf und nicht auch urteilen und verurteilen. Wir wollen keine unwahrhaftige Sentimentalität im Christentum, sondern Wahrheit wollen wir. Das ist die falsche Rolle, welche dieWelt dem Christen will anweisen, daß er über nichts ein Urteil haben darf, sondern überall nur Gutes und Entschuldbares finden. Für unsere heutige Welt soll der Christ überhaupt darin bestehen, daß er alles entschuldigt: Entschuldigen nennt sie gut, urteilen nennt sie bös. Und ihr habt euch schon gefragt: Bis wohin darf ein Mensch gehen im Urteilen und Verurteilen? Ihr fühlt alle, daß wir ausirgendeiner unwahrhaftigen, angelernten, zur Schau getragenen Rolle desalles Verstehens und alles Verzeihens herauskommen müssen. Nun sieh, dasWort sagt’s dir deutlich. Er redet nicht von bösen und guten Worten, sondern von guten und unnützen Worten. Es gibt Worte des Urteilens, die die Welt böse nennen wird, und die nicht unter das Gericht Jesu fallen, weil sie keine unnützen, leichtsinnig und gedankenlos dahingesprochene sind, sondern gesagt wurden nach reiflicher Prüfung, weil sie gesagt werden mußten. Jesus verlangt von dir, daß du dich prüfst, ob du dein Urteilen und Verurteilen vor ihm verantworten kannst! Und wenn du es bis ins Innerste deines Herzens erwogen hast und weißt, du mußt urteilen, und kannst es vor ihm verantworten, dann sei getrost: Laß die Welt dir ruhig predigen, was die christliche Liebe, wie sie sie versteht, gebeut, verlangt ... Du bist mit deinem Meister und Herrn im klaren. Ich weiß, daß ich es euch nicht deutlich und klar sagen konnte, und sehne mich mit euch nach einem, der uns einmal mit Vollmacht sagen

Bist du, derda kommen soll?

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täte, wie wir die Gebote Jesu als wahrhaftige, einfache Menschen, nicht mit einem unwahren, erheuchelten Christentum, im Leben verwirklichen. Es sind da noch so viele Fragen, die uns unklar sind. Und doch, zuletzt ist alles wieder klar: Du tust, was du vor ihm, dem Herrn, verantworten kannst. Tue nichts, ohne dich zu fragen: Kann ich es verantworten? Die unnützen Worte, die du nicht verantworten kannst, trennen dich von ihm. Sie sind die Flämmchen, die von der bösen Welt in dir herauszüngeln. Wenn in einem unserer großen Ozeanschiffe Feuer ausbricht, dann heißt’s zuerst: alles luftdicht verschließen und zu versuchen, dasFeuer zu ersticken. Das ist der einzige Weg der Rettung. Wenn Luft hinzutritt, ist nichts mehr zu helfen; alles ist verloren. Und mit dir ist’s dasselbe. In dir brennt eine böse, häßliche Welt. Du kannst nicht hinabsteigen und löschen. Aber du kannst sie ersticken, indem du sie in dich verschließt, daß sie nicht in gedankenlosen und unnützen Worten aus dir herausfährt und aus der Luft neue Nahrung saugt, dich zu verbrennen und zu verzehren. Das höllische Feuer ist nur ein Gleichnis diesesGerichts, dem dudich selbst unrettbar auslieferst. Sag nicht: Das war eine trockene Adventspredigt, so gar nichts von Adventsstimmung und Adventsfreudigkeit drin. Und doch eine Adventspredigt: Eine Predigt, die redete von dem, was uns not tut; nicht ein Richten, sondern ein Bitten und Beschwören in Jesu Namen, es möchte ein jeder von uns mit sich kämpfen und ringen, sich vergewaltigen, daß er um sich nicht eine Atmosphäre schaffe, durch die der Herr nicht hindurch kann, und so seine Adventssehnsucht ungestillt bleibt.

Nachmittagspredigt Sonntag, 10. Dezember 1905, St. Nicolai|45¡ 2. Advent

Mt. 11,2–6: Bist du, der da kommen soll?|46¡

Am Fenster des Kerkers sitzt er auf der Feste Machärus. Sein Blick schweift in die Ferne. Seine hagern Hände umklammern das Gitter. Er harrt der Botschaft, die ihm dieJünger bringen werden. 45 [R] Mit frohem Gruß, Albert. 46 [Da aberJohannes im Gefängnis dieWerke Christi hörte, sandte er seiner Jünger zwei und liess ihm sagen: Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Gehet hin und saget Johannes wieder, was ihr sehet und höret: die Blinden sehen, und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, und dieTauben hören, dieToten stehen auf, und den Armen wird dasEvangelium gepredigt; und selig ist, der sich nicht an mir ärgert.]

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Ist das der erste Zweifler? Schon als Kind lehnte ich mich dagegen auf und wollte es nicht hören, daß der gewaltige Johannes ein Zweifler war. Heute denke ich noch so wie damals. Er war kein Zweifler, sondern ein Unbefriedigter. Und auch unter den Menschenkindern von heutzutage unterscheide ich zwischen Zweiflern und Unbefriedigten. Beide scheidet das Tun. Der gewöhnliche Zweifler ist ein Mensch, für denJesus nichts ist, weil er nichts tut, nichts für ihn tut, der zweifelt, weil es ihm an innerer, tätiger Energie fehlt. Man kann nur etwas vonJesus haben, er fängt einem erst etwas an zu sein, wenn man sich ihm ergeben hat, wenn man ihn betrachtet als einen, der einen braucht, der einem befiehlt. Was die Menschen so Zweifel nennen, ist nur die Angst, es mit diesem Herrn zu versuchen. Ihr Wichtigtun mit Zweifeln, ihre Gründe und Reden sind Ausreden. Man kann sie bemitleiden, daß sie so arm durchs Leben gehen, aber man kann ihnen nicht helfen. Es wird nicht besser mit ihnen, oder der tätige Geist Jesu erfaßt sie, wie der Strom ein Stück Holz erfaßt, es umherdreht, herumwedelt und mitreißt. So denke ich immer bei zweifelnden Menschen: Eure Stunde ist noch nicht gekommen. Ihr liegt noch in der Bucht. Wenn euch der Geist erfaßt und umherwirbelt, daß euch schwindelt, daß ihr Angst habt und vor Freude zittert über das neue Leben, das sich vor euch auftut, dann wird’s besser mit euch werden. Dann denk ich auch, daß wir schuld sind, daß so viele Zweifler, kraftund tatenlose Menschen in der Welt sind. Wenn von uns lebendige Ströme des Geistes ausgehen würden, dann würde manches Holz, das jetzt im Schilf festgehalten ist, in gurgelnden Wirbeln lustig kreisen. Aber einer, der einmal vom Geiste Jesu erfaßt gewesen ist, für den Jesus einmal etwas war, etwas ist, und wenn er nur der größte Mensch für ihn ist, der ist kein Zweifler, ebensowenig wie Johannes, sondern ein in der Welt gefangener, unbefriedigter Mensch, der möchte, daß Jesus immer mehr für ihn und die Welt werde. Für dieJünger und das Volk ist Jesus der Prophet, der Mann, der so schön predigt, der Zeichen undWunder tut, und es genügt ihnen. Dem dort hinter dem Gitter nicht. Er möchte, daß er ihm und der Welt mehr wäre, der da kommen soll, der helfen kann, ihm und dem Volke helfen kann. So ist es sein Recht und sein Ruhm, daß er der erste vonJesus unbefriedigte Mensch war. Jetzt begreift ihr, warum ihnJesus nicht schalt: Der unbefriedigte Mensch hat ihn besser verstanden, ihn besser erkannt als alle befriedigten, und er nennt ihn den Größten, der vonWeibern geboren ist [Mt. 11,11]. Und wenn euch im Advent unbefriedigte Fragen an Jesus kommen, wenn wie eine große Traurigkeit, wie eine große Mutlosigkeit über euch kommt, wundert euch nicht undwißt, daß nur die Unbefriedigten ihn erkennen. Wir hören von seinen Wundern, und sie sind größer als

Bist du, derda kommen soll?

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die, die Johannes könnte, wie ja der Herr seinen Jüngern verheißen hat, daß sie Größeres erleben werden. Wir sehen dies und dies und dies in der Welt, in der Nähe, in der Ferne, was nicht aus der Welt gewirkt ist, sondern wo wir wissen: Das hat der Geist Jesu, er allein getan. Und wir wissen in der kleinen und doch so großen Welt, die unser Leben ist: Das und dashat der Geist Jesu getan: dieses Verzeihen, dieses Vergessen, dieses Starksein in Schwachheit, dieses Geduldigsein, dieses Wollen. Aber diese Wunder befriedigen uns nicht, denn wir sehen, was er nicht vermochte. Wir sehen die Welt bös und voll Kriegsgeschrei. Wir haben die Thronrede gehört, mit der unser Parlament eröffnet wurde; wir lasen die Berichte der ersten Verhandlungen und fragen uns: Ist das aus einem christlichen Volk hervorgegangen? So viel irdisches und geistiges Elend. Es geht rückwärts mit der Welt. Der Geist Christi vermag sie nicht aufzuhalten. Und in uns sind auch Stücke vonWelt, da er nichts vermag, einWollen, daser nicht gefangennehmen kann. Wie solche, die von einer rückwärtsflutenden Menge mitgerissen werden, in ihrem Weichen mitgefangen, ohnmächtig rufen wir ihm zu: «Bist du, der da kommen soll», der herrschen soll, der helfen kann? Komm, begeistere diese Welt, hilf ihr, befreie sie aus ihrem gemeinen Machtwahn, führe sie zum Siege, begeistere uns, hilf uns.Verhülle nicht deine Macht. Of-

fenbare dich. Und er schilt nicht die fragenden Fragen, die zu ihm kommen; dem unbefriedigten Menschen zürnt er nicht, sondern er freut sich der Sehnsucht, die in dem Unbefriedigtsein ringt, als eines Opfers, das ihm gebührt. Seine Antwort aber? Es ist dieselbe wie an denTäufer ... Und der Bescheid an die Boten ist ... keine Antwort: Was ihr seht und hört, bringt ihm wieder ... mehr kann ich auch nicht sagen. Was wir sehen und hören, mehr kann er uns nicht sagen. An den Wundern, die sein Geist wirkt, die uns nicht befriedigten, sollen wir uns genügen lassen ... Und jenen Großen und uns beschwört er: Werdet nicht irre an mir. «Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.» Es ist ein großer Augenblick, wenn ein Mächtiger in Ohnmacht dasteht. So ist es eine ergreifende Stunde, daJesus demTäufer, der will, daß er seine Herrlichkeit und Macht offenbare, sagt: Nein, es ist mir nicht verliehen. Laß dir genügen an dem, wasist, wasduhörst und siehst. Und glaub und hoffe doch, auch wenn du nichts Vollkommenes, sondern nur dasUnvollkommene siehst. Jener starb alsein Unbefriedigter. Und wir werden ebenso sterben. Es ist uns nicht verliehen, das Anbrechen seiner Herrschaft auf Erden zu erleben. Wir leben und sterben im Advent, in der Zeit, die sich nach demVollkommenen sehnt. Um uns Unvollkommenheit: Ringen und Kämpfen des Geistes Jesu mit der Welt. In uns Unvollkommenheit: Ringen und Kämpfen des Geistes Jesu mit unserer bösen Natur.

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Aber meint ihr nicht, daß es herrlicher ist, dem kämpfenden und ringenden Jesus anzugehören als demJesus, wie er wäre, wenn nach dem alten Glorientraum dieWelt ihm zu Füßen läge? Er kommt zu dir in der Adventszeit und sagt: Hilf mir! Ich brauch dich, ich, der Geist, der in der Welt kämpft und ringt. Mehre meine Wunder. Steh mitten drin in dem Kämpfen und Ringen. Und wenn du mit mir kämpfst und ringst, wirst du dich nicht an mir ärgern, wie die, die draußen stehn und spotten, daß ich so ohnmächtig bin ob ihres bösen, gleichgültigen Sinnes, und nicht Herr über dieWelt geworden bin, wie sie einst meiner spotteten, daß ich nicht vom Kreuz herniedersteigen konnte. Du bleibst ein unbefriedigter, sehnender Mensch – aber selig wirst du durch ihn. Und deine Seligkeit? Daß du, ein in der Welt Gefangener, mit ihm und für ihn kämpfen und ringen darfst.

24. Dezember 1905, St. Nicolai|48¡ Heiliger Abend

[Nachmittagspredigt]|47¡ Sonntag,

Joh. 1,12: Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zuwerden Heiliger Abend. Wer könnte denn lebendiger und herrlicher predigen als die Dämmerung, die sich jetzt über die Erde zu breiten beginnt, und in derJesus jedes Haus, jedes Stockwerk betritt? Wo er sonst verschlossene Türen findet, trifft er sie offen; wo sonst gleichgültige Herzen sich ihm verschließen, heißt es heute: Komm herein, du Freudengast. Alle fühlen es, daß es nicht nur ein Fest der Gaben und Geschenke ist, sondern daß etwas unaussprechlich Heiliges und Reines sich in die menschliche Freude hineinmischt. Daß er doch heute als ein wahrer Freudenmeister komme und Häuser und Herzen erobere, daß sie ihn aufnehmen, damit sich die Verheißung an ihnen erfülle: «Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden.» Ich möchte jetzt nicht daran denken, daß er nur in die gute Stube aufgenommen wird, und daß, wenn nach Neujahr die Nadeln desTannenbaumes abzufallen beginnen, und man ihn abräumt, hinausstellt, und das Feuer in der guten Stube ausgehen läßt, auch der Herr Jesus gehen 47 [Nach dem Kirchenboten handelt essich um eine Nachmittagspredigt.] 48 [AS-HB, S. 123] «Meinen Plan habe ich geändert. Ich habe nicht mehr dasRecht, meinen Heiligen Abend für mich allein zu verbringen, denn dieWeihnachtsfeste mit den Meinen sind gezählt. Nach meiner Predigt am Sonntag nachmittag fahre ich nach Colmar, um mit meiner Schwester und den Kindern zusammen zu sein. Komm in die Kirche, ich bitte Dich, daswird unser Weihnachten sein.»

Gemeinschaft

mitJesus

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muß, weil er nur ein Fremdling in jenem Hause war. Er geht, fröstelnd und traurig, während die Möbel wieder ihre Überzüge bekommen. Aber ich denke, wohin er heute überall kommt. Ich sehe ihn zu den verbitterten Menschen kommen – und ich frage mich: Kann er ihnen etwas bringen? Ich sehe ihn kommen zu denen, die mit des Lebens Not ringen, und frage mich: Kann er ihnen denn etwas geben? Ich sah dieser Tage einen starken Menschen, den ich noch vor kurzem in voller Rüstigkeit an der Arbeit getroffen, mit gelähmter Seite, kaum wieder die Sprache erlangt habend, am Fenster schwer im Sessel sitzend ... und da ich ihn aufzumuntern suchte, fragte ich mich: Kann Jesus, wenn er kommt, diesem etwas bringen? Kann er denn in die Zellen der Gefängnisse und Zuchthäuser eintreten undjenen, die doppelt gefangen sind, in derWelt und von derWelt, die Befreiung bringen, Freude und Frieden geben, Groll und Haß und Bitterkeit wegnehmen? Wenn er nur die Menschen hätte, die ihn führen, ihm denWeg zeigten, in seinem Namen kämen: Er brauchte so viele heute abend und morgen, und er hat nicht so viele er braucht. Und damit sie ihn sehen und erfassen, muß er lebendig, in einem Menschen Mensch geworden, zu ihnen kommen. Ich hätte eine Bitte: Denkt nach, wo ihr heute und morgen den lebendigen Herrn Jesus hinführen könnt, wem ihr ihn bringen müßt. Und wenn ihr’s wißt: Hierhin, dorthin, geht als stille, einfache Menschen, in seinem Namen, unbefangen. Wir sagen: Weihnachten ist ein Familienfest – und mit Recht. Aber ich frage mich, ob es für uns nicht zu sehr nur Familienfest ist, und ob dieses beschauliche Glück uns nicht hindert oder davon ablenkt, das Weihnachtsfest auch als dashöhere Familienfest zu feiern mit den Nächsten im Sinne Jesu, mit den Brüdern und Schwestern, die er uns gegeben hat, mit denen, die seiner bedürfen, und denen wir als seine Brüder und Schwestern angehören. Ich kann keinem von euch sagen, was er tun soll, keinem ein Gebot geben. Ich kann euch nur bitten: Unterdrückt die Gedanken nicht, die in euch aufsteigen, und mit denen er euch sagt: Geh hierhin, geh dorthin, tu dies, tu das... aber gehorcht und geht. Die Himmel tun sich nicht mehr auf, und die Engel singen nicht mehr ihr «Friede auf Erden» [Lk. 2,14]. Aber er ist mehr da: «Den Armen wird das Evangelium gepredigt» [Mt. 11,5] – den äußerlich und innerlich Armen ... wenn wir tun, wozu er uns braucht. Dann hätte ich noch eine Bitte: Vergeßt nicht, mit ihm allein zu sein und mit ihm Bescherung zu feiern, jene wahre, geistige Bescherung, wo du etwas von ihm bekommst und ihm etwas gibst, jene geistige Bescherung, von der die irdische nur ein Sinnbild ist. Die halbe Stunde, ehe du die Augen schließt, wenn du allein bist, daß dies die Bescherungsstunde mit ihm sei. Laß dir sie durch nichts nehmen, denn du brauchst sie, wenn deine Freude vollkommen sein soll.

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Predigten

desJahres 1905

Falte die Hände, und alles andere versinke und verschwinde, und frag dich, was du von ihm bekommen hast. Erlaube deinen Gedanken, nur eines zu denken: Was du ohne ihn wärest, was du durch ihn geworden bist? Manchmal bekommt man plötzlich so eine Art Angst, daß wir es nur seit 20 Jahrhunderten einander nachreden, daß wir ohne ihn in derWelt gefangen säßen, nicht daswären, was wir sind, daß wir uns nur einbilden, Jesus sei etwas für uns. Ist das wahr? Oder kannst du dir mit klaren Worten sagen: Das und das bin ich durch ihn geworden, ohne ihn wär ich es nicht. Das und das hab ich mit ihm durchgekämpft ... ohne ihn nicht; dasund dashat er mir gegeben? Ich weiß nicht, was du finden wirst, wenn du nur wahrhaftig sein willst, nur sagen, wovon du weißt, daß er es in dir gewirkt hat.Viel oder wenig? Fürchte dich nicht, und wenn es nur ganz wenig sein sollte, wenn es nur wahr und erlebt ist. Er ist ja der Herr, der das Gleichnis vom Senfkorn [Mt. 13,31 f.] undvom Sauerteig [Mt. 13,33] geredet hat. Das ist die einzig wahre und lebende Theologie, der einzig wahre, lebendige Glaube: Dieses wahrhaftige Ringen mit dir, ob er wirklich etwas für dich ist, das in dein Leben hineinragt, das das einzige Große, Wahre, Unersetzliche für dich ist. Ich will sagen, das einzige, was dich von dir selber, von den Menschen, von der Welt frei macht, stark, freudig, friedvoll, dasdich über Gegenwart und Zukunft hinaushebt.

Kannst du sprechen: «Waswär ich ohne dich gewesen, waswürd ich ohne dich, Herr, sein? Zu Furcht und Ängsten auserlesen, stünd ich in weiter Welt allein. Nichts wüßt ich sicher, wasich liebte, die Zukunft wär ein dunkler Schlund; undwenn mein Herz sich tief betrübte, wem tät ich meine Sorgen kund?»|49¡ «Ich lag in schweren Banden, du kommst und machst mich los; ich stund in Spott und Schanden, du kommst und machst mich groß und hebst mich hoch zu Ehren und schenkst mir großes Gut, dassich nicht läßt verzehren, wie irdisch Reichtum tut.»|50¡ Sag dir das mit deinen eigenen, unbeholfenen Worten. Und dann dank ihm mit keines andern Worten, sondern mit den deinen. Dank ihm für das, was er dir gegeben, für das, was er dir abgerungen, für alles, was dir 49 [Friedrich von Hardenberg (Novalis): Waswär ich ohne dich gewesen, Str. 1.] 50 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 4.]

Gemeinschaft

mitJesus

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um seinetwillen schwer geworden ist. Und wenn du weißt, daß er dir Menschen geschenkt, Brüder und Schwestern von ihm aus, wo der Gedanke, als einfache, stille Menschen ihm dienen zu dürfen, dasunausgesprochene Heilige ist, was euch untereinander verbindet, daß ihr voneinander Freudigkeit und Trost empfangt ... dankt es ihm doppelt, dankt ihm dafür als für dasKöstlichste, was ihr im Leben habt. Und dann bittet ihn, daß er bei euch bleibe, und erschreckt nicht, wenn er nun verlangt, das sanfte Jesuskind und doch dein Herr und Meister, seine Weihnachtsgabe verlangt: Gedanken, die du nicht zu Ende zu denken wagtest: Verzicht, wo du nicht bis zu Ende zu verzichten wagtest, Tätigkeit und Selbstverleugnung, Groll, Haß, Nachtragen, Lieblosigkeit ... alles, wasdu für dich behieltest ... Ich zähl es auf in abstrakten Worten; du weißt aber genau, was es für dich ist, und kannst’s beim Namen nennen ... gib es ihm, es ist Weihnacht, gib es ihm, wie man viele Dinge, große und kleine, nur geben kann, nicht traurig, sondern lächelnd, nicht in einem überlegten, sondern in einem unüberlegten, raschen Entschluß. Dies dein Weihnachten, dein Weihnachten für dich feiere. Und mit dem, was du empfangen von ihm, und mit dem, was du ihm gegeben, mache dich auf und wandere die letzten Tage, die letzten, ernsten und für manche unter uns schweren Tage desJahres, und tritt als ein ernster und freudiger Mensch, wie die Kinder, noch im Zauber des Weihnachtsfestes ins neueJahr ein.|51¡

51 [AS-HB, S. 124] «Heiliger Abend 1905, Mitternacht. Ich komme aus Colmar zurück, wo ich den Abend mit meiner Schwester und den Kindern verbracht habe. Im Zug hatte ich eine Stunde der Besinnung für mich, und ich fühlte mich reich. Schau, es ist wahr, ohne ihn hätte ich nicht gewußt, was ich aus meinem Leben machen soll.... Ich habe ihm für alles gedankt..... Und ich habe ihm gedankt für die Seelen, die mit mir vereint sind, durch ihn, und mit denen diese geheimnisvolle Verbindung besteht, daß wir wissen, wer wir sind und was wir wollen: ihm dienen. Ich war dankbar, Sie zu haben! Schon als ich diesen Satz in der Kirche sagte, dachte ich anjene Stunde am Rhein, als ich Ihnen alles sagte und als er mitten unter uns war und uns tiefer vereinte, als irgend etwas sonst uns hätte vereinen können.»

IX. Predigten desJahres 1906

Morgenpredigt Sonntag, 4. Februar 1906, St. Nicolai

Mt. 13,24–30: Unkraut unter Weizen|1¡ Das ist etwas, waswirjeden Tag konstatieren, daß mit jedem Guten zugleich etwas anderes, etwas Böses emporwächst, undzwarbraucht’s nicht, daß der böse Feind das Böse besonders sät, sondern es geht von selbst auf, weil eben alles Gute, das wir sehen, auf dem natürlichen Acker der Welt, auf dem natürlichen Acker desMenschenherzens gewachsen ist. Wir sehen esja so oft, wie neben dem Besten sich das Unkraut emporrankt. Mit der starken Frömmigkeit, durch welche die alte katholische Kirche die alte Welt überwunden und die mittelalterliche zivilisiert hat, ist in ihr ein Geist der Herrschsucht aufgewachsen, die sie fast untüchtig macht, im Sinne des Evangeliums Christi zu wirken. Neben der ernsten, innerlichen Frömmigkeit der Pietisten, ich brauche das Wort im besten Sinne, den man ihm geben kann, wächst ein gewisser geistiger Hochmut und ein Geist der Selbstgerechtigkeit auf, die oft alles Schöne und Lebendige jener Frömmigkeit ertöten. Nun würden wir meinen, daß Jesus, der keine unklaren Situationen liebt, hier mit seinem Entweder-Oder dazwischenfahren tät, um das Gute vom Bösen zu befreien. Und wie auch sonst gar oft, erleben wir mit ihm eine Überraschung. Der strenge Herr begegnet uns hier in der Gesellschaft derer, die fünf gerade sein lassen. Freilich, er tut’s in einem ganz anderen Sinn als die Leute, mit denen er zusammen zu gehen scheint.

1 [Er legte ihnen ein anderes Gleichnis vor und sprach: DasHimmelreich ist gleich einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Da aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen denWeizen und ging davon. Da nun das Kraut wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch das Unkraut. Da traten die Knechte zu dem Hausvater und sprachen: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn dasUnkraut? Er sprach zu ihnen: Das hat der Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du denn, daß wir hingehen und es ausjäten? Er sprach: Nein! Auf daß ihr nicht zugleich denWeizen mit ausraufet, so ihr dasUnkraut ausjätet. Lasset beides miteinander wachsen bis zu der Ernte; und um der Ernte Zeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuvor dasUnkraut und bindet es in Bündlein, daß man es verbrenne; aber denWeizen sammelt mir in meine Scheuer.]

Unkraut unter Weizen

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Denn wenn ein Menschenkind der Weitherzigkeit das Wort redet, so tut es dies, damit man bei ihm fünf gerade sein läßt und es gegen sich selber nachsichtig sein kann. Aber dies ist nicht die Meinung des Herrn. Denn sein Wort lautet: gegen dich selber bis zum äußersten streng, und ja nicht gewartet. Wenn auf dem Boden deines Herzens ein Hälmlein sprießt, weißt du gleich, ob es ein gutes oder ein böses ist, und wenn es das letztere ist, gleich heraus damit und das Böse vernichtet, wenn es auch nur im Gedanken lebt. Ich möchte fast sagen: Im Sinne Jesu ist die Strenge gegen sich selbst die Voraussetzung des moralischen Rechts zur Nachsicht gegen andere. Dadurch wird’s erst die rechte Nachsicht. Ihr seht, «wenn zwei dasselbe tun, ist’s doch nicht dasselbe», und die Art Jesu, fünf gerade sein zu lassen, ist etwas ganz anderes als die gewöhnliche, menschliche. Sie ist nicht selbstverständlich, sondern man muß sich erst dazu innerlich erziehen und durchringen. Selbstverständlich ist es gar nicht! Das soll selbstverständlich sein, daß man das Unkraut vor dem Weizen nicht genugsam kennen soll, um es herauszureißen, ehe die Erntezeit da ist? Man kann’s schon in den ersten Wochen unterscheiden, und gar wenn’s blüht! Mich nimmt wunder, daß die Knechte dem Herrn nicht antworteten: Aber Herr, für so dumm mußt du uns doch nicht nehmen. Natürlich können wir’s unterscheiden! Und daß sie ihm noch gar gesagt haben: Undjetzt willst du, daß das Unkraut blüht und reift und seinen Samen in die Erde fallen lasse, damit nächstes Jahr nur Unkraut auf dem Acker wächst! Wenn sie schwiegen, ist’s nicht, weil sie darauf nichts Vernünftiges zu erwidern hatten, sondern weil sie Respekt hatten und gehorchten und bei sich dachten: Er ist der Herr, er muß es doch besser wissen. So könnten auch wir dem Herrn hundert Fälle aufzählen, wo wir bei einem Menschen, für den wir eine Verantwortung haben, oder auf den wir ein Recht haben, genau zwischen dem Bösen und Guten scheiden könnten und uns anheischig machten, dasBöse herauszureißen und ihn zur Besinnung zu bringen. Und er gebietet uns:Wartet, tut’s nicht. Damit verlangt er etwas Schweres, und zwarje näher uns der Mensch angeht. Ich denke jetzt an die Eltern, welche sehen, wie ihre Kinder langsam selbständig werden. Sie sehen sie ihren eigenen Weg nach und nach einschlagen, sie sehen die tausend Gefahren, denen sie entgegengehen und die jene nicht erkennen, und merken das Unkraut, wo jene es nicht merken ... und sie müssen untätig zusehen. Achtet wohl, Jesus meint nicht, daß wir sie nicht aufmerksam machen, nicht warnen dürfen. Wir wissen alle, was ein rechtes Wort in der rechten Art am rechten Platz wirken kann. Und manchmal auch können wir eingreifen und sie fast mit Gewalt in eine andere Bahn zwingen. Aber dassind Ausnahmen. Im allgemeinen ist’s so, daß wir nichts helfen können und wohl fühlen, daß wir sie ihren Weg gehen lassen müssen,

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Predigten

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da die Hand, die das Gefährliche, was emporwächst, ausreißen möchte, auch viel Gutes knicken würde. Nun heißt es warten und zusehen. Wir müssen es einfach. Warten ... aber in welchem Geist? Als natürliche Menschenkinder sind wir geneigt, als die Verzagten und Mißtrauischen zu warten, denen dann zuletzt doch immer wieder die Geduld reißt! Aber was geht von einem solchen Menschen aus? Ein Frost, der sich auf alles legt und nichts wachsen läßt. Wißt ihr nicht von euch selbst, wie kraftlos ein Mensch ist, der unter Augen lebt und arbeitet, die sich mit Ängstlichkeit und Mißtrauen bis in sein innerstes Herz hineinbohren, die bei allem das Schlechte und Gefährliche herausfinden und uns unsere Freude und Unbefangenheit nehmen, ob es nun die Augen der Eltern, Bekannten oder Vorgesetzten sind. Wie viel Gutes ist damit in uns schon zertreten worden, entweiht und zerstört, daß es nicht mehr herauskonnte, sondern verkümmerte. Wer von uns kennt nicht schon aus seiner Kindheit derartige Erinnerungen? Und frag dich doch, was du schon in andern Gutes zerstört hast, daß es nicht reifen konnte, abgeknickt und abgebrochen, wie man eine Frucht zur Unzeit vom Baum nimmt. Darum sagt der Herr Jesus: anders warten ... als gläubige und hoffende Menschen. Warten und reifen lassen! Diese Nachsicht Jesu fließt aus dem Glauben. Zuerst aus dem Glauben an Gott, eine geistige Macht, die die Menschen hält und nicht untergehen läßt. Aber noch aus einem andern, der fast noch schwerer ist: aus dem Glauben an die Menschen, an die gute Kraft in den kämpfenden Menschen. Jesus hatte ihn. Er sah tiefer in die Sündhaftigkeit der Menschen hinein als einer von uns, und doch redet er davon nicht viel zu ihnen, sondern es ist, als weckte er geheimnisvoll die Kraft zum Guten in ihnen, indem er, der Heilige und Reine, so vertrauend zu ihnen redet als ein Mensch, der glaubt, daß sie in sich die Kraft finden werden, dasBöse zu überwinden. Und wer Jesus predigt, der muß auch dieses Hoffende und Vertrauende, diesen seinen Glauben an die Menschen predigen, denn es ist eine Kraft zum Guten, die davon ausgeht. Auf was vertraut der Herr im Gleichnis? Auf die Sonne! Die soll die Ernte zum Reifen und das Unkraut zum Verdorren bringen. Und im Menschenherzen soll’s die Sonne Gottes tun. Aber die Sonne Gottes muß ihm aus vertrauensvollen Menschenaugen ins Herz hineinscheinen. Menschen, die an die Menschen glauben, sind eine Kraft für sie. Sie brauchen kein Wort zu reden; sie strahlt aus ihnen heraus und ist die größte Hilfe, die einem Menschen von Menschen zuteil werden kann.

Unkraut unter Weizen

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Steht’s euch vor der Seele, was die Menschen, die an uns glaubten, die Vertrauen in uns hatten, an uns vermocht haben? Ihr wißt, daß viel Böses an uns abwelkte, mit dem wir allein nicht fertig wurden, unter den Strahlen der Sonne, die uns von Menschen kam. An einem heißen Sommertag hatte es gegen Abend nur wenige Tropfen geregnet, kaum daß die Oberfläche der trockenen Erde benetzt war. Das hat nichts genützt, meinte ich zu einem Mann, der sein Feld betrachtete. Doch, sagte dieser, mehr, als Sie meinen. Denn dasbißchen Feuchtigkeit oben zieht alle Feuchtigkeit, die in der Erde ist, von unten herauf. So meine ich, daß ein vertrauender, hoffender Mensch alle Kraft, die in einem andern schlummert, aus der Tiefe emporzieht, daß sie ihn stärke zum Leben, daß sie ihn besser macht, ... und daß anders diese Kraft in ihm nicht geweckt werden kann. Es gibt so viele arme Menschen, die sich nicht mehr erheben können und keine Kraft in sich finden, weil sie niemand haben, der an sie glaubt, undviele scheinen gehalten und gestützt, weil sie viele Bekannte und Freunde haben, und sind es nicht, weil sie keinen haben, der seine Hoffnung undVertrauen in sie legt. Wer mit den Menschen und besonders, wer mit der Erziehung der Jugend zu tun hat, der weiß, es gibt Fälle, wo nichts, aber auch gar nichts einem Menschen mehr helfen kann, als daß wieder ein Mensch an ihn glaubt, seinVertrauen blindlings an ihn verliert. Das kann man nicht anders als im Namen Jesu. Das ist für mich die Predigt der Sündenvergebung, die befreit und darum so herrlich ist, weil’s fast keiner Worte bedarf. Und nicht mutlos werden, wenn das Vertrauen einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal getäuscht wird, und nicht denVersuch aufgeben, wenn man nach menschlichem Urteil ein Recht hätte, ihn aufzugeben, sondern weiter hoffen und harren und glauben und wieder glauben! Ob du zuletzt ein Tor bist vor den Menschen und vor deiner Vernunft, gleichviel. Denn dein Glaube, und du weißt es von dir selbst, wo es dir geradeso erging, ist für jenen Menschen das unsichtbare Geländer, das ihn am Rande des Abgrunds umgibt. Habt ihr nicht in den gefährlichsten Stunden eures Lebens die Augen der Menschen, die an euch glaubten, und wenn sie Hunderte von Kilometern weit weg waren, auf euch ruhen gefühlt und wurdet selber ruhig und sicher dadurch! Und schaut nicht auf die Ernte und wartet nicht auf die Zeit der Ernte, denn es ist vielleicht keine sichtbare und eine Zeit, die euch nicht gesetzt ist, zu erleben! Bestimmt doch der Herr, was reift und wann es

reift. Aber eines wisse: Wie kein Sonnenstrahl verloren ist, so ist auch kein göttlicher Sonnenstrahl, der von dir ausgeht, kein Jesusglaube, den du an die Menschen verlierst, verloren. Und die herrlichste Frucht, die er bringt, ist die Reue; jene göttliche Reue, die niemand gereut, die

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Predigten

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nicht durch Menschenrede gewirkt wird, nicht durch Menschenrechten und Schelten, sondern wie das Leben draußen durch Güte und Sonne und durch warmen Regen. So predige ich euch im Namen Jesu: Werdet recht unvernünftig, vertrauensselig, Menschen, die fast blindlings auf sein Gebot an Menschen glauben und hoffen, daß ihr eine Kraft und Hilfe für sie seid. Und ihr wißt an dem, was ihr an euch selbst erlebt habt, daß es zuletzt das allein Richtige ist. Nur daß wir den Mut nicht haben, diesen Glauben zu üben. Zuletzt ist unser schönes Gleichnis nur die andere Seite desHauptgebotesJesu: «Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst» [Mt. 22,39], ausgelegt durch dasWort des St. Paulus im ersten Brief an die Korinther: «Die Liebe glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe höret nimmer auf» [I Kor. 13,7 f.]. Ein weißer Sonnenstrahl, der aus weiter Himmelsferne kommt, wird durch ein Stückchen geschliffenes Glas in alle seine Farben zerlegt. Mit den göttlichen Worten Jesu ist es geradeso. Und ich meine, ich sehe jenes Grundgebot «Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst» in einer Farbe, wo es fast lautet: Du sollst an deinen Nächsten glauben als an dich selbst.|2¡

Nachmittagspredigt Sonntag, 11. Februar 1906, St. Nicolai

I Kor. 4,2: Nun sucht man nicht mehr an den Haushaltern [,denn daß sie treu erfunden werden] Stellt euch vor, daßJesus eines Tages zu seinen Jüngern gesagt hätte: Jetzt will ich euch meine ganze Lehre mitteilen, schreibt alles auf. Und sie hätten’s aufgeschrieben, Wort fürWort, alle Worte Jesu, daß keins davon verlorengegangen wäre, und das wäre das Neue Testament geworden, so würde euch und mir auch in diesem vollkommensten Neuen Testament etwas fehlen, wenn die Briefe desApostels Paulus nicht drinständen, das heißt, wenn nicht auch ein Mensch, Mensch wie wir, kämpfend wie wir, mit seinen Schwächen und Sünden wie wir, gute und böse Erfahrungen machend wie wir, aber zuletzt immer aufrecht erhalten durch den Geist Christi, uns darin redete von dem, was ihm das Evangelium 2 [Am 5. Februar schrieb Albert Schweitzer an Helene Bresslau:] «Mon dimanche aussi était beau, la première fois depuis longtemps je prêchais un peu reposé und über etwas so Schönes, über den Glauben an die Menschen, der eine Kraft zum Guten wird in den andern. Est-ce que quelqu’un veut le sermon?» [Der Brief ist im Zentralarchiv Günsbach.]

Nun sucht man nicht mehr

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in den guten und bösen Stunden des Lebens, im Kampf mit sich selbst, in dem, wasihm von den andern begegnet, gewesen ist. Mir wird er jedes Jahr lieber. Ich seh ihn, den armen Teppichweber, nachts, müde von desTages Arbeit, beim flackernden Schein eines armseligen Lichts in seiner Dachkammer sitzen und mühsam den lieben Christenleuten einer fernen Stadt schreiben, bis es nicht mehr geht, und

am folgenden Tag wieder, nicht ahnend, daß er der kommenden Menschheit etwas gibt, daß nach Jahrhunderten undJahrhunderten wir in denWorten, mit denen er sich getröstet, noch Trost holen würden. Und zu den schönsten Trostworten gehört das, welches ich euch soeben verlesen habe, daß man von den Haushaltern nicht mehr verlangt, als daß sie treu erfunden werden. Ich glaube, es gibt keinen Menschen, vom Niedrigsten zum Höchsten, vom Ärmsten zum Reichsten, vom Befriedigtsten zum Unbefriedigtsten, für den dieses Wort nicht etwas bedeutet. Und auch für einen jeden unter euch hat es nicht nur eine, sondern drei, vier, fünf Bedeutungen. Wenn ich in der Konfirmandenstunde die Kinder vor mir sitzen sehe und bei mir denke, was wohl aus ihnen werden wird, muß ich mich gar oft fragen, ob jedes einmal an seinen richtigen Platz kommen wird, wo es seine Gaben und Kräfte recht ausnützen wird können und alles ausgeben, wasin ihm ist. Und wenn ich mich unter den Menschen umsehe, sehe ich gar viele, die nicht an den richtigen Platz gekommen sind. Den einen hat das Leben eine Aufgabe zugewiesen, die zu groß und schwer für sie ist, und eine Stelle, die sie mit dem besten Willen nicht ganz ausfüllen können, andern eine Aufgabe, die zu klein für sie ist. Ich kenne einen Schneider, den ich nicht auf seiner Bank sitzen sehe, ohne zu denken: Der Mann mit diesen klaren, tiefen Gedanken, mit diesen klugen, geistvollen Augen gehörte anderswohin als auf diesen Tisch mit Tuch beladen. Andere wären geschaffen, nach außen zu wirken, und das Leben hat es gewollt, daß sie ihre ganze Kraft in einem ganz kleinen Kreise häuslicher Beschäftigung verbrauchen müssen. Einen andern hat es in einen Kreis von Menschen hineingestellt, die ihn nicht verstehen, und wo dasBeste, das er in sich trägt, begraben bleiben muß. So sehen wir gar viele Menschen, die nicht an ihren Platz gekommen, und viele fühlen es von sich. Und dann sagt man nach Menschenart: ein verfehltes Leben; und gar viele laufen unter dieser Last herum, sind verzagt und untüchtig zum Guten, bringen nichts fertig und sehen nur immer, daß sie nicht am richtigen Platz stehen. Zu denen sagt St. Paulus in dem schönen Sprüchlein: Es gibt kein verfehltes Leben! Sonst wäre das Leben von neunzig auf hundert Menschen verfehlt. Nein, kein verfehltes Leben: Denn daseinzige, worauf es ankommt, ist, ob wir am Platz, wo wir stehen, getreu sind, getreu in

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Predigten

desJahres 1906

dem, was wir tun müssen. Davon allein, von nichts anderm, hängt alles ab: dein Glück, dein Friede, deine Kraft, das, was du um dich wirken kannst. Man sollte mit Menschen- und mit Engelszungen auf allen Straßen und an allen Enden über dieses Wort predigen können, denn es sind so viele Menschen, die dieses Trostes bedürften, um über ihr Leben hinwegzukommen und des Morgens fröhlich zurArbeit zu erwachen. Ich meine manchmal, Gott selber fügt es, daß so viele Menschen nicht an ihren richtigen Platz kommen, damit sie ihm die Treue beweisen können und sich seine Kraft und Herrlichkeit sichtbar an ihnen erweise, aus ihnen hervorlodere, weil jedermann, der ihnen naht, fühlt, daß sie so wirken und leben, so ihre Pflicht tun können, nur weil sie täglich im Kleinen und Großen von dem Gedanken gehoben und getragen werden, getreu zu sein, Gott getreu zu sein. Und man fühlt, ohne daß sie auch nur ein Wort von sich sagen, wie Friede und Heiterkeit von ihnen ausstrahlen. Man fühlt, daß eine größere Kraft in diese schwachen Menschenleben hineinragt, und steht andächtig still, und der glücklichste Mensch beneidet sie, weil er solche gefunden, die glücklicher sind als er und deren Glück nicht zerstört werden kann. So macht uns St. Paulus mit seinem Wort frei vom Leben, dasuns zugefallen, von allen Schickungen, von allen Verhältnissen, von der Umgebung, von Glück und Erfolg. Und nicht nur frei vom Leben, sondern auch frei von den Menschen. Die Menschen, auch wenn sie es gut meinen, urteilen nach dem Erfolg, und ob sie es wollen oder nicht, sind sie ungerecht. Und um nicht ungerecht zu sein, sind sie manchmal mitleidig und drücken dadurch noch mehr auf die andern als durch ihre Ungerechtigkeit. Und wieder kommt St. Paulus und sagt: Was du ausrichtest, gleichviel; ob dir nichts gelingt, gleichviel; was die Menschen sagen, gleichviel. Wenn du nur in deinem Tun treu sein wolltest. Dann liegt in deinem [Leben] ein Wert verborgen, aber er kommt einmal heraus. Es war nicht umsonst, nicht umsonst vor Gott und nicht umsonst für die Menschen. Von Menschen frei, aber gebunden: vor dir, vor Gott. Mehr als Pflicht.|3¡

3 [Das Manuskript endet mit den folgenden stichwortartigen Sätzen:] Äußerlich nachrechnen. Getreu, das schön klingende Wort: viel, viel mehr. Einem Menschen getreu! Dem inwendigen Menschen getreu ... Gott getreu ... dem Herrn Jesus getreu ... Ohne den inwendigen Menschen nicht Gott getreu ... Nicht vernünftig! Aber nicht sagen können ... und doch wissen. Die letzten Dinge alle wissen von innen heraus.

Wenn wir aber Nahrung undKleidung

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Morgenpredigt Sonntag, 18. Februar 1906, St. Nicolai

I Tim. 6,6–8: Wenn wir aber Nahrung und Kleidung|4¡ Ist das nun einfache Lebensweisheit, «sich genügen lassen», oder eine höhere, religiöse Weisheit? Das kann man bei Jesus und den Aposteln nie genau sagen. Der Herr selbst redet gar oft von den Dingen der einfachen, wahren Lebensweisheit und liest den Menschen die Gedanken ab, über die sieTag fürTag nachdenken müssen, so daß sie zuerst meinen konnten, er redete nur, wie ein kluger, erfahrener Mensch redet, und erst nachher merkten, daß darin mehr als nur Klugheit und Erfahrung war, und daß eine andere, tiefere Weisheit gesprochen. Und von Weisheit des Lebens in seinem Sinne und Geiste, die zugleich edle Menschenweisheit und höhere Weisheit ist, wollen wir jetzt zusammen reden in einer Frage, die uns allen nahegeht: in der Frage des Geldes. Aber wir wollen nicht davon reden, wie man gewöhnlich davon redet, und wie es angenehm ist, viel von den andern und wenig von uns, sondern wenig von den andern und viel von uns. Die Welt ist eine andere geworden seit Jesus. Es hat sich vieles verändert, und man fragt sich oft: Wie würde Jesus unter den heutigen Verhältnissen dieses und dieses Wort sagen und fassen? Würde er auch heute noch so schroff sich wider die Besitzenden äußern? Gegen viele gewiß. Er würde sie schelten wie damals, daß sie keinen Sinn für die Not um sich haben und daß ihr Herz am Reichtum zugrunde gegangen und daß der Reichtum eine große Gefahr und es schwer ist, reich zu sein. Das würde er heute auch noch sagen. Aber ich meine, er würde auch Reiche finden, an denen er Freude hätte, mehr Reiche, an denen er Freude hätte als zu seiner Zeit, Reiche, die es zu seiner Zeit nicht gab, die durch Arbeit und Fleiß reich geworden, an deren Besitz kein Unrecht klebt, und die verstehen, reich zu sein, und ihr Gut nicht als einen Raub ansehen, über den sie wachen, sondern als etwas, das sie in Stand setzt, Gutes zu tun. Ich glaube auch, er würde heute Arme finden, über die er schelten würde, jene Menschen, die zu nichts kommen, weil sie zu nichts taugen, die zum Arbeiten zu träge sind, denen man auf alle mögliche Weise zu einer richtigen Arbeitsexistenz verhelfen möchte, umsonst ... und man fängt’s wieder an, nochmals umsonst ... Zeit, Mühe, Geld, die Gänge, die man gemacht hat, umsonst ... Ja, es hat sich etwas geändert in der Welt, daß Reich und Arm nicht 4 [Es ist aber ein großer Gewinn, wer gottselig ist und lässet sich genügen. Denn wir haben nichts in dieWelt gebracht; darum offenbar ist, wir werden auch nichts hinausbringen.Wenn wir aber Nahrung und Kleider haben, so lasset uns genügen.]

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Predigten

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mehr an sich sich so schroff gegenüberstehen, weil wir einWort, dasGerechtigkeit zwischen beiden schafft und zwischen beiden fordert, hinzu denken: das Wort Arbeit, und anstelle des Wortes Almosen das Wort Gerechtigkeit setzen, nicht als ob wir von dieser Gerechtigkeit, die jedem Arbeitenden Nahrung, Kleidung undWohnung zusichert, alles erwarten. Ach nein. Wirkliche Gerechtigkeit und Hilfe schafft nur die Liebe. Und doch verlangen wir im Geiste Jesu jene Gerechtigkeit, weil sie dasFundament ist, auf welchem der christliche Bau der Liebe sich in unserer Zeit erst erheben kann. Und noch etwas ist anders geworden: Der Besitz ist unbeständig geworden. WennJesus wiederkäme, würde er nicht nur Armen, die nichts für den kommenden Tag ihr eigen nennen, sondern auch vielen von denen, die zu den Begüterten und Besitzenden gehören, und die beneidet werden, predigen müssen: Sorget nicht! Es ist Abend. Die Fabrik ist geschlossen. Die Räder stehen still. Auch in den Büros ist’s dunkel. Nur über einem Pult ist Licht. Dran sitzt der Herr. Er rechnet und rechnet, immer wieder von neuem. Die Baumwolle ist gesunken. Wochenlang haben sich die tausend und tausend Spindeln umsonst gedreht, eine Ware geliefert, die nicht Gewinn, sondern Verlust ist. Ob’s noch gehen wird, das Haus, das die Väter aufgerichtet haben, aufrechtzuerhalten? Sie steht unter der Tür, die vornehme Frau Soundso und empfängt ihre Gäste. Eine glückliche Frau. Der Mann hat eine hohe Stellung. Einige Monate nachher steht der Möbelwagen vor derTür. Es war inzwischen ein prunkvolles Begräbnis vonjenem Hause ausgegangen ... Nun heißt’ s, klein werden und mit der Pension sich und die Kinder, so gut es geht, durchzuschlagen ... und nach außen noch einen Rest von Schein wahren ... Du liest in der Zeitung Zahlungseinstellung ... viele Häuser in Mitleidenschaft gezogen. Nun such dir in Gedanken die Wohnungen zusammen, die zu jenen zwei Zeilen in der Zeitung gehören, und schau die Menschen mit den verweinten Augen, und die Kinder, die in der Pracht, die ihnen schon nicht mehr gehört, herumsitzen, und die nun doppelt wehrlos als solche, die nicht dazu erzogen und ausgerüstet sind, den Kampf ums Dasein führen müssen. Schau jene andern, von denen man sagt: Sie haben’s; und die sich sorgen, wie lange sie noch zuzusetzen haben, und ob’s reichen wird, bis die Kinder etwas sind und auf eigenen Füßen stehen. Und jene andern, die man beneidet, weil sie etwas zurückgelegt haben und von den Renten leben. Und es kamen einige Verluste, und die Renten werden kleiner und kleiner. Ob es noch reichen wird bis zum Ende?|5¡

5 [Hier bricht dasManuskript ab.]

Seid allezeit fröhlich

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Nachmittagspredigt Sonntag, 25. Februar 1906, [St. Nicolai]|6¡

I Thess. 5,16: Seid allezeit fröhlich Ich kann die Fastnachtszeit nicht herannahen sehen, ohne Sehnsucht zu empfinden, über wahre Freude und wahre Fröhlichkeit zu predigen. Nicht daß ich etwas wider die richtige äußere Fröhlichkeit hätte. Alles zu seiner Zeit. Aber ich habe den Eindruck in diesen Tagen, als ob die ganze Welt um uns her durch eine krankhafte, ausgelassene Freudigkeit sich zu betäuben sucht und ihr so viel Würde, Glück und Ehrbarkeit opfert ... Wozu? Um nachher Unbefriedigtsein zu haben; Unfreude undTraurigkeit, je ausgelassener die Freude war. Und um von der weltlichen Freude, auch der guten und rechten, allgemein zu reden, so wißt ihr wie ich, daß sie vielleicht eine schöne Erinnerung, aber nie eine Befriedigung zurückläßt. Als Kinder hatten wir noch so lebhafte Empfindungen, die noch lange Zeit anhielten und uns noch in einer andern Welt gefangenhielten, wenn sie auch schon vergangen war. Jetzt aber sinken wir gar schnell in die nüchterne Wirklichkeit zurück und sind fröhlich in kurzen Augenblicken, und den Rest des Weges schleppen wir uns freudlos dahin. Und es heißt doch im Text: «Seid allezeit fröhlich!» Allezeit fröhlich! Wer ist allezeit fröhlich? Ich möchte heute nachmittag mit euch nicht auf die Höhe hinausfahren, sondern am Strand entlang und rein prak-

tisch reden! Nun sieh, daist ein böses Wort, dasfrißt den Menschen alle Fröhlichkeit vom Munde ab. Das Wort heißt: unverdient. Ich will’s lieber mit einem Menschen vergleichen. Ihr kennt solche Menschen. Wenn man eine halbe Stunde mit ihnen zusammen war, fühlt man sich mutlos. Mit einem Wort haben sie die gute Meinung, die wir von einem anderen hatten, gedämpft, mit einem andern den Glauben, den wir in einen andern hatten, erschüttert, dann uns Schwierigkeiten gezeigt, die wir nicht gesehen hatten, uns in etwas mutlos gemacht, worin wir Mut hatten, kurz, wenn man einWort ums andere wägt, haben sie nicht viel gesagt, aber die Welt sieht grau aus, und ihr ganzes Wesen hat uns niedergedrückt. DasWort «unverdient» ist ein solcher Begleiter, eine Person, die sich gar breit in unserem Leben macht und uns die Fröhlichkeit nimmt, die Fröhlichkeit vor Gott und den Menschen. Bei allem, was uns begegnet, raunt es uns zu: Das hast du sicher nicht verdient; ob’s nun Dinge sind, die von Gott oder von den Menschen 6 [Nach dem Kirchenboten hielt Schweitzer am Nachmittag Gottesdienst in St. Nicolai.]

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Predigten

desJahres 1906

kommen: Es ist gar nicht zu sagen, wie es uns die Fröhlichkeit nimmt. Und es stiftet uns immer auf, daß wir ausrechnen, was wir verdient hätten und was uns nicht geworden ist. Und wie diesen aufdringlichen, üblen Begleiter loswerden? Durch das andere Wort «unverdient», eins, das ganz klein und unscheinbar ist, aber ein lachendes, lustiges Wort und dann wieder so ernst freudig. Wer hat sich denn recht an den sonnigen Tagen gefreut, die wir unlängst hatten? Das kommt darauf an, was sich die Menschen dabei gedacht haben. Die einen, die dachten: Aha, der Wind hat sich gedreht, darum kommt jetzt die Sonne. Die andern: Es ist wahrlich nicht zu früh, daß man wieder ein Stück blauen Himmels sieht. Die andern: Wie lange wird’s dauern? Gefreut haben sie sich alle. Aber recht gefreut? Recht gefreut haben sich nur die paar Menschen, die nicht anders konnten, als sich des Sonnenscheins verwundern und sich fragen: Womit haben wir’s denn verdient, womit hab ich’s denn verdient, daß diese schöne Sonne scheint und der blaue Himmel lacht und der ferne kommende Frühling uns schon anweht? Und die suchten und suchten in allem, was sie seit Wochen getan und gedacht hatten, und nichts, rein gar nichts fanden, womit sie es verdient hätten. Und diese haben sich so gefreut, daß ihre Fröhlichkeit nicht schwand, als die Sonne schwand und Regen und Kälte wieder in ihr natürliches Recht traten, sondern sie freuten sich noch immer über die unverdiente Sonne, die ihnen half, des Frühlings warten. Das Leben wird so merkwürdig, wenn man diesem Wort «unverdient» nachgeht. Freilich, es drängt sich einem nicht auf, steht auch nicht am Wege, sondern man muß es suchen, ist auch gar ein unscheinbares Wort für alles, wases birgt. Such’s schon bei den Menschen. Wir Menschen sind ungerecht gegeneinander, weil wir böse sind und gar oft, ohne es zu wissen und zu wollen. Das, worum jeder von uns im Leben kämpfen muß, ist, daß wir über die Ungerechtigkeit der Menschen hinauskommen und dadurch nicht niedergedrückt werden. Nun sieh, tu doch die Augen auf und sieh, was du auch unverdientes Gutes von den Menschen empfangen hast, an Freundlichkeit, an Hilfe, an Teilnahme, an Verständnis, Dinge, die der natürliche Mensch als selbstverständlich annimmt und die es doch nicht sind, weil du sie nicht verdient hast. Und wenn’s noch so wenig ist, was du von Menschen empfangen, Gutes unverdient, es ist genug, um dich über das andere «unverdient» hinwegzuheben. Es soll in deinem Leben sein wie in Pharaos Traum: Die mageren Kühe fraßen die fetten Kühe. Das kleine und geringe, aber heitere «Unverdient» ist mehr als das viele, verdrossene «Unverdient», mit dem wir unsere Freudigkeit begraben.

Petri Verleugnung

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Und wie groß wird plötzlich das heitere, fröhliche «Unverdient», wenn du an das denkst, was du aus den Fügungen des Lebens von Gott empfängst. Wenn du sehende Augen hast, auf wieviel Dingen des Lebens steht dasWort «unverdient»? Wie oft im Leben Fügungen ... Gnade ... nicht ein gelerntes Wort, sondern herausgelesen aus den Ereignissen! Nun «allezeit fröhlich!» Nicht mehr rechtet mit dem Leben.

[Morgenpredigt]|7¡ Sonntag, 18. März 1906, [St. Nicolai]

Mt. 26,69– 75: Petri Verleugnung|8¡

Es hat einmal jemand den Gedanken hingeworfen, ob man nicht annehmen könne, daß das Leben des Herrn, so wie es in den Evangelien beschrieben ist, sich nicht so abgespielt habe, sondern von jemand erfunden worden sei. Ich glaube nicht, daß dem so ist. Und wenn auch alles erfunden wäre, die schönen Sprüche der Bergpredigt und die lieblichen Gleichnisse, die Leidensgeschichte kann nicht erfunden sein, denn alles darin ist so natürlich und wahr, wie eben auch die besten Erzähler und Dichter nicht erfinden können. Ich kann sie nicht lesen, ohne bei mir denken zu müssen, daß dies alles, Zug für Zug, sich auch heute noch so ereignet. Ihr seht manchmal den elektrischen Scheinwerfer über unserer Stadt spielen, wo dann im Dunkel der Nacht die fernsten Gebäude in scharfen Umrissen vor uns stehen. Die Leidensgeschichte Jesu ist ein solcher Scheinwerfer, in dessen Helligkeit die Menschheit für eine Weltsekunde eintritt und mit ihrem vielfachen Sündigen offenbar wird. Judas, die Hohenpriester und Schriftgelehrten, der verleugnende Petrus, die höhnenden Kriegsknechte, das grausame Volk: Sie sind dieWelt, wie sie war und ist. Und wir dürfen sie nicht richten, denn wir erkennen unsere Welt und uns selber in ihnen wieder. 7 [Nach den Angaben im Kirchenboten handelt es sich um die Morgenpredigt in St. Nicolai.]

8 [Petrus aber saß draußen im Hof; und es trat zu ihm eine Magd und sprach: Und du warst auch mit demJesus aus Galiläa. Er leugnete aber vor ihnen allen und sprach: Ich weiß nicht, was du sagst. Als er aber zur Tür hinausging, sah ihn eine andere und sprach zu denen, die dawaren: Dieser war auch mit demJesus von Nazareth. Und er leugnete abermals und schwur dazu: Ich kenne den Menschen nicht. Und über eine kleine Weile traten hinzu, die dastanden und sprachen zu Petrus: Wahrlich, du bist auch einer von denen; denn deine Sprache verrät dich. Da hob er an, sich zu verfluchen und zu schwören: Ich kenne den Menschen nicht. Und alsbald krähte der Hahn. Da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm sagte: Ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen, und ging hinaus und weinte bitterlich.]

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Predigten

desJahres 1906

Ich will annehmen, ein Mensch könnte von aller Menschheitssünde, die in der Leidensgeschichte offenbar wird, sagen: Das hätte ich nicht getan und das nicht. Wenn er aber an die Geschichte von der Verleugnung des Petrus kommt, wird er verstummen und den Hahn krähen hören.

Und wenn es der frömmste und christlichste Mensch ist, ein Mensch, derJesus liebt und sich vom Geiste Jesu erfaßt und gehoben fühlt: Er wird verstummen, denn die Verleugnung des Petrus ist die Geschichte vom christlichen Sündenfall. Ich werfe hier nicht die Frage auf, wievielmal wirJesus verleugnet haben. Unser Herr hat gesagt: «Wahrlich, ich sage euch, wasihr getan habt einem dieser geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr mir getan» [Mt. 25,40]. Er meint es im Guten bis zum Kleinsten, zum Becher Wassers. Es gilt aber auch im Bösen bis zum Kleinsten. In dem Menschen, den wir verleugnen, verleugnen wir ein Stück Jesus, denn unter allen seinenWorten drängt sich immer wieder daseine vor, dasich dasWort von der ewigen Erscheinung des Menschensohnes nennen möchte: Ich bin der Mensch, dem du etwas antust ... einWort, dasFreude und Schmerz in sich birgt undin demdieganze christliche Weltbetrachtung liegt. Wie merkwürdig auch! Petrus sagt nicht: Ich kenne diesen Jesus nicht, sondern «Ich kenne den Menschen nicht» und meint doch den Herrn, als hätte ein höherer Weissagungsgeist ihm dasWort Mensch in den Mund gelegt, damit wir bei Menschenverleugnung immer anJesus denken müssen. Jesus ist nur einer der Menschen, die wir verleugnen, weil es uns so selbstverständlich ist, Menschen zu verleugnen. Ich will annehmen, daßjeder von uns in seinem Leben Fälle namhaft machen könnte, wo er Menschen treu war und zu ihnen stand ohne Rücksicht auf den Schaden, den es ihm bringen konnte; ich will sogar annehmen, daß wir stolz sein dürfen um dieses mannhaften Eintretens willen und daß uns Menschen deswegen liebgewonnen haben und uns zu den Menschen zählen, auf die man sich verlassen kann. Darum wird die Geschichte vom Sündenfall desPetrus nur um so wahrer an uns. Nehmt an, er wäre mit dem Herrn gefangengenommen worden und stände jetzt mit ihm vor dem Hohenpriester, statt draußen im Hof mit den Mägden und Knechten am Feuer zu sitzen, und Bande und Folter und Tod harrten sein, wenn er nicht von Jesus ließe. Meint ihr, er hätte den Herrn verleugnet? Nein, er wäre treu geblieben, stolz und treu bis in denTod. Und derselbe Mensch, der einzige der Jünger, der den Mut hatte, nach Jesus zu sehen, verleugnet ihn um des Gespöttes einer Magd willen. Es war nicht die Angst. Es wäre ihm nichts geschehen. Niemand hätte daran gedacht, ihn zu verhaften. Hatte man ihn doch nicht verhaftet, als er mit Jesus war, ja nicht einmal, als er das Schwert zog. Er fiel, da er nicht wachsam war.

Petri Verleugnung

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Das alles ist geschrieben auf uns, daß wir wachsam werden. Was wir an Menschentreue haben, kann uns ein Stück weit führen und uns treu bewahren in den Fällen, wo Menschenmut dazukommt. Aber in einem Augenblick, plötzlich, wo wir es am wenigsten erwarten, versagt es, und wenn wir uns nachher fragen, warum wir einen Menschen verleugnet, müssen wir sagen: Es war um einer Kleinigkeit willen, um nicht vor den Menschen in geringfügige Unannehmlichkeit zu kommen oder unter ihren Spott zu fallen. Die Angst vor dem Spott wirkt mehr Feigheit und Verleugnung unter den Menschen als die Angst vor demTod. Wer von uns kann sagen, daß er nicht um einer Kleinigkeit willen Menschen verleugnet hat? Wer von uns die geheime Buchführung über sein Leben, die nur er führen kann, aufzuschlagen wagt, wo seine ganze, von niemand sonst erkannte und von niemand sonst nachzurechnende Sünde steht, der wird erschrecken, darin Begebenheiten von Menschen, die er fallenließ, aufgezeichnet zu finden, wo er sich fragt, ob sie wirklich wahr sind, ob sie sich so ereignet haben können, und nur zu gut weiß, daß sich dem also verhält. Und wenn er sich Menschen offenbarte, würden sie es ihm vielleicht mit Menschenvernunft ausreden und sagen, es sei eben nicht anders in der Welt auszukommen und er hätte zuletzt nur der Klugheit gefolgt und es hätte ja doch nichts genützt, wie esja auch nichts genützt hätte, ob Petrus vor den Knechten und Mägden im Hof fürJesus eingetreten wäre oder nicht. Und wohl uns, wenn wir weder auf die Menschen noch auf unsere eigene, gute, entschuldigende Menschenvernunft hören, sondern auf den Geist Jesu, der dort so übergewaltig über Petrus kommt und ihn in die Reue hineinwirft und auch uns sagt, daß, was vor den Menschen entschuldbar ist, vor ihm Sünde ist, Sünde, aus der große Sünde geboren wird. «Da hub er an, sich zu verfluchen und zu schwören.» Weil er den Menschen Jesus verleugnet, wird Petrus ein Meineidiger. Wenn man die Geschichte des Falles schreiben könnte, wo ein Mensch einen Menschen verleugnet, was müßte man alles unter den Folgen der einfachen Verleugnung, die die Menschen so gering anschlagen, schildern? Es gibt Menschen, und wackere Menschen, die meinen, daß eine gute, gesunde Menschenmoral aus den Menschen dasselbe machen könnte wie die Religion. Ich meine nicht, weil keine Menschenmoral ihnen so bis in die verborgensten Winkel ihres Handelns folgen kann und ihnen Sünde als Sünde aufdecken kann wie der Geist Jesu. Menschentreue und Menschenwahrhaftigkeit hört auf, wie der gebahnte Weg aufhört, wo es steil und steinig bergauf geht. Dann muß der Geist Jesu kommen und uns die Pfade weisen, wo wir uns zur höheren Menschentreue und Menschenwahrhaftigkeit hinaufarbeiten und durch den Menschensohn zur wahren und vollendeten Menschlichkeit gelangen.

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Diese wahre Menschenwahrhaftigkeit und Menschentreue, die der Geist Jesu mit sich führt, die nicht den Dingen, welche den Menschen sichtbar sind und von ihnen gerühmt werden, außen glänzend anhaftet, sondern aus den unscheinbarsten Dingen, für die andern nicht vernehmlich, schlicht und ernst zu uns redet, wirkt wie bei Petrus Schmerz und Reue, denn es wird Schuld und Sünde sichtbar, wo der natürliche Mensch keine sieht. Einen Menschen verleugnet: Darunter rechnet der natürliche Mensch die Fälle, wo er ausdrücklich mit Worten undWerken einen Menschen, der ein Recht auf ihn hatte, preisgab, als das Gericht der Welt über ihn hereinbrach, und kommt sich noch gerechtfertigt vor andern vor, weil er nicht wie manche Vater und Mutter, Schwestern und Brüder und die Menschen, die ihm einst geholfen, verleugnet hat, um vorwärtszukom-

men. Aber der Geist Jesu sagt zu dir: Zähl die Fälle hinzu, dadu verleugnetest durch Schweigen, wo du einWort für einen Menschen hättest sprechen müssen, und ließest die Menschen reden und schwiegst. Die Welt kann dir diese Fälle nicht nachrechnen. Du aber weißt, daß sie dich erdrücken, wenn du anfängst, sie dir zuvergegenwärtigen. Der Geist Jesu aber fährt fort: Zähl die Fälle hinzu, wo du für einen Menschen eintreten mußtest, ohne daß er ein Recht auf dich hatte, weil du es mußtest, wo du an Menschen vorübergingst wie der Priester und der Levit im Gleichnis vom barmherzigen Samariter [Lk. 10,30–37], an Menschen, die dein Herr und Meister dir zu Nächsten gab injenem Augenblick, da du es wußtest, und gingst dennoch vorüber und sprachst in deinem Herzen: Ich kenne den Menschen nicht. Da wächst dasWort Verleugnung, dasvor dem natürlichen Menschen so klein dastand und nur eine enge Klasse von Vergehungen und Untreue umfaßte, und wird riesengroß und offenbart sich als der Urgrund der Sünde, an der unser innerer Wahrhaftigkeitsmensch zugrunde geht. Es stellt uns als Sünde dar alles Große und Kleine in unserm Leben, wo wir nicht wagten oder nicht mochten, aus Angst oder Bequemlichkeit, einem Menschen, einem nahen oder fernen, der in jenem Augenblick unser Nächster war, Mensch zu sein, die Menschheit in ihm zu achten, unsere Menschheitsaufgabe an ihm zu erfüllen, und dadurch unwahrhaftig mit uns selbst wurden. Der Mensch ist wie eine Uhr. Er trägt eine Feder in sich; und wenn sie erlahmt ist, kommt er nicht mehr vorwärts und bleibt stehen. Die Feder ist Treue und Wahrhaftigkeit. Wir laufen alle Gefahr, daß sie erlahmt durch jenes große und kleine Verleugnen im Leben, das nur wir kennen und nur wir uns nachrechnen können. Darum ist diese neutestamentliche Geschichte vom Sündenfall so viel tiefer und christlicher alsjene alte vom Fall im Paradies, denn dort ist es offenbare Sünde desUngehorsams, hier Schwachheitssünde wider die

Petri Verleugnung

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Treue und Wahrhaftigkeit des zuversichtlichen und selbstvertrauenden Menschen. Ihr wißt, daß dies dasSündigen ist, welches an unszehrt. Darum sei eure Traurigkeit keine Traurigkeit zum Tode, sondern zum Leben. Es muß also geschehen. Petrus, der tapferste und treueste derJünger, mußte durch diese Demütigung hindurch, daß er sich nicht rühmte und demütig und reif wurde zur wahren Treue, die er seinem Herrn in Arbeit und Kreuz bewähren durfte. Und wir ebenso. Wir müssen, wo wir’s am wenigsten erwarten, fallen und vor uns selbst gedemütigt werden, damit wir nicht auf unsere natürliche Menschentreue und Menschenwahrhaftigkeit stolz werden, sondern nach der wahren Treue und Wahrhaftigkeit, der Treue und Wahrhaftigkeit aus dem stillen, demütigen Geiste Jesu ringen und treu und wahrhaftig sind als solche, die wissen, daß ihnen Gott und Menschen zu verzeihen haben offenbare und gewußte, geheime und nichtgewußte Verleugnung. Darum ist dies eine Passionsbetrachtung. Denn Passion heißt nicht nur, was unser Herr Jesus damals einmal von den Menschen erduldet hat, sondern was sein Geist, den Gott in uns wohnen läßt, uns darin zu neuen Menschen geboren werden zu lassen, in Ewigkeit fort und fort in den Menschen erleidet, in unserleidet, jene Passion, die derApostel Paulus meint, da er schreibt: «Und betrübet nicht den heiligen Geist, damit ihr versiegelt seid.» [Eph. 4,30] Und demütig müssen wir werden, um mit den Menschen mitleidig werden zu können wieJesus. Das erste Mal, wenn wir als Kinder in die Verleugnung und Untreue der Menschen hineinschauen, vielleicht bei einer Angeberei in der Schule, fühlen wir einen heftigen Schmerz; es ist, als ob ein Schleier vor unsern Augen weggerissen würde. Und der Schmerz kommt wieder, sooft dasselbe Erleben wiederkehrt, immer mehr, je mehr wir die Welt kennen, bis wir zuletzt, wenn einmal auch die Menschen, auf die wir bauten, versagten, wir uns damit bescheiden, daß gar wenig Treue auf Erden ist. Wenn sie zu dieser Erkenntnis kommen, betäuben sich viele Menschen durch eine stumme, innere Bitterkeit, durch eine unausgesprochene Menschenverachtung, die sie und die andern lähmt und bedrückt, daß sie sich von keinem Menschen mehr etwas Gutes versehen. Jesus kennt die Schwäche der Menschen besser als wir. Aber er überwindet sie durch Verzeihen. Er weiß zum voraus, daß Petrus ihn in dieser Nacht verleugnen wird. In derArtjedoch, mit welcher er es ihm voraussagt, liegt das Mitleid und Verzeihen. Er schilt ihn nicht und droht nicht, sondern sagt es ihm als etwas, das geschehen muß. Und durch dieses Verzeihen Jesu wird die Reue des Petrus zu einer befreienden

Reue. Unser Herr verzieh und war mitleidig und hatte nicht nötig, daß ihmjemand verzieh und mitleidig zu ihm war.Wir aber sollen mitleidig

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sein als die, die in derselben Verfehlung gefangen sind, und verzeihen als solche, denen verziehen werden muß. Und meint nicht, dasmüßte in Worten ausgesprochen werden. Es liegt so viel Unausgesprochenes zwischen den Menschen und ist doch da und gewußt. Und wennjenes unausgesprochene Verzeihen zwischen uns läge, würde eine Last von uns genommen werden, an der jeder sein Teil trägt, und wir würden freie Menschen werden, die andern und du, frei durch den demütigen und mitleidigen Geist Christi, daß wir durch Schuld und Reue nicht niedergedrückt, sondern zurVollendung geführt werden. Darum, wenn ihr nach Hause kommt, denkt darüber nach, was es für euch und die Euren heißen kann, unausgesprochenes Verzeihen wal-

ten zulassen...

Nachmittagspredigt Sonntag, 25. März 1906, St. Nicolai

II Kor. 1,3–5: Über das sühnende Leiden¦9¿

Ich hätte die Bitte an euch, daß ihr den Abschnitt, aus dem unser Text entnommen ist, die sechs ersten Kapitel des 2. Korintherbriefes, in diesen Tagen für euch lest und euch daran erbaut. Es ist niemals etwas Herrlicheres über die Passion Jesu und was sie für uns ist, geschrieben

worden. St. Paulus war damals auf demWege, die Korinther zum letzten Mal zu besuchen. Es war die traurigste Zeit seines Lebens. In Ephesus, von wo er kam, hatte er unsägliche Verfolgung ausgestanden; auf der Reise Widerwärtigkeiten gehabt, die einen andern als ihn mutlos gemacht hätten. Todesahnungen bewegten sein Herz im Hinblick auf die bevorstehende Reise nach Jerusalem. Und ehe er die Korinther wiedersehen konnte, daß es ein Wiedersehen in Freuden wurde, mußte noch so viel zwischen ihm und ihnen weggeräumt werden, da sie ihm viel Leids in Misstreue, Verleumdung und Geringschätzung angetan hatten, wie man zwischen den Zeilen lesen kann. Das alles, was sein Herz bewegt, kommt ihm in die Feder, ohne daß er es will. Kaum hat er angefangen, etwas Sachliches mit ihnen zu behandeln, bricht er alsbald ab, und die andern Gedanken drängen sich in das, was er sagen wollte, hinein und umranken es wie das Schling9 [Gelobet sei Gott und derVater unsers Herrn Jesu Christi, derVater der Barmherzigkeit und Gott alles Trostes, der uns tröstet in aller unsrer Trübsal, daß wir auch trösten können, die dasind in allerlei Trübsal, mit demTrost, damit wir getröstet werden von Gott.

Denn gleichwie wir des Leidens Christi viel haben, also werden wir auch reichlich getröstet durch Christum.]

Über dassühnende Leiden

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gewächs den Lattenzaun. Darum ist es ein so merkwürdiges Durcheinander von Gedanken, wobei wir noch viel nicht verstehen, weil uns fast alles, worauf er anspielt, unbekannt ist. Und dennoch verstehen wir es, denn es blüht und duftet. Er sagt ihnen das alles nicht, um zu klagen, sondern als einer, der getröstet ist und Menschentrosts und Menschenmitleids nicht mehr bedarf, weil er von unserm Gott und Heiland getröstet ist. Es ist nicht die Traurigkeit, die ihr dafindet, sondern dieTraurigkeit, die in Freude verklärt ist. Darin ist er so ganz anders als wir. Wir klagen, um bemitleidet zu werden. Wir klagen, um die andern wider die anzurufen, die uns etwas angetan haben. Wir klagen, um uns das Herz auf Menschenart zu erleichtern, und erleichtern’s uns doch nicht. Wir klagen, damit die Menschen uns trösten, und ihr wißt, wie selten ein Mensch uns trösten kann, wirklich trösten kann. Ihr wißt auch, wie man bei dem besten Willen die Menschen nicht trösten kann, weil sie das Herz nicht haben, sich trösten zu lassen, sondern sich in ihren unvernünftigen Schmerz hineinbohren. Wie oft stehen wir Pfarrer in einem Trauerhause und möchten gern dasbeste unserer Worte und Gedanken, ein Stück unseres Herzens sogar, hingeben, um diese niedergeschlagenen Menschen aufzurichten, und vermögen’s nicht, weil sie dasHerz nicht haben, getröstet werden zu können. Ihr selbst wißt auch, was es heißt, ohnmächtig sein, einen Menschen trösten zu können, und ihr wißt auch, daß es nicht nur allein an uns liegt, weil wir schwach sind zum Trösten, sondern an den andern, weil sie dasHerz nicht haben, sich trösten zu lassen. Ihr kennt Menschen, die an irgendeinem Schmerz zugrunde gehen, die sich ihr Leben verbittern, untüchtig werden zu aller Arbeit und allem Guten, weil sie über etwas, das ihnen widerfahren ist, nicht hinauskommen, und manchmal den einzigen Zweck ihres Daseins in dem Kult eines Toten, den sie dahingeben mußten, erblicken. Und ihr fragt manchmal: Kann ihnen denn niemand helfen? Ich glaube, wenn der liebe Gott und der Herr Jesus selber kämen, könnten sie ihnen nicht helfen. Denn es gibt keinen Trost für einen Schmerz, der nur Menschenschmerz ist und von einem irdischen Herzen gedacht und empfunden ist. Da heißt’s dann nur immer: Erklärt mir, warum ich durch das und das hindurch muß, ich, der ich’s doch nicht mehr als andere verdient habe; und wir müssen sagen, wir können’s nicht, und den Menschen mit seinem Schmerz hilflos und allein lassen. Der Mensch, um mit dem Schmerz fertig zu werden, muß aus ihm einen andern Schmerz, ein anderes Leiden machen, aber daskann nur er allein, und keiner kann’s für ihn – dann ist er getröstet, von Gott und Christus getröstet wie St. Paulus, und hat nicht nötig, bei Menschen Trost zu suchen. Er muß sein Leiden in dasLeiden Christi hineinstellen und es als dasLeiden Christi ansehen, dassich an ihm auswirkt.

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Aber wie wird dein Leiden dir zum Leiden Christi? Ich möchte nicht, daß dies euch ein schöner Gedanke bleibt, den ihr bei St. Paulus auf jeder Seite findet, den ihr aus der Ferne bewundert, mit dem ihr aber in eurem Leben nichts praktisch anzufangen wißt. Im Leiden Jesu liegt alles, was ein Mensch hienieden erdulden kann:

körperlicher Schmerz, Angst, Todesnot, Verlassenheit, Menschenungerechtigkeit, Menschenhaß, Menschenhohn: Alles, was uns im Großen und Kleinen beschieden ist. Warum hat er es so freudig getragen? Weil er wußte, daß er es trug, um Sünde zu sühnen, Sünde für die andern, die ganze Menschheit. Und wie wird unser Leiden zum Leiden Christi? Wenn du beim Leiden, das dir widerfährt, alsbald nicht anders kannst, als an die Sünde, die auf deinem Leben lastet, zu gedenken, und nicht ruhst, bis du beides, deine Sünden und das, was dir widerfährt, zusammengebracht hast, und so, daß das, was du durchmachst, dir klein und leicht vorkommt im Vergleich zu der Schuld, die auf dir liegt. Es ist so schwer, den Menschen verständlich zu machen, wieso nun die Sühne, die der Herr Jesus für die Sünden der Menschheit geschaffen, uns angerechnet werden kann, die wir mit ihm nichts gemein haben; wie überhaupt von ihm etwas auf uns übertragen werden kann. Und ich meine, die Predigt von der Sündenvergebung um Jesu willen bleibt für den Menschen etwas Unlebendiges und Unwirkliches trotz der schönsten Erklärung, wenn er sie nicht irgendwie so erlebt hat wie der Apostel Paulus, der sie als erster so machtvoll gepredigt hat, das heißt, wenn er nicht in der Gemeinschaft des Leidens Jesu der Sündenvergebung froh geworden ist und sie erlebt als etwas, das zwischen seinem Gott und ihm unausgesprochen vorgeht, und dessen froh und getrost wird. Das ist keine traurige, sondern eine freudige Lehre von der Sündenvergebung. Paulus hat Schläge, Marter, Hohn, Hunger und Durst, Bande und Not willig und freudig erduldet als ein Leiden Christi, weil ihm der Gedanke immer vor der Seele stand: Das sendet dir Gott, damit du sühnen und wiedergutmachen darfst, was du gesündigt hast, als du Jesus und die Seinigen verfolgtest. Petrus erduldete dasselbe mit derselben Freudigkeit, weil er damit seine Verleugnung wiedergutmachen durfte. Und auch unter uns versteht der in seinem Leben mit offenem Auge zu lesen, der in dem, was ihm begegnet, dem körperlichen und seelischen Leiden, nicht zwar eine Strafe Gottes sieht, sondern eine Gelegenheit, der Sündenvergebung in Geduld und Sanftmut froh zuwerden. Jeder von uns stand schon im Leben unter dem Eindruck einer schweren Verfehlung und sprach zu seinem Gott: Sende, Herr, was du willst, ich will’s geduldig tragen als eine Gnade von dir, nur dies und dies laß mir erspart sein, vielleicht in jener Zeit die Achtung eines Men-

Über dassühnende Leiden

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schen, deren ihr bedurftet, zu verlieren ... Und der Himmel eures Lebens heiterte sich wieder auf, und aus jener Ergriffenheit kehrtet ihr wieder in euren gewöhnlichen Gemütszustand zurück, und Gott war gnädig mit euch gewesen. Und wenn dann später Leiden und Trübsal über euch kamen, habt ihr daran gedacht, es freudig zu tragen, um Gottes Gnade an euch zu rechtfertigen, und alles in Geduld auf euch zu nehmen als ein Stück des Leidens Christi, in welchem ihr derVergebung der Sünden froh werden dürft und der Erlösung teilhaftig werdet, welche er geschaffen hat? Das sind fremdartige Gedanken, nicht als ob sie nicht jeder bei sich schon gedacht hätte, sondern weil es so schwer ist, daß ein Mensch sie zu andern ausspricht, weil wir, der eine vom andern, so wenig vom innersten und tiefsten Erleben wissen und ihm davon reden können. Und zuletzt erleben wir doch alle dasselbe. Darum habe ich euch jetzt dasWort des Paulus vom Leiden Christi, das sich an uns erweist, also ausgelegt, damit auch wir sicherer und gewisser werden und das, was uns im Leben noch begegnen soll, nicht als eine fremde, harte Last, sondern als das süße Kreuz Jesu auf uns nehmen und in dieser herrlichen, schlichten Weise von dem, was wir durchmachen, zu den Menschen nicht als die Trostbedürftigen, sondern als die Getrösteten reden, ob auch von uns nicht leere, eitle Worte desTrostes, sondern wirkliche, stille wirkende Kraft desTrostes auf die andern übergeht und ihnen zum Leben hilft.¦10¿

10 [R] Die zweite Predigt in der neuen Wohnung. Aber noch sehr müde und angegriffen. Es wird schon gehen! [A. Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, in: Werke Bd. I, S. 115f.:] «Das Amt als Stiftsdirektor legte ich im Frühjahr 1906 nieder. Nun hieß es aus dem Thomasstift, in dem ich seit meiner Studentenzeit zu Hause war, ausziehen. Der Abschied von den großen Bäumen in dem ummauerten Garten, mit denen ich so manche Jahre über der Arbeit Zwiesprache gehalten hatte, fiel mir sehr schwer. Zu meiner großen Freude konnte ich aber dennoch im großen Hause desThomaskapitels wohnen bleiben. Friedrich Curtius, der frühere Kreisdirektor von Colmar, der unterdes, auf Verlangen der elsässischen Geistlichkeit, zum Präsidenten der lutherischen Kirche des Elsaß ernannt worden war und als solcher eine große Amtswohnung im Hause desThomaskapitels innehatte, stellte mir vier Zimmerchen im Giebelgeschoß desselben zur Verfügung. So durfte ich weiterhin im Schatten der Thomaskirche leben. An dem regnerischen Fastnachtstage 1906 trugen die Studenten meine Habseligkeiten aus der einen Tür des Hauses am Thomasstaden hinaus und in die andere hinein.»

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Predigten

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Morgenpredigt Sonntag vor Palmsonntag, 1. April 1906, St. Nicolai

Mk. 10,45: Dienen und Leiden¦11¿ Unser Herr hat uns keine Lehre über die Bedeutung seines Leidens hinterlassen. Das Wort, welches ihr soeben vernommen, ist einer der wenigen Aussprüche, wo er sich den Jüngern gegenüber darüber ausläßt, warum er nun sterben muß. Das soll uns zu denken geben. Habt ihr nicht alle den Eindruck, daß man in der Christenheit zuviel Lehren über denTodJesu aufgestellt hat und daß wir vor lauter Lehren, die uns überliefert sind, nicht genug zum Nachdenken kommen: Was bedeutet denn dieser Tod für dich, für dein Leben? Manchmal kommt es mir vor, als wären diese Lehren wie glänzende Denkmünzen, die man von Zeit zu Zeit anschaut und dann wieder im Futteral verschließt. Und es ist so schwer, eine Lehre darüber aufzustellen. Wir haben gelernt, daß Jesus durch seinen Tod die Sündenvergebung beschafft hat. Aber wir haben von Kind an zu dieser Lehre so manche unaufgelöste Frage zu stellen, da wir innerlich gewiß sind, daß Gott auch vorher den Menschen die Sünden vergeben hat, wie auch Jesus, da er predigend Galiläa durchwandelte, den Menschen die Vergebung ihrer Sünden zusicherte und sie beten hieß: «Und vergib uns unsere Schuld» [Mt. 6,12], und daß Gott den Menschen in seiner allmächtigen Liebe verzeiht und nicht nötig hat, um Sünden vergeben zu können, sich vorher ein Opfer zu bereiten. Das habt ihr alle schon bei euch selber gedacht, und ihr werdet esbis an dasEnde eures Lebens denken. Und doch glaubt ihr mit mir, daß Jesus uns durch seinen Tod erlöst hat. Aber ich meine, es kommt eine Zeit, und sie ist schon da, wo die Menschen weniger als in der Vergangenheit darüber nachsinnen werden, was denn der TodJesu für Gott bedeutete, daß er nun den Menschen vergeben konnte – was keiner von unsjemals ergründen kann – als: Wasbedeutet derTodJesu für die Menschen? Er istja nicht für Gott, sondern für die Menschen gestorben. Das möchte ich die derWelt zugekehrte Seite am Leidensgeheimnis Jesu nennen, die von unserm Planeten aus allein sichtbar ist. Und achtet darauf: Gerade von dieser Seite redet Jesus; nicht anders in den Sprüchen der Apostel. Diejenigen, die wir am besten begreifen und die uns am meisten ergreifen, wo wir sagen müssen: Das ist schön, das ist Wahrheit, sind diejenigen, wo sie von dem reden, was der Tod Jesu unter den Menschen wirkt. 11 [Denn auch desMenschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zur Bezahlung für viele.]

Dienen undLeiden

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Nicht anders ist es mit derWelt um uns, die zum Glauben an den Gekreuzigten kommen möchte. Mit einer Lehre ist ihr nicht geholfen. Sie will sehen, was der TodJesu für eine Umwandlung unter den Menschen hervorruft, und davon ergriffen und überwunden werden. Sie sieht aber zuwenig an uns. Darum wird es ihr so schwer, zu glauben. Jesus hat uns erlöst, nicht von Gott, denn da sind wir von Ewigkeit her erlöst, sondern von der Welt und der Eitelkeit unseres Wandels. Das sind die Mächte, von denen er uns mit seinem Blut erkaufen mußte, daß wir frei und selig würden. Die Jünger waren während der ganzen Zeit, da er lebte, mit ihm gewesen, hatten alle seine Worte gehört und in sich aufgenommen, aber sie waren dadurch noch nicht ganz von der Welt und von der Eitelkeit ihres Sinnes frei geworden. Da er ihnen vom kommenden Reiche Gottes redet, denken sie nur daran, welche Stellung sie als dieVertrauten des Herrn darin einzunehmen berechtigt sein werden. Ihr ganzer irdischer Sinn hat sich in die Religion geflüchtet. UndJesus redet nicht lange auf sie ein. Schaut sie nach wenigen Wochen! Alles Egoistische ist verschwunden. Die Männer, die untereinander stritten, wer der erste wäre, dienen der Menschheit im Leben und im Sterben. Wodurch? Durch das Sterben des Herrn. Er hat sie durch nichts anderes als durch seinen Tod von den weltlichen Gedanken, die über sie herrschten, erlöst und sie zu neuen Menschen gemacht. Ist dasnicht dieErlösung, nach der sich dieWelt sehnt, daß sie geoffenbart werden soll, und nach der wir uns sehnen, daß sie in uns wirksam sich erweist, die Erlösung von den selbstischen, weltlichen Gedanken und von der Eitelkeit unseres Wandels, die Erlösung, die in ihrem Wie undWarum nicht in Worte und Formeln gefaßt werden kann, sondern die offenbar wird da, wo sie ist, ohneWorte, und die man vergebens mit Reden undWorten herbeizuzaubern sucht da, wo sie nicht ist? Es muß in uns ein Zauber gebrochen werden, damit wir in eine ganz andere Gesinnung versetzt werden und unser Dasein und die Schickungen unseres Lebens und was wir hier wollen und müssen, anders auffassen und verstehen, als wir es als natürliche Menschen begreifen würden, daß wir unserm Leben einen Zweck setzen, der ihm einen Wert gibt und es erklärt. Die neue Erkenntnis heißt: dienen. Das Dienen aber wirkt Erlösung: unsere eigene Erlösung und daß wir andere erlösen können, von derWelt erlösen können. Der Herr, da er ihnen ein Stück des Geheimnisses seines Leidens preisgibt, erklärt ihnen nichts, sondern er befiehlt: Dienet den Menschen, dienet euch untereinander, als wollte er sagen: Dann wird euch alles aufgehen, und ich brauche euch nichts mehr zu erklären. Und wenn er unter uns stände, würden wir ihn so nicht ziehen lassen, sondern ihn jeder fragen: Herr, leg’s mir aus, was das für mich heißt. Wem soll ich dienen? Womit soll ich dienen? Wie soll ich dienen? Und

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Predigten

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vielleicht könnte er manchem von uns einen Weg weisen, den wir ihm nicht weisen können. Ich habe das Empfinden, daß viele Menschen um uns herum wohnen, die wirklich dienen möchten, um etwas in der Nachfolge Jesu zu tun, und die harren und warten, daß sich etwas vor ihnen auftue, wo sie wirklich in Selbstvergessenheit für die Menschen arbeiten dürfen, und finden’s nicht, und ist niemand da, der ihnen ihre Arbeit anweisen könnte. Ich habe manchmal eine Sehnsucht danach, daß solche unter uns auftreten, die mit Machtvollkommenheit denen, die warten und harren, ihre Arbeit anweisen könnten. Aber zu vielen würde der Herr auch sagen: Kann ich dich denn gebrauchen? Warst du in dem Kleinen, wo du dienen konntest, treu und selbstvergessen, in der alltäglichen Pflicht, daß du erprobt bist, mir in Größerem zu dienen? Hast du dich erzogen, im Umgang mit Menschen, mit denen du es täglich zu tun hast, an Stelle des Herrschenwollens das Dienen zu üben, nicht jenes falsche, äußerliche, heuchlerische Dienen und Demütigsein, das oft für das Christentum gehalten wird, und unsere Religion vor den Menschen verlästert, sondern das schlichte, unausgesprochene, innere Demütig- und Selbstvergessensein, jenes Nicht-das-Seine-Suchen, das in der Liebe und im Verzeihen wirkt, das dein ganzes Wesen umgibt, daß die Menschen in dir etwas vom stillen Geist Christi spüren, der von der Eitelkeit und Selbstigkeit derWelt erlöst ist? Sagt doch der Herr den Seinen, sie müßten einander dienen lernen, ehe sie derWelt in seinem Namen dienen können. Vor ihm ist alles gleich, das kleine und das große Dienen; die einen braucht er für dieses, die andern für dasandere. Undjedes wahre Dienen ist gewirkt durch die Erlösung; denn keiner vermag es, der sich nicht in den Geist unseres Erlösers gefunden und ausdiesem Geiste, der dieWelt durch die Hingabe in derTat überwunden hat, die Kraft schöpft, anders zu sein, als er ohneJesus wäre. Undjegliches Dienen ist selbst wieder eine Predigt von der Erlösung und wirkt Erlösung unter den Menschen. Jesus will es also, daß sein erlösendes Dienen sich unter den Menschen fortsetze, durch die Menschheit wie ein geheimnisvoller Strom hindurchlaufe und wir Menschen uns untereinander erlösen. Es kann keiner das Wort Erlösung erfassen und begreifen, dem es nicht in einem Menschen lebendig entgegen-

tritt. Zu den lichtvollen Stunden unseres Lebens gehören diejenigen, wo wir Menschen begegneten, die uns mit dem Leben und der Welt und aller Selbstsucht und Ungerechtigkeit, die am Tage liegt, versöhnten, weil wir sie als die Dienenden und Selbstvergessenden handeln sahen, und es als etwas ganz Selbstverständliches taten, ohne zu wissen, wassie uns für eine Befreiung brachten und daß sie uns damit von derWelt erlöst haben.

Dienen undLeiden

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Und mit dir schauen alle Menschen um sich, auch die Gleichgültigen oder, die sich so stellen, ob sie Menschen finden, die sie mit der Welt versöhnen und den Wahn in ihnen zerstören, daß in der Welt zuletzt doch nur alles im Geist der Selbstsucht und der Herrschsucht geschieht, und ihnen den Glauben an eine Erlösung geben dadurch, daß vor ihnen schlicht und lautlos eine höhere, verborgene Menschheit sich offenbart, die zwar schwach ist und ringt, und dennoch eine höhere Menschheit, die aus dem Leiden und Sterben des reinsten und größten Menschen zu einem neuen Leben, zu einem neuen, dienenden Wollen geboren ist und die andern nun anzieht und erfaßt und sie, ohne daß sie sich wehren können, in jene geistige Weltenbewegung hineinzieht und über das Leben hinaushebt. Nach solcher lebendigen Erlösung seufzt die Menschenkreatur um uns, und wenn in uns wahres Dienen ist, wirkt es Menschenerlösung tausendfach über unser Verdienst und Würdigkeit, das große wie das kleine.

Es kam schon mancher krank am Leib ins Spital und kehrte am Leib nicht geheilt, aber an der Seele gesundet zurück, weil ihn das stille, selbstaufopfernde Dienen, das er dort sah, überwunden und mit der Welt und seinem Dasein versöhnt hatte und eine neue, geistige Welt vor ihm aufgetan hatte. Und ein anderer fand dieselbe Erlösung in einem unscheinbaren Menschen, den er draußen oder in einem Haus antraf, und aus dessen stillem, selbstlosem Wesen, dassich nur im kleinen Dienen, im Stillesein und Verzeihen auswirken konnte, der Geist Jesu, der von der Welt frei macht, auf ihn überging. Nun achtet aber, daß der, welcher den Menschen das Dienen und Erlösen aufträgt, ein Mensch ist, welcher zum Leiden geht und in seinem Leiden das höchste und letzte Dienen sieht, das die Menschheit frei macht. Und wie er alles, was er in sich trug, den Menschen nicht als der glückliche, gewaltige Lehrer, als der wirkende Mensch geben konnte, sondern sich bewußt war, daß er das Beste ihnen erst als der leidende Mensch geben konnte, so müssen auch wir wissen, daß wir in den Augenblicken, wo ein Unglück oder ein Leiden unser Wirken mindert oder unterbricht, vielleicht auch gar aufhebt, daß wir dann berufen sind, da die Augen der Menschen auf uns gerichtet sind und fragen: Wie wird er damit fertig? ihnen am meisten zu dienen und zu geben. Die glücklichen Menschen vermögen den andern nichts zu geben. Ihr wißt es aus eurem Leben, daß wir gerade in den Augenblicken, wo wir es mit uns zu tun hatten, daß wir meinten, wir würden mit uns selbst nicht fertig, den andern geistig helfen konnten, weil gerade, da der irdische, äußere Mensch zu Boden lag, offenbar wurde, was wir in uns tragen und was uns die Kraft zum Leben gibt. Ihr wißt es auch, daß uns selber die Glücklichen nicht trösten konnten, sondern die vom

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Leben hart Mitgenommenen, die vom Leben Mißhandelten, die das Leben nicht hatte niederdrücken können, sondern die der Geist der Stille und der Ergebung, der Geist des Leidens Christi, von der Welt und der Bitterkeit derWelt erlöst und frei gemacht hatte, daß sie nun in Wahrheit leben. Ich meine manchmal, wir müssen etwas durchmachen nicht um unserer selbst willen, sondern um anderer willen, daß in der Traurigkeit dasLeben Jesu an uns offenbar werde und sie berühre und gewinne. Wir sehen manche Menschen um uns, die eine Last zu tragen haben, unter der sie fast zusammenbrechen, eine Last seelischen oder körperlichen Leidens, eine Last, die Menschentreulosigkeit oder Menschenverrat auf sie geladen, daß wir fragen: Warum müssen diese das tragen? Wenn wir aber dasOhr für die Stimme Gottes hätten, wie es unser Heiland hatte, würde der Herr des Reiches des Geistes uns kundtun: Das muß dieser tragen, daß er in seiner Geduld und Stille als einer, der kämpft und überwindet, den Menschen etwas geben kann, das er ihnen sonst nicht geben könnte, und das er ihnen geben muß, damit welche, denen es bestimmt ist, durch den tiefen Geist des Friedens, der von ihm ausgeht, mit derWelt versöhnt und von derWelt erlöst werden; und der Reichtum des Geistes und desTrostes, den er derWelt gibt, ohne es zu wissen, wiegt tausendfach auf den Reichtum seines Leidens. Letzthin fragte mich jemand, ob ein Mensch, der von einem unheilbaren Leiden befallen sei, so daß er wisse, daß er zu nichts mehr nütz auf der Welt sei und andern eine Last, in einem Leiden, wo es keinen Ausweg mehr gäbe, nicht das Recht habe, seinem Dasein freiwillig ein Ende zu setzen. An demselben Tage las ich im Nietzsche, daß der Gedanke, einem zwecklosen Dasein ein Ende bereiten zu können, ein Tröster sei, der manche schlaflose Nacht überstehen helfe. Der Geist Jesu aber sagt: Nein! Gerade da, wo dir dein Leben fertig, zwecklos scheint, ist es für Gott vielleicht am zweckvollsten, daß du einer bist, der sich zu Geduld und Frieden durchgerungen hat und von dem ein Geist der Stille und des Sieges ausgeht, der machtvoller predigt als die größten Redner der Welt von der wahren Erlösung durch Jesus, unsern Herrn.¦12¿

Es hat schon manches bleiche, verkrüppelte Geschöpf auf dieser Erde gegeben, das von Kindesbeinen an menschlich betrachtet ein verfehltes und sinnloses Dasein hatte, ein unnützer Mensch, der andern eine Last war, und doch in derWelt des Geistes mehr geschafft hat denn tausend andere durch den Frieden, welchen es andern schenkte. Unter uns, die wirjetzt gesund zusammengekommen, gesund auseinandergehen, sind vielleicht welche, denen es gesetzt ist, einmal als die Heimgesuchten und Leidenden, als die menschlich betrachtet unnützen Men12 Vgl. Predigt vom 24. Februar 1901, S. 236.

Die Salbung zu Bethanien

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schen dem Herrn zu dienen, und als die, die überwinden und Frieden um sich verbreiten, sein Erlösungswerk unter den Menschen fortzuführen. Möge er dann seine Diener freudig und gefaßt finden.

[Abendpredigt Dienstag, 10. April 1906, St. Nicolai]¦13¿ Passionszeit

[Mt. 26,6– 13:] Die Salbung zu Bethanien¦14¿

In dieser Woche hat jeder Tag für uns etwas Feiertägliches, weil wir den Herrn in Gedanken Tag für Tag begleiten. Ich möchte, daß ihr alle in diesen Tagen die Leidensgeschichte in eurem Testament lest und sie andachtsvoll für euch betrachtet. Es ist etwas so unendlich Trauriges, was sich da abspielt, nicht nur weil es so traurig an sich ist, sondern weil es sich in unserer Zeit so und so vielmal wiederholt und noch heute solches Unrecht durch Gleichgültigkeit und Charakterlosigkeit geschieht, vor unsern Augen, im großen und kleinen, und wir nicht einmal sagen können, daß wir unbeteiligt daran sind. Ein Lichtblick ist die Geschichte von der Salbung in Bethanien. Eine einfache Frau hatJesus etwas Gutes angetan, und er selber verlangt, daß, wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, man auch von ihr predige. Ich folge diesem Gebot immer mit neuem Glück, weil uns in der Geschichte Jesu kaum eine Gestalt entgegentritt, die uns so viel zu sagen hat als dieses stumme Weib. Was hat sie denn Großes getan? Sie hatte den Mut, ihrer Eingebung zu folgen. Ihr Herz sagte ihr, sie müsse dem Meister Ehrfurcht und Teilnahme erweisen. Nun tut sie es.Waswird er sagen? Wie wird er es aufnehmen? Was werden die andern sagen? Das macht ihr bange. Aber es hält sie nicht zurück, zu tun, was sie innerlich als recht und geboten erachtet.

13 [Das Manuskript gibt als Datum Passionszeit und dieJahre 1903 und 1905? an. In beidenJahren hat Schweitzer nach dem Kirchenboten aber in der Karwoche nicht gepredigt. Hingegen hielt er am 10. April 1906 die Abendpredigt am Dienstag in der Karwoche.]

14 [Da nunJesus war zu Bethanien im Hause Simons, des Aussätzigen, trat zu ihm ein Weib, das hatte ein Glas mit köstlichem Wasser und goß es auf sein Haupt, da er zu Tisch saß. Da das seine Jünger sahen, wurden sie unwillig und sprachen: Wozu dient diese Vergeudung? Dieses Wasser hätte mögen teuer verkauft und den Armen gegeben werden. Da dasJesus merkte, sprach er zuihnen: Wasbekümmert ihr dasWeib? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Ihr habt allezeit Arme bei euch; mich aber habt ihr nicht allezeit. Daß sie diesWasser hat auf meinen Leib gegossen, hat sie getan, daß sie mich zum Grabe bereite. Wahrlich, ich sage euch: Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, dawird man auch sagen zuihrem Gedächtnis, wassie getan hat.]

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Was sie getan, ermiß an dir. Wie oft hast du es nicht gewagt, dem Zuge des Herzens zu folgen. Es istjemand gestorben. Du möchtest gern deine Teilnahme bekunden, aber du hast keine Anzeige empfangen. Nun hält dich der Gedanke, wie man es «aufnehmen» wird, davon ab, daß du hingehst oder schreibst und daslos wirst, wasdu auf dem Herzen hast, und läßt dich durch Befangenheit zurückhalten, den Menschen wohlzutun. Du siehst jemand in irgendeiner traurigen Lage, du fühlst, was in ihm vorgeht; du meinst, du kannst nicht anders, als bei Gelegenheit es ihn merken zu lassen durch irgendein verständnisvolles Wort oder sonst ein Zeichen ... Aber du tust es nicht. Mit welchem Recht? Du kennst ihn ja nicht oder nicht genug! So geht der Augenblick vorüber und kommt nicht wieder. Jeder von uns weiß, daß er solche Augenblicke vorübergehen ließ, wo er andern etwas hätte sein können und hatte den Mut nicht. Wir sind Leuten begegnet, denen stand die Sorge und die Not, das «Ich weiß nicht, wohin» auf dem Gesicht. Wir schauten sie an. Es lag uns auf der Zunge, zu sagen: Was fehlt Ihnen? Kann ich Ihnen was helfen? Aber wir sagten’s nicht. Man darf doch nicht die Leute in der Straße anhalten. Vielleicht würden sie sagen: Was geht das Sie an? Gehn Sie Ihres Weges, und dann müßten wir uns schämen. So gehn wir weiter, drehn uns noch einige Male um, bleiben stehn ... gehn weiter ... der Mensch geht weiter, der hier notwendig, unersetzlich gewesen wäre, und tröstet sich: Diese Person kann sich ja an einen Schutzmann wenden. Aber das sind Gesichter, die man nicht mehr vergißt, die Menschen, an denen man ausBefangenheit vorüberging. Ich las einmal die Geschichte von einem Trambahnschaffner in Berlin, der so vergrämt aussah und seinen Dienst so gedankenlos und abwesend verrichtete, daß ihn eine Dame fragte: Was fehlt Ihnen?, worauf er ihr erzählt, daß er ein sterbendes Kind und eine todkranke Frau zu Hause habe. Dutzende von Menschen, fügte er hinzu, sind heute einund ausgestiegen, haben sich darüber aufgehalten, daß ich meinen Dienst so lässig tue, und Sie sind die erste, die fragt: Wasfehlt Ihnen? Als ich das las, mußte ich denken, daß das nicht alles Gleichgültige waren, sondern daß es viele unter ihnen gab, die sich sicherlich gefragt hatten: Was hat er nur? Er sieht so bekümmert aus! Aber sie hatten nur nicht den Mut unddie Natürlichkeit, ihn anzureden. Von der Teilnahmslosigkeit, die die Menschen umgibt, sind zehn Prozent wirkliche Teilnahmslosigkeit. Der Rest, die übrigen neunzig Prozent, sind Scheu, Schüchternheit, Zurückhaltung, Befangenheit innerlich teilnahmsvoller Menschen. So bringen es unsere Verhältnisse, unsere Erziehung, die Gewohnheiten unserer Zeit mit sich. Und es wird immer schlimmer. Immer fremder stehen sich die Menschen gegenüber ... nicht fremd in bösem Sinn, sondern daß keines

Herr, vergib ihnen

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wagt, auf das andere zuzugehen, mit ihm zu sein, wie der Mensch mit dem Menschen ist. Eine Vereinsamung liegt über uns.¦15¿

Morgenpredigt Karfreitag, 13. April 1906, St. Nicolai

Lk. 23,34: Herr, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Heute hat uns die Erinnerung an den größten Menschen und an den größten Tag in der Weltgeschichte zusammengeführt. Die Völker feiern Gedenktage von Schlachten, in denen eine Nation über die andere Herr ward, und die Tage der Großen, welche sich Macht über die Nationen erwarben. Aber Karfreitag ist mehr. Hier stehen wir im ruhenden Mittelpunkt der Weltgeschichte. Wenn das Sein und dieWeltgeschichte ein Ziel haben, so muß es der Triumph des Geistes über die Materie sein. Das ist aber das Sterben Jesu. Ein Mensch wurde unter jüdischen Aufrührern gekreuzigt. Nach wenigen Wochen hätte er sollen vergessen sein. Und er war nicht vergessen, sondern sein Geist erstand neu unter den Menschen und bezwang seine Zeit und arbeitet fort und fort an der Menschheit, solange die Welt steht. Ist das nicht ein Wunder? Je mehr man darüber nachsinnt, je tiefer wird’s. Er allein kann die Menschheit voranbringen und dasinjedem einzelnen ausrichten, was keine Kultur und keine Bildung vermag: daß der Mensch Herr werde über sich selbst und der Geist das Irdische und Niedrige gefangen führe und er nun Frieden findet als ein Wesen, das sich einer wahren, geistigen Welt, mag es sie sich vorstellen, wie es will, angehörend fühlt. Und diese Weltgeschichte, die sich lautlos und unsichtbar in dem einzelnen abspielt und bestimmt, ob er lebt oder tot ist, ist die einzig wahre. Die andere, die sichtbare, die es mit den Schicksalen der Völker zu tun hat, spielt sich geräuschvoll drum herum ab wie eine Komödie, die immer wieder von vorn anfängt, wenn man beim letzten Akt angelangt ist. Aber begeht ihr diesen Gedenktag des Sterbens Jesu als solche, die wirklich wissen, was er bedeutet, weil sie etwas vom Kampf des Geistigen mit dem Natürlichen, den dieser Tod entfacht hat, in sich erleben und alskämpfende Menschen auf demWeg zu einer höheren Erkenntnis sind? Wie weit bist du durch Jesus vorangekommen? In dem Wort, das ihr soeben vernommen, stellt unser sterbender Herr durch das, was er tut, eine Frage an uns, und ich möchte, daß dieser Karfreitag diese Frage an jeden von euch richtet. Er verzieh. Wie weit bist du im Verzeihen? 15 [Nach einigen Stichwörtern bricht dasManuskript hier ab.]

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Die Passionsgeschichte wäre nicht vollständig, der Sieg Jesu über die Welt unvollkommen, wenn dieses Wort fehlte, denn in diesem hat er erst über die Menschen, welche Gewalt über ihn hatten, gesiegt. Ich stelle mir vor, daß die Menschen unten am Kreuz, von den Soldaten immer wieder zurückgedrängt, die von dem Sterbenden gestöhnten Worte kaum verstanden. Heißt es doch in der Schrift, daß sie von ferne standen. Aber sie errieten den Sinn jenes Stöhnens, weil sie es aus dem Geiste Jesu verstanden. Sie wußten, daß er vergeben mußte, da sonst alles, was er im Wirken und Sterben geschafft hatte, umsonst wäre und dasganze Christentum in sich zusammenfallen würde. Und wir wissen dasselbe von uns.Wir wissen, daß unser Christentum nichts ist, alles, waswir für ihn wider uns selbst kämpfen und für die andern tun, wenn wir nicht die Kraft zum Letzten, zumVergeben haben. Warum konnte Jesus so leicht vergeben und wir so schwer? Weil er vollkommener an Gott glaubte alswir. Er sagt: «Vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.» Das sagen wir manchmal auch. Wir sehen, daß die Menschen weniger aus Böswilligkeit uns weh getan haben als aus Unverstand und Unwissenheit. Diejenigen unter euch sind glücklich, welche diese Auffassung von den Menschen haben und so mitleidig für sie sind und so über Dinge hinwegkommen, welche den andern dasLeben verbittern und sie selber gegen die Menschen ungerecht machen. Aber in dem «Sie wissen nicht, was sie tun», dasJesus spricht, liegt mehr als ein Stück guter Menschenphilosophie. Es will in seinem Sinn nicht nur heißen, daß die Menschen uns oft ausUnwissenheit weh tun, sondern daß einer daist, Gott, der weiß, warum sie es tun unddaß sie es tun müssen, weil er es will. Könnt ihr jenes «Es muß also geschehen» [Mt. 26,54], mit demJesus sich geduldig in alles schickt, was er heraufziehen sieht, ausmessen in seiner ganzen Tiefe? Ein solches «Es muß also geschehen» gibt es injedem Leben, für einen jeden unter uns. Der unendliche Geist, der den Weg unseres geistigen Lebens bestimmt, bestimmt, was uns von Menschen begegnen muß. Er bestimmt das Große und das Kleine. Es geschieht nichts wider seinen Willen. Was er damit will, erkennen wir nur ahnend. Manchmal, wenn wir in unserem Leben zurückblicken, wo wir hindurchgegangen sind, ist’s, als ob ein Schleier von unsern Augen weggenommen würde, und wir sehen deutlich, warum uns dies und dies von Menschen begegnen mußte, warum wir von ihnen ungerecht gedemütigt werden mußten, warum sie in ihrem Unverstand uns ein Hindernis in den Weg legen mußten, daß wir uns einen andern suchen mußten. Große und kleine «Warum?» liegen dann da wie ferne Berge, wenn’s klar ist, daß man die Felsen und Bäume erkennt und die Dächer der Hütten weiß schimmern sieht.

Herr, vergib ihnen

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Aber meistens ist uns dasWarum dieses «Es muß also geschehen» verhüllt! Dann muß der Glaube kommen, der Glaube, daß es derWille des unendlichen Geistes war, daß Menschenverstand, Menschenundankbarkeit und Menschenbosheit zu dem gehörte, waser mit dir vorhatte: Anders kannst du nicht verzeihen. Nur der Menschengeist, der in dem unendlichen Gottesgeist still und demütig geworden ist und Glauben hat, kann verzeihen. Diesen Glauben predigt der Karfreitag. Die Treulosigkeit eines Jüngers, die Undankbarkeit der Menge, die Ungerechtigkeit der Leiter desVolkes, die Charakterlosigkeit des römischen Statthalters, das alles mußte sich anJesus auswirken, damit das Kreuz auf Golgatha errichtet werden konnte, von dem der Trost und der Friede über die Menschheit erging, undwir Frieden fänden in unserm Erlöser. Nun kommt und legt die Last der Dinge, die ihr den Menschen zu vergeben habt, am Kreuz nieder, ehe ihr weitergeht, daß der Karfreitag auch für euch derTag desVerzeihens sei. Wie sollt ihr verzeihen? Ich meine, wir stellen uns das Verzeihen manchmal falsch vor als eine große Aussprache mit Menschen, auf die dann eine Versöhnung folgt, in der alles ausgelöscht wird. Ich glaube, ihr wißt es ebensogut wie ich, daß dies nicht in allen Fällen möglich ist, weil zwei dazu gehören; und gar oft werden die Menschen – ihr habt’s auch sicher schon erlebt – euch gar nicht zugestehen, daß ihr ihnen etwas zuverzeihen habt, weil sie sich nicht bewußt sind, euch weh getan zu haben oder ungerecht gewesen zu sein. Und wenn man es dann einige Male so versucht hat, mit den besten Gedanken kam und nur Unverstand und Spott fand, fragt man sich: Wie soll man’s denn mit demVerzeihen halten? Nun siehe, der Herr Jesus ruft auch nicht vom Kreuz herab zu den Menschen, die ihm weh getan haben, zu den Priestern und dem Volk und den Kriegsknechten: Ich verzeihe euch, sondern er redet davon zu Gott. Das ist das wahre Verzeihen. Siehe, wenn du den Menschen, denen du zu verzeihen hast, vor Gott verziehen hast, sie brauchend nicht ’ zu wissen ... Gott wird euch miteinander so führen, daß sie es einmal an deinem Wesen sehen, aus deinem Handeln bemerken, aus einem Wort heraus begreifen, daß du alles, was du wider sie haben konntest, Gott geopfert hast. Was zwischen deinem Gott und dir geschehen ist, wird offenbar werden ... es kann nicht anders ... wenn die Stunde dazu gekommen ist. Und quäle dich nicht, wenn duverziehen hast undweißt, daß du verziehen hast, und gewahr wirst, daß die Erinnerung an dasVergangene nicht ausgelöscht ist. Vielleicht sind die Menschen darin verschieden. Die einen gebieten über ihre Erinnerung, die anderen nicht, und es bleibt ihnen eine Narbe von der Vergangenheit. Ich glaube aber, daß auch solche Menschen in Wahrheit vergeben haben, wenn sie es wirklich vor Gott getan haben.

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Das Vergeben ist eine Vergangenheit, mit der wir fertig werden, um zur Zukunft geschickt zu werden. Es ist eine Saat, die wir in weihevoller Stunde still und geheimnisvoll säen, damit sie zu ihrer Zeit aufgeht. Und wenn diese Karfreitagsstunde für euch diese Weihestunde ist, für die, welche viel und wenig zu säen haben, so geht ihr mit dem Kreuz Christi gesegnet hinaus, denn ihr wißt nicht nur, was verzeihen und vergeben heißt, sondern auch, wases heißt, Vergebung empfangen. Ihr seid gekommen, um der Sündenvergebung froh zu werden. Aber niemand kann sie euch wahrhaftig predigen, wenn ihr, was ihr vonVergeben in der Hand haltet, nicht zuerst herausgebt, und der Geist des Vergebens nun Wohnung in euch nimmt und euch offenbart, daß einer, der euch viel zu vergeben hatte, wogegen alles, wasihr Menschen zu vergeben habt, nichts war, euch auch vergeben hat, weil ihr unter dem Kreuze unseres Herrn die Bitte «Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern» [Mt. 6,12] durch die Tat gepredigt habt.

Morgenpredigt Sonntag, 6. Mai 1906, St. Nicolai

Mt. 13,52: [Zum Himmelreich

gelehrt]¦16¿

«Ein Schriftgelehrter, zum Himmelreich gelehrt.» Das ist etwas Ideales. Einer, der das Christentum predigen kann, daß es den Menschen etwas wird und sie nicht mehr fragen, was ist denn Gottesreich und Friede und Seligkeit, sondern etwas davon auseinem Menschen heraus verspüren und davon ergriffen werden. Und ihr alle müßt Schriftgelehrte, zum Gottesreich geschickt, sein, denn wir müssen alle, eines das andere, wie uns das Leben zusammenführt, suchen, zum Gottesreich zu bringen, sonst sind wir uns vergebens begegnet und haben uns nicht gegeben, was wir uns geben sollten, das Kostbarste, waswir uns geben sollten, die Gatten den Gatten, die Eltern den Kindern, der Freund dem Freund, der Mensch dem Menschen, der durch eine Fügung desLebens sein «Nächster» wird, dem er etwas geben muß, um ihm aufzuhelfen. So schön, so schwer. Es ist sehr schwer in unserer Welt, den Menschen ein Schriftgelehrter zu sein, «zum Himmelreich gelehrt», und ihnen etwas von den herrlichen Gütern mitzuteilen, die in unserm Testament eingeschlossen sind, und ein Schriftgelehrter in Jesu Sinn für sie zu werden.

16 [Darum ist ein jeglicher Schriftgelehrter, zum Himmelreich gelehrt, gleich einem Hausvater, der ausseinem Schatz Neues und Altes hervorträgt.]

Zum Himmelreich gelehrt

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Wenn er uns fragte, ob wir seine Lehre verstanden haben, würden wir ihm wie dieJünger antworten: Ja, Herr. Wer sollte es auch nicht verstehen? DasTiefste ist immer dasEinfachste, und dasEvangelium ist das Allertiefste und Allereinfachste. Das ist ja das Herrliche daran, daß ein Kind es verstehen kann. Ein Kind wohl. Aber warum sind denn so viele Menschen da, für die es nichts mehr ist, denen man es nicht nahebringen kann, und so viele Menschen wiederum, die sich sehnen, einem zu begegnen, der sie, sie gerade, die Dinge des Gottesreiches lehren kann, und keinem begegnen? Gibt’s denn nicht genug Menschen, die das, was sie verstanden haben, lehren können? Wenn’s damit getan wäre. Fragt jenen jungen Theologen, der soeben sein Examen bestanden hat. Er versteht alles. Er weiß, wann und wie die Bücher des Neuen Testaments entstanden sind, was jedes Wort Jesu in seinem ursprünglichsten Sinn und Zusammenhang bedeutete, wie die Dogmen der Kirchenlehre entstanden, was daran vergängliche Form und bleibender Inhalt ist, wie man’s dem modernen Menschen predigen muß ... und er glaubt sich ausgerüstet, unserer Zeit an dem Ort, wo er hinkommt, das Evangelium wieder nahezubringen ... und er erlebt Enttäuschung auf Enttäuschung wie die andern und muß dann mühsam lernen, sich zu erringen, was dazu gehört, ein Schriftgelehrter zu werden, der zum Reich Gottes geschickt ist. Es ist, als ob es aus tausend Enden der Welt uns entgegenschallte: Das ist ja alt, das Evangelium, das ihr lehrt. Wir haben’s von Kindheit auf gekannt. Es nützt nichts, daß ihr’s immer wieder auslegt; und ihr könnt’s noch so schön auslegen, es ist alt und kann uns nichts helfen. Und lauter alsje erschallen diese Stimmen in unserer Gegenwart. Wenn man in die Welt hinaushört, ist’s, als ob sie höhnend und flehend zugleich rufen tät: Ihr mit eurem Evangelium, ihr alle, die ihr sagt: Es ist etwas daran, es ist etwas daran, das zum Leben hilft, könnt ihr denn damit unserer Zeit nicht helfen, es eine Kraft für die Zweifelnden und Verzweifelnden werden lassen, ihm einen Glanz geben, der weit hinausscheint und die Menschen ausdem Dunkel zum rechten Weg führt? Und wir wollten ungeduldig werden mit diesen Menschen allen. Wir möchten ihnen sagen: Wenn ihr wolltet, ihr könntet es verstehen. Aber es fehlt euch der Wille, der Ernst, der Halt, die sittliche Energie. Ihr wollt es euch nicht schwer werden lassen, sonst würdet ihr es auch verstehen, wie wir es zu verstehen suchen, daß das Evangelium das Höchste, dasEinzige ist und daß es eine Kraft und Hilfe im Leben ist. Aber unser Herr erlaubt uns nicht, auch wenn wir einen Schein des Rechts haben, zu richten. «Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet» [Mt. 7,1]. Immer heißt er uns, bei uns selber anfangen. Werdet ihr rechte Prediger meines Evangeliums, geschickt zum Gottesreich! Die Welt beklagt sich, daß sie nur Altes bekommt, alte Lehre, die ihr

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nichts bietet. Ihr, gebt ihr doch Altes und Neues! Oder besser noch, er stellt dasNeue vor dasAlte: Neues und Altes. Wie merkwürdig, daß er von denen, die sein Evangelium der Welt bringen sollen, verlangt, daß sie Neues und Altes hervortragen! Neues und Altes! Dieses Wort hat für unsere Zeit eine Bedeutung. Ihr wißt, was vorgeht. Man will das Evangelium von manchen alten Gedanken und Vorstellungen, in denen es ausgeprägt ist, befreien und dafür neue Gedanken und Ideen, die Gedanken und Ideen, in denen unsere Zeit lebt, in denen allein sie die höchsten Dinge begreifen kann, hineintragen. Man will ihr Anstöße, die aus einer überlebten Weltanschauung kommen, hinwegräumen und ihr das Evangelium so vergeistigen, so abgeklärt bieten, daß viele, die früher sagten: Ich kann nicht glauben, nun sagen: So kann ich es glauben. Und wenn man zusieht, wasgeschieht, möchte einen die Angst überkommen. Dürfen wir das mit dem Evangelium tun? Nehmen wir ihm nicht seine Kraft? Wo ist denn das Ende dieses Prozesses? Wohl wissen wir, daß es manchen half und mancher es so als das wahre Evangelium erkannte, weil eine schwere Last von ihm genommen wurde, mit der er im Glauben nicht mehr vorwärtskam, und ihm dafür eine leichte aufgeladen wurde. Aber wir sehen auch das Ärgernis, das gegeben wird, die Uneinigkeit und die Zwietracht, die draus entstehen, wir sehen den Schmerz derjenigen, denen für das Evangelium bangt und die fürchten, daß zuviel Menschenweisheit hineinkommt und es das wahre Evangelium nicht mehr ist, und dieWelt drum betrogen wird. Es wäre genug, um an unserer Zeit irre zu werden, wenn der Herr nicht dawäre mit seinem «Gebt ihnen Neues undAltes», wenn ihr ihnen wirklich das Himmelreich predigen wollt, und uns allesamt ruhig und getrost machte, diejenigen, die fühlen, daß sie mit unserm Geschlecht in den Gedanken und Worten unserer Zeit reden müssen, ob sie ihnen das Evangelium so nahebringen können, daß sie es ruhig und zuversichtlich tun, weil der Herr es ihnen also gebietet, und diejenigen, denen es um das Evangelium bangt, die diejenigen richten möchten, die dem Glauben und den Gläubigen Ärgernis geben, daß sie keine Angst haben und nicht richten, weil es der Herr selber unserer Zeit also gebietet und gewissermaßen die Verantwortung selber auf sich nimmt, daß aus den Kämpfen unserer Zeit um den alten und den neuen Glauben, wenn es nur allen darum zu tun ist, in Wahrheit Evangelium zu predigen, dem Reiche Gottes zuletzt doch Gewinn erwachsen müsse. Aber seht, wenn wir wirklich daran denken, wie wir unserer Welt und unsern Menschen in Wahrheit zum Reich Gottes geschickte Schriftgelehrte werden und ihnen dasNeue Testament auslegen, daß sie es verstehen müssen, dann bekommt dieses Wort vom Neuen und vom Alten, vom Alten, das man unserer Zeit nicht als etwas Vergangenes, sondern als etwas Neues, Lebendiges bietet, eine Bedeutung, die hoch

Zum Himmelreich

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über der liegt, die sich auf die moderne Art bezieht, es für unser Geschlecht in moderne und zeitgemäße Vorstellungen zu kleiden und ihm Lasten vergangener Anschauungen abzunehmen und dieses Erneuern des Evangeliums zuletzt dennoch als ein äußerliches, fast gleichgültiges vor dem wahren Erneuern erscheinen läßt. Neu wird alles durch dasLeben. Das Leben ist die wahre Erneuerung, für das Sichtbarliche und für dasGeistige. Jesus spricht dieses merkwürdige Wort vom Neuen und Alten, vom Alten, das immer neu werden muß, nachdem er eine Stunde ihnen Gleichnisse erzählt hat vom Acker, von der Saat, vom reifenden Weizen, vom Senfkorn. Die Gleichnisse sind alt, bald an die zweitausend Jahre, und werden jedes Jahr neu vor aller Augen sein, wenn der Sämann wieder übers Feld geht und die Saat sprießt und reift und die Vögel lustig singend unter den Bäumen des Feldes wohnen. Und wie ihr Äußerliches neu wird durch das Leben draußen in der Natur, so muß das, was sie bedeuten, das Geistige, neu werden, immer wieder Leben werden im Menschengeist. Dann werden die alten, ewigen Worte neu. Wir wollen den Menschen das Evangelium geben. Alles Reden und alle Gedanken, mit denen wir die Worte unseres Herrn umkleiden könnten, das ist nur, wie wenn wir es den Menschen in einem schönen Strauß gebunden geben, und sie sind kaum damit zu Hause, so ist er schon welk. Aber wenn wir es ihnen geben können mit einem lebendigenWürzelchen, so einen Gedanken des Evangeliums, den wir lebendig aus unserm Leben, aus unserm Herzen herausgerissen haben, der kann auch in andern Leben werden. Darum sagt der Herr, daß wir das Neue und Alte, mit dem wir das Gottesreich und seinen Frieden predigen wollen, aus unserm Schatze, ausdem Schatz unseres Herzens hervorholen müssen. Dieser Schatz, das ist das Köstliche, was du dem Leben abgerungen hast, die Worte des Evangeliums, die für dich Leben und Wahrheit geworden sind, eine Seligpreisung, um die du gekämpft hast, daß sie sich an dir erfülle. Und mit etwas anderem als mit dem, was in uns Leben geworden ist, sei es auch nur Leben im Kämpfen, können wir den andern nicht helfen, denn wir können es ihnen nicht geben als etwas, das alt und dennoch neu ist. Ihr werdet sagen, daß das, was ich euch predige, daß nur soviel als in uns vom Evangelium Wahrheit und Leben geworden ist, von uns als Kraft des Evangeliums ausgeht, und daß alles andere Worte sind, die, kaum aus unserm Mund heraus, zu unsern Füßen niederfallen und niemand erreichen, daß dieses selbst etwas Altes und Selbstverständliches ist. Und dennoch predige ich es uns immer wieder als etwas Neues, damit wir auf uns selber zurückgeworfen werden und uns selber immer wieder prüfen müssen, worin denn der Schatz besteht, der Schatz an lebendig wahren Gedanken, mit denen wir den Unsern, unsern Kin-

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Predigten

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dern und Nächsten und, wer uns sonst noch nötig hat, helfen wollen, daß sie mit uns denWeg zum Leben finden, und wir ihnen etwas geben können, dieses Geistige und Köstliche, womit wir Menschen einander helfen müssen, so gering es ist, was wir einer dem andern geben können. Und wenn ihr jetzt darüber nachdenken müßt, was das für euch heißt, für euer Wirken und Erziehen und Helfen und Predigen in Worten oder ohne Worte, was das für euch heißt, aus eurem Schatze Neues und Altes, das Alte als Neues und Lebendiges hervorzutragen, was das für euch heißt, an Wahrhaftigkeit und von neuem Kämpfen mit euch selbst, vom Arbeiten an euch selbst, dann habt ihr dasWort des Herrn richtig verstanden.¦17¿

Morgenpredigt Sonntag, 20. Mai 1906, St. Nicolai

Mk. 9,14–27: Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem

Unglauben¦18¿

Ich weiß nicht, ob ein Maler diese Geschichte gemalt hat. Sie haben ja die schönsten Geschichten in der Schrift überhaupt nicht gemalt. Aber das tut nichts. Ihr seht dieses Bild vor euch so schön, wie es kein Maler malen kann: Hinten dasVolk und dieJünger um einen armen Knaben herum, vorn, abseits einen abgehärmten, weinenden Mann auf den Knien vorJesus. 17 [R] Le premier sermon del’ été 1906. 18 [Und er kam zu seinen Jüngern und sah viel Volks um sie und Schriftgelehrte, die sich mit ihnen befragten. Und alsbald, da alles Volk ihn sah, entsetzten sie sich, liefen zu und grüßten ihn. Und er fragte die Schriftgelehrten: Was befragt ihr euch mit ihnen? Einer aber ausdemVolk antwortete und sprach: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, so reißt er ihn; und schäumt undknirscht mit den Zähnen undverdorrt. Ich habe mit deinen Jüngern geredet, daß sie ihn austrieben, und sie können’s nicht. Er antwortete ihm aber und sprach: O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? wie lange soll ich euch tragen? Bringet ihn her zu mir! Und sie brachten ihn her zu ihm. Und alsbald, da ihn der Geist sah, riß er ihn; und er fiel auf die Erde und wälzte sich und schäumte. Und er fragte seinen Vater: Wie lange ist’s, daß es ihm widerfahren ist? Er sprach: Von Kind auf. Und oft hat er ihn in Feuer undWasser geworfen, daß er ihn umbrächte. Kannst du aber was, so erbarme dich unser und hilf uns!Jesus aber sprach zu ihm: Wenn du könntest glauben! Alle Dinge sind möglich dem, der daglaubt. Und alsbald schrie des Kindes Vater mit Tränen und sprach: Ich glaube, lieber Herr; hilf meinem Unglauben! Da nunJesus sah, daß dasVolk zulief, bedrohte er den unsaubern Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir, daß du von ihm ausfahrest und fahrest hinfort nicht in ihn! Da schrie er und riß ihn sehr und fuhr aus. Und er ward, als wäre er tot, daß auch viele sagten: Er ist tot. Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf; und er stand auf.]

Lieber Herr, hilf meinem Unglauben

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Und es ist etwas in dieser Geschichte, was wir nicht verstehen. Wir finden, daß der Herr Jesus hart ist, weil er ein Examen mit diesem Menschen anstellt. Warum läuft er nicht zum Knaben, um ihm zu helfen? Warum hält er sich mit Dingen auf, die mit seinem natürlichen Mitleid nichts zu tun haben? Mit der Kanaanäerin hatte er es ebenso gehalten: Er hatte sie zuerst nach ihrem Glauben gefragt [Mt. 15,21–28], und hier wie dort macht er seine Hilfe für ein armes Menschenkindlein von dem Glauben eines andern Menschen abhängig. Er stellt einen dritten Menschen zwischen sich und den, dem geholfen werden muß, und sagt ihm: Von dir und deinem Glauben hängt’s ab, ob ich etwas an ihm tun kann. So war es schon, alsJesus noch leibhaftig auf der Welt umherwandelte. Und jetzt erst, da er nicht mehr unter uns steht! Es ist eben ein ehernes Gesetz, demJesus dort in der Geschichte mit der Kanaaniterin und hier in unserer Erzählung gehorcht, daß er Menschen braucht, die seine Kraft und seine Macht auf die andern überleiten, und daß er ohne diese in all seiner Herrlichkeit ohnmächtig in dieser Welt steht. Das steht in keinem Konzilienbeschluß, in keinem Dogma, in keinem Katechismus. Aber in der Schrift steht’ s. Darum ist’s wahr. Und nicht nur darum, sondern für euch wahr, für dich wahr, weil es dich das Leben lehrt, weil du selber der dritte Mensch bist – jeder von uns, der zwischen Jesus und einen, dem der Herr helfen soll, gestellt ist und dann für dich auch die Frage kommt: Ja, hast du denn genug Glauben, daß durch dich die Hilfe Jesu zu Menschen kommen kann? In was für Not war denn jener Mann? Er sah den bösen Geist, dem sein Kind ausgeliefert war. Auf dem Dorfe hatte er gehört, Jesus könne Geister vertreiben. Da weiß er, es kann kein anderer helfen, macht sich auf und kommt. Nun steht er vor ihm und zugleich vor der Frage: Hast du genug Glauben? Siehst du nicht, daß diese Geschichte ein Gleichnis ist für dich und deine Kinder? Da sie aufwuchsen, freutest du dich an ihnen. Dann kommt der Augenblick des Erziehens, nicht jenes äußerlichen Erziehens, womit manche alles getan glauben, sondern des innerlichen Erziehens. Du weißt, was der Geist der Welt ist, der die Menschen zu Schattenmenschen macht, daß sie nur an Fortkommen, Ehre und Gut denken, der sie hin und her wirft in Versuchung und Sünde, ob er das geistige Wesen in ihnen umbrächte und sie zu geistig toten Menschen mache. Und du hast Angst, daß sie ihm ausgeliefert werden. Du willst es nicht. Du willst, daß sie etwas bekommen, das diesen Geist in ihnen niederkämpft, das ihn bannt und sie frei macht, daß sie geschickt werden, ihren Weg zu finden und im Lichte zu wandeln. Da kommt die Not über dich. Du siehst, daß niemand ihnen helfen kann, kein Lehrer, niemand; daß es auf dich ankommt. Aber du, wie steht’s mit deinem Glauben? Hast du genug Glauben, um die Kraft in

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Predigten

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sie einzupflanzen, welche sie für die kommenden Versuchungen fest macht undihnen Halt im Leben gibt? So hattest dudir die Frage nie gestellt. Aber die heranwachsenden Kinder stellen sie dir. Es ist etwas so Merkwürdiges. Wir kommen alle in dieselbe Glaubensnot, wenn aus unserm Glauben eine Kraft für die andern entspringen soll. Wir erwachen wie aus einem Traum. Der Glaube, von dem wir meinten, wir besäßen ihn und er wäre stark genug, unsim Leben zu tragen, ist so gar nichts, wenn noch ein anderes Menschenkind sich an uns hängt und auf unsern Glauben angewiesen ist. Und das Leben führt uns solche Menschen zu, die wir im Kampf gegen den bösen Geist leiten und tragen müssen, für die wir glauben müssen, damit etwas von dem Frieden und der Kraft Jesu von uns auf sie übergehe. Ob es Freunde oder Fremde sind, sie laufen uns zu wie die verlorenen Hündlein, die müd und hungrig sich in einen Torbogen hineinstehlen und dem Menschen, der ihnen aus Mitleid ein Tellerchen hinstellt, mit den Augen sagen: Ich geh nicht von dir fort, du mußt mir helfen. So werfen wir manchmal einem Menschen ein Wort aus unserm inneren Erleben hin. Nun will er mehr von uns.Wir fühlen, daß wir ihn aus des Lebens Müdigkeit aufrichten können, daß es uns verliehen ist, eine Bitterkeit von ihm zu nehmen, daß wir ihm etwas geben können ... ihm etwas geben könnten, wenn wir selbst etwas hätten. Und wir möchten reich sein an Glauben, an kristallklarem und diamantenfestem Glauben, um den Menschen, die uns brauchen, helfen zu können. Sagt, ob die Geschichte, die wir gelesen haben, die Geschichte von der Not des Mannes, nicht eine von denen ist, die hundert- und tausendfach wieder wahr geworden ist und immer noch wahr wird, eine von denen, die beim Fortschreiten der Weltsonne einen immer größeren Schatten werfen, daßjeder von uns hindurchmuß und bei sich sagen muß: Wenn du könntest glauben! Wenn es am Sonntag zusammenläutet, und wir einer nach dem andern in den schmalen Türen von St. Nicolai verschwinden, denken die, für die es vergebens läutet, beim Weitergehen: Das sind die Gläubigen, die feiern jetzt Sonntag. Und sie beneiden uns, daß wir die Gläubigen sind. Wenn sie wüßten, wie ungläubig wir in unserm Glauben sind! Es kommen welche in die Kirche, die haben seit Wochen und Monaten nicht mehr gebetet, weil sie nicht mehr beten können. Es kommen welche in die Kirche, die es nicht zu fassen vermögen, daß ein allmächtiges Wesen die Geschicke der Welt und der Menschen leitet. Und wie oft geschieht’ s, daß, wenn der Prediger einen Grundsatz unseres Glaubens ausgesprochen hat als eine Erkenntnis und Gewißheit, die wir alle miteinander teilen, soundso viele das Gefühl haben, als hätte er eine wunde Stelle bei ihnen berührt, und ihm zurufen möchten: Wenn ich es nur glauben könnte. Und beim gemeinsamen Gebet: Wie viele möchten

Lieber Herr, hilf meinem Unglauben

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diese und diese Bitte mit ihrem Glauben begleiten, mithelfen, sie zum Throne Gottes hinaufheben, und vermögen es nicht und warten, bis ein Wort kommt, dassie von Herzen mitbeten können. Wenn wir einer dem andern sagen sollten, was unser Glaube ist, was für uns das absolut Sichere undWahre daran ist, was daran unser Eigenstes ist, wie arm ständen wir, die gläubige Gemeinde, als die wir uns

allsonntäglich zusammenfinden, voreinander. Vielleicht sind welche unter uns, die wissen nicht, ob sie beim Hinaustreten nicht dasletzte Mal hier waren, weil sie sich von einem Sonntag auf den andern fragen, ob sie noch hieher gehören, ob es, offen betrachtet, für sie nicht eine Formalität wird, zu deren Erfüllung sie sich anhalten. Es ist kein Grübeln, kein falsches Wissenwollen, aus dem der Unglaube kommt. Er ist da, von selbst da.Wir unterscheiden uns von den andern dadurch, daß wir glauben wollen, daß wir Angst haben vor dem Unglauben, und für das, was uns an Glauben geblieben ist, kämpfen, daß wir uns damit vor dem Unglauben retten. Wir sind wie die, welche im Schnee wandern und wissen, daß, wenn sie einen Augenblick müde werden und sich hinsetzen, alles vorbei ist. Wenn ich uns recht kenne, so meine ich, wir können nicht sagen: Wir sind die Gläubigen, sondern: Wir sind die, welche vor des Lebens geistiger und leiblicher Not, und um den andern in der geistigen und leiblichen Not etwas sein zu können, uns zwingen, zu glauben. Ich hörte einmal zu, wie über dasWesen der Predigt geredet wurde. Da wurde gesagt, sie solle das Glaubenszeugnis der Gemeinde sein. Nun gut. Dann meine ich, unser Glaubenszeugnis ist das des Mannes in unserer Geschichte: «Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben.» Ich sage das nicht, um uns zu betrüben, sondern weil ich mir denke, daß gar manche unter uns sind, die, wie ermüdet von dem Kampf um den Glauben, bei sich fragen, bis wann sie kämpfen dürfen, welches der letzte Rest von Glauben ist, mit dem sie den Kampf noch wagen dürfen, mit welchem sie noch Christen sind. Da steht es: «Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben.» Der HerrJesus hatjenen Menschen nicht von sich gewiesen, daer nicht mehr Glauben aufzuweisen hatte. Und auch du, wenn dudasselbe Zeugnis ablegen mußt, darfst durch kein Menschenurteil, und auch nicht durch das deinige, von ihm gerissen werden. Die Schrift schützt dich. Wenn es nicht in ihr stände, würde man nicht wagen, es zu predigen. Der letzte Glaube hat es mit niemand und mit nichts als mitJesus zu tun, und bei ihm wieder mit keiner Erkenntnis, mit sonst nichts, als was in denWorten «Lieber Herr, hilf» liegt. Unsere Religion ist die Religion der Menschwerdung des Ewigen. Nun kann ein Mensch irre werden an dem, was über denWolken, was über unserm Sinnen und Begreifen liegt: Wenn er die ganze geistige,

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göttliche Welt nur da erkennt, wo sie ihm greifbar entgegentritt, in unserm Herrn Jesus, dann hat er sie und hält sie, und hat in ihr alles, auch jenes, wozu sein Geist sich nicht erheben kann, was er nicht glauben kann. Wenn man sich drein vertieft, kommt einem die Menschwerdung des Göttlichen wie eine Mitleidstat des göttlichen Geistes vor.Wer kann es ausmessen, was es bedeutet, daß unsere Religion es mit einem Menschen zu tun hat, der leibte und lebte, dessen Worte wir noch besitzen, in dessen Wesen sich das Ewige undWahre für uns darstellen, daß man nun zu den Menschen sagen kann: Glaubst du noch an ihn, ist er etwas für dich? Dann sei froh und getrost! Man hat immer Angst, wenn man diese letzte Frage stellt, Antworten zu bekommen, die zu niedrig gegriffen sind, daß man nun dennoch sagen muß: Das ist kein Christentum mehr. So z. B. wenn jemand antworten würde: Er ist etwas für mich, aber wenn ich’s recht sagen soll, ein Lehrer, dessen Lehre ich leben will, dem ich gehorchen will. Ich würde da nur sagen: Gut! Voran! Es hat viele tieffromme Menschen gegeben, die ihr Glaubensbekenntnis in jenen schönen Liedervers faßten: «Dir, Jesus, ist kein Lehrer gleich.»¦19¿ Und wenn du es wirklich ernst damit nimmst, daß du ihm als dem einzig wahren Lehrer gehorchen willst, dann meinst du mit Lehrer noch etwas anderes und das, worauf es ankommt, dasWort: «Herr, lieber Herr.» Die Frage, die du dir klar vorlegen mußt, heißt: Glaube ich noch, daß der Herr Jesus mir helfen kann, und glaube ich das so gewiß, daß ich meine geistige Kraft und Hilfe durch meinen Glauben auch andern geben kann, denen ich zum Leben helfen muß? Das ist der Glaube, den Jesus dort von dem Manne, hier von dir verlangt. Und wenn du ihn in diesem Glauben deinen lieben Herrn nennst und ihn demütig bittest, daß er dir noch mehr zu diesem Glauben helfe, daß er dir und allen Menschen helfen könne, und daß er ihn dir erhalte in den Stunden, wo du auch dies fast nicht mehr glauben kannst, dann kannst du nicht versinken. Denn an das klammern wir uns alle, wie wir es nun auch mit Worten näher ausführen mögen, daßJesus uns und derWelt um uns helfen kann, wenn wir wahrhaft wollen, wie soll ich sagen: wenn wir mit dem Mute derVerzweiflung wollen, so wollen, wie der Mann, von dem wir in der Geschichte lesen, wollte. Ein Wollen, das der Nerv unseres geistigen Lebens wird! Da hätte ich noch ein Wort zu erklären, das Wort: «Lieber Herr». Wenn es einen Redner gäbe, der das Vermögen hätte, euch Zeit und Stunde vergessen zu machen, daß euch die Abenddämmerung in der Kirche überraschte, und er euch noch immer auslegte, was das heißt: «Mein Herr», er hätte dasWort nicht ausgeschöpft. Es ist das Fundamentalwort des Christentums. Wir werden nächsten Sonntagmorgen davon 19 [Joh. Friedr. von Meyer: Dir, Jesus, ist kein Lehrer gleich, Str. 1.]

Unser Wandel aber ist im Himmel

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reden, wenn wir als Nachbetrachtung zum Himmelfahrtsfest von der Herrschaft Christi auf Erden miteinander sprechen Bis dahin möchte ich, daß ihr, jeder für sich selbst, bei euch nachdenkt, was denn dieser Satz «Jesus ist mein Herr» in seinem Leben bedeutet und inwieweit er in seinem Leben wirkliche Wahrheit geworden ist. Aber ihr wißt esjetzt schon durch eine elementare Empfindung eures Geistes, daß es will heißen, daß euerWesen und Sein bestimmt ist durch den Gehorsam gegen denWillen Jesu, daß die Hingabe an diesen Willen dieTat eures Lebens ist, daß ihr Halt und Frieden gefunden habt in dieser Hingabe an einen höheren Willen und daß euer letztes Erleben darin besteht, zu kämpfen, daß ihr im Denken und Tun in diesem Willen

werden.¦20¿°

bleibt.

Und wenn etwas von diesem Wollen, von diesem Glaubensgehorsam, wie es St. Paulus in einem wundervollen Worte nennt, in dir ist, er mag noch so schwach sein, wenn er nur wahrhaftiger Wille ist, dann fühlen es die Menschen an dir und es geht etwas von der Festigkeit deines Lebens, von dem Frieden und der Kraft Jesu von dir auf die über, welche geistig auf dich angewiesen sind, und mehr, als du selber zu besitzen dir

bewußt warst. Als jener Mensch wegging, glaubte er um desWunders willen, das er erlebt, daß nämlich seinem Sohn ob seines schwachen Glaubens willen geholfen worden war. Solche Wunder erleben auch wir, und darum glauben wir und werden nicht müde zu glauben. So schwach wir sind, wenn wir nur wahrhaftig mit uns sind unserm Herrn gegenüber und ihm dienen wollen, so schwach unser Glaube: Es geht etwas Glaubenskraft und Geist Christi von uns auf andere über, und wir können denen, denen wir helfen müssen, zur Festigkeit im Leben helfen und sie stützen und tragen im Kampf wider den Geist derWelt und uns desWortes unseres Herrn getrösten, daß wir, die wir arg sind, unseren Kindern gute Gaben geben können [Mt. 7,11].

Nachmittagspredigt Himmelfahrtsfest, 24. Mai 1906, [St. Nicolai]¦21¿

Phil. 3,20: Unser Wandel aber ist im Himmel¦22¿

Als es dieser Tage fror und regnete, habt ihr dasselbe gedacht wie ich: Es muß schön werden auf den Himmelfahrtstag. Denn zum Himmelfahrtstag gehört blauer Himmel und Sonnenschein und das Singen und 20

[Siehe S. 752. 27.05.06.]

21 [Der Kirchenbote nennt Schweitzer als Prediger desNachmittagsgottesdienstes.] 22 [,von dannen wir auch warten des Heilands Jesu Christi, des Herrn.]

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Predigten

desJahres 1906

Jubilieren der Vögel, die lachend von des Himmels Bläue trinken, daß man ihnen nachstürzen möchte und sich selber zum höheren und reineren Sein erheben und alles, was uns beschwert, unten liegen lassen. Es liegt etwas Unaussprechliches an Freude und zugleich an Heimweh in diesem Worte «Himmelfahrt». Wenn ich diesem Tag einen Namen geben soll, so möchte ich ihn den Tag des himmlischen Heimwehs unserer Seele nennen. So feiern wir ihn alle, so verschieden wir sonst auch sind. Ihr wißt ja, daß Himmelfahrt und Ostern – ich sagte es euchja in der Osternachmittagspredigt¦23¿ – die Gläubigen, die sich um Jesus sammeln, in zwei Lager teilen. Den einen ist es verliehen, sich die Ereignisse, die wir feiern, Auferstehung und Himmelfahrt, so wörtlich vorzustellen, wie wir sie beschrieben lesen, eine leibhaftige, sichtbare und greifbare Auferstehung und eine leibhaftige, sichtbare und greifbare Himmelfahrt. Und die andern können es nur glauben, wenn sie es mehr geistig begreifen, eine geistige Auferstehung, eine geistige Himmelfahrt. Und es wird so sein, solange es Christen auf derWelt gibt. Keiner darf den anderen des schwächeren Glaubens zeihen, sondern wir müssen uns beide tragen und ertragen und wissen, daß wir nur einem Rechenschaft schulden, unserm Herrn Jesus, und ihm allein, wie St. Paulus so schön sagt: stehen oder fallen! [I Kor. 10,12]! Aber wenn wir nur recht Himmelfahrt feiern. Das hängt ja nicht davon ab, wie wir uns, was in der Geschichte von der Himmelfahrt Jesu steht, vorstellen, sondern wie unsere Seele es feiert, daß es einen Himmel gibt und daß wir diesen Himmel nicht in unerreichbarer Ferne von uns denken müssen, sondern nahe, erreichbar, und daß wir in diesem Himmel ihn finden, den Freund unserer Seele, der uns helfen kann. Und darum mußte ich wieder auf dasWort des St. Paulus zurückgreifen als auf das schönste Himmelfahrtswort und möchte es euch mitgeben, weil es kein so schönes mehr gibt. Ich erinnere mich, daß ich früher einmal schon zu euch am Himmelfahrtstag über dieses Wort geredet habe. Was ich euch damals sagte, ist verweht, vergessen, ich selber erinnere mich nicht mehr, wie ich es euch ausgelegt habe. Aber dasWort selbst ist geblieben, unvergleichlich schön, unvergänglich. Man kann auch so gar nichts hinzusetzen, und möchte es nur immer wiederholen und immer es sich selbst und den andern vorsagen: «Unser Wandel ist im Himmel!» Ist es denn wirklich wahr? Wir fühlen so gut, was der Apostel sagen will, daß wir nämlich äußerlich als schwache, leidende und sorgende Geschöpfe auf dieser Erde wohnen, ganz in ihre Atmosphäre eingehüllt sind, daß aber unser inwendiger Mensch in einer höheren Welt lebt und 23 [Diese Predigt fehlt.]

Unser Wandel aber ist im Himmel

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atmet und darin die Sonne und die Kraft findet, hier auszuharren und seinen Wandel richtig zu führen, bis er abgerufen wird. Aber daß dies sich nun an uns ereigne, das geschieht nicht so von selbst, sondern wir müssen darum kämpfen und ringen, für jede Stunde, jede Minute, in der es uns vergönnt ist, aus dieser Welt uns in die andere hinaufzuretten. Es ist kein Himmel, der über uns ausgestreckt ist, sondern der Himmel, den wir in uns tragen, die höhere, geistige Welt, von der wir ein Stück in uns bergen. Und die Wolken, die ihn uns verhüllen, das sind die irdischen Sorgen, die irdischen Gedanken, der Mangel an Energie im Kampf wider die Sünde, und dann schiebt sich eine graue, häßliche Welt zwischen uns und unsern Himmel, und das Wort «Unser Wandel ist im Himmel» wird für uns zur Phrase, dasuns nur zeigt, waswir verloren haben. Und am heutigen Tage, wo wir das Fest des Herrn feiern, für den diesesWort «Unser Wandel ist im Himmel» Wahrheit war in jedem Augenblick seines Lebens, und der darum uns äußerlich an Gebärden als ein Mensch erfunden und innerlich so ungleich, weil so unvergleichlich heiliger, am heutigen Tage müssen wir uns sagen, daß wir so gar oft nicht gekämpft, wie wir sollten, den Himmel losließen und auf die Erde zurücksanken. Was für trostlose, müde Menschen sind wir doch oft gewesen, ohne Sonne, ohne Licht, weil wir nicht für unser Stückchen Himmel gekämpft haben und untreu gegen unseren inwendigen Menschen wurden und nicht mit ihm hinaufgestiegen, wenn er uns aus der Sünde und demWeltgetümmel hinausführen wollte. Es ist der Mut, den letzten Schritt zu tun. Wir sind wie die, welche bis zur letzten Anhöhe gekommen, und die wissen, daß, wenn sie noch ein wenig steigen, noch eine Anstrengung machen, ein neues, schönes Land vor ihnen liegt und ihr Blick über die Unendlichkeit schweift. Und sie bringen’s nicht über sich und bleiben müde sitzen. Und wenn wir so viele Menschen sehen, die überhaupt den Mut verloren, nach dieser reinen, geistigen Welt sich emporzukämpfen, und sich nun geistig wunschlos und darum kraftlos durchs Leben schleppen, kommt uns eine Angst an, daß auch wir so werden können, daß wir im Leben abgestumpft werden, uns darein finden, ohne Himmel zu leben, und wir fragen uns, ob wir denn nicht auf dem Weg sind, vielleicht ohne es zu wissen, das kostbare Wort «Unser Wandel ist im Himmel» preiszugeben und es nicht mehr mit der ganzen Kraft unseres Willens Wahrheit werden zu lassen in unserm Leben. Daß dieses Himmelfahrtsfest uns daran erinnere und der lachende blaue Himmel uns frage, wie es denn mit dem Himmel aussieht, den unser Geist über sich ausgespannt sehen muß, in dem er schon jetzt daheim sein muß. Und es ist so schön, daß manjedem sagen kann: Kämpfe wacker im Kleinen und im Großen und werde nicht müde, dann muß sich dieser

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Predigten

desJahres 1906

Himmel in dir auftun, er muß es. Und wenn es gar nicht mehr gehen will: Halt aus dennoch, es handelt sich um deinen Himmel, denn ohne Kampf sieht keiner diesen Himmel des Friedens über sich, und seine Seele kann sich nicht drin ausruhen zu neuer Arbeit. Und der Tröster kommt nicht! Dein Heiland kommt nicht. «Unser Wandel ist im Himmel, von dannen wir auch warten unseres Heilands Jesu Christi.» Er meinte vielleicht eine leibhaftige Wiederkunft des Herrn von des Himmels Höhe. Aber sein Wort hat auch eine geistige, ewige Bedeutung, die besteht, wenn auch jene alten, sinnenfälligen Hoffnungen auf eine leibhaftige Wiederkunft Christi für uns nicht mehr bestehen. Denn wenn deine Seele sich zum Himmel durchgerungen und es still in dir geworden ist mitten im Getriebe der Welt, dann kommt er mit seinem Frieden, und du siehst ihn vor dir, zu dir herabgestiegen, als einen, der freundlich mit dir redet und dich mit seinem Wort tröstet, wie keiner dich trösten kann, und dich stärkt, daß du wieder froh, zu leben, wirst. Was dort die Christenheit erhoffte für einen Tag der Endzeit, daß Christus auf Erden wieder sein werde, das erleben wir in den weihevollen Stunden, wo wir unsern Geist zum Himmel erheben, und wissen dann: «Der Herr ist nahe» [Phil. 4,5]. «Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an derWelt Ende» [Mt. 28,20].

Traurede für Georg Walter und Elsa Haas¦24¿ Samstag, 26. Mai 1906,

St.Wilhelm,

Straßburg¦25¿

Eph. 5,9: Wandelt als die Kinder des Lichts

Ihr seid gekommen, um in Andacht des Herzens ein Wort zu erfassen, das euch geistig miteinander verbinde und segensvoll geleite auf dem Weg, den ihr nun miteinander ziehen werdet. Nehmt dieses und bewahrt es fein im Herzen. Es schließe den kostbaren Schatz der Erhebung und Dankbarkeit, der Sammlung und des Glückes ein, die für euch die Weihe dieser Stunde ausmachen. Und achtet darauf, daß ihr es

24 [Elsa Haas gehörte zum Freundeskreis Albert Schweitzers im Radelklub in Straßburg. Siehe dazu S. 21, Anm. 5. Prof. Georg Walter war ein anerkannter Bachsänger. Mit beiden pflegte Schweitzer enge Kontakte. Siehe dazu AS-HB, S. 406 unter Walter

(-Haas), Elsa und Walter, Georg.] 25 [An den Rand geschrieben heißt es: «N-B. Dieses ist Albert Schweitzers Traurede zu unserer Trauung in Strassburg am 26.V.06 in St. Wilhelm (Albert Schweitzers eigen-

händige Handschrift).» Zur Bestätigung dafür hat Schweitzer ganz oben rechts auf der Seite, dreimal unterstrichen, seine Unterschrift hingesetzt.]

Wandelt

als die Kinder des Lichts

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nicht einmal unterwegs verliert oder achtlos beiseite werft und den Weg fortsetzt, ohne mehr geistig durch dieses Wort geeint zu sein. Für die Menschen seid ihr von jeher Kinder des Lichts gewesen, denn euer Tun war von dem Widerschein des Erfolgs begleitet. Ihr kanntet die Arbeit, die Mühe und Sorge vonJugend auf. Aber dasWort «umsonst», das andere oft niederdrückt und ihr Tun wie ein dunkler Schatten einrahmt, hielt sich ferne von euch. Was ihr tatet, geriet euch wohl. Und ihr selber fühlt euchjetzt von dem Lichte desGlückes umstrahlt. Nicht von dem Lichte des Erfolgs. Denn ihr habt es in eurem Leben beide können erfahren, daß dieses Licht nur nach außen leuchtet, aber nicht dauernd nach innen, in die Seele desMenschen hineinscheint, daß alles Gelingen keine Befriedigung gibt, und ihr weite Strecken Weges als müde, gegen euer Los fast undankbare Menschen zurücklegtet. Diese Müdigkeit ist nun von euch genommen, denn ihr habt das gefunden, wonach der Mensch sich sehnt und sehnt, je mehr er im Leben voranschreitet: Verstehen, volles Verstehen. Dieses Verstehen ist heute euer Glück und euer Reichtum. Es ist euch, als ob wie durch ein Wunder ein neues Leben über euch gekommen ist. Gedanken, von denen ihr nicht wußtet, daß sie in euch schliefen. Gedanken des freudigen und ernsten Schaffens, tiefe und herrliche Gedanken fühlt ihr in euch entstehen, als hätte daseine in dem anderen Erstarrtes und Gebundenes geweckt. Es ist euch, als ob ihr das Leben jetzt erst verständet und was das wahre Streben desLebens sei, dasStreben nach oben. Ihr habt fast etwas wie Mitleid mit den Menschen, die nicht mit derselben zuversichtlichen Lebensfreudigkeit erfüllt sind wie die, welche ihr in diesen vergangenen Wochen an euch erlebtet, und die nicht durch ein solches Verstandensein aus der Alltäglichkeit herausgehoben worden sind und in dem Lichte wandeln, welches seine Klarheit auf euren Weg wirft. Und wenn auch die Menschen sagen, daß auch ihr wieder in die Alltäglichkeit zurückfallen werdet, wenn die Alltagsarbeit bei euch wieder in ihre Rechte tritt, wollt ihr es nicht glauben, denn ihr vermögt es nicht zu fassen, daß es für euch wieder eine Alltäglichkeit geben soll, die diesen Reichtum an gemeinsamen Tiefen und freudigen Gedanken, derjetzt euer herrlicher Besitz ist, aufzehren kann. Daran tut ihr recht. Sie reden euch auch von den Sorgen, in deren Macht ihr vielleicht ausgeliefert werdet. Ihr werdet aber nicht bange, sondern es erfaßt euch wie ein Trotz wider diese Gespenster, die man vor euch heraufbeschwört und die euch alte Bekannte sind, da ihr sie in eurer Kindheit im elterlichen Hause umgehen saht und wißt, was die Not und der Kampf des Lebens ist. Ihr möchtet wissen, welches das Schicksal ist, das euch etwas anhaben kann, wenn ihr innerlich miteinander verbunden seid, und denkt bei euch selber, daß alles, was ihr vielleicht durchmachen müßt, euch nur inniger vereint und zuletzt Reichtum für euch werden muß.

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Predigten

desJahres 1906

Und auch daran tut ihr gut. Möge es euch also beschieden sein. Es sei das Licht eures Glücks kein natürliches Licht, das Schatten wirft, sondern ein geistiges, dassie aufzehrt. Nun: «Wandelt wie die Kinder des Lichts.» Und dennoch sage ich euch: «Wandelt wie die Kinder des Lichts» nicht nur als die, die in der Helligkeit wandeln, sondern als die, von welchen Helligkeit ausgeht und andern hilft. Wir alle sollen nach demWillen unseres Herrn Quellen des Lichts sein, die in seinem Geist Menschen etwas geben und das geistige Licht Gottes in Menschenherzen hineinscheinen lassen, denn sonst haben wir vergebens gelebt. Aber unsere Seele atmet selten frei genug, als daß wir das Kostbare unseres Menschenberufs als wollende Menschen klar erfassen können. Darum schickt uns Gott Stunden des tiefen Glücks, daß uns in ihnen die Augen aufgehen werden über das Wollen und Müssen, das unser Leben kostbar macht. Und wenn ihr in dieser Stunde es nicht in gemeinsamem Erkennen undWollen erfaßt, wasihr zusammen den Menschen sein wollt, daß euer Leben einen Wert bekomme vor Gott und den Menschen, so habt ihr das Herrlichste eures Glücks zwischen den

Fingern entrinnen lassen. Und es ist euch so leicht gemacht, denn euer natürlicher Beruf ist Leuchten und Geben. Eure alltägliche Beschäftigung ist nicht, wie bei den meisten Menschen, etwas, das man gewissenhaft tut, weil es zur Pflicht und zum Unterhalt des Lebens gehört, sonst aber mit dem Sehnen und Streben, mit dem inneren Erleben nichts zu tun hat, sondern euer Beruf ist zugleich euer Leben. Und weil durch die Harmonie, die in eurem Dasein liegt, ihr von andern als solche bezeichnet seid, die nehmen und geben dürfen, so müßt ihr auch vor andern danach streben, daß inWahrheit etwas Geistiges von euch ausgehe auf die Menschen. Vielleicht dürfen Sie¦26¿ bei sich sagen, daß Sie schon danach gestrebt, und andere bezeugen Ihnen, daß Ihr Streben nicht eitel war. Mehr als andere haben Sie, lieber Bräutigam, die Gabe empfangen, den Menschen nicht nur Kunst, sondern Erbauung zu geben. Die Wände dieser Kirche wissen darum. Wenn wir uns, Hörer und solche, die mit dir wirkten, hier zusammengefunden haben, ist es nicht nur Anteilnahme an Ihrer Freude, sondern wir freuen uns mit Ihnen als die Dankbaren, als die, welchen Sie schon Evangelium ins Herz gesungen haben, als die, welche zu Gott bitten, er möge es Ihnen in Gnaden verleihen, noch lange als Künstler zu predigen. Und beide, indem Sie wissen, daß Sie die Gnade empfangen haben, durch Kunst den Menschen Licht zu spenden, wissen Sie auch, daß von wahrem Licht nur so viel in der Kunst ist und von Menschen empfan26 [Der Wechsel in der Anrede zwischen du, Sie, ihr und euch ist heute noch in vielen elsässischen Familien üblich.]

Wandelt

als die Kinder des Lichts

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gen werden kann, als die, welche geben, reich sind am inwendigen Menschen, und daß alles andere Flitterkunst ist, die gleißt und strahlt und doch kein Licht der Wahrheit gibt. Darum muß in dieser Stunde zwischen Ihnen das heilige Gelöbnis besiegelt werden, eines dem andern hienieden begegnet zu sein, nicht um mit ihm geradeaus eben zu gehen, sondern um es mit sich aufwärts zu ziehen und reich zu machen am inwendigen Menschen, von diesem Augenblick an bis zur letzten Minute, wo Sie auf Erden zusammen sind. Es gibt viele Menschen, die von der Trauung die Kirche verlassen, und es war zum letzten Mal, daß sie die Andacht innerlich vereinte, zum letzten Mal, daß die tiefsten Fragen sie gemeinsam bewegten. Sie erschlossen fürderhin nicht mehr die Frömmigkeit eines vor dem andern und fanden sich darein, nebeneinander herzugehen, ohne miteinander von dem letzten Sehnen ihres Lebens zu sprechen, ohne Feierstunden der innerlichen Andacht. Ihr aber wollt, daß es bei euch nicht also sei, sondern daß dasVerstehen, welches euch jetzt glücklich macht, nur der Anfang eines Verstehens sei, das euch durch alles Erleben begleite, sich darin vertiefe und euch miteinander zur geistigen Welt emporführe und euch stelle vor den ewigen Grund des geistigen Seins, von dem unser Wesen stammt, mit dem es sich hier eins fühlen muß und wohin es zurückkehrt. Möge euer Verstehen einVerstehen werden, das euch in Frömmigkeit und Glauben eint, daß in eurer Kunst durch Frömmigkeit und Glaube vertiefte Menschen zu Menschen werden. Ich meine aber, ihr müßt unter den Menschen noch ein anderes Licht leuchten lassen als das unserer Kunst, das Licht der reinen helfenden Menschenliebe. Es liegt fast wie eine Gefahr in der Kunst, daß sie sich vor der Welt abschließt und den Ihren verbirgt, was sie als Menschen in der Welt an Menschen tun müssen. Mit dem heutigen Tage, wo ihr einen eigenen Herd gründet, tretet ihr aus eurer Familie heraus, nicht um euch selber allein zu gehören, sondern der großen Familie, die uns unser Meister gegeben hat, den Menschen, für die er unsbraucht. Erwartet auch, daß er euch Menschen in denWeg schicken wird, denen ihr müßt Nächste sein. Haltet die Augen auf, daß ihr nicht achtlos an ihnen vorübergeht, wacht über euer Herz, daß es nicht in Gleichgültigkeit fühllos wird, und tut in Schlichtheit und Einfalt an ihnen, was ihr alsJünger unseres Meisters an ihnen tun müßt. Denn wenn dasFeuer der Liebe Jesu von eurem Herd aus nicht in unsere arme Welt hinaus leuchtet, seid ihr nicht in Wahrheit Kinder des Lichts und eure Kunst fällt unter das Gericht desWortes des St. Paulus: «Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz» [I Kor. 13,1]. Was ich hier ausspreche, ich weiß es, sind nur die Schatten der tiefen und heiligen Gedanken, die, ohne der Worte zu bedürfen, sich in euch

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Predigten

desJahres 1906

und zwischen euch jetzt bewegen und euch geistig einigen. Mögen sie wahrhaft Leben werden in euch und ihre Wurzeln tief hineinsenden in euer gemeinsames Wirken und Schaffen und ihr miteinander Gottes Kinder, Kinder des Lichts werden: Das ist unser Glückwunsch und Gebet für euch.¦27¿

Morgenpredigt nach Himmelfahrt, Sonntag, 27. Mai 1906,¦28¿

[St. Nicolai]¦29¿

Phil. 2,5– 11: [Glaube anJesus Christus als an den Herrn]¦30¿ Diese Predigt bildet die Fortsetzung zu der am letzten Sonntag.¦31¿ Wir betrachteten die Szene, wo nach derVerklärung Jesu ein Mann ihn aufhält, um ihn für die Heilung seines Sohnes zu bitten, und der Herr ihn als dritten zwischen sich selbst und das Kind stellt, dem er helfen soll, und ihn fragt: Hast du Glauben? und es davon abhängig macht, ob er seinen Sohn heilen kann. Das ergriff uns so, als wir darüber nachdachten, weil wir erkannten, daß Jesus nach dem Glauben fragt nicht aus Härte, um den Schwergeprüften nun selber auf die Probe zu stellen, sondern weil er einem ehernen Gesetz folgt, daß seine Kraft, um auf Menschen überzugehen, durch andere Menschen hindurch muß, daß er dritte Menschen braucht, die er zwischen sich und andere stellt, um ihnen zu sagen: Nun hängt’s von deinem Glauben ab, ob diesem Menschen geholfen werden kann, ob mein Geist in ihm Herr über den bösen Geist derWelt wird. Und wir erschraken zugleich, denn jeder erkannte sich als dritten Menschen, die Eltern ihren Kindern gegenüber, wir alle den Menschen 27 [R] Geschrieben an Christi Himmelfahrt 1906. 28 [Am 26. Mai 1906 schreibt Albert Schweitzer an Helene Bresslau:] «Ich mache mich mit Freude an die Niederschrift meiner Predigt ... 1½ fertig. Im letzten Teil habe ich die Sätze nur skizziert. Ich werde sie dann morgen nach dem Gottesdienst ausschreiben.» [Zentralarchiv Günsbach.] 29 [Der Kirchenbote vom 26. Mai 1906 bestätigt, daß diese Predigt in St. Nicolai gehal-

ten wurde.] 30 [Ein jeglicher sei gesinnt, wieJesus Christus auch war: welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er’s nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden; er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zumTode, ja zumTode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht undhat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes, des Vaters.]

31

[Siehe S. 740. 20.05.06.]

Glaube

anJesus

Christus

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gegenüber, die das Leben mit uns zusammenführt, daß wir ihnen geistig aufhelfen: die Suchenden, die Müden, dieVerzweifelten, die Verbitterten, die Angefochtenen, dieVersuchten... Da stehen wir alle vor der Frage: Haben wir genug Glauben, daß wir sie stärken können, daß es nicht hohle Worte sind, die von uns ausgehen, sondern Kraft? Wenn wir ehrlich mit uns selber sein wollen, müssen wir sagen: Unser Glaube ist sehr gering. Er kämpft schwer mit dem Unglauben und wird fast verzehrt von ihm. Das Bekenntnis jenes Mannes: «Ich glaube, lieber Herr; hilf meinem Unglauben!» [Mk. 9,24] ist auch das unsere. Und der Herr nimmt es an und verwirft uns nicht, so schwach es ist, wenn es nur aufrichtig und wahr ist. Das heißt, es kommt darauf an, und nur darauf, ob ein Mensch sagen kann: Ich glaube anJesus als meinen lieben Herrn, aber so, daß es wirklich Wahrheit für ihn ist. Dann hat er in diesem Glauben den ganzen Glauben, mag er auch sonst zweifeln, daß er es niemand sagen kann, an Dingen, die zu dem eisernen Bestand des Glaubens gehören ... Wenn er nur an Jesus Christus als seinen Herrn glaubt. Dann ist er auf demWeg zum wahren Glauben, und es kommt nicht darauf an, bis zu welcher Klarheit der Erkenntnis sein Glaube sich ausreift auf dieser Welt, wo wir doch alles nur stückweise erkennen, der eine vielleicht klarer als der andere, aber alle doch nur nach dem Worte des Paulus: «Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort» [I Kor. 13,12]. Wo der wahre Glaube an Jesus ist, da ist die wahre Kraft des Glaubens, der Stamm, der alles trägt. Was heißt das aber nun für uns: Ich glaube an Jesus Christus als an meinen Herrn? Darüber müssen wir uns klar werden. Und hier wiederum glaube ich, das auszusprechen, was ihr schon oft gedacht habt, wenn ich sage, es kommt auf das Äußerliche nicht an. Früher haben die Menschen viel darüber gestritten, wie denn die Göttlichkeit Jesu vorzustellen sei. Ich meine, wennJesus es für nötig gehalten hätte, daß die Menschen alle dieselbe Vorstellung darüber haben, hätte er in der Bergpredigt ein Wort darüber gesagt. Nicht anders steht es um die Art, wie wir eine menschliche und eine göttliche Natur in ihm nebeneinander anzunehmen haben, wie und wo wir ihnjetzt als Geistwesen zu denken haben. Die einen werden ihn wie die älteste Christenheit als ein Wesen denken, das räumlich in einem räumlichen Himmel zur Rechten Gottes sitzt und mit ihm herrscht und mitregiert, die andern, welche Gott selber mehr als einen Geist fassen, in welchem wir leben und weben, der alles durchdringt, überall ist, werden auch Christus mehr als einen Geist fassen, der überall da allgegenwärtig ist, wo sein Wort ein Menschenherz ergreift. Ich meine, es sind so viele Fragen, die sind abgetan, nicht weil sie gelöst sind oder die Menschen nicht mehr darüber diskutieren könnten,

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sondern weil das Leben darüber zurTagesordnung gegangen ist und andere Fragen gestellt hat. Wir sindja darüber einig, daß unsere Welt zum Glauben anJesus als den Herrn nicht bekehrt wird dadurch, daß man es ihr erklärt undbegreiflich machen will, daß manvielleicht alte Formeln in neue umdeutet und meint, es sei etwas gewonnen. Ich las jüngst ein Buch eines großen zeitgenössischen Denkers, der schreibt: «Jesus ist gar nicht der Herr, sondern er ist ein tiefsinniger, genialer jüdischer Schriftgelehrter, der in manchem seiner Zeit weit vorausgeeilt, in manchem noch ganz in ihren Vorurteilen befangen ist, der aber nicht der Geist ist, der über unsere Zeit herrschen kann undihr helfen kann.» Und ich sah, daß es ein Mann war, der die Schrift kannte, und stellte mir vor, daß wir uns einmal irgendwo begegnen könnten und durch Zufall ins Gespräch kämen. Wie wollte ich ihm dann bewei-

sen, daß er irrt! Und je mehr ich darüber nachdachte, je mehr erkannte ich, daß ich mit Worten ihm gegenüber machtlos war, da ich ihm doch von dem, wasJesus war, nicht mehr sagen könnte, alswaser selber gelesen hatte. Und ihr selber fühlt diese Machtlosigkeit den Menschen gegenüber, für dieJesus nichts ist als ein Mann der Vergangenheit, deren Knie sich nicht beugen wollen, deren Zungen nicht bekennen wollen, daß er einen Namen erhalten hat, «der über alle Namen ist», und daß er der Herr ist. Und von dir weißt du, daß, wenn er dein Herr ist, er es nicht geworden ist durch Überlegung, indem du ihn verglichst mit andern großen Männern und seine Größe abwogst, sondern es stand dir auf einmal klar und fest: Der ist mein Herr, dem muß ich gehorchen. Vielleicht war es nicht in einem Augenblick ... vielleicht reifte der Gedanke langsam in dir ... vielleicht ist er noch nicht einmal ganz klar und ganz reif in dir; aber du umkreisest ihn wie in einer Spirale, die mit ihren Windungen doch unfehlbar auf ihn zuführt. Das ist das einzige, das du zu verantworten hast, ob er für dich Herr ist, oder ob du dich auf dem Wege weißt, daß er dein Herr wird. Als Herr wird er der ungläubigen und gleichgültigen Welt offenbar durch die Menschen, über die er herrscht. Und mögen es nur einige hundert in jeder Stadt sein: Diese Menschen, die sich in Gehorsam unter ihn beugen, sind der Anfang seiner Herrlichkeit. Denn durch sie, und nur durch sie, wird er offenbart als einer, der herrscht. Aber dürfen wir denn das von uns sagen: Wir glauben an Jesus als den Herrn, weil er in unsherrscht? Ist dasnicht zuviel gesagt, viel zuviel für uns? Wann darfst du das von dir sagen? Nehmen wir einer des andern Leben, wie wir es von außen betrachten können, das Leben der Menschen, die wir kennen. Sieht man denn da, daß in diesem Leben ein Gebieter ist? Muß nicht das Dasein eines Menschen, bei dem es wahr sein soll, Jesus ist der Herr, etwas ganz anderes, ausder Ordnung unseres

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Lebens ganz Herausfallendes sein, ein Leben, bei dem es in allen Handlungen offenbar wird: Das ist durch denWillen Jesu diktiert? Auf diese Frage ist sehr schwer zu antworten. Ich bin überzeugt, daß, wennJesus in Wahrheit Herr ist, viele Leben äußerlich sichtbar ein ganz anderes Aussehen gewinnen würden und in einer ganz andern Bahn laufen würden, als siejetzt laufen, wie soll ich’s sagen, daß durch denWillen Jesu viel mehr Menschen alsjetzt für die Aufgaben, wo er sie nötig hat, ausdem Familienkreis weggerissen, von ihrem vorgezeichneten Berufsweg abgedrängt würden, viel mehr Tun fürJesus sichtbar vor derWelt offen daläge. Darüber dürfen wir uns insgesamt und darf sich keiner unter uns für sich selber hinwegtäuschen oder hinwegreden wollen. Und dann wieder meine ich, viele Leben behielten dennoch ihre nach außen hin unscheinbare Gestalt, eingefügt in eine Tätigkeit, in eine Alltäglichkeit, der es nicht auf die Stirne geschrieben ist: Das ist ein Tun im Gehorsam Jesu ... und wären dennoch Leben, in denen Jesus als Herr herrscht. Darum können wir äußerlich nicht sagen: In diesem Leben ist Herrschaft Jesu, in diesem nicht, sondern das weiß jeder von uns nur von sich selber, weil er sein Leben von innen heraus sieht. Undjeder muß es mit sich und seinem Herrn ausmachen, ob er dasTun seines Lebens so eingerichtet hat, daß er diesem höheren Willen gehorcht, oder ob er das Wort «Herr» nicht mehr aussprechen kann, weil Jesus dasTun seines Lebens nicht bestimmt. Von dieser Verantwortlichkeit kann ihm keiner ein Wort zu und ein Wort weg reden, sondern er muß sie allein tragen und jeden Tag vor dem Angesicht seines Herrn von seinem Tun als einem anvertrauten Pfund [Mt. 25,14–30] Rechenschaft geben. Siehe, wenn du dieses Gefühl lebhaft hast, daß du jeden Tag mußt Rechenschaft geben, dann fängt Jesus schon an, ein Herr für dich zu sein. Und wenn einer für viele reden kann, so möchte ich sagen, daß bei jedem von uns in seinem Leben mehr Gehorsam gegen den Herrn ist, als man es ihm äußerlich ansehen würde, und daß er in Wahrheit mehr in uns herrscht, als die andern es von uns und wir es von den andern wissen können. Wir wissen aber auch, mehr als die andern es von uns wissen und wir von ihnen, wieviel Ungehorsam gegen diesen, den wir als unsern Herrn bekennen, in unserm Leben ist, wo wir mit klarem Bewußtsein gegen den Willen, dessen Befehle wir kennen und die wir klar in uns vernahmen, handelten. Ich brauche nichts aufzuzählen. Wer von uns hat einen Tag, wo er sagen könnte, daß er nicht nötig hatte, sich von dieser Scham, einen Herrn zu haben, klar zu wissen, was er tun mußte, und es nicht zu tun, niederdrücken zu lassen?

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Bist du nicht abends manchmal nach Hause gekommen, und das Treppensteigen wurde dir schwer, weil du aufjeder Stufe hättest stehen bleiben mögen wegen des Ungehorsams gegen ein Wort Jesu, dem du während des Tages zuriefst: Schweig doch und stör mich nicht, gegen welches du dich entschuldigtest und meintest, du wärst es losgeworden, und am Abend begegnete es dir wieder wie ein Mensch mit einem traurigen Gesicht? Auch da kann dir niemand etwas hineinreden. Und keiner kann dich von der Frage befreien, ob dennJesus noch wirklich der Herr deines Lebens ist. Aber kämpfen wollen wir darum, daß er es sei. Und solange du ein Muß fühlst, dasdich emporträgt und dann wieder beschämt, solange du kämpfst, darfst duJesus als deinen Herrn bekennen, und dein Bekenntnis gilt als Glaube vor ihm, und deine Schwäche, weil du fühlst, daß du schwach bist als einer, der ihm in Wahrheit dienen will, ist dein Glaube vor ihm. Das wahre Kämpfen.¦32¿

Morgenpredigt Sonntag, 24. Juni 1906, St. Nicolai Pauluspredigt 1: Pauli Leben

II Kor. 12,9: Laß dir an meiner Gnade genügen

Wir stehen jetzt in der festlosen Zeit des Kirchenjahrs. Als Kind mutete sie mich traurig an, und ich hatte fast Mitleid mit diesen Sonntagen zweiter Ordnung, die von keinem vorangehenden oder nachfolgenden großen Feste Licht empfangen, sondern wie unter bedecktem Himmel in langer, monotoner Reihe dahinziehen und das Abnehmen der Tage begleiten zur Zeit der ersten Mahd, zur Zeit der Ernte, zur Zeit des fallenden Laubes, bis die ersten Schneeflocken in der Luft herumwirbeln und unsere Glocken den ersten Adventssonntag einläuten. Nun möchte ich in dieser ersten Zeit der festlosen Sonntage mit euch ausruhen. Seit Monaten war in unsern Predigten der Blick immer aufJesus gerichtet. Wir stellten uns in dasAngesicht seiner Sprüche und fragten uns, welche Ernte er an uns finden würde, und wohl uns, wenn diese Fragen tief in uns hineindrangen. Jetzt aber wollen wir aus uns heraustreten und miteinander durch das Saatenfeld der Kirche Christi wandeln und uns freuen an allem, was blüht und reift, wie wenn wir miteinander auf Feldwegen einherwandelten und die schon schweren 32 [Von hier an besteht dasManuskript ausStichwörtern.]

Laß dir an meiner Gnade genügen

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Ähren durch unsere Finger gleiten ließen, und uns an den Menschen erbauen, die von seinem Geiste ergriffen waren. Da ist einer, der einzig groß ist: Paulus. Ihm seien die Morgenpredigten der kommenden Sonntage geweiht. Wir wollen uns in sein Leben, sein Wirken und seine Lehre versenken, und ich möchte, daß ihr im Anschluß an unsere Betrachtungen das kostbare Vermächtnis, das er uns in seinen Briefen hinterlassen hat, in stillen Stunden vornehmt und das Wehen seines Geistes über euch dahingehen laßt. Von seinem Leben wollen wir heute reden. Wir sehen die Apostel nicht genug als lebendige Menschen, sondern immer etwas zu sehr so, wie sie in den Kirchenfenstern stehn in schönem blauem oder granatfarbenem Rock, der in kunstreichen Falten über sie geworfen ist, wo man sich aber immer fragt, wie sie darin schreiten konnten. Aber es waren lebendige Menschen, und wenn einer unter ihnen ein lebendiger Mensch war, so war es Paulus. Und wenn ihr ihn euch vorstellen wollt, stellt ihn euch vor, wie man ihn nicht malen kann: auf einer heißen, öden Landstraße Kleinasiens ein Mann in abgetragenem, unten ausgefranstem Rock, den Stecken in der Hand, mit nackten Füßen im Staub dahinziehend, dem Aussehen nach ein Bettler. So stellt ihn euch vor. So stellt ihn euch vor, denn das Ansehn trügt hier nicht: Er war ein Bettler, denn er bettelte in der ganzen Welt um Gehör für das Evange-

liumJesu. Wie war seinWuchs? Niemand weiß es.Wir wissen überhaupt so wenig von seinem Leben. Daß er in Tarsus geboren, daß sein Vater römischer Bürger war, daß er ein Schüler des berühmten Schriftgelehrten Gamaliel [Act. 22,3] war, ist uns mehr wie durch Zufall überkommen. Sonst aber ist uns nur ein kurzer Ausschnitt seines Lebens sichtbar. Er beginnt mit seiner Bekehrung. Wer aber versteht, wie es dabei zugegangen? Der Mann, derJesuJünger verfolgte, bricht auf der Straße nach Damaskus zusammen und hat ein Gesicht, in welchem er den verklärten Herrn zur Rechten Gottes sieht und seine Stimme vernimmt. Und von jenem Augenblick an trägt er die Fesseln Christi, wird von ihm über Länder und Meere gejagt, hat keine Ruhe und darf nur darauf sinnen, wie er ihm diene. Das ist alles, waswir wissen. Wir möchten es uns psychologisch erklären: daß die Erinnerung des sterbenden Stephanus, dessen brechendes Auge den Herrn auf seinem Thron geschaut, und der mit dem Rufe: «Siehe, ich sehe den Himmel offen und desMenschen Sohn zur Rechten Gottes sitzen» [Act. 7,55] unter den Steinwürfen zusammengebrochen war, den Verfolger nicht schlafen ließ, daß der Herr durch das unverlöschliche Bild jenes ersten Märtyrers an ihm arbeitete, daß aber der trotzige Mensch in Paulus sich wehrte und, wie um sich selbst zu betäuben, die Verfolgung mit immer größerem Eifer betrieb, daß dann, als er körperlich zusammenbrach, es war wohl ein Anfall von fallendem Weh, der Trotz auch zusammen-

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brach, und ein schwacher, noch zeitweilig erblindeter Mensch aufstand, der aber innerlich sehend geworden war. So möchten wir es natürlich zu erklären suchen! Aber wer kann denn die seelischen Vorgänge erklären? Können wir denn das, was wir selber an uns erleben, erklären? Ist nicht das wahre Erleben des Menschen da, wo sein Wesen mit der geistigen Welt zusammenhängt und durch ihre Gesetze bestimmt wird, unergründlich, geheimnisvoll? Kennt ihr nicht dasWort des Herrn an Nikodemus im Evangelium des St. Johannes: «Der Wind weht, wohin er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt. Also ist einjeglicher, der ausdem Geist geboren ist» [Joh. 3,8]? Dann kommen siebzehn dunkle Jahre, wo der Apostel unserm Blick entschwindet. Er selber gedenkt dieser Zeit nur mit wenigen Worten im ersten Kapitel desBriefes an die Galater. Von Damaskus warer nach Arabien gegangen, dann, drei Jahre nach seiner Bekehrung, war er auf wenige Tage insgeheim nach Jerusalem gekommen, um einige der Apostel kennenzulernen, und ging dann nach Syrien und in die Gegend von Zilizien, wo seine Heimat war. Gegen das Ende dieser siebzehn Jahre fand er sich mit Barnabas zusammen und predigte mit ihm auf der Insel Zypern und in den Städten des südlichen Kleinasiens, zu Antiochia, Ikonium, Lystra und Derbe, wie uns im 13. und 14. Kapitel der Apostelgeschichte berichtet wird. Dann kommen die fünf oder sechs letzten Jahre seines Lebens, wo wir wenigstens notdürftig über die äußeren Ereignisse seiner Existenz unterrichtet sind. Nach einer Unterredung mit den Aposteln in Jerusalem, wo er ihr Mißtrauen, als predigte er ein anderes Evangelium als sie, zerstreuen muß, durchquert er, man nennt dies die zweite Missionsreise, sie steht im 16.– 18. Kapitel der Apostelgeschichte, ganz Kleinasien nach Norden zu und wird, er erzählt es selbst im Brief an die Galater, im wilden Berglande Galatiens angekommen, schwer krank. Wie lange er unter den Gemeinden, die er dort in schwerer körperlicher Anfechtung gründete, weilte, wissen wir nicht. Dann geht’s ans Mittelländische Meer, westwärts nach Troas. Von dort wird er durch ein Gesicht nach Mazedonien gerufen und kommt über Philippi, Thessalonich und Athen nach Korinth und saß daselbst, wie die Apostelgeschichte lehrt, einJahr und sechs Monate undverkündete dasWort Gottes. Dann kehrt er nach Jerusalem zurück, um als Jude zum Tempel zu wallfahren und ein Gelübde, das er auf sich genommen hatte, wir wissen nicht, welches, zu lösen. Dort hatte dieVerdächtigung in seiner Abwesenheit das Ihre geschafft. Sogar Petrus war an Paulus irre geworden und wollte zu Antiochia in Syrien nicht an einem Tische mit den Christen ausden Heiden essen. Vonjenem Tage an hat Paulus nur noch einen Gedanken: die Christen zu Jerusalem mit den Heidenchristen zu versöhnen. Er meint, es könne dazu kommen, indem er unter seinen Ge-

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meinden allenthalben eine Sammlung veranstaltet für die Gemeinde zu Jerusalem, die durch Hungersnöte, welche damals Palästina heim-

suchten, schwer betroffen worden war. Wieder ergreift er den Wanderstab und zieht nun auf der dritten Missionsreise denselben Weg wie auf der zweiten quer durch Kleinasien bis nach Galatien, von dort ans Meer nach Ephesus, wo er zwei Jahre blieb und täglich in der Schule eines Mannes, der Tyrannus hieß, lehrte. Aber die Gemeinden allenthalben bat er durch Wort und Brief, sie sollten am Sonntagmorgen unter sich sammeln, dann wollte er alles Geld, das zusammengekommen war, als Liebesgabe nach Jerusalem bringen und je zwei Gesandte ausjeder Provinz sollten ihn begleiten, daß dieVersöhnung in Jerusalem gefeiert würde. Dann wollte er selbst, er schrieb’s injenen Tagen im Brief an die Römer, dasMorgenland verlassen, über Rom nach Spanien gehen und sich dort ein neues Arbeitsfeld suchen. Noch einmal wanderte er dem Meer entlang durch Griechenland nach Korinth. Von dort fuhr er der Küste entlang denselben Weg zurück. In Mazedonien trafen die Abgesandten der Provinz mit den Geldern für Jerusalem bei ihm ein. Zu Troas feierten sie das Nachtmahl, und Paulus redete zu ihnen die ganze Nacht, bis der Morgen anbrach. In Milet nahm er Abschied von den Ältesten der Gemeinde zu Ephesus [Act. 18–20]. Da er nach Jerusalem kam, empörten sich die Juden wider ihn, da das Gerücht ging, er hätte frühere Heiden mit in denTempel genommen und das Heiligtum geschändet. Die Wache der Römer entriß ihn derWut desVolkes. Paulus versuchte, von den Stufen der Burg aus zu reden. Sie schrien ihn nieder. Da eine Verschwörung gegen ihn zustande kam, und der Hauptmann ihn nicht mehr schützen zu können glaubte, sandte er ihn des Nachts unter sicherer Begleitung ausJerusalem fort und ließ ihn nach Cäsarea führen. Dort saß er zwei Jahre gefangen unter dem Landpfleger Felix. Der zog seinen Prozeß in die Länge, um etwas zu haben, wodurch er sich die Priester und Ältesten des Volks gefügig machte. Zuletzt hätte er ihn, wie einst Pilatus es mit Jesus tat, geopfert, wenn Paulus als römischer Bürger sich nicht auf den Kaiser berufen hätte. Als Festus, der Nachfolger des Felix, kam, wollte er die Sache los sein und sandte den Gefangenen nach Rom. Aus dem Schiffbruch wunderbar gerettet kam er nach der Hauptstadt, bewegte sich dort in leichter Haft zwei Jahre lang und predigte als ein Gefangener. Sein Ende kennen wir nicht. Die Apostelgeschichte bricht hier ab [Act. 21–28]. Reichte seine Gefangenschaft bis in dieTage der Christenverfolgungen Neros im Sommer desJahres 64, wo er dann mit andern Märtyrern eine der lebenden, brennenden Fackeln in den vatikanischen Gärten abgab? Vielleicht zugleich mit dem Apostel Petrus? Die Über-

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lieferung feiert ihren gemeinsamen Tod am Peter- und Paulstag, der in diese Woche fällt. Oder kam er frei und konnte seinen Plan, nach Spanien zu gehen, ausführen ... und starb als ein unerkannter Fremdling, daß niemand in der Christenheit den Ort und die Zeit wußte, da er aus derArbeit heimgerufen wurde? Wir wissen es nicht, dawir über sein Ende nur Legenden besitzen. Grauen und Bewunderung erfaßt einen bei der Betrachtung dieses Daseins. Grauen: Denn es war, menschlich geredet, eine trostlose Existenz. Der Mann, der ruhelos, um für Christus Seelen zu gewinnen, über die Meere dahinfuhr und die Länder durchquerte, der Tausende von Kilometern zurückgelegt hat, war ein kranker Mann. Wir wissen nicht, welcher Art sein Leiden war; er nennt es nie mit Namen, aber alles deutet darauf hin, daß es die fallende Krankheit war. Er dankt es den Galatern im 4. Kapitel seines Briefes an sie, daß sie sich seiner Schwachheit und Krankheit nicht schämten und ihn darob nicht verachteten. Der kranke Mann aber wurde gehetzt wie einWild. DieJuden verziehen es ihm nicht, daß er, der Mann, auf den die Eiferer für das Gesetz ihre ganze Hoffnung gesetzt, die Sache des Gesetzes verraten hatte und nicht nur für Jesus eintrat, sondern viel weiter ging als Petrus, Jakobus undJohannes, indem er die Heiden als Abrahams Kinder erklärte. Die Apostel zu Jerusalem lebten in Sicherheit. Auf Paulus aber lauerte der Dolch schon zu Damaskus, daß ihn die Brüder in einem Korb des Nachts an der Stadtmauer hinablassen mußten, da die Verschworenen dieTore bewachten [Act. 9,23–25]. Nun heften sie sich an seine Fersen. Kaum ist er irgendwo, sind sie auch da und wiegeln die Juden auf. Er hat kaum jemals eine Stadt im Frieden verlassen, sondern der Aufruhr, der nicht gegen das Christentum, sondern gegen seine, desRenegaten Person, gerichtet war, vertrieb ihn. Er war seines Lebens nicht sicherer als ein König heutzutage und war doch nur ein armer Handwerker. Als er das letzte Mal von Korinth aufbrach, sollte er direkt über dasMeer nach Ephesus fahren. Im letzten Augenblick erfuhr er, daß er auf dem Schiff erdolcht werden sollte, und änderte seinen Plan und reiste zu Fuß über Mazedonien. Von da an wußte er, daß er seinem Schicksal nicht entrinnen würde. Wie mag seine Stimme gebebt haben, als er zu den Ältesten von Ephesus, die nach Milet kamen, von ihm Abschied zu nehmen, sagte: «Und nun siehe, ich, im Geiste gebunden, fahre hin genJerusalem, weiß nicht, wasmir daselbst begegnen wird, nur daß der heilige Geist in allen Städten bezeugt und spricht, Bande und Trübsale warten mein daselbst» [Act. 20,22 f.]. Als er auf der Burg zu Jerusalem in Fesseln lag, verschworen sich mehr denn vierzig Juden, weder zu essen noch zu trinken, bis daß sie Paulus getötet hätten.

So bestehet nun in der Freiheit

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Vor jener letzten Reise nach Jerusalem faßte er im 2. Brief an die Korinther den Ertrag seines Lebens in folgenden Worten zusammen (II Kor. 11,24–28): «Von denJuden habe ich fünfmal empfangen vierzig Streiche weniger eins; ich bin dreimal gestäupt, einmal gesteinigt; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten; ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen zuWasser, in Gefahr unter den Mördern, in Gefahr unter den Juden, in Gefahr unter den Heiden, in Gefahr in den Städten, in Gefahr in der Wüste, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter den falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße; außer was sich sonst zuträgt, nämlich, daß ich täglich werde angelaufen und trage Sorge für alle Gemeinden.»

[Morgenpredigt] Sonntag, 15.Juli 1906,¦33¿ [St. Nicolai] Pauluspredigt 2: Das Evangelium der Freiheit

Gal. 5,1: So bestehet nun in der Freiheit Paulus ist ein Befreier. Ich weiß nicht, inwieweit er einem jeden von euch der persönliche Befreier geworden ist, der christliche Bruder, den man findet, wenn man müde und verzagt ist, weil er selber so unter der Müdigkeit und Verzagtheit fast zusammenbrach, und der einen dann bei der Hand nimmt, als sagte er: Komm mit hinaus, ich führe dich der Sonne entgegen, und uns mit seinen herrlichen Worten frei macht von dem, was unsbedrückt, und still und glücklich. Aber daß er unser gemeinsamer Befreier geworden ist, daß alles, was seit Jahrhunderten Christennamen trägt und ihn in Zukunft tragen wird, daß diese alle ihm Dank schulden, weil er dasChristentum befreit hat von den Fesseln eines äußerlichen Gesetzes, davon wollen wir reden. Ich will euch jedoch davon nicht reden wie einer, der Vergangenes schildert. Wozu? Das Vergangene ist vergangen und kommt so nicht wieder. Ich weiß zwar nicht, ob ihr es bei euch schon genug überlegt habt und es ermessen könnt, was für eine Riesentat es war, als dieser Mensch vor dieJünger und die ältesten jüdischen Christen trat, für die das Gesetz etwas Unverbrüchliches, Heiliges war, an dem auch Jesus nicht gerüttelt hatte, und für seine Christen ausden Heiden die Freiheit zu fordern wagte und diese Freiheit durchkämpfte. Überlegt es: Die 33 [Das Manuskript gibt von späterer Hand den 8. Juli an. Doch nach dem Kirchenboten hat Schweitzer nicht am 8. Juli, sondern am 15.Juli in St. Nicolai am Morgen gepredigt. Siehe dazu auch Anmerkung am Schluß dieser Predigt.]

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Jahrhunderte haben nichts über diejüdische Religion vermocht. Sie ist unberührt durch den Wechsel der Zeiten und den Wechsel der Völker hindurchgegangen und steht heute noch so ehrwürdig und so unversöhnlich in ihrer Gesetzlichkeit dawie zur Zeit desPaulus, und er ist der einzige, der ihr etwas abgetrotzt hat. Gleichviel. Nicht vom Vergangenen, von dem, was Paulus für seine Zeitgenossen war, sondern von dem, was er für uns ist, wollen wir reden. Als er seinen Galatern schrieb: «So bestehet nun in der Freiheit», konnte er nicht ahnen, was dieses Wort einst für alle kommenden Christengeschlechter bedeuten würde, daß der Kampf für die Freiheit mit der errungenen Freiheit vom Gesetz noch nicht beendigt sei, sondern daß er sich durch die ganze Geschichte des Christentums hindurchziehen würde, um bald hier, bald dort auszubrechen, immer da, wo etwas vielleicht an sich Ehrwürdiges und Gutes die Autorität des Alters für sich in Anspruch nimmt und neues Leben hemmt. Wir stehen mitten in einer solchen Periode des Kampfes. Eine alte Weltanschauung hat sich im Verein mit altehrwürdigen Symbolen und Formeln des christlichen Glaubens zum Gesetz aufgeworfen gegen eine neue Auffassung desEvangeliums, die vonjedem Zwang der überlieferten Weltanschauung, vonjeder Bevormundung durch alte Formeln frei sein will. Der Kampf wogt schon über drei Generationen hin und her. Nicht alle erfahren ihn an sich in derselben Weise. Die einen fühlen die Last des überkommenen Alten nicht in derselben schweren Art wie die andern, die erkannt haben, daß die Zukunft und das Leben des Christentums von der Freiheit abhängen. Viele sind der Auseinandersetzungen müde und meinen, es handle sich nur um Gezänk, das man zum Schweigen bringen müsse, damit sich dieWelt nicht an der Uneinigkeit der Christen ergötze. Nun soll uns Paulus, der als ein Prophet alle kommenden Zeiten mit seinem Wort «So bestehet nun in der Freiheit» auf die Freiheit verpflichtet hat, die Zeichen unserer Zeit deuten und uns sagen, wie wir uns zuverhalten haben. Zuerst soll er uns lehren, was wahrer und falscher Friede, wahre und falsche Duldsamkeit ist. Auf den ersten Anblick muß man ihn zu den Unduldsamen rechnen. Wie oft mögen ihm seine Gegner gesagt haben, er möge doch nachgeben und derJüngerschaft Jesu den Unfrieden ersparen, da es sich zuletzt doch nur um etwas Äußerliches handle und es doch seinen Heidenchristen nichts ausmachen könne, das Gesetz auf sich zu nehmen, in welchem der HerrJesus selber gelebt habe. Und er war unerbittlich und ruhte nicht eher, als bis sie sich dazu verstanden, auch die Christen, die sich nicht unter dasGesetz beugten, als Brüder anzuerkennen. Er war wie einer, den man binden will, und der sich mit Händen und Füßen wehrt. Und nicht einmal sanftmütig war er, sondern eine

So bestehet nun in derFreiheit

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heiße Leidenschaft kam über ihn, und er wurde hart bis zur Ungerechtigkeit. Lest einmal den Brief an die Galater, den er mitten im Kampf geschrieben hat. Da erzählt er gleich zu Anfang desBriefes, wie er’s dem Apostel Petrus zu Antiochien in Syrien getan. Der war dorthin gekommen und hatte anfangs ganz ruhig mit den Christen aus den Heiden an demselben Tisch gegessen. Nachher aber hatte der Apostel Jakobus, der ein gar gestrenger Eiferer für das Gesetz war, Boten zu ihm geschickt, die ihn auf das Unstatthafte seines freien Verhaltens aufmerksam machen sollten, worauf Petrus sich von dem gemeinsamen Tisch fernhielt. Paulus aber in heiliger Entrüstung strafte ihn vor der ganzen Gemeinde in scharfer Rede ob seines zweideutigen Benehmens. So ist Paulus unduldsam, wo es sich um die Sache der Freiheit handelt, wo man falsche Lasten bindet, um sie den andern aufzuerlegen. Aber wo ihm die persönliche Freiheit, die er verlangt, zugestanden wird, ist sein Herz weit für alle. Er weiß gewiß, daß in der neuen Welt, die durch Jesu Tod angebrochen ist, das alte Gesetz nicht mehr gilt. Und doch findet er kein Wort darüber zu sagen, daß die, so als Juden, als Kinder des Gesetzes, das Evangelium angenommen hatten, es auch fernerhin halten. Er selbst, um niemand einen Anstoß zu geben, lebte streng nach dem Gesetz, tat Gelübde nach jüdischer Art und wallfahrtete zu den Festen nach dem Tempel. Am Schluß des 18. Kapitels der Apostelgeschichte lest ihr, daß er, um das Fest, wahrscheinlich das Pfingstfest, im Tempel zu feiern, von Korinth nachJerusalem reiste. Und lest einmal im 21. Kapitel der Apostelgeschichte. Paulus ist zum letzten Mal in Jerusalem. Eine große Versammlung der Gemeinde soll stattfinden, und die Apostel haben Angst, daß der alte Streit wieder zum Ausbruch komme, wenn die jüdisch-gesetzlich Gesinnten unter den Gläubigen den Apostel, der die Freiheit vom Gesetz predigt, unter sich sehen. Nun kommen Petrus undJakobus zu ihm und bitten ihn, er solle durch eine Tat bekunden, daß er nicht der Gesetzesverächter sei, für den man ihn halte. Es seien vier Männer da, die hätten ein Gelübde. Nun möge Paulus, wie es unter frommen Pharisäern Sitte war, dieses Gelübde mit ihnen teilen, dasheißt, sich mit ihnen heiligen, fasten, mit ihnen vor den Priester treten und die Kosten der Opfer auf sich nehmen. Als die Apostel mit diesem Ansinnen zu Bruder Paulus die Treppe hinaufstiegen, mag’s ihnen nicht ganz wohl zumute gewesen sein. Was er wohl sagen wird? Sie hören schon seine donnernden Worte von der Freiheit eines Christenmenschen, die sie zum Verstummen bringen... Nun haben sie ihr Anliegen vorgebracht ... und Paulus sagt: Mit Freuden! ... Er sollte es schwer bezahlen. Denn als er nachjenem Gange den Tempel verließ, empörte sich dasVolk wider ihn, und er wurde ein Gefangener desrömischen Landpflegers.

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Oder lest einmal das 8. Kapitel des 1. Korintherbriefes, das ganz der Duldsamkeit gewidmet ist. Von Korinth aus wird dem Apostel folgender Fall unterbreitet: Darf man Fleisch essen, das von Götzenopfern herrührt? Dieses Fleisch, da bei dem Opfer nicht alles verbrannt und nicht alles gegessen wurde, kam wie gewöhnliches Fleisch auf den Markt und wurde dort verkauft. Die einen, sie nannten sich selber die Starken, machten sich nichts draus. Es gibt ja keine Götzen, also ist das Fleisch wie anderes, sagten sie. Man kann es ruhig essen. Die andern, man nannte sie die Schwachen, staken noch in ihrem heidnischen Aberglauben und meinten, es ruhe ein Fluch auf diesem Fleisch, weil es den Göttern geweiht sei, undwagten nicht, davon zu essen. Nun hört die Antwort des Apostels: Für ihn ist dieses Fleisch Fleisch wie anderes, und er gibt den Starken recht, die nicht glauben wollen, daß ein Fluch darauf lastet, sondern es wie gewöhnliches Fleisch essen wollen. Aber diesen, welche von allen Vorurteilen frei sind, legt er es nun auf, auf die Vorurteile der andern zu achten und solches Fleisch nicht mehr zu essen, um ihnen, jenen armen Einfältigen, keinen Anstoß zu geben. Hört seine eigenen Worte (I Kor. 8,9.11– 13): «Sehet aber zu, daß diese eure Freiheit nicht gerate zu einem Anstoß der Schwachen... und also über deiner Erkenntnis der schwache Bruder umkomme, um des willen doch Christus gestorben ist. Wenn ihr aber also sündigt an den Brüdern und schlagt ihr schwaches Gewissen, so sündigt ihr an Christus. Darum, so die Speise meinen Bruder ärgert, wollte ich nimmermehr Fleisch essen, auf daß ich meinen Bruder nicht ärgere.» Wenige Jahre darauf, im 14. Kapitel des Briefes an die Römer, wird er zum Schiedsrichter für ähnliche Fragen der äußerlichen Freiheit angerufen und gibt denselben Entscheid, daß der Fortgeschrittene auf den Schwächeren Rücksicht nehmen solle, und faßt alles in die Worte zusammen: «Darum laßt uns dem nachstreben, was zum Frieden dient» [Röm. 14,19]. Ihr kennt dasWort aus dem 9. Kapitel der 1. Epistel an die Korinther, wo er seine eigene Stellung zeichnet: «DenJuden bin ich geworden wie ein Jude, auf daß ich dieJuden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich geworden als unter dem Gesetz, auf daß ich die, so unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich als ohne Gesetz geworden, auf daß ich die, so ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwachen bin ich geworden als ein Schwacher, auf daß ich die Schwachen gewinne. Ich bin jedermann allerlei geworden, auf daß ich allenthalben ja etliche selig mache» [20–22]. So war der Prophet, der in der ersten Stunde des Christentums die Freiheit der Religion Jesu durchgesetzt hat. Schaut ihr ihn von außen an, so macht er euch den Eindruck eines charakterlosen, inkonsequenten Menschen. Solche Menschen, die sich allem anpassen und sich in alles hineinfinden, sindja heutzutage die zeitgemäßen, und man rechnet

So bestehet nun in derFreiheit

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es einem heute sehr hoch an, wenn er diese Kunst versteht und keinen Anstoß erregt. Und der Apostel Paulus wird es auch gehört haben, daß er ein inkonsequenter Mensch war.Wir können esjetzt noch ausseinen Briefen herauslesen, besonders im 2. Korintherbrief. Da haben ihm, scheint’ s, die Leute vorgeworfen, daß seinJa keinJa und sein Nein kein Nein sei, daß er mit der Feder tapfer sei, aber wenn er den Leuten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstände, klein beigäbe. Man bekommt Mitleid mit ihm, wenn man aus den Briefen ersieht, wie geringschätzig die Menschen in seinen liebsten Gemeinden mit ihm umgegangen sind. Was muß er von Galatien auszu hören bekommen haben, ehe er den Galaterbrief schrieb, was von Korinth aus, ehe er die Feder eintauchte, um den 2. Korintherbrief aufzusetzen. Lest einmal den 2. Korintherbrief, ob’s euch des Apostels nicht jammert, der sich vor seiner Gemeinde verantworten muß. Und dieser einmal so standhafte, dann wieder so nachgiebige Mensch war der Vorkämpfer der Freiheit des Christentums; und es war die rechte Art und ist sie noch heute, und ich wünsche, daß, wer heute für die Freiheit seines Evangeliums kämpft, sei es gegenüber einer andern Konfession, sei es in den verschiedenen Richtungen des Protestantismus, in derselben Art unversöhnlich und in derselben Art bis zum Äußersten, bis zur Inkonsequenz nachgiebig sei; unversöhnlich, wo die Freiheit bedroht ist in den großen Dingen, zur Nachgiebigkeit gedrängt durch die Liebe. Nicht diejenigen bringen uns den religiösen Frieden, die selber keine Überzeugung haben und denen jede Meinung gleichberechtigt ist, sondern die, welche eine Überzeugung haben und sich darum sorgen und dafür kämpfen, daß diese Überzeugung sich frei aussprechen könne, und dann wieder als solche, denen eine Überzeugung heilig ist, von Liebe getrieben nicht anders können, als Duldung üben, und durch ihre Weitherzigkeit die andern überwinden. Da kann dir kein Mensch Vorschriften machen, du selber mußt entscheiden, wo es gilt, unbeugsam zu sein, und wo es gilt, in Liebe weitherzig zu sein. Es ist oft sehr schwer. Die Leute werden dir vorwerfen, du seist inkonsequent. Trag’s nur ruhig, ob sie dir’s im guten oder bösen Sinn vorwerfen. Der Apostel hat es auch hören müssen und war doch der rechte Vorkämpfer der Freiheit.¦34¿

34 [Der Schluß besteht aus Stichwörtern. – AS-HB, S. 145:] «15. Juli 06. Ich freue mich auf die Predigt vom nächsten Sonntag! Paulus – dasEvangelium desGeistes...»

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Morgenpredigt Sonntag, 22. Juli 1906, [St. Nicolai]¦35¿ Pauluspredigt 3: Das Evangelium des Geistes

II Kor. 3,6: Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig Nachdem wir das vorletzte Mal vom Leben des Paulus, das letzte Mal von seinem Evangelium als dem Evangelium der Freiheit geredet haben, laßt unsheute reden vom Evangelium desGeistes. Mit demWort Geist verband sich, ihr wißt es, für die ersten Christen etwas uns ganz Fremdartiges. Die Erscheinungen des Geistes waren begleitet von äußeren Zuständen der Erregtheit undVerzücktheit, in welchen die vom Geist Bewegten in Jauchzen und Jubel unartikulierte Worte ausstießen und in unzusammenhängender Rede Weissagungen aussprachen. Diese merkwürdige Verzücktheit war zum ersten Mal an den Aposteln am Pfingstfest zutage getreten, als sie zum Morgengebet im Obergemach des Hauses versammelt waren. Man sah darin die Erfüllung der Weissagung des Propheten Joel [Joel 3,1], daß Gott am Ende derTage seinen Geist über alles Fleisch ausgießen würde; und die ersten Christen waren glücklich und stolz, in diesen merkwürdigen Kundgebungen des Geistes die Gewißheit zu besitzen, daß sie in der neuen Zeit lebten. Wir wissen, daß es sich bei diesem Verzückt- und Entrücktsein nur um nervöse Zustände handelte, die in Zeiten hochgradiger religiöser Erregungen plötzlich irgendwo auftauchen und sich einem ganzen Kreise mitteilen. Wir finden solche Zustände in der Zeit desersten Prophetentums in Israel, wo man die Propheten geradezu die Raser nannte; wir begegnen ihnen wieder im Mittelalter zu verschiedenen Zeitpunkten, und sie lassen sich auch noch in der Neuzeit beobachten. So stand die Mission auf Madagaskar eine Zeitlang einer solchen ekstatischen Bewegung unter den christlichen Eingeborenen, die behaupteten, der Geist sei über sie gekommen und rede durch sie, ratlos gegenüber. Warum ich das als Einleitung sage? Weil ich meine, daß man den Dingen ins Angesicht zu schauen wagen muß und nicht Angst haben soll, das Evangelium des Geistes werde herabgesetzt oder gelästert, wenn man zugibt, daß jene äußern Begleiterscheinungen des ersten christlichen Geistes mit dem Geiste eigentlich nichts zu tun hatten, sondern rein psychischer Art waren und auf krankhafter Überreizung beruhten. Im Gegenteil. Wir glauben ja auch, daß der Geist in uns wirkt, und nicht minder als in jener Zeit, auch wenn jene Zustände bei uns nicht offenbar werden. Es widerspricht mir wohl niemand, wenn ich sage, daß wir nicht einmal wünschen würden, jene fremdartige Erregt35 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer auch diese Predigt in St. Nicolai gehalten.]

Der Buchstabe

tötet

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heit undVerzücktheit bei uns auftreten zu sehen, so sehr wir uns danach sehnen, daß der Geist sich wirklich lebendig an und unter uns erweise.¦36¿

Der Apostel Paulus dachte äußerlich über den Geist genauso wie die ersten Christen. Er selbst hatte solche Zustände der Verzückung an sich erlebt, wo er sich nicht mehr im Leibe, sondern außer dem Leibe fühlte, sich nicht mehr auf Erden, sondern im Himmel glaubte, und so Offenbarung empfing. Darauf bezieht sich der Eingang des 12. Kapitels im 2. Brief an die Korinther, der euch sicher schon aufgefallen ist. «Ich kenne einen Menschen», schreibt er daselbst, «in Christus; vor vierzehn Jahren (ist er in dem Leibe gewesen, so weiß ich es nicht; oder ist er außer dem Leibe gewesen, so weiß ich es auch nicht; Gott weiß es) ward derselbe entzückt bis in den dritten Himmel. Und ich kenne denselben Menschen (ob er in dem Leibe oder außer dem Leibe gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es); der ward entzückt in das Paradies» [II Kor. 12,2–4]. Aber er sah auch die Gefahren dieses Offenbarungsgeistes, der in so greifbarer Weise jedem zuteil zu werden schien. Man liest manchmal zwischen den Zeilen, wie die unreifen und unerfahrenen Christen seiner Gemeinden gegen ihn von geistigem Hochmut erfüllt wurden und gegen seine Verordnungen sich auf die ihnen zuteil gewordenen Offenbarungen beriefen. «Ich halte aber dafür, ich habe auch den Geist Gottes», sieht er sich gezwungen im 7. Kapitel des1. Briefes an die Korinther [I Kor. 7,40] unten an eine seiner Verfügungen zu setzen, weil die, welche ihm widersprachen, es auf Grund der besonderen Offenbarungen desGeistes, die ihnen zuteil geworden waren, zu tun behaupteten. In demselben Brief bekommt er wie eine Angst vor diesem sinnenfälligen heiligen Geist, daß er zum Geist der Unordnung werde. Mit dürren Worten sagt er’s ihnen im 14. Kapitel der 1. Epistel an die Korinther, daß er von einem Geiste, der sich auf so unverständliche und absonderliche Art kundgebe, nicht besonders viel halte, daß man dieses «Zungenreden», so hieß manjenes Aus-dem-Geist-Reden, im Gottesdienst nicht überhandnehmen lassen solle, daß der, welcher als schlichter Prophet in vernünftiger Rede die andern ermahne oder ihnen die Schrift auslege, viel mehr tue für den Glauben als die, welche sich auf ihre Offenbarungen etwas einbildeten. Das liest sich nun im 14. Kapitel als etwas ganz Einfaches und Selbstverständliches. Und doch, wasbedeutet es! Eine zweite, innerliche, tiefe Gedankenwelt erscheint neben jener äußerlichen und setzt sie außer 36 [R] So viel Phantastisches, Fremdartiges im Urchristentum. Es scheint manchmal, als hätte es so sein müssen, als hätten die Menschen damals etwas Äußerliches haben müssen, um sich daran zu halten. Bild: Aufgehende Sonne, weißes Sonnenlicht des Tages.

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Kraft. Nun kann alles jenes äußerliche Wesen, dasdaserste Christentum schützend und stützend umschlossen hat, abwelken wie die braunen, harzigen Blätter, die bei ihrem Aufbrechen die Knospe umstehen: Der Religion des innerlich wirkenden Geistes, die von allem sinnenfälligen Wesen frei ist, steht derWeg offen. In diesem Momente steht Paulus da als einer, der in unserer Sprache zu unserer Zeit redet. Es gibt nichts Einfacheres, nichts Tieferes, nichts Unwandelbareres als sein Evangelium des Geistes. Wenn ihr die Briefe lest, kommt euch manches Befremdliche vor: seine Auslegung desAlten Testaments, seine Beschreibung desJüngsten Gerichts und der großen Totenauferstehung, seine Lehre von den Engeln und den bösen Weltmächten: Aber das alles sind nur Lavagebilde des ersten Christentums, die sich um die ewige, unveränderliche Religion desGeistes zusammengetürmt haben. Aber wie einfach und klar ist alles, wo er vom Geiste redet! Wie schlicht ist doch seine Lehre! Laßt mich euch den Grundgedanken so aussprechen, wie ihn Paulus selbst im 8. Kapitel desBriefes an die Römer, jenem wunderbaren Kapitel über den Geist ausdrückt, Röm. 8,14–16: «Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater! Derselbige Geist gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind.» Dieser Geist Gottes ist zugleich der Geist Christi. Es ist der Geist, der in ihm wohnte, sein Dasein heiligte und aus ihm redete. Mit dem Tode Jesu breitet sich der Geist gewissermaßen aus. Er tritt über seine Ufer und sucht sich einen neuen Leib auf Erden. Dieser neue Leib des göttlichen Geistes auf Erden, dieser neue Leib Christi, das ist die Gemeinschaft derer, die an ihn als ihren Herrn glauben. Nun wohnt der Geist in ihnen. Sie alle sind nun die Glieder eines Leibes, dessen Seele der Geist Christi ist, und alles, was sich nun im Reich des Geistes in der Welt ereignet, ist nur die sich vollendende, wahre geistige und leibliche Auferstehung des Herrn. Fast aufjeder Seite der Episteln des Paulus findet ihr Verse, die die Bausteine dieses gewaltigen Gedankens sind. Dieser Geist ist nun alles im Menschen: Erkenntnis, Gesetz, Autorität, Leben, Richter, Tröster. Er ist die Erkenntnis, die einzige! Habt ihr euch nicht schon gewundert, daß in den Briefen des Paulus so wenig von der Lehre Jesu die Rede ist? Er führt fast niemals Sprüche desHerrn an, auch wenn es ganz auf der Hand läge, daß er sich auf einWort des Herrn beriefe. Wenn nur die Briefe des Paulus auf uns überkommen wären, wären uns damit nur ein halbes Dutzend Sprüche Jesu, und die nicht einmal wörtlich, erhalten geblieben; wir wüßten nichts von der Bergpredigt, gar nichts von den Gleichnissen Jesu. Das Christentum ist für ihn eben keine Lehre,

Der Buchstabe

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auch nicht die Lehre Jesu, sondern etwas, das aus dem Geiste Christi jederzeit neu entsteht wie jene Pflanzen, die jedes Jahr neu aus ihrer Wurzel emporsprießen. Darum wagt er es, sich auf den Geist Jesu zu berufen, und um der Freiheit des Evangeliums willen, den Geist Jesu gegen einWort Jesu auszuspielen. Ich meine, ich höre Petrus, Jakobus undJohannes, als Paulus das Gesetz für die Christen für unverbindlich erklärte, ihm immer wieder den Spruch Jesu aus der Bergpredigt wiederholen, mit dem sich der Herr verteidigte, als man ihn beschuldigte, es mit dem Gesetz nicht streng genug zu halten: «Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch: Bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom Gesetz, bis daß es alles geschehe. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich» [Mt. 5,17– 19]. Nun, es half ihnen nichts. Paulus, aus dem Geiste Christi heraus, hatte den Mut, als der Kleinste im Himmelreich zu gelten; und wir wissen, der Geist hatte hier recht und nicht der Buchstabe desWortes Jesu. Das ist ein Trost für uns alle, daß die letzte Autorität des Glaubens nur der Geist Jesu ist, nicht die Autorität einer Kirchenbehörde, eines Kirchenbekenntnisses, eines ehrwürdigen Dogmas oder eines Spruches, den man aus dem Neuen Testament herausgreift, sondern nur der Geist Jesu, und daß man auch aus denWorten Jesu uns kein äußerliches, sondern nur ein geistiges Gesetz machen darf. Und wir in unserer Zeit haben notwendiger, uns damit zu trösten als irgendeine Zeit vor uns. Unsere Weltanschauung, unsere Stellung zur Arbeit, zum Erwerb, zum Besitz, zur Armenfürsorge, zu den sozialen Fragen ist eine andere geworden. Auf soundso viele Fragen hat er für uns keine direkte Antwort, sondern wir müssen sie uns selbst ausseinem Geiste beantworten, und wenn unsere Antwort auch gegen den Wortlaut seines Gebotes ausfällt. Ein Beispiel. Unser Herr preist das Almosengeben. Wir aber als Kinder unserer Zeit wissen, daß es ein höheres Wohltun gibt als das Almosengeben, ein Wohltun, das darauf ausgeht, das Almosen überflüssig zu machen, indem es Arbeit, gerechte Arbeit und menschenwürdige Lebensbedingungen für jeden, dem es mit der Arbeit ernst ist, schafft, und daß wir alle und jeder für sich nicht in Phrasen, sondern in Taten zur Lösung dieser Fragen mithelfen. Das ist die wahre Lehre Jesu, die man nicht äußerlich mit Worten und Sprüchen zusammenstellt, sondern wo der Geist Jesu, der in jenen Worten lebt, in einer Zeit lebendig wird und die Gedanken denkt und schafft, die einer Zeit not tun. Das ist dann die wahre christliche Weltanschauung.

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Und wie wir alle zusammen frei sind von der Autorität desBuchstabens und der Überlieferung durch den ewig neue geistige Wahrheit schaffenden Geist, so ist ein jeder von uns frei auf sich selbst gestellt

durch denselben Geist. Man hat in unsern Tagen aufstellen wollen, welche Überzeugungen dazugehören, damit ein Mensch noch zum Christentum gehören darf, und manche fragen sich selbst, ob ihre Auffassung von Gott und von Jesus ihnen noch dasRecht gibt, sich zur großen Gemeinschaft derJüngerJesu zu zählen. Nun hört, wie der Apostel darüber denkt. Er stellt nicht eine Lehre von Gott auf, sondern er meint, daß jeder fromme Menschengeist das Geheimnis des Wesens Gottes durch den unendlichen Geist auf seine Weise offenbart schaue, und daß dies die Wahrheit sei, die niemand richten könne. Hört diese Worte (I Kor. 2,10– 13): «Uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch dieTiefen der Gottheit. Denn welcher Geist weiß, wasim Menschen ist, als der Geist des Menschen, der in ihm ist? Also auch weiß niemand, was in Gott ist, als der Geist Gottes. Wir aber haben nicht empfangen den Geist derWelt, sondern den Geist ausGott, daß wir wissen können, was uns von Gott gegeben ist; welches wir auch reden, nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der heilige Geist lehrt, undrichten geistliche Sachen geistlich.» Sein letztes Wort, wonach die Erkenntnis Jesu bei einem Menschen gerichtet werden muß, steht im 8. Kapitel desBriefes an die Römer und fordert alle, die die Erkenntnis anderer richten wollen, auf, mit sich selbst ins Gericht zu gehen: «Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein» [9]. So stellt er alles zuletzt auf die Autorität des Geistes, der sich in vielgestaltigen Gedanken vielgestaltig in den verschiedenen Menschen offenbart. Und er hat keine Angst, wohin es nun führen wird, den Menschen keine andere Autorität als die des Geistes aufzuerlegen. Er sah schon zu seinen Lebzeiten Mißbrauch dieser geistigen Freiheit und hat die Seinen ermahnt, daß sie die Freiheit nicht zum Deckmantel böser und unheiliger Gedanken nehmen. Aber Angst, daß die wahre Freiheit des Geistes untergehen könne oder zum Bösen führen müsse, hat er nicht gehabt. Dasselbe Zutrauen zur Kraft des wahren Geistes müssen auch wir haben. Unter dem Namen der Freiheit der geistigen Religion wird viel Blendwerk und viel Trug aufgeführt, und die Phrase, die hochtrabende, hohle Phrase, ruft den Geist der christlichen Freiheit an. Das geht vorüber, man lasse es gehen, und sinkt von selbst matt und kraftlos zu

Boden. Es war ein Verhängnis für die Reformation, das unser Reformator Luther, nachdem er dasEvangelium des Geistes und der Freiheit gepre-

Der Buchstabe

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digt hatte und nun allenthalben sich geistiges Leben regte, darunter viel absonderliches und unklares Wesen, wie von einer Angst befallen wurde, wohin es nun mit dem reinen Evangelium ginge, und in dieser Angst viele reine und wahrhaft fromme Menschen, pietistisch und mystisch angelegte Geister, in die Kirche der Reformation nicht hineinließ. Wie viele herrliche Kräfte wurden dalahmgelegt! Ihr habt dieser Tage in den kirchlichen undpolitischen Schriften vielleicht vom Tode des Bremenser Pastors Kalthoff gelesen, der sich dazu berufen glaubte, auf besondere Weise das Christentum und den modernen Geist zu versöhnen, und das Christentum dabei zuletzt bis zur Unkenntlichkeit entstellte und statt über Sprüche des Neuen Testamentes über Worte von heutigen Dichtern und Philosophen predigte. Man schrie über Mißbrauch der Freiheit und rief nach Absetzung, und vielleicht hat nur sein Tod verhindert, das man gegen ihn einschritt. Zum Glück. Denn das Evangelium des Geistes braucht keine Maßregeln gegen solche, die manchmal in der edelsten Absicht, wie es hier der Fall war, sich in der Freiheit des christlichen Geistes verirren und bei der Phrase anlangen. Der christliche Geist findet sich immer, und dasist der wahre, der sich im Leben erprobt. Denn er wirkt nicht nur Erkenntnis, sondern Leben. Und dasist mehr alsErkenntnis. Die Freiheit, die er unsbringt, ist die Freiheit von uns selbst, von unserm Fleisch; dasist der rechte Geist Christi, der einen Menschen in den Kampf bringt mit den natürlichen, irdischen Gedanken seines Ichs und ihn nicht zur Ruhe kommen läßt. Er ist der Geist der Heiligung, wie es im Römerbrief [1,4] heißt, der denen, die sich ihm hingeben, den Sieg verleiht und aus einem schwachen, sündigen Menschen ein Wesen macht, das sich stark und geheiligt fühlt durch eine höhere Kraft, die geheimnisvoll in ihm wirkt. Ihr kennt jene herrlichen Worte aus dem 8. Kapitel desBriefes an die Römer: «1: So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christus Jesus sind, die nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist. 2: Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christus Jesus, hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. 5: Denn die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnt; die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt. 10: So aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen. 13: Denn wo ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wo ihr aber durch den Geist des Fleisches Geschäfte tötet, so werdet ihr leben.» Und jenes herrliche Wort aus dem Epheserbrief: «Und betrübet nicht den heiligen Geist Gottes, damit ihr versiegelt seid auf den Tag der Erlösung» [4,30]. Diesen Gedanken findet ihr fast wiederum auf jeder Seite, daß das das wahre Leben ist, wenn der Geist Christi in einem Menschen zum Leben wird und allem andern seinen Wert nimmt. Wir fragen so oft,

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was der heilige Geist ist, und sehnen uns danach, ihn zu besitzen. Nun, dieser Geist der Heiligung, dieser Geist des Kampfes mit den Gedanken des Ichs, dasist heiliger Geist, und wenn du ihn in dir fühlst, sei froh und still. Darf ich euch die herrlichen Worte über den Geist im 5. Kapitel des Briefes an die Galater lesen? «16. Ich sage aber: Wandelt im Geist, so werdet ihr die Lüste desFleisches nicht vollbringen. 17. Denn dasFleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider dasFleisch; dieselben sind widereinander, daß ihr nicht tut, was ihr wollt. 22. Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit,

Glaube, Sanftmut, Keuschheit.» Und zuletzt, mit dem Wort «Es sind mancherlei Gaben, aber es ist ein Geist» (I Kor. 12,4), läßt Paulus den Geist in die Dinge des alltäglichen Lebens heruntersteigen und ihn das Amt und die Verrichtung heiligen, die ein jeder empfangen hat, also daß der Geist sich darin offenbart, wie wir unser Amt, es sei hoch oder niedrig, verwalten und ob wir es im Sinne Jesu verwalten. Da ist er der wahre Jünger seines Herrn, der auch die Religion ins Leben und in die Dinge des alltäglichen Lebens gestellt hat. So findet sich die Religion desGeistes da, wo äußerlich weder Religion noch Geist sichtbar ist, in der Gesinnung, in der wir das Größte wie dasUnscheinbarste tun, und das als die Religion des lebendigen Geistes erkannt haben will, das sich als solche im stillen Wirken desMenschen offenbart.

Morgenpredigt Sonntag, 11. November 1906, St. Nicolai¦37¿

Mt. 18,21–35: [Vergebung]¦38¿ Ihr habt dasletzte Wort des soeben verlesenen Gleichnisses noch in den Ohren: «Und sein Herr überantwortete ihn den Peinigern.» Wir wollen es überschreiben: «Die Geschichte vom Menschen, der Glück und Frieden verlor.» Er hatte sie soeben erst gefunden, da sein Herr zu ihm sagte, 37 [R] Die erste Predigt nach den Ferien. Sehr müd, und doch glücklich. [Schweitzer hatte während der Ferien verschiedene Reisen in Orgelangelegenheiten unternommen und intensiv an der deutschen Ausgabe des Bachbuches gearbeitet. Zudem war er oft erkältet. Siehe dazu AS –HB, S. 149– 157.] 38 [Darum ist das Himmelreich gleich einem König, der mit seinen Knechten rechnen wollte. Und als er anfing zu rechnen, kam ihm einer vor, der war ihm zehntausend Pfund schuldig. Da er’s nun nicht hatte, zu bezahlen, hieß der Herr verkaufen ihn und sein Weib und seine Kinder und alles, was er hatte, und bezahlen. Da fiel der Knecht nieder undbetete ihn an und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, ich will dir’s alles bezahlen! Dajammerte den Herrn desKnechts und ließ ihn los, und die Schuld erließ er

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daß ihm die Schuld erlassen sei, und verliert sie auf demWeg vom König nach Hause. Und durch seine Schuld. Und worin bestand seine Schuld? Nicht in einer besonderen Bosheit, sondern darin, daß er Religion und Leben nicht zusammenbrachte und draußen vergaß, was er drinnen erlebt hatte. Du erkennst den Menschen: Du bist’s. An uns allen ist es in Erfüllung gegangen: «Und sein Herr überantwortete ihn den Peinigern.» Und wie im Gleichnis sind Menschen die Peiniger. Einer sind wir desandern Peiniger, und man meint, wir täten nichts anderes, als darüber nachdenken, wie wir den andern am besten peinigen können, so auserlesen ist die Geschicklichkeit, mit der wir es tun. Ob wir uns nah oder ferne stehen, es ist gleich. Ihr habt Ehegatten, von denen man meinen möchte, daß sie den Bund fürs Leben eingegangen sind, um sich recht peinigen zu können; Kinder, die sich als Brüder und Schwestern eben dadurch bekunden; Bekannte, die sich kennen, um sich das Leben unerträglich zu machen. Man meint, wir treten uns nahe, um uns zu peinigen. Wir peinigen uns mit allem, was wir einander nicht vergeben wollen, mit, was wir einander nachtragen, mit, was wir einander mißtrauen, mit, was wir von einander gleich dasBöse denken. Fühlt ihr’s nicht manchmal, als müßtet ihr ersticken an all dem, was zwischen den andern und euch ist? Der Ekel steigt in uns auf; der Ekel vor uns und der Ekel vor den andern. Hier ist nicht schuldig und unschuldig, sondern wir sind alle zugleich schuldig und unschuldig als solche, die der Pein des Unfriedens überantwortet sind für die große Schuld, die durch unser ganzes Leben hindurchgeht, daß Religion und Leben für uns nicht eins, sondern Verschiedenes sind. Und wenn wir aus dieser Schuldhaft des Unfriedens, an dem wir zugrunde gehen, herauskommen wollen, du und ich, jeder von uns, so gibt es für uns nur ein Mittel: daß Religion und Leben bei uns eins werden.Wasist Religion? Daß wir wissen, daß die Liebe Gottes größer ist als seine Gerechtigkeit und daß kraft dieser Liebe der sündige Mensch in uns in dem Augenblick, wo er sich Gott hingibt, in seinen Geist einihm auch. Da ging derselbe Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig; und er griff ihn an und würgte ihn und sprach: Bezahle mir, was du mir schuldig bist! Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir, ich will dir’s alles bezahlen! Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis daß er bezahlte, waser schuldig war. Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten vor ihren Herrn alles, was sich begeben hatte. Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? Und sein Herr ward zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis daß er bezahlte alles, was er ihm schuldig war. Also wird euch mein himmlischer Vater auch tun, so ihr nicht vergebet von eurem Herzen, einjeglicher seinem Bruder seine Fehler.]

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geht, ein neuer Mensch wird, der ein neues Leben anfangen darf, daß

er Frieden findet, derihn über seine Vergangenheit hinweghebt undihn als einen Hoffenden zu neuem Wandern aufbrechen läßt. Ihr habt alle etwas davon erlebt. Ihr wißt auch, daß man es nicht in Worte fassen kann und daß man zu den andern, auch zu den liebsten

Menschen, die man hat, nicht davon sprechen kann, daß sie denselben Ton hören, der in uns klingt. Es bleibt ein Geheimnis in uns, was vorging, daß unser Geist von dem göttlichen Geist gerührt wurde und ein neuer Geist ward. Keine Lehre von der Sündenvergebung, keine Predigt von der Sündenvergebung vermag derWelt zu helfen, sondern nur dein Leben in der Sündenvergebung, was davon in deinem Dasein von dir ausstrahlt.

Was ist die Sündenvergebung für dieWelt geworden? Eine Kirchenlehre in alten, runzligen Worten, an denen die Purpurfarbe verbleicht ist.Wir aber haben kein Recht, sie zu schelten, denn wir sind die Schuldigen, wir, die Wissenden, weil wir nicht durch die Tat predigen, was wir erlebt, und selber damit das Gut der weihevollsten Stunden unseres Lebens verlieren. Wir müssen jetzt alle darüber nachdenken, was es für uns heißt, mit der Religion der Sündenvergebung in unserem Leben ernst machen; wir wollen nachdenken nicht als die rückblickenden Menschen, was wir versäumt, sondern was wir wollen, jetzt, in diesem Augenblick wollen, als wäre jeder von uns mit diesem Gleichnis eingesperrt und müßte damit fertig sein, wenn die Kirchtüren wieder aufgehen, damit er hinausgehe aus dem Hause des Herrn nicht wie jener Knecht, der hinausging, um seinen Frieden wieder zu verlieren, sondern als Knechte, die von hier den Frieden in dieWelt hinaustragen und an ihrer Erlösung mithelfen wollen. In dem Augenblick, wo wir einer schweren Bürde ledig werden, wo es an unsin Erfüllung geht «Ich lag in schweren Banden, dukommst und machst mich los»,¦39¿ wenn in jenem Augenblick selbst von uns verlangt würde: Nun vergib auch du alles, was du zu vergeben hast, wir würden es tun als etwas, dasganz selbstverständlich ist.Wenn man dem Knechte, während er noch beim Könige war, gesagt hätte: Aber die paar hundert Groschen, die du hier und dort noch ausstehen hast, erläßt dujetzt, er hätte esgetan, undmit Freude. Vielleicht dachte er auch daran; aber draußen wurde er vom Leben betört undführte esnicht mehr aus. Ist’s dir nicht schon ebenso ergangen? In der tiefen Ergriffenheit einer weihevollen Stunde hattest du nichts mehr zurückbehalten von allen Schuldscheinen, die du auf Menschen hattest, und als du dann wieder ins Leben hinaustratest, hast du dich nicht entschließen können, sie zu zerreißen, und fandest es zuletzt wieder ganz natürlich, sie einen um 39 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 4.]

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den andern wieder geltend zu machen. Wie oft wurden wir uns selbst so wortbrüchig, daß wir das, wasdasbessere Wesen in uns als selbstverständlich auszuführen gewillt war, preisgaben, um dafür das zu tun, was nach natürlicher Auffassung unser Recht schien. Das Leben trifft uns eben unvorbereitet. Unser Wollen ist nicht geglüht und gehärtet, sondern schlechtes, biegsames Eisen. Es ist, als ob in den Stunden der Ergriffenheit, wo wir zum Guten fähig sind, der natürliche Mensch in uns schweigt mit allem, was er unserm guten Wollen vom Standpunkt der natürlichen Menschenansicht entgegenzuhalten hätte. Er denkt bei sich, ich will mich jetzt still verhalten; die Zeit, wo ich wieder dasWort führe, kommt schon wieder, wenn das Alltagsgetriebe wieder da ist, und dann behalt ich doch dasletzte Wort. Und du freust dich, daß der natürliche Mensch in dir schweigt, und lässest die Stunde vorübergehen, da du stärker bist als er und alles, was er dir entgegenhalten könnte, zu überwinden vermögest. Du wiegst dich in deiner Begeisterung, du freust dich deiner guten Regungen, aber du kämpfst nicht, du überwindest dich nicht, daß du nun als ein starker Mensch ins Leben hinaustretest, der durch nichts betört werden kann, der in der schönen Stunde alles überlegt, alles abgetan hat, was die Menschenvernunft nachher einwenden könnte. Was sagt doch unser Herr, da er seine Jünger ermahnt, daß in ihrem Leben Religion und Leben eins werden? «Wer ist aber unter euch, der einen Turm bauen will, und sitzt nicht zuvor und überschlägt die Kosten, ob er’s habe hinauszuführen? auf daß nicht, wo er den Grund gelegt hat und kann’s nicht hinausführen, alle, die es sehen, fangen an, sein zu spotten und sagen: Dieser Mensch hob an zu bauen und kann’s nicht hinausführen» [Lk. 14,28–30]. Wenn dujetzt daran denkst, was du zu vergeben hast, überschlage, ob du es habest, hinauszuführen, und überleg dir, wie du es ausführen willst. Wir reden von vergeben. Wie stellst du dir denn eigentlich das Vergeben vor? Ich sage euch nichts Neues, sondern nur etwas, das ihr in eurem Leben fast zahlenmäßig nachrechnen könnt, wenn ich behaupte, daß wir in unserm Leben so wenig vergeben, oft nicht vergeben, wenn wir auch einen ernsthaften Willen dazu haben, weil wir unsunter vergeben etwas vorstellen, dasso nicht existiert und so im gewöhnlichen Leben nicht durchführbar ist. Wir denken uns dasVergeben immer so ein wenig als eine sentimentale, theatralische Szene, bei der wir vor den Augen der andern die schöne und dankbare Rolle desVerzeihers spielen, und warten vergebens, daß uns Gelegenheit gegeben werde, in dieser Rolle aufzutreten, und vergessen darüber das wirkliche Vergeben. Räume mit diesem äußerlichen Begriff von vergeben auf und mit der innerlichen Hoffart, die sich dran knüpft, und wenn du die Religion desVergebens im Leben willst üben, dann such nach der Art des Ver-

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gebens, die im alltäglichen Leben brauchbar ist, die du in große und kleine Münze umsetzen kannst. Sag dir, daß deinVergeben etwas Unscheinbares ist, wovon man nicht redet und wofür dir kein Mensch dankt, ein Opfer, das du bringst, wovon kein Mensch ahnt, was es für dich bedeutet. Das wahre Vergeben ist nicht etwas, das sich in Worten vollzieht, sondern etwas, das in dir vorgeht und sich dann in ein stilles, geheimes Handeln umsetzt. Die Fälle, wo wir uns mit den Menschen, denen wir etwas zu vergeben haben, aussprechen und ins klare bringen können, um daraufhin alles, was zwischen ihnen und uns liegt, aus der Welt zu schaffen, sind im gewöhnlichen Leben Ausnahmefälle. Das Vergeben aber, das in dir ausgemacht ist und sich nun in stille Tat umsetzt, dasist die Regel. Das kannst du alltäglich üben. Meint nicht, daß ich an dem Begriff des Vergebens etwas herabmarkte, damit er brauchbarer wird. DasVergeben besteht darin, daß du vergeben hast, aber wirklich vergeben hast. Nun leg dein ganzes Vergeben in dein Tun und Sein zujenem Menschen hinein und warte und wisse zu warten, bis dein Vergeben an ihm arbeitet, bis esihm aufgeht, daß etwas anders ist zwischen euch beiden. Vielleicht mußt du lange warten; aber halt aus wie einer, der eine köstliche, verborgene Frucht gesät hat und weiß, daß, wenn die Zeit kommt, sie ihre Frucht tragen wird. Wenn du vergibst, so ist’s, als wenn du jenem Menschen einen versiegelten Brief zukommen ließest, wie ihn manchmal die Befehlshaber unserer Kriegsschiffe beim Auslaufen aus dem Hafen bekommen, und darauf steht, an dem und dem Tag, an dem und dem Ort zu öffnen. Auf dein Vergeben, wenn es wahr ist, schreibt Gott Tag und Stunde, wann es offenbar werden soll; und dann wird es offenbar werden; du aber harre und bezwinge den andern durch dein stilles Wesen. Ich predige euch das Vergeben ohne Worte mit solcher Zuversicht, weil es mir immer klarer wird, daß nicht dasWort, sondern nur die Tat das einzig Wirkliche im Leben ist. In der Tat allein liegt die Kraft. Darum ist das das wahre Vergeben: ohne Worte durch die Tat und das Wesen. Das siehst du im Kleinen gerade. Wie willst du die vielen kleinen, fast unwägbaren Dinge zwischen dir und den Menschen, mit denen du täglich zusammen bist, wegschaffen? Du hast schon versucht, dich darüber auszusprechen, und dawurde es ärger und schlimmer, und eins kam zum andern, und ihr fandet kein Ende. Du Tor, hast du noch nicht gesehen, wie sie’s machen, wenn sie gedroschen haben und die Spreu los sein wollen? Sie knien nicht hin und lesen’s aus, jedes einzelne mit den Händen, sondern sie schütteln es draußen im Wind und lachen, wie es davonfliegt. Und du willst die Spreu des alltäglichen Lebens mit den Deinen verlesen, statt deinen freundlichen Geist wehen zu lassen, daß es davonfliegt und nicht mehr ist.

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Soll ich’s kurz sagen: Überwinde dich zuerst, läutere dein Vergeben, schaff allen Hochmut und alle Rechthaberei draus heraus, dann wird es brauchbar fürs Leben, in den großen und in den kleinen Dingen. Daß es brauchbar wird, erkennst du daran, daß du nun allen Menschen, denen du etwas zu vergeben hast, wirklich vergeben kannst. Wenn dujetzt zu den Menschen gingest, die du als deine Schuldner ansiehst, und wolltest ihnen dein Vergeben aussprechen, so würden sich mehr als die Hälfte mit höhnischen Worten dafür bedanken und dir sagen, daß sie sich dir gegenüber keiner Schuld bewußt sind. Dann sagt dein natürlicher Mensch: also dann nicht! Es liegt soviel Unvergebenes zwischen den Menschen, weil sie nur das vergeben wollen, was der andere als seine Schuld eingesteht. Du aber werde auch mit dem letzten Rest von Selbstgerechtigkeit fertig und verlange nicht, daß ein anderer, ausgesprochen oder unausgesprochen, sich dir gegenüber als schuldig bekennt, sondern vergib ihm in der Stille durch dieTat, daß dasVergeben, dasin deinem Wesen liegt, bei ihm bitte und anhalte und das Seine schaffe, bis er es erkennt und annimmt als etwas, dasdir und ihm Frieden und Glück bringt. Laß dich bis dahin durch keinen Hohn, durch kein verletzendes Wesen, durch keine Sprödigkeit beirren. Wenn du im Herzen wahrhaft vergeben hast, kannst du es. Es liegt schon ein großes Stück Vergeben drin, wenn du kein böses, unfreundliches Wort wider jenen Menschen andern gegenüber über deine Lippen kommen läßt und den schlechten Gedanken, die in deinem Innern dich immer wider ihn aufhetzen wollen, ein für alle Male Schweigen gebietest. Es ist kein Frieden und kein Vergeben in dir, das nicht offenbar wird zu seiner Zeit und eine Kraft ist, die sich stärker erweist als alles, wassich ihr in denWeg stellt. Woher die Kraft nehmen, im täglichen Leben zu vergeben, die Kraft, die anhält in diesem Kampfe mit uns selbst, in dem wir das stille, wahre Vergeben immer wieder erringen müssen? Aus dem wahren Mitleid! Jener Knecht konnte nicht vergeben, denn er verstand das Wort nicht, das der andere in seiner Angst herausschrie: «Habe Geduld mit mir!»

Es will mich immer bedünken, daß wir unter den Menschen nur durch das Mitleid leben können, da dieses uns allein darüber hinweghilft, nicht in das Richten zu verfallen und über dieVerachtung hinauszukommen, wenn wir sehen, was um uns herum vorgeht. Verwechselt das nicht mit dem gewöhnlichen, menschlichen Mitleid, welches die andern niederdrückt, weil es von einem Menschen ausgeht, der sich für besser und für stärker hält als die andern. Das Mitleid, mit dem wir ihnen begegnen wollen, ist etwas ganz anderes. Es geht davon aus, daß wir uns selber in ihnen erkennen, auch da, wo wir eine Schuld von ihnen einzufordern hätten.

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Alsjener Knecht vor dem Knecht niederfiel und ihn bat: «Habe Geduld mit mir, ich will dir alles bezahlen», erkannte er sich selbst nicht wieder in dem Mitknechte, sich selber nicht, der wenige Stunden vorher mit denselben Worten vor einem andern niedergefallen. Weil er sich selber nicht im andern erkannte, war er vor seinen bösen, natürlichen Gedanken verloren. Du ebenso. Wenn es dir nicht vor der Seele steht, wasdie andern dir verzeihen müssen, daß duvon ihrem und Gottes tiefem Mitleid lebst, hast dudie Kraft nicht, zuverzeihen. Das Leben wird leichter für die, die durch das, was sie erlebt haben, von allem falschen Stolz, von aller falschen Selbstgerechtigkeit geläutert und zum wahren Mitleid hindurchgedrungen sind. Sie lassen sich nicht mehr durch den Stolz, den Trotz, das eingebildete Wesen, die Selbstgerechtigkeit der andern beirren und verhärten, sondern sie hören die innere Stimme des Menschen rufen, wie er mit sich selber ist, nicht wie er vor den andern Komödie spielt, und vernehmen aus allem heraus ein unausgesprochenes, flehentliches «Habe Geduld mit mir!», wie es in uns selber ertönt, ohne daß wir es den Menschen gegenüber auszudrücken wagen, sondern vor ihnen auch die Zuversichtlichen und Stolzen spielen. Noch eine Frage: Heißt vergeben denn, zu einem Menschen wieder dasselbe Vertrauen haben wie vorher? Ich meine, wenn Menschen unser Vertrauen mißbraucht haben, können wir dann wieder so auf sie bauen wie vorher, und wenn wir fühlen, wie wir es nicht mehr vermögen, haben wir ihnen dann nicht wirklich verziehen? Ich kann euch keine befriedigende Antwort geben, denn gar oft haben wir wirklich von Herzen vergeben und können uns dennoch nicht zu dem früheren Vertrauen zwingen. Manchmal denke ich dann wieder an dasWort «Und führe uns nicht in Versuchung» [Mt. 6,13], daß wir nämlich Menschen in Versuchung geführt haben, indem wir ihnen etwas zumuteten, das für sie zu schwer war, und daß vielleicht daswahre Vergeben darin liegt, daß wir dies erkennen und nichts mehr von ihnen verlangen wollen, das über ihre Kräfte geht. Vielleicht ist dasauch eine gute Art desVergebens. Dennoch aber gehört dasVertrauen, das neue Vertrauen zum wahren Vergeben. Darin unterscheidet sich das Vergeben im Geiste Jesu von dem menschlichen Vergeben. Es ist keine Nachsicht, die mit der Schwäche verwandt ist wie das gewöhnliche, menschliche Vergeben, sondern eine freundliche, milde Kraft zum Guten, die den andern umspielt und ihn emporhebt, ihm Mut und Freudigkeit gibt, ihn innerlich erneuert, wie auch wir dasVergeben Gottes an uns spüren als eine wunderbare Kraft zum Kampf wider dasBöse, die uns überkommt. Was ist das wahre Vergeben? Es ist die Allgegenwart Gottes unter den Menschen, wodurch sich erfüllt, was wir im Gebet des Herrn erbitten: «Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden»

Werbist du, derdu da richtest?

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[Mt. 6,10], denn seinWille ist, daß die Liebe größer ist als die Gerechtigkeit. Das will bei uns Menschen heißen: größer als die Selbstgerechtigkeit.¦40¿

Gott wolle uns dazu neuen, frischen Mut geben.

Nachmittagspredigt Sonntag, 18. November 1906, St. Nicolai Nachbetrachtung zum Reformationsfest

Röm. 2,1: Wer bist du, der du da richtest?

An den vergangenen Sonntagen ist viel von Reformation die Rede gewesen. Man kann davon auch wirklich nicht genug sagen, denn Großes ist in jener Zeit vorgegangen und groß das Erbe, das wir angetreten haben. Mögen andere sich blenden lassen von dem Scheine herrlicher Gottesdienste: Wenn man in unsere schmucklose Kirche kommt und Menschen sieht, die nachdenkend auf die Auslegung von Gottes Wort lauschen und bei sich sinnen, was es für ihr Leben bedeutet, dann hält man sich nicht mehr an den Schein und fragt sich nicht mehr, welcher Konfession heutzutage die Macht gehört, sondern man kommt von allem Äußerlichen los und vertraut auf den endgültigen Sieg des einen Evangeliums. «Das Reich muß uns doch bleiben.»¦41¿ Da ich nun nicht Gelegenheit hatte, zu euch dieses Jahr von Reformation zu reden, möchte ich mit euch doch Abschied nehmen von dieser weihevollen Zeit der ersten Herbststürme, in der wir des Mönches gedenken, der seine Thesen dort an die Schloßkirche zu Wittenberg anschlug und damit eine Befreiungstat vollbrachte, die er selber noch nicht ermessen konnte. Da drängt sich uns die Frage von selbst auf, was denn daraus ward. Wie steht es mit dem Protestantismus in unsern Tagen? Damit ist nicht gesagt, daß wir von seinem äußeren Kämpfen, von Rückschritten und Fortschritten reden wollen; mit diesen möge es sich verhalten, wie es sich gerade verhält. Wir wollen das eine besprechen, wonach man in geistigen Dingen immer zuerst und einzig fragen muß: Wie steht es um seine innere geistige Kraft? Und hier auch nicht wieder von den andern reden, sondern fragen: Wie steht es um deinen Protestantismus? Bist du ein rechter Protestant? Es liegt ein gewisser Stolz in uns Protestanten, daß wir die reinste und wahrste Form der Religion haben. Der gehört zum Protestantismus, nur muß er der rechte sein, nicht ein Stolz, der euch überhebt und rich40 [Bis zum Schlußsatz folgen nur Stichwörter.] 41 [Martin Luther: Ein feste Burg ist unser Gott, Str. 4.]

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tet, sondern einer, der bei sich selber anfängt und richtet, ob er ein Recht habe, stolz zu sein. «Wer bist du, der du da richtest?» Darum jetzt einige Fragen, über die wir nachdenken wollen. Zum rechten Protestantismus gehört, daß alles, was sich zwischen den Menschen und die Bibel stellen wollte, abgetan ist, und manjedem dasWort Gottes in die Hand gibt und spricht: Nimm und lies! Machst duvon diesem Recht Gebrauch? Kennst du deine Bibel? Ich meine, es fehlt den Protestanten unserer Tage etwas am rechten Protestantismus. Sie lesen zu wenig in der Schrift. Das Evangelium ist ein Gut geworden, das amWege liegt. Sie achten es nimmer genug, weil sie nicht mehr darum kämpfen müssen. Ihr selber, müßt ihr nicht bei euch sagen: Wir haben den Schatz nicht genug geschätzt? Sind der Stunden nicht allzu wenig, in denen ihr euch sammeltet und laset und wieder laset und euch ergreifen ließet von der Schlichtheit undTiefe derWahrheit, die im Neuen Testament verborgen liegt? Ist euch euer Neues Testament ein Freund geworden, daß es sich von selbst an den Stellen öffnet, die euch lieb sind und euch Stärke und Kraft geben? Zum rechten Protestantismus gehört, daß wir uns erlöst fühlen. Früher stritt man sich darüber, wie man es sich vorzustellen habe, und stellte Lehren darüber auf. Unsere Zeit ist für Lehren gleichgültiger geworden. Sie fragt nach Wirklichkeiten. Fühlst du dich wirklich erlöst durch das, wasdirJesus und sein Evangelium ist, hinausgehoben über deine eigene Schwäche, voll Friedens und voller Freude, froh zum Arbeiten, glückselig, daß es dir von Gott vergönnt ist, daß du, ein schwacher, sündiger Mensch, Hand anlegst da, wo etwas Gutes geschaffen werden soll? Ohne diese innere Freudigkeit, durch die du jeden Morgen als ein neuer Mensch erwachst, bist du kein rechter Protestant. Die Menschen um dich herum müssen es an dir fühlen, daß etwas Höheres in dein Leben hineinragt und daß dein ganzes Leben unter dem Zeichen der Freude steht, daß du durch unsern Herrn aus der Vergänglichkeit und Eitelkeit dieser Welt erkauft bist und ihm still dienen willst von Herzen, so gut du kannst. Und noch gehört zum Protestantismus die Wahrhaftigkeit. Er ist ja die Religion der Wahrhaftigkeit. Gar mannigfaltig ist der Kampf, der um die Wahrhaftigkeit geführt wird. Sichtbar vor der Welt führt der Protestantismus den Kampf um die Wahrhaftigkeit des Glaubens und um die religiöse Gewissensfreiheit, daß nicht Formen und Formeln den Glauben ersticken, sondern daß der Geist herrsche statt desBuchstabens. Das ist ein großer Kampf und doch nicht der wichtigste, da er nur äußerlich ist und von wenigen hervorragenden Menschen in jeder Zeit ausgefochten wird. Der wahre Kampf um die protestantische Wahrhaftigkeit ist der, den du mit dir selber hast, daß dein Leben und deine Religion durch und

Werbist du, derdu da richtest?

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durch wahrhaftig seien, daß die Religion in deinem Leben Wahrheit werde. Kennst du den Ernst dieses Kampfes, oder gehst du ihm aus dem Wege? Die tiefste Wahrhaftigkeit besteht darin, daß du immer und immer wieder kämpfst, daß sich deine Religion in deinem Leben verwirkliche und kein Unterschied sei zwischen Leben und Religion, daß nichts Verborgenes sei in deinem Leben, nichts, das das Licht scheue und sich als Schuld anhäufe, die dich nachher erdrückt, daß du nichts scheinst vor den Menschen, dasdu nicht bist. Kurz: Wahrhaftig sein heißt kämpfen und nicht müde werden. Bist duwahrhaftig injener Wahrhaftigkeit, die zur inneren Heiligkeit desLebens führt? Zum wahren Protestantismus gehört die Duldsamkeit, nicht meine ich jene falsche Duldsamkeit, die aus der Gleichgültigkeit entspringt und für die zuletzt alles nur eine Sammlung von Meinungen ist, sondern die wahre Duldsamkeit, wie sie nur aus dem protestantischen Gefühl entspringen kann. Wir Protestanten sollen duldsam sein, weil wir dasKleinod besitzen und injeder andern Meinung den Kern der Wahrheit suchen, den sie enthält, in der Zuversicht, daß die einzige Wahrheit einmal siegen wird. «Mein Herz ist weit», schreibt einmal der Apostel Paulus [II Kor. 6,11]. So sei auch euer Herz weit für die Fehler der Überzeugung der andern, weit für ihre menschlichen Mängel, für die fernen und die nahen. Erziehe dich selber, daß du nicht mithöhnst und mitspottest, wo die Welt höhnt und spottet, und deine Kinder erziehe so von frühester Jugend an, daß in dieser Zeit der Unduldsamkeit ein duldsames Geschlecht heranwachse. Wie steht es um die geistige Kraft des Protestantismus? fragten wir anfangs. Ich wollte die Antwort nicht geben, damit wir nicht in Betrübnis miteinander über die Fragen, die ich an uns zu stellen hatte, nachdächten. Aber ihr wißt sie so gut wie ich: Es steht nicht gut um die geistige Kraft des Protestantismus. Er ist keine wirkliche Kraft, denn sonst müßte es sich zeigen in dem geistigen Leben derWelt. Ein bißchen Sauerteig, wenn es Sauerteig ist, durchsäuert den ganzen Teig, Salz, wenn es wirklich Salz ist, durchtränkt jede Menge von Flüssigkeit. So eine Kraft ist aber das bißchen Protestantismus, das in der Welt ist, nicht. Fast möchte man meinen, es sei schwacher Sauerteig und schier untüchtiges Salz. Was daraus wird? Der Herr allein weiß es. Wir aber wollen danach streben, dass wir wenigstens wahre Protestanten seien, dann wird sich schon irgendwie dasWort des Paulus erfüllen, «Wißt ihr nicht, daß ein bißchen Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert?» [I Kor. 5,6]

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Nachmittagspredigt Sonntag, 2. Dezember 1906, St. Nicolai 1. Advent

Gal. 5,16–25: Wandelt im Geist¦42¿ «Wie soll ich dich empfangen undwie begegn ich dir, o aller Welt Verlangen, o meiner Seele Zier?»¦43¿ Erster Advent, heilige Zeit. Ist’s nicht, als ob ein Schauer der Heiligkeit dich überkommt? So muß es gewesen sein, als der Täufer die Stimme erhob und rief: «Tut Buße, denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen!» [Mt. 3,2] Keiner schreit’s heute auf den Gassen, aber in dir tut sich dieselbe Stimme kund: Mache dich, mein Herze, rein. Fahl wie in ödem Morgengrauen steht unser Leben als etwas Profanes vor uns, und eine Sehnsucht steigt in uns auf, rein zu sein, um seiner warten zu können, um in dieser Zeit mit wahrer Freude sein sich freuen zu können. «Steht auf, die Lampen nehmt! Halleluja! Macht euch bereit zu der Hochzeit, ihr müsset ihm entgegengehn!»¦44¿ Unterdrückt nichts von dieser Sehnsucht in euch. Es ist euer bester Mensch, der sich in euch regt, und seid glücklich, daß euch dieser Schauer erfaßt. Wenn er doch alle Menschen überlaufen könnte, die vielen armen Menschen, für die dasWort Advent nichts mehr bedeutet! Wenn jetzt in der Adventszeit deine Seele dich bittet: Gib mir eine Stunde, laß mir dieWochentage unsichtbare Feiertage sein, schlag es ihr nicht ab. Bereite dich, Weihnachten zu feiern, daß es nachher nicht in dir heißt: wieder ein Fest herum, es war schön, sondern daß du zu dir selber sagst: Ich habe Weihnachten gefeiert und etwas empfangen; ich

bin reicher und stiller geworden.

42 [, so werdet ihr die Lüste desFleisches nicht vollbringen. Denn dasFleisch gelüstet wider den Geist, und den Geist wider das Fleisch; dieselbigen sind widereinander, daß ihr nicht tut, wasihr wollet. Regieret euch aber der Geist, so seid ihr nicht unter dem Gesetze. Offenbar sind aber die Werke des Fleisches, als da sind: Ehebruch, Hurerei,

Unreinigkeit, Unzucht, Abgötterei, Zauberei, Feindschaft, Hader, Neid, Zorn, Zank, Zwietracht, Rotten, Haß, Mord, Saufen, Fressen und dergleichen, von welchen ich euch habe zuvor gesagt und sage noch zuvor, daß, die solches tun, werden das Reich Gottes nicht ererben. Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit. Wider solche ist dasGesetz nicht. Welche aber Christo angehören, die kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden. So wir im Geist leben, so lasset uns auch im Geist wandeln.] 43 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 1.] 44 [Philipp Nicolai: Wachet auf, ruft uns die Stimme, Str. 1.]

Wandelt

im Geist

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Und die Menschen um dich laß merken, daß es für dich heilige Zeit ist. Es kommt immer mehr dazu, daß bei uns die Adventszeit einTrubel wird, indem man sich hetzt und um viele Geschenke rechnet und sorgt: Und dabei vergessen wir, uns mit dem Schönsten zu beschenken, mit

gemeinsamen, heiligen Gedanken. Undjetzt, wenn du in die heilige Zeit eintrittst, besieh dich im Spiegel desWortes des Apostels. Wie steht’s mit dem geistigen und mit dem natürlichen Menschen in dir? Du kennst die beiden Sprüche: «Offenbar sind dieWerke desFleisches» ... «Die Frucht desGeistes aber ist»... auswendig. Was ist dein Leben, wenn du diese Maßstäbe daran legst? Ein Leben im Fleisch oder ein Leben im Geist? Gott sei Dank, daß es das erstere nicht ist, ihr säßet ja sonst nicht hier. Von dem Häßlichen, das der Apostel in den Werken des Fleisches aufzählt, hat dich manches aus der Ferne angeweht und dir eine Angst gegeben, daß dein Leben so ein Dasein im Fleisch sein könnte. Wir wollen nicht selbstgerecht sein, denn jeder weiß, wie grausig und gemein die Gedanken manchmal sind, die sich in unsern Herzen manchmal regen, wie schreckliche Schlangen in dem Schilfe eines Sumpfes, und auf unsere äußere Ehrbarkeit, die vor den Menschen gilt, wollen wir uns nicht mehr zugute tun denn auf das Gewand, womit wir vor ihnen gekleidet sind, denn dieses äußere Kleid der Ehrbarkeit hängt davon ab, wie weit wir vor schwerer Versuchung geschützt und durch liebe Menschen auf dem Wege des Guten erhalten wurden ... Worauf es ankommt, ist das, was du von dir selber weißt, ob du dein Leben auf den Geist erbauen willst und nicht auf das Fleisch, und ob du darauf ein wahrhaftiges Ja sprechen kannst, dasJesus, dein Herr, hören darf. Du hast dieses Ja schon gesprochen. An den großen Wendepunkten deines Lebens konntest du nicht anders, als dir selber dieses Ja vorrufen und vorschreien, um nicht von dem Leben des Verderbens und des Todes mitgerissen zuwerden. Warum stehst du aber so arm an Früchten des Geistes da, die aus diesemJa hervorwachsen sollten, und warum kommt dir selber dein Leben so unheilig, sojeder tieferen Reinheit bar vor? Was fehlt dir zur Reinheit? Der Apostel sagt’s: «So wir im Geiste leben, so lasset uns auch im Geiste wandeln.» Wir wollen darin leben und nicht darin wandeln, das heißt: Es fehlt uns, daß es uns in jedem Tag und injeder Stunde völlig ernst damit ist, im Geiste zuwandeln; es fehlt uns derWille, der mit uns aufsteht und sich mit uns niederlegt und uns den ganzen Tag begleitet wie unser Schatten. Und das ist bei uns nicht eine Schwäche, die uns einmal und wieder übermannt und in tiefe Sünde wirft, sondern es ist ein geheimes NichtWollen, eine Klausel, die wir unserem Ja anhängen und die, wie es die Klauseln gar oft in den Verträgen tun, unser Ja äußerlich bestehen läßt und innerlich zunichte macht.

784 Predigten desJahres 1906

Schaut genau bei euch nach. Wir wollen nicht, daß uns der Geist ganz regiert, sondern wir wollen in unserm Leben stillschweigend das undjenes behalten, was sich mit dem Geist nicht verträgt. Unser Wille ist duldsam mit uns. Wir wissen: Das und das darfst du nicht tun; und wir betäuben unsern Willen, um es dennoch zu tun. An drei oder vier Punkten haben wir den Kampf eingestellt und sagen uns: Darum werden wir die Schlacht des Lebens nicht verlieren. Es stände in unserer Macht, damit fertig zu werden. Wir tun es nicht, sondern rechnen uns vor, wo wir uns im Leben vom Geist leiten lassen, und befriedigen uns damit. Wir sind wie die Menschen, die auf ihr Vermögen Schulden aufnehmen, hier ein bißchen, dort ein bißchen, ohne Rechnung zu führen, und sich sagen: Das Geschäft geht dennoch gut, was wollen diese kleinen Schulden besagen ... und zuletzt kommt der Bankrott. Die kleinen Schulden mit ihren Zinsen und Zinseszinsen haben das Geschäft ruiniert. An unserm Leben zehrt eine innere Unwahrhaftigkeit gegen uns selbst, daß wir im alltäglichen Wandel nicht leben wollen, wie wir als Kinder des Geistes leben zu müssen fühlen, und ein Stück Leben außerhalb des Lebens stellen, wie wir es leben wollen. Diese innere Uneinigkeit macht uns so schwach und verdrossen und so unwahrhaftig den Menschen gegenüber. Darum erscheint uns unser Leben trotz des wahren Strebens, nach dem Geiste zu leben, so unheilig und profan, und die Frucht vielen frommen und edlen Willens steht ab und verdorrt, weil der Wurm der Unwahrhaftigkeit mit uns selbst daran nagt, und wir nicht wandeln, wie wir leben wollen. Ich wollte, daß wir dasin dieser ersten, stillen Adventsstunde miteinander überdachten. Es soll dasLeitmotiv unserer Andacht in dieser heiligen Zeit sein. Und jeder soll sich selber zu sagen wagen, was er sich darüber zu sagen hat, und um seiner inneren Wahrhaftigkeit willen mit den Dingen fertig werden, mit denen er fertig werden muß.

Wersagt ihr, daß ich sei?

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Morgenpredigt45 Sonntag, 23. Dezember 1906,46 St. Nicolai47 4. Advent

Mk. 8,27–29: Wer sagt ihr, daß ich sei?48 Wer ist dieser, dessen Geburtstag zu feiern wir uns anschicken? Wer sagen die Leute, daß er sei? Wer darauf hören möchte, bekäme viel zu erfahren, Schönes und Häßliches. Für die einen ist er ein großer Denker, dem sie Achtung entgegenbringen, für die andern ein solcher, von dem sie meinen, er habe unserer Zeit nichts mehr zu sagen, wieder andern kommt er als ein jüdischer Schwärmer vor, andere urteilen, er sei ein unheilvoller Geist gewesen, der die Zeit aufgehalten habe und bis auf den heutigen Tag die Menschheit irreführe, und wieder andern ist es ganz gleichgültig, wer er war. Es kommt in der Weihnachtszeit vielleicht eine gewisse Rührung über sie, weil ihre Kindheit wieder vor ihnen aufsteigt mit all dem Entzücken, in welchem sie an dasJesuskind dachten und von ihm sprachen.49 Aber dasverflüchtigt sich dann wieder bei ihnen wie dieWärme in einem Zimmer, wenn über Nacht der Ofen ausgegangen ist. Und der Gleichgültigen sind die meisten. Nun seht ihr aber aus unserm Text, daß Jesus sich nicht lange dabei aufhält, was die Leute von ihm halten, sondern gleich weiterfragt, was er denn für die Seinen ist. «Ihr aber, wer sagt ihr, daß ich sei?», fragt er dieJünger. Das geht uns an.Wir sind schwach und in gar vielem untreu, haben in vielem kaum das Recht, uns seine Jünger zu nennen, aber wir wollen es sein. Und wenn du recht fühlst, daß du seinJünger sein willst, und daß du ihm einen Platz in deinem Leben geben willst, hörst du diese Frage deutlich in diesen Tagen. Fühlst du nicht ein Bedürfnis, mit dir ins klare zu kommen, was er eigentlich für dich ist? Und erschreckt nicht, wenn ihr nicht gleich die richtige Antwort findet, und vielleicht überhaupt vorerst keine findet. Zwölf Jünger waren es, und einem nur stand das Wort zu Gebote. Die andern elf aber schwiegen und waren so treue Jünger als dieser, und der Herr war ihnen 45 [AS-HB, S. 161:] «8. Dez. 06. Ich denke viel an meine Predigt. Es ist gut, an den Geist Christi glauben ... aber es erklären! ... undich lebe davon ...» 46 [R] Wiederholt am 12. Dezember 1920. 47 [AS-HB, S. 162:] «21. Dez. 06. Am Sonntag predige ich über »Wer sagen die Menschen, daß ich sei? Wer sagt ihr, daß ich sei?» (Mk. 8). Meine Predigt steht im Geist

klar vor mir.» 48 [Und Jesus ging aus mit seinen Jüngern in die Märkte der Stadt Cäsarea Philippi. Und auf dem Wege fragte er seine Jünger und sprach zu ihnen: Wer sagen die Leute, daß ich sei? Sie antworteten: Sie sagen, du seist Johannes derTäufer; etliche sagen, du seist Elia; etliche, du seist der Propheten einer. Und er sprach zu ihnen: Ihr aber, wer sagt ihr, daß ich sei? Da antwortete Petrus und sprach zu ihm: Du bist Christus!] 49 [R] Weihnachten im Krieg gefeiert.

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gerade so viel als diesem, und sie liebten ihn nicht minder und er sie nicht minder. Vielleicht haben sie Petrus beneidet, daß er das schöne Wort gleich fand. Ich meine fast, daß auch wir in diesen Tagen die Menschen beneiden, die in diesen Tagen die klare Antwort zur Hand haben: Jesus ist der Sohn Gottes für mich, dessen wunderbares Kommen in dieWelt ich anbetend feiere. Von uns aber würden viele zu den schweigenden Jüngern gehören, die sich fragen: Wie soll ich’s nur ausdrücken? Macht euch aber keine Sorgen darum, daß die Antwort, die ihr findet, mit dem übereinstimmt, was ihr von andern darüber hört, sondern nur darum, daß ihr mit euch wahrhaftig seid. Weniger dennje erwarten wir etwas von Worten und Ausdrücken oder Glaubensformeln, die den Gedanken einer größeren Zahl von Menschen nebeneinander Raum gewähren, ohne daß dadurch mehr wahre Gemeinschaft herauskommt als durch das Zusammenleben in einer Mietskaserne, sondern die wahre lebendige Gemeinschaft kommt aus der gemeinsamen, ernsten Wahrhaftigkeit der Menschen mit sich selber. Washast du dir selber auf die Frage zu antworten? In dem Schweigen der elf stummen Jünger, die im Staube des fremden Landes den Herrn umstanden, lag eine Antwort für den, der in ihren Herzen lesen konnte. Da stand: Herr, du bist etwas für uns, viel bist du für uns, denn wir haben etwas für dich getan. Unser Haus und unser Gewerbe haben wir verlassen und sind dir nachgefolgt. Kann er diese stumme Antwort auch bei dir lesen? Darauf kommt’s an, und darüber mußt du dir Rechenschaft geben. Was hast du ihm von deinem Leben schon dargebracht? Ich will euch diese Frage auseinanderbreiten, wie man ein Gewebe auseinanderzieht, daß alle Maschen sichtbar werden. Sie heißt: Was hast du schon von deinen Plänen und Wünschen geopfert, um mir zu dienen? Was hast du schon um meinetwillen an Menschen aus Liebe getan? Wann sahst du, daß ich dich irgendwo in der Welt brauchte, und hast dich nicht taub und schlafend gestellt, sondern hast gesagt: «Herr, rede, dein Knecht hört» [I Sam. 3,9], und auf die Stimme gelauscht, die dir sagte, was du tun mußtest, und nicht bei dir gesagt: Was ist doch das für ein merkwürdiger Gedanke, der mir durch den Sinn huscht? Wann hast du dich gezwungen, um mich nicht zu verlieren, um meinetwillen zu vergeben? Wann hast du das Kreuz des Unglücks oder der Schmähung und des Menschenspottes auf dich genommen und es ihm als dein Kreuz nachgetragen und bist stille dabei geworden? Wann hast du richtig gekämpft gegen böses Wollen und niedriges Denken aus Angst, seiner unwürdig zu werden und ihn zu verlieren? Hast du dem Herrn darauf etwas zu antworten, von dem andere

Wersagt ihr, daß ich sei?

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Menschen kaum etwas wissen, das aber die Kostbarkeit deines Lebens ausmacht? Und wenn es gar wenig ist, wenn’s der Reue mehr ist als der Freude, weil du weißt, wie oft duJesus keinen Platz in deinem Leben gegönnt hast, weil deine Bequemlichkeit ihn gerade nicht brauchen konnte: Freue dich auch der Reue, wenn sie wahr ist, wenn sie aus dir hervorbricht wie ein heißer Quell aus einem Felsen. Die Reue über dasin unserm Leben, wo er nicht dabei war und nicht dabei sein konnte, ist das wahre Bekenntnis zu ihm.¦50¿ Wenn diese Reue in dir wahr ist, dann ist er viel für dich, und ob du das Wort dafür findest, und ob die andern das Wort dafür als zum wahren Glauben zureichend anerkennen, ist ganz gleich. Das Höchste, was man vonJesus sagen kann, ist nicht, wie seine Person in göttlichen und menschlichen Teilen zusammengesetzt ist, undwie man ihn am besten in Formeln verpacken kann, sondern daß ein Mensch sprechen kann: Er ist mein Erlöser. «Ich lag in schweren Banden, du kommst und machst mich los.»|51¡ Das kann sprechen, wer fühlt, wie sein Leben etwas anderes wird, wenn er Jesu Geist in dem, was er denkt und tut, Raum und Stimme gewährt. Der eine wird diese Erlösung von der Eitelkeit unseres Wandels – wie er wäre, wennJesus nicht in unser Leben hineinragte – anders empfinden als der andere, weil die Schicksale und Persönlichkeiten der Menschen verschiedene sind. Für die einen ist er der Erlöser durch seine Lehre. Sie sind durch die neue Erkenntnis, die in seinen Worten liegt, von dem Trug des Lebens frei geworden und wandeln nun in einem neuen Leben. Ihr werdet oft hören, das sei keine genügende Erkenntnis, für dieJesusdasHöchste ist, weil er der wahre Lehrer ist. Das redet einer dem andern nach. Laßt euch nicht beirren. Es gibt heute viele Menschen, deren letztes und wahrhaftigstes Wort über Jesus ist, daß er sie durch die Erkenntnis vom wahren Leben, die von ihm ausgeht, zu einem höheren, geistigen Leben erlöst hat. FürTausende war er das, für Tausende wird er es sein, und keinem Menschen steht es an, darüber zu richten. Ich muß immer an die Philosophen unter den ersten Christen denken – um einen Namen zu nennen, Justin, den Märtyrer – , die der Welt Jesus als den wahren Lehrer verkündigt haben und die für den wahren Lehrer in denTod gegangen sind. Das war doch rechter Glaube. Für andere ist er der Erlöser vornehmlich als der Tröster, der sie immer wieder mit demWorte der Sündenvergebung aufrichtet und sie frei macht von der Schuld, die sie niederdrückte. 50 [R] Traurigkeit über verlorenes Leben. 51 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 4.]

788 Predigten desJahres 1906

Für andere ist er der Erlöser als der Gebieter, der ihr Leben heiligt und ihm einen Wert gibt durch das, was er von ihnen fordert und was sie für ihn tun dürfen. Für andere wieder als der Herr des Leidens, dessen Geist über sie kommt, wenn kein Mensch sie mehr trösten kann, und sie stille macht. Und wenn er wirklich etwas für dich ist, dann begegnet er dir als der Erlöser bald so, bald so, bald anders, je nachdem, was du in deinen Gedanken erlebst oder im Leben durchmachst. Darum ist das einzige und letzte nicht, daß du nach Worten suchst oder dich selber willst richten und dehnen nach dem, was man über Jesus lehrt, sondern daß du willst, daß er etwas für dich sei und ihm Raum in deinem Leben zu geben, bereit bist, dann wird er selber sich dir offenbaren auf deinem Wege und dir dein wahres Bekenntnis zu ihm, das sonst doch kein Mensch verstehen kann, aus dem Herzen herauslesen, wie er es den elf stummen Jüngern dort herauslas.¦52¿

Morgenpredigt Sonntag, 30. Dezember 1906, St. Nicolai

Mt. 9,2: Über Sündenvergebung¦53¿ Die, welche jenen Menschen zuJesus brachten, wußten nicht, was ihm fehlte. Sie sahen nur, daß er sich nicht mehr schleppen konnte. Nun erwarten sie das heilende Wort. Und statt «Stehe auf und wandle» sagt der Herr: «Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben» und erklärt ihnen nachher, daß beides gleichbedeutend wäre. «Welches ist leichter: zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder: Stehe auf und wandle?» [Mt. 9,5]. Wir gleichen dem Mann, den man durch Sündenvergebung heilen kann. Müd und gebeugt schleppen wir uns zum Ende desJahres hin. Wovon sind wir so müde, daß wir schier nimmer vorwärtskommen? Ist’s von der Arbeit, die uns niederbeugt? Oder von den Sorgen? Oder den Enttäuschungen? Oder vom Unglück, das uns betroffen hat? Auch davon sind wir müd. Aber das ist schier nur äußerlich. Den Grund der eigentlichen Müdigkeit kennen nur wir, jeder von sich, wie dort jener Mann, der von sich wußte, daß er nicht gebrochen war durch seine äußerliche Lahmheit, sondern durch das, was innerlich auf ihm lastete. So weiß jeder von uns, der sich selber zu kennen wagt, daß das, waswir 52 [AS-HB, S. 162:] «Esist ein Uhr morgens. Ich habe heute gepredigt und alles mögliche andere getan, bin aber so glücklich voll von meinem Bach [...] » 53 [UndJesus sprach zu dem Gichtbrüchigen: Sei getrost, mein Sohn; deine Sünden sind dir vergeben.]

Über Sündenvergebung

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getan und nicht getan, auf uns lastet, nicht das, wasuns im Leben sonst begegnet ist, es mag sein, was es will, und daß wir deswegen so ohne Lebensmut am Ende desJahres stehen. Die Inventur, die wir machen, wenn wir ernste Menschen sind, ist nicht nur, was wir erworben und verloren, was wir erreicht und nicht erreicht haben, sondern die Inventur, in die wir niemand können Einblick gewähren: was wir innerlich geworden sind. Auch am Baum siehst du äußerlich nichts von denJahresringen, die er ansetzt und die sein Leben tragen. Und das ist doch die Hauptsache, gegen welche alles andere Nebensache ist, ob er einen Jahresring um sein Mark angesetzt hat, so für dich, ob du einen kräftigen Jahresring für deinen geistigen Menschen angesetzt hast. Wenn ich diese Frage für uns stelle, so glaube ich, auch für uns antworten zu dürfen, daß nicht alles an unsTraurigkeit und Ergebnislosigkeit ist, sondern daß wir fühlen, wie wir in manchem vorangekommen sind und mit Freuden und Glück auf dieses und jenes zurückblicken, was wir mit uns selbst durchgekämpft haben und vielleicht eines Tages in diesem Jahr gedenken, der für unser inneres Fortkommen entscheidend war. Wir haben jeder etwas im Leben, womit wir fertig werden müssen, das unsere Sünde ist, und wenn du dich der Stunden in diesem Jahr erinnerst, wo du in deinem Ringen als ein tapferer und wahrhaftiger Mensch standest und dich nicht darüber hinwegtäuschen wolltest, daß es sich bei dir um geistiges Sein und Nichtsein handelte, ob du als ein innerlich wahrhaftiger oder unwahrhaftiger Mensch durchs Leben gehen wolltest, so gedenke an diese Stunden als an etwas Köstliches. Aber es ist keiner unter uns, der stolz sein darf, auch der tapferste nicht. Es sind der Stunden, wo wir feig und charakterlos waren und uns willenlos vom Leben dahintreiben ließen, zu viele. Wenn wir es wagen, der Erinnerung, die uns die Dinge und Stunden, die wir aus dem Verlauf des Geschehenen auslöschen möchten, zu sagen: Wach auf und walte deines Amtes – was steigt da nicht alles im Verlauf der 365 Tage vor uns empor! Wir haben so vieles gedacht und gewollt und getan, wo wir als verwerflich vor uns stehen, so viel, wo wir das Göttliche und Geistige in uns an den niedrigen Menschen in uns verraten haben, so viel, wo wir als Heuchler und als unwahrhaftige Menschen vor derWelt stehen würden, wenn sie es wüßte, so viel, waswir an Menschen gesündigt haben und nicht mehr gutmachen können. Und das ist ein schreckliches Wort: nicht mehr gutmachen können. Wenn wir nur an dieses Letzte denken, was wir an Menschen getan haben und nicht getan haben, wenn wir nur einige dieser Gesichter vor uns sehen, die als Ankläger wider uns auftreten könnten, ist das allein nicht schon schrecklich? Das Entsetzen faßt uns, wenn wir in der Zeitung lesen, es sei ein Mann in der Sandgrube verschüttet worden, denn wir können es uns so

790 Predigten desJahres 1906

gut vorstellen, wie es war, wie er es zuerst um sich rieseln hörte und die Füße schon im Sand gefangen hatte, und wie es dann herabkam wie eine Welle und ihn niederwarf und immer mehr auf ihn kam, bis er betäubt sich nicht mehr regte, nicht mehr schrie, sondern auf die Todes-

nacht wartete. DerMensch bist du,wenndueswagst, in derSandgrube derErinnerung zuarbeiten; undwir kommen alsmüde Menschen an dasEnde desJahres, weil wir von dem lähmenden Entsetzen gepackt sind als die, die durch die Erinnerung, die sie nicht aufhalten können, verschüttet werden. Nun sagt unser Text: Predige ihnen allen, daß ihnen alles vergeben ist. Ich tue es, weilJesus es verlangt und weil es dasKostbarste ist auf der Welt, daß ein Mensch zum andern darf sagen: Im Namen Jesu darf ich dir verkündigen, daß dir alle deine Sünden vergeben sind. Und nicht nur der Prediger hat es zu verkündigen, sondern jeder Mensch! Daran denkt ihr vielleicht nicht genug. Wer weiß, vielleicht ist eins von euch gerade in diesen Tagen berufen, einem Menschen aufzuhelfen, der es nötig hat, daß man ihm von der Sündenvergebung rede. Obwohl ihr das schon von Kindheit an gehört habt, daß das Christentum die Religion der Sündenvergebung ist und daß unser Glaube sich darauf erbaut, daß wir Christen und Protestanten sind, weil wir sprechen: «Ich glaube an eine Vergebung der Sünden», könnt ihr es doch nicht fassen, daß das alles, wasjetzt vor eurer Erinnerung steht, ausgelöscht werden darf und daß du selber diese Tat vollführen darfst und sagen: Ich bin ein freier Mensch und fange eine neue, weiße Seite an. Wißt ihr noch, wie wir als Kinder eine neue Seite oder ein neues Heft anfingen, als ob die andern mit ihren Flecken und Fehlern nicht mehr existierten und alles auf dieses neue Heft ankäme. Wer diese Zuversicht und Hoffnung im Großen und Ernsten in seinem Leben wiederfindet, der ist’s, der durch die Sündenvergebung ein neuer Mensch wird. Ihr habt euch bemüht, an die Sündenvergebung zu glauben. Was ihr dabei erlebt habt undwie weit ihr darin seid, weiß ich nicht. Aber darin sind wir alle gleich weit, daß wir, wenn wir offen mit uns selber sind, gestehen müssen, daß unser Glaube an die Sündenvergebung unvollkommen ist, weil wir in Augenblicken, wo wir Sündenvergebung brauchten und uns vorredeten und immer wiederholten, es ist Vergebung der Sünden, sie nicht vollständig erlebten. Wir haben uns selber auch schon gezwungen, zu glauben, daß etwas vergeben sei, und nachher doch gemerkt, daß dem nicht so war, sondern daß wir uns gleichsam mit demWorte der Sündenvergebung nur selber hypnotisiert und betäubt hatten. Daß es keine wahre Vergebung war, ersahen wir daraus, daß keine bleibende Freiheit und Freudigkeit und keine wirkliche Kraft zum Guten daraus hervorkam. Das müssen wir uns offen gestehen.

Über Sündenvergebung

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Das hängt nicht vom Glauben oder von irgendeiner Vorstellung oder Lehre der Sündenvergebung ab, sondern davon, ob deine Reue wahr oder nicht wahr ist, denn nur aus der wahren Reue kommt die wahre Sündenvergebung. Sicherlich und notwendig kommt sie aus ihr. Wo wir keine wahre Sündenvergebung erlebten, war es, weil wir den Willen zu einer wahren Reue nicht hatten. Stellt euch die wahre Reue nicht vor als ein unglücklich Getue, als eine innere Selbstzerfleischung, als ein Hineinhetzen in eine Seelenangst, als eine Selbstanklage, die wir als ein großer Staatsanwalt gegen uns selbst aufführen; die wahre Reue ist eine stille, tiefe, wahrhaftige Traurigkeit, wahrhaftig darum, weil sie von sich weiß, daß du nicht mehr schwach sein willst, sondern dasandere tun willst. Wenn dieser Wille, der auf dasJetzt, auf die kommende Zeit geht, nicht in deiner Reue ist, ist sie wie ein Ätzmittel, in dem die Hauptsache, die Ätze, fehlt. Denn das, was dasVergangene in uns verzehrt und zu Asche verbrennt, das ist der Wille auf die Zukunft, der darin ist. Darum sei gegen dich selbst offen und sieh zu, ob es dir mit dem Wollen, ein neuer Mensch zu werden, als ein neuer Mensch insJahr hineinzugehen, ernst ist, ob du keine unaufgedeckten Karten im Spiele läßt, sonst würde es dich nichts nützen, wenn der Herr Jesus selber wiederkäme und dir sagte: «Deine Sünden sind dir vergeben», denn du würdest es nicht im rechten Glauben hören. So seid nun ernst und bereitet euch durch die wahre, «göttliche Traurigkeit, die da wirkt zur Seligkeit eine Reue, die niemand gereut» [II Kor. 7,10], daß, wenn die Mitternachtsstunde morgen abend das neue Jahr heraufführt, ihr mögt nun sein, wo ihr wollt, allein oder im Kreise eurer Freunde, und es möge um euer Ohr rauschen, was da will, Menschenglückwunsch oder was sonst, daß ihr die innere Stimme hört, die im vergebenden Geiste Jesu zu dir spricht: «Stehe auf und wandle!»¦54¿

54 [AS-HB, S. 165] «Silvester 1906. Gerade denke ich an das, wasich dieses Jahr als Prediger gewesen, ob ich immer treu war, und innerlich groß und lauter und rein genug, um daszu sagen, wasich mußte und wollte?»

X. Predigten desJahres 1907

Morgenpredigt Sonntag, 6. Januar 1907, St. Nicolai Missionsfest

Mk. 1,17: Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen

Um diese Zeit feierte man in der alten Kirche das Epiphanienfest, das Fest der Erscheinung Christi. Es war das älteste und ehrwürdigste Fest und wurde erst später durch dasWeihnachtsfest überholt, bis es zuletzt allen Glanz verlor. Man feierte die Offenbarwerdung der Herrlichkeit Christi auf Erden, seine Offenbarwerdung als Heiland. In unserm Lande hat man das Missionsfest in diese Zeit gelegt, und mit Recht. Freilich, ein eigentliches Fest ist es nicht; denn Feste feiert man zur Erinnerung an etwas Großes, wasin derVergangenheit geschehen. Hier aber zählt das, was geschehen ist, nicht, denn es ist noch fast alles zu tun. Und von einer besonders festlichen Versammlung ist heut in unsern Kirchen auch wenig zu merken. Es wird einem gewöhnlichen Sonntage gleich geachtet. Und doch ist’s ein Fest, anders zwar als die lärmenden Gedächtnisfeste, an denen unsere Zeit übergenug hat, wo man dieVergangenheit in den Himmel hebt und dann allesamt wieder in die nüchterne Alltäglichkeit zurückfällt, wenn man den Kopf wieder von hinten nach vorn dreht, sondern ein Fest, wo wir nach vorn schauen und uns nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart und Zukunft ins Gedächtnis rufen und uns geschickt machen, mitzuhelfen an etwas, daswerden muß. Ihr macht euch ebenso wenig wie ich eine Illusion darüber, daß die Mission unpopulär ist. Auch sonst rechtlich und gut denkende Menschen wollen davon nichts wissen. Ich hörte unlängst einen Herrn in Paris, der sehr viel Gutes tut, zu einer Dame, die für einWerk bei ihm sammelte, sagen: Kommen Sie immer. Sie werden stets eine offene Tür und eine offene Hand finden. Nur verlangen Sie mir nie etwas für die Mission. Sie bekommen von mir keinen Centime, denn das ist zum Fenster hinausgeworfenes Geld. Vielleicht sind auch unter euch, die bei sich von der Mission nicht allzuviel halten und noch in kein richtiges Verhältnis zu ihr gekommen sind.

Folget mir nach

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Ich selbst hatte in den letzten Jahren soundso viel Streit- und Kampfgespräche über die Mission, zuWasser und zu Lande, auf der Straße und in der Bahn, im Berg und in der Ebene, mit Freunden und Fremden, da ich prinzipiell nie erlaubte, daß in meiner Gegenwart etwas Gedankenloses über Mission gesagt wurde, so daß ich so ziemlich orientiert bin, wasdie Menschen gegen die Mission haben. Und was ich meinerseits für die Mission zu antworten habe, möchte ich euch in einigen Worten sagen, damit ich vielleicht dem einen oder andern Vorurteil bei euch begegne, besonders aber, damit ihr zu antworten wißt, wenn in eurer Gegenwart gegen die Mission geredet wird. Und wenn ein Prediger, der Sonntag für Sonntag euch seine Gedanken und sein Herz gibt, ein Recht hat, etwas von euch zu erbitten, so möchte ich euch bitten, daß ihr in eurer Gegenwart kein gedankenloses Reden und Schelten über die Mission zulaßt, nichts durchgehen laßt, ohne darauf zu antworten. Das erste, was man immer hört, ist: Man solle doch die Leute bei ihrer Religion belassen, ihnen den Glauben, in dem sie bisher glücklich waren, nicht nehmen, wodurch nur Unruhe gestiftet würde. Worauf ich antworte, daß die Mission an sich und für mich gar nicht in erster Linie eine ausschließliche Sache der Religion ist. Weit entfernt. Sie ist zuerst eine Aufgabe der Menschlichkeit!, die aber unsere Staaten und Völker nicht erkannt, geschweige denn in Angriff genommen haben, die dann die religiösen Menschen, die einfachen, beschränkten Geister, im Na-

menJesu auf sich genommen haben. An was denken unsere Völker und Staaten, wenn sie den Blick übers Meer richten? An Länder, die sie unter ihre sogenannte «Schutzherrschaft» nehmen oder die sie sonst auf eine Weise an sich bringen, was sie aus dem Land ziehen können, immer nur ihren Vorteil. Aber wie sie jene Menschen zu Menschen machen, wie sie sie zur Arbeit und Gesittung erziehen, wie sie sie dahin bringen, daß sie unter der Kultur, mit der sie in Berührung kommen, nicht zugrunde gehen, daran denken sie nicht. Unsere Staaten, die vielgerühmten Kulturstaaten, sind’s draußen nicht, sondern nur Raubstaaten. Und wo sind in diesen Kulturstaaten die Menschen, die diese langwierige, selbstlose Arbeit unternehmen, jene Völker zu erziehen und ihnen die Segnungen unserer Kultur zu bringen? Wo sind die Arbeiter, die Handwerker, die Lehrer, die Gelehrten, die Ärzte, die dort, um an dieser Kulturaufgabe zu arbeiten, in diese Länder ziehen? Wo macht unsere Gesellschaft eine Anstrengung in dieser Hinsicht? Nichts und wieder nichts! Ein paar arme, beschränkte Stündler haben das Werk einst unternommen, um das unsere Gesellschaft als solche sich hätte reißen sollen; sie haben der vornehmen, großsprecherischen Kultur ihren Ruhmeskranz genommen. Sie haben jahrzehntelang dort gewirkt als Menschen, nur an der Hebung der Menschen arbeitend, ohne vorerst auch

794 Predigten desJahres 1907

nur daran denken zu können, ihnen ihre Religion begreiflich zu ma-

chen. Warum? Weil Jünger Jesu zu sein, die einzig wahre Kultur ist, für die der Mensch immer als Mensch da ist, alsjemand, der ein Recht auf unsere Hilfe und Aufopferung hat. Unsere Kultur aber kennt zwei Menschenklassen: Die Kulturmenschen, die sie sind, und die andern, die nur Menschengestalt haben, aber zugrunde gehen können und vertieren können, ohne daß etwas darauf ankommt. O diese vornehme Kultur, die so erbaulich von Menschenwürde und Menschenrechten zu reden weiß, und die diese Menschenrechte und Menschenwürde an Millionen und Millionen mißachtet und mit Füßen tritt, nur weil sie über dem Meer wohnen, eine andere Hautfarbe haben, sich nicht helfen können; diese Kultur, die nicht weiß, wie hohl und erbärmlich, wie phrasenhaft und gemein sie vor denjenigen dasteht, die ihr über die Meere nachgehen und sehen, was sie dort leistet, und die kein Recht hat, von Menschenwürde undMenschenrechten zureden. Bis sie selbst ihre Menschenaufgaben erkannt hat, bis sie etwas dafür getan hat, soll aber keiner auch nur ein Wort gegen die Mission reden, die, so gut sie es konnte, weil die wahre Religion zugleich die wahre Menschlichkeit ist, für unsere Kultur, für unsere Kulturstaaten, für unsere Gesellschaft in die Lücke trat und an den Menschen tat, wassie hätte tun müssen. Wenn michjemand fragte, warum ich das Christentum für die höchste und einzige Religion halte, würde ich alles, was man so gelernt hat über dasVerhältnis und die Rangordnung der Religionen und wie man die Vorzüge der besten herausfindet, getrost hinter den Ofen werfen und nur daseine sagen: Weil in dem ersten Befehl, den der Herr auf Erden gegeben hat, nur das eine Wort «Mensch» vorkommt. Er redet nicht von der Religion, vom Glauben, von der Seele oder sonst etwas, sondern einzig vom Menschen. «Ich will euch zu Menschenfischern machen.» Da ist’s, als sagte er es allen kommenden Jahrhunderten: Aufs erste gebt mir acht, daß mir der Mensch nicht zugrunde geht. Geht ihm nach, wie ich ihm nachgegangen bin, und findet ihn da, wo ihn die andern nicht mehr finden, im Schmutz, in derVertiertheit, in der Verachtung, und tut euch zu ihm und helft ihm, bis er wieder ein Mensch ist. Er hat Religion und Menschlichkeit so zusammengeschweißt, daß es keine Religion mehr gibt, daß sie für ihn nicht existiert, ohne die wahre Menschlichkeit, und daß die Aufgaben der wahren Menschlichkeit nicht gelöst werden können ohne die wahre Religion. Diese menschliche Würdigung der Mission muß sich durchsetzen, und ihr müßt reden und arbeiten, daß sie sich durchsetze. Dann sind zugleich eine Fülle von Einwänden erledigt. Man sagt, es ist hier noch so viel zu tun, man solle mit der Mission warten, bis hier alles getan sei. Es seien auch noch hier Heiden genug zu bekehren. Da

Folget

mirnach

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will ich doch einmal warten, bis wir so viel Kräfte und Menschen an die Mission abgegeben haben, daß wir es spüren. Mir sagte ein Herr einmal: Wir brauchen Geld zu notwendigen guten Zwecken hier; ich gebe nichts für Mission. Da ich ihn gut kannte, fragte ich ihn, ob er denn mehr für die guten Werke um ihn gebe, weil er nichts für Mission gebe, und wieviel er denn für gute Werke jährlich gebe. Darauf gingen wir weiter, und er schwieg. Ich auch. Aber seither bekommt die Mission Geld von ihm. Was aber antworten, wenn sie sagen, die Mission ist ein erfolgloses Werk. Sie verschlingt Geld und Menschen umsonst. Nun könnte man viel von den Erfolgen der Mission reden: was sie aus dem großen Seengebiet Zentralafrikas gemacht hat, wassie auf den Südseeinseln geschaffen hat, die Hunderte und Aberhunderte von stillen, arbeitsamen Dörfern, die sie geschaffen hat, dasBlutvergießen, dem sie ein Ende gesetzt, und noch viel anderes mehr. Aber nein; denn die Mission arbeitet, ohne sich um den Erfolg zu kümmern. Sie tut es, denn sie muß, aus diesem Muß heraus, welches dasWesen aller Dinge ist, wo Jesu Geist drin ist. Der natürliche Mensch in den natürlichen Dingen berechnet den Erfolg, und wenn er dessen sicher ist, unternimmt er die Sache. In dem, was in Jesu Namen getan wird, berechnet man nur das Muß, jenes geheimnisvolle Muß, das in seinem Munde immer wiederkehrt, wo er von demTodeslos desMenschensohnes redet, undje geringer der ausgerechnete Erfolg, desto größer ist dasausgerechnete Muß. Drum nicht gespart mit Mitteln und mit Menschenexistenzen, es geht nichts verloren, und wenn’s im Meere und in der Wüste begraben ist, denn es ist durch denTodJesu geheiligt. Dieser Tod hat dem Wörtlein «umsonst» die Macht genommen. Als er gestorben war, konnten sie sagen: Dieser Mensch hat sich aufgezehrt und umsonst gelebt ... und doch kam aus demTode die Kraft. Und dieselbe heilige, tausendfältige Frucht trägt alles, wasin seiner Nachfolge «umsonst» getan wird. Und es ist nicht umsonst ... denn esist eine Sühne. Zuletzt ist die ganze Mission nur eine Sühne für die Gewalttaten, die die dem Namen nach christlichen Nationen draußen begehen. Ich will nicht aufzählen, was sie alles draußen begangen haben, wie sie unter dem Vorwand des Rechts den Eingeborenen ihr Land genommen haben, wie sie sie zu Sklaven gemacht haben, wie sie den Abschaum der Menschheit auf sie losgelassen haben, was für Greueltaten begangen worden sind, wie wir sie mit Branntwein und allem andern systematisch ruinieren. Was haben wir, das deutsche Reich, in Südwestafrika getan, um diese Empörung heraufzubeschwören? Was tun wir jetzt, nachdem wir sie aufgerieben haben? Mit einem Federstrich nehmen wir ihnen ihr Land, daß sie nichts mehr haben ... Ich will davon nicht reden, denn ich höre dann immer: Ja das geht nun nicht anders, in derWelt herrscht die Macht ...

796 Predigten desJahres 1907

Nun gut, wenn aber diese Vergewaltigung und all die Schuld und Sünde und Schande unter den Augen des deutschen Gottes oder des amerikanischen Gottes oder des englischen Gottes begangen wird, und unsere Staaten sich nicht gemüßigt fühlen, zuerst die Bezeichnung christlich abzulegen, so ist der NameJesu geschändet und gelästert, und das Christentum unserer Staaten ist geschändet und gelästert vor jenen armen Menschen; der NameJesu ist zum Fluche geworden, unser Christentum, dein eigenes, zur Lüge und zur Schande, wenn das nicht dort, wo es begangen, gesühnt wird, und nicht für jeden Gewalttätigen im Namen Jesu ein Helfer im Namen Jesu kommt, für jeden, der etwas raubt, einer der etwas bringt, fürjeden, der flucht, einer der segnet ... An die 15000 haben wir ausgesandt in zwei Jahren, als die Streiter des christlichen deutschen Reiches unter den Schwarzen; gegen 1500 starben. Wann werden wir, das christliche Deutschland, an die 15000 Streiter für Jesus, den Herrn der Menschlichkeit, dort hinausgeschickt haben? Wann werden 1500 mit derselben Aufopferung für ihn gestorben sein? Dann ist die christliche Bezeichnung unseres Staates ein bißchen gesühnt. Es war Mitte der 90er Jahre. Professor Lucius, der edle, leider so früh dahingeraffte Missionsfreund, las über Geschichte der Mission im Sommer von 3–4. Es war sehr heiß, und er hatte kaum ein halbes Dutzend Hörer. Da hörte ich zum ersten Mal diesen Gedanken der Sühne ... Es war so merkwürdig. In der Dogmatik und in der neutestamentlichen Auslegung war’s ein so schweres Wort, wenn man sollte erklären, warum nunJesus für die Sünden derWelt gestorben war. Es war alles so unlebendig, was einem darüber gesagt wurde, und man hörte es denen, die es einem lehren sollten, an, daß sie selbst drin nicht ganz klar sahen ... Und hier nun, als eine Aufgabe für uns in Jesu Namen, war das Wort etwas so Lebendiges, etwas, das schrie und rief, das man verstehen und fassen konnte ... und vonjenem Tag an verstand ich das Christentum besser und wußte, warum wir Mission treiben müssen. Und wenn ihr nun auch Mission predigt, dann predigt, daß wir sühnen müssen, alles Grauenhafte, was wir in den Zeitungen lesen, alles Grauenhafte – das ist noch schlimmer – was wir nicht drin lesen, was der Urwald mit Nacht und Schweigen zudeckt ... dann predigt ihr Christentum und Mission zugleich ... und ich bitte euch, daß ihr’s predigt.

Seid klug wie die Schlangen 797

Morgenpredigt Sonntag nach Epiphanias, 13.Januar 1907, St. Nicolai

Mt. 10,16: Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie dieTauben Es ist Epiphanienzeit. Da soll man reden von dem, wasJesus gebracht hat. Darum wollen wir heute reden von dem, was er uns für das alltägliche Leben gebracht hat: von der wahren Lebensklugheit. Habt ihr schon einen Menschen gesehen, der schlangenklug und doch dabei ohne Falsch war? Oder erinnert ihr euch gern der Stunden, wo ihr nach Menschenart in irgendeiner Sache es besonders klug angegriffen habt, um das zu erreichen, was ihr wolltet? Ich weiß nicht, wie es mit euch steht, aber ich meine doch, so ganz befriedigt kann keiner von uns auf solche Situationen zurückblicken, denn wenn wir mit uns wahr sind, bleibt uns vonjener besonderen Klugheit in der Erinnerung immer ein Nachgeschmack von etwas, daswie Falschheit und Unaufrichtigkeit anmutet. Das Wort erscheint, äußerlich betrachtet, etwas hart; niemand hätte uns dies in unserm Reden und Tun nachweisen können; aber mit dem Gefühl nehmen wir es wahr: In unserer Klugheit undWeltgewandtheit ist auch im besten Falle immer eine Trübung von Unlauterkeit, die sich darauflegt wie der Hauch unseres Atems auf die Fensterscheibe, vor der wir stehen; und wie oft dies nicht nur eine Trübung, sondern eine häßliche Unlauterkeit war, wie oft unsere Klugheit ein Fallstrick war, den wir einem anderen gelegt haben, dasweiß einjeder von sich selbst. Wenn aber Klugheit und Unlauterkeit so zueinander stehen, wie wir es durchgängig an uns erfahren, so kann unser Herr das nicht mit seinem Worte gesagt haben, was ihn die Leute so gemeinhin damit sagen lassen. Es tut uns sogar wehe, wenn wir sehen, wie dieses arme Sprüchlein von Menschen, die für den Herrn sonst nicht viel übrig haben, immer angeführt wird und höhnisch zur Rechtfertigung so vieler Klugheit dienen muß, der die Falschheit auf der Stirne steht. Vielleicht ergeht es euch wie mir, daß ihr schon fast darunter gelitten habt, dieses Wort desHerrn den Menschen ausgeliefert zu sehn, ohne es ihnen entreißen zu können. Was ist dann aber diese Schlangenklugheit, dieJesus seinen Jüngern anempfiehlt, wo er sie zur Predigt des Evangeliums in dieWelt hinaus sendet, und die unser Verhalten bestimmen soll? Was verstehen wir unter Weltklugheit? Weltklug sind wir alle aus Notwendigkeit, die einen mehr, die andern weniger, je nach unserer Anlage. Daran ist nichts Böses. Denn der Herr Jesus war es auch, wenn er es sein wollte. Erinnert euch nur der Art, wie er ihren Fragen begegnet, wenn er sieht, daß sie ihn damit fangen wollen. So kamen sie und

798 Predigten desJahres 1907

verlangten, er solle ihnen sagen, in welchem Recht und in welcher Vollmacht er die Wechsler und Händler aus dem Tempel getrieben. Er erwidert, er werde ihnen die Antwort erst geben, wenn sie ihm sagten, in welcher Vollmacht derTäufer aufgetreten sei [Lk. 20,1– 8]. Aber der Kampf umsDasein, in demwir stehen, stellt an unsere Weltklugheit Anforderungen, wie er sie an die Geschlechter vor uns nicht gestellt hat. Wir haben alle das Empfinden, daß es heutzutage nicht mehr allein auf das Können und die Tüchtigkeit, sondern auf eine gewisse Berechnung der Umstände, eine gewisse Geschicklichkeit, ein kluges Ausnützen der gegebenen Verhältnisse, ein kluges Verhalten den Menschen gegenüber ankommt. Was gehört nicht alles an Berechnung und Weltklugheit dazu, um heutzutage ein Geschäft auf der Höhe zu halten? Oder auf was alles muß nicht ein Mensch, der in einem Berufe oder Amt vorwärtskommen will, achten, um sich hier einen Weg nicht zu versperren, dort nicht anzustoßen, dort einem Menschen durch seine Meinung kein unnötiges Ärgernis zu geben, sich dort Einfluß zu erhalten, dort dasWohlwollen zu sichern, dort einen guten Eindruck zu machen ... und was dergleichen mehr ist. Vor uns allen steht das Gespenst der Menschen, die es im Leben zu nichts gebracht haben. Darum stehen wir alle auch in Gefahr, zu weltklug zu werden! Ob wir wirklich weltklug sind, ist eine andere Frage; manche, die sich einbilden, es zu sein, sind es gerade deswegen nicht, sondern dumm, töricht und unnatürlich. Aber wir streben alle nach Weltklugheit. Nun sagt der Herr: «Klug wie die Schlangen.» Ist hier die Schlange das Sinnbild der Falschheit? Nein, denn sonst hätte esJesus nicht gewählt. Im Altertum galt die Schlange als dasTier der geheimnisvollen, überirdischen Weisheit, auch als heiliges Tier. «Seid klug wie die Schlangen», sagt Jesus zu den Jüngern im Augenblick, wo er ihnen die Geheimnisse des Gottesreiches angedeutet hat und sie nun mit einer solchen Botschaft hinaussendet als solche, die etwas wissen, was die Welt nicht weiß. Dasselbe heißt’s für uns: Seid klug in derWelt als solche, die noch eine höhere Weisheit besitzen. Dann ist’s die rechte Klugheit! Die höhere Weisheit aber, in der wir klug sein sollen, lautet: «Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, daß er seine Seele wieder löse?» [Mt. 16,26]. Jesus sagt uns: Seid klug, aber nie auf Kosten eures inwendigen Menschen, sondern prüfe deine Klugheit, ob sie nicht derart ist, daß du innerlich langsam daran zugrunde gehst. Die erste Probe ist die auf dieWahrhaftigkeit. Stelle sie nicht so obenhin an als einer, der gleich befriedigt ist, wenn er äußerlich keine deutlichen Spuren von Unwahrhaftigkeit nachweisen kann, sondern geh tief

Seid klug wie die Schlangen

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hinein. Die Frage, wieviel in den äußeren Umgangsformen, die heutzutage zwischen Menschen üblich sind, [wahrhaftig ist,] wollen wir hier ruhen lassen. Es wäre im Interesse der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit vieles daran zu bessern. Aber die Wahrhaftigkeit, auf die es ankommt, liegt auf einem ganz andern Gebiet. Bist du in deiner Art und deinem Verhalten den Menschen gegenüber, von denen du etwas erfahren oder erreichen willst oder denen du entgegenzutreten glauben mußt, wahrhaftig? In dieser Hinsicht, fürchte ich, ist unser Empfinden viel zu sehr abgestumpft, daß wir auch unlautere Dinge oft fast als natürlich ansehen. Ein Beispiel: Du bist über etwas berichtet und möchtest sehen, ob ein anderer Mensch dir darüber auch dieWahrheit sagt. Du bringst die Rede darauf, tust, als ob du nichts wüßtest, und machst ihn reden. Dann plötzlich hältst du ihn an und hast ihn gefangen in seiner Unwahrheit und redest dir wunder was ein, wie schlau du das angefangen hast! Ich meine, das dürfen wir mit keinem Menschen tun, sogar die Eltern mit ihren Kindern nicht. Denn in diesem Verschweigen liegt eine Unwahrhaftigkeit und Verstellung drin, die dann wieder selbst beim andern eine Versuchung wird, sich wider die Wahrheit zu verfehlen. So sind wir oft schuld durch eine verdeckte Unwahrhaftigkeit, daß ein anderer der Versuchung zur Lüge unterlag. Haben wir schwachen Menschen das Recht, einen andern in Versuchung zu führen? Darum handle im Kleinen und im Großen immer so, daß du sagst: Ich weiß dies und das, was hast du darauf zu erwidern? Und du darfst dir dann sagen, daß du mehr als einen Menschen von schwerer Sünde wider die Wahrhaftigkeit bewahrt hast. Alles, wasnur von ferne danach aussieht, einem Menschen eine Schlinge zu legen, darin er sich verstricken soll, darfst du nicht tun, denn dein innerer Mensch leidet Schaden daran. Die zweite Probe ist, ob du gegen dich selbst wahrhaftig bist, ob du nicht manchmal ausKlugheit zustimmst, wo du nicht mehr darfst, und schweigst, wo du reden solltest. Ich bin der letzte, welcher der Ansicht ist, ein Mensch müsse seine Meinung überall und bei jeder Gelegenheit anbringen, sondern ich glaube, wir müssen viel für uns behalten können, weil es nicht zeitgemäß und unnütz ist, wenn wir überall unsere Ansicht preisgeben wollen und uns dadurch unnötig verbrauchen. Aber da, wo unser Gewissen sagt, daß wir nicht zustimmen und nicht schweigen dürfen, wenn es sich um etwas handelt, das nicht sein darf, wenn es sich um dasWohl undWehe eines Menschen handelt, wenn es eine Sache oder Wahrheit gilt, dann hast du kein Recht, dich mit Erwägungen der Klugheit zu betäuben, dir einzureden, es helfe ja doch nichts, wenn du auch den Mund auftust, sondern du mußt dem inneren Menschen in dir selber treu bleiben und mußt im Namen der höheren Weisheit vor der Welt unklug werden, mag sie dich als Toren schelten,

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mag sie über dich zur Tagesordnung übergehen, magst du verlieren, was du willst. Ihr wißt, es sind nicht nur die Menschen in hohen, verantwortlichen Stellungen, die in diese Lage kommen, sondern jeder Mensch, er mag sein, was er will, kommt öfter darein, als wir es voneinander wissen. Wieviel geschieht in der Welt an Menschen und an Dingen, nur weil einer oder mehrere Menschen klug und biegsam sind auf Kosten der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst. Es gibt zuwenig unkluge Menschen unter uns; darum ist so viel möglich, was es sonst nicht wäre, nicht zum Vorteil unserer Zeit. Ihr, die ihr das kommende Geschlecht heranzieht, unterweist es nicht nur zur Klugheit, sondern auch zur Unklugheit aus jener höheren Klugheit. Eine dritte Probe stell darauf an, ob deine Klugheit einem andern Menschen nicht etwas von seinem Glück und Frieden kostet. Auch hier reden wir nicht von den Menschen, die in hohen Stellungen sind, sondern von uns. Wenn wir mit Kindern in den Bergen gehen, und sie belustigen sich, Steine den Wald hinabzurollen, weisen wir sie zurecht und verwehren es ihnen, weil sie nicht wissen können, ob der Stein nicht jemand unten auf der Straße trifft. Wir selber aber sind so, daß wir im Leben manchmal einen Stein ins Rollen bringen, von dem wir sicher wissen, daß er den und den treffen kann, und wollen uns dann vor uns selber rechtfertigen, als hätten wir es eigentlich nicht wissen können. Ob’s im Geschäft ist oder im Worte, das du sprichst: In dem Augenblick, wo du dich über die Verantwortlichkeit dem Nebenmenschen gegenüber, wie du allein sie beurteilen, wie sie dir keiner nachrechnen kann, hinwegsetzest, du magst es mit noch soviel Gründen vor dir beschönigen, ist’s eine böse Klugheit, und das Glück und der Friede, den du andern genommen, zehrt an deinem inwendigen Menschen, und Gespenster umschweben dich, die du nicht verscheuchen kannst. Waslehrt die Klugheit, von derJesus redet? Sie lehrt, wie du dich selber innerlich unverletzt durchs Leben bringst, indem du mit Bangen darum sorgst, daß in deiner Weltklugheit keine Unwahrhaftigkeit und Falschheit sei. Ihr lest in den Zeitungen von einem giftigen Gas, das geruchlos dem Ofen entströmt. Keiner im Zimmer merkt’ s, bis sie schon zu betäubt sind, um ein Entrinnen zu versuchen. Am andern Morgen findet man sie tot. Also ist es mit derWeltklugheit. Die Unwahrhaftigkeit und die Falschheit, die darin sind, entwickeln ein Gift, an dem der inwendige Mensch notwendig zugrunde geht. Die Gefahr ist so groß, weil die Menschen nicht wissen, was ihren inneren Menschen betäubt und zerstört, daß es ihre Weltklugheit ist, an der sie innerlich zugrunde gehen, das, was sie selber nicht als Sünde ansehen, was ihnen keiner als solche nachweisen kann, und das doch die Ursache ist, warum sie keine innerliche Kraft mehr haben.

Selig sind die Friedfertigen

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Darum wollen wir über unsere Menschenklugheit wachen und nachstreben der wahrhaftigen Klugheit, die aus dem Herzen kommt, mag sie auch vor den Menschen manchmal als Unklugheit erscheinen. Unser Leben wird dadurch nicht leichter; wir schaffen uns oft Verlegenheiten, Zweifel, Bedenken, die wir uns mit leichter Mühe ausreden könnten, wenn wir wollten. Aber das soll uns helfen und trösten, daß wir dann auf demWege sind, der aufwärts führt; und auch dieses, daß wir in der Kraft dieser Klugheit den Menschen vieles sein, ihnen vieles geben und helfen können, daswir ihnen nur so geben können.

Morgenpredigt Sonntag, 27. Januar 1907, St. Nicolai. Kaisersgeburtstag

Mt. 5,9: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen

Es soll heute eine Festpredigt auf den Geburtstag des Kaisers gehalten werden. So schreibt es unsere Kirche vor, wenn dieser Tag auf einen Sonntag fällt. Wir aber, wenn ihr euch recht erinnert von vor vierzehn Tagen, wollten in dieser Epiphanienzeit miteinander überdenken, was unsJesus für unser tägliches Leben gebracht hat. Dasletzte Mal sprachen wir von der wahren Lebensklugheit im Sinne unseres Herrn; heute wollten wir über die wahre Friedfertigkeit nachdenken. Und ich meine, daß dies sich ganz recht trifft mit der Besonderheit

des heutigen Gottesdienstes, denn Festgottesdienst kann nicht heißen, daß wir hier von demjenigen reden, der im Reich am höchsten steht und der doch mit dem Ärmsten seiner Untertanen vor Gott gleich ist, sondern daß wir daran denken sollen, welche Ziele und Aufgaben ihn und dasVolk miteinander verbinden und was unserer Zeit, den Regierenden und Regierten not tut, damit wir in einem Geiste dem Ideal nachstreben und in unserm Reich an der Verwirklichung des Reiches Gottes arbeiten. Das ist die wahre Friedfertigkeit. Wasist wahre Friedfertigkeit? Es ist eine gewisse Gefahr, daß wir uns unter den Dingen, von denen unsJesus redet, nicht immer etwas vorstellen, was wir im täglichen Leben verwirklichen können, und dannJesu Forderung als ein unerreichbares Ideal ansehen, uns für das Leben aber eine andere Moral zurechtmachen. Hier ist diese Gefahr sehr groß, denn man ist gar leicht geneigt zu sagen, daß man mit Friedfertigkeit in der Welt nicht durchkommt, und ihr selber seid schon geneigt gewesen, dieser Meinung recht zu geben. Darum wollen wir heute diese Seligpreisung nicht in ihrer himmlischen, weltüberfliegenden Tiefe betrachten, sondern ein Stück von

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dem großen Reichtum, den sie enthält, in Kleingeld umwechseln, das wir im Lauf der nächsten Zeit einmal versuchen wollen, an den Mann zu bringen. Da merken wir gleich, daß nicht jede Münze gut ist, sondern daß es wahre und falsche gibt. Die Friedfertigkeit, die die Welt so gemeinhin als die christliche ansieht und sie bald im Ernst, bald im Hohn von denjenigen verlangt, bei welchen sie religiöse Gesinnung voraussetzt, ist gar nicht die wahre. Sie soll nämlich in einem immerforten Vermitteln, stetem Nachgeben, nirgends Anstoß Erregen bestehen. Warum ist dies nicht die christliche? Weil sie nicht auf der Wahrhaftigkeit ruht. Man verlangt von dir, daß du Dinge gutheißen sollst, die du nicht kannst, daß du mit zusiehst, wo du eigentlich nicht darfst, daß du, statt offen und gerade deinen Weg zu verfolgen, um die Sache herumgehst, Böses geschehen läßt, Gutes versäumst; und das alles um des lieben Friedens willen. Dabei kommt dann, weil die Wahrhaftigkeit fehlt, selten etwas Gutes heraus, gewöhnlich mehr Unfriede als Friede. Mir ist immer nicht recht zumute, wenn ich höre, daß dieser und dieser Beschluß gefaßt worden sei «um des lieben Friedens willen», denn ich frage mich dann immer, was nachkommt, wie ich mich frage, was aus den Kindern wird, denen die Eltern, auch um des lieben Friedens willen, dasundjenes zuletzt erlauben, was sie ihnen eigentlich nicht erlauben wollten. Und weil wir heute naturgemäß den Blick auf dasAllgemeine in unserm Vaterland richten, habt ihr nicht den Eindruck, daß mancher Unfriede, der uns darin Sorge macht, durch die kraftlose falsche Friedfertigkeit der regierenden Kreise gemehrt worden ist? Warum stehen die Konfessionen schärfer geschieden als je gegeneinander, ohne daß man eigentlich einen innern Grund sieht? Ist’s nicht zumTeil deswegen, weil man an der Stelle, wo die Geschicke des Staates gelenkt werden, es allzu sehr darauf absah, alsfriedfertig zu erscheinen, sich bald den Katholiken, bald den Protestanten zuwandte, bald hier ein Zugeständnis machte, bald dort, bald die Vertreter dieser Konfession auszeichnete, bald jene, statt unter Umständen den Vorwurf der Unfriedfertigkeit auf sich zu nehmen und vor allem nach Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit zu entscheiden? Dieselbe falsche Friedfertigkeit beherrscht auch das Verhältnis der Staaten zueinander. Hier eine Versicherung, dort eine Versicherung, hier ein Kompliment, dort ein Kompliment und dann plötzlich um einer Kleinigkeit willen Kriegsdrohung und Waffenrüstung, wie wir es vor wenigen Monaten erlebt haben, wo man dann plötzlich sieht, wie äußerlich, auf den Effekt berechnet, des tiefen Gehalts entbehrend diese ganze Friedfertigkeit ist. Und wenn wir heute als solche, die die Schwierigkeit seiner Aufgabe und die Größe seiner Verantwortung mitempfinden, unserm Kaiser von

Selig sind die Friedfertigen

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Herzen kommende Wünsche entgegenbringen, so ist es vor allem der, daß es ihm immer mehr gelingen möge, mit der äußerlichen falschen Friedfertigkeit, hinter der der Unfriede lauert, außen und innen aufzuräumen und der Regierung den Geist wacher wahrhaftiger Friedfertigkeit einzuhauchen. An dir selbst siehst du leicht, was die falsche Friedfertigkeit ist. Wenn du dabei denkst, wie du einen guten Eindruck auf die Menschen machst und gefällst, ist’s nie die rechte. Solcher Eitelkeit und Gefallsucht ist mehr in unserem Wesen, als wir nur denken! Wenn wir in der Schrift lesen von den Pharisäern, dieJesus schilt, weil sie an den Ecken beten und Almosen geben, um von den Leuten gesehen zu werden, denken wir: Das kommt bei uns nicht vor! Das nicht, aber schlimmer, indem wir vonJesu Geboten selbst nur dasÄußerliche behalten und zuletzt so Friedfertigkeit üben, um vor den Menschen zu scheinen! Darum sei recht streng mit dir, und wenn du dir ein Lob wegen deiner Friedfertigkeit machen möchtest, sieh vorerst zu, ob es nicht etwa Seifenschaum ist, von Gefallsucht und Eitelkeit aufgeblasen! Das heißt aber auch andererseits, sei ganz unabhängig von der Welt und kümmere dich nicht darum, ob die Menschen dich friedfertig nennen oder nicht. Wisse – du hast’s ja sicher schon manchmal erfahren – daß, wenn du für das Rechte und Gute immer eintreten willst, sie dich selten als einen solchen bezeichnen werden, sondern du ihnen als recht unfriedfertig erscheinen wirst. Das siehst du auch an Jesus. Die Pharisäer, die diese Seligpreisung mitanhörten, haben sicher bei sich gedacht: Der hat kein Recht, von Friedfertigkeit zu reden, denn sein Leben ist ja Kampf und Streit, und er trägt Unfrieden insVolk. UndJesus selbst gesteht’s ein, wenn er sagt: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert» [Mt. 10,34]. Und doch, trotzdem sein Leben äußerlich so war, durfte er diese Seligpreisung der Friedfertigen aussprechen. So kann es auch in deinem Leben sein, daß diese Worte vom Schwert und vom Frieden so nahe beieinander stehen und nach der äußeren Betrachtung kein Mensch sagen würde, daß du friedfertig bist. Wenn du selbst nur von dir weißt, daß du es sein willst im Geiste Jesu und um seinetwillen. Sei friedfertig, nicht damit es die Leute anerkennen, sondern um friedfertig zu sein. Worin besteht nun aber die wahre Friedfertigkeit? Es istja ein Unterschied unter den Menschen; die einen haben eine friedfertigere Natur als die andern, wassichja schon an den Kindern offenbart. Der friedfertigste Mensch, den ich kenne, ist ein Taglöhner in meinem Heimatort, den ich schon von Kind an kenne. Schon eh ich recht denken konnte, hab ich’s an ihm empfunden, daß er etwas Kostbares besitzt, undjedesmal, wenn ich ihn wiedersehe, ist’s mit derselben Befriedigung. Und doch liebe ich dann wieder auch die Friedfertigkeit bei Menschen mehr

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tätiger und leidenschaftlicher Art, bei denen sie eingesprengt ist wie ein Kristallgeäder in einen zerklüfteten Fels. Dennoch aber, obwohl es einen Unterschied zwischen den Menschen gibt, kommt’s zuletzt doch nicht auf eine natürliche Anlage an, sondern die Friedfertigkeit, die im Leben aushält und im Geiste Jesu ist, muß von uns errungen und erworben werden. Wir müssen uns selber in die Schule der Friedfertigkeit nehmen, um zum Frieden zu kommen. Wir versagen in den Fällen, wo eine große Forderung an unsere Friedfertigkeit gestellt wird, weil wir uns keinen Schatz der Friedfertigkeit sammeln durch das, wozu wir uns im Gewöhnlichen anhalten. Die wahre christliche Friedfertigkeit ist etwas Schweres und Verborgenes. Friedfertig sein heißt mit etwas fertig sein oder immer danach trachten, damit fertig zu sein: nämlich mit dir selbst. Friedfertig bist du, wenn in dem, was du unternimmst oder in dem, was du durchsetzest, du selber keine Rolle spielst, wenn du dich selber immer unbarmherzig zur Rede stellst, ob nicht etwas von Empfindlichkeit, Groll, Vergeltung, Ehrgeiz, Rachsucht, Herrschsucht offen oder versteckt in dir mitwirkt. Das läßt sich hier so leicht aufzählen, und doch, wie schwer ist’s, es auszuschalten, wenn man Ernst damit machen will! Denk nur, was es heißt, deine Empfindlichkeit und deine Berechnung, ob man dir die rechte und gebührende Ehre antut, hintan zu setzen! Auf die rechte Art, überall! Keiner aber kann zur wahren Friedfertigkeit kommen, der nicht so an sich arbeitet. Darum gibt es keine wahre Friedfertigkeit ohne Jesus, denn nur sein Geist hilft uns, mit uns fertig werden! Mit diesem innern Kampf geht ein äußerer einher: nämlich gegen die Blindheit und Gedankenlosigkeit, die dich immer wieder in die Unfriedfertigkeit derWelt hineinreißt. Läßt du dir nicht manches durchgehen, dasdu eigentlich für den Unfrieden tust? Eine Frage: Achtest du auch recht auf dich, ob du niemals redest, was zum Unfrieden dient, und zwar meine ich hier wieder besonders: andern nachredest, was zum Unfrieden dient? Es sagt ein Mensch etwas über einen deiner Bekannten. Bringst du es über dich, es nicht zu wiederholen? Du denkst dann, du tragest keine Verantwortung, weil du es selber nicht gesagt, und im Grunde wiederholst du es nur, warum denn eigentlich? – nicht, weil du es für nötig hältst, sondern aus Wichtigtuerei, Gedankenlosigkeit oder, und davon ist immer etwas dabei, weil du am Unfrieden eigentlich doch ein gewisses Behagen hast! Es gibt Fälle im Leben, wo wir einen Bekannten vor einem andern Menschen warnen müssen oder ihm sagen, weil es nötig ist, was gegen ihn vorgeht ... also etwas, das du aus Pflicht tust, deiner Verantwortung bewußt. Aber das, wasich hier meine, ist nur dasDrauf-zu-reden-Kommen im Gespräch, ohne daß du dir davon Rechenschaft gibst, dass du nur die Sache des Unfriedens besorgst, statt es in deinem Schweigen zu begraben.

Selig sind die Friedfertigen

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Wie viel wir darin fehlen, siehst du erst, wenn du es einmal auch nur auf ein paar Tage versuchst, alles, was du weißt, dasirgendeinen Unfrieden, irgendeine schlechte Meinung zwischen zwei Menschen schaffen könnte, für dich zu behalten, und wenn du schon auf dem Punkt bist, es zu sagen, es immer wieder hinabzuschlucken. Dann wirst du über dich ganz erschrecken und bemerken, wie der Mensch, der sich nicht beobachtet, in hundert Worten ein Überträger des Unfriedens

ist. Hast du nicht schon in der elektrischen Leitung in einem Hause zwischen den beiden sich kreuzenden grünumsponnenen Fäden kleine Metallklötzchen bemerkt? Sie sind dazu da, wenn einmal die beiden Fäden durch Undichtwerden der Isolierung in Berührung kommen und nun die strahlenden Flämmchen dran weiterlaufen, durch ihr Schmelzen ihnen denWeg zuversperren, daß sie nicht weiterkommen, und so klein sie sind, an irgendeiner Stelle das Haus in Brand setzen. So soll jeder Mensch sein, daß er nämlich alles, was dem Unfrieden dienen könnte, wenn es an ihn herankommt, nicht weiterläßt, sondern in sich einschmilzt. Aber es heißt eben wachsam sein! Es ist das Schweigen den Menschen gegeben, um den Unfrieden aufzuhalten, und dasReden, um ihn ausderWelt zu schaffen! Wenn du das Bedürfnis fühlst überall in allem, was du sprichst, zum Frieden zu reden, dann tust du in den Augen Jesu ... nur deine Pflicht, und schau nur recht, daß du sieja nicht vergißt. Bist du schon mit einem Gärtner durch den Garten gegangen? Er redet mit dir vomWetter und von Politik und tut nichts und doch so viel. Da zwackt er einWasserschößlein ab, dort entfernt er eine welke Blume, dort hat er ein Unkräutlein herausgezogen, dort langt er ein Stück Bast heraus, um einen Stock besser anzubinden, geht immer weiter und tut nicht dergleichen. So sollst du ein Gärtner im Garten Gottes sein unter den Menschen und immer beschäftigt sein, du magst tun, was du willst, Dinge undWorte des Unfriedens aus derWelt zu schaffen, daß sie nicht weiterwachsen. Ihr könnt euch billig wundern, daß ich einen solchen Wert auf das lege, was wir in den kleinsten Dingen des täglichen Lebens durch Schweigen und Reden für den Frieden tun in Dingen, die uns persönlich vielleicht nicht gerade nahe angehen! Weil ich dessen ganz sicher bin, daß wir deswegen so wenig von der Seligpreisung der Friedfertigkeit an uns erfahren, weil wir alltäglich durch so vieles, was wir gedankenlos für die Unfriedfertigkeit tun, aus der Friedfertigkeit herausfallen und nicht mehr hineinkommen. Aus dem vielen Kleinen, was du, von demTruge der Gedankenlosigkeit befreit, in der Welt für die Friedfertigkeit tust, sammelst du dir einen Schatz, der wächst wie Geld, bei dem man die Zinsen immer wieder zum Kapital schlägt.

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Dann ist Friedfertigkeit in dir. Das will heißen, es geht eine geheime Kraft der Friedfertigkeit von dir aus, ob dir ein ruhiges oder ein Leben des Kampfes beschert ist, gleichviel! Und diese Kraft der Friedfertigkeit hat Gewalt über die Menschen, ohne daß sie es ahnen; wenn sie nur in dir drin ist, strahlt sie von dir ausvon selbst. Wasmuß dasfür eine Kraft des Friedens in Jesus gewesen sein, dass einer seiner Jünger plötzlich zu ihm trat undihm sagte: Ich will meinem Bruder siebenmal desTags vergeben; ist’s genug [Mt. 18,21]? Freilich, du darfst nicht wollen ernten, ehe du recht gesät hast. Wenn du irgendwo Frieden hineintragen oder etwas zwischen Menschen wegräumen willst, bilde dir nicht ein, das müsse gleich gehen, weil du den guten Willen hast. Wie lang – zwei, drei Jahre – braucht’ s, bis ein Garten, in dem dasUnkraut überwucherte, in den rechten Stand gebracht ist! So mit denWerken des Friedensstiftens: Sie erfordern eine lange, stille, verborgene Arbeit, ein unmerkliches Hinwegräumen vieler böser Dinge, und dann, wenn du schon gar an keinen Erfolg mehr glaubst, ist er plötzlich da. Das aber ist das Schöne an dem Arbeiten für Friedfertigkeit, daß wir immer etwas davon sehen. An so vielen andern geistigen Aufgaben schaffen wir vergebens oder so, daß wir von dem, was daraus wird, nichts mehr sehen. Aber keiner hat noch in seinem Leben der Friedfertigkeit von Herzen gedient als einer, der auch im Kleinen treu sein wollte, ohne etwas von dem, waser wirkte, erfüllt zu sehen. Das Schönste aber an dieser Seligpreisung ist, daß du ihre Wahrheit an dir erfährst. Man lehrt uns von Jugend auf, daß wir Gottes Kinder sind. Aber fühlt ihr es nicht, wie wir uns danach sehnen, daß dies für uns nicht ein religiöser Begriff, sondern etwas Reales werde? Wir leiden darunter. Aber wenn du dieWerke der Friedfertigkeit getan hast, dann fühlst du ein stilles, tiefes Glück, eine Ruhe in der Unruhe, dich wie durch einen Zauber dieser Welt enthoben, weil du in dem Wirken der höheren Welt, die Frieden ist, drin standest, ihre Gesetze hier verwirklichtest und darum ihr angehörtest in jenem Augenblick. In der Friedfertigkeit finden wir Frieden mit Gott und werden eins mit ihm ... darum heißt’s: «Selig sind ... » Denn Frieden in Gott ist Seligkeit. Drum möge uns Gottes Geist erleuchten und helfen, daß wir Kräfte des Friedens hienieden werden, die Niedrigen und die Hohen, und Frieden von uns ausgehe und Seligkeit uns erfülle nach derVerheißung, die den Kindern desFriedens gegeben ist.

Wir haben

nicht einen Hohenpriester

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Morgenpredigt 2. Passionssonntag, 24. Februar 1907, St. Nicolai¦1¿

Hebr. 4,15: Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleiden haben [mit unsern Schwachheiten, sondern der versucht ist allenthalben gleichwie wir, doch ohne Sünde]¦2¿

Der HerrJesus selber hat verboten, daßwir über seine Sündlosigkeit predigen, da er zum reichen Jüngling sagt: «Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der Vater im Himmel» [Mt. 19,17]. Es ist auch nicht nötig. Daß Jesus in einzigartiger Reinheit durch alle Versuchungen des Lebens hindurchgegangen ist, fühlen wir an dem Eindruck, den sein Wesen, wie es uns aus den Evangelien entgegentritt, auf uns macht. Wer diesen unaussprechlichen Eindruck der Reinheit von ihm hat, der braucht nicht weiter darüber reden zu hören, und wer ihn nicht hat, der bekommt ihn nicht, undwenn man ihm hundertmal davon vorpredigt. Im übrigen aber heißt es im Text, daß ein Mensch, der hoch und einzig über den andern stand, durch das, was er im Leben durchmachte, ihnen nahekam und ihnen helfen konnte. Wenn steht, daß er Hohepriester ward, so ist dies ein Bild dafür, daß seine Hilfe in der Versöhnung besteht, die von ihm ausgeht [Hebr. 2,17 f.]. Nun sage ich euch vielleicht etwas Anstößiges: daß man sich nämlich viel zuwenig unter demWorte vorstellt, daß Christus ein Versöhner ist, weil man dabei immer nur daran denkt, daß er die Menschen mit Gott und Gott mit den Menschen versöhnt hat. Wer kann diese Lehre auslegen? Was heißt das eigentlich, er hat uns mit Gott versöhnt? Mir scheint es immer, als sei dies der Gipfel eines hohen Berges, der, immer mit Wolken bedeckt, unsichtbar bleibt. Sichtbar aber wird er, wo der Berg sich in die Ebene herabläßt, das heißt wo Jesus als Versöhner auf Menschen wirkt, indem er sie mit den Menschen und derWelt versöhnt. Darauf erbaut sich von selbst die Versöhnung mit Gott. Eines ist nicht ohne das andere. Viele Menschen lassen sich mit Gott nicht versöhnen, weil sie es mit derWelt und den Menschen nicht sind. Das Sichtbare an der Lehre von der Versöhnung versteht ihr, wenn ihr den Herrn, der zum Leiden geht, mit den Menschen beobachtet. Hinter ihm liegt, daß die Menschen ihn nicht verstanden haben, vor ihm, daß er leiden und sterben wird. Man sollte meinen, daß er nur mit sich selbst beschäftigt, mit den Menschen um ihn her und dem, was in 1 [R] Appartient à Olympia Curtius. [Olympia war die Tochter von Friedrich Curtius, in dessen Familie Schweitzer von 1906 an ein und aus gehen durfte, wie wenn er dazu gehörte. A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 116f.] 2 [Mit den Gedanken über «Leiden, Mitleiden, Priester sein wieJesus» geht Schweitzer auf ein Thema ein, auf das Helene Bresslau in einem Brief vom 21. Februar 1907 zu sprechen gekommen ist. AS-HB, S. 169 f.]

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ihnen vorgeht, fertig ist. Und gerade jetzt ist er mitfühlend mit ihnen, im Großen und im Kleinen, Mensch für Menschen. Alles, was von ihm in dieser Zeit erzählt wird, handelt von dem, was er den Menschen anfühlt. Er ruht schon im Zelt, es ist Abend; er ist müd vom Weg, müd vom Denken. Weiberstimmen und Schelten derJünger. Er aber fühlt mit den Müttern, die ihren Kindern das schenken wollen, daß der Prophet sie gesegnet hat, steht auf und tritt hinaus [Mt. 19,13–15]. Am Weg zuJericho sind die Menschen ungehalten über das monotone Gejammer des blinden Bettlers. Er versteht ihn [Mk. 10,46– 52]. Da sie zu Tische liegen, tritt ein Weib herein und will ihm etwas Liebes antun. Die andern finden es unpassend; er fühlt mit ihr und richtet sie auf [Mt. 26,6– 13]. Er fühlt mit der Witwe, die ihren Groschen in den Gotteskasten wirft [Mk. 12,41–44]; er fühlt mit den Jüngern, wie schwach sie sind, und sagt ihnen voraus, daß sie ihn verleugnen und verlassen werden [Mt. 26,31], nicht um sie zu kränken, sondern um ihnen im voraus zu vergeben! Dieser Hohepriester sucht Priester, die unter den Menschen fort und fort als die Mitfühlenden des heiligen Amtes walten, Menschen zu verstehen und sie mit derWelt und den Menschen und damit mit Gott zu versöhnen. Wenn er sie nicht findet, so ist das Schönste an seinem Versöhnungswerke dahin. Er braucht dich. Hab acht, daß du dieWeihe nicht versäumst. Sie besteht in dem, was du im Leben durchmachst. Wer nichts durchgemacht hat, kann den andern nichts sein, denn er weiß nicht, was dasWort mitleidig sein heißt. Denn es heißt nicht nur, Mitleiden mit ihm haben, sondern wissen, was in ihm vorgeht und ihm helfen können als einer, der durch dasselbe hindurchgegangen ist. Darauf kommt es nicht an, wasdu schon durchgemacht hast, sondern ob du in dem, was du hinter dir hast und vor dir siehst, den Menschen als ein Mitleidender nähergekommen bist. Die Menschen kommen dir nicht näher, sondern sie rücken dir ferner. Das erfahren wir alle zusammen, wie es die Menschen vor uns erfahren haben und nach uns erfahren werden, daß wir uns immer mehr allein fühlen, je weiter es vorangeht, weil wir immer mehr sehen, wie wenig uns Menschen verstehen und helfen können. Dann kommen sie dazu, daß sie mit den Menschen fertig sind und sich auf die wenigen beschränken, an denen ihnen etwas liegt. Das ist die Versuchung, die wir alle durchmachen. Ihr wißt, was aus denen wird, die darin erliegen: Sie können den andern nichts mehr helfen. Durch das, was sie durchgemacht haben, sind sie den andern verlorengegangen. Das hat Jesus tropfenweise ausgekostet von dem ersten Tag an, da er unter den Menschen auftrat, bis zur letzten Nacht vor dem Tode, da er mit allem Bitten und Flehen unter den liebsten Jüngern keinen fand,

Wir haben

nicht einen Hohenpriester

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der in Gethsemane, da er mit der Angst vor dem Todesschmerz fertig werden mußte, bei ihm wachte [Mt. 26,36–46]. Aber er wurde nicht einsam. Je weniger der Menschen wurden, die ihm helfen konnten, desto mehr entdeckte er deren, mit denen er als ein Mitleidender fühlte und die ihn brauchten. Das ist auch unser Weg. Als die, die wir etwas von den Menschen für uns erwarten, werden wir früher oder später fertig mit ihnen. Als die, welche ihnen als die Mitleidigen helfen können ... nie! Da kommen wir ihnen immer näher, wir können nicht anders, wir müssen unter sie, wir verstehen sie, wir fühlen immer besser mit ihnen, wenn wir, wasuns dasLeben bringt, durchmachen als dieJünger unseres Herrn. Das Wort Mitleiden hat einen schlechten Klang, denn das gewöhnliche, menschliche Mitleid hat etwas Niederdrückendes, so daß wir oft lieber alles wollen, nur nicht dasMitleid der Menschen. Aber das, wovon wir sprechen, ist etwas ganz anderes. Es gibt sich nicht als Mitleid, sondern esist ein innerliches Verstehen dessen, wasin einem andern vorgeht, keine aufdringliche Neugierde, kein Merkenlassen, daß man in ihn hineingeblickt, sondern ein keusches, zurückhaltendes Verstehen, ein Helfen durch ein Wort, eine Anerkennung, ein Hinwegräumen einer Schwierigkeit, ein Inruhelassen, Nichtberühren durch ein Tun, Reden und Helfen, in welchem das Unaussprechliche, das dahintersteht, das Kostbarste ist und dein ganzes Verhalten so als etwas ganz Einfaches und Selbstverständliches erscheint; daß du nicht mitverdammst, wo andere verdammen, nicht mitrichtest, wo andere richten, nicht dich entrüstest undvorsichtig fernhältst, wo sich andere fernhalten, nicht Vertrauen verlierst in einen Menschen, weil andere es verlieren, nicht einen Menschen niederdrückst, weil andere ihn niederdrücken, nicht sagst: Ich will warten, bis er sich gebessert hat, weil die andern sich auf dieses Verhalten zurückziehen, nicht empfindungslos für seinen Schmerz, weil er ihn nicht merken läßt, nicht ohne Mitgefühl für seinWollen undHoffen und Sehnen, weil er es verbirgt, sondern in deinem Mitfühlen frei von dem, was die andern sagen werden, frei von Sitte, gesellschaftlicher Gewöhnung, von Schüchternheit und was uns sonst noch unfrei macht, sondern Mensch zu Mensch, wie Jesus es war, weil du von dir aus weißt, was es heißt: leben, kämpfen, versucht werden, unterliegen, standhalten, sich weiter schleppen, und wie schwer dasalles ist, wenn man allein ist. Das ist unser Priesteramt an den Menschen, nicht allein an denen, die wir kennen und liebhaben, sondern an allen, denen wir begegnen und von denen wir fühlen, daß wir ihnen etwas helfen können. Wir können es, wenn das, was wir an uns erfahren, uns nicht verschlossen hat, sondern uns mitfühlend gemacht hat mit den Menschen, denen dasselbe in der Welt begegnet, und wenn wir an allem, was uns begegnet ist, eine stille Heiterkeit und Zuversicht erworben haben, die auf die andern als Kraft ausgeht, und uns zu einer Versöhnung mit der Welt,

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den Menschen und Gott durchgefunden haben, die wieder Versöhnung wirkt. Und wartet nicht auf schweres Erleben und schweres Leiden, bei welchem sich dies an euch erfüllen soll, sondern wißt, daß auch das, wasdas gewöhnliche Leben bringt, was du an dem bösen Menschen in dir und an den andern erlebst, im Geiste Christi überwunden werden muß, und daß der, welcher das, was dem Menschen im alltäglichen Leben begegnet, so versteht und ihm so begegnet, ihm viel helfen kann. Man versinkt nicht nur in derTiefe des Meeres, sondern auch im Sumpfe, wenn einem niemand denWeg zeigt, der daraus herausführt. So erliegen gar viele Menschen denVersuchungen ihres eigenen Ichs im alltäglichen Leben, denVersuchungen, welche ihnen die andern bereiten, den Enttäuschungen, den Demütigungen, dem Irrewerden an den Menschen, der Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit, weil ihnen keiner in denWeg kommt, der sie versteht und ihnen denWeg zum inneren Frieden weist. Wir geben uns alle nicht genug Mühe, uns in dieser Weise zu verstehen und zu helfen, auch nicht einmal mit denen, die um uns herum sind, sondern wir helfen noch mit, die andern untergetaucht zu halten, und wundern uns dann, wenn sie nicht mehr an die Oberfläche kommen und ertrinken. Vielleicht kommt euch dieser Ausschnitt ausder Betrachtung desLeidens Jesu, auf uns selbst angewandt, klein und geringfügig vor; vielleicht ist es gerade hier noch schwerer als sonstwo, das Unfaßbare der Gedanken in das Gleichnis derWorte zu kleiden, so daß esjeder sich in sein Leben übersetzen kann: Darum gehört es dennoch zur wahren Passionsbetrachtung, daß wir bei uns bedenken, was es für uns heißt, daß wir durch das, was uns das Leben bringt, in Jesu Geist mitfühlend und mitleidig mit den Menschen werden und geschickt werden, ihnen zum Frieden und zurVersöhnung zu helfen.

Nachmittagspredigt Sonntag, 3. März 1907, St. Nicolai

Mt. 26,47– 50: Jesus und derVerräter¦3¿

Die Leidensgeschichte des Herrn ist ein Spiegelbild des Lebens, wie es zu allen Zeiten ist. In den Menschen, die darin auftreten, erkennen wir 3 [Und als er noch redete, siehe, da kamJudas, der Zwölf einer, und mit ihm eine große

Schar, mit Schwertern und mit Stangen, von den Hohenpriestern und Ältesten des Volks. Und derVerräter hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt: Welchen ich küssen werde, der ist’s; den greifet. Und alsbald trat er zuJesu und sprach: Gegrüßet seist du, Rabbi! und küßte ihn. Jesus aber sprach zu ihm: Mein Freund, warum bist du gekommen? Da traten sie hinzu und legten die Hände an Jesum und griffen ihn.]

1 1undder8Verräter Jesus

uns, wie wir sind; in ihm sehen wir uns, wie wir sein sollten; aber nicht nur das, sondern wie wir werden wollen! Es stehen miteinander ein Verratener und sein Verräter. Wie ist’s gekommen? Das kann niemand erklären. Denn einzig um der paar Silberlinge willen hat er ihn nicht verraten. Wäre er nur ein geiziger Mensch gewesen, hätte er nicht sein Dorf, Weib und Kind, sein Gut verlassen, um mitJesus zu ziehen, seine Armut zu teilen, den Hohn, den die Leute für ihn übrig hatten, mit ihm zu tragen. Er tat es aus Liebe für ihn; und Jesus muß diese Liebe an ihm verspürt haben, sonst hätte er ihn nicht unter die Zwölf aufgenommen. Wenn er ihn verrät, so ist’s, weil er an ihm irre geworden ist, weil eine Verblendung über ihn gekommen ist, weil er sich in seinen Erwar-

tungen getäuscht sieht! Es ist keiner unter uns, der nicht weiß. was es heißt, verraten werden. Das sind Erfahrungen, die sich in unserm Leben mit unverlöschlicher Schrift einschreiben, vonjenem ersten Mal an, wo wir uns als Kind von einem Spielgefährten verraten fühlten, und zum ersten Mal dieses furchtbare Weh uns überkam, bis jetzt, wo jede neue Erfahrung noch schmerzlicher ist als die alte.¦4¿ Aber es ist auch keiner unter uns, der nicht weiß, wasVerrat ist, von dem her, daß er selbst Menschen verraten hat. Das sind Stunden, die man noch viel lieber aus dem Leben auslöschen möchte als die andern, wo einer uns verriet, ohne daß es geht. Menschen hatten das Recht, auf uns zu zählen, daß wir ihnen helfen würden; und als es drauf und dran kam, ließen wir’s gehen, wie’s konnte. Es wurde über sie geredet; wir hätten können mit einem Worte ihren guten Namen retten oder irgend etwas von ihnen abwenden, wenn wir für sie eingetreten wären – und taten’s nicht. So ist gar mancher Mensch, den wir liebhatten, und zwischen dem und uns nun dasWort liegt: Warum hast du mir das getan? Warum haben wir es getan? Aus Bequemlichkeit, aus Angst, aus Menschenfurcht, um irgendeines Vorteils willen. Aber ihr wißt, das alles hätte nicht zugereicht, sondern dashatte Gewalt über uns, weil unsere Sinne verdunkelt waren, weil etwas Unbegreifliches sich zwischen die, die wir liebten, und uns gelegt hatte und uns der bösen Macht in uns preisgab! Unser Herr hat einmal von dem Ärgernis gesprochen, das kommen muß! «Es muß ja Ärgernis kommen», hat er gesagt [Lk. 17,1]. Je mehr man dasLeben, dassich um einen abspielt, versteht, desto mehr versteht man auch dieses Wort: «Es mußja Ärgernis kommen», und lernt begreifen, daß es zu den unbegreiflichen Gesetzen des Lebens gehört, daß die

4 [Vgl. A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 263:] «Gleich in meiner ersten Schulzeit mußte ich mit einem der schwersten Erlebnisse, die die Schule desLebens für unsbereit hält, fertig werden. Ein Freund verriet mich.»

812 Predigten desJahres

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Menschen so Schweres voneinander erfahren, daß einer den andern verrät und im Stiche läßt, und dasselbe wieder von andern erfährt. Weil das ein Gesetz ist, müssen wir mitleidig miteinander sein. Das ist das Letzte fast, wasJesus uns lehrt. Mit einem Kuß kommt der andere, ihn zu verraten! Er schilt und richtet nicht. «Mein Freund», redet er ihn an; mein Freund, noch immer mein Freund ... als ob er ihn nicht verraten hätte; «warum bist du kommen?» Es ist gut, daß wir das wissen. Nachher hat Judas ausVerzweiflung Hand an sich gelegt. WennJesus ihm ein hartes Wort gesagt hätte, wenn er ihm die Larve vom Gesicht gerissen hätte, würden wir denken, daß er ihn in dieVerzweiflung gejagt hat, und es würde wie ein dunkler Fleck auf seinem Leben liegen. Stell dich zum Herrn und bitte ihn, daß er’s dich auch lehre. Wenn uns ein Mensch begegnet, der treulos an uns handelt, da glauben wir im Recht zu sein, ihm die Maske herunterzureißen, ihn vor den Menschen als das darzustellen, was er ist, ihn zu verdammen. Unser Herr erlaubt es uns aber nicht. Er läßt es nicht zu, daß wir einen solchen mit dem Brandmal der Treulosigkeit zeichnen, daß wir ihn in die Schuld und Verzweiflung hineinhetzen, sondern daß wir die Schuld, die wir an ihm gefunden haben, vor den andern verbergen. Das mußt du. Ob du wieder Vertrauen zu ihm schöpfen kannst, das ist eine andere Frage. Zu neuem Vertrauen kannst du dich nicht zwingen; wir haben vielen vergeben, und dasVertrauen ist nicht wiedergekehrt. Aber daskannst du, daß duvor den Menschen nicht davon redest, was er an dir getan hat, sondern es begräbst an einem Ort, den nur er und du kennen. Nirgends so wie hier gilt dasWort: «Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet» [Mt. 7,1]. Denn wir stehen alle in derselben Schuld. Es gibt Menschen, die glauben von uns, daß wir zuverlässig und treu sind. Wenn ihnen bekannt würde, wie manchmal schon wir das Vertrauen anderer getäuscht, würden sie uns ihr Vertrauen nicht mehr entgegenbringen. Und weil es so mit dir bestellt ist, denke daran, daß du kein Recht hast, was du auch mit einem Menschen erlebt hast, ihm dasVertrauen der andern zu nehmen, und wenn du, äußerlich betrachtet, damit hundertmal im Recht wärst. Vielleicht kann einer von euch sagen, daß er noch an wenig Menschen Verrat geübt hat, weil er vonJugend auf dafür sehend geworden ist, wie furchtbar diese Schuld auf uns lastet, während andere bis in ihr Alter dafür blind bleiben und fast ohne Bewußtsein dessen, was sie tun, diejenigen täuschen und verlassen, die ihr Vertrauen auf sie setzen durften. Wir Menschen können unsja so gut beruhigen mit allem, was wir zu unserer Entschuldigung uns einreden! Wenn einer unter uns ist, der ohne falschen pharisäischen Dünkel, sich bei sich selbst rühmen darf, daß er gegen die Menschen treu war, so war er doch gegen einen untreu,

Nunfreue ich mich in meinem Leiden 813

gegen den, dem wir alle die Treue nicht halten: gegen unsern Herrn Jesus! Viele Menschen sind so abgestumpft, daß sie gar nicht einmal merken, wo sie ihn verraten haben, weil er nicht leiblich als Ankläger gegen sie auftritt und keiner es ihnen nachrechnen kann. Aber wenn du bei dir überlegst, wie vielmal du dich seiner geschämt hast vor den Menschen, wie vielmal er dich zu etwas gebraucht hätte, das getan werden mußte, und du stelltest dich vor dir selber, als verständest du nicht, wie oft wir seinen Geist weit von uns verbannten, um einem bösen Geist Herberge zu geben, wie wir durch klar überlegte, vorbedachte Sünde ihn vor uns selber preisgaben ... da kommt es dir vor, als hättest du mehr Verrat, und schlimmeren Verrat an ihm begangen, als jener arme, verblendete Mensch, der ihn in die Hände seiner Richter lieferte. Er stößt dich nicht fort. Immer noch darfst du zu ihm kommen, und immer hat er keine andere Bezeichnung für dich als fürjenen ersten Menschen, der ihn preisgab ... «Mein Freund». Und wenn dir Menschen nichts zu vergeben haben, er hat’s dir so oft müssen nachsehen, daß du nicht treu warst. Darum sei geduldig und nachsichtig mit denen, die sich so an dir vergehen, und gib sie den Menschen nicht preis. So mußte das furchtbare Ärgernis der Leidensgeschichte kommen, daß für alle Zeit ein Mensch und sein Verräter vor unserer Seele ständen und wir dieses Bild müssen anschauen. Gott möge uns geben, daß wir dabei tiefen Abscheu bekommen vor allem, was Untreue ist, was wir manchmal mit so entschuldigenden Gedanken bemänteln, daß es nicht mehr als das aussieht, was es ist; er möge uns helfen, darnach zu streben, daß wir gegen die Menschen und unsern Heiland treu werden in allem; helfen möge er uns auch, daß wir mitleidig und vergebend werden mit denen, die uns gegenüber aus Schwäche und Verblendung fehlen, und wir darin die wahren Jünger Jesu werden.

Morgenpredigt Sonntag, 10. März 1907,¦5¿ St. Nicolai

Kol. 1,24: Nun freue ich mich in meinem

Leiden¦6¿

Das scheint keine richtige Lehre zu sein, daß das Leiden Christi nicht vollständig ist, und daß Menschen noch etwas hinzutun müssen. Und doch ist es wahr. Es hat seit Jesus Menschen gegeben, die haben durch ihr Leiden den andern etwas gegeben, das köstlich ist. 5 [R] Geschrieben im Zuge von Paris nach Straßburg Samstag, 9. März 07 für Tante Adda. Albert Schweitzer.

6 [, dasich für euch leide, und erstatte an meinem Fleisch, was noch mangelt an Trübsalen in Christo, für seinen Leib, welcher ist die Gemeinde.]

814 Predigten desJahres 1907

Zwei Namen möchte ich euch nennen, aus denen klar wird, was es heißen soll: Paulus vonTarsus und Paulus Gerhardt. Könntet ihr euch unser Neues Testament denken ohne die Briefe des Apostels Paulus, ohne seine herrlichen Sprüche, an denen sich die Menschen seitJahrhunderten aufrichten? Könnt ihr euch unsern Gottesdienst denken ohne die herrlichen Lieder Paul Gerhardts, dessen wir heute ganz besonders gedenken, dawir in diesen Tagen die dreihundertste Wiederkehr seines Geburtstags feiern! Ihr könnt es nicht. Wir leben in den Sprüchen des Paulus und in den Liedern unseres Paul Gerhardt, dem neuen Psalter, vor dem die Herrlichkeit desalten verblaßt, wie der Mond vor der Sonne verbleicht. Keiner ist unter uns, der nicht zu diesen zweien sprechen muß: Ich danke euch für das, was ihr mir durch eure Wunderworte gegeben habt, für den Frieden, der mir von euch kam. Und wenn wir schon lange wieder zu Staub geworden sind, werden andere ihnen noch dasselbe zu danken haben undimmerfort, solange es Menschen gibt. Wodurch sind diese so reich geworden, daß andere an ihrem Reichtum teilhaben können und dieser niemals alle wird? Durch das, was sie im Leben gelitten haben. Wären sie nicht durch die Trübsal hindurch, sie könnten uns nicht geben, was sie geben. Was es war, wir wissen es bei beiden nicht einmal genau; denn die Schicksale ihres Lebens sind uns verborgen. Von Paulus wissen wir nur so viel, als hie und da im Neuen Testament angedeutet ist. Sein Leiden war der Haß seiner Stammesgenossen, der ihn verfolgte, und die Schmach und Mißhandlung, die er als Prediger des Evangeliums zu erdulden hatte. Von Paul Gerhardt wissen wir noch weniger. Sein Leiden war der Verlust von Frau und lieben Kindern, der Verlust der Stellung in Berlin, die er dran geben mußte, weil er es mit seinem Gewissen nicht verantworten zu können glaubte, dem Befehl seines Kurfürsten nachzukommen und nicht mehr gegen die Reformierten zu predigen, wo damals der Kampf zwischen Reformierten und Lutheranern in Berlin besonders heftig war. Ob wir auch nicht wissen, was sie erduldet und das, was wir durchzumachen haben, ganz anders ist, den Ertrag ihrer Trübsal kennen wir und freuen uns seiner! Er hilft den Menschen leiden. Diese zwei kennen wir alle. Neben ihnen gibt es noch unzählige, deren Leben unter den Spruch fällt, daß sie dasLeiden Christi vollständig machen, nur daß ihre Namen unbekannt sind und sie die herrlichen Worte nicht fanden, um das, was sie den andern geben konnten, bleibend darin zu fassen. Und wenn sie auch weniger Menschen erreicht haben, nur die, die in ihrer Nähe waren, daß ihnen ihr Leiden zugute käme, so erfüllte sich und erfüllt sich der Spruch, den wir miteinander betrachten, um nichts weniger an ihnen. Und er erfüllt sich und muß sich immerfort erfüllen, wenn das, wasJesus mit seinem Leiden den Menschen erworben hat, ihnen mitgeteilt werden soll.

Nunfreue ich mich in meinem

Leiden

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Das Leiden Christi ist nicht etwas, das nur einmal und nur einmal so war, sondern es ist ein Anfang, etwas, das sich fortsetzt, ausbreitet, immerfort wiederholt. Sein Leib ist nicht nur der irdische Leib, mit welchem er vor seinen Zuhörern stand, der Leib, der ansKreuz geschlagen wurde, sondern es ist die Menschheit, die mit ihm verbunden ist, der große mystische Leib Christi, von welchem der Apostel Paulus redet. Sein Geist ist nicht nur der Geist, der in jenem Leibe wohnte, sondern Christi Geist ist aller Menschengeist, der von ihm ergriffen ist und um dieselben geistigen Güter auf Erden kämpft, die er in seinen Seligpreisungen uns als daseinzige höchste Gut erkennen ließ. So ist sein Leiden nicht die Angst und Pein allein, die er durchmachte, sondern aller Schmerz und alle Trübsal, die ein Mensch jemals als das Kreuz auflädt, das er seinem Herrn nachtragen soll, und das er durch Christi Geist zum Leiden Christi macht. Als Leiden Christi offenbart sich diese Trübsal, indem sie dasselbe wirkt, wasdas Leiden Christi und dasselbe an ihr offenbar wird. Das ist einmal die Freiheit von der Welt. Im Leiden kommt die irdische Natur ihre Forderung an den Menschen einklagen. Du bist mein, sagt sie ihm, von mir abhängig. Ich zermalme dich, ich vernichte dich, Staub bist du,

wer hilft dir vor mir? Aber wenn ein Mensch sein Leiden zum Leiden Christi gemacht hat, dann hilft es ihr nichts, sondern es ereignet sich das Paradoxe, daß in diesem Augenblick, wo die Hand, die ihn in die Irdischheit hineindrückt, daß er sich daraus nicht mehr erheben kann, er im Leiden frei wird von ihr, und der Schein, den sie ihm vorweist, zerreißt. Nehmt den letzten und tiefsten Gedanken, der den Sprüchen des Paulus und Paul Gerhardts zugrunde liegt und immer weiterlebt! Er heißt: Wir sind zur Freiheit kommen! Wir haben überwunden! Das Zweite, worin sich dieTrübsal, die ein Mensch trägt, als dasLeiden Christi offenbart, ist, daß da, wo ihm die Menschen nicht helfen können, er stark wird, ihnen zu helfen, daß die Kraft, mit der er über die Welt und die Abhängigkeit unseres Wesens von der Welt hinausgehoben wurde, nicht in ihm eingeschlossen ist, sondern aus ihm herausbricht, ihn umwebt, sich andern mitteilt, sie erfaßt, sie mithineinreißt in dasunbegreifliche Wunder desLeidens Christi, welches sich fort und fort an Menschen auswirkt und ihnen schon hier Verklärung und Frieden bringt. Kein Mensch kann den Sinn des Leidens in derWelt ganz ausschöpfen. Aber wenn wir etwas daran verstehen, so ist es dies, daß Menschen immerfort durch Leiden hindurchmüssen, nicht nur um ihretwillen, sondern um der andern willen, daß diesen durch sie das, womit Jesus uns in seinem Leiden geholfen hat, in die Hand gereicht wird, und in ihnen Jesus leibhaftig gegenwärtig unter die Menschen tritt und ihnen hilft in der Kraft, die von ihm ausgeht.

816 Predigten desJahres 1907

Wir brauchen sie, diese lebendigen Prediger des Leidens ... Kennt ihr die Angst vor dem Leiden? Ich meine jene Gedanken, die man sich nicht eingesteht, jene Gedanken, bei denen man es sich angelegen sein läßt, sich so zu erziehen, daß man sie nicht denkt, wie wir uns gewöhnen, gewisse Geräusche nicht mehr zu hören. Diese Angst lebt geheim in uns allen. Es ist die Angst vor dem Schmerz, dem sinnlosen brutalen Schmerz. Du kommst zu einem Menschen, der sich in Qualen windet und dreht, so schon Wochen und Monate. Mit den Seinigen fragst du: die Nacht? Was wird die Nacht bringen? Du kommst, redest, suchst zu erheitern, tröstest, nein, vertröstest, bringst einige Worte an, die dir selber jämmerlich nichtssagend und nichts helfend klingen ... und gehst. Steht draußen auf derTreppe nicht die Frage: Was tu ich, was tu ich, wenn ich in dieselbe Pein komme, wenn die Menschen um dich herum sich sorgen werden für dich, wasdie Nacht bringen wird? Du siehst dieVereinsamung eines Menschen, dem derTod diejenigen nahm, mit welchen er sein Leben teilte. Was tust du, wenn dir dasselbe geschieht? Ist nicht schon mancher junge Gatte nach Hause gekommen von der Beerdigung eines Freundes, der Frau und Kindern entrissen wurde, und es stand zwischen ihm und seiner Frau die Frage: Wenn wir so auseinandergerissen würden, wie würde der andere sich durchs Leben schleppen? Du siehst den Zusammenbruch der äußeren Stellung eines Menschen. Er konnte nichts dafür. Dasselbe könnte dich ereilen. Wie

trügest du’s? Du siehst den moralischen Zusammenbruch eines Menschen. Er war schuldig, nicht schuldiger als andere, nicht schuldiger, als du dich vielleicht zu Zeiten deines Lebens gefühlt hast ... und die öffentliche Meinung zermalmte ihn. Und wenn du unter dasGericht der Menschen fielest? Es hilft nichts, dass die Menschen diese Angst beschwichtigen, daß sie nicht daran denken wollen, daß sie sind wie die Kinder, die den Kopf unter die Decke stecken, wenn sie im Dunkel Geräusche hören und sich fürchten. Wenn uns jetzt, in diesem Augenblick, alles enthüllt würde, was an körperlichem und seelischem Schmerz noch auf uns wartet, bis man uns zur Ruhe hinausträgt, es würden unter uns welche aufschreien, daß es zuviel ist, daß sie es nicht können. Es bleibt vor uns verborgen ... aber dennoch kommt es, und keiner entgeht dem, wasauf ihn wartet. Nicht die Gedankenlosigkeit, die betäubende Gedankenlosigkeit, nicht Rede von Menschen, sondern nur die leidenden Menschen können diese Angst vor dem Leben in dir bannen, die in lichten Augenblicken in dir aufsteigt, die leidenden Menschen, die sich im Leiden zum Frieden durchgefunden haben! Der große Augenblick im Leiden Christi ist nicht der, wo er am Kreuze stirbt, sondern der, wo dieser, der dawußte, was Angst ist, der es in Gethsemane erlebt hat, still und ruhig

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wird, fertig ist mit dem Gedanken desTodes, des Aufgebens des Wirkens, der Schande, des Triumphes des Bösen, still und ruhig, als sagte er: Komm mit mir [die Straße], die auf die Höhe führt, wo du über alles hinausschaust. Das aber ist das Herrliche, daß dies nicht etwas ist, das nur damals war, sondern daß es noch heute Menschen gibt, die in Leiden und Not uns diesen Pfad hinaufführen und uns dort das Land der Freiheit und des Friedens schauen lassen, dessen Bürgertum sie mit Tränen erworben haben. Von ihnen gilt, was geschrieben steht: «Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen wieder mit Freuden und bringen ihre Garben» [Ps. 126,6]. Dankbar müssen wir diesen Menschen sein, nicht nur denen, deren Namen einzig dastehen oder vor andern hervorragen, sondern auch den unbekannten Menschen, denen wir im Leben begegnen und von denen wir Kraft und Frieden ausgehen fühlen! Und laßt es sie merken, daß sie als die Leidenden und Bedürftigen, als solche, die äußerlich von Menschen abhängig sind, euch etwas geben, euch erheben ... denn wie viel leichter trägt ein Mensch, was er zu tragen hat, wenn er weiß, daß er den andern in seiner Trübsal etwas Kostbares gibt. Ich freue mich! Und wenn die Trübsal an euch kommt, denkt daran, daß für euch die Stunde nicht nur des Leidens, sondern auch des Gebens gekommen ist, daß vieler Augen auf euch gerichtet sind, daß die Menschen etwas von euch erwarten, euch um etwas anflehen, wenn sie euch auch nichts zu sagen wagen, um etwas, das ihnen in der Schwachheit Mut gibt und ihnen die Angst benimmt vor dem, was auf sie wartet. Und das wird dich stärken, wie es schon viele gestärkt hat. Du erwirbst dir nichts an Frieden und Freiheit, was nicht die um dich alsbald von dir empfangen. Habt ihr’s noch nicht gemerkt, wie die Menschen es uns schon anfühlten, wenn wir uns aus einer Niedergeschlagenheit und Verzagtheit, wie sie dasAlltagsleben fürjeden mit sich bringt, in christlichem Geist herausarbeiteten und zu dem «Gib dich zufrieden und sei stille» Paul Gerhardts durchdrangen, die Leute, ohne zu wissen, was mit uns vorgegangen war, uns etwas anfühlten und, ohne zu wissen, wie, etwas von der Heiterkeit empfingen, die wir in uns trugen! Wenn du das einmal erfahren hast, braucht’s nicht mehr, daß dir einer auslege, was dasWort des Paulus bedeutet, daß wir Menschen erfüllen, was noch am Leiden Christi fehlt, sondern du verstehst es wie er und weißt, da die tiefste Bedeutung des Leidens Christi fest darin ruht, daß er alles kommende Leiden der Seinen zum Leiden Christi geheiligt hat, daß sie als die Leidenden den Menschen dienen und geben.

818 Predigten desJahres 1907

Morgenpredigt Gründonnerstag, 28. März 1907, St.Nicolai

Mt. 26,26–28: Abendmahl¦7¿ «Zieh deine Schuhe aus, denn der Ort, da du stehst, ist heiliges Land» [Ex. 3,5]: Das gilt von den letzten Tagen dieser Woche für alle, denen das Leiden und Sterben desHeilands etwas bedeutet. Mögen wir sie in wahrer Sammlung verleben und etwas davon in die kommende Zeit mithinausnehmen. Ihr habt soeben wieder vernommen, was sich an diesem letzten Tage, daJesus frei umherging, ereignete. Nicht von allem gilt, daß es einmal so war, sondern etwas ist durch die Reihe derJahrhunderte hindurchgegangen undwiederholt sich fort und fort: dasAbendmahl! Und es geht uns allen so, daß wir in dieser Zeit immer wieder vor der Frage

stehen: Wasist dasAbendmahl? Was ist das Abendmahl, nicht: Was war es? Was es für so viele Geschlechter gewesen, ist ein Stück Geschichte für sich. Man kann fast sagen ein Stück Leidensgeschichte. Ihr wißt, was die Menschen draus gemacht haben. An diesem letzten Mahle Jesu hat sich die Veräußerlichung desChristentums ausgewirkt. Es wurde zumWunder der römischen Kirche erhoben, und die Päpste dekretierten, daß dem Priester Kraft verliehen sei, durch die Einsetzungsworte, die er darüber spreche, Brot undWein zu Fleisch und Blut Christi zu machen. Dann kämpften sich unsere Väter in der Reformation von diesem äußerlichen Glauben los und suchten nach dem wahren Abendmahl. Aber was sie einigen sollte, schied sie; der Streit um die Bedeutung der Einsetzungsworte brachte sie auseinander, hielt die ganze Reformation auf halbem Wege auf, daß die Anhänger des reinen Evangeliums nicht mehr Jünger Jesu, sondern Lutheraner, Zwinglianer, Calvinisten, und wie sich die Spaltungen sonst benannten, waren. Das ist aber alles vergangen. Wir fühlen uns nicht mehr gebunden an das, wasMenschen vor unsfür eine Lehre über dasAbendmahl aufgestellt haben. «Einer ist unser Meister, Christus» [Mt. 23,8]. Das haben wir gelernt aus allem, was vergangen ist. Es steht uns fest, daß das Abendmahl, esmagjeder seine besondere Anschauung darüber haben, unsnicht trennen darf, sondern einigen soll. Dann ist esdasrechte Herrenmahl! Aber wenn ich euren Gedanken auf halbem Wege begegne, will es mir scheinen, als ob die meisten unter uns für sich selber zu keiner Klar7 [Da sie aber aßen, nahmJesus das Brot, dankte und brach’s und gab’s denJüngern und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen denundsprach: Trinket alle daraus; dasist mein Blut desneuen Testaments, welches vergossen wird für viele zurVergebung der Sünden.]

Abendmahl

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heit kommen können, was das Abendmahl für sie ist. Ich irre wohl nicht, wenn ich annehme, daß bei manchen unter euch eine gewisse Bangigkeit sich jedes Jahr bemerkbar macht, ob ihr zum Abendmahl in demselben Geiste herzutretet, in welchem es hier gefeiert wird, und ob ihr euer Gewissen nicht belastet, indem ihr äußerlich etwas mitmacht, zu dem ihr innerlich anders steht. Wir Prediger sind immer erstaunt, in derAbendmahlsfrage viel mehr Bedenken und Gewissensnöte anzutreffen, als wir es erwarteten. Und wenn so viele Menschen in unserer Stadt diese Passionstage vorübergehen lassen, ohne zur Feier des Herrn zu kommen, so ist es bei vielen nicht lauter Gleichgültigkeit, die sie abhält, sondern, und gerade bei unserer Jugend, eine innere Scheu, ob sie auch richtig vom Abendmahl denken. Über was sind wir alle zusammen einig bei dieser Feier? Ich glaube, in unser aller Namen die Antwort geben zu können: Darin, daß wir allen katholischen Sauerteig ausgefegt haben und im Abendmahl nicht ein Wunder suchen, nicht meinen, daß diese Speise und dieser Trank nun plötzlich irgend etwas anderes werden, als sie sind. «Der Geist ist’s, der da lebendig macht» [Joh. 6,63], heißt’s hier; was geistig in uns vorgeht, während wir zu jener Feier versammelt sind, das macht das

Abendmahl aus. Und dann sind wir noch über etwas einig: daß niemand genau weiß, wasJesus mit jenen Worten sagen wollte, da er das Brot und den Wein, während er’s denJüngern austeilte, als sein Fleisch und Blut bezeichnete. Eines ist gewiß, daß er ihnen damit nicht zumutete zu wähnen, sie äßen nun seinen Leib und tränken sein Blut, während er noch leibhaftig unter ihnen war. Sicherlich war es im Gleichnis gemeint. Man kann auch manche Deutungen des Gleichnisses versuchen; daß er den Wein als ein Blut bezeichnet habe, weil es bald sollte vergossen werden; oder daß er Brot undWein sein Leib und Blut nannte, weil sie die edelsten Nahrungskräfte für den irdischen Menschen enthalten, er aber den geistigen Menschen in uns stärken und nähren will. In dem allem ist etwasvom Gedanken Jesu. Aber den ganzen Sinn, den er mit dem Gleichnis verband, hat er nicht ausgesprochen, sondern als ein Geheimnis mit ins Grab genommen. Den Jüngern hat er es nicht erklärt, und scheu, wie sie in den letzten Tagen waren, hat ihn keiner darum zu fragen gewagt. Und wenn wir einen von ihnen unter uns hätten, um ihn zu fragen, er wüßte uns darüber nicht mehr zu sagen, alswir selber wissen. Wenn ihr desPaulus Erklärung vom Abendmahl in der ersten Epistel an die Korinther lest, findet ihr bald heraus, daß auch er eigentlich nicht recht weiß, wie er diese geheimnisvollen Worte Jesu deuten soll. Und wenn’s schon die Apostel nicht taten, so darf noch viel weniger unter uns einer auftreten und sagen: Ich habe die richtige Erklärung derAbendmahlsworte. Auch hier gilt’s: «Der Geist ist’s, der dalebendig macht.»

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Predigten desJahres 1907

Und den Geist dieser Rede versteht ihr. Jesus will sagen: Ich bin euer Erlöser, eure Kraft. Die Kraft, die ich euch gebe, die wirkt in euch die Gewißheit derVergebung der Sünden. Die Vergangenheit hat keine Schuldforderungen an euch. Ihr seid frei von ihr. Jetzt, in diesem Augenblick, wo du, als wärest du unter meinen Jüngern, bei mir dieses Mahl feierst, gebe ich, dein Herr und Meister, dir das Recht, wenn du wahrhaft bereust, zu sagen: «Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden» [II Kor. 5,17] und ein neues Leben anzufangen. Darum kommt’s nicht auf die Frage an: Was geht im Abendmahl vor, sondern: Was geht in dir vor? Ist es dir wirklich im tiefsten Herzen Ernst damit, daß du dasUnheilige deines Lebens fühlst und dich davor fürchtest und nun durch die Teilnahme an diesem Mahl, durch welches du dich vor dir und den andern als ein Jünger Jesu bekennst, dir selber und unserm Meister gelobst, in den Kampf um die Heiligung mit neuem Ernst und neuem Willen einzutreten, um seiner würdig zu bleiben? Wenn’s in deinem Herzen nicht durcheinander tönt und bebt: Herr Jesu, lieber Meister, hilf du mir zu einem neuen Leben, steh mir bei mit deinem Geiste, daß ich auf dem schmalen Pfade vorwärts komme, wenn dasAbendmahl dir nicht eine Bekräftigung, eine heilige Sanktion von Entschlüssen ist, die du in dir herumgetragen und klar vor dir siehst, dann ist’s nicht dasrechte. Und doch ist ein Mensch, der nur niedergedrückt ist, nicht der rechte Gast des Herrenmahls. Du mußt selber zum Mahle etwas zusteuern, das kostbarer ist als derWein und das Brot, über welchen der Segensspruch derWorte, deren sichJesus beim letzten Mahle bediente, gesprochen ist: die Danksagung. Jesus dankte über dem Brot und demWein. Und stellt euch nicht vor, daß er vielleicht nur eine kurze Art Tischgebet gesprochen hat über Brot und Wein, das er genoß, sondern es war ein Dankgebet, wie dasVaterunser ein Bittgebet ist. Wie in diesem eine Bitte auf das tägliche Brot und sechs andere auf geistige Dinge gehen, auf dasKommen des Gottesreiches, auf die Erfüllung seines Willens, auf dieVerschonung von derVersuchung, so war im Abendmahlsdankgebet der Dank für die Speise nur ein kleiner Teil der Danksagung, dieJesus hielt. Über was er gedankt, haben die Evangelisten nicht überliefert. Es war wohl Dank für alles, was er hatte tun dürfen in seinem Leben, daß er so lange hatte mit denJüngern sein dürfen, für alles, was er für Menschen gewesen und sie für ihn. Aber einen solchen Eindruck machte dieses Danksagen auf die Jünger, daß das Abendmahl, das sie mit den ersten Christen feierten, ganz beherrscht war von der Danksagung. Sie nannten es nicht Abendmahl, sondern «Danksagung», auf griechisch Eucharistia.|8¡ 8 [Das ausgeführte Manuskript bricht hier ab. Es folgen noch einige Stichwörter.]

Was Christus gestorben ist

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Morgenpredigt Ostersonntag, 31. März 1907, St. Nicolai

Röm. 6,10 f.: WasChristus gestorben ist, dasist er der Sünde gestorben|9¡ Tod und Leben: Das sind die beiden Worte, die durch Karfreitag und Ostern hart nebeneinander gerückt sind. Nicht nur nebeneinander gerückt, sondern innerlich verbunden: gestorben, um zu leben. Wir feiern heute die Erfüllung eines Wortes Jesu an ihm selber, die Erfüllung des Wortes, daß, wer sein Leben um desEvangeliums willen verliert, es behalten wird [Mt. 10,39]. Das ist das Urgeheimnis alles Daseins, daß aus dem Tode wieder Leben kommt, und jedes Leben, um zu dauern, sich immer wieder im Tode erneuern muß, wie wir es gerade jetzt draußen in der Natur wieder

erleben. Während aber das Fest desTodes uns alle einigt, könnte es äußerlich scheinen, als ob das des Lebens uns untereinander schiede. Ihr wißt, worum es sich handelt. Die einen unter uns feiern heute das Geschehnis der leibhaftigen, äußerlich sichtbaren Auferstehung des Herrn, die andern wollen es als etwas Geistiges aufgefaßt haben. Jedem wird es schwer, sich in die Überzeugung des andern zu schicken. Diejenigen, welche an äußere, leibhaftige Auferstehung glauben, empfinden es (schwer), fast wie Lästerung, daß unser Geschlecht das nicht mehr annehmen will, was die Christen jahrhundertelang als das grundlegende Wunder des Christentums ansahen, und was die Apostel, wie die Schrift berichtet, mit eigenen Augen gesehn zu haben gewiß waren. Die andern tragen schwer daran, daß es zu unserer Zeit noch Christen gibt, die vom Äußeren so schwer loskommen und alles auf ein Wunder setzen wollen. Aber scheiden tut uns dasnicht mehr. Die, welche an der leibhaftigen Auferstehung für sich festhalten, kennen das Wort des Meisters, daß man dem Menschen in Glaubenssachen keine Last auflegen kann [Lk. 11,46], und erkennen auch diejenigen als Glaubensgenossen an, die die Last eines sinnenfälligen Wunders nicht auf sich nehmen können, weil sie dadurch Schaden an ihrem Glauben litten. Und diejenigen unter uns, die freier denken, die erinnern sich desWortes von Paulus, daß die wahre evangelische Freiheit sich darin zeigt, daß sie nicht großtut und dem andern kein Ärgernis gibt [Röm. 14,13].

9 [zu einem Mal; was er aber lebt, daslebt er Gott. Also auch ihr, haltet euch dafür, daß ihr der Sünde gestorben seid und lebet Gott in Christo Jesu, unserm Herrn.]

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Predigten

desJahres 1907

So nehmen wir diesen Unterschied der Überzeugungen ruhig an. Es soll uns in der Freundlichkeit undVerträglichkeit üben und zu wahrer christlicher Brüderlichkeit erziehen. Damit wären wir über das, worin jeder seiner persönlichen Überzeugung folgen muß, unter uns miteinander im reinen. Und das ist nötig in der Religion, so unerbaulich es äußerlich scheinen mag, daß man mit einfachen Worten miteinander ins klare kommt; auf Unklarheiten ist nicht gut in Glaubenssachen bauen, ebensowenig als auf einem Baugrund, auf welchem man die Fundamente nicht richtig gelegt hat. Nun aber zu dem, was wir gemeinsam miteinander feiern. Was bedeutet der Tod Jesu, durch welchen er zum Leben hindurchging, für uns? Wie kann sich dasselbe von ihm ausgehend an uns ereignen? Dieses Fortwirken desTodes und desLebens Jesu in der ganzen Christenheit an jedem einzelnen Menschen ist die Hauptfrage unseres Glaubens. Was heißt Gemeinschaft desTodes undLebens mitJesus? Zur Zeit der Kirchenväter und im Mittelalter, wo der Geist der Menschen mehr auf das Sinnenfällige in der Religion gerichtet war, erbaute sich der Glaube darauf, daß man sagte: Jesus ist gestorben und auferstanden; damit haben wir die Gewißheit, wenn wir sterben, nun auch aufzuerstehn. In diesem Glauben fanden sie Zuflucht vor der Angst vor dem Tode und dem, was nachher kommen würde. Diese Angst lastete schwer auf den Menschen. Wenn ihr irgendeine Predigt noch aus der Reformationszeit nehmt oder auch noch von später, seid ihr erstaunt, wie dies Gedenken an denTod und die Furcht vor dem, waskommt, als der mächtigste Hebel für die Religion angesehen wird. Würde man auch heute so predigen, so würde es euch ganz fremd anmuten. Es hat ein Wandel im religiösen Empfinden stattgefunden. Gewiß gedenken wir desTodes mit Ernst, und keiner ist fromm, dem das alte Lied nicht oft vor die Seele tritt: «Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen»|10¡; und die furchtbaren, Hunderte von Menschenleben auf einmal fordernden Unglücksfälle, von denen wir gerade in den letzten Wochen immer wieder lesen mußten|11¡, liefern die Bilder zum Liede. Und dennoch herrscht in unserer Religion die Furcht vor dem leiblichen Tode nicht mehr obenan. Das ist nicht etwa ein Zeichen der Unfrömmigkeit, sondern das Sichtbarwerden eines Fortschritts. Die Zeit schreitet fort, auch wenn man meint, sie bleibt stehn. Es ist mit ihr wie mit dem Zeiger der Uhr. Wenn du darauf schaust, meinst du, er bewege sich nicht; laß aber eine Weile gehn und schaue wieder darauf, dann siehst du, daß er fortgeschritten ist. So ist’s mit dem Fortschritt der 10 [Vorreformatorisch nach Notker von St. Gallen: Mitten wir im Leben, Str. 1.] 11 [Am 21. Februar 1907 starben bei der Strandung des Dampfers Berlin 129 Menschen. Am 12. März 1907 explodierte inToulon dasPanzerschiff Jena.]

Was Christus

gestorben

ist

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Menschheit vom Äußerlichen auf das Geistige hin. An einer Verschiebung in ihrem Denken, das allgemach einer ganzen Generation zuerst dunkel, dann immer klarer zu Bewußtsein kommt, wird einem klar, daß es einen Fortschritt gibt. In diesem Falle will dies heißen, daß die Worte Tod und Leben sich vergeistigt haben und wir unserer Frömmigkeit bewußt werden, nicht so sehr in der Angst vor einem kommenden Tod und dem Sich-Anklammern an die Hoffnung der Auferstehung in irgendeiner Form, sondern in dem klaren Bewußtsein, daß wir dem geistigen Tod, der in diesem Leben auf uns lauert, und in welchem soundso viele Menschen um uns herum schon als Leichen herumwandeln, entrinnen müssen, um schon jetzt zum geistigen, ewigen Leben hindurchzudringen. Das war schon der Gedanke dessen, der von Anfang an das Evangelium geistig ausgelegt hat, desApostels Paulus. Ich meine, wir von unserer Zeit verstehen ihn hierin viel besser als irgendeine andre, wenn er sagt, wie Römer im sechsten Kapitel, daß Christ sein heißt, von der Taufe an mit Christus sterben und auferstehen immerfort, und in diesem Leben durch seine Kraft in einem neuen Dasein wandeln; was er so ausdrückt: «Was Christus gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben, einmal; was er aber lebt, daslebt er Gott. Also auch ihr, haltet euch dafür, daß ihr der Sünde gestorben seid, und lebt Gott in Christo Jesu, unserm Herrn.» Es geht also etwas vonJesus aus, das uns unser Leben als ein Sterben von einem alten und Auferstehen zu einem neuen Leben immerfort erleben läßt. Alles liegt in demWort, der Sünde sterben, Gott leben. Das hat mit ihm angefangen und setzt sich in der Menschheit fort. Was heißt aber, der Sünde sterben? Zunächst als ein wahrer Mensch um die Reinheit seines Lebens kämpfen. Kein Mensch kann zum Leben kommen, der dieses Sehnen nicht hat und nicht innerlich tapfer ist. Aber dieVerfehlungen, die wir mit dem Namen Sünde bezeichnen, sind nur die von fern sichtbaren Spitzen eines ganzen großen Gebirges, das man erst sieht, wenn man näher kommt. Wenn ihr ernstlich darüber nachdenkt, was in eurem Leben Sünde ist, werdet ihr immer finden, daß ihr zuletzt fast ganz gleichgültige Dinge als Sünde empfindet und auch solche, die mit einer offenbaren Verfehlung nichts zu tun haben. Es kommt dann so ein starkes Gefühl über uns, daß wir eigentlich unnütze Menschen sind, im Strome der Dinge uns dahintreiben lassen und innerlich doch in den Hoffnungen und Sorgen dieser Welt gefangen sind, daß für etwas anderes nicht mehr viel übrigbleibt. Und wenn wir so unser gewöhnliches Dahinleben, diese Alltagsgleichgültigkeit als Sünde empfinden, dann fühlen wir, daß so viel uns in diese Welt fesselt, dem wir absterben müssen, damit wir frei werden. Das will nicht heißen, daß wir unsere tägliche Arbeit mit weniger Ernst und freudigem Pflichtgefühl tun sollen, sondern mit höheren Gedan-

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ken, mit einem viel reineren Wollen, dasunser Leben und sein Ziel heilige in all unserm Tun. Das war mitJesus der Fall. Er war derWelt schon zu Lebzeiten abgestorben durch dieses reine, heilige Wollen und gehörte ihr innerlich nicht mehr an, schon vor seinem Tode. Sein Tod mitten im Wirken ist nur das äußere Kennzeichen davon, wie frei er von der Welt und ihren Erwägungen ist, das Siegel, mit welchem die Menschen, ohne es zu wissen, dieTatsache besiegelten, daß er außerhalb dieser Welt stand. Und diese innerliche Freiheit von allem, womit dieses Leben uns lockt, schreckt und täuscht, liegt in seinem Tun und Leiden und in seinenWorten als eine Kraft, die an uns arbeiten will, daß auch wir in dieser innerlichen Freiheit und Reinheit von der Welt uns durcharbeiten und nicht bei einem gewissen Meiden von schweren Sünden stehenbleiben und meinen, damit sei es gut. Und das ist wirklich ein langsames Sterben, wenn im Laufe des Lebens, wo außen sich nichts verändert, die natürlichen Erwägungen, durch welche der gewöhnliche Mensch in dem Leben der Arbeit und der Pflicht festgehalten und vorwärts getrieben wird, nach und nach durch andere ersetzt werden, welche unserm Leben innerlich eine ganz andere Richtung geben, die durch den Gedanken bestimmt wird, daß wir leben, weil Gott uns braucht, und nach Reinheit und Heiligkeit streben, weil wir wissen, daß ohne diese wir hier nichts tun können von dem, was nötig ist. Wenn wir vor der Sünde Angst haben, weil sie uns untüchtig macht, das zu wirken, und wenn du nur ein Stück dieses Gedankens in deinem Leben erfaßt hast und zurWirklichkeit werden lässest, bist du stark und weißt, wasjenes merkwürdige Wort heißt, in welchem der Herr seinen Jüngern sagt, er habe eine Speise zu essen, von der sie nicht wissen [Joh. 4,32]. Und das ist das, was der Apostel meint, wenn er sagt: «Lebt Gott in Christo Jesu, unserm Herrn», «und begebet euch selbst Gott, als die da aus den Toten lebendig sind, und eure Glieder Gott zuWaffen der Gerechtigkeit» [Röm. 6,13]. Das, was wir von Gott wissen und erkennen, ist, daß er ein Geist ist, der in derWelt und in den Menschen ringt und schafft. In Christus hat dieses Kämpfen um die Welt und um die Menschen, um die Verwirklichung des Reiches Gottes eingesetzt und breitet sich immer weiter aus, und wen es erfaßt und mitreißt, der lebt Gott und in Gott, weil Gott selber dieser Geist ist, der in der Welt und in den Menschen sich regt. Die Menschen früherer Generationen stellten sich das Leben in Gott als ein seliges Beschauen vor. Wir nicht so, sondern als das Mitgerissenwerden in den großen Kampf, der um das Reich Gottes geführt wird, als ein Ruheloswerden in den Dingen der Welt und den Zweck seines Lebens darin finden, diesem Geist zu dienen, wo es unser Platz ist, ob man es äußerlich merkt oder nicht.

Was Christus gestorben ist

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Und das ist das ewige Leben, daß wir uns jetzt schon in dem, was wir leben, nicht im Leben der äußeren, vergänglichen Welt und dessen, was sie dem natürlichen Menschen in uns vorspiegelt, stehend fühlen, sondern uns eins wissen mit dem Geiste Jesu, dem Geiste Gottes, in denen unser Geist Ruhe gefunden und zurVersöhnung mit dem unerklärlichen Rätsel des Daseins als solchem gekommen ist. Das ewige Leben haben heißt, durch den Geist Christi innerlich frei und tüchtig zum Leben geworden sein und gerade in dieser Sehnsucht freudig im Leben stehend.

Was dann aus diesem Geiste, der in der Einheit mit den Zielen des unendlichen Geistes der Vergänglichkeit abgestorben und zum Leben eingegangen ist, wird, wenn der leibliche Tod eintritt, das ist eine fast nebensächliche Frage, über die ein Mensch nicht mehr weiß als der andere. Er ist in Gottes Geist aufgehoben und bleibt es. In welcher Form? Die einen meinen, daß er den Leib, dem er gedient, selber mit zur Verklärung und Unvergänglichkeit emporreißen werde in einer kommenden, leiblichen Auferstehung, andere, daßjeder als eine leiblose, geistige Persönlichkeit fortdauern wird; andere, daß jeder Einzelgeist wieder aufgehen wird im göttlichen Geiste, aus dem er hervorgegangen ist, und am Ende alles Geistige wieder in Gott zurückgekehrt sein wird, und er wieder sein wird alles in allem, und nichts mehr sein wird als er. Darüber dürfen wir nicht streiten und sagen, das eine sei christlich, das andere nicht, sondern alles Sehnen des Geistes nach Einheit und Ruhe in dem unendlichen Geiste ist fromm, in welcher Form es sich selber dies auch vorstellt. Und daß der Geist, der im Leben schon von der Welt frei geworden ist, unvergänglich ist, das glauben wir nicht nur, das wissen wir. Denn wir und alle kommenden Zeiten leben ja und zehren von dem Geiste dieser Menschen. In uns allen ist etwas vom Geiste Jesu, vom Geiste des Paulus, vom Geiste Luthers, und wer sonst noch Leben in uns geweckt hat, Leben geworden, in uns zu neuem Leben auferstanden. Und nicht nur von diesen einzig großen, sondern vonjedem Menschen, der innerlich frei geworden ist von der Welt, geht lebendiger Geist auf andere über und bleibt und wirkt in der Welt, auch wenn seinem Dasein ein Ziel gesetzt ist, und wäre es auch nur in einem Menschen, der durch ihn zur Freiheit und zum Leben kam. Und auch das ist eine herrliche Zuversicht der Unsterblichkeit, daß man als eine kleine Kraft, die keinen Namen mehr hat, weiterwirkt und arbeitet in dem Gesamtgeiste, der von einer Menschheit auf die andere übergeht und sie immer wieder durch das geheimnisvolle Sterben und Freiwerden von der Welt, das durch Jesus eingeleitet ist, zum Leben in Gott führt. Ob nun diese Horizonte, die sich für das Sein des Geistes nach dem Tode auftun, euch so oder so sichtbar werden, das eine wollen wir alle

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in derselben Weise und neuer und sehnsuchtsvoller an diesem herrlichen Ostertage: zum ewigen Leben schon in diesem Leben hindurchdringen und leben in Gott. Darin wollen wir anhalten und tapfer sein, weil wir wissen, daß es hier kein Mittelding gibt, sondern auf Tod und Leben geht, und daß nicht der leibliche Tod, der unser wartet, zu fürchten ist, sondern derjetzige geistige, in den wir wie in einen Abgrund hinabsteigen, wenn wir im Streben nach dem höheren Leben müde werden und uns gehenlassen.

[Morgenpredigt Sonntag, 14. April

1907,|12¡ St. Nicolai]|13¡

[Ohne Text: Gemeinschaft mitJesus] Worin besteht die Gemeinschaft mit Jesus? Diese Frage stellt sich wie von selbst nach Ostern. Daß wir mit Menschen, die um uns leben, in geistiger Gemeinschaft stehen, erscheint uns natürlich. Wie aber kann eine geistige Gemeinschaft zwischen uns und einem Menschen bestehen, den wir nie gekannt haben und der einer weit entschwundenen Vergangenheit angehört?

Ihr habt mit mir den Eindruck, daß wir in unserer Religion Worte und Begriffe gebrauchen, die uns geläufig sind, weil sie uns überliefert sind, und wir fühlen, es ist etwas Großes und Wahres dran, aber nicht weil wir uns darunter etwas Klares vorstellen und genau wissen, was es für uns bedeutet. Und diese Unklarheit ist vom Übel. Nur wasdu wirklich selber denkst und empfindest, ist deine Religion. Gar oft sind überlieferte Worte nur dazu da, uns mit ihrem Schall über unsere innere Armut hinwegzutäuschen, und wir riskieren fort und fort, daß es uns ergeht wie manchen alten Handelshäusern, die auf ihre Solidität bauen und immer Werte auf dem Papier mit weiterführen, die sich bei einem richtigen Inventar als nicht mehr vorhanden erweisen würden. Was bleibt also von den Gedanken, daß die Gemeinschaft mit Christus unsere Religion ausmacht, daß wir in ihm sind und in ihm bleiben, wenn wir das Inventar aufnehmen, was uns, die wir hier sind, an diesem Grundgedanken des Christentums wirklich zu eigen gehört und was wir auch wirklich durchführen wollen? 12 [Die Predigt trägt folgende Datumsangaben: (nach Pfingsten 1907), nach Ostern 1908. Die Osterpredigt vom 31. März 1907 S. 821 und die Einleitung zur Predigt vom 28. April 1907 S. 831lassen auf den 14. April 1907 schließen.] 13 [Nach den Angaben im Kirchenboten vom 13. Mai 1907 hat Schweitzer den Morgengottesdienst gehalten. An Helene Bresslau schreibt er von Günsbach aus am 13. April 1907:] «Auch meine Predigt ist teilweise beendet. Den Schluß werde ich heute abend in der Eisenbahn schreiben.» [Zentralarchiv Günsbach.]

Gemeinschaft

mitJesus

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Wenn ich euch jetzt ausjenem berühmten Buch «Von der Nachfolge Christi» vorläse, das dem gottseligen Thomas a Kempis zugeschrieben wird und an dem sich seit dem fünfzehnten Jahrhundert so viel Menschen erbaut haben, so würdet ihr gewiß viel Schönes daran finden, aber der Gedanke selbst, daß man aus der Welt heraustreten muß und ihre Dinge sogar für nichts achten, wenn man in der Gemeinschaft mitJesus bleiben will, würde euch fremd vorkommen. Ebenso würde es euch anmuten, wenn ich euch aus der Schrift eines berühmten Mystikers vorlesen würde, wie man die Gemeinschaft Christi in der Übung einer gewissen weltentrückten Versenkung findet. Nicht minder, wenn ich euch aus Büchern gelehrter Theologen unserer Zeit vortragen würde, daß man erst dann wirkliche geistige Gemeinschaft mitJesus verspürt, wenn man ihn durch die neueren Forschungen über sein Leben und Wirken von nahem sieht und ihn gewissermaßen von Mensch zu Mensch kennenlernt. Ihr empfindet, daß an all dem etwas Wahres ist, wodurch manJesus näherkommt, aber daß das, waswir uns als lebendige Gemeinschaft mit Jesus vorstellen, dadurch nicht zustande kommt. Fast möchte ich sagen, esliegt an unsern Lebensverhältnissen. Wir sind Menschen, die in die regelmäßige, tägliche Arbeit eingespannt sind. Unsere Berufspflichten füllen den ganzen Tag, daß wir kaum noch Zeit haben, daneben zu denken. Wir können sie nicht liegenlassen und nicht diesem Leben entfliehen, umeine Religion zu suchen, sondern es muß eine Religion sein, die sich in dieses nüchterne Arbeitsleben, dasunsalle in Gang hält, hineinpaßt. Wir müssen die geistige Gemeinschaft mit Jesus suchen, die uns nach unseren Verhältnissen und nach unserer Art am nächsten liegt. So verschieden wir auch untereinander sein mögen nach unserer Anlage und nach unsern Lebensumständen, so fühlen wir doch alle das miteinander, daß wir als die arbeitsamen Menschen die Gemeinschaft mitJesus finden oder sie überhaupt nicht finden. Es ist um die geistige Gemeinschaft mit Jesus doch etwas Ähnliches wie mit der geistigen Gemeinschaft mit den Menschen um uns her. Wenn ihr euch darüber klar werdet, warum wir mit einigen wenigen unter ihnen eine besondere Zusammengehörigkeit empfinden, die uns mit ihnen ganz anders als mit den andern verbindet, so findet ihr, daß wohl Gefühl, natürliche Zuneigung, eine gewisse innere Verwandtschaft mit dabei sind, daß aber die tiefste Gemeinschaft mit dem allem nichts zu tun hat, sondern auseinem gemeinsamen Wollen kommt. DasWollen ist das Elementarste in unserm Wesen. Zwei Menschen, die ein gleiches Ziel verfolgen und dies voneinander wissen, können sonst noch so ungleichartig sein, so äußerlich gar nicht zusammenpassend, sie hängen fester zusammen als durch irgend etwas anderes. Und dasist dastiefste undvornehmste Band, dasMenschen miteinander verbinden kann: Miteinander etwas wollen.

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Das seht ihr schon an den natürlichen Verhältnissen des Lebens. Das stärkste Band, das Mann und Frau fürs Leben zusammenhält, ist nicht die persönliche Zuneigung, sondern es sind die Kinder; daß sie beide, eins vom andern, wissen, daß sie für die Zukunft dieser sorgen und schaffen, sich selber erziehen, um erziehen zu können, sich versagen, was sie für sich möchten, um es den Kindern zugute kommen zu lassen; das eint sie, daß sie freudig miteinander leben und über die gegenseitigen Schwächen und alles das, wassie scheiden könnte, weit hinaushebt. So ist’s mit aller andern Zugehörigkeit von Menschen untereinander. Überblicke die, welche dir nahe sind, und du wirst finden, daß du nur mit denen auf Leben undTod geeint bist, geeint, daß wirklich die Seelen verbunden sind, mit denen du ein Streben nach einem Ziel des Lebens, nach etwas, was eines wie das andere verwirklichen will, gemeinsam habt. Ob ihr’s nun aussprecht, oder ob ihr’s nur eines von dem andern wißt, ist gleichviel. Alles andere sind nur nähere oder fernere Bekannte. Geistige Gemeinschaft haben will heißen, dasselbe letzte Ziel desLebens haben, in derWelt dasselbe schaffen wollen. Und da ist’s gleich, ob ein Mensch noch lebt oder nicht: Wenn wir nur im Wollen mit ihm eins sind, dann ist unser Geist von dem seinigen berührt und durchdrungen. Wir kennen wohl alle Tote, die wir lebend sahen und die wir hinausgeleiteten und die für uns doch nicht tot sind, sondern unter deren Augen wir leben, deren Geist wir in uns verspüren, deren Kraft uns überkommt, weil wir als die Überlebenden das fortsetzen, was sie wollten, und in der Arbeit stehen, in welcher sie fielen. Und da ist es zuletzt ganz gleich, ob wir einen Menschen persönlich gekannt haben oder nicht, oder ob wir nur durch das, was wir von ihm durch Hören und Lesen wissen, uns bewußt sind, dasselbe zu wollen, zu hoffen wie sie und ihre Arbeit fortzusetzen. So ist es auch mit Jesus. In ihm sind wir und bleiben wir, wenn wir uns in dem, was wir in derWelt wollen, eins fühlen und praktisch daran arbeiten. Die Gemeinschaft mitJesus folgt aus dem, waswir im Namen

Jesu tun. Wenn man das so mit dürren Worten ausspricht: Die Gemeinschaft mit Jesus folgt aus dem Tun, dann denkt jeder bei sich: Was für eine nüchterne Religion. Nun ja, nüchtern. Ich meine, die Religion muß in unserer Zeit furchtbar nüchtern werden. «Werdet wieder nüchtern», schreibt der Apostel Paulus manchmal an seine Leute [I Kor. 15,34]. Auch zu uns kann man dies sagen: Werdet wieder nüchtern und betäubt euch nicht mit Phrasen und Sätzen, sondern sucht nach dem, was für euch wirklich ist in der Religion. Wenn ihr jetzt hinausgeht aufs Feld, da sieht’s auch nüchtern aus. Die Bäume strecken ihre kahlen Besenreiser schwarz gen Himmel. Aber ist das nicht eine herrliche, herzerquickende Nüchternheit! Sie haben ihren welken Laubschmuck vom vorigen Sommer verloren und sind

Gemeinschaft

mitJesus

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kahl geworden, um wieder neues Leben anzusetzen. Und weil wir das Leben, das aus dieser Nüchternheit kommt, ahnen, darum scheint es uns viel schöner als das herrlichste Immergrün, in welchem die Leute sichjetzt an der Riviera ergehen. Seht, diese kraftvolle, lebenverheißende Nüchternheit muß auch in der Religion kommen. Würden wir nicht alle schönen Sätze und Phrasen, in denen wir uns bewegen, dahingeben für ein bißchen Leben im Christentum? So aber kommt es einem vor wie ein immergrüner Baum, der nie sein Laub verliert und doch auch nie von neuem knospt und sproßt und blüht, sondern immer in etwas leblosem Schmucke dasteht.

Weil sie nicht auf die Tat ausgeht, hat unsere Menschheit überhaupt die Gemeinschaft mit Jesus verloren. Wir stehen in der Zeit, wo sich das Schicksal der Welt erfüllt. Auf Jahrhunderte hinaus wird sie geteilt und jedes Volk strebt mit guten und schlechten Mitteln, ein möglichst großes Stück an sich zu reißen. Aber diese ganze Weltpolitik ist rein Eroberungs- und Handelspolitik, und das Ziel, was unsere Völker als christliche mitnebenher verfolgen müßten, nämlich die Menschheiten, die sie dort finden, zugleich höher zu heben, alle Menschenpflicht an ihnen zu erfüllen, ein sittliches Ideal im Auge zu haben – dieses Ziel existiert nicht, sondern man bildet sich noch etwas darauf ein, nur Realpolitik, hagebüchene Realpolitik zu treiben. Darum hat unsere Menschheit als ganze so gar keine Fühlung mit Jesus, obwohl die Schiffe getauft werden und die Religion von Staats wegen immer in einer Weise gefeiert und als notwendig hingestellt wird, daß man ihrer dadurch fast leidig wird. Denn das, was not täte, daß man nebenher ein Menschheitsideal verfolgte, dasJesus, wenn er etwas für uns ist, gebieterisch von uns und unserer Gesamtheit fordern würde, dasfehlt. So ist’s auch mit dir. Wenn du nicht in deinem pflichtmäßig geregelten Leben etwas nebenher verfolgst, worin du die Gewißheit hast, daß duJesus damit dienst, in seiner Arbeit stehst, dann ist keine lebendige Gemeinschaft zwischen dir und ihm. Ich sage «nebenher» einen Dienst für Jesus treiben, weil die meisten unserer Beschäftigungen direkt mit einem Tun für Jesus nichts zu tun haben. Freilich, man meint oft, dasChristentum besteht darin, daß man jede, auch die äußerlichste Arbeit, durch christliche Gedanken adelt und ihr eine höhere Bedeutung gibt und sie in diesem Geiste dann freudig tut. Ein bekannter Prediger ausParis, mit dem ich unlängst ins Gespräch darüber kam, sagte mir, er fühle sich imstande, einem Straßenkehrer begreiflich zu machen, wie er seine Arbeit unter einen höheren Gesichtspunkt stellen könne und sie so nicht mehr als etwas rein Äußerliches treiben könne, sondern sich gewissermaßen mit Leib und Seel dabei fühle.

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In meiner Nüchternheit glaube ich, daß das überspannt ist! Die Berufe, in denen das Höhere sinnenfällig mithereinspielt, sind selten. Es sind die, welche es mit einem direkten Einwirken auf Menschen zu tun haben, mit lehren, trösten und erziehen, helfen. Die, welche einen [solchen] Beruf haben, können nicht glücklich und nicht dankbar genug sein, daß es ihnen vergönnt ist, mit der alltäglichen Arbeit zugleich an den höchsten Aufgaben mitzuarbeiten. Aber die meiste Arbeit, die getan wird, ist doch Mußarbeit, äußerliche Mußarbeit fürs tägliche Brot. Wenn ich an die Frauen denke, die abends um zwölf die Bahnhofshalle fegen kommen, oder an den Schriftsetzer, der Buchstaben an Buchstaben reiht, einmal für ein schlechtes, einmal für ein gutes Buch, oder an den Spinner, der hundertfünfzig Spindeln auf einmal zu überwachen hat und seine zehn Stunden im Tag nur darauf ausgehen muß, möglichst schnell zu bemerken, wann an einer ein Faden abreißt, und den Schaden wieder gutzumachen, ohne die ganze Maschine abstellen zu müssen, weil jede Minute Stillstand soundso viel Verlust bedeutet, oder wenn ich an die Verkäuferin denke, die allen Launen und unfreundlichem Wesen ihrer Kunden gegenüber – wir achten ja darin so wenig auf uns selbst – darauf bedacht sein muß, ihr freundliches Wesen und ihre Dienstfertigkeit zu behalten, oder an den Mann am Billettschalter, der sich darum sorgen muß, in der Eile nicht zu seinem Nachteil falsch herauszugeben und immer ruhig zu bleiben – so muß ich gestehen, ich wäre nicht imstande, einem von diesen begreiflich zu machen, wie er das alles nun immer im Gedanken, er tue es im Dienste Jesu, treiben könne. Wir Menschen unserer Zeit sind eben Arbeitsmaschinen! Darüber kann uns nichts hinwegtäuschen! Die meiste Berufsarbeit können wir nur ausPflicht und Notwendigkeit tun. Ihr wißt, die Hausfrauen haben gewöhnlich so eine kleine Nebenkasse, in die manche kleine Ersparnis fließt und an der sie ihre große Freude haben, um damit dasundjenes nebenher anschaffen zu können, oder um zu geben, wo sie sonst so nicht geben könnten. So muß jeder seine kleine, geheime Kasse im Leben haben, in die alles fließt, was er sich vom Alltagsleben ersparen kann und was er für ein geheimes Tun ausgeben will, eben diesTun, das ihn mit Jesus verbindet, wo er sich in seinem Dienst weiß. Es handelt sich um [solches] Geben, daß dir an dem, wasduverdienst, um dich und die Deinigen zu unterhalten, dasKostbarste dasist, womit du helfen und geben kannst, wo’s not tut. Und ich glaube, da ist kein Taglöhnerlohn mehr wertlos, wenn man weiß, daß etwas davon, was man erhält, in solche Aktion umgesetzt wird, und es einen Betrag, viel oder wenig, einträgt. Und nicht nur um Geben [handelt es sich], sondern noch [um] mehr, denn das Geben ist selbstverständlich: um deine Zeit und um deine Person, was die im Nebenamte tun und an Menschen dienen im

Werist denn mein Nächster?

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Geiste Jesu! Waswir im Nebenamt schaffen! Nur [die] Augen aufzutun [brauchst du]! Ich habe mir immer gedacht, was doch z. B. ein Offizier im Nebenamt tun kann, wenn er neben seinem Dienst, wo er im Alltagsdrill oder im Hinblick auf Paraden und Besichtigungen stramme Soldaten heranbildet, sich darum kümmert, was sonst noch aus ihnen wird, was sie mit ihrem Sonntag anfangen, wie sie sich entwickeln, wie sie den Gefahren entgehen während der zweiJahre, die sie ausihrer Familie fort sind, und wie sie wieder dahin zurückkehren. So muß jeder in seinem Leben sein Nebenamt|14¡ suchen, etwas, wo er eine Pflicht an nahen oder fernen Menschen sucht, etwas, wovon du weißt, daß du darin im Dienste Jesu stehst, und wenn es nur ein Mensch, eine Sache ist, um die du dich sorgst. Dich fragt [Jesus]: Was bist du? [Antworte]: Ja, das und das, und [füge] unausgesprochen hinten dran: Ich helfe Menschen, ich versöhne Menschen! ... das Unausgesprochene [ist] dein wahrer Beruf, der, für den du lebst. Diese Lehre vom Nebenamte, wo man in Gemeinschaft mitJesus tritt, [kann man] nicht genug verbreiten. Wo Menschen durch dieTat mit ihm eins sind, fühlen sie, aber nicht bewußt, daßes [die] Hauptsache ist. Nicht trocken, sondern eine gewisse Begeisterung. Nicht Berechnung, nicht fragen, sondern es muß [sein]! Glaube an eine Zukunft! «Ohne mich könnt ihr nichts tun!»

Morgenpredigt Sonntag, 28. April 1907, St. Nicolai|15¡

Lk. 10,29: Wer ist denn mein Nächster? Unsere Erbauungen in den letzten Sonntagen spinnen sich aus einem Grundgedanken heraus. An Ostern kam es uns vor, als ob das Letzte und Einfachste, was man über das Fortleben unseres Meisters sagen kann, dasist, daß er mit seinem Geist in unsweiterlebt, nicht als ein verklärtes Geistwesen, von dem wir unskeine Vorstellung machen können, sondern als ein in der Menschheit wirkender Geist.|16¡ Dann kamen wir heute vor vierzehn Tagen zur Frage, wie kommt denn die geistige Gemeinschaft zwischen Jesus und einem Menschen 14 [Als Schweitzer diese Worte schrieb, stand er selbst in einem ihn sehr stark beanspruchenden Nebenamt, indem er sich für seinen Freund Curtius einsetzte, der beim Kaiser in Ungnade gefallen war. Siehe AS-HB, S. 172 f.] 15 [AS-HB, S. 172] «Samstag, halb 5. Noch keine Zeile an der Reinschrift meiner Predigt und müdzum umfallen.» 16

[Siehe S. 821. 31. 03. 07]

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zustande?|17¡ Wir waren uns klar, daß es vor allem durch das Wollen und die Tat geschehe, weil der Wille zuletzt dasWesen des Menschen ausmacht. Wenn wir unserem Leben ein Ziel geben und es in den Dienst Jesu stellen, dann verbindet uns etwas mit ihm, und wir fühlen das daran, daß unsere ganze Auffassung der Dinge anders wird und ein Gefühl der innerlichen Freiheit von derWelt über uns kommt. Zugleich mußten wir aber gestehen, daß die äußerliche Verrichtung in jedem Stand nicht so ist, daß wir uns immer bewußt sein können, daß wir damit Jesus dienen, sondern daß gar viele Berufe einfach Erwerbsberufe sind, die wir betreiben, um die Unsrigen und uns zu ernähren. Die meisten von uns können Jesus nur im Nebenamt dienen. Und jeder, der die Augen auftut, der wird schon ein solches Nebenamt finden, wo er auf Menschen wirkt oder Menschen etwas antut als etwas, das er von Jesus aus tut, und wenn es nur das Geringste ist, was er für einen Menschen sorgen kann. Und wer so in seinem Leben etwas nebenher zu tun findet fürJesus, der kennt ihn, der fühlt seinen Geist und hat Gemeinschaft mit ihm durch dasTun. Das istJesu eigene Lehre von der Gemeinschaft mit ihm, wie er sie ausdrückt, wenn er sagt: «Wahrlich, ich sage euch, was ihr getan habt einem dieser geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr mir getan» [Mt. 25,40]. Dabei aber blieben zwei Fragen stehen: Wie weit darf und soll dieses Nebenamt gehen? Und die andere: Wie ist’s dann mit denen, die im Leben dazu bestimmt sind, nicht Tätige, sondern Leidende zu sein? Nehmen wir die erste Frage von der Seite des einfachen, praktischen Bedürfnisses aus. Es gibt Dinge in der Arbeit für das Reich Gottes, die

können nicht neben einem andern Beruf getrieben werden, sondern nehmen die ganze Existenz eines Menschen in Anspruch. Ohne weiteres Nachdenken sind euch gleich zwei solche Berufe gegenwärtig: Die Krankenpflege und der Dienst in der Mission. Es gibt deren noch manche andere, aber bei diesen ist es am sichtbarsten, daß dasganze Tun einzig in den Dienst Jesu gestellt ist. Und wenn diese Menschen fehlen, dann fehlt eine Armee, die notwendig ist. Zu unserer Zeit muß sie größer sein alsje, denn die Not und die Arbeit in der Welt, die die Menschen benötigen, die sonst für nichts da sind, sind größer alsje. Die Menschennot macht sich fühlbar. Wir im Elsaß möchten in allen größeren Gemeinden Krankenschwestern anstellen. Die Mittel sind wohl da, aber es fehlt an Schwestern. In Afrika warten ganze immense Länder sehnlichst auf Missionare und Ärzte, die ihnen auskörperlicher und geistiger Not helfen, sie bitten, sie flehen ... und man kann ihnen einen schicken, wo sie hundert brauchten. So ist im Reich Gottes Leutenot.

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[Siehe S. 826. 14. 04. 07]

Werist denn mein Nächster?

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Wir sind es so gewohnt, von dieser Leutenot nicht zu reden und gegenseitig so zu tun, als ob das für uns nicht in Frage käme. Wenn ihr euch aber besinnt auf das, was ihr bei euch gedacht habt, so war dies nicht immer so, sondern es gab für euch eine Zeit im Leben, wo die Möglichkeit, eben in diese Armee einzutreten, als etwas Verlockendes, als etwas Selbstverständliches vor euch stand. Das ist injener wunderbaren Zeit, wo das Leben vor einem liegt wie vor dem Menschen, der in der Morgenfrühe die Welt von dem Gipfel eines hohen Berges sieht. Man sagt, daß wir weiser und tiefer werden durch das Leben. Das ist falsch. Am nahesten sind wir derWahrheit in der Zeit, wo wir die Dinge in der ersten großen Begeisterung des Lebens erkennen. Was nachfolgt, sind die Kompromisse mit dem Leben und derWahrheit, ein langsames Nüchternwerden, bei welchem das Beste, was in den Menschen ist, zugrunde geht, und das will auch heißen die Religion. Und die wahre Weisheit und das wahre Leben ist, sich vonjenem göttlichen schlichten Enthusiasmus derJugend, von jener Unbefangenheit des Urteils so viel zu erhalten, alswir dem Leben abringen können. Und es bleibt immer etwas davon in den Menschen zurück und kommt wieder, man weiß gar nicht wie, weil wir eben von dem Tiefsten, was wir denken, gar nicht miteinander reden, uns selber kaum darüber klar zu werden wagen. Wie manche Frau, die Krankenschwestern in einem Spital sah oder in die Lage kam, ihr stilles, segensreiches Wirken zu Hause zu beobachten, hat, ohne es zu wollen, bei sich denken müssen, warum sie nicht auch so dieses Dienen erwählt, und halb etwas wie Sehnsucht und Neid, auch so nötig zu sein wiejene, wenn sie sich auch immer wieder einreden konnte, daß auch sie nun ihren Beruf habe und ihr Gutes auch so wirken könne. So lebt in uns allen ein Rest von jugendlicher Begeisterung, eine Sehnsucht, sich ganz hinzugeben und in dieser Hingabe ein Stück Religion so recht greifbar in den Händen zu halten. Wenn wir uns nicht gegenseitig durch Sitte und Gewohnheit betäubten, so würde es den Menschen viel mehr zu Bewußtsein kommen, daß auch sie einmal vor der Berufswahl standen, nicht vor jener banalen, wie sie äußerlich abgemacht wird, wo es heißt, du wirst das und das, da bringst du es am ehesten zu etwas und hast es am besten, sondern vor der wahren, die uns in unserer Jugend beschäftigte: Womit füll ich mein Leben aus? Was ist für mich in der Welt zu tun? Wie finde ich mein Leben?

Man gestattet unserer Jugend nicht, bei Bewußtsein, bei religiösem Bewußtsein, ihren Beruf zu wählen, sondern kann sie heutzutage nicht schnell genug nüchtern machen, als wären sie erst dann zu wastauglich. Darum entscheiden sie über ihr Leben und ihr Wirken ohne jede höheren Gedanken; natürlich hat dieses dann mit der Religion gar nichts zu tun. Das heißt: Die Religion geht in ihnen zugrunde, wie der Baum

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abwelkt, dem man die Rinde unten abgeschält hat! Man sucht die Gründe der Irreligiosität unserer Zeit im Materialismus, in der Genußsucht, und ich weiß nicht, in was sonst noch. Und es liegt einfach alles daran, daß man dieJugend die Berufswahl nicht erleben läßt mit noch höheren als den allerbanalsten Gedanken, sogar Menschen, die sich für fromm halten, können sie nicht schnell genug zu Zugtieren abrichten. Wer ist dein Nächster? Sind es die Menschen allgemein, alle, die einen Menschen zur Hilfe brauchen, der sein Leben einem solchen Zweck darf hingeben, oder sind es die Menschen um dich herum, denen du durch natürliche Bande angehörst und denen du in einem alltäglichen Erwerbsberuf zu dienen und helfen hast? Der Herr Jesus hat keine klare Antwort gegeben. Einerseits hat er es stark betont, daß er Menschen braucht, die vollständig frei sind und durch keine andern Bande undVerpflichtungen gehalten sind – ist doch dasWort von ihm: «WerVater oder Mutter oder Bruder oder Schwester mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert» [Mt. 10,37] – und redet er immer vomVerlassen von Haus und Hof. Und dassoll man nicht immer so klüglich abtönen, als ob dasnur fürjene besonderen Verhältnisse zur Zeit Jesu gegolten hätte. Es gilt heute eigentlich noch mehr denn damals, weil dieWelt, wo er Menschen braucht, die er auf solche Posten stellen muß, größer ist alsje. Andererseits hat er wieder gesagt, daß die natürlichen Pflichten niemals durch die religiösen aufgehoben werden dürfen, wo er den Pharisäern vorwirft, daß sie die Kinder ermutigen, das, was sie an die Eltern wenden könnten, demTempel als Opfergabe zu stiften [Mt. 15,5]. Darum mußjeder sich fragen: Bin ich frei? Habe ich nicht natürliche, klar vorgezeichnete, naheliegende Pflichten? Diesen soll sich kein Mensch entziehen. Ich glaube nicht, daß wir diese jemals verletzen dürfen. Der Fabrikarbeiterssohn, dessen Eltern nötig haben, daß er mithilft verdienen, der muß mithelfen, undwenn er lieber in ein christliches Liebeswerk einträte; ein Mädchen, das zu Hause Menschen zu pflegen hat, darf nicht Krankenschwester werden; ich glaube auch, daß, wenn ich den einzigen Sohn eines Fabrikbesitzers antreffen würde, der Missionar oder so etwas werden wollte, ich ihm ganz ruhig sagen würde, daß das nichts für ihn sei, sondern daß er dasGeschäft, dasihm natürlich zufalle, zu übernehmen habe, daß seine wirklichen Nächsten die Arbeiter, die zu seinen Fabriken gehören, sind und daß alles, waser für dasReich Gottes vielleicht draußen in fernen Weltteilen tun kann, nichts ist, wenn dafür aus der Fabrik eine Aktiengesellschaft geworden ist, die sich um das Wohl der Arbeiter nicht kümmert, sondern sie um ein halbes Prozent Dividende mehr proJahr verkommen und verhungern ließe. So sind wohl die meisten Menschen gar nicht frei, zu entscheiden, sondern haben den Beruf klar vorgezeichnet, so klar, wie der deutsche Reservist und Landwehrmann in seinem Militärpaß eingeklebt bekom-

Werist denn mein Nächster?

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men hat, wann, wo und wie er sich im Kriegsfall da und da zur Einreihung in seinen Truppenteil zu stellen hat. Ferner muß man auch sagen, daß wir die natürlichen Berufe in Hinsicht dessen, was man darin Gutes wirken kann, viel höher werten als früher und wissen, wie sehr wir Menschen brauchen, die auch hierin wirklich treu sind! Woran kranken unsere Staaten, unser ganzes öffentliches Leben? Daran, daß in gar vielen hohen und niederen, verantwortungsreichen Stellungen, vom Schutzmann aufwärts und vom Reichskanzler abwärts, Menschen sind, die nur daran denken, wie sie möglichst schnell und ohne Anstoß vorwärtskommen, möglichst hoch steigen, sich möglichst lange halten, und dabei soviel geschehen lassen und mitansehen, ja oft direkt tun, das moralisch unrecht ist, ob man es jetzt jedesmal direkt so nennen kann oder nicht. Wir haben alle die Überzeugung, daß mit einigen Dutzend wahren und lauteren Menschen an der richtigen Stelle ganzen Staaten und Völkern mehr geholfen wäre als mit den kompliziertesten neuen Gesetzesvorschlägen. Aber andererseits sind unter uns so viele freie Menschen, denen ist ihre Freiheit gar nicht zu Bewußtsein gekommen als etwas, womit sie etwas Höheres anfangen können, weil man eben unserer Jugend die Berufswahl gar nicht unter einem höheren Gesichtspunkt vorzustellen wagt. Sie haben vielleicht wirklich keinen Menschen, der sie braucht, sie sind vielleicht auch in der Lage, daß sie zu leben haben, so daß sie noch gar vollständig frei, ohne Existenzsorgen sind; aber da man die Frage: «Wer ist denn mein Nächster?» in ihnen schon sehr früh totmachte, konnten sie gar nicht auf den Gedanken kommen, daß sie nun zu denjenigen gehören, denen dieWahl des Nächsten freisteht, und daß sie dazu da sind, wo freie Menschen notwendig sind, dazustehen und sichJesus alsTagelöhner in der weiten oder nahen Welt anzubieten. Und wenn sie selber vielleicht einmal den Gedanken hatten, daß sie ihrer Freiheit einen wahren und schönen Zweck geben könnten, wagen sie es nicht zu sagen aus Furcht, überspannt zu erscheinen, und lassen sich nach und nach einreden, daß ihr Leben wertvoll wird dadurch, daß sie nun viel reisen können und ihr Dasein künstlerisch ausgestalten, ihrer Bildung leben, undwie solche Phrasen noch heißen. Aber da kann keiner für den andern entscheiden. Und unser Herr selber will nichts von einem flammenden Enthusiasmus wissen, für dessen Dauer nicht garantiert ist. Er sagt: «Wer ist unter euch, der einen Turm bauen will, und setze sich nicht zuvor hin und überlege, ob er es habe, hinauszuführen?» [Lk. 14,28]. Jeder muß für sich entscheiden.|18¡ 18 [Der Schluß besteht ausStichwörtern. Dazwischen steht der Satz:] Mein Freund Bögner, der Direktor der Pariser Mission sucht Leute für seinen Kongo.

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Morgenpredigt Himmelfahrt Donnerstag, 9. Mai 1907, St.Nicolai

Joh. 14,18: Ich will euch nicht Waisen lassen; ich komme zu euch Ich weiß nicht, ob ihr dieselben Empfindungen am Himmelfahrtsfest habt wie ich. Ich muß immer mehr an das denken, was mit denJüngern vorging, als an das, was mitJesus geschehen ist. Was mit Jesus geschehen ist, ist uns nicht recht klar. Es wird ja den meisten unter uns wohl kaum möglich sein, sich die Himmelfahrtsgeschichte so, wie sie dasteht, buchstäblich vorzustellen, weil wir uns den Himmel nicht als etwas Räumliches denken, in dasein Mensch entschwebt, sondern als das überall gegenwärtige, geheimnisvolle Reich des Geistes. Wir können ja auch anführen, daß der Apostel Paulus und das Evangelium des Johannes nie von einer leiblichen Himmelfahrt reden. Während wir also hier nicht alle Worte desTextes verstehen, fühlen wir, wenn wir an dieJünger denken, viel mehr, als was im Evangelium steht, weil wir mit ihnen fühlen. Der Himmelfahrtstag bedeutet für sie, daßJesus nicht mehr leibhaftig unter ihnen ist, wie sie sich nun auch vorstellen mochten, daß er von ihnen genommen sei. Nun sind sie allein auf der Welt. Eine dumpfe Traurigkeit liegt über ihnen. Die Menschen, die vor dem Torwärter in die lärmende Stadt hineinschritten, waren einsame Menschen. Wie das tut, das wissen wir. Dieses furchtbare Gefühl, allein zurückzubleiben, das uns wie eine furchtbare Müdigkeit überfällt, bezeichnet Einschnitte in unserm Leben. Wir sind auch schon einmal in eine Stadt zurückgekehrt, von einem Friedhof, hier oder in einer fernen Stadt, und fühlten uns allein, daß wir uns fragten, wie wird’s nun gehen, da uns der Mensch genommen wurde, der uns zum Leben nötig war, in dessen Gedanken die unsrigen Halt und Zuversicht fanden. Vielleicht habt ihr auch schon einmal einen Menschen verloren, nicht durch denTod, sondern lebendig. Ihr schautet an ihm empor. Er wareure Autorität, euer Stolz. Auf dem Glauben, den ihr an ihn hattet, hättet ihr eine ganze Welt gegründet. Da kam etwas – es mag etwas gewesen sein, das mit euch vielleicht nichts zu tun hatte – etwas Kleines vielleicht, etwas, worin ein Mensch sich bewähren muß, under bewährte sich nicht! Es gebrach ihm anTreue oder anLiebe oder anreiner Gesinnung, anirgend etwas. Und derMensch, an demihr eine Stütze suchen wolltet, wurde für euch ein Mensch wie andere. Der Glaube an ihn brach zusammen, undes war euch, als bräche damit in euch der Glaube an dieWelt, alles, wasihr noch von Glauben undVertrauen und Hoffen hattet, zusammen. Denn das ist ja so, daß das, was ein Mensch an Glauben an das Gute

Ich will euch nicht

Waisen lassen

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hat, in einigen Menschen verankert und gegründet ist; und wenn wir wanken oder fallen, dann fallen wir nicht nur für uns, sondern es fällt ein Stück Glaube eines Menschen, der sich innerlich an uns geklammert hatte, ob wir darum wußten oder nicht. Darum ist es noch viel schrecklicher, die Menschen lebend als tot zuverlieren. Auch dieses Einsamsein kennt ihr, daß wir irgend etwas im Leben durchmachen und niemand finden, der es versteht. Es braucht nicht etwasTrauriges zu sein, irgendein Gedanke, den wir in uns erleben, unsere Auffassung vom Leben, eine tiefe Freude oder Zuversicht, so was sich geheimnisvoll auf dem Grunde unserer Seele bewegt, die Leitgedanken unseres Lebens. Und dann, wenn wir den Menschen, auch unsern nächsten, damit kommen, verstehen sie uns nicht; sie finden unsere Gedanken bloß merkwürdig; sie begreifen nicht, daß wir möchten, sie suchten, mit uns zu fühlen und zu denken. Wenn wir sie fassen wollen, ist’s, als reichten wir nach einem Schatten im Wasser, der verschwindet, sobald man die Hand danach ausstreckt. Warum ist dieses Gefühl der Einsamkeit so etwas Schreckliches? Weil es uns kraftlos macht zu unserer Arbeit. Wasist doch schon die körperliche Müdigkeit, jenes merkwürdig unerklärliche Bewußtsein, daß man nicht mehr kann trotz alles Wollens, daß einem etwas unmöglich ist, was einem sonst fast ein Spiel ist! Die seelische Müdigkeit, die aus der Einsamkeit kommt, ist noch viel schrecklicher. Sie läßt uns das Leben als eine Last erscheinen, die wir dahinschleppen! Weil er weiß, was diese Einsamkeit bedeutet, sagtJesus zu seinen Jüngern und zu uns: «Ich will euch nicht Waisen lassen; ich komme zu euch.» Ich komme zu euch ... in der Gemeinschaft meines Geistes. Ja. Es heißt aber auch noch: Ich komme zu euch durch Menschen. Jesus will uns sagen: Wenn du einsam bist, sieh nach vorn, nicht zurück, geh deinesWegs, und ich schicke dir Menschen, die den Bann der Einsamkeit von dir nehmen werden. Als die Jünger nach Jerusalem zurückkehrten, dachten sie bei sich: Wer wird unsleiten? UndinJerusalem selbst warderMann, dessen Feuergeist sie mitreißen sollte. Der Pharisäer Saulus, den siefürchteten als einen schrecklichen Hasser, den führte ihnen wenige Wochen später der Geist Jesu zu als Bruder und Vorkämpfer. Es verging kein Jahr, da standen Tausende umsieherum inJerusalem, in Palästina, in Syrien ... Menschen, die sie nicht gekannt hatten, dieihnen der Geist Jesu zugeführt hatte. Und die Aufgabe, die ihnen so schwer erschienen war, warjetzt leicht. Wie manche Witwe stand eines Abends, nachdem der letzte Trauergast das Haus verlassen hatte, einsam in der Stube und schaute auf ihre Kinder. Wie werde ich es fertigbringen, sie zu erziehen? Und wenn man sie zehnJahre nachher wieder gefragt hätte, dann hätte sie dürfen sagen: Es ging besser, als ich je zu hoffen wagte, denn ich fand Menschen. Einige, die ich nie dafür angesehen hätte, die standen zu mir, als ver-

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stände es sich von selbst, und benahmen mir die Kraftlosigkeit der Einsamkeit. Und wenn es heute für jemand unter euch ein Himmelfahrtstag ist wie damals für dieJünger, einTag deseinsamen, traurigen Hineingehens und Dahingehens, so seid ruhig und getrost. Laßt keine Traurigkeit und keine Bitterkeit über euch Herr werden. Glaubt fest, daß auch euch unter den Menschen, die euren Wegkreuzen werden, solche sind, die euch bestimmt sind, die euch der Geist Jesu – ob es euch nun klar ist, daß er es ist, oder nicht – zuführen wird, die auf euch warten, ohne es zu wissen, mit denen ihr in einem Sinn geeint sein werdet. Jeder Tag, der neu heraufzieht, jeder Gang, den du tust, kann dich mit jenem Menschen zusammenbringen, und wenn du meinst, dass sie dir alle fremd bleiben werden, dann gerade wirst dueinen finden, der kein Fremder bleibt. Es muß ja so sein! Warum sind die Menschen so einsam? Sie haben nichts, das sie eint, kein Wollen, kein Streben, jeder sucht nur, wie er sich am besten durch die Welt hindurchdrängt. Aber wenn wir nach dem Geist Jesu streben, etwas davon an uns zu reißen und zu besitzen, so wird dieser Geist die Menschen, in denen er wohnt, durch eine geheime Anziehungskraft einander nähern, so daß sie sich zusammenfinden und miteinander verbunden fühlen ohne viel äußeres Bezeugen und Reden, weil sie eben ineinander, eines vom andern, das Höchste ahnen, was Menschen verbinden kann, dasWehen des Geistes, der uns aus der Welt heraushebt und uns wieder in sie hineinstellt als tüchtige, kraftvolle Menschen, die ihre Pflicht mit einer inneren Fröhlichkeit und Zuversicht tun. Darum wollen wir an das wunderbare Wort aus den Abschiedsreden Jesu glauben undum seinen Geist beten undringen, gewiß, daßwir dann nicht einsam bleiben, sondern irgendwie Menschen finden, die dieselbe Straße ziehen, und daßJesus selbst in diesen Menschen zu unskommt!

Morgenpredigt Sonntag, 2. Juni 1907, St. Nicolai|19¡

Joh. 16,12–14: Ich habe euch noch viel zu sagen|20¡ Die großen Feste gehen so rasch vorüber, daß man nur den geringsten Teil von dem sagen kann, wassich darauf bezieht. Das gilt besonders für 19 [R] Nachbetrachtung zu Pfingsten. 20 [; aber ihr könnt esjetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht von sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Derselbe wird mich verklären; denn von dem Meinen wird er’s nehmen und euch verkündigen.]

Ich habe euch noch viel zu sagen

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Pfingsten, wo die Lehre vom Geist gefeiert wird. Über diese ist so viel zu fragen und zu sagen, daß es wohl angebracht ist, wenn wir heute eine Nachbetrachtung zum Pfingstfest halten. Der Text gibt euch schon an, daß wir vom heiligen Geiste als vom Geiste der Erkenntnis reden wollen. Eigentlich kann man sagen, daß der Unterschied zwischen dem Christentum und andern Religionen in der Lehre vom Geist besteht. Die andern gehen zurück auf die Lehrsätze und Regeln eines Stifters. Damit ist’s fertig. Das ist dieWahrheit. Daran muß alles gemessen werden. Etwas Neues kann nicht hinzukommen. Wehe dem, der etwas dazu bringt. In unserm Text steht’s aber klar, daß dasChristentum sich nicht gründet auf dieWorte Jesu allein, sondern auf etwas, das kommen wird und die Menschen in aller Zukunft auf demWeg derWahrheit weiterführen und zu immer vollkommenerer Erkenntnis leiten wird. Das ist wieder eines dieser Worte des Neuen Testamentes, die für uns noch viel wahrer sind und einen noch viel tieferen Sinn haben als für die, welche die Evangelien schrieben und zuerst lasen. Sucht euch einmal klar zu werden, in welchen Erkenntnissen euer Christentum besteht. Da werdet ihr neben den Worten Jesu Sprüche eines Menschen finden, der Jesu direkter Schüler nie gewesen ist: des Apostels Paulus. Und wenn ihr weitergeht, werdet ihr noch gar andere Namen finden, von deren Gedanken ihr in eurer Religion mitlebt. Ich nenne den Kirchenvater Augustin, ich nenne Luther, die Reformatoren überhaupt, dann die Liederdichter, an deren Strophen wir uns erbauen. Und nicht nur die Ideen von Reformatoren und Dichtern leben in unserm Christentum: Auch von den großen Denkern kam ihm so viele Erkenntnis, die wirjetzt als etwas ansehen, dasals etwas Selbstverständliches zum Christentum gehört. Ohne daß wir, die meisten unter uns, es wissen, leben wir von der Aufklärung, mit welcher uns Denker wie Kant, Schleiermacher, Hegel und andere vorwärtsgebracht haben. Und oft wißt ihr auch, wer euch einen Gedanken oder eine Klarheit zugetragen hat, welcher Mensch oder welches Buch, wo der Geist eines andern auf euch übersprang und den euren in Bewegung setzte. Die Aufzählung, die ich euch gegeben habe, vermag euch nur einen ganz undeutlichen Begriff zu geben von dem, waswir fühlen, daß nämlich unsere Religion etwas Lebendiges ist. Sie besteht nicht in einem Auslegen von Worten, sondern in einer steten, lebendigen Erneuerung der christlichen Gedanken durch alle Geschlechter hindurch. Ich habe das Wort Erneuerung ausgesprochen. Das macht vielen Angst, weil es zugleich heißt Absterben des Alten. Aber schaut einmal hinaus in die Natur. Dort werdet ihr sehen, daßjedes Leben ein Erneuern und zugleich ein Absterben ist! Seht dieTanne. Der untere Stamm, soweit man mit der Hand reichen kann, ist kahl. Vor vierzig Jahren trug

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er dort Äste. Warum nicht mehr? Weil er sich erneuert und wächst. Und wenn ihr weiter hinauf seht, erblickt ihr die, welche langsam ab-

sterben, weil immer neue darüber wachsen. So ist es auch im Christentum. Es ist immer dieselbe Religion und doch injeder Zeit etwas Neues. Das empfindet ihr selbst, wenn ihr euer Neues Testament lest. Ihr findet euer Christentum darin wieder, dasden Grund eures Lebens bildet, aber daneben Gedanken, die euch fremd sind, über denen für euch dasWort Vergangenheit steht. Zum Beispiel, wenn ihr Ausführungen über dasWeltende, über dasletzte Gericht lest, über daserwartete Kommen Jesu auf denWolken desHimmels, dann ist es euch wohl bewußt, daß dasin eurer Religion keine Bedeutung hat. Wenn man aber den Christen jener Zeit gesagt hätte: Es wird einmal Christen geben, die annehmen werden, daß dieWelt noch Tausende und Tausende vonJahren besteht, für die der Herr Jesus einst nicht kommen wird auf denWolken des Himmels, sondern die sich mit seinem geistigen Kommen und Sein in derWelt zufriedengeben werden, wenn sich auch äußerlich nichts ändert, so würden sie erschrocken sein und das nicht begriffen haben; selbst ein so aufgeklärter Mensch wie derApostel Paulus, der so überall auf das Geistige drang, würde es nicht haben fassen können. Mit der Reformation ist es dasselbe. Innerlich gehören wir zu Luther und seinen Genossen. Und doch sind unter ihren Gedanken welche, die uns heute fern liegen, und andere, neue sind hinzugekommen. So ist dieses tiefe Wort unseres Textes wahr: «Ich habe euch noch viel zu sagen.» Jesus redet fort und fort zu der Menschheit, nicht nur durch die Worte, die von ihm überliefert sind, sondern durch seinen Geist! Alles Wahre und Tiefe, wasje ein Mensch über Religion seither gesagt hat, womit er andere erleuchtet und ihnen geholfen hat, das hat der Geist Jesu geredet durch ihn. In diesem «Ich habe euch noch viel zu sagen»liegt die ganze Größe und Lebendigkeit unserer Religion.|21¡

21 [Ein neuer Gedankengang beginnt mit zwei Abschnitten, denen dann nur noch Stichwörter folgen:] Der letzte Sonntag führt den Namen Sonntag Trinitatis. Man hat ihn früher zu den großen Festtagen gerechnet, weil er der Lehre von der Dreieinigkeit geweiht ist. In unserer Kirche hat man dasFest der inneren Mission darauf verlegt, weil man sich wohl gesagt hat, daß es notwendiger ist, unserer Zeit von den Aufgaben, die ihrer harren, zu predigen als von einer Lehre, die uns so, wie sie in alter Zeit in Formeln gegossen worden ist, nicht mehr viel sagen will. Und doch liegt etwas wunderbar Tiefes dieser Lehre zugrunde. Auf derWelt sind sich drei Reiche der Wahrheit gefolgt: Das Reich desVaters im Alten Testament, wo das Geistige in die Welt hereinleuchtet von ferne, das Reich des Sohnes, wo es lebendig unter die Menschen tritt, das Reich des Geistes, wo es in den Menschen wirkt und webt und wo der Geist aus ihnen heraus redet. Und es ist immer dieselbe Wahrheit und immer dasselbe geistige Wesen, aber es ist den Menschen nähergekommen, es ist ihr innerlicher Besitz!

Viele sind berufen

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Morgenpredigt Sonntag, 16.Juni 1907, St. Nicolai|22¡

Mt. 22,14: Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt Wir stehen noch immer bei der Lehre vom heiligen Geist. Vor 14 Tagen betrachteten wir den Spruch, wo geweissagt wird, daß der heilige Geist der Christenheit Wahrheiten offenbaren wird, die Jesus den Jüngern noch nicht aussprach, weil sie sie noch nicht hätten tragen können.|23¡ So besteht unsere Religion aus denWorten Jesu und allen seitherigen Offenbarungen des Geistes Gottes in den Menschen. Sie ist nicht Überlieferung, sondern ist geistiges Leben. Äußerlich könnte es so erscheinen, als ob nun zu denWorten Jesu etwas Neues hinzutrete, wo dann jeder fragt, wo soll das hinführen? Wenn man aber näher hinzusieht, so wird man gewahr, daß hier kein Gegensatz vorliegt, sondern daß alle neue Erkenntnis zuletzt wieder durch dieWorte Jesu geweckt wird, indem diese die geistige Erkenntnis, die in einer Menschengeneration schlummert, entzünden und zur Erkenntnis ihrer selbst bringen ... Gewöhnlich, wenn man auf den Unterschied zwischen dem ersten Christentum und dem unsrigen zu reden kommt, denkt man zuerst an den Unterschied der äußeren Weltanschauung. Ihr Weltbild ist noch das naive: Sie glauben, daß der Himmel ein Raum ist über uns, daß Gott durch äußere Wunder sichtbar in den Verlauf der Dinge eingreift, und erwarten, daß dasWeltende und das Gericht in der nächsten Zeit eintreffen ... Daß wir in all diesen Dingen viel aufgeklärter und geistiger denken, kommt einem jeden von euch zu Bewußtsein, wenn er sein Neues Testament liest, und es ist keiner unter euch, der es bedauert, daß uns der Geist zu einer höheren Erkenntnis geführt hat ... Aber das ist nur etwas Äußerliches. In etwas anderem hat sich unsere religiöse Anschauung noch viel mehr geändert als hierin: in dem, was wir über dasMenschenschicksal denken. Es gibt am Himmel Sterne, die sich in tausend Jahren für unser Auge um einen einzigen haarfeinen Strich verschieben. Das dünkt uns nichts. Aber da lächelt der Astronom und drückt uns denWeg, den diese Verschiebung repräsentiert, in ungeheuren Zahlen aus und sagt, daß diese Verschiebung dasgrößte Ereignis derWeltgeschichte sei, gegen die alles, was auf Erden zwischen den Völkern vorgeht, eine Kleinigkeit ist. 22 [R] 2. Predigt über den heiligen Geist. 23 [Siehe S. 838. 02. 06. 07.]

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Das, wovon wirjetzt reden, ist eine astronomische Verschiebung im religiösen Denken der Menschheit. Sie dreht sich um die einfache Frage: Werden alle Menschen selig oder nur einTeil? Auf diese Frage antwortet Jesus, antwortet Paulus, antworten die Kirchenväter, antwortet Luther, antwortet Zwingli, antwortet Calvin: Nicht alle Menschen werden selig, sondern einige sind zum ewigen Leben bestimmt, andere zur ewigenVerdammnis. Wir aber, wir antworten gegen alle diese Autoritäten: Nein! Das ist unmöglich, dasist nicht Gottes Wille. Wenn Gott ein Gott der Liebe ist, so kann keine einzige Menschenseele, die je auf Erden weilte und weilen wird, verloren sein, sie kann nicht der Verdammnis anheimfallen, sondern sie muß gerettet werden ... Das ist uns so sicher und gewiß, daß wir es gar nicht mehr glauben können, daß Jesus anders gedacht hat als wir, und nun eine Auslegung seiner Worte suchen, um sie anders zu deuten. Ihr wißt, daß unser Text am Ende des Gleichnisses von der königlichen Hochzeit steht [Mt. 22,2– 13]. Nachdem der König erfahren, daß die zuerst geladenen Gäste nicht kommen, läßt er die Bettler auf den Straßen zusammensuchen und in seinen Saal führen. Darauf kommt er selber und findet einen, der nach seiner Ansicht kein festliches Gewand hat, und läßt ihn in die äußerste Finsternis werfen. Da fragt jeder Leser: ja warum diesen? Er ist ein Bettler wie jeder andere, die andern sind auch gekommen, wie sie standen undwaren, haben auch nur ihre Lumpen um, und in den Augen des Königs gelten diese als hochzeitlich gekleidet, jener nicht? Um dieses Unbegreifliche fortzuschaffen, hat man gemeint, es wären am Eingang Feierkleider ausgeteilt worden, und dieser allein habe keines genommen, und darum habe er den Herrn beleidigt. Aber davon steht nichts im Text. Jesus will gerade das Unbegreifliche aussprechen, daß unter gleich sündigen Menschen die einen selig, die andern verdammt werden. Dasselbe will es heißen, wenn er bei den Gleichnissen immer sagt: «Wer Ohren hat zu hören, der höre.» Er meint, nur die können ihn wirklich verstehen, denen es verliehen ist, daß die andern aber, wie er sagt: «mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen und mit hörenden Ohren hören und doch nicht hören, auf daß sie sich nicht dermaleinst bekehren, und ihre Sünden ihnen vergeben werden.» Ihr könnt diese Stelle, die euch sicher schon viel Kopfzerbrechen gemacht hat, im 4. Kapitel desEvangelisten St. Markus nachlesen [Mk. 4,9– 12]. Während beiJesus diese Anschauung nur gelegentlich auftaucht, tritt sie bei Paulus schroff hervor. Er sagt es deutlich (Römer 9), daß Gott selber die einen Menschen zu Gefäßen seines Zorns bestimmt hat, daß er sich der einen erbarme und die andern zur Verdammnis verstoße

[Röm. 9,22 f.]. Der Kirchenvater Augustin hat dann das auf die Spitze getrieben, und der Reformator Luther hat eine Schrift darüber geschrieben, die

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uns ganz unfaßbar ist. Man nennt das die Lehre von der Erwählung oder Prädestination und meinte, man müsse daran festhalten, so ungeheuerlich sie klingt, weil sie die unumschränkte Allmacht Gottes am

herrlichsten erweise. Früher mußte jeder Prediger, wenn er für rechtgläubig gelten wollte, in diesem Sinne auch des öftern über die Erwählung predigen. Heutzutage aber könntet ihr in alle Straßburger Kirchen gehen und die Prediger der verschiedensten Richtungen hören: Keiner wird mehr so reden, obwohl es im Neuen Testament steht und die Kirchenväter und Reformatoren mit Strenge an dieser Lehre festhielten. Äußerlich hat man also wohl das Recht, zu sagen, daß es sich um eine Neuerung handelt. Aber tatsächlich handelt es sich um eine Wahrheit, die der Geist im Lauf der Zeiten unter derWirkung derWorte Jesu herausgearbeitet hat. Unser Herr sagt: «Gott ist die Liebe», damit ist gesagt, daß keine Menschenseele verlorengehen kann. Nun aber steht der alte, aus demJudentum hervorgegangene Gedanke da, daß ein Unterschied zwischen denVölkern und Menschen bestehe! Dem Alten Testament zufolge sind dieJuden die allein Erwählten, und die Heiden verfallen dem Gericht, dann später, etwas vor der Zeit Jesu, als die Juden sahen, daß es auch fromme Heiden gab, wagten sie diesen Unterschied zwischen denVölkern nicht mehr aufrechtzuerhalten, sondern nahmen an, daß der Unterschied zwischen den Menschen ohne äußere Zeichen bestehe. Bei Jesus findet sich beides nebeneinander. Der Gedanke, daß Gott die Liebe ist, und der Gedanke, daß es Erwählte und Verworfene gibt, ohne daß wir genauer wissen, wie er sie in Einklang brachte. Aber dann kommt das jahrhundertelange Ringen zwischen den beiden Sätzen, von denen der eine aus dem Geiste Jesu stammt, der andere aus dem Judentum erstarrt ist. Wenn ihr im Gebirge wandert, kommt ihr wohl an eine Stelle, wo die Felsen in einer Windung des Baches nebeneinander stehen, kaum eine Armspanne voneinander entfernt, in zackigen Platten nach der Tiefe zu nebeneinander verlaufen. Das war früher ein Fels. Dahinter im Talkessel stauten sich die Wasser. Sie bohrten jahrhundertelang an der Felswand, Tag und Nacht, Sommer und Winter, und fraßen sich langsam hindurch, und nun stürzt dasWasser drunter aus der Enge hinaus in dieWelt. So ist es mit dem Geiste Jesu! Wer die Geschichte des religiösen Denkens verfolgt, der fühlt dieses Wirken des Geistes Jesu in den Menschengeistern, bei denen dann die Enge alter Anschauungen, dieJesus selber noch nicht antastete, durchbrochen wird und wir durch neue geistige Erkenntnis frei werden. Nun aber entsteht die Frage, wie wir uns das denken, daß das Ende alles Seins Friede und Gnade ist? Auch hier hat uns der Geist weiter-

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geführt, daß wir keine fertige Anschauung haben. Wir haben nur alle zusammen eine Grundidee: Daß, wenn in jedem Menschengeist ein Funken des göttlichen Geistes wohnt, daß, wenn etwas von jenem wunderbaren Worte des Apostels: «In ihm leben, weben und sind wir, wir sind seines Geschlechts» [Act. 17,28] wahr ist, daß dann dieses Göttliche nie verloren werden kann, daß es von dem Irdischen verschüttet, begraben sein kann, und dennoch am Ende wieder in Gott, in den unendlichen Geist, eingeht, und daß das die Seligkeit ist. So schauen wir in das Unbegrenzte des Reiches des Geistes. Früher meinte man auch, daß der Himmel ein Zelt sei, das sich für uns über der Welt ausspanne, man teilte es ein, gab den Sternen Namen und meinte, dahinter läge nichts mehr. Heute, wenn du den Himmel beschaust, weißt du, daß alles nur sichtbare Welten sind, hinter welchen sich andere, unsichtbare ausdehnen, und daß dies alles unendlich ist ... So ist es auch mit dem Reiche des Geistes. Nur gewisse Gedanken desselben werden uns erkenntlich, das Ganze durchforschen

wir nicht ... Im Vorübergehen möchte ich eine Frage streifen, die ihr euch wohl als Kinder gestellt habt und dann beiseite gelegt habt, obwohl sie einen tiefen Sinn hat. Was ist aus den Menschheitsgenerationen geworden, die vorJesus lebten, und ausdenen, die nach ihm lebten, aber die sein Evangelium nicht gepredigt bekamen? Wir werden nicht mehr antworten, wie es früher geschah, daß sie zu den ewig Verlorenen gehören, weil sie das Evangelium nicht kannten, ohne ihre Schuld, sondern wir sind der Zuversicht, daß das Geistige, das Gott auch in ihnen wohnen ließ, unvergänglich ist, und wieder zu seinem Ursprung zurückgekehrt ist. Damit scheint aber alles, was über Evangelium und Erlösung gelehrt wird, unnötig zu sein, wenn das Geistige in einem Menschen, weil es rein, weil es göttlicher Art ist, nicht untergehen kann, sondern zurückkehrt in den unendlichen Geist, von dem es ausgegangen ist. Aber es ist nicht so. Wir brauchen Jesus und das Evangelium hier in diesem Leben, daß wir hier, in der Menschenexistenz, die Seligkeit und dasLeben schon haben, schon eins sind mit Gott. Wenn es einen Unterschied zwischen den Menschen gibt in Hinsicht auf Seligkeit und Verdammnis, so ist er in diesem Leben! – nicht in dem geistigen Leben nach demTode ... Die, die ohne dasEvangelium leben, leben ihr Dasein als dieToten, als die zu dieser Welt Verdammten. Das Göttliche in ihnen ist nicht tot, denn es kann nicht tot sein, weil es göttlich ist, aber es ist in ihnen eingeschlossen, daß es ihnen und anderen nichts hilft wie ein Licht, das unter den Scheffel gestellt ist [Mt. 5,15], wie das Pfund, das, statt zu tragen, vergraben ist [Mt. 25,25]. Das Göttliche in ihnen hebt sie nicht über die Welt empor, es wirkt und schafft nichts durch sie, ist in diese Welt gekommen und mit diesen Menschen durch dieWelt gegangen, ohne die Menschen und die, die mit ihnen waren, reich gemacht zu

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haben an dem, was von oben ist, ohne sie in Gemeinschaft mit Gott, dem unendlichen Geist, gehalten zu haben ... Sie haben das falsche Leben gesucht, weil sie nicht treu waren gegen den göttlichen Geist in ihnen, und müssen nun leben ohne das wahre Leben, dieser Welt und ihren Sorgen und Wünschen und Hoffnungen einzig preisgegeben, ohne mehr etwas Höheres in sich zu spüren, ohne mehr an etwas Höheres zu glauben. Alle Qualen der Ewigkeit für die Verdammten, wie man sie sich früher ausmalte, sind nichts verglichen mit derTrostlosigkeit eines solchen Daseins ... Und da können wir, die da kämpfen, daß wir nicht in derWelt untergehen, nicht richten, sondern nur ein tiefes Weh und Mitleid mit den Menschen empfinden, deren Leben so geworden ist. Einige mit Willen, anderen ihre Bestimmung, sie konnten nicht anders werden! Das ist das große Rätsel, vor dem wir stehen, aber nicht über dieses Leben hinaus... Es gibt keine ewige Verdammnis, es gibt nur eine ewige Erlösung.|24¡

Morgenpredigt Sonntag, 30. Juni 1907, St. Nicolai|25¡

Mk. 3,29 f.: Die Sünde wider den heiligen Geist|26¡ Die Morgenpredigten heute vor 14 Tagen|27¡ und heute vor 4 Wochen|28¡ handelten vom heiligen Geist. Wir suchten miteinander darüber klar zu werden, daß unsere Religion nicht nur auf Überlieferung beruht, sondern daß es eine lebendige Erkenntnis ist, an welcher der Geist fort und fort arbeitet, um die Menschheit der geistigen Wahrheit näher zu bringen, wie esja auch im Evangelium des St. Johannes verheißen ist, daß der Geist uns in alleWahrheit leiten wird [Joh. 16,13] ... In der zweiten Predigt suchten wir an einem Exempel uns über den Weg Rechenschaft zu geben, den das religiöse Denken der Menschheit unter Leitung des Geistes zurückgelegt hat im Hinblick auf die Vorstellung von Gnade undVerdammnis. Heute möchte ich diese Betrachtungen zu Ende bringen, indem ich euch bitte, mit mir zu bedenken, was wir Menschen dem heiligen Geist in denWeg legen. 24 [Diese Predigt erregte den Unmut von Schweitzers Vorgesetztem und Kollegen. Siehe S. 35. Der Prediger: Das Predigtecho.] 25 [R] Fortsetzung vom 16.Juni 1907. 26 [Wer aber den heiligen Geist lästert, der hat keine Vergebung ewiglich, sondern ist schuldig des ewigen Gerichts. Denn sie sagten: Er hat einen unsaubern Geist.] 27 [Siehe S. 841. 16.06.07.] 28

[Siehe S. 838. 02. 06. 07.]

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Wir bemerken alle, daß er keine Kraft in der Welt ist und die Wirksamkeit nicht ausübt, die man von ihm erwarten sollte, wenn er wirklich dieser weltüberwindende Geist ist, als den man ihn schildert. Darüber brauchen wir keine Worte zu verlieren. Wenn er also nicht so wirkt, wie er sollte, so muß es daran liegen, daß die Menschen ihm entgegenarbeiten. Alles, wassie gegen ihn tun, ist dann Sünde wider den heiligen Geist. Ich erinnere mich noch, als ich das eben verlesene Wort zum erstenmal hörte, als Knabe in der Kirche zu Mülhausen, wo der greise Pfarrer Stöber darüber predigte, durchfuhr mich ein Schreck. Ich fragte mich angstvoll, was denn das wäre, und ob ich solche Sünde schon einmal getan hätte, was mir nicht der Fall schien. Aber es wollte mich schrecklich dünken, daß vielleicht unter den Menschen, die ich um mich sah, solche waren, die eine so schreckliche unvergebbare Schuld mit sich herumtrugen. Ein ähnliches Erschrecken bei diesem Spruch hat wohl jeder von euch einmal erlebt. Ihr habt euch dann die Sünde wider den heiligen Geist vorgestellt als ein Vergehen, das seine ganze Verwerflichkeit auf der Stirn trägt, und bei euch gedacht, es müsse eine Sünde sein, die man mit besonderer Überlegung wider die deutliche Stimme desGewissens in unsbegeht, etwas schändlich Vorbedachtes, wie etwa König David den Uria zuTode brachte [II Sam. 11]. Es ist aber sowie in der Natur: DiesVerderblichste und Schrecklichste sieht äußerlich gar nicht so aus. Ihr wißt, aufgrund welchen Vorkommnisses Jesus den Pharisäern die Sünde wider den heiligen Geist vorwirft. Sie hatten bemerkt, daß er geistig umnachtete Menschen heilte und den Wahn, der sie umgab, von ihnen nahm. Und da sie nun nach der Anschauung jener Zeit meinten, die geistige Umnachtung rühre von bösen Geistern her, die in jenen Menschen ihren Sitz aufgeschlagen hätten, und Heilung eine Vertreibung jener Geister bedeute, warfen sie, um das Unbegreifliche der Heilung zu erklären, dieVermutung hin, Jesus stehe mit dem obersten der bösen Geister im Bunde und habe diese Macht von jenem erhalten [Mk. 3,22]. Daß er diesen armen Menschen in der Kraft desGeistes Gottes helfe, wollten sie nicht gelten lassen. Was ist also Sünde wider den heiligen Geist? Das Gute, das wir mit unsern Augen sehen, statt uns daran zu freuen, herabzuziehen, durch dasBöse zu erklären und nicht gelten lassen wollen, daß ein Mensch etwas aus guter Absicht und in reinem, guten Geiste tut, sondern immer die Beweggründe, ausdenen er es eigentlich tut, aufzuzeigen. Kennt ihr die Sätze, die mit: «Das tut er nur, weil ...» anfangen? Sie nehmen sich gar nicht so schrecklich aus, wenn man sie so äußerlich betrachtet. Sie machen den Eindruck von gedankenlosen Sätzen oder von Sätzen, die von tiefer Kenntnis der Art, wie es in derWelt zugeht, zeugen, und es sind doch Sünden wider den heiligen Geist. Die meisten Menschen wissen das gar nicht, denn sie haben nie darüber nachgedacht, was der heilige Geist ist und wie er in Erscheinung

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denheiligen Geist

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tritt. Sie wissen nicht, daß alle wahre Erkenntnis und alle gute Tat zuletzt eine Wirkung des heiligen Geistes ist und daß es nichts Gutes und keine Wahrheit gibt, die nicht aus dem heiligen Geist fließen. Heiliger Geist heißt ja zuletzt nichts anderes, als die geheimnisvolle Kraft in uns, die uns aufwärts zieht, die uns über die natürlichen Erwägungen erhebt und unsern Gedanken und unsern Handlungen eine Richtung auf das Geistige und Wahre gibt. Weil sie so keine Vorstellung von dem allgegenwärtigen Wirken des Geistes haben und nicht bedenken, daß alles Gute, was ein Mensch von ihnen unter dem Einfluß eines göttlichen Geistesfunkens, der in ihm wohnt, tut, können sie nicht ahnen, was sie für eine Sünde begehen in ihren gedankenlos-boshaften Reden. Wir aber, als die Jünger Jesu, wir müssen erkennen, daß das, was in den Augen der Menschen so etwas zuletzt Geringfügiges ist, in Wahrheit die schwerste Sünde ist. Und dasTraurige ist, daß wir auch in der Gedankenlosigkeit derWelt mithingerissen werden und auch große und kleine Sätze, mit «Das tut er nur, weil ...» anfangen. Warum tun wir es eigentlich? Aus einer unerklärlichen Zerstörungswut, die in uns liegt: Wir wollen nicht, daß etwas Gutes besteht. Andere Male ist es wieder eine Art innerlichen Neides: Wir wollen nicht, daß ein Mensch besser sei als wir, dann wieder liegt es an unserer Rechthaberei. Wir haben ihn sondiert und wir glauben, ihn zu kennen, wir trauen ihm nichts Gutes zu – wenn er also etwas Gutes tut, so tut er es nicht auslauteren Motiven. Ich glaube, es ist keiner unter uns, der nicht so eine Lust, solche böse Urteile über das, was geschah, mit sich herumträgt, und der nicht ein paar fragende Gesichter vor sich sieht, die ihm weh tun, weil er die Frage daraus herausliest: Sag mir, warum trautest du es mir nicht zu, daß ich es ausguter Absicht tat? Zunächst aber davon ganz abgesehen, was ihr diesen Menschen getan habt, washabt ihr denandern, die auch hörten undeuch vielleicht beifällig zunickten, getan? Ihr habt ihnen ein Stück Glauben an das Gute in der Welt genommen – und damit ein Stück Glauben an einen heiligen Geist, an ein Wirken eines Geistes, der nicht von hienieden ist, in dieser Welt. Der Glaube an dasGute in derWelt ist derletzte Rest von Glauben, der einem zuletzt noch bleibt. Solange einer diesen Rest noch hat, kann er denWeg zu lebendigmachendem Glauben wieder zurückfinden. Wie viele um dich ringen, ohne daß du es weißt, um dies letzte Restlein von Glauben, von Glauben an etwas Gutes und Reines in den Menschen, und du, ein Christ, du nimmst es ihnen. Du gibst ihnen Anstoß und Ärgernis! statt daß duihnen hilfst, wieder an dasGute glauben. Keiner von uns weiß, was er schon durch Worte an Glauben an das Gute um sich zerstört hat. Ich möchte nur, daß ihr darüber nachdenkt, was wir wohl durch solche Worte, wenn sie ein Kind zufällig mit auffing, in diesem zerstört haben.

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Waswir aber in den Menschen, über die wir reden, zugrunde richten, das kannst du an dir selbst sehen. Was haben die Menschen in dir seit deiner Kindheit nicht an guten, reinen Gedanken zertreten und zerstampft! Was haben sie nicht an innerlicher Begeisterung in dir erstickt dadurch, daß sie immer gleich wußten, wasfür selbstsüchtige Gedanken du verfolgtest, wenn du etwas Gutes tatest! Wenn du es ihnen sagen würdest, sie würden es nicht glauben. So weißt du nicht, was du in andern anrichtest, was für Bitterkeit du in ihnen geweckt hast. Wenn es uns als Kindern zum ersten Mal begegnet, entrüsten wir uns! Wir meinen, dieWelt müsse gerade stille stehen, daß in den Augenblicken, wo wir dasWehen des guten Geistes in uns spüren und ihm nachgeben, unsere Gedanken von den Menschen entweiht werden. Wir wissen, daß es immer wieder so geht. Eine Art von Resignation kommt über uns. Wir fühlen uns gelähmt, wir haben die Unbefangenheit verloren. So viel Gutes, das wir spontan in der ersten Regung tun würden, unterlassen wir, weil wir fürchten, was die Menschen dazu sagen würden. Wir verheimlichen es. Wenn wir um einen Beitrag gebeten werden für ein Werk, schauen wir zuerst, wieviel der und jener gegeben hat, und wagen fast nicht, mehr zu geben, weil die Leute gar gleich soundso viel unlautere Gründe wüßten, wenn wir es getan. Wie Fesseln liegt dieser Mangel an Glaube an dasGute, an dasArbeiten eines höheren Geistes in den Menschenseelen, über uns allen. In dieser Atmosphäre leben wir.Wir leiden darunter und helfen sie doch wieder schaffen, indem wir uns nicht klar werden, daß die andern dasselbe leiden wie wir. Ist’s da auch ein Wunder, daß der heilige Geist keine Kraft ist unter den Menschen! Und das wegen der Tausenden von Sätzen, die täglich mit: «Das tut er nur, weil ...» anfangen! Wie können solche geringen, oft nicht einmal boshaft gemeinten Worte solche Verwüstung anrichten! Ich kam vor einigen Tagen mit einem Herrn, der in Kleinasien gereist war, zusammen. Sagen Sie mir doch, bat ich ihn, warum ist dieses ehemals so fruchtbare Landjetzt so öde? – Das kommt hauptsächlich vom Waldfrevel, sagte er. – Vom Waldfrevel? – Ja! Früher gab es dort viel Wald, und solange es geordnete Verhältnisse gab, wurde über den Stand desselben gewacht. Als es aber an die Türken fiel, gab es keine Gesetze mehr, undjeder konnte im Wald Brennholz und Bauholz hauen. Nach einigen Generationen war das Land kahl. Wo kein Wald ist, da gibt es aber wenig Regen und keine fortwährend Wasser führenden Flüsse. So ist durch die an sich geringfügige Tatsache, daß Leute mit der Axt in denWald gehen durften, um sich ein Bäumchen abzuhauen, ein reiches Land arm geworden. Nun seht, diese gedankenlosen Worte, die wir aussprechen, das ist auch ein Waldfrevel, durch den das Reich des Geistes in uns verödet. Und der Geist in uns braucht Schutz und Hilfe. Denn es ist schon genug in uns, dasihn erdrückt.

Eure Rede sei: Ja, ja; nein, nein

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Ihr wißt, daß wenn wir etwas Gutes unternehmen, unsere Motive nicht immer ganz rein sind. Der Grundgedanke, der ist lauter und rein. Aber darum spielen dann andere Gedanken herum, persönliches Interesse, Nebengedanken, interessierte Gedanken, eitle Gedanken – ein ganz merkwürdiges Gemisch. So muß sich eigentlich jeder unserer guten Gedanken erst läutern, dasheißt: der reine Geist muß die Herrschaft gewinnen über die andern. Und ihr könnt in eurem Leben diese Wandlung eines Gedankens oft wahrnehmen, wie alles Nebensächliche, das noch drum und dran hing, alles Egoistische, langsam abwelkte, daß ihr zuletzt selbst nicht mehr verstandet, wie es euch hatte am Anfang mitbestimmen können! Wenn wir nun Menschen um uns haben, die uns die reinen und guten Motive zutrauen, dann geht daswie von selbst. Sie unterstützen die Läuterung der Gedanken in uns, sie machen uns besser, als wir sind. Und wenn sie uns nichts zutrauen, wenn sie nur auf das andere hinweisen, womit sie vielleicht äußerlich im Recht sind, so machen sie uns schlechter, als wir sind. Sie hindern die Läuterung in uns. Kann man auch Gold läutern ohne Flamme? Und kann die Flamme sich entwikkeln ohne die reine brennbare Luft, die hinzutritt? Wassollen wir tun, um nicht unser Teil an der Sünde wider den heiligen Geist mitzutragen?

Morgenpredigt Sonntag, 14.Juli 1907, St. Nicolai

Mt. 5,37: Eure Rede sei:Ja, ja; nein, nein Wir haben an den vergangenen Sonntagen vom heiligen Geist geredet.|29¡ Die Gedanken, die uns heute beschäftigen, stehen damit im Zusammenhang. Der heilige Geist im allgemeinsten Sinne ist der Geist der Wahrhaftigkeit. Wir fühlen, daß er noch nicht in der Welt wirkt, weil die Welt voller Unwahrhaftigkeit ist; wir haben ein klares Bewußtsein davon, daß durch diesen Geist der Unwahrhaftigkeit viel Gutes in der

Welt aufgehalten wird. Warum ist so viel Unwahrhaftigkeit in der Welt? Zunächst weil in unserer bösen Menschennatur so eine große Versuchung zur Unwahrhaftigkeit liegt. Dann aber auch, weil die Versuchung zur Unwahrhaftigkeit, die von außen an uns herantritt, so groß ist. Es ist so schwer, mit lauter klaren Ja und Nein durch die Welt zu kommen. Die Ereignisse und die Menschen bringen uns fast täglich in die Lage, daß wir in großen und kleinen Dingen nicht ja noch nein sagen können, sondern eine 29 [Siehe S. 838, 02.06.07, 841, 16.06.07, 845, 30.06.07.]

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ausweichende Antwort geben müssen. Auch unser Herr selber ist zu ausweichenden Antworten gezwungen worden. Als man ihn fragte, ob man dem römischen Staate die Steuern entrichten sollte, da antwortete er nicht ja noch nein, sondern er ließ den Kaiserkopf auf der Münze reden [Mt. 22,16– 21]. Was ist eine ausweichende Antwort? Es ist eine Antwort, die die Wahrhaftigkeit und die Klugheit miteinander in einem Menschen ausgemacht haben in einem Falle, wo er keine klare Antwort sagen kann oder will, wo dann die Klugheit der Wahrhaftigkeit gewissermaßen zu Hilfe eilt; undje mehr ein Mensch in der Öffentlichkeit wirkt, desto mehr bedarf er der Hilfe der Klugheit in seiner Rede, desto öfters kommt er in die Lage, ausweichend zu antworten, bis hinauf zum Minister oder Diplomaten, die in allem, was sie reden, auf diese Geschicklichkeit, nichts Unwahres zu sagen und doch nichts unnötig preiszugeben, dasgeheimgehalten werden muß, bedacht sein müssen. Wir wollen aber nicht von ihnen reden, sondern von uns. Wir beneiden sie nicht um ihr Los, denn wir wissen genau, wie es ihnen zumute ist. Wir sindja selber im Leben viel zu viel Diplomaten. Und das ist etwas merkwürdig Unbehagliches, wenn uns dies zu Bewußtsein

kommt. Es liegt nämlich in der Klugheit etwas sehr Gefährliches. Sie führt uns oft bis an die äußerste Grenze der Wahrheit, wo nicht mehr die Wahrhaftigkeit, sondern nur noch der äußere Schein der Wahrheit gewahrt ist, wo wir vielleicht dem Wortlaut nach etwas sagen, das vielleicht direkt gegen dieWahrheit nicht verstößt, von dem wir aber genau wissen, daß es der, dem wir es sagen, in einem ganz andern Sinne verstehen muß, als wir es sagen. So wird die Klugheit zur Verführerin der Menschen, indem sie ihnen die Grenze verwischt zwischen dem, was wahrhaftig, und dem, wasnicht mehr wahrhaftig ist. Ihr wißt, daß die Jesuiten in ihrer Morallehre die äußerste Grenze zwischen demWahren und dem Nichtmehrwahren in Beispielen festgelegt haben und wie es da zutage tritt, wie es ihnen nur auf dasErhalten des äußeren Scheines der Wahrheit, damit der Mensch sich vor sich selbst rechtfertigen könne, nicht auf dieWahrhaftigkeit mehr ankommt. Darum ist auf solches nichts zu geben. Wir müssen Angst haben vor dieser Seiltänzerei derWahrheit, die wir oft so gern vor uns selber aufführen möchten, wenn uns unser Gewissen sagt, daß wir nicht wahrhaftig waren, während wir uns nun glauben machen wollen, daß wir nichts gegen den Wortlaut der Wahrheit gesagt haben. Wir werden den Eindruck nicht los, daß in unsern klugen und vorsichtigen Antworten zuviel Klugheit und zuviel Vorsicht war, als daß wir ganz wahrhaftig dabei sein konnten. Ihr werdet mit mir übereinstimmen, wenn ich sage, daß die Klugheit im Red- und Antwortstehen in vielen Menschen um uns her wirkliche

Eure Rede sei: Ja, ja; nein, nein

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Wahrhaftigkeit so betäubt hat, daß diese ihre Wahrhaftigkeit verloren haben. Es ist ihnen ein Sinn der Seele abhanden gekommen. Und wohl uns, wenn wir uns noch gegen diese Betäubung wehren und uns bewußt bleiben, daß wir täglich und stündlich um unsere Wahrhaftigkeit zu kämpfen haben. Aber wer zwingt die Menschen zu dieser Klugheit, die sie so leicht über die Grenze der absoluten Wahrhaftigkeit hinausführt? Die Umstände, die Not des Lebens, gewiß. Aber oft auch ... die Menschen. So viele Menschen kommen in der Wahrhaftigkeit zu Fall durch die Versuchungen, die ihnen andere bereiten. Das ist das Tragische, daß wir jeder von uns wissen, wie schwer uns der Kampf für die Wahrhaftigkeit fällt, und wir wiederum den andern zu Versuchern werden. Darum ist es sicherlich so notwendig, zu predigen: Versuche die andern nicht zur Unwahrhaftigkeit! als: Bleibe selber wahrhaftig! Fast noch notwendiger. Daß wir den Kampf für unsere Wahrhaftigkeit führen müssen, sagt uns unser Gewissen; wir fühlen, wie wir innerlich zugrunde gehen, wenn wir es nicht tun. Der Abgrund, in den wir schauen, verleiht uns die Kraft der Angst, daß wir am steilen Abhang weiter entlangklettern. Aber daß sie die Versucher der andern Menschen sind, daß sie nicht nur an ihrer eigenen Unwahrhaftigkeit tragen, sondern auch an der, die sie alsVersucher bei andern verschulden, davon haben die meisten Menschen kein klares Bewußtsein. Man erschrickt, wenn man das Leben um sich betrachtet, wie es ist. Wie man in einem Mikroskop Dinge sieht, von denen die gewöhnliche Schärfe des Auges keine Ahnung hat, und gewahr wird, wie ein leichtes Stäubchen ein zackiger, rissiger Kegel ist, so ergeht es dem geistigen Auge, wenn es die Binde der Gedankenlosigkeit abtut und die Dinge betrachtet, nicht wie wir sie zu sehn uns angewöhnt haben, sondern wie sie sind. Da sieht man erst, was für ein Schreckensregiment das Wort «Soll ich meines Bruders Hüter sein?» [Gen. 4,9] in Dingen derWahrhaftigkeit unter uns führt. Was gehört dazu, daß wir an unsern Mitmenschen nicht die Versucher zur Unwahrhaftigkeit werden? Zunächst, daß wir ihnen keine Falle legen. Ich führte euch schon einmal in einem andern Gedankenzusammenhang dasBeispiel an, daß wir etwas Bestimmtes wissen, was ein Mensch gesagt oder getan hat, wir wollen, daß er es uns eingestehe. Nun tun wir, als ob wir nichts wüßten, bringen die Rede auf die Sache, lassen ihn reden und kommen dann plötzlich, wenn er etwas anderes gesagt hat, als wir wissen, und legen die Karten auf denTisch und nageln ihn bei der Unwahrheit fest. Wir kommen uns noch stolz vor über unsere Klugheit und blicken richtend auf ihn herab und triumphieren. Worüber? Daß wir einen Menschen in der Versuchung zu Fall gebracht haben. Dabei bedenken wir nicht, daß wir einen Teil seiner Sünde wider dieWahrhaftigkeit tra-

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gen und daß wir am ersten wider die Wahrhaftigkeit gesündigt haben: Denn ist dasTun, als ob wir nichts über das wüßten, worüber wir ihn zur Rede brachten, nicht auch eine Unwahrhaftigkeit, nur daß sie nicht als Lüge offenbar wird, weil sie sich nicht in Worte zu kleiden braucht, sondern mit Schweigen angetan bleibt? Wem daseinmal klar ist, der kann niemand mehr inVersuchung führen: weder sein Kind noch einen Dienstboten noch sonst einen Menschen. Und nicht nur wird er manchen vor einer Unwahrheit bewahren, sondern manche werden auch den Abscheu gegen dieses überkluge Verfahren von ihm lernen, die dieses Fallenlegen jetzt noch ganz unbefangen alsetwas Unanstößiges betreiben. Wenn duin deinem ganzen Leben in einem solchen Falle immer so handelst, daß du sagst: Ich weiß dies und das über dich: Wie steht es damit, wirst du dir sagen können, daß du gar manche Sünde wider dieWahrhaftigkeit verhindert hast? Das zweite: Mache dir die Schwäche eines Menschen nicht zunutz! Bilde dir nichts darauf ein, durch dein geschicktes Fragen ihm Dinge zu entlocken, die er nicht sagen wollte und nicht sagen durfte. Es kommt ja sogar vor, daß Leute die Kinder anderer ausfragen, um deren Arglosigkeit etwas zu entlocken, das sie gerne über die andern wissen möchten, und nichts anderes dabei denken, als wunder wie schlau sie es angerichtet haben. Und wenn wir das vielleicht auch nicht tun würden, so haben wir doch schon so manchmal die Mitteilsamkeit von Menschen mißbraucht, um sie zum Reden zu bringen, ohne daß es unsbewußt geworden ist, was wir damit eigentlich begehen. Wir haben vielleicht Dinge aus ihnen herausgebracht, Sachen, die nicht ihnen, sondern andern gehörten, die sie wußten und nicht weitersagen sollten, und wir haben uns ihre Schwäche zunutze gemacht, um das Geheimnis anderer zu stehlen, und sie dazu gebracht, einen Vertrauensbruch zu begehen. Ein großer Teil von allen Mißverständnissen, von aller Feindschaft und allem Haß, die zwischen Menschen bestehen, rührt von solchen Vertrauensmißbräuchen her. Und ich sehe dann fast immer den geschickten Frager dahinter, der den Menschen zumVertrauensmißbrauch trieb, ohne daß dieser recht wußte, was er tat, und ohne daß er sich selbst darüber Rechenschaft gab, wie gemein und unwahrhaftig er handelte, daß er eigentlich ein Dieb ist, nur daß man ihn nicht vor Gericht stellen kann, daß aber mancher, der dem Richter vorgeführt wird, weniger Schuld auf sich geladen hat als er. Darum achte das Geheimnis eines andern, auch wenn es sich in der Verwahrung eines Menschen befindet, der es nicht gut hütet und dem du es mit einiger Geschicklichkeit wohl entlocken könntest. Geh nicht davon ab, weder im Großen noch im Kleinen, auch nicht in den allergeringsten Dingen des Lebens. Betrachte nie einen Menschen als deine Beute.

Eure Rede sei: Ja, ja; nein, nein

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Du bist schon im Wald gesessen und sahst eine Spinnwebe sich im Winde bewegen. Plötzlich erzitterte sie: Etwas flog dagegen, und im selben Augenblick schoß etwas aus dem Hintergrund heraus, und im nächsten Augenblick hing ein Bienlein regungslos verstrickt und eingewickelt in dem Gewebe. Und du konntest nicht helfen und dachtest mit Grauen daran, daß dies jetzt in diesem Sonnenschein nicht nur da, wo du warst, sondern ringsum, so weit dein Blick reicht, geschah, und daß niemand helfen konnte. Sieh, dasselbe geschieht auch überall, daß Menschen in dasNetz der Fragen des andern geraten und ihre Beute werden, und das Elend, das daraus entsteht, ist gerade so ergreifend wie das, das du draußen in der Natur sahst. Im Gegenteil, verhindere solches Übel und halte einen Menschen davor zurück, wenn er dir etwas mitteilen will, wovon du fühlst, daß er kein Recht habe, es dir zu sagen, und scheue dich nicht, ihm die Frage entgegenzuhalten, ob erjenem andern gegenüber das Recht hat, dir das mitzuteilen. Zum dritten: Bringe niemand in Verlegenheit. Die meisten Menschen sind schon so abgestumpft, daß sie es gar nicht mehr merken, wenn ihre Fragen den andern peinlich sind, weil sie nicht glatt darauf antworten können. Oder sie merken es und kümmern sich nicht darum. Sie denken auch gar nicht daran, welche Versuchung ihr Fragen für diesen Menschen bedeutet, wie leicht sie ihn von derWahrheit abbringen können, wie leicht er jetzt gerade stolpert und fällt, sondern sie freuen sich noch, daß sie ihn halten und er sich winden und drehen muß. Die Menschen nennen dies klug und rühmen es; aber an sich ist’s eine Versuchung zur Unwahrhaftigkeit, zur schnell bereiten Verlegenheits- undNotlüge. Darum darfst du die Unbefangenheit der andern nicht teilen. Du darfst sie nicht einmal darin teilen, daß du durch gedankenloses Fragen die andern in Verlegenheit bringst. Manchmal kann eine gedankenlose oder ganz gleichgültige Frage einen andern, ohne daß du ahnen kannst warum, in die größte Verlegenheit bringen, da er nicht imstand ist, dir glatt darauf zu antworten. Und da wir im Leben viel fragen, und manchmal ganz unnötig, kommt es uns alle Augenblicke vor, daß wir plötzlich einen Menschen in Verlegenheit bringen. Der gewöhnliche Mensch denkt dann: Hier muß was verborgen sein, hier muß ich nachgraben, und fragt und fragt weiter, du aber, wenn du nur den Anflug von Verlegenheit bei einem Menschen siehst, schlag einen andern Weg ein, indem du daran denkst, was du alles schon in derVerlegenheit von Menschen gelitten hast.|30¡

30 [Der Schluß besteht ausStichwörtern.]

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Predigten

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Nachmittagspredigt Sonntag, 21.Juli 1907, St. Nicolai

Mt. 6,14 f.: So ihr den Menschen ihre Fehler vergebet|31¡ Wir sprachen letzten Sonntagmorgen|32¡ davon, daß wir um unsere Wahrhaftigkeit kämpfen müssen, da an der inneren Unwahrhaftigkeit die Menschen wie an einem Gift zugrunde gehen. Auch dachten wir miteinander darüber nach, wie oft wir bewußt und gedankenlos unserm Nächsten zurVersuchung der Unwahrhaftigkeit werden. Vielleicht ist es euch bei dem Nachdenken über diese tief einschneidende Frage ergangen wie mir, daß nämlich noch so viele Fragen vor euch auftauchten, die hinzugehören. Als die hauptsächlichste ist euch vielleicht dieselbe begegnet wie mir: Was sollen wir tun, wenn wir wissen, daß ein Mensch unwahrhaftig gegen uns ist und uns in einer großen oder kleinen Sache belogen

hat?

Das erste, was du tun sollst, ist, dich genau zu fragen: Weiß ich es denn ganz sicher, ganz, ganz sicher, daß er mir eine Unwahrheit gesagt hat? Es ist merkwürdig, wie leichtfertig wir in unsern Beschuldigungen da sind. Wenn dir ein anderer kommt und sagt: Das ist nicht so, wie es dir der und der gesagt hat, sondern so, dann glaubst du diesem zweiten, ohne zu prüfen. Du fragst dich nicht, ob er sich nicht irrt, ob nicht ein Mißverständnis vorliegen kann, sondern es gilt dir als ausgemacht, daß dubetrogen worden bist. Man erschrickt, wenn man sieht, was das Mißverständnis für eine Rolle spielt in all dem Leid, das zwischen den Menschen ausbricht. Wir wissen alle, durch wie geringfügige Dinge ein Mißverständnis entstehen kann, als wäre einer nicht mit der Wahrheit umgegangen; wir wissen, wieviel wir von Mißverständnissen gelitten haben ... und wie unrecht uns die Menschen oft taten ... und dennoch glauben wir so leicht und willig gleich das Schlimmste von einem Menschen, ohne uns zu fragen, ob nicht ein Mißverständnis vorliegt. Darum, wenn du meinst, jemand sei dir gegenüber nicht mit der Wahrheit umgegangen, frage dich lange, ob du es ganz sicher weißt, sträube dich, es zu glauben, bis du es nicht mehr anders kannst, und vorher sage keinem Menschen ein Wort davon! Und auch deinen Kindern gegenüber erhebe nicht so obenhin und in denTag hinein, rein auf den ersten Schein, die Anklage, als hätten sie die Unwahrhaftigkeit gesagt.

31 [, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euerVater eure Fehler auch nicht vergeben.]

32 [Siehe S. 849. 14.07.07.]

So ihr denMenschen ihre Fehler

vergebet

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Und wenn du nun sicher weißt, daß ein Mensch dir gegenüber unwahr war, was tun? Gewöhnlich möchten wir am liebsten hingehen und es ihm ins Gesicht schleudern. Wir sehen ihn unter unserer Anklage zusammenbrechen und erbleichen und in seiner ganzen Erbärmlichkeit vor uns stehen und freuen uns in Gedanken daran. Und viele Menschen geben diesem Bedürfnis, einen Triumph über die Lüge zu genießen, nach und machen es noch recht öffentlich. Sie meinen, es ist nicht recht, daß es noch jemanden gibt, der nicht weiß, daß der undjener eine Unwahrheit gesagt hat. Und sie meinen, ein solches Betragen ist richtig. Es ist es nicht. Es gibt Fälle im Leben, wo man eine Unwahrheit zerstören muß, wo es eine Sache oder der Ruf eines Menschen unbedingt erheischt. Dann darfst du und mußt du es unbedingt tun, ob es für dich oder einen andern ist. Aber meistens hat dies nicht statt. Es handelt sich um etwas zwischen dir und einem Menschen allein, etwas, daskeine so große Bedeutung hat. Dann laß es auf sich beruhen, rede mit keinem Menschen davon und ziehe den andern nicht zur Rechenschaft. «Richtet nicht!» [Mt. 7,1] heißt es in der Schrift. Laß die Zeit ihr Werk treiben. Es kommt vielleicht einmal der Augenblick, wo ihr beide wie von selbst darauf kommt, davon zu sprechen, wo der andere es dir vielleicht selber sagt, nachdem ihm seine Schuld selber schwer geworden ist, und dann laß ihn merken, ohne viel Worte zu machen, daß du ihm vergeben hast, auch ehe er davon sprach. Wir wissen alle voneinander, wie leicht ein Mensch im Leben in Gefahr kommt, sich in der Wahrheit zu verirren, undjeder von uns weiß, wieviel Kleines und Großes die Menschen ihm in solchen Dingen zu verzeihen haben. Darum glaube ich, daß, wenn ein Mensch wahrhaftig ist mit sich selbst, er die Entrüstung, der sich die meisten Menschen hingeben, wenn sie einen andern wegen einer Unwahrheit demütigen können, als etwas ansieht, wozu keinem von uns, und wenn er auch von sich selbst sagen kann, daß er ernst um die Wahrhaftigkeit kämpft, [das Recht] zusteht. Ihr müßt immer denken, daß eine Kraft zum Guten in eurem Vergeben liegt und daß, wenn ihr einem Menschen innerlich etwas vergebt, die Schuld von ihm genommen ist. Es liegt so viel Schuld auf der Welt, nicht nur weil die Menschen so viel sündigen, sondern weil so wenig Menschen sind, die dasVergeben üben. Und wassoll ausden vielen Menschen werden, die die Unwahrheit sagen, fast ohne es mehr zu wissen, die so tief im Leben heruntergekommen sind, wenn wir nicht mitleidig sind und ihnen verzeihen als Menschen, die an der Seele krank sind und die nicht wissen, was sie tun? Nun zum Schluß noch die Frage: Wie sollen wir es mit unsern Kindern halten? Hier handelt es sich um die Erziehung zurWahrhaftigkeit. Viele Eltern, auch solche, die meinen, es nicht zu tun, erziehen sie zur

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Unwahrhaftigkeit. Sie versetzen das Kind in eine Angst, die ihm jede Überlegung benimmt, sind übertrieben streng in kleinen Dingen, unberechenbar in der Beurteilung seiner Fehler, so daß das Kind durch eine gewisse Notwehr gegen diese Ungerechtigkeit zur Unwahrheit getrieben wird. Und es fühlt, gerade weil es sich gegen eine Ungerechtigkeit wehrt, die Unwahrheit nicht mehr als Sünde, sondern als Notwehr. So wird es vergiftet, ehe es nur denken kann. Darum sei dir immer bewußt, daß die Gerechtigkeit, die Ruhe und die Selbstbeherrschung, mit der du deinem Kind gegenübertrittst, allein seine Wahrhaftigkeit erhalten kann und daß deine Heftigkeit und Ungerechtigkeit es notwendig zur Unwahrheit führt. Darf ich hier nebenbei bemerken, wie die Eltern oft auf falsche Mittel verfallen, das Kind zurWahrheit anzuleiten? Es hat etwas begangen und soll es gestehen. Zum Lohn verspricht man ihm dann, daß es nicht gestraft wird. Ich meine, man muß es dazu erziehen, daß es dieWahrheit um der Wahrheit willen sagt und sich auch durch die Furcht vor der Strafe nicht davon abhalten läßt. Denn alle Unwahrhaftigkeit wird ja aus der Furcht geboren, und oft sündigen die Menschen schwer gegen die Wahrhaftigkeit um einer kleinen Unannehmlichkeit willen, die ihrer wartet oder die sie sich auch nur einbilden.|33¡

Nachmittagspredigt Sonntag, 10. November

1907,|34¡ St. Nicolai|35¡

Mt. 13,33: Das Gleichnis vom Sauerteig|36¡ SeitJahren hat sich zwischen euch und mir die Gewohnheit herausgebildet, daß wir in unsern Nachmittagsgottesdiensten die großen Feste miteinander nachfeiern, um so in unserm ganz kleinen Kreise die Gedanken, die sie in unswachriefen, noch einmal zu überdenken. Das Fest, das hinter uns liegt, ist das Reformationsfest. Mit welchen Gefühlen habt ihr es begangen? Ist es euch bewußt geworden, welch eine Bedeutung es gerade in diesem Jahre hat? Noch keinJahr, nachdem Luther die evangelische Kirche gegründet hat, hat so gezeigt, wie recht

er hatte, wie gerade dieses. Ich kann nie in dasherniederdrückende Dunkel des 31. Oktobers hinausblicken, ohne denjungen Augustinermönch vor mir zu sehen, wie er 33 [Den Schluß bilden Stichwörter:] Erziehung zurTapferkeit! Falsche Schande! Die Bedeutung desTages, wo dasKind erkennt, daß die großen Menschen auch lügen! 34 [R] Sonntag nach dem Reformationsfest. 35 [R] Erste Predigt nach den Ferien. 36 [Das Himmelreich ist einem Sauerteig gleich, den ein Weib nahm und vermengte ihn unter drei Scheffel Mehl, bis daß es ganz durchsäuert ward.]

Das Gleichnis vomSauerteig

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seine Thesen an die Schloßkirche zuWittenberg anschlägt, ohne selber zu ahnen, daß er damit einen neuen Tag in der Geschichte der Menschheit heraufführt. Immer meine ich, ich müßte ihm persönlich danken, daß er den Mut besaß, so zu handeln, wie er es tat. Was störst du den Frieden, sagten viele Menschen und solche, denen dasWohl der Religion am Herzen lag, zujener Zeit. Und wenn er ihnen antwortete: Das Evangelium braucht Gewissensfreiheit, so zuckten sie die Achseln und sagten: Gewissensfreiheit? Die gibt es doch auch in der

katholischen Kirche. Und wirklich gab es Zeiten, wo ihr ein größerer Spielraum gewährt wurde, daß manche Katholiken sich einbilden durften, sie wären geradeso gewissensfrei wie die Protestanten. Das war besonders so etwa von 1800 bis 1850. Ich habe ausjener Zeit Auslegungen desNeuen Testamentes und Darlegungen des christlichen Glaubens von katholischen Gelehrten und Pfarrern gelesen, wo ich bei mir selber sagen mußte: Die sind nicht weit vom reinen Evangelium. Diese Männer fühlten nicht das, was sie vom Protestantismus trennte, sondern was sie mit ihm einte. Dann aber, mit dem Papst Pius IX., kam der Schlag gegen diese Freiheit in der katholischen Kirche. In den sechziger Jahren erließ er eine Schrift, der Syllabus genannt, in der er alle Meinungen und Sätze aufführte, die er kraft seiner Gewalt als Irrlehre verdammte. Einige Jahre daraufließ er sich alsunfehlbar erklären auf dem Konzil. Daswollte heißen, daß, wenn etwas als falsch verurteilt war, niemand als katholischer Christ mehr anders denken durfte. Die Bischöfe, die anfangs in die Lehre von der Unfehlbarkeit nicht einwilligen wollten, unterwarfen sich. Sie und die freier gesinnten katholischen Lehrer und Pfarrer gedachten, wenigstens ein Restlein Freiheit zu retten. Sie kämpften darum, mußten aber Schritt für Schritt zurückweichen. Zuletzt hatten sie nur den Schein der Freiheit gerettet. In diesem Jahre aber ist auch der Schein zerstört worden. Der neue Papst, Pius X., hat einen neuen Syllabus erlassen, in dem er alle freieren Ansichten, die in den letzten Jahren vonTheologieprofessoren und Pfarrern ausgesprochen worden sind, verdammt. Dann hat er noch ein Rundschreiben, mit dem lateinischen Namen Enzyklika genannt, ausgehen lassen, daß die Bischöfe gegen solche, die Miene machten, dennoch bei ihren Ansichten zu beharren, einschritten. Nun gibt es keine Gewissensfreiheit, nicht einmal einen Schein von Gewissensfreiheit mehr in der katholischen Kirche. Und nun urteilt, ob Luther recht hatte, als er der Ansicht war, daß es unter Papst und Bischöfen niemals eine wahre Gewissensfreiheit geben könne, und er daher sich von der katholischen Kirche losriß. Wer daher die Zeichen der Zeit versteht, der hat dieses Reformationsfest als ein Freudenfest vor andern gefeiert, denn er begreift, welch kost-

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bares Gut die Gewissensfreiheit ist, deren wir uns erfreuen. Noch nie habe ich meine Tätigkeit so innerlich ergriffen wieder aufgenommen wie diesen Herbst. Alsich zum ersten Mal wieder in der Universität auf und ab ging, bevor ich meine Vorlesung bei den Studenten eröffnete, mußte ich immer wieder an das Glück denken, daß ich ihnen ohne Zwang verkünden durfte, was ich auf mein Gewissen hin als evangelische Wahrheit an-

sehe.

Als ich zum ersten Mal wieder mit den Knaben im Schulsaal zum Konfirmandenunterricht versammelt war, wollte es mir fast undenkbar erscheinen – so herrlich kam es mir vor – , daß ich sie ohne andern Zwang als den der Wahrheit in der christlichen Lehre unterrichten durfte. Und jetzt, wo ich wieder zu euch predige und auf die lange Reihe vonWinter- und Sommersonntagen ausblicke, wo ich hier dasEvangelium verkündigen darf, ist es mir, als müßte ich mich bei jedem Satz unterbrechen, um der Freude Ausdruck zu geben, daß ich es tun darf, indem ich die Wahrheit des Evangeliums als die alleinige Richtschnur über die Gedanken anerkenne. Und nun versteht ihr auch, warum ich für unsere Betrachtung vom Gleichnis vom Sauerteig ausging. Es hat sich ja vor unsern Augen erfüllt. Der Sauerteig der Gewissensfreiheit, den Luther dort nahm und unter seine und seiner Anhänger Frömmigkeit mengte, hat in unserer Zeit den ganzen Teig durchsäuert, daß wir immer mehr zur Freiheit und Wahrheit kommen. In der andern Kirche aber senkt sich dasDunkel immer mehr auf das Evangelium herab, immer mehr tritt die Menschensatzung anstelle der religiösen Wahrheit, weil sie den Sauerteig der Gewissensfreiheit von sich gewiesen hat. Ich möchte das nicht gesagt haben als einer, der eine andere Konfession richtet undverurteilt, sondern alseiner, der die Seelen- und Gewissensnot mitempfindet, unter der so viele katholische geistliche Lehrer und Pfarrer in diesen Wochen leiden, ohne einen Ausweg zu sehen. Sie fühlen innerlich, daß sie nicht von dem, was sie als Wahrheit erkannt haben, lassen können, und doch haben sie den Mut nicht, mit ihrer Kirche zu brechen und sich wider den Zwang, der auf sie ausgeübt wird, aufzulehnen. Gewiß aber ist, daß es in diesen Tagen von uns Protestanten mehr gilt dennje, was der Herr zu seinen Jüngern sagte: «Ihr seid dasLicht der Welt» [Mt. 5,14]. Je mehr die wahre Religion Jesu um uns her verdunkelt wird durch Menschensatzungen, desto mehr ist die Welt auf die Fackel der wahren Religion angewiesen, die wir in der Hand halten. Darum ist das Reformationsfest aber nicht nur ein Freudenfest, sondern ein Mahnungsfest an uns. Die Welt ist auf uns Protestanten angewiesen für das reine Evangelium. Sind wir aber wirklich Licht und

Christus muß herrschen

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Sauerteig für sie? Die Gewissensfreiheit allein tut esja nicht, sondern nur die lebendige Frömmigkeit. Wenn es im Frühling überall sproßt und grünt, woher kommt es? Es kommt daher, daß die Nebel und Wolken des Winters gewichen sind und die Sonne frei und warm auf die Erde scheint; aber nicht davon allein, sondern auch von den Lebenskeimen, die im Boden liegen. So ist es auch mit der Religion. Es nützt nichts, wenn die Wolken des Gewissenszwanges gewichen sind und die Sonne der Gewissensfreiheit über uns scheint, wenn keine lebendige Frömmigkeit in uns ist; so kann der neue Frühling nicht anbrechen, der kommen muß, um die Menschheit aus dem Dahinleben in Gleichgültigkeit und Gedankenlosigkeit zuerlösen. Darum seien diese Tage, wo wir der Reformation gedenken, nicht nur Tage freudiger Dankbarkeit im Rückblick auf die Taten der Väter und freudigen Stolzes im Hinblick auf das, waswir vor andern Konfessionen voraus haben, sondern auch der ernsten Selbstbesserung, ob wir wirklich lebendige Frömmigkeit – dieses eine, was not tut – besitzen. Gott möge unshelfen, daß wir danach ringen und so ein guter Sauerteig für die Menschen um uns werden.

Morgenpredigt Sonntag, 17. November 1907, St. Nicolai

I Kor. 15,25 f.: Christus muß herrschen, bis daß er alle seine Feinde unter seine Füße lege. Der letzte Feind, der aufgehoben wird, ist derTod

In diesem Wort sagt der Apostel Paulus, daß das Herrschen Christi sich in dem Überwältigen desTodes, des letzten Feindes, auswirke. Die Zeit ist dazu angetan, daß wir es miteinander betrachten, um zu sehen, wie weit die Herrschaft Christi unter uns schon vorangeschritten, wie weit der letzte Feind überwunden ist. Wir blicken zurück auf die Tage, wo die Gräber draußen mit den traurig-schönen spätherbstlichen Blumen geschmückt wurden und die Menschen zu den Fried-

höfen hinauswallten. Wir sahen die letzten Blätter von den Bäumen fallen; am Abend waren es noch einige, ganz oben in den Zweigen; am Morgen keines mehr. Was sproßte und grünte, war ihm verfallen, demTod; es lebte, aber gehörte ihm; er wartete nur seine Zeit ab; nun erntet er, und nichts widersteht ihm. Und wir gedenken daran, daß alles, was lebt und sich freut, die Menschen und wir, ihm verfallen sind und er auch mit uns nur seine Zeit abwartet. Und wenn wir dieses Sterben der Natur miterleben, ist es uns, als

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würden wir mithineingezogen; wir erschauern, als streifte uns der Mantel desTodes. Du standest schon auf einer Brücke und schautest in die Flut, die sich unten vorbeiwälzte, immerfort, immerfort; da war es, als ob die Brücke sich selbst bewegte, als ob alles um dich in Fluß käme, und du stemmtest dich, von einer unbegreiflichen Angst ergriffen, wider das Geländer, um zu erproben, ob es noch etwas Festes gäbe, und wenn du es fühltest, wachtest du wie aus einem schweren, wirren Traum auf. Dasselbe Gefühl erfaßt dich, wenn du in den Strom desVergehens und Sterbens um dich her schaust; aber hier gibt es nichts Festes, wogegen du dich stemmen könntest, um dem Gedanken zu entgehen, daß du mitfortgerissen wirst ... Als Knaben spielten wir des Sommers im trockenen Flußbett; man konnte von Stein zu Stein springen und unter den Brückenbogen gelangen, wo man denWiderhall der Stimme erprobte und an den schwarzen Strich hinaufzureichen versuchte, der angab, bis wohin das Hochwasser gereicht hatte. Große, weiße Geröllinseln dehnten sich weithin aus; um zu ihnen zu kommen, mußte man die Wässerchen, die sie umflossen, durchwaten. Wenn ich drauf war, kam mich bei dem leisen Gurgeln und Rauschen ein Schreck an.Wenn dieWässerchen wüchsen, wenn die Flut jetzt käme, wenn der Weg zum Ufer abgeschnitten würde ... Warum sollte es nicht möglich sein, daß sie jetzt komme ... Warum denn nicht? ... Wer konnte eswissen? Die großen Knaben lachten mich aus. Es seija Sommer undkein Schnee mehr auf den Bergen. Ich schaute nach der fernen Kette aus... Blau, von der Sonne beleuchtet, lag sie friedlich da ... Ich kämpfte dieAngst herunter... Ganzloswurde ich sienicht ... Wir wandeln alle im trockenen Strombett dahin; aber keiner kann sagen: Es ist Sommer, die Flut kommt nicht. Wir sehen, wie sie um uns her bald diese, bald jene Inseln überschwemmt und die Menschen zu Tausenden oder zu Hunderten urplötzlich mitfortreißt; wir sehen, wie sie um diesen oder jenen, ganz nahe bei uns, langsam, unentrinnbar anschwillt und ihn erst die ganze Angst [fühlen läßt], bis sie ihn fortschwemmt ... Darum ist die Hauptfrage desLebens: Wie stehst du zumTode? Alles, was uns fesselt und beschäftigt, hat nur einen bedingten Wert. In einem Augenblick, in der nächsten Stunde kann es vollständig wertlos werden. Der Tod herrscht draußen; er herrscht auch über dich ... Herrscht er in dir, oder hast du ihn in dir überwunden, daß du mit ihm fertig

bist?

In früheren Zeiten hielt man es für christlich, die Todesfurcht und das Todesgrauen der Menschen noch zu steigern. Ein berühmter Prediger am Hofe eines französischen Königs zeigte seinen Zuhörern von der Kanzel herab die Steinfliesen der Erbbegräbnisse der vornehmsten

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Familien, eines neben dem andern an der Wand der königlichen Kapelle, in der der Gottesdienst stattfand. Er schilderte ihnen, wie sie einst ebenso prächtig gekleidet, ebenso lebenslustig hier gesessen hätten wie die, zu denen er redet, und daß diese, wie jene jetzt, einst ebenso unter den Steinplatten faulen und modern werden. Und nachdem er ihnen das alles grausig ausgemalt hatte, glaubte er sie empfänglich für die Predigt der Buße und desewigen Lebens. Und was hatte er gepredigt? Die Herrschaft des Todes, nicht die Überwindung desTodes. Wo Furcht und Schrecken vor dem Tod ist, da herrscht er. Ich habe das nie so empfunden als beim Besuch des Trappistenklosters Olenberg|37¡, wojedes Bild undjeder Stein vomTode redet. Daß die Menschen dann in Angst und Schrecken sich an die Hoffnung eines ewigen Lebens klammern, ist nicht das Aufheben desTodes, das nach dem Wort des Apostels Paulus unter der Herrschaft Christi stattfinden soll, oder doch nur ein unvollkommenes. Jahrhundertelang hat man den Menschen den Schrecken des Todes gepredigt, daß sie ihre Zuflucht zum Glauben an das ewige Leben nähmen. Und das Ergebnis? Abstumpfung, Abstumpfung ... dieses merkwürdige Wort, das die unbegreifliche und verhängnisvolle Tatsache [umschreibt], die sich hundertmal auf allen Gebieten wiederholt, daß etwas, wiederholt und immer wiederholt, seine Wirkung einbüßt ... der Ball, hundert und hundertmal auf die Erde geworfen, springt zuletzt nicht mehr in die Höhe, die beste Medizin, tagtäglich genommen, wirkt zuletzt nicht mehr ... eine Wahrheit, durch mehrere Generationen immer wiederholt, gilt zuletzt nichts mehr. So ist die Menschheit um uns her weder durch die Furcht vor dem Tode noch durch die Hoffnung auf das ewige Leben bewegt. Sie verlangt nur eins, daß man keine Anspielung auf den Tod macht. Sie hat gewissermaßen ein geheimes Dekret erlassen, daß jedermann seinem Nebenmenschen gegenüber fortgesetzt so tue, als ob die Möglichkeit, daß dieser sterben könne, gar nicht in Betracht käme. Und keines der Gesetze über den Umgang wird so peinlich beachtet wie dieses. Die letzte Liebe, die die Menschen einem erzeigen, der schon mit demTode gezeichnet ist, besteht darin, daß sie tun, als ob die Krankheit selbstverständlich nicht gefährlich sein könne. Und wenn der andere schon selber fühlt, wie ernst seine Lage ist, will er gewöhnlich doch noch immer gern dasGegenteil hören. Einige unter euch kennen wohl die ergreifende Geschichte aus der Erzählungssammlung eines zeitgenössischen französischen Schriftstellers: Eine junge Witwe mit ihren Kindern besucht anjedem Donnerstag einen entfernten, alten, einsamen Verwandten. Er hat ihr in Aussicht gestellt, sie im Testament zu bedenken. An einem Donnerstag hat sie wie37 [DasTrappistenkloster Oelenberg liegt in Reningue ob Mülhausen im Elsaß.]

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der den fünfviertelstündigen Weg mit ihren Kindern zurückgelegt. Sie findet eine Verschlimmerung in dem Zustande des Kranken. Er selber fühlt sich elend. Nicht wahr, sagt er ihr, ich sollte doch daran denken, mein Testament aufzusetzen. Meinst du nicht, daß du den Notar holen solltest? Sie aber fühlt die geheime Angst in der Frage. Nicht doch, erwiderte sie, das ist nur vorübergehend. Da lächelte er froh auf. Am nächsten Tag war er tot ... ohne ein Testament gemacht zu haben. Die näheren Verwandten bekamen alles. Sie aber durfte sich damit trösten, daß sie das, was sie für ihre Kinder so notwendig hatte, drangegeben hatte, den Gedanken des Sterbens von ihm zu bannen. Sie hatte ihm die letzte Barmherzigkeit erwiesen. Und manchmal, wenn ein Mensch die Schatten desTodes über sich fühlt und das Bedürfnis fühlt, mit den Seinen darüber zu sprechen und dadurch zur Klarheit und zur Fassung zu kommen, so lassen sie es nicht zu, sondern spielen die Komödie, daß sie die Möglichkeit eines solchen Ausgangs nicht in Betracht ziehen, bis zu Ende weiter, meinend, ihm dadurch einen Dienst zu leisten, meinend, ihm die Gedanken ausgeredet zu haben, wenn er es zuletzt aufgibt, darauf zurückzukommen ... und sie haben ihn nur einsam gemacht und ihm die Hilfe verweigert. In dieser schweigenden Scheu herrscht der Tod über die Menschen unserer Zeit. Und wie weit uns diese Scheu anerzogen ist, fühlt ihr mit mir in diesem Augenblick selbst an der Befangenheit, die wir unwillkürlich empfinden, daß wir, die wir uns von hier auch sonst noch kennen, uns miteinander jetzt vorstellen, daß wir sterben werden, daß über kurz oder lang die Zeit kommen wird, wo wir einem andern oder die andern uns das letzte Geleite geben, nachdem sie vorher vor unserer Wohnung auf der Straße gestanden, sich die schwarzen Handschuhe angezogen und miteinander besprochen haben, wie lang wir krank waren, was wir hatten, welcher Arzt uns besorgte, ob wir einen schweren oder leichten Tod hatten, um dann zu andern Gegenständen überzugehen. Aber indem wir diese merkwürdige Befangenheit spüren, glaube ich dennoch, daß wir miteinander etwas wissen, das uns über die Gedankenlosigkeit, mit der man sonst denTod übersieht, hinaushebt und das uns eine Deutung des Wortes des Apostels finden läßt, daß unter der Herrschaft Jesu auch derTod, der letzte Feind, aufgehoben ist. Er herrscht noch draußen und wird herrschen ungebrochen, solange es eineWelt und ein Sein gibt. Aber er herrscht nicht mehr in den Menschen, die ihn innerlich überwunden haben. Und wenn das für uns und sonst noch für Menschen unserer Zeit gilt, so ist dasWort des Apostels auf demWege zur Erfüllung, einer anderen, geistigeren Erfüllung, als er es sich vielleicht selber gedacht hat, und doch Erfüllung. Ich möchte hier nicht von der Lehre der Kirche über die Bedeutung des Todes Jesu und inwiefern dieser ein Überwinden des Todes überhaupt bedeutet, reden, sondern von der unmittelbaren Lehre, die sein

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Geist in uns Kindern unserer Zeit wirkt, wenn wir mit der Zuversicht Ernst machen, daß wirklich etwas von Christi Geist in uns ist und die tiefsten Erkenntnisse des Lebens in uns wirkt. Denn das empfindet ihr wohl alle mit mir, daß es Erkenntnisse gibt, die wir als christlich empfinden und die für uns christliche Wahrheit sind, weil sie in uns, die die Welt als Christen zu begreifen suchen, aufsteigen und Gestalt gewinnen, nicht in uns allein, sondern in dem Kreis der Menschen um uns, die auf demselben Wege dahinziehen. So möchte ich sagen, daß der Geist Christi in unserer Zeit wirklich den Tod als den letzten Feind vernichtet, indem er uns zunächst dazu bringt, ihn ruhig und natürlich zu betrachten. Und da ist’s ein ganz anderer Tod, als die Menschen sich ihn vorstellen, wenn sie aus Angst vor ihm die Augen schließen. Schon in der natürlichen Betrachtung desTodes liegt etwas Beruhigendes. Habt ihr schon einmal bedacht, wie schrecklich es wäre, wenn unserm Leben kein Ziel gesetzt wäre und es immerfort dauerte? Es braucht ein Mensch im Leben nicht besonders vom Unglück betroffen worden zu sein, um bei dem Gedanken, daß es niemals endigen könnte, zu erbeben. Könnt ihr euch das vorstellen, daß wir, so weit unser Blick in die Zukunft reicht, in die Wünsche und Sorgen dieses Daseins verstrickt würden, und daß alles, was an Neid, Haß und Schuld von unserer und von anderer Seite damit verknüpft ist, sich immer ungetilgt weiter anhäufen würde? Wenn ihr es schon einmal bedacht habt, wie schwer wir am Leben tragen würden, ohne die Gewißheit, daß ihm ein Ziel gesetzt ist, so wißt ihr, daß der Tod für alle, auch die Glücklichsten, nicht ein Feind, sondern eine Erlösung ist. Wir alle müssen uns mit dem Gedanken an denTod vertraut machen, wenn wir zum Leben wahrhaft tüchtig werden wollen. Wir brauchen nicht jeden Tag, nicht jede Stunde daran zu denken; aber wenn derWeg unseres Lebens uns auf einen Aussichtspunkt führt, wo das Nahe verschwindet und der Blick in die Ferne bis zum Ende schweift, dann die Augen nicht schließen, sondern innehalten und in die Ferne schauen ... und dann wieder weiter. Aus diesem Todesgedenken kommt die wahre Liebe zum Leben. Wenn wir in Gedanken mit dem Tode versöhnt sind, nehmen wir jede Woche, jeden Tag als ein Geschenk an, und erst wenn man sich das Leben so stückweise schenken läßt, wird es kostbar. Vertrautsein mit dem Gedanken des Todes wirkt allein auch die wahre, innere Freiheit von den Dingen. Der Ehrgeiz, die Erwerbssucht, die Herrschsucht, die wir in uns tragen und die uns in dieses Leben hineinverstricken mit Sklavenfesseln, vermögen den Menschen, der dem Tod ins Antlitz schaut, auf die Dauer nicht zu betören, sondern er fühlt, wie der Gedanke des Endes in ihm nach und nach eine Läuterung be-

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wirkt, die ihn von dem schlechteren Ich in sich selbst, von den Dingen und Menschen frei macht, ihn auch frei macht von Menschenfurcht und Menschenhaß. Und wenn wir so schwach und so schlecht sind oft im Leben, und dies so oft an den Menschen auch sehen, so liegt das daran, daß dasTodesgedenken uns nicht vom Leben innerlich frei gemacht hat. Aber auch wenn ein Mensch die gewöhnliche Todesangst, das Nichtdenkenwollen an den Tod, abgetan hat und dem Tod ins Auge schaut, wenn er schon zu der Todesergebung durchgedrungen und die Todessehnsucht, von der die frommen Dichter so ergreifend reden, kennt und vielleicht schon innerlich wie der Apostel Paulus dagegen ankämpfen muß, daß sie nicht zu stark wird, auch der kennt noch eine Todesangst: die Angst, den Menschen entrissen zu werden, die ihn brauchen. Diese Angst kann man nicht bannen. Sie kommt manchmal wie ein Blitz. Ein Mann und eine Frau haben noch nicht alles miteinander erlebt, wenn nicht eines beim Anschauen des andern, ohne es gewollt zu haben, vor der Frage stand: Was würde aus ihm werden ohne mich? Und eine Mutter hat noch nicht alles mit ihrem Kinde erlebt, wenn sie nicht plötzlich wie von einem namenlosen Entsetzen erfaßt wurde: Was würde aus ihm werden ohne mich? Das ist doch die Erkenntnis, zu der man gelangt, wenn man versucht hat, den Dingen auf den Grund zu gehen, daß, wasuns im Leben festhält, nicht dasist, waswir von ihm hoffen und erwünschen, sondern die nahen und fernen Menschen, die uns

nötig haben ...

Und dieselbe Angst hat uns schon befallen, wenn wir Menschen ansahen, die etwas für uns sind, daß wir uns mit Grausen fragten, wie unser Leben aussehen würde ohne sie ... Auch dieser Angst schau ins Auge, stoß sie nicht zurück in den letzten Winkel deines Denkens. Behalte sie nicht einmal immer für dich, sondern wage, sie auszusprechen, wenn die Stunde dazu da ist, denn es liegt etwas Tiefes und Heiligendes darin, wenn Menschen, die zusammengehören, es miteinander bedenken, daßjeder Tag, jede kommende Stunde sie auseinanderreißen kann. Ihr werdet dann immer sehen, daß die Sorge, wasmit dem, daszurückbleibt, wird, die anfangs voranstand, zurücktritt hinter der andern, tieferen, was aus dem sein wird, was zwischen uns war, ob wir einander alles gegeben, was wir konnten, alles waren, was wir konnten, ob nichts ist, das wir dann ungeschehen machen möchten ... daß diese Sorge dann in den Vordergrund tritt, und daß wir meinen, daß wir dann auch die Trennung ertragen können, wenn wir so zueinander waren. Wieviel wäre in der Welt zwischen Menschen anders, wenn sie sich anzuschauen wagten als solche, die es beieinander bedenken, daß eins von dem andern hinweggerissen kann werden ... und wo eins für das andere durch dieses Todesgedenken geheiligt worden ist.

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Worin besteht die Überwindung des Todes? Daß wir unser Leben und die Menschen, die dazugehören, in Augenblicken tiefsten Gesammeltseins so betrachten und bewerten, als hätten wir sie in denTod hingeben müssen und sie auf Zeit von ihm zurückerhalten. Das sind aber keine natürlichen Betrachtungen über den Tod mehr, sondern das ist, was der Apostel Paulus in den Briefen immer wieder als das Urgeheimnis der Religion Christi predigt, daß die, welche dem Herrn im Geiste angehören, mit ihm in einem innerlichen Prozeß das Sterben und Eingehen zu einem neuen Leben erlebt haben und nun auf der Welt wandeln als die, die innerlich frei sind von derWelt, wie man durch Sterben von ihr frei wird. Und die Unsterblichkeit? Es hat euch vielleicht merkwürdig berührt, daß dasWort Tod so oft vorkam, ohne daß dieses andere, Unsterblichkeit, mit dem man gewöhnlich alsbald seinen Schrecken auslöscht, ausgesprochen wurde. Vielleicht hat man dasWort Unsterblichkeit zu viel und zu oft rein äußerlich gebraucht, um die Menschen über den Tod hinwegzutrösten, und es so unter ihnen entwertet. Die Unsterblichkeit, an die man nur als an einen Trost glaubt, ist nicht die rechte. Sie haftet so wenig in den Gedanken der Menschen als dasBild, das man mit Wasserfarbe auf eine Mauer malt, und das der nächste Regen wegwäscht. Sie ist äußerlich an den Menschen herangetragen und beschäftigt ihn nicht mehr, sobald er sich über dieTodesangst durch seine Gedankenlosigkeit

hinweggetäuscht hat. Aber wer sein Leben im Angesicht des Todes zu betrachten wagt, wer es von ihm stückweise zurückempfängt und es lebt als etwas, das ihm nicht gehört, sondern geschenkt worden ist, mit der innerlich freien und friedvollen Gesinnung des Menschen, der in seinen Gedanken den Tod überwunden hat, der glaubt an ein ewiges Leben, weil er schon etwas davon hat und erlebt hat und schon zehrt von dem Frieden und der Freude desselben. Wie es gestaltet ist, vermag er nicht zu sagen, er vermag seine Anschauung vielleicht auch nicht ganz mit den überlieferten Vorstellungen in Einklang zu bringen. Aber das weiß er gewiß, daß etwas in uns ist, das nicht vergeht, wenn wir selber vergehen, sondern das fortlebt und fortwirkt überall, wo das Reich des Geistes ist, weil es schon jetzt in uns lebt und wirkt, wenn wir innerlich durch den Tod zum Leben gekommen sind. So möge sich an uns dasWort desPaulus erfüllen, daß unter der Herrschaft Christi der letzte Feind, der Tod, überwunden ist. Er ist es noch nicht. Noch leben die meisten Menschen um uns her unter der Knechtschaft desTodes, dessen Namen sie nicht nennen, an den sie nicht denken mögen. Denkt daran, daß ihr vielleicht dazu berufen seid, einen oder den andern aus dieser Knechtschaft zu erlösen, und scheut euch nicht, wenn es die Gelegenheit bringt, ein Wort zu sagen, das ihm vielleicht ein Fingerzeig werden kann.

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Morgenpredigt Sonntag, 1. Dezember 1907, St. Nicolai 1. Advent

Jes. 40,3: Bereitet dem Herrn denWeg Wieder ist’s Advent, ein sanfter, milder Advent. Winterstürme brausen noch nicht einher und Schneeflocken wirbeln noch keine durch die Luft. Vor uns steht das alte Prophetenwort des Advents: «Bereitet dem Herrn denWeg!» Wird bei uns diesem Wort Gehorsam geleistet? Bereitet man dem Herrn denWeg? Was tust du dafür? Was kannst du dafür tun? Ausden vielen Gedanken, die dieses Wort zu wecken geeignet ist, wollen wir einen herausgreifen: Was tust du mit Worten für die Religion? Es hat kaum eine Zeit gegeben, wo überhaupt so wenig von Religion gesprochen wurde wie bei uns. Das will nicht heißen, daß unsere Zeit religionslos ist, aber es liegt eine Scheu der Aussprache über religiöse Dinge vor, die dasreligiöse Leben schwer hemmt. Diese Scheu rührt zum Teil daher, daß in unserer Zeit die Unterschiede der Konfessionen so stark hervortreten und innerhalb der einzelnen Konfessionen sich so gegensätzliche Richtungen geltend machen, daß keine natürliche Basis mehr für einen Austausch religiöser Gedanken vorhanden ist und man bei jedem Wort fürchten muß, Anstoß zu erregen. Dazu kommt eine Schüchternheit, die darin begründet ist, daß wir über Religion viel tiefer und persönlicher denken als die Menschen früherer Zeit. Wir können es fast nicht mehr begreifen, daß ein Mensch früher so offenherzig und leicht, wie von andern Dingen, zu allen Menschen von dem, waser religiös empfand, reden konnte. So begreiflich diese Zurückhaltung ist, so verderblich ist sie. Unsere Zeit gleicht in der Religion jenen afrikanischen Wüsten, die der Dürre preisgegeben sind, nicht weil überhaupt dort kein Wasser vorhanden ist, sondern weil die reichen Quellen nicht an die Oberfläche kommen. Es ist dasVerderben unserer Zeit, daß die Aussprache religiöser Gedanken als eine Sache der Pfarrer allein betrachtet wird und daß auch unter Personen, die sich sehr nahe stehen, religiöse Gespräche, als folgte man einem geheimen Gebote der Zeit, nicht berührt werden. Da gibt es eben nichts anderes, als daß wir Mut fassen und uns selber überwinden und wagen, wenn die Stunde da ist, einmal auch unser Herz aufzutun, daß die Menschen mit uns fühlen, was wir durchleben. Es gibt Menschen, die haben miteinander einen der Ihrigen sterben sehen. Sie begleiten ihn auf den Friedhof hinaus, sie kehren zurück, und vor jedem steht die End-Frage des Daseins: Was ist das, was bedeutet das, was ist’s mit demTod, was ist’s mit Unsterblichkeit? Undjeder be-

Bereitet demHerrn den Weg

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hält seine Gedanken für sich und redet von allem andern eher, nur damit erja nicht darüber sprechen muß. Was uns allen fehlt, ist, daß wir von lebendigen, persönlichen Anschauungen, die andere über die letzten Fragen des Lebens und Seins haben, berührt werden. Wir kennen uns gegenseitig nicht. Einen Menschen kennt man erst, wenn man ein Stückchen seiner Religion kennt. Ehe wir ihn dahin brachten, daß er uns dieses preisgegeben hat, ist er uns ein Unbekannter, auch wenn er zu unsern besten Bekannten zählt, da wir nicht wissen, wie er eigentlich über Gott, Welt, Mensch und Seele denkt. Da kann er uns auch nicht helfen, wenn wir nach Klarheit suchen, kann uns nicht aufrichten, wenn das Leben von uns innere Festigkeit verlangt. Es ist wenig innere Gemeinschaft zwischen den Menschen vorhanden, die dasLeben durch natürliche Bande aneinander gebunden hat, weil sie gegenseitig nichts von ihrer Religion wissen, und keines von dem andern ahnt, daß es viel religiöser ist, als es merken läßt. Besonders verhängnisvoll ist, daß zwischen Eltern und Kindern fast keine religiöse Gemeinschaft besteht und daß die meisten Eltern bei der religiösen Erziehung ihrer Kinder nicht mitwirken, sondern sie den Lehrern und Pfarrern allein überlassen. Bei vielen Eltern ist es nicht nur die Scheu, von religiösen Dingen zu sprechen, die sie hindert, von ihren Gedanken an ihre Kinder mitzuteilen, sondern die Angst, es nicht recht zu machen. Sie wissen, daß sie ihnen nur Stückwerk bieten können, und meinen, nur derjenige hätte ein Recht, religiös einzuwirken und zu unterrichten, der eine abgeschlossene Erkenntnis hat. Du möchtest dein Kind nicht wissen lassen, worüber du selber im Zweifel bist; du fühlst, daß deine Gedanken anders sind als die, die es wohl in der Schule und im Konfirmandenunterricht aufgenommen hat, und befürchtest, einen Anstoß zu geben; und so kommt es, daß das Kind von der Religion seiner Eltern – ich rede vom heranwachsenden Kind – gewöhnlich gar nichts ahnt und nichts davon weiß, daß sie eine persönliche religiöse Überzeugung haben. Erlaubt, daß ich auch praktisch davon rede: Wage, mit deinem Kinde offen über Religion zu reden, wenn es heranwächst. Es hat ein viel größeres Bedürfnis, deine Gedanken zu kennen, als du ahnst. Die Kinder, so nach dem zwölften Jahr, machen sich über religiöse Sachen viel mehr Gedanken, als man gewöhnlich annimmt. Ich hatte Gelegenheit, in den letzten Monaten von näheren und ferneren Bekannten zu erfahren, mit welchen Fragen und Gefühlen sie die Zeit ihrer Konfirmation erlebten, und hatte aufs neue den Eindruck, wie viel mehr sie die Dinge prüfen und hin und her wenden, als man nach dem, was sie verlauten lassen, glauben sollte. Du enthältst ihm etwas vor, wenn du es nun allein läßt. Durch ein Wort, eine Frage, kannst du ihm zeigen, daß es dir davon sprechen kann, daß du ihm deine Stellung zu diesen Fragen zeigen

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willst. Laß es doch nicht hilflos, gerade wo es Menschen braucht, um zur Klarheit zu kommen.

Washält dich ab? Die Angst, wahrhaftig sein zu müssen und ihm damit Ärgernis zu geben, die Angst, deine Zweifel in dem undjenem Punkte zu zeigen, den Zweifel in ihm zu wecken, ihm sagen zu müssen, daß du an etwas irre geworden bist, daß du das nicht glaubst oder so nicht glaubst, daß du auf das keinen Wert legst, daß du dir das anders vorstellst.

Die Angst vor dem Ärgernis ist eine Krankheit unserer Zeit, eine eingebildete Krankheit. Ein Mensch, dem es ernst ist um die Religion, der kann überhaupt kein Ärgernis geben, auch dem kindlichsten und einfältigsten Gemüt nicht, auch wenn er ganz andere Gedanken vorbringt als die, welche von Hand zu Hand überliefert werden. Das wahre Ärgernis ist, daß die Menschen unserer Zeit zu wenig zu sagen wagen, was sie über die Religion denken, und daß sie Angst haben, eines dem anderen durch die Wahrhaftigkeit zu schaden, als ob ernste Wahrhaftigkeit der Religion, die die Religion derWahrheit ist, je etwas schaden könnte. Darum habe keine Angst, mit deinen Kindern wahrhaftig zu sein, ihnen Fragen zu gestatten und ihnen darauf zu antworten, und meine nicht, ein Mensch müsse Theologie studiert haben, um über religiöse Fragen eine Meinung äußern zu dürfen, undwisse, daß es für dein Kind eine Erlösung ist, wenn es sieht, daß auch deine Religion ein Stückwerk ist, daß du auch keine einheitliche Erkenntnis hast, daß dich dieselben Fragen bewegen, die sich in ihm regen. Das gibt ihm den Mut, nicht alles von sich zuwerfen, sondern nach Klarheit zu suchen. Wenn dein Kind nur weiß, daß du innerlich wahrhaftig bist, daß es dir ernst mit der Religion ist, daß dunachdenkst, nicht einfach die Religion als ein Kleidungsstück auf dir trägst, dann ist ihm, weil du es bist, mehr geholfen als durch den besten Unterricht, den es empfangen könnte. Was die Religion in unseren Kindern tötet, ist, daß sie, weil eben ihre Eltern nicht mit ihnen darüber zu sprechen wagen, meinen, es sei ihnen nur eine Gewohnheitssache, und daß sie darum nicht innerlich wahrhaftig mit sich selbst sind. Ich möchte hier eine Wahrhaftigkeitsfrage berühren, die mir vorgelegt worden ist. Es handelt sich um das Abendmahl. Es gibt in unserer Zeit mehr Menschen, als man meint, die können in dieser Frage zu keiner Klarheit kommen, und die es doch mit ihrem Gewissen nicht vereinigen zu können glauben, an dieser Feier teilzunehmen. Eine Frau hat sich mehrere Jahre von unserm Abendmahl ferngehalten. Jetzt kommt die Zeit, wo eines ihrer Kinder konfirmiert wird. Was soll sie nun tun? Soll sie gegen die innere Überzeugung handeln und an dem Abendmahl teilnehmen, das Eltern und Konfirmanden vereinigt? Ich glaube nicht. Sondern sie soll ihrem Kinde ganz ruhig sagen, daß sie sich noch nicht

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innerlich geklärt und in der Lage fühlt, an dieser Feier teilzunehmen ... und dasKind wird die Religion seiner Mutter in dieser Gewissenhaftigkeit undWahrhaftigkeit verstehen. Und das dürft ihr euch doch alle sagen, daß ihr euren Kindern nicht Gedanken des Anstoßes, sondern auch Gedanken des Lebens gebt. Die Religion eines jeden von uns besteht zuletzt in einigen Gedanken, die wir erlebt haben, deren Wahrheit wir in unserm Dasein erprobt haben, die für uns dieWahrheit unseres Lebens geworden ist und die wir leben und leben wollen. Gedanken desWirkens, desTrostes, der Zuversicht, der Liebe, desVerzeihens, das braucht dein Kind, daß es sieht, daß etwas von deiner Religion in deinem Leben Wirklichkeit geworden und dein Denken und Handeln bewegt, und wenn es ahnt und merkt, wie ernst und schwer du es damit nimmst, dann glaubt es an die Religion und findet denWeg auch für sich. Für uns alle möchte ich diesen Adventsgedanken zusammenfassen in der Bitte, daß ihr wagt, nahen und fernen Menschen gegenüber aus euch herauszugehen, daß wir es einer dem andern anfühlen, daß es uns ernst ist mit der Religion, und von den Gedanken, die die andern gedacht und erlebt haben, berührt werden – dann ist viel getan, daß dem Herrn derWeg bereitet werde.

Morgenpredigt Sonntag, 15. Dezember 1907, St. Nicolai 3. Advent

Dan. 7,13: Und siehe, es kam einer in des Himmels Wolken wie eines Menschen Sohn|38¡

Ihr kennt wohl den Inhalt des Kapitels aus dem Buche Daniel, dem der Text entnommen ist. Daniel sieht die Geschichte der Welt in der Aufeinanderfolge verschiedener Weltreiche, die ihm in Bildern von Tieren erscheinen, weil in ihnen die Gewalt, nicht die Menschlichkeit herrscht. Am Ende aber erscheint ein Reich, das nicht durch ein Tier, sondern durch eine Menschengestalt, den Menschensohn, versinnbildlicht wird. Die Stelle mutet uns phantastisch an; und sie ist doch so tief wahr – und hat sich erfüllt. Der Menschensohn ist gekommen; wir bekennen uns zur Religion des Menschensohnes; wir warten auf die Vollendung des Reiches des Menschensohnes und wollen daran arbeiten. 38 [AS-HB, S. 195] «10. Dez, 07 ... ½8, ich habe eben den Entwurf meiner Predigt beendet: Ueber den ‹Menschensohn›... das Menschliche in der Religion ... daß die wahre Religion uns zuwahren Menschen macht und daß dies dasZiel der Religion ist.»

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Indem wir in der Adventszeit diesen tiefen prophetischen Text miteinander betrachten, möchte ich, daß wir recht erkennen, was es heißt: Religion desMenschensohnes, Reich desMenschensohnes. Durch fast alle messianischen Weissagungen zieht es sich hindurch: Er wird ein Mensch sein! Und als er kam, war er ein Mensch. In die Reihen der Schriftgelehrten trat einer, der die Dinge menschlich, nicht blind und eng nach dem Maßstab des Gesetzes, beurteilte, der darum kämpfte, daß er Mensch für alle Menschen sein dürfe, daß Zöllner und Sünder für ihn nicht aufhören, Menschen zu sein. Das unaussprechlich Tiefe an der Erscheinung Jesu ist die vollendete Harmonie und Durchdringung von Frömmigkeit und Menschlichkeit. Wer dasan ihm verstanden hat, der hat ihn begriffen undist von ihm er-

griffen. Seine Menschlichkeit kommt aus der Frömmigkeit. Das will heißen, daß das Menschsein für die, welche sich zu seinem Namen bekennen, dasMaß der Religion ist. Wie die Erde durch die Kraft der Sonne, um die sie sich dreht, immer in dieselbe in sich zurücklaufende Bahn gezwungen wird, so zwingt die Persönlichkeit Jesu die Religion, die von ihm ausgegangen ist, immer wieder, sich darauf zu besinnen, daß sie nicht die seine ist, wenn sie es aus den Augen verliert, daß der letzte Zweck der Frömmigkeit ist, den Menschen zumwahren Menschen zu machen. Der Mensch Jesus ist die reformatorische Kraft, die fort und fort in unserer Religion wirkt. Von dem Gedanken des Menschentums in der Frömmigkeit aus bekämpfte Luther das Mönchtum, den Ablaß und die Religion seiner Zeit. Ist es auch in unserer Zeit notwendig, daß die Gestalt Christi unter uns tritt und uns durch ihre Erscheinung allein predigt, daß wir in der Frömmigkeit nach der Menschlichkeit streben und wahre Menschlichkeit verbreiten? Mehr dennje. Der Begriff Mensch existiert in unserer Zeit nicht mehr. Die Menschen unserer Zeit sind füreinander Deutsche, Franzosen, Engländer, Russen oder Polen, aber nicht mehr Menschen. Die Scheidung zwischen denVölkern ist eine so tiefe wie noch nie. So sicher es ist, daß ein Mensch sich zu einem Volke natürlich zugehörend empfinden muß, so gewiß ist, daß unsere Zeit sich auf einer bösen Bahn befindet mit dem aufgeblasenen Nationalitätsstolz und dem falschen Patriotismus, der sichjetzt allenthalben breitmacht und die Menschen gegeneinander aufhetzt, so vieles Gute vereitelt und es zuletzt dahin bringt, daß ein Volk nicht einmal mehr die nackten Menschenrechte eines andern, das in seine Gewalt gegeben ist, achtet, sondern darauf sinnt, wie es seine Sprache unterdrücke und es um seinen Besitz bringe unter dem Vorwand, daß die nationale Aufgabe dieses fordere. Leben wir in der Zeit desReiches desMenschensohnes?

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Der heutige Mensch ist für den Mitmenschen nicht mehr Mensch, sondern er ist Protestant oder Katholik oder Jude. Stärker alsje ist die konfessionelle Trennung, und es ist nicht abzusehen, wann es besser werden wird und wie. Ich glaube, es gibt keinen unter uns, dem es mit der Religion Ernst ist, der nicht wirklich tief darunter leidet. Ist das das Reich desMenschensohnes? Und draußen in der großen Welt ist noch eine tiefere Kluft zwischen den Menschen: die Kluft zwischen Eroberern und Eingebornen. Unsere Völker sind in die andern Erdteile gezogen, um sie sich untertänig zu machen, und die Menschen, die sie trafen, waren für sie keine Menschen; sie fühlten keine Menschheitspflichten gegen sie, sondern dachten nur daran, wie man in den Kolonien am schnellsten und besten Geschäfte machen könne, ob auch ganze Menschenstämme zugrunde gingen. Ihr wißt, daß vor einigen Monaten ein Beamter in unserem Lande in der Reichstagssitzung, wo er darauf zu sprechen kam, daß eine Gesellschaft armer Schwarzer, die man auf eine Insel deportiert hatte, aus Hunger und Entbehrung gestorben sei, nicht einmal das menschliche Wort für Sterben gebrauchte, sondern sagte, sie wären «eingegangen», wie man von einer Tierherde spricht. Wo ist das Reich des Menschensohnes? Ist das das Reich des Menschensohnes, wie es sich nach bald zwei Jahrtausenden verwirklicht hat? Es ist, als obJesus mit einem unsäglich traurigen Blick in unsere Zeit hineinschaute. Sagt nicht: Es ist bedauerlich, aber man kann die Zeit und die Verhältnisse nicht ändern. Entweder es ist etwas Wahres an unserm Glauben an das Reich des Menschensohnes oder nicht. Wenn wir aber glauben, daß etwas Wahres daran ist, dann müssen wir es wagen, unserer Zeit uns entgegenzustellen und in unsern Worten und Gedanken, in unserm erzieherischen Wirken daran zu arbeiten, daß eine andere Erkenntnis komme, daß dieser Mangel an einfachem, menschlichem Empfinden, der sich in unserm öffentlichen Leben und im gesellschaftlichen und persönlichen Verkehr herausgebildet hat, nicht weiter mehr gerechtfertigt und entschuldigt oder verherrlicht werde, wie es geschieht, wenn man das unglückselige Wort Realpolitik immer als die große Weisheit unserer Zeit preist. Wir haben eine religiöse und erzieherische Aufgabe an unsern Nebenmenschen und an den Kindern der kommenden Generation zu erfüllen: uns wieder zu Menschheits- und Menschlichkeitsidealen emporzuarbeiten, uns bei der Hand zu nehmen und auf den hohen Berg zu führen, wo der Blick wieder freier schweift als in der Niederung, in welcher wirjetzt leben und in der uns das Geschrei und Gezänk um Interessen- und Machtfragen umbraust. Ehe es besser werden kann, müssen wir das Sehnen nach einer andern Zeit um uns herum wecken, und

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du selber mußt Mensch werden. Nicht nur zur Zeit und Gesellschaft unserer Tage tritt der Menschensohn, um zu sehen, wie weit sein Reich voran ist, sondern auch zu einem jeden von uns. Es ist schwer, Mensch zu bleiben bei dem Leben, das wir leben. Mensch sein heißt, sich dasMitfühlen undMitleiden mit denMenschen bewahren. Wir sollen den Menschen aus der Not helfen, wir sollen sie unterstützen und fördern, wenn sie Stellung suchen, wir sollen uns für sie interessieren, für Arbeit und Kundschaft sorgen. Wir haben’s getan und versucht. Aber wie oft sind wir mißbraucht worden; was haben wir an den Menschen für Enttäuschungen erlebt. Nun klingelt’s wieder, oder man spricht uns wieder von jemand, und dieser soll nun für uns wieder so natürlich ein Mensch sein, der unser bedarf und dem wir als Menschen helfen wollen, als wären alle Enttäuschungen nicht vorhergegangen. Die Erfahrungen, die wir machen, bringen es mit sich, daß wir alle in Gefahr stehen, das natürliche Empfinden dem Mitmenschen gegenüber, das so den Grundzug des wahren Menschseins ausmacht, zu verlieren. Wir unterliegen einer Abnützung und einer Abstumpfung, welche den wahren Menschen in uns aufreibt. Um Mensch zu bleiben, jeden Tag so frisch zu sein wie am vorhergehenden, müssen wir unser Menschentum erneuern in etwas, das unsere Erfahrungen auslöscht, in der Menschlichkeitsreligion Jesu; wir müssen uns hineintauchen in sein Sein; sein Beispiel muß uns vor der Seele stehen; seine Gebote uns befehlen; seine Sprüche uns trösten, daß unsere Menschlichkeit sich in unserer Frömmigkeit verjüngt. Das andere, was unsere Menschlichkeit aufzehrt, ist Amt, Erwerb, tägliche Sorge. Das Gebot des Vorwärtskommens wird einem jeden von uns von der Zeit aufgedrängt. Aber wie viele Menschen gehen daran zugrunde, daß sie keine Menschen mehr sind, sondern nur noch Gestalten, Schemen, die in der durch Amt und Erwerb vorgezeichneten Bahn vorwärts laufen, um es soweit wie möglich zu bringen! Für den, der die Augen in unserer Welt aufmacht, ist es eine erschreckende Tatsache, wie der Beruf die Menschen aufzehrt. Wir reden nicht von denen, die moralisch an diesem Vorwärtskommen zugrunde gehen, sondern von denen, denen sonst nichts vorzuwerfen ist, als daß sie keine Menschen sind, sondern nur Beamter, nur Kaufmann, nur Ingenieur, nur Arbeiter, nur Professor, nur Lehrer, nur Pfarrer, der aber keine Resonanz mehr bietet, sobald die rein menschliche Seite angeschlagen wird. Sie können Gaben und Unterstützung geben und tun es gern als etwas Selbstverständliches. Aber wenn man nun etwas von ihnen verlangt, was nur der Mensch leisten kann: Verständnis, Mitahnen, Mitfühlen, Begeisterung, Entrüstung, Trösten, Ermutigen, Mitgehen, um eines Menschen oder einer Sache willen sich hinwegsetzen über falsche

Bleibet

in meiner

Liebe!

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Vorurteile, Entgegenhandeln von Meinung und Gewohnheit, sich aufopfern, kurz all das Unaussprechliche, was in der Pflicht des Menschen zum Menschen, der Hilfe des Menschen zum Menschen, der Verantwortung des Menschen zum Menschen liegt, versagen sie; nicht aus bösem Willen, nein, sie können’s nicht leisten; sie sind wie erschöpfte elektrische Batterien, das Menschheitstum in ihnen, aus dem all jenes fließt, ist aufgezehrt durch die Arbeit, durch das Amt, durch das Vorwärtskommen, durch die Not und Sorge des Lebens. Es verbindet sie kein lebendiges, inneres Band mehr mit der Menschheit, sie wissen nicht mehr, was es heißt: Menschen Mensch sein. Das ist die Armut unserer Zeit, daß sie so arm ist an Menschen. Und sie fühlen es, die Menschen unserer Zeit, und es geht durch sie ein Suchen nach Menschen, nach solchen, die es wirklich sind. Und sie kommt zu uns, den Menschen mit der Religion, und sucht, ob sie es bei uns finde, ob die Frömmigkeit, nach der wir streben, uns anders macht als die andern, und danach beurteilt sie uns, unsere Frömmigkeit, die Religion überhaupt. Was werden sie von uns sagen? Sie finden wenig an uns. Wir fühlen es, daß dasGericht, dasdieWelt über dasChristentum unserer Zeit ausspricht, wenn sie sagt, es bringe keine Menschen hervor, keine Menschheit im Sinne des Menschseins Jesu, hart aber gerecht ist. Und das muß so sein: Die Welt muß uns danach richten, was wir als Menschen durch die Religion geworden sind. Das wollen wir ernster bedenken denn zuvor. Nur durch Menschen kommt das Reich des Menschensohnes. Mehr denn je hat es die Welt nötig, daß die Menschlichkeitsreligion Jesu durch Menschen in ihr gegenwärtig sei und als Sauerteig in ihr wirke. Wir wollen seine Jünger sein. Er hat von ihnen gesagt: «Ihr seid das Salz der Erde» [Mt. 5, 13]. Das ist das Kostbarste an unserm Leben, wenn wir durch unsere Frömmigkeit Menschen, wahre Menschen geworden sind. In diesem tiefsten Sinne gedenken wir daran, daß unsere Religion in dem Geheimnis der Menschwerdung Christi eingeschlossen ist und daß dieses sich fortsetzen soll, auswirken soll in uns, daß unser ganzes Leben ein immer tieferes und vollkommeneres Menschwerden werde.

Morgenpredigt Weihnachten, 25. Dezember 1907, St. Nicolai

Joh. 15,9: Bleibet in meiner Liebe! Weihnachten, die Zeit der Ausnahmetage ist wieder gekommen. Die Natur scheint um uns verwandelt. Es ist, als ob die Sterne anders blinkten und der Himmel anders leuchtete und als ob die Menschheit eine

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andere geworden, daß jeder nicht an sich denkt, sondern darauf sinnt, wie er andere erfreue. Was ist’s, das wir feiern? Die Erlösung durch die Liebe, das Kommen in dieWelt desMenschen, der uns diese Erlösung brachte. Das Wunder bleibt gleich groß, wie man sich dieses In-die-WeltKommen auch erkläre, ob man annimmt, daß ein ewiges göttliches Wesen Menschengestalt und Menschenlos angenommen oder daß in einem Menschenwesen der Gottesgeist zum Bewußtsein seiner selbst gekommen und sich selbst erfaßt hat als die wirkende Liebe. Mit Jesus beginnt eine neue Welt- und Menschheitsschöpfung. Wir wissen, daß die erste Weltschöpfung nicht auf einen Tag vollendet gewesen, sondern Tausende und Tausende von Jahren gedauert hat. Als die, die bald zweitausend Jahre nach Jesus leben, wissen wir auch, daß die neue Weltschöpfung – die Schöpfung der durch die Liebe erlösten Welt undMenschheit – auchTausende vonJahren braucht. Was wir um uns sehen, ist das Chaos der neuen Welt. Aber dieses Chaos wandelt, klärt und formt sich, wenn die wirkenden Kräfte da sind. Darum ist dasWort ausdem vierten Evangelium ein rechtes Weihnachtswort: «Bleibet in meiner Liebe!» Es heißt: Seid wirkende Kräfte in derWelt und Menschheitserneuerer durch die Liebe. Fühlt ihr das Gebieten und Flehen, das darin liegt? Ohne wirkende Kräfte, in denen die Liebe Jesu fortlebt, bleibt das Chaos Chaos. Wenn aber Kräfte da sind, mag es noch so trostlos erscheinen, es wandelt sich, es gärt und arbeitet darin. Was heißt, in der Liebe wirken? Ich rede nicht von Wohltun und vom Üben der Barmherzigkeit; dasgehört auch dazu. Aber in der Liebe Jesu bleiben, heißt noch mehr. Es heißt nicht nur, daß etwas in uns aufflammt und dann nach Tagen und Wochen wieder verlöscht, sondern daß etwas unser ganzes Sein und Reden und Tun durchglühe, mild durchleuchte, daß wir eine Feiertagsansicht von derWelt haben, als die, die die Gesinnung der andern kommenden Welt und Menschheit, der Welt, die inJesus verkörpert ist, in sich tragen. In dem Chaos, das uns umgibt, liegen drei Welten übereinander und durcheinander getürmt: dieWelt der Lieblosigkeit, dieWelt der Gerechtigkeit, dieWelt der Liebe.

Ich glaube, ein jeder Mensch kann sagen, wann er sich von der Welt der Lieblosigkeit losgerungen hat. Es war zuerst in jenen Augenblicken, wo der Schleier der unbefangenen Lieblosigkeit und Grausamkeit gegen Mensch und Tier zerriß, der unser kindliches Denken bedeckte, wo plötzlich uns die Erkenntnis kam, daß andere Wesen auch leiden, durch uns leiden. Und doch sind wir seither wieder in dieWelt der Lieblosigkeit hinabgesunken. Ihr kennt diese Augenblicke, wo wir mit tiefer Scham, wie aus einer Betäubung, in der wir befangen waren, erwachen

Bleibet

in meiner

Liebe!

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und uns fragen: Bist du das, der so gehandelt, der so geredet hat? Unser Lebensweg ist mit solchen Meilensteinen gezeichnet. Sie erinnern uns an dasWort: «Wer da steht, sehe zu, daß er nicht falle» [I Kor. 10,12]. Über der Welt der Lieblosigkeit liegt die Welt der Gerechtigkeit. Und unsere gute Vernunft sagt uns: Das ist dieWelt, die zu verwirklichen ist. Sie trägt schon etwas Ideales an sich, denn sie ist nicht verwirklicht und es gehört viel innere Anstrengung dazu, immer und in allem gerecht zu sein. Und wie vieles in unserm Leben möchten wir auslöschen, da wir ungerecht oder nur dem äußeren Schein nach gerecht waren in unserm Sein und Handeln den andern gegenüber. Und nun kommt dasEigentümliche, wo dir klar wird, daß aus dieser noch nicht vollendeten Welt der Gerechtigkeit noch eine andere herausstrebt, dieWelt der Liebe. Es ist die einfache Tatsache, wie alles Tiefe sich aus ganz einfachen Tatsachen herleitet, daß du zuletzt in der Gerechtigkeit keine Befriedigung findest. Das hast du schon soundso vielmal erlebt: Eine Sache war erledigt, gut erledigt. Du hattest offen und gerecht gehandelt; jedermann hatte dir das Zeugnis ausgestellt; du selber auch und mit gutem Gewissen. Aber eine Zufriedenheit kam nicht über dich. Ganz dunkel verworrene Gedanken verdichteten sich allmählich oder plötzlich zu der Frage: Gerecht – wo blieb die Liebe? Da kam ein Rieseln, ein Schwanken über den Bau, den du dir errichtet hattest, und er stürzte in sich zusammen, manchmal früh genug, daß du noch etwas anderes, besseres an die Stelle setzen konntest, manchmal zu spät. Darin erleben wir es, daß wir Christen sind, daß wir uns in der Gerechtigkeit, die uns sonst Befriedigung bieten würde, keine Ruhe finden, sondern «hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit» [Mt. 5,6], der andern, höheren Gerechtigkeit, die Frieden wirkt und Frieden gibt, der Gerechtigkeit, die nicht handelt nach Recht, sondern nach Liebe, die dafragt: Hast dudasGute verwirklicht, dasduhättest verwirklichen können, warst du so zu den Menschen, wie du es vor unserm Meister,

Jesus, verantworten könntest? Aber ist das nicht ein Phantom, daß es einmal eine Welt geben wird, in der die Liebe Gesetz sein wird, oder für dich ausgedrückt: Ist es nicht etwas Unmögliches, daß du die Liebe zur Richtschnur deines Handelns nimmst? Das sagen die Menschen, dassagt dir dieVernunft, das sagt dir auch die Erfahrung. Hast du, wo du nach dem Gesetze der Liebe handeltest, immer etwas ausgerichtet? Nicht immer, man kann fast sagen, nicht oft. Du bist mißbraucht, verkannt worden, du hast dir Schwierigkeiten geschaffen, du bist gescheitert, wo du, wenn du nicht mit dem Herzen, sondern mit einer gewissen freundlichen Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit verfahren wärest, weiter gekommen wärest. Mehr noch: Du siehst Menschen, deren ganzes Leben ist ergebnislos verlaufen, weil sie sich von dem Gesetz der Liebe leiten ließen, die Märtyrer der Liebe! Darüber wundere dich nicht. Es erfüllt sich an uns nur, was anJesus.

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Wer Liebe üben will in dieser Welt, wird Leiden, seelische Leiden kennen, die er sonst nicht kennen würde, und wird Mißerfolge erleben, die ihm sonst nicht beschieden sein würden. Jesus litt und wurde verkannt, weil er ausLiebe handelte ... «der Knecht ist nicht mehr denn der Herr» [Joh. 13,16]. DasWort, dassagt «Bleibet in meiner Liebe!», sagt zugleich: Macht euch gefaßt, daß euch die Liebe Undank, Mißerfolg, Spott, Leiden einträgt wie mir. Wundert euch auch nicht, wenn ihr die Versöhnung zwischen Gerechtigkeit und Liebe, jene Harmonie, die wir in unserm Handeln immer suchen, nie findet. Wir suchen ja alle nach diesem Ausgleich: wir für unser Handeln im täglichen Leben – die großen Denker für die Menschheit überhaupt – und es ist noch kein befriedigendes Wort darüber gefunden. Kein Mensch kann dir sagen: So und so, sondern du selbst mußt die Verantwortung nehmen, ob in dem, was du tust und wirkst, der Liebe genug ist neben der Gerechtigkeit. Und wohl dir, wenn du nie zur Ruhe kommst, sondern dasWort «Die Liebe höret nimmer auf» [I Kor. 13,8] dein ganzes Denken und Erwägen immer wieder umwirft. Denn zuletzt wirkt die Liebe unendlich viel mehr denn Vernunft und Gerechtigkeit, und was du Bleibendes in derWelt schaffst, schaffst du nur in der Liebe. Was diese Kraft ausrichtet, darf nicht nach dem äußeren Erfolg bemessen werden, sondern nach dem, was sie innerlich wirkt. Es warJesus nicht beschieden, sein Volk zu gewinnen. Äußerlich betrachtet war seinWerk ein Mißerfolg. Aber die Liebeskraft in ihm war nicht verloren, sondern sie hat Menschen ergriffen, die ihn nie gesehen haben, die hundert und tausend Jahre nach ihm geboren sind, und hat sie zu andern Menschen gemacht und ihnen Kräfte gegeben, die sie nicht besaßen, zu wirken in seinem Geiste. Und wenn Liebe in uns ist und von uns ausgeht, so wirkt sie nach demselben Gesetz als Kraft. Das ist das Geheimnis der Liebe, daß sie die guten Kräfte in den Menschen entbindet. Es ist so wenig Güte in der Welt, nicht weil die Menschen so böse sind, sondern weil dasBeste, was sie in sich tragen, aus der Tiefe nicht emporkommt, sondern durch das, was sie um sich tun sehen und was ihnen angetan wird, verschüttet wird, immer mehr, bis sie nicht mehr die Energie haben, gut sein zu wollen, bis sie nicht mehr an das Gute glauben, ob sie nun unter den ehrbaren Menschen als ehrbare Menschen dahinleben oder unter das Gericht derWelt fallen. Aber die Liebe weckt in ihnen den Glauben an dasGute und die Kraft zum Guten. Sie braucht sich nicht an sie zu wenden; denn wenn in einem Menschen Liebe ist, so strahlt sie aus nach allen Seiten wie das Licht von dem leuchtenden Punkte, und das Größte an ihr ist, daß sie nicht weiß, wassie weckt undwo sie etwas weckt, aber gewiß sein darf, daß sie es tut. Und wenn du in der Liebe Jesu bleibst, dann bist auch du wie er den Menschen eine Kraft zum Guten, so unvollkommen du an dir sein

Bleibet

in meiner Liebe!

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magst, so gering der Erfolg, den du mit Augen siehst, sein mag. Das heißt: In wem die Liebe Jesu wirkt, der hilft mit an der Erlösung der Welt. Denn die Erlösung derWelt ist nicht etwas, das einmal durch das Leben und Sichaufopfern Jesu geschehen ist und nun ist, sondern das seinen Anfang nahm und sich auswirkt. Es wird von allen Kanzeln allsonntäglich in alle Winde gerufen, durch Tausende von Schriften und Blättern in allen Weltgegenden verbreitet, daß wir durch Jesus erlöst sind. Warum glauben es die nicht, die keinen Glauben mehr an das Gute haben und keine Kraft mehr zum «Gutsein» in sich verspüren? Weil nicht genug Liebe Jesu in den Menschen ist, in uns ist, die an ihnen wirkt und schafft und die Starre an ihnen löst ... Sie möchten den Glauben an das Gute wiederfinden, die Kraft zum Guten, und nur Menschen, in denen Liebe ist, wahre JesusReligion, können es ihnen geben, wortlos, unbewußt, und lange Arbeit braucht’ s, viel vergeudete Liebe. An dieses Höchste, Miterlöser derWelt zu sein, dürfen wir uns erinnern am Tage, wo wir das Kommen in die Welt der Erlösung feiern. Wisset es gewiß: Nichts, was ihr in Liebe tut, ist verloren, und wenn es hundertmal äußerlich so scheint, sondern jeder Strahl von Liebe in dir ist Licht und Kraft zum Guten in andern, und wenn du äußerlich Miß-

erfolg, Enttäuschung, seelische Leiden, Traurigkeit, Undank davon hast,

so werde nicht mutlos, sondern hoffe und bleib in der Liebe, je schwerer es dir wird, desto kostbarer ist das, wasdu derWelt an Liebe gibst.

XI. Predigten desJahres 1908

Morgenpredigt Sonntag, 5.Januar 1908, St. Nicolai|1¡ Mt. 6,25– 33: Sorget nicht|2¡

Ohne eurem Glauben zu nahe treten zu wollen, darf ich wohl sagen, daß ihr denText etwas ungläubig angehört habt. «Sorget nicht für den kommenden Tag», ruft uns das Wort Jesu zu, 1 [AS-HB, S. 197] «Samstag, 4. Jan. 08. Auf demWeg zum Bahnhof war ich so unglücklich. Ich fand die Form für meine Predigt nicht. Es warein Chaos; 25 Predigten auf einmal, und wie eine einzige daraus machen? ... Und die Angst, Dinge zu sagen, die ich nicht genügend vertieft habe ... eine Predigt zu halten, die »nicht gelebt« ist! Seit Dienstag leide ich darunter, und die letzten zwei Tage war ich wirklich verzweifelt darüber ... Dassind furchtbare Krisen ... Heute morgen auf demWeg zum Bahnhof ahnte ich einen furchtbaren Tag voraus ... ich sah mich bis 2 Uhr morgens mit letzter Kraft an meinem Schreibtisch sitzen ... Das ist der Grund, warum ich Ihnen fast mit Abscheu von meiner Predigt gesprochen habe. Es ist schrecklich – eine schreckliche Geburt, wenn man seine innersten Gedanken zurWelt bringt ... wenn man Prophet sein und gleichzeitig die Dinge alsVikar sagen muß... In der Bahn, der Zug hatte sich noch nicht in Bewegung gesetzt, nahm ich meinen Bleistift undbegann mit dem Entwurf... undplötzlich ward Licht. In Colmar hatte ich den Plan für den zweiten Teil festgelegt ..., in Straßburg angekommen, schrieb ich vor dem Essen ein Drittel des restlichen Teils, und jetzt, um ½7, liegt meine Predigt fertig vor mir! Dieses Glück mußich Ihnen doch mitteilen. Denken Sie nur: in Ruhe memorieren können, mich ausruhen und morgen predigen können, ohne unter Müdigkeit zu leiden... Und Sie wissen dies alles, bevor Sie morgen früh in dieKirche gehen.» 2 [Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht für euren Leib, wasihr anziehen werdet. Ist nicht dasLeben mehr denn die Speise? und der Leib mehr denn die Kleidung? Sehet dieVögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie? Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen möge, ob er gleich darum sorget? Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eins. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er dasnicht viel mehr euch tun, o ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allem trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des alles bedürft. Trachtet amersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.]

Sorget nicht

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uns, die wir uns nicht nur um den kommenden Tag, sondern um ein ganzes kommendes Jahr sorgen. Wenn man das Wort des Herrn nach seinem äußeren Wortlaut nimmt, so macht er uns einen Vorwurf daraus, daß wir überhaupt sorgen, und verlangt von unserer Frömmigkeit, daß wir sorglos dahinleben wie die Vögel unter dem Himmel und die Blumen auf dem Felde. Wie würden wir aber von den Menschen denken, die sich nicht mehr um den kommenden Tag sorgen, wie hier gesagt ist! Wie würden wir uns selber verurteilen müssen! Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daßJesus seiner Rede gegen die Sorge eine solche fast überschwängliche Form gegeben hat, weil er unter dem blauen Himmel Galiläas wohnte, wo die Erde fast von selbst alles bot, was der Mensch zum Leben brauchte, vielleicht auch weil er mit den gläubigen Menschen seiner Zeit das Ende derWelt so nahe vor sich zu sehen glaubte, daß alles irdische Sorgen und Mühen keine Bedeutung mehr hatte und getrost den Weltkindern überlassen werden durfte. Aber in unserm Arbeitszeitalter mit dem unerbittlichen, erbarmungslosen Kampf ums Dasein ist es mit einem Wiederholen dieses «Sorget nicht» nicht getan. Wir müssen sorgen. Auch der, der nicht falsch am Irdischen hängt und nach Reichtum strebt, muß sorgen. Wir gestehen es uns ein, daß wir sorgen, am Anfang dieses Jahres mehr denn je. Eines der Hauptereignisse der letzten Jahre ist die Verteuerung des Lebens fast um die Hälfte. «Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden?» Wie werden wir wohnen? Diese Frage steht heute nicht nur vor denen, die von einem Tagelohn von der Hand in den Mund leben, sondern auch vor denen, die eine Stellung haben, die sich von außen her so darstellt, als täte sie sie der Sorge überheben. Und welche Sorgen bietet für die, die in Geschäften stehen, die Unsicherheit des Besitzes in unserer Zeit! Wer heute als reich gilt, kann im Laufe von ein oder zweiJahren durch irgendeinen Umschwung im Betrieb, durch irgendein Unglück, in das er hineingezogen wird, irgendeine Unvorsichtigkeit gänzlich zurückkommen oder durch eine findige Konkurrenz ganz geschlagen werden. Welche Sorgen machen doch den gutsituiertesten und bedeutendsten Geschäften in diesen Tagen einige tausend Mark Bargeld als Betriebskapital! Arbeit hätten wir auf mehr denn ein Jahr hinaus, schrieb mir vor einigen Tagen ein befreundeter Geschäftsmann. Wenn wir nur etwas notwendiges Betriebskapital fänden nicht zu diesen unerschwinglichen heutigen Zinsen, wie könnten wir aufatmen. Und wer sorgt sich nicht heute von euch um seine Kinder? Mit welcher Angst verfolgt ihr ihre Schulzeugnisse, ob sie begabt und anständig sind, ob zu erwarten ist, daß sie sich im Kampf umsDasein zu einer Exi-

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stenz durchringen werden. Und in diesem besten Falle, wie lange dauert es, bis sie auf eigenen Füßen stehen können? Wie viele Eltern fragen sich, ob die Ersparnisse oder daskleine Vermögen, die man bis dahin zusetzen muß, aushalten werden. Und immer noch ist zu erwarten, daß die Steuern und Abgaben wachsen werden und daß dasLeben sich noch mehr verteuern wird. Diese Sorge, die auf uns liegt, ist eine große Gefahr für uns, daß wir nämlich nicht mehr darüber hinaus sehen und darin umkommen. Ihr seht um euch Menschen zugrunde gehen: Sie verlieren die Lebensfreudigkeit, den Sinn für andere Gedanken, den Sinn für innerliches Leben, alles, sie sind nur noch Sorge. Und die Sorge lähmt sie, daß sie noch weniger gut sich vorwärts arbeiten können als andere. Wir alle stehen in dieser Gefahr.

Wenn ich nun dem Wort «Sorge» das andere, «Gottvertrauen» entgegensetzte und uns nun zurechtwiese und predigte, daß wir mehr Gottvertrauen haben müssen, ich weiß nicht, ob ich dasWort Sorge bei uns wirklich damit ausgelöscht hätte. Das Gottvertrauen ist ein wunder Punkt in unserer Frömmigkeit. Ich glaube zu wissen, daß es viele Menschen gibt, denen es sehr ernst ist mit der Religion und die sich zu dem Gottvertrauen, als ob Gott sichtbar in unsere äußeren Verhältnisse und Geschicke eingriffe, nicht mehr aufschwingen können. Wenn ich jetzt an euch die Frage stellte, ob ihr denn diesen Glauben, daß Gott nun so in euer Leben eingreift, daß er alles anders wendet, als eure Sorge euch befürchten läßt, wirklich besitzt, ich weiß nicht, wie viele von euch mit Ja antworten könnten. Es liegt nicht daran, weil ihr Gott weniger sucht, weniger an ihn glaubt, sondern weil ihr euch ihn anders vorstellt. Ich habe den Eindruck, als ob uns da alles etwas unklar wäre. Gewiß ist uns, daß, was uns im Leben geschieht, alles einen tiefen Sinn hat, weil es im Zusammenhang damit steht, was der unendliche Geist Gottes mit unserem Menschengeist vorhat, aber es wird unsjenes äußerliche Gottvertrauen fast unmöglich, das auf ein Eingreifen Gottes in die äußeren Dinge des Lebens geht. Wenn ich meiner persönlichen Überzeugung Ausdruck geben soll, so möchte ich sagen, daß mein Gottvertrauen dahin geht, daß Gott hilft, aber nicht durch übernatürliches Eingreifen, sondern durch Menschen. Ich habe immer, schon fast als Kind, ein gewisses Mißtrauen gegen die erbaulichen Erzählungen gehabt, in denen irgendein helfendes oder rettendes Geschehnis auf dasübernatürliche Eingreifen Gottes zurückgeführt wurde, und ich glaube, daß durch solche Erzählungen kein Mensch überzeugt wird. Aber immer, wenn ich Menschen andern helfen sah in irgendeiner Bedrängnis des Lebens, und wenn ich selbst die helfende Kraft war, da war es mir immer, als handelten die Menschen nicht von sich selbst aus, sondern als müßten sie es tun, weil Gott sie

Sorget nicht

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braucht, und wo er nicht hilft, da hilft er nicht, weil er keine Menschen fand. Dies nur in Kürze, damit ihr versteht, warum ich es nicht vermag und es nicht unternehme, dem Wort Sorge einfach das Wort Gottvertrauen entgegenzuhalten. Ich denke, an einem der kommenden Sonntage ausführlich mit euch darüber zu reden, wie es mit unserm Gottvertrauen steht. Wie aber der Sorge Herr werden? Durch die Sorge! Die Menschen, denen die Sorgen über dem Kopf zusammenwachsen, haben sie so hoch emporschießen lassen, weil sie nur für sich und die Ihrigen sorgten. Ihre Last scheint ihnen so schwer und wird es immer mehr, weil sie nicht mittragen an der großen Sorgenlast der andern. Sorge dich mit um die Menschen um dich herum, um das, was vor deinen Augen vorgeht, und diese große, allgemeine Sorge wird dir deine Last leicht machen. Wenn dir dein Sinn sagt: Ach, du hast genug mit dir zu tun, du kannst dich nicht um dasWohl undWehe leidender Klassen oder Menschen mitsorgen, dann laß dich nicht betören, denn sonst bist du an deine Sorge ausgeliefert. Sondern wisse, daß deine Sorge dasin dir wirken soll, daß du die Sorgen anderer, die größer und drückender sind als die deinen, mitfühlen und mittragen hilfst, daß du dich gedrungen fühlst, einWerkzeug des Gottvertrauens zu werden. Dann schmilzt das Selbstgemachte in deiner Sorge zusammen, und es wird lichter in dir. Die Dinge haben sich nicht verändert, aber dein Sinn. Du wirst von den Sorgen erlöst durch die Liebe Gottes, an der du mitarbeitest. Ich brauche euch das nicht auszuführen, ihr habt es schon erfahren. Nur, daß wir uns immer energisch aufraffen, wenn uns die Sorge für uns allein gefangennehmen will; darüber müssen wir uns immer wieder klar werden. Und die andere Sorge, die dich von der Sorge freimacht, liegt in der Frage: Was bist du innerlich geworden? Am Ende desJahres habt ihr überschlagen, wie ihr vorwärtsgekommen seid in euren äußeren Verhältnissen; jetzt fragt ihr euch, was ihr im neuen Jahr wohl erreichen werdet. Sorgst du dich aber, was du mit dir erreichst, was du als Seele und als Mensch geworden bist? Kommst du denn vorwärts in Wahrhaftigkeit und Lauterkeit, in Reinheit der Gesinnung, in Treue gegen Gott und die Menschen? Das ist doch zuletzt die wahre und wichtigste Frage nach dem «Was wird aus mir?» Was wirst du? Wohin treibst du? Laß dir diese Sorge durch die äußerlichen Sorgen des Alltags nicht verschütten. Ich wünsche euch, daß sie riesengroß vor euch steht, daß sie euch unruhig und unglücklich mache Tag und Nacht, daß ihr in euren Plänen und Berechnungen immer wieder auf das Wort stoßt: «Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?» [Mt. 16,26]. Dann ist die äußerliche

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Predigten

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Sorge nicht weggewischt, sie kann ja nicht weggewischt werden. Aber sie herrscht nicht über euch, denn die größere Sorge herrscht. Wenn euch diese Sorge durchs Leben begleitet: Was werde ich denn als Mensch? – dann kommt eine merkwürdige Ruhe und Sicherheit über euch. Ihr schaut den Sorgen um die Existenz frei ins Auge. Ihr sagt euch nimmer: Wenn ich das und das nicht erreiche, habe ich umsonst gewirkt, oder: Wenn mich dasund dastrifft, bin ich vernichtet, sondern ihr wißt, es mag euch begegnen, was wolle, wenn ihr nur innerlich mit euch im klaren und reinen seid, kann es euch nichts anhaben, und es mag euren Kindern beschieden sein, was wolle, wenn sie nur auf den Menschen in sich wachen, dann wird es doch gehen. Und seht, dasselbe meint Jesus, wenn er am Schluß seiner Rede sagt: «Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.» Die Farben seiner Rede sind einem helleren Himmel entlehnt, als der unsrige ist, aber der Gedanke bleibt wahr für uns und auf alle Geschlechter: Daß, wer die große Sorge um die inneren, geistigen Güter kennt, um das, waser als Mensch wird, daß der ruhig und sicher unter der Last der übrigen Lebenssorgen einherschreitet. So wünsche ich euch zur Hilfe gegen die Sorgen, die in diesen Tagen auf euch eindringen, am ersten Sonntag des neuen Jahres zu der äußeren Sorge die innere, die Sonntagssorge des Lebens: Was wird ausder Seele und dem Menschen in mir?

Morgenpredigt Sonntag, 19.Januar 1908, St. Nicolai|3¡

II Kor. 12,9 f.: Laß dir an meiner Gnade genügen|4¡

In der Predigt gegen die Sorge heute vor vierzehn Tagen mußte ich die Frage des Gottvertrauens berühren. Ich konnte es mehr im Vorübergehen tun und bat euch, bei euch selber nun einmal nachzudenken, was dieses Wort Gottvertrauen, dasim Gebet, in der Predigt und im Lied so oft vorkommt, nun tatsächlich für euch bedeutet. Bei einem Geschäft darf man nicht immer kaufen und verkaufen, sondern man muß von Zeit zu Zeit das Inventar aufnehmen, um sich klar zu werden, was man eigentlich besitzt. Bei der Religion ebenso. Wir dürfen nicht immer dieWorte, die die Gedanken der Frömmigkeit 3 [R] Fortsetzung der Predigt über Sorge. [Siehe S. 878. 05.01.08.] 4 [; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf daß die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich gutes Muts in Schwachheiten, in Mißhandlungen, in Nöten, in Verfolgungen, in Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.]

Laß dir an meiner Gnade genügen

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ausmachen, gebrauchen, sondern wir müssen uns miteinander klar werden, was sie für uns bedeuten, in welchem Umfang wir sie aufrechterhalten. Solche Versuche, zu einer klaren Vorstellung über den Inhalt des Glaubens zu kommen, ob man sie allein unternimmt oder gemeinsam mit andern, sind sehr schwer. Viele Gläubige sind auch dagegen; sie meinen, in der Religion solle man das Gefühl reden lassen und nicht immer nach klaren Vorstellungen ringen. Aber ich glaube, gerade in unserer Zeit müssen wir in der Religion nach der Erkenntnis streben. Unser Glaube kann anVertiefung nur gewinnen, auch in den Augen der andern, wenn wir immer nach festem Boden unter den Füßen suchen. Dann werden auch die Menschen von demVorurteil abkommen, als gebrauchten wir Wörter und Phrasen. Ich glaube, es beginnt eine ganz neue, hoffnungsfrohe Zeit für die Verbreitung wahrer Religion unter unsern Mitbürgern, daß auch wir die Augen nicht schließen, sondern als Christen zu denken wagen. Wasstellen wir uns also unter Gottvertrauen vor? Da mich diese Frage in den letzten Jahren viel beschäftigt hat, habe ich die Menschen, die ich kenne, auf ihr Gottvertrauen hin etwas beobachtet, und ich habe ganz wenige, aber einige gefunden, die hatten das unbegrenzte Gottvertrauen, daß ihr Leben bis in die kleinsten Dinge durch Gottes Vorsehung bestimmt sei. Zum Teil haben sie mich beschämt, zumTeil war ich erstaunt, wie äußerlich ihr Gottvertrauen war. Es handelte sich um eine geschäftliche Angelegenheit von großer Bedeutung, eine Bestellung, von der fast die Existenz eines Geschäftes abhing. Da Bekannten und mir das Schicksal des Geschäftsinhabers, eines älteren, etwas weltungewandten, aber eines der reinsten und lautersten Männer, die ich kenne, sehr am Herzen lag, hatten wir uns für ihn verwandt, Gang auf Gang getan und zuletzt, als die Sache schon verloren schien, den Sieg behalten. Mir fiel die angenehme Aufgabe zu, es dem Geschäftsinhaber mitzuteilen. Ich war vor Freude aufgeregt wie ein Kind, das ein gutes Schulzeugnis nach Hause bringt, und malte mir im voraus seine Überraschung und sein Erstaunen aus. Er war aber gar nicht überrascht, sondern antwortete: Sie sagen mir nichts Neues. Ich wußte es schon, denn ich war gewiß, Gott könne uns nicht verlassen und daß er uns zu dieser Bestellung, von der unsere Existenz abhängt, verhelfen würde. Ein andermal redete ich mit einem Freund über die Lebensschicksale eines Bekannten. Er fand in dem kleinsten Zusammentreffen von Umständen immer die besondere Fügung Gottes, und ich konnte mich zu dieser Anschauung nicht emporschwingen, fand aber darin zugleich etwas so Äußerliches, daß ich fast Angst bekam für eine solche Religion. (Jesus hatte diesen Glauben; hat er doch gesagt: «Es fällt kein Haar von eurem Haupte ohne denWillen eures Vaters» [Mt. 10,30].)

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Hat nun aberjemand, der nicht in allen, auch den kleinsten Geschehnissen, den Finger Gottes erkennt, kein Gottvertrauen? Ich bin mit mir zur Klarheit gekommen, indem ich vom Äußerlichen zum Innerlichen ging. Zunächst handelt es sich um das äußerliche Geschehen, an dem kein menschliches Handeln beteiligt ist, um die Ereignisse schlechthin. Hier wird uns schwer, sie alle auf Gott zurückzuführen, dawir sonst auch dasBöse, dassinnlose Unglück von ihm herleiten müssen: das Schiff, dasmit tausend Passagieren im Sturm untergeht, die Sturmflut, die eine ganze Küste mit Tausenden von Einwohnern fortreißt, die Erdbeben, die in ganzen Provinzen Tod und Schrecken verbreiten, Hungersnöte, Seuchen, die über die Erde dahingehen, schreckliche Eisenbahnunglücke: Können wir das direkt auf dasWirken Gottes zurückführen? Oder nehmen wir etwas Wirtschaftliches: den Ruin des kleinen Handwerkers in unserer Zeit. Durch die Lage der Umstände in unserer Zeit ist es dahin gekommen, daß so viele kleine Geschäftsleute und selbständige, freie Handwerker sich wirtschaftlich nicht mehr halten können, einfach zugrunde gehen und genötigt sind, in den Dienst der großen Unternehmungen, der Bazare und Riesenhäuser zu treten. Das ist sicher eines der beklagenswertesten Ereignisse unserer Zeit, eine Quelle des Elends. Können wir es auf Gott zurückführen? Es gibt Menschen, die es unternehmen. Sie versuchen dann, mit allen möglichen Erklärungen darzutun, wie sich das mit der Güte und der liebenden Vorsehung Gottes und seiner Weisheit vereinige, ohne daß sie dadurch jemand, der den Dingen auf den Grund sehen möchte, überzeugen und selber injene künstliche, fast unwahrhaftige Beweisführung verfallen, die auf den wahrhaftigen Menschen einen schlechten Eindruck macht. Darum meine ich, es ist besser, wir gestehen, daß uns die göttliche Weltregierung, die Art, wie der unendliche Geist die äußern Ereignisse der Welt bestimmt, rätselhaft bleibt. Wenn ihr genauer nachdenkt, bemerkt ihr, daß es nicht anders sein kann. Überall, wo es sich um die Wirkung des Geistigen auf die Materie, das Äußere handelt, bleibt uns alles dunkel. Wir selber sind Geist undMaterie, Körper. Wir erleben esinjeder Sekunde, daß unser Geist auf den Körper wirkt, wenn wir etwas wollen, wenn wir eine Bewegung machen, wenn wir etwas empfinden, einen Gedanken aussprechen. Aber wer weiß, wie das geschieht? Niemand. Und wir werden es nie wissen. Und wenn wir alle Geheimnisse ergründet haben, so werden wir nicht einmal dasEinfache verstehen, wie es zugeht, daß ein Mensch sagt: Ich willjetzt einen Schritt tun, undesnachher wirklich tut, wie dann sein Geist die Glieder in Bewegung gesetzt hat. Wie sich unser endlicher Geist zu seinem Leib, so verhält sich der unendliche Geist Gottes zu der Welt. Er belebt und regiert sie. Aber wir, die wir nicht einmal verstehen, wie unser Geist unsere Glieder bewegt,

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wie wollen wir verstehen, wie Gottes Geist sich in dem Geschehen der Welt kundgibt? Immer werdet ihr finden, daß alle bodenlosen Fragen der Religion in letzter Linie darauf zurückgehen, daß es sich um das Verhältnis von Geist und Materie, entweder dasVerhältnis Gottes zur äußeren Welt oder desMenschengeistes zum Menschenleibe, handelt. Darum darf es uns nicht wundern, wenn es uns nicht gelingt, uns ein Gottvertrauen zu erringen, das auch das äußere Geschehen, die toten Ereignisse umfaßt. Nun gehen wir vom Äußerlichen aus und suchen das Geistige. Da kommen wir an den Kreis des Geschehens, das durch Menschen verursacht wird. Hier beginnt das Dunkel sich zu lichten. Gott hilft durch Menschen. Sein Geist wirkt in den Menschen, daß sie seinen barmherzigen, helfenden Willen ausführen müssen. Darum ist das Wort «Es ist gut, auf den Herrn vertrauen und nicht sich verlassen auf Menschen.» [Ps. 118,8] nur halb wahr. Wir alle, wir könnten aus unserm Leben erzählen, wo uns Menschen, die uns vielleicht nicht einmal so nahe standen, halfen, sei es mit Werken oder Worten, wie aus einer inneren, höheren Nötigung heraus; und von uns selber wissen wir, daß wir gar manchmal, halb unbewußt, dem Willen und den Zwecken Gottes dienten. Mich verletzt es immer, wenn ich Leute, die sich auf ihre Frömmigkeit etwas zugute tun, so absprechend über dasVertrauen zu Menschen reden höre und das Gottvertrauen dem Vertrauen auf Menschen entgegensetzen höre. Sie sind nicht entgegengesetzt. Zum wahren Gottvertrauen gehört Vertrauen auf Menschen. AlsJesus Beil und Hobel niederlegte, um das Reich Gottes zu predigen, da war in seinem Gottvertrauen auch Menschenvertrauen, die Zuversicht, daß ihn einige verstehen würden und auch sorgen würden für seinen Unterhalt. Er fand sie ... Fischer zu Kapernaum baten ihn, bei ihnen zu wohnen. Habt ihr es noch nie bedacht, welch ein wunderbares Menschenvertrauen in seinem Worte liegt: «Suchet, so werdet ihr finden; bittet, so wird euch gegeben; klopfet an, so wird euch aufgetan» [Mt. 7,7]. Wenn ihr ein so durchgeistigtes, höheres Menschenvertrauen in eurem Gottvertrauen habt, so seid ihr eine Kraft zum Guten in den Menschen; ihr macht sie besser und treuer, als sie sind. Wir richten manchmal nichts aus und finden keine Hilfe für Sachen, für uns selbst, weil wir den Menschen kein Vertrauen entgegenbringen. An einem Menschen mit tiefem Menschenvertrauen wird sich erfüllen, wasJesus verheißt: Er wird bitten, suchen, anklopfen und empfangen, finden und offene Türen antreffen, wo die andern leer abzogen. Für uns selbst aber soll das heißen, daß dasVertrauen, das Menschen in uns setzen, uns heilig ist als ein Stück Gottvertrauen, das uns übergeben ist, und die Hilfe, die wir Menschen bringen, eine heilige Pflicht als ein Stück Gotteshilfe, dasdurch uns gewirkt wird.

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Ganz lichtet sich das Dunkel aber dennoch hier nicht. Einmal sind gar viele Menschen, mit denen Gott keine Hilfe leisten kann, weil ihr Geist für jedes tiefere Ahnen zu abgestumpft ist, und die Frage «Wer ist denn mein Nächster?» [Lk. 10,29] für sie nicht mehr existiert. Unddann ist dieHilfe, diewir einander bringen können, beschränkt. Die Ereignisse sind stärker als wir; und vor geistiger Not sind wir oft machtlos. Wir haben oft dasGefühl, daß wir einen Menschen umstehen, aber daß er dennoch allein ist und daß auch wir in die Lage kommen werden, allein zu sein, wo die Menschen nichts für uns tun können, als uns hilflos zu umstehen. Wir sind dem Leben und den Ereignissen preisgegeben. Unser Weg zieht sich an einem Bergrücken entlang, der mit losem Felsgeröll besät ist. Die geringste Erschütterung kann einen Block lösen, daß er auf uns herniederrollt. So stehen Unglück, Krankheit, äußeres Elend, geistiges Elend, alles jenes Unausrechenbare vor uns, und ich glaube, hier macht uns nicht dasGottvertrauen, dasuns sagt: Gott kann dies, Gott kann das abwenden, ruhig, sondern nur das geistige Gottvertrauen, das heißt das Vertrauen, das wir haben, daß wir in der Gemeinschaft mit Gott allem, was kommt, gewachsen sind, daß wir innerlich mit allem, was auf uns wartet, fertig werden! Hast du dasVertrauen, daß dein Geist immer in Gottes Geist die Kraft finden wird? Glaubst du, daß du in Gott ruhig wirst? Verstehst du etwas von dem Wort «Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde» [Ps. 73,25]? Dann hast du das

rechte Gottvertrauen. Wenn ich es heute unternommen habe, mit euch über Gottvertrauen zu reden – ich scheute schon monatelang davor zurück, weil es mir so schwer vorkam – , so ist es nun, um euch zu bitten, euch nicht darum zu bekümmern, daß ihr das äußerliche Gottvertrauen, den Glauben, daß Gott Dinge und Ereignisse in unserm Leben herbeiführt oder abwendet, nicht oder nur unvollkommen habt, sondern euch selber zu richten nach dem geistigen Gottvertrauen. Denn in diesem ist kein Dunkel, wie überall, wo es sich um dasVerhältnis von Geist zu Geist handelt. Den Gedanken, den ich aussprechen wollte, finde ich nirgends so klar wie in demVerse des Apostels «Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.» Der Apostel redet hier von seiner Krankheit, wahrscheinlich epileptischen Anfällen, die ihm das Leben so schwer machen und ihm so viel Spott und Hohn von Gläubigen und Ungläubigen einbringen. Dreimal hat er den Herrn gebeten, dieses Kreuz von ihm zu nehmen; da ward ihm diese Antwort. Sie läßt ihn guten Mutes sein in allem, wasihm das Leben bringt [II Kor. 12,7 f.]. So ein Erlebnis istjedem von Gott im Leben beschieden, wo er durch eine innere Erleuchtung, ob sie in einem Mal kommt oder langsam in einer Kette von Ereignissen, angewiesen wird, nicht zu seinem Gott zu

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sagen, dies nicht und dies nicht, hilf mir dazu, hilf mir davon, sondern sich damit zu getrosten, daß Gott ihm überwinden hilft alles, was kommen mag; und nur um eines bittet, daß die Kraft seiner Gnade und seines Geistes bei uns bleibe. Ich denke, ihr habt alle schon etwas von diesem Licht in eurem Leben empfunden. Geht fest darauf los: Das ist der Weg zum wahren Gottvertrauen. Und in diesem Gott vertrauen kann jeder von uns den Sinn seines Lebens verstehen, vom Größten bis zum Kleinsten. Jedes Ereignis bekommt seine Bedeutung; nicht von außen, sondern von innen. Was das heißt, sein Leben in Gott betrachten, was es für euch heißt, möchte ich, daß ihr als Fortsetzung dieser Predigt in die Wochentage hinein bei euch bedenkt, damit wir es an einem der kommenden Sonntage einmal in gemeinsamer Andacht zusammen durchdenken.

Nachmittagspredigt Sonntag, 26. Januar 1908, zu St. Nicolai 2. Missionspredigt [Act. 16,9:] Komm herüber und hilf uns Ihr erinnert euch, daß wir zwei unserer Nachmittagsgottesdienste auf die Mission verwenden wollten. Ich bat euch um den Dienst, daß ihr meine Bundesgenossen werdet im Kampfe gegen die Vorurteile, die man überall noch gegen die Mission hegt, und wollte euch nur dartun, wie man den Menschen, die mit ihren Einwänden gegen die Mission kommen, Red und Antwort steht. Einen ersten Gottesdienst haben wir der Beantwortung der das Äußerliche betreffenden Fragen gewidmet, indem wir uns darüber klar wurden, wie man den Menschen begegnen soll, wenn sie einwenden, die Mission bringe keine Resultate oder das Geld sei hier besser angewendet oder sie stifte Unruhen in den Kolonien und dergleichen mehr.5 Heute haben wir es mit den inneren, geistigen Fragen zu tun. Zunächst: Kaum daß man einige Minuten den Gegenstand berührt, sagen einem die Leute, man soll doch den Heiden ihre Religion lassen, sie seien zufrieden und glücklich darin. Diese Menschen wissen gar nicht, was Heidentum ist. Sie stellen sich darunter etwas Unschuldiges, Zufriedenes, Heiteres vor; wenn sie sich die Mühe geben wollten, sich einmal an richtiger Stelle zu erkundigen, was das Heidentum eigentlich ist, so würden sie erschrecken vor der seelischen Not, die es vorstellt. Bedenken sie denn, was es heißt, unter der Knechtschaft des Aberglaubens zu stehen, Tag und Nacht von der 5 [Diese Predigt ist nicht vorhanden.]

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Furcht vor Göttern und bösen Geistern gepeinigt zu werden, nie einen Augenblick des Friedens zu kennen? Wir haben jetzt bald acht Tage im Dunkel desNebels gelebt und empfinden davon wie eine Art von Bedrückung. Dort leben Menschen von der Geburt bis zum Tode in geistigem Nebel. Und wenn man ihnen Sonne bringen will, sagen die Leute hier: Achwas, sie sind so glücklich. Fragt doch die, welche so reden, ob sie sich schon einmal gefragt haben, was das heißt, unter der Herrschaft von Heidenpriestern zu stehn, die die Menschen in Angst und Knechtschaft erhalten! Fragt sie, ob sie eine Ahnung von den Greueln des Heidentums haben, von denVerbrechen und Sünden, die unter dem Namen Religion an Menschen begangen werden, von Menschenopfern und Menschenverstümmelung gar nicht zu reden.

Und laßt euch ja nicht verblüffen, wenn sie euch von dem «höheren» Heidentum, dem Buddhismus etc. reden; dann verstummt nicht, sondern antwortet und seid dessen, was ihr sagt, ganz gewiß, daß dieses höhere Heidentum den suchenden Seelen keine Befriedigung zu geben vermag und nur das eine bewirkt, daß es sie unruhig macht, daß es ihnen ein Bewußtsein der Sünde gibt, die sie hungern und dürsten läßt nach einer anderen Gerechtigkeit als der, welche sie bei ihren Priestern, Opfern, Bußleistungen und Wallfahrten finden. Das kann euch jeder bezeugen, der zum Beispiel in Indien gearbeitet hat. Dann wird man euch entgegenhalten: Ja, warum soll denn gerade das Christentum die Weltreligion werden? Vielleicht sind die andern, der Mohammedanismus, der Brahmanismus, der Buddhismus, um nur von den vornehmsten zu reden, dem Empfinden jener Völker besser angepaßt, so daß ihnen dasChristentum so fremd bleiben wird als europäische Kleidung. Auf diesen Einwand verstummen gar viele Menschen. Warum ist das Christentum «das Evangelium», «die Religion», vor der alle andern verbleichen? Von allen gelehrten und theologischen Beweisführungen in dieser Sache – ich darf es euch wohl gestehen – verstehe ich nichts und halte nicht viel davon! Ich kann euch nur sagen, warum es für mich die einzige Religion ist: Weil sein Stifter von allen Religionsstiftern derjenige war, der am meisten «Mensch» ist, Menschenleid und Menschenfreud, Menschenlos, Menschensehnsucht am meisten verstanden hat, und weil alles andere, wassonst in der Religion eine Rolle spielt, Dogmen, Glaubenssätze, Kultus, für ihn gar nicht existiert. Er ist zugleich der tiefste Denker und derkindlichste Mensch. Waser sagt, ist so selbstverständlich. Ich möchte immer nur fragen: Ja, was soll denn am Christentum sein, daß es zu hoch für die Menschen draußen in den andern Weltteilen ist? Gibt es denn etwas Einfacheres als die Seligpreisungen, als die Sprü-

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che der Bergpredigt, als die Gleichnisse Jesu? Und alles, was man gleich auf das Leben anwenden kann! Ist das nicht der Triumph unserer R eligion, daß unsere Missionare hinausgehen können und einfach verkünden: «Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen; selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen» [Mt. 5,8– 9]? Und dann übersehen die Menschen bei der Mission immer etwas. Sie meinen, sie bestehe darin, daß gepredigt wird. Ein Missionar ist für sie etwas, das den ganzen Tag redet und beweist, daß Christentum besser ist als Heidentum. Das ist geradeso, als wenn man sich vorstellte, ein König sei etwas, das den ganzen Tag mit der Krone auf dem Kopf und dem Zepter in der Hand herumlaufe. Hier gilt das Wort des Apostels: «Das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft» [I Kor. 4,20]. Die Hauptsache ist, daß ein Christ unter den Menschen lebt, sie langsam zur Arbeit und Gesittung erzieht, langsam den Funken des Geistes in ihnen weckt. Mission treiben heißt helfen! Den Verlassenen, den Siechen, den Hungernden, den Kranken, den Ausgestoßenen. Ob die Leute sich taufen lassen oder nicht, ist fast gleichgültig. Wenn sie nur fühlen, daß Menschen mit der Liebe des Heilands unter ihnen sind. Die Liebe ohne Worte muß an ihnen arbeiten! Die wahren Flammenzeichen der Mission, das sind die Spitäler, die Blinden- und Siechenheime, die Waisenhäuser draußen in der fernen Welt. Ich habe es schon öfters erlebt, daß, wenn ich jemandem das Wesen und die Aufgaben der Mission so auseinanderlegte, er mir sagte: Ja, damit stimme ich vollkommen überein. Sie legen also das Hauptgewicht auf die Hilfe, auf die stille, langsame Erziehung und nicht auf die B ekehrung. Wir aber hatten gemeint, es handle sich hauptsächlich um Taufen und Bekehren. Ich will nicht leugnen, daß, wenn die Mission heute noch vielfach im Geruch steht, als sei sie eine Art frommer Seelenfängerei und Seelenretterei, und wenn das rein Menschliche darin gar nicht oder fast nicht zur Geltung kommt, die Art, wie in gewissen Missionsblättchen und sonst auch von der Mission geredet wird, dazu beigetragen hat. Überhaupt haben wir die Empfindung, als ob in der Mission zu manchen Zeiten ein etwas enger und engherziger Geist geherrscht habe. Das darf uns aber nicht wundernehmen. Die Missionen waren lange Zeit nur aus den Kreisen eines gewissen engherzigen, aber tätigen Christentums hervorgegangen und unterhalten worden. Zu Missionaren nahm man Knaben, die weiter keine Studien gemacht hatten, auf einem Seminar notdürftig ausgebildet waren und nie einen weiteren Blick erhalten hatten. Aber das wird auch immer die Ehre dieser Kreise bleiben, daß sie die Notwendigkeit der Mission erkannten und Mission trieben, als

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noch niemand sonst an Mission dachte. Hier haben wieder die Unweisen den Herrn besser verstanden als dieWeisen [Mt. 11,25]. Also wenn in der Mission manchmal ein etwas engherziger Geist, besonders in den äußeren Reden, geherrscht hat und noch herrscht, so ist das unsere Schuld. Wenn wir, die wir uns für aufgeklärt und weitherzig halten, uns darum kümmern, dann wird jene reine, große Auffassung der Mission, die jedem Christen, ich wage, zu sagen, jedem Menschen sympathisch und verständlich ist, schon ihren Weg machen. Wißt ihr nicht, daß ein bißchen Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert [Mt. 13,33]? Was ist also ein Missionar? Ein Mensch, der in der Liebe Jesu Menschen in Roheit und Verfinsterung langsam, nie verzweifelnd, aus Schmutz und Elend emporzieht und ihnen den Glauben an die Liebe gibt. Der Rest kommt von selber. Die Mission ist aber nicht nur eine Aufgabe, sondern auch eine Sühne! Mit diesem Wort Sühne könnt ihr alle Gegner der Mission zum Schweigen bringen. Fragt sie: Washaben denn unsere, den Christennamen tragenden, europäischen Nationen denVölkern draußen getan? Da braucht’s keine lange Schilderung. Wo der weiße Mann hinkam, war Schrecken und Unglück. Das Buch, in dem dasVordringen der christlichen Nationen in derWelt geschrieben würde, wäre ein Greuelbuch! Den Anfang machten die Spanier in Amerika. Eine Nation nach der andern trat ein, und keine kann sagen: Ich war besser als die andern. Wir haben jenen Völkern ihr Land genommen, wer sich wehrte, wurde niedergemacht. Unerschwingliche Steuern haben wir ihnen auferlegt. Durch Branntwein haben wir sie zugrunde gerichtet. Schreckliche Krankheiten haben wir ihnen gebracht. Und washaben wir ihnen dafür gegeben? Nichts. Diese ganze Schuld lastet auf dem Christentum. Und deswegen kann sich bei uns kein christliches Leben entwickeln. Eine Schuld auf einem Menschen macht ihn kraftlos. Eine Schuld auf der Gesamtheit der Christenheit ist Blutschuld. Jesu Name wird von uns gelästert unter Heiden! Ich habe bei mir gedacht: Wenn ich ein Heide wäre, was ich überJesus dann wohl dächte. Die meisten Menschen sehen diese Schuld nicht. Ich selber war erstaunt, als mir dieser Gedanke zu Bewußtsein kam! Wir müssen Mission treiben, etwas bringen im Namen Jesu zur Sühne der Schuld. Und wenn sich hundert Jahre lang kein einziger bekehrte, dürfen wir nicht murren. Wir müssen Gutes tun, um zu sühnen! Geld, Menschenleben: Wasist dasalles imVergleich zu unserer Schuld? Die Schwierigkeit besteht, daß verschiedene Konfessionen missionieren. Das ist eine Trostlosigkeit. Aber wir Protestanten dürfen es nicht aufgeben: «Anihren Früchten sollt ihr sie erkennen!» [Mt. 7,16]|6¡ 6 [Stichwörter zum Schluß:] Vorteile für unsere Kirche! Aussichten.

Wir wissen aber

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Morgenpredigt Sonntag, 2. Februar 1908, St. Nicolai|7¡

Röm. 8,28: Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen|8¡ Von der Sorge – heute vor vier Wochen|9¡ – kamen wir – heute vor vierzehn Tagen|10¡ –auf göttliche Weltregierung und Gottvertrauen zu reden. Wir dachten miteinander den Gedanken durch, daß die göttliche Weltregierung für uns etwas Dunkles bleibt; es ist auch dem frommen Gemüt unmöglich, alles, was um uns her geschieht, direkt auf Gott zurückzuführen. Darum ist daswahre Gottvertrauen wohl nicht das, welches sich zwingt, anzunehmen, daß Gott alle Ereignisse im Leben eines Menschen vonjeher so und so disponiert hat und nun alles lenkt, daßjedesDing zur richtigen Sekunde eintrifft, auch nicht das, welches glaubt, daß Gott auf Bitten des Menschen Dinge herbeiführt und andere, gefürchtete, abwehrt, sondern das wahre Gottvertrauen ist das von Geist zu Geist, dasdahingestellt sein läßt, nach welchem Plane sich die Dinge, in die unser Leben hineingezogen wird, abspielen, dassich fast mit dem Gedanken vertraut machen kann, daß wir der Willkür der Ereignisse ausgeliefert sind, weil es sich daran hält, daß unser Geist in dem Geiste Gottes die Kraft findet, alles waskommt zu überwinden. Ich bat euch, euch einmal die Fügungen eures Lebens zu vergegenwärtigen, damit wir miteinander heute die Gedanken der Predigt von vor vierzehn Tagen und vor vier Wochen zum Abschluß bringen, indem wir uns darüber klar zuwerden suchen, wases heißt, sein Leben in Gott betrachten, einen inneren Zusammenhang der Dinge aufzuzeigen und eine göttliche Führung darin zu entdecken. Ich bin sicher, daß alle, die sich in diesen Tagen mit ihren Lebensfügungen beschäftigten, so verschieden ihre Schicksale sein mögen, in zwei Beobachtungen übereinstimmten. Zunächst einmal darin, daß der Unterschied von wichtigen und unwichtigen Ereignissen vollständig aufgehoben ist. Ganz geringfügige Dinge hatten auf den Gang unseres Lebens, auf unser Schicksal einen ungeheuren Einfluß; große Geschehnisse haben hingegen unserer Lebensbahn oft kaum eine ganz kleine Richtungsänderung gegeben. Das wird besonders klar, wenn man sich vergegenwärtigt, wie man mit den Menschen, die für uns etwas bedeuten, zu unserm Leben gehören, die 7 [Am 26. Januar schreibt Schweitzer an Helene Bresslau:] «In der Bahn nach Paris. Wenn ich nicht schlafe, schreibe ich an meiner Predigt.» [Zentralarchiv Günsbach.] 8 [R] Fortsetzung von: Laß dir an meiner Gnade genügen. [Siehe S. 882. 19.01.08.] 9 [Siehe S. 878. 05.01.08.] 10

[Siehe S. 882.19.01.08.]

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uns verstehen, zusammenkam. Man kann fast sagen: Je mehr sie für uns später geworden sind, desto geringfügiger ist der Anlaß, der uns zum ersten Mal zusammengeführt hat. Und mit Gedanken, die für uns eine Lebensbedeutung gewannen, ist es gewöhnlich ebenso. Sie wurden uns oft durch ganz nebensächliche Umstände nahegelegt oder zugeführt. Und mit den Entschlüssen ist es ebenso: Den letzten Entscheid gab oft etwas ganz Geringfügiges. Die zweite gemeinsame Beobachtung darf ich wohl so aussprechen, daß uns nicht nur der Unterschied zwischen großen und kleinen Ereignissen, sondern auch zwischen glücklichen und unglücklichen verwischt erscheint und sich sehr oft gerade in das Gegenteil verkehrt. Ihr habt euch ganz sicher dabei überrascht, daß eure Gedanken an den traurigen Tagen und Stunden länger und gewöhnlich lieber verweilten als bei solchen, die sonnig dahinflossen, und daß, wenn man von einer gewissen dankbaren, innerlich schönen Erinnerung reden darf, die wir den Ereignissen weihen, wir der traurigen im ganzen dankbarer gedenken als der sonnigen. Wir fühlen, daß sie für uns etwas Segensreiches bedeuten, womit nicht gesagt sein soll, daß wir nicht auch sonniger Stunden als Entscheidungsstunden mit tiefer Ergriffenheit gedenken, wo wir die Empfindung hatten, daß die Sonne so herrlich schien, so leuchtend unterging für uns. Diese ganz einfache Beobachtung diene uns zur Orientierung der Gedanken. Beachtet, daß sie genau mit dem übereinstimmt, was das Wort der Schrift, das ich als Motto unserer Betrachtung wählte, ausdrückt: «Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen»... alle: das heißt ohne Unterschied, ob groß oder klein, ob traurig oder froh.

Daraus sehen wir, daß das Entscheidende in unserm Leben nicht die Ereignisse sind, sondern das, was wir daraus machen. Nicht was sich an uns und für uns ereignete, sondern was sich zugleich in uns ereignete, bestimmte über unser Dasein. Sucht doch einmal nach, welches die dunkelsten Stunden eures Lebens waren. Ich meine die Stunden, wo ihr die innere Ruhe, die innere Heiterkeit verlort, wo ihr das Gefühl hattet, vom Anker losgerissen zu sein und ruhelos auf dem Meere zu treiben, dem Leben ausgeliefert zu sein, jene Stunden, wo die unsagbare Traurigkeit mit trostloser Unruhe wie eine dunkle Gewitternacht über euch lagerte: Es waren nicht Ereignisse, die von außen, unentrinnbar an euch herangetreten waren, die euch diese Stunden heraufführten, sondern was in euch als Gedanke aufstieg und alsTat von euch entsprang. Umgekehrt haben euch die schweren Ereignisse, die euch hätten zermalmen können, gewöhnlich stärker gefunden, als ihr es selber von euch erwartet hättet, und sie gaben euch wie eine Art von Ruhe und Freudigkeit, weil sie euch auf euch selbst zurückwarfen und euch zur

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Sammlung eures Geistes, zum Klarwerden mit euch selber zwangen. Es war wie ein inneres Gefühl der Freiheit, dasüber euch kam, als ob es euch klar würde, daß dieWelt euch nichts anhaben könne, wenn ihr nur in euch fest und gesammelt seid. Nun aber der Schlüssel zu diesem allem? Nicht die Ereignisse, sondern wir bestimmen unser Dasein, je nachdem wir den Weg durch sie hindurch finden. Der Mensch ist wie der Fluß: Bei diesem bestimmen Höhen und Niederungen denWeg, den er zu durchlaufen hat. Sie sind regellos auf seinem Wege aufgetürmt; ein kleiner Höhenrücken in der Nähe der Quelle entscheidet, ob der Fluß zur Nordsee, zum Mittelmeer, zum Schwarzen Meer fließt, eine Hügelkette kann ihn zwingen, Hunderte von Kilometern Umweg zu machen, aber keine kann ihn hindern, seinen Weg fortzusetzen, um das ersehnte Meer zu erreichen. So können auch die Ereignisse über den äußeren Verlauf deines Le-

bens entscheiden, bestimmend einwirken auf die Arbeit, den Beruf, der dir zufällt, auf Erfolg oder Mißerfolg, ob dein Dasein sich äußerlich als ein glückliches oder unglückliches darstellt, aber dein wirkliches Leben, das, was du bist und wirst, darüber steht ihnen keine Macht zu, wenn du bist wie der Fluß, der sein Sehnen in sich trägt und einen Weg sucht.

Die große Frage ist die, ob dein Leben eine Richtung hat! Wie der Fluß nach der Einheit mit dem Ozean strebt und so seinen Weg findet, so findet unsere Seele ihren Weg durch das Leben, wenn sie die Richtung auf Gott hat, der endliche Geist in dem unendlichen Geiste aufzu-

gehen sucht. Damit soll aber kein so erhabener Gedanke ausgedrückt sein, der für das Leben nicht jederzeit bestimmend sein könnte; im Gegenteil, etwas ganz Einfaches, wasihr alle fühlt. Woran erkennen wir, daß unser Leben seine Richtung auf Gott hat und uns die Kraft zur Überwindung der Ereignisse innewohnt? Wenn ihr zurückschaut, werdet ihr finden, daß es in eurem Leben beides gab: Zeiten, wo es eine Richtung hatte, und solche, wo ihr sie verloren hattet. Wie unterschieden sie sich? Ganz einfach darin, daß ihr in der einen mit euch selbst, mit dem tieferen edlen Wesen in euch wahrhaftig wart, das andere Mal mit euch selbst uneins wart. Alle Fragen des Lebens und der Religion, wenn man sie bis zum letzten Grunde verfolgt, sind Fragen der Wahrhaftigkeit und Einheit zwischen dem natürlichen, äußeren und dem geistigen, inneren Menschen in uns... ich möchte sagen: derTreue gegen uns selbst ... oder noch des Mutes und der Offenheit gegen uns selbst. In den Stunden, wo ihr das wart, habt ihr allen Ereignissen, den großen wie den kleinen, den frohen wie den demütigenden, einen Sinn und einen Segen abgerungen und euren Weg gefunden. Ein Gefühl der Unbesiegbarkeit durch das

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Leben, der Freiheit, hielt euch in unbeschreiblicher Freudigkeit aufrecht ... und das Leben lag nicht dunkel, sondern klar und einfach, zugleich schön und groß, selbst im Schmerze, vor euch ... und ihr fühltet euch allein und doch nicht allein. Und in den andern Stunden wart ihr verlassen und schwach, an das Leben und die Menschen ausgeliefert, und wer nicht mehr nach dieser Wahrhaftigkeit und Treue gegen sich selbst ringt, wer es einmal für alle aufgegeben hat, der ist dem Leben und den Dingen unrettbar ausgeliefert, er findet seinen Weg nicht mehr, tappt in dem Dasein herum, greift einmal da nach etwas Ehre, dort nach etwas Vorteil, dort nach etwas Zerstreuung, aber er kommt nicht innerlich voran, er wird nichts, er vertieft und vervollkommnet sich nicht durch das, was er zu tragen und überwinden hat. Warum bedeutet aber diese Wahrhaftigkeit gegen uns selbst, dieses Denken und Handeln ausWahrhaftigkeit, schlechthin alles im Leben? Warum ist das das entscheidende Ereignis, mit welchem verglichen alle andern nur sechsten und siebenten Grades sind? Weil die Wahrhaftigkeit gegen uns selbst zugleich das Einssein mit Gott ist. Beachtet genau: Immer wenn ihr gegen euch selber treu wart, hattet ihr dasEmpfinden der Nähe Gottes. Es war, als lägen Stille und Frieden um euch. Und wenn die innere Unwahrhaftigkeit, der Zwiespalt euch beherrschte, war Gott fern, ein unlebendiger Gedanke, ein Begriff, und zugleich war alles, was zum Reich Gottes gehört, der Glaube an Wahrheit, Liebe, Reinheit, zur Unwirklichkeit verflüchtigt. Und wenn ihr bedenkt, was es in eurem Leben hieß, Gott wiederfinden, so werdet ihr bemerken, daß es immer durch ein Emporraffen zur inneren Wahrhaftigkeit, zum Einssein mit dem geistigen Menschen in euch war. Denn der innere Mensch in uns, das sind eben die Gedanken Gottes in uns; die Offenbarwerdung des unendlichen Geistes im endlichen, die unnennbare Sehnsucht nach Liebe, Reinheit, Wahrheit, Friede, die uns erfaßt, je tiefer wir ins Leben eindringen, eben das alles, waswir gewissermaßen nicht von unsselbst denken, sondern wasein höherer, reinerer Geist als der unsrige in uns denkt. Und diesen Gedanken treu sein, das ist Einssein mit Gott, Glauben an Gott, Liebe zu Gott ... oder wie ihr es nennen mögt; denn das alles ist ein und dasselbe; nur daß es der eine mehr nach dieser, der andere mehr nach jener Art empfindet. In den Satz: «Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen» könnt ihr geradeso gut, nach der Sprache desEvangelisten Johannes, der immer das Einssein mit Gott in denVordergrund stellt, einsetzen: Denen, die mit Gott eins sind, müssen alle Dinge zum Besten dienen. Ich glaube, wenn ihr dies klar durchdenkt, quält ihr euch nicht mehr damit ab, in der äußeren Verkettung der Ereignisse eures Lebens nun die Hand Gottes zu suchen, sondern ihr sucht Gott als den, der euch hindurchführt, der eure Erkenntnis und eure Stärke ist, als den,

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wie soll ich sagen, vor dessen Gedanken ihr eure denkt und erprobt, sicher, daß ihr dann den rechten Weg geht und allem was kommt einen Segen abringt, ob es etwas ist, das euch erhebt oder demütigt, traurig oder froh macht. Das heißt sein Leben in Gott betrachten. Und wenn wir rückwärts blicken, über etwas Schmerz empfinden, etwas anders gewünscht hätten, so ist es, daß wir wissen, wie manchmal wir uns den innerlichen Halt nahmen, weil wir nicht mit dem geistigen Menschen in uns, den Gedanken Gottes in uns, eins waren und andere Wege suchten: Wenn wir etwas wünschen und wollen für die Zukunft, so ist es nicht dieses Ereignis und nicht jenes, sondern daß wir in der Treue gegen den inwendigen Menschen in der Gemeinschaft mit Gott bleiben und so unser Leben in Gott leben, daß unser Geist in der Gemeinschaft mit dem unendlichen Geiste Klarheit, Friede, Freudigkeit, Stärke finde, dann wird es wahr werden, daß alle Dinge uns zum Besten dienen müssen.

Morgenpredigt Sonntag, 15. März 1908, St. Nicolai

Mk. 10,45: Des Menschen Sohn ist gekommen, daß er diene und gebe sein Leben zur Erlösung für viele|11¡ Es ist euch schon aufgefallen, wie wenig Jesus von seinem Tode spricht, und besonders, wie wenig er ihn nach seiner Notwendigkeit und Wirkung hin erklärt. Das eben verlesene Wort ist das ausführlichste, daswir von ihm besitzen. Warum er zu seinen Jüngern nur andeutungsweise über die Bedeutung seines kommenden Todes gesprochen hat, können wir nicht recht begreifen. Ein klares Wort aus seinem Munde wäre für uns wie eine Erlösung aus allem Tasten und Suchen und aus dem Gewirr der Lehren und Meinungen. Aber vielleicht lag es in der Absicht Jesu, nur Andeutungen zu geben, damit die Menschen immer über das Geheimnis seines Todes nachsinnen müßten und sich nicht bei einer Lehre darüber beruhigten, sondern jeder sich klar zu werden suchte, was eigentlich der TodJesu für ihn bedeute. Mein Tod ist ein Dienen; mein Tod ist ein Sühnen, sagt der Herr. Den ersten Gedanken wollen wir heute verfolgen, den andern in unserer nächsten Morgenbetrachtung. Wenn in der Natur draußen sich etwas Außerordentliches ereignet, sucht man es zu verstehen, indem man auf die allgemeinen Gesetze zu11 [R] Premier sermon. [Die zweite Predigt zudiesem Text hielt Schweitzer am 29. März, siehe S. 903.]

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rückgeht, die das Geschehen bedingen. So verstehen wir die Bahn eines Gestirnes, das Entstehen einer Springflut, die Ursachen eines Erdbebens, denWeg, den ein Sturm nimmt. Auf dem Gebiete des Geistigen gibt es ebenfalls Gesetze, die das Geschehen bestimmen. Und wenn nun der TodJesu eines der größten Ereignisse im geistigen Leben der Menschheit bedeutet, so muß er irgendwie in den allgemeinen Gesetzen des geistigen Lebens begründet sein, in Gesetzen, die heute noch geradeso gut gelten wie damals. Und wenn wir eines von diesen Gesetzen formulieren, so ist es dies: Alles Wertvolle in derWelt muß mit Menschenleben bezahlt werden. Ich kann durch keinen größeren Eisenbahntunnel fahren, ohne daran denken zu müssen, wieviel Menschenleben er wohl gekostet hat; es ist kaum eine Errungenschaft, kaum eine Entdeckung, in deren Annalen nicht auch zu lesen wäre, wieviel Leben sie gefordert hat. Und dieses Gesetz, das, wo es sich um den Fortschritt allgemein handelt, mehr nur in Umrissen erkennbar wird, steht in deutlichen Lettern in der Geschichte des geistigen Fortschritts zu lesen. Der Weg der Wahrheit und desGuten geht über Leichen. Der Tod des Sokrates, der Tod Jesu, der Tod von Johannes Hus und die unzähligen Namen, die man hier noch nennen kann, sind aus demselben Gesetz begreiflich. Die Namen werden noch um Tausende vermehrt, wenn ihr diejenigen hinzuzählt, die ihr Leben für die Wahrheit und das Gute dahingeben mußten, ohne daß es durch einen äußerlich gewaltsamen Tod angezeigt wurde ... die innerlich gebrochenen, aufgeriebenen, verzehrten Menschen ... die Unbekannten, von denen die Weltgeschichte keine Notiz genommen hat. Wenn ihr diese Schicksale miteinander nehmt, so könnt ihr jedesmal aus den Umständen erklären, warum in jedem Falle ein Menschendasein geopfert werden mußte. Im Falle Jesu wäre es der Haß der Pharisäer, die Gleichgültigkeit desVolkes, derVerrat desJudas, die Charakterlosigkeit des Pilatus. Aber damit ist nur das äußere, nicht das innere Warum erklärt, jenes «Muß», jene Notwendigkeit höherer Art, die der Herr meint, wenn er sagt: «Es muß also geschehen» [Mt. 26,54]. Denn dieses fällt unter dasweiter nicht zu begreifende allgemeine geistige Gesetz, das der Herr meint, wenn er von der Dahingabe seines Lebens als von seinem letzten Dienen spricht. Jedes Ding in der Welt hat seinen Preis, und die höchsten müssen mit der höchsten Münze, die Kurs hat, mit Menschenleben, bezahlt werden ... ob nun mit der Hingabe des Lebens der äußere Tod verbunden ist oder nicht ... gleichviel. Man sagt, die Wahrheit und das Gute bahnen sich selbst ihren Weg. Das ist falsch. Ihr seht viel Wahres und Gutes in unserer Zeit, das auf halbem Weg stehenbleibt und sich nicht durchsetzen kann ... der Preis an Menschenleben, die dafür dahingegeben werden müssen, ist nicht erlegt.

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An sich hat eine Idee keine Kraft. Ihre ganze Energie beruht auf den Menschenleben, die damit verknüpft sind. Wenn eine Straße durch den Felsen gebahnt werden soll, bohren sie Löcher in den Stein und schütten gelbes Pulver hinein und zünden es mit einer Schnur an ... da flattert der Stein in die Höhe. Was tausend Menschenarme in tausend Tagen nicht fertiggebracht hätten, vollendet der Sprengstoff in einer Sekunde. Die Menschenleben, die für einen Fortschritt im Wahren und Guten aufgewandt und verzehrt werden, sind die Sprengstoffe im geistigen Leben. Warum ein solches Pulver, in Feuer verzehrt, eine solche Kraft hat und ein anderes, das nur ein klein wenig anders aus denselben Stoffen zusammengefügt ist, diese Kraft nicht hat, versteht niemand. Es ist eben so. Warum die Gewalt, die in einem für die Sache einer Wahrheit oder eines Fortschritts des Guten verzehrten Menschenleben ruht, so gewaltig ist, daß sie um tausendmal größer erscheint als die Energie und die Überzeugungskraft, die in einem Menschendasein wohnen, versteht auch niemand ... es ist eben so. Ein Beispiel von der Lehre des geistigen Sprengstoffs habt ihr alle erlebt. Als in Frankreich vor einigen Jahren ein Offizier unschuldig wegen Spionage verurteilt wurde, war die Wahrheit für jeden, der klar sehen wollte, offenbar. Aber in sich trug sie nicht die Gewalt, zu triumphieren. Zuerst mußten ihr Existenzen geopfert werden: Senatoren mußten ihre politische Existenz aufs Spiel setzen und sich verhöhnen und verleumden lassen; Offiziere mußten auf ihre Karriere verzichten und sich einkerkern lassen; berühmte Advokaten mußten es wagen, ihre ganze Kundschaft zu verlieren, weil sie die Sache der Wahrheit verfochten; Zeitungsredaktionen mußten den Mut haben, den Ruin ihres Blattes zu ertragen und die Armut auf sich zu nehmen, um für die gerechte Sache zu schreiben. Da siegte dieWahrheit. Alle Intrigen und der Stumpfsinn der Masse konnten sie nicht aufhalten. Ihr seid vielleicht etwas erschrocken, daß ich den TodJesu in einem Atem mit demTode anderer Märtyrer derWahrheit, eines Sokrates und eines Hus, genannt habe, da man im Christentum immer versucht hat, die Einzigartigkeit desTodes unseres Herrn, verglichen mit dem anderer Zeugen der Wahrheit, darzutun. Aber ich fürchte, daß dabei oft gekünstelte und unnatürliche Gedanken an die Stelle der einfachen treten; und wenn die Masse unserer Tage für die Hoheit desTodes Jesu unempfindlich ist, und er für sie gar nichts mehr bedeutet, so fürchte ich, es rührt zumTeil daher, daß man es ihnen immer verwehrt hat, diesen Tod aus der natürlichen Ehrfurcht zu begreifen, die man dem Sterben für die Wahrheit überhaupt entgegenbringt. Denn zuletzt ist das Dienen für dieWahrheit bis in denTod dasHöchste, wases überhaupt gibt. Und vielleicht würde es der Herr selber uns nicht gestatten, daß wir im Prinzip zwischen dem, was er für die Wahrheit geduldet und geopfert hat,

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und dem, was andere dafür hingegeben haben, einen Unterschied machen wollen. Der Unterschied besteht lediglich in dem Leben, das dahingegeben wird. Weil Jesu Person so unvergleichlich tiefer und reiner ist, darum ist sein Tod so unvergleichlich kostbar und wirkungsvoll gewesen. Ich wage es, diese Anschauung des Todes Jesu so einseitig zu entwickeln, daß, wenn ihr mir nicht, wie so manchmal, Nachsicht entgegenbrächtet, manche daran Anstoß nehmen könnten ... ich wage es also, einmal, weil der Herr selbst es so schlicht sagt, daß sein Tod ein Dienen ist, und dann, weil dadurch eine Seite an demTodeJesu ins Licht gerückt wird, die sonst viel zu sehr im Dunkeln gelassen wird, nämlich das, wasderTodJesu für uns als wirkende Menschen bedeutet. Wer Jesu Tod verstanden hat, der besitzt eine andere Anschauung von den Dingen und dem Leben, denn er hat verstanden, daß alles Wirken letzthin ein Dienen ist, bei dem man sein Leben hingibt. Solange du für dich bleibst, die Dinge um dich herum geschehen läßt, wie sie wollen, hast du Ruhe. Sobald du aber das willst, wasJesus unter dem Dienen versteht ... sobald du um dich herum allgemeinere Aufgaben findest, Dinge, wo du dich verpflichtet fühlst, mitzuhelfen, Personen, für die du eintrittst, Ideen, für deren Sieg du kämpfst, es mag nun im Kleinen oder im Großen sein, sobald du aus dir selber heraustrittst und das Gute willst, verfällst du dem Gesetze, daß, was du wirkst, du bezahlst, stückweise bezahlst mit deinem Glück und deinem Leben. Jeder von euch kann die Rechnung machen, was ihn dies oder jenes, was er in seiner näheren oder ferneren Umgebung Gutes ausgerichtet oder Schlechtes verhindert hat, gekostet hat an innerer Aufregung, an Feindschaft, an Spott, an böser Nachrede, an verlorener Freundschaft, an Hinderung im Fortkommen, an Enttäuschung, anVerlust von Hoff-

nungsfreudigkeit.

Wenn wir nur mit den natürlichen Augen betrachten, schelten wir über die Verkehrtheit der Welt, geben dem oder jenem die Schuld, beschweren uns bei den Menschen, meinen, es ist uns großes Unrecht geschehen. Wasist aber geschehen, wenn man es mit Augen betrachtet, die durch denTodJesu sehend geworden sind? Für das Gute, das geschehen sollte, mußte ein Preis bezahlt werden. Mit dem, was du an Glück und Ruhe hingabst, um Feindschaft, Verleumdung, Ärger, Enttäuschung dafür einzutauschen, hast du den Preis bezahlt. So sei bereit, daß, wenn du das tun willst, was du immer für deine Menschen- und Christenpflicht wirst halten, du noch oft und vielleicht Größeres drangeben mußt, ein Stücklein Leben nach dem andern ... und sieh es nicht als ein Unrecht an, dasdir geschieht, sondern als etwas Notwendiges, dasunter jenes «Esmuß also geschehen» fällt wie derTodJesu. Ihr kennt die tiefe Lehre des Apostels Paulus, daß der TodJesu nicht etwas ist, das einmal geschehen ist, sondern etwas, dassich fort und fort

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an denen auswirkt, die ihm angehören und in seinem Geiste leben. Der Apostel selber hat das, was er bei seiner Wirksamkeit seelisch und körperlich erduldet, als ein Mitsterben mit Christus begriffen, wie er auch einmal ausruft: «Ich sterbe täglich» [I Kor. 15,31]. Und wer das fühlt, daß alles, was wir hinnehmen und drangeben müssen, um nur etwas unter den Menschen zu wirken für das Wahre und Gute, ein Auswirken derselben Gesetze ist, die denTodJesu heraufführten, eine Fortsetzung dessen, was dort geschah, wenn auch das äußere Leben nicht von uns gefordert wird, der arbeitet sich zu einer Ruhe durch, die der Mensch von sich ausnicht hat. Vor allem läßt er sich nicht erbittern. Die Verbitterung ist die große Gefahr aller Menschen, die innerlich bestimmt sind, Gutes zu wirken. Sie überzieht sie wie ein Rost und macht sie untüchtig, etwas auszurichten. Nichts lähmt dieWirkungskraft eines Menschen so wie das, was er den Menschen nachträgt. Wer aber das Leben mit der Erkenntnis betrachtet, die vom Leiden Jesu ausgeht, der weiß, daß die Menschen – mag es äußerlich noch so sehr den Anschein haben – unschuldig sind. Es mußte also geschehen. Und frei wird man zugleich von der falschen Rechnungsart des natürlichen Menschen. Von uns selbst würden wir immer berechnen, ob das, was wir drangeben müssen, das wert ist, was wir ausrichten. Da kommt dasWort «umsonst»! Wir glauben zu sehen, daß viele Opfer, die von Menschen gebracht wurden und noch gebracht werden, vergebens waren. Und wenn man dem Wort «umsonst» nur mit sichtbaren Gründen begegnen will, ist man ihm gegenüber verloren. Es bleibt bestehen und macht die Menschen zumWirken untüchtig. Für den aber, der seine Weltanschauung in der Betrachtung desTodes Jesu geklärt und vertieft hat, für den existiert dieses Wort nimmer. Er weiß, daß es ein geistiges Gesetz gibt, das dieses Wort auslöscht; es lautet: Nichts, was ein Mensch tut und drangibt im Dienste desWahren und Guten, ob es im verborgenen oder öffentlich sei, ist verloren, sondern es ist Kraft, die wirkt. Als Jesus starb, hätte jemand mit Recht dartun können, nun sei es fertig und alles umsonst gewesen. Und wir, die wir auf den Tod und was nachher kam, als etwas Vergangenes zurückblicken, wissen, daß mit jenem Darangeben des Lebens von seiten unseres Herrn Unermeßliches gewirkt worden ist, einem Sprengstoff gleich, wie ihn die Welt nicht mehr gekannt hat. Und was wir in seinem Geiste von unserem Leben und Glück für dasWahre und Gute darangeben, ist ebensowenig verloren. Es wirkt, ohne daß wir es wissen, insgeheim, und was es schafft, ist vor unsern Augen verborgen und wird vielleicht, solange wir leben, nicht offenbar ... und war doch nicht umsonst. Darum such nicht, ob du Erfolg siehst, und wenn dein ganzes Leben, äußerlich betrachtet, vergebens ist, sondern frage dich nur immer, was du tun

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mußt, was notwendig ist, wo ein Stück Menschenleben verausgabt werden muß – in großen oder kleinen Stücken – und wo es notwendig

ist, tue es. Nur wer in dieser Gesinnung wirkt, der kann eine Kraft zum Guten werden, in der der Segen desTodes Jesu weiterwirkt durch den Glauben und den Frieden, den er in sich trägt. Ihr habt das Empfinden, daß dies nicht eine düstere Lehre vom Tode Jesu ist, sondern eine fried- und freudvoll heitere, die uns stark macht zumWirken. Und wenn solche unter euch sind, denen dieWorte noch dunkel sind, weil noch nichts Schweres von ihnen gefordert worden ist, und sie noch nicht Stücke ihres Lebens dahingeben mußten für etwas, das zu wirken war, so mögen sie ruhig und unbefangen bleiben und das «Glück» genießen; hat doch unser Herr auch nicht erlaubt, daß man die Traurigkeit in die Reihen seiner Jünger trug, solange der Bräutigam bei ihnen war [Mt. 9,15]. Aber sie mögen wissen, daß die Forderung auf ein Stück des Lebens an sie herantreten kann, wo sie es am wenigsten erwarten ... täglich ... stündlich ... daß sie dann auch bereit seien, so zu «dienen», wieJesus diente, und wie er es von unsverlangt.

Nachmittagspredigt Sonntag, 22. März 1908, St. Nicolai Passion

Mk. 10,26 f.: Bei Gott sind alle Dinge möglich|12¡ Alljährlich tritt dasLeiden des Herrn vor uns wie ein großes Rätsel. Fragen gar mannigfacher Art knüpfen sich daran. Über eine derselben, die sich jeder von euch schon gestellt und die ich in letzter Zeit mehrfach um mich vernahm, möchte ich heute mit euch nachdenken: Wie hängen Sündenvergebung undTodJesu zusammen? Ist es so, daßJesus im Sterben Sündenvergebung beschafft hat für alle Zeiten und alle Menschen, daß es also ohne seinen Tod keine Sündenvergebung gibt? Die Lehre, wie man sie gewöhnlich vorträgt, sagt hierzu: Ja. Sie geht davon aus, daß durch das Sündigen der Menschen das Gerechtigkeitsgefühl Gottes verletzt war; auf Grund seiner Heiligkeit konnte er nicht vergeben, wenn nicht eine Sühne geleistet wurde; diese konnte nur von einem sündlosen, heiligen Wesen beschafft werden; darum mußte der Heiland Jesus Christus als unschuldiges Opfer sterben, und von dem Augenblick an konnte Gott wieder vergeben. 12 [Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander: Wer kann denn selig werden? Jesus aber sah sie an und sprach: Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.]

Bei Gott sind alle Dinge

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Das ist die Lehre, die sich zumTeil schon beim Apostel Paulus findet, die dann die Kirchenväter weiter durchdenken, mit Hilfe derer unsere Reformatoren die Menschen befreit haben von der priesterlichen Bevormundung in Sachen der Vergebung der Sünden. Und daß so viele Menschen in dieser Lehre Trost gefunden haben, macht sie uns heilig, und doch ist keiner von euch, der nicht beim Nachdenken über Sündenvergebung auch das Unbefriedigende in dieser Lehre empfunden

hätte. Zunächst scheint uns die Anschauung von Gott, die ihr zugrunde liegt, nicht richtig. Gott soll etwas nicht können, daser möchte. Er will den Menschen Sünden vergeben und vermag es nicht, ehe er sich nicht in unserm Heiland ein Opfer dargebracht hat. Ist denn die Liebe Gottes nicht allmächtig? Seit wann ist denn Gott an etwas gebunden? Dann aber kommt unser Herr Jesus selber und lehrt Sündenvergebung, ohne sie von seinem Tode am Kreuz abhängig zu machen. Er vergibt Menschen ihre Sünden; er heißt seine Jünger beten «und vergib uns unsere Schulden» [Mt. 6,12]; einzig macht er die Sündenvergebung davon abhängig, daß wir den Menschen, denen wir zu vergeben haben, auch wirklich vergeben. Wenn ihr die Evangelien lest, so findet ihr, daß Jesus die Sündenvergebung von Gott als etwas, das mit Notwendigkeit ausdemWesen der allmächtigen Liebe Gottes fließt, verkündigt. Nur ganz nebensächlich möchte ich einige andere Bedenken erheben. Wieso soll denn durch den Tod eines einzelnen Genugtuung geleistet sein für die Sünden aller kommenden Menschen, die noch nicht geboren sind? Und dann, wenn die Sündenvergebung nur angeeignet wird im Glauben an den Tod Jesu, was ist dann geschehen mit den Menschen, die vor Jesus lebten? Diesen würden also die Sünden nicht vergeben werden können? Das haben schon die Apostel als einen schweren Anstoß empfunden und deshalb die Lehre aufgestellt, die ihr im dritten Kapitel des ersten Briefes des Petrus nachlesen könnt, daß, während der Leib Christi im Grabe ruhte, der Geist Christi in die Unterwelt fuhr und den Geistern der Abgeschiedenen aller vergangenen Menschengeschlechter den Glauben an die Sündenvergebung durch sein Kreuz predigte, damit ihnen Gelegenheit geboten würde, die Seligkeit zu erlangen! Diese Lehre von der Höllenfahrt Christi hat für uns natürlich keine Bedeutung; sie zeigt nur, wie die erste Christenheit schon suchte, die Schwierigkeiten der Sündenvergebung, wenn man diese an den Tod Jesu knüpft, zu lösen. Und dann weiter: Die Heiden, die nach Jesus geboren wurden, aber von seinem Kreuzestode keine Kunde erhielten, sollen die keine Sündenvergebung erlangen, nur weil es ihnen unmöglich ist, etwas von der Predigt desKreuzes zu erfahren und daran zu glauben? Alle diese Erwägungen habt ihr schon selber gemacht und sie auch

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aussprechen hören. Aber vielleicht habt ihr bei euch gedacht, daß ein Pfarrer Bescheid darüber wisse und die Einwände widerlegen könne. Ich glaube, es gibt keinen, der es kann, und halte es darum für meine Pflicht, es ruhig zu gestehen! Man kann auch nicht sagen, daß es sehr zu beklagen sei, daß uns in der Lehre von der Erlösung, wie man sie überliefert, nicht mehr alles befriedigt und wir weitere Fragen stellen: Das muß so sein. Wir sind eben auf dem Weg zum einfachen Evangelium Jesu zurück. Und Jesus selber hat uns gelehrt, daß der letzte Grund der Sündenvergebung die Liebe Gottes ist. Darum antwortet er auf die Frage, wie es denn möglich sei, daß ein Mensch selig werde: «Bei den Menschen ist’s unmöglich; bei Gott aber sind alle Dinge möglich.» Er hat den reichen Jüngling im Auge, dem eben sein Besitz noch mehr wert gewesen ist als sein Evangelium und seine Nachfolge, und will den Seinen sagen, daß auch diesem von Gott verziehen werden könne, daß er so nahe bei der Seligkeit war und sich wieder davon abwandte [Mk. 10,17–25]. Darum, weil es eben auch der Gedanke Jesu ist, dürfen wir es uns ruhig eingestehen, daß unser Glaube an Sündenvergebung nicht so sehr ausder Lehre überJesuTod fließt, sondern sich gründet auf den Glauben an die Liebe Gottes. Und wenn ihr diese Gedanken durchdenkt, habt ihr auch zugleich das Gefühl, daß ihr euch von den andern, die mehr noch an der alten Lehre halten, nicht so weit entfernt, wie man meinen könnte. Denn das, was uns alle eint, ist eben der Glaube an eine Sündenvergebung und dann die Gewißheit, daß diese aus der Liebe Gottes kommt. Nur daß die kirchliche Lehre dann noch will ausdrücken, wie die Vergebung der Sünden von Gott durch den TodJesu bereitet ist und warum dies notwendig war, während wir glauben, daß wir das nicht so genau erkennen und in eine Lehre fassen können, daß wir zu sagen vermögen: So und so hat es Gott gemacht, daß er uns die Sünden vergeben kann, und wer es nicht genau so und so sich vorstellt, der hat nicht den rechten Glauben an Sündenvergebung und nicht die rechte Gewißheit derselben. Aber das einzige, worauf es ankommt, das ist, daß wir von Herzen an die Sündenvergebung glauben, dasheißt, immer die rechte Reue haben, nie von Traurigkeit und Mutlosigkeit überwunden und kraftlos gemacht werden, sondern immer, auch in der tiefsten Selbsterniedrigung vor uns, in der wahren Reue dasVertrauen wiederfinden und das Unglaubliche fassen, daß wir ein neues Leben beginnen dürfen und frei sind von dem, wasuns zu erdrücken und ersticken drohte. Diesen Glauben, dasGeheimnis des Christentums, kann man nicht genug predigen, und man möchte mit Engel- und mit Menschenzungen reden können, daß man ihn allen ins Herz reden könnte. Und ihr, vergeßt nicht, daß auch ihr berufen seid, diese Sündenvergebung denen zu predigen, die

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verdrossen und mutlos sind ... denen wagt es zu sagen: «Bei Gott sind alle Dinge möglich.» Das ist die Predigt von der Sündenvergebung, die jeder verstehen kann. Nun werdet ihr aber vielleicht einwenden: Ja, Jesus hat doch selbst zwei oder drei Worte gesagt, in denen er auf die sühnende Bedeutung seines Leidens hinweist. Gewiß. Aber ich glaube, Jesus hat damit nicht sagen wollen, daß nur aufgrund seines Todes den Menschen Sünden vergeben werden können, sonst hätte er es deutlicher gefaßt, sondern es handelt sich hier um ein Geheimnis zwischen ihm und Gott, von dem keiner sagen kann, er verstehe es, sondern dessen Bedeutung wir nur ahnen können. Und was wir davon ahnen können, und was es für uns bedeutet, darüber möchte ich nächsten Sonntagmorgen mit euch nachdenken.|13¡

Morgenpredigt Sonntag, 29. März 1908, St. Nicolai

Mk. 10,45: Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene undgebe sein Leben zur Bezahlung für viele In der Predigt von vor vierzehn Tagen|14¡ überdachten wir miteinander den ersten Gedanken des Spruches Jesu, daß sein Tod ein Dienen sei.Wir suchten, es aus den allgemeinen, geistigen Gesetzen zu verstehen, daß jeder, der in derWelt «Dienste leisten» will, ein Stück seines Lebens, das heißt von seinem Glück, von seiner Ruhe, von seiner Kraft und was ihm sonst noch kostbar ist, hingeben muß. Darauf müssen wir uns gefaßt machen in der Betrachtung des Todes Jesu, daß wir es als etwas Selbstverständliches annehmen, uns nicht gegen Menschen erbittern, nicht mutlos werden, wenn uns das Opfer zu groß oder umsonst schien, sondern Ruhe finden in jenem tiefen «Es muß also geschehen» [Mt. 26,54], das auch unserm Herrn Frieden brachte. Was heißt nun aber das zweite Wort «zu einer Erlösung für viele»? Auch hier möchte ich versuchen, mit euch dasWort aus allgemein geistigen Gesetzen, nicht ausirgendeiner Lehre heraus, zu begreifen. Zunächst eine kurze Erwägung über Sündenvergebung und Tod Jesu allgemein. Nach der Lehre, die man gewöhnlich an dasWort des Herrn knüpft, besagt es, daß er starb, um für die Menschen die Sündenvergebung zu beschaffen, als hätte es ohne dieses Opfer nicht in Gottes Plan und Macht gelegen, Sünden zuvergeben. 13 [Siehe folgende Predigt.] 14 [Siehe S. 895. 15.03.08.]

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Wenn ihr aber bei euch nachdenkt, ob nun der TodJesu wirklich für uns der Grund ist für einen Glauben an Sündenvergebung, so wird euch klar, daß die Gewißheit der Sündenvergebung bei uns schon aus dem Wesen Gottes als der allmächtigen Liebe fließt. An den Gott glauben, den unsJesus gepredigt hat, heißt schon an sich, an Sündenvergebung glauben und zugleich glauben, daß von Ewigkeit her Sündenvergebung in Gott war. Also war die Veranstaltung desTodes Jesu an sich für die Sündenvergebung nicht nötig. Es wird auch niemandem die Sündenvergebung klarer und gewisser, wenn er sich vorstellt, daß Gott sich selber in Jesus ein Opfer für die Sünden der Menschen dargebracht hat, als ob er, um vergeben zu können, einer solchen Veranstaltung bedurft hätte. Was viele von uns hindert, diesen an sich so natürlichen Gedanken zu Ende zu denken, und was dann das Schwanken in der ganzen christlichen Vorstellung von der Erlösung verursacht hat, dasist, daß die Reformatoren und Paulus die Sündenvergebung immer als Predigt vom Kreuzestode Jesu verkündigten und ebenso die Dichter unserer schönen

Passionslieder. Und doch dürfen wir es wagen, diesen Gedanken ruhig zu denken, weil es der Gedanke Jesu selber ist. Er predigt von Anfang die Sündenvergebung, die ausdemWesen Gottes fließt; er lehrt dieJünger und uns im Vaterunser beten um die Sündenvergebung; er sichert sie kranken und gequälten Menschen im Namen Gottes zu, daß die Menschen fragen können: «Wer ist dieser, der Sünden vergibt?» [Lk. 7,49]; und das alles, ohne von seinem Tode zu reden und ohne die Sündenvergebung als etwas zu lehren, das noch nicht sei, sondern nach seinem Hingang erst sein werde. Wenn wir uns daher klar werden, daß sich unser Glaube an Sündenvergebung einzig und allein auf die Liebe Gottes gründet, dürfen wir uns sagen, daß wir damit der eigentlichen Predigt Jesu von der Sündenvergebung glauben. Wir sind von der Lehre der Reformatoren und des Paulus zur Lehre Jesu zurückgekehrt, und es hat sich dasWort erfüllt: «Einer ist euer Meister, Christus» [Mt. 23,8]. Wenn nunJesus allgemein Sündenvergebung durch die Liebe Gottes predigt wie im Gleichnis vom Herrn, der mit seinen Knechten rechnete [Mt. 18,23–34], so kann er diese Predigt später nicht umgestoßen haben. Das Wort unseres Textes und das im Abendmahl «zur Vergebung der Sünden für viele» kann im Gedanken Jesu also nicht besagen, daß es jetzt für die Menschheit erst Sündenvergebung gibt. Das hätte er klar und deutlich ausgesprochen. Wenn er es nur als dunkle Andeutung gibt, so will es heißen, daß die Bedeutung seines Todes ein Geheimnis ist zwischen Gott und ihm. Er hat es uns nicht erklärt. Nur so viel wissen wir, daß sein Gedanke nicht sein kann, daß esjetzt erst Sündenvergebung für die Menschheit gebe.

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Was sein eigentlicher Gedanke war, kann man nur ahnen. Wenn man sich in sein Leben undWirken hineindenkt, so kommt man dazu, anzunehmen, daß er seinen Tod auffaßte als ein Opfer für sein Volk, die Juden, ein Opfer, das sie aus der Unbußfertigkeit und Gleichgültigkeit herausreißen sollte, oder wie man dasnun zu erklären versuchen mag. Nun mag euch das verwirrt und verwirrend erscheinen, daß auf der einen Seite Jesus die Sündenvergebung als rein aus dem Wesen Gottes fließend predigt und andererseits wieder sein Leiden und seinen Tod in den Dienst der Sündenvergebung stellt, sie als Tilgungsmittel einer Schuld, sei es seines Volks oder sonst einer Menschenklasse, vielleicht derer, die sein Wort gehört haben und nicht daran glaubten, auffaßt. Wenn ihr in euch selbst nachforscht, werdet ihr etwas Ähnliches entdecken. Wir glauben an eine bedingungslose Sündenvergebung, rein aus der Liebe Gottes. Und doch hat jeder von uns in mancher Trübsal, die ihm begegnete, schon etwas erkannt, daser tragen durfte, um in tiefer Geduld und Demut vor sich und Gott die Gewißheit der Sündenvergebung lebendig zu erfahren. Was er trug, erschien ihm als ein Wahrzeichen der Sündenvergebung, etwas, das er nicht hätte können erklären, und das er doch verstand als ein Geheimnis zwischen seinem Geist und Gottes Geist. Und das nicht nur, wo das Leiden als die Folge und Schuld einer Sünde erschien, sondern auch da, wo es an sich unerklärlich war, gar nichts mit einer bestimmten Verschuldung zu tun hatte. Es offenbart sich in jedem Menschen etwas von dem elementaren Gedanken, der im 1. Brief des St. Petrus also ausgedrückt ist: «Wer da leidet, der ist frei von Sünden» [I Petr. 4,1]. Ich möchte, was mir vorschwebt, in dieWorte fassen: Im Leiden liegt Heiligung. Das war auch sicher der Gedanke unseres Herrn. Erinnert euch einer Stelle im Evangelium, wo zwei Jünger ihn um die ersten Plätze im Reich Gottes bitten, wo er dann antwortet, indem er sie hinweist auf die Taufe, die er empfängt, um Herrscher im Reich des Geistes zu werden, und sie bittet, nicht an das zu denken, was sie im Reich Gottes sein werden, sondern sich bereit zu halten auf dieTaufe, der auch sie werden gewürdigt werden [Mk. 10,35–40]. Die Taufe, die er meint, ist das Leiden.

Für ihn waren also Schmach, Qual undTod, die er vor sich sah, seine Heiligung zum Amt, dasihm von Gott verliehen war. Und wenn er davon redet, daß sein Tod vielen zugute werde kommen, so denkt er daran, daß diese Heiligung auf die überfließen werde, die ihm angehören, und Reinheit in ihnen wirken wird. Aber wie geht es über? Wenn ihr die Lehren vom Kreuze Jesu durchdenkt, kommt ihr immer an einen unklaren Punkt, wo nämlich die Frage auftaucht, wie denn von dem, was Jesus dort erworben hat, etwas auf andere übergehen könne. Ihr findet verschiedene Antworten darauf: Äußerliche, wenn

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zum Beispiel in der römischen Kirche gelehrt wird, daß man das Verdienst Jesu im Meßopfer, der Wiederholung des Kreuzes Christi, übertragen bekomme; tiefer, schon geistiger gedacht, wenn unsere Reformatoren lehren, daß man im Glauben an dasKreuz, wasJesus im Leiden erworben hat, sich erzwinge. Aber Jesu Gedanke ist viel tiefer und entspricht viel mehr dem, was wir innerlich empfinden. Er redet von seinem Leiden und dem Leiden der Seinen in demWort an die zweiJünger, wo er von der Taufe spricht, die ihnen beschieden sei, und in so manchem andern Wort, so, wenn er sagt: «Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; nehmet auf euch mein Joch» [Mt. 11,28 f.] oder «Wer mir will nachfolgen, der nehme sein Kreuz auf sich» [Mt. 16,24]. Das heißt: Der tiefe Sinn und der Segen des Leidens Jesu wird uns offenbar, wenn wir unser Leiden als dieTaufe zur Heiligung auf uns nehmen, durch die wir ihm und dem Reiche des Geistes angehören, als die Taufe, mit der wir von ihm zum Himmelreich getauft werden. Die tiefste und letzte Lehre, die man über das Leiden des Herrn aufstellen kann, ist die Lehre von der Gemeinschaft des Leidens Jesu. Und die tiefste und letzte Lehre von der Sündenvergebung ist die Lehre von der Heiligung in der Gemeinschaft des Leidens Jesu. Das erkennt ihr daran, daß sie so unmittelbar in unser Dasein verwoben wird und im Verlauf der Ereignisse sich in immer neuer Gestalt wiederholt. Sündenvergebung haben wir injedem Augenblick, rein ausder Liebe Gottes. Das heißt, wir haben die Gewißheit, daß wir in jedem Augenblick, mag das, was auf uns liegt, noch so schwer sein, ein neues Leben beginnen dürfen, daß keine Schuld daran hindern kann; und wenn es unsvor unsselber unmöglich scheint, daß esdoch vor Gott möglich ist. Aber was vergangen und vergeben ist, ist nicht ausgelöscht aus der Erinnerung. Es steht da, um uns demütig zu machen vor uns selbst und mild gegen andere. Es steht da, um, wenn wir richten wollen und vor den Menschen mit einem Schein des Rechtes richten könnten, uns zu fragen: Wer bist du, daß du richtest? und uns verstummen zu machen; es steht da, daß, wenn Leid über uns kommt, wir uns nicht fragen: Warum mir das? sondern es mit stillem, tiefem Sinn auf uns nehmen als etwas, wodurch wir uns heiligen dürfen, das wir im Geiste Jesu tragen, daß auch der Friede und die tiefe Erkenntnis seines Leidens uns zuteil werde. Dann werdet ihr ihn besser verstehen und ihm näherkommen. Es kann sein, daß ihr nicht alles versteht; denn es gibt Rätsel desLeidens, die wir mit unserer Erkenntnis niemals verstehen werden. Aber vieles, vieles von dem, was euch begegnet an körperlichem und seelischem Schmerz, an Enttäuschung, an Demütigung – denn das alles liegt im Leiden Jesu – werdet ihr verstehen, wenn ihr als solche, die das Geheimnis der Heiligung erkannt haben, das, was kommt, auf euch

Wozwei oder drei versammelt sind

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nehmt, und vieles, was ihr umsonst, verbittert, ratlos dahingeschleppt hättet, wird euch ein Segen sein. Ein Stück dieser Lehre von Sündenvergebung und Heiligung haben wir schon alle erlebt. Wir wollen aber streben, daß wir es tiefer und vollkommener erleben, daß wir gesegnet werden und Segen werden für andere.

Denn zuletzt erfüllt sich auch an uns sündigen Menschen etwas von dem, wasanJesus offenbar geworden ist: daß keiner sich im Leiden heiligt, zum Frieden sich durchringt und zur Reinheit sich läutert, ohne daß etwas von dem, was er sich erwirbt, ausstrahlt auf die, die um ihn sind, und sie mitberührt werden vom Geiste der Heiligung und mitgezogen werden auf demWeg desLebens, der daist: der Sünde absterben.

Nachmittagspredigt Sonntag, 3. Mai 1908,|15¡ [St. Nicolai]|16¡

Mt. 18,20: Wo zwei oder drei versammelt sind [in meinem Namen, dabin ich mitten unter ihnen]|17¡ In der Zeit nach Ostern sollte man eigentlich über die Erscheinung Jesu unter seinen Jüngern nach seinem Tode predigen, über jene Erzählungen, die berichten, wie er zuJerusalem bei verschlossenen Türen unter sie tritt, wie erJüngern auf demWeg nach Emmaus begegnet, wie er am See Genezareth, während sie fischen, plötzlich am Ufer erscheint und nachher dasMahl mit ihnen teilt. Aber es wird uns schwer, uns vorzustellen, was nun eigentlich daran ist, daß sie ihn gesehen haben wollen nach seinem Tode, da wir doch nicht annehmen können, daß er nun wieder leibhaftig mit ihnen geweilt habe. So liegt ein unlösliches Dunkel und Rätsel über diesen Erzählungen. Und sogar wenn jemand seiner Vernunft Gewalt antun wollte und sagen: Wir müssen eben annehmen, daß er leibhaftig wieder mit ihnen zusammen war, weil es eben so überliefert wird, so müßte doch auch dieser zugeben, daß das nun nicht die Hauptsache ist, ob die Jünger noch drei oder vier Mal eine «Erscheinung» Jesu hatten, sondern darauf [kommt es an], wie Jesus überhaupt nach seinem Tode fortfuhr, mit seinem Geiste unter ihnen zu weilen, ob sie dasWort «Wo zwei oder 15 [Am 1. Mai 1908 schreibt Albert Schweitzer an Helene Bresslau:] «Es ist halb neun Uhr abends und ich bin daran, meine Predigt zu entwerfen und Ihre Gedanken darin einfließen zu lassen. Aber sehen Sie, dasPredigen ist eine schwierige Sache.» [Zentralarchiv Günsbach]

16 [Der Kirchenbote vom 2. Mai 1908 nennt Schweitzer als Prediger des Nachmittagsgottesdienstes.]

17 [R] In überarbeiteter Form wiederholt zu Günsbach im Morgengottesdienst 12.6.21.

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drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen» an sich erlebt haben oder nicht. Dies ist das rechte Wort der Nachfeier von Ostern, denn es gilt den Christen, nicht nurjener ersten Zeit, sondern aller Zeiten. Wo Menschen miteinander sagen können, daß das Wort wahr ist, da ist wahrhaftiges Christentum. Ich habe es noch besonders gern, weil es die Vorrechte der Jünger uns gegenüber auslöscht. Schon jeder hat bei sich gedacht, wie reich beglückt sie vor uns waren, daß sie den Herrn in seinem Erdendasein kannten, wußten, wie sein Antlitz ausschaute und wie seine Stimme klang. Aber das alles dauerte doch nur kurze Zeit, und nachher galt für sie wie für uns einzig dasWort des Herrn, daß er geistig bei denen ist, die in seinem Namen versammelt sind. Versammelt sein in seinem Namen: Da denken wir an die Gottesdienste in der Kirche. Ich weiß nicht, ob es euch geht wie mir. Je älter ich werde, desto mehr ergreift mich der Gottesdienst und desto mehr fühle ich das Bedürfnis, aus der Arbeit und aus dem Hasten in diesem stillen Haus mit Menschen zusammenzufinden, die darin dasselbe suchen wie ich: Friede und innerliche Freudigkeit, und rein aus den Gedanken der Menschen, die sich hier sammeln wie ich, berührt zu werden, als fühlten wir miteinander, daß der Herr unter uns ist. Und es ist nicht so sehr die Stille des Ortes, sondern das Zusammenkommen der

Gedanken. Ich denke, es ist euch auch schon so ergangen, daß ihr mit Fragen und Sorgen kamt und als andere Menschen fortgingt, als ihr kamt, da euch Antwort wurde auf die Frage und Lösung von der Sorge, und nicht durch eines Menschen Wort, sondern durch dieWeihe der Stunde, dadurch, daß ihr eure Gedanken in der geistigen Gemeinschaft mit andern und im Angesicht Jesu dachtet. (Gemeinschaft der Heiligen. Geschichte vom alten Mitschi in Günsbach.|18¡) Fast möchte ich das Wort unseres Textes ein Trostwort für Prediger nennen. Wie oft haben wir das Empfinden, nicht das geben zu können, was wir wollten, die Gedanken undWorte nicht zu finden, um zu euch zu reden, wie wir wünschten, es zu können; wie oft quält uns der Gedanke, «machtlos» statt in Vollmacht gepredigt zu haben, so daß, wenn es auf unsere Worte ankäme, ihr hungrig und enttäuscht wieder nach Hause ginget. Da kommt dieses Wort und tröstet uns, indem es uns sagt, daß noch ein anderer da ist, der redet, lautlos redet zu den Herzen derer, die ihn suchen, und daß er gewiß da ist, wenn wir wahrhaftig in seinem Namen versammelt sind, und daß es auf dies allein ankommt ... auf dies allein ankommt! Man redet heute viel, wie man unseren Gottesdiensten wieder aufhelfen könne. Sie seien zu nüchtern. Die Prediger seien zu schlechte 18 [Siehe A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 292.]

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Redner. Es fehle Musik und Chorgesang und sonst noch manches. Sie sollen reden und verbessern. Es wird nichts damit gewonnen. Hier steht’s: Der wahre Gottesdienst besteht nicht aus dem undjenem, sondern in der Gesinnung, in welcher Menschen zusammenkommen, in den Gedanken, die ein jeder mitbringt und die sich geheimnisvoll zwischen uns ausbreiten. Je mehr wir im Namen des Herrn versammelt sind, desto wahrer ist der Gottesdienst. «Im Namen desHerrn». Washeißt das? Ihr habt bemerkt, daß es Menschen gibt, bei denen das übrige ihres Wesens vollkommen verschwindet hinter ihrem Willen und die so auf andre wirken, daß sie sie gewissermaßen mit ihrem Willen berühren. Bei der Betrachtung der Person Jesu haben wir dieses Gefühl in einem ganz einzigartigen Maße. Wir haben das Empfinden, daß ihn kennen, mit ihm in irgendeiner Gemeinschaft sein, nicht heißt, ihn verstehen und begreifen, sondern den Schatten seines Willens über uns fühlen und unser Wollen in seinem Wollen läutern und heiligen. Und sein Wollen ist: Arbeit der Menschen an derWelt und an sich. Diese Gesinnung, die macht’ s, ob wir in seinem Namen versammelt sind oder nicht, ob wir kommen als solche, die an sich arbeiten, nicht müde werden, an sich zu arbeiten, und die in dem, was sie an Arbeit der Woche vor sich sehen, sich fragen, was sie dabei und daneben tun können an Kleinem und Großem, das um des Herrn willen getan werden muß. In seinem Namen versammelt sein, heißt voneinander wissen und fühlen, daß wir das Glück unseres Lebens darin suchen, unscheinbare, geheime Knechte Jesu zu sein und danach zu streben, es immer mehr zu werden. Das ist der Gottesdienst, den wir einander bieten sollen: wahrhaftig und in der tiefen Bedeutung desWortes versammelt sein in seinem Namen als Menschen, die im stillen Ernst vor den Augen dessen, der ihr Meister ist, auf die kommende Woche ausschauen. Was tut es dann, wenn wir wenige sind? Unsere Zeit will es, daß die Kirchen leer stehen und vielleicht noch leerer werden. Aber es soll vielleicht auch so sein. Wenn es gilt, etwas durchzusetzen, zählt man in unserer Epoche immer auf die Masse. Man gründet Gesellschaften, sammelt Mitglieder und meint, etwas erreicht zu haben, wenn man sagen kann, daß soundso viele Namen hinter uns stehen. Da könnte es allerdings betrüben, daß, wo es sich um die Religion handelt, sich nur so wenige zusammenfinden. Es ist gut, daß der Herr Jesus die tiefste Zahl greift, zwei oder drei, als wollte er uns trösten und sagen, daß es nicht darauf ankommt, wie viele wir sind, die wir uns in seinem Namen zusammenfinden, sondern daß es immer etwas bedeutet, es mögen ihrer noch so wenige sein, wenn nur Menschen wirklich in seinem Namen zusammenkommen. Denn es heißt etwas, daß Menschen, die die Nähe des Herrn gefühlt haben, die etwas von dem Wort «da bin ich mitten unter ihnen» erlebt

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haben, zurückkehren unter die Menschen, mit denen sie eine neue Woche verbringen werden. In der Schrift steht, daß das Antlitz Moses, als er vom Sinai aus der Gegenwart mit Gott zurückkehrte, einen solchen Glanz behalten hatte, daß die Kinder Israels dieses Leuchten nicht ertragen konnten, sondern ihn bitten mußten, eine Decke darüber zu legen [Ex. 34,29– 35]. So soll es sein bei uns.Wenn es wahr ist, daß, wo wir in seinem Namen versammelt sind, Jesus mitten unter unsist, so muß auch von dieser Nähe etwas an unserm Wesen haften bleiben. Die Menschen, zu denen wir zurückkehren und mit denen wir dieWoche verleben, müssen etwas von dem Strahlen und Leuchten, das unsere Seele umspielt, merken; etwas davon muß an uns haften und kleben. Kirchengehen ist etwas. Aber daß man es um uns her bemerkt während der Woche, daß wir in der Kirche waren, und wir selber es nicht vergessen, das ist dasWahre. Und hierin fehlen wir alle. In der Ostergeschichte steht etwas, das fast wie ein Gleichnis darauf ist. Als die, welche Jesus gesehen haben als die ersten, zurückkehren vom Grab und es den anderen sagen, glauben sie es nicht. So glauben es uns die Menschen nicht, daß wir die Nähe des Herrn gefühlt haben, wenn wir aus der Kirche zurückkehren, weil sie davon nichts merken können. Wir bringen zuwenig davon mit nach Hause. Es bleibt kein Nachglanz des Herrn auf unseren Seelen, und wenn wir etwas wünschen, so ist es, daß nicht nur wir glauben, daß dasWort «Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, dabin ich mitten unter ihnen» wahr ist, sondern auch die andern, zu denen wir zurückkehren, etwas davon erfahren. Dann erfüllt sich, wasJesus zu seinen Jüngern gesagt hat: daß sie offenbar sollen machen, wasverborgen ist [Mt. 10,26].

Morgenpredigt Sonntag, 24. Mai 1908,|19¡ [St. Nicolai]|20¡

[Ohne Text:] Über dasWunder

Ich habe euch im Winter angekündigt, daß ich im Sommer einige mehr lehrhafte Predigten, und darunter eine über dasWunder, halten würde. Das Einlösen dieses besonderen Versprechens wird mir nicht leicht, denn es gehört einige Überwindung dazu, über dasWunder zu 19 [Am 13. Mai 1908 hatte Schweitzer dasPhysikum bestanden, das ihm den Zugang zu den klinischen Semestern öffnete. In AS-HB, S. 203 wird darauf hingewiesen, daß sich Schweitzer bei den Angaben in seinen Lebenserinnerungen um einJahr getäuscht hat. Siehe A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 119f.] 20 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer die Morgenpredigt in St. Nicolai gehalten.]

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predigen, einmal, weil man damit manchen Leuten Anstoß geben kann, und dann, weil man meint, es sei nachgerade alles, wasüber Religion undWunder zu sagen ist, ausgesprochen worden. Aber der Prediger kommt dann wieder in die Lage, aus Gesprächen zu merken, wie wenig klar die Menschen sich über diese Frage sind, wie sie aus dieser Frage Gründe gegen die Religion entnehmen, so daß man wieder auf die Pflicht hingewiesen ist, hier aufzuklären, und sich schweren Herzens entschließt, wieder einmal über dasWunder zu predigen. Wenn ich das nun tue, so meine ich nicht, daß ich notwendig habe, euch in irgend etwas zu belehren und zu überzeugen, sondern ich möchte zu euch reden, wie ihr zu andern reden sollt. Die Kirchen leeren sich mehr und mehr. Ein Prediger kann die Menschen draußen, die Menschen, die sich fernhalten, nicht erreichen. Und sogar wenn es uns gelingt, mit ihnen zu reden, so denken sie, wir reden so, weil es unser Amt und Auftrag ist, und unser Wort bedeutet darum nicht viel für sie. Daraus erwächst aber für euch die Pflicht, etwas von dem, was ihr hier hört und womit ihr übereinstimmt, unter die Leute zu tragen. Es wäre unmöglich, daß die Menschen so geistlos über Religion denken und reden, wenn ihr, wenn es die Gelegenheit mit sich bringt, ein rechtes Wort hier, ein rechtes da sprechen würdet. Wie gar manchmal kommt ihr in die Lage, einem Gespräch beizuwohnen, dem ihr eine richtige Wendung geben könnt, das ihr vielleicht aus Spott zum Ernst leiten könntet, wenn ihr euch nur entschließen wolltet! Wievielmal könntet ihr auch einem Menschen auf seine ernsten Fragen antworten! Da nun die Frage über das Wunder am häufigsten aufgeworfen wird, möchte ich versuchen, euch nun zu zeigen, wie ihr es recht anfassen könnt, um dem Spott und der Geistlosigkeit zu begegnen und die Leute von der Gedankenlosigkeit zum richtigen Nachdenken zu bringen. Auf die Frage: Gibt esWunder oder keine? müßt ihr euch nicht einlassen. Denn da kann man Tage und Nächte für und dagegen reden, ohne daß etwas dabei herauskommt. Ihr müßt die Frage gleich richtig stellen, nämlich so, daß von denWundern Jesu geredet wird. Hier werdet ihr nun gleich eine Unterscheidung machen zwischen Wundern, woJesus einen Menschen heilt – also den Heilungswundern —und solchen, wo erzählt wird, wie er irgend etwas in der Natur hervorbringt – Naturwundern. Heilungswunder werden in den Evangelien etwa fünfzehn berichtet. Und zwar werden geheilt: Aussätzige, Erblindete, Leute, die an Fieber leiden, und besonders Geisteskranke, die man damals Besessene nannte, weil man meinte, ihr Zustand rühre daher, daß ein böser Geist in ihnen Wohnung genommen hätte.

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Zu den Naturwundern wären zu rechnen: Die Erzählung, daß Jesus einige tausend Menschen mit etlichen Broten speist, die sich unter seiner Hand wunderbar vermehren [Mt. 14,13–21]; die Verwandlung des Wassers in Wein zu Kana [Joh. 2,1– 12], dasWandeln auf denWogen des Meeres, die Stillung des Seesturmes durch ein gebieterisches Wort [Mt. 14,22– 33], die Verfluchung eines Feigenbaumes, also daß er verdorrt [Mt. 21,19]. In der Mitte zwischen Heilungswundern und Naturwundern stehen die Auferweckungen vonToten: vonJairi Töchterlein [Mt. 9,18–25] und vomJüngling zu Nain [Lk. 7,11–17]. Warum muß man diese Unterscheidung machen? Weil es sich um zwei ganz verschiedene Arten von Wundern handelt. Es ist etwas ganz anderes, ob uns berichtet wird: Jesus hat einem Menschen, der lahm war, den Gebrauch seiner Glieder wiedergegeben und einen andern befreit von dem Wahn, der seinen Sinn gefangenhielt, als wenn gesagt wird, er sei auf demWasser wie auf festem Land einhergegangen. Heute weniger alsje wird man bezweifeln, daßJesus Heilungen, wie sie von ihm erzählt werden, wirklich vollbracht hat. Es steht fest, daß eine Reihe von Krankheiten, gerade solche Fälle, wie sie in den Evangelien geschildert werden, seelischer Art sind und auf eine Hemmung des Willensvermögens zurückgehen. Man kann solche Fälle nach Tausenden undTausenden zählen, wo der Arzt genau weiß, daß, wenn es einer Person gelänge, einen Einfluß auf den Willen des Kranken zu bekommen und die Fesseln, die ihn lähmen, zu sprengen, so würde er, derjetzt nicht sehen kann, sehen, derjetzt nicht gehen kann, gehen, derjetzt den Arm nicht heben kann, arbeiten. Ihr wißt, daß man, um zu heilen, die Menschen jetzt oft in den merkwürdigen, traumhaften Zustand versetzt, wo sie fremdem Willen unterworfen sind, indem man sie hypnotisiert. Auch sonst konstatieren wir viele Heilungen durch eine neue Gewißheit desWillens, die sich den Menschen aufdrängt. Wir Protestanten tun unrecht daran, die Heilungen, die an berühmten Wallfahrtsorten, zum Beispiel in Lourdes, geschehen sollen, immer als Erfindung hinstellen zu wollen. Daß dort Heilungen merkwürdigster Art geschehen, ist wohl sicher, obwohl ja vieles übertrieben wird und viele Kranke ungeheilt und geistig noch mehr zerrüttet zurückkehren. Diejenigen, die geheilt werden, genesen eben dadurch, daß sie so gewiß sind, dort Rettung zu finden, daß sie in einem Augenblick höchster Erregung ihre ganze Willens- und Lebenskraft wiederfinden, vielleicht nur vorübergehend, aber dennoch wiederfinden. Darum gibt es heute wohl kaum einen Arzt, der die Heilungen Jesu bestritte. Ihr dürft damit also ganz getrost die immer wiederkehrende geistlose Behauptung widerlegen, die Heilungswunder Jesu wären von denJüngern erfunden. Jesus heilte durch die Kraft, die von seinem reinen, hoheitsvollen Geiste auf die armen, gequälten Menschengeister,

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die ihm nahekamen, ausging. Alles ist geistig und seelisch vermittelt. Ihr erinnert euch, daß ich euch schon mehrmals sagte, daß das große Geheimnis da überall beginnt, wo die geistige und die leibliche Welt, die unsichtbare und die sichtbare, aneinanderstoßen, wo Leibliches durch Geistiges und Geistiges durch Leibliches bedingt ist. Damit stimmt, daß Jesus nur da wirken kann, wo Menschen ihm ihr Gemüt öffnen und glauben, daß er ihnen helfen kann. Wo dies nicht der Fall war, hatte seine Macht ein Ende. So zum Beispiel in Nazareth. Im sechsten Kapitel des Evangeliums St. Markus wird ausdrücklich berichtet, daß er in seiner Vaterstadt keine Tat tun konnte außer an einigen Siechen, und zwar weil er dort nur der Zimmermannssohn war und niemand an ihn glaubte [Mk. 6,1–6]. Auch darf man ruhig zugestehen, daß auch Rückfälle vorgekommen sein mögen, wie bei allen derartigen Heilungen. Im zwölften Kapitel des Evangeliums Matthäus steht ein dunkles Wort Jesu, worin er sagt, daß der böse Geist, der aus einem Menschen gefahren ist, durch dürre Gegenden wandelt, nachher sieben andere Geister, die schlimmer sind als er selbst, zu sich nimmt und mit ihnen in den Menschen zurückkehrt, mit dem es nun ärger ist als zuvor [Mt. 12,43–45]. Dieses Wort ist nur verständlich, wenn man annimmt, daßJesus damit auf die Art, wie sie es verstehen können, erklären will, wieso es vorkommen kann, daß ein von ihm geheilter geisteskranker Mensch wieder einen Rückfall in

sein Leiden bekommt. Nun werdet ihr dann oft den Einwand hören: Wenn Jesu Heilungen so erklärlich sind und derartiges auch sonst noch vorkommt, so sind es ja keine Wunder mehr, das heißt keine Dinge, die nur er verrichten konnte. Der Herr Jesus nimmt dieses auch gar nicht für sich allein in Anspruch. Als er seine Jünger aussendet, trägt er ihnen auf, sie sollten, wo sie Kranke und Irrsinnige träfen, sie zu heilen versuchen, und als sie zurückkommen und ihm melden, es sei ihnen dies auch gelungen, freut er sich mit ihnen [Lk. 9,1– 5.10]. Und dann lesen wir ja auch vom Apostel Paulus, daß er Heilungen vollbracht hat [Act. 14,8– 10]. Nun aber die Naturwunder. Es sind ihrer wenige; sie bereiten aberjedem Christen große Mühe, weil man nicht weiß, wie sie geschahen, und nicht, warum sie geschahen, und sind für solche, die etwas gegen die Religion vorbringen wollen, eine willkommene Waffe des Spottes. Einen Sinn hätte noch dieVermehrung desBrotes, um hungernde Menschen zu speisen, oder die Stillung des Sturmes, um sich und dieJünger zu retten. Aber was soll es bedeuten, daß er auf demWasser einhergeht, einen Baum durch sein Wort zur Unfruchtbarkeit verdammt, Wasser in Wein verwandelt? Ich glaube nicht, daß dem Christentum ein Dienst geleistet wird, wenn wir diese Wunder nun um jeden Preis den Menschen gegenüber,

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die sie bezweifeln, verteidigen wollen, da esja unter uns selber gar viele gibt, die sich nicht damit abfinden können. Wo ihr Christen findet, die an diesen Wundern festhalten als an etwas, woran man nicht rütteln soll, da laßt die Überzeugung bestehen und gebt kein Ärgernis, andererseits aber bürdet euch und den andern keine schwere Bürde auf mit diesen Wundern, sondern laßt sie ruhig dahingestellt. Es ist ganz gut möglich, daß sie auf Mißverständnissen von Geschehnissen oder Reden Jesu beruhen. So hat man bemerkt, daß die Erzählung vom verdorrten Feigenbaum ursprünglich wohl ein Gleichnis Jesu war, das dann im Verlaufe der Überlieferung so dargestellt wurde, als hätte es sich ereignet. Bei der Erzählung von der Brotvermehrung kann man daran denken, daßJesus mit demVolke dort eine Art Abendmahl hielt, bei dem es nicht auf Sättigung, sondern nur darauf ankam, daß jeder ein Stückchen von ihm gesegneter Speise erhielt, wo also ganz gut einige Laib Brotes für die ganze Menge ausreichten, so daß also richtig wäre, daß er Brot unter viele Menschen austeilen ließ, nur nicht, daß er dabei das Brot selber sich auf wunderbare Weise vermehren ließ. Bei den Totenerweckungen hat man daran gedacht, daß Jesus wohl solche, die in totenähnlicher Erstarrung für tot gehalten wurden, als man schon daran dachte, sie zu begraben, wieder ins Leben zurückrief. Daß solche Fälle vorkommen, wißt ihr. Erst dieser Tage ging ein Bericht durch alle Zeitungen, daß eine Frau, der man den Totenschein ausgestellt hatte, und bei der dasBegräbnis eben vor sich gehen sollte, nur dadurch vom Lebendigbegrabenwerden errettet wurde, daß ihr Mann, ehe der Sarg geschlossen wurde, sich über sie beugte und dabei gewahr wurde, daß ihr Körper wieder eine geringe Spur vonWärme zeigte. Wie viele Menschen mögen im Morgenland, wo man kaum einige Stunden nach dem Verscheiden zu begraben pflegte, weil man die Verwesung befürchtete, im Zustande totenähnlicher Starre begraben worden sein! so daß es gar nicht undenkbar ist, daß Jesus, den man noch rief, ein- oder zweimal rettend eingreifen konnte. Die Art, wie die Evangelisten die Erweckung desTöchterchens des Jairus schildern, läßt es für mich ganz sicher erscheinen, daß es sich hier um einen solchen Fall von Totenstarre handelt. Bei Matthäus, im 9. Kapitel, wird erzählt, daßJesus, als er kam, gleich sagte: Das Mägdlein ist nicht tot, sondern es schläft, und darob verlacht wurde. Hierauf ließ er die Leute hinaustreiben, ergriff das Kind bei der Hand, richtete es auf – und das Leben kam wieder. Ganz natürlich verkündete nun eine Zeit, die den Unterschied zwischen Tod und totenähnlicher Erstarrung nicht kannte, er habe die Macht, Tote aufzuwecken [Mt. 9,18 f. 23–26]. So können wir in manchen Fällen wohl mit ziemlicher Sicherheit ausmachen, was solchen Wunderberichten ursprünglich wohl an Tatsachen zugrunde lag; aber nicht in allen. Das ist aber nicht unsere

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Schuld, sondern die der beiden ersten Generationen von Christen. Diese glaubten, Jesus durch Wunder eine besondere Ehre zu erweisen, und nahmen nun ungeprüft hin alles, was man an Wundern über ihn erzählte, und ließen es geschehen, daß man zu den bekannten und tatsächlichen Heilungen noch hinzutat, um sie recht wunderbar zu machen. So zum Beispiel berichtet das älteste Evangelium, Markus, daßJesus, als er vonJericho auszog, um nach Jerusalem zu ziehen, einen Blinden geheilt habe [Mk. 10,46–52]; in derselben Erzählung lesen wir beim Evangelisten Matthäus schon, daß es deren zwei gewesen sind [Mt. 20,29– 34]. Die Erzählung von der Heilung zweier Besessener im Lande der Gadarener, dasjenseits des Sees von Genezareth lag, besitzen wir nur mit dem Zusatz, daß die bösen Geister sich auf das Geheiß Jesu in eine Sauherde stürzten, worauf diese den Bergabhang herunterjagte und sich im Meer ertränkte [Mt. 8,28– 34]. Auch bemerkt ihr, daß die Erzählung von der Vermehrung des Brotes zweimal in den Evangelien steht, einmal als wäre sie für 4000, das andere Mal für 5000 Menschen geschehen, wo es sich doch beide Male nur um ein- und dasselbe Ereignis handelt. Solche Angst hatten die ersten Christen, sie könnten ein Wunder auslassen, daß sie dasselbe lieber zweimal ins Evangelium aufnahmen. So ist es doch sehr wahrscheinlich, daß man durch Wundersucht, aus Mißverständnis gewisse Vorkommnisse im Leben Jesu als Wunder uns überliefert hat, die es ursprünglich nicht waren, und sie beim Abschreiben der Evangelien den Berichten der ersten Zeugen einfügte, als hätten sie diese vergessen, und dasin ganz gutem Glauben. Ihr bemerkt, wie das älteste und uns in kürzester Fassung überlieferte Evangelium des Markus vonWundern gar nüchtern und sparsam berichtet. Ihr werdet also immer ruhig sagen können, daß die Heilungen, die von Jesus berichtet werden, wohl in der Hauptsache so verlaufen sind und keine Rätsel bieten, da es sich hier um ein Wirken seines Geistes auf den Geist kranker Menschen und damit auf ihren Willen und Körper handelt; die wenigen berichteten Naturwunder sind, wenn man sie als Tatsachen nimmt, unverständlich und beruhen wohl alle auf Mißverständnissen in der Überlieferung, die in dem Wunderglauben und Wunderbedürfnis jener Zeit befangen, das, was von Jesus berichtet wurde, nicht so prüfte und sichtete, wie wir mehr nüchterne und verstandesmäßige Menschen es tun würden. Das alles nur, damit ihr imstande seid, ohne große Gelehrsamkeit als Bibelkenner über die Wunder im Neuen Testament Rechenschaft zu geben. Über die weitere Frage, was nun das Wunder mit der Religion zu tun hat, möge Jesus selber uns belehren. Er sieht es als ein Geschenk Gottes an, daß es ihm verliehen ist, Kranke zu heilen, und ist der Ansicht, daß es damit den Menschen, die solches sehen, leichtgemacht ist,

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zu glauben, daß seine Predigt von Gott sei. Darum ist er so tief erzürnt über Chorazin und Bethsaida, weil sie trotzdem sich nicht bekehren, und spricht das harte Wort, daß, wenn zu Sodom, Tyrus und Sidon solche Taten geschehen wären, sie in Sack und Asche Buße getan hätten. DasWort steht im 11. Kapitel bei St. Matthäus [Mt. 11,20–24]. Andererseits aber hat er wiederum Angst vor der Wundersucht der Leute und weist sie zweimal hart zurecht, wo sie ihn um ein Wunder bitten, und will ihnen nicht zu Willen sein. Seine Religion soll nicht auf Glauben anWunder gestellt sein. Auch muß er erfahren, daß Wunder mißdeutet werden können. Aus seiner Macht über irrsinnige Menschen schließen die Pharisäer, er stehe mit dem obersten der Teufel im Bunde, mit Beelzebub [Mt. 12,24]; sie breiten dasaus, und sicherlich haben sich viele Menschen jener abergläubischen Zeit deswegen vonJesus

zurückgehalten. Zieht man nun das Ergebnis aus dem Leben Jesu, so wird man noch weniger in Versuchung kommen, die Religion auf dasWunder zu stellen. Er hat vor den Augen der Menge eine Reihe der unbegreiflichsten Heilungen vollbracht. Gläubig sind sie dadurch nicht geworden. Sie haben ihn verworfen. Er aber hat sich bei seiner Verteidigung vor dem hohen Rat mit keinem Worte auf seine Wunder berufen. Das bedeutet für uns, daß wir auch unserm Geschlechte gegenüber, wir mögen persönlich zu den Wundern stehen, wie wir wollen, uns nicht darauf berufen wollen, als könnten wir sie so zum Glauben an ihn bringen, sondern wir sehen davon ab, wie er es auch getan hat. Und dies um so mehr, als, wie ein alter Pfarrer einmal sehr schön bemerkte, Wunder nur auf Augenzeugen berechnet sind. Ein weitererzähltes oder schriftlich überliefertes Wunder hat nicht mehr dieselbe überzeugende Kraft, denn nun muß man nicht nur dem Wunder selber, sondern auch dem, der es berichtet, Glauben schenken. So ist eure Stellung in dieser Frage klar. Denjenigen unserer Mitchristen gegenüber, die auf Wunder Wert legen, seid freundlich und duldsam, dann antwortet als solche, die eine andere Überzeugung zu respektieren verstehen. Wo aber geistlos über Wunder geredet wird und deswegen über Religion gespottet wird, sagt ruhig, wie ihr darüber denkt, damit die Leute sehen, wie unrecht sie dem Christentum tun, wenn sie meinen, man könne es hier an einer verwundbaren Stelle tref-

fen. Für uns selber wollen wir nichts mehr, als daß man uns unsere Überzeugung beläßt und die Religion nicht mit der Frage nach demWunder unzertrennlich verquickt. In diesem Punkte dürfen wir nicht nachgeben, besonders jetzt, wo wir an der katholischen Kirche sehen, wohin es kommt, wenn eine Kirche sich von der Wundersucht der Menge ins Schlepptau nehmen läßt und nun von einem ins andere getrieben wird. Ich bin erschrocken, wie ich dieser Tage las, daß ein Erzbischof eine Ver-

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ordnung erlassen hat, ein wachsames Auge auf alle Untersuchungen katholischer Professoren zu haben, die es mit der Herkunft der Reliquien zu tun haben – aus Angst, dasVolk könnte beunruhigt werden, wenn man die Herkunft dieses Tandes aufdeckt. Aber wir meinen, noch gar nichts getan zu haben, wenn wir darauf hinwirken, daß die Leute über die Frage der Wunder Jesu zur Klarheit kommen, wenn auch dasschon etwas ist, daß sie dann mit Spotten aufhören und manche Vorurteile gegen die Religion fahrenlassen. Hier fängt die eigentliche Arbeit erst an. Ein Bedürfnis nach dem Wunderbaren in der Religion liegt unausrottbar in der Brust jedes Menschen. Er will in der Religion etwas sehen, das von dem gewöhnlichen Weltverlauf verschieden ist und das ihm eine andere Welt nahebringt. Die ganze Wundersucht der Menge, die zujeder Zeit für den Glauben so verhängnisvoll wurde, ist nichts als dieses auf das Äußere und Sichtbare irregeleitete Bedürfnis nach etwas Außergewöhnlichem, in dem sich die Kraft des Glaubens und der Jüngerschaft Jesu zeigt. Wenn wir ihnen dieses geistige Wunder zu geben vermöchten, würde die Frage nach dem andern Wunder gar nicht mehr existieren. Das geistige Wunder sollten wir sein. Es müßte etwas innerliche Kraft von uns ausgehen; sie müßten sehen, daß wir durch die Religion andere Menschen sind, als wir sonst wären; etwas von Reinheit, Milde, innerer Ruhe, Erhabensein über Eitelkeit, Ehrgeiz undwassonst den Menschen niederzieht und klein macht, müßte ihnen an uns offenbar werden, etwas von dem großen Wunder, das in dem Spruche des St. Paulus «Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur» [II Kor. 5,17] liegt, müßte ihnen an uns aufgehen und sie mit einer Sehnsucht erfüllen, auch in derselben Welt zu atmen, aus der uns solche Lebenskraft zukommt. Das ist dasWunder, auf das sie warten, das wir ihnen geben sollten, das wir einander geben sollten, und von dem so wenig in derWelt zu finden ist. Das ist die große Wunderfrage, die wahre Wunderfrage, von der die andere nur ein kleines Stückchen ist. Und wenn wir sie zusammen vor uns erstehen lassen, so werden wir demütig und bescheiden als die, welche wissen, daß sie nicht genug Salz der Erde und Licht derWelt sind [Mt. 5,13– 16], und zugleich gefaßt und ernst als die, welche an sich arbeiten wollen, daß die Menschen mehr von dem einzigen, großen Wunder, der innerlichen Erneuerung durch den Geist Jesu, an ihnen erleben und zuJesus geführt werden.

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Morgenpredigt Himmelfahrtsfest, 28. Mai 1908, St. Nicolai

Act. 1,12: Da wandten sie sich um genJerusalem von dem Berge

Wir wollen uns heute nicht mit dem Ereignis, das diesem Festtage zugrunde liegt und durch den Namen angegeben wird, beschäftigen. Auch wollen wir nicht versuchen, uns miteinander klar zu werden, wie wir uns dieses Ereignis vorstellen, ob wir annehmen, daßJesus leibhaftig von der Erde zum Himmel entschwebt sei, oder ob wir dies mehr als das äußerliche Bild eines geistigen Erlebnisses derJünger deuten, sondern wir wollen unsere Andacht darauf richten, welche Gedanken dieserTag in denJüngern wachrief und die zugleich in unswiderhallen. Man mag sich das Ereignis vorstellen wie man will: Zuletzt besteht es doch darin, daß den Jüngern klar wird, sie seien allein, endgültig

allein. So sind sie vom Ölberg zurückgekehrt, wie man von einem Friedhof heimkommt und nun weiß, daß etwas fertig ist und nie wiederkehrt. Wir können es ihnen nachfühlen, denn wir alle sind schon mit solchen Gedanken einmal zur Stadt zurückgekehrt von dem letzten Geleite, das wir einem Menschen gegeben. Wir sahen die Menschen ihrer Hantierung nachgehen, das nüchterne Getriebe umbrauste uns wieder, und in uns kehrte immer wieder der Gedanke wieder: nun leben, ohne diesen Menschen. So hieß es für die Galiläer, die dort durch dasTor zuJerusalem eingingen und auf denen der gleichgültige Blick der Wache ruhte: nun leben ohne ihn. Und ihr wißt, daß es dann oft nicht nurTraurigkeit ist, die uns gefangenhält, sondern daß diese durch einen andern Gedanken fast verdrängt wird, durch den Gedanken: Er muß ersetzt werden, ich muß mithelfen, ihn zu ersetzen. Da ist die Witwe mit ihren Kindern. Bisher hatte sie eine Stütze. Wenn sie Rat brauchte, fand sie ihn; sie hatte keine eigenen Entschlüsse mehr. Nun ist sie allein und darf sich nicht dem Schmerz hingeben, sondern es heißt: den Kindern nicht nur Mutter sein, sondern zugleich denVater ersetzen. Da ist derjunge Mensch, der denVater begraben hat; aber nicht nur den Vater, sondern den Chef des großen Geschäftes, den Herrn der Fabrik, und nun heißt es, diesen ersetzen und die Entschlüsse, die er gefaßt, fassen und dieVerantwortung, die er getragen, übernehmen. Und diese Rückkehr ist dann ein Erlebnis, wo ein Mensch etwas anderes wird als er war; aus der schwachen Frau wird ein starkes, entschlossenes Weib. Der junge Mann, der vorher daran dachte, wie er seinen Besitz genösse, und der seinen Vater gar manchmal darum angeschaut, daß er sich so wenig Erholung gönnte und nur die Arbeit

Da wandten sie sich um

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kannte, dem erscheint es jetzt selbstverständlich, daß er nun dasselbe Dasein auf sich nimmt.|21¡ So ergeht es den Jüngern. Sie werden durch die Trennung von Jesus etwas, was sie vorher nicht waren. Solang er bei ihnen war, waren sie unentschlossene Menschen, die seinen Gedanken und Wegen nicht zu folgen vermochten. Bei seiner Gefangennahme fliehen sie; nach seinem Tode verstecken sie sich. Aber jetzt, in dem Augenblick, wo ihnen zu Bewußtsein kommt, daß sie ganz allein sind und was sie nun müssen, werden sie andere Menschen. Die Scheu und Angst ist von ihnen abgefallen; sie kennen keine Menschenfurcht mehr, die Horizonte werden weit, aus den einfachen Fischern werden Männer, die den Kampf mit derWelt aufnehmen und vor Fürsten und Hohenpriestern auftreten, um die Sache des Herrn weiterzuführen, innerlich stolz, daß es ihnen vielleicht zufallen wird, imTode Zeugnis zu geben für ihn. Leider geht bei vielen Menschen der Augenblick, wo sie etwas anderes werden, als sie waren, durch den Ersatz, den sie mit müssen leisten für einen, der von der Erde genommen ist, verloren, weil sie zu gedankenlos sind, um zu verstehen, was nun vorgeht. So können auch wir vergessen, daß wir mithelfen müssen, den Herrn Jesus, der nicht mehr auf der Erde weilt, zu ersetzen. Darum gemahne uns dieses Fest daran. Ihn ersetzen. Zunächst empfinden wir zwar, wie unmöglich das ist. Wie schwer ist es schon, einen gewöhnlichen Menschen, der Gutes wirkte, zu ersetzen. Wie viele Persönlichkeiten sind im letzten Jahrzehnt aus unserer Stadt geschwunden, die rein äußerlich schon für die Wohltätigkeitsanstalten, für Taubstumme, Kranke, Sieche, für dasWerk des Neuhofes|22¡, eine solche Leere lassen, daß diejenigen, welchen die Sorge umjene Unternehmen obliegt, seufzend fragen, wie sie sie wohl ersetzen werden. Wie können wir daran denken, den einzigartigen Jesus, unsern Herrn, zu ersetzen! Und doch fühlen wir andererseits wiederum, daß dies unsere Aufgabe ist. Wir sangen: «Jesus Christus herrscht als König, alles wird ihm untertänig»|23¡... und wie gern möchte der Prediger diesen Gedanken fortsetzen und die Seinen und sich erbauen durch den Preis der Herrschaft Jesu. Aber wir dürfen es nicht. Wenn wir die Augen auftun, sehen wir, wie viel zu einer vollkommenen Herrschaft Jesu noch fehlt und wie gefährdet sie ist, da große Massen, die den Christennamen tragen, sich innerlich von ihm entfernen und in dem Werk der Mission solche Stockungen eintreten, daß man sich fragt, ob es zum Ziele gelangen 21 [Gestrichen:] Es muss ein Mensch tief in Gedankenlosigkeit versunken sein, wenn ihn dieses «Du mußt mithelfen, den zu ersetzen!» nicht aufrüttelt zur Stunde, wo es an

ihn herantritt. 22 [Der Neuhof war ein bekanntes Waisenhaus in Straßburg.] 23 [Philipp Friedrich Hiller: Jesus Christus herrscht als König, Str. 1.]

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wird. Darum heißt für uns dieses Fest, daß wir als die Ersatzleute Jesu auf derWelt für seine Herrschaft kämpfen wollen. Das heißt zunächst, die Zuversicht behalten, daß sich dieWelt zuletzt dennoch unserm Herrn beugen wird. Diese Zuversicht ist fast eine Sache des Glaubens gegen und wider das, was man sieht; denn was wir sehen, ist fast nur entmutigend. Aber dann hat dieser Gedanke, daß wir hier da sind, um dasWerk Jesu fortzuführen, gerade in einer schweren Zeit, etwas, das uns wieder mit einer so inneren Genugtuung, ich möchte sagen, mit einer so ernsten Lebenslust erfüllt, daß wir es fast als eine Gnade erfassen, in einer solchen Zeit leben zu dürfen, wojeder einzelne etwas bedeutet, eine Kraft, von der etwas abhängt. Zuletzt fühlen wir doch alle, daß dies die letzte Aufgabe unseres Lebens ist, welches auch sonst unser Weg sei, daß wir etwas ausrichten von dem, was im Namen Jesu getan werden muß, und der Welt und den Menschen etwas von dem geben, waswir ihr im Auftrag Jesu schuldig sind. Was es ist, brauche ich hier nicht darzulegen. Es heißt, den Herrn der Liebe, der Hilfe und den Herrn, der unter Menschen Versöhnung stiftet, zu ersetzen. Wenn man einmal dies begriffen hat, so kann es sein, daß dadurch das Leben des einen auf eine ganz bestimmte Bahn gelenkt wird, wo solche Menschen, die tun wollen, was in Jesu Namen getan werden muß, besonders nötig sind, oder daß er im Berufe und der Hantierung, die ihm dasLeben sonst vorzeigt, bleibt und hier nun Gelegenheit findet, die Liebe und Hilfe undVersöhnung des Herrn auf derWelt zu vergegenwärtigen. Da ist kein Unterschied. Es ist kein Beruf so bescheiden, daß ein Mensch nicht siebenmal und siebzigmal siebenmal [Mt. 18,21 f.] an einem Tag Gelegenheit findet, etwas zu tun, was er um Jesu willen tut, oder etwas so zu tun, wie es im Geiste Jesu getan werden muß; wenn wir nur alle ein klares Bewußtsein davon haben, was wir wollen, daß wir unscheinbare Mitarbeiter an der Herrschaft Jesu sein wollen. Aber darüber müssen wir uns auch alle klar sein, daß, was wir tun, zuletzt nichts vermag, wenn nicht etwas vom Geiste Jesu unser persönliches Leben bestimmt. Wir erleben so oft an andern und an uns, daß das Gute, das wir tun, und so vieles, was wir in edelster Absicht erstreben, nichts vermag, weil in unserm Wesen selbst nicht die Läuterung erreicht ist, die uns erst befähigt, Menschen zu sein, die können helfen, Jesus in dieser Welt zu ersetzen. Es gehört dazu eine Reinheit des Gemüts und eine innere Unabhängigkeit und Schlichtheit des Willens, ein Überwundenhaben so vieler Gedanken und Erwägungen, die uns im schlechten Sinne weltlich machen, das heißt etwas, das nur ein Mensch erreicht, der fort und fort über sich wacht, mit sich selber wahr und streng ist und immer Reinheit und Lauterkeit des Gemüts vor Augen hat als das, was wir erreichen müssen, wenn wir überhaupt in derWelt etwas wirken wollen.

Lasset

uns Gutes tun

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Das sind die Gedanken, die wir zusammen an Himmelfahrt denken, und nicht wir allein, sondern viele mit uns, die die Zeichen der Zeit verstehen. Und wenn es auch keine triumphierenden Gefühle sind, wie man sie in früherer Zeit mit diesem Feste verband, wo man gewissermaßen die Erde in den Himmel hineinragen sah, so sind es dennoch rechte Festgedanken, wenn wir es recht tief miteinander bedenken, wie Jesu Herrschaft auf der Welt durch uns vorwärtsgebracht werden kann.

Morgenpredigt Sonntag Trinitatis, 14.Juni 1908,¦24¿ St. Nicolai Innere Mission

Gal. 6,9: Lasset unsGutes tun und nicht müde werden

Das Fest der inneren Mission, das wir heute am Dreifaltigkeitstage in unserm Lande feiern, ist ein junges Fest. Es besteht erst wenige Jahre. Uns allen ist wohl das Fest und die Sache lieber als der Name; denn dieser – der Ausdruck «innere Mission» – könnte den Eindruck erwecken, als ob es sich bei den Liebeswerken, deren wir heute gedenken, in erster Linie darum handelte, die Leute zum Christentum zurückzuführen, während es doch, wenn wir im Sinne Jesu denken, nur darauf ankommt, daß das, was getan werden muß, absichtslos und freudig getan wird. So bedeutet für uns das Fest der inneren Mission das Fest der Tat, das auf das Fest des Geistes folgt und uns Menschen von heutzutage predigt, daß der Geist sich in unserer Zeit durch dieTat erweisen

muß. Damit ist auch schon gesagt, daß der erste Teil unseres Textes «Lasset uns Gutes tun» unter das Selbstverständliche fällt und nicht weiter auszuführen ist. Es steht uns allen fest, daß dieWerke an Kranken, Armen, Gefangenen, Verlassenen, Verwahrlosten, Siechen und Greisen, die unsere Religion gestiftet hat, von uns unterhalten und weitergeführt werden müssen und daß dazu dein Geld, deine Zeit, deine Person erforderlich ist. Wie steht’s aber mit dem «Müdewerden»? In dem Sätzchen «und nicht müde werden» liegt eine Erfahrung und eine Anstrengung, die ein Stück unseres Lebens ausmacht, der Kampf um die eigene Herzensgüte. 24 [Am 12. Juni schreibt Albert Schweitzer an Helene Bresslau:] «Die Predigt habe ich schon fast ganz geschrieben. Das ist eine große Erleichterung für mich. [Am nächsten Tag schreibt er ihr:] Ich mache mich jetzt sofort an meine Predigt, wo ich noch den Schluß schreiben muß. Wie tut das gut, langsam an einer Predigt schreiben zu können.» [Und am Sonntag abend schickt er ihr die Predigt mit denWorten:] «Sie ist gewachsen und groß geworden in der Ruhe der Ferien.» [Zentralarchiv Günsbach.]

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Jeder, der an derWohltätigkeit mitwirken will, macht eine Art Krise durch. Er ist stolz und froh, helfen zu können; das ganze Leben erscheint ihm wertvoller und schöner; und dann kommt eine Enttäuschung, eine andere, eine dritte. Er schaut in einen Abgrund von Undankbarkeit, Trug, Heuchelei; vor ihm tut sich eine Verworfenheit auf, an die er erst nicht glauben kann. Will man einen Menschen verbittern und ihmjede Illusion rauben, so braucht man ihn nur in der Liebestätigkeit zu beschäftigen. Die meisten Menschen überstehen diese erste Krise nicht. Sie sind enttäuscht und bilden dann jene Armee von gutmütig indifferenten Menschen, denen man bei Gelegenheit mit ein wenig Geschick, und wenn man den rechten Augenblick trifft, noch etwas für irgendein gutes Werk abgewinnen kann, die aber sonst über ihre vier Mauern nicht hinaussehen und sich keiner Verpflichtung und Verantwortung denen gegenüber bewußt sind, die in Not sind. Sie rechtfertigen sich vor sich selber, indem sie sagen, daß Geld und Zeit doch gewöhnlich vergeudet sind. Wenn ein Zug der Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit durch unsere Zeit geht, so ist es nicht, weil es keine guten Menschen mehr gibt, sondern weil sie müd geworden sind ... müd gleich beim ersten Mal. Bei denen, die weiter ausharren, wirkt diese immer wiederholte Erfahrung vom Mißbrauch der Güte eine Art Skepsis. Sie wollen noch wirken und tun es mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kräfte, aber ihr ganzesWesen ist mit Mißtrauen gepanzert. Das könnt ihr an allen in Liebe tätigen Menschen bemerken. Ich weiß, daß ich mich von manchen von ihnen alsjunger Vikar geradezu abgestoßen fühlte, weil sie mir so ohne Begeisterung schienen und ihre Hauptaufgabe darin zu sehen schienen, die Begeisterung bei andern zu dämpfen. Erst später habe ich gesehen, daß sie, weil sie ganz in dieser Tätigkeit standen, notwendig zu dieser äußerlich nüchternen Auffassung der Dinge kommen mußten, und daß sie den Enthusiasmus verborgen im Herzen trugen. Wie steht’s mit euch, die ihr euren Beruf habt und nur im Nebenamte in derWohltätigkeit mitwirken könnt? Ich vermute, daß eure Gedanken zwiespältig sind. Auf der einen Seite habt ihr so manche Erfahrung gesammelt, die euch sagen läßt, daß der einzelne heute nichts tun könne, da er fast immer derAusbeutung verfällt, und unser Wirken also hauptsächlich darin besteht, daß wir dieWerke mit unsern Mitteln unterstützen. Auf der andern Seite aber fühlt ihr doch, daß dieses passive Verhalten etwas Unnatürliches ist und daß dasWahre zuletzt dennoch darin besteht, selber mit Hand anzulegen. In dem ersten Gedanken liegt eine große Gefahr. Er verschleiert nur ein Müdegewordensein. Gewiß kann in der heutigen Zeit nur etwas durch organisierte Tätigkeit mit berufenen ausführenden Kräften ge-

Lasset uns Gutes

tun

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leistet werden. Aber wenn du dir nun sagst: Gut, die Berufenen wirken und ich gebe meine Beiträge, so wird’s recht sein, so bist du im Irrtum undbetrügst dich selbst, weil’s dir bequem ist. Ihr müßt nicht glauben, daß mit derArmenverwaltung und mit Werken für bestimmte Notfälle nun alles gegeben sei. Diese Organisationen arbeiten langsam und schwerfällig, weil sie mit fremdem Gelde wirtschaften und also kein Recht haben, auch nur einen Pfennig ins Ungewisse auszugeben. Da gibt’s nun Formalitäten zu erfüllen, Beschlüsse in Kommissionen zu fassen, und bis das erledigt ist, kann ein Mensch zehnmal zugrunde gehen. Das ist kein Tadel; es wird nur konstatiert, daß bei der organisierten Wohltätigkeit dasGeschäftsmäßige in den Vordergrund und dasHerz als unmittelbares Mitgefühl in den Hintergrund tritt, von dem ganz zu schweigen, daß ein Mensch, der nunTag für Tag in diesen Betrieben arbeitet, einer gewissen Abstumpfung verfällt und für den einzelnen auch gar keine Zeit hat. Mit diesem Büromäßigen kommt dann oft eine merkwürdige Engherzigkeit in der Geschäftsführung zur Herrschaft, wo das einfach Menschliche gar nicht mehr zur Geltung gelangt. Das alles nicht, um eine Kritik auszusprechen, sondern um uns die Illusionen zu nehmen, als ob wir sagen dürften: Der einzelne kann heute nichts tun; dafür sind die Verwaltungen und Gesellschaften da, die wir unterstützen. Was der Mensch in Not braucht, ist vor allem ein Mensch! Und da die Menschen im Wohltun sich durch die Erfahrungen, die sie machen, so schnell abnutzen, so können eben nicht genug Menschen sein, die in jener Arbeit stehen. Darum laßt euch nicht durch die Erwägung, die so zeitgemäß scheint, daß unsere Rolle heute hauptsächlich im Beiträgezahlen bestehe, täuschen, sondern wißt, daß man eure Person braucht, und wappnet euch, daß ihr nicht müde werdet. Wenn wir sogleich müde werden und durch Erfahrungen entmutigt werden, so ist das zumTeil unsere Schuld. Wir meinen, wir hätten ein Recht, wenn wir Geld und Zeit an irgendeinen Menschen oder an eine Familie gekehrt haben, wo es sich nachher herausstellt, daß es verschwendet war, nun enttäuscht zu sein und dieses persönliche Wohltun aufzugeben. Es muß so sein. Du mußt vielleicht viel vergebens und am unrechten Platz tun, damit du einmal zur Stelle bist, wo es nicht vergebens ist und wo nur die unmittelbare Sorge eines Menschen um einen andern das, wasgeschehen muß, tun kann. Wir werden ferner noch zu schnell müd, weil wir auf Dank zählen und Erfolg sehen wollen. Wer auf diesem Standpunkt steht, ist noch nicht reif zum wahren Wirken. Wenn wir unmutig werden wollen, müssen wir uns selber predigen, daß wir, waswir tun, tun, weil es getan werden muß, rein aus Pflicht, und daß, was daraus wird, nicht unsere

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Sache ist. Ihr müßt euch den Unmut aus dem Herzen herauspredigen durch Predigten, die man sich nur selber halten kann. Dann werdet ihr das wenige, was ihr an Dankbarkeit und an Erfolg seht, für groß und fast unverdient einschätzen. Ich predige euch den Kampf gegen den Unmut, weil ich den Eindruck habe, daß wir darin manchmal gegen die Bedürftigen hart und böse werden. Es gibt keinen, der sich mit Armen beschäftigt, der nicht auf eine Situation zurückblickte, wo er sich zum Schelten hinreißen ließ. Im Augenblick selbst glaubte er, in seinem Recht zu sein; aber nachher kam etwas wie Beschämung über ihn, daß er solche Worte gebraucht hatte, und wenn er sich hundertmal sagen kann, daß er hintergangen worden war. Ich habe diesen Schmerz mehrmals im Leben gefühlt, und es ist mir da klar geworden, daß wir nicht genug auf uns selbst achthaben. Es liegt etwas wie Selbstgerechtigkeit in der Art, wie wir manchmal mit den Leuten, die uns um etwas angehen, verfahren; wir denken nicht genug, wie wir in ihrer Lage wären, und wie wir denVersuchungen zur Unwahrhaftigkeit und Ausbeutung à tout prix gegenüber beständen, wenn wir moralisch verwahrlost aufgewachsen wären und stündlich den Kampf um die nackte Existenz führen müßten ... wir, die wir schon den kleinen Versuchungen zur Unwahrhaftigkeit und zur Erlangung von Vorteilen, die unser gesellschaftliches Leben und unsere gesicherte Existenz bieten, so leicht erliegen! Wenn wir so leicht müde werden im Abgeben mit Menschen, für die es keine Wahrheit und Dankbarkeit mehr gibt, so ist es, weil wir nicht innerlich demütig und mitleidig sind, um in Gedanken an das, was wir an ihrer Stelle wären, sie tragen zu können. Ich glaube, der Geist Jesu befiehlt uns, daß wir immer sanftmütig sind im Verkehr mit den Armen und Elenden, gerade dann, wenn der natürliche Mensch in uns sich im Recht glaubt, zu schelten. Wir dürfen nichts beitragen zur Verbitterung. Das ist die letzte Liebe, die wir Menschen, denen wir sonst nicht mehr helfen können, erzeigen können, daß wir von ihnen ablassen, ohne sie noch einmal in den Schmutz ihrer Unwürdigkeit herniederzudrücken. Vielleicht arbeitet dann der Geist der Sanftmut an ihnen eine Frucht, die wir nicht mehr schauen. Jeder möge bei sich lange gerade über diesen Gedanken nachdenken; wir werden dann nicht mehr so leicht müd. Nun gibt es noch eine Müdigkeit, eine Müdigkeit eigentümlicher Art, die Müdigkeit derWartenden. Wir haben unter uns Menschen, die frei und gewillt wären, gerade unter den Frauen, in irgendeine Arbeit einzutreten. Sie suchen nach einer Stelle, die sie ausfüllen könnten. Sie möchten Tat, nicht einem halben Dutzend Komitees angehören, obwohl ja auch das notwendig ist und man auch so viel nützen kann. Das Finden wird ihnen nicht leichtgemacht, zum Teil ist es der noch etwas

Wir richten geistliche Sachen geistlich

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engherzige religiöse Charakter, der manchen christlichen Liebeswerken anhaftet, wo dann Menschen mit weiterem und freierem Blick auf die Dauer unmöglich sind, zumTeil ist es dasPedantische, dasvielen Unternehmungen anhaftet, und anderes noch mehr. Manchmal ist man ganz ratlos, wenn man einem solchen Menschenkind begegnet, das da sagt: Man predigt, daß man etwas tun soll; ich will etwas tun; was soll ich tun, wo tut sich mir eineTüre auf? Und dann werden sie so müd; von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr werden sie hingehalten und fühlen sich innerlich verzehrt. Auch solchen Menschen sei es gesagt: Nicht müde werden. Es dauert oft lange, bis der Herr einen in seinen Dienst nimmt. Das drückt er ja selbst in seinen letzten Gleichnissen aus, wo es immer heißt: «und der Herr verzog». Ich meine, das Gleichnis von den zehn Jungfrauen, wo dasWartenkönnen gepredigt wird [Mt. 25,1– 13], ist gerade für so manche Frauen unserer Zeit geschrieben, daß man es ihnen mit Zuversicht predigen kann: Ausharren und sich im Warten bewähren; es gibt keinen, der ernsthaft sucht und zuletzt nicht findet und dann einsieht, daß alles so kommen mußte. Möge der Herr denWirkenden und denWartenden unter uns helfen, daß sie nicht müde werden, sondern daß der Geist einen innerlichen, unüberwindlichen Enthusiasmus in uns wirke und andere mithebe.¦25¿

Morgenpredigt Sonntag, 28. Juni 1908,¦26¿ St. Nicolai Über die Gottheit Jesu

I Kor. 2,13: Wir richten geistliche Sachen geistlich Die eben verlesenen Worte des Apostels sollen die Gesinnung angeben, mit der wir zusammen eine Frage bedenken wollen, die in unserer Zeit oft aufgeworfen wird und gewissermaßen zum Schibboleth¦27¿ erhoben wird: die Frage nach der Göttlichkeit Jesu. Ich habe schon öfters Gelegenheit gehabt, zu bemerken, daß man in manchen Kreisen die Pfarrer einteilt in solche, die an die Göttlichkeit Jesu glauben, und in solche, die es nicht tun. In unserm Nachbarlande hat diese Frage eine große Rolle gespielt nach derTrennung von Kirche 25 [R] Ecrit au rocher. [Gemeint ist der Kantzrain in Günsbach, wo heute das Denkmal Albert Schweitzers von Fritz Behn steht.] 26 [Schon am 21. Juni schreibt Albert Schweitzer im Zug an Helene Bresslau:] «Ich muß mich jetzt an die Skizze meiner Predigt über die Gottessohnschaft Jesu machen.» [Zentralarchiv Günsbach.]

27 [Nach Ri. 12,5 f. hat dieses hebräische Wort den Sinn von Erkennungszeichen, Losungswort.]

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und Staat. Als sich nämlich die Gemeinden unter sich zu gewissen Verbänden zusammenschließen sollten, war man vielseits der Ansicht, die Frage desBekenntnisses zur Göttlichkeit Jesu zur Bedingung der kirchlichen Gemeinschaft zu machen und so eine Scheidung in der Kirche herbeizuführen. Für meinen Teil empfinde ich jedesmal einen wirklichen Schrecken, wenn die Frage aufgeworfen wird, denn ich fühle mich nicht imstande, weder mit einfachem Ja noch Nein darauf zu antworten, da ich nicht weiß, was der andere sich eigentlich darunter vorstellt. Und wenn ich dann um Aufklärung bitte, fällt diese so verworren aus, daß ich erst recht nicht antworten kann. Schlagworte sind überall vom Übel, besonders in der Religion. Sie halten den Frieden und die Erkenntnis auf. Es gehört daher zur Erbauung, wenn wir uns miteinander klar zu werden suchen, was wir denn

eigentlich unter Gottheit oder Nichtgottheit Christi verstehen, und unsrerseits dann der Gedankenlosigkeit entgegenarbeiten können. Nicht schwer ist es, uns darüber zu einigen, was wir unter der Gottheit Jesu nicht verstehen. Wenn ich euch sage, daß sich griechische Kirchenväter die Gottheit Christi so vorstellten, daß sie annahmen, Jesus wäre nur zum Schein Mensch gewesen und hätte zum Schein getan, als bedürfte er der Nahrung, desSchlafes, als müßte er etwas von einem andern erfragen, als empfände er Müdigkeit und Schmerz, so ist kein einziger unter uns, der darüber auch nur einWort verlieren möchte. Und wenn ich euch weiter sage, daß dann andere Kirchenväter, besonders im Abendland, [sich die Göttlichkeit Jesu] so begreiflich zu machen suchten, daß sie streng schieden zwischen einer göttlichen und einer menschlichen Natur und also auch einem göttlichen und einem menschlichen Willen inJesus und dasnun bis ins einzelne ausführten, so sind wir wieder alle darin einig, daß wir das überhaupt nicht mehr begreifen, wenn es auch auf Konzilien beschlossen und in Glaubensbekenntnissen fixiert wurde. Verweilen wir noch einen Augenblick in der Vergangenheit. Diese Leute waren sich einig über die Göttlichkeit Christi, nur nicht über die Art, wie man sie sich vorzustellen habe. Was taten sie? Sie verdammten und verfolgten sich gegenseitig, vom 4. Jahrhundert an fünfhundert Jahre lang. Als die große mohammedanische Gefahr auftrat, kämpften sie weiter und ließen es geschehen, daß der Feind sich ihre Uneinigkeit zunutze machte und Kleinasien, Armenien, Palästina, Ägypten, Nordafrika eroberte und das Kreuz durch den Halbmond verdrängte. Wenn diese Länder bis auf den heutigen Tag dem Christentum verloren sind, so rührt das einzig daher, daß die Christen in jener Zeit, statt an die Sache Christi zu denken, sich über seine Gottheit stritten. Gibt dasuns nicht zu denken? Schaffen wir, daß wir nicht unter dasselbe Gericht fallen und über dem Streit über Lehren vergessen, wasvon uns für dasReich Gottes getan werden muß.

Wir richten

geistliche Sachen geistlich

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Für uns ist doch klar, daß das Göttliche in Jesus in nichts anderem als in dem Geist zusuchen ist, der in ihm wohnt. Die meisten unter uns fühlen auch wohl keine Notwendigkeit, sich die Art, wie unser Herr ins irdische Dasein getreten ist, anders vorzustellen als die, durch welche das

gewöhnliche Menschenkind dasLeben auf sich nimmt, sondern wir sind der Überzeugung, daß dasTeilhaben am göttlichen Geiste bei ihm nicht gebunden ist an eine besondere Art der Geburt, wie er auch niemals sich darauf berufen hat undauch derApostel Paulus nie darauf anspielt. Auch wagen wir es, indem wir uns die Göttlichkeit Jesu vorzustellen suchen, uns zugleich daran zu erinnern, daß auf Grund seiner Lehre alle Menschen irgendwie Gotteskinder sind, wenn es keine leere Formel ist, daß er uns beten heißt: «Vater unser, der du bist in dem Himmel» [Mt. 6,9] und daß er die Menschen seine Brüder nennt und als seine Brüder betrachtet wissen will, wie er es tut, wenn er sagt: «Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen geringsten meiner Brüder, das habt ihr mir getan» [Mt. 25,40]. Das will heißen, daß auch in uns ein Funken göttlichen Geistes wohnt, der unser Wesen als Gotteskinder ausmacht. Darum ist in den Augen Jesu jedes einzelne Menschenleben so kostbar und darf keins in Sünden untergehen oder von den Menschen zertreten werden, weil etwas vom Geist Gottes darin webt und lebt. Darüber kann keine Verschiedenheit der Ansicht unter uns herrschen, denn das ist klare Lehre Jesu. Nur dashat er nicht gesagt, inwiefern undwodurch sich seine Gottessohnschaft aus der allgemeinen, menschlichen Gotteskinderschaft heraushebt. Um diese Frage allein kann es sich handeln, wenn unter uns über die Göttlichkeit Jesu verhandelt wird. Nun könnte ich auch die Lehre des Paulus anführen, der in schöner Weise dartut, wie Jesus als der Erstling des Geistes zu denken ist [I Kor. 15,20.23]. Ich meine aber, es ist besser, wenn wir, statt von irgendwo einen Gedanken zu entnehmen, die Erkenntnis aus unsern eigenen Seelen aufsteigen lassen, denn wenn wir wirklich glauben, den Geist zu besitzen, so glauben wir auch, daß er uns immerfort dieWahrheit offenbart. Wodurch ist Jesus in besonderer Weise göttlich? Dadurch, daß er an dem göttlichen Geist in einer mit der unsrigen unvergleichlichen Weise teilhat. Wie äußert sich das? Man hat wollen annehmen, in einer Art von Allmacht, die in seinen Wundern zutage tritt. Das ist jedenfalls nicht sein Gedanke, denn er hat aus den wunderbaren Heilungen, die er verrichtete und die das Gesicherte, wohl das einzig Gesicherte sind an dem, was von seinen Wundertaten überliefert wird, kein großes Wesen gemacht und sich, als ihn der Hohepriester fragte: «Bist du Gottes Sohn?» [Mt. 26,63], darauf in keiner Weise berufen.

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Das Besondere in seiner Gotteskindschaft kann auch nicht in einer Art von Allwissenheit bestehen, die man ihm beilegen wollte. Wer sein

Evangelium genau liest, wird bemerken, daßJesus sich mehrmals geirrt hat in seinem Leben. Er hat Judas zumJünger genommen und damals nicht vorausgewußt, daß er einen Verräter an sich zog. Er hat mit seinen Zeitgenossen angenommen, daß dasEnde derWelt unddasletzte Gericht bald eintreffen würden, und wir wissen, es ist nicht geschehen. Ich weiß nicht, warum wir dasnicht ruhig eingestehen sollen. Diejenigen, welche an diesen klaren Worten wollen deuteln, bis sie besagen, daß Jesus sich niemals geirrt habe, leisten der Religion keinen Dienst. Denn es muß doch auchvon denEvangelien gelten, daßdasJaja unddasNein nein ist. Aber in dem allem steckt eine gewisse Angst mancher Christen, als bestände Gefahr, daß manJesus nur als den ersten und heiligsten unter den Menschen, aber doch nur als einen Menschen einschätze. Ich glaube aber, daß diese Angst keinen Sinn hat. Woran krankt unsere Zeit? An der Gleichgültigkeit gegen die Religion. Man kann sagen, daß für 90 % unserer Mitbürger, die den Christennamen tragen, Jesus überhaupt nicht existiert. Der armseligste, moderne Gedankengaukler interessiert sie mehr alsJesus. Wäre nicht schon viel erreicht, wenn die Menschen aus diesem Zustande der Gleichgültigkeit gegen Jesus herausträten und er für sie nur wieder irgend etwas würde, ein Gegenstand der Ehrfurcht, der edelste Mensch, der größte Lehrer derJugend, unser Beispiel; nennt es, wie ihr es wollt? Wenn morgen nur hundert dieser Gleichgültigen von Ehrfurcht für Jesus ergriffen würden und dieser wagten Ausdruck zu geben, undJesus wirklich ihr Lehrer fürs Leben würde, so wäre das ein großes Ereignis. Und wenn es einem Menschen gegeben wäre, durch feurige Worte die Menschen zu dieser Ehrfurcht vorJesus hinzureißen – wer weiß, ob die Zukunft uns nicht solche bringt – so würde es keinem von uns Predigern einfallen, ihm Schweigen zu gebieten, sondern wir müßten uns darüber freuen als eines großen Fortschrittes. Ich glaube, daß sehr viele Menschen, für dieJesus dasLeben bedeutet, einmal durch jene Phase hindurchgegangen sind, wo Jesus für sie nur der größte Mensch und Lehrer der Wahrheit war. Es kommt für jeden im Leben ein Augenblick – oder doch für viele – wo das, was man ihn über Jesus gelehrt hat, ins Wanken kommt und von ihm abfällt, so daß er nun das Gefühl hat, Jesus allein gegenüberzustehen und von sich aus finden zu müssen, wasdieser für ihn ist und welchen Namen er ihm geben kann. Und wenn er in diesem Augenblick vorerst auch nicht mehr sagen kann als: Er ist mein Lehrer und menschliches Vorbild, so ist das schon viel und will bedeuten, daß ihn der Strom der Gleichgültigkeit, in dem so viele andere dahintreiben, nicht mitreißen kann! Aber ich glaube auch, daßje näher wirJesus kommen, desto größer der Abstand wird, der ihn für uns von den andern Menschen trennt, bis daß

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wir überhaupt nicht mehr ihn mit einem vergleichen können. Das Unbegreifliche seiner Persönlichkeit wächst für den, der sich in ihn versenkt. Schon wenn jemand den Gedanken durchdenkt, daßJesus der größte Lehrer sei, und ihn dann mit den andern, die als Denker und geistige Leiter unter den Menschen groß sind, vergleicht, wird er auf dasUnvergleichliche in Jesus geführt. Von den andern haben wir den Eindruck, daß sie das, wassie verkünden, durch Nachdenken ergründet haben und daß jeder tiefer angelegte Verstand durch Überlegen von sich aus auf denselben Weg geführt würde. Bei Jesus hat man die Empfindung des Unmittelbaren. Er hat nicht nachgegrübelt, sondern es ist, als redete der Geist aus ihm, der Geist, der die Dinge sieht, wie sie sind. Seine Worte sprudeln ausder unergründlichen Tiefe desGeistes hervor. Sie erwecken in uns den Eindruck desUnfaßbar-Unergründlichen, so wie die Quelle, die heiß und mit Heilkräften beladen dem Schoß der Erde aus unergründlicher Tiefe entspringt. Mit den Worten der anderen Helden des Geistes werden wir fertig; sie verblassen und verlieren ihren Reiz. Was uns großartig war an einem Buch, ist es nach einigen Jahren, wenn wir eswieder in die Hand nehmen, nicht mehr in dem Maße. Die Gedanken, die dasLeben in uns selbst geweckt hat, scheinen unswahrer und tiefer. Aber in demselben Maße werden die Gedanken Jesu für uns «dieWahrheit». Wir fühlen, daß alles, was wir erleben als Kampf, als Gedanke, als Sieg, als Erkenntnis, als Fortschritt in dem, waser über daswahre Leben sagt, eingeschlossen ist. Kennt ihr das nicht? Unsere Gedanken fahren durcheinander wie Harmonien und Dissonanzen, aus denen eine Melodie geboren werden will. Wenn sie dann langsam aus unserer Seele aufsteigt, ist es ein Wort von ihm. Was wir dazutun können, ist nur, die Resonanz für dieses Wort zu liefern. Er hat die Erkenntnis ausgesprochen, zu der wir von uns ausnie gelangt wären und ohne die wir dasLeben nicht leben könnten als solche, die Frieden gefunden haben. In demselben Maße, wie man bei Jesus «die Wahrheit» entdeckt und ihn nicht mehr vergleichen kann mit jenen, die «eine» Wahrheit erkannt haben, wird man auch berührt von seiner Reinheit. Er selbst hat verboten, eine Lehre über seine Sündlosigkeit aufzustellen, da er zu dem reichen Jüngling, der ihn «guter Meister» angeredet hatte, sagt: «Was nennst du mich gut? Niemand ist gut denn derVater im Himmel» [Mt. 19,17]. Aber das, was sein Wesen ausmacht, ist doch seine unendliche Reinheit. Von seinem Leben wissen wir ja wenig; aber von seinen Worten geht ein solcher Hauch und eine solche Kraft der Reinheit aus, daß auch die edelsten Menschen mit ihm nicht verglichen werden können. Es ist diese Reinheit ganz einzigartig. Während wir uns durch Sünde und Schuld langsam zur Reinheit hindurcharbeiten und nun erst imstande sind, zu verstehen, was wahre Reinheit ist und was an Kämpfen in den andern vorgeht, besitzt er das,

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ohne diesen Weg zurückgelegt zu haben. Und dasgibt ihm eine Hoheit, wo dann keiner mehr denkt: Du bist der erste unter uns, sondern nur: Du bist unser Herr. Allen andern Denkern gegenüber fühlen wir unsfrei. Wer aber länger bei Jesus verweilt, fühlt, wie er ihm gegenüber seine Freiheit verliert. Schon unter den gewöhnlichen Menschen treffen wir solche an, in

deren Wesen etwas Befehlendes liegt, nicht etwas Herrisches, sondern etwas Unbegreifliches, das bewirkt, daß wir uns ihnen wie von selbst unterordnen. Und dieses Befehlende beruht in geistigen Dingen auf der

Reinheit.

Schaut nach, welche Menschen für euch Autorität gewesen sind. Ihr werdet sehen, daß es nicht die hervorragendsten und klügsten waren, sondern die reinen. Oft beugen wir uns unter Menschen, denen wir uns an Intelligenz überlegen fühlen, eben weil sie reiner sind als wir. Und das fühlt jeder deutlich: Was wir an geistiger Kraft ausüben, ruht in unserer Reinheit. Als einer, der die Welt überwunden hat und eins und klar ist mit sich selbst, weiß er, daß er derWelt Gesetze geben kann und daß sein «Ich aber sage euch» [Mt. 5,22] Völker und Menschen trifft, die, welche noch ein Streben nach Reinheit und ein Empfinden von der Kraft der Reinheit in sich tragen. Wer dasBefehlende inJesuWorten nicht kennt, der hat sie noch nicht recht gehört. Und wer sein Leben nicht immer mehr als einen Kampf zwischen Jesus und sich erfaßt, der weiß nicht, was er eigentlich ist. Er nimmt ein Stück von uns ein nach dem andern. Wir wehren uns. Wir wollen Lust und Glück für uns behalten, ein Recht, zu besitzen, nachsichtig gegen uns zu sein, und fühlen doch, daß dasGlück darin besteht, daß wir von ihm überwunden werden und müssen, was er gebietet. Es ist, als ob zwei, drei Worte für jeden von uns besonders bestimmt werden. Er entdeckt sie in seinem Leben, langsam geht es ihm auf, daß es das ist, wasJesus für ihn gesagt hat, und daß sein eigentliches Erleben darin besteht, wasdiese Worte ihm sind. Das ist das Einzigartige, wasjeder entdeckt, wenn er Jesus im Leben nahe zu bleiben sucht. Ihr könnt es «das Göttliche» an ihm nennen, wenn ihr wollt, und kommt damit denen entgegen, die an dem Wort «göttlich» für die Bezeichnung desWesens Jesu hängen, weil sie so ausdrücken wollen, daß er mit anderen Menschen nicht verglichen werden kann für den, der ihn näher kennt. Oder ihr wollt dasWort nicht übernehmen und nur reden von dem Einzigartigen, das euch immer mehr anJesus aufgeht. Was kommt es auf Worte an? Wenn er nur uns allen etwas wird ... der Herr ... unser Leben hineinzwingt in seinen Willen ... dann verkündigen wir ihn in der Tat und im Geist und arbeiten auf eine kommende Zeit, wo man nicht mehr über Ausdrücke in der Religion streiten wird, sondern alleWelt «das Geistige geistig richten» wird.

So sind wir viele ein Leib in Christo

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Morgenpredigt Sonntag, 26. Juli 1908, St. Nicolai Über die Kirche

Röm. 12,5: So sind wir viele ein Leib in Christo

Es wird viel über Kirche und Kirchen geredet in unsern Tagen, besonders in unserm Lande. Ihr könnt kaum eine Zeitung aufmachen, ohne auf einen Artikel für oder gegen die Reform unserer Kirchenverfassung zu stoßen. So wird es nicht unzeitgemäß sein, wenn wir zusammen darüber nachdenken, was eigentlich eine Kirche ist. St. Paulus sagt es mit klaren Worten im Gleichnis, daß alle Christen, die leben, wirken und sich eins wissen im Geiste Christi, ein Leib sind. Wir Menschen des 20. Jahrhunderts lesen dieses Wort mit merkwürdigen Empfindungen. Was ist aus dem Traum des Apostels geworden? Der Leib ist zersägt und zerhackt und die Glieder winden und krümmen sich wider einander. Es gibt keine christliche Kirche mehr, sondern nur Kirchen, die im Kampf miteinander liegen. Eines der Hauptereignisse der letzten Zeit ist der immer strenger sich vollziehende Abschluß der Konfessionen gegeneinander. Es ist, als ob zwei Völker in unserm Vaterland wohnten, ein protestantisches und ein katholisches. Bis in die geringfügigsten Dinge macht sich dieser Unterschied geltend; er spielt in öffentlichen und inneren Angelegenheiten eine Rolle, die mit Religion gar nichts zu tun haben. Und wir fühlen, daß wir noch nicht am Ende der Entwicklung sind; es wird noch weitergehen. Wie wir jetzt Zustände haben, die man vor zwanzig Jahren noch als eine Unmöglichkeit angesehen hätte, so wird in zwanzig Jahren das, was wir jetzt noch für unmöglich halten, Wirklichkeit werden. Und das ganze Treiben hat etwas Groteskes, weil dieses Abschließen und Geltendmachen der Konfession sich in einer ganz irreligiösen Zeit vollzieht. Es handelt sich gar nicht um Überzeugungen der Menge, sondern nur um den Namen. Der Soundso, der an diese Stelle kommt, weil er katholisch ist, der ist es nicht mehr, als der andere Soundso protestantisch ist, der an eine Stelle kommt, weil dafür ein Protestant an der Reihe ist. Einer ist so unkirchlich wie der andere, nur daß sie verschiedene Taufscheine haben. Daß wir soweit sind, verdanken wir der Kurzsichtigkeit der leitenden Männer in unserm Lande, die danach ausgehen, eine Parität durchzuführen, die es allen Leuten recht macht, statt sich auf den einzig möglichen und einzig paritätischen Standpunkt der reinen Gerechtigkeit zu stellen, für die die Konfession des einzelnen ist, wassie sein soll: Überzeugung und Privatsache. Daß die Abschließung immer stärker wird, ist auch in der allgemeinen Zeitrichtung gegeben. Das Sichabschließen ist eine Krankheit unserer Zeit. Jetzt, wo der Verkehr immer leichter und verbreiteter wird,

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wo man sollte meinen, daß die Grenzen fallen, jetzt gerade sperren sie sich gegeneinander ab. So erleben wir das beinahe Unverständliche, daß in der Zeit des Verkehrs sich die nationalen und in der Zeit religiöser Gleichgültigkeit die religiösen Gegensätze verschärfen. Wir sind unschuldig daran, aber wir leiden darunter. Und je mehr es uns um die Religion zu tun ist, desto schwerer tragen wir daran. Alles wird dadurch geschädigt. Wasleidet nur allein dieWohltätigkeit unddie soziale Arbeit darunter, daß unsere Werke nicht einheitlich sind, sondern die Konfession desGebers oder desBedürftigen immer in den Vordergrund gerückt wird! Dasselbe Werk muß katholisch und protestantisch existieren. Und wenn es gemeinsam gemacht wird, so sucht man denVorstand so zusammenzusetzen, daßja die Interessen beider Konfessionen gewahrt sind, alswäre dasdasWichtigste an der Sache. Wie furchtbar diese Spaltung ist für das Arbeiten, erfahren die draußen in der Mission, denn dort ist der Kampf der Konfessionen mancherorts dasgrößte Hindernis für ein gesegnetes Wirken. Wir bei uns würden das Trostlose der Lage viel stärker empfinden, wenn wir nicht schon abgestumpft wären. Ist es nicht schrecklich, daß man bei jeder Ehe zwischen Leuten verschiedener Konfession für das Kommende bangt – denKampf umdieKonfession derKinder. In diesem Kampf derKonfessionen verliert dieReligion unseres Herrn dieErhabenheit und dasFriedvolle, dasihr anhaftet; die, welche höhnen wollen, haben leichtes Spiel.Wenn siesowenig bei denMassen gilt, liegt esdaran. Es ist eine trostlose Zeit für die Religion, die Zeit, in der wir leben. Es ist fast schon ein Trost, daß wir es gegeneinander aussprechen, was wir darunter leiden. Und aussprechen wollen wir auch, daß es eine große Gefahr für uns alle ist. Wie sollen wir uns verhalten? Wir haben den Kampf nicht gewollt; er liegt nicht in den Gedanken des Protestantismus. Er ist uns aufgezwungen. Wie sollen wir uns darin verhalten? Tolerant sein, ruft man uns zu. Wenn nur nicht in dem Worte «Toleranz», wie man es gewöhnlich versteht, so viel Gleichgültigkeit läge! Es ist schwer, pflichtgetreu gegen die Idee, die wir vertreten, Freiheit des Gewissens und der Religion zu sein und zugleich tolerant gegen eine Konfession, die diese Freiheit nicht anerkennen will. So kommen die, welche friedfertig sein wollten, in die Lage, kämpfen zu müssen, manchmal Schritt für Schritt. Jedem, der es mit der Religion ernst meint, kann dies begegnen. Wer aber in solchem Rechten und Streiten drin steht, verliert etwas von seiner «Christlichkeit». Und wenn es ein Pfarrer ist, hat man leicht zu sagen: Ist denn das das Amt des Friedens? Ihr selbst seid manchmal wohl im Herzen ungerecht gewesen gegen solche, die allzusehr – eurer Empfindung nach – in der Kampfstimmung gegen Rom redeten und schrieben. Es muß Kämpfer geben; seid gewiß, auch wenn ihr es ihnen nicht anseht, den

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Männern aus dem Evangelischen Bund und dem Gustav-Adolf-Verein, daß es ihnen schwer wird, zu rechten und zu kämpfen und daß sie es nur aus schwerer Pflicht tun. Redet nicht gedankenlos von Leuten, die den Frieden stören. Aber dabei dürfen wir es nicht vergessen, daß in diesem Ringen für die Selbstbehauptung eine Gefahr liegt: die Gefahr des Klein- und Kleinlichwerdens in diesem kleinlichen Kampfe. Das dürfen wir nicht als Protestanten. Wir müssen im Kampfe stehen als solche, die doch darüber hinaussehen, vor aller Engherzigkeit Angst haben und sich nach dem Frieden sehnen. Aber dieser Friede wird nicht von einer äußeren Vereinigung der Kirchen kommen, so daß das Ende wieder sein wird wie der Anfang, eine einzige einheitliche Kirche, die sich dann mit Recht die katholische, allgemeine nennen kann. Alle Versuche, die in der Geschichte gemacht wurden, diese äußere Einheit wieder herzustellen, sind vergeblich gewesen. Während der Reformation und nachher hat man eine kostbare Zeit damit verloren. Das Ende wird sein das Weiterbestehen soundso vieler einzelner Kirchen und Gemeinschaften, aber in geistiger Verständigung undEinheit. Noch manche Umwälzung wird über die Welt kommen, bis es erreicht ist; aber es kann erreicht und wird erreicht werden durch eine Menschheit, die höher steht als die unsrige. Damit wollen wir, die wir die trübste Zeit durchmachen, uns trösten und Mut fassen, dem Geist der höheren Versöhnung unter unsWohnung zu bereiten und diejunge Generation darin zu erziehen. Wenn nur einmal ein Gedanke da ist und zu wirken anfängt, geschehen allemal Wunder. Er unterwirft sich die Welt viel schneller, als man hätte ausdenken können. Nun wenden wir den Blick von der allgemeinen Kirche im geistigen Sinn, die in der Zukunft liegt, ab und kommen zu der Einzelkirche, der wir angehören. Ist diese, was sie sein sollte? Nein. Unsere protestantischen Einzelkirchen nehmen sich armselig aus. Es fehlt Leben und Gemeinschaft. Sie sind keine wirklichen Körperschaften. Wenn man so liest, was in Synoden und Oberkonsistorien allenthalben diskutiert und beschlossen wird, ist man erstaunt, zu bemerken, wie wenig das, was dort verhandelt wird, mit dem, was die Kirche auf Erden soll, eigentlich zu tun hat. Verwaltungsmaßnahmen und noch einmal Verwaltungsmaßnahmen, aber kein religiöses Fühlen undWollen. Das hängt zunächst mit den Verfassungen unserer Kirchen zusammen, die nicht in dem Sinn abgefaßt sind, daß die Kirche eine wirklich lebendige Gemeinschaft von religiösen Genossenschaften werde und sei, sondern darauf ausgeht, der Regierung die Leitung der Angelegenheiten möglichst zu sichern. Wir haben keine protestantischen Kirchen, sondern Verbände von Gemeinden, die vom Staate beaufsichtigt und verwaltet werden, wobei dies in einem Land mehr ausgeprägt ist als in

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einem andern. Das ist zum großen Teil die Schuld unserer Reformatoren, die die Kirche dem Staat und den Fürsten anvertrauten und ihnen alles in die Hände gaben. Das Ende wird sein, daß es einmal zu einer allgemeinen Trennung von Kirche und Staat kommt, bei der sich dann die Kirchen frei entwickeln können. Nun kann dies aber noch sehr lange dauern. Bis dahin kann man versuchen, manches in unseren Kirchenverfassungen zu ändern, um natürlichere und gesündere Zustände zu schaffen. Ihr wißt, daß in unserer elsässischen Kirche dieser Versuch augenblicklich gerade unternommen wird. Und wasnun die einzelnen Gemeinden betrifft, so will man nun gerade in unserer Stadt versuchen, ihnen zu neuem Leben zuverhelfen, indem manversucht, sie neueinzuteilen undbei aller Wahrung der Freiheit des einzelnen in der Wahl seines Pfarrers diejenigen Menschen zu einer Gemeinde zusammenzufassen, die auch räumlich zusammengehören, sofern sie in demselben Quartiere wohnen. Ich erwähne dies, weil ich glaube, daß man in einer Kirche nichts vorbereiten darf, ohne auch der Gemeinde davon zusprechen. Ihr könntet ja sonst in dem Mißtrauen, das manjeder Änderung naturgemäß entgegenbringt, meinen, eshandle sich um Änderungen, die mehr einer gewissen Neuerungssucht entspringen, unddamit könnte Mißtrauen zwischen euch undunsentstehen. Ich führe es aber auch an, damit wir uns miteinander klar werden, daß mit äußeren Veränderungen etwas gebessert werden kann, aber daß die eigentliche Besserung nicht dadurch herbeizuführen ist; das Grundübel liegt darin, daß es uns an kirchlichem Leben und Sinn mangelt. Es muß eine Besserung von innen heraus kommen. Damit verglichen ist alles andere fast nebensächlich. Was fehlt, sind Menschen, Geist und Liebe. Die fehlenden Menschen sind zunächst die, die sich um Religion gar nicht kümmern; aber auch unter denen, für die die Religion noch etwas bedeutet, sind so wenige, die mithelfen an der Begründung der religiösen Gemeinschaft. Diese kirchlich wohlwollend Indifferenten findet man in unserer Stadt zu Hunderten. Wenn man zu ihnen kommt und eine Gabe für einWerk erbittet, geben sie es noch verhältnismäßig gern. Aber wenn sie nun irgendwie sich kirchlich interessieren oder gar in dieser Art hervortreten sollen, sind sie nicht zu haben. Ihre Losung ist religiös, aber nicht kirchlich. Und sie selber und die Kirche haben Schaden davon. Die Kirche, weil sie an Menschen verarmt, und jene Menschen, weil sie doch in ihrer Vereinsamung religiös verkümmern. Jeder Gedanke, der wirklich lebendig ist, drängt den Menschen, die Gemeinschaft derer zu suchen, die dasselbe denken, und wenn er nicht stark genug ist dazu, verkümmert er. So gehen viele religiös veranlagte Menschen zu unserer Zeit der Religion verloren, weil sie sich zu keiner kirchlichen Gemeinschaft halten. Pflanzt eine Tanne außerhalb desWal-

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des und seht, was daraus wird. Sie kann noch so schön und kräftig sein, sie kommt nicht empor wie die im Walde. Ihr fragt euch warum: Es fehlt ihr die Gesellschaft der andern Bäume. Unsere Kirche übt keine Anziehungskraft mehr aus. Kaum daß sich in gewissen Gegenden noch genug junge Leute finden, die sich dem Pfarrberuf widmen wollen; und wie schwer sind Laien für Kirchenrat und Oberkonsistorium zu finden, jetzt da solche Ämter keine Ehrenstellung mehr bedeuten wie in der früheren Anschauung, sondern fast eher etwas, dasmanverbirgt. Und hier erfüllt sich dasWort: «Wer da hat, dem wird gegeben; und wer da nicht hat, dem wird noch genommen, was er hat» [Mt. 13,12]. Die Kirche hat wenig Leben in unserer Zeit, und was sie noch hat, verliert sie, weil sie so, wie sie ist, keine Anziehungskraft ausübt und also

keine Menschen gewinnt. Das alles ist ganz unerbaulich. Wozu darüber predigen? Und wenn ich euch nun noch wenigstens sagen könnte, welches die Mittel und Wege sind, die aus dieser Lage herausführen. Ich vermag es nicht. Dies und jenes, das Besserung schaffen würde, könnte ich wohl anführen, aber eine wirkliche Hilfe ist es nicht. Ich glaube, wir werden noch lange so ausharren müssen. Aber ich sage es, um euch zu bitten, auszuharren. Ihr und wir, die Prediger, wir müssen wissen, daß wir durch eine böse Zeit hin ein kostbares Gut, die religiöse Gemeinschaft, auf eine kommende bessere Zeit hin retten. Nur wenn wir uns das immer wieder vergegenwärtigen, behalten wir den Mut. Und nur wenn einige Menschen da sind, die noch verstehen, um was es sich handelt, behalten wir Prediger die Kraft zum Wirken. Auf uns allen lastet etwas wie Verzagung, in einer Zeit zu schaffen, wo es mit der Kirche immer mehr zurück als vorwärts zu gehen scheint, und zu handeln, umgeben von freundlicher oder unfreundlicher Teilnahmslosigkeit. Es herrscht unter uns eine Verzagtheit und Traurigkeit, von der die meisten, die nie in das Herz eines Pfarrers von heutzutage geblickt haben, nichts ahnen. Wir fühlen unsere Kleinheit; wir empfinden, daß unser Wort nicht trägt und zündet, daß unsere armen Gedanken nichts Überwältigendes haben und daß wir nicht die Organisatoren sind, die aus dem Alten etwas Neues zu schaffen vermögen. Und was wir noch an Kraft und Können in uns tragen, wird gelähmt durch das Bewußtsein, fast allein zu stehen, einsam zu kämpfen gegen die Teilnahmslosigkeit. Und alles was wir an Teilnahme, an Interesse, an Verständnis, an Liebe für die Kirche sehen, und wenn es sich auch nur in dem Äußerlichen ausdrückt, daß Menschen sich sonntags zusammenfinden und nachsichtig sind für die Unvollkommenheit, mit der wir das Christentum verkünden und Gedanken im andern zu wecken suchen, hilft uns und gibt uns Kräfte, um es besser zu machen.

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So bleibt uns allen eines: treu auszuharren. Ausder Geschichte der ersten Christenheit erfahrt ihr, daß sie schwere Verfolgungen erduldete und darin nicht zugrunde ging, sondern gestärkt und geläutert wurde. Wir können nicht von Verfolgungen reden; aber die Prüfung, die über uns kommt, ist fast gerade so schwer wie eine Verfolgung, dawir auf die Probe gestellt werden, ob wir ausharren und treu bleiben in der Zeit des Abwartens. Und wenn diese Probe euch und uns vertieft und treu macht, so wird aus dieser Verinnerlichung der Geist entspringen, der neues Leben zu wecken vermag; eine neue kraftvolle Kirche wird erstehen, und was wir an Verzagtheit und Kleinmut durchgemacht haben, wird in derVergangenheit für ein kommendes glücklicheres Geschlecht begraben sein – begraben und vergessen wie wir, die Menschen dieser kleinen, traurigen Zeit.¦28¿

Trauansprache [Samstag,] 7. August 1908, Straßburg

Frl. Klähn¦29¿

I Kor. 13,4–7.13: [Liebe]¦30¿ Wir haben uns in dieser Stunde um euch versammelt, damit der Bund, den ihr vor dem bürgerlichen Gesetze geschlossen habt, durch unsere Feier die religiöse Weihe erhalte. Die eben verlesenen Worte habt ihr selber gewählt, daß sie die Richtung eurer und unserer Gedanken angeben. Ihr wollt, daß sie euch ins Leben hinausgeleiten, wie sie das Dasein der Eltern begleitet haben, die heute das Fest der silbernen Hochzeit begehen. Es war ihr Trauwort; nun soll es im zweiten Geschlecht seine heilbringende Wirksamkeit entfalten. Möge es also geschehen. Möge der Segen und die Erkenntnis, welche das Silberhochzeitspaar in fünfundzwanzig Jahren diesem Worte abgewonnen, auf euch übergehen, daß auch ihr durch dieses Wort immer innerlicher verbunden werdet. 28 [R] Ich wollte etwas Hoffnungsfreudiges schreiben, und es wurde so traurig. Es soll

wohl so sein. 29 [AS-HB, S. 209] «Donnerstag, 6. August 08. Ich muß mich ausruhen, sonst bin ich nicht frisch für den Dienst [im Spital]. Und ich muß noch eine Trauungspredigt für

morgen machen...» 30 [Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das

Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber derWahrheit, sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.]

Liebe

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DasWort ist euch lieb, weil es dasIdeal enthält, das euch für euer gegenseitiges Verhältnis vorschwebt und das ihr für euer Leben festhalten wollt. Es ist euch wiejedem, der dasLeben mit offenen Augen betrachtet, mit Schrecken aufgegangen, wie äußerlich gar oft die beiden Menschen, die den Bund fürs Leben geschlossen haben, miteinander geeint sind. So viele unter ihnen ziehen dahin als solche, die an denselben Pflug gespannt sind. Sie tragen die Narben der vielfältigen großen und kleinen Verletzungen an sich, die sie sich gegenseitig beigebracht; man fühlt ihnen so vieles an, worüber sie sich auseinandergesetzt haben, und daß sie sich zuletzt darin beschieden haben, ihre Meinungen und Lebensgewohnheiten zur Not miteinander in Einklang zu bringen. Vor den Menschen gelten sie dennoch als glücklich und zu Zeiten kommt es ihnen selber vor, als wäre dem so, weil sie nur so wenig mehr von einander fordern. Aber ihr fühlt, daß ihr damit nicht glücklich wäret. Nie soll es Alltag zwischen euch werden, sondern Feiertag, immer Feiertag soll sein. Und dasWort soll euch schützen. Ihr blickt jetzt mit froh-feierlicher Begeisterung auf das Leben aus, wie es sich in eurem gegenseitigen Verhältnis widerspiegeln wird. Seid da nicht wie die törichten Menschen, die nun meinen, daß die Prosa des Lebens sich nicht zwischen sie drängen könne, sondern wißt, daß sie es tun wird, und sammelt in dieser Stunde Kräfte, um sie zu überwinden. Auch zwischen euch werden Dinge auftauchen, die euch uneins machen, und Dinge geschehen, die verziehen werden müssen; auch ihr werdet es erleben wie alle, daß je näher wir einem Menschen stehen, je mehr wir im Dasein zueinander gehören, desto mehr das Selbstsüchtige in unserm Wesen, das wir sonst nicht so beachten, als würde es durch das Licht getroffen, offenbar wird, und wir in uns Kämpfe kämpfen müssen, um zu überwinden, und fühlen, daß in dem andern dasselbe vorgeht. Das muß so kommen, weil nur das Liebe ist, wahre Liebe, wassich in der Prosa des Lebens erprobt und bewährt. So mögen diese Worte, wenn der Alltag des Lebens gegen den Feiertag ankämpft, den ihr zwischen euch festhalten wollt, wie Sonntagsglocken für euch erklingen. Sie mögen eure Mahner sein und euch zeigen, wasjedes tun muß für das andere. Und weil ihr wißt, daß ihr beide um des reinsten Glückes willen denselben Worten treu sein wollt, werdet ihr euch verstehen ohne Worte und eins dem andern helfen im Ringen um das Feiertägliche und miteinander kämpfen um den Adel der Gesinnung der Liebe derWelt und dem Leben gegenüber. Wißt ihr, was alles liegt in dem Spruch, der in der Reihe der andern einhergeht: «Die Liebe freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber der Wahrheit?» Unser ganzes Leben liegt darin, was wir durch die Welt und das Leben werden. Um uns ist Ungerechtigkeit. Das ist keine Phrase, auch

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keine Anklage; nur ist es so.Was bewegt die Geschehnisse, die um uns auf und nieder wogen? Nicht das Streben nach demWahren, Gerechten und Guten, sondern die Macht, die sich in den Ereignissen ausspricht, und die ist Ungerechtigkeit. Und was gegen unser Leben brandet, ist auch Ungerechtigkeit. Neid, Anfeindung, Mißverstehen, Zurücksetzen, im Guten schlechte Motive unterschieben, das ist die Gesinnung, mit der sich die Menschen im Drängen des Lebens begegnen und sich das Dasein schwermachen. Und dereinzelne sträubt undwehrt sich dagegen, ihm graut vor dieser Gesinnung. Aber durch das, waser im Lauf derJahre an sich erfährt, wird er mürbe gemacht undin die allgemeine Weltanschauung der Ungerechtigkeit mithineingezwungen und entrüstet sich nicht mehr der Ungerechtigkeit, all dieses Kleinlichen, was das Leben der Menschen elend macht, dasum ihn vorgeht, weil er es an sich erfahren; er findet es natürlich, daß es so geht, er freut sich dessen, als wäre dadurch die Gerechtigkeit zwischen ihm und derWelt wieder hergestellt – und nun ist er eine Welle im großen Meer, diewogt ausderselben Kraft, die auch die andern wogen läßt – ein Mensch vom Leben besiegt – nüchtern gemacht. Ihr aber verliert dasnicht! Seht euer Glück darin, daß ihr eines das andere aufrichten dürft. Auch ihr werdet die Enttäuschung, Anfeindung, Zurücksetzung und so mannigfache Verwundung, der wir im Dasein ausgesetzt sind, erfahren, auch wenn euer Leben, was äußere Umstände und Fortkommen, wenn man die gewöhnliche Norm nimmt, nicht glücklicher und nicht weniger glücklich als ein anderes dahinfließt. Aber tragt daszusammen, als die nicht irre werden, und laßt euch durch das, was ihr um euch seht, nicht betören und redet eins nicht das andere in eine Gesinnung hinein, von der ihr wißt, daß sie nicht die reine große ist, sondern erzieht euch gegenseitig, daß ihr im Schweigen und Reden, im Dulden und Handeln, im Loben undTadeln, dasWort «Die Liebe freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit» letzte Richterin der Gedanken ist undfür die dasandere «Die Liebe verträget alles, sie glaubet alles, sie duldet alles, sie hoffet alles» nicht eine vom Ideal purpurn gerötete Paradoxie ist, sondern etwas, das ihr in eurem Leben leben wollt, weil ihr in dieser Lauterkeit der Gesinnung allein dasGlück findet, weil es euch innerlich eint – dasGute und Reine, wasin euch ist, herausbringt und eint. Nur wenn ihr so innerlich fest und rein, vornehm im tiefsten Sinne des Wortes bleibt, könnt ihr der Welt geben, was ihr ihr geben sollt: Liebe. Wenn ihr nun euren Hausstand gründet, so tut das nicht mit der Gesinnung der Menschen, die das Glück darin zu erkennen und zu halten meinen, daß sie sagen: Wir wollen füreinander leben, sondern habt den Gedanken: Wir wollen miteinander für etwas leben. Ihr tretet aus dem Verbande eurer Familien heraus, bildet einen neuen Mittelpunkt und gehört nun mehr derWelt um euch herum an als vorher. Vergeßt es

Gleichnis

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nicht. Zuletzt beruht die wahre Liebe zweier Menschen auf der Ehrfurcht, die sie füreinander haben. Diese Ehrfurcht besteht aber nur da, wo eines von dem andern weiß, daß es sich für notwendig hält, um im Geiste Jesu mit als Helfer und Retter unter den Menschen zu stehen. Mit diesem hohen Zweck hat das Dasein des einen für das andere etwas Geheiligtes. Unsere Welt braucht Menschen, die die Liebe Jesu darin verkörpern. Sie hat kein festes Glauben mehr, und wir sind nicht die glaubensstarken Menschen, die es ihr wiedergeben können; sie hat nicht mehr die Hoffnungen, die die Generationen vor uns über das Elend des Daseins hinweghoben, und wir sind nicht die hoffnungsstarken Menschen, die ihr neues Hoffen eingeben können. Aber das Größte bleibt, unwandelbar im Wandel der Zeiten, die Liebe; danach sehnt sie sich vor allem. Das Letzte, was die Menschen aus dem Glauben der Vergangenheit retten wollen, ist der Glaube an die Liebe. Und ihr sollt zu denen gehören, die dafür arbeiten, daß dieser Glaube nicht zuschanden wird, sondern daß die Menschen auf dieser kalten Erde Liebe finden. Das fühlt ihr jetzt als schön und wahr, und ihr freut euch, in diesem Geiste etwas wirken zu dürfen. Wacht beide übereinander, daß ihr nicht müde werdet und das Öl in euren Lampen nicht ausgeht [Mt. 25,1– 13]! So zieht eures Weges, geleitet von den Sprüchen, die ihr euch erwählt habt, und seid ihnen treu; dann mag das Leben euch bringen, was es wolle, und die Menschen, die nach Äußerem urteilen, mögen euer Schicksal beneidenswert oder weniger beneidenswert finden, je nach den Umständen ... ihr werdet glücklich sein, weil ihr das Glück miteinander findet, nach dem wir uns sehnen und das das herrlichste von allem ist ... das Glück, daß Menschen in gemeinsamem Streben miteinander besser, reiner, heiliger werden. Möge daseuch beschieden sein.

Morgenpredigt Sonntag, 4. Oktober 1908, St. Nicolai

Mt. 25,14–30: Das Gleichnis von den anvertrauten

Pfunden¦31¿

Wenn einer von heutzutage dieses Gleichnis erdacht hätte, würde es lauten: Ein Herr tat seinen Knechten seine Güter aus; der eine empfing fünf, der andere zwei, der letzte ein Pfund; als der Herr zurückkam, hatte der erste die große Summe vertan, der zweite die seine ebenfalls, 31 [Gleichwie ein Mensch, der über Land zog, rief seine Knechte und tat ihnen seine Güter aus; und einem gab er fünf Zentner, dem andern zwei, dem dritten einen, einem jeden nach seinem Vermögen, und zog bald hinweg. Da ging der hin, der fünf Zentner empfangen hatte, und handelte mit ihnen und gewann andere fünf Zentner. Desglei-

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der dritte aber, der nur wenig empfangen hatte, war treu gewesen und hatte mit dem Geld zu seines Herrn Nutzen gewirtschaftet. Bei unserm Herrn lautet das Gleichnis aber umgekehrt. Er will mit der Selbstgerechtigkeit des kleinen Mannes aufräumen. Urteilt selbst, ob er damit in unserer Zeit im Recht oder Unrecht ist. Wir sind gewohnt, auf die Menschen zu sehen, die viel empfangen haben, und entrüsten uns über sie, daß sie von ihrem Gut nicht den Gebrauch machen, den sie sollten, und daß sie der Welt und ihren Mitmenschen nicht das sind, was sie sein müßten, wenn sie eine Auffassung davon hätten, daß das, was sie haben, ein Pfund ist, mit dem sie wuchern sollen. Wir entrüsten uns über die hochgestellten Menschen, die nur daran denken, ihre Stellung zu genießen, über den Reichen, der seinem Vergnügen lebt, über die begabten Menschen, die mit Geist und Kenntnissen nach Geld und Stellungen jagen, und denken bei uns, wie ideal wir handeln und streben würden. Die Zeitungen unterstützen uns darin. Sie berichten uns über alles, wasin den hochgestellten und reichen Kreisen vorkommt. Da kommen sich die Leute, auf die die Augen derWelt nicht gerichtet sind, so wacker und brav vor. Sie rechnen es sich zum Verdienst an, daß sie noch keine arme Frau im Automobil überfahren, niemals Tausende für ein Fest verausgabten, niemals jemand ihren hohen Rang fühlen ließen, und ermutigen sich gegenseitig in ihrer Selbstgerechtigkeit. Der Herr Jesus aber fährt drüber hin wie der Lehrer mit dem Schwamm über die schwarze Tafel, auf der der Schüler den andern die chen, der zwei Zentner empfangen hatte, gewann auch zwei andere. Der aber einen empfangen hatte, ging hin und machte eine Grube in die Erde und verbarg seines Herrn Geld. Über eine lange Zeit kam der Herr dieser Knechte und hielt Rechenschaft mit ihnen. Da trat herzu, der fünf Zentner empfangen hatte, und legte andere fünf Zentner dar und sprach: Herr, du hast mir fünf Zentner ausgetan; siehe da, ich habe damit andere fünf Zentner gewonnen. Da sprach sein Herr zu ihm: Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der zwei Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, du hast mir zwei Zentner ausgetan; siehe da, ich habe mit ihnen zwei andere gewonnen. Sein Herr sprach zu ihm: Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der einen Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, ich wußte, daß du ein harter Mann bist: du schneidest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, da du nicht gestreut hast; und fürchtete mich, ging hin und verbarg deinen Zentner in die Erde. Siehe, da hast du das Deine. Sein Herr aber antwortete und sprach zu ihm: Du Schalk und fauler Knecht! Wußtest du, daß ich schneide, da ich nicht gesät habe, und sammle, da ich nicht gestreut habe? so solltest du mein Geld zu denWechslern getan haben, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine zu mir genommen mit Zinsen. Darum nehmt von ihm den Zentner und gebt es dem, der zehn Zentner hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. Und den unnützen Knecht werft in die Finsternis hinaus; da wird sein Heulen und Zähneklappen.]

Gleichnis

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Rechnung falsch vorgerechnet hat, und zwingt uns, die Welt mit den Augen der Gerechtigkeit zu betrachten. Wer das tut, der findet, daß unter denen, die über viel gesetzt sind, viele, viel mehr, als man annehmen würde, treu sind und die Verantwortung fühlen, die ihnen mit Gut und Gaben zugefallen ist, und daß wir, die wir uns immer ausmalen, was wir tun würden, wenn wir mit denen, die wir richten, tauschen könnten, die Schuldigen sind, die er im Gleichnis meint. Der Knecht bringt das Geld wieder. Er hat es nicht vertrunken und nicht vertan; er war vielleicht in Not und hat sich nicht daran vergriffen, obwohl er solches bei andern sah. Mit der Zuversicht, kein schlechter Mensch zu sein, kommt er zum Herrn. Dassind wir.Wir sehen Menschen, die ihre Gesundheit in unsinnigem Wandel ruiniert haben, andere, die ihre Habe, andere, die ihre geistigen Kräfte vergeudeten, tote Glieder der menschlichen Gesellschaft, und fühlen einen Unterschied zwischen ihnen und uns, den man mit Reden über die allgemeine Sündhaftigkeit nicht weglöschen kann, da er berechtigt ist. Wir haben nichts Böses, aber auch nichts Gutes ausgerichtet, sondern uns durchs Leben geholfen, so gut es ging, und sind mehr oder weniger unnütze Menschen im guten Sinn desWortes, unnütz wiejener Knecht. Wie jener für seinen Herrn, haben wir für das, was Gottes Geist in dieser Welt will, weder etwas gewonnen noch verloren. Und hier ist das Gleichnis wieder nicht so, wie es unserm Empfinden entsprechen würde. Der Knecht ist weder bös noch gut, also sollte ihn der Herr weder loben noch tadeln, sondern das Seine zurücknehmen und ihn gehenlassen. Daß er ihn aber wie einen Missetäter behandelt, als hätte er gestohlen und betrogen, ist etwas an sich Ungeheuerliches, eine der grausigen Härten und Paradoxien, die uns in Jesu Gleichnissen erschüttern und erschrecken, weil es auf uns geredet ist. So hart richtet sein Geist die guten unnützen Menschen, die nichts von dem, was in seinem Geiste gewollt und getan werden muß, unternommen haben. Wenn der Knecht nur hätte reden dürfen! Er hätte Entschuldigungen vorzubringen gehabt. Von Anfang an hatte er ja gar nicht vorgehabt, nichts anzufangen. Aber da war die Angst vor der unglücklichen Operation, wo er dann mit leeren Händen hätte vor den Herrn treten müssen, die Sorge um sein und der Seinen Fortkommen, die ihn in Anspruch nahm, Mißerfolge, die ihn entmutigten, und der Gedanke, daß, ob er etwas gewönne oder nicht, sein Herr es an seinem Vermögen nicht spüren würde. Dein Herr wird durch dich weder reich noch arm. Das war’s, womit er sich beruhigt hatte. An dieser Überlegung ging er zugrunde. Den andern war es leichter gemacht worden; sie hatten so viel zu verwalten erhalten, daß sie sich nicht einreden konnten, es käme für den Herrn auf ihren Gewinn nicht an. Heute ist es noch so. Der Fabrikherr, von dem dasWohl und Wehe einer ganzen Gegend abhängt, die Menschen, die sich ihres großen, gei-

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stigen Einflusses bewußt sind: Wenn in diesen allen nur ein Funken vom Geist Jesu ist, dann predigt es ihnen jeder Tag lauter als der vorhergehende: Auf dich kommt es an. So erzieht ihnen die Größe ihrer Aufgabe einWollen an, von dem sie von sich ausnichts geahnt hätten. Und die Menschen, die in der Masse in Reih und Glied stehen, laufen Gefahr, daß das Wollen, das sich in ihnen regt, durch das «Auf dich kommt es nicht an» erstickt wird. Wir denken, daß alles, was wir tun können, im Haushalte Gottes nur ein Stäubchen auf derWaage ist. Damit kommt langsam eine Gleichgültigkeit über die Menschen, die sie lähmt. Sie verlieren den Blick für die Aufgaben um sich herum und sinken in die Klasse derer herab, die man für nichts mehr begeistern und gewinnen kann. Gar manche von denen, die wir als solche kennen, waren nicht so von Anfang an. In ihrer ersten Jugend, als sie ins Leben hinaustraten, waren sie ganz andere Menschen. Sie hätten auch viel vorzubringen, um sich zu entschuldigen, daß siejetzt in der Reihe derer dahingehen, die nur gerade vor sich auf die Füße, nicht rechts, nicht links sehen und einmal dem lieben Gott das nackte Leben, wie sie es von ihm erhielten, zurückgeben werden und nichts, wassie damit in derWelt für sein Reich unter den Menschen gewirkt und gewonnen haben. Und als letzte Entschuldigung hätten sie immer, daß sie dachten, es käme auf sie nicht an. Daß dieser Gedanke auch für uns die große Gefahr ist, wißt ihr davon, daß ihr schon mit ihm zu tun hattet und ihm gar oft unterlagt. Mehr als Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit vermögen, hat er euch schon vom Guten zurückgehalten. Ihr hattet eure Hand geöffnet, um zu geben, da kam diese Überlegung und schloß sie euch. Ihr wart entschlossen, für eine Sache oder einen Menschen einzutreten, und sagtet euch dann: Andere können es besser tun, man braucht mich nicht, und

gingt eures Weges weiter. Darum redet der Herr zu uns in diesem furchtbar ernsten Gleichnis undwarnt uns davor, daß wir nie uns durch dieses «Auf dich kommt’sja nicht an»betören lassen, sondern einfach handeln als die Menschen, die ihre Pflicht tun im Geiste Gottes und unseres Herrn überall, wo Menschenpflicht zu erfüllen ist, daß wir alle etwas für das Reich Gottes schaffen. Finsternis und Ketten warteten des armen Knechtes, der als ein gut unnützer Mensch dahinlebte und schuldig war, ohne es zu wissen. Das ist noch heute das Los derer, die ihm gleichen. Solange ein Mensch das Wollen in sich hat, Mithelfer zu sein für das, was im Geiste unseres Herrn hier gewirkt werden muß, und sich als ein Dienender fühlt, so ist er ein Sklave dem Geiste Christi, ein Freier der Welt gegenüber, und sein Leben ist vielleicht äußerlich schwerer, aber innerlich leicht und schön. Die Pflicht hält ihn aufrecht, und es ist Licht in ihm. In dem Augenblick, wo er das Dienen aufgibt und nur noch leben

Der reiche Mann undderarme Lazarus

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will, erlischt das Licht. Er muß im Dunkel seinen Weg suchen und ist innerlich haltlos und ziellos denVersuchungen und den Schicksalen des Lebens ausgeliefert, nicht mehr frei, innerlich über den Dingen stehend, sondern mit tausend Fesseln in dasverstrickt, wasdasLeben ihm trügerisch alsLust und Glück und Befriedigung hinhält. Ihr seht genug von solchen Sklavenexistenzen um euch und wißt genug, wie schwer den Menschen, die sich das Leben äußerlich erleichtert haben, das Leben innerlich fällt. Die Angst davor halte uns wach, daß wir dem verderblichen Sprüchlein «Auf mich kommt’s nicht an»nie unterliegen, sondern es durchschauen als die, welche sich danach sehnen, etwas von dem geheimnisvollen Worte «Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht» [Mt. 11,30] in ihrem Leben zu kosten.¦32¿

Morgenpredigt Sonntag, 18. Oktober

1908,¦33¿ [St. Nicolai]¦34¿

Lk. 16,19– 31: Der reiche Mann und der arme Lazarus¦35¿ Daß der Arme es auf Erden schlecht hatte und darum es nun im Himmel gut bekommt, und daß der Reiche, weil er es auf Erden gut hatte, nun in der Hölle gepeinigt wird: Wenn das der Gedanke dieses Gleichnisses ist, dann war den Zuhörern Jesu wenig gedient, und wir selber wissen wenig, was damit anfangen. Denn in dieser Vorstellung der 32 [R] Esquissé à Grimmialp 15– 18 août; écrit à Günsbach 28 et 29 sept 08 [Die Grimmialp war damals ein bekanntes Kurhaus im Berner Oberland in der Schweiz, wo Schweitzer jahrelang für einige Wochen hinfuhr.] [AS-HB, S. 211:] «Es ist sehr merkwürdig, zu denken, daß ich wieder auf die Grimmi zurückkehre. Ich habe ein Gefühl, als sei das gar nicht möglich, und frage mich immer, wodurch ich es verdient habe, dieses Glück zu haben. Es ist unglaublich, wie ich mich freue.» 33 [Am 12. Oktober schreibt Albert Schweitzer an Helene Bresslau:] «Heute abend werde ich an meiner Predigt für den Sonntagmorgen schreiben: Der reiche Mann und der arme Lazarus.» [Zentralarchiv Günsbach.]

34 [In der Liste desKirchenboten ist Schweitzer amMorgen in St. Nicolai eingetragen.] 35 [Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich mit Purpur und köstlicher Leinwand und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voller Schwären und begehrte sich zu sättigen von den Brosamen, die von des Reichen Tische fielen; doch kamen die Hunde und leckten ihm seine Schwären. Es begab sich aber, daß der Arme starb und ward getragen von den Engeln in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und ward begraben. Als er nun in der Hölle und in der Qual war, hob er seine Augen auf und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich mein und sende Lazarus, daß er dasÄußerste seines Fingers insWasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet, und du wirst gepeinigt. Und über das alles ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestigt, daß die da wollten

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nackten Vergeltung liegt weder etwas Menschliches noch etwas Religiöses. Man darf mit Sicherheit sagen, daß diese Theorie der Vergeltung, die hier Abraham in den Mund gelegt wird, den Gedanken Jesu nicht wiedergeben soll. Wir wissen zwar, daßJesus über den Reichtum härter dachte als wir, und daß er damit den Begriff des unrechtmäßig Erworbenen viel eher verband als wir, weil er den Handel, das Gewerbe, die Industrie nicht in dem Maße als Quellen eines ehrlichen Wohlstandes kannte wie wir. Wer damals reich wurde, der wurde es, indem er in Zeiten der Hungersnot große Ländereien um ein Spottgeld an sich brachte, mit Getreide wucherte, Geld zu unerhörten Zinsen auslieh oder Steuern pachtete und sie mit Härte eintrieb. Und dennoch, obwohl fast an allem Reichtum, den er kennt, Fluch klebt, liegt ihm der Gedanke, daß jeder Besitzende, weil er besitzt, darum verdammt ist, ebenso fern als der, daßjeder Arme, weil er nichts besitzt, damit schon Anrecht auf die Seligkeit hat, davon nicht zu reden, daß diese äußerliche Vorstellung von Himmel und Hölle, Seligkeit und Verderben für Jesus nicht besteht. Und wenn wir in unserer Zeit auch viel schlechten Reichtum sehen, der durch Hartherzigkeit, Skrupellosigkeit gewonnen ist, dessen Besitzer nur an ihren Lebensgenuß denken, so sind wir deswegen noch weit entfernt, in jedem Menschen, der mehr besitzt als der Durchschnitt seiner Mitmenschen, einen schlechten Menschen zu sehen und so ein allgemeines Verdammungsurteil auszusprechen. Jesu Gleichnis muß also etwas anderes besagen. Um das, wasJesus im Gleichnis sagen will, zu verstehen, muß man dieses Äußerliche der Erzählung auf sich beruhen lassen, da es nur zur Einkleidung gehört, und den Blick auf dasrichten, was fürJesus immer im Vordergrund steht: das Menschliche. Er erzählt uns von zwei Menschen und was aus ihnen wurde, als sich ihr Los änderte, und das, was er verschweigt, hat ebenso seine Bedeutung, als was er sagt. Ob der Arme arm von Geburt war oder ob er durch eigene Schuld ins Elend gekommen und wie er zu seinem schweren körperlichen Leiden gekommen war, bleibt im Dunkeln. Es genügt, daß wir wissen, es war ein Mann, der wußte, wasarm sein undwas Schmerzen leiden heißt. Der Reiche wird nicht als ein böser Reicher gezeichnet. Auf den Stufen zum Palast läßt sich tagtäglich ein Bettler nieder. Seine Freunde, von hinnen hinabfahren zu euch, könnten nicht, und auch nicht von dannen zu uns herüberfahren. Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, daß du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, daß er ihnen bezeuge, auf daß sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. Abraham sprach zu ihm: Sie haben Mose und die Propheten; laß sie dieselben hören. Er aber sprach: Nein, Vater Abraham! sondern wenn einer von denToten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, wenn jemand von denToten aufstünde.]

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wenn sie zur Gasterei kommen, müssen an ihm vorüber und müssen sein Winseln und Betteln hören; er selber kann nicht aus dem Haus, ohne ihn zu sehen, und es ekelt ihn. Er könnte ihm den Aufenthalt verbieten und ihn durch denTürhüter verjagen lassen, er könnte die Polizei rufen, daß sie den Mann fortweist – er hat sich’s vielleicht auch schon manchmal überlegt, aber er tut’s nicht. Er weiß, daß aus der Küche, wenn abgetragen ist, von den Resten des Mahles hinauswandern; er könnte es verbieten; aber er läßt’s geschehen. Daß er den Anblick des Krüppels duldet, sei ihm zum Verdienst angerechnet. Für unsere Zeit würde dieser Zug etwas besagen. Es wird bei uns in Fürsorge für Arme und Kranke manches und viel geleistet. Das Elend kann sich bei uns nicht so vor Kirchtüren, auf Plätzen und Straßenecken breitmachen wie in südlichen Ländern. Darin liegt viel Richtiges. Wer jemals in Italien war und dieses öffentliche Bettelwesen hat kennenlernen, bei dem alles nur zum Grund oder Vorwand der Erregung des Mitleids dienen muß, und wo dann, weil es sich rentiert, gesunde Menschen, die arbeiten könnten, und Kinder in das Almosenheischen hineinkommen, der atmet erleichtert auf, wenn er wieder in unsere Gegenden kommt. Aber es liegt auch eine große Gefahr darin. Es gibt Menschen bei uns, die alt und grau werden und nie menschliches Elend gesehen haben. Es trat ihnen nicht entgegen, und sie suchten es nicht auf. Sie schwärmen ihren Freunden vor von den malerischen alten Giebelhäusern in den engen Gäßchen Straßburgs, aber wie es drinnen aussieht, welches Wohnungselend da herrscht, wie viele kranke, arme und einsame Menschen sich auf den Winter drin quälen, das wissen sie nicht. Diese Menschen existieren für sie nicht. Aber für den Reichen dort existiert Lazarus – er hätte machen können, daß er für ihn nicht existiert, aber er tut es nicht. Für uns ist die Gefahr, daß das Elend unserm Blick entzogen ist und nicht existiert. Das Recht der Menschen auf den Menschen ist beschränkt; wir haben Schranken aufgerichtet, daß der Hilfesuchende nicht mehr so natürlich an seinen Mitmenschen herankann, wieJesus es sich dachte. Mir wird immer kalt, wenn ich in ein Haus komme und an der Treppe steht: Betteln verboten. Nicht daß ich ungerecht urteilen will und nicht verstände, wie man in unsern Städten fast mit Notwendigkeit zu solchen Maßregeln kommt; nicht daß ich meinte, es sei Hartherzigkeit der Bewohner des Hauses, und nicht wüßte, daß, wo dieses Schild steht, manchmal Leute wohnen, die für Werke gern und viel geben; nicht daß ich nicht wüßte, wie schwere Gefahren und wie viele Unzuträglichkeiten damit verbunden wären, wenn solche Verbote nicht existierten, von wie vielen unwürdigen und nichtsnutzigen Tagedieben ein Mensch, der jedermann zu sich läßt, angegangen und ausgenützt und

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betrogen wird – und doch scheint mir dieses Fernhalten von Menschen eine Gefahr für uns, etwas, das zuletzt doch nicht recht ist, weil es Schranken zwischen Bedürftigen, denen wir persönlich etwas sein könnten, und uns aufrichtet und dem modernen Ordnungssinn zuliebe ein Menschenrecht geopfert wird, und wir uns doch einer Gelegenheit berauben, wo wir solche antreffen können, denen wir vielleicht bestimmt sind, «Nächste» im Sinne des Gleichnisses Jesu zu werden [Lk. 10,25– 37]. Ich will nicht überzeugen; nur das eine möchte ich, daß wir uns mit diesen Bestimmungen, die den Menschen von heutzutage von jeder Belästigung durch würdige oder unwürdige Bittende, von jedem Anschauen des Elendes bewahren, nicht als mit etwas Selbstverständlichem abfinden. Ich glaube, dann wird gar mancher zur Einsicht kommen, daß das Recht, dasjeder, der einen Menschen braucht, auf uns als Menschen hat, nicht geschmälert werden soll, indem es ihm unmöglich gemacht wird, an unsere Tür zu klopfen, und daß wir es uns nicht als ein Ideal vorstellen, irgendwie durch Gaben uns amWohltun zu beteiligen und selber nicht belästigt zu werden, sonst stehn wir am Ende tiefer alsjener Reiche, der den armen Lazarus vor seiner Tür duldete.

Nun änderte sich das Leben für beide. Der eine wurde glücklich, der andere unglücklich. Waswurde dabei aus dem Menschen in ihnen? An Lazarus erlebt man eine gewisse Enttäuschung. Gewiß, er ist selig ... aber nichts mehr. Er hat aufgehört, Mensch zu sein. Er sieht den Reichen in Fieberschauern sich winden, er hört sein Wimmern in der Qual desDurstes, er hört seinen Namen als dessen, der ihm zur Hilfe gesandt werden soll – und er bleibt ruhig sitzen. Er kennt vom eigenen Leibe alle Pein, die ein Mensch durchmachen kann, dasLeben hat ihn geführt, daß er mitleidig werden sollte; er sollte es nicht mitansehen können, daß ein anderer in solcher Qual ist. Man meint, er müßte aufspringen und denVater Abraham anflehen, ihn zum reichen Mann zu lassen; und wie dieser von der Unmöglichkeit redet, daß einer von oben denen drunten Hilfe bringt, sollte er aufspringen und ihm den Himmel und die ganze Seligkeit vor die Füße werfen und ihn bitten, zum reichen Mann in die Hölle verstoßen zu werden, um ihn wenigstens trösten zu

dürfen. Washier vorgeht, dasseht ihr in derWelt. Menschen sind in traurigen Verhältnissen geboren und aufgewachsen und wissen daher, was Elend, Hunger, Kälte, Sorge und Not ist. Nun gelingt es ihnen, durch ihren Fleiß oder durch Glück langsam in andere Verhältnisse zu kommen. Man sollte meinen, daß das die mitleidigen und wohltätigen Menschen werden, und sieht sehr oft, daß es nicht so ist. Sie sind ganz von ihrem Glück eingenommen und haben nur den einen Gedanken, esjetzt auch gut zu haben, und das eine Ziel, ihre Kinder noch höher hinauf zu

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heben. Aber daß diese Menschen, wasman erwarten sollte, die begeisterungsfähige Masse bilden, die man zum Kampf gegen das Elend nah und fern mobilisieren könnte, ist nicht der Fall. Wenn für die Not in fernen Ländern, ich rede nicht von der religiösen und geistigen, sondern nur von der menschlichen Not, von uns aus so wenig getan wird, wenn sie für unsere Welt gewöhnlich einfach nicht existiert, weil die große Kluft der Entfernung dazwischen liegt, so liegt das nicht daran, daß so viele Reiche ihre Pflicht nicht tun, sondern daran, daß die, die aus der Schule des Elends gegangen sind und die andern mitreißen sollten, versagen – nur glücklich sein wollen wie der arme Lazarus, als er zum Himmel einging. Und der Reiche kam in die Qual. Er hat sich gesträubt gegen das Schicksal. Er hat um Hilfe gefleht und gemeint, sie müßte ihm zuteil werden. Nichts regt sich. Das Wort «unentrinnbar» mit all seinem Grauen sucht ihn heim. Fluchen und Lästern regt sich in seinem Herzen. Womit hat er das verdient? Er war vergnügt mit seinen Freunden, mit dem Gut, das ihm zugefallen war, hat wenig an andere gedacht, aber Böses hat er nichts begangen, nicht mehr als andere – nur gedankenlos dahingelebt hat er, und wenn man ihm gesagt hätte, was daraus wird, hätte er sich gebessert und wäre errettet worden – warum man es ihm nicht gesagt hat? Es leben ja noch viele so – und wissen nicht, wasihrer wartet – seine Brüder. Und jetzt versinkt alles: Schmerz, Qual, Empörung, Fluchen, Lästern, Raserei – seine Brüder – er muß ihnen helfen. In dem grausigen Zusammenbruch wird der reiche Mann ein Mensch, ein tiefer, reiner Mensch. Es ist, als wollte der Herr Jesus uns bitten, nicht vorschnell zu urteilen. Wenn wir Menschen im natürlichen Egoismus dahingehen sehen, die der Lebensgenuß und die Sorge um ihr und der Ihrigen Fortkommen so gefangennimmt, daß die andern nicht für sie da sind, wartet mit Urteilen und Verurteilen. Ihr kennt sie nicht, ihr wißt nicht, was in ihnen schläft und in ihnen erwachen kann. Aber glaubt an das Gute in ihnen, denn der Glaube der Menschen hilft mehr als alles Urteilen und Richten, und wißt, daß einmal alles, was in einem Menschen schlief, erwachen kann, und er dann so vor uns steht, wie wir ihn nie hätten ausdenken können. Ich weiß nicht, ob alle Menschen etwas von dem durchmachen, was in dem Gleichnis angedeutet ist. Bei manchen verläuft das Leben mehr geradlinig. Sie müssen, um das zu werden, zu was sie ausersehen sind, nicht durch einen Zusammenbruch hindurch. Aber für viele bedeutet, was im Gleichnis geschieht, ein Erlebnis, das ihnen im eigenen Dasein bestimmt ist. Es kommt ein Augenblick für sie, wo sie sich im Kreise drehen wie dasWild im Käfig, weil es nicht mehr weitergeht, und der Weg, den sie sich ausgedacht hatten, verlegt ist, und wo es ihnen mit

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furchtbarer Klarheit aufgeht, daß sie für sich nichts mehr von dem, was Glück ist, erwarten dürfen. Dann werden viele nur betäubt von dem, was sich an ihnen ereignet. Ein Mensch stirbt ihm zur Seite weg, der Mensch, der sein Leben und seine Hoffnung gewesen. Ein anderer baut auf seine Gesundheit, und die Gesundheit verläßt ihn, und was er ausrichten wollte, konnte er nicht tun; ein anderer zählt auf sein Fortkommen, wollte das und das leisten, an diese und diese Stelle kommen, um darin zu wirken, und es kommt anders: Es wird zurückgeschraubt, und er sieht, daß er es nie

erreicht. Und dann entscheidet sich’s. Entweder er dreht sich im Kreise und verzehrt sich wie das arme Wild in der Menagerie, trägt sein Dasein als eine Qual, bis er davon erlöst ist, kommt von der Frage nicht los, warum ihm das geschehen mußte, womit er denn das verdient hatte – oder er wird wie der Mann im Gleichnis in jenem Augenblick wahrhaft Mensch, der sich aus seinem Leiden selbst erlöst, indem er sehend wird für das, was an Leiden anderen bestimmt ist und der sich zum Zweck desLebens setzt, es zu ertragen, zu helfen und zu retten. Wir hatten in den letzten Jahren auf dem Gymnasium einen Lehrer, von dem wir fühlten, daß er mehr war als ein Lehrer, der Wissen beibringt, weil von ihm ein Zug tiefer Lebensauffassung ausging, der wie Verklärung auf ihm lag und ihn adelte. Erst später erfuhr ich sein Schicksal. Seinem Talent und seinen Arbeiten nach war er bestimmt, eine hervorragende, wissenschaftliche Stellung einzunehmen. Er hatte eine große Zukunft vor sich. Durch eine Verkettung von Umständen zerschlug sich alles; er hatte sich bescheiden müssen, einfacher Gymnasiallehrer zu bleiben, und was er uns bot, das war das tief Edle und Reine, das Überwältigende, was Menschen bieten können, die im Leben über ihr Schicksal ruhig geworden sind und nicht mehr für das, was sie für sich erhoffen, sondern für das, was sie helfen und wirken wollen, leben.¦36¿

Und in dem Augenblick, wo der Mann im Gleichnis Mensch wird und helfen will, erlebt er, wasjeder erlebt, der helfen will: daß es Menschen gibt, denen er nicht helfen kann, und gerade denen, wo er’s am liebsten möchte. Wir alle kennen Menschen, denen wir nicht mehr helfen können, wie man keinen auf die Füße stellen kann, der sich hinlegt und die Glieder schlaff läßt, Menschen, die in ihrer äußeren Existenz 36 [A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 296 f.] «Deecke war ein hervorragender Schulmann, ein universell gebildeter Philologe und ein tiefer Mensch. Man fühlte ihm an, daß er uns nicht nur Wissen beibringen, sondern uns auch zu Menschen erziehen wollte. [...] Die Stelle am Gymnasium zu Mülhausen war eigentlich eine Verbannung für ihn. Daß er dabei immer heiter war und sich in den Schulstunden ganz ausgab, wo er doch so viel höhere Sachen im Kopfe trug, erfüllte uns mit Bewunderung.»

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oder in ihrer moralischen Existenz immer wieder in sich zusammenbrechen. Das ist ein Widerspruch mit dem Worte, daß man allem, was verloren ist, helfen soll, und mit unserm Glauben, daß wenn nur genug Liebe und Barmherzigkeit da ist, wenn dasWort wirklich gilt «die Liebe höret nimmer auf» [I Kor. 13,8], daß dann jedem Menschen geholfen werden kann. So stehn wir zwischen dem, was das Leben lehrt, und dem, was wir glauben wollen und waswir glauben müssen, wenn wir Kraft zum Helfen behalten wollen. Ich meine, wir lassen uns zu leicht überzeugen, daß wir Menschen nicht helfen können; wir sträuben uns zu wenig gegen diese Einsicht; es ist fast wie eine Versuchung für uns, dies anzunehmen, weil wir unsdamit entschuldigen, daß wir sie aufgeben – und ich meine nicht nur Arme und Elende, sondern Freunde, denen wir etwas sein möchten – Rat, Halt – , und daß wir uns oft zu der trostlosen Einsicht, daß wir nicht helfen können, durch die Menschen oder die Umstände bekehren lassen, wo wir von uns selbst wissen, daß wir nicht alles versucht haben, ob es nicht vielleicht an uns liegt, daß wir zu wenig getan haben. Der Mann im Gleichnis beruhigt sich nicht. Der Erzvater Abraham schlägt es ihm ab, den Lazarus zu seinen Brüdern zu senden, weil es doch nutzlos wäre. Er aber lehnt sich gegen den Bescheid auf; er wagt es, der arme Mann in der Hölle, demVater Abraham im Himmel zu widersprechen, weil er’s nicht glauben will, daß Menschen nicht geholfen werden kann, und wir fühlen es ihm an, daß er sich durch nichts wird beruhigen lassen, sondern immer um den Glauben kämpfen wird, daß jenen geholfen werden kann. So müssen auch wir gegen unsere Einsicht, gegen den Augenschein, gegen das, was die Menschen vernünftig sagen, uns sträuben, um es nicht zu glauben, daß es Menschen gibt, denen nicht geholfen werden kann, und nur das eine glauben, daß, wenn wahrer Wille und Ausdauer zum Helfen da sind, daß dann immer die Liebe triumphiert, gerade dann, wenn wir es nicht mehr glauben. Was daraus ward, sagt das Gleichnis nicht. Es schließt unbefriedigend wie das Leben und die Wirklichkeit selber. Es ist, als ob Jesus es mit Absicht so abgebrochen hat – daß es derWirklichkeit gleiche. Aber was es uns sagen will, ist klar und so ergreifend und wahr wieder wie dasLeben – daß wir gewärtig sein müssen, daß auch für uns ein Augenblick kommen kann, wo unser Leben eine Wendung nimmt, die allem, waswir für uns dachten, vorhatten, hofften, ein Ende macht, uns arm und elend macht, und daß wir dann nicht zugrunde gehen, sondern dem reichen Manne in der Feuerqual gleichen und geläutert werden zu solchen, die dienen und helfen wollen und sich den Glauben nicht entreißen lassen, daß sie helfen können.

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Morgenpredigt Sonntag, 15. November 1908, St. Nicolai

Röm. 12,2: Stellet euch nicht dieser Welt gleich Wir haben in den letzten Wochen etwas miteinander durchgemacht, dasuns wie ein böser Traum anmutet: Wir sahen die Gefahr auftauchen, daß zwischen unserm Volk und dem Nachbarvolke um eines Auftrittes willen, der sich zwischen einigen Angehörigen beider Völker auf fernem Boden abgespielt hatte, ein Krieg ausbrechen könnte. Über die Nichtigkeit desAnlasses waren sich alle klar; es galt als ausgemacht, daß die Angehörigen beider Länder, die dort aneinandergeraten waren, beiderseits zu gleichen Teilen unkorrekt und sicher nicht der Würde der beiden Nationen entsprechend gehandelt hatten. Und dennoch erwuchs daraus eine Ehrenfrage für beide Nationen, die den Krieg in bedrohliche Nähe rückte.¦37¿ Zuletzt handelte es sich nur mehr noch um eine Formel, in derjedes seine Ehre wahrte, und jetzt, wo die Formel ausgebrütet ist, gilt die Sache als erledigt. Die Zeitungen müssen darauf sinnen, mit wasfür andern Dingen sie ihre Leser in Spannung halten, und in ein paar Tagen haben sie so viel geschrieben, und der Bürger hat so viel gelesen, daß diese Wochen für ihn schon ausgetilgt sind. Wir aber wollen der Masse nicht gleichen, die die Dinge erlebt, ohne darüber nachdenken zu müssen, und daß wir nur das Äußerliche und nicht das Innerliche der Dinge erfassen. Miteinander fühlen wir, daß das, was wir erlebt haben, mag es von der Masse auch als geringfügig angesehen werden, weil es erledigt ist, bedeutungsvoll ist, weil es uns über den Geist unserer Zeit und Welt Klarheit gibt und uns zur Frage zwingt, ob wir uns noch in diese Welt hineinfinden oder ob nicht die innere Stimme uns sagt: «Stellt euch nicht dieser Welt gleich.» Was ist denn eigentlich vorgegangen? Es war uns zumut, als schäumte etwas in der öffentlichen Meinung auf, wie ein Getränk, das man in ein Glas schenkt, plötzlich zu schäumen anfängt, empor- und herausspritzt, und man es doch nicht aufhalten kann, und es doch nur ein sinn- und zweckloses Aufbrausen ist. So war es mit der öffentlichen Meinung, als diese Ehrensache die zwei Völker erregte, und als hüben und drüben sonst vernünftige Menschen um der vorgeblichen Ehre des Vaterlandes willen anfingen, unvernünftig zu werden. Ich habe in den kritischen Tagen mit Menschen, deren Fähigkeiten und Gesinnung ich hochschätze, gesprochen und bin über das, was sich in ihren Gedanken 37 [Österreich-Ungarn annektierte am 5. Oktober 1908 die ihm zurVerwaltung überlassenen Provinzen Bosnien und Herzegowina. Deutschland, Italien und Rußland waren schwer verstimmt. Europa bewegte sich am Rande eines Krieges.]

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offenbarte, erschrocken; und ich sah, daß, was in dem Einzelgeist vorgeht, sich auch in dem Gesamtgeist derVölker offenbart. Wagen wir einmal, die Sache beim Namen zu nennen. Eine gewisse Art von Patriotismus von heutzutage verwirrt das ruhige und gerechte Denken der Menschen, so daß sie nicht mehr groß und klein, wichtig und unwichtig, recht und unrecht unterscheiden können noch wollen, sondern sich einer gewissen blinden Leidenschaftlichkeit hingeben, die nicht das Gute, sondern das weniger Gute in der Natur des einzelnen und eines Volkes an die Oberfläche bringt. Das kann nicht im Wesen des Patriotismus selbst liegen; denn das Gefühl der engen Zugehörigkeit zu einem Volke ist etwas an sich Natürliches und Schönes und sittlich durch und durch wie alle Verhältnisse, wo der einzelne in einer Gesamtheit undin demWillen einer Gesamtheit aufgeht. Was ist’s nun, was die Vaterlandsliebe unserer Tage entstellt? Daß der einzelne nur mehr Ideale des Ehrgeizes und der Macht für dasVolk hat, dem er angehört, und daß dies als ganz selbstverständlich gilt. Sobald diese Saite berührt ist, sollen alle tiefen und hohen Gedanken, die in einer Menschenbrust sich regen, schweigen, weil sie diese Herrsch- und Machtgedanken behindern könnten. Ich wagte, Menschen, die ich als religiös nicht gleichgültig kannte und deren Verständnis für dasWahre und Gute mich oft belebend berührt hatte, in diesen Tagen zu fragen: Was macht ihr denn mit der Religion, ihr, die ihr das Recht und die Notwendigkeit eines Krieges in einer so geringfügigen Angelegenheit verfechten wollt? Und die Antwort lautete: Religion und Politik haben nichts miteinander zu schaffen! Dieser Satz ist für unsere Zeit zum Dogma geworden und wird von hoch und nieder gewisser geglaubt, als je eine kirchliche Lehre in der Zeit der starrsten Rechtgläubigkeit geglaubt wurde. Religion heißt in diesem Falle aber der Glaube an eine Vollendung der Menschheit und an die Ziele der Geschichte, der Glaube an den Sieg dessen, waswahr und edel ist, der Glaube daran, daß einst die Zeit kommen wird, wo der Geist der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Friedens herrscht unter denVölkern und über dieWelt. Das war es, was der Geist der Propheten zum ersten Mal in Zeiten des tiefsten Niedergangs ihres Volkes vom unendlichen Geist vernahm; das war es, wasJesus zusammenfaßte als Glaube und Bitte, als er uns beten hieß: «Dein Reich komme» [Mt. 6,10]. Glauben wir daran oder glauben wir nicht daran? Wenn wir daran glauben, so können wir nicht anders, als [daran festhalten], daß Religion und Politik in unsern Gedanken etwas miteinander zu tun haben, denn dann bekommt das, was dasVolk, dem wir angehören, in derWelt ausrichtet und wird, seinen Wert oder Unwert dadurch, ob es zur Zukunft des Reiches, wo der Geist der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des Friedens herrscht, beiträgt oder nicht, und unsere natürliche An-

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hänglichkeit an dasselbe wird dadurch gereinigt und in eine höhere Sphäre erhoben, daß es für uns eine Macht ist, die auf die letzten, großen Ziele der Menschheit hin arbeitet. In jeder tiefen Liebe zu einem Volke muß etwas Glaube und Hoffnung auf das kommende Reich des Geistes sein. Und das haben sie uns genommen, indem sie dasWort Realpolitik unter die Massen warfen. Man sagt, daß es große Menschen gewesen sind, die vor einem Menschenalter diesem Wort den Hauch ihres Geistes verliehen. Ich weiß nicht, ob dem so war und ob sie auch vor einer kommenden Geschichte so groß dastehen werden. Zuletzt sind doch nur die wahrhaft groß, die die Menschen besser machen und ihnen etwas geben, das sie geistig aufrichtet. Wir aber sind durch die Realpolitik ärmer geworden; wir gehen geistig zugrunde, und dasTiefste und Reinste, was in der Liebe deseinzelnen zu seiner Nation sein kann, ist gestört. Unsere Zeitungen und Abgeordneten haben sich in diesen Tagen ausgiebig über die gegenwärtige Lage ausgelassen. Sie haben den undjenen, dieses undjenes für denTiefstand, den sie nicht nur in unserm, sondern auch in den andern Ländern konstatieren, verantwortlich gemacht. Aber was es ist, haben sie nicht gesagt: daß wir keinen Glauben an eine Menschheitszukunft haben, daß wir keine großen Menschheitsideale für unsere Staaten und Völker kennen, sondern wie verzaubert die Augen und Sinne davor verschließen und als dasletzte Ideal, dasuns mit einem Volk verbindet, nur die Macht, die Macht an sich, die Macht umjeden Preis anerkennen, alsob dasein Zweck an sich, ein Ideal wäre. Das hat die besten Geister unserer Zeit betört. Ich habe immer gelitten, wenn ich Naumann politische Reden halten hörte. Er war von der Kanzel weg in das Getriebe der politischen Dinge getreten, um eine Mission zu erfüllen. Aber wenn ich ihn seine Machttheorien entwickeln hörte und seine gewaltigen rednerischen Sätze dahindröhnten, dawar es mir immer, als müßte ich ihn fragen: Was fängst du denn an mit der Bitte «Dein Reich komme» [Mt. 6,10], der andern «Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden» [Mt. 6,10] und «Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen» [Mt. 5,9], «Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen» [Mt. 5,5]? Wenn man diese Sprüche nur zu denken wagte, klang es falsch in dieWorte hinein. So ist bei denVölkern unserer Zeit Vaterlandsliebe zum blinden Willen zur Macht geworden. Nur die äußerlichen Interessen sollen entscheidend sein, alles andere darf nicht mitsprechen. Unsere Völker haben die Niedermetzlung der Armenier mitangesehen, keines trat auch nur mit einem diplomatischen Wort für diese Menschen ein. Undjeder redete es dem andern mit kluger Miene nach, daß man sich da nicht einmischen dürfe; man könnte bei der betreffenden mordenden Regierung Mißstimmung erregen, unter der unsere orientalischen Handelsinteres-

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sen leiden könnten ... und die gingen doch vor allem. Man darf ruhig sagen, daß, wenn heute der Sklavenfang und der Sklavenverkauf von Afrika nach Amerika noch bestände, eine Einigung der Mächte zur Bekämpfung der Sklavenhändler nicht zustande käme, weil jede ihre Han-

delsinteressen vorschützen würde. Wir haben es erlebt, daß die Besiegung der Luft Tatsache wurde. Ihr habt euch mitgefreut mit den Menschen, denen es gelang. Seid ihr aber nicht erschrocken, als die Stimmen des Zeitgeistes allzu vernehmlich aus der Begeisterung heraustönte, indem allgemein in der Entdeckung die neue Kriegswaffe gefeiert wurde und ihre Zukunftsbedeutung dahinter ganz verschwand, als wäre unsere Zeit gar keiner andern Erwägung mehr fähig als derjenigen, die da lautet: Was gibt mir Macht und Vorsprung den andern gegenüber? Wenn zwei Menschen nur durch den Gedanken, wie sie es zu Ansehen und Reichtum bringen, geeint sind, so mögen sie zeitlebens miteinander einig sein und sind es doch nicht; haben nicht voneinander, was sie voneinander haben könnten, denn das beste, wasjedes in sich trägt, muß dabei tot liegen. So ist auch gewiß, daß der Staat und seine Menschen, wenn sie nur durch dieses Streben nach Macht miteinander verbunden sind, miteinander verarmen, weil sie gerade das Beste einander nicht geben können. Und weil dieser Wille zur Macht blind und ohne jeden höheren Weltzweck ist, so werden wir alle miteinander in das Chaos zurückgeworfen. Das ist das Furchtbare, daß das Stück Weltgeschichte, das wir miterleben, Chaos ist. Es hat Geschlechter gegeben, die äußerlich Schwereres durchzumachen hatten; aber nie hatte man dieses erdrückende Gefühl, nicht voranzukommen, sondern einem für den letzten Endzweck der Welt sinn- und zwecklosen Hinundherwogen desGeschehens beizuwohnen, wie wir es haben. Sie werden euch sagen: Es ist nun mal so, man macht die Welt nicht anders, als sie ist. Glaubt es ihnen nicht. Es war nicht immer so, und es muß nicht immer so bleiben. Ich bin innerlich ergriffen, wenn ich etwas von Fichte oder von Schleiermacher lese. Sie haben etwa vor hundert Jahren geredet und geschrieben, als der preußische Staat in sich zusammengebrochen war. Für sie ist die Liebe zu ihrer Nation nicht ein eitles Drängen auf Wiederherstellung der Macht, sondern ein Glauben an ihr Volk. Sie glauben, daß es nicht untergehen darf wegen der sittlichen Aufgaben und der Menschheitsaufgaben, die es in der Welt zu erfüllen hat. Mit diesen Gedanken erheben sie ihr Volk über sich selbst hinaus und geben ihm eine sittliche Größe, die es vor dem Untergang bewahrte. Und wer das einmal gefühlt hat, wie bei diesen großen, rettenden Geistern jener Zeit das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu ihrem Volk von sittlichen und religiösen Idealen getragen ist, der muß lächeln über den armseligen und trostlosen Patriotismus, mit dem man die Menschen heute in Begeisterung zu halten sucht.

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Und wie wir an eine andere, tiefere und größere Zugehörigkeit des einzelnen zu seinem Volke glauben, so halten wir auch dafür, daß der Satz: Religion und Politik haben nichts miteinander zu tun, nur eine arme Idee des Zeitgeistes ist. Es hat in früherer Zeit manchen Politiker gegeben, der nicht nur nackte Interessen- und Machtpolitik trieb, sondern darin etwas von seinen Hoffnungen auf die Zukunft der Menschheit zu verwirklichen suchte; und sie brachten Besseres und Förderlicheres zuwege, als wir heute gemeinhin zu sehen gewohnt sind, gerade weil sie reine und auf ein Menschheitsideal gehende Gedanken zur Richtschnur hatten. Als in den Kriegsläuften der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts die Diplomaten an den großen und kleinen Höfen nur daran dachten, wie jeder Vorteile für sein Land oder Ländchen dabei herausschlagen könnte, und diese Stimmung allgemein überhandnahm, da glaubte es Kant seinem Volke schuldig zu sein, mit der zitternden Hand des Greises sein politisches Glaubensbekenntnis niederzuschreiben. Er hat darin den Ertrag seiner langen Beobachtungen und zugleich das Glauben und Hoffen eines klar denkenden, nüchternen Menschen niedergelegt und betitelte die fünfzig Seiten «Zum ewigen Frieden». Der Grundgedanke ist der, daß nur das die wahre Politik ist, die etwas Höheres kennt als Macht und greifbaren Vorteil, die aus dem Chaos heraus will und von dem Gedanken einer Vollendung der Menschheit getragen ist und auf den Endzustand zustrebt, der da heißt «ewiger Friede». Ich habe dieses Schriftchen in diesen Tagen wieder gelesen und mich daran erbaut. Und wer von euch in der Lage ist, sich durch trockene und schwerfällige Sätze und Gedanken hindurchzufinden, möge die zwanzig oder dreißig Pfennig, die es kostet, aufwenden und es auf den Schaft mit den liebsten Büchern stellen. Er darf es ganz nahe ans Neue Testament rücken, denn es ist’s wert. Ich bitte euch nicht um Entschuldigung, daß ich euch von Patriotismusund Politik auf der Kanzel geredet habe, denn ich meine, wir müssen miteinander von dem sprechen, was uns bewegt. Ich glaube sogar, daß dies auch für uns Erbauung war. Zunächst zwar ist es etwas unsäglich Trauriges, dies alles gegeneinander auszusprechen. Wir fühlen uns mehr als sonst eine Generation als «Gäste und Fremdlinge» [Hebr. 11,13] auf Erden, weil dasGetriebe der gegenwärtigen Geschichte so gar nichts zu tun hat mit dem, wasjeder denkende Mensch, der noch einen Funken Seele hat, für die Menschheit wünscht und erwartet. Aber es ist doch etwas Erbauliches daran, daß wir uns miteinander darüber klar sind, daß wir uns dieser Welt nicht gleichstellen und darin mit vielen und den besten Menschen unserer Zeit einig sind. Was die Menschen heutzutage ihrem Lande schulden zu müssen glauben, blinde Begeisterung für Ruhm und Macht an sich, können wir, wenn wir verstehen, was in der Zeit vorgeht, nicht geben. Aber

Gleichnis

vomSchalksknecht

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was wir geben können, ist kostbarer: ein Glauben und ein Hoffen, daß alle Völker in ihrem Tun und Handeln dem großen Endzweck der Menschheit und der Welt dienen und zuletzt dennoch ein Zutrauen zu dem Volke, dem wir angehören, daß es zu denen gehört, die am berufensten sind, an den großen Zielen in großer, sittlicher Gesinnung zu arbeiten, und daß Menschen in ihm erstehen werden, an hoher und niederer Stelle, die es wieder wagen, dies auszusprechen, und mithelfen, unserer Nation einen neuen Geist einzuhauchen. Mehr als Krieger und Kanonen braucht unser Vaterland in dieser Zeit Menschen, die solches für es denken und hoffen und so an es glauben. Und fürchtet euch nicht, das, was ihr denkt, auszusprechen, mag es auch unzeitgemäß gescholten und von denen, die im Geiste der Zeit weise und klug sind, bespöttelt werden. Wir alle müssen miteinander arbeiten an dem neuen Geist und die Gedanken der Menschen aus dem Schutte der oberflächlichen Meinungen und dem Dunkel der Gedankenlosigkeit ansTageslicht bringen, damit in diesem wie in allem sich etwas von demWorte Jesu erfülle, nach welchem wir Licht derWelt sein sollen [Mt. 5,14].

Morgenpredigt Sonntag, 29. November 1. Advent

1908,¦38¿ [St. Nicolai]¦39¿

[Mt. 18,23– 33: Gleichnis vom Schalksknecht]¦40¿ Erster Advent. Die Stürme, die den Winter brachten, schweigen, und Friede legt sich über die ganze Natur. Friede tragen die Adventsglocken in Städte und Dörfer, über Feld undWald bis ins hinterste Tal.Wie Sabbatstille liegt es auch über den Wochentagen, die kommen. Eine Zeit 38 [Am 26. November schreibt Albert Schweitzer von Paris aus an Helene Bresslau:] «Gestern und vorgestern morgen habe ich nichts anderes gemacht, als an meiner Predigt gearbeitet.» [Zentralarchiv Günsbach.]

39 [Nach dem Kirchenboten hatte Schweitzer in St. Nicolai Morgenpredigt.] 40 [Darum ist das Himmelreich gleich einem König, der mit seinen Knechten rechnen wollte. Und als er anfing zu rechnen, kam ihm einer vor, der war ihm zehntausend Pfund schuldig. Da er’s nun nicht hatte, zu bezahlen, hieß der Herr verkaufen ihn und sein Weib und seine Kinder und alles, was er hatte, und bezahlen. Da fiel der Knecht nieder undbetete ihn an und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, ich will dir’s alles bezahlen! Dajammerte den Herrn des Knechts, und er ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch. Da ging derselbe Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig; und er griff ihn an und würgte ihn und sprach: Bezahle mir, wasdu mir schuldig bist! Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir, ich will dir’s alles bezahlen! Er wollte aber nicht, sondern ging hin undwarf ihn ins Gefängnis, bis daß er bezahlte, waser schuldig war. Da

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der Einkehr ist gekommen, trotzdem das Leben seinen Gang weitergeht. Es ist, als ob der Mensch in uns, der nach Sammlung ringt, zum geschäftigen Außenmenschen an uns sagte: Laß mich auch leben, und als ob, was an guten und heiligen Gedanken in uns lebt, waswir für uns und die Menschheit erträumen und erhoffen, freier und zuversichtlicher in uns redete, und als ob wir es gewisser glaubten, daß der Geist Jesu in unserer Welt Erlösung zu wirken und die Lasten zu heben vermag, die auf der Menschheit liegen. Zu den schwersten Lasten gehört die Schuld. Darum soll das GleichnisJesu uns zum ersten Advent von Schuld undVergebung predigen. Ich fürchte, dasGleichnis ist den meisten Menschen etwas zuVertrautes und Anerkanntes, als daß es seine ganze zwingende Gewalt ausübte. Der Satz, daß der, dem von Gott die Schuld erlassen ist, nun seinerseits auch den Menschen, die bei ihm in Schuld stehen, nichts behalten darf, findet Zustimmung; in einzelnen Fällen wirkt er auch bestimmend; aber im allgemeinen kann man nicht sagen, daß der Glaube an eine göttliche Sündenvergebung, so nach dem, was wir um uns sehen, eine allgemeine Gesinnung des Vergebens wirke, ich meine so eine Gesinnung, die jedem im täglichen Leben so gegenwärtig ist. Es ist zuletzt doch wie ein Hintergedanke in uns, daß es dennoch zwei verschiedene Rechnungen sind: zwischen Gott und uns und uns und den Menschen.

Wir gleichen darin dem Knechte, der auch für sein Konto dem König und dem armen Mitknechte getrennt Buch führt und der daran zugrunde geht, daß er meint, das eine gehe das andere nichts an. Erlaubt mir eine Frage: Habt ihr euch schon des öfteren zu vergegenwärtigen gesucht, was ihr in eurem Leben als Schuld empfindet, indem ihr dabei euer natürliches Gefühl reden ließet und nicht so sehr versuchtet, eure Gedanken in den Geleisen einherfahren zu lassen, wie sie in der christlichen Lehre, wie man sie gemeinhin darstellt, zum Vorschein kommen? Wenn ihr dastut, so habt ihr sicher schon gefunden, daß euch die Sünde und die Schuld in eurem Leben am unmittelbarsten und im weitesten Umfang als eine Verschuldung gegen Menschen zu Bewußtsein kommt. Ich habe das an mir erlebt. Der Begriff Sünde ist für mich in dem Maße etwas Lebendiges geworden, als ich anfing zu fühlen, was Schuld gegen Menschen bedeutet.

aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten vor ihren Herrn alles, das sich begeben hatte. Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? Und sein Herr ward zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis daß er bezahlte alles, waser ihm schuldig war. Also wird euch mein himmlischer Vater auch tun, so ihr nicht vergebet von eurem Herzen, einjeglicher seinem Bruder seine Fehler.]

Gleichnis vomSchalksknecht

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In unserer Religion ist zuviel die Rede einseitig von der Schuld Gott gegenüber, zu wenig von der Schuld den Menschen gegenüber. So kommt es, daß für viele Menschen der Begriff Sünde etwas merkwürdig Unlebendiges bleibt. Sie hören ihn zum letzten Mal in der Konfirmandenstunde; dann rückt er für sie so an die äußere Grenze dessen, was sie eigentlich erfassen. Sie fühlen, daß etwas daran ist, aber es verfolgt sie nicht im gewöhnlichen Leben; obwohl sie sich Mühe gegeben haben, sich hineinzuzwingen, ist es ihnen etwas geblieben, was sie zuletzt nicht ganz innerlich erlebt haben. Ich weiß nicht, ob das im Geiste unserer Zeit liegt oder was daran ist; ich weiß auch nicht, ob es ein Fortschritt oder ein Rückschritt ist, daß wir die Sünde nicht mehr so sehr wie ein Augustin oder Luther als eine Verletzung der Heiligkeit Gottes erfassen, sondern uns ihrer bewußt werden als einer Schuld gegen Menschen, die uns niederdrückt und unsern Geist die Gemeinschaft mit Gottes Geist nicht finden läßt; aber eines ist mir gewiß: Nicht donnernde Reden von allgemeiner Sündhaftigkeit werden dasWort Schuld in dem Menschen unserer Zeit lebendig machen und ihm seine Selbstgerechtigkeit nehmen, sondern der Weg für uns ist der, daß wir uns in Gedanken dem Gerichte der

Menschen stellen. Wage es einmal, den Selbstverteidigungsphrasen Schweigen zu gebieten und innerlich stumm nur eine Viertelstunde auf das zu hören, was Ferne und Nahe, Tote und Lebende in Gedanken gegen dich vorzubringen haben; greif nur die Gesichter auf, die dir grad einfallen, und lies aus ihnen, was ihr Mund nie ausgesprochen hat und vielleicht nie aussprechen wird und dasdoch darin steht als deine Schuld. Und wenn du der ehrlichste Kämpfer bist, so ist dieses Zurückblicken etwas Grausiges; denn hier gibt es kein Entrinnen; dein ganzes Leben fängt zu reden an; jede einzelne Frage wird alsbald zu einer unabsehbaren Kette. Wasgeschieht mit einem jeden von uns, wenn er wagt, auszudenken, gegen welche Menschen er undankbar war? Was geschieht mit einem jeden von uns, wenn er es wagt, auszudenken, mit welchen Menschen er unaufrichtig gehandelt hat? Was geschieht einem jeden von uns, wenn er wagt, auszudenken, welcher Menschen Vertrauen er getäuscht, welchen gegenüber er üble Nachrede, Worte, die er nicht verantworten kann, gebraucht hat, denen gegenüber er aus Zorn oder aus Rache gehandelt, wo er sich und die andern glauben ließ, daß er rein sachlich urteilte und vorging? Ich zähle nicht auf; ich deute nur das Alleralltäglichste an. Es kommt manchmal an einen Menschen, daß er wie aus einer Art von wahrhaftiger Neugierde in seinem Leben und dem, was sich an Schuld gegen Menschen darin angehäuft hat, erbarmungslos klar sehen will. Aber kaum hat er einen Blick hineingetan, so läßt er es wieder. Instinktiv fühlt er, daß ihm etwas offenbar wird, wasihm sonst verborgen

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bleibt und von dem er will, daß es ihm verborgen bleibt: daß es sich wie eine große Lüge durch sein Dasein hindurchzieht, als ob er als ein nicht innerlich gedemütigter Mensch weiterziehen darf. Denn am Ende dieses Klar-sehen-Wollens steht der Bankrott unserer ehrlichen Selbstgerechtigkeit in gutem Sinne, die innerliche Demütigung vor den Menschen, daß wir wagen, vor unsern innersten Gedanken diese Schuld gegen die Menschen, über die wir uns wie aus Selbsterhaltungstrieb im gewöhnlichen Leben hinwegreden, einzugestehen und auf uns zu nehmen, was auch daraus werde, lieber als in der Selbsttäuschung weiter zu

leben.

Das ist etwas, durch dasjeder im Leben durch muß. Der eine kommt langsam dazu, wie zu einem Berg, den er schon lange in der Ferne sah; der andere stürzt bei einer Wendung seines Lebensweges hinein, als glitte er unverhofft am Weg aus, und es ist einer der Augenblicke, wo das Leben wirklich beginnt; wo es dem Menschen ist, als wäre er blind geboren undhätte blind gelebt undwürde jetzt erst sehend. Ich habe mich nie in die Seele der Menschen versetzen können, denen große Worte über ihre Sündhaftigkeit und Sündhaftigkeit überhaupt leicht über die Lippen kamen; es macht mir nie einen wirklichen Eindruck; ich fürchte immer die Phrase dabei. Aber an den wenigen Menschen, wo ich gefühlt habe, daß sie innerlich demütig geworden durch die Schuld, die sie sich selber gegen Menschen eingestanden, hat es mich ergriffen wie keine Sündenpredigt und hat mir ein Licht in mein eigen Leben geworfen. In dem Kapitel des Evangeliums Matthäus, aus dem unser Gleichnis genommen ist, steht das rätselhafte Wort Jesu an seine Jünger, daß, was sie auf Erden binden, auch im Himmel gebunden sein wird, und wassie auf Erden lösen, auch im Himmel los sein soll [Mt. 18,18]. In welchem besonderen Sinn es in dem Augenblick, daer es sagte, gemeint war, mögen die gelehrten Ausleger entscheiden, wenn sie es können; aber der allgemeine Grundgedanke ist unmittelbar wahr – daß Menschen den Menschen Sünden behalten und Sünden vergeben können. Wer betet: «Vergib unsunsere Schulden» [Mt. 6,12], der bittet damit auch, daß Gott durch seinen Geist Vergebung für ihn in Menschenherzen wirke. Das ist der furchtbare Ernst und die furchtbare Gerechtigkeit des Lebens, daß wir aufeinander angewiesen sind. Und es ist wie im Gleichnis; was wir zu vergeben haben, ist nichts, gar nichts im Vergleich zu dem, wasuns zuvergeben ist. Ich kenne nicht viele von euch so, daß ich einen ungefähren Begriff von ihrem Leben habe. Aber das weiß ich, daß keiner an der Wahrheit dieses Satzes auch für ihn, auch nur einen Augenblick rütteln darf. Tausend Pfund gegen hundert Groschen, so stimmt’s für einen jeden unter uns. Es werden manche Menschen von dem Hauch dieser natürlichen Gedanken über Schuld von uns an Menschen und Schulden von Menschen

Wir wissen, daß alle Kreatur

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an uns berührt und in dieses innerlich Demütig-Werden hineingezwungen, wie ein Schwimmer von einer Strömung abgetrieben wird, und kommen doch nicht so weit damit, als sie sollten, und tragen es mit im Leben herum, ohne daß es die Früchte trägt, die von einer solchen Erkenntnis reifen sollen. Sie finden die Art desVergebens nicht; was sie sich darunter denken, paßt nicht ins gewöhnliche Leben; es ist unbrauchbar. Dann werden sie irre undlassen die Dinge wieder gehen und tragen im Innern eine Sehnsucht nach Vergeben in sich, die das Leben immer wieder verneint, als wollte es auch hier sein höhnendes Spiel mit Ideal undWirklichkeit treiben. Es fängt die Menschen mit einer falschen Vorstellung von Vergeben und läßt sie glauben, daß Vergeben darin besteht, daß zwei Menschen sich nun tüchtig aussprechen, daß das, was zwischen ihnen liegt, vollständig klargestellt wird, wasnun als abgetan begraben wird. Es kommt vielleicht noch ein bißchen Eitelkeit dazu, daß wir uns als großmütig vor den andern aufführen und diese uns die Anerkennung dafür nicht versagen. Das sind alles kindliche Vorstellungen, mit denen man bald am Ende des Weges ist. Mancher, der es ehrlich versucht hat, hat damit furchtbare Ernüchterung erlebt, wurde mißverstanden, verlacht und verspottet. Seien wir ganz nüchtern, wie die Menschen sein müssen, die den Weg suchen, um ein Ideal zu verwirklichen. Von hundert Menschen, denen du etwas zu vergeben hast, würden achtzig, wenn du ihnen davon sprächest, dir erwidern, daß sie dir gegenüber sich nicht im geringsten schuldig fühlen und sich dein Vergeben verbitten. Das weißt du von ihnen, und dann sagt der natürliche Mensch in dir: Er will nicht; gut, so bleibt’ s, wie es ist.¦41¿

Morgenpredigt Sonntag, 13. Dezember 1908, St. Nicolai 3. Advent

Röm. 8,22: Wir wissen, daß alle Kreatur sehnt sich mit uns und ängstet sich noch immerdar Advent ist die Zeit, wo wir uns aus der Schuld, die auf der Welt lastet, nach Erlösung sehnen. Heute vor vierzehn Tagen gedachten wir der Schuld, die zwischen Menschen schwebt, und von der wir uns durch gegenseitiges Vergeben erlösen.¦42¿ Heute wollen wir miteinander von 41 [Der Schluß besteht aus Stichwörtern.] 42 [Siehe S. 955. 29.11.08.]

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der Schuld der Menschheit zur sprachlosen, zum Leiden verurteilten Kreatur reden. Es gehört dies zur Religion wie alle tiefen Fragen des Daseins, obwohl es im Christentum ganz zurückgetreten ist. Zwar wirft man es unserm Herrn mit Unrecht vor, daß er nicht ausdrücklich von der Barmherzigkeit gegen die Tiere gesprochen hat; alles was er darüber hätte sagen können, liegt in der Seligpreisung «Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen» [Mt. 5,7], sofern er darin von der Barmherzigkeit allgemein gegen alle Kreatur redet. Wahrscheinlich hat er auch keinen Anlaß gehabt, denen, die ihn hörten, das Gewissen für dieTiere zu schärfen, da schon im Gesetz diese Barmherzigkeit verlangt wird. Steht doch im fünften Buch Mose, daß man dem Ochsen, der da drischt, das heißt, auf der Tenne die Körner aus den Ähren tritt, dasMaul nicht verbinden darf, damit dasTier von derArbeit auch etwas habe, indem es hie und da ein Maul voll nehmen kann [Dtn. 25,4]. Aber das Christentum ist dann an dieser Frage vorübergegangen und hat auch hier, dem Sinne seines Stifters entgegen, nicht immer erkannt, daß wahre Religion auch wahre Menschlichkeit ist. Es war, als hätte man eine gewisse Angst, der Unterschied zwischen Mensch und Tier könnte verwischt werden. So hat es in dieser Sache Bankrott gemacht. So lebt in unserer Menschheit eine Roheit und Gedankenlosigkeit, die zu einer solchen reinen Religion nicht stimmt. Die indischen Religionen, die tief unter dem Christentum stehen, haben darin ihre Menschheit viel höher gehoben. Für uns arme Stadtmenschen ausdem 20. Jahrhundert ist die Gefahr, in der Frage Mensch und Kreatur steckenzubleiben, besonders groß. Die wenigsten unter unsbesitzen auch nur einen Hund; die Kühe, deren Milch wir trinken, haben wir nie gesehen. Unser Zur-Miete-Wohnen hat eine chinesische Mauer zwischen demTier und uns aufgerichtet. Die Kinder bei uns wachsen auf und haben nie, wie die draußen auf dem Land, das Seelenvolle und Persönliche in demWesen desTieres kennengelernt, und es fehlt ihnen die Sinnigkeit und Milde des Gemütes, das auch mit Tieren gelebt hat. DasWeh der Kreatur bleibt uns etwas Fremdes. Gar vielen Menschen ist es gar nicht mehr bewußt, daß sie mithaften für das, was die Kreatur bei uns erduldet. Sie denken auch, daß wir es eigentlich sehr weit gebracht haben. Wir haben ja denTierschutzverein, wir haben die Polizei, die werden schon die nötige Vorsorge treffen. Wer aber die Augen aufmacht, der erwacht aus dieser Sicherheit und sieht, was alles geschieht, weil keine Menschen da sind, die über die Kreatur wachen. Wie waren wir doch alle so gewiß, daß in unserm Schlachthaus alles aufsbeste bestellt sei, weil’sjajetzt langsam zum Dogma wird, daß Straßburg in jeder Beziehung eine Musterstadt ist. Wir waren gewiß, daß alle

Wir wissen, daß alle Kreatur

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Tiere möglichst ohne Qual und Angst getötet würden; und als dann einer letzten Sommer der Sache auf den Grund ging und seine Beobachtungen veröffentlichte, da erfuhren wir plötzlich, daß unser Schlachthaus in mancher Hinsicht eine wahre Tierhölle war und daß es darin zuging, wie esin einem modernen Schlachthaus nicht zugehen darf. Aus der Sicherheit wirft es dich auch, wenn du an den Baustellen durchgehst, wo sie den Grund zum Fundament ausheben und fortführen; es muß einer Nerven wie Glockenseile haben, wenn er es länger als fünf Minuten mitansehen kann, unter welchen Anstrengungen und Mißhandlungen die armen, alten Pferde den Wagen durch die weiche Erde auf die Straße heraufziehen. Mit welchem Grauen muß dasTier, daszu solcher Arbeit verdammt ist, den ersten Sonnenstrahl in den Stall scheinen sehen, der ihm ankündigt, daß es nun wieder soundso vielmal aus der Mulde heraufgepeitscht wird. Vor einigen Monaten schrieb es einer in die Zeitung und fragte, warum man solches erlaube. Da antworteten die Fuhrleute, daß sie nichts dafür könnten; die Bauunternehmer verdingten das Abfahren der ausgehobenen Erde zu so niederen Preisen, daß an ein Halten von kräftigen Pferden nicht zu denken sei; die Abfuhr würde nach Wagenladungen vergeben, und wenn sie anfingen, die Fuhren kleiner zu machen, so würden sie bald entlassen werden und andern Platz machen müssen, die wieder dasvolle Maß lüden. Nun wird weiter gepeitscht. Das ist das Grausige in unserer Zeit, daß die Menschen nicht nur aus Gedankenlosigkeit roh sind, sondern daß der Kampf ums tägliche Brot sie zwingt, das Letzte aus ihrem Tier herauszuholen. Nicht die Quäler sind immer die einzigen Schuldigen, sondern die, welche sie in diese Lage bringen. Bei Tauwetter ersuchte ich letzten Winter einen Polizisten, einen Kohlenfuhrmann, dessen Pferd vor Erschöpfung fast umfiel, anzuhalten und ihm aufzuerlegen, Vorspann zu holen. Ich kam dann in ein Gespräch mit ihm, und er sagte mir, er habe sich wohl gedacht, daß es beim schmelzenden Schnee eine Quälerei geben würde, und wenn es auf ihn ankäme, hätte er nur halb soviel geladen; aber die Herren auf dem Büro nähmen keine Rücksicht auf dasWetter; man müsse soundso viel laden und wer dawiderreden wollte, der könnte sich bald einen andern Platz suchen. Habt ihr noch nie im Sommer die Ochsen und Kühe, in den Wagen auf dem Bahnhof zusammengepfercht, schreien hören? Die Unbefangenen meinen, sie schrien aus Langeweile. Wer aber den Schrei der Tiere kennt, der weiß, daß sie vor Hunger und Durst schreien, und wer nachfragt, wie lang sie fahren, ohne ein Hälmchen und einen Tropfen Wasser zu bekommen, dem stehen die Haare zu Berg, und wenn der Zug schon lange durch Wiesen und Felder eilt, hört er immer noch den Schrei der verdurstenden Tiere.

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Wie furchtbar wahr ist es doch, was der Apostel sagt: «Die Kreatur ängstet sich noch immerdar.» Wer in diesen Abgrund von Qual, welche die Menschen über dieTiere bringen, hineingeblickt hat, der sieht kein Licht mehr; es liegt wie ein Schatten über allem, und er kann sich nicht mehr unbefangen freuen. Wenn ich jemand sagen höre, was doch Paris für eine schöne Stadt sei, muß ich bei mir denken, daß dies nur für jemand gelten kann, der die Marter, welche die Zugtiere wegen der großen Steigungen erdulden, mehr denn in einer andern Stadt, eben nicht sieht; von dem Augenblick an, wo er es gesehen hat, läßt es ihn nicht mehr los. Es liegt ja schon ein unlösbares Rätsel über der Kreatur an sich, daß ein Tier über das andere Qual bringt, daß sie in grausiger Unbefangenheit dahinleben und nicht wissen, was Mitleid ist. Dem allem stehen wir machtlos gegenüber und müssen nur kämpfen, daß wir am Dasein überhaupt nicht irre werden. Wir schweigen ja davon; begraben es in uns. Aber manchmal ist’s, als müßten wir aufschreien, getroffen von dem dunkeln Elend, und als hörten wir das Stöhnen der Kreatur, das zum Himmel dringt. In seinen Schriften und Briefen erzählt Richard Wagner, wie er durch den Anblick irgendeines Leidens von Tieren für ganze Tage zu leben aufhörte und litt, als zehrte die Glut des Schmerzes an seinem Herzen. Und in das Dunkel ist ein Lichtstrahl gefallen; der Menschengeist ist frei geworden von der dunkeln Macht, die die Tierseele noch in der Materie knechtet; er hat dasVermögen des Mitleids; er kennt nicht nur seine Angst und sein Weh, sondern er fühlt auch die Angst und dasWeh von Mensch und Kreatur um sich herum und schafft nicht Qual, sondern bannt sie. Das ist Erlösung. Und an dieser Erlösung muß teilhaben, was an Kreatur mit der Menschenwelt zusammenkommt, daß er nicht mit ihr nach der Unwissenheit der Mitleidslosigkeit verfährt, sondern nach Barmherzigkeit, dem Göttlichsten an der menschlichen Seele. In die furchtbaren Rätsel des Seins ragt das Mitleidig-sein-Können hinein und hilft uns, daß wir unter der Last desUnlösbaren, unter dem Gefühl des Ohnmächtigseins nicht zusammenbrechen. So ist der wissende Mensch ein Erlöser der Kreatur; so weit seine Macht und Kraft reicht, kann er die Qual von der Kreatur nehmen. Wie furchtbar, wenn der Mensch statt zu erlösen, schuldig wird und quält! Dieses Geheimnis der Erlösung von Qual ist in unsern Tagen noch wunderbarer geworden. Die geängstete Kreatur hat den Menschen erlöst und Angst und Schmerz von ihm genommen. Wir besitzen die Mittel, denen, welchen keine Nacht sonst Schlaf gebracht hätte, die Augen zum Schlummer zu schließen; wir vermögen manchen unerträglichen Schmerz wegzuwischen; wir können Betäubung bis zu vollständiger Bewußtlosigkeit erzeugen, um dann Eingriffe vorzunehmen, die einer Familie Vater oder Mutter wiedergeben oder Eltern das Kind erhalten;

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Krankheiten, die man früher erst erkannte, wenn es zu spät war, können wirjetzt feststellen, ehe sie noch recht ausgebrochen sind, undim Keime bekämpfen. Wir verfügen über Serum als Gegengift gegen manches heimtückische Übel, und jede Woche bringt auf diesem Gebiete neue Fortschritte. Wem verdanken wir es? Dem Scharfsinn der Menschen? Nur zum geringsten Teil. Sie hätten nichts entdecken können ohne dieTausende und Tausende von Tieren, an denen sie ihre Versuche anstellten. Es läßt sich nicht aussagen, wasfür eineWelt von Angst und Qual der Kreatur ein einziges neues Medikament darstellt, bis man es auf seine Wirkung und Gefahren soweit erprobt hat, daß manes an Menschen verwenden kann. Ich rede nur von dem, was notwendig war, nicht von aller Qual, die Gedankenlosigkeit und Gefühllosigkeit unnütz unter dem Deckmantel der Wissenschaft angerichtet hat. Denn auch unter denen, die da forschen, gibt es gar manche, die sich ihrer Verantwortung der Kreatur gegenüber nicht voll bewußt sind. So haben Tiere durch Leiden etwas erworben, was die Menschen vieler Angst und Qual entreißt. Wer ist hier, der es nicht erfahren hätte an Menschen, die ihm lieb sind, und wie manche von uns haben es an sich erfahren, und wie manche werden es noch erfahren! Was du an Barmherzigkeit anTieren tust, ist nur ein kleiner Tropfen des Dankes für das, was die Kreatur uns gegeben. Vergiß es nicht. Das Leiden, in welchem sie für die Menschheit noch täglich gemartert und geopfert wird, spielt sich abseits undverborgen ab; aber es ist da, größer, als du dir denken kannst. Es ist viel für diese Gedanken gewirkt worden, aber sie sind noch weit davon entfernt, allgemein durchzudringen. ZumTeil haben sie ihre Kraft nicht entfaltet, weil man allgemein die Bestrebungen für Tierschutz etwas zu sentimental vorträgt. In den Schriften, die darüber verbreitet werden, erzählt man etwas allzuviel gefühlvolle Geschichten vom lieben Hundelein und vom lieben Kätzelein, statt die Menschen zu zwingen, zu erkennen, daß die Barmherzigkeit gegen die Kreatur etwas ist, das zum wirklichen Menschsein gehört, und sie von dem Gedanken erschüttern zu lassen, daß, was sie an Qual der Kreatur mitansehen und mitgeschehen lassen, eine Schuld ist, die sie mit auf sich nehmen. Und dann lassen sie sich zu leicht mutlos machen durch die Überlegung, daß der einzelne nichts tun kann, und kommen dann dahin, wo die meisten stehen, daß sie von all dem Elend nur nichts sehen und hören wollen; sie meinen, es besteht dann weniger, weil sie so leben, als wäre es für sie nicht da. Das ist falsch und feig. Hier vermag der einzelne viel. Ich rede nicht davon, daß eigentlich jeder Mensch Mitglied desTierschutzvereins sein soll; denn wasist der Mindestbeitrag von einer Mark imJahr, den dieser Verein erhebt, und den die meisten unter uns trotz der schlechten Zeit

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erschwingen können, im Vergleich zu dem, was er an Belehrung und an Einfluß Gutes leistet! Über das, was der einzelne ausrichten kann, täuscht man sich. Er vermag mehr, als man meint. Ich hatte Gelegenheit, vor einigen Wochen einen Bahnbeamten zu hören, der etwas verdrossen erzählte, wie man an der Laderampe für Viehtransporte einer elsässischen Station auf seiner Hut sein müsse, weil da unvermutet zujeglicher Tages- und Nachtzeit eine alteJungfer erscheine, um nach dem Rechten zu sehn; man sei keinen Augenblick vor ihr sicher, und sie verstehe gar keinen Spaß. Ich sah die Person vor mir, als wäre sie mir bekannt; wie manches Tier mag ihr ersparte Mißhandlung zu danken haben; und wer an ihrem Grabe einst spricht, darf wirklich sagen «Selig sind, die in dem Herrn sterben, denn ihreWerke folgen ihnen nach» [Apk. 14,13]. Es ist so wenig, was man von dir verlangt: keine Opfer an Zeit und keines an Geld, sondern nur, daß du nichts mitansiehst, was nicht sein darf, den Mund auftust für die sprachlose Kreatur und dir nicht erlaubst, vorüberzugehen wie der Levit im Gleichnis [Lk. 10,32]. Ich bemerke an andern und an mir, daß wir oft in falscher Weise für die mißhandelte Kreatur eintreten; wir tun es im Zorn, mit hartem Aufbegehren oder Schelten und bringen die Menschen mit einem Schein des Rechts gegen uns auf wegen der Art, wie wir uns in ihre Dinge mischen, und haben es uns dann selber zuzuschreiben, wenn wir ein barsches «Das geht Sie nichts an» zu hören bekommen, wo ein ruhiges und freundliches Wort keinen solchen Trotz im andern geweckt hätte. Es gilt hier: «Die Liebe läßt sich nicht erbittern, sie bläht sich nicht, sie stellt sich nicht ungebärdig» [I Kor. 13,4 f.]. Wir wollen die Gewissen der Menschen wecken; das gelingt dir nicht, wenn du dich als Richter aufwirfst, aber oft, wenn du als Bittender auftrittst; und mag der Mensch dir auch widersprechen und du scheinbar nichts erreichen, das bittende Wort hallt nach und arbeitet an ihm, bis es in ihm Licht wird. Wenn wir alle unsere Pflicht tun, können wir hier viel erreichen. Insbesondere nehmt euch der Zugtiere auf den Baustellen an; wenn ihr Fluchen und Schreien und Peitschenknallen hört, geht nicht vorüber und sagt euch: Das mag ich nicht mitansehen, sondern mischt euch darein und wagt es, euer Wort anzubringen und dem Bauunternehmer zu schreiben; und wenn wir richtig Aufsicht üben, dann müssen wir es dahin bringen, daß auch hier der Grund auf kleinen Wagen, die auf Schienen mühelos von der Aushebungsstelle auf die Straße gezogen werden, befördert wird, um dort erst verladen zu werden, damit nicht um der Ersparnis von einigen Talern jeder Bauplatz eine Marterstätte für Tiere werde. Es ist eine kleine Adventsbitte an euch, damit durch uns Erlösung der Kreatur gewirkt werde. Es ist noch viel Erlösung der Kreatur, die unter der Menschheit seufzt, zu beschaffen. Ich muß immer lächeln, wenn sie gegen die Mis-

Wir wissen, daß alle Kreatur

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sion reden und meinen, man sollte diese Leute doch lassen, wie sie sind; denn diese wissen nicht, daß dasSchrecklichste am Heidentum die Grausamkeit gegen die Tiere ist; jeder Missionar kann die furchtbarsten Dinge darüber erzählen. Für mich ist die Mission schon allein dadurch gerechtfertigt, daß sie dasLicht der Barmherzigkeit in die Unwissenheit vertierter Menschen scheinen läßt, unter der die Kreatur sich windet und stöhnt. Darum freuen wir uns über jede Ausbreitung des Christentums; durch die Barmherzigkeit, die der Geist Jesu schafft, erfüllt sichja nicht nur an Menschen, sondern auch an der Kreatur, was wir im Adventslied sangen: «Ich lag in schweren Banden, du kommst und machst mich los.»¦43¿

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[Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 3.]

XII. Predigten desJahres 1909

Morgenpredigt Sonntag, 3.Januar 1909, [St. Nicolai]¦1¿ Epiphanias

[Ohne Text:] Mission

Ich habe schon manche Missionspredigt an dieser Stelle gehalten; es werden wohl ein Dutzend sein, wie ich es mir überschlug. Aber ich habe keine Angst, euch nicht zu befriedigen, wenn ich am heutigen elsässischen Missionsfest wieder von derselben Sache zu euch rede, denn, wenn irgendwo, so gilt hier das Wort des Herrn: «Darum ein jeglicher Schriftgelehrter, zum Himmelreich gelehrt, ist gleich einem Hausvater, der aus seinem Schatz Altes und Neues hervorträgt» [Mt. 13,52]. Ich möchte, daß wir miteinander einige Gedanken durchdächten, mit denen ihr den Menschen klarmachen könnt, was eigentlich Mission ist, und ihrer Gleichgültigkeit und ihren Bedenken gegen dieses Werk begegnen könnt. Zunächst wird immer die Frage des Erfolges aufgeworfen. Man meint, daß das Geld und die Menschenleben, die der Mission geopfert wurden, im Vergleich zu dem, was erreicht worden sei, einen viel zu großen Aufwand darstellten. Hier befindet sich der, welcher für die Mission eintritt, in derselben Lage wie der Regierungsvertreter, welcher im Reichstag zum Kolonialetat zu sprechen hat. Er kann weder mit Ja noch Nein antworten, sondern nur aufzählen, was erreicht ist, und immer betonen, daß das alles eine Saat auf die Zukunft ist, die einmal sechzig- undhundertfältig tragen wird [Mt. 13,8]. Die Mission ist etwa seit hundert Jahren an derArbeit. Ich weiß nicht, ob die Zahl der bis jetzt Bekehrten und ebenso der Betrag des aufgewandten Geldes festgestellt worden ist. In unserer Zeit, die für Statistik so eingenommen ist, kommt es wohl einmal dazu, daß einer ausrechnet, wie teuer jeder Bekehrte eigentlich zu stehen kam.

1 [Der Predigtplan im Kirchenboten nennt Schweitzer als Prediger in St. Nicolai.]

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Das hätte aber gar keinen Wert; denn wer etwas Bescheid in der Mission weiß, der hat gar bald erkannt, daß das, was sie leistet, nicht an der Zahl der Bekehrten und Getauften zu bemessen ist. Es kann in einer Gegend noch gar kein einziger sich zum Christentum bekannt haben, und ihre langjährige Arbeit war doch nicht vergebens, sogar sehr erfolgreich, wenn man bedenkt, welches die Schwierigkeiten waren, mit denen sie vorerst fertig werden mußte, und welches der Einfluß ist, den sie ausübt. Alles in allem genommen, wage ich, von mir aus zu sagen, daß das, was die Mission in diesen hundert Jahren erreicht hat, die aufgewandten Mittel und Menschenleben reichlich lohnt, ohne daß man das, wasdie Saat auf die Zukunft tragen kann, mit in Anschlag bringt. Wer Augen hat zu sehen, muß gestehen, daß die Mission ein Unternehmen ist, das sich in seiner Art rentiert. Wenn sie das erreicht hat, wo sie nicht nur mit den Mächten der Unwissenheit und Verrohung draußen zu kämpfen hatte, sondern daheim durch die Gleichgültigkeit der Christen in unserm christlichen Europa gelähmt wurde, was kann sie erst ausrichten, wenn einmal eine gesunde öffentliche Meinung und ein allgemeines Interesse hinter ihr steht? Aber das ist nur eine Vorbemerkung. Denn in einer solchen Sache darf man nicht nach dem Erfolg, sondern nach der Notwendigkeit fragen.Wie steht es mit der Notwendigkeit? Zunächst möchte ich, daß wir die Notwendigkeit von uns ausbedächten. Wir glauben, die wahre Religion zu haben und dadurch glückliche Menschen zu sein. Das will aber zugleich heißen, daß wir nicht anders können, als dieWahrheit verbreiten. Wenn ein Dampf oder ein Gas in einen Raum kommt, dann muß es sich aus innerer Notwendigkeit nach allen Seiten ausbreiten. Es ruht nicht, bis es in den letzten Winkel gedrungen ist. Nicht anders ist es mit derWahrheit. EineWahrheit, die sich nicht allen mitteilen will, ist keine Wahrheit mehr. Und wenn auch in christlich gesinnten Kreisen die Mission noch als etwas betrachtet wird, über dessen Zweckmäßigkeit man noch zweifelhaft sein kann, so heißt das für mich, daß für so viele das, wasJesus uns gebracht hat, nicht der unermeßliche Schatz des Lebens ist. Nun aber die Notwendigkeit von den andern aus, die die Wahrheit noch nicht haben. Ich habe schon so oft gehört, wie man sagte, man sollte doch diese Völker in Afrika, Australien, Asien und auf den Inseln ruhig bei ihrem Glauben, in welchem sie glücklich und zufrieden wären, lassen und nicht durch das Christentum Unruhe unter sie tragen. Das Glück und die Zufriedenheit der Heiden existiert aber nur in der Einbildung derjenigen, die niemals sich erkundigt haben, wie es in Wirklichkeit steht. Tatsächlich sind diese Menschen tief unglücklich. Denn sie sind Sklaven desWahns. Injedem Gedanken, jeder Handlung wird ihre Seele geängstet von der Furcht vor bösen Geistern und Dämo-

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nen. Ihr ganzes Sinnen wird von dem Gedanken beherrscht, wie sie diese bösen Mächte nicht reizen, und was sie tun müssen, um sie zu beschwichtigen, wenn sie gereizt sind. Wird jemand krank, so denkt man nur daran, wie man das Letzte hergibt, um die Dämonen zu versöhnen; und sagt der Zauberer, die Dämonen forderten Blut zur Sühne, dann wird der Mensch zum Mörder an seinem Nächsten. So besteht in einem großen Teil von Zentralafrika der Glaube, daß fürjeden Ermordeten, um die Geister zu versöhnen, Blutrache genommen werden müsse; und wenn es bis zu einem bestimmten Termin den Anverwandten nicht gelingt, einen aus der Familie des Mörders zu töten, so müssen sie den ersten besten Menschen, der ihnen in denWeg kommt, erschlagen. Nein, das Heidentum ist nicht Friede und Ruhe, sondern Angst und Unruhe, das fortgeschrittene ebensogut wie das am tiefsten stehende. Man höre einmal einem zu, der in Indien war, wo das Heidentum den höchsten Grad der Verfeinerung erreicht hat, und lasse sich erzählen, wases ausder Menschenseele macht. Wenn jemand unter unsern Bekannten von einer Wahnvorstellung gemartert wird, so ist es uns viel schrecklicher, als wenn er auf den Tod krank wäre, denn wir wissen, daß er in jedem Augenblick Unsägliches leidet; und wenn wir nicht helfen können, erschüttert es uns und nimmt uns fast den Glauben an Gott. Und draußen in der Welt sind Tausende und Tausende Sklaven desWahns; wir haben die Erkenntnis, um die Truggebilde, die sie ängstigen, zu zerstreuen. Und wir sollten dulden, daß unter uns weiter von den «glücklichen Heiden» geredet wird? Vor etwa vierzig Jahren sagte eine Greisin in der Hütte unter der Sonne Afrikas zu einem Missionar: Eines verstehe ich nicht; ihr habt dieWahrheit; ihr wißt schon so lange, daß wir Kinder des Irrtums sind; es haben euch Menschen doch längst erzählen müssen, was wir leiden; warum seid ihr nicht schon früher gekommen, und warum kommen so wenige von euch? Wie heißt’s doch in der Schrift? «Die Wahrheit wird euch frei machen» [Joh. 8,32]. Man stelle sich ja nicht vor, daß das Heidentum noch eine Kraft zum Fortexistieren besitzt und als ob nur das Christentum es bedrohte. Das Alte stürzt und ist nicht zu halten. Es fragt sich nur, was das Neue sein wird, das Christentum oder etwas anderes. Vor einigen Jahren machten die Missionare auf die gewaltigen Fortschritte des Mohammedanismus in Afrika aufmerksam und sprachen die Befürchtung aus, daß in absehbarer Zeit ganz Afrika dem Halbmond verfallen könne. Man lachte sie aus. Heute lacht man nicht mehr, denn man hat gesehen, wie ganze Dörfer in einem Tag zum Mohammedanismus übertraten; darum kann man jetzt in allen Tageszeitungen von der mohammedanischen

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Gefahr für Afrika lesen, und die europäischen Staaten sehen mit Schrekken die Möglichkeit auftauchen, daß die Bevölkerung ihrer Kolonien islamitisch wird. Darum heißt es, jetzt handeln. In zehn Jahren ist die große Schlacht entschieden, und wenn nicht Hilfe kommt, hat das

Christentum verloren. Wie in Afrika, so steht es auf allen andern Missionsschauplätzen. Auch dort ist jetzt alles in Fluß; die alten Verhältnisse – man denke an China, Japan – sind überlebt; dasNeue muß kommen, und an uns liegt es, ob das Neue das Christentum ist.Wenn die Zeit verstrichen ist, kann man das nicht mehr nachholen, was wir versäumt haben. Unsere Generation hat eine Bedeutung für die Ausbreitung des Reiches Gottes, wie es seit den ersten Zeiten des Christentums keine mehr hatte. Es ist uns eine einzigartige Aufgabe zugefallen. Nur die wenigsten ahnen etwas von der Verantwortung gerade unseres Geschlechts für die Erfüllung der Bitte: «Dein Reich komme»; nur die wenigsten fassen es, daß, was wir versäumt haben, nicht mehr nachzuholen ist, weil zu unserer Zeit «die Zeit erfüllt war» [Mk. 1,15]. Ich habe schon manchmal von klugen Menschen den Einwand gehört, daß das Christentum für tiefstehende Völkerschaften eine zu hohe Religion sei. Wenn Afrika dem Mohammedanismus anheimfällt, sagte mir einmal jemand, so erfüllt sich damit nur das Gesetz, daßjedes Volk diejenige Religion ergreift, für die es reif ist; der Islam ist die Religion für diese Menschen. Ich glaube das nicht. Aus dem Islam gibt es kein Heraus mehr für dasChristentum; es steht der islamitischen Welt machtlos gegenüber. Aber aus dem Heidentum kann man Menschen zum Christentum bekehren; was gibt es denn Einfacheres als die Botschaft Jesu an die Menschen? Und die, welche das Christentum an der Arbeit gesehen haben, die können bezeugen, wie faßlich es dem einfachsten und ärmsten Menschengeist ist und wie es alles verborgene Gute und alle Erkenntnis darin weckt und aus ihm ein Wesen macht, das mit dem früheren keine Ähnlichkeit mehr hat. Aber die Mission ist für mich noch etwas ganz anderes als den Leuten «die Religion zu bringen». Es ist für mich eine Menschlichkeitsaufgabe. Diese Völker kommen mit einer neuen Kultur in Berührung. Wenn es nicht gelingt, sie auf die Stufe dieser Kultur zu heben, so gehen sie daran zugrunde. Das war das Schicksal der Indianer, vieler Völker Ozeaniens. Stark bevölkerte Inseln sind jetzt entvölkert; der belgische Kongo und noch manche andere Kolonie geht der Entvölkerung entgegen. Der Branntwein und unsere Krankheiten, dasist das, was dieVölker am ehesten von unserer Kultur zu spüren bekommen; das wütet unter ihnen schrecklicher als die Pest. Wenn diese Völker keine Erzieher bekommen, die sie zur Arbeit anleiten und sie dahin bringen, daß sie von der Kultur dasGute annehmen und nicht durch das Verderbliche, das sie mit sich führt, überwunden

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werden, sind sie verloren, zum Untergang oder zum Vegetieren verdammt. Das ist etwas Selbstverständliches und hat mit Religion gar nichts zu tun. Ich wundere mich, daß in unserer Zeit der Kolonialpolitik die Aufgabe, Erzieher auszusenden, nicht begriffen wurde und daß nicht eine Laienmission entstand, in der Menschen aller Berufe auszogen, um die Menschen in den Kolonien zu heben. Aber unsere Zeit kennt keine solchen Ideale, so kulturstolz sie sonst auch ist; sondern als dieVölker dieWelt unter sich verteilten, dachten sie nur an die Vorteile für Export und Import und sorgten sich, was man aus dem überseeischen Besitz herausholen könne, an die Menschen, die sie sich unterwarfen, und was aus ihnen würde, dachten sie nicht. Sie lieferten sie den gewissenlosesten Händlern aus; ihr erstes Beginnen war die Auferlegung einer Kopfsteuer. Erst in den letzten Jahren beginnt man einzusehen, wie kurzsichtig solches Kolonisieren war. Aufstände, Zurückgehen der Bevölkerung, die Unmöglichkeit, wirtschaftlich aus einer Kolonie etwas zu machen, wenn man nicht vorher aus den Menschen etwas gemacht hat, lassen jetzt die Regierenden schauen, was sie an den Bevölkerungen, über denen sie ihre Flagge hißten, versäumt ha-

ben. Und weil es keine Laienmission gibt, muß die religiöse Mission auch diese Aufgabe der Errettung durch Erziehung zur Kultur erfüllen. Jeder Missionar kann es euch bezeugen, wie sehr die religiöse Unterweisung neben der Erziehung zur Arbeit in dem Alltagswerk draußen zurücktritt. Dieses rein Menschliche steht für mich fast im Vordergrunde der Mission. Ich meine, wenn nur genug Menschen zum Helfen und Erziehen ausgehen und draußen lautlos arbeiten, so müsse alles andere von selbst kommen. Ob es früh oder später kommt, ist fast gleichgültig. Wenn ihr mit Menschen redet, die gegen die Mission sind, so werdet ihr immer bemerken, daß sie an dieses rein Menschliche an diesem Unternehmen nicht gedacht haben und ihre Einwände aufgeben müssen, sobald ihr dies geltend macht. Aber zur Mission bekehrt ist ein Mensch nur dann, wenn es ihm aufgegangen ist, daß dies ein Werk der Sühne ist. Alle Pfade zur Mission lenken zuletzt auf diesen Weg ein. Auf dem Christentum lastet eine schwere Schuld. Wer wagt, dieses Schuldbuch aufzuschlagen? Es enthält alles, was die den Namen Jesu tragende Menschheit an den Menschen draußen begangen hat. Menschen, die sich Christen nannten, haben die Indianer von Peru und Chile in die Bergwerke gesteckt, haben den Sklavenhandel betrieben, haben die Schwarzen niedergeschossen wie das Getier des Feldes, haben denen draußen ihr Land genommen, sie übervorteilt, betrogen, zum Aufstand gebracht und dann blutig bestraft. Keine Nation kann sagen, daß sie nicht dabei beteiligt ist. Sie haben alle teil an den Greueln, die begangen worden sind. Was haben wir den Leuten draußen ge-

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bracht? Tod, Bedrückung, Armut, Schnaps und unsere Seuchen, die sie nach Tausenden dahinraffen. So handelte die christliche Menschheit; so handelt sie noch. Eine öffentliche Meinung, eine öffentliche Entrüstung darüber gibt es noch nicht. Wenn man dasalles überschlägt, kann man am Christentum irre werden. Ein Fluch lastet darauf, der Fluch einer seit Jahrhunderten gemarterten, armseligen Menschheit. Wer höhnen will, hat es nicht schwer. Wenn das Christentum unserer Menschheit nichts Höheres beibrachte an Zwecken und Zielen in der Aufschließung der Welt, wenn es nichts vermochte gegen die menschliche Roheit und damit noch paktierte, dann ist es gerichtet. Und meint ihr nicht, daß es eben so schwach und kraftlos ist, weil es innerlich gerichtet ist? Wie sollen die Menschen Ehrfurcht davor haben, wenn so viel Schuld sich auf seinem Namen anhäuft? Was geschehen ist, muß gesühnt werden. Durch die Liebe müssen wir versuchen, wieder etwas von dem, wasbegangen wurde, gutzumachen. Wasbedeutet da dasbißchen Geld, was die Menschen zur Mission geben? Was bedeuten die Menschenleben, die ihr geopfert werden? Nichts, gar nichts, es sind Sühnopfer, schwache Sühnopfer für eine berghoch angehäufte Schuld. Über keinen, der draußen stirbt, soll man Klage erheben, denn jedes Menschenleben, das der Sache geopfert wird, löscht etwas von der Schande des Christentums aus. Und wenn ihr mit den Menschen lange über Mission gesprochen habt, und sie immer etwas zu erwidern wußten, sie werden verstummen im Augenblick, wo ihr das Letzte und Tiefste aussprecht, daß sie eine Sühne ist, eine Sühne der Christenheit, der Menschheit überhaupt. Ich habe es nie erlebt, daß einer auch nur ein Wort zu erwidern wußte. Wenn dieser Gedanke einmal losgelassen ist, wird er die Menschheit anfallen wie ein reißend Tier und sie aus ihrer Ruhe und Selbstzufriedenheit stören; mit Grauen werden sie der Hohlheit innewerden, in der sie jetzt noch die Mission als eine Sentimentalität gewisser Kreise beurteilen. Und erstaunen wird man dann, daß die Menschen so lange gebraucht haben, zu begreifen, daß die Mission nicht nur die herrlichste Menschheitsaufgabe, sondern auch eine Sühne für die Menschheit ist. Unsere Rede dringt nicht über die Mauern der Kirche hinaus, und es sind ihrer nicht viele, die sich zur Missionsfeier zusammengefunden haben. Aber ihr müßt das hinaustragen und die Gedanken, die wir miteinander dachten, unter die Menschen bringen. Ich bitte euch darum im Namen Jesu Christi, unseres Meisters.

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Morgenpredigt Sonntag, 24. Januar 1909, St. Nicolai

Mt. 11,3: Bist du, der da kommen soll? Die kirchliche Zeit, in der wir stehen, heißt Epiphanienzeit, das heißt Zeit, da man die Erscheinung Jesu in derWelt feiert und sich vergegenwärtigt, was er der Menschheit gebracht und was die Menschheit durch ihn geworden ist. Und wer die Predigt auffassen will als eine Prunkrede, die zusammenträgt, was zur Verherrlichung dient, der hat leichter zu reden als der, der sagen will, was ist. Denn wenn wir wirklich darüber nachdenken, was die Erscheinung Jesu in der Welt gewirkt hat, da steht die Frage, ob er wirklich der ist, der kommen sollte und helfen kann, alsbald da. Wenn einer von denen, die umJesus waren, als die Boten desTäufers kamen, und der glaubte, daß er der war, der kommen sollte, es unternommen hätte, sich die Geschichte der noch zu erwartenden Geschlechter auszumalen, so hätte er sie nicht anders erdenken können als eine Eroberung derWelt durch diesen Meister, bei welcher ihm alle Menschen für immer zufielen. Was aber wirklich kam, ist anders und kann einen daran irre machen, ob er wirklich der ist, der da kommen sollte! Er fühlte sich gesandt vor allem zu den verlorenen Schafen aus dem Haus Israel [Mt. 15,24], und sein Volk ging seines Weges und nahm ihn nicht auf.Wir finden uns damit als mit etwas Gegebenem ab, weil es eben so ist, aber tatsächlich ist es etwas, dasman,je länger man nachdenkt, desto weniger begreift. Und für die Völker, die sich dann zu seinem Namen bekannten, war er für diese wirklich, der da kommen sollte? Wer die Geschichte der christlichen Jahrhunderte durchgeht, wird gewahr, daß sie sich auf seinen Namen beriefen, aber von seinem Geiste wenig hatten. Die Umgestaltung, die man erwarten würde, ist nicht zu bemerken. Fast möchte man sagen, daß die christliche Geschichte darin besteht, nicht daßJesus über die Menschheit Herr geworden ist, sondern daß sie mit ihm fertig wurde. Die Geschichte des christlichen Altertums und Mittelalters bietet wenig Lichtpunkte. Im großen und ganzen ist es so, daß menschliche Herrschsucht jetzt im Namen Jesu ausgeübt wird und menschliche Engherzigkeit vorgibt, in seinem Dienste zu stehen; und die Gewissensfreiheit wurde in seinem Namen verfemt, und der Aberglaube wurde zu seiner Wahrheit verherrlicht; in allem Gemeinen und Greuelhaften, was daraus entsteht, wird seine Person mit in den Staub gezogen. Es ist, als ob Jesus überall, wo er in der Geschichte auftritt, mit dem Besten auch das Schlechteste in der Seele der Menschheit an den Tag brachte, das nun das Gute, das erwachte, gefangennahm und erstickte. Überall, wo man meinen möchte, daß Erlösung durch ihn kommt,

Bist du, derda kommen soll?

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wird’s ein Zerrbild dessen, was werden sollte. Franziskus tritt auf und predigt, daß man erwarten würde, er könnte die Menschheit zum reinen, schlichten Evangelium zurückführen... und es entsteht nichts als ein Mönchsorden zur Stütze der alten Kirche. Luther erkämpft Gewissensfreiheit, und ehe er stirbt, legt er im Streit mit Zwingli den Grund zum Zwiespalt und zur Engherzigkeit, der die evangelische Religion auf immer hemmen sollte. Das wiederholt sich tausendmal, wohin ihr blickt und schaut, bis auf den heutigen Tag. Und heute ist es klarer denn je, daß die christliche Geschichte keinen Siegeslauf Jesu in derWelt bedeutet. Drei Konfessionen streiten sich um die Führung seines Namens. Die morgenländische Kirche ist etwas Erstarrtes, aus dem kein Leben mehr kommen mag. In der katholischen Kirche werden die Kräfte des Guten und der Begeisterung, die sich allenthalben bemerkbar machen, vom Geist der Engherzigkeit in Dienst genommen und damit verbraucht und entweiht; dem Protestantismus, der der Welt die Religion

der Freiheit bringen sollte, fehlt jeder große Zug; er erkennt die Zeichen der Zeit nicht und hält sich bei kleinlichen Dingen auf. So, wie es ist, tritt das Christentum in der Welt mehr als eine hemmende, statt als eine fördernde Macht auf. Solange wir bald zurückdenken können, dreht sich die innere Geschichte in unserem Vaterland und in allen andern Ländern darum, ob es noch Freiheit des Geistes geben soll oder ob alles dem engherzigen Herrschen der Kirche, welche auf Knechtung des menschlichen Denkens ausgeht, ausgeliefert wird. Allenthalben werden Mauern gebaut, die die Menschen voneinander scheiden sollen. In einem Staat unseres Vaterlandes nach dem andern kam in den letzten Jahren die Frage zur Besprechung, ob die Kinder aller Konfessionen miteinander in der Schule unterrichtet werden oder auch fürderhin getrennt bleiben sollten, und immer kämpften die Vertreter der christlichen Konfessionen für dieTrennung und siegten ... und wurden sich nicht bewußt, daß dasein Hohn auf dasChristentum ist, dem sie zu dienen glauben! Und dassoll der Geist Christi ausgerichtet haben! Außerhalb der Kirchen steht es noch schlimmer. Vor unsern Augen hat sich ein Stück Geschichte abgespielt, darin bestehend, daß die große Menge sich von dem Christentum losgesagt hat. Sie will davon nichts mehr wissen; sobald irgend etwas, ein Gedanke oder ein Unternehmen, auch nur entfernt mit dem Christentum zusammenhängt, ist ihr Widerwille erregt und das Urteil gefällt. Von den Bewohnern des deutschen Reiches haben noch etwa zehn Prozent ein persönliches Verhältnis zur Religion, in keinem Falle mehr, warf mir ein Herr dieser Tage im Gespräch ein, und ich konnte nicht widerreden. Daß die Entwicklung hierin nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren weitergeht, lehrt jedes neueJahr. Niemand kann noch ermessen, wo diese Gleichgültigkeit einmal haltmachen wird.

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Man kann, was das Christentum geleistet hat, im einzelnen sehr hoch einschätzen und muß doch gestehen, daß es die Macht über das Volk verloren hat und keine Aussichten dafür sind, daß es sie in absehbarer Zeit wieder erringt. Die Gründe, die man zur Erklärung dieser Tatsache geltend machen kann, sind mannigfach. Man kann sagen, daß unsere Kirchen nicht im rechten Geiste wirken; man kann die Gesinnung von heutzutage anklagen, die für das Geistige überhaupt, und nicht für das Christentum allein, nicht mehr empfänglich ist; man kann auch anführen, daß der Wechsel der Weltanschauung, der durch die neuen, wissenschaftlichen Erkenntnisse heraufgeführt wurde, die Menschen vom Christentum abgetrieben hat, weil sie Glauben undWissen nicht mehr versöhnen konnten; man kann anführen, daß sie am Christentum irre geworden sind, weil esfür die Nöte, die siebewegen, keine bereiten Lösungen hat. Damit ist manches erklärt; aber dieTatsache an sich als Ganzes bleibt unbegreiflich; Jesus hat die geistige Herrschaft über die Welt nicht gewonnen, und der, der die Dinge sehen will, wie sie sind, muß gestehen, daß das, was er an Herrschaft besaß, in unsern Zeiten noch ins Wanken kommt. Wenn also jemand sagen will, daß Jesus nicht der war, der da kommen sollte, daß es ihm nicht bestimmt war, der geistige Führer der Menschheit zu werden, so können wir ihn durch dieTatsachen der Geschichte und Gegenwart nicht widerlegen, denn diese sprechen zum größten Teil für ihn. Ich habe das in manchem ernsten Gespräch erprobt. Wenn du aber Geschichte und Gegenwart verschwinden läßt und fragst, wasJesus ist nach dem, was du von ihm hältst, so gilt das alles nicht für dich, sondern du mußt sagen, daß er der ist, der kommen sollte. Jedes tiefere Erfassen desLebens führt den Menschen näher zuJesus hin; jedes reine Wollen unterwirft ihn seinem Geiste vollständiger. Es ergeht uns mit ihm wie mit den einzigartigen Meisterwerken der Kunst. Wenn man uns von dem Gemälde eines großen Meisters sagte, es sei unvergleichlich, so glaubten wir es, ohne dasWort «unvergleichlich» richtig ausmessen zu können, denn es schien uns, als ob andere Gemälde auch gar schön seien. Aber mit der Zeit, dawuchs derAbstand des Meisterwerkes von den andern in dem Maße, als wir Sinn für die Wahrheit und die große Einfachheit in der Kunst bekamen, bis es eben für uns wirklich «unvergleichlich» wurde. So ist es mitJesus. Man hört es und glaubt es, daß er der einzig Große ist, wenn man es in derJugend hört, aber man begreift es noch nicht; und dann lernt man die andern Geister kennen, die auch groß sind, und man sieht ihn als einen unter den andern wie jener römische Kaiser, der seine Statue unter denen der großen Weisen aufstellen ließ. Und wenn man weiterkommt im Erfassen der Dinge, bleiben die andern stehen, und er wächst, weil seine Worte so unendlich einfach und schlicht sind,

Bist du, derda kommen soll?

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und weil alles Gute und Reine und Friedvolle, dasGlauben und Hoffen, dasuns trägt, von ihm erleuchtet wird und wir immer mehr fühlen, daß alles, wasan geistigem Leben in uns ersteht und uns dasLeben begreifen und ertragen lehrt, uns mit ihm verbindet, und daß unsere Gedanken in den seinen Frieden und Kraft finden und daß seine Worte sind wie wunderbare Sterne, die am Himmel unseres Lebens aufgehen und an Glanz zunehmen, je dunkler uns dasandere im Leben wird. In diesem Widerspruch von Gedanken feiern wir Epiphanienzeit. Wir geben uns selber zu, daß von einer geistigen Herrschaft Jesu in der Welt jetzt weniger die Rede sein kann alsje, und glauben dennoch, daß er der einzige ist, der Menschen die tiefste Befriedigung geben kann, und berufen ist, die Menschen dem Lichte entgegenzuführen. Es ist, als ob wir mit einem König wären, dessen Herrschaft gestürzt ist, und der sich in der Verborgenheit halten muß; und wer ihn sieht und ihm ins Auge schaut, der weiß, daß er dennoch der Herrscher ist, weil er es eben ist, mag seine Macht auch darniederliegen. Wenn die Straßburger Prediger der Vergangenheit wiederkämen und sähen, wieviel Raum noch in den Kirchen ist, in denen zu ihrer Zeit die Leute während des Gottesdienstes bis zu denTüren standen, so würden sie diejenigen bedauern, die heutzutage predigen, und meinen, Prediger und

Hörer müßten miteinander niedergeschlagen sein. Aber dasist, wenn ich euch und mich kenne, unsere Stimmung nicht, sondern wir haben das unbeschreibliche Gefühl von Menschen, die in der Masse verschwinden und etwas Kostbares, das die Masse jetzt nicht kennen will, auf die Zukunft bewahren und dem treu sind, der Herrscher ist auch in der Erniedrigung unter dieWelt. Ich las einmal eine Erzählung von einem kärglich besoldeten Schreiber auf irgendeinem Amt, der ein Meisterbild als altes Erbstück seiner Familie besaß. Die Museen hatten ihm hohe Preise dafür geboten, so daß er nach demVerkauf sich hätte zur behaglichen Ruhe setzen können. Aber er gab es nicht her, denn er fühlte sich durch den Besitz unerkanntermaßen in eine privilegierte Menschenklasse versetzt. Wenn er vor denVorgesetzten dienern mußte, richtete er sich innerlich auf und dachte bei sich: Wenn ihr wüßtet, daß ihr mit dem Besitzer desberühmten Bildes redet; wenn er im Regen in der Straße ging und von dem Kot der vorüberrollenden Equipagen bespritzt wurde, blickte er auf die, welche drinsaßen, und dachte: Wenn ihr wüßtet, was der arme Kerl besitzt, an dem ihr so stolz vorüberfahrt. Zuweilen kamen Kunstkenner und klingelten im vierten Stock im Hinterhaus und baten ihn, das Bild besehen zu dürfen; einmal mußte er es hergeben, damit es in einer großen Ausstellung figurierte; er stellte sich in der Nähe auf und schaute die Leute an, die herzutraten und in ihrem Katalog lasen: Im Privatbesitz des Herrn Soundso, als müßten sie es erraten, daß der unscheinbare Mensch der Herr Soundso war. In diesen Augenblicken lebte er

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sein eigentliches Leben. Das Gefühl des einzigartigen Besitzes hielt ihn im Leben aufrecht. Wir gleichen diesem Manne. Mitten in einer Welt, die Jesus nur dem Namen nach kennt, sind wir die, die wissen, wer er ist; und Stolz und Freude und ein Gefühl derWeihe überkommt uns, daß wir in die-

ser Zeit ihm treu sein und an dem wahren Aufbau seiner Herrschaft mitarbeiten dürfen. Was fiel, mußte fallen. Es war zuviel Irdisches in dem Bau, den man in zwanzig Jahrhunderten als Herrschaft Jesu aufführen wollte, miteingebaut. Es wurde morsch und verwitterte; so mußte das Ganze zusammenfallen. Die Zeit, woJesus der Führer der Menschheit wird, liegt in der Zukunft; sie kommt; aus den Ruinen wird sich die neue Herrschaft erbauen, die Herrschaft rein geistiger Art.

Morgenpredigt Sonntag, 7. Februar 1909, St. Nicolai

I Kor. 12,3: Niemand kann Jesum einen Herrn heißen ohne durch den heiligen Geist Es lag etwas Schwermütiges in unserer Epiphanienbetrachtung heute vor vierzehn Tagen¦2¿, in der wir uns darüber klar zu werden suchten, wasJesus für unsere jetzige Welt ist, und zugeben mußten, daß von einer Herrschaft seinerseits über unsere Menschheit keine Rede sein könne. Es ist gut, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Aber man darf sie nicht betrachten als die, die sich mit den Tatsachen abfinden, sondern als die, welche ihnen als hoffende und wollende Menschen gegenüberstehen. Das will heißen, daß wirjetzt miteinander darüber nachdenken wollen, wasgeschehen muß, damit Jesus der Menschheit wieder etwas wird. Als modernen Menschen liegt uns am nächsten, zu verlangen, daß man durch Vorträge und Schriften mehr für ihn wirke. Die Menschen haben den Weg zur Kirche verlernt; also, sagt man, soll man ihnen von Jesus reden in den Zeitungen, in öffentlichen Versammlungen; überall sollen sie auf ihn gestoßen werden. Ich fürchte, daß dies allzu modern ist und daß darin zuviel Vertrauen auf die Kraft der Reklame steckt, das sich auf geistigem Gebiete nicht bewähren kann. Im Gegenteil; ich möchte gerade sagen, daß man keinen Lärm um die Person Jesu machen soll, damit man dasWeihevolle um ihn nicht stört. Es ist ja nicht, daß Jesus nicht bekannt ist. Aus der Jugend kennen die Menschen ja doch wenigstens etwas von seinen Worten und Gleichnissen, daß sie sich einen Begriff von ihm machen können; und wer 2 [Siehe S. 972. 24. 01. 09.]

Niemand kannJesum einen Herrn heißen

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Weiteres von ihm wissen will, dem steht jederzeit das Neue Testament offen. Also eher: Stille umJesus. Eines aber muß man verlangen, daß man keine Mauern um ihn aufführt. Ich bin überrascht, wie oft in Gesprächen Menschen mir gegenüber es als ganz selbstverständlich annehmen, daß zwischen ihnen und mir eine Verständigung über Jesus vollständig ausgeschlossen sei und daß ich das, wassie für ihn empfinden, gar nicht anerkennen dürfe, weil ich als Prediger etwas ganz anderes fordern müsse. Sie und ich, wir können natürlich nicht miteinander von Jesus reden, sagte mir noch vor einigen Tagen ein Mann, den ich wegen seiner Bildung und lauteren Gesinnung sehr schätze. Für Sie mußJesus ein Gott sein, für mich ist er der reinste und heiligste Mensch. In der Überzeugung der Menschen sind also die Angehörigen der Kirche auf eine Anschauung von Jesus festgelegt, die das, was man menschlich und natürlich an ihm empfindet, nicht gelten lassen darf. Darum gibt es viele Menschen auf der Welt, die das Gefühl haben, daß das, was sie über Jesus denken, niemals hinreicht, um sich zu denen zu zählen, denen er etwas ist und die eine Zugehörigkeit zu ihm empfinden. Es ist ihnen zumute, als gingen sie im Feld auf einem Weg, der sich schön vor ihnen auftut; und plötzlich erscheint ein Schild: «Verbotener Weg». Warum, ist nicht einzusehen; aber das Schild ist da. Ich bin der letzte, der die religiöse Gleichgültigkeit der Menschen entschuldigt und alles auf Treu und Glauben annimmt, was sie als Grund dafür vorbringen. Denn der letzte Grund ist gar oft der, daß gleichgültig sein bequemer ist als das Gegenteil. Und doch habe ich dann so oft wieder den Eindruck, daß Menschen auf demWege, etwas Lebendiges für Jesus zu empfinden, aufgehalten wurden, weil sie in ihrer Würdigung seiner Person ein Plakat mit «Verbotener Weg» antrafen. Und wenn unsere Kirche vereinsamt, so liegt das zumTeil daran, daß sie zu viel solcher Plakate mit «Verbotener Weg» stehenläßt und es nicht genug zum Ausdruck bringt, daßJesus der Menschheit als solcher gehört, und daßjeder Mensch ein Recht auf ihn hat, auch wenn er die Schätzung von dem, was er ihm ist, nicht mit denWorten wiedergeben kann, die in der kirchlichen Lehre dafür vorgesehen sind. Man rechnet es dem Kirchenvater Athanasius aus dem vierten Jahrhundert als Verdienst und Ehre an, daß er diejenigen aus der Kirche hinauszudrängen anfing, die nach seiner Ansicht zu vernünftig und menschlich von Jesus dachten, und nun Formeln für die Ansicht über Jesus aufstellte, in denen das immer wiederkehrende «göttlich» und «gottgleich» herrschte und keinen andern Gedanken aufkommen ließ. Ich halte dafür, daß mit Formeln und Ausdrücken dem Christentum nicht gedient ist, und daß die Formeln über die Person Jesu der Kirche schon damals Tausende der besten Christen kosteten und seither noch gekostet haben.

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Früher wurde das in großen Kämpfen ausgefochten; Konzilien wurden zusammenberufen, Verdammungen beiderseits wurden ausgesprochen. Heute geht das alles ganz still vor sich; die Menschen kämpfen nicht gegen die Kirche, sondern sie gehen zurArmee der Gleichgültigen über. Aber es ist noch immer derselbe Kampf um die Person Jesu. Wer die Zeichen der Zeit erkennt, der kann es nicht mehr gutheißen, daß man immer, offen oder versteckt, die Menschen vor die Frage stellt: Bekennst du dich zur Göttlichkeit Jesu oder nicht? Jesus gibt uns kein Recht zu dieser Frage, da er sie seinen Zuhörern nie vorgelegt hat, und bei Paulus werdet ihr auch nichts dergleichen finden; sondern in dem Wort, dessen Gedanken diese Predigt beherrschen, sagt er schlicht und klar, daß jeder, der Jesus seinen Herrn nennt, dies im heiligen Geiste tue. Ich weiß, daß es nicht öde Rechthaberei ist, das so viele, die der Kirche als Laien oder Prediger angehören, immer wieder dahin bringt, daß sie auf das Bekenntnis zur Göttlichkeit Jesu so viel Gewicht legen; ich kann es manchem, der mir nahesteht, nachempfinden, was es für ihn für ein Opfer bedeutet, eine Zugehörigkeit zuJesus anzuerkennen, die sich für die Anschauung und Schätzung seiner Person nicht an Worte und Begriffe binden will. Sie meinen, daß dann die Menschen eine zu wenig einzigartige Meinung von Jesus bekommen. Darin liegt ein Stück Kleinglaube; was einzigartig groß ist, wird immer sich auch so durchsetzen. Ich meine, daßjeder selbst denWeg zur Größe Jesu finden muß; und er findet ihn, wenn man ihn ruhig suchen läßt. Ich bin gewiß, daß manche unter uns sind, die der Kirche treu geblieben sind, nur weil sie sich innerlich die Freiheit nahmen, ihren Weg zu suchen. In der früheren Zeit legte man den Nachdruck auf den Glauben an Jesus. Ganze Generationen haben das, was sie für Jesus empfanden, in diesem Worte niedergelegt gefunden. Dann kamen Zeiten, wo man das Verhältnis der Menschen zu Jesus als Liebe zu ihm erfassen wollte; es war die Zeit, wo ein Zinzendorf und ein Novalis die Liebe zum Heiland in glühenden Liedern besangen und meinten, sie könnten die Menschheit in dieser Begeisterung mitreißen. Wenn ich unser Empfinden zu Jesus richtig erfasse, so scheint es mir, als wäre der Grundton desselben Ehrfurcht für ihn; und dasist nicht etwas Geringeres als das, wasdie andern für ihn empfanden; denn zuletzt ist die Ehrfurcht das tiefste und größte Gefühl, dessen ein Mensch einem andern Wesen gegenüber fähig ist; es ist das Gefühl, auf dem sich die Liebe und alle andern erbauen müssen, wenn sie feststehen wollen. Ehrfurcht vor Jesus will heißen, daß wir uns vor seinen Worten im Leben beugen unddaß dasWollen, dasunsausdem, waser der Menschheit geboten hat, für uns in großen und kleinen Dingen bestimmend ist. Sein Wille muß wie eine höhere Macht in unser Dasein ragen und uns freimachen von dem, was sonst für uns bestimmend wäre; von

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heißen

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Leidenschaft, Ehrgeiz, Kleinmut und Engherzigkeit im Kampf ums Dasein, der den Menschen, wenn er ihm einzig ausgeliefert ist, zum Sklaven macht; sein Wille muß uns einen Ernst und ein Gefühl der Verntwortlichkeit für die Dinge und gegen die Menschen geben. Das heißt: Jesus muß für uns der Herr sein, mit dem wir uns im Leben auseinandersetzen und vor dessen Worten wir Rechenschaft ablegen. Das Bekenntnis, nach dem wir uns prüfen, ist dieses, ob er für uns der Herr ist. Und dasist dasBekenntnis, dasdieWelt zuverstehen mag. Die vielen Gleichgültigen sind nicht so gleichgültig, als sie scheinen. Sie suchen etwas, das steht und wovor sie Ehrfurcht haben können. Es liegt eine Sehnsucht in ihnen nach etwas, das größer ist als das, was ihnen in dem Getriebe ringsumher erscheint. Sie beobachten uns mehr, als wir ahnen, um zu sehen, obJesus wirklich etwas Lebendiges ist und ob er dasLeben eines Menschen umgestaltet. Und wenn sie etwas von Ehrfurcht für ihn an uns sehen und fühlen, daß wir suchen, ihm als dem geistigen Herrn gehorsam zu sein und uns zu überwinden, wenn sie es uns anmerken, wie Friede, Freude, Geduld, Sanftmut aus dem Geiste Jesu in unserem Herzen geboren wird, dann kommt auch ihnen etwas Ehrfurcht wieder, die an ihren Herzen arbeitet und sie auf denWeg führt, wo man ihn als den Herrn antrifft, und es auch ihnen möglich ist, Jesus einen Herrn zu heißen. Und das ist der Anfang des wahren Reiches Jesu, das auf den Trümmern entsteht, die wir rings um uns sehen. Der Geist aber, in dem wir das hoffen und daran mitarbeiten, ist der wahre Geist; daran kann uns niemand irre machen, da doch St. Paulus sagt: «Niemand kann Jesus einen Herren heißen ohne durch den heiligen Geist.» Dieses Wort hat eine große Bedeutung auf die Zukunft. Es ist das Bekenntnis, in dem die Menschheit sich einst zusammenfinden wird. Möge dies wahr werden in unserm Leben, und möge es uns verliehen sein, daß diese Wahrheit von uns aus andere ergreift, daß wir als die Gesegneten ein Segen werden [Gen. 12,2].¦3¿

3 [Schweitzer hat auf das Predigtmanuskript eine Melodie gezeichnet, die er ähnlich

ebenfalls in einem Brief vom gleichen Tag an Helene Bresslau schickt. Dort schreibt er [AS-HB, S. 229:] Jetzt läutet es zurVesper auf der Ludwigskirche. Die Strahlen wiegen sich auf dem Geläute undsingen: ein wunderbares Lied... Oh, dieses Lied!... DasLied vom Sterben und Leben. Es schwillt an... wunderbar, immer mächtiger. [J. Zürcher, der nicht nur den Nachlaß bearbeitet, sondern selber Musiker ist, hat den Eindruck, daß es sich hier um eine kleine Klavierphantasie, um eine «Geläuteimpression» handelt. Er hat die Melodie nach den beiden sich ergänzenden Skizzen ausgeschrieben, wie es oben wiedergegeben ist. In der Predigtskizze lautet die Melodie abTakt 4 anders, jedoch sehr undeutlich. Auf Grund dieser «Kompositionsskizzen» kann man sagen, daß Schweitzer eben doch auch komponiert hat.]

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Morgenpredigt Sonntag, 7. März 1909,¦4¿ St. Nicolai

Mt 10,38: Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt

Es hat halt jeder sein Kreuz zu tragen, sagen die Menschen, wenn sich

die Neuigkeiten, über die sie sich unterhielten, auf das, was dem und jenen und ihnen selber zugestoßen ist, beziehen. Bald sagen sie’s mit einer gewissen Anteilnahme, bald ist es wieder nur eine Phrase, die aus ihrem Munde kommt, bei der sie sich nicht mehr denken als bei einer andern.

Aber an sich ist es etwas ganz Merkwürdiges, daß es einen immer gleich mitten in die Rätsel des Lebens hineinführt, daß jeder Mensch sein Kreuz zu tragen hat. Es kommt uns dies mal zum Bewußtsein, als ob wir aus einem Traumzustand plötzlich wach würden. Wir gehen auf der Straße, und sie gehen an uns vorüber; wir merken an uns nur, ob wir’s eilig oder nicht eilig haben; wir haben uns unser gleichgültiges Werktagsgesicht aufgesetzt; wir scheinen heiter, sind es auch vielleicht, mit unserm nächsten Ziel beschäftigt... und das ist alles fast zuletzt doch nur Schein, denn ohne daß wir uns kennen, wissen wir voneinander, daß der andere auch etwas trägt und daß das, was er trägt, sein Leben bestimmt. Wenn ich in der Bahn fahre und sehe die Mitreisenden dasitzen, jeder vor sich hinschauend, kein anderes Lebenszeichen von sich gebend, als daß sie den Kopf bald hierhin, bald dorthin wenden und ihre Haltung im Sitzen von Zeit zu Zeit ändern, dann steigt es in mir zuweilen auf wie eine tiefe, mitfühlende Neugierde, zu wissen, woran sie im Leben tragen, und ich stelle mir vor, wie es nun wäre, wenn jeder erzählte, was ihn an Sorge undTraurigkeit bewegt. Wer von euch hat nicht schon dem Spielen von Kindern zugeschaut und dabei, ohne es zu wollen, plötzlich sich sagen müssen, daß auch ihrer, die sichjetzt in Unbefangenheit ergehen, ein Kreuz wartet. Und in diesem Augenblick, wo ich dies sage, muß ich sagen, daß von uns, die wir hier zum Passionsgottesdienst versammelt sind, jeder, der ein Stück im Leben hinter sich hat, weiß, was dasWort Passion für ihn bedeutet, und daß wir kommen, um untereinander zu lernen, das Kreuz zu tragen. Wenn wir uns unser Kreuz schilderten, es wäre bei dem einen Einsamkeit durch den Tod des Menschen, dessen Leben er teilte, bei dem andern die Sorge, ob er Gesundheit genug hat, um dasauszuführen, was 4 [Am 5. März schreibt Albert Schweitzer von Günsbach an Helene Bresslau:] «Ich wage es nicht, Ihnen zu sagen, wie spät es ist; die Zeit ist sehr rasch fortgeschritten, während ich amTisch meine Predigt schrieb.» [Zentralarchiv Günsbach.]

Wernicht sein Kreuz auf sich nimmt

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er soll, oder die zu unterhalten, die auf ihn angewiesen sind, bei einem andern sind es Sorgen um die Kinder, die einen Weg gehen, auf dem er ihnen nicht helfen und nicht folgen kann; bei einem andern ist es Sorge um die Existenz, die ihn nicht ruhen läßt; dazu noch das, was wir mit Menschen erleben, alles, was Neid, Mißverständnis zwischen andere und uns bringen und uns Menschen verlieren läßt, während sie noch unter uns leben. Und wir wissen alle, daß noch manches in der Zukunft auf uns wartet, Schwereres, als wir uns auszudenken wagen. Die Menschen müssen ihr Kreuz tragen, ob sie wollen oder nicht; man wird nicht gefragt, ob man es auf sich nehmen will oder nicht. Aber wie es aufnehmen und tragen? Die gewöhnliche Natur der Menschen trägt ein Mittel in sich, dashilft, dasKreuz zu tragen. Es heißt Abstumpfung. Wenn ihr um euch blickt, so seht ihr viele, die sich so mit ihrer Last abgefunden haben. Geradeaus, teilnahmslos gehen sie ihres Weges; was sie zerstreuen kann, das nehmen sie noch mit; aber für das Glück wie für den Schmerz sind sie unempfänglich geworden; es ist, als ob eine Feder in ihnen gebrochen wäre; etwas Müdes liegt über ihrem Wesen. Sie sind müde geworden, als sie mit ihrem Geschick haderten, bis sie sich hineinfanden; und sie fanden sich nur hinein, weil sie müde sind. Wohl ihnen, wenn sie nicht verbittert sind und als letzte Leidenschaft behalten haben, ihre Bitterkeit sich auswirken zu lassen, um alles, was sie damit erreichen können, zu vergiften. Es gibt Menschen, die dieses Sichabfinden mit dem Kreuz in einer vornehmen, tiefen Weise erlebt haben. Ich habe manches Buch gelesen, in dem ein Mensch seine Erlebnisse niedergelegt hat, und mußte Seelengröße darin bewundern; und manches Seelenleben, in dem dies offenbar wurde, ist für mich ehrwürdig geworden. Es steht uns nicht an als Christen, das, was Menschen im Tragen Großes gezeigt haben und zeigen können, nur deswillen herabzusetzen oder nicht anzuerkennen, weil sie ihre Kraft nicht aus derselben Quelle geschöpft haben, aus der wir sie suchen wollen. Aber es sind dieser großen, rein menschlichen Helden des Leidens wenige, und auch auf ihnen lastet zuletzt die Müdigkeit. Was heißt aber, sein Kreuz nehmen und esJesus nachtragen? Ich meine, zunächst es tragen als solche, die begreifen, daß es einen tieferen Sinn hat; Jesus hat dem, was er erdulden mußte, eine Bedeutung gegeben. Wie er sich’s genau vorgestellt hat, wissen wir nicht, da er mit niemandem andern anders als nur in Andeutungen gesprochen hat. Aber was er vor sich sah, das kam für ihn nicht, weil die Pharisäer ihm übelwollten und das Volk verblendet war, sondern weil es aus innerer Notwendigkeit so kommen mußte; weil es notwendig war, damit das vollendet würde, das er in der Welt verwirklichen sollte. Hinter der Notwendigkeit, mit der es von den äußeren Ereignissen heraufgeführt

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wird, steht für ihn noch eine andere, unsichtbare religiöser und sittlicher Art. Darum trägt er es als einer, der etwas davon versteht. So, meine ich, verstehen auch wir etwas von dem, was uns als Kreuz beschieden ist, wenn wir als ernste Menschen tiefer in die Dinge hineinschauen. Wo die andern nur äußere Ereignisse sehen, erblicken wir etwas, wasauseiner Schuld oder ausder Schuld eines andern, an der wir mittragen, erwächst; oft fühlen wir auch zwei Ereignisse, die äußerlich nichts miteinander zu tun haben, so miteinander verbunden, daß wir in dem Schweren, das uns widerfährt, wie eine Gnade erkennen, etwas, das uns gegeben wird, daß wir es in Geduld und Demut tragen und damit etwas auslöschen dürfen, was in unserer Seele brannte. Der kennt dasLeben nicht, der nicht schon Schweres wie mit Dankbarkeit auf sich genommen hat, um darin Vergebung zu finden und etwas wiedergutmachen zu dürfen. Manchmal ist uns auch schon ein Kreuz gekommen, weil es kommen mußte, um uns auseiner Phase der Gedankenlosigkeit aufzuwecken und uns vor uns selber zu retten, indem es uns wieder in den Ernst des Lebens hineinstellte. Habt ihr es nicht in eurem Leben schon vielahnend begriffen, was ihr keinem Menschen aussprechen könnt, weil einer, der von außen in unser Dasein schaut, es nicht fassen könnte? Undje tiefer und ernster ein Mensch ist, desto mehr begreift er von seinem Dasein und dem Schweren, waser zu tragen hat. Aber bei jedem bleibt auch Unbegreifliches stehen. Auch Jesus hat an dem, was er durchmachen mußte, nicht alles verstanden, denn sonst hätte er in Gethsemane nicht dem Gedanken noch immer Raum geben können, daß es dennoch abwendbar sein könnte, und nicht darauf gehofft [Mt. 26,36–46]. So gibt es auch in dem Leben der Menschen Dinge, die schlechthin unbegreiflich, sinnlos in ihr Dasein hineinstürzen wie der Felsblock, der sich oben vom Berge löst und den Menschen auf der Straße erschlägt. Ich zähle es nicht auf; wenn ihr an euch noch nichts Derartiges erlebt habt, so habt ihr es mit Grausen bei den andern miterlebt. Da martern sich die Menschen; sie wollen dasZufällige, dasdiesen Ereignissen auf der Stirn geschrieben steht, aus Gottes Willen begreifen und sich und die andern zum Glauben zwingen, daß es ausGott kommt. Sie tun sich Gewalt an und meinen, nicht Frieden finden zu können, bis esihnen gelungen ist, sich diesen Gedanken aufzudrängen. Ich aber möchte euch bitten, wenn euch solches auf eurem Wege begegnet, euch nicht zu quälen, sondern das Unbegreifliche als Unbegreifliches zu tragen, weil es uns so bestimmt ist. Ich komme immer mehr zu dem Glauben, daß man dennoch fromm sein kann, wenn man es auch nicht über sich bringt, alles Geschehen auf Gott zurückzuführen. Und wenn ihr Menschen findet, die sich darin abmühen, so helft ihnen und nehmt die Last des Grübelns von ihnen fort.

Wernicht sein Kreuz auf sich nimmt

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Zuletzt klärt sich auch das Unbegreifliche... durch das Sterben. Das, was uns verwundet und zusammenschlägt, es ist ein Stück des Todes, das schon im Leben an uns verwirklicht wird. Wenn der Herr von seinem Kreuz redet, so meint er das Kreuz, an welchem er sterben wird; so geht das Wort «Tod» neben dem Wort «Kreuz» einher. Mit seinem Kreuz ihm nachfolgen, heißt: Das Schwere desLebens als ein Stück Tod tragen. Und der Tod ist dasWirklichste und Unbegreiflichste in dem, was ist. Nur im gewöhnlichen Denken treten Tod und Leben auseinander wie «Ja»und «Nein». Wer sehend ist, der schaut beide ineinander und erkennt denWeg durchs Leben als denWeg zumTode, indem er fühlt, wie das Leben durch das Schwere, das es uns bringt, und in dem, was es uns Menschen an Kraft und Hoffnung nimmt, die natürlichen Fäden löst, mit denen wir ins Dasein verflochten sind, und uns zum Scheiden bereitet. Paulus hat daswunderbar ausgedrückt, wenn er sagt: «Ich sterbe täglich» [I Kor. 15,31]... und ein anderes Mal: «Wir, die wir da leben, werden immerfort in denTod gegeben» [II Kor. 4,11]. Und darin liegt dasLeben. Es ist mit dem Menschen wie mit der Natur: Aus dem Sterben kommt das Leben. Habt ihr noch nicht empfunden, daß in den Stunden, wo wir von uns selbst hätten annehmen müssen, daß wir fast vernichtet würden durch das, was auf uns eindrang, wir in allem Schmerz und aller Traurigkeit eine Art Willen zum Leben, Freudigkeit zum Leben empfanden, die um uns spielten, wie der frühjährliche Sonnenschein draußen jetzt auf der kahlen Flur dahingleitet? In dem, was wir drangaben, waren wir kräftiger zum Leben geworden, weil es uns immer klarer wurde, daß wir nicht leben um dessentwillen, was wir vom Leben zu fordern haben, sondern um dessentwillen, was wir ausrichten müssen. Habt ihr noch nie diese wunderbare Lebensheiterkeit an denen bemerkt, bei denen ihr euch fragt, wie sie überhaupt noch existieren können? Man meint, sie müßten wahnsinnig geworden sein vor Weh, und sie gehen herum und haben Interesse für alles, und wo man sie braucht, sind sie da. Das ist der Gang unseres Lebens, daß die Gedanken der natürlichen Freude am Leben, mit denen wir aus derJugend in die Mitte des Lebens eintreten, durch das, was uns begegnet, langsam ersterben und aus diesem Sterben die andere, höhere Lebensfreude geboren wird, die uns im Dasein festhält durch das, was wir zu geben haben und was wir für die Menschen sein müssen... nicht lebensmüde, sondern lebenstüchtig werden unter dem Kreuz. Wenn ihr die Leidensgeschichte durchlest – und ich bitte euch, euch darüber öfter in der Leidenszeit zu sammeln – , so werdet ihr ergriffen von der wunderbaren Menschlichkeit, die in diesen Tagen von Jesus ausgeht. Er liest in der Seele desWeibes zu Bethanien [Mt. 26,6–

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13]; er schaut auf dieWitwe, die ihr Scherflein in den Gotteskasten wirft [Lk. 21,1–4]; er sorgt sich um das Schicksal der Bewohner Jerusalems [Lk. 19,41–44]; in dem Augenblick, wo er gefangen wird, quält er sich um dieJünger [Joh. 18,8 f.]... und uns erfaßt eine Sehnsucht, in Trübsal und Leid auch so zu werden. Laßt diese Sehnsucht in euch wachsen. Die Welt braucht Menschen, die im Leiden etwas geworden sind. Wer es unternimmt, zu Menschen über die Bedeutung des Leidens zu reden, der erfährt, wie unzulänglich alle Worte sind, um das wiederzugeben, was wir in uns fühlen. Darum hat Jesus auch alles, was er zu sagen hatte, nur angedeutet und esTat werden lassen in seinem Leben. Wir alle sind berufen, vom Leiden nicht mit Worten zu predigen, sondern durch die Art, wie wir das Schwere im Leben überwinden. Wenn wir von Leidensnachfolge Jesu sprechen, so denken wir nicht nur an ihn, sondern auch an das, was wir hiervon lebendig an Menschen empfunden haben. Wir sehen Gestalten vor uns, denen wir danken müssen für das, was sie uns gaben, da wir von nah oder von fern ihr Leid und die Art, wie sie es überwanden, mitansehen durften und dadurch selber innerlich ruhig und stark wurden. So geht Jesus bis auf den heutigen Tag, sein Wort von der Kreuzesnachfolge wortlos und lebendig [predigend], durch die Geschlechter hindurch und geht als Erkenntnis und Kraft von Mensch zu Mensch über. Und auch uns ist es bestimmt, in dieser stummen Predigt mitzureden. Mögen wir die Kraft dazu finden.¦5¿

Nachmittagspredigt Sonntag, 21. März 1909, St. Nicolai Passion

Mt. 27,11–26: Pilatus¦6¿

In der Passionszeit ruht unser Blick nicht allein auf dem Heiland, sondern auch auf den Menschen, die neben ihm in diesem Drama auftreten. Sie erscheinen uns in eine eigentümlich helle Beleuchtung gerückt und verkörpern mit dem Bösen und dem Guten, was an ihnen zutage tritt, die Menschheit. 5 [R] In Günsbach 6. März 09. 6 [Mt. 27,11–26: Jesus aber stand vor dem Landpfleger; und der Landpfleger fragte ihn und sprach: Bist du derJuden König? Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst es. Und da er verklagt ward von den Hohenpriestern und Ältesten, antwortete er nichts. Da sprach Pilatus zu ihm: Hörst du nicht, wie hart sie dich verklagen? Und er antwortete ihm nicht auf ein Wort, also daß sich auch der Landpfleger sehr verwunderte. Auf das Fest aber hatte der Landpfleger die Gewohnheit, dem Volk einen Gefangenen loszugeben, welchen sie wollten. Er hatte aber zu der Zeit einen Gefangenen, einen sonderlichen

Pilatus

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Wir sehen dasWeib zu Bethanien, dasJesus die letzte Liebe erweist [Mt. 26,6– 13]; Petrus, der sich vermißt, mit dem Herrn zu sterben [Mt. 26,31– 35], und ihn dann verleugnet [Mt. 26,69– 75]; Judas, den Unglücklichen, der am Meister irre wurde und ihn dann verriet [Mt. 26,14– 16]; Pilatus, in dessen Hände das Schicksal Jesu gelegt war. In allen diesen Personen liegt ein Stück von uns selbst, von dem Guten und Schlechten an uns.Wie hätten wir bestanden, wenn es uns beschieden gewesen wäre, in der Geschichte der letzten Tage Jesu auch einen Platz zu erhalten? Der Prozeß Jesu wiederholt sich nicht so, wie er war... und doch spielt er sich alle Tage vor unsern Augen ab. Denn wasist dasDrama des Lebens anderes, als daß vor unsern Augen aus Leidenschaft und Verblendung Unrecht geschieht an Menschen und wir dabeistehen als die, die es mit geschehen lassen oder versuchen, es aufzuhalten? Tun wir das in der rechten Weise? Oder sind wir nicht ebenso schuldig wie die, von denen die Leidensgeschichte zu uns redet? Mit dieser Frage, nicht als Richter, wollen wir uns die Persönlichkeit des Pilatus und sein Tun vergegenwärtigen.

Was wir aus der allgemeinen Geschichtsschreibung von Pilatus wissen, lautet wenig günstig. Er erscheint als ein harter Mensch, dem Menschenblut nichts gilt und der mit eiserner Faust das Land, dem er vorgesetzt ist, niederhält. Wieviel an diesem Bild richtig ist, wieviel auf gehässiger Entstellung beruht, können wir nicht mehr entscheiden. Man darf nicht vergessen, daß er uns vonjüdischen Schriftstellern, seinen Feinden, geschildert wird, und anderseits, daß er rings von Verrat und Aufstand umgeben war, so daß die geringste Schwäche oder das, was man so hätte auslegen können, eine Empörung zur Folge gehabt hätte, wie sie dann fünfunddreißig Jahre später losbrach und zur Zerstövor andern, der hieß Barabbas. Und da sie versammelt waren, sprach Pilatus zu ihnen: Welchen wollt ihr, daß ich euch losgebe? Barabbas oderJesus, von dem gesagt wird, er sei Christus? Denn er wußte wohl, daß sie ihn aus Neid überantwortet hatten. Und da er auf dem Richtstuhl saß, schickte sein Weib zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; ich habe heute viel erlitten imTraum von seinetwegen. Aber die Hohenpriester und die Ältesten überredeten dasVolk, daß sie um Barabbas bitten sollten und Jesum umbrächten. Da antwortete nun der Landpfleger und sprach zu ihnen: Welchen wollt ihr unter diesen zweien, den ich euch soll losgeben? Sie sprachen: Barabbas. Pilatus sprach zu ihnen: Was soll ich denn machen mit Jesu, von dem gesagt wird, er sei Christus? Sie sprachen alle: Laß ihn kreuzigen! Der Landpfleger sagte: Washat er denn Übles getan? Sie schrien aber noch mehr und sprachen: Laß ihn kreuzigen! Da aber Pilatus sah, daß er nichts schaffte, sondern daß ein viel größer Getümmel ward, nahm er Wasser und wusch die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig am Blut dieses Gerechten; sehet ihr zu! Da antwortete das ganze Volk und sprach: Sein Blut komme über uns und unsre Kinder! Da gab er ihnen Barabbas los; aber Jesum ließ er geißeln und überantwortete ihn, daß er gekreuzigt würde.]

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rung Jerusalems führte. Jedenfalls war Pilatus ein abgehärteter Mann, der schon tausendmal dasMenschengefühl in sich erstickt hatte. Nun wird ein Mensch vor ihn geführt, ein Mensch, der ihn nicht interessiert und der ihm nur Ungelegenheiten bereiten kann... ein Prophet aus Nazareth, der mit den Pharisäern und Priestern verfallen ist. Die Staatsraison sagte ihm, er möge sich nicht um ihn kümmern und den Dingen ihren Lauf lassen. Aber in diesem Augenblick steht ein anderer Pilatus da als der, den man erwartete. In jener Stunde war Pilatus Mensch. Er wittert nicht gleich Gefahr und Aufruhr; nicht jeder, der ihm als Umstürzler hingestellt wird, ist es auch, sondern er sucht, klar zu sehen und Unrecht zu

vermeiden. Fast kann dieser Pilatus denen, die bei uns die öffentlichen Geschäfte leiten, als Exempel dienen. Denn in manchem stehen diese kleiner da als der Römer. Heutzutage ist oft die Staatsraison alles. Man findet es ganz natürlich, daß alles andere, Menschlichkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit, schweigt, wenn es gilt, einen unbequemen Menschen unschädlich zu machen. Man will vor allem Ruhe haben; wer die Ruhe stört, ist gerichtet. Es hat einmal jemand gesagt, daß man heutzutage Jesus sicher nicht erlauben würde, so frei zu reden und eine solche Erregung unter das Volk zu tragen, sondern ihn von vornherein wegen Ruhestörung verhaftet hätte. Daran mag viel Wahres sein. Ich denke mit Grauen an zwei arme politisch verdächtige Russen, die vor einigen Jahren ausBerlin ausgewiesen wurden. Sie hatten gebeten, nicht an die russische, sondern an die schweizerische oder französische Grenze transportiert zu werden. Das wurde ihnen verweigert. Man brachte sie an die russische Grenze und lieferte sie, die Menschen, die wahrscheinlich ganz unschuldig waren, ihren Peinigern in die Hände, um sich dem östlichen Nachbarn gefällig zu zeigen; und was sie dann erduldet haben, das kann man sich erdenken nach dem, was die letzten großen Prozesse über die an den politischen Gefangenen in den russischen Gefängnissen verübten Greuel an den Tag gebracht haben. Die öffentliche Meinung hat sich damals wenig über den Vorfall aufgehalten; es waren ja nur zwei unbekannte Russen. Ich aber frage mich, wie es in der Seele derer, die die Verantwortung für jenen Transport tragen, aussehen muß.

Pilatus hat nicht nur einen Sinn für Gerechtigkeit, sondern auch für dasGroße. Er fragt Jesus: «Bist du derJuden König?», damit er nein sage und er die Anklage der Pharisäer zurückweisen könne; Jesus antwortet: «Du sagst es»und gibt ihm dadurch eine schroffe, fast verletzende Antwort; auf alles weitere bleibt er stumm. Nun hätte Pilatus sich mit einem guten Schein von allem zurückziehen können, da Jesus selber ihm die versuchte Rettung unmöglich machte; ein anderer wäre vielleicht auch aufgebracht worden über diesen Mangel an Ehrerbietung.

Pilatus

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Er aber fühlt, daß hier jemand Großes steht und daß hier nicht das

Maß gilt, mit dem man sonst zwischen Statthalter und Angeklagten mißt. Nun versucht er, den Herrn auf andere Art zu retten. Er weiß, daß nur die Pharisäer und Priester ihn anklagen und daß dasVolk ihn liebt. An das Volk, das unterdessen herbeigeströmt ist, wendet er sich und will, daß es ihm helfe; es sollJesus losbitten, wie es alljährlich an Ostern einen Verurteilten losbittet... Aber dasVolk versagt, da es von seinen

Oberen eingeschüchtert wird. Und nun gibt Pilatus die Rettung auf. Man malt ihn gewöhnlich schwarz in schwarz auf der Kanzel als den leichtfertigen, vornehmen Römer, dem nichts heilig ist. Ich glaube, man muß gerade auf der Kanzel wahr sein. Anjenem Tage war Pilatus, wie er vielleicht in seinem ganzen Leben nie gewesen war; es war, als ob die NäheJesu alle Kräfte des Guten, die in ihm schlummerten, lebendig gemacht hätte. Wir können nicht sagen, daß er ein Mensch war, wie wir niemals sein würden, sondern er empfand, wie wir in den besten Stunden empfanden, dawir sahen, daß wir die Entscheidung für einen Menschen oder eine Sache mit in der Hand hatten. Ich rechne jetzt nicht die hundert kleinen Fälle dieser Art, die dasLeben immer und immer mit sich bringt, wo du weißt, es kommt für mich nicht darauf an, sondern von den Stunden, wo es dir in wichtigen Dingen klar war, daß, wenn du dich einsetztest, du den Dingen einen andern Lauf geben könntest. Du standest dabei, als man vor dir einem Menschen seinen guten Namen nahm; und du wußtest, daß es an dir sei, dem allem entgegenzutreten. Hast du es in der richtigen Weise getan? Es handelte sich um dasVorwärtskommen eines Menschen, der gegen seine Verdienste zurückgesetzt war oder der zu denen gehörte, die sich nicht selber ihren Weg bahnen können, weil sie nicht zum Kampf ums Dasein ausgerüstet sind. Dein Gefühl sagte dir, du müßtest da eintreten. Hast du es in der richtigen Weise getan? Hast du immer die richtige Verantwortung gefühlt, wo du es konntest, für das Glück und Ergehen der Menschen und dasGelingen der guten Sache einzutreten? Was ich euch an Beispielen angedeutet habe, nimmt sich so dürr aus; wasmir eigentlich vorschwebt an dem, wasich um mich herum gesehen habe, wo andere und ich drin verwickelt waren, kann ich euch nicht erzählen. Aber ihr wißt, was ich meine, da ihr ja ähnliches in eurem Leben gesehen habt und dasselbe an den andern und euch erlebt habt wie ich. Wenn so viel Unrecht auf der Welt geschieht, so ist es nicht, weil so viele Böse da sind und diese die Macht haben, sondern weil es so wenige Menschen gibt, die sich der Verantwortung bewußt werden, daß sie das Unrecht, was sie verhindern können, hindern müssen. Es fehlen die Menschen, die dasBöse niederhalten und dieVerblendung aufhalten.

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Es ist furchtbar, zu sehen, wie sonst gute und liebe Menschen versagen und geschehen lassen, was sie nicht geschehen lassen dürften, nur um Ruhe zu haben. Ich habe mehr denn einen, den ich gern Freund genannt hätte, verloren, weil er in einer solchen Stunde versagte; mancher aber auch, der mir nicht nahe stand, ist mir nahe getreten, weil ich ihn erkannte als einen, derVerantwortungen nicht ausdemWege geht. Wie steht es mit uns? Ihr seid sicher mit mir darin einig, daß die Stunden, wo durch die Ereignisse um uns das Gefühl der Verantwortlichkeit in uns geweckt wurde und es in uns sprach: Da gibt es eine Pflicht für dich; da mußt du dich hineinwerfen, zu den schönsten unseres Lebens gehören. Es ist uns dann, als ob wir die Luft derWelt der Gerechtigkeit undWahrheit in vollen Zügen atmeten. Aber sind wir immer bis zu Ende fest geblieben? Nicht immer... selten. Wir haben wie Pilatus manches versucht; wir haben unsere Überredungskunst und unsere Klugheit spielen lassen; aber als es dann zur Entscheidung kam und nur das eine uns noch zurVerfügung stand, daß wir unsere Person und unsern Willen einsetzten und es wagten, die Folgen auf uns zu nehmen, da gaben wir nach und ließen geschehen ... genauwie Pilatus. Warum wir es taten? Wir sagten zu uns: Es hilft doch nichts; wir machten uns auch klar, daß, was wir aufs Spiel setzten, das nicht wert war, um was es sich handelte; wir überlegten uns, daß wir uns verbrauchten und unsern Einfluß verloren und so uns die Möglichkeit nahmen, in andern Dingen am Guten mitzuhelfen; zuletzt redeten wir uns auch ein, daß uns die Sache so nahe doch nicht anginge und daß andere da wären, die hier in die erste Linie zu treten hätten; es kam uns auch ein, daß wir den Anschein erwecken könnten, als mischten wir uns in Dinge, die uns nichts angehen. Dutzende von Erwägungen stürmten auf uns ein. Anjeder war etwas, das berechtigt scheinen konnte und es uns als Pflicht der Vernünftigkeit nahelegte, nicht eigensinnig auf unserm Standpunkt zu beharren... Und dennoch hatten wir das Gefühl, unsere Pflicht zuversäumen. Zuletzt suchten wir wie Pilatus, nur den Schein zu retten, als hätten wir alles getan. Wer in sich hineinblickt, der erschrickt vor all dem Unwahrhaftigen, das in solchen Momenten in uns die Herrschaft ergreift; man wagt es nachher nicht mehr, sich zu vergegenwärtigen, was man gedacht, geredet, getan hat, nur um vor den Menschen den Schein zu erwecken, als hätte man seine Pflicht bis zum Äußersten erfüllt, gerade in dem Augenblick, wo wir es aufgeben. Wer nicht diesen Ekel vor dem Komödianten in uns schon gespürt, wer nicht in diesem Händewaschen des Pilatus einen Gestus erblickt, den er schon gar manchmal ausgeführt hat, der kennt sich selber nicht oder will sich nicht kennen. So wird das, was dort im Hofe der Statthalterschaft zuJerusalem vor sich geht, zu einem Symbol dessen, was alltäglich geschieht und was

Pilatus

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eine so tiefe Bedeutung für uns hat. Viele Erinnerungen von dem, was wir mitangesehen haben, steigen in uns auf, und in bezug auf die Art, wie wir uns bewährt haben, einige freudige und manche traurige. Wenn ich die Gedanken, die uns dabei bewegen, zusammenfassen soll, so möchte ich zunächst sagen, daß wir alle unsere Auffassung von der Verantwortung für das, was um uns geschieht, vertiefen müssen, da wir immer Gefahr laufen, uns die bequemen Anschauungen, die um uns herum kursieren, zu eigen zu machen, die den Menschen glauben machen, daß er nur an den Dingen mitverantwortlich ist, wo er direkt handelnd beteiligt ist, und daß er für das, was er geschehen läßt, nicht mitschuldig ist. Ich möchte, daß dies auch in der Erziehung der Kinder mehr ausgesprochen würde, als es geschieht, damit das charakterlose Geschlecht, das unserer Zeit seine Prägung gibt, durch ein anderes abgelöst wird. Dir aber sage, daß du es mit der Pflicht der Verantwortung nie ernst genug nehmen kannst. So streng du für dich bist, so milde sei für die andern. Waswir ausstehen, wenn uns die Menschen in einer Angelegenheit im Stich lassen und sich zurückziehen, wo sie es nicht dürften, wißt ihr wie ich. Unser natürliches Gefühl gibt uns dann etwas wie Verachtung gegen sie ein. Aber wer tief in die Dinge hineingeblickt hat und von sich selber weiß, wie schwer es ist, seine Interessen und seine Persönlichkeit für andere einzusetzen, und wie unfrei die Menschen unserer Tage sind, die nach allen Seiten hin in Abhängigkeit gehalten werden, undwasfür Charakter dazu gehört, unter diesen Umständen seinen Weg gerade zu gehen, der wird nachsichtig und entschuldigt die Menschen vor sich selbst und sucht nicht mehr von ihnen zu verlangen, als sie geben können. Und zuletzt ein Wort an die Frauen. Das Weib des Pilatus schickt zu ihm und mahnt ihn, sich nicht in den Dienst der Ungerechtigkeit zu begeben. Wir wissen sonst nichts von dieser vornehmen Römerin; ihre Gestalt bleibt im Dunkel. Aber wir möchten dieses Weib in der Leidensgeschichte nicht missen, denn sie war das, was ein Weib sein soll: Das Gewissen ihres Mannes. Möge allen Frauen immer bewußt bleiben, was sie in unserm öffentlichen Leben und am heimischen Herd bedeuten, wenn sie dasGewissen verkörpern. Die Männer, die im Kampf ums Dasein stehen, laufen immer Gefahr, in allzu vernünftige Überlegungen zu geraten, in welchen sie nicht mehr zwischen Recht und Unrecht im tiefen, moralischen Sinn des Wortes unterscheiden. Es ist, als ob sie das unmittelbare Gefühl verlören. Darum ist es die schönste Aufgabe der Frau, als Beraterin und als Erzieherin der Kinder das unmittelbare Empfinden für Recht und Wahrheit immer wieder und unbeirrt zur Geltung zu bringen und so ein Segen zu werden. Mögen sie das sich von der unbekannten, heidnischen Schwester, die in der Leidensgeschichte auftritt, predigen lassen.

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Nachmittagspredigt Palmsonntag, 4. April 1909,¦7¿St. Nicolai¦8¿

Mk. 8,36: Washülfe esdem Menschen, so er die ganze Welt gewönne¦9¿

Unser Denken an diesem Tag gehört den Konfirmanden, von denen sich eine Zahl auf meine Bitten noch mit uns zu einer kurzen Andacht zusammengefunden hat. Der Anfang des Textwortes, das unsere Gedanken zusammenfassen soll, hat für sie einen ganz andern Klang als für uns. So manches, wassie am heutigen Tage empfinden, findet in denWorten «die ganze Welt gewinnen» eine Resonanz. Es ist ja der heutige Tag nicht nur ein Ereignis in ihrem religiösen Leben, sondern auch in ihrer rein menschlichen Existenz. Das Leben tut sich vor ihnen auf. Es ist, als ob sie durch eine geöffnete Tür ins Freie blickten und hinausschauten auf alles, was ihrer wartet. Sie haben ein Kraftgefühl, das man nur in diesen Jahren besitzt; sie vertrauen auf das, was sie können, was sie noch lernen wollen, auf ihre Arbeit, auf ihre Gesundheit. Und mögen sie noch so bescheiden sein, so sind sie doch gewiß, daß sie ein Stück Welt und Glück für sich gewinnen werden; und darum schweben sie noch in Träumen des Vorwärtskommens und desguten Ehrgeizes. Ich möchte dieses wunderbare Gefühl, dessen ich mich von mir selber mit Ergriffenheit erinnere, nicht mit einem Worte dämpfen. Es soll so sein. Möge ihnen Arbeit, Können, Ausdauer und Gesundheit verliehen sein, damit das Leben von den Hoffnungen, die sie auf es setzen, etwas verwirkliche, und sie von den Hoffnungen, die wir auf sie, das neue, unverbrauchte Geschlecht gründen, nicht zu wenig erfüllen. Aber in ihre Lebensfreudigkeit mögen sie das Wort einschließen: «Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele?» Was heißt denn Seele? Wer vermag zu sagen, was Seele ist? Ihr werdet Menschen antreffen, die sagen, daß es keine Seele gibt, und werden das mit Hohn und Gelehrsamkeit begründen. Und was Seele ist, vermag keiner zu sagen. Aber sicher ist uns, waswir von unserer Seele fühlen.¦10¿ Die Seele in uns ist, daß wir etwas in uns fühlen, das besser ist als 7 [R] 2.I. 21. [Ein Entwurf vom 2. Januar 1921 zeigt, daß Schweitzer diese Predigt in St. Nicolai wiederholt hat.] 8 [R] Mme. Ehretsmann. [Frau Ehretsmann ist Albert Schweitzers älteste Schwester Luise.]

9 [, und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder waskann ein Mensch geben, damit er seine Seele löse? 10 [R] Vergleich: Licht, wo man auch nicht sagen kann, wases ist, und daswir doch fühlen, weil es auf uns wirkt; so ist die Seele dasLicht, dasvon innen auf unswirkt.

Was hülfe es dem Menschen

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wir, daß sich in uns Denken, Hoffen und Wollen regt, das auf die Welt des Wahren, Reinen und Guten geht, und ein sehnendes Verlangen in uns brennt, in dieser Welt des Lichtes zu atmen und sie nicht zu verlieren . . . Kinder des Lichts zu bleiben. An diesem Tage, wo im Frühling eures Lebens das Edelste und Reinste, was ihr in euch tragt, aus dem gewöhnlichen Denken wie eine Frühlingsblüte heraussprießt, wißt ihr, was Seele heißt, wenn ihr darauf horcht, und die Erregtheit und Begeisterung eures inneren Wesens sagt es euch so lebendig, wie es Menschenworte nie vermögen. Das ist etwas, das ihr wißt. Nun sagt der, der schon mehr vom Leben kennt und weiß, was aus Menschen wird: Habt Angst, daß ihr es nicht verliert. Ihr wißt nicht, was es heißt, an der Seele Schaden leiden. Ein gesunder Mensch kann sich nicht vorstellen, wie es dem zumute ist, der sich sagen muß, daß er an seiner Gesundheit Schaden gelitten hat und nun mit zerrüttetem Körper sich weiterschleppen muß. Nur wer diese Verzweiflung an sich erlebt oder mit andern durchgemacht hat, der weiß, was es ist. Und nur der, der für sich selbst die Angst gekannt, Schaden an der Seele gelitten zu haben, und es an andern gesehen hat, was es ist, der weiß, was dieses Wort alles in sich einschließt. Es liegt ein stummes Elend über der Menschheit. So viele, die von außen glücklich scheinen, sind es nicht, denn sie tragen das Bewußtsein mit sich, daß sie eigentlich kein Recht mehr an dem Wahren und Guten haben, weil sie sich selbst die Türe zum Heiligen und Reinen zugeworfen haben. Ich hatte dieser Tage etwas bei einer Frau zu tun, die mich auf ihren Speicher führen sollte; als sie im Begriff war, zu ihrer Wohnung herauszugehen, besann sie sich, ging erst wieder hinein und holte den Schlüssel. Dann sagte sie: Meine Tür hat draußen keine Falle, und wenn ich sie dann zuschlage, bin ich von mir selber ausgeschlossen und steh vor der Tür meiner eigenen Wohnung. So ist es mit den Menschen. Durch das, was sie tun, schließen sie sich oft selber aus von dem Besten, was in ihnen ist, und erst nachher erkennen sie, wie arm sie geworden sind, weil sie sich von der Welt des Guten und Reinen, die in ihnen ist, getrennt haben und sich nun sagen, daß sie nun eben so weiterleben müssen, ohne daß sie noch etwas von dem erleben, was ihr jetzt empfindet: nach allem, was rein und wahr und gut ist, die Hand ausstrecken zu dürfen und zu wollen. Das ist’s, was wie eine Müdigkeit und Verzagtheit auf so vielen Menschen liegt. Sie gehn an einem Garten vorüber und wissen, daß die Blumen, die darin wachsen, nicht mehr für sie sind; sie wissen auch, daß es für sie kein wahres Glück mehr im Leben geben wird, denn alles wahre Glück im Leben gleicht dem, was ihr jetzt empfindet, und besteht darin, daß die schönsten und reinsten Gedanken, die wir in uns tragen, unser Wesen bewegen.

992 Predigten desJahres 1909

Ich will euch keine Angst machen vor denVersuchungen, die das Leben an euch heranbringen wird. Wer innerlich gesund ist, überwindet sie. Sondern nur ernst machen will ich euch, daß ihr immer wißt, es handle sich nicht nur darum, ob du dies oder jenes tust, sondern daß deine Seele daran Schaden nehmen kann und etwas geschieht, dessen ganze Tragweite euch erst später zu Bewußtsein kommen wird, wenn es

zu spät ist. Und manche Menschen nehmen Schaden an ihrer Seele, ohne daß sie große Versuchungen durchzumachen haben. Sie lassen sie langsam verkümmern; sie lassen sich von den Freuden und Sorgen und Zerstreuungen des Lebens einschläfern, und es kommt ihnen gar nicht zu Bewußtsein, wie Dinge und Gedanken, die früher etwas für sie bedeuteten, leerer Schall für sie werden. Zuletzt haben sie dann für alles, was dasinwendige Leben ausmacht, keinen Sinn mehr. Ihr sagt euch jetzt, daß dies für euch nie geschehen könne; wie sollte denn das alles, was ihr jetzt in euch fühlt, tot werden? Davor, vor der schleichenden Gefahr, möchte ich euch angst machen. Ihr wißt, daß im Innern Afrikas die Schlafkrankheit herrscht. Zuerst werden die Leute ein klein wenig matt, dann immer mehr und mehr, bis sie zuletzt immer wie schlafend daliegen und an Entkräftung sterben. Der berühmte Professor Koch ausBerlin war vor anderthalb Jahren injenen Gegenden, um die Schlafkrankheit zu studieren, und entdeckte die Anfänge des Übels an vielen, die ihn deswegen auslachten und sagten, sie fühlten sich vollkommen wohl, und er wußte doch ganz sicher, daß sie schon angesteckt waren, undbedauerte, daß sie sich nicht in Pflege begeben wollten. So gibt es eine Schlafkrankheit der Seele, bei der die Hauptgefahr ist, daß man sie nicht kommen fühlt. Darum müßt ihr auf euch achten. Und wie ihr die geringste Gleichgültigkeit an euch bemerkt undgewahr werdet, wie ein gewisser Ernst, eine Sehnsucht, eine Begeisterungsfähigkeit in euch abnimmt, dann müßt ihr über euch erschrecken und euch klar werden, daß dasdavon kommt, daß eure Seele Schaden gelitten. Sie leidet Schaden, wenn ihr ungesammelt dahinlebt. Der Mensch braucht Stunden, wo er sich sammelt und in sich hineinlebt. Das Furchtbare ist, daß die meisten gar nicht zum Bewußtsein ihrer selbst kommen und nachher, wenn sie einmal die Leere in sich fühlen, es auch nicht mehr wollen, sondern lieber so fortleben, damit sie nicht immer daran erinnert werden, was sie verloren haben. Ihr aber, sucht Stunden der Sammlung bei euch zu Hause und hier zwischen diesen stillen Mauern, wenn die Sonntagsglocken läuten, damit eure Seele zu euch sprechen kann, ohne daß es vom Geräusch desAlltags übertönt wird. Und bleibt in der Tat. Ihr könnt gar nicht ermessen, was die Tat ist und was sie für das innere Leben bedeutet. Ein Mensch, der nicht «wirkt», der nicht von seinen Gaben und Kräften, von dem, was er hat, Anwendung macht, um da mitzuwirken, wo Menschen nötig sind, [lei-

Alles ist euer

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det Schaden an seiner Seele]. Die innere Freude, die wir empfinden, wenn wir etwas Gutes getan haben, und wenn wir fühlten, daß wir irgendwo notwendig waren und Hilfe taten, ist eine Speise, deren die Seele bedarf. Ohne die Momente, wo der Mensch sich durch dieTat als ein Teil der geistigen Welt fühlt, geht seine Seele zugrunde. So viele kommen in das Elend der Gleichgültigkeit, weil sie von Anfang an diese Stärkung durch die Tat nicht hatten. Ihr aber, vergeßt nicht, daß von jetzt an ihr schon das Auge offenhalten müßt, um zu tätigen Menschen im Reich Gottes zuwerden.

Morgenpredigt Sonntag, 13.Juni 1909,¦11¿ [St. Nicolai]¦12¿ Ueber den Umgang mit Menschen

I Kor. 3,21: Alles ist euer Ihr seid vielleicht schon einmal sinnend vor diesem Wort stehengeblieben, das in seiner großartigen Unbestimmtheit wohl hundert Predigten enthält, je nach den Verhältnissen, auf die man es anwendet, und das Luther so wundervoll ausgeprägt hat, wenn er sagt, daß ein Christenmensch sei ein Herr aller Dinge. Ich möchte es heute in den Mittelpunkt von Gedanken stellen, die einen Kreis abschließen, in welchem sich unsere letzten gemeinsamen Betrachtungen¦13¿ bewegten; wir dachten über dasVerhältnis von Mensch zu Mensch nach, soweit es die Dankbarkeit und dann soweit es denTakt betrifft; heute möchte ich vom Allerallgemeinsten, vom Umgang der Menschen miteinander, zu euch sprechen, wenn ihr wollt, von dem, was man unter Anstand und Höflichkeit versteht. Daß dies auch irgendwie zur Religion gehöre, dafür kann man sich auf unsern Herrn Jesus berufen, der einmal in einem Tischgespräch, von dem uns der Evangelist Lukas im 14. Kapitel berichtet, Gelegenheit nahm, die Menschen zu tadeln, daß sie, wenn sie zu Tisch miteinander zusammenkämen, es an der geziemenden Bescheidenheit mangeln ließen, indem jeder zuoberst sitzen wollte. Leider ist uns nur dieses von ihm berichtet. Wir hätten ein wirkliches Bedürfnis, mehr von dem, was er über denVerkehr von Mensch zu Mensch dachte, zu wissen, weil uns diese Fragen viel beschäftigen. So wollen wir sie denn in seinem Geiste 11 [AS-HB, S. 234:] «10.Juni 09. Sie teilen den Abend mit dem Entwurf der Predigt. Dasist hoffentlich kein Grund zur Eifersucht. Es tut mir so gut, diesen ruhigen Abend auch für meine Predigt zu haben.» 12 [Der Kirchenbote vom 12. Juni 1909 zeigt, daß Schweitzer die Morgenpredigt in St. Nicolai hielt.] 13 [Diese Predigten fehlen.]

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überdenken, der uns doch zuletzt wissen läßt, wie er in unserer Zeit und unter uns urteilen würde. Unsere gemeinsame Beobachtung stimmt wohl darin überein, daß wir alle den Eindruck haben, daß zuwenig Gesittung, oder wenn ihr es wollt Höflichkeit nennen, unter den Menschen herrscht. Ich rede jetzt nicht davon, daß es auchjetzt noch Menschen gibt, die sich überall vordrängen; ich rede auch nicht von denen, die sich aufdrängen und mit jedem, von dem sie sich irgendwie etwas versprechen, gleich auf vertrautem Fuß stehen wollen oder zu stehen sich den Anschein geben. Das richtet sich alles selbst, nur daß wir, wenn sich solches in uns selber regt, viel zuwenig streng mit uns sind. Was ich meine, ist diese Roheit, die nackt hinter den Umgangsformen unserer Zeit liegt. Wenn die Menschen unserer Tage sich unbemerkt meinen und da sind, wo sie die Menschen nicht kennen und nicht von ihnen gekannt werden oder sich unter solchen bewegen, die sie nach ihren Begriffen nichts angehen, da ist’s, als ließen sie eine Maske fallen und zeigten sichjetzt erst so, wie sie sind. DasAllerselbstverständlichste und Allernatürlichste in der Art, wie ein Mensch zu seinesgleichen sein sollte, gilt für sie nicht, sondern es ist, als ob sie es darauf abgesehen hätten, zu zeigen, wie rücksichtslos sie sind. Wer reist, weiß davon zu berichten; aber nicht der allein, sondern jeder, der die Augen ein bißchen öffnet. Von Hilfsbereitschaft, wie sie doch früher üblich gewesen sein muß, wenn der Eindruck, den wir von der früheren Zeit haben, irgendwie richtig ist, findet sich nichts mehr. Mehr noch: Es wird geradezu eine Mißachtung des anderen Menschen und dessen, was ihn angeht und ihm gehört, proklamiert, so daß man sich oft fragt, ob das wirklich Menschen sind, die mit Menschen verkehren, und ob diese rücksichtslosen Menschen dieselben sind, die im Kreise ihrer Bekannten dann ein großes Wesen davon machen, dem andern die Ehre des Vortritts aufzunötigen, wenn es durch einen Gang oder eineTür geht. Es kann keiner dieWelt ansehen, ohne über diese Roheit sich zu betrüben. Sie besteht darin, daß man so scharf scheidet zwischen Menschen, die man kennt, und solchen, die man nicht kennt; solchen, die einen etwas angehen, und solchen, die einen nichts angehen, und daß die letzteren nach den heutigen Begriffen gar nicht existieren. Sie sind gewissermaßen als vogelfrei erklärt. Man braucht ihnen keinen Respekt entgegenzubringen, sich nicht in ihre Lage zu denken, ihnen keine Gefälligkeit zu erweisen, nicht höflich zu sein, nicht mit ihnen natürlich, freundlich und zuvorkommend zu sein. Alles, was der Mensch für seinesgleichen natürlich empfinden würde, gilt nicht mehr.¦14¿ 14 [R] Die Belästigung, wennjemand einen Fehler oder etwas Auffälliges hat; die Neugierde.

Alles ist euer

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Es wird niemand unter euch sagen, daß dies zu schwarz gemalt sei; es wird auch niemand zu verneinen wagen, daß es trostlos sei. Aber dann wollen wir auch die Konsequenz ziehen und darin nicht mit der großen Masse gehen. Wenn wir im Geiste einer reinen Weltauffassung, wie sie im Wesen des Christentums liegt, die Beziehungen der Menschen zueinander überdenken, so können wir diesen Unterschied von bekannt und unbekannt so nicht anerkennen, sondern wir glauben, was uns ja auch das natürliche Empfinden sagt, daß wir jedem Menschen mit einem Gefühl von Achtung und einfacher Zuvorkommenheit begegnen müssen und dies in keinem Augenblick vergessen dürfen. Ist dieses nicht da, so sind alle Umgangsformen nur aufgeworfener Verputz auf einer häßlichen Wand. Wir wollen unserer Zeit nicht viel darüber predigen, sondern es tun. Und wer diesje ernstlich will, der ist erstaunt, wie schwer es ist.Wir sind alle in diesem Irren unserer Zeit mehr befangen, als wir selber glauben. Jene Theorien haben etwas an sich, dasdem oberflächlichen Geist imponiert und dasfurchtbar bequem ist; wir haben es immer vor Augen; wir sehen esvonJugend auf; wir sehen, daß Leute, auf deren Urteil wir etwas geben, nach diesen Gedanken

handeln¦15¿;

fast alle befolgen sie, also müsse

es doch etwas Berechtigtes sein... und nun anders sein. Und doch wissen wir, es ist das einzig Wahre; denn so sagt es uns dasbessere Wesen in uns. Ich meine, wir wollen es damit ernster nehmen als bisher, um nicht in die Roheit unserer Zeit mitgerissen zuwerden, in der dasfeinere Menschentum zugrunde geht. Alles sei unser, auch die einfachsten und schönsten Gedanken, wie sich der Mensch zum Menschen stellen sollte, die Gedanken, die unsere Zeit in denWinkel geworfen hat. Wie in diesem, so stimmt ihr wohl auch darin mit mir überein, daß die Umgangsgepflogenheiten, wie sie sich zwischen den Menschen unserer Zeit herausgebildet haben, in uns allen eine merkwürdige Schüchternheit gezeitigt haben. Es liegt eine solche Kälte und ein solches Rührmichnichtan über dem Verkehr der heutigen Menschen miteinander, nicht nur weil so viele dem Prinzip huldigen, daß der Mensch, den sie nicht kennen, sie nichts angeht, sondern weil die, die sich von diesem Grundsatz befreien möchten, es nicht wagen. Es kann keiner aufzählen, wievielmal er seinem natürlichen Gefühl gefolgt wäre und sich anteilnehmend benommen hätte zu einem Menschen, den er offenbar in Trauer sah, oder zuvorkommend oder hilfsbereit, wo einer eines andern zu bedürfen schien, oder anteilnehmend am Glück, wievielmal er etwas gefragt und etwas gesagt, auch etwas getan hätte, wenn er nicht innerlich erstarrt gewesen wäre vor Angst, wie man es aufnehmen würde. Wir sind so gewohnt, daß Leute, die einander fremd sind, durch 15 [R] Um in der Welt durchzukommen und sich die Leute vom Hals zu halten, muß man so sein.

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einen Graben getrennt sind, den sie ohne weiteres nicht überspringen dürfen, daß wir es auch da nicht wagen, wo es unser Gefühl uns empfiehlt. Wir sind doch alle fast so weit gekommen, daß wir mitanhören, wie Leute sich über einen einzuschlagenden Weg oder sonst etwas bereden, daß wir einsehen, sie sind im Irrtum, und es doch fast nicht wagen, sie darauf aufmerksam zu machen, weil wir befürchten, sie könnten es als Einmischung eines Fremden auffassen und zurückweisen. Diese kalte Atmosphäre hat unsjegliche Unbefangenheit genommen. Ganz besonders tritt dies zutag in dem Benehmen der Menschen, die nach ihrer Stellung und ihren Lebensverhältnissen verschiedenen Kreisen angehören. Sobald es sich um Leute, die höher stehen als sie selber, handelt, bemerkt man oft, wie die Menschen diese Schüchternheit noch übertreiben und in der Angst, man könnte annehmen, sie wollten sich über Schranken hinwegsetzen, nun unnatürlich und geradezu unfreundlich werden. Durch diese Schüchternheit tritt bei uns eine Abstumpfung ein, in der wir zuletzt auf denselben Grad der Kälte und Gleichgültigkeit gegen die andern kommen wie die, welche ausÜberzeugung so sind. Das haben schon viele gedacht, aber wenige sind’s, die den Mut haben, es in die Tat umzusetzen. Wie selten sind doch die im feinen und guten Sinn natürlichen Menschen! Und doch tragen so viele von uns die Sehnsucht im Herzen, aus welchen Gesellschaftskreisen sie auch stammen, so natürlich sein zu dürfen unter den Menschen, wie sie es nach ihren Gefühlen sein möchten. Und wenn wir daszusammen denken, so will es doch auch schon heißen, daß wir ein bißchen Mut dazu fassen und uns nicht immer wieder erdrücken lassen durch das, was als angenommen und nicht angenom-

men gilt. So meine ich, daß wir, wenn wir von uns die Überzeugung haben, daß wir es rein aus natürlichem Gefühl tun, es ruhig darauf ankommen lassen, um in den Fällen, wo es uns angezeigt erscheint, so gegen die Menschen, bekannte, weitläufig bekannte, unbekannte, zu sein, wie es uns gerade aus dem Herzen kommt; ihnen Anteilnahme entgegenzubringen, wenn es uns dazu drängt; ihnen zu zeigen, daß wir uns mit ihnen freuen, wenn sich eine Gelegenheit also bietet; ihnen einen Rat oder eine Warnung zugehen zu lassen, wenn es uns angebracht erscheint; mit ihnen ein Gespräch anzufangen, wenn sich die Stunde bietet; sie merken zu lassen, daß wir sie gerne näher kennenlernen würden, wenn uns also ums Herz ist... dies alles und noch vieles, was man nicht in Worten ausdrücken kann, ohne Knechte der Scheu zu sein, die die Menschen einander so fremd macht und sie nebeneinander einhergehen läßt, als hätten sie kein Herz und kein Gemüt.¦16¿ 16 [R] Ohne uns immer zu fragen, ob dasgang und gäbe ist.

Alles ist euer

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Wer diesen Weg einschlägt, wird manche trübe Erfahrung machen. Mehr als einmal wird ihn einer, wie er meint, auf seinen Platz stellen; wo er freundlich ist, wird er eisige Zurückweisung erfahren; wo er dienstbereit war, wird man ihm zu verstehen geben, daß man solches unangebracht findet und dergleichen mehr. Er wird in manche Verlegenheit kommen und manchmal fälschlich als taktloser Mensch dastehen. Darauf muß man gefaßt sein, um alle Empfindlichkeit zu lassen. Was den Menschen diesen Weg so schwer macht, ist ihre Empfindlichkeit. Sie fühlen sich dann innerlich verärgert und verletzt und sagen sich nicht, daß dem, der in unserer Zeit einfach und natürlich sein will, solches eben begegnen muß, weil so viele es eben mißverstehen. Aber man erlebt auch gar viel Schönes, was einen über diese trüben Erfahrungen hinausheben kann. Zuerst gibt’s eine Art von Betroffenheit und dann ein liebes Erstaunen vom andern, daß man es wagte, nach dem Herzen zu handeln, und dann ein gemeinsames Glück mit Menschen, mit denen man vielleicht im Leben nur fünf Minuten zusammen war, daß man als Menschen miteinander war und sich so in Erinnerung behält. Und wie oft findet man so Menschen, mit denen man bleibend verbunden bleibt, an denen man sonst fremd vorübergegangen wäre. Und zuletzt ist der Reichtum desLebens doch, Menschen zu haben. Und damit ist doch gesagt, daß das christliche Gedanken sind und daß, wenn man sie tief denkt, sie im Geiste Jesu erfaßt. Er trat in eine Zeit hinein, wo die Menschen durch ein Zeremoniengesetz unnatürlich geworden waren; durch alle seine Reden klingt’ s: Werdet natürlich, laßt das Herz und das einfache Gefühl reden!¦17¿ Käme er in unsere Zeit, so würde er eine ähnliche Beobachtung machen. Er würde uns unnatürlich finden, eingeengt und im Sinn verbildet durch das Gesetz und die Regeln, welche den Verkehr der Menschen untereinander bestimmen und sie im Zustand der Fremdheit zueinander unterhalten. Darum würde aus dem, was er uns zu sagen hätte, dasselbe herausklingen, wenn auch in anderm Sinne, was er den Seinen zu sagen hatte: Gebt dem Herz und dem Gemüt mehr Raum! Er würde uns zur Freiheit berufen... wie die Seinen aus der Knechtschaft eines Gesetzes. Das heißt, er würde das Gesetz nicht zerbrechen. Ist euch nicht aufgefallen, daßJesus sich nicht in einen Kampf gegen das Gesetz einläßt, sondern dasselbe fast unangetastet läßt, indem er den Leuten nur das eine immer sagt: Geht nicht darin auf; «das eine tun und das andere nicht lassen» [nach Mt. 23,23]. Die Hauptsache ist, daß ihr innerlich darüber steht. Ähnlich würde er zu den ungeschriebenen Gesetzen stehen, die in unserer Zeit den Umgang der Menschen regeln. Er würde nicht zu denen gehören, die meinten, derWelt zu helfen, wenn sie darüber spotten 17 [R] Eine Höflichkeit des Gemüts.

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und es umstürzen wollen, alswäre dasderWeg zur wahren Menschlichkeit. Sondern er würde es bestehen lassen als etwas, das in manchem seine Berechtigung und Notwendigkeit hat, weil jede Zeit sich solche Gesetze schafft, und das er trotz mancher Unvollkommenheiten und falscher Urteile nicht als Ganzes verwerfen würde, sondern auch hier mit seinem «das eine tun und das andere nicht lassen» die Menschen darüber stellen. Er würde uns sagen, daß wir uns in den kleinen und angenommenen Dingen unter die Sitte beugen sollen, aber diese so vor uns tragen, daß immer das Menschenantlitz herausschaut. Er war kein Revolutionär und doch ein Befreier. Darum ist’s einem, als redete er zu unserm Geschlechte, das unter dem Gesetz von Umgangsformen und Umgangsvorschriften steht, die die Menschen lähmen, als könne er uns denWeg der Freiheit zeigen... der Freiheit im Geiste. Das ist auch der Weg, den ich in dem Worte des Paulus finde: «Alles ist euer», dasmir in manchen Fragen dieser Art schon zum Leitstern und Troste wurde. Ich sage mir, man findet auch das darin, daß uns gehören die Formen, die äußerlich unser Leben beherrschen, und zugleich die Gedanken, die in unserm Herzen und Gemüt leben, und daß wir Herr sind, so zu handeln, wie wir es für richtig befinden, und darum immer ohne Angst sollen wagen, so zu sein, wie wir es fühlen... «nicht einen knechtischen Geist» [Röm. 8,15] derWelt und ihren Anschauungen gegenüber zu haben und uns vor ihr zu fürchten, wie es in unserer Natur liegt. Die Gedanken, die hier nur angedeutet werden konnten, haben für uns alle denselben Wert, welchem Stand wir auch angehören, und sie haben uns manchmal beschäftigt, wenn wir sie auch nicht immer so zu Ende dachten, daß wir fühlten, wieviel sie mit der Religion zu tun haben, und daß wir in dem, was wir oft mehr dunkel nur fühlen, einem Gebot des Geistes Jesu gehorchen. Wem es von euch verliehen ist, zu erziehen, der erziehe in diesem Geiste. Nur noch eine kurze Bemerkung zum Ende. Wie steht’s mit unsern Beziehungen zu den Menschen, mit denen wir zusammenleben, oder wie es einmal einer gesagt hat: Wie bist du im Hauskittel? Es meinen so viele, daß man in seinem Hause alles, was man an Selbstbeobachtung sich draußen auferlegt, fallenlassen könne und daß es da zur Intimität gehöre, injedem Augenblick so zu sein, wie grad die Stimmung ist. Darum machen so viele zu Hause gar keine Anstrengung, die Herrschaft über sich selbst zu erhalten, sondern man läßt sich gehen. Das ist der Grund von mancher unbehaglichen, schwülen Atmosphäre, von mancher Streiterei, die langsam die Menschen voneinander entfernen, weil alles dieses doch zuletzt Narben hinterläßt. Es genügt nicht, daß man den Willen hat, miteinander gut zu sein, sondern zum täglichen Zusammenleben gehört eine Selbstbeobachtung und Selbstbeherrschung, zu der viele Menschen keine Anstrengung machen.

Der Geist

erforschet

alle Dinge 999

Morgenpredigt Sonntag, 27. Juni 1909, St. Nicolai

I Kor. 2,10: Der Geist erforschet alle Dinge, auch dieTiefen der Gottheit

Wir durchlaufen jetzt die Reihe der Sonntage nach Trinitatis, bis der erste Advent uns die festliche Zeit des Kirchenjahres wiederbringt. Als Kind stimmte mich der Eintritt in die festlose Zeit immer etwas traurig; ich verglich bei mir selbst diese Sonntage, wo einer dem andern gleicht, denTelegrafenstangen, die in monotoner Folge während der Bahnfahrt auftauchen und verschwinden.

Nun hat man bei uns gar noch dem Trinitatisfest, das den festlosen Sonntagen ihre Benennung gibt, seinen Charakter genommen. Wie ihr wißt, haben wir auf den Sonntag nach Pfingsten den Gedenktag der inneren Mission und ihrer Werke gelegt. So unzeitgemäß ist dies nicht; wenn wir den Geist unserer Zeit recht verstehen, so sind das die wirklichen Feste, die uns an das, waszu tun ist, erinnern. Aber dennoch muß man es etwas bedauern, daß uns der Sonntag genommen ist, wo Nachdenken und Andacht auf die Vorstellung von Gott, seinem Wesen, seinem Verhältnis zuJesus und dem Geiste gerichtet sind, undwo wir selber den Rätseln näher treten, die die alte Kirche in ihrer Dreieinigkeitslehre auszudrücken suchte. So wollen wir es denn heute, an einem Sonntag derTrinitatiszeit tun. Die Lehre von der Dreieinigkeit, wie sie die alte Kirche ausgebildet hat, ist uns merkwürdig fremd geworden. Ich glaube, es wird in unserm Lande nicht viele Pfarrer geben, die die Sätze, in welchen diese Lehre im sogenannten athanasianischen Glaubensbekenntnis festgelegt wurde, so gegenwärtig haben, daß sie sie aufsagen könnten, und es sind gewiß manche unter uns, die von der Existenz dieses Bekenntnisses über die Dreieinigkeit nur eine dunkle Ahnung haben. Wir wissen, daß über diese Lehre im dritten und vierten Jahrhundert auf den großen Konzilien viel verhandelt und gestritten wurde und daß das, was die Geister damals aufregte, uns eigentlich nicht mehr bewegt. Damals bestand die große Frage für die Leute, wie man Gott, den Heiland und den Geist, jeden als eine göttliche Persönlichkeit, sich vorstellen und dabei doch festhalten könne, es gebe nur einen Gott. Es galt, nach Worten zu suchen, die diesen Widerstreit verdeckten, und sie wurden gefunden, jedoch nicht, ohne daß sich in dieser Lehre das Abendland und das Morgenland entzweiten, ohne sich darüber je wieder auszusöhnen. Je weniger man sich später unter denWorten der Lehre über die Dreieinigkeit vorstellen konnte, desto heftiger eiferte man dafür. Man sagte, der Mensch dürfe darüber überhaupt nicht nachdenken, sondern müsse

1000 Predigten desJahres 1909

sich ihnen blindlings unterwerfen und sie als ein anbetungswürdiges Geheimnis betrachten. Ihr wißt, daß der furchtbarste Eiferer für den rechten Glauben an die Trinität der Reformator Calvin war, der einen sonst gut evangelischen Mann, Servet, einen hervorragenden Arzt jener Zeit, zum Feuertode in Genf verurteilen ließ, weil er seine Ansichten über die Dreieinigkeit nicht widerrufen wollte. Wenn die Leute früherer Zeiten Lehren über Gott in der Art aufstellten und für ihre Sätze Verbindlichkeit forderten, so hatten sie eine Vorstellung von der Möglichkeit der Erkenntnis, die wir nicht mehr haben. Darum verstehen wir mit unserm Gefühl noch, was sie wollten, wenn sie eine Lehre aufstellten, aber die Art, wie sie es ausdrückten, ist uns fremd geworden. So fühlen wir, daß an dem, wassie in der Lehre von der Dreieinigkeit zum Ausdruck bringen wollten, etwas tief Wahres ist, das auch uns noch bewegt, sofern nämlich darin Gott in seiner Wirksamkeit in der Welt durch Christus und den Geist begriffen werden soll, nur daß uns die Sätze, in denen sich dieses darstellt, so wenig innerlich befriedigen. Es ist eben wahr, was vorhin aus der Schrift verlesen wurde: «Der Geist erforscht alle Dinge, auch dieTiefen der Gottheit.» Wo wirklich Geist ist, da gibt es keine Beruhigung bei einer überlieferten Lehre; es gilt auch nicht, daß ihm das Gebiet, auf dem er sich bewegen soll, abgesteckt werde, sondern er will forschen, weil er muß, und das letzte Ziel seines Forschens bleiben die Gedanken, die im Wort Gott zusammenlaufen; daswird und soll immer so sein. Dieses Wort «forschen» gilt für uns in ganz besonderem Sinne für denWeg, den wir dabei nehmen. Wir gehen nicht mehr von dem Begriff des Wortes aus, den wir nun in Ausdrücken wiedergeben, wie es geschieht, wenn man dasWort «Gott» in den Eigenschaften «allmächtig, allgütig, allweise, allgegenwärtig, allwissend» ausgedrückt sein läßt, sondern nach der Geistesrichtung unserer Zeit nehmen wir die Spur auf, die uns zu etwas, was wir Gott nennen können, zu führen vermag, und folgen ihr und suchen diese Spur zuerst um unsund in uns. Wasich daim Bilde beschreibe, ist das, wasjeder erlebt, wenn er religiös zu denken anfängt. Und das ist auch bezeichnend für die Art, wie wir dasWort «erforschen» uns zu eigen machen, daß wir uns nicht fragen, ob uns diese Spur so weit bringen wird, wie die Menschen vor uns in der Erkenntnis Gottes zu sein glaubten, sondern daß es unsdarauf ankommt, daß es eine Spur sei, die nachjener Richtung führt und der wir folgen, soweit wir vermögen. Nun könnte man meinen, es sei dem, der dasWort des Paulus vom Geist, der auch dieTiefen der Gottheit erforscht, in der Art auf sich anwenden wolle, derWeg von vornherein verbaut, indem man ihm entgegenhält, nach der wirklichen Erkenntnis gebe es keinen Geist, sondern nur Materie. Man meinte eine Zeitlang, daß durch diese Erkenntnis

D er Geist erforschet alle Dinge

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alles, was Religion heiße, vernichtet werden müßte und daß das Ende der menschlichen Erkenntnis der Materialismus sei. Aber wer die Dinge mit wahrheitssuchendem Auge betrachtet, kann dabei nicht stehenbleiben, weil er damit nichts erklären kann. Wenn ein Mensch sieht, sagen sie, werden die Nerven des Auges durch die Schwingungen der Sonnenstrahlen gereizt, und diese Eindrücke pflanzen sich ins Gehirn fort, und so entsteht das Bild von den Dingen in ihm. Aber wie aus einem gereizten Nerv nun eine Vorstellung und ein Gedanke entsteht, das ist damit nicht erklärt; und ebensowenig ist erklärt, wie aus den Schwingungen, die sich in sein Ohr fortpflanzen und dort Nerven reizen, Worte mit Inhalt entstehen, und nicht, wie ein Willensakt in ihm zustande kommt. Überall, wo man das Leben erforscht, stößt man auf etwas Unergründliches. Hinter dem, was wir als Bewegung oder sonstwie erfassen, steht etwas, das wir nicht erfassen. Es geht auf einen geistigen Vorgang zurück. Wen sein Lebensgang so geführt hat, daß er einen Einblick in die Zauberwelt des Mikroskops gewinnt, der schreitet vom Unbegreiflichen zum Unbegreiflichen. Ich erinnere mich noch, was es auf mich für einen Eindruck machte, als ich zum ersten Mal eine Zelle unter meinem Mikroskop sah; da lag etwas wie ein Klümpchen; wenn man fortgesetzt schaute, sah man, wie es in zehn Minuten seinen Rand langsam nach einer Seite verschob, dann nach einer andern; es hatte keine Form, kein Haupt, kein Ohr, kein Auge, und doch suchte und wollte es etwas, es war Stoff und Geist. So ist vom tiefststehenden Lebewesen an alles, was geschieht, als ein Geistiges zu deuten. Es gibt kein Leben ohne Geist. Wer das eine sagt, hat das andere schon mitausgesprochen. Aus diesem allgemein Geistigen geht der Menschengeist hervor, und seine Tat ist, daß er das Geistige als ein Geistiges erkennt. Er überblickt die Welt und das All. Wieviel tausend Jahre es gekostet, bis er die Höhe erreichte und sich aus dem Dunkel heraufarbeitete, um diesen Überblick zu gewinnen, wissen wir nicht, vermag er doch nur eine kurze Wegstrecke in seine eigene Geschichte zurückzublicken. Aber daß wir so das ganze Reich des Seins überschauen, das wissen wir; und daß es keine tote Materie gibt, sondern Materie und Geist miteinander, und alles Leben seine Quelle in einem Geistigen hat. Und dieses Geistige, den Inbegriff alles Lebens und Geistes, das uns im Großen wie im Kleinen entgegentritt und uns erschauern macht, nennen wir Weltengeist. Was hindert uns, zu sagen, diesen Weltengeist nennen wir Gott? Weil er nicht das ganze Geistige in uns befriedigt und das Forschen unseres Geistes nicht zur Ruhe bringt. Wir verstehen nicht, was er will und was er schafft. Wir beugen uns unter seine Majestät, und doch nicht ganz. Wir haben Fragen an ihn; tausend Warum bewegen wir in uns und halten sie

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ihm entgegen. Es sind nicht nur Fragen der unzulänglichen Erkenntnis, sondern die eigentlichen darunter sind solche, die von einer Erkenntnis ausgehen, die sich mit ihm nicht in Einklang setzen läßt. Es betrifft das Sinnlose und Blinde und Grausame des Geschehens, alles das, wassich in uns aufbäumt, wenn wir uns vorstellen, daß Tausende von Menschen durch eine Erschütterung des Erdbodens umkommen, daß Menschen geboren werden, die vom ersten Tag an der geistigen Fähigkeiten beraubt sind und als Blöde oder Wahnsinnige dahinvegetieren, und was dergleichen Rätsel mehr sind, diejeder Tag unsvorAugen stellt. Dies alles wird uns als Frage bewußt, weil wir in uns noch etwas Geistiges entdecken, das nicht von diesem Weltengeist ausgeht. Was wir in uns fühlen, das läßt uns noch eine andere geistige Kraft in derWelt suchen, die nicht die Erklärung und der Grund des Seins und Geschehens schlechthin ist, sondern die dem entspricht, waswir uns als gut und heilig undwahr vorstellen. Wie der Menschengeist zu diesen Gedanken gekommen, wieviel tausend Jahre es dauerte, bis er diese Gedanken klar zu denken vermochte, wissen wir nicht; auch hier überblicken wir nur ein ganz kurzes Stück unserer eigenen Geschichte. Aber wir wissen, daß im Menschengeist diese Gedanken erstanden, Beurteilung des Geschehens, Gedanken über seinen Zweck, über Zweck der Menschheit und derWelt, Gedanken, die nicht ausdem Weltengeist stammen, dessen Wesen nur auf das Geschehen als solches geht und der dasRad des Seins in Gang hält von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und diese rätselhaften Fragen und Gedanken, die in uns nach Gestalt und Herrschaft ringen, geben uns die Gewißheit noch eines anderen Geistes, aus dem sie fließen, wie das Sein aus dem Weltengeist fließt. Und diesen Geist nennen wir «heiligen Geist». Alles, wases anWahrheit und Sittlichkeit und Frömmigkeit gibt, ist eine Wesensäußerung dieses Geistes, ob es im indischen oder im griechischen Denken, in den Propheten, inJesus, in den Aposteln, in den Reformatoren, in den modernen Denkern, in bekannten, in unbekannten Menschen sich offenbarte, ob es anerkannt oder mißachtet wurde. Es ist hier wie mit den Flammen; sie sind alle Helligkeit, aber eine ist mehr Klarheit als die andere, daß die anderen wie Schatten sich ausnehmen. Und so redet heiliger Geist ausJesus klar und lebendig wie nie, daß man sagen kann, der Geist sei Mensch geworden in ihm, undwaser an heiligem Geist in der Welt entfacht hat, lodert durch Jahrhunderte hindurch und wird zu Feuer in den Menschen, das in ihnen leuchtet und ausihnen herausschlägt. Washaben sich doch die Menschen für eine Mühe gegeben, zwischen Menschenvernunft und Offenbarung des heiligen Geistes zu trennen, wo doch alles Tiefe undWahre und Große, was dieVernunft denkt und in dem Menschen zum sittlichen und frommen Willen macht, im heiligen Geist gedacht ist, weil es sonst nirgendwo herkommen kann.

Der Geist

erforschet

alle Dinge

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Und was haben sie sich gequält, zwischen Jesus und dem heiligen Geiste zu trennen, wo dochJesus nur eine Erscheinung desheiligen Geistes in der Menschheit ist, und der Geist Jesu, wie es schon St. Paulus lehrt, dasselbe ist wie der heilige Geist, und soviel heiliger Geist in einem Menschen lebt, als er Geist Jesu angenommen hat. Weltengeist und heiliger Geist, das ist’s, was wir in dieser Welt von Gott erkennen durch unsern Geist, der ausbeiden kommt und beide erforscht. Wir erfassen sie in uns nicht als eins, sondern im Ringen miteinander nach der Seite des Erkennens und desWollens. Es ist, als ob der heilige Geist mit dem Weltengeist ankämpfte, um seine Ziele in der Menschheit und der Welt zu schaffen, und als sei das, was wir als Entzweiung dieses Geistes in uns erleben, und das von der Menschheit auf dieWelt ausgeht, dasRätsel des Seins, dasRätsel der Gottheit. Vielleicht kommen einmal solche, die dieses Rätsel der Zwiespältigkeit des Geistes klarer erfassen als wir, wie schon die Mystiker aller Zeiten schon immer darauf hingewiesen haben, daß dasRätsel alles Seins darin liege, daß die Einheit Gottes sich selber aufhebe, und mit welch dunkeln Worten sie solches sonst noch ausgesprochen haben. Was wir vom Geist erkennen, das ist der Geist, wie er sich in der Welt kundgibt. Wir kennen nur den Geist, der in der Materie als Leben in die Erscheinung tritt und im sittlichen, frommen Menschengeist als heiliger Geist. Was der Geist an sich ist, rein, ist keinem von uns zu erforschen oder zu schauen gegeben. Es ist, als säßen wir auf einem Eiland, vom Ozean umflossen; von diesem Ozean kennen wir nur die Wellen, die das Gestade hinauslaufen, immer und immer wiederkehren, Tag und Nacht, Monat um Monat, Jahr um Jahr, solang es steht und stehen wird... und in der Ferne einige dunkle Punkte... Eilande wie das unsere, vom Ozean umwogt... und dahinter das unendliche, wogende Meer, von dem wir wissen, daß es weiter geht als der Horizont, der sich darüber wölbt... nur daß wir dieses Unendliche nur ahnen, es nie mit einem Kahn befahren können und davon nur kennen das Gewoge, das am Eiland brandet. Also ist’s mit dem Menschen und Gott. Er erforscht, was an Geistigem von Gott aus in dieser Welt ist, aber nichts trägt seinen Gedanken auf die Unendlichkeit des Geistigen... nur daß er ahnt und glaubt, daß zuletzt alles Geistige eins ist und Weltengeist und heiliger Geist in Gott eins sind. Hier taucht dann für viele Menschen die Frage auf, ob denn dieser Gott noch ein persönlicher Gott sei, ein Gott, mit dem man Einheit im Gebet suchen könne; wenn man mancher Frage der Frömmigkeit nachgeht, so findet man, daß sich die Menschen nicht verstehen, weil diese Frage am Ende steht. So hat man Schleiermacher, dem großen Theologen, immer das Mißtrauen entgegengebracht, er lehre keinen persönlichen Gott.

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Ich glaube nicht, daß diese Frage die Geister immer so aufregen wird wie jetzt noch; ich meine nämlich, jeder geistige Gott ist auch ein persönlicher Gott, daja der Geist als solcher Persönlichkeit ist, nicht in dem engen, vom endlichen Menschenwesen genommenen Sinne, den man mit diesem Worte oft verbindet, sondern in dem hohen, reinen Sinn, der offenbar wird, wenn man sich die Worte Geist und Persönlichkeit alseins denkt. So sind wir in unserer Erkenntnis Gottes bescheidener geworden als die Menschen, die vordem die Lehren über Gott in Worte faßten. Aber das eine ist geblieben: das Forschen des Geistes, der sich in den Tiefen der Gottheit verlieren will. Und der Geist, der erforscht, der erfaßt auch Gott lebendig, denn er erfaßt das, wasvom Geiste Gottes in dieser Welt ist, und fühlt, daß er selber davon lebt und zehrt und daß Leben und Friede für ihn ist, sich unter den Weltengeist zu beugen und stille zu werden und seinen Willen zu heiligen im heiligen Geiste, umWille und Kraft Gottes zuwerden in derWelt. In dieser Gottseligkeit liegt die tiefste Erkenntnis und das tiefste Glück, das Menschen beschieden sein kann.

Morgenpredigt Sonntag, 11.Juli 1909,¦18¿ [St. Nicolai]¦19¿

[Ohne Text:] 400. Geburtstag

Calvins¦20¿

Letzten Samstag waren es vierhundert Jahre, daß Calvin das Licht der Welt erblickte. Wenn seiner in den Gottesdiensten des heutigen Sonntags allenthalben gedacht wird, so haben wir in Straßburg einen besonderen Grund dazu, weil die Geschichte enge Beziehungen zwischen dem Reformator und uns geschaffen hat. Er hat mehr denn zweiJahre seines Lebens hier verbracht. Als er nicht wußte, wohin, hat ihn unsere Stadt aufgenommen. Er hat nicht nur hier gelebt, sondern von unsern Reformatoren auch viel Geistiges emp18 [AS-HB, S. 237 f.] «Donnerstag abend, 8.Juli 09. Meine liebe G. mußte einen Teil ihres Abends an Calvin abgeben... ich muß am Sonntag eine Predigt über ihn halten. Da ich fürchte, zu spät mit dem Schreiben anzufangen, habe ich mich trotz meiner Müdigkeit gezwungen, meine Notizen zu ordnen und noch heute abend wenigstens die erste Seite niederzuschreiben. Das ist getan, und nun bin ich etwas beruhigt». «Freitag, 9. Juli. Meine Angst, nach dieser Trauung morgen meine Predigt über Calvin nicht fertig zu bekommen, ist so groß, daß ich heute abend nicht wage, zu schlafen, wenn sie nicht zuzwei Dritteln geschrieben ist.» 19 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer den Morgengottesdienst in St. Nicolai ge20

halten.] [R] *10. Juli 1509

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Geburtstag Calvins

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fangen, das durch ihn dann Gemeinbesitz der reformierten Kirche geworden ist. Eines der schönsten Kirchengebete, das noch allsonntäglich auf französischen Kanzeln verlesen wird, fand Calvin in Straßburg und übersetzte es. Bis zu seinem letzten Atemzug hat er nicht vergessen, welchen Dank er den Straßburgern schuldete. Und Straßburger sind es, die ihm ein Denkmal gesetzt haben, nicht eins aus Stein und Erz, sondern ein Denkmal des Geistes. Am Anfang der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts unternahmen es die Professoren der protestantischen Fakultät allhier, Rauss, Baum und Cuntz, alles, was Calvin geschrieben, zu sammeln und drucken zu lassen. Ein mächtiger Band nach dem andern erschien; die es unternommen, starben mitten in der Arbeit; ihre Schüler, Professor Lobstein und Herr Erichson, der Direktor des Stifts, traten an ihre Stelle. Die letzte Phase der Arbeit habe ich als Student noch miterlebt. Ich hatte mein Zimmer gegenüber dem des Direktors. Bis tief in die Nacht zeigte der Lichtschimmer, der über dem Gang lag, daß er arbeitete... immer an demselben Werk. Eines Tages sagte er mir stolz: Der letzte Band ist fertig. Nun weiß die Welt wieder, wer Calvin war. Nicht lange darauf trugen wir ihn zu Grabe. Seine Lebenskraft hatte noch gerade gereicht, das, was sein Dasein in den letzten Jahren ganz ausgefüllt hatte, zu Ende zu bringen. So haben Straßburgs Söhne Calvin ein Denkmal gesetzt. Das Leben Calvins ist euch in den Haupttatsachen bekannt. Es verläuft sehr einfach. Geboren zu Noyon in der Picardie, zeichnete er sich früh durch eine hervorragende Begabung aus. Er sollte zuerst Theologie studieren, entschloß sich aber nachher für die Rechtswissenschaft. In Orléans und Paris kam er in Berührung mit Anhängern des Evangeliums und trat dann nach einiger Zeit selber über. Über die Einzelheiten seiner Bekehrung hat er sich nie geäußert. Er tat den Schritt, alser etwa fünfundzwanzig Jahre alt war. Gleich nach seiner Bekehrung brach eine heftige Verfolgung der Evangelischen in Frankreich aus, die ihn zwang, nach Straßburg zu fliehen. Von hier ging er nach Basel, wo er das Werk drucken ließ, dasihn mit einem Schlage in die erste Reihe der Vorkämpfer desProtestantismus stellte. Es trägt denTitel «Institutio religionis christianae» und stellt in lateinischer Sprache die Grundzüge des protestantischen Glaubens dar; gerichtet ist es an König Franz I. von Frankreich, den es über dasWesen der Frömmigkeit, die er verfolgt, aufklären soll. Von Basel kehrte er, nachdem er sich etwas in Italien aufgehalten hatte, heimlich in seine Vaterstadt zurück, um dort seine Angelegenheiten zu ordnen, und beschloß, mit seinem Bruder und seiner Schwester sich vorerst in Straßburg niederzulassen. Unruhen in Lothringen zwangen ihn, statt den direkten Weg zu wählen, über Genf – indem er also Lothringen umging – zu reisen. Daselbst wurde die Ankunft des Ver-

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fassers des berühmten Buches über den evangelischen Glauben alsbald ruchbar. Farel, der Reformator der Stadt, suchte ihn auf und bat ihn, er möge dableiben und helfen, um die Stadt wirklich evangelisch zu ma-

chen.

Bei der Reformation in Genf waren nämlich viele äußere Gründe, besonders die Freiheit der Stadt von der bischöflichen Obrigkeit, mitbedingend gewesen. Sie war zwar äußerlich durchgeführt, aber von evangelischem Geiste war nicht viel zu verspüren. Darum suchte Farel einen geistesmächtigen Gehilfen; die Ankunft Calvins erschien ihm wie ein Fingerzeig Gottes. Calvin fügte sich zuletzt seinen Vorstellungen und blieb. Alsbald begann er mit der Durchführung einer richtigen Kirchenzucht und einer Ordnung des Schulwesens. Dabei ging er aber so streng vor, daß er allenthalben Unzufriedenheit erregte und schon zwei Jahre darauf gezwungen wurde, die Stadt zu verlassen; auch Farel mußte mit ihm weichen. Er ging nach Straßburg. Damals war es, wo er mit unsern Reformatoren in nähere Beziehung trat. Er wirkte hier als Prediger für die vertriebenen französischen Evangelischen, die sich in Straßburg zusammengefunden hatten, und trat zugleich als Lehrer auf. Die Kirche, in der er predigte: St. Nicolaus. In Straßburg verheiratete sich Calvin mit Idelette von Büren, die ihm zehnJahre später durch denTod entrissen wurde. In Genf sah man alsbald nach der Vertreibung Calvins, was man an ihm verloren hatte; der Wunsch, ihn wieder zu haben, ließ sich immer lauter vernehmen, bis sich der Rat im Sommer 1541, dreiJahre nachdem er Genf verlassen hatte, entschloß, ihn um die Rückkehr zu bitten. Calvin entschloß sich schweren Herzens dazu. Als er zurückgekehrt war und die erste Begeisterung, ihn wieder zu haben, vorüber war, begannen für ihn schwere Kämpfe gegen diejenigen, die sich wider seine Strenge auflehnten. Oft schien es, als ob die Genfer sich seiner wieder entledigen würden; aber zuletzt blieb er Sieger. Nach zwölf Jahren waren alle Gegner zum Schweigen gebracht, und Calvin herrschte in der Stadt bis zu seinem Tode 1564. Was war das Große an diesem Manne? Das läßt sich nicht mit einem Wort beantworten, denn er gehört zu denen, die nicht nur ein Pfund empfangen haben. Er war zunächst groß durch seine Frömmigkeit. Kaum hat man einige Seiten in seiner Schrift über den evangelischen Glauben gelesen, so ist man schon von derTiefe dieser Frömmigkeit ergriffen. Man fühlt, daß sie das ganze Wesen dessen, der es schreibt, einnimmt. Es ist nicht die kindlich-heitere Frömmigkeit eines Luther, sondern etwas, wo die Vernunft fast mehr herrscht denn dasGefühl. Mit diesem Vernunftmäßigen hängt die Gelehrsamkeit Calvins zusammen. Mit seinen Kenntnissen in Schriftgelehrsamkeit und Theolo-

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gie steht er unter seinen Zeitgenossen einzig da. Wer sich mit Bibelauslegung befaßt, kann ermessen, wasCalvin darin bedeutet; er hat klar gesehen, wo die andern oft noch tasteten. Diese Gelehrsamkeit verdankt er neben seinen Gaben seinem rastlosen Fleiß. Die Arbeitskraft Calvins grenzt an das Fabelhafte. Seine Werke, in großen Bänden gedruckt, füllen ganze Schäfte, so daß man sich fragt, wie es nur möglich sei, daß ein Mensch in einem verhältnismäßig kurzen Leben dies alles verfaßt habe. Und überdies stellen diese Werke ja nur einen Teil dessen dar, was er gearbeitet hat. Seine kostbarste Zeit mußte er in Genf andern Dingen widmen; für dieWissenschaft konnte er nur verwenden, wasübrigblieb. Während die Menschen, die Anlagen für die Gelehrsamkeit besitzen, im gewöhnlichen keine besonderen Sinne für praktisches Wirken haben, besaß Calvin dieselben in einem einzigartigen Maße. Er war vor allen Dingen ein hinreißender Prediger. Die Rede kam so lebendig und zwingend von seinen Lippen, daß auch diejenigen davon mitgerissen wurden, die ihr innerlich am liebsten widersprochen hätten. Aber seine Macht über die Menschen zeigte sich nicht nur, wenn er auf der Kanzel stand, sondern überall imVerkehr mit ihnen. Er hatte etwas Hinreißendes an sich. Ob sie wollten oder nicht: Die Menschen mußten sich ihm unterwerfen. Und es war nicht nur der Zauber der überlegenen Persönlichkeit, der von ihm ausging und ihm die Menschen dienstbar machte, sondern auch die einfache Unterordnung unter den klaren, praktischen Sinn des Mannes. Calvin verstand alles, was mit öffentlichen Angelegenheiten zusammenhing; nicht nur in der Verwaltung der Kirche, sondern auch in der der Schule war er maßgebend; die städtischen Verwaltungsangelegenheiten kannte er wie kaum ein anderer; in der Politik traf sein Urteil immer dasRichtige. So wohnten zwei Persönlichkeiten in diesem Menschen: ein frommer Gelehrter und ein Mann, der zum Eingreifen in die öffentlichen Angelegenheiten geboren war. Hätte Calvin nur auf sich gehört, so hätte er nur als Gelehrter still und bescheiden in der Zurückgezogenheit zu Straßburg gelebt, denn er fühlte, wasseiner wartete, wenn er die Gaben, die er besaß, in Ordnung und Leitung der Kirche betätigen wollte; denn dashieß Kampf. Er tat es aus Pflicht. Als er in Genf aufgefordert wurde, zu bleiben und die Leitung der Kirche zu übernehmen, wollte er sich nur auf einige Jahre verpflichten; und als er vertrieben wurde, war es ihm, als atmete er auf; er nahm es für ein Zeichen, daß er nun sein Leben den Studien weihen dürfe. Als die Genfer ihn dann baten, wieder zurückzukehren, antwortete er: Warum nicht gleich ans Kreuz? Und als er ja sagte, weil er den Eindruck hatte, es müsse sein, da wußte er, daß sein ganzes Leben für ihn hinfort nur ein Opfer sein würde.

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Das war seine Autorität, daß jeder, der mit ihm zu tun hatte, wußte, daß er nichts für sich suchte, sondern allen Frieden und alles Glück, die er im Leben hätte finden können, dahingegeben hatte und nur noch der Sache, die er für seine Pflicht hielt, lebte. Nur die Pflicht hielt den von schweren Krankheiten heimgesuchten Menschen aufrecht. Man konnte ihn nicht verstehen, man konnte ihn hassen: An der Lauterkeit seiner Gesinnung durfte man keinen Augenblick zweifeln. Wenn der Rat zu Genf sich immer wieder vor Calvin gebeugt hat, so war es nicht, weil er ein geborener Herrscher war, weil er die beste Sachkenntnis hatte, sondern weil sie alle miteinander fühlten: Er bringt uns das Opfer seines Lebens. Es hat sich an ihm bewahrheitet, daß es für einen Menschen keine größere Autorität gibt als die Lauterkeit der Gesinnung. Von dem Augenblick an, wo Calvin klar erkannte, es sei seine Pflicht, seine großen, praktischen Gaben zu betätigen, schwebte ihm als Ideal vor, das Gottesreich an dem Punkte derWelt, an welchem er stand, auch wirklich durchzuführen. Genf sollte eine Gottesstadt werden, in welcher dasEvangelium herrschte. Calvin besaß Feldherrnblick. In dem Augenblick, wo er auftrat, war die Sache des Evangeliums in deutschen Ländern ins Stocken geraten und schien in den romanischen zu unterliegen. Nun faßte er den Plan, eine Festung desEvangeliums zu gründen, die allen Widerständen trotzen könnte und die zum Stützpunkt für die Eroberung derWelt für das Evangelium dienen konnte. Die Rolle, die ihm Calvin bestimmte, hat Genf auch wirklich durchgeführt. Die Reformation der romanischen Länder ging von hier aus; von hier ging John Knox aus, um Schottland zu reformieren, von dort kamen die Anregungen nach England, von dort aus wurde Nordamerika evangelisiert: So wurde Calvin durch das, waser in Genf schuf, Weltreformator. Er hatte sich dasWerk, Genf zum Bollwerk des Evangeliums zu machen, schwer genug vorgestellt. Es war noch schwerer, als er es sich gedacht. Calvin hatte dieWahl, zu kämpfen oder zu unterliegen, zu vergewaltigen oder vergewaltigt zu werden. Er wählte kämpfen und vergewaltigen. Es war keine natürliche Kampfeslust und keine Freude an der Gewalt, sondern er tat es, weil er glaubte, es müsse für den Sieg Gottes also geschehen. Er kam sich vor wie einer jener Menschen aus dem Buch der Richter, die Gott zu Zeiten berief, daß sie ihm sein Volk wieder untertänig machten und vernichten, was sich in Gottes Ordnung nicht schicken wollte. Und wie dort im Alten Testament Gewalt, wo es Gottes Sache war, nicht nur erlaubt, sondern auch geboten war, so glaubte Calvin, in dem großen Kampf, in dem er stand, auch Gewalt brauchen zu dürfen. Er scheute nicht davor zurück, Menschen, die sich der Durchführung seiner Pläne widersetzten, zu vertreiben, andere zu töten, als hätte Jesus nicht noch in der letzten Nacht verboten, da er zu

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Petrus sprach: «Stecke dein Schwert in die Scheide» [Mt. 26, 52], daßje das Schwert für dasEvangelium gerührt würde. So mitten im Kampf gesehen, bekommt die Gestalt Calvins fast etwas Unheimliches. Wir erschrecken, daß einer, der in der Reihe unserer Reformatoren sitzt, für die Verwendung der Folter eintrat und auf dasZeugnis baute, dasder Schmerz den Menschen entriß. Wir wissen auch, daß er wie jeder, der Gewalt braucht, sie oft am unrechten Ort anwandte und Unschuldige traf. Was würden wir nicht darum geben, wenn es uns erspart wäre, gestehen zu müssen, daß es Calvin war, der Servet, einen lauteren und frommen Menschen, einen gottbegnadeten Gelehrten und Arzt, der der Welt noch hätte viel sein können, auf den Scheiterhaufen brachte, weil jener sich das Recht nahm, in der Lehre von der Dreieinigkeit anders zu denken als Calvin. Wir richten nicht, denn es steht uns nicht an. Calvin hat für dies alles die Verantwortung vor Gott übernommen; er tat es nicht in Zorn und Unbedachtsamkeit, sondern in ruhiger und kühler Überlegung, weil er meinte, es sei Gottes Wille. Mir scheint es immer, als wäre dies dasletzte Opfer gewesen, das Calvin brachte: daß er sein menschliches Fühlen zum Schweigen und sein Herz zumVerstummen brachte, um in nichts gehindert zu sein in der Durchführung dessen, was er als seinen Beruf von Gott ausansah. Aber wenn wir nicht richten, so dürfen wir doch gestehen, daß wir nicht verstehen, weil für uns dies eine gewiß ist, daß das Evangelium, wenn es in der Welt siegt, rein durch seine geistige Kraft siegt und nie von der irdischen Gewalt Gebrauch macht, und daß es um so stärker ist, je reiner es dasteht. Wie groß aber muß der Mensch Calvin gewesen sein, daß seine Zeitgenossen, die ihn in dem allem auch nicht verstanden und die unter Wunden litten, die er schlug, ihm dennoch immer wieder verziehen und vertrauend zu ihm standen. Für uns, die wir ihn nicht zu richten und ihm nichts zu verzeihen haben, steht er da wie eine Heldengestalt des Alten Testaments, die sich in Jesu Dienst begeben hat. Er hat im Dienste Gottes darauf verzichtet, Mensch zu sein... Was wir ihm entgegenbringen, kann nicht warmes Menschengefühl und Menschenliebe sein, mit der unser Herz einem Paulus und Luther entgegenschlägt. Aber wir bringen ihm entgegen Dank und Ehrfurcht für alles Große, was er getan im Kampf für das Evangelium; wir bringen ihm dies dar als einem der Größten, die ihr Leben und ihr Glück dem Evangelium zum Opfer gaben.¦21¿

21 [AS-HB, S. 239] «Dienstag abend, 13. Juli 09. Die Calvinpredigt ging gut; denn sie war gut vorbereitet; ich habe sie fast auswendig gelernt. Aber danach war ich erschöpft.»

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desJahres 1909

Morgenpredigt Sonntag, 14. November 1909,¦22¿ St. Nicolai Nachgedanken zum Reformationsfest

Gal. 5,1: So bestehet nun in der Freiheit

Das Reformationsfest gewinnt für mich jedes Jahr eine größere Bedeutung. Es ist mir, als würde ein Ton in mir angeschlagen, der nachhallt, bis die Adventsglocken erklingen, und sich dann in dieses Geläute auflöst. Immer mehr wird mir klar, was es für die Zukunft der Menschheit besagen will, daß es einen freien, evangelischen Glauben gibt. Und wenn ich euch jetzt noch vom Reformationsfest rede, so ist es, weil ich am Tage, wo es für euch zu dieser Feier läutete, in dem fernen Lande weilte, nach welchem Paulus ausschaute, als er den Römerbrief schrieb [Röm. 15,23 f.], und dort den Tag für mich beging. Wir wissen nicht, ob sein Wunsch, nach Hispanien¦23¿ zu reisen, in Erfüllung gegangen ist oder nicht. Sein Schicksal ist uns unbekannt. Vielleicht birgt jenes Land seine Gebeine. Aber für das Evangelium der Freiheit bot es keinen Raum. Wie teuer hat es es bezahlt, daß es den Brand löschte, den die Reformation auch dort entfachen wollte! Die schwarzen Mauern von sechzig Kirchen und Klöstern, die dasVolk in einer Stadt in Brand gesteckt hat, reden davon. Wenn ich mit den Menschen ins Gespräch kam über die traurige Lage der Gegenwart und die trostlosen Aussichten¦24¿ auf die Zukunft, mußte ich bei mir immer sagen: Das mußte so kommen. Wie sollte es anders sein, wenn auf der einen Seite eine Kirche steht, die nur Gebundenheit der Gewissen kennt, und auf der andern derVolkshaufe, der in der Religion nur Lüge und Knechtung sieht. Ich sah nicht nur das Äußere; ich schaute auch in Menschenherzen und nahm wahr, wieviel Reines und Tiefes in ihrer Frömmigkeit war. Es lebt viel Idealismus in dieser Gebundenheit, man ist erstaunt über den Glauben und die Kraft, die dahinter sichtbar wird. Aber es kann nichts wirken und keine Zukunft bringen, weil die Angst vor dem freien Denken es nicht zur Entfaltung kommen läßt. So ist das Schicksal eines ganzen Landes darin besiegelt, daß die Worte Religion und Freiheit, die zusammengehören, dort nicht mit22 [AS-HB, S. 257] «9. Nov. 09. Ich will auch noch an meine Predigt denken.» 23 [Vom 16. Oktober bis zum 1. November war Schweitzer für Konzerte in Barcelona. AS-HB, S. 255:] «Barcelona, Donnerstag, 28. Oktober. Das gestrige Konzert war ein großer Erfolg, auch was die Zahl der Zuhörer betrifft. Der Saal war ganz und gar voll.»

24 [Nach sozialen Unruhen, die im Juli ausgebrochen waren, wurde drei Tage vor Schweitzers Ankunft, am 13. Oktober 1909, der Erzieher Francisco Ferrer als Revolutionär in Barcelona hingerichtet.]

So bestehet nun in derFreiheit

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einander gedacht werden können, weil die Reformation ihr Werk nicht tun konnte. Es scheint ein furchtbares Gesetz in der Weltgeschichte zu sein, daß das, was man zurückwies, als es die Zeit bot, niemals wiederkehrt. Wenn man sich in einer solchen Welt bewegt, fühlt man eine unaussprechliche Dankbarkeit gegen unsere Reformatoren, daß sie es wagten, dasWort der Freiheit auszusprechen, als es an der Zeit war, und einen Stolz, zu denen zu gehören, die Freiheit und Religion zusammendenken können. Diesen Stolz fühlt man in seiner ganzen Größe nur, wenn man an die Idee des Protestantismus denkt. Wenn man die Wirklichkeit ins Auge faßt, wird man von Angst ergriffen, was denn aus ihm werden wird. Wird er in der Freiheit bestehen? Ich rede jetzt nicht davon, daß im Protestantismus selbst Bewegungen bemerklich werden, die die Freiheit beschränken wollen, und daß der preußische Oberkirchenrat gemeint hat, ein Gericht einsetzen zu müssen, dasüber den Glauben der Prediger entscheidet und denen die Kirche verschließt, die nach seinem Spruch nicht das rechte Evangelium predigen. Das ist alles lächerlich und kann die Freiheit nicht aufhalten, wenn die Männer da sind, um sie zu verteidigen, und Leute hinter ihnen stehen, die wissen, was sie als Protestanten an der Freiheit haben. Die Gefahr für den Protestantismus liegt in der Gleichgültigkeit, die sich im Gefolge der Freiheit einstellte. Wie viele gab es in unserer Stadt heute vor vierzehn Tagen, die nicht wußten, was für ein Fest war und was es bedeute, und sich beim Erwachen nur fragten, ob es schönes Wetter sei, um einen Ausflug zu machen, als ob der Tag nicht mehr wäre als ein Ausflugstag. In der Freiheit bestehen, will heißen, die Freiheit ertragen können. Es scheint, als ob der Protestantismus dies nicht vermocht und die Anforderungen, die die Freiheit an den einzelnen stellt, nicht geleistet habe. Das trat früher nicht so hervor. In der Anfangszeit des Protestantismus hielt die Begeisterung für die Kirche die Bekenner zusammen; dann, am Ende des achtzehnten und im neunzehnten Jahrhundert, wurde er von den Wogen der Freude an Aufklärung und Geistesfortschritt getragen. Diese Freude erlosch. Wir sind zusammen über die Schwelle einer neuen Zeit getreten. Wie soll ich unser Geschlecht nen-

nen? Das Geschlecht, dasin denTag hineinlebt. Es freut sich mit kindlicher und kindischer Freude über einzelne technische und wissenschaftliche Errungenschaften, von denen die Zeitungen reden und die an sich einen Traum der Menschen bedeuten, aber es denkt weder mit Sorge noch mit Stolz an die geistige Zukunft der Menschheit. Darum steht es den geistigen Organisationen, die eine Bedeutung auf die Zukunft haben, so gleichgültig gegenüber.

1012 Predigten

desJahres 1909

Der Apostel Paulus beklagt sich an manchen Stellen seiner Briefe darüber, daß die Christen noch nicht mündig sind. Wir Prediger der heutigen Zeit müssen dasselbe an unserm Geschlecht feststellen. In unserer Kirche ist aller Zwang, der äußerliche und der innerliche, fortgefallen. Wir sagen nicht, daß Glück und Friede von der Zugehörigkeit zur Kirche abhängig seien; wir halten auch nicht mit vielen Äußerlichkeiten den, der der Kirche innerlich fernsteht, dennoch noch in einem gewissen Zusammenhang mit ihr. Wir haben alles aufs Geistige gestellt, üben keinen Druck und keine Disziplin aus und erleben es, daß so viele sich der Gemeinschaft, der sie ihrer Erziehung und ihren Gedanken nach angehören, entfremden. Welche Kraft wäre der Protestantismus, wenn die, die ihm innerlich durch ihre Gedankenrichtung angehören, sich irgendwie dazu bekennen und darin betätigen wollten! Es ist eine freiwillige Leistung. Aus einer inneren Einsicht muß derjenige, der zu uns gehören will, diesen Entschluß fassen und durchführen. Das aber leisten so wenige. Die Menschen, die wir brauchten, gehen ihren eigenen Weg; wir werden arm und sie auch. Wir, weil sie uns fehlen; und sie, weil sie in keinem Gedankenaustausch sind mit andern, und die Ideen, die sie in sich tragen, immer mehr verkümmern. Es fehlt das Grundwasser, das, vom Spiegel eines großen Flusses ausgehend, die Schachte der einzelnen Brunnen untereinander verbindet und speist. Es fehlt die Sammlung und Stille, die nur der wahre Sonntag bringen kann, das Feierliche, das ins Leben hineinragt. Und wenn ihr dieses fehlt, geht die schönste und reichste Natur langsam am Alltag zugrunde. Saiten, die früher einen Klang gaben, verstummen; Leben und Begeisterungsfähigkeit, die dawaren, gehen langsam ein. Sicher, daß an unserer Kirche nicht alles ist, wie es sollte. Daß wir Prediger, die am Sonntag durch dasWort den Gedanken derer, die sich in der Kirche sammeln, ihre Richtung geben sollen, nicht auf der Höhe unserer idealen Aufgabe stehen, wissen wir; es ist uns auch wie jedem andern bekannt, daß unserer Kirche viele Mängel anhaften, an denen man Anstoß nehmen kann. Aber ich glaube, man würde über alle diese Mängel und Anstöße hinwegsehen, wenn unter denen unserer Zeitgenossen, die uns nicht feindlich gegenüberstehen, ein Bewußtsein davon vorhanden wäre, was der Protestantismus, das freie Evangelium, für die Welt und die Zukunft bedeutet, und wenn die Menschen etwas von der Angst erlebten, die uns manchmal befällt, daß dieses kostbare Gut durch zwei oder drei Geschlechter, die für die Freiheit nicht reif sind und sie zumVorwand der Gleichgültigkeit nehmen, verlorengeht. Noch bis vor einem Menschenalter hätte ein Mensch, der gesagt hätte, daß es in der Gegenwart in dem, was das Menschliche und Geistige betrifft, nicht stets vorangehe, sich lächerlich gemacht. Bei denen aber, die heute die Gegenwart wirklich überdenken, ist das Gefühl, daß ein Stillstand da ist und die Maschine manchmal rückwärts arbeitet, so

So bestehet nun in derFreiheit

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erschreckend lebendig, daß sie sich verstehen, ohne es einander aussprechen zu müssen. Auf allen Gebieten, im Staatsleben, in der Verwaltung, im Unterricht, in der sittlichen Anschauung, in der Bildung, sind geistige Errungenschaften, die unsern Vätern noch als unverlierbar galten, bedroht, und das nicht durch irgendeine Institution oder Gewalt, die man namhaft und verantwortlich machen könnte, sondern das unfaßbare Allgemeine, daß ein neues Geschlecht im Aufkommen begriffen ist, das das Geistige nicht mehr zu schätzen weiß und keine Verantwortlichkeit für die Zukunft der Menschheit mehr fühlt. Und am meisten bedroht ist der Protestantismus, die Einheit von Freiheit und Religion. Daß er als Kirche nicht mächtig ist, keinen Faktor im Staate darstellt, mit dem man rechnen muß, hat nichts zu bedeuten. Es soll so sein. Er ist seinem Wesen nach mehr als eine Kirche; er ist eine vergeistigte Kirche, die Gemeinschaft aller derer, die Freiheit und Religion in sich tragen und lebendige Kräfte in der Menschheit sein wollen und die sich vom reinen Geiste Jesu berührt fühlen. Daß er diese Gemeinschaft werde, ist seine Zukunft. Wird sie einmal kommen, die Zeit? Wird dieses Geschlecht abgelöst werden von einem, das zur Freiheit reif ist und nicht aus der Freiheit in die Gleichgültigkeit hinüberschlummert, wo der Idee des Protestantismus nicht so viele Menschen, die er brauchte, verlorengehen, weil sie sich nicht um die geistige Zukunft der Menschheit sorgen? In uns aber möchte ich, daß dieses Nachdenken über Weltgeschichte und Protestantismus ein Gefühl der Verantwortlichkeit und des Stolzes lebendig werden läßt und wir uns einmal recht darüber bewußt werden, welches Gut auf die Zukunft unsere Gemeinschaft in dem freien Evangelium wahrt. Uns gilt, wasJesus in der Bergpredigt sagt, wenn er armen, unvollkommenen Menschen verkündet, daß sie Licht der Welt sein sollen [Mt. 5,14]. In diesem Gedanken wollen wir uns enger zusammenschließen und als die einander nicht kennen, dennoch Bekannte und Genossen sein, geeint im Geiste undim Stolz, dasEvangelium der Freiheit in unszu tragen, und geeint auch in derAngst um die geistige Zukunft derWelt. Wir haben alle eine Mission unter den Menschen, in deren Mitte wir unsbewegen. Ihr aber, die ihr Kinder erzieht, erzieht dasGeschlecht der Zukunft: wahre, freie Protestanten. Und wenn ihr mich nicht mißverstehen wollt, wage ich zu sagen: stolze, freie Protestanten, und meine mit «stolz» alle großen und freudigen Gefühle, die in dem Menschen aufwallen, wenn er,je weiter er im Leben fortschreitet, um so mehr erkennt, wases heißen will, Religion und Freiheit desGeistes zusammendenken zu können und zu dürfen.¦25¿ 25 [AS-HB, S. 257] «Montag abend. [15. 11. 1909] Die Kirche war sehr voll. Da wurde ich traurig für Gerold und Knittel.» [Beide waren Pfarrer an St. Nicolai.]

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Predigten

desJahres 1909

Morgenpredigt Sonntag, 19. Dezember 4. Advent

1909,|26¡ St. Nicolai

Mt. 18,3: UndJesus sprach: Wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kindlein Schon stehen wir im Bann von Weihnachten. Dieser Sonntag ist wie ein Gestirn, dasnicht in eigenem Lichte leuchtet, sondern in der Helligkeit, die es vom Glanze desWeihnachtstages empfängt. Die Gedanken, die uns jetzt gefangennehmen und uns ein Leben dem Alltag enthoben führen lassen, umspielen die Worte Kind und Kindheit. Wir leben und freuen uns mit den Kindern. Dabei steigen die Weihnachten unserer eigenen Kindheit in unserer Erinnerung auf. Wir gehn einen Weg zurück, den wir sonst im Jahre nicht beschreiten. Und zu allem kommen die wunderbaren Erzählungen von dem Kindlein

Jesus.

Die Zeiten sind vorüber, wo man sich darüber stritt, ob das alles wirklich so geschehen sei oder ob wir es mit sinnigen Erzählungen zu tun haben, die im Kreise der ältesten Christenheit entstanden. Wir zwingen niemand, waser sich nicht alsWirklichkeit vorstellen kann, als Wirklichkeit zu nehmen, und wissen, daß dies mit dem Glauben nichts zu tun hat. Für mich haben die Erzählungen von dem Kindlein Jesus eine tiefe Bedeutung als Gleichnis. Engel, Hirten undWeise feiern dasKindJesus. Das ist für mich nicht eine Huldigung, wie man sie allen Helden in der Legende in derWiege zuteil werden läßt; es hat beiJesus einen Sinn wie bei keinem andern. Das Große an ihm ist, daß das Kind in ihm nie erstarb. Wenn wir uns heute vor ihm beugen, so tun wir es vor dem Kind in ihm; wenn wir Weihnachten feiern, so feiern wir die Geburt dessen, der aus dem heraus, was er in sich trug, dasWort sprach: «Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so könnt ihr nicht in das Reich Gottes kommen.» Man will oft das Besondere und Einzigartige anJesus bestreiten, indem man darauf hinweist, daß uns von seinen Gedanken auch bei andern Weisen und Religionsstiftern begegnen. Ich bin der letzte, der die Größe Jesu durch Herabsetzung dessen, was andere von dem heiligsten Denken und Sehnen der Menschheit ausgesprochen haben, verteidigen möchte. Aber es gibt einige Worte von ihm, von denen ich sagen möchte: Geht zu allen andern, die ihr neben ihn setzen wollt, und seht,

26 [Am 16. Dezember schreibt Schweitzer an Helene Bresslau:] «11 Uhr. Ich höre auf, an meiner Predigt zu schreiben. Ich lege mich hin und denke darüber nach.» [Zentralarchiv Günsbach.]

Es sei denn, ihr werdet wie die Kindlein

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ob ihr nur eine Andeutung davon bei ihnen findet. Zu ihnen gehört diesesWort.

Was hat er damit gemeint? Daß etwas tief Wahres darin steckt, fühlt jedes menschliche Wesen. Es spricht eine Sehnsucht aus, die in uns allen liegt, und will mehr als eine Sehnsucht daraus machen. In der gewöhnlichen Deutung, die ihm die Menschen geben, wird es aber zu klein. Man sieht es als eine Seligpreisung derjenigen an, die durch ihr ganzes Leben eine gewisse Gutmütigkeit und Harmlosigkeit an sich tragen, die man als einen Rest der Kindlichkeit an ihnen ansieht. Ich glaube nicht, daß Jesus das meint. Habt ihr es nicht bemerkt, wie schwach solche Charaktere oft sind, wie sie es oft an Verantwortungsgefühl fehlen lassen, wie oft eine Charakterschwäche an ihnen hervortritt, die sie in Situationen versagen läßt, wo ein Mensch nicht um seinetwillen, sondern um des Guten willen fest stehen muß, wie sie auch die Fehler des Kindes oft an sich tragen und mit ihrer Kindlichkeit schauspielern, weil sie fühlen, daß es ihnen gut steht?! Das Kindliche, wie esJesus meint, ist etwas viel Tieferes als das, was man so äußerlich an sich trägt. Es ist etwas Innerliches. Er sagt nicht, wir sollen Kinder bleiben, sondern Kinder werden. Wer Kind bleibt und alles Kindliche in sein späteres Leben mit herübernimmt, ist nicht tüchtig zum Dasein. Im Kind liegt nicht nur Gutes, sondern auch Kleines und Böses. Einer, der Kind geblieben ist, nimmt sich auswie eine vergrößerte Photographie, die dadurch, daß sie vergrößert und mit Farben bemalt wurde, nur ausdruckslos und unnatürlich wurde. Aber wir tragen alle einen Idealsinn in uns, den wir mit dem Worte Kind verbinden, und fassen darin alles zusammen, was wir fühlen, mit der Kindheit einmal irgendwie besessen und dann an das Leben verloren zu haben. Mitten in den glücklichsten Zeiten, in den Augenblicken, wo wir erreichen, was wir suchten, erfaßt uns ein Sehnen nach uns selbst. Wir kommen uns vor als etwas Fremdes, als der Schatten von uns selbst, weil unser Leben durch Dinge, denen wir einen solchen Wert gaben, bestimmt wurde. Und mit den Sorgen ist es oft wie mit dem Glück. Kommt es euch nicht manchmal so merkwürdig vor, daß ihr euch über dies und dies Sorge macht, als hinge euer Leben damit zusammen? Es sind das Augenblicke, wo wir vor der Kompliziertheit und dem Äußerlichen unseres Lebens gerade erschrecken und ein trostloses Gefühl haben, nur Formen zu sein, die sich ansLeben angepaßt haben. Der Kampf ums Dasein macht uns also. Er setzt unsern Ehrgeiz in Bewegung, er treibt uns zum Vorwärtskommen an, bringt uns das Selbstvertrauen und Selbstgefallen an unserer Klugheit bei, gibt uns Menscheneitelkeit und Menschenfurcht, Notwendiges und Tüchtiges, Gutes und Böses, alles in einem. Und die Sehnsucht nach dem, was in dem Worte Kind enthalten ist, gemahnt uns, daß wir, die dahingehen

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desJahres

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und glauben, lebenstüchtig zu werden, uns innerlich verzehren und dem Baume gleichen, der außen prächtig dasteht, jedesJahr einen neuen Ring ansetzt und im Marke hohl undweich wird. Aus der Sehnsucht will Jesus einen Willen machen! Er will nicht, daß wir lebensfremd und lebensuntüchtig werden, sondern Menschen, die mitten im Getriebe der Welt an ihrem Platze stehen und durch die Kräfte, die in diesem Getriebe spielen, in Bewegung gehalten werden, aber das, wasdies tief Kindliche und damit daswahre Menschliche ausmacht, nicht preisgeben, sondern es festhalten und neu gewinnen. Es ist unsere Bestimmung, nicht Kinder zu bleiben, sondern Kinder wieder zu werden. Die wahre Kindlichkeit ist die, welche der Mensch dem Leben, in dem er steht, wieder abgerungen hat, die Unbefangenheit, zu der er als ein durch das Leben Wissender zurückkehrt, die Schlichtheit und Innerlichkeit, zu der er sich wieder hindurchgearbeitet hat, weil sie ihn freimacht vom Äußerlichen und den Menschen, die mitten im Leben stehen, eine innere Reinheit und Unberührtheit von den Dingen, die sie sonst gefangennehmen würden, verleiht. Ihr versteht, ohne daß man es ausführt, was alles in dem so verstandenen Wort «Kind» liegt. Hier muß zwischen Redendem und Hörendem der Gedanke den Gedanken und das Sehnen das Sehnen verstehen. Die Worte stehen kalt und öd dazwischen. Wenn dieser Ton angeschlagen wird, erklingt dieselbe Musik in uns allen. Versuchten wir es, in Worten anzudeuten, so hieße Kind werden für uns, vom Äußerlichen beginnend, natürlich werden mit den Menschen im Bitten und Geben und im Empfangen, wasJesus uns in Worten auslegt und im Leben vorlebt. Das will nicht heißen, die Pfade, die nun

einmal zwischen Menschen getreten sind, verlassen, sondern im Äußerlichen beobachten, wasbeobachtet werden soll, aber von dem Stolz der Fremdheit, der Schüchternheit, der Menschenangst, die Mauern zwischen den Menschen aufführen, daß sie sich nicht mehr Menschen sind, frei werden und es nicht versäumen, Menschen Mensch zu sein und Menschen unslassen Mensch sein, wo die Stunde es bringt. Ein anderes wäre, frei von Eitelkeit und Ehrgeiz zu werden; nicht als wollten wir dasnatürliche Gefühl von Freude und Befriedigung, das das Leben eines jeden wirkenden Menschen mit erhellen hilft, abtun, sondern durch das, was uns im großen und kleinen davon beschieden und versagt wird, in dasLeben und dieTätigkeit hineinwachsen als die, welche nicht sich selbst suchen, sondern das, was sie wirken und ausrichten können, und aus der Kleinlichkeit, mit der der natürliche Sinn ihre Person wie mit einem Gitter umgibt, heraustreten. Soll ich noch eins sagen, was zu der tiefen Kindlichkeit gehört, so ist es der Glaube an die Menschen. Das ist das Große am Kind, daß es dasGute bei den Menschen immer wieder als selbstverständlich voraussetzt. Das Vertrauen, das in seinen Augen leuchtet, weckt ein fast er-

UndElisabeth ward des Geistes voll

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schütterndes Heimweh nach dem Kindsein in uns, denn das eben haben wir im Leben verloren. Unsere Erfahrung und Beobachtung will uns beweisen, daß wir es nicht mehr haben dürfen; aber etwas in uns sagt uns, daß wir immer wieder vertrauend werden müssen, weil das, gegen den Augenschein, zuletzt dennoch dasWahre ist. Das sind fast menschliche Dinge. Was hat denn dies mit Religion zu tun? Wie kommt Jesus dazu, es alsVorbedingung für das Reich Gottes aufzustellen, als ob alles andere sich wie von selbst daraus ergäbe? Er fühlt an sich, wie in dieser Einfachheit und Reinheit, zu welcher er durchgedrungen ist und in welcher er über der Religiosität seiner Zeit steht, die Wurzel seiner Frömmigkeit liegt. Seine Erkenntnis und sein Wille wachsen aus dieser Schlichtheit empor und offenbaren ihm das Wesen des Geistigen. Er weiß, daß die Menschen, die ihn verstehen wollen, denselben Weg machen müssen und ihn und das, was er uns bringt, erst begreifen, wenn sie umkehren und Kinder werden in dem tiefen, menschlichen Sinn, den er mit demWorte verbunden hat. Und wenn ihr dasWeihnachtsfest feiert, wo ihr im Feiern und Spielen mit den Kindern zu Kindern werdet, denkt daran, daß dieses Fest ein Gleichnis ist von dem, wasJesus von uns verlangt, daß in denTagen der Sehnsucht nach der Kindheit der Wille, in Jesu Sinn Kind zu werden, sich läutere und kräftige und ihr nicht nur das Gefühlvolle, sondern die geistige Tiefe, die in diesem Sehnen liegt, an euch erlebt und dadurch geläutert werdet.|27¡

Morgenpredigt Sonntag, 26. Dezember

1909,|28¡ [St. Nicolai]|29¡

Lk. 1,41f.: Und Elisabeth ward desGeistes voll und sprach zu Maria: Gebenedeit bist du unter denWeibern|30¡

Die Kirche des Dorfes, in welchem ich aufgewachsen bin, gehört zu den wenigen, die noch Simultankirchen sind, das heißt, in denen nach dem Gesetze Ludwigs XIV. zugleich protestantischer und katholischer 27 [Am Abend schreibt Schweitzer von Günsbach aus an Helene Bresslau:] «Ich bin in Günsbach. Die Idee, hierher zu fahren, hat mich stark gemacht, damit mein müder Kopf die Predigt für heute morgen schreiben konnte.» [Zentralarchiv Günsbach.] 28 [AS-HB S. 264] «23. Dez. 09. Fertig mit der Predigt für den Weihnachtsnachmittag, fertig mit der für den Sonntag nach Weihnachten! Morgen schreibe ich die für den Sonntag nach Neujahr.»

29 [Im Kirchenboten steht, Schweitzer habe am Morgen gepredigt.] 30 [Am 25. Dezember schreibt Schweitzer an Helene Bresslau:] «Ich bin im Zug, um nach Colmar zumWeihnachtsbaum zu fahren. Ich habe meine Predigt für morgen früh bei mir, um sie gut in den Kopf zu bekommen. Das ist geschehen. Über Jesu Mutter!» [Zentralarchiv Günsbach.]

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Predigten

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Gottesdienst gefeiert wird. Der katholische Chor ist durch ein Gitter von der eigentlichen Kirche abgeschlossen. Es stand darin eine Mutter Gottes, reich mit Gold bemalt, die dasJesuskind in den Armen hielt. Wenn ich an meinem Platz saß, gehörte mein erster Blick ihr. Ich dachte mir, es könnte auf der Welt nichts Schöneres geben, und litt förmlich darunter, daß diese Statue nicht uns Protestanten gehöre.|31¡ In dem Muttergottesdienste liegt eine große Poesie. Wenn man die Madonnenbilder der alten Zeit betrachtet, erhält man eine Ahnung davon, wieviel lautere und schöne Frömmigkeit sich in derVerehrung der Mutter Gottes aussprach. Die Reformatoren haben damit gebrochen und sind zur nüchternen Religion zurückgekehrt. Und wer katholische Lande und Gesellschaft kennt, muß ihnen recht geben; denn er sieht dort, daß der Muttergottesdienst wie eine schöne, blühende Wicke ist, die dasganze Feld überwuchert und nichts anderes mehr wachsen läßt. Zuletzt bleibt aber dennoch etwas vom Marienkult auch in unserm Herzen; daskann und soll nicht herausgerissen werden. Es regt sich gerade in diesen Tagen, wo uns die Evangelien auf Mutter und Kind schauen lassen. Es gilt nicht der glänzenden Himmelskönigin, die neben Gott thront, sondern dem schlichten Weibe. Habt ihr nicht schon bemerkt, daß wir oft, ohne es zu wollen, wenn wir an einen Menschen denken, zugleich seine Mutter vor uns haben? Wenn ihr in der Zeitung von einer großen Auszeichnung, die jemand zuteil wird, lest, steigt euch unwillkürlich der Gedanke auf: Wenn seine Mutter noch lebt, was mag sie sagen? Und Hunderte von Menschen denken an ein unbekanntes Weib. Oder ihr hört von einem Verbrecher, der durch lange Zuchthausstrafe aus der Liste der Menschen gestrichen wird, und ihr könnt nicht anders, als bei euch sagen: Arme Mutter, was muß sie dazu gedacht haben? In der ersten Zeit, als sie ihr Kind im Arm hielt, mag es in ihr auch gesungen haben wie in jeder Mutter. Sie erschauerte unter dem Geheimnis desLebens und mußte sich erst in dasGroße finden, dasGroße, das noch kein Weib ausmessen konnte: daß ein Menschendasein von ihr

seinen Ausgang nahm. Hat sie gewußt, zu was dasKindlein bestimmt war? In den Erzählungen der Evangelien wird es ihr durch Engel, Hirten undWeisen aus dem Morgenland kundgetan. Es ist dies vielleicht äußerlich dargestellt, was alsAhnung die Seele bewegte. Hatsiein diesem großen Sinne bei sich gefragt: Wassoll ausdemKindlein werden? Wassoll esfür dieWelt werden? Oder war es bei ihr wie bei so vielen Frauen, daß das Sorgenvolle an der Frage dasStolze undErhebende, dassiein sich birgt, verdunkelt? 31 [A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 289] «Der katholische Chor, in den ich hineinschaute, war für meine kindliche Phantasie der Inbegriff derHerrlichkeit.»

UndElisabeth ward des Geistes voll

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Nun kommen an die dreißig Jahre, wo wir nichts über Mutter und Kind wissen. Was hat da die Mutter vom Sohn gehabt? Lebte er heiter und freundlich im Kreis der Seinen oder war er ein stiller, einsamer Mensch, der sich abseits hielt, weil er mit den Gedanken, die ihm seinen Weg vorzeichneten, fertig werden mußte? Da kam derTag, wo er Beil und Säge beiseite legte und sich zum Täufer nach demJordan begab. Als er von ihr schied, begann die Leidenszeit der Mutter. Bald hörte sie, er predige als Prophet in Galiläa. Sie kann es nicht fassen und glauben, daß er nun in die Welt hinausgerissen ist. Er rede hart und stolz gegen Pharisäer und predige anders als die Schriftgelehrten, wird ihr erzählt; andere fügen hinzu, man sage, er nähme es mit dem Gesetz nicht streng und sei auf dem Weg, ein Ketzer zu werden. Da wird sie von Angst erfaßt und macht sich mit ihren Kindern auf den Weg nach Kapernaum, um ihn zurückzuholen. Sie kommt an das Haus, das dasVolk umlagert. Er aber, als er erfährt, warum sie kommt, läßt sie nicht herein. Man richtet ihr aus, er habe gesagt, die seien ihm Bruder, Schwester und Mutter, die den Willen täten seines Vaters im Himmel. Wer kann diese Geschichte, die mit drei Worten am Ende des 3. Kapitels des Evangeliums zu St. Markus berichtet ist [Mk. 3,31–35], lesen, ohne Staunen undWeh zu empfinden und ohne diese weinende Frau zu sehen mit grauem Haar, die auf der sonnigen Straße sich nach Hause zurückschleppt? Sie empfindet das Schwere, dasjede Mutter empfindet, die plötzlich ihr Kind nicht mehr versteht, wo der Tag kommt, da sie seinen Gedanken nicht mehr folgen kann, da das Kind sich innerlich von ihr wendet.|32¡ Jesus war hart mit ihr gewesen, ohne es zu wollen. Vielleicht hatte er Angst vor sich selber, daß ihn die Bewegung überwältigen würde, wenn er sie vor demVolke sähe, und suchte sie abends, um es ihr zu erklären, und fand sie nicht. Kurze Zeit darauf kam er an einem Sabbat nach Nazareth. Haben sie dort miteinander gesprochen und sich verstanden? Er kam wohl um ihretwillen. Es ist nicht in den Evangelien geschrieben, aber wir wissen es. Kein Evangelist war dabei, darum ward nicht berichtet, was sie miteinander gesprochen haben. Als er auftrat, Lächeln und Spott unter den Nachbarn, die sich nicht denken konnten, daß Marias Sohn ein Prophet sei, und meinten, er sei ein eingebildeter Mensch geworden. – So kam für die Mutter zum alten ein neuer Schmerz. 32 [R] Oh oui ... Je sais – quel chemin? Il faut tout de même. [Schweitzer denkt hier an dieTatsache, daß seine Mutter seinen Entscheid, alles aufzugeben und nach Lambarene zu gehen, nicht begriffen hat.]

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Auf jenen Sommer folgte ein langer Herbst, ein langer Winter, wo sie nichts von ihrem Sohn hörte. Man erzählte, er halte sich im Lande der Heiden verborgen. Als sie zum Passahfest zog, vernahm sie, er sei wieder inJerusalem. Vielleicht stand sie im Tempel unerkannt hinter der Menge und hörte ihn predigen. Ihr Herz erbebte vor Wonne, als sie den Jubel der Menschen hörte, der meldete, Jesus von Nazareth habe in einen umnachteten Geist wieder das Licht gesandt und Kranke seien durch ihn wieder gesund geworden. Nun wollte sie ihn verstehen und an ihn glauben. Am Morgen des großen Festes erwachte sie von dem Getümmel in der Stadt ... der Prophet von Nazareth sei in der Nacht ergriffen und verurteilt worden und hänge schon am Kreuze. Sie eilte hinaus, sah seine Schmerzen, fühlte die Fieberglut, die an ihm zehrte, hörte den furchtbaren Schrei, mit dem er verschied. In den Tagen, die folgten, fand sie die Brüder und Schwestern, von denen er gesprochen, in Galiläa. Sie zog nicht wieder nach Nazareth zurück, sondern tat sich mit ihren Kindern zu denJüngern und bekannte mit den ersten Gläubigen, daß der Gekreuzigte der Heiland sei, bis der Tod sie heimholte. Sie war nicht das Himmelsweib, als das man sie anbetet. Sie war nur ein Weib – ein Weib, das uns unbekannt bleibt. Nur das wissen wir von ihr, daß sie das, wasJesus derWelt wurde, mit ihren Tränen und Schmerzen bezahlt hat und alles Leid zu kosten bekam, daseinem Mutterherzen bestimmt sein kann. Wassie gelitten, macht sie unsheilig – heiliger als es erfundene Wundergeschichten vermögen. Für das, was sie derWelt gegeben, preisen wir sie. Sie ist die Gebenedeite unter den Weibern, denn es ist von ihr ausgegangen ein Segen über alle Völker, in welchem der Schmerz und das Leid verschlungen sind.|33¡

33 [Brief an Helene Bresslau vom 26. Dezember im Archiv Günsbach:] «Die Predigt heute morgen ist gut gegangen. Greda [die Tochter von Friedrich Curtius, vgl. S. 807.], die Ihren Spuren folgt, hat nachher dasManuskript geholt und ich habe völlig vergessen, es zu behalten, um es Ihnen schicken zu können. Ich habe jetzt eben eine Karte geschickt und sie gebeten, esIhnen zuzusenden.» [R] Copié à la Robertsau dans machambre, 30 avril 1912. C’est le vrai printemps ici.

XIII. Predigten desJahres 1910

Morgenpredigt Sonntag nach Neujahr, 2. Januar 1910, [St. Nicolai]|1¡

Röm. 8,15: Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen|2¡ Statt des ersten Arbeitstages im Jahr gleich ein Sonntag! Wir wollen das nicht nur so hinnehmen, sondern uns auch fragen, was es bedeuten soll. Ist es euch nicht, als sollte es heißen: Etwas Glockenklang und Sabbatstille soll über dem ganzen Jahr schweben? Ist es euch nicht, als lüde uns dieser Tag ein, dasJahr mit rechter Sammlung zu beginnen? Ich weiß nicht, ob alle diesem Sonntag hold sind. Gar mancher wäre sicher lieber mit beiden Füßen wieder in die Arbeit hineingetreten, um nicht in das Nachdenken und Sorgen, das der Jahresanfang mit sich bringt, hineingezogen zu werden. Ich fragte einmal einen alten Unteroffizier, warum die Rekruten in den ersten Monaten von morgens bis abends immerfort in Atem gehalten werden. Die dürfen überhaupt nicht zur Besinnung kommen, antwortete er, sonst haben sie Zeit, traurig zu sein und sind zu nichts mehr

zu gebrauchen.

Manche Menschen sind dem Leben dankbar, daß es mit ihnen umgeht wie der Unteroffizier mit den Rekruten und sie nicht zur Besinnung kommen läßt, und tun noch dasIhrige dazu. Was man die Vergnügungssucht unserer Zeit nennt, ist zum großen Teil Angst vor dem Besinnen. Auch Menschen, die sonst keine Angst vor dem Besinnen haben, sind froh, wenn die ersten Tage desJahres hinter ihnen liegen und sie wieder im gewöhnlichen Geleise dahingehen. Das Nachdenken, dasder neue Anfang in uns wachruft, hat für viele von uns etwas Schmerzliches. Wir wagen nicht, zurückzublicken. Da erzählt uns jedes Jahr von Menschen, die wir verloren haben. Wenn man gegen die Mitte des Lebensalters kommt, fühlt man es schon, wie die Zahl derer, mit denen unser Leben innerlich zusammenhängt, sich zu lichten beginnt. Wir 1 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer in St. Nicolai gepredigt.] 2 [, daß ihr euch abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater.]

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Predigten

desJahres

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gedenken der Lieben, die uns sonst ins neue Jahr geleiteten und nun draußen schlummern. Die Straße, die wir jetzt betreten, ist ein Stück desWeges zur Einsamkeit. Wen wird uns dasneueJahr nehmen? Um dieses Bangigkeitsgefühl, wen wir drangeben müssen, wächst das Unterholz der Sorgen um das Dasein auf. Diejenigen, die sie nicht kennen, sind zu zählen. Sie sind heimisch im Hause desTaglöhners wie in dem des Mannes, den man so gemeinhin als der Sorge enthoben ansehen möchte – die Sorge um Geschäft, Stellung, Fortkommen, Arbeit – das, was in der Bitte um das tägliche Brot, wie sie Luther so schön auslegt, begriffen ist. In diesen Tagen übt mancher ein Rechnen, das ihn mehr Seufzer und Schweiß kostet als die schwersten Exempel in der Schule. Es sind nicht nur die, die von Tag zu Tag leben und sich nun fragen, wie sie wohl mit den Rechnungen, die sich um Neujahr zusammenfinden, fertig werden, die damit gequält sind, sondern auch diejenigen, die ein gemütliches Heim besitzen und, wie man sagt, ihr Auskommen haben. Denn dieses Auskommen wird von Jahr zuJahr schwieriger. Die Ausgaben an Steuern, Wohnung, Lebensunterhalt steigen, und die Einnahmen bleiben dieselben. Das sind die Menschen, an die die Sorge kommt wie eine Schraube, die langsam gedreht wird. Bei andern ist die Sorge wie ein Empfinden, auf einem wankenden Brett zu stehen, dasjeden Augenblick einstürzen kann. Es ist etwas geradezu Grausiges um die Unsicherheit der Verhältnisse in unserer Zeit. Da hat einer ein blühendes Geschäft. Er fabriziert etwas, das viel einträgt, und muß sich sagen, daß über Nacht eine Erfindung, die seine Erzeugnisse um etwas billiger produziert, ihn zum armen Mann macht; oder es kommt ein Zoll auf dieWare, der die Einfuhr in andere Länder schließt, oder eine Verteuerung des Materials um einige Pfennige pro Kilo, oder die Preise werden durch Spekulation so gestellt, daß man auf absehbare Zeit mit Verlust arbeitet. Und damit ist nicht das Schicksal des einen, sondern von Dutzenden und Hunderten entschieden. Auch in vergangenen Zeiten kannte man die Sorge. Aber die eine, die unter unseren Menschen einen Schrecken verbreitet wie die Pest im Mittelalter, existierte nicht. Sie nennt sich Entlassung wegen mangelnder Beschäftigung und Arbeitslosigkeit. Wer als fühlender Mensch in den großen Städten lebt, wird davon ergriffen, auch wenn er selbst nicht dadurch bedroht ist. Und wer Kinder hat, sorgt sich in diesen Tagen um das, wasausihnen wird. Wird’s reichen, waser zuverdienen und vielleicht noch zuzusetzen hat, um ihnen eine gute Ausbildung zuteil werden zu lassen? Werden sie die Gesundheit und Fähigkeit haben, es zu etwas zu bringen? Ich selbst bin in diesen letzten Wochen erschrocken über die Anforderungen, die das Leben an dieJugend stellt. Ich sah zwei junge Menschen, die ich als

Ihr habt nicht

einen knechtischen Geist

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tüchtige und fleißige Schüler gekannt habe. Ihre Eltern konnten etwas an ihre Ausbildung wenden. Dann suchten sie sich damit eine Stellung zu schaffen. Und als sie mir – sie sind bald Mitte der zwanziger Jahre – erzählten, wie es ihnen dabei ergangen, und ich sah, welche Gedrücktheit und Bitterkeit in diesen jungen Herzen lebte, und mir sagte, wie viele Hunderte und Hunderte in dieser Stimmung leben, statt mit Jugendfreude zu arbeiten, wurde es mir weh umsHerz. Ich sage dasnicht, damit wir uns gegenseitig dasHerz schwermachen, sondern weil wir miteinander fühlen, welche Gefahr dieses Sorgen für uns mit sich bringt, und weil wir an diesem Jahresanfang eine innere Festigkeit gegen sie gewinnen möchten. Wasbietet uns die Religion gegen die Sorge? Soll ich euch predigen: Werfet eure Sorge hinter euch, stellt alles Gott anheim? Ich kann es nicht, denn ich vermöchte es bei mir selbst nicht. Ich weiß nicht, ob man die Menschen mit dieser Gewalttat des Willens vorwärtsbringt und ob diese fromme Sorglosigkeit, sogar wenn sie möglich wäre, das

Rechte ist. Wir müssen unsere Sorgen tragen; nur wollen wir darin nicht umkommen. Die Gefahr für uns ist, daß wir Knechte der Sorge werden und unser ganzes Denken und Sinnen an sie gefangengeben. Wir haben es nötig, daß uns derApostel sagt: «Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet; sondern einen kindlichen, in welchem wir rufen: Abba, lieber Vater!» Was uns über die Sorge hinausheben kann, ist das Bewußtsein, daß wir nicht nur in dieser Welt, von der Sorge kommt, leben, sondern ein Wesen in uns ist, das in der geistigen Welt atmet und in der Einheit mit dem unendlichen Geist und der innerlichen Vollendung Frieden und Leben sucht. Was Gott ist, weiß niemand. Aber die Sehnsucht nach Gott, nach der Harmonie mit dem Unbeschreiblichen, das wir Geist nennen, und mit dem unser innerstes Wesen zusammenhängt, das müssen wir fühlen – denn daist die Hilfe gegen die Sorge. Man sagt im Leben oft, daß ein Schmerz den andern vertreibt und eine Sorge die andere verjagt. Es ist etwas Wahres daran. Im Großen ist es noch viel richtiger, fast furchtbar wahr. Es sind so viele Menschen Knechte der Sorge, weil sie eine Sorge nicht kennen: die Sorge um das, was sie geistig werden, das Rufen ihrer Seele nicht vernehmen. Darum sind sie an die Furcht verkauft. Sie haben nichts, was sie erhebt, daß sie über die Sorgen hinaussehen können, und ahnen gar nicht, daß das, was ihr Sorgen so schwer macht, die innere Leere, Unruhe und Zerfahrenheit ist. Das gilt uns allen. Darum wünsche ich uns im neuen Jahr zu allen Sorgen noch eine neue: die Sorge um den inwendigen Menschen, und diese so brennend und zehrend, als eine Sorge nur sein kann. Die Sorge, ob ihr und die Menschen, die euch anvertraut sind, innerlich vorankommt. Sie soll

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Predigten

desJahres 1910

euch keine Ruhe lassen und euch peinigen. Kein Trost, und käme er ausEngelsmund, kann trösten wie diese Sorge. Habt ihr es nicht schon empfunden, wie in Stunden, wo die irdische Kümmernis unsern Menschen aufwühlte, in diesem allgemeinen Aufruhr auch die Sorge um unsern geistigen Menschen frei wurde, ohne daß wir es ahnten, und uns anfiel und verwundete und uns Schmerzensstunden bereitete, in denen wir nach dem Geist dursteten und nach ihm als demTröster riefen und diese Angst undWonne und Seligkeit genossen, die der Apostel in dem Ruf «Abba, lieber Vater» ausspricht? Da war es uns, alsführte uns die Sorge einen hohen Berg hinauf, auf den die andern Sorgen nicht mitkonnten. Als wir oben in der Sonne waren, ließ sie uns zurück- und hinunterschauen, wo es von Nebel undWolken im Tal wogte, und sagte uns: Da drunten wolltest du leben. Darf ich’s trocken und zahlenmäßig sagen: Von unsern Sorgen sind 50 % so kleinlich irdisch, daß sie für den Menschen, der die Sorge um sein innerliches Werden kennt, nicht existieren. Reine Knechtssorgen. 30 % werden aus großen kleine Sorgen. Sie bekommen ihr wirkliches Gewicht. Man fühlt sie wohl, aber eigentlich nicht mehr als die Kleider am Leib und die Schuhe an den Füßen. 20 % bleiben wahre Sorgen; sie bereiten uns Schmerz und Kummer und lassen uns die Schwere des Lebens empfinden; aber den knechtischen Geist können sie uns nicht einhauchen.|3¡

Morgenpredigt Sonntag, 16.Januar 1910,|4¡ [St. Nicolai]|5¡ Jahresfest desliberalen Vereins|6¡

I Kor. 4,20: Denn dasReich Gottes stehet nicht inWorten, sondern in Kraft Die Feierstunde, zu der wir uns versammelt haben, hat ihre Eigentümlichkeit. Sie ist nicht dem Christentum als solchem geweiht, sondern gilt der Partei, die sich die Wahrung der Freiheit in der evangelischen 3 [Der Schluß fehlt.] 4 [AS-HB, S. 270] «15.Jan. 10.Morgen muß ich beim Jahresfest des liberalen Vereins predigen ... Heute morgen habe ich angefangen, meine Predigt ganz neu zu machen (sie war schon geschrieben) ... heute nachmittag eine Beerdigung ... Die Predigt schreibe ich auf der Rückfahrt fertig ... » 5 [Nach den Angaben im Kirchenboten hielt Schweitzer diese Predigt in St. Nicolai.] 6 [Der liberale Verein wurde um 1850 in Straßburg gegründet. Wie ähnliche Vereine in Deutschland und der Schweiz setzte er sich für die Freiheit von Forschung und Wissenschaft ein und wehrte sich gegen dasengherzige Festhalten an nicht mehr nachvollziehbaren Glaubensvorstellungen.]

Denn das Reich Gottes

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Kirche zum Ziel gesetzt hat. Wir führen fort, was der Apostel Paulus in seinen Briefen in Angriff genommen hat. Die Briefe sind in das Neue Testament aufgenommen worden; man wird es also auch nicht für unbillig erachten, daß unsere Feier in einem sonntäglichen Gottesdienst Platz finde. Unser erstes Gefühl in dieser Stunde ist der Dank gegen unsere Väter. Als die Gewissensfreiheit in der Kirche des Elsasses bedroht war, haben sie das kostbare Gut, das sie aus der großen Zeit der Aufklärung übernommen hatten, mannhaft verteidigt. Das Wort «liberal» wurde bespöttelt. Man verband damit Gedanken des Veralteten, Geistlosen und Pedantischen, um es zu diskreditieren. Sie aber ließen sich nicht irre machen und wagten es, sich weiter danach zu benennen, weil sie wußten, daß das Große und Wahre, das es nach seinem Klang bergen soll, nicht untergehen dürfe, sondern daß es einem kommenden Geschlecht

seine Aufgaben predigen müsse. Wasunsere Väter uns erhalten haben, ist offenbar. Wer ausandern Zonen des deutschen Landes zu uns kommt, findet bei einem [Vergleich] der kirchlichen Verhältnisse an den unsern vielleicht manches auszusetzen. Unsere Kirchlichkeit steht hinter den andern Provinzen zurück. Das Organisatorische ist wenig ausgebildet. Dringende Forderungen der Zeit werden zuweilen unter dem Satze: Es soll alles beim Alten bleiben, begraben. Wie weit das geht, konnten wir vor nicht allzulanger Zeit ermessen, als die Straßburger Kirchenräte gegen eine geplante neue Einteilung der Pfarreien in unserer Stadt demonstrierten und sich nicht darüber klar wurden, daß diese Reform für eine Gesundung unserer kirchlichen Verhältnisse unerläßlich sei. Bei allem, was er auszusetzen findet, wird der, der zu uns kommt, eines mit Freude anerkennen: Daß bei uns gesunde Luft weht. Hier gibt es keine Aufpasserei und Anzeigerei in Glaubenssachen, kein Richten undVergewaltigen der Überzeugung. Der Laie weiß vom Prediger, daß er aus freiem Herzen redet und seine Gedanken nicht zu verschweigen oder zu verhüllen braucht, um nicht in Ungelegenheiten zu kommen. Der Prediger blickt mit Vertrauen auf die, welche dieVerantwortlichkeit für die Verwaltung der Kirche tragen, und versieht sich von ihnen, daß sie denen, die die Gewissensfreiheit mindern möchten, nicht nachgeben werden. Vor einigen Tagen reiste ich in der Bahn mit einem Hochschullehrer zusammen, der vor einigen Jahren von unserer Universität an eine andere berufen worden war. Was mir das Scheiden von Straßburg schwer gemacht hat, sagte er mir im Laufe des Gesprächs, war der Gedanke an meine Söhne. Ich hätte gewünscht, daß sie in der gesunden Luft der Freiheit undWahrhaftigkeit der elsässischen Kirche aufwüchsen, in der ich, als ich hineinkam, auflebte. Daß die Dinge also stehen, ist das Verdienst der freidenkenden Laien und Prediger, die sich zu einer Partei

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organisierten. Wenn ihr Bemühen Erfolg hatte, so ist es nicht ihrem Handeln und Kämpfen, sondern auch der Lauterkeit des Gedankens, den sie vertraten, zuzuschreiben. Sie wollten nicht Freiheit für sich auf Kosten anderer Meinungen, sondern die Freiheit als Zustand der Kirche. Es soll bei unsjede Ansicht, die aus ernstem Herzen kommt, ausgesprochen werden dürfen, mag sie für oder wider uns sein. Unser Programm ist einfach. Wir sehen es für unsere Pflicht an, dafür zu sorgen, daß in den kirchlichen Körperschaften die Vertreter der freidenkenden Evangelischen nicht in die Minderzahl kommen, damit nie etwas beschlossen werden kann, was geeignet wäre, die Freiheit zu beeinträchtigen. Damit ist ausgesprochen, daß wir eine Gefahr im Auge behalten müssen. Wir treiben Kirchenpolitik. Politik ist schlimm, Kirchenpolitik schlimmer. Man muß sich mit einem äußerlichen und kleinlichen Handeln abgeben. Von euch selber wißt ihr, wie kleinliche Kämpfe einen Menschen moralisch herunterbringen. Mit der Gesamtpersönlichkeit einer Körperschaft ist es dasselbe. Wie klein sind doch die politischen Parteien geworden! (verglichen mit dem Ideal, dassie vertreten) – Dasselbe kann uns begegnen. Wer im Getriebe drin steht, den ergreift’s zuweilen wie eine schmerzliche Frage, was denn dieses Erwägen und Kombinieren um Majoritäten bei Wahlen und Abstimmungen mit Religion noch zu tun habe. Es ist leichter, mit großen Worten über die Kleinlichkeit dieses Treibens zu reden, als darin redlich seine Pflicht zu erfüllen. Wir haben das Bewußtsein, daß die Achtung der formalen Freiheit in unserer Kirche unsere Aufgabe ist und daß die oft unerquickliche Arbeit, die dafür geleistet werden muß, Notwendigkeit ist. Darum halten wir uns dazu und wissen denen herzlichen Dank, die das Unerquickliche der Kirchenpolitik tragen. Die Gefahr aber behalten wir im Auge. Um nicht klein zu werden, ziehen wir uns vom Äußeren auf die reine, große Idee zurück, um in ihr Halt und Klarheit zu finden. Wenn wir das tun, so fühlen wir uns über dasKleinliche der Auseinandersetzungen hinausgehoben. Es kommt uns zu Bewußtsein, daß wir mehr sind als eine Partei. Wir vertreten die Religion Jesu und arbeiten für die Frömmigkeit der Zukunft. Wir möchten, der Geist unserer Zeit und das Christentum lägen im Kampf miteinander. Die immer mehr um sich greifende Entfremdung von der Religion soll dasErgebnis dieses Zwiespaltes sein. Man findet eine Reihe von Erklärungen für diese Tatsache – aber eigentlich verstehen wir sie doch nicht. Wenn wir im Neuen Testamente die Gleichnisse undWorte Jesu lesen, ergreift uns ein Erstaunen, daß dieses von unserer Zeit weggeworfen wird. Wassoll denn da mit dem modernen Geist in Widerspruch stehen? Ist das Menschenherz in zweitausend Jahren anders geworden, daß es diese Schlichtheit und Wahrheit nicht mehr begreifen kann? Das Seh-

Denn das Reich Gottes

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nen und Streben nach Vollendung und Friede, das in der Seele liegt, ist es nicht mehr das, welches Jesus in den Seligpreisungen ausspricht? Das Werden undWollen, dasder Mensch, der über sich nachdenkt, vor sich sieht, ist es ein anderes geworden als das, von welchem seine Gleichnisse reden?

Wer dieWorte Jesu einmal angeschaut hat, weiß, daß dieJahrhunderte ihrer elementaren Kraft und Wahrheit nichts anhaben können und daß sie in tausend Jahren noch dasEvangelium sein werden wie heute. Warum verlöscht das Licht? Wenn eine elektrische Lampe versagt, heißt das nicht, daß kein Strom mehr da ist, sondern daß der Kontakt einen Fehler hat. Es kommt einer, zieht den Draht ausder Schraube, poliert ihn und das Kupfer leuchtet, schraubt ihn ein – das Licht ist da. Rost und Staub, die sich daran gelegt hatten, waren die Schuld, daß der Strom nicht schloß. So ist auch in unserer Zeit Strom da. Die Wellen der elementaren Religiosität durchströmen die Menschenseele heute wie in der vergangenen Generation. Es fehlt der Kontakt mit der Religion Jesu. Die Anschauungen derJahrhunderte, durch die sie hindurchgegangen, sind darum gelegt. So ist es gekommen, daß ihre Wirkung auf unsere Zeit aufgehört hat. Die Gedanken, die in unserer Zeit schlummern, kommen nicht zum Aufleuchten. Sie verkümmern, weil sie nicht in den GedankenJesu erwachen und Gestalt gewinnen. So kommen die Menschen unserer Zeit dazu, sich mit einer Weltanschauung durchs Leben zu schleppen, in der das große und schlichte Empfinden erstorben ist und die der Religion keine Anknüpfungspunkte mehr bieten kann. Die Zukunft der Religion liegt darin, daß unsere Menschheit und die einfachen Worte Jesu wieder zusammenkommen. Wir fragen nicht ängstlich, wie diese undjene moderne Anschauung und Erkenntnis, von der wir nicht lassen können, ohne unwahrhaftig zu werden, mit dem Christentum ausgeglichen werden kann, sondern wissen, daß es allein darauf ankommt, daß die Gedanken Jesu in jedem Menschen zum Leben erwachen und das Urgewaltige, Elementare, das in ihnen liegt, zurWirkung frei werde. Wir haben keine gekünstelte und unvollziehbare Vorstellung von der Offenbarung, weil wir fühlen, daß sie aus der Tiefe des elementaren Denkens und Empfindens emporsteigt, in welcher sich die Menschenseele im unendlichen Geiste verliert und in dessen Wesen berührt wird – und weil sie in uns diese Tiefe zu bergen vermag. Unsere Religion ist die, daß unser Denken denWorten Jesu ausgeliefert ist, und daß wir das, waswir sind und wollen und müssen und fühlen in der Erkenntnis erkennen, in welcher das elementare Wesen in uns durch die Berührung mit den Worten Jesu erglüht. Wir glauben, daß dies trotz der Unvollkommenheit, in der es sich an uns verwirklicht, die

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Religion der Zukunft ist. Damit wissen wir aber auch, daß das, womit wir siegen werden, nicht dieWorte sind. Als unsere Väter den Kampf für die freie, evangelische Religion begannen, glaubten sie, daß es bald entschieden sei. Sie vertrauten auf das überzeugende Wort. Wir sehen, daß es sich in die Länge zieht, und haben nicht mehr dieselbe Zuversicht auf das gesprochene und geschriebene Wort. Es trägt nicht bis dahin, wo der eigentliche Kampf beginnt. Der eigentliche Kampf ist ein lautloses Ringen aus der Erkenntnis der geheimnisvollen Kraft der Natur. Wir haben gelernt, daß Licht Einwirken, Auswirken und Offenbarwerden von Energie und Kraft ist, ob es sich um die Flamme eines Zündholzes, das Helligkeitsmeer des Leuchtturmes oder den Strahl des Blitzes handelt. Auch in der geistigen Welt ist so viel Licht alsKraft da ist. Darum vertrauen wir für unsere Religion, die die Welt aus ihrer Starrheit lösen und ausihrer Armut herausführen soll, nicht auf die Auseinandersetzung im Wort, sondern nur auf die Kraft unserer Frömmigkeit, die zur Flamme wird. Der Kampf um die freie Religion beginnt. Wird sie in uns die Kraft sein, die uns aus Schwachen zu Mächtigen macht? Werden wir in ihr zum Leben und Leiden vervollkommnet werden? Werden wir durch sie zujener schlichten, tiefen Menschlichkeit durchdringen, die jeden das, was er im Leben im Namen Jesu als das, was er für ihn tun muß, erkennen und in Angriff nehmen läßt, im Großen und im Kleinen? Sind wir die Menschen, die jeder an seinem Teil ein Nebenamt haben, in welchem wir im Geiste unseres Herrn an derWelt arbeiten? In dem Maße wir es sind, siegen wir, und mit uns unsere freie Religion. Unsere Kraft wird auf das, was in Menschenseelen schlummert, wirken. Man wird nicht mehr mit uns handeln und richten, wie wir zu der undjener Lehre stehen, sondern Flamme wird sich an Flamme entzünden, von der Helligkeit der elementaren Religiosität Jesu geblendet werden und Zweifel und Probleme desDunkels erforschen. – Auf dieses Kämpfen, wo wir nicht Partei, sondern Religion sind, schauen wir aus in dieser Stunde und läutern wir uns in demWorte, das derApostel Paulus, der große Vorkämpfer der Freiheit, uns zu bedenken gibt: «Das Reich Gottes stehet nicht in Worten, sondern in Kraft.» Und wenn wir uns miteinander bewußt sind, daß wir uns in diesem großen Denker prüfen und demütigen und daraus die Worte für unser Handeln nehmen, dann gehen wir frohen Mutes wieder für einJahr in den kleinlichen, äußerlichen Kampf um die formale Freiheit in unserer Kirche und streiten mit freundlichem und hartem Wort wider die Engherzigkeit, wie er es in seinem Briefe auch tun mußte. Man sagt, daß nichts, was mit der Wahrheit zusammenhängt, untergehen kann. Gewiß. Aber es kann auf Zeiten begraben werden. Die in-

Denn dasReich Gottes

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nere Geschichte derWelt ist nichts anderes als die Geschichte vom Auftauchen, Verschüttetwerden, Wiedererstehen vonWahrheiten in Wissenschaft, Kunst, Denken und Frömmigkeit. Und es waren die Zeiten, die sich weise dünkten, die dieWahrheit begruben. So vertrauen wir gar nicht darauf, daß die formale Freiheit in der Kirche in dem Jahrhundert, wie es sich anläßt, nicht verlorengehen kann. Unsere Zeit hält sich nicht für weit fortgeschritten und weise, sondern sie will vor allem Ruhe haben. Ihr wißt von den Menschen, daß der bösartige nicht so gefährlich ist als der, der Ruhe haben will, denn der ist imstande, das Gute, für das er einstehen müßte, preiszugeben und zu bekämpfen. Die formale Freiheit in der Kirche kann unserer Zeit unbequem werden. Also ist sie geneigt, wo sie es kann, sie zuzudecken. Für uns aber ist sie die strategische Position, die nicht aufgegeben werden darf. Sie entscheidet die Schlacht nicht, aber ohne sie ist der Kampf unmöglich. Die Armee, die zum stummen Ringen um die Kraft auf dem Plan erscheinen muß, ist vernichtet, ehe sie aufmarschiert ist.Vor fünfzig Jahren hatte der Straßburger Liberalismus einen entscheidenden Vorstoß abzuwehren, denprotestantische Engherzigkeit, dievon Paris ausging, gegen die ganze evangelische Kirche Frankreichs unternahm. Er siegte und rettete, was bedroht war, weil hinter den Theologen und Predigern der Grenzfeste eine religionsgebildete, begeisterungsfähige Bürgerschaft stand. Es war derletzte Dienst, dendasprotestantische Straßburg Frankreich leistete. Im Reiche, zu dem wir jetzt gehören und zu dem wir uns bekennen, schickt sich der Geist evangelischer Unduldsamkeit an, einen Siegeszug zu unternehmen. Auf weite Strecken liegt das Land offen vor ihm. Die Grenzfeste, die man als unüberwindlich gegen den Feind von außen preist, möge sich gegen den Feind von innen bewähren und die schwere Zeit durchhalten. Das kann sie nur, wenn sie bemannt ist. Hinter den Theologen der sechziger Jahre stand die freie, religiöse Laienschaft des alten Straßburg. Das war ihre Kraft. Wir zählen auf die Bürgerschaft des neuen Straßburg. Mögen sie nicht meinen, das seien Theologensachen, um die es sich handelt, sondern bewußt werden, daß es ein großes allgemeines Gut ist, dasverteidigt werden muß, und sich an uns schließen. Vielleicht ist es dem Straßburger Protestantismus bestimmt, in dem Dienen, in welchem es dem evangelischen Frankreich das Letzte gab, was es ihm geben konnte, dem evangelischen Deutschland zuerst zu dienen.|7¡

7 [An Helene Bresslau schreibt Albert Schweitzer in einem Brief vom 16.Januar 1910:] «Die Predigt ist gut gegangen, obschon ich beim Aufstehen meinte, nicht sprechen zu können, da ich vor Müdigkeit einen wirren Kopf hatte.» [Zentralarchiv Günsbach.]

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Morgenpredigt Sonntag, 13. Februar Passion

1910,|8¡ St.

Nicolai

Mt. 16,21|9¡: Von der Zeit fing Jesus an und zeigte seinen Jüngern, wie er müßte genJerusalem gehen und viel leiden und getötet werden|10¡

Jäh ist die Fastnachtsmusik abgebrochen. Wir mußten sie alle hören. Sie gellte durch die Straßen, nachdem sie seit Wochen die Samstage und Sonntage in den Lokalen erklungen hatte. Ihr Name: Taumel und Vergessen. Dann kam eine Pause. Und jetzt ertönt eine andere Musik. Mit den Glocken dieses Sonntags setzt sie ein. Ihr Name ist Passion. Ihr Wesen: Schmerz und Friede. Sie drängt sich nicht auf wie die andere. Wer sie hören will, muß gesammelt sein und stille hinhorchen im Lärm. Ach, daß sie viele hörten! Es ist eine Musik, die still und glücklich macht. Es liegt darin wie Sonnenschein und milde Luft, leis erwachendes Leben, siegende Kraft.|11¡ Durch länger werdende Tage geleitet sie uns zum Karfreitag und umspielt die Bilder, die vor uns aufsteigen. Ein Mensch macht sich auf, von Galiläa nachJerusalem zu ziehen. Er meidet die große Straße. Zwölf Jünger begleiten ihn. Um ihnen denWeg zu erklären, sagt er ihnen dieWorte, welche wir eben lasen. Dann entrollt sich alles, wasunsdie drei ersten Evangelien so schlicht erzählen. Es ist, als sähen wir ihn auf demWege und erlebten es mit ihm wie die, denen esvergönnt war, mit ihm zu sein. Es kommt die Stunde, im Zimmer auf der Rast, da er sie Demut lehrt [Mt. 18,1–5], der Abend, da er müde ausdem Zelt tritt, um die Kindlein zu segnen, die ihm die galiläischen Mütter flehend zutragen [Mt. 19,13–15], dasMahl zuBethanien, daer einem verachteten Weib seine Menschenwürde wiedergab [Mt. 26,6– 13]. Haben die Zwölf es auch nur geahnt, wie bevorzugt sie waren, dieses mit dem Herrn zu erleben? Konnten sie es sich denken, daß die Menschen in tausend und abertausend Jahren sie darum beneiden und bei sich sagen würden: Wäre es doch uns vergönnt gewesen, nur einen Tag, nur eine Stunde, dort zu sein. Diese elementare Sehnsucht haben wir schon als Kinder empfunden, als wir die Passionsgeschichte zum ersten Mal hörten. Sie erfaßt uns jedes Jahr aufs neue. Und doch sind wir vielleicht glücklicher als die 8 [Am 12. Februar schreibt Schweitzer im Zug an Helene Bresslau:] «Jetzt will ich meine Predigt vornehmen und memorieren.» [AS-HB, S. 276 f., und am 17. Februar erklärt er ihr dazu:] «Meine erste Passionspredigt ‹wurde› letzthin in einer stillen Stunde, wo ich vor dem Einschlafen wach lag.» [AS-HB, S. 277.] 9 [R] Mk. 9,30 f. 10 [R] Ein Stück Leben, daswir nicht missen möchten. 11 [R] Wir haben sie gehört, wenn wir ausdemWinter dem Frühling [begegnen.]

Vonder Zeitfing Jesus an

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Jünger. Seid ihr noch nie erstaunt, wenn ihr eine Landschaft, die ihr in Wirklichkeit kanntet, auf einer Leinwand erblicktet, und euch nun bei euch selbst überrascht gestehen mußtet, daß ihre Schönheit euch erst im Gemälde aufgegangen sei? Warum? Als ihr sie in Wirklichkeit saht, wart ihr beschäftigt und abgelenkt durch das, was um euch vorging; euer Gemüt war zugleich erfüllt von dem kleinen Geschehen und Empfinden des Augenblicks. Vor dem Gemälde, das doch viel unvollkommener ist als die Wirklichkeit, fällt dies alles weg; es zwingt euch zum Sinnen. Darum erscheint es euch so schön. Die Jünger schauten dieWirklichkeit der Passionsgeschichte. Aber es zog wirr an ihnen vorüber. Sie erlebten es als überraschte Menschen. Sie verstanden nicht, was geschah. Lesen wir doch, daß ihr Gespräch auf dem Wege sich darum drehte, wer der Größte im Himmelreich wäre [Mt. 20,20– 28]. Wir aber schauen die Passionsgeschichte, wie sie sie uns in schlichten Worten aus der Erinnerung gemalt haben, als sie selber anfingen, sie zu verstehen. Wir wissen, was wir daran haben. In Sammlung erleben wir siejedesJahr aufs neue. Sie bildet ein Stück unseres Lebens. Wer von euch in der großen Stadt gelebt hat, hat eine Ahnung davon bekommen, wie arm die Menschen dort sind ... wie arm alle sind, für die die «Zeiten» ausgelöscht sind. Keinen Advent und keine Passion mehr zu kennen! Könnt ihr euch das Leben vorstellen, wenn es nicht Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter gäbe? Würde unser natürlicher Mensch nicht so in den Kreislauf des Lebens hineingezogen, waswürde ausihm? Arme Seele, die die Zeiten nicht kennt, die von der Sonne des Lebens unseres Herrn ausgehen. So sei uns auch diese Passionszeit als heilige Zeit gegrüßt. Das äußere Leben gehe seinen Gang weiter. Aber feiernde Augenblicke wollen wir ihr erbringen, wo unsere Seele sich aufmacht, Jesus zu geleiten. Passionszeit ist keine Trauerzeit. Sie wird durch ein Gefühl tiefernster Freudigkeit beherrscht. Ich meine, es regt sich etwas wie unendliche Dankbarkeit in uns, als müßten wir uns auf dem Weg vor dem Herrn niederwerfen und seine Hand fassen, um ihm zu sagen: Ich danke dir. Wie er zu dem Gedanken kam, daß er leiden und sterben müsse, bleibt in ein Dunkel gehüllt, und nur ahnend können wir uns vorstellen, welches die Bedeutung war, die er damit verband. Eines aber wissen wir. Er erkannte es als seinen Weg – und er ging ihn. Es ist eine Erlösung, einen Menschen zu sehen, der seinen Weg geht. Was seht ihr um euch herum? Menschen, die ohne Weg gehen, querfeldein, bald hierher, bald dorthin, rückwärts, vorwärts. Und wenn ihr einen antrefft, der einen Weg hat, so ist’s euch, als ob er euch etwas gäbe und euch selber hülfe, den euren zu finden. Was die andern im Kleinen sind, ist Jesus im Großen. Es ist, als spräche er zu uns: Menschenkind, geh deinen Weg. Geh ihn auch dann,

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wenn ihn die andern nicht mehr verstehen und du selber ihn dunkel vor dir siehst. Es gibt ein kleines Sätzchen, das ein Licht im Dasein ist. Es heißt: «Für etwas da sein». Fürjeden Menschen bedeutet es etwas anderes. Jeder muß suchen, was es für ihn besagt. Gar manche müssen schwer und lange suchen. Aber wer diese drei Worte kennt, findet denWeg. Er wird nicht von dem in die Irre geführt, wasder unbefangene Mensch als Reiz des Lebens ansieht, und läuft ihm nicht nach, als könne es ihm Befriedigung geben, sondern mit jedem Jahr, das er vorwärts kommt, steht das Wort Leben ernster und größer vor ihm. Es wird ihm, als träte er selber aus seinem Dasein heraus und empfinge es als etwas, das er in der Hand hält und verausgaben darf. Die Motive der großen und kleinen, der naheliegenden und fernliegenden Pflichten finden sich zusammen zu der Symphonie desWortes Dienen, mit dem der Herr seine Jünger auf demWege nachJerusalem über dasWesen dieses Daseins belehrt. Als solche, die ihren Weg suchen, ziehen wir mit dem Herrn in der Passionszeit, damit wir etwas von dem Geiste des Friedens empfangen, der ihn verklärte, als er vor denJüngern einherschritt. Wir gedenken daran, daß es derWeg zumTode ist. Kein Mensch sieht seinen Weg, wenn er nicht denTod am Ende erblickt und nicht Augenblicke der Sammlung kennt, wo er sich selber fragt: Weißt du auch, daß du die Straße zumTode gehst? Vom ungesunden Denken und Reden über denTod und den Phrasen darüber mögen wir nichts wissen. Aber eines wissen wir, daß es eine Kraft und eine Milde im Leben gibt, über die nur der verfügt, der Stunden gekannt hat, wo er im Sinnen, das er niemandem aussprechen kann, dieWorte Leben undTod für sich ineinander gedacht hat. Was ist das Ergreifende und wunderbar Schöne, was uns im Reden undTunJesu während dieses Zuges nachJerusalem so eigenartig berührt und einfachen Geschehnissen einen fast überirdischen Charakter gibt? Mit dem Tode vertraut, ihm entgegen wandelnd, spendet er, was er an Güte und Segen noch zu geben hat. In diesem Spiegel sehn wir unser Leben. Eine unendliche Sehnsucht steigt in uns auf, daß unser Weg dem seinen gleichen möge und wir ihn gehen als solche, die wissen, daß er zum Tode führt – mag die Strecke kurz oder weniger kurz sein – und spenden, was wir den Menschen an Güte und Segen zu geben haben, ehe es zu spät wird. Auch darum danken wir dem Herrn der Passion, daß er uns diese Sehnsucht ins Herz legt, und bitten seinen Geist, daß er sie mächtig in unsern Seelen entfache und unsere Gedanken in ihrem Feuer läutere und verkläre.|12¡ 12 [R] Rosenmontag 1910. Avant de partir pour Paris. [Schweitzer gab dort Konzerte mit der Bachgesellschaft.]

Könnt ihr den Kelch trinken?

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Morgenpredigt Sonntag, 13. März 1910, St. Nicolai Passion

Mt. 20,20– 23: Könnt ihr den Kelch trinken?|13¡

Die Geschichte spielt auf dem Wege nach Jerusalem. Was die Mutter für ihre Söhne bat, floß aus einer äußerlichen Vorstellung des Reiches Gottes, die nicht mehr die unsrige ist. Ewig an dem, wassich dort ereignete, sind die Worte Jesu, in denen er sagt, daß das Leiden, dem er entgegengeht, für ihn eine Taufe bedeutet, die auch die Menschen, die seine Jünger sind, auf sich nehmen müssen. Unsere Zeit stellt keine scharf umrissenen Lehren vom Leiden Christi mehr auf. Unser Glaube an die Sündenvergebung wurzelt in unserer Vorstellung von dem Gott, der die Liebe ist, und bedarf nicht mehr, daß er durch dieVorstellung von einem Opfer am Kreuz, dasder Herr seiner Gerechtigkeit darbringt, gestützt werde. Dennoch bleibt das Kreuz inmitten unserer Religion stehen. Wir schauen darauf mit derselben Ergriffenheit, wie unsere Väter es getan. Die Gedanken, die es in uns weckt, lassen sich nicht in einer Welt und Ewigkeit überbrückenden Lehre zusammenfassen. Aus der Tiefe menschlichen Empfindens suchen wir es zu begreifen. Die Gedanken, die in uns aufsteigen, bewegen sich um dasWort, das der Herr auf dem Weg zu seinen Jüngern spricht. Das Leiden ist eine Taufe, sagt er – ein heiliges Geschehen. Was er bei sich dachte, als er dem Sterben entgegenging, hat er nicht weiter ausgesprochen. Es war sein Geheimnis. Nur wenige Andeutungen darüber hat er fallenlassen. Aus allem klingt ein gemeinsamer Ton heraus. Was kommt, ist dieWeihe, die mir bestimmt ist! Die Worte, mit denen er die Menschheit denWeg zurWahrheit führte, sind der blaue Himmel; Leiden undWeh sind dieWolken am Horizont, in dem die Sonne untergehen muß, um zu neuem Leuchten wieder zu erstehen. Mit seinen Gedanken ist diese hohe Auffassung vom Schmerz in unsere Religion übergegangen. In der Leidensgeschichte steht zu lesen, was der natürliche Mensch dem Leiden, das sich vor seinen Augen an 13 [Da trat zu ihm die Mutter der Kinder des Zebedäus mit ihren Söhnen, fiel vor ihm nieder und bat etwas von ihm. Und er sprach zu ihr: Waswillst du? Sie sprach zu ihm: Laß diese meine zwei Söhne sitzen in deinem Reich, einen zu deiner Rechten und den andern zu deiner Linken. Aber Jesus antwortete und sprach: Ihr wisset nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde, und euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm: Jawohl. Und er sprach zu ihnen: Meinen Kelch sollt ihr zwar trinken, und mit der Taufe, mit der ich getauft werde, sollt ihr getauft werden; aber das Sitzen zu meiner Rechten und Linken zu geben steht mir nicht zu, sondern denen esbereitet ist von meinem Vater.]

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anderen vollzieht, entgegenbringt. Lachen und Spott bei den Verrohten, Gleichgültigkeit bei den Abgestumpften, fühlendes Mitleid bei denen, die noch natürliches, menschliches Empfinden behalten haben. Das natürliche Mitleid ist viel. Aber fühlt ihr nicht, daß es etwas Höheres gibt als dieses Mitleid, in welchem wir mitklagen und mitzagen – ein Mitleiden, welches von der Ehrfurcht vor dem Schmerz getragen wird, welches dasWeihevolle und Majestätische, dasin dem Leid an den Menschen herankommt, empfindet. Der Schmerz ist kein Räuber, der amWege lauert und den Menschen anfällt. Auch nicht, was er für die großen Philosophen des Altertums war – das Übel. Er ist ein Fürst des Lebens, dem wir alle untertan sind und dessen Zeichen alles, was Mensch ist, empfangen muß. Diese Hoheit, die im Leiden liegt, hatJesus erfaßt und den Gedanken mitten in unsere Religion gestellt, daß wir den Schmerz, der uns bestimmt ist, und den, den wir an andern sehen, mit Ehrfurcht betrachten, als etwas, das unbegreifliche Schickung ist und dennoch mehr – Heiligung, Weihe desLebens – mit der wir ausdemWeltenreich in dasGottesreich

treten.

Was war’s mit der Taufe, dieJesus empfing? Man streitet darüber, ob er sich durch seine Worte die Welt unterworfen hat oder durch das Kreuz. Ich meine, man darf beides nicht trennen. Seine Worte sind groß; aber sie hätten nicht die Kraft, die sie haben, wenn sie nicht von dem Menschen, der durch Leiden vollendet ward, getragen wären. Und wenn ihr sie euch vergegenwärtigt, werdet ihr finden, daß ihrer viele nur aus einem Herzen kommen konnten, das im Ausblick auf das Leiden still und friedvoll geworden war. DerJesus, der sprach, war der große Lehrer, vor dem wir uns beugen; derJesus, der litt, ist der Welt Heiland geworden, bei dem, was leidet, Friede und Stille sucht; wie er selbst gesagt hat: «Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken; nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen» [Mt. 11,28– 29]. Es liegt in dem Beruf aller derer, die von seinem Geist berührt sind, daß auch sie zu solchen werden, die heilen können in derWelt und Helfer werden im Kampf gegen Sünde und Not. Die Kräfte dazu schlummern in jedem, der wahrhaft Mensch ist. Aber entbunden werden sie vollkommen erst bei denen, die vom Becher desWehes gekostet haben. Niemand vermag zu erklären, warum dem also ist. Wir wissen es aber alle von uns und den Menschen, in deren Leben wir Einblick haben, daß in jedem Leiden, das wir überwunden haben, wir nicht nur reicher werden für uns, sondern auch dasVermögen empfangen, der Welt und den Menschen etwas zu geben von dem Frieden und den Gaben, mit welchen dasReich Gottes schon jetzt mitten unter uns ist.

Könnt ihr den Kelch trinken?

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Warum ist Paulus so gewaltig in den Worten seiner Briefe? Warum war es ihm gegeben, so unsäglich Tiefes auszusprechen? Er redet als einer, der in dem, was er litt, die Taufe zum Reich Gottes empfangen

hat. Schmerz und Tod gehören zusammen, nicht nur weil der Tod der letzte Schmerz ist, sondern weil jedes tiefe Leid ein Stück Tod ist, das sich an uns vollzieht und uns vom Natürlichen und Irdischen loslöst und eine innere Verklärung erleben läßt – nicht dieVerklärung, wie sie sich die Menschen dachten, die dasReich Gottes in Welteinsamkeit und Weltfremdheit suchten, sondern die Verklärung, die dem Reich Gottes zukommt, daswir inwendig in uns bergen, und in dem, waswir denken und tun, mit uns herumtragen und an die Menschen heranbringen. Noch eines liegt im Worte des Herrn. Das Weh ist eine Taufe, die der Mensch auf sich nimmt. Das heißt: Er nimmt es als freier Mensch auf sich. Als Kind sah ich einmal, wie ein Mensch verhaftet wurde. Er wälzte sich auf dem Boden und schlug um sich; dann fesselten sie ihn und zogen ihn hinter sich her. Das erschütternde Bild kommt mir immer wieder in den Sinn, wenn ich Menschen und ihr Leid sehe. Sie wehren sich und gehen gefesselt und zerschlagen mit, statt daß sie als freie Menschen es annehmen. Den Becher Jesu trinken heißt, dasWeh als ein Freier tragen, wie er es tat. Das sei keine fromme Phrase, auch keine Verkündigung eines Heldentums, das nur Auserlesenen erreichbar ist. Kämpfen müssen wir alle, bis wir innerlich gefaßt sind. Auch unser Herr hat kämpfen müssen. Aber wer darum ringt, ein Freier zu bleiben und nicht ein Sklave des Wehs und der Traurigkeit zu werden, der kann nicht untergehen, sondern findet den Weg. Wenn ihr so viele Menschen seht, die durch das Weh innerlich vernichtet sind, in denen es nur Gedanken des Erdrücktseins und der Bitterkeit wachrief, und was sie Gutes trugen, erstickte, so ist es, weil sie davon als von etwas Fremdem und Unerwartetem überrascht wurden. Darum ist es notwendig, daß wir in den Stunden, wo wir uns sammeln, ausschauen auf das, wasunsbeschieden werden kann, und uns mit dem Gedanken, daß auch wir durch dunkle Täler müssen, vertraut machen, und so die Kraft in unsbereiten, als Freie jenen Weg zu gehen – und uns in ein «Es muß also geschehen» [Mt. 26,54] zu finden, wie es der Herr tat. Unser Herr ging dem Schmerz als ein Freier entgegen. Ein Held im menschlichen Sinne war er nicht. Er stand nicht über demWeh, sondern er kannte die Augenblicke, wo ihn die Übergewalt des Schmerzes erdrückte. In Gethsemane flehte er die Seinen an, bei ihm zu bleiben und mit ihm zu wachen; der letzte Laut, der von seinen Lippen kam, war derVerzweiflungsschrei am Kreuz. Solches mußte geschehen, damit wir in den Stunden der Bangigkeit zu ihm aufblicken können, der Mensch war wie wir.

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Auch für uns werden Stunden kommen, wo wir, von Weh übermannt, die Hände nach Menschen ausstrecken, daß sie uns helfen tragen. Er fand keine. Seine Jünger verfielen dem Schlaf, als er sie brauchte; als er unter dem Kreuz zusammenbrach, trat keiner herzu und faßte mit an; zuletzt nahm es einer, den die Kriegsknechte dazu zwangen. Wir wissen, daß es Augenblicke gibt, die der Mensch allein durchmachen muß; wo er nach Hilfe schaut und keiner, so gern sie es möchten, sie ihm bringen kann. Aber oft auch kann denen, die die Hand ausstrecken, geholfen werden, wenn Menschen da sind, die vermögen, mehr als Mitleid zu geben, und mit dem, wassie selber, dem, wassie im Leben durchgemacht haben, abgerungen haben, die andern aufrichten, sie bei der Hand fassen und leiten. «Und verlaßt euch nicht auf Menschen» [Ps. 118,8], ist ein Wort, das wir in der Trostlosigkeit, die es, allgemein gefaßt, in sich trägt, nicht in unsere Religion aufnehmen wollen, sondern wir glauben an den Geist Christi, der andere fähig macht, uns zu helfen, und zählen es zu dem Kostbarsten, was das Leben bringen kann, in schweren Stunden Menschen gefunden zu haben, die uns blieben und mit uns wachten, und zu dem Weihevollsten, was uns beschieden war, in solchen Zeiten geistig etwas für andere gewesen zu sein. Und mit einem Gefühl von Dank blicken wir auf das zurück, was Schweres in unserm Leben zurückliegt, weil wir darin geweckt wurden zu solchen, die helfen können. Und was noch kommt, nehmen wir auf uns und getrösten uns dessen, was den Apostel Paulus aufrichtete, daß, indem wir leiden, auch der Geist desHerrn, seine Kraft und sein Friede, an uns offenbar werden und uns reich machen für uns selber und reich, mitzuteilen an die, welche uns Gott, vom Leben mißhandelt und zerschlagen, als unsere Nächsten amWege finden läßt [Eph. 3,14– 17].

Morgenpredigt Sonntag, 1. Mai 1910, St. Nicolai|14¡

I Thess. 5,19: Den Geist dämpfet nicht. Vor vierzehn Tagen beschäftigten uns die Zweifel, die gegen die geschichtliche Existenz Jesu aufgeworfen werden.|15¡ Ich glaubte, euch versichern zu können, daß sie in keiner Weise begründet seien. Zugleich aber sagte ich euch, daß das Fundament des Christentums von dieser 14 [AS-HB, S. 286] «Samstag abend, 30.April 10. Nancy. Die Predigt ist fertig ... und eine große Sorge ist mir vom Herzen genommen. Ich habe morgen früh zu predigen. Von Paris bis hier habe ich am zweiten Teil der Predigt gearbeitet ... bei herrlicher Sonne.» 15 [Diese Predigt fehlt.]

Den Geist

dämpfet nicht

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Frage nicht berührt wird. Es ist eine Religion des Geistes. Wir glauben daran, weil unser Geist uns sagt, daß es Wahrheit ist, nicht weil man zwingend beweisen kann, daß es vonJesus von Nazareth gestiftet wor-

den ist.

Heute möchte ich, daß wir miteinander darüber nachdenken, was es bedeutet, daß die Religion aus dem Geist fließt und sich immerfort in ihm erneuert. Was ist eigentlich Religion? Darauf antwortet man gewöhnlich: Religion ist der Glaube an dies und dies und dies. Aber damit jemand glaubt, das Bedürfnis empfindet, zu glauben, müssen Fragen und Gedanken der Sehnsucht in ihm aufgestiegen sein, die durch die Sätze, zu denen er sich bekennt, Antwort und Befriedung erfahren. So geht die Religion von dem elementaren Suchen des Geistes aus. In dem Augenblick, wo der Mensch anfängt, über sein Dasein nachzudenken, tauchen elementare Fragen für ihn auf, an denen sein Leben hängt. Was soll diese Existenz? Was ist denn für ein Zweck und Sinn darin, daß Menschen geboren werden, leben, schaffen, sorgen, leiden, sterben? Hat unser Sein Wurzeln in der Zeitlosigkeit oder sind wir die Welle, die vorübergleitet im Strom der Zeit? Was ist der Urgrund des Seins überhaupt? Wo kommt es her, wo geht es hin? Wasist dasEndziel der Menschheit? Hat die Welt einen Endzweck? Oder ist nicht alles ziel- und zwecklos, unbegreifliches, sinnloses Sein, in dessen Strudel wir einhergerissen werden? Was soll das Leiden? Was soll die gesetzmäßige Verknüpfung der Dinge, die nicht Recht und Unrecht, nicht Mitleid und Erbarmen kennt, sondern unerbittliches Schicksal ist? Gibt es eine Liebe im Weltenregiment, gibt es, wie es Schuld gibt, auchVergebung der Schuld? Auf diese Fragen sucht der Geist Antwort. Er will sich ein Weltbild schaffen, in welchem er seine Existenz begreift und einen Zweck und eine höhere Pflicht erfaßt, die ihn auf diesen Platz gestellt haben, damit er ihn duldend, tuend und hoffend ausfülle. Sagt nicht, das sei Weltanschauung und Philosophie, Sache der Gelehrten und Denker. Es ist Religion, natürliche Religion. Diese letzten Fragen des Denkens sind mit dem Dasein selbst gegeben. Bei der Versenkung in die Natur hat es nichts zu sagen, ob jemand kultiviert oder nicht, gelehrt oder nicht gelehrt ist, sondern wenn er Mensch, wahrhaft Mensch ist, wird er davon ergriffen und wird von dem, was sein Blick überschweift, erfaßt, weil in allem ihm unendliche, schaffende Kraft und Schicksal entgegentritt. Jene Fragen sind nichts anderes als Natur, die uns im Denken erscheint. Wer von ihnen bewegt wird, ist in einem elementaren Sinn

fromm. Man hat immer und immer wieder versucht, zwischen der natürlichen Religion, die in jedem Menschengeist nach Gestaltung ringt,

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und offenbarter Religion zu scheiden. Ich vermag es nicht, sondern ich meine, daß eine in die andere übergeht. Wenn du in den blauen Himmel schaust, kannst du ermessen, wo die Erdatmosphäre aufhört und der Äther anfängt? Wie will man, in die Unendlichkeit des Geistes ausschauend, die Grenze zwischen natürlichem und offenbartem Denken ziehen? Man klagt über die Kraftlosigkeit des Christentums. Mit Recht. Wir leben in einer irreligiösen Zeit. Die Zeit trägt ihre Schuld. Aber es liegt auch ein Fehler am Christentum, wie es sich ausgebildet hat. Es hat die natürliche Religion gehemmt und sich dadurch selbst entkräftigt. Ihr habt von der Kalamität im Rebbau gehört. Die Sonne scheint noch, aber die Stöcke gedeihen nicht mehr. Einmal sind es Insekten, die die Wurzel zerstören, dann Ungeziefer, das die Trauben zum Absterben bringt, bald Mehltau, bald Blattfallkrankheiten; jedes Jahr eine neue Plage, von der man früher nichts wußte. Und langsam fängt man an zu begreifen, daß die Insekten, das Ungeziefer und die Krankheiten nicht neu sind, aber daß das Unglück am Stock selbst liegt. Früher war er stark und überwand. Jetzt ist er kraftlos und wird ein Opfer jeder Schädigung. Warum? Weil Reben, immer auf denselben Boden gesetzt, ihn ausgesogen haben, daß er ihnen nun die Kräfte und Säfte, deren sie be-

dürfen, nicht mehr zuführen kann. So ist es mit der reinsten Form der Religion, mit dem Christentum gegangen. Es hat den Boden, auf dem es lebt, die elementare, natürliche Religion, die im Menschengeist als solchem gegeben ist, entwertet. Es wollte eine feste Religion sein, die auf alles Entscheid gab und keine Fühlung mit dem suchte, was der Geist der Zeit in den einzelnen Menschenkindern fühlte und dachte. Es leitete die Menschen nicht an, zu forschen und zu denken, sondern es gab immer Antworten und brachte die Menschen dahin, daß sie meinten, Religion wäre anerkennen, was als Lehre des Christentums vorgetragen wird. So wuchs eine Menschheit heran, die das Fragen und Denken verlernte, die religiös interesselos wurde und dem Christentum verlorenging, weil ihr von Jugend auf die natürliche Religion abhanden gekommen ist. Das Christentum war wie die Mutter, die nicht auf die Fragen desKindes eingeht und ihm die Zuversicht zum Sinnen und Denken nimmt, so daß es teilnahmslos wird und sich in sich verschließt. Der Protestantismus hat hier weniger gefehlt als die andern Konfessionen. Er hat die Gefahr gefühlt, die Religion in einer überlieferten Lehre aufgehn zu lassen. Aber er hat dennoch nicht gewagt, als Protestantismus Klarheit zu schaffen, aus Angst, aus der Bahn der Überlieferung gerissen zu werden. Ihr empfindet es nicht als unrecht, daß es ausgesprochen wird, es ist auch kein Gedanke, der euch fremd ist. Er ist als christlich gerechtfertigt, wenn er ausdem Geiste Jesu beurteilt wird.

Den Geist

dämpfet nicht

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Das Große anJesus ist, daß er nicht vor die Menschen tritt und eine festgefügte Lehre verkündet. Wenn ihr seine Reden und Gleichnisse lest, werdet ihr immer finden, daß er sich an das natürliche Denken und Empfinden der Menschen wendet und das wachzurufen sucht, was in ihrem Herzen schlummert. Er setzt die elementare Frömmigkeit des Menschen in Gang und weiß dann, daß er für die Religion nicht verloren sein kann. Darum dieses fast Unzusammenhängende in seiner Unterweisung, das ihm im Unterschied zu andern Religionsstiftern eigen ist. Er läßt Spielraum. Und der Geist hat Denkarbeit geleistet im Christentum. Er wurde durch die Zeit dazu gezwungen. Das Weltbild, das die Religion Jesu umrahmte, ist uns unfaßlich geworden. Wir rechnen nicht mehr mit dem nahen Weltende und einem direkten Eingreifen Gottes in das Geschehen; unsere Gedanken über Erhörung von Gebeten sind andere geworden; unsere Vorstellungen über die Weiterexistenz des Geistigen in uns haben sich verändert. Es ist wie mit der Astronomie jener Zeit, verglichen mit der unsrigen. Der Fortschritt zeigt sich nicht nur in dem, was neu erkannt wird, sondern in dem, was wieder Frage wird, wo es früher so einfach gelöst schien! Die Unendlichkeit tut sich unergründ-

lich vor uns auf. Und der Geist arbeitet nicht nur an dem Schaffen des neuen Weltbildes, in das er die Religion hineinstellt, sondern auch an der Vertiefung der religiösen Erkenntnis selbst. Ihr könnt manches, was euch in WortenJesu begegnet, nicht mehr mitmachen. Wenn er den Menschen seiner Zeit den himmlischen Lohn vorhält für das, was sie hienieden ausrichten und leiden, so fühlen wir von uns, daß er so nicht zu uns reden braucht, da wir zu der Erkenntnis durchgedrungen sind, daß die höchste Frömmigkeit nicht durch irgendeine erwartete Vergeltung bestimmt wird, auch nicht durch Angst vor Strafe, mit der man die Menschen früherer Zeit zur Religion antrieb. Auch der Gedanke ewiger, unerforschlicher Erwählung oder Verwerfung des einzelnen, die uns in Worten Jesu noch begegnet, hat keinen Raum mehr in unserer Frömmigkeit. Das alles ist Arbeit des Geistes nach dem Ziel derVergeistigung der Religion. Man muß keine Angst haben, dies zu sagen, als ob damit etwas von der Größe Jesu genommen würde. Ich glaube, daß die wahre Größe Jesu darin bestehen wird, daß die Menschen, die seinen Namen tragen, es wagen, dieWahrheit zu sagen und mit sich selbst und ihrer Zeit wahrhaftig zu bleiben. Davon hängt es ab, ob das, was er gesät hat, zur Ernte heranreift oder, der Sonne derWahrhaftigkeit beraubt, verkümmert. Der Geist, der im Laufe derJahrhunderte gearbeitet hat, hat die ReligionJesu nicht aufgehoben, sondern sie neu herausgehoben ausden Gedanken der alten Zeit, in der sie erschien. Aber zugleich hat er dargetan, daß etwas Unvergängliches in dieser Religion ist, in welchem sich der

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religiöse Geist aller kommenden Zeiten wiederfinden wird, um sich darin zur wahren Einfachheit zu läutern. Es ist mir, als hätte Jesus das Greifbare an der Religion erfaßt und böte es uns dar, daß wir es festhalten. Aus seinen Worten spricht er zu uns: Religion ist, wie es in deiner Seele aussieht, ob dein inneres Auge Licht ist, und alles andere, Erkenntnis, Ahnen, Glauben und Fragen bewegt sich um dieses Innerste und Heiligste herum und muß sich wandeln auf dieVollendung der Erkenntnis. Also ist es bestimmt. Wir aber leben in der Zeit, wo der Fragen mehr sind als der Erkenntnis. Wir verfügen nicht über feste Antworten und eine einheitliche und befriedigende Weltanschauung, die dem Christentum vor uns zur Verfügung standen. Wir leiden darunter, aber wir wissen, daß es also sein muß, und daßwir damit weder die Religion noch die Religion Jesu verloren haben, wenn wir von dem Geiste der Herzensfrömmigkeit Jesu erfüllt sind. Und wieder empfinden wir eine Zuversicht, das natürliche, religiöse Denken, das in uns die Fragen über Menschenwesen und Welt, Gott und die Unvergänglichkeit des Geistes zu klären und zu ergründen sucht, frei und ohne Angst seines Weges gehen zu lassen, weil wir wissen, daß auch dies Frömmigkeit ist und die Grundlegung einer neuen Weltanschauung bildet, welche die ewigen Gedanken Jesu umrahmen wird, um sie durch die Zeiten auf die Zukunft zu bringen. Darum wollen wir immer wagen, unsere Gedanken und Fragen zu Ende zu denken, wissend, daß daraus für uns und die Zeit das Leben kommt. Eine Zeit, in der der Geist nicht schafft, ist tot. Der Herr Jesus hat uns gelehrt, aus der Natur die Gleichnisse für das Geistige zu gewinnen. In der Natur herrscht das Gravitationsgesetz. Weltenkörper bewegen sich um ihre Sonnen. Die Kraft, die sie bewegt, ist dieselbe, die sie mit diesem Mittelpunkte verbindet. Nur durch die Bewegung hängt unsere Erde mit der Sonne zusammen. Würde sie die Bewegung verlieren, so würde sie ausihrem lebenspendenden Bereiche in die Unendlichkeit des Weltenraumes fallen und darin verlorengehen. So ist es mit dem Geist. Er ist die Kraft, die das Denken vorwärtstreibt und es zugleich nur die Gedanken Jesu als um seinen ewigen Mittelpunkt sich bewegen läßt. Er kann keine Bahn einschlagen, in der er diesen Mittelpunkt der Wahrheit verliert. Das glauben wir. Es ist so gewiß und so unergründlich wie das Naturgesetz, das er im Gleichnis abbildet.

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Morgenpredigt Sonntag vor Pfingsten, 8. Mai 1910, St. Nicolai

Röm. 12,12: Seid fröhlich in Hoffnung! Dieser Frühling braucht hoffende Menschen. Die Blüten sind gebildet und müssen warten und warten zum Aufgehen, bis die Sonne Wind, Kälte und Regen vertrieben. Ist das nicht ein Bild mancher Zeiten unseres Lebens, wo wir Hoffnung brauchen, um uns aufrechtzuerhalten und uns über Verzagtheit und Müdigkeit hinauszuheben – und ohne Hoffnung kraftlos sind? Wie klingt es wundervoll: «Seid fröhlich in Hoffnung!» Es ist keine Ermahnung und kein Trost, sondern ein Stück vom Leben dessen, der es ausspricht. Es ist als stände dahinter: Ich bin fröhlich in Hoffnung. Wir bedauern, kein Bild vom Apostel Paulus zu besitzen. Ist dieses nicht eines? Es war hier eine Ausstellung von Porträts. Wenn ihr sie durchwandert habt, wurdet ihr gewahr, daß man die Gesichter selber nicht behielt, sondern nur das Geistige, was sie ausdrückten. Mögen die Züge des Apostels gewesen sein, welche sie wollten: Das Geistige daran sehen wir, ohne ihnje geschaut zu haben. Ein Antlitz, in das Leiden und Schmerzen ihre Striche und Falten tief eingegraben haben. Und sie vermochten ihm nichts Trauriges zu verleihen, sondern nur das Heitere des Ausdrucks noch stärker hervortreten zu lassen – das ist das Angesicht

des Paulus. Er hat vieles erduldet; mehr, denn sonst einem Menschen zu tragen bestimmt ist. Aber er war zuletzt dennoch glücklich, weil er so hoffen konnte. Wenn ihr um euch blickt, so schätzt ihr die Menschen nicht als glücklich oder unglücklich ein nach dem, wasihnen widerfährt, sondern danach, ob sie die Kraft des Hoffens haben oder nicht. Für manche ist kein Glück und keine Hilfe mehr im Dasein, nicht weil sie nichts mehr zu hoffen haben, sondern weil sie es nicht mehr vermögen. Andere sind müd und verdrossen, weil sie wohl immer noch erwarten und hoffen, aber keine rechte Fröhlichkeit darin finden. Zunächst ist es eine natürliche Seelengabe, die wir einmal besaßen, und die die meisten dann verlieren. Du hast einem Kind etwas versprochen. Es war ein Wort, ganz unbestimmt, das du fallenließest. Du hast es schon längst vergessen und meinst, es sei für das Kind auch der Fall. Da offenbart dir eine Bemerkung, daß es glühend daran denkt und tage- und wochenlang insgeheim davon lebte und Frohsinn und Willigkeit daraus zog. Und du kommst dir klein und arm vor, und die Sehnsucht, wieder so hoffen zu können, steigt in dir auf. Meint ihr nicht, daß der Herr, als er sagte: «Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kindlein, so könnet ihr nicht ins Reich Gottes kommen» [Mt. 18,3]

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auch sagen wollte: Es sei denn, daß ihr wieder hoffen lernt wie die Kindlein. Darf ich den Eltern ein Wort sagen? Es kommt mir manchmal vor, als legten es die, die erziehen, darauf an, den Kindern das Hoffen zu nehmen, als würden sie so brauchbar fürs Leben. Ich meine, daß wir unrecht tun, ihnen diese Stimmung der Enttäuschungen mitzuteilen, die die Jahre bei uns erzeugt haben. Das heißt nicht, zum Ernst des Lebens erziehen. Wir sollen uns an ihrer Hoffnungskraft freuen und nichts tun, um sie zu erschüttern – und uns dadurch beschämen lassen; denn die meisten unter uns haben vom Hoffen mehr aufgegeben, als sie durch die Ereignisse berechtigt waren. In der Hoffnungslosigkeit steckt ein großes Stück Undankbarkeit gegen Menschen und Dinge. Sie ist eine falsche Weltweisheit. Die Ereignisse geben den Hoffenden viel mehr recht als den Zagenden. So viele Menschen büßen das Hoffen ein, weil sie es nur darauf richteten, was sie vom Leben an Glück und Annehmlichkeit erwarten zu dürfen glaubten, ohne sich ernstlich zu fragen, ob sie dessen, was ihnen zufiel, würdig wären. In diesem Hoffen auf die äußeren Dinge liegt oft mehr Unruhe als Freudigkeit. Davon kann man nicht sagen: «Seid fröhlich in Hoffnung.» Paulus meint es von einer andern Hoffnung: von der auf dasGeistige gerichteten. Jesus und derApostel hoffen auf dasReich Gottes. Dahinter tritt alles andere zurück; es geht darin auf und nimmt die Richtung desselben an. Für uns hat sich in der äußeren Vorstellung des Reiches Gottes manches geändert – und dennoch ist es dasselbe geblieben. Hoffen auf dasReich Gottes heißt glauben, daß der Wille Gottes in der Welt und an uns erfüllt wird und dasGute siegen wird. Versteht mich recht. Ich meine, damit ein Mensch hoffend sein kann in seinem Leben, müsse er zunächst von dem allgemeinen Sehnen und Hoffen unserer Zeit ergriffen werden, das mit seinem Lebensschicksal nichts zu tun hat, sondern Glaube an eine Zukunft der Welt und der Menschheit ist durch die Kraft alles dessen, was geistig wahr und rein ist und mit dem Geiste Jesu geht. Ich sprach euch diesen Winter davon, daß keiner die wahre Sorge kennt, der nicht die Sorge um das, was aus unserer Zeit und der Menschheit wird, sich in sich regen fühlt|16¡; so ermißt auch keiner, was wahres Hoffen ist, der nicht hofft für Zwecke und Dinge, die außer ihm liegen. Das gewöhnliche Hoffen ist egoistisch. Es vertrocknet im Leben. Neben diesem muß noch jeder ein Hoffen, das nichts mit ihm und seinem Glück zu tun hat, in sich tragen, ein Hoffen, das auf die andern, auf die Menschheit, auf die Zukunft derWelt geht – und sich daran klammern 16

[Siehe S. 1022. 02.01.10.]

Seidfröhlich in Hoffnung!

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und fühlen, daß es ein Stück seines Lebens ist.|17¡ Ich nenne es dasHoffen auf das Reich Gottes – das Hoffen, in dem unser Geist aus sich selbst heraustritt und im unendlichen Geiste aufgeht. Wer das in sich trägt, der kann hoffen – ein Hoffen, das kein Geschick ausihm herausreißen kann. Wie in jedem Menschen, je weiter er kommt, eine Vergeistigung des Betens stattfindet, in welcher das Bitten um die Dinge seines Lebens zurücktritt hinter dem Bitten um das Geistige und um die innerliche Kraft, so auch mit dem Hoffen. Das wahre Hoffen ist das geistige; die Kraft, in der wir uns im Leben immer wieder erheben; weil unser Leben mehr ist als das, was uns äußerlich zustößt; ein Verkettetsein mit dem Zwecke, dem Wollen und dem Kämpfen des Geistes in der Welt. Das wahre Hoffen kommt aus der Gemeinschaft unseres Geistes mit dem unendlichen. Als Kind wunderte ich mich über Gras und Halme. Ich sah sie einmal und dann wieder und noch einmal nach Gewittern, die die Äste von Bäumen gerissen hatten, am Boden liegen. Die andern sorgten sich nicht darum. Das Gras wird schon wieder aufstehen, sagten sie. So kam es auch. Zur Erntezeit stand es daund wiegte sich in Ähren, obwohl ich es mehrmals in den Boden geschlagen gesehen hatte. Nur daß ich nicht begriff, was denn eigentlich geschah, wenn das Gras aufstand, und woher es die Kraft nahm. Vor einigen Jahren wagte ich die Frage an einen Naturforscher, der mir sagte, daß es zu dem Geheimnisvollsten ausdem Pflanzenleben gehöre und mit den Gesetzen desWachstums zusammen-

hänge. So hängt dasVermögen des Sich-Aufrichtens bei den Menschen von seinem inneren Wachstum ab. Wir sind schwach im Hoffen, wenn wir mit unsern Gedanken fern vom Reich Gottes sind und ganz in dieser Welt aufgehen – und werden stark, wenn der inwendige Mensch wächst, wenn unser Hoffen sich nicht mit dem verbindet, was wir von dieser Welt erwarten, sondern was wir darin im Dienste des Geistes Jesu ausrichten wollen.|18¡ Ich muß das alles so allgemein aussprechen, wo es fast formelhaft klingt, und glaube doch, daß die meisten unter euch sich darunter etwas aus ihrem eigenen Leben vorstellen können – indem sie aus sich selber wissen, daß sie im Hoffen stark waren, wenn sie rein und groß hofften, und schwach, wenn es nur auf kleine Menschendinge ging. Und sie werden auch erfahren haben, welch überweltliche Fröhlichkeit aus dem reinen und großen Hoffen kommt, und wie sie unser Leben verklärt und uns in allen Dingen hoffnungsfreudig macht. Wenn ihr Menschen seht, die in allen Dingen hoffnungsvoll sind, auch in den 17 [R] Wasesbedeutet, für einen andern mit aller Kraft zuhoffen. 18 [R] Das höchste Hoffen: etwas tun zu dürfen.

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gewöhnlichen, wo es sich um die einfache Erwartung des Gelingens und Nichtgelingens handelt, werdet ihr zumeist das Rätsel darin gelöst finden, daß sie zu denen gehören, die das Hoffen auf das Reich Gottes in sich tragen; die hoffen da, wo es sich nicht um ihre Sache handelt, und daraus wie zum Lohn eine Heiterkeit und einen Frieden schöpfen, der sie auch zu Hoffenden in den gewöhnlichen Dingen des Lebens werden läßt, als bräche dasLicht von innen durch und werfe seine Helligkeit auf ihr ganzes Dasein; als sollte auch hierin dasWort des Herrn sich erfüllen: «Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch solches alles zufallen» [Mt. 6,33].

Morgenpredigt Sonntag Trinitatis, 22. Mai 1910, St. Nicolai Innere Mission

Phil 4,5: Eure Lindigkeit lasset kund sein [allen Menschen!]

Wie wandeln sich die Zeiten! Heute ist Trinitatisfest. An diesem Tage predigte man früher mit erhabenem Pathos von der Dreieinigkeit und ihren Geheimnissen. Wir aber in unserem Lande sind angewiesen, mit der Gemeinde uns die Aufgaben und Ziele der Inneren Mission vorzuhalten. Vom Sinnen über Lehre, die uns unfaßbar geworden ist, soll es zur Tat gehen. Dem Äußeren nach scheint es, daß wir die Zeichen der Zeit verstehen. Ihr nehmt vielleicht wie ich Anstoß an dem Worte «Innere Mission». Man begreift darunter doch nichts anderes, als was schon in dem Christentum als solchem liegt. Unser Herr hat gesagt: «An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen» [Mt. 7,16+20] und damit unsere Religion zu einer Religion derTat geweiht und ihr ihren Weg für alle Zeiten vorgeschrie-

ben. DasWort «Innere Mission» hat aber doch eine gewisse Berechtigung. Es wurde im vorigen Jahrhundert von denjenigen geprägt, die die Empfindung hatten, daß das Christentum seine Pflichten der Tat und der Fürsorge für unsere Menschheit versäumt hätte und dadurch schuld geworden sei für den großen Abfall von der Religion, gerade in der für ihre Existenz ringenden und kämpfenden Masse desVolks. Sie zeigten die Aufgabe, legten die Hand an in der glühenden Hoffnung, daß das helfende Christentum sich wieder allgemeine Liebe und Ehrfurcht erwerben und, wasabgefallen, in seinen Kreis ziehen würde. Wenn wir dasWort aussprechen, denken wir an die Heiligen des Protestantismus, an die Männer, die Kraft und Leben für die Arbeit unter den Gefallenen, Elenden und Siechen dahingegeben haben, und überschauen mit Ehrfurcht die Reihe der Namen, an deren Schluß einer in

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besonderem Lichte glänzt ... der Name des kürzlich verewigten Pastors von Bodelschwingh in Bielefeld. Und zugleich gedenken wir derer, die in demselben Weinberg gearbeitet haben, aber im kleinen und verborgenen, und dahingingen, nur von wenigen gekannt und gewürdigt. Von beiden aber, den Bekannten und den Unbekannten, ist ein Geist ausgegangen, in dessen Bann wir stehen. Er heißt der Geist sozialer, christlicher Arbeit. Wie in einer Symphonie bald dieses bald jenes Thema die Führung hat und heraustönt, so ist es auch mit der Religion. Je nach den Weltzeiten und den Weltnöten steht bei ihr dies oder jenes im Vordergrund. Unser Christentum wird durch dasWort «sozial» do-

miniert. Ein viel gebrauchtes, in manchem schon mißbrauchtes Wort zeigt die Richtung unserer Religiosität, soweit sie Sauerteig [Mt. 13,33] in der Welt sein will, an. Wenn wir es auf die Fahne des Christentums schreiben, bleiben wir bewußt, daß wir von manchem, das sich damit verbunden hat, absehen und auf sein Wesen, nicht auf das Drum und Dran gehen. Wer beobachtet hat an der sozialen Arbeit, wie sie vor unsern Augen insWerk gesetzt wird, hat manches zu beanstanden. Zunächst ein gewisses Veräußerlichen und Theoretisieren. Es ist sicherlich eine Errungenschaft unserer Zeit, daß sie auf die Organisation der Werke, die zur Hilfe irgendeiner gesellschaftlichen und menschlichen Not dienen, viel gibt. Aber es wird auch viel überschätzt. Statuten, Vereine, Vorstandssitzungen, Ausschüsse, Statistiken, Kongresse spielen manchmal eine allzu große Rolle und täuschen die Menschen über das, wasan wirklicher Arbeit geleistet wird, hinweg. Es ist hier wie in so vielem: Auf dem Papier ist manches da, wovon in derWirklichkeit nichts zu sehen ist. Dazu kommt noch ein Sinn für das Großartige. Man will in den sozialen Unternehmungen nicht mehr klein anfangen, sondern alles soll gleich groß und imposant in Szene gesetzt werden, um welches Haus oder welches Werk es sich handelt. Dadurch werden oft große Mittel in Anspruch genommen, wo kleinere dieselben Dienste leisten würden, und die Gebefreudigkeit wird zuweilen auf eine nicht leichte Probe gestellt. Ich sage das nur, weil wir es alle denken und für uns dasWort sozial in einem einfacheren Sinne nehmen, ohne deswegen rückständig sein zu wollen. Aber in dem Augenblick, wo wir es mit unserer Religion verbinden wollen, ist es, als ob uns ein Schmerz durchzuckte. Christlich-sozial ... dasgibt esja nicht. Es gibt nur protestantisch oder katholisch sozial. Bei jedem Unternehmen zeigt sich dieses Elend aufs neue. Von Anfang an geht durch alles ein gewisses, geheimes Ringen, daß jede Konfession darin ihren Rang behaupte, ob es sich um die Wohnungsnot oder den

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Mädchenhandel, Fürsorge für Mütter oder für Säuglinge handelt. Wichtiger als das Werk selbst scheint manchmal die Wahrung dessen, wasman «Parität» nennt. Daskann einen mutlos machen. Eine Hilfe ist vorerst nicht abzusehen. Wir dürfen mit ruhigem Gewissen sagen, daß wir nur den aufgedrungenen Kampf annehmen und eine schwere und unangenehme Pflicht erfüllen, wenn wir zu verhindern suchen, daß alles, was in unsern Tagen im Namen der Christlichkeit und Menschlichkeit an sozialen Werken unternommen wird, zuletzt durch kluge Machenschaften in den Dienst der katholischen Kirche gestellt werde, die dieWelt umJahrhunderte aufgehalten hat, indem sie alles nur als ein Mittel zu ihrer Macht und Herrlichkeit betrachtet und unsere Zeit wieder ins Mittelalter zurückführen möchte, wenn sie könnte. Ihr wißt, daß ich vonjeder Engherzigkeit frei bin und selten über andere Konfessionen rede. Ich darf euch die Bitterkeit und Mutlosigkeit aber nicht verschweigen, die mich ergreift, wenn ich sehe, wie überall und auch in unserer Stadt die natürlichste, christliche, soziale Arbeit durch die Berechnungen und egoistischen Ziele einer Kirche, die das rein Christliche und rein Menschliche nicht kennt, schwer geschädigt wird. Diejenigen von uns, die den Kampf aushalten müssen, dürfen sich mit einem trösten, daß sie nicht für eine Konfession, sondern für den allgemeinen christlichen und menschlichen Charakter der sozialen Arbeit unserer Zeit eintreten. Das möge sie für das Demoralisierende und Kleinliche, das sie bei der Arbeit in den Kauf nehmen müssen, entschädigen. Auf der andern Seite heißt es: Christlich-sozial?, das gibt es nicht. Wir wollen nichts mit dem Christentum zu tun haben, und der Wohltätigkeit und Fürsorge, der Gesinnung überhaupt nichts zu danken haben. Das, worum es sich handelt, ist eine Machtfrage. Auf der einen Seite die Unternehmer, auf der andern die Arbeiter. Beide sind organisiert. Wer wird siegen? Um uns spielt sich eine große Schlacht ab. Bald tobt es heftiger hier, bald dort. An manchen Stellen ruht er, um zur Zeit wieder loszubrechen. Recht und Unrecht ist auf beiden Seiten; und auch die Kräfte sind fast gleich verteilt. Gekämpft wird nicht immer um das, was frommt undwasalsLösung der mit der Zeit gegebenen Fragen in Betracht kommen sollte; sehr oft handelt es sich um die Macht, die reine Macht. Wir haben es erlebt, daß von der einen Seite wie von derandern dieser Kampf begonnen wurde, und empfunden, wie tief es in die öffentlichen Verhältnisse einschnitt, und sind gewärtig, daß es sich so fort und fort wiederholen wird, bis irgendein Gleichgewicht gefunden und auf beiden Seiten eingesehen ist, daß Vernunft und Billigkeit mehr sind alsMacht. Das spielt sich vor uns ab, und wir sind ohnmächtig, auch nur ein Wort hineinzureden im Namen der Religion, sondern müssen der

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Sache ihren Lauf lassen. Ein großer Teil der sozialen Frage wirkt sich aus, während dasChristentum nichts dazu tun kann. Ich habe euch auf nüchterne Pfade geführt, die auf keine schönen Aussichtspunkte münden. Aber ich glaube, unser aller Gedanken gehen solche Wege, weil wir alle dasselbe um uns sehen. Da ist es gut, daß wir sie auch miteinander wandeln. Ich meine, daß nur die abgehärtet sind, die aus dieser Nüchternheit die Begeisterung retten, so daß sie wissen, sie können nie mehr etwas davon verlieren.|19¡ Am Ende von allem steht dasWort ... dennoch! Wir müssen uns alles vorhalten, was wir eben miteinander betrachtet haben, nicht um mutlos zu werden, sondern um uns durch die Ernüchterung hindurchzuarbeiten. Wir sehen ihr zum voraus ins Auge und überwinden sie, damit unskeine Erfahrung, die wir noch zu machen haben können, etwas von unserer Begeisterung nehmen könne. Sie bauen die großen Brücken und die hochragenden Türme unserer Zeit nicht mit gewöhnlichem Eisen, sondern brauchen gestähltes dazu. So braucht unsere Zeit auch eine gestählte Begeisterung und Menschenliebe, die das tragen kann, was wir an Ernüchterungen und Enttäuschungen zu tragen bekommen. Wenn dein Sinn müd ist und soundso vielmal denWeg der Ernüchterung geht, so muß er am Ende desWeges immer wieder das«Dennoch» finden, dasihn stille macht, daß er wieder von vorne beginnen kann. Der Apostel Paulus kannte die Welt und hat Enttäuschung gekannt, wenn sie je einem Menschen beschieden war... und aus allem hat er sich dasWort gerettet, mit dem er uns heute lächelnd anschaut: «Eure Lindigkeit lasset kund sein aller Welt.» Es ist, als ob es für uns gesprochen wäre ... Lindigkeit. Es liegt eine Musik in demWort. Zuerst liegt darin das Erbarmen, das immer neu in uns werden soll, nie aufgebraucht, wo Elend ist. Wir Kinder unserer Zeit laufen die große Gefahr, daß wir meinen, uns selber rechtfertigen zu können, wenn wir uns von etwas fernhalten und sagen wollen: Das ist nicht mein Nächster, indem wir bei uns selber überlegen: Dafür ist diese und diese Gesellschaft da, sie wird die Sache schon in die Hand nehmen. Ich tue ja das meine schon, indem ich meine Beiträge für diese Werke zahle. Da sagt uns derApostel mit demWort «Lindigkeit», daß es eine Hilfe gibt, die nicht anders geleistet werden kann als von einem lebendigen Menschen! Vereine müssen sein; die Werke müssen von deinen Beiträgen leben; aber betrüge dieWelt und dich nicht um dasKostbarste, was du geben kannst, um das, wo du selber mit bist und ein Stück deines Wesens gibst. Laß dein Auge nicht matt und blind werden, daß es nicht mehr die Nächsten suchen muß, die Gott dir über denWeg schickt. 19 [Hier folgen einige Stichwörter, bis derText wieder ausgeführt wird.]

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Damit dasWort «sozial» nicht zum leblosen Schemen werde, braucht es viele lebendige Menschen, die darin aufgehen und ihm Leben zuführen, indem sie es in dem einfachsten Sinn betätigen, daß sie sich als Menschen den Menschen, die ihrer bedürfen, nicht entziehen. Und noch etwas anderes liegt in dem Wort «Lindigkeit». Unsere Welt braucht nicht nur Erlösung aus dem äußeren Elend, sondern vom Elend der Gesinnung. Die Atmosphäre ist schwül. Es stehen allenthalben Wolken am Himmel. Die Menschen haben den Glauben an die Menschen verloren; sie sind innerlich arm geworden. Daß dies das größte Elend ist, wird ihnen mit jedem Jahr klarer werden. Darum sind die Menschen so nötig, die Sonnenschein bringen; die nicht nur helfen, sondern in deren Helfen etwas Herzliches und Freundliches liegt, die Sonnenschein in diese kalte und mißtrauische Gesinnung bringen, die der Kampf ums Dasein geschaffen. Auch die Seelen unserer Menschheit leiden im Elend. Sie suchen, daß sie wieder mit den Menschen und der

Welt versöhnt werden. Gebt der Welt Lindigkeit ... sie lechzt danach wie die trockene Erde nach denTropfen, die sie befeuchten. Möge der Geist Christi, der durch den Apostel und dieses herrliche Wort zu uns spricht, es uns tief ins Herz schreiben und uns reich machen, daß wir seine Kostbarkeit um uns aussäen auf denWegen, die das Leben uns führt.

Morgenpredigt Sonntag, 12.Juni 1910, St. Nicolai

Röm. 12,15: Freuet euch mit den Fröhlichen undweinet mit denWeinenden. Wenn wir dieses Wort im Buch Sirach oder in den Sprüchen Salomos läsen, wären wir nicht erstaunt. Es gleicht so manchem anderen, daswir in diesen Schriften von freundlicher Lebensweisheit finden. Aber bei Paulus begegnet es uns auf anderm Boden gewachsen und von andern Gedanken umgeben. Im Buch Sirach und den Sprüchen Salomos ist allzuviel Welterfahrung. Es liegt etwas Trauriges und Melancholisches über dem Ganzen. Worte, die die Menschen wirklich erheben, können hier nicht gedeihen, die schönsten Gedanken bleiben da wie die Kiefern im Sandboden, wie die Zwergkiefern auf der Höhe, die der steinigen Erde kärglichen Saft abgewinnen und krüppelhaft und zerzaust dastehen vom Sturme, der über sie einherfährt. Bei Paulus aber ist dasselbe Wort ein ragender Baum im großen Walde, der zwischen moosüberzogenen Felsen emporsteigt und seine Wurzeln zu den Tiefen der nimmerversiegenden Quellen sendet. Es

Freuet euch mit den Fröhlichen

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lautet, daß ein Sirach es geschrieben haben könnte; aber es entspringt nicht freundlicher, müder Weisheit, sondern dem hoffenden Geiste Christi. Es gehört zu denen, welche ausder Ebene desgewöhnlichen Denkens und Empfindens sanft ansteigen zur Höhe des tiefsten Wissens vom Leben und des Friedens und der Freude in Gott. Schon in seiner einfach natürlichen Bedeutung enthält es Mahnung fürjeden Tag an einen jeden von uns. «Freuet euch mit den Fröhlichen!» Das klingt leicht und ist oft schwer. Ich rede nicht von denen, die vom Leben zerschunden, verbitterten Gemütes geworden sind und in denen die Freude der andern Traurigkeit wachruft, für sie bedarf es innerer Größe, um dieses Wort erfüllen zu können. Von uns rede ich und nehme an, wir seien nicht glücklicher und nicht unglücklicher als andere. Erstaunt ihr nicht, welche inneren Hemmnisse wir oft haben, uns mit Menschen zu freuen, und welch unbegreifliche, fast unbewußt bleibende Gedanken sich in uns regen, wenn einem andern etwas Gutes geschehen ist, so daß das natürliche Mitgefühl in uns nicht aufkommt und Glückwünsche, die wir aussprechen, Phrasen bleiben undwir beschämende Erleichterung darüber fühlen, daß es den andern nicht gegeben ist, was an Gedanken wirklicher freudiger Teilnahme hinter unsern Worten steht, zu ermessen? Es ist, als verlören wir die Herrschaft über uns. Ihr werdet es an euch erfahren haben, daß wir dann ganze Tage brauchen, bis wir uns wieder in der Gewalt haben und über das Häßliche, das unbegreiflich und sinnlos Häßliche in uns, hinausgekommen sind. Wie oft auch übersehen wir es, daß es Zeit ist, sich mit Fröhlichen zu freuen und mit Weinenden zu weinen. Manchmal heißt es ahnen, was in dem andern vorgeht – und wir versagen. Er lebt mit dir und trägt eine Freude in sich. Sie glimmt in ihm wie ein Feuer, an das keine Luft kommt. Oft bringt uns erst die Mitfreude der andern, die uns überrascht, zu Bewußtsein, daß eine glückliche Stunde unseres Lebens da ist. Es ist, als ob die andern die Freude in uns erst frei machten. Vor meinem Sinn steht ein Bild aus meiner Kindheit. Oktobersonne, Kühe auf der Weide, ein Knabe bläst ein Feuerchen an, es flackert armselig, jeder Windstoß kann es auslöschen; da kommen die andern mit dem Reisig, dassie aufgelesen haben, und werfen es darüber – und es qualmt, und plötzlich schießt die Flamme empor. So tragen wir das Reisig, daß das Feuer des Glückes des andern emporlodere. Und oft flackert ein Glück nur schwach auf und verlischt bald unter den Gedanken und den Sorgen des Alltags, weil die, die um den Menschen waren, kein inneres Ahnen hatten, das ihnen gebot, die Freude in ihm frei zu machen und ihr ihre eigenen Gedanken als Nahrung zu geben. Er geht arm weiter und weiß nicht, wie glücklich er war, weil er niemand fand, der sich mit ihm freute.

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Predigten

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Es geschieht dir auch, daß ein Mensch um dich lebt und hat einen Schmerz. Eine Angst um seine Gesundheit ist über Nacht wie eine dunkle Wolke über seinem Leben aufgestiegen ... er ist im Begriff, einen Menschen oder die Freundschaft für einen Menschen zu verlieren ... die Sorge um Geschäft und Fortkommen quält ihn ... er hat eine Enttäuschung erlebt ... eine schwere Müdigkeit hat sich über ihn gelegt. Er weint und klagt nicht. Nur ist er anders als gewöhnlich, nervös, reizbar, unfreundlich. Du stimmst dich auf denselben Ton und läßt ihn fühlen: «Wie man in denWald schreit, so schreit eswieder heraus.» Nach einigen Tagen kommst du darauf, warum er so war, und schämst dich, daß du ihm so fern standest und nicht ahntest, warum sein Wesen so verändert war, und ihn quältest, wo du hättest sollen ihn tragen und ihm helfen tragen. Es ist nicht so im Leben, daß die Freude da steht und lacht und dir sagt: Lache mit mir – und dort der Schmerz, der weint und dir sagt: Weine mit mir. Viel Verschlossenes an Freud und Schmerz liegt in den Menschen unserer Zeit, das nicht dem äußeren, sondern nur dem Auge des Herzens offenbar wird. Ich traf vor einigen Tagen einen Herrn, der mir mit Lebhaftigkeit mitteilte, es sei nun möglich, mit drahtloser Telegraphie Nachrichten vom Eiffelturm nach Saigon gelangen zu lassen, daß die Überwindung dieser Distanzen von Tausenden und Tausenden von Kilometern aber nichts sei imVergleich zurVervollkommnung in derAbtönung der elektrischen Wellen, zu der man es gebracht habe und wodurch es möglich sei, durch diese Art vonWellen auf diesen, durch eine andere aufjenen Apparat zu wirken, so daß es keine Apparate mehr seien, sondern geheimnisvolle Wesen, die durch unendlichen Raum hindurch fühlen, was im andern vorgeht. Dashaben die Menschen mit totem Material vermocht. Aber sie selber leben untereinander im selben Hause, werden durch ihre tägliche Arbeit miteinander zusammengeführt, und dieWellen, die ihr Empfinden und Fühlen aussenden, sind nicht so fein abgetönt wie die der Apparate, die ihr Geist ersann, um die Entfernungen zu überwinden. Sie fühlen nicht, wasin dem andern vorgeht, undwenn es so deutlich ist, daß sie davon erzittern müßten. Nahe beieinander bleiben sie sich fremd und verderben sich die Stunden, wo Freude oder Schmerz sie einen könnte. Das ist etwas von den Mahnungen, in welchen das allgemein Menschliche desWortes zu uns redet. Es liegt aber noch etwas Höheres darin, wodurch es in die Religion hineinragt. Unsere Teilnahme bringt die Freude in dem andern zum Entflammen. Aber das soll mehr sein als ein Gefühl, das aus dem Mitfühlen des andern sich weitet. Die wahre Freude wird es erst, wenn sie vertieft und vergeistigt wird. Mitfreuen im tiefsten Sinne des Wortes können nur die, die die wahre Freude kennen.

Freuet euch mit den Fröhlichen

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Die wahre Freude ist etwas, das noch hinter der Erregung unseres Wesens liegt, die wir als Freude empfinden. Es ist ein Gefühl von Erlösung und Befreiung, das über uns kommt. Wie soll ich es ausdrücken? Es ist, als wäre dein ganzes Wesen von Helligkeit umflossen, als ständest du auf einem hohen Berg und holtest Atem. Der Gedanke, womit du denn verdient habest, so glücklich zu sein, zieht seine Kreise immer enger um dich und erdrückt dich schier. Du empfindest, wasdir geschehen, als Gnade. Es kommt etwas Stilles und Friedvolles in deine Freude; sie wirkt Läuterung; das Gute scheint dir so leicht zu werden, du fühlst dich innerlich besser, Gott näher – es ist dir, als hättest du in einer Stunde ausgeruht, um wieder Traurigkeit, Müdigkeit und Enttäuschung tragen zu können. Was ich hier andeute, hat Gellert in einem wundervollen Liede ausgesprochen: «Ich hab’ in guten Stunden desLebens Glück empfunden und Freuden ohne Zahl.»|20¡ Dieses tiefe Gefühl der Freude gehört zum Kostbarsten im Leben. Selig, die es kennen! Es braucht nichts Außerordentliches, um diese Stunden in ihnen wachzurufen. Auf das, was ihnen geschieht, kommt es fast nicht mehr an. Manchmal ist es vielleicht nur ein Sonnenstrahl, der für alle scheint, ein gutes Wort, das sie aufgelesen haben ... wo die andern erstaunen würden, daß es sie so glücklich macht ... und es ist nicht das, was geschehen, das dieses Glück brachte, sondern was geschah, war nur der Glockenschlag, der dem Menschen sagte: Es ist Zeit zu feiern und den Geist zu erheben. Wer dies für sich kennt, der bringt es auch mit, wenn er sich mit andern freut. Er fühlt nicht nur mit ihnen, sondern weiß mit ihnen die Wege zu gehen, die von Freude auf die Höhe des Lebens führen. Manchmal kann er es mit einem Worte andeuten, manchmal liegt es unausgesprochen in der Art, wie er sich mitfreut. Kennt ihr Menschen, die in der Art, wie sie sich mit euch freuten und dem Gesprochenen und Unausgesprochenen, das sie zu der Stunde mitbrachten, euch halfen, den ganzen Horizont eurer Freude zu überschauen und das Kostbare, das sie barg, das, wodurch sie euch reiner und besser machte, zu fin-

den? Der Kämmerer aus Mohrenland fuhr durchs Land und las in der Schrift. Da trat einer zu ihm und fragte ihn: «Verstehst du auch, was du liesest?» [Act. 8,30] und erklärte es ihm, denn er kannte die Schrift. So brauchen wir manchmal Menschen, die wissen, was die tiefe Freude ist, daß sie zu uns treten und uns erklären, was uns geschieht, wenn das Glück über uns kommt, damit es ein Freuen werde, an dem der innere 20 [Christian Fürchtegott Gellert: Ich hab in guten Stunden, Str. 1.]

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Predigten

desJahres

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Mensch in uns wächst, daß es nicht vorüberrausche wie eine Woge, die nicht mehr ist, sondern Frucht bringe für dasLeben. Wie mit der Freude ist es mit dem Leide. Wer zum andern hinzutritt und Träne für Träne hat, bringt ihm etwas. Aber der, der weiß, was «Leid tragen» [Mt. 5,4] ist, der über Weinen und Klagen hinausgedrungen und dem Schmerz Stille und Friede abgerungen hat, der mischt nicht nur Schmerz zu Schmerz, sondern trägt in dem seinen Frieden und Stille mit, die demWeinen die Bitterkeit und Qual nimmt und es zum milden erquickenden Weinen macht. In diesem Mitfreuen und Mitweinen als von solchen, die in Freude wirklich froh und im Leide still und ernst geworden, geben wir dem andern nicht nur ein Stück menschlichen Gefühls, sondern etwas von unserer Frömmigkeit. Ich meine nicht fromme Phrasen, sondern Frömmigkeit, die kommt wie ein linder, frischer Wind und erquickt – daß der, mit welchem wir uns freuen und mit welchem wir trauern, uns anfühlt, daß unser Geist in Glück und Schmerz suchte eins zu werden mit dem unendlichen Geiste – stille zu sein in Gott – und etwas davon fand. Als ich zum ersten Mal an dasMittelländische Meer kam, war ich erstaunt, daß draußen auf der blauen Flut immer zwei Segel zusammenstanden und Sonne, Wind und Regen teilten. Am Abend erfuhr ich, daß sie ein Netz zwischen sich schleppten, in welchem sie die lebenden Schätze des Meeres hoben. Wenn ich seither ans Meer gekommen bin, gab es mir immer zu denken. Wenn das Leben die Menschen in ihrem Leid und ihrer Freude zusammenführt, ist es nicht, daß sie das Netz zwischen sich auswerfen, es in der Tiefe des Erlebens schleppen lassen und den geistigen Reichtum heben, den Glück und Unglück in sich bergen? Und wenn die Sonne ihres Lebens sich neigt, daß sie das Segel gegen das Land des Friedens setzen als solche, die viel gewonnen ha-

ben? Möge das gemeinsame, gesammelte Sinnen über des Apostels Wort uns tüchtig machen zu dem wahrhaftigen Freuen mit den Fröhlichen und Weinen mit den Weinenden, daß wir es tun im Geiste Christi, Segen bringen und Segen haben.|21¡

21 [In einem Brief im Zentralarchiv Günsbach schreibt Albert Schweitzer am Abend an Helene Bresslau:] «Ich habe zweimal gepredigt heute. Gerold hat letzten Sonntag für mich gepredigt und heute habe ich ihm den gleichen Dienst erwiesen, aber es ging. Ich werde mich jetzt gleich hinlegen und nichts mehr tun als vor dem Lichtlöschen noch den Text für den nächsten Sonntag lesen, um darüber nachzudenken im Einschlafen.»

Taufe

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Morgenpredigt [Sonntag, 26. Juni]|22¡ 1910, [St. Nicolai]|23¡

[Ohne Text:] Taufe

Der Johannistag liegt hinter uns. Wunderbar, bis in die Nacht hinein, stand Helligkeit am Himmel, da, wo die Sonne untergegangen war.Wir schauten sie an und erlebten es, wieder in der Zeit der längsten Tage zu stehen. Zugleich aber kam es wieWehmut über uns, zu wissen, daßjetzt mitten in der Sommerpracht das Ende sich schon ankündigt und wir unaufhaltsam dem Dunkel des Winters entgegengehen. Manch einer von uns hat sich dabei fragen müssen, ob es nicht ein Gleichnis für unser Leben ist – ob er nicht auch im Leben die Höhe seines Laufes überschritten hat und den kürzer werdenden Tagen entgegengeht, obwohl ihm noch nichts verändert scheint. Und zugleich gedenken wir des Menschen, dessen Name der Tag trägt. Groß und doch so demütig steht er vor uns, der letzte Prophet, auf der Schwelle von der alten Zeit in die neue – der Verkündiger des Herrn, den ein schwacher Mensch um der Launen eines Weibes willen im Gefängnis morden ließ, als man den Namen Jesu im Lande Israel zu nennen anfing und er zu ihm gesandt hatte mit der Botschaft: «Bist du, der da kommen soll?» [Mt. 11,3]. Aber in dem, was vonJesus ausging, ist etwas von dem, wasJohannes brachte, heilig bewahrt worden. Die christliche Kirche tauft. So wollen wir das Gedächtnis desTäufers ehren, indem wir darüber sinnen, was uns sein Vermächtnis bedeutet. Niemand unter euch wird sagen, daß diese Betrachtung unzeitgemäß sei. Mir selber ist es oft zu Bewußtsein gekommen, wie verworren die Ideen der Menschen über diese heilige Handlung sind, und wie viel sie darüber zu fragen hätten. Andererseits seht ihr mit mir, wie die Taufe für viele eine bloße Formalität geworden ist, bei der sie sich nichts mehr denken. Also ist ein offenes, ernstes Wort am Platze. Wir könnten zwei Wege miteinander gehen. Der eine ist der der Geschichte. Ich könnte euch darstellen, wie die Taufe aufkam, welche Bedeutung sie in der ersten Gemeinde hatte, welche Lehren über sie aufgestellt wurden, damit wir aus diesem allem das nehmen, was uns dasRechte zu sein scheint. Ich möchte aber lieber den andern, den des einfachen Nachdenkens mit euch gehen. Der erste ist zu schwer und zu dunkel. Ihr könnt es darausermessen, daß wir nicht einmal wissen, wie dieTaufe in der Christen22 [Im Manuskript steht als Datum nur Juni 1910. Doch geht aus dem Hinweis in der nächsten Predigt hervor, daß es sich um den 26. Juni handelt. Siehe S. 1057. 10.07.10.] 23 [Der Kirchenbote nennt Schweitzer alsPrediger im Morgengottesdienst in St. Nicolai.]

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Predigten

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heit aufgekommen ist. Jesus selber, das steht fest, hat nicht getauft und seine Jünger zu seinen Lebzeiten auch nicht. Wir haben auch keine Anweisung von ihm darüber erhalten. Nur das eine steht fest, daß dieJünger, als sie die Gemeinde gründeten, dieTaufe übten und diejenigen, die sich mit ihnen zusammentaten, auf den Namen Jesu Christi und zum Glauben an die Vergebung der Sünden mit Wasser netzten. Wir müssen annehmen, daß, wenn uns auch kein diesbezügliches Wort Jesu erhalten ist, sie dabei doch sich bewußt waren, in seinem Geiste zuhandeln. Ihre genauere Anschauung über die heilige Handlung bleibt uns freilich dunkel. Schon die Stellen, in denen Paulus von der Taufe spricht und sie als ein Mitbegrabenwerden [Kol. 2,12] in Christi Tod auslegt, sind für uns rätselhaft, und was dann später darüber geschrieben ist von Kirchenvätern und auch von Reformatoren, enthält des Dunkeln und Befremdlichen so viel, daß der, der es einmal durchgegangen hat, weiß, daß wir es uns nicht alles anzueignen vermögen und frei bleiben, in Ernst uns unsere eigene Anschauung zu erringen, ohne deswegen gegen die alte Christenheit zufehlen. Auf die Frage, was die Taufe ist, würde jeder Konfirmandenschüler antworten: ein Sakrament. Aber damit ist die Antwort nicht gegeben. Es bedeutet, daß die alte und die katholische Kirche sich unter derTaufe eine Handlung vorstellten, in der sich mit dem äußerlichen Geschehen der Benetzung und desTaufspruches etwas Innerliches, von Gott Ausgehendes, für die Seligkeit des Menschen Notwendiges, vollzieht; und zwar so, daß es von Gott an diese Handlung gebunden ist und außer ihr nicht geschehen kann. Am klarsten wird diese Bedeutung der Taufe als Sakrament im alten Sinn, wenn man bedenkt, daß sie besagt, ungetauft sterbende Kinder müßten der Verdammnis anheimfallen. Das hat noch unsern Reformator Luther sehr bekümmert. Aber er wagte es nicht, sich von der Lehre loszumachen. Im Grunde besagt diese Lehre, daß dieTaufe erst die Erbsünde in den Kindern aufhebe, die ihnen ausihrer natürlichen Entstehung anhaftet. Wenn ich nun frei mit euch reden darf, ohne jemand einen Anstoß geben zu wollen, so möchte ich sagen, daß ich diese Anschauung für ein Stück Katholizismus halte, das sich in den Protestantismus hineingerettet hat. Es ist nicht schriftgemäß. Weder der Täufer, noch Jesus, noch Paulus haben dies behauptet, sondern sie nehmen an, daß in der Taufe die Vergebung der Sünden, die er begangen und bereut, zugesichert werden. Gewiß, wir alle bringen die sündige Natur schon mit ins Leben. Aber um diese zu tilgen, braucht Gott sich an keine äußere Handlung zu binden.Wasmich an dieser Lehre immer so erschreckt, ist, daß die Seligkeit davon abhängen soll, was ein Mensch, ein Diener der Religion, an einem andern vollzieht – daß man eine Beschränkung der Allmacht Gottes durch Menschenvollmacht annimmt.

Taufe

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Wenn ihr etwas nachdenkt, werdet ihr bemerken, wie die meisten Schwierigkeiten der Lehre von der Taufe davon herkommen, daß statt Erwachsener – Kinder getauft werden. Wenn ein Erwachsener dieTaufe begehrt, wie es in der ersten Gemeinde undjetzt draußen in der Mission geschah und geschieht, so ist etwas da, wasin der Kindertaufe fehlt: der Wille und der Glaube desTäuflings. Er glaubt anJesus und dieWorte des Lebens, dievonseinem Munde ausgegangen sind, undanseinen Geist, der eine Kraft in unswerden soll; er hat Reue undwill ein neues Leben anfangen, glaubt an dieVergebung der Sünden. Dieses Bekenntnis wird durch dieTaufe besiegelt underin denBund derGläubigen aufgenommen. In dem Augenblick aber, wo man in der alten Kirche anfing, Kinder zu taufen, mußte dies alles wegfallen, und man kam dann zu der Lehre, dieTaufe tilge auf wunderbare Weise die Erbsünde in demjungen Menschenwesen. Das einfachste wäre, nun zu sagen: Also soll dieTaufe nur an Erwachsenen vollzogen werden. Wenn ein Mensch zum entschlußfähigen Alter gekommen ist und den ernsten Willen in sich spürt, zur christlichen Gemeinde zu gehören, dann lege er in derTaufe Bekenntnis davon ab. Damit hätten wir eine christliche Kirche mit nur lebendigen Gliedern und würden nicht soundso viele dazu zählen müssen, die nichts mit ihr zu tun haben, als daß man sie einst, als sie nichts davon wußten, zur Taufe gebracht hat, worauf sie weiter keine Ansprüche gründen, als daß in ihrem Leichenzug auch einmal ein Pfarrer mitgehen muß, um auf ihrem Grabe Schönes von ihnen zu reden. Ihr wißt, daß diese Meinung nicht unausgesprochen geblieben ist. Als die Kirche im Altertum die Kindertaufe einführte, haben sich viele Christen um des Ernstes und des Ansehens willen dagegen gewehrt; und als in der Reformation mit dem alten Sauerteig ausgefegt wurde, da standen solche auf, die Schulter an Schulter mit den Reformatoren gekämpft hatten, und verlangten, sie möchten die alten, evangelischen Zustände auch darin wiederherstellen, daß sie nur die Taufe Erwachsener anerkennten. Luther und die Seinen gingen nicht darauf ein. Sie verfolgten dieWiedertäufer mit Heftigkeit und siegten. Ich weiß nicht, ob sie recht getan und ob es nicht für das Leben der protestantischen Kirche besser gewesen wäre, wenn sie damals in der Taufe ganz auf den urchristlichen Brauch zurückgegangen wäre. Ein Wort vonJesus oder Paulus dagegen lag nicht vor. In jedem Falle muß die Überzeugung unter uns geduldet werden. Wenn jemand sagte, aus Ernst der Religion, er wolle seine Kinder nicht als solche taufen, sondern es ihnen überlassen, daß sie, einmal erwachsen, es aus eigenem Antrieb täten, so dürften wir ihm deswegen nichts vorwerfen, denn er hätte die Schrift für sich. Aber ich möchte dieser Frage, die bei erwachendem kirchlichen Sinn im Protestantismus jeden Augenblick wieder aktuell werden kann,

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Predigten

desJahres

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nicht eine grundlegende Bedeutung zuerkennen, sondern meinen, es habe auch einen guten und schönen Sinn, daß man in der Kirche zur Kindertaufe gekommen, wenn dies auch vielleicht aus Gründen geschah, die wir nicht zu den unsrigen machen würden. Es kommt nur darauf an, daß wir uns klar werden, was wir in der Kindertaufe suchen und in welchem Geiste wir sie üben. Jesus hat gesagt: «Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes» [Mt. 19,14]. Ich habe den Eindruck, als ob die richtig geübte Kindertaufe in gewisser Art unsere Antwort auf dieses Wort wäre. Wir wollen einmal von all den Gedanken, die man mit der Kindertaufe im Mittelalter und später verbunden hat, absehen, und es dahingestellt sein lassen, inwieweit sie den Moment der Wiedergeburt oder der Tilgung der Erbsünde im Kinde bedeuten könne, da wir wissen, daß diese Lehre von der Erbsünde, welche durch die Taufe außer Kraft gesetzt wird, nicht in den Gedanken desTäufers und vonJesus und Paulus lag, und wir uns unter Wiedergeburt, der Geburt zum geistigen Leben, etwas Bewußtes vorstellen, dassich in einem Kinde nicht vollziehen kann. Meint nicht, daß dann nur die äußere Form bleibt. Ich meine, wenn die alten Festungsmauern einer Stadt in den heutigen Tagen abgetragen werden, wird niemand sagen, die Stadt gehe zugrunde, sondern daß sie der Gefahr entgehe, in den alten Mauern zu ersticken. So müssen wir auch mittelalterliche Ideen, die sich um die Taufe gelegt haben, abtragen, damit wieder eine lebendige religiöse Auffassung der heiligen Handlung sich unter unserer Christenheit ausdehnen kann. Das Lebendige an der alten Taufe war derWille, den derTäufling mitbrachte. Das gab der Handlung ihre Weihe und ließ sie nicht zu einer einfachen Zeremonie werden. Das Kind hat keinen Willen. Aber wenn die Taufe einen Sinn haben soll, der dem der Alten entspricht, so muß die Gesinnung und derWille derer, die es hertragen, die Weihe und die Bedeutung der Taufe ausmachen. Wie sie beim Täufer das ausdrückte, wasdie, die herkamen, bekannten, so soll sie auch das wiedergeben, was die, die mit dem Kind kommen, glauben, hoffen und wollen – ohne dies ist die Taufe tot. Taufe ist ein Bekenntnis der Eltern und derer, die mit ihnen sind, und was sie für dieses Kind geloben. WasJesus für sie ist ... es im Geiste Jesu erziehen. Das Kostbarste ist, seinen Namen tragen.|24¡ Es muß etwas Übernatürliches in der Taufe geben. [Ich habe] mir [das] oft gesagt ... ohne daskommen wir nicht aus... ja. Aber waskann esÜbernatürlicheres geben, als daß Menschen ihr Kind dem Herrn weihen und [sich] im Gebet vereinen, um Gott zu bitten, daß er den Geist 24 [Nach stichwortartigen Ausführungen über Sündenvergebung als Möglichkeit, jederzeit ein neues Leben anfangen zu dürfen, folgt wieder ein ausgeführter Abschnitt.]

Herodes

undJohannes

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Christi in seinem Herzen wecke und alles, was sein Leben entweihen kann, von ihm fernhalte, es vor Verzweiflung bewahre ... und glauben, daß dies nicht vergebens ist, sondern daß dieWeihe dieser Stunde es in seinem Leben begleiten werde und um es sein werde als etwas Heiliges. Sagt, kann es etwas lebendiger Überirdisches geben als dies?|25¡

Morgenpredigt Sonntag, 10.Juli 1910,|26¡ St. Nicolai|27¡ «Willensstärke undWillensschwäche»

Mk. 6,17–

29|28¡:

Herodes undJohannes.

Wir wandten heute vor vierzehn Tagen unsern Blick auf den Prediger in der Wüste, der unserm Herrn voranging, und bedachten, was sein Vermächtnis, die Taufe, für uns bedeutet.|29¡ Soeben vernahmen wir den Abschnitt der Schrift, der sein Ende erzählt. Man wird immer wieder 25 [Der Schluß besteht aus Stichwörtern zum Patenamt und zur Rolle der Gemeinde bei derTaufe.] 26 [AS-HB, S. 293. 9. 7. 1910] «Gestern abend habe ich meine Predigt für Sonntag früh fertig gemacht, nachdem ich an der Orgel der Thomaskirche für das Konzert geübt hatte, das ich dort am 28. Juli zu Bachs Todestag gebe! Es ist so herrlich, die Predigt fertig zu haben. Morgen predige ich zum letzten Mal vor meinem Examen.» [Vom 15. Oktober bis zum 3. Dezember 1910, nicht 1911, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 122, machte Schweitzer dasmedizinische Staatsexamen. Siehe AS-HB, S. 299.] 27 [R] Angefangen im Zug nach Paris, 1. Juli 10. Reise zuWidor wegen der amerikanischen Ausgabe der Orgelwerke Bachs. 28 [Mk. 6,17–29: Er aber, Herodes, hatte ausgesandt undJohannes gegriffen und ins Gefängnis gelegt um der Herodias willen, seines Bruders Philippus Weib; denn er hatte sie gefreit. Johannes aber sprach zu Herodes: Es ist nicht recht, daß du deines Bruders Weib habest. Herodias aber stellte ihm nach und wollte ihn töten, und konnte nicht. Herodes aber fürchtete Johannes, denn er wußte, daß er ein frommer und heiliger Mann war; und verwahrte ihn und gehorchte ihm in vielen Sachen und hörte ihn gerne. Und es kamein gelegener Tag, daß Herodes auf seinen Jahrestag ein Abendmahl gab den Obersten und Hauptleuten und Vornehmsten in Galiläa. Da trat hinein die Tochter der Herodias und tanzte, und gefiel wohl dem Herodes und denen, die am Tische saßen. Da sprach der König zum Mägdlein: Bitte von mir, was du willst, ich will dir’s geben. Und schwur ihr einen Eid: Was du wirst von mir bitten, will ich dir geben, bis an die Hälfte meines Königreichs. Sie ging hinaus und sprach zu ihrer Mutter: Wassoll ich bitten? Die sprach: Das Haupt Johannes desTäufers. Und sie ging alsbald hinein mit Eile zum König, bat und sprach: Ich will, daß du mir gebest jetzt zur Stunde auf einer Schüssel das Haupt Johannes desTäufers. Der König war betrübt; doch um des Eides willen und derer, die am Tische saßen, wollte er sie nicht lassen eine Fehlbitte tun. Und alsbald schickte hin der König den Henker und hieß sein Haupt herbringen. Der ging hin und enthauptete ihn im Gefängnis und trug her sein Haupt auf einer Schüssel und gab’s dem Mägdlein, und dasMägdlein gab’s ihrer Mutter.] 29

[Siehe S. 1053, 26.06.10]

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Predigten

desJahres

1910

von neuem Grausen erfaßt, wenn man an diese Worte kommt. – Um eines Mägdleins willen, das nicht wußte, worum es bat, im Kerker enthauptet, da er wartete auf die, die er ausgesandt hatte, daß sie ihm Kunde brächten vonJesus! Wir wollen aber nicht bei dem Bilde stehenbleiben und von der Verwerflichkeit derer reden, die an diesem Blute schuldig sind, sondern auf das letzte Wesen dieses Geschehens zurückgehen, das allgemeinste desselben, was in allen Zeiten und allen Verhältnissen wiederkehrt, uns vorhalten. Es ist dies, daß ein willensstarker und ein willensschwacher Mensch nebeneinander stehen und das Schicksal des einen in die Hand desandern gelegt ist. Dasist’s, wasim Leben immer und immer wiederkehrt, was um euch geschieht, wo ihr leidend und handelnd darin-

steht. Entschlossen und unentschlossen – das bringt der Mensch mit auf dieWelt, sagt die gewöhnliche Beobachtung. Er macht sich nicht selber, er ist so – schon ehe er recht zur Einsicht kommt, und er kann sich nicht ändern, ebenso wenig er seine Gestalt wandeln kann! Dieser Wahrheit kann nicht widersprochen werden. Schon am Kinde siehst du es, was es wird. In seinem Benehmen gibt es sich kund, in seiner Schrift spiegelt es sich wider, ehe sie recht geformt ist. Wenn du die Menschen um dich herum ansiehst, mit denen dich eine Angelegenheit zusammenbringt, weißt du zum voraus, was sie tun werden. Es steht auf ihrem Gesicht und liegt in ihrem Auge, im Gang, in der Haltung ... Es ist geradezu erschreckend, sich sagen zu müssen, daß sie bestimmt sind, so zu handeln, und nicht anders können, je nachdem sie willensstark oder willensschwach sind. Von sich selber hat man dieses Gefühl am Anfang des Lebens nicht. Man meint, eine Ausnahme zu bilden und jedesmal aus freiem Entscheid zu verfahren. Aber wenn man im Leben weiter fortschreitet, wird einem nach und nach die Bestimmtheit des eigenen Wesens klar, und es kommt einem zu Bewußtsein, daß man entschlossen oder unentschlossen ist, und daß damit soundso viel in der ganzen Art unseres Seins gegeben ist. Ohne daß man es recht wollte, schaute man drei oder vier Episoden seines Lebens zusammen und wurde sich klar, daß man Gesetzen seiner Anlage folgte. Mit einer Art von Schrecken kam es dir zu Bewußtsein ... des Erschreckens nicht nur, daß du innerlich nicht so frei seist, als du glaubtest, und Gesetzen deines Wesens gehorchst, sondern weil es dir gewöhnlich zum ersten Mal offenbar wird in dem, worüber du Reue empfandest. Ich meine, wir leiden alle unter der Bestimmtheit unseres Wesens und sind uns darin gleich, daß derWillensstarke wie der Willensschwache fühlt, daß in seiner Anlage Gefahren gegeben sind, die ihn schlechtmachen, wenn er nicht darauf achtet. Hier mündet der Weg der natürlichen Erörterung ein in die Bahn der Religion. Daß du so geboren bist,

Herodes

undJohannes

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daran kannst du nichts ändern; aber eines kannst du und mußt du: Acht haben auf dich, daß du in den Versuchungen, die das Leben dir, weil du so bist, bringen muß, nicht zu Fall kommst. Die Gefahr der willensschwachen Menschen steht in erschreckender Deutlichkeit in unserer Geschichte. Sie können dahin geführt werden, daß sie, in ihrem eigenen Wesen gefangen, Dinge geschehen lassen, die einen Makel auf ihrem Leben zurücklassen, und daß Nachgiebigkeit und Menschenfurcht ihren Sinn verdunkeln, daß sie nicht mehr erkennen, was böse ist. Es braucht nicht, daß das Leben eines Menschen in deine Hand gelegt ist. Aber das Leben bringt auch den Kleinsten in die Lage, daß ihm eine Verantwortung zufällt und er sie erkennen und tragen muß. Man redet vor dir über einen Menschen, man reißt ihm seinen guten Namen ab; du weißt, daß es nicht wahr ist, was gesagt wird – oder daß man es übertreibt – du mußt reden – und wehe dir, wenn du ein Willensschwacher bist und aus Menschenfurcht schweigst. Du kannst dir nachher hundertmal einreden, daß es nichts genützt hätte und daß du vielleicht sogar sehr klug gehandelt hast, wenn du dich still verhieltest, um die Sache nicht zu verschlimmern. – Wenn du wagst, offen mit dir zu sein, muß es dir angst werden vor dir. Ein andermal heißt es für das Recht eines Menschen, für sein Fortkommen, für etwas, wovon seine Existenz abhängt, eintreten oder dafür, daß der Gerechtigkeit undWahrheit die Bahn aufgetan werde, daß etwas recht gemacht, daß der rechte Mann auf den rechten Platz komme. Du wirst hineingezogen. Wirst du stärker sein als deine Natur? Ist es wirklich so oder scheint es nur so: Man möchte fast meinen, wenn man sich umsieht, als ob die letzte Entscheidung über Menschen oder Dinge durch die Ereignisse viel öfters in die Hände der Willensschwachen als der Willensstarken gelegt sei und als ob darin ein Stück derTragik des täglichen Lebens liege. Und sie haben sich, weil sie immer wieder in dieselbe Lage kommen, ein System der Selbstverteidigung geschaffen, das sie in Aktion treten lassen, sowie sie ihrer Schwachheit unterlagen. Sie betäuben sich mit Sätzen, die sie fertig vorrätig in ihrem Sinn haben, und die ihnen immer wieder von den Verhältnissen, die stärker sind als wir, von der Verkettung der Umstände und allem möglichen reden, damit sie sich nicht sagen müssen, daß sie die Verantwortung sahen, ihr aber aus demWege gingen, nicht denken wollten, was geschähe und welches die Folgen wären, sondern nur, wie sie sich daraus ziehen könnten. Sicherlich hat auch Herodes anjenem Abend sich immer wieder vorgesagt, er habe die Hände gebunden gehabt und hätte nicht ahnen können, daß man sein gegebenes Wort so mißbrauchen und ihn damit fangen würde – wo er doch wußte, daß das alles nichts vermocht hätte,

1060

Predigten

desJahres 1910

wenn er den Mut zumWollen gehabt hätte, um diese Netze zu zerreißen, und daß er sich mehr vor dem, was die Gäste sagen würden, fürchtete als vor derVerantwortung über ein Leben. Die Gefahr aller Willensschwachen ist, daß sie nicht wissen wollen, daß nicht nur das, was du tust, deine Sünde ist, sondern auch das, was du geschehen lässest. Es steht nicht in den Zehn Geboten, und es lassen sich nicht viele Sprüche darüber in der Schrift finden, aber es ist doch so

furchtbar wahr. Im Täufer steht der willensstarke Mensch vor uns. Es ist aber nicht derWillensstarke, wie ihn die Natur schafft. Dieser trägt viele Gefahren in sich. Die eine ist, daß er hart wird gegen die Menschen. Es gibt Menschen, die ich mit Wonne anschaue. Ihr Wille wankt nicht. Es ist auf sie Verlaß in jeder Sache. Man wird sie nicht wankend machen, wenn sie sich eines Menschen oder irgendeiner Angelegenheit annehmen. Und zugleich muß ich mit Wehmut der Gelegenheiten gedenken, wo sie, indem sie unverrückt geradeaus gingen, nur an die Sache denkend, über die hinausschritten, die im Wege standen, und nicht dachten, wie es in ihnen aussehe und ob sie ihnen nicht wehe täten. Sie waren sich im Augenblick bewußt, ihre Pflicht zu tun und nicht anders zu können – und doch, wenn sie sich in die andern hineingedacht hätten, wären sie milder mit ihnen gewesen und doch zum Ziel gekommen. Der ist kein wahrer, im schönen Sinne willensstarker Mensch, der diese Kämpfe mit sich selbst nicht kennt und nicht nachher oft aufwachte aus der Sicherheit, mit der er seinen Weg ging, und Schmerz empfand, daß er nicht genug bedachte, was er den andern antat, und der nicht dazu kommt, daß er um des Schmerzes, den er andern antäte, willensschwach wird und die Aufgabe, die er vor sich sah, ruhen läßt oder anders in Angriff nimmt, als er es vorhatte. Ich meine, der Täufer hat etwas von dem erlebt, als er im Gefängnis saß und die Kunde derWorte Jesu zu ihm drang. Er hatte gewaltig geeifert und seinen mächtigen Willen in dasVolk hineingeworfen, daß er dort Angst vor dem Gericht und Entschluß zum Guten schaffe. Nun muß er erfahren, daß der Größere, auf den er hinwies, die Menschen nicht nur emporreißt, wie er es getan, sondern sich zu den Schwachen niederbeugt und die aufrichtet, die aus eigener Kraft nicht emporkommen können. Wenn mit dem Willen und der Energie in einem Menschen nicht dasTief-Menschliche in ihm wächst und er in einer für ihn fast quälendenWeise mitfühlend wird für das, was in den Menschen vorgeht, unter denen seine Energie ihre Wege und Pflichten sucht, und ihre Verantwortlichkeiten auf sich nimmt, geht er innerlich zugrund! Wer unter euch Mensch des Willens und der Tat ist, muß etwas von dieser Angst kennen und darf sie niemals loswerden. Es muß ihm sein, als müßte er gewärtig sein, daß Jesus einmal zu ihm träte und ihm in die Augen

Herodes

undJohannes

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schaute, bis er sie niederschlüge und der Herr zu ihm spräche: Was hast du deinem Bruder getan? – Denkst du nicht, was in der Schrift steht: «Das zerstoßene Rohr wird er nicht brechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen» (Jes. 42,3). So leben wir untereinander und sind aufeinander angewiesen. Darum sollen wir einer gegen den andern in den Fehlern, die aus dem Wesen

unserer Natur kommen, nachsichtig sein. Hast du Willensschwache um dich, sei nicht hart mit ihnen und bringe sie nicht unnötig in Versuchung. Das Leben wird ihnen schon oft genug Verantwortungen aufladen, denen sie nicht gewachsen sind. Du, erspar es ihnen, wo du kannst, und meine nicht, daß du vor dem Geiste Jesu gerechtfertigt bist, wenn duvon ihnen begehrtest, wassie nicht leisten konnten, und dich nun entrüstest, daß sie so schwach sind. Oft wirst du beschämt sein von den schönen Zügen in dem Wesen der willensschwachen Menschen. Johannes hatte den Herodes vor dem Volk verdammt. Herodes war schwach, und auf seinem Leben lag mancher Makel, aber er ist nicht rachsüchtig. Da er den Propheten in seiner Hand hat, sinnt er nicht darauf, wie er sich rächen könnte, sondern er gibt sich der natürlichen Ehrfurcht hin, die er für den großen und reinen Menschen empfindet, und kommt zu ihm, daß er seiner Rede lausche – «und gehorchte ihm in vielen Sachen», wie die Schrift sagt. Wer weiß, was geworden wäre, wenn nicht der Augenblick der Besinnungslosigkeit über ihn gekommen wäre, in dem er aus Menschenangst den preisgab, vor dem er sich in der Zelle des Gefängnisses

beugte?

So werdet ihr oft finden, daß schwache Menschen manchen schönen Zug an sich tragen, besser vergessen können als die starken und über Stolz und Haß und Rache in ihnen mehr vermögen als die andern. Und gegen die Willensstarken seid gerecht und nachsichtig, indem ihr sie nicht mit dem kleinen Maß meßt. Nennt nicht alles Herrschsucht, was man Herrschsucht heißt, sondern sagt euch, daß hinter dem, was äußerlich sich oft fast nur alsWille zum Befehlen und Unterwerfung desWillens der andern darstellt, viel Pflicht und Gefühl der Verantwortlichkeit wohnt für das, was geschehen muß, ohne daß sie es jedem erklären können – und daß sie das, was sie sollen, oft nur dann ausführen können, wenn man von ihnen glaubt, daß sie es aus reinem Pflichtgefühl und in Lauterkeit desHerzens tun. Vom Unfaßbaren und Unwägbaren, das sich zwischen Menschen hin und her spinnt, habe ich zu euch gesprochen, weil es mich in den letzten Jahren viel beschäftigt hat und ich bemerkt habe, wie die andern auch, die einen klarer, die anderen weniger deutlich, in dem «Willensstark undWillensschwach» eines der immer wiederkehrenden Probleme desAlltags erkennen. Es ist nichts im Alltag, wasnicht zur Religion gehörte und im Geiste Christi bedacht werden müßte.

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Predigten

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Es istJesu Wille, daß wir einander zu verstehen und zu tragen suchen. Wir vergessen es zuoft im Leben undschaffen zwischen [uns], wasnicht zum Guten und zum Frieden dient. Wir wollen mehr daran denken und einer des andern Last tragen, daß wir das Gesetz Christi erfüllen, wie derApostel sagt [Gal. 6,2].

XIV. Predigten desJahres 1911

Nachmittagspredigt Sonntag, 22. Januar 1911, St. Nicolai

Mk. 6,31: Lasset uns miteinander in eineWüste gehen und ruhet ein wenig

Gar manchen Sonntag haben die Glocken von St. Nicolai geklungen, und es war mir versagt, mich zu euch einzufinden, da ich fern von Straßburg sein mußte, um am Samstag und Sonntag mich in frischer Luft für die Woche zu erholen. Ich hörte sie aus der Ferne im Geiste; aber es schien mir, als sei es nicht wirklich Sonntag. Heute aber haben sie mir ins Herz gesungen. Da ich den Text suchte, um den wir unsere Gedanken miteinander sammeln könnten, fielen mir diebeiden Verse auf, dieich früher fast übersehen hatte. Sie handeln vom Augenblick in der Wirksamkeit unseres Herrn, wo die Jünger, dieer ausgesandt hatte, daß siedasEvangelium predigten, zu ihm zurückkehren. Mit ihnen kommt viel Volks. Sie drängen sich um den Heiland und die Seinen, fragen undwollen belehrt sein, also daß, wie esin der Schrift steht, sienicht Zeit genug hatten, zuessen. Er war gewiß erfreut über die Menschen mit ihrem Hunger und Durst nach dem Evangelium, aber da er es Tage und Wochen ausgehalten hat, spricht er zu den Seinen: «Laßt uns für uns allein in eine einsame Gegend gehen und ruhet ein wenig.» Wenn unser Herr sagt «ruhen», meint er nicht nur die körperliche Erholung, deren er bedarf, sondern das geistige Ausruhen mit ihnen, das Feiern.

Es ist mir, als ob das Leben den einen oder den andern besonders führt, damit er einen Gedanken, der in der Zeit liegt, in besonderer und intensiver Weise erleben und denken muß, um ihn aussprechen zu können. Hinter mir liegen fünf Jahre, in denen ich, um neben meinen Ämtern die ärztliche Kunst, deren ich für die Zukunft bedarf, zu erlernen, an Arbeit und Zeit dasletzte, wasich vermochte, hergeben mußte. Manchmal kann ich selber nicht fassen, daß mir die Kraft verliehen wurde, es durchzuhalten. Es war mir, als verstände ich unsere Zeit besser und hörte ihre Stimme deutlicher, da ich ein Sklave der Arbeit war; denn sie ist eine Zeit derArbeit wie keine zuvor. Darin liegt viel Großes und Schönes, aber auch eine Gefahr ist damit gegeben.

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Predigten

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Sie kommt aus den Bedürfnissen, die die rastlose Arbeit weckt. Was uns an den Menschen unserer Zeit beängstigt, ist ihre Sucht nach Zerstreuung. Ein Kinematograph nach dem andern wird eingerichtet, einer luxuriöser als der andere; Vergnügungslokale werden immer neue gegründet, undjedes findet sein Publikum; an den Abenden drängen sie sich in den Wirtschaften zusammen und hören einem Musikautomaten zu oder lassen sich von einem Phonographen anschreien. Sie fühlen dasBedürfnis nach Erholung und befriedigen es in der Zerstreuung oder im rein körperlichen Ausruhen. Beides muß der Mensch haben, beides sei ihm gegönnt in der rechten Art. Aber es ist nur dasniederere Ausruhen, denn der Geist wird dabei nicht erquickt. Darüber hinaus gibt es ein höheres, dasRuhen, dasJesus meint, da er zu seinen Jüngern spricht: Laßt uns miteinander in die Stille gehen. Dieses Ruhen ist Feiern, es besteht im Sammeln und Erheben des Geistes mit andern Menschen. Wer dieses nicht kennt, ist nie ausgeruht. Sein Geist bleibt matt und müd, und seine inneren Lebenskräfte werden nicht gestärkt. In diesen Jahren habe ich die körperliche Müdigkeit und Abgespanntheit so kennen gelernt, daß ich sagen kann: Ich weiß, was es ist. Auch dies ungestillte Bedürfnis nach Zerstreuung habe ich ausgekostet, da ich fast meine, die Bücher, die ich zur Unterhaltung lesen durfte, und die größeren Spaziergänge in die freie Natur, die ich mir gestatten konnte, zählen zu können. Aber am meisten litt ich darunter, daß der Feierstunden mit Menschen zu wenige waren. Ich fühlte, daß man ohne sie nicht leben kann, und daß, was den Menschen aufrecht erhält und wirklich arbeitsfähig macht, ausihnen kommt. Und es kam mich ein tiefes Mitleid mit so vielen Menschen an, die auch Sklaven der Arbeit waren, daß sie das wahre Ausruhen nicht kannten, und es schien mir, als gehöre es zumTraurigsten in unserer Zeit, daß sie die Sehnsucht nach dem Feiern verloren hat, und alswürde so vieles, was an ihr schwach ist, dadurch erklärt, daß sie die Kraft nicht da sucht, wo sie zu finden ist.¦1¿ Nie habe ich es so gefühlt wie jetzt, daß unser erster Gedanke, wenn wir am Sonntag erwachen, in Dank zu Gott für Sonntag und Glockenklang bestehen sollte, nicht nur Dank für den Ruhetag, sondern für das Feierliche, das darüber liegt, darum, daß wir begnadet sind, uns im Gotteshause zusammenfinden zu dürfen. Ich meine, jetzt erst wirklich zu begreifen, was ich bisher als etwas Selbstverständliches, mehr unbewußt, genoß, daß wir in diesem Raume miteinander Lieder singen, die von Seele zu Seele gehen, und miteinanderbeten um dasReich Gottes in derWelt undin unsern Herzen. Gerade in der Zeit, die die Stätte der Sammlung mehr brauchte als eine andere, weil sie mehr Arbeit leisten muß, werden die Gotteshäuser mehr und mehr verlassen. Die Gründe sind mannigfach; man könnte 1 [R] Beschäftigung mit den höchsten Dingen, Versenkung in Gott.

Lasset uns miteinander

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dies und jenes anführen, um Besserung zu schaffen. Aber es kommt wohl eine Zeit, da sie wissen wird, was zu ihrem Frieden dient und die Sehnsucht in ihr wieder aufsteigt, feiernd zu ruhen. Wenn wir diese Sehnsucht behalten haben, so danken wir es denen, die sie uns ins Herz legten, als wir heranwuchsen. Die Sehnsucht nach dem Feiern ist wie eine Pflanze, die gesetzt und begossen werden muß, bis sie in dem reifen Menschen Wurzel gefaßt hat und über ihn hinaus zum Baume wächst, der ihm Schatten gibt. Bei vielen Menschen verdorrt sie aber, weil niemand da war, der ihrer wartete, als der Mensch heranwuchs und noch nicht wußte, wie kostbar sie sei und wie seine Lebenskraft davon abhänge, daß sie in ihm wach bliebe.¦2¿ Ich meine, wir alle müssen im Geschlecht, das heranwächst, diese Sehnsucht wecken und lebendig halten. Wir haben ihnen etwas zu geben, indem wir ihnen anerziehen, daß der Sonntag wieder etwas anderes für sie wird als der Ausruhetag von den Vereinsfestlichkeiten des Samstagabends und auch nicht allein Tag für Ausflug und Sport, sondern stiller Tag, Feiertag, und daß die Kirche etwas anderes für sie wird als der Ort, wo man einen Prediger hört, der mehr oder weniger gefällt, sondern daß es die Stätte ist, wo die Menschen, die an das Reich Gottes glauben und es in ihrem Leben verwirklichen wollen, sich zusammenfinden, um sich miteinander in Danken und Beten zu stärken und Zuversicht zum Leben zu finden. Aber ihr wißt mit mir, daß, wenn die Sonne des Sonntags über die ganze Woche leuchten soll, wir auch Feierstunden an den Werktagen suchen müssen – und nicht nur Stunden, wo wir mit uns allein sind, sondern wo wir mit den Menschen, die in unserm Hause sind, feiern. Kommt es euch nicht manchmal vor, daß ihr die, die euch am liebsten sind, anschauen müßt und bei euch selber erstaunt und sagt, daß ihr ja nichts oder fast nichts voneinander habt, als daß ihr miteinander und nebeneinander in derselben Geschäftigkeit einherhastet? Ihr besprecht eigentlich nur das miteinander, was das tägliche Leben so mit sich bringt, aber das, was euch innerlich bewegt, was euer Leben ausmacht, was euch eint, bleibt unausgesprochen. Es ist ja wunderbar, wie Gedanken zwischen Menschen leben und lebend bleiben, ohne daß sie es viel nötig hätten, Worte zu finden. Und doch wird es euch schon manchmal vorgekommen sein, daß ihr eines zum andern das Bedürfnis gehabt hättet, von andern als von den gewöhnlichen Dingen zu reden, euch wieder einmal von ganz nahem zu sehen und zu hören und sich eines am andern zu erquicken, und es kam nicht dazu. Es war nicht, daß ihr nicht Zeit gefunden hättet, es war nur, daß einer es dem andern sagte und die halbe Stunde oder die Stunde aus den andern herausgriff und sagte: Die soll uns gehören, und 2 [R] Tragt Sehnsucht unter andere!

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daß man darauf zu Hause blieb, wenn man ausgehen wollte, oder die Zeitung und dasBuch, die man schon zur Hand genommen hatte, wieder hinlegte oder sich besann, daß für etwas, das man gerade hätte tun wollen, ein andermal auch noch Zeit sei, oder zum andern sagte: Komm, laß uns an die Sonne gehen, sie scheint so schön! Es ist etwas Merkwürdiges um diese Stunden, wo du mit denen unter deinem Dache oder mit andern, die dir nahe sind, feiern sollst. Sie lassen sich gewöhnlich nicht zum voraus bestellen und festlegen, sondern sie ziehen im Strome der andern einher. Ein Ahnen, ein Gefühl sagt dir, daß sie dasind. Bedenk dich nicht zulang, frag dich nicht, ob der andere oder die andern dasselbe empfinden und dich verstehen werden, sondern lade sie zum Ruhen ein, laß die inneren Gedanken und das innere Leben Worte finden, sonst geht die Stunde vorüber und du kannst sie nicht mehr zurückholen. Und wenn du es wagst, wirst du es fast immer erleben, daß die andern dich gleich verstehen und dir dankbar sind. Und oft wirst du sehen, wie glücklich sie sind, daß du dasBoot vom Strande abstießest und mit ihnen auf die stille See fuhrst, und ausgeruht werdet ihr euch miteinander wieder in derArbeit finden und erstaunen, daß ihr in so kurzer Zeit so erquickt wurdet – und euch aneinander aufrichtetet. So wollen wir dasWort Jesu, da er mitten in der Geschäftigkeit die Seinen einlädt, mit ihm in der Stille eine Feierstunde zu halten, als an uns Menschen des Zeitalters derArbeit gesprochen ansehen und danach tun, um die Unsrigen und uns in der wahren Arbeitsfreudigkeit und Arbeitsfrische zu erhalten, die aus der Erquickung und Erhebung kommt, die der Geist beim Geiste sucht, wo sich das erfüllt, daß, wo zwei oder drei in seinem Namen beisammen sind, er mitten unter ihnen ist [Mt. 18,20].

Morgenpredigt Sonntag, 29. Januar 1911, [St. Nicolai]¦3¿

Mt. 2,10 f.: [Die Weisen ausdem Morgenland]¦4¿ Als ich ein Kind war, konnte ich nicht begreifen, warum die Eltern Jesu noch arm waren, als sie die Schätze der Weisen aus Morgenland empfangen hatten. Auch wurde ich denVorwurf gegen diese nicht los, 3 [Nach den Angaben im Kirchenboten hielt Schweitzer die Morgenpredigt in St. Nicolai.]

4 [Da sie den Stern sahen, wurden sie hoch erfreut und gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe.]

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daß sie sich später um den Herrn nicht mehr bekümmert haben, sondern ihn in der Macht derJuden und desPilatus ließen.¦5¿ Später erfuhr ich, daß diese Erzählung noch manches an sich hat, das schwer zu begreifen ist. Wer kann sich einen Stern vorstellen, der vor Menschen herzieht und dann sichtbar über einem Hause stehen bleibt? Wer waren die Könige? Woher kamen sie? Diese Fragen habt ihr auch wohl schon bei euch selbst erwogen. Sie haben sicherlich die meisten von euch veranlaßt, diese Geschichte nicht mehr als ein wirkliches Geschehnis aufzufassen, sondern als eine Erzählung, mit der fromme Christen aus der ersten Gemeinde die unbekannte, erste Lebenszeit un-

seres Heilandes ausschmückten. Ihr wißt, daß in der alten Zeit die Menschen ihren Gedanken in Gleichnissen und Erzählungen anschauliche Form gaben, und daß Wirklichkeit und Bild für sie zusammenflossen wie Himmel und Meer. So stellten sie sich vor, daß, weil Jesus der Herr ist, dieWelt in der Person geheimnisvoller Könige undWeisen, die aus fernem Land kamen, ihm schon ihre Ehrfurcht erwies, als er noch Kind war. Wenn wir auch wissen, daß der Erzählung wohl keine Wirklichkeit zugrunde liegt, so ergreift sie uns immer wieder aufs neue durch ihre Idee. Ich begleitete vor einigen Monaten die herrliche Musik, die der fromme Meister J. S. Bach zurWeihnachtserzählung gesetzt hat. Als der Sänger an dieWorte kam: «Und sie breiteten ihre Schätze aus...», wurde ich so bewegt, daß ich kaum mehr weiterspielen konnte, und mußte fortwährend denken, wie es wäre, wenn diese Worte an unserer Zeit

wahr würden. Macht und Wissen treten in den Königen aus Morgenland vor den Herrn. Unsere Zeit ist Macht und Wissen. Die zwanzig Jahrhunderte, die seit dem Auftreten Jesu vergangen sind, haben Fortschritte, Errungenschaften und Kenntnisse gebracht, von denen man zujener Zeit nichts ahnen konnte. Wir haben geordnete Verhältnisse, rechtliche Gleichstellung der Menschen, Unterricht für alle, Wissenschaft, und durch sie Herrschaft über die Kräfte der Natur, und das Vermögen, Krankheit und Schmerz zu wehren, wie es keinem Geschlecht vor uns gegeben war. Gold, Weihrauch und Myrrhe der Könige aus Morgenland sind nur ein mattes Gleichnis des Reichtums, den die Errungen5 [A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in Werke Bd. I, S. 265:] «Als ich acht Jahre alt war, gab mir mein Vater, auf meine Bitten, ein Neues Testament, in dem ich eifrig las. Zu den Geschichten, die mich am meisten beschäftigten, gehörte die von den Weisen aus dem Morgenland. Was haben die Eltern Jesu mit dem Gold und den Kostbarkeiten gemacht, die sie von diesen Männern bekamen? fragte ich mich. Wie konnten sie nachher wieder arm sein? Ganz unbegreiflich war mir, dass die Weisen aus dem Morgenland sich später um dasJesuskind gar nicht mehr bekümmerten. Auch daß von den Hirten zu Bethlehem nicht erzählt wird, sie seien nachher Jünger Jesu geworden, gab mir schweren Anstoß.»

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schaften unserer Zeit darstellen. Wie viel hat sie dem Herrn davon dargebracht? Ich meine diese Darbringung nicht so, wie man sie in der christlichen Religion so oft aufgefaßt und verlangt hat, da man meinte, unser Staat, unsere gesetzlichen Einrichtungen, unsere Fürsorge für Menschen, unsere Wissenschaft und unsere Kultur müßten mit dem Stempel des Christentums versehen werden und was davon dieses Zeichen nicht annehme, sei schlecht. Das ist ein katholisches Ideal und führt zur Veräußerlichung und zum Auseinandergehen von christlichem und modernem Geist. Es stände besser um die Religion und um unsere Zeit, wenn diese Forderung nicht durch Jahrhunderte hindurch erhoben worden wäre und sich noch in unserer Zeit als christlich ausgäbe und durch die Herrschsucht, mit der sie sich breit macht, Mißtrauen undWiderwillen säte. Als freie Menschen kommen dieWeisen ausMorgenland zum Herrn; so soll auch eine freie Menschheit, nicht eine, die knechtischen Geist hat [Röm. 8,15], die Schätze ihrer Errungenschaften dem Herrn darbringen. Zu diesem Mißverständnis, das zur Entfremdung zwischen Jesus und unserer Welt führte, kam noch die Gefahr, die der Reichtum auf jedem Gebiete mit sich bringt. Man erlebt es oft, daß die, die schnell zuVermögen gekommen sind, durch die neuen Verhältnisse geblendet sind. Sie tun mit ihrem Gelde groß und meinen, vornehm leben und glücklich sein bestehe darin, daß man überall seinen Reichtum hervorkehre und auf sein Geld poche. In Wirklichkeit sind es Emporkömmlinge, die in ihrem Großtun ihre frühere, niedere Lebensstellung noch überall herumschleppen, und denen derjenige, der im Reichtum aufgewachsen ist und dem Luxus etwas von Jugend auf Gewohntes und Selbstverständliches ist, lächelnd aus dem Wege geht, weil er über dem Gelde steht und weiß, daß es das Glück nicht ausmacht und daß die wahre Vornehmheit in der Rückkehr zur Einfachheit liegt. So ist unsere Zeit mit ihrem Wissen und Können ein Emporkömmling. Sie ist noch nicht nüchtern geworden und meint, sie habe alles, was zum Glück gehört, und brauche nichts. Aus ihren Büchern spricht

ihr Sinn. Vor einer Reihe vonJahren ließ einer der größten Vertreter der Naturwissenschaften, ein Mann, dessen Namen jeder, der nur einmal in die Wunderwelt des Mikroskops geblickt hat, mit Ehrfurcht nennen muß, ein Buch mit dem Titel «Welträtsel» ausgeben. In Tausenden von Exemplaren wurde es verbreitet; nach dem, was man davon sagte und nach der Angst, die manche Vertreter des Christentums an den Tag legten, hätte man meinen sollen, es brächte den Menschen ein neues Evangelium. Die aber, die es ohne Voreingenommenheit und in Kenntnis der sonstigen Leistungen dieses Naturforschers lassen und gedachten, För-

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derung darin zu finden, kamen aus dem Erstaunen nicht heraus, daß ein so großer Gelehrter ein so flaches Gerede tat. Mir kam es vor, als hätte ein guter Möbelschreiner, weil ihm Schränke und Kommoden artig von der Hand gingen, sich plötzlich für einen großen Baumeister angesehen, dem auch ein Bau wie das Straßburger Münster geraten müsse.

Seither ist mir manches Buch ähnlicher Art durch die Hände gegangen, und ich habe gesehen, daß die meisten von heutzutage noch ebenso anspruchsvoll sind wie jenes. Denselben Eindruck hatte ich bei mir in Vorträgen und mündlichen Unterredungen. Ein Schwan, der auf dem Teich seine Kreise zieht, ist ein herrliches Geschöpf. Aber wenn er ans Land kommt, ist er ein ungeschickter, plumper Vogel, der fast nicht vorwärts kommt. So ist es mir mit denen, die gelehrt sind und viel können, oft ergangen. Wenn ich sie auf ihrem besonderen Gebiet sah, war ich voller Bewunderung. Wenn sie dann aber in Schrift oder Wort sich über die Dinge äußerten, die die Rätsel von Welt, Menschheit und Leben betrafen, das, was jeden Menschen innerlich beschäftigt, wo es heißt, denken, innerlich fühlen, war ich manchmal fassungslos, zu bemerken, wie leicht sie sich zufrieden gaben, wenn nur ein paar gelehrte Worte hingeworfen wurden, so daß ich mich manchmal fast fragen mußte, ob Wissenschaft und Nachdenken sich ausschließen, da ich bei fünfzehnjährigen Knaben manchmal mehr Nachdenken gefunden habe als bei Gelehrten, die einen Namen hatten. Ihr wißt, daß ich ein Bewunderer der Wissenschaft bin und die engherzige Frömmigkeit nicht mag, die sie herabsetzt, weil sie Angst vor ihr hat.¦6¿ Und wie weit hat denn ihr Wissen und ihre Macht unsere Menschheit gebracht? Sie ist lange nicht so weit, als man annehmen sollte. Es fehlt überall der große Zug. Die Weltgeschichte unserer Tage ist eine öde Zänkerei zwischen denVölkern. Es wird um Hafenstädte, Bahnbauten, Handelsvorrechte, Besitz von Bergwerken gestritten, alles Dinge, die mit den Zielen der Menschheit nichts zu tun haben. Die Vorurteile zwischen den Nationen sind nicht kleiner, sondern größer geworden. Daran ändern alle Reden undVerbrüderungsbankette nichts. Das innere Leben der Staaten ist Parteigezänk und Feilschen um die erdrückenden 6 [A. Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, in: Werke Bd. I, S. 119:] «So berauscht ich von dem Umgang mit dem Feststellbar-Wirklichen war, so lagen mir doch Stimmungen der Geringschätzung der Geisteswissenschaften fern, wie sie andere in der gleichen Lage überkamen. Im Gegenteil. Durch die Beschäftigung mit Chemie, Physik, Zoologie, Botanik und Physiologie wurde mir noch stärker als vorher bewußt, in welchem Maße die Denk-Wahrheit neben dereinfach festgestellten berechtigt undnotwendig ist. Wohl haftet der in einem schöpferischen geistigen Akt zustande kommenden Erkenntnis naturgemäß etwas Subjektives an. Zugleich aber ist sie höherer Art als die rein tatsächliche.»

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Predigten

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Steuern, die zur Erhaltung der Machtstellung des betreffenden Volkes, wenn man den beschwörenden Worten der betreffenden Minister (des betreffenden Volkes) glaubt, allein die Freundschaft mit den Freunden aufrecht erhalte und die Feindschaft der Feinde niederhalten könne. Unsere Jugend ist ärmer an Ernst und Idealen als es zu sonst einer Zeit der Fall war. Mir wird es manchmal weh ums Herz, wenn ich im Gespräch mit jungen Menschen bemerke, wie niedrig sie ihren Flug eigentlich richten, und wie dürftig und banal ihre Gedanken sind. Es lebt kein Sehnen und kein Streben mehr in ihnen. Ein gutes Auskommen, der Kinematograph, die Woche, ihre Zeitung und Unterhaltung, die vergnügt und zerstreut: Damit sind sie befriedigt. Und noch ein Zeichen der Zeit: der Aberglaube. Spiritismus und Wünschelrute werden nicht verlacht, sondern man hört Vorträge und liest Bücher, sich darüber belehren zu lassen, und vernünftige Leute sagen: Es muß doch etwas Wahres daran sein. Im Herbst kaufte ich eine bekannte Zeitung aus einer der größten Städte Europas. Darin standen, fein unter eine Rubrik gebracht, die Anzeigen von etwa zwölf Wahrsagern und Wahrsagerinnen, daß sie aus den Ferien zurück seien und ihre Tätigkeit wieder aufnähmen. Da ich die Stadt kenne, ersah ich aus den angegebenen Adressen, daß sie alle in denvornehmen Vierteln wohnen, also keine schlechten Geschäfte machen. Schon mehr denn einmal ist es mir geschehen, daß ich für Bekannte erröten mußte, denen es entfuhr, daß sie, um Freunde zu begleiten oder um der Neugierde willen, mit solchen Menschen zu tun hatten. Wenn es so weiter geht, kommt der Prediger des lichtvollen zwanzigsten Jahrhunderts wieder in die Lage der Propheten des alten Bundes, daß er gegen Wahrsagerei und Zauberei predigen muß. Das ist unsere Zeit, eine Zeit innerer Armut, geistigen Niedergangs, eine Zeit ohne wirkliche Aufklärung, ohne jeden innerlichen Schwung. Ihr fühlt mit mir, daß das nicht pessimistisches Gerede, sondern wirkliche Beobachtung ist. Das, was wir miteinander erleben, geht alles in den Satz, daß alles Wissen und alles Können, und wenn es bis an den Himmel reichte, einer Zeit nichts hilft, wenn der Geist fehlt! Der Geist aber kommt nicht aus dem Wissen und aus dem Können, sondern von denen, dieTräger desGeistes sind undderMenschheit denWegweisen. Man redet vom Geiste einer Armee. Was ist er? Eine Zuversicht, ein Wollen, ein Hoffen, dasvon den Führern ausging und sich den Soldaten mitteilt und sie über Müdigkeit, Entbehrung, Angst vor Schmerz und Tod hinaushebt und vorwärts treibt, einem Ziele zu. Und dieser Geist macht aus dem armen einzelnen Menschen einen starken, tapferen Soldaten, der sich ohne Murren in alles schickt. Die Menschheit ist eine Armee, die auf dem Marsche zu einem großen Ziele ist. Den Geist, der sie vorwärts bringt, können ihr nur einhauchen solche, die Führer sind. Führer sein heißt gebieten und erheben durch das,

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was man an Wollen und Hoffen, an Zukunftsglauben für die Menschheit und den einzelnen in sich trägt. Das kommt nicht aus derWeisheit, sondern das ist da. Könige werden geboren, auch die geistigen Könige werden geboren. Zwei Dinge gehen nebeneinander her: begreifen, was ist, wollen, was sein soll. Das zweite ist das Höhere und bestimmt die Geschicke der Welt und denWert einer Zeit. Ihr habt nie gehört, daß man die, die die Geschichte der Völker am besten studiert haben, zu Lenkern der Staaten beruft; man läßt sie ruhig bei ihren Büchern. Zum Regieren gehört mehr als Kenntnis der Vergangenheit, nämlich klarer und großer Wille. Darum sind nicht die dazu berufen, eine Weltanschauung zu schaffen, die die Vergangenheit des Weltalls und die Gesetze, nach denen sich die Vorgänge in ihm abspielen, studiert haben und in diesem unermeßlichen Buch lesen, sondern die, welche fühlen, was im Menschenherzen vorgeht, die die Kräfte in ihm wecken können und wollen, was ausder Menschheit werden soll. Jesus war ein Ungelehrter, auch für seine Zeit ungelehrt. Es gab eine Zeit, wo man sich dies nicht einzugestehen wagte und annehmen wollte, er habe in Wirklichkeit dasWissen aller Zeiten – auch die Erkenntnisse der unsrigen – besessen und sie nur nicht ausgesprochen, weil seine Zeitgenossen sie nicht verstanden hätten. In Wirklichkeit aber hat er ebensowenig wie einer von denen, die mit ihm zusammenkamen, geahnt, was für einen Aufschwung dasWissen und das Können derWelt einst nehmen würde. Er hat nur das eine gesehen, was über allem Wissen liegt, was aus dem Menschen und der Menschheit geistig werden sollte. Das hat er ausgesprochen in Worten, die nie überboten werden können und von denen ein Geist ausgeht, in welchem jede Menschenseele, die für sich und die Menschheit ein Sehnen nach einem «Höher-Hinauf» kennt, still und froh wird und weiß, daß der wahre Reichtum und das wahre Wissen darin besteht, etwas von dem zu erleben, wasin jenen Worten steht, und etwas an der Arbeit mitzuarbeiten, die sie allen kommenden Zeiten vorgezeichnet haben. Jetzt ist unsere Zeit noch trunken und stolz von ihrem Wissen. Sie meint, reich zu sein, und weiß nicht, daß Wissen und Können nicht an sich Reichtum sind, sondern nur Geist. Unter denen aus den Gelehrten, die mit lauter Stimme ihre Weltanschauung unter die Masse werfen, ist keiner, derjenen schlichten Großen, den König derWelt, über sich fühlt und das, was aus seinen Worten ausgeht, verspürt. Sie herrschen in dem Reiche ihres Wissens und Könnens und nehmen die Ehre an, die man ihnen darbringt, und meinen wie manche Könige aus Aufgang und Niedergang, von denen uns die Reisenden erzählen, ihr Reich sei die Welt, wo es nur ein Stückchen der Erde ist, und sind nicht wie die Weisen aus Morgenland, die aus ihren Reichen zogen und dieWelt durch-

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maßen, um dem Licht nachzugehen, das sie zum König derWelt führen sollte, und die erst glücklich und reich waren, als sie das Kostbarste aus ihren Ländern ihm zu Füßen legen durften. Aber wir glauben, daß eine Zeit kommen wird, wo unsere Welt in ihrem Wissen und Können sich arm fühlen wird und wo das Gefühl, daß es mit unserer Menschheit bei all ihren Errungenschaften geistig nicht voran, sondern rückwärts geht – waswir heute noch kaum auszusprechen wagen – wie eine Erkenntnis über die, welche den Völkern Weltanschauungen schaffen wollen, kommen wird, und daß sie dann suchen werden nach einem Geiste, der dieWelt vorwärts bringt und das vermag, wasihnen nicht gegeben ist. Und wenn dieses Suchen über sie kommt, das Suchen nach dem Geiste, können sie nicht anders als den Weg finden, dies Licht wird sie führen zum Herrn des Geistes, zu dem, der über Wissen und Können steht, der Mensch ist – in dem tiefen Sinn wie keiner vor ihm und keiner nach ihm. Sind wir nicht Träumer? Wir leben in einer Zeit, wo ein Christentum, das Christi Geist nicht hat, alles was Wissen und Errungenschaft unserer Zeit ist, unter sich beugen und mit seinem Stempel zeichnen möchte, und wo andererseits Wissen und Können sagen: Wir schaffen dieWelt neu, von uns kommt dasEvangelium, und achtlos anJesus vorübergehen. Und in dieser Zeit denken wir miteinander den Gedanken, daß ein neuer Tag anbrechen wird, da die Zeit des Wissens und Könnens und Jesus sich finden werden, nicht in der knechtischen Art, wie man es sich früher vorstellte, sondern schriftgemäß nach dem wundervollen Bild, dasder Evangelist vor uns entrollt, als Könige, die zum König kommen, und als Freie ihm ihre Schätze zu Füßen legen. Aber wir nennen das nicht träumen, sondern glauben, und wissen, daß alles Große in derWelt, ehe es geschah, geglaubt werden muß, und daß der Glaube die Kraft ist, die es herbeizieht.

Nachmittagspredigt Sonntag, 5. Februar

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I Thess. 5,21: Prüfet alles In der Predigt vom Morgengottesdienst des letzten Sonntags war von denWeisen ausMorgenland, die dasJesuskind besuchten, die Rede, und ich mußte mich zur Frage aussprechen, ob wir diese Erzählung für ge7 [Am Sonntag abend beschreibt Albert Schweitzer Helene Bresslau in einem Brief den Tagesablauf. Darin heißt es unter anderm:] «Mittagessen ... Gepredigt, frisch und ausgeruht; es ging gut.» [Zentralarchiv Günsbach.]

Prüfet alles

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schehene Wirklichkeit halten oder nur für eine Erzählung, die unter den ersten Christen in Umlauf war und so in das neue Testament gekommen ist.¦8¿ Ich zeigte euch vielerlei Unwahrscheinliches in ihr und fragte, wie es möglich sei, daß ein Stern den Menschen einen Weg zeige, ein Haus kenntlich machen könne, wieso dieWeisen sich nachher nicht mehr um das Kind gekümmert haben und in dem späteren Auftreten Jesu niemals darauf Bezug genommen wird, daß die Könige aus Morgenland schon auf seine große Würde hingewiesen haben. Ihr wißt, daß viele Gründe dafür sprechen, daß nicht nur diese schöne Erzählung, sondern überhaupt alle diejenigen, die die Geburt und Kindheit Jesu betreffen, nicht unanfechtbare Wirklichkeit darstellen; und zwar ergibt sich das nicht aus gelehrten Einwänden, sondern aus Überlegungen, diejeder denkende Leser bei sich machen muß. Ich führe sie nur ganz kurz an. Die beiden in Betracht kommenden Evangelien Matthäus und Lukas stimmen in vielen Punkten nicht überein. Sie wollen die Abstammung Jesu von David beweisen; aber die Stammbäume, die sie anführen, sind verschieden. Der Evangelist Matthäus erzählt nichts von der Schätzung, die die Eltern Jesu zwang, von Nazareth nach Bethlehem zu ziehen, sondern nimmt an, daß Maria undJoseph von jeher dort wohnten und nur später, nach der Rückkehr aus Ägyptenland, nach Nazareth gezogen seien, um ihr Kind vor den Nachstellungen des Nachfolgers des Herodes sicher zu stellen. Bei dem Evangelisten Lukas wohnen sie von Anfang an in Nazareth, gehen nach Bethlehem, um sich schätzen zu lassen, und kehren, nachdem Jesus dort geboren ist, nach Nazareth zurück. Ferner ist zu bemerken, daß wir von einer Volkszählung unter Kaiser Augustus, bei der jedermann sich in den Ort, wo er geboren war, begeben mußte, nichts wissen, obwohl wir über seine Regierung gut unterrichtet sind; und was wäre das für eine Völkerwanderung gewesen! Man stelle sich vor, wasdasheißen wollte, daßjeder gehalten sein sollte, sich dort zählen zu lassen, wo er geboren war. Ebensowenig können wir uns vorstellen, daß der König Herodes alle Kinder Bethlehems, die unter zwei Jahre alt waren, töten ließ, das hätte einen Aufruhr gegeben, von dem uns irgendein Geschichtsschreiberjener Zeit etwas berichtet hätte! Wie sollen wir es mit unsern Vorstellungen vereinen, daß der Himmel sich über den Hirten auftat und Engel ihnen in Menschensprache die Geburt des Kindes anzeigten? Zu dem allem kommt, daß, wo doch später die Leute sich über Jesus streiten und ihn fragen, wieso er dazu komme, sich für einen Sendling Gottes anzusehen, niemals auf diese Ereignisse seiner Kinderzeit zurückgegriffen wird, die nicht hätten unbekannt bleiben können. Wer 8

[Siehe

S.

1066. 29.01.11.]

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die Evangelien liest, wo sie über die Tätigkeit des Herrn berichten, hat den Eindruck, daßJesus mit dreißig Jahren, als er zuJohannes dem Täufer kam, zum ersten Mal ausderVerborgenheit heraustrat. Entscheidend ist für mich, daß der älteste Evangelist, Markus, mit seinem Berichte eben mit der Taufe Jesu einsetzt und von der Geburt und Kindheit desHerrn nichts erzählt. Ich glaube also, daß wir uns immer mehr mit dem Gedanken abfinden müssen, daß das, was zwei unserer Evangelien, Matthäus und Lukas, über die Geburt und Kindheit Jesu berichten, nicht wirkliche Geschichte ist. Das bedeutet etwas sehr Schweres für uns. Deswegen wollte ich, daß wir es, wo die weihnächtliche Zeit für uns versinkt, miteinander überdenken, damit ihr euch selber und andern Rechenschaft geben könnt. Die Evangelien sind für uns das Fundament der Überlieferung, von welcher unsere Religion ausgeht. Wir möchten daher, daß jedes Wort, jeder Buchstabe darin felsenfest stände; statt dessen müssen wir uns, wenn wir mit uns selber ehrlich sein wollen, gestehen, daß Erzählungen, die nicht strenge Geschichte enthalten, hineingekommen sind. Es gibt Menschen, die schließen daraus, daß es auch mit der Wirklichkeit der übrigen Erzählungen zweifelhaft stände. Andere hinwiederum wollen uns zwingen, diese Erzählungen, gegen die wir Bedenken haben, dennoch gegen die bessere Einsicht als wahr anzunehmen, damit man den Evangelien nichts vorwerfen könne. Das eine ist so falsch wie das andere. Als wahrhaftige Menschen beugen wir uns derWirklichkeit und wissen, daß das Fundament der Religion nicht erschüttert wird, wenn wir zugeben, daß über die Geburt und Kindheit unseres Herrn Berichte in die Evangelien aufgenommen wurden, die wir nicht mehr als wirklich anerkennen. Das, was uns schwer wird, muß aus der Zeit, in der die Evangelien ihre endgültige Form empfingen, erklärt werden. Damals hatten die Menschen noch nicht dieses Bedürfnis, den Dingen, die überliefert wurden, so auf den Grund zu gehen, wie wir es heute tun, sondern hatten eine gewisse Unbefangenheit. Es wollte ihnen nicht in den Sinn, daß man über die Geburt und Kindheit des Herrn nichts wußte. Als daher Lukas daran ging, die Nachrichten über Jesus zu sammeln, er, der ihn ja nie gekannt hatte und wohl ein Menschenalter nach seinem Tode schrieb, und ein anderer, wohl in derselben Zeit, es unternahm, die Reden und Gleichnisse, die der Apostel Matthäus in der Sprache der Galiläer aufgezeichnet hatte, auf griechisch zu übersetzen und zu einem Evangelium zu ergänzen, trugen beide kein Bedenken, das, was an schönen Erzählungen über die Geburt und Kindheit Jesu unter den Christen von Mund zu Mund ging, in ihre Berichte aufzunehmen, ohne zu ahnen, in welche Verlegenheiten sie ein späteres Geschlecht brächten, dasdasBedürfnis hat, alles bis in die Einzelheiten nachzuprü-

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fen. Ich meine aber, daßjeder denkende Christ von heutzutage dies be-

greifen kann. Von Eltern und Lehrern habe ich schon die Frage gehört, ob man dann noch diese Erzählungen den Kindern mitteilen solle, da sie doch später erführen, daß wir sie nicht als wirklich ansehen. Ich meine doch, daß man sie, wie bisher, dem Kinde erzählen solle. Wenn es dann in das Alter kommt, wo es zu überlegen anfängt, ist es noch Zeit, ihm mitzuteilen, wie die reifen Menschen, die die Dinge prüfen, sich zu diesen Geschichten stellen. Gewöhnlich wird es selber durch Fragen und Bedenken, die es äußert, Gelegenheit geben, es auf die richtige Auffassung zu leiten. Dem Kinde, was dem Kinde gehört. Wir reden ihm ja auch von der Sonne, die auf- und untergeht, um ihm dann erst später die Erkenntnis mitzuteilen, daß die Sonne sich nur scheinbar um die Erde dreht, auf- und untergeht, weil in Wirklichkeit die Erde sich um die Sonne dreht und so den Unterschied von Tag und Nacht heraufführt. Für mich selber aber möchte ich sagen, daß ich diese Erzählungen in unserm Neuen Testament nicht missen möchte, so schwere Fragen daraus für uns auch entstehen und so viel Meinungsverschiedenheiten dadurch schon unter die Christen getragen worden sind. Sie sind für mich Gleichnisse geworden. Von dem Drama, das ein großer Dichter schafft, werden wir ergriffen, und wenn wir uns immer und immer wieder klar machen, daß das, was er schildert nicht Wirklichkeit ist. In Geschehnissen, die er frei geschaffen hat, drückt er eine Idee aus, die es uns antut. Die erste Christenheit hat uns unbewußt eine fromme Dichtung über die Geburt und Kindheit des Herrn geschaffen. Auch hier fragen wir nicht mehr, ob alles Wirklichkeit ist, sondern wir geben uns dem Zauber der Ideen und der Frömmigkeit hin, die aus diesen Erzählungen zu uns reden. Und noch eines andern Grundes wegen soll es wohl so sein, daß diese Erzählungen im Neuen Testamente stehen und Anstoß geben. Die große Gefahr für jede Religion besteht darin, daß sie nicht mehr die Unterscheidung zwischen Äußerem und Innerem, Form und Geist, Hauptsache und Nebensache aufrecht erhält. Eigentlich ist ja die Geschichte der christlichen Kirche nichts anderes als der Kampf um die Einsicht und das Recht dieser Unterscheidung. Nun zwingen uns die Quellen unserer Religion selbst, sie immer wieder geltend zu machen und uns auf die Wahrhaftigkeit zu besinnen, und hier, in den Urkunden unserer Religion selber, diese Unterscheidungen zu beobachten. Es ist in der Religion wie in dem Menschenleben: Prüfungen müssen sein, daß man durch sie hindurch zur Reife gelange. Oft muß viel Unangenehmes ertragen werden, wovon man sich zunächst fragt, ob es

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einen Sinn habe, und nachher findet man, daß es so sein mußte, daß dasgeschaffen war, damit man es trage und darin reifer werde. So nehmen wir auch die Schwierigkeiten und Fragen, die mit der Art, wie uns die Anfänge unserer Religion und unseres Heilands gegeben sind, an als etwas, das der Religion gesetzt ist, sie reif zu machen. Wir erschrecken nicht darüber, wie es manche tun; wir sagen auch nicht, man solle nicht darüber sprechen und tun, als ob es nicht sei, sondern wir sehen ihnen ruhig ins Auge und erwägen, was dasWahre sei. Der Herr hat vom Menschen gesagt, daß die Gefahr sei, daß er Schaden nehme an seiner Seele [Mt. 16,26]. Die Seele der Religion ist die Wahrhaftigkeit. Keine Eroberung in der Welt, nichts kann ihr helfen, wenn sie Schaden an der Wahrhaftigkeit nimmt, wenn sie Angst vor derWahrheit hat. Wir aber haben keine Angst vor der Wahrheit, die die Forschung über das Neue Testament und die Anfänge unserer Religion ans Licht bringen könnte. Wir dämpfen sie nicht; wir wagen, alles zu untersuchen und alles zu prüfen, und dasTatsächliche überall anzuerkennen, weil wir wissen, daß nichts das wahre Fundament unseres Glaubens, den Geist, der von den Worten unseres Herrn ausgeht, antasten kann. So sind wir ruhig und mutig ... innerlich stark.¦9¿

Morgenpredigt Sonntag, 12. Februar

1911,¦10¿

St. Nicolai¦11¿

Mk. 9,38–40: Wer nicht wider mich ist, ist für mich¦12¿

Die Jünger haben wahrscheinlich ein sehr erstauntes Gesicht gemacht, alsJesus ihren Sprecher Johannes so zurechtwies. Sie durften erwarten, daß er sie billigte. Einem, der nur nach Hause gehen wollte, um seinen Vater zu begraben, hatte er es untersagt mit denWorten: «Laß dieToten ihre Toten begraben» [Mt. 8,22]. Bei anderer Gelegenheit hatte er verlangt, man müsse Vater, Mutter, Bruder und Schwester hassen und ver9 [R] Zur Klarheit durchdenken, daß ihr es andern sagen könnt. 10 [Am 9. Februar schreibt Albert Schweitzer Helene Bresslau:] «Ce soir Predigt für Sonntag morgen.» [Und am 10. Februar schreibt er:] «Ich bin mit dem Ausarbeiten meiner Predigt beschäftigt.» [Zentralarchiv Günsbach.]

11 [R] (Fortsetzung der Predigt über die Weisen aus dem Morgenland.) [Siehe S. 1066. 29.01.11.]

12 [Johannes aber antwortete ihm und sprach: Meister, wir sahen einen, der trieb Teufel in deinem Namen aus, welcher uns nicht nachfolgt; und wir verboten’s ihm, darum daß er uns nicht nachfolgt. Jesus aber sprach: Ihr sollt’s ihm nicht verbieten. Denn es ist niemand, der eine Tat tue in meinem Namen und möge bald übel von mir reden. Wer nicht wider uns ist, der ist für uns.]

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lassen, um durch sie nicht behindert zu werden, sich ihm anzuschließen [Mt. 10,35–37]. Einmal hatte er sogar ausdrücklich gesagt: «Wer nicht für mich ist, der ist wider mich» [Mt. 12,30]. Das klingt alles so entschieden, fast engherzig. Da sie aber selber einem Menschen dieses Entweder-Oder stellen, widerspricht er demWortlaut seines eigenen Ausspruches und ist weitherzig. Des Rätsels Lösung ist einfach: In den andern Fällen handelte es sich um solche, für deren Charakterfestigkeit er fürchtete. Darum will er sie ausihren Verhältnissen herauszwingen; hier aber vernimmt er von einem Menschen, der in seinem Namen und seinem Geiste tätig ist, um, wenn wir es in unsere Sprache übersetzen, denen aufzuhelfen, die in geistiger Umnachtung schmachten. Da erklärt er den erstaunten Jüngern, daß die Einheit durch die Tat als das hinreichende Fundament des Verhältnisses zu ihm gelten müsse, und daß, wer in seinem Geiste und Namen in der Welt etwas unternehme, dadurch mit ihm so verbunden sei, daß alles andere, worauf er selber sonst den größten Wert zu legen scheine, nicht in Betracht komme. Wir wollen alle froh sein, daß diese Erzählung vom weitherzigen Herrn im Evangelium steht, denn sie bedeutet für unsere Zeit mehr als für eine andere. Wonach Jesus die Menschen beurteilt, sind die Zeiten, Menschheiten zu richten, ob sie ihm angehören und was sie dafür tun müssen. Ihr merkt, daß uns diese Erzählung in das Geleise der Gedanken führt, die wir vor vierzehn Tagen miteinander dachten. Wir nahmen die Erzählung der Könige ausMorgenland, die ihre Schätze vor demJesuskind auftaten, als ein Gleichnis auf unsere Menschheit, die sich unendliche Schätze desWissens und Könnens erworben hat. Das Gleichnis ist an ihr nicht wahr geworden. Sie hat das Ihre für sich behalten und gemeint, sie brauche sich vor den Gedanken Jesu nicht zu beugen, da sie selber reich sei und ausihrem Wissen heraus eineWeltanschauung schaffen könne, die als neues Evangelium die desHerrn überstrahlt. Da ich davon sprach, wie diese wissensstolze Welt geistig und sittlich nicht vorankommt, sondern eher rückwärts geht, und daß die Kultur, mit der sie sich brüstet, keine wahre und innerliche mehr ist, habe ich für manche unter euch hart und engherzig geredet. Das Wort Jesu, das wir heute für unsere Andacht wählten, führt uns nun darauf, daß wir die weitherzigen Gedanken zu dieser Frage denken. Es handelt sich um dieWeltanschauung.¦13¿ Aus dem Wissen und Erkennen, möge es noch so weit reichen, kommt keine Weltanschauung, die befriedigt und vorwärts bringt. Aus dem Wissen kommt eine großartige Anschauung vom inneren Aufbau 13 [R] Ecrit en chemin de fer [Im Brief vom 10. Februar schreibt er Helene Bresslau, er werde am Samstag nach Colmar fahren. Zentralarchiv Günsbach.]

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der Welt, dem Begriff des Lebens und dem Verhältnis von Geist und Materie. Wir erkennen, daß die letzte Einheit desBelebten die Zelle ist, d. h. eine kleinste Menge von Stoff, der lebt, fühlt, schafft, will – also eine Einheit von Geist und Stoff. Aus diesem Urwunder des Seins baut sich alles Leben auf. Auch das höchste Lebewesen, der Mensch, ist ein Organismus von Zellen. Die geringste Bewegung, die er ausführt, ist ein ungeheuer komplizierter Prozeß von Zellen. Sehen, Denken, Vorstellen – alles ist Tätigkeit von Zellen. Sie sind Träger des Lebens. Es gibt Leben auf derWelt, weil aus Zellen immer neue hervorgehen. Ihr versteht, daß dem Menschengeist schwindeln muß, daß er nun das ganze Sein, in seiner unendlichen Mannigfaltigkeit, aus einem Grundgedanken begreift. Nun baut er sich dieWelt in seinem Begreifen auf, er sieht sie vor sich erstehen, er versteht dasWerden der Formen und das Spiel der Kräfte; und sein Wissen von dem Sein nennt er Weltanschauung. Wir müssen das alle mitmachen, denn es läßt sich gegen diese Welterkenntnis nichts sagen, und kein denkender Mensch kann sich der Größe dieser Erkenntnis verschließen. Wir können nicht davon loskommen. Wir sehen dasUnfertige dieser Erkenntnis ein und wissen, daß sie mit der uns in der Religion aus der vergangenen Zeit überlieferten Vorstellung derWelt streitet. Sie ist unfertig, weil sie über den letzten Ursprung des Seins und das letzte Ziel des Seins nichts sagt. Sie begreift nur das Leben und Sein, wie sie es in seinen Erscheinungen vor sich sieht, aber woher es kommt und was der Sinn und Zweck derWelt, kann sie nicht sagen. Sie zwingt uns, über unsere Vorstellung von Gott, dem Urgrund und Erhalter des Lebens, nachzudenken. Ist dieses Unfaßbare die Weltkraft, wie es sich uns ausdem Anschauen des Seins ergibt, der Gott, den wir im frommen Gefühl denken? Er hat etwas Unpersönliches an sich. Der Gott der Religion aber ist Persönlichkeit. Hier ist für den Denkenden die Notwendigkeit, immer wieder von vorn anzufangen und zuletzt dennoch keine Aussicht auf Klarheit. Ebenso ist es mit derVorstellung des ewigen Lebens. Wer die Begriffe Leben und Geist durchdenkt, wie er es muß nach der Erkenntnis der Dinge, kann sich nicht mehr in die alte Vorstellung von ewigem Leben hineinfinden, sondern muß sich einen Weg suchen, wo er die Vorstellung von geistiger Fortexistenz mit dem in Einklang bringt, was ihm über dasWesen des Seins aufgegangen. Er wird in das Chaos der Frage hineingeworfen, ob es ein so bewußtes, persönliches, geistiges Fortleben überhaupt geben kann, oder ob es nicht so ist, daß der Einzelgeist insoweit fortbesteht, als er im Allgemeingeist aufgegangen. So ist das, was alsWelterkenntnis aus demWissen kommt, etwas Unfertiges und trägt viele Fragen in sich, die nicht mehr gelöst sind, wo sie

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in derWeltanschauung der alten Zeit, mit der das Christentum verbunden ist, so einfach und beruhigend erledigt waren. Nun ist die Frage, wie weitJesus, wenn er in unserer Zeit lebte, diesen Erkenntnissen entgegenkäme. Er übernahm die so wundervolle und einfache [Anschauung] der alten Propheten von dem Gott, der über der Welt thront und sie leitet, wie ein König seinem Reiche vorsteht, und dazu die Hoffnungen seiner Zeit von einer Auferstehung der Gerechten zum ewigen Leben. Aber ich glaube nicht, daß er die Frommen, die sich bei ihm rühmen würden, daß sie der Zeit, die einer andern Welterkenntnis folgt, als die, welche er voraussetzte, dasRecht abspräche, in seiner Gemeinschaft zu stehen – daß er diese als seine rechten Jünger anerkennen würde. Er würde sie zurechtweisen, wie er es damals tat. Es geht durch alle seine Reden ein Zug elementaren Überlegens und elementarer Wahrhaftigkeit, der uns ahnen läßt, daß er sich keiner Erkenntnis, und wenn sie noch so neu und noch so verhängnisvoll für seine Gedanken wäre, verschließen würde, sondern sich vorjeder Wahrheit, die in einer Erkenntnis ist, beugen würde. So wird das Christentum nicht anders können, als sich zur Welterkenntnis unserer Zeit empfangend und anerkennend zu verhalten, und nicht, wie man es in der Religion allzu oft tut, das, was sich nicht mehr halten läßt, durch Scheingründe zu verteidigen und zu stützen unternehmen. Es ist furchtbar schwer, moderne Welterkenntnis und die ReligionJesu ineinander und miteinander zu denken, und die Gedanken des

Herrn auf einem neuen Fundament aufzubauen. Aber was sein muß, wird ausgeführt werden. Das Münster kündet es euch jeden Tag. Als man erfuhr, daß sich auf einer Seite dasFundament verändert habe und eine gefährliche Senkung sich zeigte, da konnte man zweifeln, ob es gelänge, unter dieser Steinmasse ein neues Fundament aufzuführen. Aber die Architekten und Ingenieure gingen daran. Es brauchte viel Mühe und Fleiß, aber das Unmögliche ist im Gelingen begriffen, und bald werden die Gerüste schwinden und dasWunderwerk neu gefestigt dastehen lassen. So ist es auch mit den Gedanken Jesu; jetzt ist es uns noch allen unklar, wie sie sich in die neue Erkenntnis von Welt und Leben einbauen werden und wie es gelingen soll, das neue Fundament darunter aufzuführen. Wir sehen nur das, was sich mit dem Fundament begibt, und stehen darum als die armen, ratlosen Maurermeister. Aber es werden welche kommen, die das vermögen, was gemacht werden muß, solche, die Architekten und Ingenieure des Geistes sind, und die die Gedanken Jesu in eine neue Welterkenntnis hineindenken werden, von denen sie dann die andern annehmen werden. Waskommt, mußte kommen. Eine Weltanschauung muß ausAnschauung derWelt erwachsen. Und darum ficht es uns nicht an, daß wir etwas Einfaches und Geschlossenes aufgeben müssen für etwas Unfertiges, in welchem fast noch

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mehr Fragen sind als Erkenntnisse. Auch haben wir keine Angst, ob nun das, was sich als Welterkenntnis ergeben wird, als Fundament für eine Religiosität, wie sie vonJesus ausgeht, ausreichen wird, ob sie, wie man für gewöhnlich sagt, nicht zu negativ sein wird; sondern wir haben den Glauben, daß die Grundgedanken Jesu zuletzt sich mit jeder Weltanschauung verbinden können; und andererseits wieder wirdjede Welterkenntnis nach sittlichen Gedanken suchen, in denen sie erst lebendig wird, zurWeltanschauung sich gestaltet. Je länger ich mich damit befasse, je klarer wird es mir, daß in jeder Weltanschauung zwei Dinge nebeneinander und ineinander sind, die zusammengehören, und doch nicht aus derselben Wurzel wachsen: Erkenntnis undWille. Das ist ja auch dasRätsel der menschlichen Persönlichkeit, daß sie Erkenntnis und Wille zugleich ist, wo doch eines aus dem andern nicht hervorgeht. Und doch stehen beide in Beziehung zueinander, und in ihrer Einheit erst wird die Persönlichkeit. So ist es auch mit der Weltanschauung. Das eine in ihr ist die Welterkenntnis; aber eine Welterkenntnis ist noch keine Weltanschauung, sondern sie wird es erst in dem Augenblick, wo ein Wille für die Welt und für die

Menschheit sich damit verbindet. Nun ist es in denen, welche für ihre Zeit in dem Schaffen einer Weltanschauung drin stehen, so, daß bei den einen die Erkenntnis, bei den andern derWille überwiegt. Ich bin immer erstaunt gewesen über Sokrates, von dem, wie ihr wißt, ich manchmal in demselben Atem zu reden wagte wie vonJesus. Als er auftrat, da wogte und gärte es um ihn. Die Zeit glich in vielen Dingen der von heutzutage. Zum erstenmal wagten es Naturforschung und Philosophie, eine Welterkenntnis zu schaffen, die die Grundlage einer Weltanschauung abgeben sollte. Freunde und Schüler des Meisters standen mitten in diesen Fragen nach dem Ursprung und der Erklärung des Seins darin und erstaunten, daß er mit seinem durchdringenden Verstand sich damit kaum befaßte, und sich in seiner Gleichgültigkeit kaum die Mühe nahm, sich die ernsten und tiefsinnigen Schriften, die darüber erschienen, anzuschauen. Er aber erklärte ihnen in seinen Zwiegesprächen, die einzige Frage, die ihn beschäftige, sei die, wassittlich gut sei, und seine einzige Sorge, dieMenschen um ihn herum zum Nachdenken über dasGute anzutreiben. Dasselbe finden wir bei Jesus. Die Fragen über Welterkenntnis, wie sie seine Zeit und auch seine jüdischen Volksgenossen in der mannigfaltigsten Weise beschäftigten, fesseln ihn in keiner Weise. Er kommt nie darauf zu sprechen, sondern ist nur mit dem einen Gedanken, der Vollendung des Menschen und der Menschheit und ihrer sittlichen Läuterung, beschäftigt. Sein Denken und Hoffen dreht sich um das Wort «Reich Gottes» und um alles, wasgeschehen muß, damit die Menschheit mit dem neuen Geiste getauft werde.

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Die Geister, die unserer Zeit eine Weltanschauung schaffen wollen, verfahren gerade umgekehrt. Sie gehen rein von der Erkenntnis ausund werden von diesen Fragen so gefangen genommen, daß sie meinen, mit einer Welterkenntnis der Menschheit eine Weltanschauung zu bieten, und sehen nicht, daß sie dasnicht halten, wassie versprechen. Sie bieten eine Naturgeschichte des Himmels, der Erde, der Menschheit und des Menschen. Aber das, was Menschheit und Mensch tun und erstreben sollen, das fließt nicht aus dieser Erkenntnis. Sie sieht, wie es ward, aber derWille zu dem, was werden soll, kommt nicht aus ihr, sondern ist da, an sich, wie der Wille im Menschen neben der Erkenntnis ist. Weltanschauung heißt nicht nur Welterkenntnis, sondern Wille und Hoffen zum Leben und Wirken für Mensch und Menschheit. Und wie im Menschen der Wille über dem Erkennen steht, so auch in der Weltanschauung.¦14¿ Die tiefe Welterkenntnis ist tot, ein toter Leib, wenn nicht ein großer reiner Wille zum Leben über sie kommt und ihr Lebensodem einhaucht. Weltanschauung ist Kraft zum Leben für den einzelnen und für die Gesamtheit. Das Furchtbare an der neuen Welterkenntnis ist ihre Unfertigkeit, und daß sie nie etwas Geschlossenes wird. In der alten umfaßte der Blick Weltanfang, Weltziel undWeltzweck, Vollendung der Menschheit, Vollendung des Menschen. Das alles hing untereinander zusammen. Es war, als führe der Mensch, der nach Erkenntnis ausging, auf einem See, der rings von lieblichen Ufern und Bergen umgeben war, und wo er jederzeit mit seinem Boot anlegen konnte. In der modernen Welterkenntnis ist der See zum Ozean geworden. Uferlose Unendlichkeit umgibt den Menschen, der sich selber im Werden und im All zu erfassen sucht. Wo die alte Welterkenntnis mit einem einfachen Wort antworten konnte, tun sich jetzt Fragen ohne Ende auf. Der einzelne versinkt in der Unendlichkeit und dem Unbegreiflichen, das ihn überall umwogt. Er wird erdrückt. Keiner kann die moderne Welterkenntnis durchdenken, ohne wie von einer großen Müdigkeit befallen zu werden. Der Gedanke, was denn das Sein für ein Ziel und einen Endzweck habe, verfolgt ihn und macht ihn matt. Die Erkenntnis, da sie nicht geschlossen ist, und ihr vieles und gerade dasletzte dunkel bleibt, vermag ihm nichts zu geben. Ihr werdet es finden, wenn ihr solche Bücher durchlest, wo die Welterkenntnis unserer Zeit manchmal in großartiger Weise entwickelt ist, daß sie dann da, wo sie die Zusammenfassung geben wollen, was diese neue Erkenntnis für die Menschheit und den Menschen bedeutet, versagen und über Zweck und Ziel der Welt und das, was alsWille und Hoffen mit dieser neuen Erkenntnis gegeben ist, nichts oder nur Phrasen vorzubringen vermö14 [R] Leben istWille!

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gen. Darum hat unser Geschlecht so wenig Ziele und Ideale trotz aller äußeren Errungenschaften und befindet sich im Stillstand des geistigen

Fortschritts. In einer Weltanschauung tritt also zur Tat der Erkenntnis die Tat des Willens. Die Welterkenntnis sagt mir nichts über das Endziel und den Endzweck der Menschheit und meiner selbst. Sie beschreibt Werden undVergehen, dasist alles.¦15¿ Weltanschauung ist, daß ich als ein Erkennender mich über das Erkennen erhebe und glaube an einen Endzweck der Menschheit und in diesem an einen Endzweck meiner Existenz und darin die Kraft zum Leben undWirken finde. Die Glaubensbekenntnisse, die uns die alte Kirche überliefert hat, so viel Ehrfurcht wir ihnen auch entgegenbringen mögen, haben für uns nicht mehr die Bedeutung wie für vergangene Zeiten. Wir vermögen und wollen nicht mehr festlegen, wie man sich Gott und wie eine Unsterblichkeit vorzustellen habe, sondern wir lassen darin jeden dieWege seines Erkennens und Denkens gehen. Das eine, worauf alles ankommt, ist der Glaube an ein Ziel der Menschheit und des Menschen, das durch unsere Arbeit seiner Verwirklichung näher gebracht werden muß, und daß wir in dieser Arbeit den Sinn des Daseins finden und geistig wachsen und stark werden. Das ist der Kampf des Glaubens in unserer Zeit – der Kampf um dieWeltanschauung. Hier scheiden sich die Geister. Hier scheiden sich dieWege zurWeltanschauung Jesu oder von ihr weg. Seine Welterkenntnis kann niemals mehr die unsere werden. Man suche nicht, ihre Trümmer zu stützen. Aber der Geist seiner Weltanschauung kann der unsere bleiben, der Wille und Trieb zum Streben nach Vollendung auf ein Ziel hin für die Menschheit und für uns. Nun versteht ihr, was diese Erzählung von dem weitherzigen Jesus unserer Zeit, denen in der Kirche und denen draußen, sagt, da er es ausspricht, daß für die, die in seinem Namen und seinem Geiste Tat tun, das andere nicht in Rechnung komme, da dasWollen und Handeln schon die Gemeinschaft mit ihm sei – und daß von diesen dasWort gelte: «Wer nicht wider unsist, der ist für uns.» Wie sich dieWelterkenntnis des einzelnen gestalte und inwiefern sie mit der des Herrn in Einklang gebracht werden kann, ob mehr oder weniger, ist in letzter Linie gleichgültig. Ich wage zu sagen, daß man die Erkenntnis hier bis zu ihren letzten Konsequenzen gehen lassen solle. Das, was not tut, ist, daß wir den Willen, das Hoffen und Tun, das das Wesen der Weltanschauung Jesu ausmacht, festhalten als eine Erkenntnis, die über aller Erkenntnis ist, und Menschen bleiben, die an sich und miteinander auf das Ziel einer Vollendung des Menschen und der Menschheit arbeiten. 15 [R] Das Nichterkannte nicht durch Glauben ausfüllen, sondern durch Willen.

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Das ist die Tat desWillens und Glaubens, dieJesus von uns verlangt; sie wird uns schwerer, weil dieWelterkenntnis, zu der wir fortgeschritten sind, uns darin nicht stützt wie die, in welcher er aufwuchs und lebte und welche so viele Generationen seither trug. Aber wir sind reifer geworden, um das, was schwerer geworden ist, dennoch zu leisten ausdem inneren Ahnen heraus, daß das, wasman aus dem innersten Empfinden der Seele für Ziel und Zukunft von Mensch und Menschheit will und glaubt, weil man innerlich muß, eine Wirklichkeit ist, die ist, wenn sie auch für keine Erkenntnis offen liegt. Jesus sagt, daß wir Kraft undTat in derWelt werden sollen zum Guten und zurVollendung. Um daswollen wir in unserer Weltanschauung ringen und helfen, sie zum Siege zu führen in der Zeit des Kampfes der Ideen, daß sich die Menschheit der kommenden Zeit undJesus finden imWollen und in derTat.

Nachmittagspredigt Sonntag, 5. März¦16¿1911, St. Nicolai¦17¿

Mk. 9,33– 35: Von der Demut¦18¿

Nun ist es wieder Paiossnszeit. Die Wochen sind da, da es für unsere Seele heißt:

«Seele, mach dich heilig auf, Jesum zu begleiten genJerusalem hinauf, tritt ihm an die Seiten.»¦19¿ Der Text führt uns in die ersten Tage der Leidensreise. Da Ostern nahte, war er mit ihnen aus dem Norden, der Gegend von Cäsarea Philippi, aufgebrochen und zog mit ihnen durch Galiläa Jerusalem zu. Zum ersten Mal hat er ihnen angedeutet, was bevorsteht, daß der Menschensohn leiden muß und sterben, ehe dasReich Gottes kommt. Sie verstehen davon nur das eine, daß die verheißene Herrlichkeit, wo sie als die Genossen des Messias offenbart werden sollen, nahe sei – 16 [In einem Brief vom 27. Februar 1911 schreibt Albert Schweitzer an Helene Bresslau:] «Morgen und übermorgen mache ich Skizzen für die Predigt.» [Zentralarchiv Günsbach.]

17 [Für diese Predigt ist Schweitzer im Kirchenboten eingetragen.] 18 [Und er kam gen Kapernaum. Und da er daheim war, fragte er sie: Was handeltet ihr miteinander auf demWege? Sie aber schwiegen; denn sie hatten miteinander auf dem Wege gehandelt, welcher der Größte wäre. Und er setzte sich und rief die Zwölf und sprach zu ihnen: So jemand will der Erste sein, der soll der Letzte sein vor allen und aller Knecht.]

19 [Abraham Klesel: Seele, mach dich heilig auf, Str. 1.]

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und während der Herr bangen Herzens ihnen voranschreitet, bereden sie untereinander, wer dann als der Größte von ihnen zu gelten habe. Da sie zum Übernachten nach Kapernaum kommen, muß er ihnen von der Demut reden und sagt das Tiefste, was darüber zu sagen ist. Dieses Wort der Abendrast des Heilandes auf demWege zum Tode sei

unsere Passionsbetrachtung. Wenn unsjemand sagte, wir seien nicht demütig, würden wir es ihm gewaltig übelnehmen und meinen, es geschähe unsgroßes Unrecht. Und vielleicht könnten wir uns auch gut verteidigen. Denn Demut gehört bei uns zur guten Erziehung. Wir sind nicht unbefangen, sondern wir beobachten uns und lassen uns nicht leicht etwas zuschulden kommen, das uns als Überhebung ausgelegt werden könnte. Wir drängen uns nicht vor; schon von Kind auf hat man uns gelehrt, daß man dies nicht tue. Wir sind auch nicht voll Rühmens über uns selbst, sondern legen es darauf an, nach außen alsbescheidene Menschen zu gelten. Wir wahren alle das, wasso zur landläufigen, wohl angesehenen Demut gehört – außer vielleicht in einem oder dem andern Augenblicke, wo wir uns vergessen. Aber sind wir wirklich demütig? Das, waswir gerne als unsere Demut ansehen, ist dasäußerliche Kleid der Demut. Aber in diesem wohl getragenen Kleide steckt oft ein ganz undemütiger Mensch. Ihr selber habt es sicher schon mehr denn einmal beobachtet, daß hinter einer übertriebenen äußerlichen Demut sich ganz grell die innerliche Hoffart eines Menschen abhob, wie [sich] so oft eine innerliche Roheit hinter feinen Höflichkeitsformen verbirgt und durch sie nur noch stärker herauskommt. DieJünger waren noch mehr als äußerlich demütig. Sie hatten Entsagung geübt und alles aufgegeben, um mit Jesus zu sein. Sie ließen sich mit ihm schelten und verlachen, zogen mit ihm umher, ohne zu wissen, wo ihr Haupt hinlegen. Das war mehr als Demut, es war schon Selbsterniedrigung. Aber in dem Augenblick, wo die Probe auf die wahre, innerliche Demut kommt, versagen sie trotzdem und haben es nötig, daß der Herr ihnen denWeg dazu weise. Mit uns ist es nicht anders. Wer mit sich offen ist, der weiß, wie oft wir die wahre Probe nicht bestehen, wer nämlich auf die Gedanken achtet, die sein Tun umspielen. Demütig sein ist etwas anderes, alssich demütig geben. Wie in allem führt Jesus das Demütigsein auf die innere Gesinnung zurück und läßt die äußeren Formen ganz auf sich beruhen. Auf sie kommt es nicht an, sondern ob man es dem Menschen anfühlt, daß er demütig ist, daß er seinen Fortschritt und seine Größe darin sucht, vieler Diener zu sein. Demut ist für ihn mehr als eine Tugend, sondern eine Sache des Lebens und des Herzens. Demütig sein heißt, etwas tun und im Tun sich selber vergessen. Es gibt viele Menschen, die dienen, sei es im öffentlichen Leben, sei es in derWissenschaft, sei es in dem kleinen Kreise, in dem sie sich be-

VonderDemut

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wegen. In dem Augenblick aber, wo sie etwas leisten, kommt die große Gefahr für sie, daß sie sich fragen: Was wird mir dafür? Sie haben das, was sie taten, in reiner Absicht getan, ohne an sich zu denken, um des Guten willen, wie dieJünger alles verließen und dem Herrn nachfolgten, rein ausinnerer Notwendigkeit heraus, mit ihm zu sein. Aber nachher wacht plötzlich Ehrgeiz und Eitelkeit in ihnen auf. Ihre eigene Person will ihr Recht, und sie sind im Begriff, das Große, was sie getan haben, klein zu machen und zu entweihen, indem sie damit Gedanken ihres eigenen Ichs und Ruhmes verbinden. Sie sind stecken geblieben in dem, wassie taten und laufen Gefahr, untüchtig zuwerden. Ihr habt dieses Steckenbleiben oft an andern gesehen. Es laufen viele in dem öffentlichen Leben, in der Kunst und der Fürsorge für andere herum, denen nur das eine fehlt zum Großsein, daß sie sich selber vergessen und nicht in dem, was sie Gutes tun, noch für sich Ruhm und Anerkennung suchen. Nun ihnen eine Untüchtigkeit anhaftet; das Schönste haben sie dahin. Keine reine Kraft auf die Menschen von ihnen ausgeht – und kein wirkliches tiefes Zutrauen kommt ihnen von Menschen entgegen. Sie sind wie die Reben, die schön grünten und blühten und dann vom Mehltau befallen wurden. An dir selber hast du es auch soundso viele Male gesehen, wie etwas, das du in reiner Absicht tatest, dann aufgehalten wurde durch die Ehre und Anerkennung, die du darin suchtest und die Art wie du deine Person vordrängtest. Ich rede jetzt von der schwersten Demut, die es überhaupt gibt, der Demut im Hause mit den Familien- und Hausgenossen. Damit wir in Frieden und Freudigkeit miteinander leben, müssen wir diese Demut beieinander fühlen. Das ist dasFurchtbare, daß man es fühlt, ob wir demütig sind und zu diesem Selbstvergessen kommen, das etwas Selbstverständliches für uns ist und den Grundton unseres Wesens bildet. Wenn Menschen miteinander leben, die sich selber suchen, so bleibt eine Spannung zwischen ihnen, die sie unruhig macht, mögen sie die äußeren Formen gegenseitiger Unterwerfung noch so sehr üben. Sie können es selber nicht sagen, warum, aber es liegt Unfriede über ihnen, der beim geringsten Anlaß ausbrechen kann – ein Sturm, auf den kein blauer Himmel, sondern wieder Dumpfheit und Schwüle folgt. Wo wir aber nur voneinander wissen, daß wir der Demut nacheifern und in dem, was wir tun, nicht uns selber suchen, sondern zu diesem einfachen, selbstverständlichen Dienen kommen wollen, das sich durch Kleines und Großes hindurchzieht, dann ist’s, als würde die Luft, die wir atmen, reiner, und als träte eine Entspannung ein, die das KleinlichAlltägliche, in dem man sich sonst die Füße wund tritt, ausspitzem Geröll zu weichem Sand macht. Wir suchen, in allem demütig zu scheinen, den Schein zu wahren. Jesus aber sagt uns: Laß den Schein und wache und sorge, daß du es wer-

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den mögest. Und wenn die andern diesen Willen in dir fühlen, dann sind sie deine Helfer. Von diesem Helfen zur Demut noch einWort. Ich meine, wir machen es den Menschen um uns oft furchtbar schwer, demütig zu werden. Wir lassen sie es merken, wenn sie ihrem Eigenwillen und ihrer Eitelkeit erliegen, und nageln es oft mit einem häßlichen Wort fest: Du kennst nur dich selber, du hast wieder wohl gewußt, was du für Absichten dabei hattest – und dergleichen werfen wir ihnen hin. Wir reden von Ehrgeiz, Egoismus, wo wir selber oft gefühlt haben, daß der andere redlich strebte, gerade nicht so zu sein. Dann kommt Verbitterung und Mutlosigkeit über ihn und er sagt sich: Wenn man so von mir denkt, nun gut, dann hat’s keinen Sinn, daß ich versuche, anders zu sein – und bei Gelegenheit wirft er dann dich in dieWellen zurück im Augenblick, wo du es redlich meintest. Das sind dann solche Erinnerungen, die wie magere, böse Katzen durchs Haus streichen undjedem von euch den Mut nehmen, so an sich zu arbeiten, wie er möchte, weil ihr eines dem andern die Anerkennung und den Glauben versagt und euch gegenseitig richtet, wo ihr eins wie das andere nur kämpfende Menschen seid. Laß es die Menschen um dich nie fühlen, daß du sie durchschaut hast, wenn sie in dieser Schwäche erlagen, sondern nimm von ihnen an, was du willst, daß sie von dir denken, daß es ihnen ernst ist, in dem, was sie tun, sich selber zu vergessen. Wir haben es nötig, daß uns die Menschen diesen Glauben entgegenbringen, damit wir nicht mutlos werden, uns selber zu läutern. Der Herr Jesus stand hoch über seinen Jüngern. Er hätte sich über sie entrüsten können, daß sie in so ernster Stunde so weit von der Demut abkamen. Aber er weist sie mit einem sanften Worte auf den rechten Pfad und weiß, daß seine eigentliche Unterweisung in dem besteht, waser tut. Die Demut, die er ihnen vorleben wird, soll sie führen. Von euch wißt dasselbe. Die Läuterung zum Selbstvergessen, die ihr an euch vollzieht, die bleibt nicht auf euch beschränkt, sondern sie hilft denen, die um euch sind, auf demselben Wege vorwärts zu kommen. Es wird zwischen euch vielleicht nie in einem Worte ausgesprochen werden und doch zwischen euch sein als etwas, das euch Frieden gibt und Sonnenschein in euer Haus bringt.

Dein Reich komme

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Morgenpredigt Sonntag, 12. März 1911,¦20¿ St. Nicolai

Mt. 6,10: Dein Reich komme An diese Bitte wollen wir unsere Passionsbetrachtung anschließen. Sie enthält dieWeltanschauung, mit derJesus in denTod ging, und sein Vermächtnis an uns. In zwei vergangenen Morgenbetrachtungen, wo wir die Wege des Denkens und der Philosophie gingen, zogen wir die äußeren Umrisse einer Weltanschauung.¦21¿ Zwei Dinge müssen sich in uns durchdringen: Erkenntnis undWille. Die Erkenntnis gibt das Fundament und das Material, derWille die Form des Baues. Und derWille selber ist, in seinem tiefsten Wesen, zuletzt eine Form der Erkenntnis. Er ist die Form der Erkenntnis vonWesen zuWesen. Wer kennt einen großen Menschen? Der Geschichtsforscher, der die Züge seines Lebens bis in die Einzelheiten zusammenträgt und schier ausrechnen kann, waser anjedem Tage getrieben, vermeint, ihn zu kennen. InWirklichkeit aber kennt ihn nur der, der ihm imWillen innerlich verwandt ist und aus einigen seiner Taten sein Wesen begriff. So ist es mit dem Weltall. Es in all seinen Erscheinungen verfolgen und beschreiben, wie es der Forscher tut, ist nicht die höchste, zusammenfassende Erkenntnis, sondern diese liegt in dem Ahnen des Geheimnisvoll-Treibenden, das zuletzt hinter allem Geschehen steht, dem unsagbaren Weltwillen, nenne ihn Gott oder Geist oder bezeichne ihn, wie du willst, der durch Natur- und Geisteswelt hindurch vorwärts will. Darum ist der Glaube an einWeltziel in derVollendung der Menschheit auch Welterkenntnis, innerliches Erfassen des Wesens der Dinge, mag auch die Erforschung deseinzelnen Geschehens nicht zu einem solchen Gedanken führen, sondern ins Zwecklose auseinanderstreben. Darum finden wir den innersten Gedanken unserer Weltanschauung wieder in dem, was bei Jesus im Mittelpunkte der Verkündigung steht, dem Reich Gottes. Die äußere Welterkenntnis kann sich ändern; die aus dem Willen aber ist zeitlos, immer neu, weil sie neu in jedem denkenden Menschen geboren werden muß, immer alt, weil sie da ist, seitdem die Menschen 20 [In einem Brief vom 12. März im Zentralarchiv Günsbach beklagt sich Schweitzer, wie mühsam das Schreiben der Predigt gewesen sei, da er nebenbei noch seinen Neffen habe Lateinunterricht geben müssen. Vgl. dazu Anmerkung am Schluß der Predigt. Darum habe er dann im Zug von Colmar nach Straßburg den letzten Teil fertig ausgearbeitet. Er sei von seiner gewohnten Predigt-Unruhe erfaßt worden. Doch sei dann am Sonntag alles gut gegangen und er fühle sich wieder ruhig.]

21 [Siehe S.

1066. 29.01.11 und S. 1076. 12.02.11.]

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sich über die Natur erheben – und weil Jesus ihr in seinem Tode die Weihe gegeben hat. Ihr wißt, daß die äußere Vorstellung, die Jesus mit dem Wort Reich Gottes verbindet, in manchem anders ist als die unsrige. Er erwartet eine übernatürliche Umwälzung der Dinge. Diese Welt soll in Bälde vergehen; eine neue soll durch die Kraft Gottes geschaffen werden, in der dasNatürliche in dasÜbernatürliche verklärt ist, und alles Leid und alle Sünde aufgehoben sind, und wo eine vollkommene Menschheit in einer vollkommenen Welt lebt. Die Zeit, in dem, wassie nicht brachte und brachte, hat uns gewiesen, die äußere Vorstellung vom Reich Gottes anders zu denken. Wir glauben, daß es in diesem Weltlauf verwirklicht werden soll und nicht durch ein übernatürliches Eingreifen Gottes, sondern durch die Arbeit der Menschen. Reich Gottes, Reich Jesu, Reich des Geistes sind für uns ein und dasselbe und besagen, daß wir als Ende in der Welt erstreben, daß der Geist Jesu in der Menschheit herrsche. (Keine Utopie – Vollendung eines Zieles.) Die ersten Christen in ihren glühenden Erwartungen der Erneuerung des Himmels und der Erde würden uns für sehr arm halten, weil wir die Hoffnung der Umschaffung derWelt zur übernatürlichen Vollkommenheit, die für sie mit derVorstellung desReiches Gottes eng verbunden war, aufgegeben haben. Aber wir können nicht anders, als auf dem Boden der Wirklichkeit stehen. Und wir brauchen diese Hoffnungen auch nicht so, da wir uns nicht in der Art wie jene als unglückliche Sklaven der natürlichen Welt fühlen. Sie fühlten sich so elend, weil sie glaubten, der natürliche Weltzustand sei nicht Gottes, sondern unterstehe den bösen Geistern. Von derTraurigkeit undVerlassenheit, die aus dieser Annahme kommt, können wir unskeine Vorstellung mehr machen. Wir sehen die Natur mit natürlichem Blick an und erkennen in ihr ein Spiel der Kräfte, dasvon der unerforschlichen Urkraft ausgeht, und haben gesehen, wie der Menschengeist die gewaltigsten von ihnen in seinen Bann zwingen kann. In unserer Weltanschauung liegt etwas von Zuversicht und Herrscherglaube, das die Alten nicht kannten. Was bedeutet es doch allein, daß wir Schmerz, Krankheit und Tod in einer Weise gegenübertreten können, die, wenn sie einer in der alten Zeit geweissagt hätte, unfaßbar gewesen wäre. Dieser Weg zur Vervollkommnung und zur Weltherrschaft der Menschheit gehört für uns auch zum Reich Gottes, wie alles, was im tiefen Sinne gut ist, und ersetzt uns die naiven Erwartungen von einer Umschaffung derWelt, mit der sich die ersten Christen trösteten. Es ist das, was Können und Wissen, oft ohne sich dessen bewußt zu sein, am Reiche Gottes arbeiten und als Gabe dem Meister Jesus zu Füßen legen.

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Aber zugleich wissen wir, daß alle Fortschritte in der Meisterung der Kräfte der Welt und der Umgestaltung der äußeren Zustände eitel sind, wenn nicht die Menschheit selber neue Kräfte zum Guten bekommt und innerlich dem Ziele der Vollkommenheit näher gebracht wird. Wir können nicht wie unsere Zeit über die äußeren Fortschritte so kindlich unbefangen jubeln und stolz werden, sondern wir sehen tiefer und glauben, daß der Fortschritt, an dem die Zukunft der Welt hängt, mit der geistigen und sittlichen Erneuerung der Menschheit gleichbedeutend ist. Reich Gottes ist für uns, waswir im Geiste Jesu für die Vollendung der Menschheit glauben, wollen und tun. Was not tut, sind also Menschen, die an das Kommen des Reiches Gottes glauben, davon denken und innerlich erfüllt sind. Daß wir hier zusammen sind, will für mich in letzter Linie heißen: Wir glauben an ein Reich Gottes. Es liegt eine unendliche Kraft darin, daß eine Idee Menschen innerlich erfüllt. Und wenn sie auch scheinbar ihrer Verwirklichung nicht näher kommt, wenn es auch mehr rückwärts als vorwärts zu gehen scheint, wenn sie nur von Menschen gedacht und heilig gehalten wird. So liegt das Samenkorn im Boden unter Schnee und Sturm. Es kann nicht sprießen, aber es ist nicht tot. Die Keimkraft lebt in ihm. So gibt es auch für die Ideen Winter in der Menschheit; sie werden nicht verwirklicht und scheinen veraltet, vergessen, aber wenn sie nur von Menschen im Herzen bewahrt werden, sind sie lebendig, ihre Keimkraft ist da, ungebrochen. Ob es große oder kleine Kreise sind, die den Gedanken denken, darauf kommt es nicht an; entscheidend ist, ob wir ihn intensiv denken und davon beherrscht sind. Ein Feuer, das unter der Asche schläft, vermag keinen Brand anzufachen; dasjenige aber, dasFlamme ist, sei sie so klein, wie sie mag, ist imstande, eine Stadt zu verzehren, wenn es Nahrung findet oder derWind darüber kommt. Die Gedanken auf eine Endvollendung des Guten in der Menschheit, die in der Idee des Reiches Gottes zusammenlaufen, müssen wie eine Flamme ausuns herausschlagen, damit sie den Sinn der andern entzünden. Wir tragen sie aber zu viel verschlossen in uns und merken nicht, wie sie dadurch unwirksam bleiben und langsam in uns ersterben. Es ist euch sicher auch schon vorgekommen, daß ihr einem Menschen Monate, Jahre vielleicht, begegnetet, mit ihm alles mögliche besprachet und zuletzt die Überzeugung hattet, es sei so ein guter Mensch, der seinenWeg dahingeht und über den Kreis seiner Interessen hinaus eigentlich nicht viel denkt und hofft. Und auf einmal, durch irgend einen Zufall, durch eine unerwartete Wendung des Gesprächs, entdeckst du plötzlich, daß er über die Dinge, die die Zukunft der Menschheit angehen, vieles in sich trägt, was uns bewegt und was du ihm gegenüber nicht aussprachst. Von dieser Stunde an ist er ein anderer für dich; aus

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einem einfachen Bekannten ist er ein Mensch geworden, der dir dadurch nahesteht, daß ihr durch ein großes Sehnen und Hoffen miteinander geeint seid. Es ist eine große Schwäche unserer Zeit, daß wir in unsern Beziehungen und Aussprachen mit den Menschen immer in den wohl vorgeschriebenen Wegen und Pfaden eines Parkes wandeln und so furchtbar zurückhaltend sind in der Mitteilung dessen, was wir über das Alltägliche hinaus denken und empfinden. Wir sind unnatürlich geworden. Es läßt sich verfolgen, wie dies sich in den beiden letzten Menschenaltern herausgebildet hat. Es ist unter uns aufgekommen, daß man nur vom Alltäglichen redet und in der Beurteilung der Dinge immer tut, als kennte man nur die gewöhnlichen Maßstäbe. Es ist, als ob die Angst, als «sentimental» zu erscheinen, uns alle lähmte, so daß wir uns nicht zu geben wagen, wie wir sind, sondern unseren Ruhm darin suchten, voreinander als die nüchternen Realpolitiker des gewöhnlichen Lebens zu erscheinen. Darum geht so viel Feuer unter derAsche verloren. Darum müssen wir alle danach trachten, natürlich zu werden und in der Beurteilung der Dinge und derMenschen diehöheren Gedanken und Gesichtspunkte geltend zumachen undunszuzeigen wagen, wiewir sind. Es ist in uns allen mehr Geist Christi, als wir voneinander wissen, mehr Glauben undWollen des Reiches Gottes, als wir voneinander ahnen. Ich will annehmen, daß wir von der Idee des Reiches Gottes erfüllt sind. Es kann ja nicht anders sein, wenn man sich Feierstunden im Leben bewahrt, in denen man dieWorte Jesu auf sich wirken läßt. Warum ist in unserm Tun so wenig davon zu spüren? Ich glaube, wir sind gelähmt durch eine allzu menschliche Überlegung. Wir sagen uns: Was kann der einzelne? Dann fehlt uns der rechte Zug und die rechte Freudigkeit. Aber erst der kennt das Leben wirklich, der weiß, daß diese Überlegung, so richtig und vernünftig sie scheint, falsch ist, und daß dasHandeln eines einzelnen nie verloren ist und oft eine Bedeutung erhält, die vor ihm verborgen bleiben muß, weil sie so groß ist, daß er davon eitel werden könnte. Ihr seid draußen in der Natur gewesen; vielleicht in der gewaltigsten Gebirgswelt. Euer Blick wurde angezogen durch einen Baum. Er hatte nichts Absonderliches, aber er bestimmte die ganze Landschaft für euch. Das andere ist in der Vergessenheit versunken. Der Baum aber steht noch immer in eurer Erinnerung. So ist’s in derWelt. Nicht die großen Ereignisse machen die Geschichte, sondern dasvereinzelte Tun zerstreuter Menschen, durch die Art, wie es auf die andern wirkt, und durch den Geist, der davon ausgeht, bestimmt das Geschehen. Darum glaube fest, daß nichts von dem verloren ist, was aus demWollen und der Begeisterung des Guten von dir getan ist, auch wenn du es nicht siehst, oder annehmen mußt, es sei vergeblich gewesen. Was kann ich für das Reich Gottes tun? Die Frage beschäftigt die

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Menschen mehr, als man meint. Sie möchten etwas von der Seligkeit spüren, in einer großen Arbeit drin zu stehen. Andererseits aber sind die meisten von uns in der alltäglichen Tätigkeit eingespannt, die so fernab liegt vom Tun für das Reich Gottes. Es ist etwas fast Mechanisches, das getan werden muß für den Lebensunterhalt. Unter diesem Joche seufzen viele. Sie blicken mit Neid auf diejenigen, deren Stand es mit sich bringt, daß sie Helfer und Erzieher der Menschheit sein dürfen, oder die durch dieVerhältnisse so frei geworden sind, daß sie ihre ganze Existenz in den Dienst einer Aufgabe stellen dürfen, die um des Namens Jesu willen in Angriff genommen werden muß. Ich möchte, daß es diese Menschen jeden Morgen undjeden Abend bei sich bedächten, wie beneidenswert sie sind, in ihrem Tun mitten in der Arbeit an dem innerlichen Vorwärtskommen der Menschheit stehen zu dürfen und darin den hohen Ernst und die rechte Freudigkeit zumTun schöpften. Ich meine, ein Pfarrer, der noch so verzagt in seine Konfirmandenstunde tritt, oder ein Lehrer, der noch so verärgert in seinen Schulsaal kommt, muß angesichts der Kinder das alles, was ihm an Amtsverdruß und Amtsmüdigkeit anklebt, abschütteln, überwältigt von dem einen Gedanken, ein neues Menschengeschlecht erziehen zu dürfen und seinen Sinn mit dem, was hoch und wahr ist, zu erfüllen – und dasWort nie aus den Augen verlieren: «Welchem viel gegeben ist, von dem wird man viel fordern» [Lk. 12,48]. Aber übersehen die Menschen, die nun in den andern Tätigkeiten drin stehen, nicht oft, wo es etwas für sie zu tun gäbe? Ich stelle mir vor, daß jeder, er mag Kaufmann, Beamter, Arbeiter, Angestellter, hoch oder niedrig sein, neben seiner gewöhnlichen Beschäftigung für sich selber innerlich noch ein Nebenamt haben soll, wo er rein Mensch ist und an der Menschheit mitarbeitet. Im Augenblick, wo er heranwächst, sollte jeder das Auge offenhalten, was es für ihn rein menschlich zu tun gibt, und nun etwas Bestimmtes suchen, was er sich vornimmt, irgendein Werk, eine Aufgabe: der Fürsorge für Menschen, ob esWaisen, Bedürftige, Kranke, Alleinstehende, entlassene Gefangene sind, ob Erholungsheime, Ferienkolonien, ob irgend eine der sozialen und ethischen Fragen. An irgend etwas mußt du ein Stück deiner Person hängen. Und meine nur nicht, du müßtest immer die gebahnten Wege – Anschluß an eine Gesellschaft, Eintreten in ein Komitee etc. – gehen, sondern du mußt dir daneben noch etwas für dich suchen, wo du ein Stück deiner Person ausgeben kannst, wo du Mensch für Menschen bist. Was not tut sind Menschen, die dasAuge offen haben und tätig sind. Die Gesellschaften sind die großen Flüsse und Kanäle, die das Land durchziehen. Aber sie allein bewässern dasLand nicht, sondern die Wässerchen, die in Berg und Tal rieseln, keinen festen eingedämmten Weg haben, hier auftauchen, sich da verlieren, unscheinbar unter dem Moos dahinziehen, und die kleinen Gräben in der Ebene – diese machen die

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Au grünen. So ist es mit der Menschheit. Die Gesellschaften für die Werke der Liebe und Hilfe und die sozialen und erzieherischen Aufgaben sind die Bäche und Flußläufe. Aber sie vermögen nichts, wenn

nicht allenthalben die kleinen Wässerchen ihren Weg suchen. Aber so viel bleibt ungetan, und die Menschen bleiben beschäftigungslos am Markte stehen, wie die Leute im Gleichnis Jesu [Mt. 20,3], weil sie zu verschüchtert sind. Sie stellen sich vor, was dieser undjener sagen und denken wird, wenn sie sich nun plötzlich mit dem oder jenem abgeben, was eigentlich nicht ihres Amtes ist – und in dieser Angst, aufzufallen, lassen sie im Lauf derJahre den schönen, gesunden Tätigkeitsdrang, der in ihnen ist, langsam erlahmen. Es war im Winter, da es glatt war. Von meinem Fenster aus sah ich auf dem Ludwigsplatze, wo es gegen die Thomasbrücke ansteigt, ein Pferd mit einem etwas zu schwer beladenen Wagen, dasnicht vom Flecke wollte, nachdem es sich, wie es schien, lange brav abgeschunden hatte. Der Kutscher hatte Vernunft undHerz undgebrauchte die Peitsche nicht. Von Zeit zu Zeit machte er einen Versuch, zog am Zügel, ob dem Pferdlein wieder Mut und Kraft gekommen – mußte aber immer wieder davon abstehen. So ging es eine geraume Zeit. Drum herum standen an die dreißig Menschen. Keiner rührte sich, wo es ihnen doch ein leichtes gewesen wäre, Wagen samt Roß über die Brücke zu schieben. Da kamen – es war schon gegen Abend, die Lichter wurden schon angesteckt – zwei Arbeiter desWegs, schoben hinten am Wagen, der Kutscher zog wieder am Leitseil, das Pferd fühlte die helfende Kraft, legte sich ins Geschirr, zog an und setzte nachher seinen Stolz darein, denWagen für die zweite Wegstrecke ganz allein über die Brücke zu ziehen. Die Leute, die darum herum gestanden hatten, hatten sicher alle Mitleid mit dem Tier gehabt und auch Sinn für die Verlegenheit des Kutschers, am liebsten hätten sie mit Hand angelegt. Was sie zurückhielt, war einzig und allein die Scheu, was die andern dazu sagen würden, wenn sie, deren Berufes nicht war, an einem Wagen schöben. Und wenn der Kutscher unvernünftig gewesen wäre und seinTier mißhandelt hätte, hätten sie es blutenden Herzens geschehen lassen oder sich höchstens miteinander darüber ausgesprochen, daß es nicht erlaubt sein sollte, ein Tier so zu quälen. So geht es fortgesetzt im großen und im kleinen, weil uns die große, innerliche Natürlichkeit, persönlich mitanzufassen, wo sich etwas bietet, fehlt, und so bleiben viele ihr ganzes Leben tatenlos, tote Kräfte, die soviel Groß- undKleinarbeit hätten leisten können. Aber die größte Tatenlosigkeit rührt daher, daß wir meinen, alltägliches Tun und irgendeine besondere Tätigkeit, wo wir an den Zielen der Menschheit arbeiten, voneinander trennen zu können, und uns nicht eingestehen, daß beide in demselben Geiste getan werden müssen. Reich Gottes ist überall, in deinem Hause, im Geschäft, in der Werkstatt, draußen – es kommt nur darauf an, daß du ein bißchen davon an

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dir trägst und es mitbringst. «Das Reich Gottes ist inwendig in euch» [Lk. 17,21], sagt Jesus einmal in tiefsinniger Weise den Menschen, die ihn nach demselben fragen. Das will heißen, daß wir es mit herumtragen und etwas von seiner Atmosphäre hinbringen, wohin wir kommen, wenn etwas davon in uns ist. Und das Schreckliche ist, daß wir das so oft mit Bewußtsein abtun und uns selber vorreden, nur gerade die Pflicht zu tun, nur auf unsern Vorteil auszugehen, alles nur nach dem formalen Recht entschieden sein zu lassen, die übrigen ruhig ihres Wegs gehen zu lassen, auch wo wir ihnen etwas antun könnten, nach dem Satz «Was dich nicht brennt, blas nicht» – kurz und gut, so eine Art Vorhang zwischen uns und unserm Tun undVerkehren anzubringen, damit unsere Seele und der wirkliche Mensch in uns nicht in die Dinge des täglichen Lebens hineinschauen und hineinreden. Das scheint uns bequem; es erspart uns manche Enttäuschung, manchen Ärger und läßt uns vermeiden, daß wir manchmal übervorteilt werden. Diese Erfahrungen haben die meisten wohl zu diesem Sein, welches ich als die Realpolitik destäglichen Lebens bezeichnen möchte,

geführt. Im Grunde ist’s etwas Schreckliches. Wenn man euch im Winter zumutete, euch in kalten Räumen aufzuhalten, so würdet ihr euch arg entrüsten. Und was machen wir? Wir schaffen sommers und winters eine kalte Atmosphäre um uns, in der wir mit den andern langsam das innerliche Leben verlieren, in der es trostlos und unerquicklich ist und die alles Vorwärts ertötet – und das alles, um so im guten und bequemen Sinne vernünftig zu sein, wo der innere Trieb unseres Herzens uns so oft anders, reiner, besser, edler, wahrhaftiger handeln ließe. Der Apostel Paulus rühmt sich seinen Gemeinden gegenüber seiner Unvernunft, wie sie es zu nennen lieben, und sagt, dassei seine Weisheit [I Kor. 3,19]. Das Reich Gottes kommt bei uns nicht voran, weil wir nichts mehr von Unvernunft an uns haben. Wir müssen es wieder werden und im täglichen Leben sein, wie wir wirklich sind und innerlich sein wollen. Wo du beteiligt bist, halte darauf, daß die Fragen nicht mit Unwahrhaftigkeit gelöst oder nach ganz äußerlichem Recht entschieden werden, sondern so, wie es aus dem Geiste der wahren Gerechtigkeit und des wahren Guten geschehen soll; laß keine Ungerechtigkeit bestehen und geschehen, wo du irgendwie helfen kannst, und zwinge dich und die Deinigen, nach den edlen, wirklich menschlichen Grundsätzen zu reden und zu handeln, damit gute Luft bei dir ist und deine Kinder nicht verkümmern. Für die Unannehmlichkeiten und die Nachteile, die du mehr als einmal mußt in Kauf nehmen, und die Zurechtweisungen, die du nicht selten erfahren wirst, wird dich entschädigen, was Menschen dir auch

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wieder danken werden und daß dein Herz frei ist. Wie viel Gutes kann ein Mensch tun, wenn er bei der nötigen Unvernunft ein kluger und besonnener Charakter ist. Wenn du einen solchen antriffst, sag dir, daß dir ein größeres Glück geschehen ist, als wenn du von Kaisern und Königen zu Gast geladen bist. Ich kenne ungefähr vier oder fünf, die es wirklich sind – unklug, weil sie nie schweigend Ungerechtigkeit oder Unwahrheit hatten geschehen lassen, und klug, weil sie, mit Geisteskräften ausgerüstet, immer das richtige Wort und das richtige Tun fanden. Der eine von ihnen steht hoch in Jahren und kommt nicht mehr aus seinem Zimmer. Nur wenige haben zu ihm noch Zutritt. Wenn ich von ihm komme, bin ich jedesmal von einer Ruhe und Zuversichtlichkeit erfüllt, als hätte er mir ein Teilchen von dem, was er jetzt im Leben nicht mehr braucht, ins Herz gegeben – und ich weiß nicht, ob ich ohne ihn diesWort vom Unklugsein so frisch zu predigen wagen würde; aber ich meine dann immer, es steht ein langes – nicht mein kurzes – Leben dahinter. Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Wahrhaftigkeit sind das Fundament des Reiches Gottes. Sie bilden das Grundwasser. Auch dieses ist unsichtbar da, im ganzen Erdreich verteilt; darüber laufen Flüsse und Bäche. Im Momente aber, wo es versiegen würde, täten Bäche und Flüsse in den Boden verschlungen werden, und wenn ihre Quellen aus den Bergen noch hundertmal stärker nachströmten. So ist es mit Menschlichkeit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. Sie müssen die Verhältnisse, in denen wir leben, durchdringen bis in ihre kleinsten Dinge. Da hilft nichts, daß man darüber rede und schreibe, was zu tun wäre, sondern daß Menschen anfangen und damit Ernst machen in ihrem Leben, daß das Feuer nicht unter der Asche weiter fortschwele, sondern in leuchtenden warmen Flammen herausschlage und Brand entfache (Beginn desReiches Gottes ist ... das«Anders-sein»). Wir betrachten in dieser Zeit dasLeiden des menschlichen Heilands. Es ist etwas Ergreifend-Großes, dasjedes Jahr wieder vor unserm Auge vorüberzieht. Aber zuletzt ist es mehr nur ein Sinnbild eines Leidens Christi, das sich nicht in einigen Tagen abspielt, sondern sich über Jahrhunderte hinzieht ... dasLeiden desGeistes Christi, der in der Menschheit in Banden und Ketten gehalten, mit falscher Klugheit und Ängstlichkeit geknebelt wird und nicht wirken kann von dem, wozu er in der Welt ist. Diese Passion des Geistes Christi spielt sich vor unsern Augen ab... wir wollen nicht untätig zusehen, sondern ernst sein und helfen, daß er, soviel an uns liegt, unter uns frei werde und wirken könne auf das Reich Gottes hin. Das sei unsere innerste Weltanschauung; sie mache ausuns frohe, starke Menschen, Kräfte in derWelt.¦22¿ 22 [Samedi soir, 11 heures, 11 mars 11. L’après midi fait du latin avec les garçons Ehretsmann.]

Sie aber vernahmen das Wort nicht

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Morgenpredigt Sonntag, 26. März 1911, [St. Nicolai]¦23¿

Mk. 9,32: Sie aber vernahmen dasWort nicht und fürchteten sich, ihn zu fragen

Sie vernahmen dasWort nicht, will hier heißen, sie verstanden es nicht. Die Jünger sind mit Jesus auf dem Wege nach Jerusalem. Eben hat er ihnen gesagt, daß er hinaufziehe, um dort zu leiden und zu sterben, weil es so sein müsse. Das ist ihnen unfaßbar. Er erklärt es ihnen nicht; sie müssen die Tatsache aus seinen Worten entnehmen, ohne sie zu verstehen. Die Art, wie er es ihnen mitteilt, sagt ihnen, daß er sich nicht genauer verständlich machen werde, weil er es nicht könne. Sonst, wenn ihnen in einer Rede oder einem Gleichnis etwas dunkel geblieben war, durften sie des Abends, wenn sie allein mit ihm waren, an ihn herantreten und ihn um Erklärung bitten. Und er tat es in seiner freundlichen, liebevollen Weise. Nun aber müssen sie sich darein ergeben, daß etwas zwischen ihm und ihnen ist, das nicht geklärt werden wird, und daß er ihnen kein Wort zu den Fragen und Sorgen sagen wird, die er in ihrem Herzen und in ihren Augen liest. Das ist eine Passionsgeschichte in der Passionsgeschichte, die sich nicht zwischen derWelt undJesus, sondern zwischen ihm und den Seinen abspielt. Er muß ihnen den Schmerz antun, etwas für sich zu behalten, wo sie doch ihr Leben mit dem seinen zusammengetan und alles aufgegeben haben, um mit ihm zu sein und mit ihm zu wirken. Was dort geschieht, ist euch nicht fremd. Das Leid, wie es sich zwischen Jesus und die Jünger drängte, kommt überall da hin, wo Menschen miteinander leben und miteinander eins sind. In allen Verhältnissen des Daseins taucht es auf. Darum erschreckt nicht, wenn es euch begegnet, sondern wißt, es muß also sein, und lernt aus dem, daß es auchJesus und seinen Jüngern nicht erspart blieb. Dein Kind war dein in dem Sinne, daß es für dich durchsichtig war. Du kanntest seine Gedanken und wußtest seine Entschlüsse. Dann kommt eine Zeit, wo es es selber wird. Du fühlst, daß es etwas für sich behält, Entscheid über sein Schicksal aus sich heraus trifft. Da beginnt ein stummer Kampf zwischen dir und ihm, jahrelang, und das Wort Mangel an Vertrauen geht ausgesprochen oder unausgesprochen zwischen euch her und macht euch unglücklich. Es waren Freunde; sie verstanden sich. Da fühlt einer langsam vom andern, daß er ihm in irgend etwas entgleitet. Er denkt einen Gedanken oder bewegt einen Entschluß in sich und läßt ihn nicht teilnehmen, oder er leidet an etwas und sagt es ihm nicht, daß er ihm helfe. 23 [Im Kirchenboten ist Schweitzer als Prediger im Morgengottesdienst eingetragen.]

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Oder du ahntest und fühltest nichts, bis es dir plötzlich offenbar wurde, daß du neben ihm einhergingst und meintest, sein Leben zu kennen und zu teilen, und er in Wirklichkeit ein Stück davon vor dir verborgen hielt. Es war nichts Böses, aber du verstehst nicht, warum er dich nicht daran teilnehmen ließ, und sagst dir, er sei unaufrichtig gewesen und habe dir kein Zutrauen entgegengebracht – und weißt doch wiederum, daß es das nicht war, sondern daß er es tat, weil er nicht anders konnte. Oft zeigt erst der Tod, was ein Mensch, der um uns war, und von demwir dachten, er könne sich uns mitteilen, für sich behielt. Bekannte von mir in einer andern Stadt sahen bei sich öfters ein Mädchen, dem sie ihr Vertrauen und ihre Sympathie in offener Weise entgegenbrachten, weil sie die tapfere Art bewunderten, wie es sich mit Stundengeben durchs Leben schlug. Sie war immer frisch und aufgeräumt unter ihnen. Eines Morgens erfuhren sie, daß sie Hand an sich gelegt und freiwillig aus dem Leben geschieden war. Es zeigte sich, daß der Grund in trostlosen häuslichen Verhältnissen lag, unter denen sie jahrelang gelitten haben mußte. Nie hatte sie davon gesprochen. Zu dem Schmerz um das traurige Ende mischte sich bei meinen Bekannten die Frage, warum sie nie dasVertrauen hatte, zu zeigen, wie es ihr wirklich ums Herz war, und der Schmerz, daß man ihr vielleicht das Leben hätte erträglich machen können. Zwei Menschen heiraten. Im Überschwang der edelsten Gefühle sagen sie sich, daß sie alle Gedanken gemeinsam haben wollen. Da bringt die Zeit einen Tag, wo daseine dasandere nicht ganz versteht, von ihm fühlt, daß es sich in etwas nicht ganz mitteilt. Nun beginnt das Leiden und dann das Quälen. Die Worte «Mißtrauen», «Mangel an Offenheit» schleichen sich zwischen ihnen ein undwalten ihres traurigen Amtes. Es ist lauter Alltägliches, von dem ich rede. Es ist die Geschichte vom Elend, dasdaher kommt, daßMenschen, die sich verstanden undso miteinander lebten, daß sie ein Recht darauf hatten, immer Einblick in das Herz des andern zu haben, vor dem Rätsel stehen, daß das Leben etwas bringt, dasan sich nicht böse ist, aber dassie nicht mehr miteinander verstehen undtragen können, sondern dasdereine für sich behalten muß. Warum dies also ist, vermögen wir nicht immer zu erklären. Das Natürlichste wäre gewesen, daßJesus seinen Entschluß, sich nachJerusalem zumTode zu begeben, nicht nur angezeigt, sondern ihnen auch erklärt hätte, wie er dazu gekommen, welche Bedeutung dieses Opfer habe, warum es gebracht werden müsse, um sie so zumVerstehen zu bringen, damit sie ihm Hilfe und Stütze seien. Er konnte es nicht, sondern behielt es als Geheimnis für sich und nahm es mit sich ins Grab. Von dir im Leben weißt du ebenso, daß mancher Entschluß, manche Sorge und anderes, was dich bewegt, dein bleiben muß, manchmal wenigstens vorläufig, bis es ausgereift und geklärt ist, ohne daß du es selber

Sie aber vernahmen das Wort nicht

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genauer erklären kannst, und ohne daß du den Menschen, die dein Leben teilen, damit Mißtrauen entgegenbringst. Und ebenso weißt du, daß es Dinge gibt, die du den andern mitteilst und erklärst und in denen du ihnen, so nahe sie dir auch stehen, fremd und unbegreiflich bist. Und was die andern mit dir, erlebst du mit ihnen. Du stehst keinem Menschen nahe, und keiner dir, ohne daß Augenblicke kommen, wo sich etwas Fremdes zwischen euch legt, wie ein Wolkenschatten plötzlich über ein sonniges Feld kommt, wo dasWissen und Verstehen in irgendeinem Ding zwischen euch aufhört. Das ist der gefährliche Augenblick für alle menschlichen Verhältnisse. Denn nun setzt Mißtrauen und Quälen ein. Unbedachte und verdächtigende Worte gehen aus und unterwühlen, was diesen Menschen gemeinsam teuer und heilig war, und zuletzt gehen sie fremd nebeneinander her oder feindlich auseinander, weil sie auf ein erstes Nichtverstehen nicht gerüstet und dagegen nicht gewappnet waren. Es ist nicht zu zählen, welches Leid so alltäglich über Menschen kommt – weil die Menschen diese eine Probe nicht aushalten können. Die Jünger aber vermochten es. Sie verstehen den Meister nicht und sind voll Sorge. Aber sie quälen ihn nicht mit Bitten um Erklärung und halten treulich bei ihm aus. Sie glauben an ihn und lassen das Unverstandene dahingestellt. Darin stehen sie groß vor uns da und lehren uns etwas. Die Menschen meinen gewöhnlich, daß das Größte zwischen Menschen sei, das «sich ganz kennen und ganz verstehen». Gewiß. Es gibt aber noch etwas Höheres, das in gewissen Augenblicken eintreten muß: Der Glaube an den andern. Ohne ihn sind die tiefsten Beziehungen von Mensch zu Mensch unmöglich, da sie durch ein Mißverständnis oder ein Nichtverstehen gefährdet werden können. Der Glaube an den andern ist wie ein Damm, der die Fluren schützt, wenn die Wasser des Stromes über die Ufer treten. Wenn wir auf den Dämmen, die unsere Stadt umgeben, spazieren gehen und den Rhein friedlich in seinem Bette dahinfließen sehen, könnten wir denken, sie seien unnötig. Es wird wohl auch Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter – und nochmals kehren dieJahreszeiten wieder, und man hätte ihrer nicht bedurft – aber über Nacht einmal, ehe man sich’s versieht, sind sie notwendig geworden. So ist’s mit dem Glauben an die Deinen. Du kannst lange mit ihnen leben, und es genügt, daß ihr euch immer besser kennt und besser versteht, und du denkst, was denn zwischen euch kommen könne – und über Nacht kommt etwas, das euer Sosein miteinander vernichten kann, wenn du nicht den Damm des Glaubens aufgeführt hast, gegen den die wirbelnde Flut von Fragen, Gedanken desMißtrauens und Vorwürfen sich bricht und aufgehalten wird, daß sie sich nicht über alles, was euer war, ergießt und ihren Schlamm darüber führt.

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Predigten desJahres 1911

Glauben heißt, daß du innerlich zu dem Menschen, der dir nahe steht, in solchen Augenblicken, ohne einWort über die Lippen zu bringen, sprechen kannst: Ich verstehe dich nicht, deine Gedanken sind mir dunkel, dein Weg ist mir fremd, aber ich vertraue dir und bin gewiß, daß es so sein soll – undwarte, bis dasDunkle klar wird. Wievielmal, wenn du in dieser Weise treu und gläubig gegen die Menschen warst, die dir nahe stehen, darfst du es dann erleben, daß das Fremde und Unbegreifliche sich nach Tagen undWochen von selbst erklärte, und du froh sein durftest, Fragen und Mißtrauen in dir verschlossen zu haben. Nimm es als eine Ermutigung, um in derselben Prüfung zu bestehen, wenn sie wiederkommt. Ihr könntet sagen: Das ist ja etwas rein Menschliches, über das du predigst, und hat mit der Religion und dem Evangelium nichts zu tun. Ich meine aber doch, daß es in etwas damit zusammenhängt und daß dieser Glaube von Mensch zu Mensch, der aushält, wo das Erkennen und Verstehen aussetzt, ein Stück Religion, ein Stück des Glaubens an Gott selber sei, denn er geht von Geist zu Geist; und was ich um mich sehe und selber im Leben erfahren habe, zeigt mir immer mehr die Bedeutung dieses Glaubens. Und wenn ihr die Augen auftut, seht ihr selber, wie viel Leid daraus fließt, daß die Menschen zuwenig innerlichen Glauben an die, die ihnen nahe stehen, haben und dasnicht leisten, was eine Prüfung von Tagen oder Wochen von ihnen verlangt – weil sie nicht verstehen, wasihnen widerfährt. Darum wollen wir in der Passionszeit, wo dieJünger in solcher Prüfung geübt werden und bestehen, von ihnen lernen und uns bereit halten, gegen die, die den Lebensweg mit uns ziehen, in derselben Weise treu zu sein in den Stunden, wo dasFremde zwischen sie und uns tritt.

Nachmittagspredigt Sonntag, 2. April 1911, [St. Nicolai]¦24¿

II Kor. 5,15: Und er ist darum für alle gestorben¦25¿ Wir wollen heute miteinander über die Frage der christlichen Lehre über das Leiden Jesu nachdenken. Ich glaube, daß wir alle fühlen, wie schwer es ist, vom Standpunkt unserer Religiosität darüber zur Klarheit zu kommen. Darum vermeidet man es für gewöhnlich, von der Kanzel über die verschiedenen Ansichten zu reden. Man hat Angst, den oder 24 [Nach dem Plan im Kirchenboten hielt Schweitzer die Nachmittagspredigt in St. Nicolai.]

25 [, auf daß die, so daleben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist.]

Under ist darum für alle gestorben

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jenen zuverletzen. Da wir aber gewöhnt sind, ruhig miteinander alle Fragen zu bedenken, auch die, wo die Meinungen sehr auseinandergehen können, so dürfen wir unsauch hier in keiner Weise scheuen undunsmiteinander fragen, wasdenn derTodJesu für unsinWirklichkeit bedeute. Als Anhänger der Lehre der Reformatoren müßten wir eigentlich kurz und bündig sagen: Durch denTodJesu ist dieVergebung der Sünden beschaffen worden, so daß jeder von uns, aufgrund dieses Opfers, vertrauend zu Gott alseinem verzeihenden Richter aufschauen darf. Wir fühlen alle, daß wir in dieser schroffen Form uns nicht mehr zu dieser Lehre bekennen können. Sie widerspricht in zwei Punkten unserm innersten Gefühl. Einmal setzt sie einen Gott voraus, der sich selber bindet, indem er die Sündenvergebung erst aufgrund eines Opfers eintreten läßt; sodann nimmt sie an, daß esvor demTodeJesu keine Vergebung der Sünden gegeben habe, wasfür uns eine unmögliche Anschauung ist. Ist dies nun wirklich die Anschauung Jesu und des Neuen Testaments, besonders desPaulus, wie die Reformatoren meinten? Die besondere Form der Lehre stammt aus dem Mittelalter und ist von dem Kirchenlehrer Anselm von Canterbury geschaffen. Von ihm übernahmen sie die Reformatoren und stellten sie in den Vordergrund des Glaubens, weil sie sich gegen die gewöhnliche, oberflächliche katholische Lehre wandten, als ob der Mensch durch seine guten Werke und durch eine von der Kirche verwaltete Sündenvergebung selig werden könne. In Wirklichkeit stammt aber die ganze Härte dieser Lehre gerade aus dem Mittelalter. Sie liegt darin, wie es ausdrücklich ausgesprochen wird, daß erstens Gott nicht vergeben konnte, ehe das Opfer gebracht wurde, und sodann, daß es vor dem Tode Jesu keine Sündenvergebung gab. Sie geht auf folgende Erwägung zurück. Gott ist heilig und gerecht. Als solcher muß er die Sünde strafen. Er darf sie nicht vergeben, ohne daß ein Opfer gebracht wird. Von den Menschen ist jeder sündig und kann kein gültiges Opfer leisten, sogar wenn er wollte sich in den Tod geben. Nur einer vermag’ s, der Gott und zugleich Mensch ist, also für keine eigenen Sünden zu büßen hat, und dessen Existenz einen Wert hat, der den einer menschlichen überragt. Also mußte Jesus sterben, ehe Sünde vergeben werden konnte. Ich habe immer den Eindruck, als würde in dieser Lehre dem lieben Gott vorgerechnet, was er kann und was er nicht kann, wo dochJesus so schön sagt: «Bei Gott sind alle Dinge möglich» [Mt. 19,26]. Die Kirchenväter kannten die Lehre in dieser fest umrissenen Gestalt noch nicht. Sie kannten aber auch die Lehre der Reformatoren nicht, daß fürjede Sünde, die der Mensch bereut, ihm durch denTodJesu Vergebung zugesichert sei. Ihre Lehre von der Sündenvergebung, so merkwürdig uns dies scheinen mag, bezieht sich nur auf dieTaufe. Aufgrund des Todes Jesu sind dem, der vor der Taufe Busse tut, die Sünden im

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Predigten

desJahres

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Augenblick der Taufe vergeben. Diese wirkt wie ein Bad, in welchem die ganze Sündenschuld weggeschwemmt wird. So kommt es, daß der Mensch in derTaufe neu geschaffen wird. Wie es aber mit den Sünden nach der Taufe ist, darüber reden sie nicht klar. Die einen sagen, daß es für diese keine Vergebung überhaupt geben könne, da der Mensch ausder Gnade gefallen sei; die andern meinen, daß die Kirche ihm für solche Sünden dann Busse auferlegen könne und dasRecht habe, sie ihm zuvergeben. Jahrhundertelang tobte in der alten Zeit ein Kampf, ob es eine Sündenvergebung nach derTaufe gebe, bis die Kirche die Frage zuletzt bejahte und sich zur Verwalterin der Sündenvergebung aufwarf. Nur so ist überhaupt dasWesen der katholischen Kirche mit ihren Ansprüchen zu verstehen. Die Lehre, daß die vonJesus erwirkte Sündenvergebung in der Taufe, und eigentlich nur in der Taufe, zur Verausgabung gelange, beherrscht aber schon dieVorstellung der ersten Christenheit. Sie setzt voraus, daß nur erwachsene Menschen getauft werden, die nun in derTaufe ihr vorheriges, unheiliges Leben begraben und, ihrer Schuld ledig, ein neues Dasein in Heiligkeit beginnen. Sie setzt ferner voraus, daß diese Welt nicht mehr lange besteht und daß dasEnde der Dinge und das Kommen des Reiches Gottes – als eine Aufhebung des natürlichen Weltzustandes aufgefaßt – in Bälde zu erfolgen habe. Sobald man aber mit der Taufe der Erwachsenen aufhörte und die der Kinder einführte und zugleich mit einer längeren Dauer der Welt rechnete, verlor diese Deutung desTodes Jesu ihre eigentliche Berechtigung. Darum hat sich kein Kirchenlehrer bis ins Mittelalter klar darüber ausgedrückt, und Anselm von Canterbury war der erste, der sie wieder neu und nun anders faßte. Bei Paulus hat man, wenn man rein auf den Wortlaut ausgeht, oft den Eindruck, als ob er eigentlich dasselbe sagte wie Luther, der sich ja immer auf ihn beruft. In Wirklichkeit stehen aber auch bei ihm Gedanken im Hintergrund, die mit der Erwartung des nahen Weltendes und dem Kommen des Reiches Gottes, wie man es damals verstand, gegeben sind. Er bringt, wie ihr wißt, Tod und Sünde in ein ursächliches Verhältnis zueinander, wie dies ausseinem Worte «Der Tod ist der Sünde Sold» [Röm. 6,23] zu entnehmen ist. Also herrscht der Tod solange in derWelt, als die Sündenschuld der Menschheit nicht getilgt ist. Bis dahin kann keine Totenauferstehung statthaben. Jesus aber bringt das Opfer. Nun kann die Zeit der großen Auferstehung, die am Ende der Welt kommen soll, anbrechen. Als erster ersteht Jesus; in Bälde werden die andern, die in den Gräbern schlafen, folgen. Jesus hat nur in Andeutungen von seinem Tod gesprochen. Wir müssen die Bedeutung, die er ihm in Hinblick auf die Sündenvergebung beilegt, ausseinen übrigen Gedanken zu erschließen suchen. Gewiß ist, daß Jesus eine Sündenvergebung kennt, die vor seinem Tode besteht,

Siehe, dein König kommt

zu dir

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also nicht an sein Opfer gebunden ist, sondern rein aus der Erbarmung Gottes fließt. So wagt er es selbst, zu Menschen zu sagen: «Dir sind deine Sünden vergeben» [Lk. 7,48] und sie beten zu lehren im Vaterunser: «Und vergib unsunsere Schuld» [Mt. 6,12]. Andererseits deutet er in den Worten aus der letzten Zeit und beim Abendmahl – «mein Blut, vergossen zur Vergebung der Sünden für viele» [Mt. 26,28] an, daß er für eine Sündenschuld in denTod gehe. Das hängt aber sicherlich nicht mit derVergebung der Schuld für den einzelnen zusammen, sondern mit der Erwartung desReiches Gottes. Wenn jemand in einen dunkeln Raum tritt, so sieht er nichts. Wenn er aber darin verweilt und sein Auge daran gewöhnt, so unterscheidet er nach und nach die Umrisse der ihn umgebenden Gegenstände. So ist es auch mit der Gedankenwelt unseres Herrn. Wenn man sich darin einlebt, erkennt man, wieso er seinen Tod als ein Sühneopfer betrachtete. Zwei Kreise sind es. Sein Tod ist für ihn aber nicht Gegenstand der Lehre. Sein Sühneleiden steht also mit dem Kommen des Reiches Got-

tes in Zusammenhang.¦26¿

Nachmittagspredigt Palmsonntag, 9. April 1911, St. Nicolai

Mt. 21,5: Siehe, dein König kommt zu dir

Die Palmsonntagsglocken erzählen uns von einem wunderbaren Frühlingstag, da ein festliches Volk Jesus von Nazareth entgegenjubelte. Wir vergessen, daß es ihn nachher verließ, und daß auf Palmsonntag Karfreitag folgt, und sehen nur dasVolk in freudiger Begeisterung und hören sein Hosianna. Unser Herz aber bewegt in sich dieWorte desPropheten: «Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig» [Sach. 9,9] und will sich bereiten, ihn zu empfangen. Es ist etwas Wunderbares um dieses Prophetenwort. Es leuchtet wie von eitel Sonnenglanz. Es hat etwas so Erhaben-Ernstes und zugleich so wundervoll Mildes, weil es die Worte König und sanftmütig so schlicht nebeneinander stellt. «Dein König kommt zu dir», will heißen, daß etwas Großes da ist, vor dem wir uns beugen sollen. Wenn man sonst an «sich beugen» denkt, stellt man sich etwas vor, das man mit Widerstreben und gezwungen tut. Aber es gibt ein Sichunterwerfen in derWelt, das Lust bereitet – das Sich beugen vor dem, was groß und rein ist. Je älter wir werden, desto größer wächst in uns die Sehnsucht nach Menschen, die uns überragen und an die wir uns anlehnen können. Und wenn wir einen gefunden haben, sind wir froh. Es ist uns, als wäre 26 [Der Schluß besteht nur aus Stichwörtern.]

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Predigten

desJahres 1911

uns viel geschenkt worden, und als hätten wir Ruhe und Frieden gefunden, indem wir unsere Gedanken aufgehen ließen in denen eines an-

dern. Solche Menschen treffen wir vielleicht einige an im Leben. Aber über ihnen, sie weit und unvergleichlich überragend, steht er da,Jesus, milde und hoheitsvoll lächelnd. Er steht da, unsichtbar für die Menge, ein längst Gestorbener und Begrabener, aber für die, die Augen haben, zu sehen, als einer, der lebt in seinen Worten, in dem, was er darin von den Menschen verlangt – und das Glück fängt erst an, wenn der Mensch sich nicht mehr als ein Freier fühlt, sondern sich ihm unterwirft undihn im Leben mitreden läßt.¦27¿ Daß doch unsere Konfirmanden dies recht verstehen! Der Tag der Konfirmation ist für sie zugleich ein Tag der Befreiung. Sie treten aus der Kindheit und der damit gegebenen Abhängigkeit heraus ins Leben hinaus. Alles liegt vor ihnen. Sie fühlen sich lebensfroh und zuversichtlich, und wir freuen uns der Freudigkeit, die ihre Brust erfüllt. Mögen sie streben, schaffen, ringen, wirken. In ihrem tiefsten Sinnen aber sei ihnen bewußt und werde ihnen von keiner Geschäftigkeit und keinem Erfolg verdeckt, daß die Worte Freiheit und Glück nicht so zusammengehören, wie man sie gewöhnlich zusammendenkt, als ob ausder Freiheit dasGlück käme. Das Glück ist nicht die Freiheit, sondern die Freiheit, die dein ist undderen dudich begibst für Menschen, für Dinge, und um den Worten Jesu zu gehorchen. Alles gehört zusammen und ist innerlich eins. Den Menschen gegenüber mögen sie bedenken, daß höher als alle Freiheit steht, was sie aus Dankbarkeit, ausPflicht, um wohlzutun, von ihrer Freiheit und ihrem Wollen hingeben. Sie werden nichts opfern, dassie nicht an Glück und Frieden zehnfach wiederfinden. Es wird ihnen auch ergehen wie uns, daß die Dinge kommen und ihnen ein Stück ihrer Freiheit abverlangen. Es wird Gelegenheiten geben, wo dieWahrheit in Not an sie herantreten wird und sagen: Komm und hilf mir! Und die Gerechtigkeit ebenso und das Gute ebenso. Sehr viele Menschen wenden sich dann ab; sie drücken die Augen zu und sehen nichts, sagen auch wohl: Was geht das mich an? Das ist nicht meine Sache, dafür sind sicher andere da. Ihre Freiheit war ihnen zu lieb, sie gingen amwahren Glück vorüber. Möchten doch die, deren zukünftiges Schicksal uns heute bewegt, das tiefere Wissen sich bewahren, daß wir nicht frei sind, sondern Diener und Helfer und Kämpfer, daß das Gute, die Gerechtigkeit und die Wahrheit in dieser Welt nicht vergewaltigt werden, sondern zum Sieg und zur Herrschaft kommen, und daß dazu jeder von uns mithelfen muß, mag sein Leben undWirken noch so still und bescheiden sein. 27 [R] Osterpredigt: Jesus lebt! Spekulation über Auferstehung. [Siehe S. 1108. 16.04.11.]

Siehe, dein König kommt

zu dir

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Das, was wir an Menschen und Dingen und Ideen an Freiheit hingeben, um zu dienen, ist Königsdienst – für ihn. Ihr werdet es erfahren in allem, was ihr tut, an dem Frieden und der Freudigkeit, die über euch kommt, und an der Festigung der Gemeinschaft zwischen ihm und euch. Sein Wort ist wahr: «Was ihr getan habt einem dieser geringsten unter meinen Brüdern, dashabt ihr mir getan» [Mt. 25,40]. Unsere Konfirmanden sind heute innerlich erschüttert und begeistert von dem Gedanken des Majestätischen und Erhabenen, das in ihr Dasein eintritt, wenn Jesus ihres Herzens Herr und König wird. Wahrt diese Begeisterung als das kostbarste Gut, das ihr von dem heutigen Tage, von eurer Jugend überhaupt, in euer Leben übernehmt. Man wird sie euch nehmen wollen. Mit Spott und Lächeln werden sie versuchen, sie euch zu verleiden, daß ihr sie gegen eine gepriesene Weltklugheit eintauscht, bei der man sich so wohl befinden soll. Schaut sie euch an. Sie wollen eseuch nehmen, nicht weil sie esverachten oder nicht für gut halten, sondern weil sie esnicht mehr haben. Hinter ihrem Spotten und ihren weltklugen Reden lauert Eifersucht und Neid auf euch, weil ihr dashabt, was sie preisgegeben haben und von dem sie doch wissen, daß es allein dasHerz füllen und glücklich machen kann. Darum haltet es fest und laßt es euch nicht nehmen, damit ihr selber nicht arme Menschen werdet, die an den Sonntagen um Palmsonntag den jungen Menschen in den Konfirmandenkleidern mit den Blicken in der Straße folgen und bei sich denken und trauern, daß sie nichts von dem behalten haben, was ihr Herz erfüllte, als sie selber sich in diesen Kleidern ergingen. Denn in dem Augenblick, wo die Begeisterung im Herzen erlischt, hört es nur noch den Namen des Königs wie ein totes, fernes Wort, aber es weiß nicht mehr, was es ist, ihn zu haben und ihm zu dienen. Und wißt, daß es der König der Sanftmut ist, wie schon der Prophet sagt: «Dein König kommt zu dir sanftmütig.» Wer ihm gleichen will, muß sein wie er. Das müssen wir Menschen unserer Zeit besonders bedenken. Der Kampf um Leben und Fortkommen macht uns hart und trotzig. Ihr werdet diesen Kampf kennen lernen und um euch herum hören sagen, man müsse «auftreten» können, vor allem gelte es, seinen Vorteil zu wahren, man dürfe sich ja nicht auf die Füße treten lassen, und was dergleichen Lehrsätze noch sind. Wenn ihr das für richtig und glücklich machend im Leben ansehen wollt, dann soll euch dasWort des Propheten, «dein König kommt zu dir sanftmütig» in den Sinn kommen und euch nüchtern machen. Wißt, nicht das «Auftreten» sondern die Tüchtigkeit, die innerliche Tüchtigkeit, [ist entscheidend]. Äußerlich aber seid angetan mit Sanftmut und Bescheidenheit, seid gut und lind gegen alle Menschen, die bekannten und unbekannten, und bewährt euch so bis in die Kleinigkeiten des Lebens hinein. Das will der Herr von uns und läßt es uns

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Predigten

desJahres 1911

durch den Mund seines Apostels verkünden, der so wundervoll schreibt: «Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen – der Herr ist nahe» [Phil. 4,5]. Nun tretet hinaus ins Leben, äußerlich als die Freien, innerlich als die Gebundenen und Diener des Königs. Er möge euch geleiten und wachsen in euch. Dann mag euch äußerlich geschehen und zustoßen waswolle, ihr werdet glücklich sein und Glück bringen und helfen, daß dasReich Gottes sich gründe auf Erden.

Morgenpredigt Gründonnerstag, 13. April 1911, [St. Nicolai]¦28¿

Mt. 10,38: Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist mein nicht wert Jesus verlangt von uns, daß wir ihm sein Kreuz nachtragen, um seiner wert zu sein. Von einem Kreuz möchte ich an diesem heiligen Tage zu euch reden: vom Kreuz der Ungerechtigkeit. Es wird uns so schwer, was uns an Ungerechtigkeit begegnet, zum Kreuz zu rechnen, das wir Jesus nachtragen sollen, weil wir unter seinem Kreuz gar zu oft nur die schweren Schicksalsschläge und das körperliche Leiden uns vorstellen. Und doch gehört alles, wasuns an Unrecht begegnet, zum Kreuze Christi.Wir müssen das sehen und es als solches auffassen, um dadurch nicht verbittert zu werden und es als geduldige Jünger des Herrn, nicht als Menschen, die sich auflehnen, zu tragen. Jesus nahm das Kreuz auf sich, ehe die Kriegsknechte ihm das Holz auf den Rücken luden. Es war das Kreuz, das ihm von denen kam, die um ihn waren, und die er liebhatte. Judas verrät ihn [Mt. 26,14– 16]; die Jünger im Garten, da er den schweren Kampf mit sich kämpft und ihrer bedurfte, daß sie ihm beiständen, lassen ihn im Stich [Mt. 26,36–46]; da er verhaftet wird, statt sich um ihn zu scharen, fliehen sie [Mt. 26,56]; aus Ängstlichkeit verleugnet ihn Petrus im Hofe des Palastes [Mt. 26,69– 75]. Das war ein Kreuz, so schwer wie das ausHolz – und er trug

es gelassen.

Warum müssen wir ihm dasselbe Kreuz nachtragen? Wir meinen, es geschehe etwas ganz Außerordentliches, wenn uns die Ungerechtigkeit derer, die um uns sind, trifft. Das Kind seufzt unter der Ungerechtigkeit, die ihm die Eltern antun; die Eltern leiden darunter, daß sie nicht das anVertrauen und an Liebe vom Kinde empfangen, was sie für Sorge und Mühe hätten einernten sollen; Freunde, mit denen wir jahrelang 28 [Nach dem Festtagskalender im Kirchenboten hatte Schweitzer Morgenpredigt in St. Nicolai.]

Wernicht sein Kreuz nimmt

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zusammen waren, Freud und Leid, Arbeit und Hoffnung geteilt haben, wenden sich, ohne daß wir verstehen, warum, von uns ab, tun uns weh, sie profanieren und verraten, was uns gemeinsam heilig war. Oder wir sehen auch, daß es Menschenfurcht oder Hoffnung auf irgendeinen Vorteil ist, der sie vergessen läßt, was zwischen uns war; oder es war eine kleine Kränkung, ein kleines Mißverständnis, ein Mangel an Vertrauen, das sich zwischen uns legte, von andern ausgebeutet wurde, wo sie dann den andern mehr glaubten als uns. Ihr alle habt in diesem Jahre unter der Schwäche der Menschen gelitten, die um euch sind. Es liegt um euch herum wie Felsgeröll; und wenn ihr meint, darüber hinaus zu sein, stößt sich euer Fuß wieder daran, und der Schmerz und dasWeh vom Unrecht, das euch von so nahe kam, von dort, wo ihr nur Verstehen und Liebe erwarten durftet, brechen aufs neue auf. Laßt sie nicht am Boden um euch liegen, und ereifert euch nicht dagegen, daß ihr bitter und hart werdet gegen die Menschen. Quält euch nicht um das Unbegreifliche; klagt es nicht Menschen, und laßt euch nicht von Menschen darum beklagen, daß kein Lärm darum entstehe, sondern blickt auf Jesus und hebt es auf. Er schaut euch mild und freundlich an und sagt euch: Das ist auch vom Kreuz, das ihr mir nachtragen müßt; nehmt es auf, ich trag’ es euch voran. Werdet still. – Und daß niemand von euch erfahre, wie schwer das Kreuz ist, das euch von der Schwäche der Menschen kommt, die ihr liebhabt. Von den Fremden erfuhr Jesus, wasVerblendung, Unwissenheit und Charakterlosigkeit an Ungerechtigkeit schaffen könne. Aus Unwissenheit und falschem Eifer schrie dasVolk «Kreuzige ihn!» [Mk. 15,13]. Aus Verblendung führten ihn die Leute des hohen Rates vor den Richterstuhl des Pilatus. Aus Charakterlosigkeit gab dieser seine Einwilligung, daß er gekreuzigt würde, gab zu, daß die Kriegsknechte ihre Roheit und ihren Spott an ihm ausließen, da sie ihn geißelten und ihm die Dornenkrone aufsetzten [Mt. 27]. Dieselben Kräfte wirken noch in der Menschheit unserer Tage, und wir müssen gefaßt sein, daß wir ihre Macht an uns zu fühlen bekommen. In Worten und Überlegungen klingt es uns auch natürlich, aber wenn der Augenblick kommt, und es heißt, Unrecht über sich ergehen lassen, stehen wir klein und schwach da.Wir meinen, es in alleWelt hinausschreien zu müssen, was uns geschieht, und alle Menschen zu Zeugen anrufen zu müssen, daß dieses Unrecht sei, als ob wir die einzigen wären, denen solches geschieht. Und dann lassen wir Gedanken des Hasses und der Rache in uns einziehen und stumpfen uns ab, indem wir sagen, daß, wenn uns Unrecht geschieht, wir anderen auch solches zufügen dürfen, und lassen uns in Gedanken heruntersinken, in denen unsere Seele nicht mehr atmen kann. Ihr seht es um euch so gut wie ich, daß soundso viele Menschen nicht

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Predigten

desJahres 1911

auf der Höhe des Lebens wandelten, nach der ihnen der Sinn stand, weil sie über Unrecht, dasihnen im Leben geschah, nicht hinauskamen. Sie sind darüber gestolpert und gefallen. Und von euch selber wißt ihr, wie tief wir sinken, wenn wir uns den natürlichen Gedanken über das, was uns von Menschen zugefügt wird, hingeben, und welche Flecken solche Zeiten auf unserer Seele zurücklassen. Darum soll es so sein, daß in jedem Jahre der leidende Heiland aufs neue zu uns redet und uns über dasnatürliche, menschliche Sinnen hinausführt. Wir müssen für unser Leben jenes tiefe «Esmuß also sein» [Mt. 26,54] lernen, das ihn so ruhig macht, und uns erziehen und bereiten, durch Unrecht nicht aus der Bahn geworfen zu werden. «Es muß also sein.»Jedem ist esbestimmt, solches über sich ergehen zulassen. Schau es dir doch mit klaren Augen an! Du siehst es an als etwas, was aus der Bosheit der Menschen kommt; in Wirklichkeit aber fließt es aus dem Nichtwissen, aus der Schwäche und der Gedankenlosigkeit der Menschen und kommt auch rein aus dem Zusammenwirken des Geschehens. Auch da, wo die Menschen etwas Gutes zu verwirklichen suchen. Bedenke selber, was dir schon vor Augen und zu Ohren gekommen ist von Unrecht, das Menschen durch dich erfuhren. Wo du in Schwäche, Unwissenheit oder Gedankenlosigkeit handeltest, ohne zu wissen, wie schwer sie darunter leiden würden. Siehe auch auf Unrecht zurück, das mit deinem Wissen und mit deinemWillen von dir ausging, nicht weil duweh tun wolltest, sondern weil esmit etwas verbunden war – unentwirrbar verkettet – mit dem, wasdu als gut und als Pflicht ansahst. Wer von unsist nicht schon in die Lage gekommen, Menschen gegen seinen Willen sehr weh tun zu müssen undzu wissen, daß sie das, wasdutatest, alsbitteres Leid auffassen müßten. Ich fürchte, daß wir uns zu wenig zu dieser natürlichen Betrachtung der Dinge erziehen. Und doch liegt sie in dem Sinne Jesu, glaube ich. Er selber will ja immer, daß die Menschen ruhig und klar nachdenken und den Lärm in sich zur Ruhe kommen lassen, damit die Gedanken der Gerechtigkeit undWahrheit zuWorte kommen. So vieles an frommer Bereitung zum Ertragen des Leides der Ungerechtigkeit, das ehrlich und tief gemeint ist, hält im Leben nicht stand oder nimmt einen frömmelnden, sich im Märtyrertum großtuenden Charakter an, weil das Fundament der natürlichen Überlegung, die die Dinge sieht, wie sie sind, fehlt. Ich sehe, wie oft, auch in Büchern über Religion, mit einer gewissen Überspanntheit vom Tragen des Unrechts geredet wird und die Menschen, wenn sie solches üben, zu einer Selbstgerechtigkeit kommen, die nicht im Sinne Jesu liegen kann. Ihr versteht, wie ich es meine, ohne daß ich es näher ausführe. Das Große anJesus ist, daß die höchsten und reinsten Gedanken bei ihm aus natürlich-menschlichen Erwägungen, aus der Vernunft im schönsten und tiefsten Sinne, herauswachsen, wie auch die Gipfel der

Wernicht sein Kreuz nimmt

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höchsten Berge nicht steil und einsam sich aus der Ebene erheben, sondern aus Gebirgen und Vorgebirgen, umgeben von anderen Gipfeln, emporstreben. So ist es mir auch, wenn ich Jesus recht verstehe, daß er unsin seiner Leidensgeschichte zu einer natürlichen Gelassenheit fuhren will, aus der dann die höchsten und tiefsten Gedanken über Dulden von Unrecht, die Gedanken, welche zu Gott führen, wie von selbst hervorwachsen und nie welk werden, weil sie wie aus einem natürlichen Boden immer neue Nahrung empfangen. Wenn in diesen heiligen Tagen in euch der Gedanke emporsteigt, fertig zu werden mit großen und kleinen Bitternissen, die die letzten Monate euch brachten, so glaube ich, daß wir da im Geiste Jesu handeln, wenn wir einmal die Dinge, wie sie sind, vor uns hinstellen und uns fragen, wieviel in dem, was uns weh tut und was für uns Ungerechtigkeit ist, wirklich bewußte Schuld von Menschen gegen uns ist und wieviel nur aus Schwäche und ausMangel an Nachdenken und zuletzt auch rein ausden Umständen kam. Ihr werdet finden, daß der Haufe merkwürdig zusammenschmilzt. Und dann fragt euch auch ernstlich, was von euch aus, ohne daß ihr weh tun wolltet, an Kränkungen, Zurücksetzung, Nichtachtung, Ungerechtigkeit und Schädigung an andere kam und wieviel sie euch zu verzeihen haben von dem, was eure Kurzsichtigkeit und Übereilung ihnen zufügte. Da nimm dies alles zusammen, was auf dein eigen Schuldkonto kommt, und zieh es ab vom andern, was dir selber widerfahren ist, wie sich’s in einer richtigen Buchführung des Lebens gehört. Was dann noch übrig bleibt, dasist dasKreuz an Ungerechtigkeit, dasdu auf dich laden sollst, um es dem Heiland nachzutragen und auf Golgatha neben dem seinen in den Boden zu stecken und als ein neuer Mensch, des Kreuzes ledig, aus Bitternis über Ungerechtigkeit zu neuem Leben auferstanden, ausder Karwoche wieder ins Leben hinauszutreten. Gar manche unter uns, die glaubten, unter Ungerechtigkeit zu leiden, und sich zurückgesetzt und gedrückt fühlten, werden erstaunen, wenn sie diese einfache Buchführung, um die Schwere des Kreuzes festzustellen, ehrlich ausführen. Sie werden fast beschämt sein, wenn am Ende nur noch ein kleines, leichtes Kreuzlein bleibt, dasman spielend aufhebt und in der Hand trägt, wo sie sich vorgestellt hatten, unter einem schweren Kreuz einherzuwanken. Mögen sie wissen, wie glücklich sie sind, und Gott danken, indem sie im Glück gut und mild werden und Kräfte sammeln, Schwereres zu tragen, wenn es an sie herankommen sollte. Es sind aber unter uns, die haben ein schweres Kreuz, das ihnen bleibt. Mögen sie das herrliche Wort des Herrn in seiner ganzen Tiefe begreifen, um den Mut zu finden, das Kreuz auf sich zu nehmen und es ihm nachzutragen ohne Murren und ohne Klagen und dabei des letzten Wortes des Spruches eingedenk werden: «Der ist mein nicht wert.»

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Predigten

desJahres 1911

Jesus nahm sein Kreuz auf sich, was von Gott kam, das ihm gesandt war zu der inneren Läuterung und Vollendung, zum Würdigwerden, Erlöser zu sein. So liegt in jedem Unrecht, das wir tragen müssen, etwas, das uns läutert. Es ist nicht einfaches und schlechtes Unrecht, das uns begegnet, sondern es liegt darin etwas von einer Kraft, die uns aus dem gewöhnlichen Leben herauslockert und über die gewöhnlichen Gedanken hinaushebt und uns innerlich frei macht von den Dingen und von den Menschen. Keiner ist frei im Leben, keiner weiß, was Friede ist, der nicht im Unrecht, das ihm begegnet, stille wurde und in den Stunden, da er damit rang, fühlte, wie er innerlich vorwärtskam, und wie er die Melodie seiner eigenen Seele vernahm. So gehen wir mit leichten und mit schweren Kreuzen an diesem stillen Tag dem Herrn nach. Und wenn ihr Menschen seht, die unter dem ihren nicht vorwärtskommen, die es nicht richtig aufzunehmen wissen, oder deren Kraft ihm nicht gewachsen ist, so tretet zu ihnen und helft ihnen tragen, wie Simon von Kyrene des Heilands Helfer wurde [Mt.

27,32].

Es ist schwer, einen Menschen, der am Leibe leidet oder von schweren Schicksalsschlägen getroffen ist, aufzurichten und zu trösten, weil wir ihm nicht sagen können, daß wir das kennen, was ihm geschieht, und es auch erfahren haben. Aber den Menschen, die in Bitterkeit dahingehen und von der Ungerechtigkeit des Lebens verwundet sind, kann jeder helfen, der wahrhaft Mensch ist. Denn jeder hat schon von dem erfahren, was sie bedrückt, undjeder, der Kreuz trug, hat auch in sich vom Kreuzesfrieden etwas, das die Worte umspielt wie ein milder Duft, das von Herz zu Herz geht und die Seele still macht. Und wenn ihr solche kennt, wagt es, etwas von der Feierlichkeit dieser Tage an sie heranzubringen und ihnen das Ohr zu öffnen, daß sie den Klang der Karfreitagsglocken vernehmen, und etwas vom Frieden des Kreuzes Christi empfangen.

Morgenpredigt Ostersonntag, 16. April 1911, [St. Nicolai]¦29¿

II Kor. 5,17: Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden! St. Paulus ist der rechte Osterprediger, für seine Zeit und für unsere, denn er weiß die Gedanken der Menschen auf das zu führen, was die wahre Auferstehung desHerrn ist. 29 [Der Predigtplan im Kirchenboten gibt Schweitzer für die Morgenpredigt in St. Nicolai an.]

Das Alte ist vergangen

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In seiner Zeit beschäftigten sich die Apostel und die ersten Christen mit den Gedanken über die Auferstehung des Herrn, wie sie ihnen in Erscheinungen, die sie gehabt hatten, gewiß geworden waren, und fragten sich, wie solches zu verstehen sei, in welcher Daseinsform er jetzt existiere, wann er daraufhin auf denWolken des Himmels für die große allgemeine Totenauferstehung und dasletzte Gericht erscheinen werde. Der Apostel Paulus wurde von denselben Fragen bewegt, wie ihr aus den Angaben in seinen Briefen schließen könnt. Im 15. Kapitel des ersten Korintherbriefes sucht er sich die Vorstellung einer geistigen Leiblichkeit und leiblichen Geistigkeit auszudenken, die ihm erlaubt, anzunehmen, daß Christus zwar als ein geistiges Wesen auferstanden und doch von den Jüngern am Morgen des Ostertages leibhaftig ge-

schaut worden sei. Aber über diesen Fragen allen steht ihm eine: Die große Oster- und Auferstehungsfrage, die sich nicht auf etwas, was einmal geschah und was man glauben muß, auf Bericht, bezieht, sondern auf die ewige geistige Auferstehung Jesu in den Menschenherzen, – daß Christus lebt in uns und durch uns in derWelt weiterwirkt. Auch in unserer Zeit beschäftigt sich die Christenheit mit den Fragen der Auferstehung, und die mannigfachsten Ansichten stehen gegeneinander. Die einen wollen sich zwingen, an eine wirklich geschehene, leibhafte Auferstehung zu glauben, weil die Jünger das, was sie am Ostermorgen erlebt, in der Art schildern, als ob Jesus leiblich vor ihnen gestanden habe. Sie meinen, durch dasWort gebunden zu sein, nicht anders glauben zu dürfen. Andere wollen annehmen, daß es sich bei dem, was dieJünger erzählen, mehr um Gesichte (Visionen), ein geistiges Schauen handle, daswir irgendwie psychologisch begreifen können, das sie aber in ihrer Unbefangenheit der greifbaren Wirklichkeit gleichsetzten. Wieder andere unter uns fühlen sich genötigt, ganz allgemein über die Vorstellung von der Möglichkeit der Fortdauer eines Wesens nach seinem Tode nachzudenken und sich mit den Schwierigkeiten zu beschäftigen, die der Annahme eines persönlichen, individuellen ewigen Lebens entgegenstehen. Das alles spielt sich in unserer Zeit ab. Ihr wißt, wie heftig die Meinungen aufeinanderprallen. Die einen wollen den Glauben an die leibliche Auferstehung als eine Lehre, der nicht widersprochen werden darf, mit der das Christentum steht und fällt, unter uns aufgerichtet wissen, die anderen fühlen sich durch ihr Gewissen gezwungen, dagegen zu kämpfen, daß man die Anschauungen nicht knechte und jeden über diese Frage denken lasse, wie er es innerlich muß, und ihn darum doch als Christ anerkenne. In manchen protestantischen Kirchen hat der Kampf den Frieden unterwühlt. Prediger sind angezeigt worden von solchen, die mit ihnen in

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demselben Amte stehen, daß sie das Christentum falsch lehrten, Glaubensprozesse wurden in Szene gesetzt. In unserem Lande ist der Friede gewahrt. Ich glaube, mehr denn ein Prediger, zu welcher Ansicht er sich auch immer bekenne, wird sich beim Klang der Osterglocken dessen freudig bewußt werden, daß wir untereinander Duldung üben und Fleiß tun, seine Gedanken also auszudrücken, daß er niemand verletzt, vielmehr, indem er seine eigene Überzeugung ausspricht, die der anderen nicht richtet, sondern achtet, und dasbetont, was über den Meinungen steht und uns eint. Über den Meinungen steht, was schon für Paulus darüber stand: Der Glaube an die geistige Auferstehung und das Fortwirken Jesu in uns. Das ist die sichtbare, zu allen Zeiten erweisliche Auferstehung, von der die andere, wie man sie sich auch vorstelle, nur ein Gleichnis ist. Und nach diesem Überzeugtwerden von der Auferstehung sehnt sich dieWelt, jetzt mehr dennje, je skeptischer sie wird. Früher, als sie es noch nicht so war, hatte sie eine Ehrfurcht vor der christlichen Lehre und der christlichen Weltanschauung, auch wenn sie sie nicht verstand und annahm. Das ist nicht mehr. Die Zeit ist real geworden. Nur das, was sie als Kraft wirkend spürt, besteht für sie. Alles andere ist Schall und Klang. Viele bedauern diesen Umschwung, in dem der natürliche Respekt vor dem Ehrwürdigen und Heiligen, dasAhnen der Größe auch dessen, was man nicht versteht, untergegangen ist. Aber wenn nur das eine da ist: Die Ehrfurcht vor der wirkenden Kraft, dasunmittelbare Gefühl für dasWirkliche, so dürfen wir nicht klagen. Denn dann wird sich das, was von derPersönlichkeit Christi fortlebend in derWelt ist, derWelt schon offenbaren und sie zum Bekenntnis führen: Jesus lebt. Und das ist doch das Letzte und Einzige des Christenglaubens, daß die Welt zum Glauben kommt, daß er durch seinen Geist in der Menschheit lebt fort und fort und alles neu schafft.

In unserer Zeit ist eine Sehnsucht nach dem Offenbarwerden der Lebenskraft Jesu in der Menschheit. Sie redet nicht viel davon, ist sich vielfach dessen selbst nicht bewußt, aber das Sehnen ist da. Sie fühlt den großen geistigen Niedergang, der durch keine Wissenschaften und Errungenschaften verdeckt werden kann. Es ist geistige Armut da und ein Warten, daß etwas Neues und Großes in unsere Zeit hineinträte, neu schaffend wirke und ausder Niedrigkeit und Kleinheit erlöse. So ist unsere Welt für den, der die Gedanken ahnt, die sie wirklich bewegen, bereitet und empfänglich, Jesus in seinem geistigen Wirken zu erfassen und dankbar aufzunehmen, daß etwas von dem wahr würde, wasPaulus in dasWort einschließt: «Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.» Von uns, die wir zu Jesus halten, erwartet man, daß etwas von seinem Wesen durch uns offenbar werde. Man schaut auf

Das Alte ist vergangen

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uns, ob wir anders sind, ob unser Reden und Tun, unser ganzes Wesen bestimmt wird durch etwas, was vom Geiste Jesu ausgeht, ob Sonnenschein über uns liegt, ob wir Laub und Blüten und Frucht bringen. Wie wir müden Menschen in diesen Wochen an den Bäumen vorübergehen und zu ihnen aufschauen, ob es denn wirklich wahr ist, daß sie mit einer gewaltigen, geheimnisvollen Kraft in Verbindung stehen, die dasWunder wirkt, daß Säfte des Lebens in sie einfließen, die Knospen zum Schwellen bringen, und sie prangend nun vor uns stehen und uns herrlich predigen, daß etwas neu geworden ist und unser Herz und Sinnen in diese Erneuerung mithineinziehen, so schauen die Menschen draußen auf uns, die wir uns zur christlichen Gemeinschaft bekennen, und beobachten uns, ob in uns eine Triebkraft sich offenbare, und warten auf dasWunder – auf dasWunder, daß wir in Christus und durch seinen Geist neue Kreaturen werden. Ich rede nicht mit euch davon, wie wenig von diesem Wunder durch uns Wirklichkeit geworden ist und wie oft wir wissentlich uns dieser Welt gleich stellten, gegen unsere bessere Überzeugung nicht waren, was wir hätten sein können, und die Kräfte, die wir in uns spürten, nicht zurWirkung kommen ließen, sondern Religion und Leben trennten. Ich rede auch nicht davon, wie weit wir noch entfernt sind von der Herrlichkeit des Wortes des Paulus: «Siehe, es ist alles neu geworden», und von den Schwierigkeiten, daß der Geist Jesu, von uns ausgehend, unsere Welt umgestalte. Ich möchte nur, daß wir in dieser Stunde miteinander das Festliche dieses Wortes, in dem uns der Apostel Paulus Ostern predigt, erfaßten und es auf uns wirken ließen wie Frühlingssonnenschein, der Winterkälte und Wintertraurigkeit aus den schmalsten Gassen und engsten Winkeln vertreibt. – Ich möchte, daß sie uns umspielten wie eine wundervolle Musik, vor der die alltäglichen Gedanken verstummen – Ich möchte, daß wir miteinander innerlich ernst und froh werden, daß wir Jesus hinaustragen dürfen in die Welt, daß es an uns liegt, Frühlingskräfte in der Umgestaltung der Dinge, nahe um uns herum und fern von uns ab, zu werden, und daß wir in dieser Festesfreude – in der Festesfreude, die aussieht auf das, was geschehen und kommen soll – innerlich erneuert aus dieser Kirche heraustreten und uns, die Bekannten und die Unbekannten, durch das Gelöbnis innerlich verbunden wissen, daß wir uns im Geiste Christi erneuern wollen fort und fort, um als Kräfte von ihm, als Zeugnisse seines Lebens, in unserer Welt zu stehen und ihr etwas zu bringen von dem Wunder, nach welchem sie sich sehnt.

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Morgenpredigt Sonntag, 30. April 1911, [St. Nicolai]¦30¿

Lk. 24,36: [Friede sei mit euch!]¦31¿

Es liegt etwas Wunderbares über den Geschichten, in denen die Evangelien erzählen, wie Jesus nach seinem Tod seinen Jüngern erschien. Wir stehen dem, wasberichtet wird, nicht mehr unbefangen gegenüber und wagen zu bezweifeln – und müssen es ausunserer ganzen Weltanschauung heraus tun – ob dies alles in dem Maße Wirklichkeit gewesen ist, wie es geschildert wird, oder ob nicht vieles mehr als geistiges, inneres Erlebnis aufzufassen sei. Und doch ziehen uns diese Erzählungen immer wieder an, weil ausihnen allen dieses Wort herausklingt: «Friede sei mit euch» und in uns eine Sehnsucht weckt, daß auch uns in denTagen nach Ostern dieser Friedensgruß entgegengebracht werde und der Herr geistig zu uns komme und uns seinen Frieden schenke. Darum wollte ich, daß dieses Wort an diesem Tage unter uns ertöne und uns seinen Segen

bringe. Ich weiß nicht, mit welchen Gedanken und aus welchen Verhältnissen heraus ihr zum Gotteshaus gekommen seid. Es sind vielleicht manche unter euch, die denWeg gemacht haben, geängstigt und gequält in innerer Ratlosigkeit. Vielleicht drückt eine schwere Schuld ihr Herz, oder sie sind gemartert von der Sorge um ihre Gesundheit; oder sie haben eine bittere Enttäuschung oder einen Schicksalsschlag erfahren, der sie aus der Bahn geworfen hat und ihren Glauben an Gott und das Leben erschüttert hat. Diese werden das Wort im Zweifel vernehmen, denn sie fragen sich, ob esüberhaupt einen Frieden gibt. Ihnen möge der Gruß sagen, daß es einen Frieden gibt; er möge es ihnen einfach sagen, wie er lautet, daswill heißen, daß wir es ihnen im Namen Jesu aussprechen dürfen, daß es keine Schuld gibt, für die nicht Vergeben ist, keine Sorge, die uns die innerste Ruhe der Seele für immer nehmen darf, und kein Geschehen, das uns den Glauben an Gott und das Leben zerstören kann. Es ist etwas Wunderbares, dies im Namen Jesu aussprechen zu dürfen und sicher zu sein, daß es nicht Schall und Ton ist, sondern Wirklichkeit und Erlösung für die, die sich inWahrheit danach sehnen. Aber wer es ergreifen will, der muß die Hand danach ausstrecken. So viele erfahren nicht, was Friede ist, weil sie meinen, er komme von selbst, und nicht wissen, daß man Arbeit tun muß an sich selber, damit der Friede sich in uns einsenken undWurzel fassen könne.

30 [Nach dem Kirchenboten hielt Schweitzer Morgenpredigt in St. Nicolai.] 31 [UndJesus trat mitten unter sie und sprach zuihnen: Friede sei mit euch!]

Friede

sei mit euch!

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Hast du schon das Feld gesehen nach dem Winter, wenn die Zeit kommt, daß der Sämann darüber hingeht? Was nützte es, wenn er den kostbarsten Samen darüber ausstreute? Er würde darauf liegen bleiben und von den Vögeln davongetragen werden, wenn nicht vorerst Pflug und Karst über die Erde kämen und sie zur Aufnahme der Saat bereiteten. So geht der geistige Christus als Sämann durch dieWelt, und doch können so viele Herzen den Frieden nicht fassen, weil sie unbereitet sind wie das Land, für das sich im Frühjahr keine schaffende Hand fand.

Du suchst Frieden. Willst du ihn, so mußt du dich dazu bereiten. Das erste ist, daß du dich fragst, ob du wirklich den Frieden suchst – den wahren Frieden, der uns über das Leben hinaushebt und von dem Jesus uns redet, nicht irgendein Zufriedensein, das uns die Dinge des Lebens erträglich macht. Wenn du dich aus einer Schuld nach Frieden sehnst, sei ernst mit dir undfrag dich, wonach du dich sehnst. Ist es, daß du nur befreit werden willst von einer Erinnerung, die du nicht los wirst, oder an etwas nicht mehr denken zu müssen wünschst, was dir immer wieder ins Gedächtnis zurückkehrt, so ist’s nicht die wahre Sehnsucht nach dem Frieden. Aber wenn du dem, was geschah, ruhig ins Auge blickst und fühlst, wie du dadurch vor dir selber gedemütigt bist und die Gewißheit hast, daß das, was sich ereignete, nie ausgelöscht sein wird, daß du es nie vergessen willst, sondern daß es an dir arbeiten soll und dich immer demütig halten wird, wenn in dir dasVerlangen ist, daß deine Kräfte dir nun dazu heilig seien, was davon noch wieder gut zu machen ist, zu tun, nicht einmal, sondern zehnmal, immerfort durchs Leben, wenn du durch das, was an dir geschehen, das Gefühl hast, die Augen über dich selber geöffnet bekommen zu haben, gewarnt worden zu sein, damit du einen neuen Weg einschlagest, und wenn du dich nun danach sehnst, die innere Gewißheit zu finden, daß du diesen Weg gehen darfst, einem neuen Leben entgegen – dasist die wahre Sehnsucht nach dem Frieden. Wer Frieden haben will, muß durch die Wahrhaftigkeit mit sich selber sich zu dieser Sehnsucht durcharbeiten, anders hört er nur den Klang desWortes und kann von dem, was es ist und bringt, nichts in sich aufnehmen.

Und wer aus Sorge um seine Gesundheit, aus Schmerz um etwas, wasihn im Innersten getroffen hat, Frieden sucht, der wisse bei sich selber auch, daß Sorge und Schmerz keine Hand haben, den Frieden festzuhalten, sondern daß es gilt, sich zu fragen, wonach sich das Herz sehnt. Ist es nur der Wunsch in dir, aus dem allem wieder herauszukommen und eine Sehnsucht, daß die Dinge wieder werden, wie sie waren, und dein Leben wieder in das Gleis komme, in welchem es einherging, ehe das eintrat, was dich aus der Bahn warf, so ist es nicht das rechte Verlangen nach Frieden, sondern ein Wunsch nach Wiederherstellung der

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Zufriedenheit, den die Menschen so oft für Sehnsucht nach dem wirklichen Frieden halten. Darum sei ernst und wahrhaftig mit dir selber und läutere in dir die Unruhe, die nach Ruhe verlangt, damit sie zur wahren Unruhe der Seele werde. Wenn dich die Sorge um deine Gesundheit anfällt, dann suche Frieden in dem, daß du dich fragst, ob du die innerliche Kraft hast, zu tragen, was kommen könnte, wenn es auch das wäre, was dir jetzt das Schwerste scheint, und indem du den Kampf aufnimmst mit den Gedanken derVerzagtheit, mit dem Fragen und Quälen, warum dir solches geschieht, und in dir nur das zu Worte kommen läßt, was dir von einer inneren Sehnsucht nach Stärke und Heiterkeit redet. Dann erst ist es das wahre Verlangen nach dem Frieden aus der Sorge um Leib und Leben. Und wer aus schweren Schicksalsschlägen und Enttäuschungen Frieden sucht, der muß in derselben Weise wahrhaftig undernst mit sich selber werden. Zuerst leg ab, wasan Bitterkeit undVorwürfen gegen Menschen in dir laut wird und was an Gedanken des Nachtragens deine Seele schwer macht. Du sagst: Wie soll ich daskönnen? Und doch weißt du bei dir selbst, daß kein Gedanke des Friedens in dein Herz einziehen kann, solange dieser Tumult darin ist. Darum zwinge dich zu wollen. Richte dein Denken immer auf die eine Erwägung, daß das, was uns geschieht, uns nur äußerlich durch Menschenschuld kommt, so sehr es auch aussehen mag, als ob nun alles von ihrem Willen ausgehe und ohne sie nicht wäre. Im letzten Grunde geschieht es, weil es geschehen muß, und sie sind nur dieWerkzeuge dessen, waskommen sollte. Nimm deinen Verstand und gewöhne ihn, zwinge ihn, daß er sich in diesen Gedanken findet. Wie der Reiter mit dem Pferd, dasvor der Bahn scheut, an die Schranke reitet und es auf den herannahenden Zug ausschauen läßt, es zwingt, an der Stelle zu bleiben und auf das zu blicken, was kommt, mag es auch am ganzen Leibe zittern und sich aufbäumen, bis es zuletzt lernt, daß der Zug auf seinem Gleise einherdonnert und ihm nichts anhat und dann ruhig seines Weges geht, so mußt du deinen Sinn zwingen, daß er nicht vor den Menschen scheut, sondern unbeirrt um den Augenschein, als wären sie die Quelle des Bösen, seines Weges ruhig weiter zieht. Und seid gewiß, das ist nicht so schwer, wie es scheint. Es ist keiner, deresernstlich will, demesnicht auch wahrhaft gelänge, sich zu dieser höheren Auffassung aufzuschwingen. Undwenn die Menschen immer sagen, es sei so schwer, so ist’s, weil sie nicht den wahrenWillen dazu gehabt haben und sich nicht darin übten. Noch ein anderes hält die Menschen oft zurück, aus dem, was ihnen begegnet, denWeg zum wahren Frieden zu suchen. Sie kommen nicht über den Stolz hinweg und fühlen von allem nur das eine: daß sie gedemütigt wurden, und daß der oderjener mit Spott und Schadenfreude auf sie herabschaute. Sie fragen sich oft nicht, was ihnen wirklich ge-

Friede sei mit euch!

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schehen ist, sondern, was die Menschen darüber denken und dazu sagen können, und treiben so in dem Kreis der gewöhnlichen Überlegungen umher und sehen nicht, daß das, was sie unruhig macht, sogar viel selbstgemachte Pein ist. Mit dieser selbstgemachten Pein räum auf, mit diesem Drum und Dran der Gedanken um das, was geschehen, wie man, wenn ein Haus eingestürzt ist, ehe man daran denkt, es neu aufzuführen, den Schutt wegräumt. Und dann, wenn du allein bist mit der Tatsache, besieh sie dir ruhig und schau, was sie in deinem Leben bedeutet. Frag nicht, warum es so gekommen, warum mußte das mir geschehen; denn ich fürchte, wenn wir mit uns ehrlich sein wollen, müssen wir bei allen Schicksalsschlägen und bei allen Enttäuschungen uns innerlich immer gestehen, daß das, was kommt, mit dem verglichen, was wir durch unsere innere Untüchtigkeit verdient hätten, immer noch milde ist. Blicke vielmehr auf eines aus: Wie du mit dem, was geschehen, innerlich fertig werden und Kraft finden kannst, das Leben weiter zu tragen und nicht schwach und verbittert zu werden, dann bist du auf demWeg zum Frieden und kannst dasan Stille und Geistesgröße, wasvonJesus kommt, in dich aufnehmen. Ich muß fürchten, daß diese Worte von der Bereitung zum Frieden euch allzu erdacht und allzu nüchtern vorkommen, weil sich nicht alles, was sich an Erfahrenem und Geschautem in der Seele bewegt, so lebendig und innig in Worten ausdrücken läßt, wie wir es möchten. Wir müssen uns bescheiden, daß wir in vielem, wo wir gerne anderen hülfen und ausdem innersten Wesen schöpften, nur in Gleichnissen reden können, die erst dann lebendig werden, wenn die Gedanken derer, die sie vernehmen, die Worte ergreifen und mit ihrem eigenen Inhalte füllen. Aber in einem hat uns unsere gemeinsame Andacht zusammen- und weitergeführt, daß wir wissen, es kann kein Friede kommen, wenn wir ihn nicht suchen, daß er einem Menschen nicht zuteil wird auseiner unbestimmten Sehnsucht danach, sondern nur, wenn diese Sehnsucht durch Wahrhaftigkeit und Ernst des Menschen gegen sich selbst geheiligt wird und er sich über die kleinen Erwägungen erhebt, die Unfrieden und Unruhe in ihm wachhalten, und das große Gefühl des Feierlichen und innerlich Demütigen, ohne dases keinen wirklichen Frieden gibt, in ihm aufkommen läßt. Und dessen sind wir auch miteinander gewiß: Daß, wer den Frieden wirklich sucht, ihn immer finden wird – wer ihn wirklich sucht, wie der Mann die köstliche Perle in seinem Acker, von demJesus in seinem Gleichnis erzählt, daß er gewiß war, sie sei darin und daraufhin grub und grub, bis er sie fand [Mt. 13,44]. Der Friede ist ein Stück vom Reich Gottes und liegt tief, tief in dir, wie alles, wasvom Reich Gottes ist, im Tiefsten deines Herzens. Darum sei so gewiß, daß er in dir ist, wie der Mann glaubte, daß die köstliche Perle in seinem Acker lag.

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Was dir begegnet im Leben und dich unglücklich und arm macht, nimm es, als spräche das Leben zu dir von dem Kleinod, dasin dir ruht und dich über alle Maßen reich machen kann ... das der einzige Reichtum ist ... grabe tief in dich hinein, immer tiefer, durch die Schichten hindurch, die der Pflug der gewöhnlichen Überlegung nicht mehr durchfurcht .... Werde nicht müde und matt, bis du dasKleinod gefunden hast. Und in vielem, was dir sonst nur äußeres Ereignis, Hemmnis, Zerstörungskraft in deinem Leben wäre, wirst du die Stimme des Herrn vernehmen undin seinem «Friede sei mit euch» still und stark werden.

Nachmittagspredigt Sonntag, 21. Mai 1911, [St. Nicolai]|32¡

Lk. 24,36: [UndJesus trat mitten unter sie und sprach zu ihnen: Friede sei mit euch!] Ihr erinnert euch, daß wir in einem der letzten Gottesdienste den schönen Gruß des geistigen Herrn «Friede sei mit euch» miteinander betrachteten.|33¡ Wir bedachten, daß es nicht genügt, sich nach Frieden zu sehnen, um ihn zu ergreifen, sondern daß wir uns innerlich dazu bereiten müssen, indem wir ernst und wahrhaftig mit uns selbst werden und alle oberflächlichen und allzu menschlichen Gedanken von unserm Herzen herunterräumen und diejenigen in uns suchen, die wirklich inneres Leben enthalten und Frieden geben. So viele Menschen gehen friedlos einher, wenn sie in Schuld verfallen oder von Menschen und Schicksal Schweres erfahren haben, weil sie bei den gewöhnlichen Überlegungen stehen bleiben und nicht darüber hinauskommen. Nun gilt, ihr fühlt es, der Gruß des Herrn nicht nur dem Frieden in uns, sondern auch dem um uns.Von dem Frieden im Hause möchte ich in dieser Nachmittagsstunde zu euch reden, von dem mit den Menschen überhaupt in der von heute in acht Tagen.|34¡ Es fehlt so viel am Frieden in unsern Häusern. Wir leben miteinander zusammen, haben uns gern, möchten uns nur Liebes und Gutes antun – und atmen tatsächlich miteinander eine Luft desUnfriedens ein, die uns alle beelendet. Alle sind wir oft darüber unglücklich gewesen; die Schuld schieben wir gewöhnlich auf die Menschen und die Dinge. Was ist der Hauptgrund des Unfriedens? Woran liegt es, daß wir, ohne es selbst zu wollen, so oft dazu kommen, unfreundliche und ver32 [Auf dem Plan im Kirchenboten ist Schweitzer für diesen Nachmittagsgottesdienst eingetragen.] [Siehe S. 1112. 30. 04. 11.] 34 [Siehe S. 1121. 28. 05. 11.]

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Friede sei mit euch!

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letzende Worte aus unserm Munde ausgehen zu lassen, Schadenfreude zu zeigen, bös zu spotten, uns von der Ungeduld hinreißen zu lassen, den Unsrigen zu Leid zu leben? – als müßten wir einem bösen Geiste in uns gehorchen, um dasselbe von den andern zurückzuempfangen und uns so das Leben schwer zu machen und noch dazu innerlich zu leiden, weil wir in den klaren Momenten dann wieder deutlich fühlen, wie wir uns vor uns selber und den andern erniedrigen. Der tiefste Grund liegt darin, daß wir innerlich friedlos sind. Wären wir innerlich in uns still und fest, so würden wir nach außen, im Leben im Haus, nicht so aufgeregt und empfindlich sein. Wie viel Unfreundliches tun wir doch, nur weil wir innerlich unruhig und unbefriedigt sind! Wir sind dann wie ein Kahn, der von Wind und Wellen hin und her geworfen wird. Das Geringste bringt uns außer Fassung; wir suchen geradezu nach einer äußeren Ablenkung unserer Unruhe. Der schlechteste Grund zum Auslassen desUnmuts ist uns gerade gut genug. Und weil wir innerlich friedlos sind, haben wir auch keine Kraft über die andern. Friede des Herzens heißt nicht nur Ruhe, sondern er schließt eine gewisse Freudigkeit undHeiterkeit in sich, die ausuns herausscheint und auf die andern wirkt. Ein Mensch mit Frieden der Seele ist wie eine Sonne im Hause, die Nebel undWolken aufzehrt. Das habt ihr auch schon alle sicher an euch erfahren dürfen. In den Zeiten, wo es feierlich und schön in euch war, habt ihr Frieden um euch her verbreitet, wie von selbst, ohne fast etwas dafür zu tun. Es war als ob ihr die andern mithineinzöget in diese Ruhe. Wenn die Geister des Unfriedens in deinem Hause mächtig werden, such nicht lang die Schuld an dem oder jenem, sondern schau, wie es in dir aussieht ... und immer wirst du finden, daß im Herzen etwas nicht in Ordnung ist. Da fang dann an und such zuerst nach dem inneren Frieden ... dann erst kann der äußere kommen. Werde stille und schaff Frieden in dein Herz, dann kommt er ins Haus. Du trägst ihn hinein jedesmal, wenn du über die Schwelle trittst, und die Deinen schöpfen daraus, ohne es zu wissen. Friede im Haus ist die unfaßbare Musik, die ausdem Herzen seiner Bewohner heraustönt. Es kann aber einer die schönsten Melodien in sich tragen; er bringt aber keine Symphonie zustande, wenn er nicht die Regeln der Harmonie kennt und weiß, wie man die einzelnen Instrumente, Geigen, Flöten, Oboen, Hörner, Trompeten und Posaunen, behandelt. (Beethoven s’installant à côté des instrumentalistes de l’orchestre pour pénétrer le caractère des instruments). So gehört zum Frieden, daß du mit den Menschen umzugehen weißt und nach den Grundregeln der Harmonielehre handelst. Die erste lautet: Laß dich nie von der Unterhaltung hinreißen. Ihr kennt diese Situationen. In ein Gespräch wird unversehens ein unfreundliches Wort hineingeworfen, vielleicht weil eine Spannung zwi-

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schen den Hausgenossen da war. Nun gibt ein Wort das andere. Jeder wirft hinein, was er gerade aus seinen Gedanken holt; was Monate und Jahre zurückliegt, wird aufgegriffen; wasjeder an Unmut in sich vielleicht schon längst überwunden hatte, wird wieder aufgewärmt. Alle fühlen miteinander, daß dasalles sinnlos ist, und sie nicht die Hälfte davon denken. Aber sie sind wie die Trinker, die fühlen, daß sie trunken werden, und doch sitzen bleiben und weitermachen, nicht weil sie einen Genuß daran haben, sondern weil sie nicht die Energie haben, aufzuhören. So kommen dann häßliche und böse Worte heraus, die ein Haus tage- und wochenlang freudlos machen und eigentlich nie recht begraben werden. Und wo dies einmal eingerissen ist, daß ein Gespräch so entgleisen kann, dann kommt eswieder undwieder und immer häufiger. So findet der Fluß, der einmal über sein Bett getreten ist und sein Ufer zerstört hat, immer und immer wieder denWeg über die Fluren, bis er sie mit Geröll bedeckt undversandet. Da gibt es nur eines, daß du in solchen Momenten, wie du fühlst, daß Gefahr im Verzug ist, wissest, zu schweigen ... und zwar das richtige Schweigen. Es gibt ein böses Schweigen, mit überlegenem Lächeln und bösem Auge, daslauter schreit und bösere Dinge sagt als die entfesselte Zunge; es stachelt die andern nur noch mehr auf. Das Schweigen, das ich meine, ist ein anderes. Es liegt wie ein Bitten darin, ein Beschwören, daß wir uns nicht weiter gehen lassen; es ist, als ob es den andern sagte, daß wir das, was hier dem Munde entlief, selber nicht glauben und uns miteinander schuldig fühlen und nicht weiter gehen wollen ... Dieses gute Schweigen ist eine Kraft, die das Feuer erstickt; vielleicht wird es nicht zum ersten Mal, vielleicht auch nicht zum zweiten wirken – aber es wird zur Anerkennung kommen, und die Deinen werden es von dir lernen und dir danken. Nur darfst du dich nicht überheben, als wärest du nun der Friedensapostel, und nachher richten und tadeln. Sondern rede nie davon, als wäre es nie geschehen, und tue, als ob du nur so gehandelt hättest, wie die andern auch dachten. Niemand kann Frieden stiften, der in dem, was er für den Frieden tut, sich über die andern erhebt, sondern nur die sind es imstande, die alles, was sie tun, in einer schönen Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit geschehen lassen. Das ist eines der größten Geheimnisse des Lebens überhaupt – und des Lebens in den vier Wänden im besonderen. Die zweite Harmonieregel lautet: Jedes Ding zu seiner Zeit. Ihr werdet oft bemerken, daß etwas Unerquickliches entsteht, wenn in ein gewöhnliches Gespräch plötzlich ernste Sachen, die zu erledigen sind, hineingetragen werden. Der andere ist darauf nicht gefaßt, hat sich die Sache nicht überlegt, ist nicht in der Stimmung, darauf einzugehen, und sagt nun, was ihm gerade durch den Kopf geht; vielleicht ist er auch müdund abgespannt – und die Streiterei, wo eins dasandere miß-

Friede sei mit euch!

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versteht und beide im Unrecht sind, ist im Handumdrehen fertig. Wie viel Unfriede kommt doch nur daher, daß ernste Angelegenheiten beim Mittagessen oder Abendessen unerwartet verhandelt werden, als gäbe es keine andere Möglichkeit, sie zu besprechen. Darum mach es dir zur Regel, daß du für die ernsten Dinge, für die Erledigung von schwebenden Fragen, dasAustragen von Meinungsverschiedenheiten, deinen Hausgenossen nie unvorbereitet überfällst. Frag’ ihn, ob er heute oder morgen einen ruhigen Augenblick für dich Zeit hätte, um die Frage mit dir zu besprechen. Dann ist er vorbereitet; die Stunde der ernsten Sache hebt sich ernst und feierlich aus den andern heraus; ihr seid beide ruhig; die Zufälligkeiten sind ausgeschaltet. Vieles, was am Tisch oder im gewöhnlichen Gespräch zu einer Diskussion führen würde, wird dann ruhig erledigt, und beide sind einer von der Sachlichkeit und demVerständnis desandern entzückt, wo sie sonst Gefahr gelaufen hätten, sich zu streiten. Auch hier wieder geht’s nicht beim ersten und nicht beim zweiten Mal. Wenn du es den Deinen vorschlägst, lachen sie dich vielleicht gar aus, daß dujetzt solche «Geschichten» machst, statt einfach loszureden, wenn es dir durch den Kopf geht. Aber sie werden dir innerlich doch dankbar sein und es dir nachmachen. Die dritte Harmonieregel lautet: «Zeit bringt Rat» – in betreff des Unangenehmen, das dir begegnet. Einer deiner Hausgenossen ist unfreundlich oder ungerecht mit dir, ist vielleicht nicht offen und ehrlich mit dir verfahren oder ließ sich gegen dich fortreißen. Wenn du deinem gewöhnlichen Empfinden nachgibst, wirst du nun auf der Stelle eine Erklärung herbeiführen und ihm die Meinung sagen, wie es dir dein verletztes Gefühl und dein Gerechtigkeitssinn eingeben. In der Erregung werdet ihr beide übertreiben, miteinander schelten. Das Ende vom Lied: Eine Sache, die sich durch Tage undWochen hinzieht. Erlaube dir nie, so zu handeln, sondern warte. Wenn du selber ganz ruhig bist, dann wähl einen ruhigen Augenblick – es können Tage vergehen – und red’ mit ihm. Dann findest duWorte, die es dem andern – der sich seither auch bedacht hat – erlauben, sein Unrecht einzugestehen, dir zu erklären, daß es ein Mißverständnis war, oder daß er in Erregung und Müdigkeit gehandelt hatte – und du selbst läßt es zu diesen Erklärungen gar nicht kommen, sondern nimmst ihm alles vorweg, daß du nicht als Richter vor ihm stehst. – Manches bringst du überhaupt nicht zur Sprache. Meine nicht, daß der andere nicht weiß, was du ihm damit erweisest. Er weiß es und dankt es dir. (La façon dont Jésus fait les remarques à sesdisciples «le soir» – et non dans lajournée). Die Gewißheit, daß, was auch vorkommen möge, nicht gleich zu Rechten und Auseinandersetzungen führt, sondern, wie nach geheimen Übereinkommen, auf eine ruhige Stunde vertagt wird, wenn es nicht unterdessen sanglos begraben wurde, gibt dir und den Deinen eine

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solche Ruhe und Sicherheit zueinander, daß ihr die Menschen, die nun gleich miteinander loszanken – und gar noch vor fremden Ohren – als ganz unglücklich anseht, weil sie wehrlos jedem unangenehmen

Zufall ausgeliefert sind. Die vierte Harmonieregel lautet: Schau dir das Gesicht an. Unser angestrengtes Leben bringt es mit sich, daß wir oft müde und abgespannt sind und uns nicht so sehr Herren unserer Gebärden undWorte fühlen, als wir es sein möchten. Ihr habt es dann schon oft erfahren, wie gut es ist, wenn die Menschen um uns nachsichtig mit uns sind und es merken, daß wir müde sind, ohne daß wir es ihnen zu sagen brauchen. Darum, ehe du ungeduldig mit einem Hausgenossen wirst, schau dir dasGesicht an; da findest du oft Müdigkeit und Traurigkeit, die dir alles erklärt, und dankbare Augen werden dich für deine Nachsicht belohnen. Die fünfte und sechste Harmonieregel führe ich nur kurz an. Die fünfte lautet: Klag nie bei einem Hausgenossen über einen andern, denn damit wird nie Gutes gestiftet. Die andern merken schon von selbst, wenn du einen schweren Stand hast; der, über den du klagst, erfährt es aber immer und wird dann gedemütigt – und du warst vielleicht noch ungerecht gegen ihn, weil man, einmal im Zug zu klagen, leicht mehr sagt, als man verantworten kann. Die sechste besagt: Halte dich im Zügel. Es gibt manche Menschen, die bilden sich etwas darauf ein, «natürlich» zu sein, wie sie sagen, und sich immer gerade so zu geben, wie sie sind; sind sie lustig, dann lustig; mißmutig, dann mißmutig; ärgerlich, dann ärgerlich; traurig, dann traurig. Das ganze Auf und Nieder, das im menschlichen Gemütszustand sich abspielt, wird nach außen offenbar. Dadurch kommt dann viel Unruhe unter deine Hausgenossen. Erziehe dich, daß dein Gemütszustand sich nicht so unmittelbar nach außen kund gibt, sondern daß du im Verkehr mit den Hausgenossen von einer gewissen Gleichmäßigkeit bist. Du selber wirst dabei viel glücklicher sein. Ihr Eltern, lehrt das die Kinder durch dasBeispiel, dasihr gebt – und vergeßt euch nicht so oft, wie es der gewöhnliche Mensch tut. (Sich zusammennehmen). Nun die letzte, die siebente Regel: Such die Schuld des Unfriedens in deinem Hause immer bei dir selbst, und wenn du hundertmal glaubst, die andern dafür verantwortlich machen zu können. Fang bei dir selber an und suche, innerlich und äußerlich wirklich friedfertig zu sein und auch die Klugheit der Friedfertigkeit zu üben. Halt aus, und wenn du anfangs auch gar keinen Erfolg hast, und sei gewiß, daß er auf die Dauer, wenn du nur treu bist, nicht ausbleiben kann. Eine Reformation vollzieht sich nicht von einem Tag auf den andern. In unsern Häusern allen aber ist viel zu reformieren, damit wir so glücklich miteinander leben, als wir es möchten. So wolle es denn ernstlich, eine Kraft zum Frieden zu werden – und sei sicher, daß es nichts gibt, das dieser Kraft widerstehen kann.

Habt mit allen Menschen Frieden

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Nachmittagspredigt Sonntag, 28. Mai 1911, [St. Nicolai]|35¡

Röm. 12,18: Ist es möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden DasWort desApostels Paulus soll unsere Gedanken für unsere letzte Betrachtung über den Frieden leiten. Wir redeten das vorletzte Mal vom Weg zum Frieden im Herzen; das letzte Mal vom Frieden im Hause; heute vom Frieden mit den Menschen, mit denen wir zusammenkom-

men. DasWort ist so schön, weil es so ideal und zugleich so wahr und natürlich ist. Der Apostel sagt, daß wir mit aller Kraft danach streben müssen, mit allen Menschen Frieden zu haben; aber zugleich erkennt er an, daß es nicht immer möglich ist, und wir also darüber nicht unglücklich werden sollen, wenn es uns nicht gelingen will, wie wir möchten. Es ist aber Gefahr, daß wir dieses Wort zum Ruhekissen nehmen und uns trösten, indem wir vorschnell und ohne uns wirklich innerlich geprüft zu haben, einreden, daß wir alles getan haben, um den Frieden zu wahren. Wir wollen das ernste Wort nicht so leicht nehmen und es gerade seines Ernstes entkleiden, der seine Größe ausmacht. Wenn ich in meinem Leben auf die Ereignisse zurückblicke, die mich zuletzt in Unfrieden mit Menschen auseinanderbrachten, so habe ich den Eindruck, daß ich eigentlich in keinem dieser Fälle mich in den Schutz dieses «soviel an euch liegt» stellen kann, denn wenn ich es überlege, so finde ich doch immer, daß ich in jedem Falle, auch da, wo ich im Augenblick selbst glaubte, vollständig im Recht zu sein, manches getan habe, das sicher nicht richtig war und das ich ungeschehen machen möchte. Sicher ist es bei einem jeglichen von euch auch so. Darum wollen wir dieses «Ist es möglich, soviel an euch liegt» sehr eindringlich zu uns reden lassen, wie es im Sinne dessen, von dem es gesprochen ist, gedacht wurde. Ihr wißt, daß er ein Mann des Friedens war. Umtobt von den heftigsten Kämpfen, die sich gegen seine Person und Ideen richteten, hat er sich immer als ein Mann des Friedens bewährt. Seine Briefe sind da, um uns zu zeigen, wie er immer dasÄußerste und fast das Unmögliche tat, um denen, die ihm entgegenstanden,

entgegenzukommen, Mißverständnisse aufzuklären, Vergangenes zu begraben. Man wird so klein und demütig, wenn man liest, was dieser Große tat, und sich selber dann daneben stellt – sich selber – uns, die wir bei weitem nicht diese edle und reine Gesinnung haben wie er. Seine Kraft war, daß er Christus in sein Leben hineinschauen ließ. 35 [Nach dem Predigtplan im Kirchenboten hielt Schweitzer an diesem Sonntag Nachmittagspredigt.]

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Wir aber verleugnen ihn gerade in den Momenten, wo wir mit Menschen zu tun haben und uns als seine Knechte, als Kinder des Friedens beweisen müßten. Es ist euch schon allen so gegangen, daß ihr in dem Augenblicke, wo ihr mit den Menschen kalt rechtetet und nach Vorteil um Vorteil, Recht um Recht mit ihnen verfuhret und von euch selbst das Gefühl hattet, lieblos zu sein – daß in einem solchen Augenblick in euch der Gedanke aufzuckte: Und Jesus – was würde er sagen? Dann schließen wir oft die Augen und sagen uns: Ach was, das hat mit Religion nichts zu tun. Es dankt es dir kein Mensch, wenn du nun anders handelst. Man legt es dir nur als Schwäche aus. – Du fühltest, daß du etwas Großes und Reines fahren ließest – aber du schlossest dieTür vor Jesus. – Und ein Mal oder das andere überwältigte es dich; Du ließest Jesus hineinsehen; du tatest, wie du nach seinem Geist tun mußtest. – Vielleicht hat man dich nur mißverstanden und ausgelacht, vielleicht deine Versöhnlichkeit als Heuchelei und Hinterlist gedeutet – aber warst du nicht glücklicher, trotzdem? Denn was hat dies alles zu bedeuten neben dem Gefühl, mit Jesus eins zu sein und die Stille zu kennen, die dann über uns kommt, mitten in dem Lärm und den Unannehmlichkeiten des Lebens. Dann erstaunen wir, daß wir nicht öfters die Kraft und den Mut haben, inJesu Geist gegen das Kleinlich-Rechthaberisch-Menschliche in uns zu handeln. Auf etwas müssen wir dabei sehr achtgeben. Es besteht für uns die Gefahr, daß wir gern den Schein des Friedfertigen wahren und uns selbst und die andern damit betrügen, wo wir selber recht gut wissen, daß wir nur das Äußerliche, das, was man uns nachrechnen und nachsagen kann, gewahrt haben, aber im Herzen und in der Tat nicht friedfertig waren. Diese Gefahr ist viel größer, als wir selber uns oft gestehen wollen; geschickte und kluge Menschen sind ihr besonders ausgesetzt, mehr als sie sich selber gestehen wollen. Sie wissen nicht, was sie mit dieser Karikatur der Friedfertigkeit in andern für böse Gedanken wekken und was sie in sich selber durch diese Unwahrhaftigkeit Schaden leiden.

Ein großes Hindernis zum Frieden ist die Empfindlichkeit. Ihr kennt diese Menschen, die überall darauf achten, ob man ihnen genug Ehre antut, ob alle ihre Rechte gewahrt werden, und das Geringste immer gleich übel nehmen. Sie sind der Schrecken des Kreises, in den sie hin-

eintreten, und stiften Unheil überall, wo sie hinkommen. Ihr fürchtet sie und möchtet ihnen um keinen Preis gleichen. Aber ich meine, wenn wir offen mit uns sind, müssen wir uns gestehen, daß wir darin viel fehlen. Gar manchmal lassen wir unsere Haltung in Dingen, wo wir tüchtig mitangreifen sollten, dadurch beeinflussen, daß wir uns irgendwie zurückgesetzt fühlen, oder hindern einen Menschen, offen oder versteckt,

Habt mit allen Menschen Frieden

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weil wir meinen, solches von ihm erfahren zu haben. Darin müssen wir viel strenger mit uns selber werden. Es lebt ein kleiner und kleinlicher Mensch in einem jeden von uns.Wir müssen ihn abtöten, sonst bestimmt er unser ganzes Sein, zieht uns in den Staub herunter und macht andere und uns mit ihnen unglücklich. Von etwas rein Praktischem möchte ich ebenfalls reden. Friede ist nur möglich auf dem Grunde von Offenheit und Entschiedenheit. Ihr könnt es im Leben gar oft beobachten, daß eine Kälte des Unfriedens ausging von der Unentschiedenheit eines Menschen. Er sollte ja oder nein sagen und sagte weder ja noch nein, so daß die einen annehmen konnten, er hätte ja, die andern, er hätte nein gesagt. Er verfuhr so, weil er zu charakterlos war, um sich zu entscheiden, oder weil er niemand zuwiderhandeln wollte ... oder gar, wie er meinte, ausFriedensliebe.|36¡ Jeder von uns hat schon seine Erfahrungen damit gesammelt. Wir haben nicht gewagt, jemand ein klares Nein entgegenzuhalten, und ließen ihn so etwas im Ungewissen, nur weil wir Angst hatten, er könne uns unfreundlich finden. Und nachher wurde es viel schlimmer, als es gewesen wäre, wenn wir gleich am Anfang offen gewesen wären. Zum Frieden gehören klare Situationen. Für viele bedeutet Friede nur Ruhe umjeden Preis, für den Augenblick, Vermeidung aller unangenehmen Erörterung ... sie reden sich ein, das andere werde sich in der Zukunft schon finden. Du aber, laß dich durch das, was du im Leben schon erfahren hast, belehren, daß du nie Friedfertigkeit mit falscher Nachgiebigkeit und Unaufrichtigkeit verwechselst und daß alles Verschleppen und alle Unklarheit für den Frieden dasUnkraut unter demWeizen bedeutet [Mt. 13,25].|37¡ Damit meine ich nicht Schroffheit im Verkehr mit den Menschen, sondern ich möchte im Gegenteil sagen, daß wir im Verkehr mit den Menschen viel mehr auf Form und Mäßigung halten müssen, als wir es tun. Eine gewisse Verrohung [herrscht]. Von Menschen, die wir nicht kennen, [sagen wir rasch]: Der geht mich nichts an. [Beispiel Eisenbahn:] Coupé [= Abteil] (Fenster). Oder wir [dürfen nicht] bei der geringsten Gelegenheit die Fassung verlieren. Sondern [man muß] sich immer beherrschen, nie unhöflich werden; nicht unnatürliche, sondern natürliche Höflichkeit. Noch manches könnte ich mit euch bedenken, vom Praktischen, daß wir zu wenig beachten: Gib nichts auf Gerede; sei nicht feige; rechne nicht mit den Menschen. Aber darüber könnten wir die Hauptsache vergessen: über den äußeren Regeln den Geist.|38¡ 36 [R] Meine Erfahrung: Unfriede immer da, wo ein Mensch seine Pflicht nicht tat. 37 [R] (Über moderne Staatsmänner) Bedeutung des Wortes Jesu «Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein» [Mt. 5,37] für den Frieden. 38 [Der Schluß besteht aus Stichwörtern darüber, daß der Geist bewirkt, daß wir Gutes

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Morgenpredigt Pfingstsonntag,|39¡ 4. Juni 1911,|40¡ St. Nicolai|41¡

Act. 2,[1– 12: Die Pfingstgeschichte]|42¡ Draußen steht die Natur in üppiger Pracht und läßt reifen, was blühte. Der Geist desLebens ist über sie gekommen und hat sie reich gemacht. Und wir singen «O heilger Geist, kehr bei uns ein»|43¡, die wundervollenWorte und die wundervolle Weise, die uns vor Ehrfurcht erschauern lassen, immer wieder, seitdem wir sie zum ersten Mal als Kinder mitsangen.

Eine unendliche Sehnsucht überkommt uns, daß es uns ergehen möge wie der Natur und daß der heilige Geist als Geist des Lebens über uns komme, in uns schaffe und wirke und uns reich mache. Und zugleich erfaßt uns etwas wie Neid mit jenen, die Zeugen des Vorgangs waren, der in der Pfingstgeschichte erzählt wird. Sie erfuhren sinnenfällig undhandgreiflich, daß der Geist in dieWelt kam. Freilich, wir beneiden sie nicht um das, was ihnen das Großartigste schien, weil es das Sinnenfälligste war. Sie sahen, wie die Verzückung über die Apostel kam, und glaubten, in den Lauten, die sie ausstießen, die Sprachen der ganzen Welt zu vernehmen, wie es Lukas, derVerfasser tun und die Menschen uns vergeben werden, wenn sie nur das eine von uns wissen, daß wir dasGute suchten.] 39 [Aus Briefen an Helene Bresslau im Zentralarchiv Günsbach:] «30–5-11. Das Predigtlein für Sonntag morgen will nicht. Hoffentlich geht es doch.» «3–6-11. Ich gehe jetzt in die Robertsau, um dasletzte Drittel meiner Predigt zu schreiben.» «4–6-11. Mit der Predigt ist es gut gegangen heute morgen. Sie kam viel besser heraus als das Manuskript.»]

40 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer diese Predigt in St. Nicolai gehalten.] 41 [R] Wiederholt zu Günsbach Pfingsten 1921 (14.5.21). 42 [Und als der Tag der Pfingsten erfüllt war, waren sie alle einmütig beieinander. Und es geschah schnell ein Brausen vom Himmel wie eines gewaltigen Windes und erfüllte dasganze Haus, da sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt, wie von Feuer, under setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen; undsiewurden alle voll desheiligen Geistes und fingen an, zu predigen mit andern Zungen, nach dem der Geist ihnen gab auszusprechen. Es waren aberJuden zuJerusalem wohnend, die waren gottesfürchtige Männer aus allerlei Volk, das unter dem Himmel ist. Da nun diese Stimme geschah, kam die Menge zusammen und wurden bestürzt; denn es hörte ein jeglicher, daß sie mit seiner Sprache redeten. Sie entsetzten sich aber alle, verwunderten sich und sprachen untereinander: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa? Wie hören wir denn einjeglicher seine Sprache, darin wir geboren sind? Parther und Meder und Elamiter, und die wir wohnen in Mesopotamien und inJudäe und Kappadozien, Pontus und Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und an den Enden von Libyen bei Kyrene und Ausländer von Rom, Juden undJudengenossen, Kreter und Araber: wir hören sie mit unsern Zungen die großen Taten Gottes reden. Sie entsetzten sich aber alle undwurden irre undsprachen einer zudemandern: Waswill daswerden? 43 [Michael Schirmer: O heilger Geist, kehr bei uns ein, Str. 1.]

Die Pfingstgeschichte

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der Apostelgeschichte, der es hatte erzählen hören, so anschaulich schildert.

Wir wissen, daß das, was für sie das Hauptwunder war, an sich mit dem Geiste nichts zu tun hat, sondern eine nach unsern Begriffen fast krankhaft zu nennende Erscheinung ist, die nichts Einzigartiges darstellt, sondern mit der Überspannung und Überreizung der Nerven zusammenhängt. Wir wissen auch aus dem ersten Brief an die Korinther, daß der Apostel Paulus, der größte Träger des Geistes, diesem Zungenreden, wie es dann in den ersten Gemeinden geübt wurde, keinen allzugroßen Platz im Gottesdienst gestatten wollte, obwohl er desselben selber mächtig war. Er sagt, daß ihm das erbauliche, ruhige Wort viel höher stehe als alles andere. Um das Äußere, was ihnen Wunder war, beneiden wir sie also nicht, aber um das innerliche und wirkliche Wirken des Geistes, dessen sie Zeugen sein durften, daß Menschen, die bisher in Furcht geschwiegen hatten, nun, vom Geiste ergriffen, mutig wurden, das Evangelium durch Wort und Tat in die Welt hinauszutragen, und über sich selber hinauswuchsen. Dieses sichtbare Wirken des Geistes, wo er mit elementarer Gewalt in eine Zeit und Gesellschaft eintritt, möchten wir irgendwie erleben. Und die Gegenwart bietet uns nichts derart. Wir möchten uns mit dem Bilde trösten, daß es mit dem Geist ist wie mit einem Strom. Wo er noch Bach war und dem Gebirge entspringt, rauscht er über die Felsen dahin undstürzt von denBergen herunter; weiter aber zieht er ruhig und groß still seines Wegs; es spritzt keine Gischt mehr auf; man hört auch sein Tosen nicht, und doch ist er mächtig und stark. Nicht nur füllt er sein Bett, sondern noch die ganze Ebene unsichtbar mit dem Grundwasser, das von unten der Natur Labung spendet. Aber das Bild trifft nicht zu. Es zieht kein Strom heiligen Geistes durch unsere Zeit; er spendet kein Grundwasser, das das Denken der Gegenwart in seinen verborgenen Tiefen umspült und es tränkt. Die Gegenwart liegt vor uns wie ein dürres Land, in welchem hie und da in einem vertrockneten Flußbett eine Wasserader mühselig ihren Weg sucht. Was heiliger Geist ist, kommt ihr immer mehr abhanden. Er findet in dieser Vergnügungssucht, in der Verflachung, die um sich greift, in demWissensstolz und der Phrase, die zur Herrschaft kommen,

keinen Platz mehr.|44¡ So ist es sicherlich kein frohes Pfingstfest, das wir feiern, wenn wir auf die Allgemeinheit und dasöffentliche Leben schauen. Wasdie Verinnerlichung und Sammlung betrifft, die dieVoraussetzung für dasErleben desheiligen Geistes sind, gehen wir nicht vorwärts sondern rückwärts. Ich sage das nicht, um uns traurig zu machen, sondern weil wir den Mut müssen haben, die Dinge zu sehen, wie sie sind, und uns nicht mit 44 [R] Keine Wahrhaftigkeit mehr, Sinn für Gerechtigkeit.

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großen, festlichen Worten über die Wirklichkeit hinauszutäuschen, und tüchtig werden, um an der Zukunft zu arbeiten. Und wir durften esja auch jeder erfahren, daß es heiligen Geist, still verborgen, auch in unserer Zeit gibt. Wir erfuhren es, da wir mit einem Menschen redeten und mit ihm in den Gedanken auf die reinen Höhen des Lebens erhoben wurden, oder wenn wir von dem Willen und dem Tun eines Menschen berührt wurden, wo wir fühlten, daß das Arbeit am Reich Gottes sei. Und in uns selber regt sich etwas, das reiner und größer ist als wir selbst und in uns nach Gestaltung ringt und uns in den Momenten, wo wir wagen, der geheimnisvollen Kraft und dem geheimnisvollen Wollen zufolgen, über unshinaushebt. Darum, wenn wir auch mit einer großen Traurigkeit auf den Gang derWelt und das öffentliche Leben hinausblicken, so sind wir doch innerlich still und froh, weil wir Menschen um uns sehen, von denen uns ein Hauch des heiligen Geistes zukommt, und wir von uns selber die Gewißheit haben, daß sein Feuer mit einer heiligen, kleinen Flamme in uns brennt. Und wie leuchtender würde es brennen, wenn wir ihm mit unseren besten Gedanken Nahrung geben würden und nicht so vielen niedrigen und unwahrhaftigen Gedanken Raum gäben, die es ersticken – und nicht erlauben, daß es unser ganzes Wesen ergreife und als Flamme ausuns herausschlage.|45¡ So gehen an diesem Tage Gedanken der Freude und Gedanken der Demütigung und der Buße miteinander durch unser Herz. Wir wissen, daß, wenn so wenig Kraft des Geistes sichtbar um uns wirkt, wir die Schuld sind, weil wir den Geist, den wir in uns fühlen, nicht zur Macht in uns werden lassen, wo er dann da, wo wir sind, schaffen und wirken würde und wir selber zu Kräften des Geistes in dem Leben unserer Zeit würden.|46¡

In diesen Gedanken blicken wir auf unsere Zeit hinaus und fragen, was der Kampf des Geistes ist, der gekämpft werden muß, damit seine

Kraft wieder mächtig werde. Es ist der Kampf der Freiheit und der Kampf der Tat. Den Lärm des Kampfes der Freiheit hören wir; er ist gerade in unserer Zeit mit ihren Streitigkeiten, wie weit die Freiheit der Predigt des Evangeliums gehen dürfe, fast aufdringlich vernehmlich. Wir möchten oft lieber, daß er schweige und daß diese Prinzipienfrage zurückgestellt würde. Und doch darf es nicht sein, bis allgemein anerkannt ist, daß Evangelium und Freiheit zusammengehören, wofür schon Paulus sein Leben einsetzte. Was wir in unsern Tagen an der großen katholischen Kirche erleben, macht uns ernst und zeigt uns, worum es sich handelt. Sie hat die Freiheit gebunden und das letzte getan, um sie wehrlos zu machen – und 45 [R] Immer tun, wasdie innere Stimme sagt. 46 [R] Geist undTat gehören zusammen.

Ichglaube an denheiligen Geist

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mit der Freiheit ist auch der Geist geknechtet worden, und Leben ist erstorben. Darum wollen wir festhalten an den Worten des Apostels, die sein Vermächtnis an das Evangelium für alle Zeiten darstellen: «Den Geist dämpfet nicht» [I Thess. 5,19], – «Wo Geist ist, ist Freiheit» [II Kor. 3,17] und mit ihm der Zuversicht leben, daß die Zeit selber Wahres und Falsches, Spreu und Weizen sondern wird und nichts bestehen kann, das nicht wirklich Wahrheit im tiefsten Sinne ist. Aber wir wollen auch wissen, daß der Kampf desGeistes um die Freiheit nur ein Vorpostengefecht ist in dem Ringen des Geistes um die Herrschaft in derWelt und daß die große Schlacht geschlagen wird um dieTat. Nur der Geist derTat wird eine Kraft in derWelt. Ohne ihn sind Freiheit und Wahrheit des Evangeliums tot, nur trügerisches, hohles Bild von dem, was sie wirklich sind. Erst durch die Tat wird die Religion unseres Herrn vor derWelt wieder gerechtfertigt werden und von den Menschen wieder als daskostbare Gut erkannt werden, dassie ist. Den Kampf um die Freiheit führen einzelne, erlesene Geister, die Gott mit denWaffen des Geistes ausgerüstet hat. Der Kampf um dieTat aber ist unser aller Sache, täglich und stündlich. Die Menschen schauen auf uns, ob in unserm Leben, da wir uns zum Christentum halten, etwas anderes ist, als in dem der andern. Und wenn sie es nicht vergeblich an uns suchen, dann wird ihnen das Evangelium wieder etwas Wirkliches und Lebendiges, und sie ahnen in ihm eine Kraft desLebens. Darum bitten wir den heiligen Geist, daß er die in dem Kampf um die Freiheit und Wahrheit Stehenden ausrüsten möge mit den Gaben des Lichtes – daß er in uns allen aber sich offenbaren möge als Geist der Tat, der uns tüchtig macht, die Wahrheit des Evangeliums durch das Leben zu predigen und, so arm und schwach wir sind, mitzuhelfen, daß es wieder zur Kraft in derWelt werde.

Morgenpredigt Sonntag, 18.Juni 1911,|47¡ St. Nicolai|48¡

Dritter Artikel: Ich glaube an den heiligen Geist

Das Pfingstfest liegt hinter uns. Es ist ja eigentlich das wunderbarste aller Feste und so bezeichnend für dasWesen unserer Religion. Die an47 [Aus einem Brief an Helene Bresslau im Zentralarchiv Günsbach:] «Samstag, 17.Juni 11. Die Predigt ist (in einer schönen Schrift) zu zwei Dritteln fertig. Der Rest ist so gut skizziert, daß ich ihn heute abend, wenn ich heimkomme, nur noch redigieren muß.» 48 [R] Schicken: Frau Prof. Fischer, Thomasgasse 15, Straßburg. Frau Fischer, der rettenden Spenderin von idealem Papier, schenkt die erste darauf geschriebene Predigt der dankbare Vikar zu St. Nicolai. Juni 11. Albert Schweitzer.

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dern Religionen, Buddhismus, Mohammedanismus und wie sie alle heißen, diejetzt aus dem Schlafe erwachen, um mit dem Christentum um dieWeltherrschaft zu kämpfen, können sich auf Religionsstifter berufen, die Tiefes gesagt haben; sie vermögen, alte Überlieferungen anzuführen, in denen vieles Schöne ist; es stehen ihnen heilige Schriften zur Verfügung, die ernste und sittliche Gedanken enthalten. In diesem allem können sie, äußerlich betrachtet, denWettkampf mit dem Christentum antreten. Eins aber fehlt ihnen – der Glaube an den heiligen Geist. Unsere Religion erbaut sich nicht nur auf Zeugnissen der Vergangenheit, sondern auch auf etwas Gegenwärtigem; sie gründet sich auf die Worte Jesu und den Geist. Offenbarung ist für uns nicht etwas rein Vergangenes; wir nehmen an, daß sich unser Glaube aus einer fort und fort wirkenden Erkenntnis immer weiter erneuert und verklärt, so daß unsere Religion nicht alt wird, sondern ewig jung bleibt wie die Natur, bei der auch dieselben Keime jedes Jahr neues Leben hervorgehen lassen.

Mögen die Anschauungen der Zeiten sich ändern, so stellt für uns der Geist dieWorte Jesu immer neu in das neue Weltbild hinein, daß sie sich damit allem, wasdie Zeit fühlt und denkt und anWahrheit und Erkenntnis schafft, zu einem lebendigen Ganzen verbinden. Die Gedanken über die Bedeutung unserer Religion als Religion des Geistes, einer Religion, die nicht nur rückwärts, sondern auch vorwärts schaut, sind euch geläufig und selbstverständlich und bilden bei euch wie bei mir den innersten Grund der Zuversicht in die weltüberwindende Kraft des Christentums. Eine Frage aber taucht auf und wird in ernsten Gesprächen uns entgegengeworfen. Was nennt ihr heiligen Geist? Was stellt ihr euch darunter vor? Wasdenkt ihr, wenn ihr überhaupt dasWort «Geist» aussprecht? Der alten Christenheit war die Antwort nicht schwer. Sie nahm an, daß der Geist Gottes etwas Reales, irgendein himmlischer Stoff sei, der durch ein Wunder sich mit der menschlichen Natur verbindet und dort Erkenntnis, neues Leben und Unvergänglichkeit schafft. Daß wir diese unbefangene Vorstellung nicht mehr teilen können, steht für euch so fest wie für mich. Dazu kommt noch etwas anderes. Das Christentum setzte Gottesgeist (heiligen Geist) und Menschengeist einander absolut entgegen. Es nahm an, und auch der Apostel Paulus denkt derart, daß sie nichts miteinander gemein haben. Der gewöhnliche Menschengeist versteht den heiligen Geist nicht, sondern er muß durch jenen ganz verdrängt werden, wenn neue Erkenntnis und neues Leben möglich sein sollen. Und auch dies wieder wird als ein ganz unbegreiflicher, wunderbarer Vorgang bezeichnet. Wir gehen von der natürlichen Beobachtung des menschlichen Gei-

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steslebens ausund können diesen Gegensatz nicht mitmachen. Wir nehmen an, daß Menschengeist und heiliger Geist innerlich zusammenhängen und daß der heilige Geist irgendwie als etwas Reines undTiefes aus dem Menschengeist herauswächst. Nun sagt man uns aber: Was versteht ihr unter Geist? Niemand hatje etwas dergleichen gesehen – dasgibt es nicht. Es gibt nur Materie, Stoff. Gewiß, die alte Anschauung, daß der Geist ein gewisser anderer Stoff sei, ist nicht zu halten. Man soll auch nicht meinen, der Religion etwas zu nützen, wenn man Dinge verteidigt, die nicht mehr bestehen. Was ist für uns Geist? Wir sehen, die ganze Natur ist Stoff, auch der Mensch ist Stoff. Aber es fängt in der Natur schon beim geringsten Lebewesen eine Stofflichkeit an, die nicht mehr reiner Stoff ist, sondern wo sich das Stoffliche in etwas Unstofflichem äußert, das Erkennen, Fühlen undWollen ist; wo man dasWort «Leben» ausspricht, setzt man zugleich dieses Unstoffliche mit dem Stofflichen voraus. Leben besteht ja in nichts anderem, als daß in einem Wesen, das aus Erdenstoff ist, Erkennen, Fühlen undWollen offenbar wird. In der Stufenfolge der Lebewesen der Natur wird dieses Unstoffliche nun immer klarer und deutlicher, bis es im Menschen zu seiner vollen Entfaltung kommt. Dieses Unstoffliche, das Denken, Fühlen und Wollen, nennen wir Geist. Man hat gewöhnlich Angst, wenn man in der Religion vom Geist redet, auf die elementaren Anfänge des Geistigen in der Reihenfolge der Lebewesen der Natur zurückzugehen. Mit Unrecht. Es ist dies in der Natur der Dinge also gegeben. Meine Ehrfurcht vor dem Geistigen ist nur größer geworden, seitdem ich sein Auftreten in denWesen, die tief unter uns stehen, in Betracht ziehe und mir vergegenwärtige, wie es sich langsam zur Klarheit durchringt, bis es im Menschen bewußter Geist wird. Unter Geist verstehen wir also, im allgemeinen Sinne, das Denken, Fühlen und Wollen. Was dies ist, verstehen wir nicht besser als die andern und sie nicht besser als wir. Miteinander stehen wir vor einem Rätsel.Was ist es denn? Wie kommt es im Menschen zustande? Es ist wirklich und doch unfaßbar. Es ist kein Stoff und doch an den Stoff des armen Menschenleibes gebunden. Wir wissen es nur zu gut. Die geringfügigste Störung in dem Hirne eines Menschen zerrüttet seinen Geist, zerstört die Klarheit seines Wollens, Denkens und Fühlens und wirft ihn tief herab von der Höhe desMenschentums. An diese grausige Wahrheit werden wir durch das, was um uns her geschieht, immer und immer wieder erinnert und können sie weder begreifen noch uns damit abfinden. Die vergitterten Fenster und die Mauern eines Irrenhauses bringen unsern Glauben und unsere Religion immer wieder insWanken. Sie schreien das furchtbare Rätsel von etwas ganz Unbegreiflichem in dieWelt hinaus. Vom Unglück, vom Schmerz und allem andern können wir zuletzt glauben, daß sie einen Sinn haben

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– wenn wir ihn auch nicht verstehen. Aber wenn das Geistige selber zerstört wird, wassoll dasfür eine Bedeutung haben? Wie soll noch eine Melodie auf der Geige erklingen, deren Saiten zerrissen sind? Das Fühlen, Erkennen undWollen, dasmit der Materie verbunden ist, irgendwie eine Äußerung derselben darstellt, ohne selber Stoff zu sein, nennen wir also Geist. Es ist der natürliche Geist. An sich kann er natürlicher Geist bleiben. Wer sich nur damit abgibt, wie er gut lebt, alles genießt, zu Reichtum und Ehren gelangt, in diesem erhebt sich der Geist nie über das Natürliche, Irdische und bleibt, was er ist. Aber es liegt im Geiste, der im Menschen zum Bewußtsein seiner selbst kommt, daß er, gebunden an dasNatürliche, sich dennoch über das Natürliche erhebt und Gedanken denkt und ein Wollen spürt, das ihn über das hinausführt, was Wunsch und Glück des einzelnen Menschenwesens ausmacht, und eine andere Welt vor ihm auftut – die Welt, für die er arbeiten und wirken, zu der er sich innerlich läutern

soll. Dieser Trieb ist wirklich. Kein Mensch kann ihn leugnen. Man kann ihn töten, aber er war dann dennoch einmal da. Die, die sagen, er sei eine Täuschung, in Wahrheit komme der Geist in dem, waser für das gewöhnliche Leben erdenkt und erwünscht, zur Ruhe und verlange nach nichts mehr, wollen sich selber täuschen und nicht an die Sehnsucht erinnert werden, die einmal auch in ihnen aufstieg, ehe sie sie im Dahingehenlassen im Leben verschütteten. Das ist das andere Unbegreifliche am Geiste. Mit dem Stoff verbunden, kommt er darin nicht zur Ruhe, sondern denkt höhere Gedanken, fühlt ein reineres Wollen und wird mit sich selber erst eins, wenn er den Menschen zu diesem Höheren fortführt. Der Trieb zum heiligen Geist liegt also in dem natürlichen Menschengeist an sich. Die alte Christenheit glaubte, er falle vom Himmel über den Menschengeist; wir aber glauben, daß er ausdenTiefen desselben aufsteigt, und daß er natürlich da ist, wenn man nur tief genug geht. Alles, wasrein undwahr und erhebend und belebend ist, ist heiliger Geist. Es gibt keine Kluft zwischen natürlichem und heiligem Geist, sondern der eine geht in den andern über. Darf ich euch eine wirkliche Geschichte erzählen, die mir ein lebendiges Gleichnis für dasVerhältnis von Geist und heiligem Geist ist? In der früheren Zeit glaubte man, dasWasser der Schweizer Seen sei zu unrein und gefährlich, als daß man es für die Wasserleitungen der daran gelegenen Städte benutzen könnte. Da kam man auf den Gedanken, es nicht nur in seinen oberen Schichten, sondern auch in den tieferen zu untersuchen. Dabei ergab sich, daß die oberen mit Krankheits- und Fäulniskeimen durchsetzt waren, während sich die tieferen als vollständig rein, rein wie das beste Quellwasser erwiesen. Nun war die Versorgungsfrage gelöst. Man legte die Röhren, aus denen das

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Wasserwerk gespeist wurde, tief hinaus in den See. So trinken die Städte aus dem See, dessen Wasser nichts taugen würde, wenn man es von den oberen Schichten nähme – das aber köstlich und rein ist, weil es aus der Tiefe geholt wird. So ist es mit Menschengeist und heiligem Geist. Wasman gewöhnlich natürlichen Geist nennt, das sind nur die oberen Schichten des Menschengeistes. Wer davon leben will, der wird nicht erquickt werden und nicht gesunden. Aber unter diesem Wogenspiel, das das Unreine mit sich führt und von Regenwasser und Schlamm und von dem, was man hineinwirft, getrübt werden kann, liegt das unergründliche Wasser des heiligen Geistes. Wie die Städte am See Trinkwasser, so finden wir in unserer Zeit und bei uns heiligen Geist, der zum Leben erquickt, wenn wir nur die Röhre tief und weit genug hinausführen und die Gedanken wach werden lassen, die sich in derTiefe regen, und von denen wir fühlen, daß sie daswahre Leben sind. Ich weiß nicht, ob unsere Zeit nicht so religionslos wird, vielleicht weil man ihr nicht genug vom heiligen Geist redet, wie sie es fühlen und verstehen kann. Ich meine, man sollte die Reihenfolge der Glaubensartikel im lutherschen Katechismus gerade umkehren und beginnen mit dem dritten, der dalautet: «Ich glaube an den heiligen Geist.» In Wirklichkeit ist das der Anfang der Religion in einem jeden, das Greifbare, das ihm davon immer nahe ist, daß er bei sich weiß: Ich glaube an den heiligen Geist in mir ... daß in der Tiefe meines Wesens etwas ist, das sich sehnt nach Reinheit und Wahrheit und erhaben ist über die gewöhnlichen Gedanken, die mich im Leben beschäftigen, und mit denen ich mich den andern Menschen gebe ... und dieses, worin ich mir selber Geheimnis werde, ist mein wahres Ich, schließt mein Glück und meinen Frieden ein ... und diesem heiligen Wesen in mir selbst lebe ich in Wahrheit und darf es nicht in Leichtsinn, Gedankenlosigkeit, Lüge und Unreinheit zugrunde gehen lassen ... Ich habe gewagt, euch diese Gedanken über heiligen Geist und Menschengeist darzulegen, wenn ich auch weiß, wie unvollkommen sie sind, und auch, wie anstößig sie erscheinen können, wenn man sie an dem Wortlaut dessen mißt, was die Schrift und die Kirche über den Geist lehren. Aber ich meine, die Ideen der Religion verlieren nichts, wenn man sie in den Anschauungen zu denken wagt, die sich uns aus unserer allgemeinen Welterkenntnis aufdrängen. Der Glaube an den heiligen Geist, der das Fundament des Christentums bildet, kann durch keine Wissenschaft und keinen Materialismus bedroht werden. Die ängstlichen Verteidiger der Religion – die Kleingläubigen – mögen sich martern, wie sie widerlegen und beweisen. Wir sind ruhig und lächeln. Wer das Rätsel des natürlichen Geistes im Menschen anerkennt ... und das mußja jeder ... sagt schon damit, daß es auch heiligen Geist gibt. Hier ist die Religion unverwundbar. Hier wächst sie aus

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dem natürlichen, menschlichen Denken heraus. Diejenigen, die ihr dieses Fundament nehmen zu können glauben, können wir anschauen wie solche, die sich mit einem Sieb aufmachen, um die Sonnenstrahlen zu fangen, damit es auf derWelt dunkel und kalt werde. Nur die eine Angst haben wir, daß wir selber blind werden und die Strahlen des geistigen Lichtes, das in uns leuchtet, nicht mehr erfassen können und in Finsternis einhergehen, weil wir in Sorgen und Zerstreuung, in Eitelkeit und Lust den heiligen Geist in uns zugrunde gehen lassen und nur noch arme Menschen mit dem natürlichen Alltagsgeist sind – nicht Seen, sondern Weiher und Tümpel, in denen man bis auf den schmutzigen Grund sieht, und in denen kein Tropfen reinen Wassers mehr ist ... In dieser Angst ... und mögen wir sie recht erleben ... wissen wir uns eins mit der ganzen Christenheit, von den Aposteln an bis auf diesen Tag. Mag auch die Lehre und die Auffassung vom heiligen Geiste wechseln, daseine bleibt immer: Daß wir wissen, daß nur derjenige gewürdigt werden kann, ihn wirklich in sich zu erfahren und davon zu leben, der sich fleißigt, ihm in seinem Herzen einen reinen Tempel zu bauen ... und daran denkt, was Paulus den Seinen so eindringlich sagt: «So wir im Geiste leben, so laßt uns auch im Geiste wandeln» [Gal. 5,25].

Morgengottesdienst Sonntag, 2. Juli 1911, St. Nicolai Erste Predigt über Erziehung

Joh. 6,63: Der Geist ist’s, der dalebendig macht In der Morgenandacht, die wir heute vor vierzehn Tagen miteinander hielten, dachten wir miteinander über den heiligen Geist nach.|49¡ Ich sagte euch, daß er, wie wir ihn als moderne Menschen begreifen können, in denTiefen desMenschengeistes liegt und ausdiesen zu holen ist. Dazu führte ich das Beispiel von dem Wasser der Seen an. Das Oberflächenwasser ist immer verunreinigt. Eine Stadt, die sich davon tränken wollte, wäre allen Seuchen ausgesetzt. Aber wenn die Rohre der Leitung weit hinaus und in die Tiefe gelegt werden, so liefert der See, trotz aller Unreinigkeit, die in ihn einströmen kann, ein Wasser so rein und gesund wie das der Quelle, die im fernen Gebirg aus dem Felsen sprudelt.

Nun gibt uns der Geist unserer Zeit Anlaß zur Sorge. Blicken wir auf die Zeit, die zurückliegt, und vergleichen sie mit der, in der wir

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[Siehe S. 1127. 18.06.11.]

Der Geist

ist’s,

der lebendig macht

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stehen, so müssen wir uns sagen, daß wir verflachen. Ich brauche es euch nicht auszuführen. Ihr fühlt es wie ich. Es ist, als ob fort und fort etwas am Bestand von wirklichem Menschentum, von idealen Gütern und Innerlichkeit verloren ginge. Man macht dies undjenes dafür verantwortlich. Ich glaube, wenn der Geist einer Zeit sinkt, so muß es zum großen Teil an der Erziehung liegen. Darum wollen wir in dieser und der nächsten Morgenbetrachtung|50¡, die wir miteinander haben, über Erziehung nachdenken und uns besinnen, ob wir unseren Pflichten hierin voll gerecht werden. Beruf und Stand der Menschen mögen noch so verschieden sein: Jeder kommt in die Lage, erzieherisch auf andere einzuwirken. Diese Aufgabe fällt nicht nur Eltern und Lehrern zu, sondern ist in irgendeinem Maße in allen Beziehungen der Menschen zueinander gegeben. Die älteren Geschwister erziehen mit an denJüngern, der Mann an der Frau, die Frau am Mann, die Frau an der Magd, der Herr am Knecht, der Meister am Lehrling, der ältere Arbeiter amjüngeren, der Prinzipal im Geschäft an seinem Personal, derVorgesetzte am Untergebenen. Zuletzt besteht ja alles Herrschen nicht im Befehle geben und Gehorsam erzwingen, sondern im Erziehen. Ein Kaiser regiert in Wirklichkeit, wenn er die andern zum Dienen am Lande erzieht. Aber die meisten Menschen sind diesen vielgestaltigen Aufgaben zum still erzieherischen Wirken im Leben nicht gewachsen und erkennen sie nicht einmal, weil sie nicht richtig erzogen ins Leben entlassen wurden und Haus, Schule und Konfirmandenunterricht nicht dasan ihnen leisteten, was not tat. Da wir den Mut haben, uns selber, jeder in seinem Stande, zu beurteilen, so fragen wir, woran dasliegt. Der Satz, daß das heutige Unterrichtswesen in Erziehung weniger leistet als dasfrühere, ist, so allgemein gesprochen, ungerecht; aber dennoch liegt etwas Wahres darin. Seine Aufgabe ist eine doppelte: Kenntnisse zu vermitteln; Herz und Gemüt des Menschen zu erziehen. In unserer Zeit wird das Schwergewicht auf die Kenntnisse gelegt. Das zeigt sich in der Universität wie in der Elementarschule. Der Vorlesung von heutzutage fehlt jene Beziehung auf die menschlichen Ideale, die aus den Universitäten früherer Zeiten eine Stätte der Humanität im tiefsten Sinne desWortes machten. Sie sind reine Mitteilung von Wissenschaft geworden. Die entsprechende Wandlung im übrigen Schulwesen wird handgreiflich klar, wenn man ein Schullesebuch von vor achtzig Jahren mit einem heutigen vergleicht oder einen Katechismus ausjener Zeit neben einen aus unsern Tagen hält. Dort ist alles berechnet, auf Seele, Denken und Gemüt des Kindes zu wirken; hier wird ihm Wissensstoff zur An50 [Diese zweite Predigt über Erziehung konnte nicht in die Sammlung aufgenommen werden, dasie fast nur ausStichwörtern besteht.]

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Predigten

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eignung geboten. Der Verstand wird bereichert, der Mensch geht ärmer ausals früher. Wenn wir so das Unterrichten über das Erziehen stellen, folgen wir einem Zuge der Zeit. Das Wissen ist vorangegangen; die Anforderungen an die Kenntnisse sind gestiegen. Es kann nicht anders sein, als daß die Vorstellung von den Aufgaben aller Unterrichtsanstalten dadurch beeinflußt werde. Injedem auch noch so berechtigten Zug der Zeit aber liegt eine große Gefahr. Wer in diesen Aufgaben steht, muß achthaben, daß er sich nicht mitfortreißen läßt. Ob wir an Kenntnissen wirklich mehr leisten, ist nicht so sicher. Ich habe schon manchen alten Professor gehört, der sich erstaunt darüber äußerte, daß in den Examen nicht mehr, sondern weniger solides Wissen zutage tritt als früher; diejenigen, die die Ergebnisse der übrigen Unterrichtsgebiete verfolgen, haben sich zumTeil fast ähnlich ausgesprochen. Wir sind zu stolz auf unsere Gelehrsamkeit, fast eingebildet auf unsere Methoden, zu hastig, zu unfrei, zu sehr auf sinnenfällige Resultate [ausgerichtet]. Das liegt zum Teil am einzelnen, zumTeil am System. Aber gewiß ist, daß wir unserm Geschlecht kein wirkliches, innerliches Bildungsbedürfnis und auch nicht wirkliche Urteilsfähigkeit anerziehen. Der Verstand wird gefüllt; der Mensch bleibt arm und unentwickelt. Wenn ich es wage, etwas auszusprechen, das in dieser Allgemeinheit als falsch und ungerecht beanstandet werden kann, so ist es nur, daß, wer unter uns in solchen Aufgaben steht, sich frage, ob er nicht sein Ideal zu niedrig eingestellt hat und dadurch Gefahr läuft, nicht mehr Erzieher im vollen und großen Sinne desWortes zu sein – Erzieher, den Jesus als einen solchen anerkennen würde. Wir wissen, wie er urteilt. Die Pharisäer hatten in der religiösen Disziplinierung seines Volkes Gewaltiges geleistet. Aber er trat auf und rechtete mit ihnen in den harten Worten, die ihr kennt, daß sie dabei auf das Äußerliche gesehen und aufgehört hatten, wahrhaft Menschen zu sein undMenschlichkeit zuwirken. Mit unswürde er ebenso verfahren. Darum lassen wir uns von seinem Geiste innerlich richten, damit wir in all unserm Tun die Frage von dem einen, was not tut, nicht vergessen, ob wir, die uns anvertraut sind, zu wahren Menschen gebildet, ob wir ihnen Fühlen und Urteil für dasWahre und Gute ins Herz gegeben, sie zur Innerlichkeit und moralischen Tüchtigkeit erzogen haben und Ideale in ihnen geweckt haben, die sie als Sehnsucht und Kraft durch ihr Leben begleiten werden, um mit ihnen zu wachsen, wie die Schatten mit demTag, der seinem Ende zu geht. Die Erziehung im Hause ist auch durch das, was die Zeit gebracht hat, gefährdet. Wie viele Eltern haben heute noch wirklich Zeit, sich ihren Kindern zu widmen? Das Getriebe der Arbeit nimmt diesen den

Der Geist

ist’s,

derlebendig macht

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Vater ganz, die Mutter oft fast vollständig. Man sieht sich bei Tisch, hastig und müde. Von einem Wirken des Vaters auf die Kinder ist fast keine Rede mehr; die Mutter sorgt nur darum, daß in den Momenten, wo die Kinder mit den Eltern zusammen sind, nichts vorfällt. Wie viel von dem Elend unserer Zeit liegt nicht darin, daß die Eltern sich nicht mit den Kindern beschäftigen können! Wie arm sind unsere

Kinder! Wenn ich das ausspreche, so ist es nicht, um einfach zu konstatieren, sondern damit wir ernst werden. Ich möchte, daß diejenigen, die so glücklich sind in unserer Zeit, sich noch ihren Kindern mit Muße widmen zu können, von einer großen Dankbarkeit erfüllt werden und es als etwas Kostbares empfinden – und sich fragen, ob sie es auch wirklich genutzt haben und mit diesem Reichtum hausgehalten haben. An diejenigen aber, diejetzt bei sich denken, daß sie zu denen gehören, denen die Verhältnisse und der Beruf keine Zeit lassen, sich den Kindern zu widmen, möchte ich die Frage stellen: Gebt ihr ihnen wirklich, was ihr könnt? Kommen deine Kinder nicht zu kurz, weil du in manchem zu bequem bist? Frißt nicht die Zeitung soundso viel Viertelstunden, die deinen Kindern gehören? Wie viel verbrauchst du in Zerstreuung und Geselligkeit, das deinen Kindern genommen wird. Wie steht’s mit Feiertag und Sonntag? Bekommen da deine Kinder von dir, wassie von dir erwarten dürfen? Diese Fragen sind in euch aufgetaucht; sie haben euch schon unruhig gemacht; oft habt ihr sie verscheucht und bei euch gesagt: In den wenigenViertelstunden, die man hat, will man seine Ruhe haben; es ist traurig, aber es geht nun nicht anders! Es erfüllt sich hier das Furchtbare, wasJesus einmal am Schluß eines Gleichnisses ausgesprochen hat: «Wer da nicht hat, dem wird auch noch genommen, was er hat» [Mt. 13,12]. Statt aus dem wenigen, was sie ihnen geben können dadurch, daß sie es ihnen geben, und durch die Art, wie sie es ihnen geben, viel zu machen, nehmen die Eltern es den Kindern, weil es zu wenig ist. Wenn ich es recht verstehe, so liegt es an dem, daß so viele Eltern mit ihren Kindern den Anschluß verfehlen. – Solange sie Kinder sind und man sich mit ihnen vergnügen kann, finden sie Freude und Erholung an den Augenblicken, wo sie bei ihnen sind. Aber wenn nachher der Ernst desLebens für die Kinder selbst kommt, wenn sich mit ihnen beschäftigen heißt, sich um ihre Arbeiten kümmern, sie zu erziehen – dann finden so viele Eltern nur Unruhe und Aufregung darin. Es tritt eine Art Entfremdung ein. Sie verlieren die innere Fühlung mit dem Kind, diesem geht es so mit ihnen, und so kommt es, daß sie in dem Zusammensein mit dem Kind nur das Unangenehme und Ermüdende mehr empfinden undwie eine Scheu haben, sich wirklich mit ihm abzugeben, und fast froh sind, sich mit dem Mangel an Zeit entschuldigen zukönnen.

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Durch dieVerhältnisse und die Anforderungen des modernen Lebens ist das Erziehen in Schule und Haus viel schwerer geworden als früher. Aber wehe uns, wenn wir darin eine Entschuldigung suchen für das, was wir versäumen! Hier gilt nur eine Überlegung: Es ist schwerer geworden, also müssen wir mehr leisten! Wir müssen solche Erzieher sein, die das, was geleistet werden muß, dennoch aufbringen. Die Kraft in denWiderständen ist gewachsen; also muß sie in uns doppelt wachsen! Was macht die Kraft des Erziehers aus? Daß er sich selber erzieht. Nur der erfaßt die Größe der Aufgabe, der davor erschrickt. Ich meine, die Mutter, die ihr Kind in derWiege sieht, muß von diesem Gedanken angefallen werden; er muß mit dem Muttergefühl zugleich gegeben sein. Bist du reif, dieses Kind zu erziehen? Der Lehrer, der freudig in sein Amt hinaustritt und die Schaffenskraft derJugend in sich spürt, ist doch nicht recht bereitet, wenn er nicht sich fragt und von dem Gedanken wirklich gequält wird, ob er denn selber innerlich fertig genug ist, um aus diesen Kindern lebenstüchtige Menschen, lebendige Seelen zu

machen. Jede Arbeit an andern setzt Arbeit an sich selbst voraus. Dieser Satz ist allbekannt. Aber wird er zu Herzen genommen und in seiner ganzen Tragweite verstanden? In dem Augenblick, wo die Kinder ins Leben treten, muß ein neues Leben für die Eltern selbst beginnen. Sie müssen ihre eigene Erziehung machen, das zur Vollendung bringen, was andere an ihnen gearbeitet haben, ehe sie Kindern das geben können, was sie von ihnen brauchen. Ich habe den Eindruck, daß sie oft diese Jahre verstreichen lassen. – Dann kommt der kritische Augenblick, wo das heranwachsende Kind dieses Unfertige und Ungefestigte mit ihnen plötzlich erfaßt, die Autorität vernichtet ist, und sie nun wohl erkennen, was geschehen ist, aber nicht mehr die Kraft und den Mut haben, sich unter den beobachtenden Augen des Kindes wieder selber in die Zucht zu nehmen und anders zu werden, und nun ohne innerliche Kraft, wie irgendwie geknickt, fortwirtschaften und nun die schweren Jahre durchmachen müssen, wo das Kind nötig hat, daß seine Eltern für es die Vollkommenheit sind und merkt, daß sie im Großen wie im Kleinen nicht einmal das Streben nach Vollkommenheit mehr haben – bis es dann selber erwachsen ist und dazu kommt, Ehrfurcht vor ihnen zu bewahren, auch wenn ihre Schwächen ihm offenbar sind. Diesen furchtbaren Moment der geistigen Ohnmacht den Kindern gegenüber müssen so viele Eltern erleben, weil sie die ersten Jahre ihrer Ehe nicht miteinander sich selber erzogen haben, um auf das Kommende bereit zu sein – weil sie von ihrer Gemeinschaft nicht ernst und heilig genug dachten. Vieles, was als Nervosität, Mißmut, Mattigkeit sich äußert, ist im Grunde nichts anderes als das Leiden unter der offenbar gewordenen geistigen Ohnmacht. In der Volkssprache nennt man

Selig

sind die Sanftmütigen

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das: Die Kinder sind ihnen über den Kopf gewachsen. – Eigentlich aber bedeutet es: Sie sind nicht mit den Kindern gewachsen. Wie den Eltern, so geht esjedem, der zu erziehen hat. Wenn er nicht über seinem Wirken immer wieder innerlich gedemütigt ist und seine Unfertigkeit fühlt, und zwar als etwas, das er selbst verschuldet durch Mangel an Arbeit an sich selbst, ist er zumWirken nicht geschickt. Zuletzt hängen Erfolg und Mißerfolg einzig davon ab, was in dem ist, der erziehen soll. Gewiß, es gibt eine natürliche Veranlagung, die dem einen das Erziehen leichter macht als dem andern; gewiß gibt es Menschen, die dazu äußerst ungeschickt sind; gewiß gibt es gute und schlechte Methoden; aber zuletzt ist das alles nur äußerlich, etwas, was die Aufgabe erschweren oder erleichtern kann. Das, worauf es zuletzt allein ankommt, ist dies, ob dieser Mensch zuerst sein Erzieher wurde und es jeden Morgen wieder wird, ob er die geistige Kraft in sich in Spannung gesetzt hat wie einer, der die Feder desUhrwerks aufzieht. Erziehen heißt, im physischen das geistige Leben wecken. Wirkung auf Geist kann nur vom Geiste ausgehen. Wo kein inneres Leben ist, gibt es keine erziehende Kraft. Darüber kann alle äußerliche Erziehungskunst nicht hinwegtäuschen. Wo aber ein Mensch in ernstem Arbeiten an sich selbst wirklich ein Mensch wird, da ist Kraft. Sie ist da und kann über alle Fehler und Ungeschicklichkeiten, die er begehen kann, triumphieren; denn es kommt die innere Ehrfurcht in dem Kinde auf, die das Innerliche und Gereifte in ihm weckt, und es schafft sich von selbst eine Autorität, die mächtiger ist als alles, was sie hemmen könnte, weil sie von innen heraus kommt; es wird in die Arbeit des Menschen mit sich selbst hineingezogen, und Geist entflammt sich an Geist. Auf dieses eine, was not tut, laßt uns uns immer besinnen, daß wir dadurch ernst und zugleich zuversichtlich werden. – «Der Geist ist’s, der da lebendig macht.»

Morgenpredigt Sonntag, 3. September

1911,|51¡

St. Nicolai|52¡

Mt. 5,5: Selig sind die Sanftmütigen|53¡

In den letzten Wochen hatjeder, der an dem Geschehen derWelt innerlich teilnimmt, Traurigkeit gehabt, da er sah, wie in dem, wasdieVölker miteinander zu verhandeln haben, alles auf nackte und brutale Macht 51 [AS-HB, S. 322. 1. 9. 1911:] «Sonntag morgen predige ich in Straßburg: Selig sind die Sanftmütigen (unpolitisch)

»

...

52 [R]: Ce n’est ni revu ni corrigé, mais écrit uniquement pour servir de base au sermon.

De là la négligence dustyle. 53 [R] Lacrise dansl’affaire duMaroc.

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gestellt wird. Um einiger Fetzen Landes willen, die noch zu vergeben sind, erhalten sie sich in den unsinnigsten Rüstungen, ruinieren sich, lassen so viel Notwendiges ungetan und lassen es darauf ankommen, daß auf kurz oder lang ein furchtbarer Krieg diesen unhaltbaren Zuständen irgendwie ein Ende setzt.|54¡ Ich weiß nicht, ob ihr darunter leidet wie ich. Ich sehe, was die Welt werden muß, wenn sie auf ihre wahre Zukunft ausgehen will, undwie sie sich jetzt auf einen Weg verliert, der sie abwärts statt aufwärts führt und die Völker, und damit auch die Einzelnen, einer Verrohung des Geistes ausliefert – undwer die Geschichte kennt, weiß, daß ein einmal betretener Irrweg die Menschheit jahrhundertelang in derIrre führen kann. In dieser Stimmung vernahm ich fort und fort das Wort, das unser Herr an den Anfang der Bergpredigt gestellt hat: «Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.» Wollte man es auf die Völker anwenden, so würde man verlacht – und es ist zuletzt dennoch wahr. So seien uns die Völker ein Gleichnis auf uns selbst und mögen uns darüber nachdenken lassen, ob wir in unserm Leben genugsam verstehen und verstehen wollen, wasJesus uns sagt, und ob wir nicht allzu oft meinen, ohne Sanftmut auszukommen, und darum in dem, was wir tun und wollen, nichts leisten. DasWort hat eine merkwürdige Fassung, die zumTeil auf die Übersetzung Luthers zurückgeht. Das «Erdreich besitzen» heißt in der Sprache, die der Herr redete «das Land besitzen» und dies wiederum sollte bedeuten «das gelobte Land», was der Herr für Reich Gottes gebraucht. So heißt dasWort eigentlich in seinem Sinne: «Selig sind die Sanftmütigen, denn ihrer ist dasGottesreich.» Die Gefahr, der wir alle erliegen, beruht in der Erwägung, daß wir sagen: DasWort ist schön, aber für dieWirklichkeit taugt es nichts, da hier nur Macht und Kraft in Frage kommen. Darf ich fragen, ob du mit diesem Grundsatz wirklich schon so gute Erfahrungen gemacht hast? Wenn ich die Dinge in meinem Leben richtig beurteile, muß ich gestehen, daß ich glaube, daß ich in einer Reihe von Fällen gerade deswegen nichts erreicht habe, weil ich es einzig auf die Stärke ankommen ließ. Und wenn ihr aufrichtig mit euch seid, werdet ihr dasselbe eingestehen müssen. Wo ihr blindlings euer Recht, euren Einfluß, eure Autorität spielen ließet, habt ihr in den meisten Fällen nichts Gutes geschaffen und gar oft offenen Mißerfolg gehabt. Ihr schobt es auf dies undjenes – im Grunde ist es aber nur dieses, daß man in der Welt nach einem tiefen, geistigen Gesetz ohne Sanftmut zuletzt nichts ausrichten kann. 54 [Die zweite Marokkokrise wurde nach der Besetzung von Fes durch französische

Truppen 1911 durch die Entsendung des deutschen Kanonenbootes «Panther» nach Agadir ausgelöst.]

Selig

sind die Sanftmütigen

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Was heißt Sanftmut? Die meisten Menschen stellen sich darunter eineWeichlichkeit und Sentimentalität vor, die alles geschehen läßt und überall hinten dran ist. Diese meint der Herr nicht, sondern die Sanftmut, die mit der Kraft und dem zielbewußten Wollen zusammen ist und ihnen etwas Ruhiges und Mildes gibt. Sanftmut ist wie der blaue Nebel, der sich in den Tagen, da wir zum Herbste schreiten, über Berg undTal legt, die brennende Sonne mildert und alles so schön und wunderbar macht. Und meint nicht, daß sie etwas ist, das man von Geburt an hat und anders nicht besitzen kann. Die wahre Sanftmut ist die, zu welcher der Mensch sich erziehen und vertiefen muß. Ich möchte sagen, daß der Sanftmut zunächst durch die warnende Stimme, die dich anfleht, dich nicht zu «verrennen», Platz geschaffen werden muß. Wir fühlen es alle im Leben, wenn wie eine Unvernunft über uns kommt, daß wir alles auf Kraft und Autorität und Recht stellen und uns auf Kleinigkeiten versteifen und dem Niederen und Brutalen in uns Raum geben und alles andere schweigen heißen. Aber unsere Eitelkeit läßt uns die Stimme nicht hören und treibt uns hier, wie in so vielem, in die Irre. Darum tue sie ab.Wer zur Sanftmut gelangen will, muß sich erst über jene kleinliche, natürliche Eitelkeit erheben, die naiv ist, sich mit ihrem Einfluß und ihrer Macht überall an denTag legen zu wollen. Es ist in uns noch viel zu viel Eitelkeit! Und dann, schau sehend ins Leben. Wer hat über dich Macht gewonnen? Die gewalttätigen Menschen? Nein. Weder als Erzieher noch als Herren haben sie etwas über dich vermocht – immer war es die Milde, die dich zuletzt überwand, als du Kind warst undjetzt noch immer. Es könnte ein jeder aus seinen Erfahrungen eine lebendige Rede über die Kraft der Sanftmut halten, so überraschend und unglaublich es klingen mag, die zuletzt die wahre Kraft ist, und siehe, wenn wir selber handeln, tun wir, als wäre es nicht wahr und als glaubten wir nicht daran, trotzdem wir es an uns selbst erfahren, sondern lassen uns von dem eitlen Satz «Macht ist Macht» gefangen nehmen. Ich rede von der Zucht der Kinder. Wehe, wenn du nur deine väterliche Autorität und Strafgewalt hast. Du kannst das Beste wollen und bist zuletzt ohnmächtig diesem kleinen Geschöpf gegenüber. Oder in deinem Sein zu den Menschen. Wehe dir, wenn du nur dein Recht und deinen Einfluß und dein Können hast; und wenn du das Beste willst, bist du verloren. Es ist, als ob dieses Vertrauen auf Stärke alle Mächte rings um uns wachriefe und sie gegen uns hetzte, alles Böse gegen uns aufböte, Hindernisse auf Hindernisse türmte, bis wir zuletzt erschöpft nicht mehr weiter kommen und uns selbst und die andern schlechter gemacht haben, als wir sind. Injeder Macht, die sich betätigen will, muß etwas sein, das die bösen Mächte in den andern, die sich auflehnen könnten, besänftigt und niederhält und zeigt, daß das, wasin dir ist, eine Macht zum Guten ist und

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als solche wirken und nicht unterdrücken und vernichten will. In dem was du tust, muß man dein Herz schlagen hören; sonst ist dein Tun wie der starke Wind, der über die Erde fährt und nichts ausrichtet, weil er keinen milden Regen mit sich führt. Es muß in deiner Kraft etwas liegen, das Lösung und Entspannung in den andern bringt und ihr den Weg bereitet, sonst ist sie ohnmächtig. Sie darf nicht einfache, von allen Gefühlen losgelöste Kraft sein, sondern muß etwas tief Menschliches an sich behalten haben. Darum sage ich, daß man dasKlopfen deines Herzens in ihr verspüren muß. Durch nichts anderes sind wir, als Kinder undjetzt noch, durch andere zu überwinden, daß wir uns ihrem Wollen und Tun beugen und unsern Stolz und Mißtrauen entwaffnen lassen. Durch nichts anderes vermögen wir selbst zu wirken. Und diese Kraft, hinter der ein Herz schlägt, nenne ich Sanftmut – was das wunderbare Wort an sich bedeutet: sanften Mut, Machtvolles und Mildes geheimnisvoll zu einem vereinigt. Aber Einheit von Herz und Kraft und Wollen ist nur da, wenn sie in etwas Höherem zusammengehalten sind. Sie ist nur demjenigen gegeben, der weiß, daß alle unsere Betätigung eitel ist, wenn sie nur für sich spielt, und wenn nicht in letzter Linie das Reich Gottes in uns und außer uns das Ziel all unseres Tuns ist. Zur sanftmütigen Kraft gehört Blick hinauf und in die Ferne. Wenn du dein Kind oder die, die mit dir arbeiten, nur zu Gehorsam und zur gewöhnlichen Tüchtigkeit bringen willst, geht deine Macht nicht weit. Aber wenn sie dir anfühlen, daß du mit dir und ihnen etwas suchst, das zum wahren Leben gehört, in dem Wahrheit und Reinheit und Friede ist, dann verstehen sie dich, und deine Kraft setzt die ihre in Bewegung, und sie vermögen auch, über deine Schwächen und Härten hinauszusehen. Ich habe den Eindruck von Jesus, daß er sich immer wieder habe in der Sanftmut bändigen und zur Ruhe bringen müssen. Er fühlte eine ungeheure Macht in sich und mußte ein Bewußtsein davon haben, daß er die Menschen mit sich fortreißen konnte, wohin er wollte. Aber dieser Feuergeist konnte so milde unter ihnen stehen, weil er sich selber in dem einzigen Sinnen auf das Reich Gottes geläutert hatte und darin zu einer Sanftmut gekommen war, die seine Kraft nicht schwächte, sondern vertausendfachte, so daß wir nach Jahrhunderten noch von ihr überwunden werden und ihr dienen müssen, je tiefer wir in dasWesen der Dinge hineinblicken. Babylon, Ninive, Rom sind in Schutt gesunken, trotzdem sie aus Quadern gebaut und mit gewaltiger Macht über die Erde geherrscht. – Und dieWorte Jesu sind geblieben, trotzdem er nichts getan, um sie zu erhalten, und sie nicht einmal aufgezeichnet hat. Jene Könige und Kaiser, die Herren der Macht, sind tot – er aber lebt durch seinen Geist in derWelt – und so ist sein Wort, daß die Sanftmütigen dasErdreich besitzen werden, an ihm wahr geworden.

Kommet her zu miralle

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Und für dich, erfaß es und halt es fest im Glauben, daß du auch danach lebst und wirkst, und wisse, daß nur soviel wirkliche Kraft in uns ist, als Geist Christi in uns lebt. Laß dich nie von andern Gedanken betören, sondern in allem, wo du deine Kraft, Autorität und Macht einsetzest, hör, ob dein Herz noch schlägt und ob dein Wollen im Dienste eines höheren Gedankens steht – sonst bist du ein blinder, schwacher Mensch, der im Dunkel mit einem Stecken um sich schlägt und meint, etwas auszurichten. Die Völker unserer Zeit wollen dasErdreich besitzen. Um die letzten paar Hundert Quadratkilometer, die noch zu verteilen sind, starren sie in Eisen, zanken und drohen miteinander und werden sich noch lange in Aufregung erhalten und vielleicht finanziell ruiniert sein, ehe sie sich geeint haben. – Warum sind nur die bösen Kräfte zwischen ihnen wach geworden? – Weil sie in dem, was sie wollen, nichts Höheres kennen; sie gedenken nur, diese Länder zu besitzen, Handel darin zu treiben, Schnaps abzusetzen, Kohlen, Eisen und Diamanten daraus zu gewinnen, aber nicht, was sie damit auf eine größere Zukunft für das, was aus jener Menschheit für dasReich Gottes werden soll, [anrichten]... Wenn sie miteinander nicht nur Machtziele, sondern höhere und reinere Pläne verfolgten, wenn sie [wüßten], was dasist, daß sie miteinander am Reich Gottes arbeiten sollten, und nicht darüber als eine Torheit lachten, würden sie nicht in dem kleinlichen Machtkampfe gefangen bleiben und nur Mißtrauen und Neid gegeneinander kennen, sondern sich in der Sanftmut, die aus dem höheren Wollen kommt, verstehen und glücklich werden ... Die Völker können wir nicht ändern – wohin wir in dieser ideal-armen Welt treiben, wissen wir nicht – . Aber das eine wollen wir von ihnen lernen ... daß wir ihnen nicht gleichen, [daß wir nicht] in demselben verdunkelten Geist in unserm Tun in der Irre gehen, sondern wissen, daß keine Kraft etwas vermag, wenn sie nicht in der Sanftmut desReiches Gottes gestählt ist.

Morgenpredigt Sonntag, 1. Oktober 1911, St. Nicolai

Mt. 11,28–30: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid|55¡

Es war, alsJesus seine Jünger mit der Botschaft vom Reiche Gottes ausgesandt hatte und vernahm, daß dasVolk sich gläubig um sie scharte, – 55 [ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn meinJoch ist sanft, und meine Last ist leicht.]

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Predigten

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da sprach er diese Worte. Beim Durchlesen des Evangeliums dieser Tage war ich von ihnen wie gefangen; sie erschienen mir so neu, so merkwürdig, so groß, alshätte ich sie nie gelesen. Der Herr ist sonst im Trösten zurückhaltend. Kaum irgendwo findet ihr in den Evangelien, daß er zujemand länger aufmunternd und aufrichtend redet; auch dieJünger hat er dazu nicht angeleitet. – Und nun bricht esplötzlich hier mit Macht durch: Ich, ich kann euch trösten, alle kann ich euch trösten, die ihr mühselig und beladen seid. Es ist, als ob er sich vor derWelt und vor allen Zeiten aufrichtete, um die Menschen mit der Hand zu sich herbeizuwinken. Man empfindet wie einen Schauer vor der ungeheuren Zuversicht, mit der er hier sich als den erkennt, der die Menschen über alle Schmerzen und Mühsale hinausheben kann. Das Merkwürdige ist aber, wie er ruft. Wir würden erwarten, daß er sagte: Kommt her zu mir, ich will euch die Last abnehmen; leicht und frei sollt ihr weitergehen. Nichts davon. Er redet nur davon, daß er sie erquicken will, und daß wir noch eine Last, seine Last, auf uns nehmen sollen, um von ihm die wahre Demut zu lernen. Ein paradoxes Wort! Unsere Last bleibt auf uns, eine neue kommt hinzu – und dann soll es leichter sein. Was ist’s um diese andere Last, die die unsere leichter machen soll? Man meint, Jesus wolle damit sagen, daßwir dasLeid, dasunsbegegnet, ihm als sein Kreuz nachtragen sollen. Es liegt aber etwas anderes in dem Worte. Was heißt, sein Kreuz tragen? Sein Kreuz ist das Kreuz derWelt. Er, der hätte können still und glücklich in Nazareth leben, nahm die Sorge um die Menschheit und die Welt und was aus ihnen würde auf sich. Alles Leid, das Menschen beugte, ward zu seinem Leid; alles Elend, dassie bedrückte, zu seinem Elend; alle Qual, die er um sich sah, zu seiner Qual; aller Schmerz zu seinem Schmerz. Und dieses Sorgen und Hoffen um die Welt war das Kreuz, das er trug, als er zum ersten Male aus Nazareth heraustrat. Das Kreuz aus Holz, das sie ihm auf dem Weg zur Richtstätte zu tragen gaben, war nur das Symbol dessen, das er bis dahin getragen. Jesus trug ein Kreuz, weil er an dasReich Gottes dachte und für es arbeitete. Nur unvollkommen erleben wir das, was er erlebt. Aber wer an das Reich Gottes gedenkt, das heißt, in seinem Sinnen und Fühlen und Wollen aus sich heraustritt und sich sorgt um das, was aus der Menschheit und der Welt wird, der nimmt ein Kreuz auf sich wie Jesus und weiß nicht, wohin es ihn führt. Denn alles Weh und Leid und alles Hoffen undMüssen auf die Zukunft der Menschheit und desReiches Gottes zittert und bebt in ihm. Es kann keiner dasWort Reich Gottes wahrhaft denken, ohne eine Last und ein Weh auf sich zu fühlen, die er nimmermehr abschütteln kann, und ohne zu wissen, wie schwer sie ihm im Leben noch werden kann.

Kommet her zu mir alle

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Das Kreuz Christi auf sich nehmen, heißt, mit ihm auf das Reich Gottes sinnen und an ihm arbeiten und das Weh und Leid der Welt außer uns in uns zu erfahren, uns nicht abzustumpfen, uns nicht in vornehmem Egoismus über die Dinge, die um uns herum spielen, hinwegzusetzen, sondern daran innerlich teilnehmen zu müssen, ob wir wollen oder nicht. Und denen, die an dieser Last tragen, die dieses Kreuz auf sich nehmen, verheißt Jesus, daß sie in der Mühsal, die ihnen in ihrem eigenen Leben begegnet, Erquickung und Ruhe für ihre Seelen finden sollen. Als meine Studienjahre zu Ende gingen und die Zeit kam, daß ich ins Amt treten sollte, da überkam mich wie eine Art Angst und Abneigung vor demselben, wenn ich mir vorstellte, daß ich nun in die Lage käme, Leute trösten zu sollen. Ich fragte mich, wie ich das machen würde, und hatte ein niederdrückendes Gefühl, daß die Worte, die ich darüber las und mir zurechtdachte, auf die, die mir hilflos gegenüber stehen würden, nichts vermöchten. Und was ich seitdem erlebt habe, hat mir dies bestätigt. Die Ohnmacht des geredeten Wortes ist mir immer und immer mehr aufgegangen, und ich habe mich dareingefunden, daß es Menschen gibt, die einem im Herzen weh tun und die man dennoch nicht trösten kann, ob man auch die herrlichsten Worte fände – und die auch nicht zu trösten wären, wenn auch ein Engel vom Himmel käme und zu ihnen redete. Man ist ihnen gegenüber machtlos wie den Irrsinnigen gegenüber, denen man ihre Wahnideen mit den vernünftigsten Worten widerlegt, die sie zu hören und zu verstehen scheinen, und einen Augenblick nachher sieht man, daß sie dennoch darin gefangen bleiben. Die Untröstlichen sind diejenigen, bei denen man nichts zum Anknüpfen findet, und die nichts in sich tragen, was über sie selber hinausgeht und in das ihr eigen Schmerz und Leid aufgenommen wird, wie der Bach im Strome aufgeht. Wer nur sein Wollen und Hoffen kennt und nachher nur seinen Schmerz erfährt, dem ist nicht zu helfen. Er bleibt mit seinem Schicksal allein, hadert gegen es, zerquält sich mit ihm, weiß nicht, warum ihm solches geschieht, und kommt zuletzt zu einer Art von Totenruhe, wenn er betäubt und abgestumpft ist und die Zeit die Narbe schließt und er sich damit abfindet, als ein verarmter Mensch sich denWeg des Lebens weiterzuschleppen. WasErquickung, Ruhe der Seele, Still- und Reichwerden ist in allem, waskommt, und worin der wahre Trost besteht, das hat er nicht erfahren, denn das vermögen nur die zu kosten, die mit ihren Gedanken aus sich selber in das Reich Gottes hinausgetreten sind und am Hoffen und Sehnen und Schmerz undWeh der Welt mittragen und so unter dem Kreuze des Herrn stehen. Man kann keinen Trost an den Menschen herantragen und keinen in ihn hineinreden, sondern der Trost muß aus ihm selber, von innen heraus kommen, und wir ver-

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mögen nur, was in ihm schlummerte und schon da war, zum Leben zu erwecken. Über uns alle braust der Sturm dahin; wir alle müssen Traurigkeit und Angst und Einsamkeit kennen lernen und durch Trostlosigkeit und Verzweiflung hindurch. Es kann nicht anders sein. Aber nach Nacht und Gewitter kommt der Morgen. Und die, die wissen, wasJesus, sein Kreuz und Reich Gottes ist, die aussich heraus in dieWelt getreten sind, die sind wie dasGras und die Bäume, die wohl gebeugt und mitgenommen sind, in denen aber die Regentropfen wie Perlen und Diamanten der neu aufgehenden Sonne entgegenglänzen, und die andern sind wie das Erdreich, das keinen Halt hatte und vom Gewitterregen weggeschwemmt wurde, daß nun die Sonne auf nackten Stein brennt und das Bild derVerwüstung und Unfruchtbarkeit bescheint. Wie merkwürdig und wie wahr, daß der Herr davon redet, wo er von Trost spricht, daß die, welche seiner teilhaftig werden wollen, lernen müssen von ihm, demütig zu werden. Er meint damit, daß, wie er sein Leben und sein Schicksal in dem der Welt aufgehen ließ und darin demütig ward, auch wir unser Dasein in unserm Denken und Wollen nicht in den Mittelpunkt stellen, sondern wissen, daß nur das daran kostbar ist, was wir davon hergeben, den Menschen, die uns brauchen, ob nah oder fern, ob in der Bahn unseres täglichen Lebens oder außerhalb oder den Unternehmen und Ideen, die Geister brauchen, die ihnen dienen. Wer in dieser Demut steht, für den stehen die Ereignisse und Schikkungen seines Lebens nicht riesengroß da, daß er nicht über sie hinaussieht, sondern er hat ein anderes Maß für die Dinge, und wie er selber klein ist in derWelt, so wird das, was ihm geschieht, klein, ein Ton und Laut in dem Schmerz undWeh, dasihn umgibt, etwas, dasüberwunden werden muß und das ihn dann, wenn er darüber hinaus ist, reifer und reicher gemacht hat, zuwirken und zu helfen. Was ich aussprechen konnte, sind nur Andeutungen um das Wort Jesu herum. Niemand vermag es zu erklären, niemand, es auszuschöpfen. Nur das eine taugt, es zu erleben und zu erfahren, wie wunderbar wahr es ist. Ein Stück hie, ein Stück da davon haben wir schon alle erlebt, sonst kämen wir hier nicht zusammen, um seines Namens zu gedenken und uns in den Schatten seiner Worte zu stellen. Wir wären alle arm, wenn wir nicht wüßten, welcher Reichtum Denken und Leben im Reich Gottes ist und welche Stille und Trost von der Last von Gedanken und Sorgen kommen, die wir damit auf uns nehmen, um über unser Selbst hinauszukommen und unser zu vergessen. Aber wir denken nicht genug daran, wie reich wir sind und auf welche ArtJesus die trösten kann und auf das Kommende, was uns nur begegnen mag, stark machen, die von ihm lernen wollen.

Was hülfe es demMenschen

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Herbstliche Winde streichen über das Feld und umbrausen die Bäume, sie gemahnend, daß sie ihnen in den Zeiten, die kommen, ein Blatt ums andere entführen werden, bis sie alles hergeben mußten. Dem Baum mag bangen, was geschieht. Aber mögen sie ihm alles nehmen, was Sommer und Frühling ihm gegeben, daseine bleibt ihm, in dem er alles wieder neu schafft, die Lebenskraft – und beijedem Blatt, dasvom Aste sich löst, steht eine Knospe auf den kommenden Frühling. Diesen Bäumen sollen wir gleichen und wie sie in allem, was wir im Leben drangeben müssen, die innere Lebenskraft behalten, die über alles triumphiert, und in der Kraft, die vom Denken mit Jesus und dem Denken an sein Reich auf Erden über alles hinwegkommt und neues Leben aus sich schafft, hinausblicken in den Herbst hinein.

Morgenpredigt Sonntag, 8. Oktober 1911, St. Nicolai

Mk. 8,36: Washülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne, und nähme an seiner Seele Schaden? Am letzten Sonntag bedachten wir miteinander die herrlichen Worte, in denen Jesus die Menschen zu sich ruft, da er sprach: «Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken» [Mt. 11,28].|56¡ Heute wollen wir uns über dem ernsten Spruch sammeln, in welchem er uns bittet, unsere Seele nicht zu verlieren. Er sprach es wie beschwörend zu den Menschen, die ihn umgaben und von denen er wußte, daß sie bald in die Lage kommen würden, zwischen ihm und allem, was ihnen lieb war, wählen zu müssen und Verfolgung und Pein auf sich zu nehmen, und auch das Leben hinzugeben, bereit zu sein. Sagt nicht, daß es in dieser Bedeutung der Vergangenheit angehört. Jeden Tag, an dem die Sonne aufgeht, wird es wieder in dieser furchtbarenWirklichkeit wahr draußen in der weiten Welt, wo sein Evangelium sich einen Weg sucht. Ich las dieser Tage den Missionsbericht der Basler Gesellschaft über Indien und war ergriffen, wievielmal da ausgeführt oder angedeutet wurde, daß einer, der zuJesus kommen wollte, in die schwersten Konflikte kommen mußte, Vermögen, Rang, Verwandtschaft preiszugeben und zuletzt noch sich unter das Wort zu beugen hatte: «Wer Vater oder Mutter oder Bruder oder Schwester mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert» [Mt. 10,37]. Denken wir genug in unserem ebenen Dasein an diese stillen Helden und an die Entscheidun-

56

[Siehe

S.

1141. 01.

10.

11.]

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desJahres 1911

gen, die ihnen auferlegt werden, wo wir der geistigen Güter in Frieden teilhaftig sind? Ich rede jetzt auch nicht von denen in unserer Zeit und um uns herum, die vor solche Entscheidungen gestellt sind, die, von denen Jesus für die Menschen, die er hienieden braucht, ihr Leben oder ein großes Stück desselben verlangt, und die das, was sie für sich leben möchten, für ihn und das, was geschehen muß, drangeben sollen. Wenn so wenig geistige Kraft in der Welt ist, so liegt es daran, daß gar manche gegen ihre innere Stimme zuviel von ihrem eigenen Leben behalten haben und nicht stark genug waren, ein Stück Welt, dasihnen lieb war, dahinzugeben, um gehorsam zu sein. Die Geschichte desPropheten Jona, der dem Herrn entlaufen wollte, da er ihn brauchte, um einem ganzen Volke zu helfen, wird noch fort und fort Wirklichkeit. Über die Gefahr wollen wir nachdenken, die allen droht, die ruhig und in Frieden ihren natürlichen Lebensweg ziehen dürfen. Denn es liegt eine Gefahr darin für uns alle, wie ein Heer im Frieden eher verkommt als im Kriege. Es gibt Menschen, die in einem heroischen Akt, wenn sie im Leben, wie es in der ersten Christenheit der Fall war, vor die Wahl, die Welt oder deine Seele, gestellt worden wären, sich herrlich bewährt hätten, wo sie jetzt, wo das Leben ihnen sagt, du kannst beides nebeneinander haben, unterliegen. Ihr kennt sie mit mir, jene, die langsam in Gleichgültigkeit ersterben, und in denen es doch manchmal für einen Augenblick so wundersam aufleuchtet, daß man sich sagt: Wasmuß daeine herrliche Seele verkümmert sein. Ich sprach dasWort aus. Die Gefahr ist, daß unsere Seele verkümmert und erstirbt, daß wir sie stückweise an dasLeben verlieren, unmerklich, ohne uns darüber Rechenschaft zu geben, und herunterkommen wie wohlhabende Leute, die da einen Acker, dort ein Haus, dann wieder ein Wertpapier verkaufen und sich immer sagen, sie besäßen ja noch mehr. Die Gefahr ist doppelt groß, weil so viele Menschen nicht wissen, was eigentlich die Seele ist und was sie im Leben bedeutet. Es gibt ihrer viele, für die nach ihrer Vorstellung die Seele gewissermaßen erst bei ihrem Begräbnis in Funktion tritt, wenn der Pfarrer über dem Grabe den Leib der Erde übergibt und die Seele in die Hände unseres himmlischen Vaters befiehlt. Aber sie wissen nicht, daß in diesem Leben Leib und Seele eins sind und daß sie ihrer Seele bedürfen, um zu leben, daß ihre Seele alles ist, was sich an guten und wahren Gedanken in ihnen regt. Sie wollen leben von Respekt bei andern und den Ereignissen. – Aber in Wirklichkeit leben wir hienieden von Seele.|57¡

57 [Die Fortsetzung besteht ausunvollständigen Sätzen.]

Und es kamseine Mutter

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Morgenpredigt Sonntag, 22. Oktober 1911, St. Nicolai

Mk. 3,31–35: Und es kam seine Mutter und seine Brüder|58¡

Es ist eines der traurigsten Ereignisse im Leben des Herrn, das hier in diesen schlichten und nüchternen Worten erzählt wird. Er hat erfahren, wases heißt, mit den Seinen nicht mehr einen Geistes zu sein. Da ihm gesagt wurde: «Deine Mutter und Geschwister sind draußen und lassen dich rufen», springt er nicht freudvoll auf und eilt ihnen entgegen, sondern bleibt sitzen. Er weiß, daß er ihnen nichts zu sagen hat, weil sie ihn nicht verstehen. Sie kommen nicht, um mit ihm die Gedanken zu denken, die ihn erfüllen, und sich in den Kreis derJünger zu setzen, sondern um ihn mit Worten zu quälen und ihm zu sagen, er solle das Predigen, das nicht sein Beruf sei, aufgeben, es denjenigen überlassen, die dazu bestimmt wären, Priestern und Pharisäern, und wieder mit ihnen nach Nazareth zurückkehren und mit ihnen leben wie vor-

dem. Was mag er in jenem Augenblicke gedacht haben, als er schweigend um sich schaute auf den Kreis derJünger und Gläubigen, die im Haus um ihn saßen, ehe dieWorte fielen, die zu denen hinaus getragen wurden, die nach ihm gefragt hatten. Da saßen um ihn solche, die er vor einigen Wochen noch nicht gekannt, von denen er noch nichts gewußt hatte, und sie stehen ihmjetzt viel, viel näher als die, welche über seine ersten Tage gewacht, welchen sein erstes Lächeln gegolten, als die Brüder und Schwestern, mit denen er gespielt, um soviel näher, als die geistigen Bande mächtiger sind als die natürlichen. Wir wollen jetzt nicht an das Unbegreifliche denken, das in dieser Geschichte trotzdem besteht, weil wir nicht verstehen können, warum Jesus nicht trotzdem aufsteht und zu seiner Mutter geht und es noch einmal versucht, ihr, waser will und muß, verständlich zu machen, sondern sie arm und gebrochen von dannen ziehen läßt. – Wir wissen ja nicht, was er alles schon versucht hatte, von dem die Evangelien nicht berichten. Auch daran wollen wir nicht denken, daß viele von den Menschen, die einen besonderen Weg zu gehen haben, es schon erfahren mußten, daß sie es den Ihren nicht verständlich machen konnten und viel 58 [Und es kam seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und dasVolk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Werist meine Mutter und meine Brüder? Und er sahrings um sich aufdieJünger, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.

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Schmerz von ihnen erduldeten und selber ihnen viel Traurigkeit gaben.|59¡

Nur das wollen wir bedenken, was an dieser Geschichte für uns alle wahr ist und uns mit heiligem Ernste erfüllen muß. Es liegt in dem, was Jesus sagt: Daß die geistigen Bande höher stehen als die natürlichen und zuletzt die einzig wahren sind. Das will heißen, daß wir uns fragen müssen, ob denn die geistigen Bande zwischen uns und denen, mit welchen wir durch natürliche der Kindschaft, Verwandtschaft oder Ehe verbunden sind, wachsen und uns immer enger verbinden, oder ob sie verkümmern und welken und nur noch die natürlichen bleiben. Unter geistigen Banden verstehen die Menschen vieles: gemeinsame Gefühle, gemeinsame Anschauungen und Interessen auf den verschiedensten Gebieten, Kunst, öffentlichen Angelegenheiten, Beurteilung der Menschen etc. Aber das sind alles nur dieVorgebirge der wahren geistigen Gemeinschaft, denn diese fängt erst da an, wo das höhere Wollen beginnt, wo der Menschenwille sich in einen unendlichen versenkt und sich in ihm heiligt, um ihm zu dienen, seiner wert zu bleiben und etwas für ihn auszurichten in dieser Welt. Geistige Gemeinschaft ist erst da, wo Menschen in Gedanken miteinander die Bitten desVaterunsers beten: «Dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel also auf Erden» [Mt. 6,10]. Das Wollen ist das Höchste am Menschen. In dem höchsten Wollen eins sein, voneinander zu wissen, daß das andere ein solches Wollen in sich trägt, das ist geistige Gemeinschaft. Bist du genug besorgt darum, daß diese zwischen dir und den Menschen, die dir durch die natürlichen Verhältnisse nahestehen, wachse ... und euch immer tiefer einige ... Hast du genug Angst vor der Entfremdung ... die langsam kommt, die man nicht merkt, weil noch für das gewöhnliche Leben und alles, was damit zusammenhängt, genug Gemeinsames da ist ... und dennoch Entfremdung, weil ihr niemals mehr die tiefsten Fragen, die euch bewegen, auch nur von ferne miteinander zu berühren wagt ... weil eure Seelen sich fremd geworden? Wo nur noch die natürlichen Bande sind, wo nur Gatte undGattin, Eltern und Kinder, Geschwister und Geschwister sind, da ist Gefahr, und mag noch so viel Liebe und Zuneigung sein, da ist Armut, mag noch so viel Glück sein. Das Fundament fehlt, dasHeilige, die Einheit eines höheren Wollens ... Darum sind sie den Ereignissen ausgeliefert. Alles, was 59 [Schweitzer hat dasselber erlebt, als sein Entschluß bekannt wurde, er wolle Medizin studieren, um als Arzt nach Afrika zu gehen. Besonders traf es ihn, daß seine Mutter seinen Entscheid nicht verstehen konnte. Aber auch unter dem Unverständnis anderer hat er stark gelitten. Siehe dazu A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. 1, S.

102– 104.]

Undes kamseine Mutter

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sie miteinander gemein haben, kann über Nacht in die Brüche gehen. Sie sind gute, natürliche Bekannte, nichts mehr ... in einem Augenblick können sie sich fremd werden, denn es verbindet sie nichts Großes. Das Furchtbare ist, daß wir es so oft dahin kommen lassen. In dem täglichen Zusammenleben liegt eine große Gefahr: Sie heißt Verbrauch und Abstumpfung. Ihr kennt sie. Die Dinge des Alltags legen sich wie ein Staub auf uns. Wir kennen uns zu gut und wissen zuviel voneinander. Die andern haben soundso viel von uns gehört und gesehen, dasnicht mit unsern innersten Gedanken harmoniert. Sie waren dabei, wo wir mit den Menschen nach dem Worte «Auge um Auge, Zahn um Zahn» [Mt. 5,38] verfuhren, wo wir haßten und Rache nahmen, uns vom Zorn hinreißen ließen, um eines Vorteils willen unwahrhaftig waren, und spottend haben sie wohl auch einmal gesagt: Wie paßt daszu deinen Gedanken und Idealen. Und sie befinden sich uns gegenüber in derselben Lage, und so tragen wir gegeneinander unsere ganze, uns gegenseitig bekannte Vergangenheit auf uns und wagen uns ausihr nicht mehr herausausAngst, man könnte unsere besten Gedanken profanieren. «Dugehst unter die Menschen, vergiß die Maske nicht», hat Nietzsche gesagt und damit etwas ausgedrückt, was wir gerade mit unsern Nächsten fort und fort üben. Ihr kennt jene Tierchen, die sich eine Röhre aus Stein und Sand um sich schaffen und darin leben und sie überall mitnehmen, um unverwundbar zu sein. So sind wir auch. Die Intimität des äußeren Lebens und die geistige entsprechen sich nicht, sondern sind oft gerade im entgegengesetzten Verhältnis ausgebildet, weil wir uns wie mit einer gewissen Angst vor denen, die unser alltägliches Leben kennen, verschließen und wie eine Art schweigende Konvention schaffen, daß die letzten und tiefsten Fragen, die uns bewegen, nie zwischen uns berührt werden. Und Menschen, mit denen wir zufällig im Leben zusammenkommen und zu denen wir Vertrauen fassen, die wissen oft mehr von uns und kennen unser eigentliches Wesen besser als die, welche uns umgeben, weil wir ihnen gegenüber mehr aus uns herausgehen. Sie können uns nichts nachrechnen und sie behaupten nicht, uns zu «kennen» mit all dem Entmutigenden, was darin liegt. Darum haben wir ihnen gegenüber mehr Mut – und ihnen geht es so mit uns. Ich las einmal eine Geschichte von einer Frau, die nach ihres Mannes Tod seine Papiere aufräumte und dabei seinen Briefwechsel mit einem Freund fand. Und als sie las, worüber sie sich geschrieben hatten, war sie erschüttert, denn sie fand da einen ganz andern Menschen, als sie ihn gekannt, und konnte ermessen, was zwischen ihnen nie angedeutet und ausgesprochen worden war, und wie viel reicher sie miteinander hätten sein können, wenn sie ihn so gekannt hätte. – Und sie hatte gut und glücklich mit ihm gelebt.

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Wie oft ist diese Geschichte schon an Menschen wahr geworden! Und wie oft geht ein Augenblick vorüber, der nie mehr kommt, wissentlich vorüber. – Braut und Bräutigam im Überschwang der Gefühle, wo alle Zäune niedergelegt, wo sie als solche, die sich neu kennen, miteinander reden, fühlen, daß sie sich etwas zu sagen hätten über das, was sie vom Leben denken, über ein heiliges Wollen, das in ihnen liegt – eine Melodie, die dann zwischen ihnen bliebe – und sie lassen die Zeit verstreichen, unterhalten sich über den Stil ihrer Einrichtung, ob Louis XV, Biedermeier oder modern, treten ins Leben, und der Augenblick kommt nie wieder – undjedes hat ein Stück von sich selbst, und dasbeste, für sich verschleiert behalten und wird es nie wieder entschleiern

können. So geht es auch zwischen Eltern und Kind und Geschwistern und Geschwistern ... Sie meinen, sich zu kennen, und kennen sich nicht, weil sie es nie dazu kommen ließen, daß sie auch nur einen Augenblick in dasWesen des andern hineinschauten und von dem Augenblick ihn kannten, wie er ist, nicht wie er im gewöhnlichen Leben schwach und arm dasteht, und ihn in sich heilig halten. (DasWort ..., das alles blitzartig erleuchtete). Das ist’s, das wahre Kennen, daß der andere durch das, was wir von seinem inneren Leben und Streben wissen und ahnen, heilig wird, und wir ihn nicht beurteilen durch das, was man an ihm im gewöhnlichen Leben auszusetzen findet, sondern durch das, was wir in ihm wissen – und ihm so Hilfe und Kraft sind. Habt ihr noch nie gesehen, wenn im Manöver die Soldaten mit den Pferden über einen Fluß setzen, wie sie ihnen dahelfen schwimmen, indem sie ihnen den Kopf vom Boote aus über Wasser halten. So, meine ich, müssen wir im Leben zueinander tun, und dies heißt, sich in Wahrheit kennen. Nun sagt ihr: Das wissen wir alles; wir wissen auch, daß es eine große Gefahr hat, daß wir mit denen, die uns durch die natürlichen Bande verbunden sind, nicht so innerlich zusammenkommen, wie es unser Sehnen wäre, und daß wir uns nicht so kennen, nicht so reich aneinander werden, nicht so Stütze finden, wie wir möchten, sondern mit ihnen in einem ausgefahrenen Geleise dahinfahren. Wir haben das alles schon gefühlt, aber wie ist es anders zu machen? Und ihr habt in euch die Angst des Aussprechens, sich geistig vor dem andern zu enthüllen. Und an dieser Angst ist viel Berechtigtes. Es liegt darin eine innere Scheu und Schamhaftigkeit, die kein tiefer fühlender Mensch je ablegen kann ... Aber sie darf nicht so werden, daß wir uns darin gegeneinander verschließen. Und meint nicht, Worte müssen es tun. Der Worte bedarf es wenig. Es handelt sich nur darum, daß von eurem tiefsten Fühlen undWollen nicht alles abgeblendet und in euch zurückgeworfen werde, sondern

Undes kamseine Mutter

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daß etwas aus euch herausstrahle und bewußt und geahnt zwischen euch sei. Ich hörte einmal eine Rede eines Nationalökonomen über Goldwährung, in der er ausführte, daß es nicht so sehr darauf ankomme, daß zur Sicherheit des Kredits eines Staates viel Gold in Umlauf sei, sondern nur, daß es da sei, irgendwie aufgestapelt und gemünzt, und daß es jedermann wisse, und man Geld in Kupfer, Silber und Papier gebrauche und wisse, daß im gegebenen Augenblick durch die Goldreserven dieses alles seinen Kurs garantiert bekomme. So, meine ich auch, ist’s mit den heiligen Gedanken in uns. Wenn nur wir von den andern und sie von uns wissen, daß sie da sind, daß sie im Hintergrunde unseres Denkens stehn und an Wert für uns das Kleingeld des täglichen Handelns und Denkens bei weitem überragen und ihm erst seinen Kurs geben, dann ist alles gut – wenn wir voneinander wissen, wie reich wir sind und nach welchem Reichtum wir trachten. Dann ist auch diese innere Ehrfurcht und dieses innere Verstehen da, in welchem wir einander reich machen und helfen und sicher sind, daß nichts in derWelt unsje scheiden kann. Und es kommen die Augenblicke, wo das alltägliche Leben selber still steht und damit dasWesen, das wir füreinander angenommen haben, und großes Glück oder große Traurigkeit plötzlich dasKleine zwischen uns wegreißt. Laß sie nicht entfliehen, sondern da wage, zu reden und dein Wesen zu offenbaren, und sei gewiß, daß man dich verstehen wird. Viele sind so arm, so unglücklich, weil sie die großen Momente vorübergehen ließen, wo die Ereignisse selbst das große Verstehen geschaffen. Und dann bringt dasLeben selber in regelmäßiger Wiederkehr Stunden der Weihe, wenn die Sonntagsglocken läuten. Und wo von einem Hause die, die durch natürliche Bande geeint sind, zur Kirche schreiten und hier miteinander sich sammeln, da sind die geistigen Bande und werden in jeder Woche aufs neue geschlungen, denn sie wissen voneinander, daß sie zusammen an das Höhere gedacht haben, und haben es miteinander bekannt, daß es dasist, wovon sie leben – und treten so geeint wieder in die Geschäftigkeit derWoche hinaus. Darum wird der Sonntag für mich immer mehr und immer mehr, je weiter ich die Dinge verstehe. Wie arm sind die Menschen, die miteinander nur den Ausruh- und Zerstreuungssonntag haben, aber nicht den Gottesdienst ... feierlichen Sonntag ... in dem sie geistig geeint werden, und an welchem sie miteinander schweigend die Gebetsworte Jesu nachsprechen «Dein Reich komme, dein Wille geschehe» [Mt. 6,10] ... und so als die sich in denWillen Gottes begeben, durch ihn, wo sie ihm Bruder und Schwester werden, neu daswerden füreinander, was sie durch die natürlichen Bande schon sind. Und vergeßt nicht: Es heißt denWillen Gottes tun! Was uns innerlich

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nicht zueinander kommen läßt, ist, daß das höhere Wollen im gewöhnlichen Leben so zurücktritt. Wir machen zu viel Konzessionen an uns selbst; es fehlt das Elementare. Wir sehen es nicht aneinander, daß wir wie unter dem Zwang eines reinen, großen Willens stehen, dem wir gehorchen und der uns handeln läßt, anders, als wir von uns aus handeln würden: Wir setzen zuwenig von dem Innersten in dieTat um. Darum ist es wie verschüttet, nichts, was ins Leben hereinspielt. Die Anstrengung, dasTiefste, was wir in uns tragen, ins Leben zu übersetzen, nichts gegen unsere Seele tun, dasist dasGewaltige, dasuns nie einander fremd werden läßt, sondern immer tiefer geistig eint.|60¡

Morgenpredigt Sonntag, 29. Oktober 1911, [St. Nicolai]|61¡ De mortuis

Apk. 2,10: Sei getreu bis an denTod [, so will ich dir die Krone desLebens geben]

Des Herbstes Stürme brausen über unsere Stadt dahin und die kalten Blumen, die zuletzt erblühen, öffnen sich, daß man mit ihnen die Gräber schmücke amTage, da man derToten gedenkt und zu den Friedhöfen wallfahrtet. Der Erinnerung derToten sei diese Andachtsstunde geweiht. Es tut not, daß wir ihrer gedenken in dieser schnellebenden Zeit, da alles ineinander und durcheinander geschoben ist, und die Menschen nicht mehr mit ihren Vorvätern an derselben Erde haften undin demselben Hause wohnen und nicht mehr durch alles, was sie um sich sehen, zum Kulte derer, die vor ihnen waren, gemahnt werden und in ihrer

Atmosphäre leben.|62¡ Manch ein Grab steht leer in diesen Tagen, da die, die könnten Blumen und Kränze darauf niederlegen, verzogen sind und durch das Leben aus der Stätte ihrer Ahnen entführt sind. So will es unsere Zeit – und bald sind diese Gräber vergessen. Bei diesem Gedenken steigt das Rätsel des Daseins vor uns auf.|63¡ Sie kamen und gingen. Was war der Sinn ihres Daseins? Warum mußten sie es leben? Welche Spur haben sie hinterlassen? Was haben sie gewirkt?|64¡

60 61 62 63 64

[Die beiden Schlußabschnitte bestehen ausStichwörtern.] [Der Kirchenbote hat Schweitzer eingetragen für diesen Gottesdienst.] [R] Mehr natürlich mit denToten verbunden waren. [R] Nicht nachdenken über Verwehen undVergehen, sondern durchdringen. [R] Hatte ihr Leben eine Bestimmung, oder war es ein Korn, dasirgendwo verwehte undWurzel gefaßt hat?

Sei getreu bis an den Tod

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Und mit Angst fühlen wir, wie bei vielen dasErinnern, daswir ihnen weihen, mit jedem Jahre verblaßt. Wir sträuben uns, aber es hilft nichts. Es ist, als ob sie in derVergangenheit versänken ... Nur mit dem Gefühl [bleiben wir] mit ihnen verbunden. Und bei andern fühlen wir, daß die Jahre, die sich zwischen ihren Tod und die Gegenwart schieben, ihnen nichts anhaben können, sondern daß sie für uns bleiben, was sie waren, als sie von uns schieden, nur daß der Schmerz sich gelegt hat. Es sind die, die uns geistig etwas waren und die unserm inneren Leben angehören. Hier ist mehr denn Erinnern; hier ist Verehrung und Dankbarkeit. Es sind Nahe und Ferne, deren wir so gedenken. Mit manchen lebten wir ein großes Stück unseres Lebens, mit andern kamen wir nur gerade in Berührung – aber sie heben sich miteinander aus der Zahl der Vergangenen heraus, daß sie uns etwas Unvergängliches gegeben haben. Vielleicht fanden wir im Leben keine Gelegenheit und keine Zeit, ihnen zu sagen, was sie uns waren; sie schieden, ohne selbst zu wissen, was sie uns gegeben, wir ahnten es selber nicht, was sie uns gaben – aber es ist da, es bleibt und wächst mit uns und unserm Leben. Und wir fühlen, daß wir sie in unserm Dasein festhalten müssen, weil sie dazu gehören. Was so oft eine arme Phrase ist, daß man sagt, daß die, die gehen, nicht gehen, sondern im Geiste bei uns und unter uns bleiben, dasist an ihnen Wahrheit. Es bleibt eine geistige Gemeinschaft, als ob ihr Mund noch redete und ihr Auge uns noch beschaute. Ihr habt von diesen armseligen Betrügern und Betrogenen gehört, die vermeinen, die Geister der Abgeschiedenen ließen sich für die, die das Geheimnis wüßten, herbeirufen und zum Reden zwingen. Wir lächeln über solche rohen Vorstellungen, denn wir wissen, daß die geistige Gemeinschaft mit denen, die nicht mehr sind, etwas ganz anderes ist, und daß sie darauf beruht, daß ihr Geist in unserm aufgenommen wurde und nun in uns fortlebt.|65¡ Das ist das Geheimnis des Geistes, daß er die Gedanken der andern und mit ihnen ein Stück ihres Geistes selbst in sich aufnimmt, von denen, die wirklich im Geiste leben und im Geiste wandeln. Ihr kennt das gewaltige Wort Pauli, da er sagt: «Ich lebe aber; doch nicht ich lebe, sondern Christus lebt in mir» [Gal. 2,20], und damit bedeutet, daß alles, was er Hohes und Großes fühlt und will, ihm von dem Herrn gekommen ist. Und in derselben Weise fühlen wir, daß das, was an unserm Leben undWesen gut ist, nicht von uns kommt, sondern von andern in uns hineingelegt wurde. 65 [R] Hier die Frage des Fortlebens des Geistes ... Auf Grabe nicht reden kann von Wiedersehen etc., diesen gefühlsmäßigen Trost nicht geben kann. Was in unsern Liedern so ergreifenden Ausdruck gefunden und uns immer wieder erschüttert.

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Predigten

desJahres

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Es ist, als obJesus selber der Menschen bedürfte, um in uns zur Herrschaft zu gelangen.|66¡ Seine Worte sind für uns Leben geworden durch Menschen, in denen sie Leben waren, und er selber lebt in uns durch die, die in ihm lebten und uns berührten, daß sich unser Geist an dem ihren entzündete.|67¡ Ihr wißt, daß ich nicht wage und nicht suche, eine Lehre über das Schicksal des Menschengeistes nach dem Hinsinken seiner irdischen Behausung aufzustellen oder aufzuerlegen, sondern meine, daß hier für uns das Unerkennbare liegt, sondern mich an dem einen festhalte und darin reich fühle, daß, was wirklich Geistiges aus Geist war, nicht vergeht und verweht, sondern in Menschen weiterwirkt. Ich nenne das das Sichtbare an der Unvergänglichkeit desGeistes. Jesus lebt für mich weiter, nicht weil berichtet wird, er sei auferstanden, was für uns unfaßbar ist, und wo wir nach unsern Anschauungen nicht annehmen können, daß es sich so verhielt, sondern weil ich weiß, daß sein Geist sich in vielen Menschen lebendig erwies, und ich selber fühle, wie er bei mir zum Leben gelangen will. Und so ist es mit den andern Menschen in dem Masse sie lebendiger Geist waren. Etwas von dem, was anJesus wahr ist, wird auch an ihnen Wirklichkeit. Ihre Kraft und ihr Wesen wirkt in andern fort und von diesen auf andere und so fort und fort, mag man sich ihres Namens er-

innern oder nicht.|68¡ Und injedem Menschengeist, der nach dem Reinen strebt, sind Geister derVergangenheit, die ihm helfen und die ihm denWeg zeigen und ihm helfen streben, wie sie gestrebt, und überwinden, wie sie überwunden, und die mit dem, was von Jesus ausgeht, den heiligen Geist ausmachen, der fort und fort in Menschen wirkt. Und wenn ihr wollt, nennt diese die «Heiligen». Es sind nicht solche, die durch Wunder beglaubigt und durch ein großes kanonisches Verfahren alssolche erwiesen underklärt werden, sondern die esin unserer Erinnerung werden dadurch, daß alles Irdische und das, was sie im Leben beschwerte und klein machte, von ihnen abgefallen ist mit dem Leibe, und von denen nur das in uns lebt, was ihr wahres Sehnen und Wesen war, und womit sie uns ergriffen und geholfen haben. Ich meine, daß jeder in diesem Sinne seine Heiligen hat, denen er im Leben Verehrung weiht ... und glaube, daß, wer solche hat, reich ist.|69¡

66 67 68 69

[R] Die nicht für sich lebten ... Diese tragen die Krone desLebens. [R] Daß so eineWahrheit undeinWollen nach dem andern in unsaufgeht. [R] Der Menschengeist ist eine Brennkraft in verschiedensten Flammen. [Der Schluß besteht ausstichwortartigen Sätzen.]

Bereitet demHerrn den Weg

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Morgenpredigt, Sonntag, 17. Dezember 1911, Günsbach

Jes. 40,3 [: Bereitet dem Herrn denWeg]

Im Dunkel des Advents steigen die Gestalten der Propheten vor uns auf. Wir können diese heilige Zeit nicht feiern, ohne ihrer zu geden-

ken. Und es kommt ein gewaltiges Gefühl der Ehrfurcht über uns, wenn ihre gewaltigen Namen vor uns erklingen: Amos, Hosea, Jesaja, Jeremia. Worin liegt ihre Größe, und was haben sie uns zu sagen? Sie sind für uns nicht mehr die leblosen Weissager auf die Zukunft, sondern sind lebendige Gestalten für uns geworden. Wir sehen sie in ihrer Zeit leben und kämpfen. Vieles bleibt uns dunkel an dem, was sie geschrieben haben, weil es sich auf Ereignisse und Lagen bezieht, die wir nicht mehr genau kennen. Wer die Schriften der Propheten liest, muß sich durch einen dichten, verworrenen Wald durcharbeiten. Aber dann, mitten in der Wirrnis, trifft er wieder auf Sprüche und Reden, die sich wie herrliche Lichtungen ausnehmen und durch die helle Sonne hindurchleuchtet.|70¡

Darum wage ich, euch zu bitten, in diesen Tagen ihre Bücher zur Hand zu nehmen und etwas Prophetenwege zu wandeln. Ihr werdet euren Weg darin finden, auch ohne gelehrten Führer, und euch an ihnen

erquicken. Es waren Menschen, die in schwerer Zeit lebten. Und ihre Zeit gleicht der unsrigen. Ich brauche sie euch nicht zu schildern. Sie erlebten es, wie wir, daß die Nationen sich wie knurrende Löwen gegeneinander aufrichteten undjeden Augenblick bereit waren, um eines Nichts wegen übereinander herzufallen. Sie erlebten es, daß die Gesinnung, die um sie herum herrschte, immer mehr verflachte, und daß die Menschen, um der äußeren und inneren Sorge zu entgehen, immer mehr auf Zerstreuung bedacht waren und, wie bei uns, einander gegenüberstanden der furchtbare Ernst des Lebens und dasVergessenwollen umjeden Preis.|71¡

In solcher Zeit lebten sie als die Hoffenden. Die Propheten waren Optimisten, die gewaltigsten Optimisten, die es gegeben hat. Es war nicht der flache Optimismus, der in allem immer noch die guten Seiten entdeckt und davon lebt, daß er sich Dinge einredet, die nicht sind, und durch halb geschlossene Augen schaut, sondern der gewaltige Optimismus, der alles mit unerbittlichem Blicke betrachtet, aber dabei einen 70 [R] Und sieht, wie wenig sich die Zeiten verändert haben. 71 [R] In einer Zeit, wo kein Ausblick auf Zukunft ...

1156

Predigten

desJahres 1911

Willen hat, der hofft, gegen alles, was er sieht, gegen alles, was ist, gegen alles, wasscheint.

Wenn ich in den Propheten gelesen habe, wird es ruhig in mir. Das Denken und Sorgen um diese Gegenwart wird nicht mehr als eine so schwere Last empfunden, und ich sehe nur das eine vor mir, daß unsere Zeit hoffender Menschen bedarf und daß ich einer unter den vielen, derer sie bedarf, sein möchte, der Menschen, die durch denWillen hoffen und neue Kraft bringen. Warum können die Propheten so hoffen? Weil sie an den Geist glauben. Unsere Zeit, undwir mit ihr, sind geneigt, die Dinge von außen anzusehen und von außen anzufassen, und meinen, das wäre der einzige Weg desFortschritts. Und wenn er verbaut ist, und die Zustände und Ereignisse sich wie ein Chaos vor uns auftürmen, meinen wir, es sei zuletzt alles umsonst. In einer solchen Zeit leben wir. Man redet von Reformen und wie man die oder jene Verhältnisse – im öffentlichen Leben, in Schule, in Kirche, in öffentlichen oder sozialen Dingen – anders gestalten [könnte]. Man entwickelt Pläne etc. Aber keiner glaubt mehr recht von Herzen, daß dabei sich etwas ergeben wird, man mag unternehmen, wasmanwill; esbleibt alles Flickwerk, wenn der Geist nicht anders wird und eine neue Gesinnung über unsere Menschheit kommt. Und der natürliche Mensch, der nur die Gesetze des Äußerlichen kennt, fragt sich, wie dies geschehen könne, und glaubt nicht daran. Es ist ihm ein Wunder. – Aber wir, wir wollen an dieses Wunder glauben und darin den Propheten gleichen. Auf dem Gebiete des Geistigen gibt es nur ein Gesetz: Daß, wo wahrhaft geistige Kraft ist, wenn sie nur wirklich ist, sie mag so beschränkt sein, wie sie wolle, daß von dieser eine Wirkung ausgehen kann, die das ganze geistige Wesen einer Zeit umgestaltet, indem sie die Kräfte, die unsichtbar da sind, schlummern und verschüttet sind, weckt. Ihr lest von den schlagenden Wettern in den Bergwerken. Niemand wußte, was sich für entzündliche Massen angehäuft hatten in den Schächten, da dasWasser am Gestein herabtropfte. Ein Funke, der aufflammte, da die Picke auf den Stein aufschlug, genügte, um diese Kräfte zu entzünden und ihreWirkung sich entfalten zu lassen. So ist es. Solche Kräfte sind auch um uns herum angesammelt, wenn man sie auch nicht merkt und sieht, und wenn nur irgendwo wirklich glühender Geist ist, dann werden sie schon lebendig und sprengen die Felsen, die über dem Sinnen undWollen einer Zeit liegen.|72¡ Das Sinnen über die Zukunft der Menschheit kann einen müd machen. Hat sie eine? Welches ist sie? Wir können sie uns nicht denken, 72 [R] Das Gleichnis vom Samenkorn – das Unproportionierte zwischen Ursache und Wirkung [Mt. 13,31 f.].

Gehet ein durch die enge Pforte

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aber daran glauben und uns daran klammern. Aber das eine wissen wir: [Sie kommt] immer durch Menschen. Und was an dieser Zukunft erreicht ist, [geschieht] immer durch den Geist, der in Menschen wirkt.

Wir alle aber, wir wollen zu diesen Menschen gehören. Fühlt ihr es nicht? Unsere Zeit braucht Propheten. In so vielen Fragen, die das öffentliche Leben bewegen, und so vielem, was zum Gut der Menschheit gehört, ist ein Streiten, hin und her – und kein Entscheid; kein Vorwärtskommen.|73¡

[Es ist] alles eingesehen. [Aber es fehlen die] Männer, die wieder gewaltig zu den Menschen reden können. Diese Sehnsucht lebt in uns; und keiner versteht unsere Zeit, der diese Sehnsucht nicht kennt. Daß wir selber wagen, etwas davon zu sein, [ist nötig]. Die Bahn bereiten [heißt]; an einer Zukunft arbeiten, in ernster Freudigkeit leben.

Nachmittagspredigt Sonntag, 31. Dezember 1911, [St. Nicolai]|74¡

Mt. 7,13: Gehet ein durch die enge Pforte Die Klarheit der letzten Tage desJahres 1911 ist angebrochen. In wenigen Stunden wird die Sonne ihren winterlich kurzen Lauf vollendet haben, und das Dunkel wird sich über die Erde senken. Und der neue Tag, der kommt, bringt ein neues Jahr. Auf der breiten Straße der Gedankenlosigkeit und des in den Tag Hineinlebens ziehen Tausende und Tausende aus dem einen Jahr in das andere und tun noch Fleiß, sich recht zu zerstreuen und recht vergnügt zu sein, um des Ernstes der Stunden nicht gedenken zu müssen. Wir aber wollen in das neue Jahr eingehen durch die enge Pforte des Nachdenkens und Abrechnens und dasJahr und uns selber prüfen (und nachsinnen, was dasJahr uns ward und waswir darin wurden). Es war ein schweres Jahr. Die Kriegswolken, die schon längere Zeit von ferne aufzogen, ballten sich am Ende des Sommers über uns zusammen, und eine Stunde um die andere konnte die Kunde bringen, daß Tod undVerderben zwischen diesem und andern Völkern entfesselt sei.|75¡ 73 [Der Schlußgedanke ist aus den vorhandenen unvollständigen Sätzen zusammengestellt.]

74 [Nach dem Kirchenboten hat Schweitzer Nachmittagspredigt in St. Nicolai gehalten.]

75 [Am 21. August ging sogar die Meldung um, Frankreich und Deutschland befänden sich im Krieg wegen der beiden Marokkokrisen, was sich glücklicherweise als unwahr erwies.]

1158

Predigten

desJahres 1911

Das Schlimmste ging an uns vorüber. Zwar tobt der Kampf im fernen Asien und an den Küsten des Mittelländischen Meeres|76¡, aber das für uns Gefürchtete traf nicht ein. Der Druck ist noch nicht gewichen; die Gefahr bleibt bestehen; injeder Verwicklung der fernen Kriege kann die Gefahr sich für uns in jedem Augenblick von neuem einstellen. – Mit diesen Gedanken gehn wir in das neue Jahr. Möge Gottes Geist diejenigen, die die Geschicke derVölker lenken, mit dem Gedanken der Verantwortung, die in ihre Hände gelegt ist, heimsuchen, daß sie in furchtbarem Ernste wissen, über was sie Rechenschaft geben müssen, undmögen dieVölker selbst in sich gehen undwissen, daßall dies Elend über ihnen hängen bleiben wird, solange sie als letztes Ziel für sich nur kennen Stolz und Macht und nicht wissen, daß ein Volk nur soviel in derWeltgeschichte bedeutet, als es an seinem Teil mithilft an dem Kommen des Reiches Gottes bei uns und allerorts. Wie tut es not, daß den Völkern ein «neuer gewisser Geist» gegeben werde [Ps. 51,12]. Und wie es voll Ungewißheit und Gefahren war, so war es für den Erwerb ein schweres Jahr. Sengende Sonne, wie man sie seit Menschengedenken nicht mehr erlebt hatte, hat viele Hoffnungen desLandmanns zunichte gemacht. Die Unsicherheit der Verhältnisse, die Teuerung des Lebensunterhalts, die immer mehr wachsenden Steuern und Ausgaben, der Gang der Entwicklung, der die Existenz der kleineren Betriebe den größeren gegenüber immer aussichtsloser gestaltet – das alles lastet schwer auf den Familien. Gar mancher sitzt in diesen Stunden und fragt sich, ob sein Unternehmen noch weiter so bestehen kann; ein anderer sorgt, wie er das, was er schuldet, zurückgeben kann; ein anderer, wie er es möglich mache, seine Kinder richtig aufzuziehen. (Dazu kommen: Sorge für Gesundheit; Sorge um das Werden und Gedeihen, was aus Menschen wird, ob sie denWeg finden.) Eine enge, schwere Sorgenpforte ist es, durch die die meisten unter uns aus dem alten ins neueJahr treten. Aber wenn es nur eine Sorgenpforte ist, dann ist es nicht die «enge», die rechte. Denn bei der stößt du mit der Last an und kommst nicht hindurch. [Du mußt] die Last abstellen und beschauen. Verzeihen. Danken.|77¡

76 [Am 28. September erklärt Italien derTürkei den Krieg im Streit umTripolis. Im November wird in China in blutigen Auseinandersetzungen die Monarchie gestürzt.] 77 [Die folgenden Abschnitte bestehen nur ausunvollständigen Sätzen.]

XV. Predigten desJahres 1912

Morgenpredigt Sonntag, 21.Januar 1912, St. Nicolai

Mt. 6,12: [Und vergib uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldigern vergeben]

Ich predigte euch nicht oft von Sünde und Sündenvergebung, nicht weil ich meinte, daß dies nicht zum Notwendigsten und Herrlichsten in der Religion gehört, daß der Mensch in seine Sündhaftigkeit hineinschaue und dann es erlebe, daß er daraus frei wird; aber ich meinte, daß es schwer sei, darüber zu reden, und daß es etwas ist, was wir jeden Sonntag miteinander denken, wenn wir die Bitte «Und vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern» miteinander beten, und daß dies eine mehr sei als alles Predigen über Schuld und Vergebung, daß wir dies wahrhaftig und inbrünstig miteinander beten. Undjetzt möchte ich nur in wenigen Worten aussprechen, mit welchen Gedanken wir diese Bitte, die für mich die Lehre Jesu von der Sündenvergebung enthielt, aussprechen sollen, damit es ein wahres Bitten im Geiste ist. Was heißt «unsere Schuld?» Ich rede euch nicht von der «Erbsünde». Daß dasTun und Denken des Menschen vonJugend auf sündig ist, ist selbstverständlich, und daß von sündigen Eltern sündige Kinder abstammen ebenso. Die weiteren Ausführungen, mit denen kirchliche Lehrer die Lehre erweitert haben und zu vertiefen meinten, habe ich nicht verstanden, oder soweit ich sie verstanden habe, nicht als eine tiefere Erkenntnis ansehn können, auch nicht gefunden, daß sie im Geiste Jesu gedacht sind.|1¡ Ich kann euch auch nicht von Schuld reden wie die gewaltigen Bußprediger, die im Laufe der Zeiten aufgetreten sind. Und ich möchte es auch nicht. Sie kommen mir immer vor wie gewaltige Gewitter, die über die Erde niedergegangen sind und nicht diejenige Erquickung gespendet haben, die gespendet worden wäre, wenn das Wasser, statt in Strömen herniederzufallen und dasErdreich mit fortzuschwemmen, als sanfter, die Erde aufweichender Regen niedergegangen wäre. 1 [R] Jesus: «Ausdem Herzen kommen arge Gedanken» [Mt. 15,9]

1160

Predigten

desJahres 1912

Der Täufer war ein gewaltiger Prediger. Aber Jesus hat in der sanften Art, wie er zu den Menschen redete, sicher viel mehr und tiefer Sündenerkenntnis gewirkt alsjener. Wer unter uns von Sünde und Schuld zu andern predigt, muß reden als ein sündiger Mensch zu andern, und alles, was er Wahrhaftiges sagt, ist ein Stück dessen, waser erlebt hat. Ich meine, daß wir alle wissen, was Sünde ist, ob die Straße, die wir im Leben geführt worden sind, weiter oder näher am Abgrund vorübergeführt hat, weil wir alle diese Angst erlebt haben, innerlich zugrundezugehen. Freilich, wer gedankenlos dahinlebt und sich mit Absicht nicht zwingt, Einschau in sich zu halten, der kennt diese Angst nicht. Das heißt, daß schon etwas in ihm tot ist.Wir aber kennen sie und wollen sie kennen. Wenn wir in uns hineinschauen – (und darum das erste für die Predigt über die Sünde: Halte an Stunden der Sammlung ... halte an Augenblicken der Sammlung am Abend, ehe du einschläfst) – was wir sehn, ist ein Gleichnis ... Wenn du in den Bergen hoch oben wandeltest, da sahst du eine kleine Talmulde (Grimmialp) ... grün, und Bäume ... und oben Felsen ... mitten im Grün liegen sie, große und kleine ... einer nach dem andern [fällt hinunter] ... und [dann kommt] die Stunde, wo das ganze Tal verschüttet ist. So ist dein Herz! ... diese Angst, dasist daswahre Sündenbewußtsein. Und dann, wenn ich euch soll von der Sünde reden, wie ich sie fühle, gehört dazu die Angst, zu dem, was man tun soll im Leben, unwürdig zu werden. Wie darfst du deine Hand hier anlegen und die Entweihung, die in dir ist, an das, was du tust, mitherantragen. Und das kommt besonders heraus in demTun auf Menschen. Die Eltern wissen nichts von Sünde, die sich nicht mit Grausen gefragt haben: Wie darfst du denn Kinder erziehen und zum Wege des Guten und Reinen führen, du mit deinem Leben, wie es vor dir steht; und der ist nicht Lehrer oder Prediger, der nicht, wenn er voll Freudigkeit sein Amt verrichten möchte, plötzlich vor der Frage steht: Wie darfst du’s? Hast du denn ein innerliches Recht dazu? ... Wer diesen Schmerz nicht fühlt und diese Verzagung nicht kennt, wo er Gutes tun möchte, der weiß nicht, wasSünde ist. Es gibt Geisteskranke, die hören Stimmen, die ihnen in das, was sie denken und tun, hineinreden und sie zur Verzweiflung bringen. Wer von uns gleicht ihnen nicht? Wem reden nicht Taten seines Lebens und Gedanken, die aus seinem Herzen aufsteigen, immer wieder in das hinein, was er denken und tun möchte? Wer von uns kennt es nicht, daß er schweigen muß, wo er reden möchte und mit andern und über andere urteilen möchte – weil dies und dies in seinem Leben vorliegt. (Die Beschämung der Menschen, die uns für besser halten ... «Was nennst du mich gut?» [Mt. 19,17]...).

Undvergib uns unsere

Schulden

1161

Noch eins: Denkt ihr genug an die Sünde gegen die Menschen? Gewöhnlich, scheint es mir, stellen sich die Menschen die Sünde als etwas fast Unpersönliches vor undwerden sich nicht bewußt, daß fast alle unsere Schuld, Schuld gegen Menschen ist, ob sie es wissen oder nicht ..., und daßjeder von uns seinen Weg geht, in dem ihm Gesichter und Augen folgen und auf ihn gerichtet sind, die ihm sagen: Das hast du mir getan, und mir das, und mir das... Und während der gewöhnliche Mensch das Ohr schließt und die Augen zuhält, um die Stimmen der Taten und Gedanken seines Lebens nicht mehr hören und die klagenden Gesichter und Augen nicht mehr sehen zu müssen und imVergessen Sündenvergebung sucht, wollen wir dasVergessen nicht anrufen, sondern dasVergeben suchen. Washeißt Sündenvergebung? Bild von Schulheft! Neue Seite. Recht, ein neues Leben anzufangen. Der unendliche Geist nimmt die Gedemütigten endlich in sich auf und gibt ihnen neue Reinheit. Nicht vergessen [sollen wir], sondern das Recht und den Mut zum weiterleben [hören und annehmen]. Dieses dürfen wir jedem verkündigen. [Das ist] das Herrliche, wieJesus jedem Menschen dasRecht gibt, zu beten «und vergib uns unsere Schulden». Aber ich würde mich als Prediger arm fühlen, wenn ich nur die Gedanken und die Lehre von der Sündenvergebung [verkünden könnte]; [Es wäre] auch nicht ganz im Geiste Jesu, der wenig über Sündenvergebung lehrte, sondern nur sagte, daß sie in der Liebe Gottes läge. Auch frage ich mich, ob die christliche Kirche im Geist des Herrn gehandelt hat, wenn sie die Sündenvergebung ganz auf eine Lehre von seinem Tode stellte.|2¡ Mit Hören und Glauben ist’s nicht getan, sondern erleben [müssen es die Menschen], daß alles noch vor ihnen steht, wo sie doch nichts mehr niederzieht, sondern ein neues Leben [beginnt], neue Kräfte [geweckt werden.] – Und zur Predigt der Sündenvergebung gehört, daß man den Menschen auf denWeg stellt, wo er dies erlebt. Und dieser Weg ist der Weg der Tat ... ohne ihn weiß niemand, was Sündenvergebung ist. Das ist auch der Gedanke Jesu: Sonst handelt dasVaterunser nur vom Tun Gottes ... aber in der Bitte um die Vergebung der Sünden nennt er die Tat der Menschen, die sie aneinander bindet. Die beiden Lasten sind zusammengebunden, die, was dir vergeben werden soll, die andere, was du zu vergeben hast. So viele wissen nicht, wasVergebung der Sünden ist, weil sie dasWort nie für sich im Leben mühsam buchstabiert haben. Und wer irdische Vergebung nicht versteht, kennt auch die himmlische nicht.|3¡

2 [R] Meine Erfahrung mit Karfreitagspredigten. 3 [Die Fortsetzung besteht ausStichwörtern.]

1162

Predigten

desJahres 1912

Morgenpredigt Sonntag, 4. Februar 1912, St. Nicolai

I Kor. 13,7: Die Liebe glaubt alles Von der Leichtgläubigkeit möchte ich euch predigen, von der rechten Leichtgläubigkeit, wie sie Paulus im Geiste Jesu verkündet, da er sagt: «Die Liebe glaubt alles.» An sich ist uns die Leichtgläubigkeit nicht schwer. Wir tragen sie in uns; nur ist es nicht die rechte. Wir glauben alles Böse und Unschöne, das wir über Menschen hören. Man erzählt etwas über sie, dasnicht günstig ist, so genügt es, daß wir alsbald davon überzeugt sind, und wenn wir keine Ungelegenheiten zu befürchten haben, es, ohne daß irgendeine Notwendigkeit vorliegt, weiterreden, ausinnerer Freude am Bösen. Welch ein großer Teil unserer Gespräche wird doch durch die Leichtgläubigkeit bestritten. Manchmal gibt es uns einen Stich ins Herz. Wir schämen uns für uns und für die andern, wenn wir mit dabei sind, wo das Schlechte ganz selbstverständlich als in erster Linie zutreffend angenommen wird. Wir haben es soundso vielmal erlebt, daß damit schweres Unrecht angetan wurde und wir gedemütigt und beschämt dastanden; wir sind erschrocken über das Unglück, das damit angestiftet wurde. – Aber dieWurzeln dieser bösen Leichtgläubigkeit schlagen immer wieder aus wie die Dornenhecken, die der Landmann im Herbste abgebrannt hat. Und auch wenn sie sich nicht in Worte kleidet, ist diese Leichtgläubigkeit daund treibt ihr Wesen. In all unsern Erwägungen über das, was die Menschen um uns tun und sagen, zeigt sie sich wirksam. Und besonders können wir es nicht ertragen, daß etwas äußerlich gut scheint. Dann haben wir wie einen inneren Zwang, anzunehmen, daß es nur so scheint, in Wirklichkeit aber aus unlauteren Beweggründen entsprungen ist oder doch daneben mit weniger guten Absichten verbunden

ist.

Und in dieser Gesinnung begegnen wir nicht nur Fremden, sondern auch denen, die wir kennen, die wir erprobt haben, die wir lieben, mit denen wir zusammen wohnen. In einer Gesellschaft hörte ich einmal einen Menschen als hohe Weisheit verkünden: Bis ich vom Gegenteil überzeugt bin, nehme ich bei den andern immer dasBöse an. So ausgesprochen klingt der Spruch abschreckend häßlich; aber im Grunde ist es uns allen fast selbstverständlich, danach zu handeln. Kennt ihr die Schnecken, die einen klebrigen Streif hinterlassen, wohin sie kriechen? So sind wir. Ein häßlicher Streif von Gedanken undWorten der bösen Leichtgläubigkeit bezeichnet unsern Lebensweg, und wenn man ihn könnte sichtbar machen, würde uns vor uns ekeln.

Die Liebe glaubt

alles

1163

Und wer tiefer sieht, der weiß, daß wir damit nicht nur in diesem undjenem Falle Unrecht tun, sondern daß wir das Gute in den andern lähmen und töten. In dem Blick der Schlange liegt eine Gewalt, die dem Tier, das in ihrem Kreise ist, die Bewegung raubt, so daß es sich nicht regen kann und ihr zur Beute fällt! So liegt auch eine grausige Macht in unserer bösen Leichtgläubigkeit, die aus uns auf die andern herausschaut.

Ihr habt es schon als Kind erfahren, wie schwach und bös wir sind, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die uns dasBöse in erster Linie zutrauen; seither habt ihr das soundso vielmal erfahren. Ihr könnt euch erinnern, daß das Böse in euch herauskam und zum Gedanken und zur Tat wurde, nicht weil ihr es wolltet, sondern die andern es von euch erwarteten; ihr könnt euch erinnern, daß dasGute, dasihr wolltet, ungetan blieb, weil man es euch nicht zutraute und es mißverstehen wollte; ihr könnt euch erinnern, daß die Menschen mit den Gedanken, mit denen sie euch anschauten und umgaben, euch innerlich verunreinigt haben. Aber ihr dürft niemand anklagen. Denn wenn ihr mit euch ins Gericht geht, habt ihr dasselbe nicht hundertmal sondern hundertmal hundertmal andern getan? – Die Menschen sind so schlecht, nicht weil sie von sich aus so schlecht sind, sondern weil sie sich mit dem Gedanken an das Böse begegnen und einander müde und schwach zum Guten machen und dasSchlechte in den andern wie mit bösen Zaubern wecken. Nicht die schweren, offenkundigen Verfehlungen sind das Furchtbarste an unserer natürlichen Sündhaftigkeit, sondern dieser Glaube an das Schlechte und Unlautere in den andern, der unter uns wuchert wie böses Schlinggewächs und uns die Sonne raubt und uns erdrückt. Und auf uns selbst schlägt zurück, waswir Schlechtes über die andern denken. Das Häßliche, das uns anfüllt, demoralisiert uns, und wir werden selber schlecht durch das Schlechte, das wir überall um uns herum bei den andern annehmen zu dürfen glauben. Jeder von unshat schon geseufzt, daßwir miteinander von dieser bösen und niedrigen Leichtgläubigkeit erlöst werden. Sicher haben wir auch schon alle Anstrengungen dazu gemacht. Wir haben uns gesagt, daß wir ruhiger und gerechter werden wollen, in unserm Urteil besser überlegen. – Aber das hilft alles nur wenig. Eine Kraft kann nur durch eine andere aufgehoben, ein Gift nur durch ein Gegengift vertrieben werden. – Die einzige Rettung ist die, daß wir anstelle der Leichtgläubigkeit aus den bösen Gedanken des Herzens uns zu der aus der Liebe durchringen [und uns] in sie hineinretten. Das ist die, die der Apostel Paulus predigt. Ihr seid schon alle von der Schönheit dieses Wortes ergriffen worden. Warum wollt ihr euch ihm nicht gefangengeben? Es ist zu überspannt – unerfüllbar: immer dasGute von den Menschen glauben.

1164

Predigten

desJahres 1912

Aber in seiner Überspanntheit ist es das einzig Vernünftige. Denk bei dir nach. Worin haben dir die Menschen mehr Unrecht getan, indem sie dir dasGute zutrauten oder dasBöse? Worin haben sie sich mehr geirrt? Hundertmal für das Böse ... zehnmal für das Gute! Ein vernünftiger Glaube ist das – und nicht blind. Man muß die Urteilsfähigkeit behalten, aber die Kraft haben, das Gute zu sehen und so den andern nahezukommen. Das ist die herrlichste Seite des Evangeliums. Denn sie ist voller Verheißungen wie ein Baum, der in Früchten prangt. Und alle gehen in Erfüllung, wenn wir nur Ernst machen mit demWorte: «Die Liebe glaubt alles.»|4¡

Nachmittagspredigt Sonntag, 11. Februar

[1912],|5¡ zu St. Nicolai|6¡

Gal. 6,9: Lasset uns aber Gutes tun und nicht müde werden

Wir haben alle die Sehnsucht, Gutes zu tun, denn wir wissen, daß das

allein unser Leben innerlich glücklich macht. Aber wir fühlen auch alle, daß mehr Gutes in uns liegt, als zur Tat wird. Seid ihr schon im Sommer in der Rheinebene gegangen, wenn Trockenheit war, und habt nicht bei euch denken müssen, daß hier alles abtrocknet, Kartoffeln, Korn, Gras ... und einige handbreit darunter liegt Wasser, so weit die Ebene reicht, das herrliche Grundwasser des

Rheins? Ist’s nicht auch so mit uns? Es liegt viel Wille zum Guten in uns, aber er kommt nicht herauf... unser Handeln ist welk und müd – nicht so gut wie wir’s innen fühlen – weil wir müde werden ... Darum sagt der Apostel: «Lasset uns Gutes tun und nicht müde werden.» Die Menschen sagen, es sei die Erfahrung, die man im Leben mache, die einem diese Müdigkeit gebe, und glauben, daß dies ausder vernünftigen Betrachtung der Dinge komme. Sie tun sogar wichtig damit und glauben, auf dem Standpunkt sehr hoher Klugheit angekommen zu sein, wenn sie verkünden, daß sie es hundertmal überlegen, ehe sie das Gute tun wollen, und das Ablegen von jeder Begeisterung und dem

4 [Nach stichwortartig zusammengestellten Gedankengängen folgt dann der Schlußsatz:] Ecrit dans le chemin de fer de Stuttgart à Strasbourg, nuit du 2/3 févr. 1912 en revenant des concerts Bach deTübingen. 5 [Das Original trägt keine Jahreszahl, doch hilft die Randbemerkung weiter:] [R] Entworfen in dem Wartesaal der Gare de l’Est zu Paris auf der Reise nach Le Havre, den 7. Februar morgens, 5–8 [Uhr]. [Am 8. Februar 1912 hat Schweitzer in Le Havre in der Aufführung von Bachs Weihnachtsoratorium den Orgelpart gespielt.] 6 [R] Il y a dusoleil.

Lasset

unsaber Gutes tun

1165

Enthusiasmus zum Guten als tiefe Erkenntnis des Lebens preisen als das Glück, weil es einem die Enttäuschungen erspart ... und in Wirklichkeit sind sie nur furchtbar müde Menschen. Ihr habt ihr Bild schon in den Bergen angetroffen, wenn ihr einen Weg hinaufstieget ... Sie hatten sich gelagert und ihre Vorräte ausgepackt und verzichteten, auf den Gipfel zu steigen ... und gaben alles preis, was ihrer droben wartete. – Waren sie klüger und glücklicher... die müden, allzu schnell ermüdeten Menschen? ... Und wo es sich um denVerzicht auf die Höhen des geistigen Glücks handelt, sollten sie im Rechte sein? Unser Gefühl sagt uns, so klug alles und so richtig es äußerlich scheine, so gerne wir es uns selber manchmal einreden möchten, es ist nicht das Rechte. In dem Augenblicke, wo wir müd sind, sind wir... arm. Ist diese Müdigkeit eigentlich notwendig? Wir wollen miteinander darüber nachdenken, warum wir so müd werden. Ist es nicht so, auch im Natürlichen, daß es viele Grade in der Müdigkeit gibt, und daß sie sich früher einstellt, wenn dasTun schlecht ausgeführt wird, und spät oder gar nicht, wenn es in der richtigen Art geschieht.|7¡

Womit erklären wir die Müdigkeit? Durch den Mißerfolg! Die Menschen verstehen nicht, daß wir das Gute wollen, und legen es uns schlecht aus. Wir können, wenn die Leute Geduld haben, uns anzuhören, soundso viel Beispiele anführen, und es hat mit allen seine Richtigkeit ... Aber muß ausdem Müdigkeit kommen? ... Und liegt der Mißerfolg nicht auch an uns? ... |8¡ Ich bin gewiß, daß allem Guten, das wir tun wollen, eine Schwäche anhaftet, weil es in uns nicht rein ist. Und das zu bedenken, ist viel wichtiger, als immer sich über Mißerfolge aufhalten. Es ist schrecklich, wieviel Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit sich immer mit dem Guten, das wir unternehmen, verbindet. Es ist, als ginge von uns eine dissonante Melodie aus: Seht, wasich für ein guter Mensch bin, erkennt es an! Und dann soviel, das gut gemeint ist, wirkt nicht so, weil es nicht genug geläutert ist. Und wer dies denkt, der wundert sich nicht mehr über den Mißerfolg und wagt nicht, darüber zu klagen – ist gefeit vor dieser Müdigkeit! Immer muß er denken: War’s denn ganz rein ... oder nicht beschattet von so und so viel andern Fällen, wo ich es mit anderm verquickte? Das reine Gute ist eine unüberwindliche Kraft. Es gibt zuwenig Erfolg, weil zuwenig reine Kraft da ist. So ist’s auch mit der Dankbarkeit. Sicherlich kann jeder von uns mit 7 [R] Dorfweber! Klavierspieler... Läufer (weil atmet, keine unnütze Bewegung

macht)... 8 [R] Aber unsselber dürfen wir dabei nicht anhören, sondern müssen überspringen.

1166

Predigten

desJahres 1912

äußerlichem Recht manches von Undank der Menschen erzählen. Aber glaubt ihr, daß Jesus uns deswegen erlauben würde, müde zum Guten zu werden, und uns nicht mit mildem Blick zurechtwiese? Und zunächst würde er uns fragen, ob denn nicht auf uns Schuld der Undankbarkeit lastet ... Wir alle haben Menschen, an die wir nicht zu denken wagen, weil wir uns in offenem und schwerem Undank gegen sie vergangen haben! Und wieviel Undank, der nur uns bewußt ist, läuft im Leben mit. Diejenigen, die über Undank klagen, stellen eine falsche Rechnung auf. Wir dürfen vor uns selber nur das vorbringen, was übrigbleibt, wenn wir das abziehen, was wir selber an Undank auf unslasten fühlen. Wer wagt, sich da noch zu beklagen. Und dann, tun wir die Augen auf! Es ist nicht alles Undank, was als Undank scheint. Es können sicher manche Menschen von mir meinen, ich sei ihnen undankbar für das undjenes, weil ich nicht Gelegenheit fand, es auszusprechen oder zu vergelten. Und der eine oder andere ist vielleicht unterdes gestorben ... Aber der Dank ist da, in meinem Herzen. Alles, was du von Dank siehst und hörst und vergolten bekommst, ist nur ein Teil dessen, wasim Herzen von Menschen für dich wohnt. Es gibt keinen, der Gutes tut, der nicht von unsichtbarer und stummer Dankbarkeit umgeben ist ... und es gibt keinen, der nicht auch zu seiner Demütigung bekennen muß, daß die Dankbarkeit oft größer war als dieTat. Wenn der Regen auf die Erde fällt, fragst du nicht, wohin er verschluckt worden ist, wenn du ihn nicht mehr siehst. Denn du weißt, daß kein Tropfen davon verloren geht, sondern daß er wieder als Dampf zu denWolken empor dunstet oder alsWasser aus Quellen kommt und Ströme speist! |9¡ Das Gesetz der Erhaltung der Kraft [gilt auch hier.].. So [sind wir] gewiß, daß nichts Gutes, wirklich Gutes, in derWelt verloren ist, sondern das wirkt so oder so und viel mehr, als der Mensch ahnt und hineingelegt hat, wenn es auch scheinbar nur mit Undank aufgenommen wird. Wenn es nur rein war! Und auch wenn du dich über Undank beklagen willst, frage dich, ob dein Tun rein war, und ob der Undank nicht daran liegt, daß es nicht rein genug war, um zu wirken! Es ist eine große Gefahr für uns, daß wir in unserm Tun Dank suchen, und dieses Streben wie eine Wolke unser Tun umgibt. Wir werfen, wenn wir uns nicht erziehen, das Gute, das wir tun, wie eine Schlinge über die andern und wollen sie damit zu Sklaven machen. Die Hälfte unserer Guttaten, Dienste und Freundlichkeiten, die wir leisten, werden dadurch unwert. Es ist eine Verunreinigung. 9 [R] Glaube an Dankbarkeit!

Das Reich

Gottes

1167

Zu diesem [muß du dich erziehen], daß du den Dank, der kommt, als eine Guttat Gottes annimmst und dich darüber freust wie über die Blumen und ihn als eine Ermutigung [nimmst] und weißt, alles Gute [hat] nur [einen]Wert, wenn [es] rein [ist]. [Es braucht] Läuterung von Eitelkeit, Lobsüchtigem, Berechnendem; und dies laß deine Sorge sein.¦10¿

Zwei Dinge sind wichtig, um nicht müde zu werden: 1) «Nicht auf das Sichtbare sehen, sondern auf das Unsichtbare» [II Kor. 4,18]. [Das gibt eine] ganz andere Anschauung von den Dingen. 2) In sich hineinschauen, wissen, daß das Gute allzu beschwert bei uns.

Dann [kennen wir] keine Müdigkeit mehr, sondern Kräfte des Guten [erfüllen uns]. Wenn wir müd [werden] in gewöhnlichen Erwägungen, dann müssen wir hieran denken!

Morgenpredigt Sonntag, 18. Februar 1912, St. Nicolai

I Kor. 4,20: Das Reich Gottes stehet nicht in Worten, sondern in Kraft Noch einmal soll das Wort «Reich Gottes», in welchem wir uns so manchmal zusammenfanden, unter uns erklingen in seinem wunder-

baren Geläute. Ich weiß, daß das, was ich in diesen Erbauungsstunden ausgesprochen, vom Standpunkt der überlieferten Lehre nicht vollständig und nicht immer befriedigend gewesen ist. Trotz dieser mir bewußten Lücken und Schwächen habe ich das Evangelium mit Zuversicht und Freudigkeit gepredigt, weil ich glaubte, das, was unserer Zeit not tut, mit lebendiger, innerer Überzeugung aussprechen zu können. Die Schlachten, die gewonnen werden, gelangen nicht dadurch zur Entscheidung, daß die ganze Schlachtreihe auf allen Punkten gleichzeitig und in gleicher Höhe vorrückt, sondern dadurch, daß an einem Punkte die ganze Kraft konzentriert wird, auf einem Flügel oder in der Mitte, und in gewaltigem Anlauf denWiderstand bricht. So meine ich, gilt es auch für das Christentum im Kampfe mit unserer Zeit, und daß die ganze Wucht, die es entfalten kann, in einem Gedanken, eben in dem Gedanken des Reiches Gottes, liegt, und daß wir, wenn wir diesen mit der ganzen Glut unseres Wesens denken, in ihm das ganze Christentum haben – und daß sich in dem Glauben an das Reich Gottes alles 10 [R] Edelmetall: gebunden; frei machen! Schwer, es rein zuerhalten.

1168

Predigten

desJahres 1912

zusammenfindet: Versenkung in Gott, Ehrfurcht und hingebende Liebe an Jesus, Glaube an den heiligen Geist, Gewißheit der Vergebung der Sünden und Heiligung. In denJahren, in denen ich zu euch redete, wuchs in mir der Glaube an dasReich Gottes und klärte sich, und es ward mir bewußt, daß dieser Glaube alle Seligkeit ist. Alles, was man über Seligkeit sagen kann und gesagt hat, geht nicht über dashinaus und reicht nicht an das hinan, was wir in unseren Herzen fühlen, wenn wir uns in dem Glauben an das Reich Gottes wiederfinden und über alles Irdische hinausgehoben fühlen. Reich Gottes will heißen, daß der Geist Gottes undJesu als heiliger Geist in unseren Herzen regiert und über die Menschheit Herr wird und alle Verhältnisse durchdringt. Wir glauben es, wenn auch keine Zeichen auf eine solche Vollendung deuten und auf die Frage «Hüter, ist die Nacht verschwunden?»¦11¿ niemand uns antworten kann, daß die Streifen der Morgenröte am Himmel aufziehen, sondern daß dasDunkel nur dichter wird. Der Gang der politischen Ereignisse, die Gestaltung des Denkens um uns, die Kultur, die äußere Entwicklung der christlichen Kirchen: Nichts führt auf die Zeit zu, die wir ersehnen, sondern alles eher davon weg. Aber daran liegt uns nichts, sondern wir glauben dennoch. Und wenn wir in diesem Glauben Fremdlinge in unserer Zeit werden, so finden wir eine neue Heimat in der Gemeinschaft mit all denen, die diesem Glauben angehören, den Propheten, Jesus, all denen, die in diesem Geiste lebten und noch leben. Und in dieser Gemeinschaft werden wir reich und froh. Was ist es doch nur, daß wir miteinander in den Stunden unserer Andacht, Bekannte und Unbekannte, uns nach der Arbeit und Mühsal der Woche in diesem Glauben zusammenfinden durften und dann durch diese Gedanken beglückt und gestärkt in die neue Woche hinaustraten – und in allen Sorgen und Leiden Sonne auf dem Weg fanden und etwas davon verstanden, was die alte Kirche mit den Worten «Gemeinschaft der Heiligen» in ihr Glaubensbekenntnis aufgenommen hat!¦12¿ Die Welt braucht die im Glauben an das Reich Gottes hoffenden Menschen. Die Gelehrten, die die Kräfte der Natur erforschen und in ihren Dienst stellen undihr alle Elemente unterwerfen, geben ihr etwas, und sie ist stolz, furchtbar stolz auf sie. Aber was ihr not tut, können sie ihr nicht geben. – Sie vermögen sie nicht geistig reich zu machen und auf die Höhe zu führen, wo die Lichter des wahren Glücks und des wahren Fortschritts erstrahlen. Unser Glaube an das Reich Gottes hat aber etwas Besonderes an 11 [Christian Gottlob Barth: Hüter, ist die Nacht verschwunden, Str. 1.] 12 [R] Die Glücklichen geben unbewußt den andern vom Glück, die andern vom Leid.

Das Reich Gottes

1169

sich. Der Mangel an dasVertrauen in dasWort, der in dem Ausspruche Pauli laut wird, ist uns aus der Seele gesprochen. Gewiß, wir denken nicht gering von allen Worten, die Menschen erbauen und einen und in welchen sie ihrem Glauben Ausdruck geben. Aber für die Ausbreitung des Reiches Gottes setzen wir unsere Hoffnung nicht auf dasWort, sondern fast allein auf die still und stumm wirkende Kraft desLebens derer, die an dasReich Gottes glauben. Um uns ist ein Lärm von gedruckten und gesprochenen Worten. Jeder Gedanke will sich heute durch die vielen Worte in Zeitungen, Zeitschriften, Vorträgen durchsetzen. Diesen Lauf nach dem Erfolg können die Worte vom Reich Gottes nicht mitmachen, die einfachen, schlichten, denn sie würden zertreten und übertönt werden. Und wie armselig stehen sie da! Sie sind verbraucht durch die Zeit, verbraucht durch die Schwäche der Menschen, die sich zu ihnen bekannten, verbraucht durch den Mißbrauch, der mit der Religion und dem Namen Jesu getrieben worden ist, verbraucht durch die Fehler, die die christlichen Kirchen begangen haben, verbraucht durch die Gleichgültigkeit der Menschen, die ihre Wahrheit und Tiefe nicht zu ergründen vermochten. Die kostbaren Perlen derWorte Jesu haben ihren Glanz verloren. Es ist ihnen gegangen wie den natürlichen Perlen aus den Diademen vergangener Fürstengeschlechter, die man auf Samt unter Glas ausstellte zur Bewunderung und bemerkte, wie sie von Jahr zuJahr matter und elender wurden, bis man endlich, in unseren Tagen, darauf kam, daß das einzige Mittel, sie zu erhalten, darin bestehe, daß sie wieder von Menschen auf lebendiger, warmer Haut getragen werden und mit den geheimnisvollen Kräften des Lebens in Berührung kommen. So ist’s mit den Worten Jesu. Verkündet und ausgelegt sind sie ausgestellte Perlen, die ihren Glanz verlieren. Nichts hilft, damit sie ihre Schöne und ihren Glanz wiederbekommen, als daß Menschen sie an sich tragen und ihnen von ihrem Leben übermitteln.¦13¿

Was not tut, ist die Einheit von Religion und Leben in uns. Das ist der Anfang des Reiches Gottes in uns. Um uns alle schleicht das Erwägen herum, das uns will klar machen, daß man im Leben das, was wir innerlich als dasWahre, Reine und Gute empfinden, bei soundso vielen Gelegenheiten zurückstellen dürfe und müsse, um den natürlichen Erwägungen über das Erlaubte, Bequeme, Vorteilhafte nachzugeben, da Leben und Religion zweierlei sind. Sie locken uns von den Höhen der Seligpreisungen Jesu – «Selig sind die Friedfertigen, selig die Sanftmütigen, selig die Barmherzigen, selig die reines Herzens sind, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit» [Mt. 5,3– 10] – hinab in den Nebel der Ebene, als könnten wir 13 [R] Wärme desKörpers – innere Wärme.

1170

Predigten

desJahres 1912

den Weg nachher wieder hinauffinden und aus den Erwägungen des gewöhnlichen Lebens wieder in die Religion zurückkehren. Darin wollen wir uns nicht täuschen lassen und aus der Treue gegen uns selbst und die Gedanken des Reiches Gottes fallen. Ursprung der Kraft des Reiches Gottes ist die Einheit von Religion und Leben in uns. Rätselhaft ist, daß alle Kraft darin besteht, daß zwei Gegensätze sich zur Einheit verbinden. Wie in einer zusammengedrückten Spiralfeder Kraft ist, weil Elastizität durch eine andere Kraft gespannt ist, so ist unser Leben eine Feder, die, wenn sie in den natürlichen Erwägungen entspannt ist, nichts an Kraft besitzt, wenn sie aber unter dem Druck der Worte Jesu und der Gedanken vom Reich Gottes aufgezogen ist, Energie entfaltet wie die Spirale der Uhr, die aufgezogen Tage undWochen läuft. Und nur in dieser Einheit von Religion und Leben können wir in Wahrheit an das Reich Gottes glauben, weil sich dann in uns vollzieht, was das Wesen des Reiches Gottes ausmacht, da doch dieses auch in nichts anderem besteht, als daß sich derWille desreinen und guten Geistes Gottes, heiliger Geist, mit den natürlichen Verhältnissen der Welt verbinde und sie umgestalte. Und wenn so viele den Glauben an das Reich Gottes verloren haben, so ist es, weil sie es in sich preisgaben und nicht Religion undihr Leben zusammenzubringen suchten ... Auch der Glaube an Reich Gottes steht in Kraft. Wie können sie dann glauben, daß das Allgemein-Grössere, Welt und Religion, sich zusammenbringen lasse! [Sie sind] der Hoffnungslosigkeit undTraurigkeit ausgeliefert. Wenn in uns Einheit von Religion und Leben ist, dann [haben wir] nicht nur Glauben an das Reich Gottes, weil er schon inwendig in uns ist, sondern wir verbreiten seine Atmosphäre um uns, mögen wir noch so arm und schwach sein, noch so viel irren und fehlen, wenn nur die Menschen merken, daß es uns ernst damit ist, unsere Religion in unserem Leben, in großen und kleinen Dingen, hineinspielen zu lassen. Das suchen sie an uns. Und wo sie es an uns finden, da ist das Reich Gottes in uns mitten unter ihnen, und sie schmecken seinen Geist und seinen Frieden und werden zum Glauben an es geführt. Und mit [dem] Reich Gottes ist Gott und sein Geist da. Meint nicht, daß sie es euch in Worten der Anerkennung aussprechen werden; wartet nicht auf Leben und Dank, sonst habt ihr das Beste dahin, sondern wisset, daß wir dasReich Gottes schweigend und demütig um uns herum tragen müssen, und alles, was wir an Gutem schaffen dürfen, für uns sichtbar, Frieden unter den Menschen wirkend, nur in Demut als Gnade zum weiteren Mutbehalten annehmen dürfen, dawir, die wir uns innerlich kennen, wissen, wie schwach und arm unser Wirken ist und wieviel wir versäumt und verdorben haben. Und wenn ihr Kinder habt, erzieht sie im Glauben an das Reich Gottes. Legt ihnen diesen tief ins Herz hinein. Es ist das Kostbarste, was ihr

Das Reich

Gottes

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ihnen geben könnt. Niemals können sie dann in die Kleinlichkeit des Lebens zurückfallen, und ein geistiges Band, sich in die natürlichen schlingend, verbindet sie und euch. Und wie mit den Kindern, so ist’s mit allen, mit denen wir in natürlichen Verhältnissen stehen. Die Beziehungen, in [die] das Leben uns mit andern bringt, sind erst wahrhaft tief und wahrhaft schön, wenn das Heilige darin ist, das hineinkommt dadurch, daß wir voneinander wissen, daß wir an das Reich Gottes glauben, und ahnend voneinander um dieses Geheimnis unseres inneren Lebens wissen, dasuns voneinander über unsere eigene Schwäche, über unser gegenseitiges Irren und Fehlen hinaushebt und uns miteinander denWeg aus den Kleinlichkeiten des Lebens zum wahren Verstehen immer wieder finden läßt. Und keiner von uns sage: Ich bin arm, meine Arbeit und Beschäftigung hat mit dem Geistigen und dem Reich Gottes nichts zu tun. Mag unser Tun äußerlich noch so indifferent sein, das Reich Gottes liegt in unserer Gesinnung und kommt heraus in der Art, wie wir sind und uns mit den Menschen geben, und waswir in unserem Hause tun. Und doch trägt einjeder von uns ein Sehnen in sich, etwas Sichtbares und Greifbares an derArbeit für dasReich Gottes tun zu dürfen. Ertötet es nicht, sondern laßt es zu seinem Worte kommen! DasReich Gottes ist nicht allein das, wasduin deinem Hause, in deinem natürlichen Wirkungskreis tust; dies ist eine zu matte Predigt, sondern zum Reich Gottes gehört das Tätige in den Werken, die die Menschheit angehen ... Daß wir dieWorte Reich Gottes und Menschheit zusammendenken müssen. Mit dem Arbeiten an der Menschheit in Berührung treten – aus dem Kreis der Berufs- und Erwerbsarbeit heraus! Darum mußjeder ein Nebenamt im Dienste des Reiches Gottes suchen, wie esJesus in seinen Worten sagte, unter Freunden, Nächsten, die unser bedürfen. Jeder [muß] sein Amt suchen, [die] Augen auftun, daß der Geist der Tätigkeit unter uns herrsche und wir voneinander wissen, daß unsere Gaben und Kräfte, unsere Güter, unsere Stellung, unser Einfluß zuletzt nicht uns gehören, sondern dem Reiche Gottes. Das Befreiend-Tätige wie ein frischer Wind in alle unsere Werke komme! Und diejenigen, denen es die Umstände erlauben oder gebieten, daß das Nebenamt in der Arbeit am Reich Gottes groß wird im Leben und vielleicht zur Hauptarbeit im Leben wird, sollen wissen, daß ihnen damit eine Gnade widerfahren ist, die sie über alle Mattigkeit, über alles Schwere und Traurige, was ihnen begegnen könnte, in jedem Augenblick hinauströsten muß. Allabendlich läutet die Glocke des Münsters über die Stadt und das Land hinaus. Ich habe ihr oft mit Ergriffenheit zugehört. Es war mir, als trüge sie den Frieden des Reiches Gottes über die Häuser und das stille Land hinaus und als klängen in ihr die Bitten, die uns der Herr zu bitten

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gelehrt ... «dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe» [Mt. 6,9 f.] ... wider. Wasüber unsern Häuptern läutet, klinge in unseren Herzen wieder, und zu dem Läuten im Dunkel der Nacht komme das Läuten in unseren Herzen, das ihm antwortet, daß ein Ton von uns, aus unserem Herzen, aus unserem Leben, in das Dunkel unserer Zeit hinausklinge, ein Glauben und Hoffen und Tun in denWorten «Dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel» ... und Kraft und Frieden bringe von Mensch zu Mensch in dem Geiste unseres Herrn Jesus ... und von seinem Reich, dasüber dieWelt kommen muß, predige, und wir froh werden im Glauben ans Reich Gottes miteinander.

Letzte Nachmittagspredigt Sonntag, 25. Februar 1912, St. Nicolai¦14¿

Apk. 2,10: Sei getreu bis an denTod, sowill ich dir die Krone desLebens geben

Zum letzten Mal ist es mir vergönnt, als Prediger dieser Kirche in einer Nachmittagsandacht zu euch zu reden. Diese Sonntagnachmittage gehörten zu dem Schönsten für mich, was ich in meinem Leben fand. Ihr habt wohl oft bemerkt, wie ich das, was ich leisten sollte, in den letzten Jahren nur in Müdigkeit und mit Aufbietung der letzten Kraft geben konnte, und manchmal beim Herabgehen von der Kanzel hatte ich den Eindruck, daß ihr sehr nachsichtig mit mir sein mußtet. Und doch: Alle Müdigkeit, die mir diese Stunden auferlegten, bedeuteten für mich nichts im Vergleich mit dem Gefühl, mich mit euch eins zu wissen und mich mit euch erbaut zu haben. Und da unsere Wege äußerlich auseinandergehen, wenn wir auch im Geiste geeinigt bleiben, so suchen wir einen Standpunkt, von dem wir in diesem Augenblick einen weiten Horizont haben; und wir fragen nicht, was wir einander wünschen sollen oder womit wir miteinander für das Kommende sorgen wollen, sondern wir fragen miteinander: Was gibt uns die Gewißheit, daß wir in diesem Leben das tun, was wir sollen und was zu unserer Befriedigung dient? Und so versteht ihr, wie dasWort: «Sei getreu» den Horizont für unsere letzte gemeinsame Betrachtung bietet. Weit dehnt es sich vor uns aus: «Treu bis an den Tod», also bis unser Leben ein Ende hat, früh oder spät; und herrlich scheint die Sonne darüber: «So will ich dir die Krone desLebens geben.» 14 [A. Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, in: Werke Bd. I, S. 125:] «Im Frühjahr 1912 gab ich meine Lehrtätigkeit an der Universität und mein Amt an St. Nicolai auf.»

Sei getreu bis an den Tod

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Ich kann nicht definieren, was heißt «treu», denn die eigentliche Bedeutung des Wortes fängt erst an, wo alles Erklären in Ausdrücken aufhört; und doch wissen wir alle aus unserm Innersten heraus, was es besagen will: Alles, waswir Gutes an Erkennen undWollen haben, bedeutet nichts und führt zu nichts, wenn es nicht gehärtet ist in dem Gedanken der Treue. Wie man bei jedem Metall sucht, es zu härten, und nicht sagen kann, wie es kommt, daß das Metall, das vorher weich und biegsam war, gehärtet hundertmal so stark ist als vorher, so kann man es nicht erklären, wie es mit dem Menschen geht, daß alles, was er zu geben vermag, erst dann wirklich stark ist, wenn es gehärtet ist in der Treue. Ich habe draußen Flüsse gesehen, die führten Geröll mit sich, und ihre Ufer waren zerrissen und die Felder undWiesen versandet und zerfressen. So sind die Menschen, die nicht treu sind, die nicht durch eine innerliche Gewalt in ihrer Bahn festgehalten werden und nicht davor bewahrt werden, daß sie in Willkür oder Unmut und Verzagtheit über ihre eigenen Ufer hinaustreten und vernichten, was sie nicht sollten und waskeinen Segen bringt. Treue ist die innere Kraft des Lebens, in der wir uns selber erfassen. Wenn ihr die Menschen betrachtet: Es sind wenige, die treu sind. Und doch, wenn wir diese wenigen sehen, so steigt auch in uns ein Sehnen auf, treu zu werden wie sie. Denn die Treue ist eine Melodie, die in uns liegt von Jugend auf, die wir aber zum Ersterben bringen mit all den Mißklängen, durch die wir sie übertönen, und durch den furchtbaren Gedanken, daß wir sagen, es ist nun einmal so Weltbrauch: Niemand kann treu sein in seinem Leben in allem seinem Tun. Zuerst heißt es: Treu gegen sich selbst sein. Es ist keine Romanphrase, die Treue gegen sich selber; sondern ihr wißt, es ist etwas Zwingendes, was sich in uns abspielt und fort und fort wiederholt; jede Untreue gegen unser inneres Wesen ist ein Fleck auf unserer Seele; und wenn wir untreu sind, dann wird unsere Seele zerrissen, und langsam verbluten wir darüber. Denn Harmonie und Kraft ist nur in unserm Leben, wenn das Äußere ist wie das Innere; wenn diese große Wahrhaftigkeit zwischen unserm tiefsten und reinsten Sehnen und dem Willen im Leben uns innere Einheit gibt. Treu gegen uns selbst und treu gegen die Menschen. Es ist ein bekanntes Wort: «Sei treu gegen die Menschen, so wie sie gegen dich sind», womit es gleichsam uns leicht zu machen sucht, wenn wir nicht treu sind, indem es uns zeigt, wie die Menschen mit uns umgehen und uns fragt: Warum willst du anders mit ihnen sein wie sie mit dir? Vergelte einem jeden, wie du es selber bekommst! Und doch, wehe uns, wenn wir auf diese Stimme hören! Denn die Stimme in uns sagt: Treu sein will heißen: Mit den Menschen, die wir kennen, in einer innern Weise verbunden sein, daß wir über allem Kleinlichen stehen, was uns

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dasalltägliche Leben bringen kann, und wissen, daß immer dieses edelste Verstehen, das wir in einzelnen Augenblicken miteinander erfahren durften, uns eint über alles andere hinaus. Treu sein gegen Menschen will ferner heißen: Seine Verantwortung fühlen in allem und jedem den Menschen gegenüber, ob sie uns nahe stehen oder fern. Auf den ersten Blättern der Heiligen Schrift steht das furchtbare Wort, womit der Mensch sich entschuldigen kann: «Soll ich meines Bruders Hüter sein?» [Gen. 4,9]. Dieses Wort geht durch die ganze Geschichte der Menschheit und durch das Leben eines jeden von uns, und jeder hat damit zu kämpfen, daß er sagt: Mein Horizont ist abgeschlossen, und der undjener geht mich nichts an, für das und das habe ich keine Verantwortung – und er rechnet sich alles zusammen mit seiner Vernunft! Aber innerlich sagt die Treue: Das ist nicht wahr, sondern wir sind verantwortlich für alles, was wir tun können an Menschen und für Menschen, ob sie uns bekannt sind oder nicht. Wie es uns Jesus in seiner ergreifenden Weise ans Herz gelegt hat, wenn er sagt, daßjeder, der unser bedarf, unser Nächster ist; daß wir nichts tun an einem Menschen, das nicht ihm selber getan ist und von ihm vergolten werden soll. Und in dieser tiefen Treue, die den Menschen das Leben nicht leicht, sondern schwer macht durch die Verantwortung, die es auf sie legt, und die Unruhe, die es ihnen gibt, wo ihre Vernunft Ruhe finden würde: In dieser Treue wollen wir sein gegen nah und fern.

Und treu im Beruf sein, will nicht heißen, äußerlich treu sein in der Verrichtung der Pflichten, sondern treu in allem, was wir auf Erden ausrichten können, treu in jenem höheren Sinne, daß wir wissen: Über all unser Vermögen und Können sind wir selber nicht Herr, sondern es ist, wie unsere Gaben und unsere Gesundheit, ein Pfand, das uns gegeben ist, und damit wir hausen als solche, die wissen, es gehört nicht ihnen, sondern die Rechenschaft darüber ablegen müssen in ihrem Leben, was sie damit gemacht haben; daß wir unser Dasein führen nicht als solche, die sagen: Das gehört nun uns, davon nehmen wir so viel wir brauchen zu unserem Glück, zu dem was uns frommt, sondern als solche, die da wissen und in dieser Erkenntnis immer reifer werden, daß dasKostbarste im Leben dasist, daß wir nicht für uns selber leben, sondern für das, was geschehen muß für die Menschen und für die Wahrheit und für dasGute. Und zuletzt treu zuJesus und zu seinem Geist. Denn Jesu Geist ist der Begriff des wahren Lebens, ausdem heraus wir wissen, was dasLeben von uns verlangt. Wir sind seine Jünger, die nicht frei sind von menschlicher Schwachheit, die ihm aber dienen müssen, weil er geistig unter uns lebt, geistig sorgt und leidet für unsere Zeit und Menschen sucht, denen er zeigt, was sie tun müssen in seinem Willen, und die ihm gehorchen im Großen wie im Kleinen.

Sei getreu bis an den Tod

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Und diese Treue gegen Jesus ist nicht ein verworrener, mystischer Begriff, der sich in Reden herrlich ausnimmt und im Leben nichts ausgibt, sondern wer der Gestalt Jesu, wie sie uns in seinen Worten entgegentritt, ins Auge gesehen hat, der weiß, daß das wahre Glück für uns alle darin besteht, daß wir uns als Dienende diesem Großen und seinem Geiste gegenüber fühlen und als Dienende für ihn leben; daß wir Brüder und Schwestern nur sind in der Art, wie wir dasDasein auffassen, in der Art, wie wir esleben. – Nun heißt es in demWort: «So will ich dir die Krone des Lebens geben.» Wir stellen uns unter Krone des Lebens kein Diadem vor, das auf unsere Stirn gedrückt wird, wenn dieses Dasein hinter uns liegt und etwas Neues beginnen soll. So weit reicht unsere Kenntnis nicht, sondern wir wissen: Die Krone des Lebens trägt an sich, wer hier treu ist, innerlich in dem Glück und Frieden, der ihm daraus kommt, daß er treu ist, und äußerlich in der Herrlichkeit, die sich in seinem ganzen Leben ausdrückt. Wir wissen, daß uns geschehen mag, was da wolle an äußeren Dingen, es kann sehr schwer werden, was das Leben uns bringt; und doch – unser Glück ist höher und unabhängig davon; denn unser Glück liegt darin, daß wir im Tiefsten unseres Wesens treu sind und dadurch die geistige Gemeinschaft mit Jesus und mit dem unendlichen Geiste behalten und damit Heiligkeit und Frieden auf unserm Wege. Ich ging in den Spätsommertagen auf einer dieser wunderbaren Straßen Lothringens, wo man bis ins Unendliche sieht, wo eine Hügelkette sich über der andern aufbaut; in der Richtung, in der ich ging, ging die Sonne unter, alles überstrahlend, so daß die Bäume auf den fernen Hügeln aufflammten, als wären sie im Feuer, und man die Helligkeit um sich selber herum spürte. Da wurde mir ganz wundersam zumute; das Ganze kam mir vor wie ein Gleichnis für unser Leben, daß wir in der inneren Treue mit uns selbst, daß wir im inneren Zusammenhang mit dem unfaßbar Unendlichen im Leben der Sonne entgegengehen, bis die irdische Sonne für uns untergeht: Vom Licht umflossen mehr und mehr bis zum letzten Augenblick – mag dann die äußere Sonne auch für uns untergehen! – Wie heißt es doch in dem wunderbaren Liede: «Wo bist du, Sonne, blieben? Die Nacht hat dich vertrieben, die Nacht, desTages Feind. Fahr hin! Ein andre Sonne, meinJesus, meine Wonne, gar hell in meinem Herzen scheint.»¦15¿ Und was da von der irdischen Nacht gesagt ist, gilt von dem Dunkel, dassich injedem Leben findet, von dem, was es Schweres undTrauriges bringt: Daß dieses Dunkel das Licht des irdischen Glückes nicht ver15 [Paul Gerhardt: Nun ruhen alle Wälder, Str. 2.]

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nichten kann, daß aber, je dunkler es wird, um so mehr uns erstrahlt die Sonne des Glücks in der Einheit und in der inneren Festigkeit, in dem Geiste Jesu, der in dieWelt kam und unser Erlöser wurde dadurch, daß er uns mit seinem reichen großen Geiste herausgehoben hat aus allen Ängsten, aus aller Kleinlichkeit, aus aller Sorge und den Blick gerichtet hat auf dasWahre, auf den unendlichen Geist, der in uns ist und nach der Unendlichkeit sich sehnt, daß wir dieses wissen in diesem Leben und darüber still und friedvoll werden in dem «Frieden, der höher ist als alleVernunft» [Phil. 4,7].

Morgenpredigt Sonntag, 24. November 1912, Münster Ernte-, Herbst- und Dankfest

Jak. 1,17 f.: Alle vollkommene Gabe kommt von oben herab Zusammen wollen die evangelischen Gemeinden unseres Landes an dem heutigen Sonntag Gott ihren Dank für das, was uns die Natur in diesem Jahr gespendet, entgegenbringen und so das Kirchenjahr beschließen. Möge er warm und tief ausunsern Herzen emporsteigen. Vielleicht ist es nicht allen, die hier sind, zum Danken ums Herz. Sie sind unter uns und hätten nötig, getröstet zu werden, da sie mit schweren Sorgen und mit Traurigkeit hereingekommen sind und gar von Zweifeln an Gottes Güte bewegt werden. Mögen ihre Seelen in der Feierlichkeit desDankens, dassie umgibt, stille werden, daß auch sie aus dem finstern Tal denWeg, der zur Höhe führt, finden. Wir sollen für dieses Jahr danken? Sein Verlauf war merkwürdig. Alles hatte herrlich begonnen. Am Tage St. Johannis, als alles verblüht hatte und Früchte ansetzte, durfte man erwarten, daß es eines der gesegnetsten Jahre geben würde. Da setzte bald der Regen ein und hielt an die drei Monate an. Das Getreide lag auf dem Boden, die Kartoffeln standen im Wasser und die Reben wurden von Krankheiten befallen. Alles schien verloren. Aber die Natur rang mit der Ungunst der Witterung, erkämpfte die Reife der Früchte und gewann ihr noch zur rechten Zeit einige Sonnentage zumTrocknen des Heus und Oehmds ab. So wurde dasJahr, gegen alle Erwartung, zuletzt doch kein Mißjahr, sondern ein bescheidenes Mitteljahr, und der Landmann darf sich getrösten, daß er nicht vergeblich gearbeitet hat. Wir aber, die wir durch Jesus gelehrt sind, aus der Natur im Gleichnis dasGeistige herauszulesen, schauen die entlaubten Bäume und daswinterliche Feld in dankbarer Bewegtheit an. Sie waren unsere Prediger und haben uns Ausharren und Treue gelehrt, daß wir ihnen gleichen und auch in den trübsten Zeiten nicht mutlos werden, sondern in gläu-

Alle vollkommene Gabe

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biger Geduld unsere Pflicht tun und Früchte bringen, die kostbar sind; die kostbar sind, weil sie inWiderwärtigkeit und Leid gereift sind. Auch daran wollen wir am Dankfest gedenken. Gar manchen unter uns erfüllt dieses Fest aber auch mit einer gewissen Wehmut. Sie nennen keinen Acker und keinen Baum ihr eigen, haben nicht gesät und auch nicht in die Scheunen gesammelt, sondern empfangen alles, was die Natur beut, nicht mehr direkt von Gott, sondern für Geld aus zweiter Hand. In diesem Sinne, von der Natur losgerissen, fühlen sie sich arm, auch wenn sie sonst ihr regelmäßiges Einkommen haben. Aber auch sie sind gerade heute in der Kirche nötig, und für sie auch hat das Fest eine Bedeutung. So manche haben viel geerntet und ihre Scheunen mit herrlichem Öhmd und Heu bis unter den letzten Ziegel gefüllt und denken nicht daran, Gott zu danken. Da wollen wir, die wir selber nicht Feld noch Baum haben, es an ihrer Stelle tun, damit desDankens nicht zuwenig sei. Aber alle, die wir hier sind, haben mit einer gedrückten Stimmung zu kämpfen, um zu danken. Die Verhältnisse, in denen wir leben, bringen es mit sich, daß wir für unsern Unterhalt nicht allein von den Feldern, die um uns herum bebaut werden, abhängig sind, sondern von den mannigfachsten Bedingungen wirtschaftlicher Art. Die Preise für Brot und Mehl und die sonstige Nahrung richten sich nach der Lage des Weltmarkts, nach derWirtschaftspolitik, nach Spekulation und noch so manchen Dingen. Und die Losung heißt: teurer und immer teurer. Nicht nur diejenigen, die von der Hand in den Mund leben, sondern auch die, die einen guten Tagelohn oder ein festes Gehalt haben, werden zu Kindern der Sorge. – Sie sehen die Preise für die Lebensmittel immer ansteigen und müssen sich darauf gefaßt machen, daß der Augenblick kommt, wo alles Einschränken nichts mehr hilft, und sie über den Verdienst hinauswachsen. Aber Kleinmut soll an diesem Tage unser Herz nicht beherrschen. Es war kein reiches Jahr, und der Sorgen sind viele, und dennoch ist das große Wunder wieder geschehen, daß Gottes Kräfte, die in der Natur walten, hervorgebracht haben, was zur Erhaltung des Menschengeschlechtes notwendig ist. Im alltäglichen Lauf der Dinge sehen wir es als etwas Selbstverständliches an und halten uns bei Erwägungen auf, warum uns nicht so reichlich gegeben ist, damit das Leben sorglos abläuft. Heute aber wollen wir miteinander daran denken, daß dies alles zur äußerlichen Betrachtungsweise der Dinge gehört, und daß in Wahrheit Gott weiß, warum er uns nicht reichlicher gibt, und daß es so gut und vollkommen ist, weil es also sein Wille ist. Darum wollen wir stille und froh die Hände falten, in das unergründliche Geheimnis des Lebens hineinschauen, das sich zwischen Gott und Welt und Mensch abspielt, und dem Apostel die Worte nachsprechen, in denen die evangelischen Gemeinden unseres Landes sich zu dieser gottesdienstlichen Stunde zu-

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sammenfinden: «Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von demVater desLichts, bei welchem ist keine Veränderung nochWechsel desLichts und der Finsternis.» Warum tut Gott dies alles und hat eine Schöpfung hervorgehen lassen und in ihr Menschen, die erhalten werden von dem, was sie beut? Ist es euch nicht schon geschehen, daß ihr abends draußen ginget, mit irgendeiner Besorgung beschäftigt und weiter nichts denkend, und euch nun plötzlich der Sternenhimmel zum Sinnen zwang, daß ihr euch fragen mußtet, warum dies alles sei, die unendlichen, durcheinanderkreisenden Welten, unter ihnen unsere Erde, auf ihr ein Leben, eine Menschheit und wir in ihr. Warum hat Gott, die ewige Urkraft, in der alle Kräfte beschlossen sind, überhaupt Welten und Welt geschaffen, und was bedeutet es, daß wir an der Spitze der Schöpfung

stehen?

Auf diese letzte und höchste Frage, auf die wir immer wieder gestoßen werden, wissen wir keine deutlich beweisbare Antwort, und doch ahnen wir die Wahrheit, wie man das Rauschen der Quelle im unterirdischen Gestein vernimmt, auch wenn man nicht zu ihr dringen kann. In diesem Ahnen begegnen sich die größten Denker, Jakob Böhme, Kant, Hegel, und wie sie heißen mögen, und die einfach frommen

Menschen. Ein unendlicher Kreislauf tut sich vor uns auf. Gott ließ Welten, Natur und Leben aus sich hervorgehen und die Geschöpfe bis zum Menschen sich in immer vollendeterem Dasein entwickeln, damit durch uns, was er in dieWelt hineingelegt hat, wieder zurückkehre, in dem, daß wir ihn, den Urgrund der Dinge, erkennen, unsere Gedanken und unsern Willen auf ihn hin richten, uns nach dem Frieden in ihm sehnen und seinem Geiste hienieden, uns läutern und wirken und schaffen. – Und wenn dasWort des Textes zu uns spricht: «Er hat uns gezeugt nach seinem Willen durch dasWort der Wahrheit, auf daß wir wären Erstlinge seiner Kreaturen», so wissen wir, daß es nicht zu uns redet, daß der Mensch das höchste Wesen derWelt ist und, wie es im Psalm heißt [Ps. 8,7], Gott alles unter seine Füße getan hat, sondern daß es von uns will, daß wir nachdenken, waswir als Erstlinge der Kreatur, als die, auf die hin diese Welt und alles wasist, geschaffen worden, Gott entgegenbringen als Ergebnis der Schöpfung und des Seins an geistiger Frucht, in Denken, Wollen und Tun, daß er durch uns reich werde und in uns die Kräfte und der Geist, den er in die Welt gelegt hat, wieder zu ihm zurückströmen. In diesem tiefen Sinnen wollen wir feiern und die Gedanken und die Kraft zum wahren, heiligen Danken finden. Was in uns aufsteigt an Dank für Sonne und Licht und Leben und Lebensunterhalt, aus der Natur geboten, das ist, was Gott in diesem Jahr aus der Welt erntet.

Siehe, dein König kommt

zu dir

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Hunderte und Tausende haben von ihm Leben erhalten und nehmen ausder Natur, was er ihnen gibt, aber ihre Seele bleibt stumm, kein Lied froher Gedanken steigt zu ihm empor. Ihr Leben, in dem, was es Gott darbringen sollte, ist für Gott verloren. Wir aber wollen stehen in seinem Garten als blühende Bäume, die ihre Frucht bringen zu ihrer Zeit [Ps. 1,3], und wie es uns die Natur dieses Jahr gelehrt hat, sie bringen trotz aller Ungunst der Umstände, tüchtig und treu, auch in Not und Sorge, wissend, daß solche Frucht nur desto kostbarer ist für Gott. Geheiligt und geläutert im Danken, innerlich besser geworden, hinausgehoben über so viel Kleines, das uns bedrückte, wollen wir dann aus dem Gotteshaus hinaustreten und mit neuem Mut in die Arbeit der kommenden Wochen hinaustreten.

Morgenpredigt Sonntag, 8. Dezember 1912, Münster 2. Advent

Sach. 9,9: Siehe, dein König kommt zudir

Wieder ist’s Advent, die heilige Zeit, in der wir des Geheimnisses gedenken, daßJesus derWelt geschenkt ist. Was haben wir an ihm, und was ist er für unser Leben? Er ist mit unserem frühesten Denken verwachsen. Wir können uns die Religion nicht denken ohne ihn und haben Lehre empfangen, was er der Welt, der Menschheit und uns ist. Der Apostel Paulus tut es in überschwenglichen Worten in seinen Briefen kund; aus den Gesängen unserer frommen Liederdichter tönt es uns ergreifend entgegen. Aber wenn wir uns in dieser Stunde miteinander wieder einmal darauf besinnen wollen, was er für uns ist, so möchte ich, daß wir mit unsern eigensten Gedanken darauf antworten und als sollte jetzt jedes in klaren, einfachen Worten aus dem heraus, was es wirklich erlebt hat, eins nach dem andern in diesem Raum, den andern sagen, was er für es ist. Gar Mannigfaltiges wäre da zu hören. Es wäre, wie wenn Leute, die aus verschiedenen Tälern denselben hohen Berg sehen, beschreiben wollten, wie er ihnen erscheint. Es wäre gar verschieden, weil sie ihn von vielen Seiten sehen, und doch ist’s derselbe Berg. Und das Gemeinsame ist zuletzt, daß er höher emporragt. So auch beiJesus. So weit auch dasauseinanderginge, waswir zusammen über ihn zu sagen hätten, so wäre doch dasGemeinsame, daß er alle überragt und ein Herrscher und König ist. Er ist gesetzt, daß er den andern ein Führer sei, und sie ihm folgen müssen. Diese innere Majestät

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muß aus seinen Augen heraus geschaut und ihm die Macht über die Menschen verliehen haben. In der Art, wie ihn unsere Maler darstellen, kommt das zuwenig zur Geltung. Ich wollte, daß ihn einer abzubilden vermöchte, wie er, ein Unbekannter in unscheinbarem Gewand am See Genezareth vor vier Fischern steht, die mit ihren Netzen beschäftigt sind, und zu ihnen einfach sagt: «Folget mir nach, ich will euch zu Menschenfischern machen» [Mat. 4,19], und diese alsbald es tun und alles liegen lassen, weil sie müssen und nicht anders können. Dabei hat er nichts Herrschsüchtiges. Er ist ein Herrscher, weil er weiter hinausdenkt als die andern. Der gewöhnliche Mensch steht im Kreise seiner Interessen, der Fürst in denen seines Landes, der König in denen seines Königreiches, der Kaiser in denen seines Reiches. Aber Jesus denkt an die ganze Menschheit und die ganze Welt. Er muß sorgen, was aus der Zukunft der Welt wird, und sein Hoffen undWollen geht dahin, daß sie sei: das Reich Gottes. Und zu den Menschen, die er in seinen Dienst nimmt, sagt er: Du mußt mithelfen am Reich Gottes. Mit dir kämpfen und reines Herzens werden mußt du, damit du darfst mit Hand anlegen. Das Höchste in deinem Leben muß sein, daß du mir für dasReich Gottes dienen darfst. Wenn du es nicht tust, gehst du ferne von mir einen dunkeln, kalten Weg. Aber wenn du deinen Willen unter meinen stellst, dann scheint es helle um dich. Und er ist nicht tot, obwohl er am Kreuze gestorben ist. In seinem Geist und seinen Worten steht er mitten in dieser Welt und geht unsichtbar unter uns um. Er wird verhöhnt, verlacht; alles Engherzige und Schlechte, das Menschen, die sich nach seinem Namen nannten, im Laufe derJahrhunderte begangen, wird ihm zur Last gelegt; ein jüdischer Lehrer, den seine Anhänger als den «Heiland» ausgegeben haben, sagen die einen; es soll einmal erst bewiesen werden, daß er überhaupt gelebt hat, höhnen die andern. Sie haben Augen und sehen nicht und Ohren und hören nicht. Mitten unter uns steht er, und wie damals sagt er zu den Menschen: «Du aber folge mir nach» – du darfst am Reiche Gottes mithelfen. Wer seine Worte liest, hört aus ihnen heraus wie die Menschen, zu denen sie geredet waren: Alles, was du erlebst an Glück und Freude und Erfolg und alles, was du wirken darfst, ist nichts, wenn du nicht mein bist. Du magst der beneidetste Mensch sein, so bist du in Wirklichkeit doch arm. Das, was wir alle am unmittelbarsten über Jesus empfinden, ist, daß wir ihm dienen müssen. Ist es euch nicht schon vorgekommen, daß ihr in Gedanken derVergeltung und des Hasses gegen Menschen euch hingehen ließet und euch einredetet auf alle mögliche Weise, daß dem also sein müsse. Und dann stand plötzlich eines der Worte des Herrn vor euch, als hätte er es euch ins Ohr gesagt, eines derWorte vomVergeben undVerzeihen, und ihr hattet gut, euch wehren und sagen: Das hatjetzt nichts mit Religion zu tun, und euch auf alle Art herauszureden – ihr

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fühltet, daß ihr müßtet, und wohl euch, wenn ihr euch unter ihn beugtet. Oder ist es euch nicht schon so ergangen, daß ihr glücklich und zufrieden wart, da euch alles wohlgelungen, und ihr euch nun sagtet: Jetzt will ich mich aber einmal richtig freuen. Und dann plötzlich kam der Gedanke an Elend und Not, die euch umgaben. Ihr wolltet nicht daran denken, aber ihr mußtet. Das ganze ruhige Behagen war dahin. Jesus hat euch gezwungen, die Augen zu öffnen und euch zu fragen, was ihr tun könnt. Ich las in den letzten Zeiten viele gelehrte Studien über Jesus, wo Menschen die letzten Einzelheiten seines Lebens zu erforschen und den genauesten Sinn seiner Worte zu ermitteln glaubten und auch meinten, sie leisteten der Welt einen großen Dienst, wenn sie ihn nun so genau schilderten. Da ist viel Täuschung dabei. Kennen tutJesus nur der, dem er in seinem Leben dazwischenredet und dazwischentritt, den er nicht zur Ruhe kommen läßt, den er zwingt, anders zu handeln, als er täte. – Und je mehr er ihn in seinem Leben sagen läßt, desto besser kennt er

ihn. Er will alle Menschen für sich. Aber viele schließen ihr Leben vor ihm zu. Und dann werden sie langsam so, daß sie diese Gestalt nicht mehr sehen und diese Stimme nicht mehr hören. Der König und das Reich Gottes sind für sie nicht mehr da. Sie haben keine geistige Heimat und keinen geistigen Herrn mehr. Ihre Seele wandert dahin und hat kein Vaterland mehr. Verschieden ist, was er von den einzelnen verlangt. Den einen wirft er ganz aus seiner Bahn, wie er dort dieJünger aus ihrem Gewerbe fortnahm, und stellt ihn an einen Platz, wo er ihn braucht. Und manche hätte er gebraucht, und sie verstanden, daß er sie rief – aber sie gingen ihren Weg fort. Wenn ich von Menschenmangel für alle möglichen Werke reden höre, muß ich immer daran denken, daß der Herr alle, die er brauchte, aufgerufen hat, aber daß sie es nicht über sich brachten, es zu tun, und unter uns gehen so viele umher, die im Kleinen und Großen dem Propheten Jona gleichen, der Gott entlief, als er ihn nach Ninive schicken wollte [Jon. 1,3]. Und andere läßt er in ihrem Beruf und in dem Kreise, in dem sie sind, daß sie ihm da dienen. Da aber alles, wassie tun, so wenig mit seinem Dienst zu tun hat, fragen sie oft, ob es denn wirklich so sei. Und ihre Aufgabe, weil sie äußerlich kleiner ist, ist darum nicht leichter. Denn er will von ihnen, daß sie in ihrem ganzen Wesen das Reich Gottes und seinen Frieden herumtragen zu allen Menschen, zu denen sie kommen, in alle Verhältnisse, in die sie treten – selten mit Worten, immer im Geist und in derTat, daß die, die mit ihnen zusammenkommen, etwas erfahren von dem wunderbaren Worte: «Das Reich Gottes ist mitten unter euch» [Lk. 17,21]. Wir versuchen es immer wieder, und doch ist es so schwer.

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Predigten

desJahres 1912

Dazu kommt, daß die gewöhnliche Beschäftigung oft so wenig mit dem Reich Gottes zu tun hat, rein weltliches, oft mechanisches Tun ist, so daß oft eine Verdrossenheit und Traurigkeit eintritt, weil man nichts Greifbares für es tun kann, so etwas, wo man auch wirklich sieht: Das ist für dasReich Gottes. Darum meine ich, sollten wir alle neben unserer gewöhnlichen Beschäftigung noch eine Art Nebenamt haben, wo wir irgendwie greifbar dem Reich Gottes dienen, im Lindern von Not, im Helfen am Erziehen, in dem Helfen für die Mission, in der Bekämpfung der Laster, in dem Kommen zu Einsamen undVerlassenen, im Trösten der Traurigen – irgendwie uns da eine Tätigkeit schaffen, so klein sie sei, dieunserfüllt. Ich kenne einen Menschen in einer größeren Stadt, der litt darunter, daß er in der Kirche so viel vom Arbeiten am Reich Gottes reden hörte und sich dabei sagen mußte, daß er in der täglichen Arbeit keine Gelegenheit dazu fände; und zuletzt fühlte er doch, es sei unmöglich, daß er sich sagte: Das will ich den Leuten, die Zeit haben, überlassen. Da kam er auf den Gedanken, in der Freistunde nach seinem Essen für jeden, der ihn brauchte, zu sprechen zu sein, und gab dem Pförtner seines Hauses Befehl, zu dieser Stunde jeden, der nach ihm fragte, heraufzulassen, er möge noch so stromer- und vagabundenhaft aussehen. Er nahm sich vor, ihnen nicht einfach eine Kleinigkeit zu geben, sondern sich persönlich nach ihren Verhältnissen zu erkundigen und zu versuchen, wie manwirklich helfen könne. Er hatte über Kundschaft nicht zu klagen. Seine Stunden waren bald ausgefüllt. Er wurde viel betrogen. Manchen schönen Spaziergang mußte er aufgeben, weil er in der freien Zeit in dunklen Vorortshäusern nachsehen mußte, ob ein Mann, der ihm vorgegeben hatte, da und da zu wohnen und eine kranke Frau und kranke Kinder zu haben, auch wirklich dawohnte. Er lernte alle Lüge und Niedrigkeit kennen, und es wurde ihm doch nicht zurTraurigkeit. Denn wenn er sich sagte, daß zu dieser Stunde Menschen, die einen Menschen brauchten und sonst von Tür zuTür gingen, ihn fanden bei ihm, so fühlte er, daß das im Sinne Jesu sei und er damit am Reich Gottes arbeite. Und die seltenen Fälle, wo er wirklich Menschen ein Retter werden konnte und Wahrhaftigkeit und Dankbarkeit fand, entschädigten ihn reich für alles andere. Und diese Stunde, die er dem Gottesreiche geben konnte, erfüllte ihn jahrelang mit Freudigkeit. So, meine ich, müssen wir alle im Leben nach einem Nebenamt suchen, wowir greifbar mit Hand anlegen dürfen, um dasWehen der Luft des Reiches Gottes zu spüren undJesu Augen zu sehen und durch ihn aus der Kleinheit und Armseligkeit dieses Daseins erlöst zu werden. Jesus macht denen, die ihn in ihr Leben hineinreden lassen, das Dasein nicht leicht. Er läßt uns nicht zur Ruhe kommen und wirft uns immer wieder in den Kampf mit uns selbst und den Dingen.

Siehe, dein König kommt

zu dir

1183

Aber hinter dieser Unruhe steht Friede und Erlösung. Ich meine manchmal, man könnte die geheimnisvolle Lehre der Erlösung nicht eindringlicher predigen, und daß dies ihr letztes Geheimnis ist, daß unser Wille von dem seinen ergriffen wird und in ihm aufgeht und wir nun innerlich frei von der Welt sind, daß kommen mag, was will, so Schweres und Trauriges, so Unbegreifliches – daß wir zuletzt darüber hinauskommen, weil unser Wille und unsere Seele in dem Reich Gottes leben, und wir in unserem Leben ihn, den großen König, nahe fühlen, der uns reich macht, daß wir aus tiefem Herzen das herrliche Adventswort sprechen können: «Ich lag in schweren Banden, du kommst und machst mich los»¦16¿ und ihm in unserer Seele als dem Herrn entgegen-

jubeln.

16 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 4.]

XVI. Predigten desJahres 1913

Montag, 24. Februar 1913,¦1¿ Hamburg Ansprache bei der Beerdigung meines Schwagers Hermann Bresslau¦2¿

[Ohne Text]

Wir stehen hier vor dem Unbegreiflichen, über das schon im alten

Bunde geschrieben steht: «Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege» [Jes. 55,8]. Ein Mensch, jung an Jahren, 29 Jahre alt, mit vorzüglichen Gaben des Geistes und des Gemüts ausgerüstet, mit Begeisterung in seinem Beruf als Erzieher stehend, ist vom Tode hinweggerafft worden, als er sich einer, wie es schien, ungefährlichen Operation unterzog, um die Rüstigkeit, die durch einige Beschwerden gelitten hatte, wiederzufinden. Was wir von seinem zukünftigen Wirken erwarten durften, ist zunichte geworden. Eine junge Mutter und ihr Kind haben den Beschützer und Ernährer verloren. Tiefgebeugt stehen Eltern und Geschwister an dem Sarg. Noch ganz betäubt von dem Geschehenen überdenken wir immer und immer wieder die Kette der Zufälligkeiten, in der es sich äußerlich darstellt, und überlegen, ob, wenn dies oder jenes unterblieben oder dies oderjenes geschehen, nicht alles anders gekommen wäre. Aber solche Gedanken ziemen sich nicht für die feierliche Stunde, in der wir zusammengekommen sind, um demToten die letzte Ehre zu erweisen und mit unserer Teilnahme denen nahe zu sein, die so schwer betroffen sind. Menschliche Erwägungen müssen außerhalb dieses Raumes bleiben und dürfen sich nicht vor diesem Sarge laut machen. Wir wollen sie begraben, ehe wir den Sarg hinuntersinken lassen, daß sie begraben seien und die, die da trauern, hinfort nicht mehr heimsuchen. 1 [AS-HB, S. 365:] «Günsbach, 22. 2. 1913. Ich denke an nichts als an die Verfassung, in der Deine Eltern und Maggie sein müssen, und ich kann sie mir doch nicht vorstellen.»

2 [Helene Schweitzers Bruder Hermann starb an den Folgen einer Blinddarmentzündung. Er hinterließ seine Frau Maggie, mit der er sich 1911 verheiratet hatte, und ein Töchterlein.]

Ansprache bei Beerdigung

1185

Menschentrost möchten wir bringen. Aber wir fühlen, wie schwer er ist. Jedes Wort, von ihm eingegeben, fällt zu Boden, kaum daß es der Mund gesprochen hat, und vermag dasHerz nicht zu erreichen. Darum sollen menschliche Erwägungen und menschlicher Trost schweigen; nur das Wort, dasJesus uns in der schwersten Stunde gegeben hat als sein Vermächtnis, daß er mit denen sei, die ihm ein schweres Kreuz nachtragen müssen, werde laut unter uns, werde laut in den Seelen derer, die weinen, daß es helfe, den Frieden zu finden, den er gefunden hat: «Ist’s nicht möglich, daß dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn, so geschehe deinWille» [Mt. 26,42]. Angesichts des nach unserem Ermessen unsinnigen und unfaßbaren Ereignisses, will es uns unmöglich scheinen, daß das Gottes Wille sein soll. Wir wagen dasWort vor den Ohren unserer gebeugten Schwester nicht auszusprechen und im Gedanken an das verwaiste Kind nicht zu gestalten, weil es wie eine Dissonanz klingt. Und dennoch sei es gesprochen, weil es sein muß, daß sie es aus dieser Stunde mit hinausnehme, geweiht mit allen Gedanken, die wir um sie gedacht haben. Diejenigen von uns, die durch das Schwere und Schwerste des Lebens hindurchgegangen sind und Frieden gefunden haben, können es ihr bezeugen: es gibt nur Frieden, wenn das Herz hat sprechen lernen: «Dein Wille, Herr, geschehe», und der Lärm menschlicher Erwägungen, die uns unruhig machen, verstummt ist. «Es kann mir nichts geschehen, als waser hat ersehen.»¦3¿ Kein Mensch versteht den Sinn seiner Wege, keiner könnte ihr erklären, darum und darum mußte es so sein. Aber eines wissen wir, daß es ein höheres Verstehen der Dinge gibt, das über allen Erklärungen liegt, die der Verstand zu geben sucht, ein höheres Verstehen, das darin liegt, daß unser Wille sich in Gottes Willen ergibt und in ihm den Weg, der aufwärts und aufwärts führt, sucht und so in der Bahn derer wandelt, die im alten und neuen Bunde Gott gefunden haben und in ihm stille

geworden sind. Indem wir dieses Vermächtniswort unseres Herrn in dieser Gethsemanestunde unserer Schwester vor ihr aussprechen, geben wir auch unseren Gedanken an sie Ausdruck. Wir sind gewiß, daß sie nicht, wie so viele andere, im schweren Leid an Gott irre wird, hadernd mit Gott, nicht mehr aus dem finsteren Tal herauskommend, sondern daß sie zu denen gehört, die hindurchdringen, überwinden in allem, was der äußere Mensch leidet, wachsen am inwendigen. So wissen wir von ihr, daß sie, wenn die Betäubung des ersten Schmerzes vorüber ist, mit diesem Worte «so geschehe dein Wille» zu ringen haben wird und wir ihr nicht helfen können; daß es aber ein Ringen sein wird, wie es in der Schrift geschrieben ist: «Ich lasse dich 3

[Paul Fleming:

In allen meinen Taten, Str. 3.]

1186

Predigten

desJahres 1913

nicht, du segnest mich denn» [Gen. 32,27], und daß sie die Kraft finden wird, ihren Weg weiterzugehen, ihre schweren Aufgaben zu erfüllen und zu denen zu gehören, die, weil sie siegend durch das Grauen des Lebens hindurchgegangen sind, den anderen geben können von dem Überwinden und dem Frieden, die sie sich errungen haben, und denen helfen, die auf so schwere Wege geführt werden.¦4¿

Morgenpredigt Sonntag, 2. März 1913, St. Nicolai

Mt. 18,3: Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kindlein, so könnet ihr nicht ins Reich Gottes kommen

Bei diesem Worte Jesu, wir mögen es hören, sooft wir wollen, wird unser Herz immer merkwürdig ergriffen. Wir fühlen, daß er etwas klar ausspricht, daswir dunkel und verworren von selbst in uns denken, und eine Sehnsucht steigt in uns auf, daß es an uns wahr werden möge, daß wir Kinder werden und ins Reich Gottes kommen. Man darf dasWort aber nicht durch eine sentimentale Deutung klein machen, als bedeutete es, daß diejenigen, die sich so eine gewisse äußerliche Kindlichkeit bewahrt haben, Jesus und dem Reich Gottes näher stehen als andere. Man darf es auch nicht zum Leitmotiv des Seufzens

über auf immer verlorenes Kinderglück und nicht wiederzufindende Kinderunschuld erheben, sondern man muß es in dem großen, lebendigen Sinne nehmen, in dem es Jesus wirklich ausgesprochen hat, in dem Sinne, in dem ein Denker die Erkenntnis des Lebens hineingelegt hat. Der HerrJesus sagt nicht: Es sei denn, daß ihr Kinder bleibt, sondern «werdet wie die Kinderlein», das heißt in einem größeren und tieferen Sinn, je weiter ihr im Leben fortschreitet, desto mehr dazu kommt in eurem Wesen, das zu haben, was uns an den Kindern so groß vorkommt. Wir alle haben von unserer Kindheit ein idealisiertes Bild. Wir haben die Erinnerung an dieJahre, in denen wir die Dinge um uns mit klarem, reinem, lebendigem Sinn anschauten, und dies möchten wir wieder. Und während es für die Menschen sonst nur ein wehmütig schönes Erinnern ist, kommt Jesus und sagt uns: Du kannst es, komm, ich will in dir die Sehnsucht wecken, daß du dein Leben, wo du mitten drin herumgeworfen wirst, mit dem Sinn erlebst, dessen du dich aus deiner 4 [AS-HB, S. 365] «25. 2. 1913. Nun bin ich wieder zu Hause. Und alles ist gut verlaufen. [...] Heute nachmittag deine Schwägerin gesehen. Wir haben viel miteinander geredet. Ich mußte ihr meine ganze Ansprache aufsagen. Sie ist wirklich nett.»

Ihr werdet wie die Kindlein

1187

Kindheit erinnerst. – Und das soll dein Glück sein – dann erst wirst durecht leben. Unsere Kindheit ist das Vorspiel zu unserem Leben, in dem eine große Melodie sich alsThema ankündigt. Weil wir alles noch traumhaft erleben, haben wir den Dingen gegenüber eine Unmittelbarkeit, Freiheit und Reinheit, die uns wie ein traumhaftes Erlebnis zurückbleibt und wie eine Melodie in uns weiterzittert. Und wenn dann das Leben kommt, und wir es nicht mehr traumhaft, sondern wirklich erleben und uns mit ihm auseinandersetzen müssen, und die Motive fremd auf uns eindringen, dann soll diese Melodie nicht langsam verklingen, sondern wachsen und wachsen wie in einer großen Symphonie, die andern Motive unter sich zwingen und zuletzt sich in ihrem ganzen Reichtum entfalten und in ihrer gewaltigen Größe dastehen, weil sie sich mit allen Motiven auseinandergesetzt hat und sie in Harmonie zu sich gebracht hat. Wir sind Kinder gewesen und haben das Leben traumhaft erlebt, damit uns eine Erinnerung bleibt und wir den Weg sehen, wie wir es wirklich erleben müssen. Das fühlt ihr in euch, das will dasWort des Herrn Jesus sagen. Und wenn er dieses Wort sagt, so ist es, weil er es erlebt hat und darin das Geheimnis seines Wesens liegt. Dabei hat er äußerlich gar nichts Kindliches. Wenn man seinen Gegnern, die er mit den Waffen seines klaren Geistes schlug, gesagt hätte, dieser ist mächtiger und tiefer als ihr, weil er kindlicher ist, so hätten sie erstaunt gefragt, was ist denn kindlich an ihm? Und doch warer’s. Das «Sein wie ein Kind» hat also mit dem äußeren Sichgeben nichts zu tun, sondern es ist, ganz allgemein gesagt, eine Einfachheit und Ursprünglichkeit des Denkens, Empfindens und Wollens, die wir uns wahren und immer mehr erwerben müssen, um nicht durch das, was wir um uns hören und sehen, und durch das, was von außen auf uns wirkt, irre zu werden. Wir sollen immer so unbefangen mit allen Fragen und Überlegungen, die wir in uns fühlen, an die Dinge herangehen,

wie es ein Kind tut. Warum sind wir im zwanzigsten Jahrhundert so weit gekommen, daß die Völker sich immer mehr voneinander absondern, daß wir mit Notwendigkeit einer Katastrophe zutreiben, daß ein Chauvinismus, der wirklich mit wahrer Vaterlandsliebe nichts zu tun hat, die öffentliche Meinung immer mehr beherrscht, daß eine konfessionelle Scheidung in unserm ganzen öffentlichen Leben durchgeführt wird, daß sich die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gesellschaftsklassen immer mehr verstärken – nur dadurch, daß es viel zu wenig Menschen gibt, die ihrem natürlichen und wahren Empfinden Ausdruck zu geben

wagen.

Jede Zeit schleppt als Geröll Vorurteile mit sich, die immer wachsen und sich auftürmen wie dasGeröll im Bette desBaches, und wenn nicht

1188

Predigten

desJahres 1913

eine Flut natürlichen Empfindens kommt und es wegschwemmt, so versperrt es dem Wasser den Weg und füllt das Strombett aus. Seid ihr nicht schon erschrocken, wenn in einer Angelegenheit, bei der ihr etwas zu tun hattet, beraten wurde, und ihr da sehn und hören mußtet, wie das Natürliche und Richtige, das alle innerlich als selbstverständlich empfanden, beiseite geschoben wurde, und nun die unnatürlichsten Erwägungen und Rücksichten den Ausschlag gaben und die Menschen gar nicht zu empfinden schienen, wie schrecklich dasist. Und wie oft haben wir dann geschwiegen und das Natürliche nicht zu sagen gewagt und uns einer so vor dem andern gefürchtet, wo einer dem andern eine Freude gemacht hätte, wenn er seine Meinung gesagt hätte. Es waren sicher viele Zeitgenossen Jesu, die den Zwang, den die kleinliche und peinliche Auslegung des Gesetzes mit sich brachte, als unnatürlich empfanden und bei sich sagten, daß dies doch nichts mehr mit der Frömmigkeit zu tun habe; es gab sicher auch solche, die, wie er, es nicht recht fanden, daß man lehrte, wenn einer das Geld, womit er die Eltern unterstützen sollte, als Gabe für denTempel brächte, ein gutes Werk tue; aber sie schwiegen. Aber er kam und sagte, was er als natürlich und menschlich empfand, und da war es wie eine Erlösung für die

andern. Darum heißt «werden wie ein Kind» in seinem Sinn, daß wir überall an unserm Platze das, waswir als natürlich und selbstverständlich empfinden, auszusprechen wagen, ohne uns davor zu fürchten, daß wir damit allein zu stehen scheinen. Es bedarf dazu nicht, daß wir lärmen und großtun, sondern da, wo du zu reden hast oder zu tun hast, da rede und tu, wie du es innerlich empfindest bei ruhiger Überlegung, und dann wirst du es erleben dürfen wie er, daß oft, wo du glaubtest, allein zu sein, die andern wie eine Erleichterung empfinden, daß einer es wagte, natürlich zu sein. Wir stehen erschüttert vor demWege, den der Zeitgeist nimmt, und fragen uns: Wie soll das werden? Aber wenn es in Europa nur 100 000 Menschen gäbe, ein bißchen verteilt in allen Nationen und Ständen, vom Fürsten herunter bis zum Straßenkehrer, die es wagten, so im Sinne Jesu natürlich zu sein und ihrem Empfinden zu folgen, so würde im Laufe weniger Jahre eine allgemeine Wandlung der öffentlichen Meinung folgen. Darum ist es so notwendig, daß wir, die wir verstehen, was Jesus meint, wirklich es wagen, natürlich zu sein in einfacher, bescheidener Weise, ohne Angst, aufzufallen. Jeder einzelne derartige Mensch ist heute ein kostbares Gut für unsere Zeit. Und wie mit dem Urteilen, so gehört zum «Werden wie die Kinder», daß wir uns in allem durch unser natürliches Empfinden leiten lassen. Woher kommt es, daß um uns herum der Geist der Ungerechtigkeit

Ihr werdet wie die Kindlein

1189

herrscht und daß die abscheulichsten Dinge vor sich gehen, als wären sie selbstverständlich? Weil keine öffentliche Meinung da ist, die für Ungerechtigkeit empfindlich ist; weil sie sich aus den Meinungen soundso vieler Menschen zusammensetzt, die es innerlich noch fühlen, aber nicht zu sagen wagen, auch wo es ihre Sache und Pflicht wäre, weil sie nicht mehr diese unmittelbare Entrüstung über Ungerechtigkeit haben, sondern sich in dasVorurteil hineinreden lassen, es müsse so sein, und sich daher nur noch über das, was an ihnen selbst geschieht, aufhalten, nicht aber über das, was um sie herum vorgeht. Dasselbe ist’s mit dem Empfinden für das Leid und Weh um uns herum. Ausunserer Kindheit erinnern wir uns, wie sehr es uns bewegte und wie wir daran dachten, daß geholfen werden müsse. Und statt daß dieses mit uns wächst, lassen wir uns von den andern zur Weisheit bekehren, daß man sich abstumpfen müsse, und kommen dann dazu, auch da, wo wir versuchen könnten, zu helfen, wo wir uns mit andern dafür zusammentun müßten, die Dinge gehn zu lassen. So ist es auch mit unserer Unmittelbarkeit den Menschen gegenüber. Als Kinder wagten wir, zu bitten und zu geben, wo uns das Herz drängte. Und statt daß dies sich mit dem zunehmenden Verstande läutert und klärt, verkümmert es.Wir werden verängstigte Menschen, die nicht mehr einmal den andern an Freundlichkeit anzutun wagen, was ihnen natürlich scheint, und darum liegt etwas so Kaltes über dem Sein der Menschen miteinander. Das alles und noch dazu das Hoffen- und Glaubenkönnen an das Gute und seinen Sieg und dasVergeben- und Vergessenkönnen meint der Herr Jesus, wenn er uns sagt: «Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kinderlein.» Und wir fühlen, wie richtig es ist, und haben doch nicht die Kraft, es zu tun, so viel wir wollten. Wir versuchen es, und dann kommt es uns unter der Hand immer wieder abhanden, und wir werden alt und müd mit dem Leben, statt innerlich zu dieser geistigen Jugend hindurchzudringen, von der uns der Herr sagt, und machen die andern um uns alt

und müd. Wie ist es möglich, daß die Menschen dies verlieren? Weil wir es in dem, was unser eigen Leben betrifft, nicht bewahren. Kind sein, heißt rein sein vom Leben. Wir hatten sie, diese Reinheit, als Kind, wo uns das Leben noch nicht berührt hatte, aber dann kommen wir in das Getriebe und geben der Eitelkeit, der Lüge, dem Trug Raum und werden unnatürlich, indem wir den Dingen, die keinen Wert haben, einen solchen geben. Die Maßstäbe, die wir für die Dinge haben, wenden wir nicht für unser Leben an. Mit diesem reiben wir dann das Klare und Natürliche in uns auf, das Kindliche, das sich vertiefen und klären sollte, wird alt und schwach, bis es in vielen Menschen nur noch als eine Art trostloser Sehnsucht, aber nicht mehr als etwas Wirkliches lebt.

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Predigten

desJahres 1913

Wenn daher der Herr Jesus zu uns sagt: «Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kindlein», so bedeutet dies, daß wir in dem, waswir für uns im Leben an Freude, Erfolg und Glück suchen, einfach und natürlich bleiben und es werden, je mehr wir die Dinge erkennen und das Schicksal der Menschen um uns herum verstehen. Nur so bleiben wir auf dem Wege des wahren Glücks und in der Sehnsucht danach. Sonst nehmen wir von dem Leben falsches Geld und elende Münze in Bezahlung und wundern uns plötzlich, daß wir so arm sind. Als Kind hat jeder Mensch ein Sehnen nach einem großen Glück, das ihm das Leben bringen soll. Und nachher verlieren es die meisten Menschen, weil sie ihr Sehnen auf kleine Erfolge und Eitelkeiten einstellen, und lassen sich einreden, das große Glück, nach dem sie sich sehnten, sei eben nur ein Kindertraum gewesen, statt daß sie sich sagen: Ich will’s finden, nicht so, wie ich es mir als Kind naiv gedacht, aber dennoch finden, so wie es sein muß. – Und wenn ein Mensch dies beides verliert, dasunmittelbare, lebhafte Empfinden, in welchem er dieWelt um sich erfaßt, auf sich wirken läßt und auf sie wirkt, gewissermaßen die Dinge in sich erlebt und Leid und Freude und Wollen nach vorwärts mit der Welt teilt, und dann das andere, das Sehnen nach einem großen Glück, das sein Leben ausfüllen soll, dann erfüllt sich an ihm, daß, wer nicht wird wie ein Kind, nicht ins Reich Gottes kommen kann. Denn diese beiden Dinge gehören zum Reich Gottes, daß ein Mensch weiß, wasdieWelt ist und sich nach einem großen Glück sehnt, dann ist er reif, zu verstehen, was Reich Gottes ist, sonst bleibt’s ihm ein

totes Wort. Wenn ihr in einer italienischen Stadt seid und wollt in die Natur und meint, ihr wäret draußen, wenn ihr die letzten Häuser hinter euch gebracht habt, so ist es dennoch nicht so, denn nun lauft ihr zwischen den hohen Mauern einher, die die Gärten einfassen, und es kann bis zu einer Stunde dauern, bis ihr auf die Landschaft Ausblick gewinnt. So ist es mit so vielen Menschen. Sie sehen nicht von sich auf dieWelt und das Geschehen hinaus, sondern wandern zwischen den hohen Mauern einher, die sie um ihr Leben gezogen haben. Aber die, die wie die Kinder alles lebendig und unmittelbar miterleben, wovon sieWissen und Kunde haben, für die dieWelt nicht ihr eigenes kleines Dasein und ihr Interesse ist, sondern für die sie so groß ist, als sie ist, und die dieses «Helfenmüssen» desKindes empfinden, und die auch die Sehnsucht nach dem großen Glück haben, die kommen in das Reich Gottes. Wo ist Reich Gottes? Um uns herum Not, Elend, Kleinheit der menschlichen Gesinnung, eine Zeit, die mehr zurück geht als vorwärts. – Und dennoch Reich Gottes. Denn sein im Reich Gottes heißt für uns, in jener Gesinnung stehen, die dasWehen des göttlichen Geistes fühlt,

Der Friede

Gottes

1191

der an der Welt arbeitet, und wer in dem, was er für sein Leben will, die Einheit mit diesem Geiste sucht und da, wo er Herr ist, in sich und in seinem Leben Reich Gottes sein läßt und diesen unendlich kindlichen und doch so wahren Glauben in sich behält, daß, wenn nur der Geist in uns lebendig wird und wir uns ihm hingeben, daß dann keine Hemmnisse groß genug sind, um das Kommen des Reiches aufzuhalten.¦5¿

Ich hielt daran, daß wir in der vorletzten Erbauungsstunde, die wir miteinander haben, dieses Wort des Herrn miteinander betrachteten, weil die Gedanken so vieler Andachten, die wir miteinander gehabt haben, in ihm wieder- und zusammenklingen, und weil wir miteinander gewiß werden wollen, daß wir so, mit hellen Augen, immer mehr Kind werdend, im Leben stehen wollen, um ihm, unserm Herrn, zu gleichen und wie er die Seligkeit, die er in demWorte ausgesprochen hat, zu erleben und zu wissen, was Reich Gottes sei und denen, die um uns sind, ein Stück davon geben zu können.

Morgenpredigt Sonntag, 9. März 1913,¦6¿ St. Nicolai Letzte Predigt zu St. Nicolai

Phil. 4,7: Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, [bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu!]

Das soeben verlesene Wort erklang an so manchen Sonntagen, wenn wir auseinandergingen, um uns in die Woche hinauszubegleiten. Nun erklinge es noch einmal an dem Sonntag, an dem wir für lange von-

einander scheiden. Ich hatte es zum Worte des Segens gewählt, weil es wiedergibt, was ich euch als Evangelium zu predigen suchte und was als Gedankengemeinschaft zwischen unsbestehen sollte. Es stehen in ihm nebeneinander: Friede Gottes und Vernunft, nicht im Widerspruch, sondern im Einklang, so, wie es sein soll in uns, daß einWeg von dem einen zum andern hinaufführt. 5 [R] Es kann keiner dasReich hinaustragen, deres nicht zuerst in sich hat. 6 [R] Geschrieben im Hause, wo ich eine Heimat fand, da ich heimatlos wurde, und in dem mich die Schatten von St. Thomas beschirmten, während Sonnen der Güte und der Liebe mir aus dem Herzen herausschienen ... Die letzte Predigt zu St. Nicolai ... à A. Fischer. [A. Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, in: Werke, Bd. I, S. 128:] Eine wertvolle Hilfe für die Erledigung der finanziellen undgeschäftlichen Angelegenheiten war mir Frau Annie Fischer, die Witwe eines jung verstorbenen Professors der Chirurgie an der Straßburger Universität, die dann, als ich in Afrika war, alle in Europa zu leistende Arbeit auf sich nahm.

1192

Predigten

desJahres 1913

In einer Zeit, wo nicht nur in der katholischen, sondern auch in der protestantischen Kirche dieVernunft, das natürliche, menschliche Denken, verkleinert und zurückgesetzt wird, als würde damit der Weg der Religion frei gemacht, wagte ich, unter euch von ihr mit Freudigkeit und Ehrfurcht zu reden und alles, was den Glauben und die Religion angeht, mit der Vernunft zu beleuchten, weil ich von mir selber wußte, daß ich auf diesem Weg der Religion erhalten worden und tiefer in sie eingedrungen bin. Je mehr ich Jesus zu verstehen glaubte, desto stärker empfand ich es, wie in ihm der Glaube und einfaches, natürliches Denken sich durchdrangen. Je mehr ich in die Geschichte des Christentums eindrang, desto mehr wurde mir klar, wieviel Irrungen und Kämpfe darauf zurückgehen, daß man, von den ersten Generationen an bis auf den heutigen Tag, immer und immer wieder den Glauben und die Frömmigkeit gegen die Vernunft ausspielte und einen Zwiespalt in den Menschen hineintrug, wo Gott die Harmonie gesetzt hat. Ihr wißt, daß unter Vernunft nicht das gewöhnliche, oberflächliche Überlegen zu verstehen ist, sondern dasLicht des Geistes, dasvon innen heraus kommt und versucht, die Dinge und die Welt, die Rätsel des Seins, Zweck und Ziel unserer eigenen Existenz zu begreifen und einen Weg für uns zu suchen. Und dieser kann nur einer sein: Der Weg zum Frieden, zur Harmonie zwischen uns und allem, was geschieht und ist, sichtbar und unsichtbar, zum Frieden, der sich erneuert aus Freud und Schmerz, aus Schaffen und Leiden, und in dem wir uns langsam in der Welt stehend, mit tausend Banden an sie gebunden, über die Welt erheben und innerlich frei werden und wissen, daß sie in allem, was sie bringen kann, nichts über uns vermag. «Der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft.» Wie die fernen, in der Sonne leuchtenden Schneeberge zwar über dem Dunste stehen und scheinbar unvermittelt sich erheben, in Wirklichkeit aber aus vorgelagerten Gebirgen hervorgehen und diese krönen, und keiner in ihre Regionen kommt, der nicht die vorgelagerten Berge erstiegen hat, also [ist es] mit derVernunft und dem Frieden Gottes. Es sind viele irreligiös in unserer Zeit, nicht weil ihnen etwas den Glauben genommen hat, sondern weil sie nicht angeleitet wurden, den Weg derVernunft weit genug, bis zu Ende, zu gehen und dann dahin zu kommen, wo der Weg des Friedens über die Vernunft hinausführt. Sie haben nicht von sich aus fort und fort über die Welt, die Zukunft der Völker, über alle Rätsel ihrer eigenen Existenz nachgedacht, sie haben das, was ihnen als Religion überliefert wurde, nicht in derVernunft geläutert und gehärtet; es wurde nie in dem, was es an ewiger Wahrheit birgt, ihr eigen; sie ließen es fallen auf demWege desLebens. Wer aber bis in die letzten Konsequenzen des Denkens geht, der erkennt, daß in dem, was uns die Propheten undJesus und unsere Refor-

Der Friede Gottes

1193

matoren gegeben haben, einWissen vom Leben ist, das ewig ist, mögen die Ausdrücke und Anschauungen der Zeit noch so wechseln, und das injedem von uns wieder lebendige Wahrheit werden kann. Unsere Vernunft trägt uns aus der kleinen Existenz unseres täglichen Lebens heraus und zwingt uns, mit allem, was ist und vorgeht, und allen Fragen, die in unserer Zeit bewegen, uns zu beschäftigen und an derWelt teilzunehmen, innerlich zu erleben, wasin ihr vorgeht. Und es ist hier kein Unterschied zwischen gelehrt und ungelehrt. Es gibt berühmte Gelehrte, die nie wirklich gedacht und die Dinge erlebt haben, und es sind Handwerker, die kaum aus ihrer Werkstatt herausgekommen sind, und ein starkes Bedürfnis, die Dinge zu begreifen und zu erleben, haben. Nur wer dies in irgendeiner Art kennt, der hat auch eine steigende Sehnsucht nach Frieden. Es gehen viele Menschen in der Welt dahin, die haben diese Sehnsucht nie wirklich gekannt, oder was sie davon gekannt haben, verloren. Sie sind dazu gekommen, zu sagen: Das ist das Leben, wie ich es mir wünsche, so will ich es mir einrichten; das will ich erreichen, dann bin ich zufrieden, weil sie das Licht der Vernunft, das aus ihnen herausscheint und alle Dinge in seine Helligkeit zu bringen sucht, abgeblendet haben. Sie erleben nur noch die kleinen Dinge, die sie angehen, aber nicht mehr alles, was geschieht. Darum machen sie sich ein kleines, banales Lebensglück zurecht und suchen darin Befriedigung. Wer aber sein natürliches Denken wach erhält und durch dieses mit dem Dasein und allen seinen Fragen in Beziehung bleibt, der wird immer mehr dazu geführt, daß das, wie es uns in unserm gewöhnlichen Leben ergeht, nicht das Glück oder das Unglück ist, und daß uns die Umstände so günstig sein können, wie sie wollen, und wir alles erreichen, waswir uns vorsetzten, und von den Menschen beneidet werden, und dennoch nicht glücklich sind, sondern das Glück allein kommt aus dem Frieden. Undje mehr uns unsere Vernunft in die Unruhe der Fragen des Seins hineinwirft, desto stärker wird die Sehnsucht nach dem Frieden. Sie führt uns die Berge hinan bis da, wo die Gletscher zu glänzen anfangen, und sagt uns, nun mußt du da weitergehen, hinauf, hinauf, immer weiter ins Licht, immer weiter in den Frieden und die Stille. Alle Versuche der Erkenntnis lehren uns als letztes, daß hinter allen Dingen und allem Geschehen als ein weiter nicht zu Begreifendes der Wille ist ... In dem Geschehen draußen ein Gesamtwille, kommend aus dem Urgrund des Seins, sich allen Dingen mitteilend, alles, was ist, erhaltend ... Wille Gottes. In uns unser Wille, irgendwie ausjenem hervorgegangen und in ihm wurzelnd und dennoch unser Wille. Die letzten Fragen des Daseins gehen über dasErkennen hinaus. Um uns Rätsel über Rätsel. Aber die letzte Frage des Daseins, die über unser Schicksal entschei-

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Predigten

desJahres 1913

det, hat es nur mit dem einen zu tun, auf das wir immer zurückgeworfen werden: Waswird ausunserm Willen? Wie findet er sich in den Willen Gottes? Und die höchste Erkenntnis, zu der man gelangen kann, ist die Sehnsucht nach Frieden, daß unser Wille eins werde mit dem unendlichen Willen und unser Menschenwille mit Gottes Willen ... und sich nicht abschließt und für sich ist, wie ein Wassertümpel, der vertrocknen muß, wenn des Sommers Hitze kommt, sondern wie ein Bach, der seinen Weg zum Strom sucht, um von ihm in den unendlichen Ozean getragen zuwerden. Merkt, der Apostel sagt nicht: der Glaube, welcher höher ist denn alle Vernunft, sondern: der Friede Gottes ... Denn keine Vernunft kann in einem Glauben zur Ruhe kommen, sondern die wahre Ruhe kommt aus dem, was mit unserm Willen geschieht, aus dem Weg, den er sucht ... und Friede Gottes ist nur, wenn unser Wille in dem unendlichen Ruhe findet. Sehr oft denken die Menschen bei dem Stillewerden unseres Willens in Gottes Willen, daß wir in allen Schicksalsschlägen unsin Gottes Willen ergeben. Aber bei sovielen Menschen vermag dies derleidende Wille nicht, weil der tätige nicht sich in den Gottes gefunden hat; sie sollen des Nachts ihren Weg finden, wo sie ihn desTages nicht suchten! Den Weg zum Frieden Gottes müssen wir suchen, solange es licht ist, als tätige Menschen, damit wir darauf sind und darauf weitergehen können, wenn wir ihn als Leidende weitergehen müssen. Es darf nicht so sein, daß wir durch das Unglück hinterlistig überfallen werden und aus einem gemächlichen Leben herausgeworfen und plötzlich daran erinnert werden, daß es einen Willen außer uns gibt und über uns, mit demwir fertig werden müssen. Ehe wir im Leid beten: «Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden» [Mt. 6,10], müssen wir es als tätige, wollende Menschen gebetet haben und darin die Freude unseres Lebens gefunden haben. Das, was wir in uns fühlen, daß Gottes Wille in uns, mit uns, um uns, mit derWelt will, das muß unser Leben leben und unser Dasein erfüllen, daß wir in Hoffen und Sorgen mithelfen, soviel wir können, daß Gottes Wille um uns geschehe und wir alle arbeiten an seinem Reich und davon erfüllt sind unddarin freudig stehen in unserer täglichen Arbeit, so äußerlich und monoton sie sein möge, weil wir wissen, daß wir den Geist des Reiches Gottes hinbringen können, wo wir auch immer stehen, und einjeder ein Nebenamt finden können, wo wir Gott dienen können.

Zu diesem Einssein unseres Willens mit dem göttlichen gehört auch, daß wir alles Gute und Schöne im Leben, die Menschen und die Dinge, nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen, sondern es immer wieder als etwas empfangen, das uns Gott geschenkt hat, daß wir mit größerer Freudigkeit ihm dienen dürfen und ihm dafür danken.

Der Friede Gottes

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So muß unser tätiger Wille den Frieden Gottes suchen. Und die, die auf diesem Wege sind und erfahren haben, was Friede Gottes ist, die können ausblicken auf, was auch kommen mag, wo der leidende Wille dann sich in den Willen Gottes finden muß. Mag alles für sie noch so schwer und unbegreiflich sein, sie finden ihn, sie werden durch eine innere Triebkraft über den toten Punkt hinausgeführt, wo die andern nicht vorwärts kommen, sie haben sich einen Schatz von Frieden Gottes gesammelt im Herzen, der sie aushält, bis ihre Seele wieder Ruhe gefunden. Das Leben überfällt sie nicht, sondern mit allem, was es ihnen antun kann, sind sie schon zum voraus fertig geworden ... Sie haben’s vom Herrn empfangen ... und in den schweren Stunden, wenn sie es müssen hergeben, sei es Gesundheit, sei es Menschen, sei es Glück, so ist dasWort: «Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, desHerrn Name sei gelobt» [Hi. 1,21] in Ewigkeit für sie keine Phrase, die wie Hohn klingt, weil sie daserste Stück: «Der Herr hat’s gegeben» ... schon vorher in ihrer Seele gesprochen haben und ausgeschaut haben auf den Tag, wo sie das andere dazu lernen müßten. Und wo der tätige und leidende Wille den Frieden mit Gott sucht, da werden Herz und Sinn bewahrt in Christus Jesus, da wissen wir miteinander und erkennen es immer mehr, daß er unser Meister ist, und spüren den reinen, belebenden Hauch seines Geistes und sind in ihm eins miteinander. In diesen Gedanken sprach ich an so vielen Sonntagen dieses Segenswort über euch, es als ein unaussprechliches Glück empfindend, euch dasEvangelium predigen zu dürfen. Es war mir, als täten wir, ehe wir in die neueWoche hinaustraten, noch einmal auf einen kurzen Augenblick miteinander stillehalten und es miteinander denken, daß wir den Frieden Gottes, dasAufgehen unseres Willens mit dem seinen, als dasHöchste suchen wollten, die einen tätig und frisch im Leben stehend, die andern als leidend und heimgesucht, und als würden wir, indem wir dies miteinander in weihevollem Augenblick dachten, stark und mutig für alles, wasdieWoche unsbringen sollte. So eine es uns noch einmal in dieser Stunde, daß wir es miteinander und voneinander wissen, daß es nur ein Glück im Leben gibt, von dem alles andere Glück seinen Schein empfängt, und das selbst in das unglücklichste Dasein Licht zu senden vermag: «Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft», das Einswerden unseres armen Menschenwillens mit dem seinen in Tat und Freud und Schmerz ... und daß wir diesem Frieden nachjagen wollen miteinander, um in ihm immer reicher und lebensstärker zu werden und den andern den Weg zeigen zu können.

XVII. Predigten desJahres 1918

Morgenpredigt Sonntag, 18.August

1918,¦1¿Günsbach¦2¿

Ps. 34,9: Schmeckt und sehet, wie freundlich der Herr ist¦3¿

Wir feiern heute das Fest, daß eine Gemeinde und ein Prediger sich aussprechen dürfen, wie glücklich sie sind, über ein Menschenalter zusammenzugehören, und Gott dafür danken, daß er sie immer mehr zu gegenseitigem Sichverstehen geführt habe. Ehe wir uns nun der Bekundung dieser Freude hingeben, laßt uns hinaus schauen auf das, was wir über sie hinaus von dieser Stunde ins Leben mit hinausnehmen wollen als Lehre undTrost ausdem Geschehen, auf daswir zurückblicken. Über wasfreuen wir uns so ausvollem Herzen? Daß hier Menschen, ein Pfarrer und seine Gemeinde sich verstehen. Dürfen sich sagen: Du bist mir viel gewesen. Diejenigen, die sich besinnen können auf alles, was sich in den vielen Jahren ihrer Zusammengehörigkeit ereignet hat, wissen, daß dieses Verstehen nicht immer ein ungetrübtes war. Wohl hatten sie beide immer ein innerliches Empfinden davon, daß sie zusammengehörten, und ein Bedürfnis, nicht voneinander zu lassen. Aber doch kamen dann Zeiten, wo sie des Störenden, desMißverstehens, des Nichtverstehens und aller der Anstöße, die Ereignisse und Worte zwischen ihnen aufbrachten, nicht so Herr wurden, wie sie es gewollt hätten.¦4¿

Neben den Stunden, wo sie ihre Zusammengehörigkeit als Glück empfanden, wo sie fühlten, wie sie zum immer besseren Sichverstehen fortschritten, kamen auch solche, wo eines an dem anderen zweifelte, eines dem anderen mehr weh tat, als es ahnte. Was wir nun in diesem Augenblick feiern, ist, daß uns eine gute über uns waltende Macht so geführt hat, daß wir uns der Zusammengehörigkeit restlos freuen dürfen, und daß ein tiefes und herzliches Verstehen am Ende als letzte 1 [R] Bei dem Feste des43jährigen Amtierens meines Vaters in Günsbach. 2 [Mitte Juli 1918 konnte dasEhepaar Schweitzer ausdem Interniertenlager in Frankreich über die Schweiz ins Elsaß zurückkehren und wohnte zunächst wieder in Günsbach. Siehe Albert Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 187– 191.] 3 [R] I Kor. 12,4–6: Es sind mancherlei Gaben. Am Altar Ps. 103. Mit Auswahl. 4 [R] Eines die Eigenschaften desandern anerkannt, an allem teilgenommen.

Schmeckt undsehet

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Melodie aus allem, was war und ist, hervorbricht, uns mit einem an das Überirdische anklingenden Glück erfüllend. Das ist die Gnade, die wir erlebt haben und für welche wir Gott danken. Nun aber, wenn es euch ergeht wie mir, müßt ihr inmitten dieser Freude daran denken, wie ihr durch Ereignisse, Pflichten und Neigungen in vielfältiger Weise mit Menschen zusammengehört, euch nach vollständigem gegenseitigem Verstehen und Vertrauen sehnt¦5¿, aber durch Zufälle, mit und ohne Verschulden eines Teils, aus der Bucht, in der ihr zu landen hofftet, immer wieder in das bewegte Meer zurückgeworfen werdet, und euch nun fragt, ob dasVerhältnis zwischen euch je das sein wird, welches es sein soll, und ob nicht auf die Dauer Menschen und Geschehnisse, die sich zwischen euch drängen, stärker sind als das, was euch zusammenhält, so daß ihr zuletzt auseinander kommt und eines dem andern, wo ihr euch reich machen und euch helfen solltet, Leid bringt. Es ist kaum einer unter euch, der diesen Schmerz nicht kennt und die Sorge, ihn mit Menschen, mit denen er lebt und die er gern hat, zu erleben, nicht alsWolke am Himmel stehen sieht. Darum sage ich euch: Feiert dieses Fest als solche, die davon etwas für ihr eigenes Leben mit hinausnehmen. Nehmt mit hinaus den Glauben, daß eine höhere Macht über unserem Verhältnis zu den Menschen, mit denen uns das Leben zusammenführt, waltet. DerWeg zum dauernden und immer tieferen und sicheren Verstehen führt nicht in gerader Linie durch die Ebene hindurch, sondern bergauf, bergab, oft durch ödes Land, an Abgründen vorbei, in Windungen, die den Ausblick auf dasEnde nicht zulassen. Es ist uns gesetzt – wir verstehen die Fügung nicht immer – daß wir mit Menschen oft Schweres und Beirrendes erleben, von ihnen leiden müssen wie sie von uns, fast an ihnen zweifeln wie sie an uns, ehe wir sie ganz verstehen und unserer unerschütterlichen Zusammengehörigkeit bewußt werden können. Zu oft aber zerstören wir, was uns die Zukunft bringen soll. Wir verlieren den Glauben an die Führung Gottes, an seinen Willen, daß wir den Reichtum eines vollen Verstehens mit Menschen erleben, und das Vertrauen, daß er imstande ist, die Dinge so zu leiten, daß wir uns gerade in den schwersten Ereignissen finden. Aber es darf nicht sein, daß wir ihn verlieren, daß wir nicht mehr mit sehenden Augen sehen, was um uns herum vorgeht. Sonst werden wir arme Menschen und verlieren durch unseren Kleinmut zuviel von dem Glück, Menschen etwas sein zu dürfen und Freundschaft und Liebe zu finden.¦6¿

5 [R] So verstehen, wie wir uns verstehen könnten. 6 [R] Dieser Glaube ist die Kraft, mit der die Menschen aneinander halten.

1198

Predigten

desJahres 1918

Wir brauchen diesen Glauben an die Fügungen Gottes mit den Menschen, um denen, mit denen uns das Leben zusammengeführt hat, Geduld erweisen zu können. Wer ihn nicht hat, für den häuft sich, was das tägliche Leben an Schwierigkeiten und Mißverständnissen zwischen den anderen und uns bringt, wie ein Wall an. Er kann nichts vergessen, nichts vergeben, kein neues Vertrauen entgegenbringen, wo er Enttäuschungen erlebt hat.¦7¿ Wo aber Glaube an Gottes Wege ist und Hoffnung auf dieselben, da verliert das, was Menschen, die zueinander gehören, scheiden möchte, an Kraft. Wir sehen darüber hinaus, wir ertragen uns und sind langmütig miteinander und empfangen dann als Lohn das in der Zeit und den Ereignissen gereifte, unzerstörbare Vertrauen und Lieben, in dem wir uns allem, was kommen kann, gegenüber zusammengehörig und geeinigt fühlen. Gott führt es herrlich hinaus mit denen, die seinen Wegen ahnend folgen. Gott führt die Menschen zusammen, die den Glauben an seine gnädige Führung haben und ausihm die Geduld empfangen, sich gegenseitig zu tragen. Diese in so vielem Erleben, das wir um uns herum ansehen, gegründete Zuversicht wollen wir für uns selber jeder mit aus dieser schönen Feierstunde nehmen. Dann war sie für uns wahrhaft gesegnet.

Morgenpredigt Sonntag, 13. Oktober

1918,¦8¿ St. Nicolai¦9¿

Phil. 4,7: Der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu! Jahre sind vergangen, seitdem ich zum letzten Mal in diesen Mauern zu euch reden durfte. Den Augenblick, wo es mir wieder vergönnt sein würde, habe ich allsonntäglich mit Heimweh nach dieser Stätte ersehnt. Es war mir, als hörte ich die Glocken klingen, die euch riefen, und wäre ich mit euch zusammen, wo uns doch Meere trennten. Und nun verwirklicht sich das Ersehnte in schwersten, bangsten Tagen, wo unser 7 [R] Bild: Wie zwei, die sich rufen, aber sich im Nebel verlieren. 8 [R] Erste Predigt nach meiner Rückkehr aus Afrika. Während der Vorverhandlungen

über den Frieden. 9 [A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 191f.] «Am 1. September wurde ich in Straßburg von Professor Stoltz operiert. Als ich wieder einigermaßen arbeitsfähig war, bot mir der Straßburger Bürgermeister Schwander die Stelle eines Assistenten am Bürgerspitale an, die ich mit Freuden annahm, da ich nicht wußte, wovon ich leben sollte. Zugleich wurde ich wieder Vikar zu St. Nicolai. Großen Dank schulde ich demThomaskapitel, daß es mir das leerstehende Nicolaipfarrhaus am Nicolausstaden alsWohnung zurVerfügung stellte, obwohl ich, weil nurVikar, kein Anrecht darauf hatte.»

Der Friede

Gottes

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Schicksal im Begriff ist, sich zu entscheiden, und die Zukunft dunkler alsje vor unssteht. Indem ich vor euch trete, gedenke ich desWehs und des Leides, die über einen jeden von euch gekommen. Von den Knaben, die mit heller Stimme den Choral auf der Orgelempore sangen, als ich von euch Abschied nahm, sind viele als Männer gestorben und ruhen in ferner Erde. Alle habt ihr schwere Entbehrungen durchgemacht und liebe Menschen verloren. Viele haben den Zusammenbruch von dem, was sie erarbeitet hatten, erlebt. Andere mußten die Söhne daran geben, auf die sie für die Tage desAlters zählten. Andere haben sich abgemüht, um Kindern eine Zukunft zu schaffen, und die Kinder sind nicht mehr da. Wohin in dieser Stunde die Gedanken leiten, daß wir miteinander aus dem Schmerz, der Sorge und der Unruhe zur Ruhe kommen? Ich biete euch das Segenswort vom «Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft» [an]. Mit ihm schied ich von euch, mit ihm will ich als Heimgekommener in dieser Stunde wieder vor euch treten. Was ist der Friede Gottes? Das Stillewerden unseres Willens in dem unendlichen Willen. Wie kommt diese Ergebung in den Willen Gottes zustande? Sollen wir den Gedanken, daß alles, was geschieht, von Gott kommt und also gut ist, weil seinWille alsletztes Endziel nur dasGute haben kann, sollen wir diesen Gedanken vor uns stellen, ihn anschauen, bis wir durch ihn fasziniert undhypnotisiert sind? Ich wage nicht, euch diesen Weg zu zeigen, denn ich weiß nicht, ob er zum wahren Frieden Gottes führt. Es kommt mir immer wie eine Verzweiflungstat des Überlegens vor, wenn Menschen sich in dieser Art in den Gedanken, daßalles von Gott kommt, hineinzwingen wollen. Sie zerschlagen ihr eigenes Überlegen, verzichten auf die natürliche, vernunftgemäße Würdigung der Dinge, verlieren an Energie. Sie haben Frieden, weil etwas in ihnen gebrochen ist. Und es geht auch nicht an, daß wir denWillen Gottes in allen Ereignissen entdecken wollen, ob es sich um die Schicksale des Einzelnen oder desVolkes oder der Menschheit handelt. Wohl verstehen wir rückblickend viel, wasuns in der Stunde selbst dunkel blieb. Wir sehen, wie aus Bösem Gutes, aus Sinnlosem Sinnvolles kam; was wir in unserem Leben entdecken, tritt uns auch an der Geschichte zutage, so daß für den, der alsdenkender Mensch zurückschaut, vieles von dem Vergangenen etwas Geheimnisvolles bekommt. Berge, die uns in wilder Unordnung umtürmten, als wir im Tale wanderten, erscheinen uns, wenn wir sie von ferne ausder Ebene betrachten, als geordnete Ketten. Aber daneben bleibt in unserem Leben wie in dem allgemeinen Geschehen so vieles, wo das Sinnlose sich nicht in Sinnvolles, dasBöse sich nicht in Gutes auflöst. Wer erklären will, warum die Mutter den einzigen Sohn hergeben muß, warum der Freund den Freund verrät, warum die Phrase über die Wahrheit triumphiert, versteigt sich in die Wirrnis.

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Predigten desJahres 1918

Nie werden wir begreifen, warum der unendliche Wille des Unvollkommenen zur Verwirklichung desVollkommenen und des Bösen zur Verwirklichung des Guten bedarf, sondern wir stehen immer wieder vor diesem Rätsel und müssen vieles dahingestellt sein lassen. Dann kann uns kein Gewaltakt der Erkenntnis der Ereignisse den Frieden Gottes geben. Der Weg ist ein anderer, er kommt aus einer Erkenntnis, die wir in uns tragen. Ist es uns nicht gegeben, einsehen zu können, wie die Ereignisse denWillen Gottes ausdrücken, so wissen wir doch das eine, auf das es ankommt, worauf nämlich derWille Gottes gerichtet ist: Er geht auf dasGeistige. Das erste dieser Erkenntnis ist, daß der Mensch weiß, daß sein Schicksal etwas anderes ist als das, wassich mit ihm ereignet. Ihr, die ihr so viel Schweres durchgemacht habt, habt diese innere Freiheit von den äußeren Ereignissen schon gekostet. Es ist euch vorgekommen, daß ihr in Momenten, wo ihr nach gewöhnlicher Berechnung durch das, was euch geschah, hättet niedergeschmettert sein sollen, über euch selbst erstauntet, ein innerliches Gehobensein, wie einen Triumph des Geistigen in euch über das Materielle, zu empfinden. Ihr kanntet eine Art von Glück, wenn man es so nennen darf, das euch in der fortlaufenden Reihe guter Tage verborgen geblieben wäre, und verstandet etwas von demWorte des Apostels Paulus: «Wenn auch unser äußerlicher Mensch verweset, so wird doch der innerliche von Tag zuTag erneuert» [II Kor. 4,16]. Wo dies vorübergehende Erleben festgehalten und zu einer bleibenden Überzeugung wird, beginnt der Friede Gottes. Der Friede Gottes ist nicht Ruhe, sondern treibende Kraft. Das Wissen, zu dem wir gelangen müssen, liegt auf der Höhe, wo Wissen und Wollen ineinander sind und ineinander übergehen. Nicht darf es für dich heißen: Wie erkläre ich die Ereignisse, die mir begegnen, sondern: Was mache ich aus ihnen? Das ist das tiefere Verstehen, zu dem wir durchdringen müssen. Zwei Menschen erleben ähnliches. Der eine bleibt, was er ist; der andere wächst dadurch am inwendigen Menschen, weil er ihm eine Bedeutung abgewinnt. Die Grundbedeutung alles Schweren, das mir beschieden sein kann, ist, daß wir von dem Äußerlichen auf das Geistige zurückgeworfen werden. Im Sinn und Zweck derWelt, soviel uns daran dunkel bleiben mag, ist eines deutlich: Ziel allen Geschehens ist das Geistige. Daß wir Menschen, daß dieVölker, daß die Menschheit immer vollkommener werden, müssen wir als das Ziel des Seins erfassen und innerlich für die Beurteilung unseres Lebens und des Geschehens um uns her und für das, was wir wollen und in dem wir Befriedigung suchen, festhalten. Tun wir es, so ist unser endlicher Geist in Harmonie mit dem unendlichen. Haben wir dieses Sehnen, dann kommen wir zum Frieden Gottes.

Der Friede

Gottes

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Die Ereignisse sind wie die Gebirge und Hügel, die den Fluß aus seiner geraden Bahn abdrängen, ihn in Bogen und Windungen hineinzwingen und ihn doch richtig leiten, weil er anders sich im Land verirrt hätte und denWeg zum Meere, zu dem er das Sehnen in sich trägt, verfehlt hätte. Und wie der einzelne Mensch in die geistigen Ziele des unendlichen Geistes eingehen muß, wenn er in den Ereignissen ein Werden erleben soll, so auch dieVölker. Auch hier freilich, wie für uns selber, werden wir nie fertig mit den Einwänden der Vernunft. So müssen wir uns jetzt mit den äußeren Schicksalen unseres Volkes auseinandersetzen. Wir können nicht anders, als uns zu fragen: Wie konnte das kommen? Welche alten Schulden rächen sich? Welche Maßnahmen, welche Fehler haben dahin geführt? Was hätte man tun, was unterlassen sollen? Ist es recht, daß wir in der äußeren, wirtschaftlichen Entfaltung, auf die wir durch ein bedeutendes Maß bewiesener Tüchtigkeit Anspruch erheben dürfen, aufJahre hinaus gehemmt sein sollen? Ist es recht, daß wir in die Lage kommen, Forderungen nachzugeben, die nicht begründet sind? Nicht nur, daß wir dies im Herzen hin und her bewegen: Wir können nicht anders, als mit derVernunft an die Zukunft denken und zu sinnen, wie wir unsere wirtschaftliche Existenz bewahren. Gott behüte uns vor Charakterlosigkeit und Mutlosigkeit. Er bewahre uns davor, daß wir, statt Hand ansWerk zu legen, die einen gegen die andern Vorwürfe erheben. Ruhig und fest und tätig soll uns die schwere Stunde finden, demütig vor Gott, würdig vor den Menschen. Der Glaube an die äußere Zukunft unseres Volkes darf uns nicht verlassen. Wir haben das Vertrauen in seine Vitalität, seine Tüchtigkeit und seine Arbeitsamkeit. Aber über alle diese notwendigen Vernunfterwägungen hinaus muß uns in dieser Stunde die Sorge um sein geistiges Schicksal beschäftigen. Wird es aus den schweren Tagen bereichert und geläutert hervorgehen? Können wir diese Zuversicht in es setzen? Alle Völker bedürfen der Verinnerlichung, des Loskommens von der Phrase, der Hinwendung von falschen Idealen zu wahren, der Entwicklung von der Nichthumanität zur Humanität, von der Eingebildetheit zur vernünftigen Selbsteinschätzung, wie überhaupt der Besinnung auf das, was die wahre Größe und Bedeutung eines Volkes ausmacht. In seinen in dunkeln Tagen gehaltenen Reden an die deutsche Nation spricht Fichte von der höheren Vaterlandsliebe, das heißt von der geistigen Zugehörigkeit zu einem Volk, in der der einzelne von diesem verlangt, daß es neben seinen natürlichen, nationalen Aufgaben zugleich an der Verwirklichung der reinen und allgemeinen Ideale arbeite. So müssen auch wir in diesen Tagen unserm Volke in solch höherer Gesinnung uns angehörig fühlen und ihm den Glauben entgegenbringen, daß es sich in dem furchtbaren Erleben auf das Geistige besinne. Mit den andern Völkern ist es in den letzten Jahrzehnten geistig

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Predigten

desJahres 1918

stehen geblieben. Wir haben die Gewißheit, daß esjetzt vorankommen

wird. –

Und diese Hoffnung auf das Geistige ist für uns nicht etwas, womit wir uns trösten, weil im Äußerlichen Hemmungen eingetreten sind, sondern etwas, was wir oft für es ersehnten und das wir jetzt nur noch viel klarer für es erkennen wollen und als notwendig achten. Sein Platz in derWeltgeschichte wird anders, als es ihn sich gedacht, in vielem anders, als es zu hoffen berechtigt war; aber dasWirkliche, Letzte wird davon nicht berührt. Das Höchste, was es der Welt geben kann, ist das Geistige. Es soll es ihr geben. Und wie wir, um Frieden zu finden, an die geistige Zukunft unseres Volkes glauben müssen, so auch an die der Menschheit. Es muß einen Fortschritt geben; es muß eine Menschheit kommen, in der die Völker durch geistige Ziele miteinander geeint sind und dasHöchste erstreben, was es hienieden geben kann. Indem ich dies sage, meine ich nicht, was die, die in den Parlamenten dasgroße Wort führen, zur Zeit vomVölkerbund reden und für ihn veranstalten wollen. Es ist das Tragische an unserer Zeit, daß die Ideale, deren wir bedürfen, veräußerlicht und profaniert werden, indem sie gewöhnlich nur den Stoff zu Phrasen abgeben, mit denen man Propaganda betreibt und dem Unidealen einen idealen Vorwand gibt. Was wir als religiöse Menschen denken, hat mit solchem nichts gemein, sondern geht auf das, was unser Herr mit demWorte «Reich Gottes» ausdrückte, auf etwas, das natürlich aus der immer veredelten Gesinnung der Men-

schen kommt. In dem widerwärtigen Chaos, das die Menschheit heute darstellt, müssen wir gegen allen Augenschein glauben, daß die durch gemeinsame Ideale geeinte Menschheit einst kommen wird. Sorgt euch nicht, wie machen, wenn ihr sagen hört, dies sei eine Illusion. Wohl verlegen die Ereignisse, die sich zwischen den Menschen aufgetürmt haben, zur Zeit denWeg zu dem, wasdem Reiche Gottes gleicht. Hindernisse, die früher so nicht bestanden, sind hinwegzuräumen. Aber wenn in den Herzen der vielen die Gesinnung, die kommen muß, aufkommt, dann ist dies alles überwunden. Dem Geist, wenn er in Reinheit und Kraft auftritt, kann nichts widerstehen. Als ich vor Jahren zum letzten Male, schon unter dem Eindruck der dunkeln Wolken, die sich am Horizont zeigten, euch vom Reiche Gottes redete, sagte ich, daß die Glocke, die allabendlich seit alters vom Münster über unsere Stadt ertönt, mir vorkomme, als ob sie in das Land hinaussänge: «Dein Reich komme!» [Mt. 6,10] und uns daran gemahne, uns in dieser Bitte täglich einen Augenblick zu sammeln.¦10¿ Die Glocke ist verstummt. Wann wird sie wieder erklingen? 10

[Siehe S. 1171. 18.02.12.]

Alle eure Sorge

werfet

auf ihn

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Aber in unseren Herzen soll es tönen aus allem Weh, das wir erlebt haben: «Dein Reich komme!» Wir haben Menschen und Hoffnungen begraben, mehr alsje einem Geschlechte vor uns auferlegt worden ist. Aber ausder Zerstörung, durch die wir hindurchgegangen sind, wollen wir den Glauben an die Zukunft der Menschheit als daskostbarste Ideal in die neue Zeit hinüberretten und dem kommenden Geschlechte übergeben. Sonne der Hoffnung strahlt uns nicht auf demWege. Noch dauert die Nacht, das Morgengrauen des neuen Tages wird unsere Generation nicht mehr erleben. Aber wenn wir den Glauben an das, was kommen muß, gerettet haben, zittert Sternenlicht uns Klarheit auf den Weg. Friede Gottes, komm, erfülle unsere Herzen, hilf uns!

Morgenpredigt Sonntag, 3. November 1918, St. Nicolai

I Petr. 5,7: Alle eure Sorge werfet auf ihn; denn er sorget für euch Gal. 6,2: Einer trage des andern Last, so werdet ihr dasGesetz Christi erfüllen

Zwei Sprüche über die Sorge las ich euch. Wir können in dieser Zeit nichts anderes reden, denn die Wasser der Sorge gehen hoch, und niemand weiß, wo sie Halt machen werden. Wer nennt sie, die großen Sorgen, die uns bewegen: Sorgen um Volk und Land, Sorgen um unsere Lieben draußen, die stündlich in Gefahr sind, Sorgen um Nahrung, Kleidung, Heizung, Unterkunft, Sorgen um Gewerbe und Arbeit, Sorgen um die dunkle Zukunft, besonders bei uns, wo sich alle Verhältnisse in den nächsten Wochen von Grund aus ändern können. Ein Chaos von Sorgen, wie wir es uns früher nie hätten vorstellen können! Was können wir von Gott, wasvon den Menschen für unsere Sorgen erhoffen? Wasvon Gott? Als ich euch am Altar die Sprüche Jesu von der Sorglosigkeit der Vögel unter dem Himmel, die wir nachahmen sollen [Mt. 6,25– 34], gelesen habe und eben wieder dasWort, daß wir unsere Sorgen auf Gott werfen sollen, da habt ihr vielleicht etwas wie eine innere Empörung gefühlt, so als ob ich euch Steine statt Brot gäbe [Mt. 7,9]. Wer kann das unter uns, einfach alles auf Gott setzen? Wer darf das? Darf man uns von dieser Sorglosigkeit reden, wenn man die erdgraue Gesichtsfarbe der Kinder der armen Leute sieht, wenn man weiß, was heute die Sorge um die nötigen Kartoffeln und die nötigen Kohlen bedeutet und die Sorge so vieler, die wir kennen, ob sie die Stellung, die sie nährt, und die Beschäftigung, die ihnen lieb ist, und die Heimat, die sie sich erworben zu haben glaubten, auch weiter behalten werden.

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Predigten

desJahres 1918

Ich glaube, daß Jesus, wenn er von unseren Sorgen zu uns zu reden hätte, noch andere Worte finden würde als die, die er unter dem blauen, warmen Himmel Galiläas aussprach. Er würde uns sein «Sorget nicht!» [Mt. 6,25] so, wie es zu unsern Sorgen paßt, entbieten. Aber da er nicht da ist, müssen wir es ausjenem anderen herauslesen.¦11¿ Stoßt euch nicht an dem Überschwenglichen. Alle letzten und tiefsten Wahrheiten können nur in Bildern und Paradoxien ausgesprochen werden. Auf den Grundgedanken kommt es an! Ist der wahr?¦12¿ Kann es geschehen, daß, wenn wir mit unserer Sorgenlast vor Gott kommen, wir diese an dasÜbernatürliche grenzende Befreiung erleben, die Jesus in seinem Worte in üppigen Farben ausmalen will? Ja. Wohl uns, die dieses Überschwengliche schon gekannt haben und das Wort Jesu von innen heraus verstehen. Was geschieht denn, wenn wir unsere Sorgen vor Gott bringen? Erwartet von mir keine herrlichen Worte. Ich will euch nicht zu einem Fluge aufreisen, zu dem meine eigenen Schwingen nicht tragen. Ich bin kein Glaubensheld, sondern nur ein bescheidener Mensch, und kann nur reden von dem, wasich selber erlebt habe in schweren Stunden. Wenn der Mensch Einkehr hält bei Gott für seine Sorgen, erwarte er nicht, alsbald tröstliche Antwort auf seine Leiden und Klagen von ihm zu hören, sondern es ist ihm zuerst, als wäre er auf einen hohen Berg gestiegen und wallte ein Meer von Nebeln um ihn auf und nieder. Dort sitzt er still; unendliches Schweigen nimmt seine Klagen und Ängste auf. Nichts von allem, was du fragst und zweifelst, wird dir erklärt, nur Schweigen, Schweigen. Kein mitleidsloses, kaltes Schweigen, sondern eines, das dich zur Stille zwingt, so ein Schweigen, das kommen muß, wenn die Gedanken, die nicht irdisch sind, vernommen werden können sollen. All unser Sorgen, auch das berechtigtste und schwerste, wird noch schwerer, als es ist, durch etwas wie Hader, das ihm anhaftet wie eine schwere Feuchtigkeit, die die Gegenstände schwerer macht, als sie sind. Du haderst innerlich mit Menschen, die zu deinen Sorgen hinzugetan haben, die über dich triumphieren; du haderst mit Gott und fragst, womit du denn dasverdient hast, wie es kommen konnte, daß dasSinnlose und Ungerechte sich verwirklicht und dich trifft; du haderst mit dir selbst und willst dir vorrechnen, daß du durch dies oder jenes dieser oderjener Sorge hättest entgehen können. Dieser innerliche Lärm muß erst in dem unendlichen Schweigen, in dasdu hineinstarrst, von ihm verzehrt werden. Nur die Sorge, allein die geläuterte, die Sorge um das Notwendige, soll bleiben, das, was sie be11 [R] Kinder der Sorge – Kinder Gottes. 12 [R] Auf den Geist derWorte kommt es an. Ist es wahr, daß Gott uns innerlich so reich machen kann, daß wir der Sorge enthoben sind?

Alle eure Sorge

werfet

auf ihn

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gleitete, muß abfallen wie eine Unlauterkeit. Nun heb deine Last auf: Sie ist schon viel leichter, da es nur noch reine Sorge ist, ohne häßliche und niedrige Gedanken, die sich damit verbunden hatten. Und nun innerlich selber schweigend geworden, höre in das Schweigen hinaus. Bitte im Herzen um die Gewißheit, daß du nicht ein armes, in dem zufälligen Weltgeschehen preisgegebenes Menschenwesen bist, sondern eines, das in allem Leid der Liebe, der unendlichen Liebe Gottes gewiß sein darf! Flehe darum, das in deinem Herzen spüren, Gott dem himmlischen Vater ins Auge sehn und seinen erbarmenden Liebesblick spüren zu dürfen, und ich glaube, dir sagen zu können, du hast nicht vergebens gebetet, wenn du um dies eine gebeten hast. Gewiß, bitte Gott, daß er in Barmherzigkeit das, was dich am meisten beängstigt, von dir nehme, wenn es sein Wille ist; aber über alles bitte ihn, daß er dir die Kraft gebe, es zu tragen. Gott ist nicht allmächtig, daß er von uns wenden kann, daß wir durch Elend und Sorge hindurchgehen, aber er ist allmächtig, daß sein Geist unserem armen, verängstigten Geist aufhelfen kann. DasWolkenmeer umwogt uns weiter: Aber die Sonne bricht durch, und die Berge und Täler liegen vor uns. «Laß dir an meiner Gnade genügen!» [II Kor. 12,9], armes Menschenkind, spricht er zu unserer Seele. Das bitte ihn, in deine Seele zu geben, dann kannst du im Dunkel gehen, kannst die Heimat verlieren und brichst doch nicht zusammen, denn du trägst Licht und Heimat in dir. Und wenn du auf dem Berge sitzest und mit Gott um die Gewißheit seiner Liebe ringst, bist du nicht einsam. Du erlebst die Gemeinschaft aller derer, die hilfesuchend wie du in das unendliche Schweigen hineinklagten und Friede fanden. Zu Tausenden und Tausenden gingen sie über die Welt, leidend wie du, zweifelnd wie du, unter ihrer Last gebeugt. Nun haben sie überwunden und sind zum Frieden eingegangen und ruhn in stiller Erde seit Hunderten, seit Tausenden von Jahren. Bruder und Schwester sind sie dir. Als mitleidige Geister umschweben sie dich und sprechen dir mit sanften Worten Mut zu. Als Engel Gottes treten sie zu dir und dienen dir [Mt. 4,11]. Sind’s nicht Engel, die zu uns reden in den wunderbaren Worten der Frommen, die in der Schrift und in unseren Liedern von der Sorge und der Sorge entrückt sein zu uns reden, den Chor bildend zu dem, was Paulus sagt: «Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes mag uns scheiden von der Liebe Gottes» [Röm. 8,38 f.]. Dank euch, ihr Verklärten, die ihr begnadet wurdet, mit unvergänglichen Worten unsere Seele zu speisen und geistig um uns zu sein, als Brüder im Kampf gegen die Sorgen. Nun seid ihr vom Berge heruntergestiegen, wieder im Tal unter Menschen. Was können diese euch helfen in euren Sorgen? Was darfst du von ihnen verlangen? Die Schrift schneidet dir diese Frage ab und

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Predigten

desJahres 1918

läßt nur die andere gelten: Was du ihnen geben mußt. «Einer trage des andern Last!» Und es heißt nicht: Wer wenig Sorgen hat, sorge mit dem, der viele hat, sondern: einer mit dem andern. Wenn es dir am schwersten umsHerz ist, hast dukein Recht, dich nur mit dir selbst zu beschäftigen, sondern mußt um die anderen mitbesorgt sein. Ein Band ist um alles, was sorgt, geschlungen.¦13¿ Was heißt das, des andern Last tragen? Zunächst, daß wir hilfsbereit sind. Und sage nicht: Ich habe keine Mittel und keinen Einfluß, also kann ich nichts oder kaum etwas helfen, sondern habe die Augen offen, wo ein sorgender Mensch dir gerade Nächster wird, dem du helfen sollst und kannst, vielleicht in etwas Unscheinbarem, das doch für ihn

viel

ist.¦14¿

Wenn du reisest, siehst du Frauen, Greise und kränkliche Menschen sich am Bahnhof über ihre Kraft mit Gepäck abschleppen. Manche stehen ratlos da, wenn es heißt, dieTreppe herauf oder herunter. Und kräftige Menschen, mit der Zigarette im Mund, gehen vorüber, als sähen sie nichts. – Das ist dasBild desLebens. Du aber sei aufmerksam. Vom Unscheinbarsten bis zum Größten kann Gott dich an Menschen jeden Tag gebrauchen, und im Unscheinbaren hilfst du ihnen oft mehr, als du

ahnen kannst. Tragen heißt weiter: mittragen, trösten. Gewiß, mit Worten trösten ist schwer. Wo wir es unternehmen, fühlen wir so oft, wie wir ihm Banalitäten sagen, ihm die Dinge leichter vorstellen wollen, als sie sind, oder ihm nur ungeschickter vorbringen, was er zum hundertsten Male für sich selber gedacht. Hast du einen Beileidsbrief anjemand, der einen lieben Menschen verloren hat, geschrieben, wie kraftlos und öd mutet er dich an, wenn du es überliest. Und doch gibt es Augenblicke, wo das ohnmächtige Wort trägt. Du hast es selber erlebt, daß etwas, das zu dir gesprochen oder geschrieben wurde, etwas, das in dir selbst klang, verstärkte. Manchmal hat dir ein Fremder durch eine ganz bescheidene Kundgebung wohltun können. Ich erinnere mich, wie bei einem schweren Trauerfall einer meiner nächsten Bekannten einen Brief von jemand bekam, der ihn und den Gestorbenen nur von der täglichen fremden Begegnung auf der Straße kannte, und wie diese Teilnahmebezeugung ihn so rührte, daß sie ihn ausdem Schmerz herausriß. So kommt es mir immer vor, als ob dieTeilnahme, die wir der Sorge des andern in Worten entgegenbringen, eine Saat ist, bei der tausend Körner auf Stein fallen und eines auf Land kommt, wo es Frucht bringt [Mt. 13,5]. Darum wagt die tausend Worte, wagt sie auch dem weniger 13 [In der Skizze zu dieser Predigt schreibt Schweitzer, dass er den 2. Teil von hier an in Günsbach am 26. August 1923 wiederholt hat.] 14 [R] Vielleicht ein Opfer! Bring’s!

Alle eure Sorge

werfet

auf ihn

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Bekannten gegenüber, wagt, zu sein, wie euch das Herz treibt, ohne Angst, aufdringlich zu erscheinen, ohne Angst, mißverstanden zu werden. Du kannst damit vielen Gutes tun.¦15¿ Am meisten aber sind wir angewiesen auf das Mittragen der Last ohne äußere Hilfe, ohne tröstendes Wort, allein durch dasVerstehen und stumme Helfen.¦16¿ Hier aber, meine Freunde, versagen wir zu oft. Wir bringen dem Menschen, dessen Sorgen wir kennen und ahnen, nicht die dauernde Liebe und Nachsicht entgegen, deren er bedarf. Auf Augenblicke so mitzutragen, ist leicht, aber auf Tage undWochen, selbst gegen einen unserer Nächsten im Hause, uns zu sagen: Sei gut mit ihm, er hat Sorgen!, dasist schwer; daskommt nicht so einfach ausdem Herzen, sondern will gelernt sein.¦17¿ Geduld und Nachsicht, das ist das meiste, wasverlangt wird.¦18¿ Die, die mit dir im Hause sind, sind vergeßlich, zerstreut, ärgerlich, reizbar. So leicht gibt ein Wort das andere, und wir tun uns weh, bis wir zuletzt merken, daß wir nur so sind, weil wir Kinder der Sorge sind und darum miteinander über Kleinigkeiten fielen. Oft stehn wir noch äußerlich aufrecht und sind im Begriff, vor Not undWeh innerlich zusammenzubrechen. Darum seid sanft miteinander, sanft mit den Bekannten, sanft mit den Unbekannten, denn ihr wißt nicht in diesen Tagen, unter welcher Last der Mensch, der neben euch vorübergeht, seufzt, und wie ihr ihm durch euer Wesen helfen müßt. Jesus sei mit seinem sanften Geiste mit uns, daß wir sein Gesetz erfüllen.

15 [R] Kein Fremder! Ausdem Zustand des Fremdseins heraustreten. 16 [R] Menschen es vorzüglich verstehen, rein durch ihre Gegenwart wohltuend zu sein.

17 [R] Bedürfnis, verstanden zuwerden, mit Menschen versöhnt zu werden. 18 [Schweitzer kennt diese Situation aus eigener Erfahrung. V. Mühlstein schreibt, daß Helene Schweitzer damals wochenlang von neuralgischen Schmerzen geplagt wurde, unter Schlaflosigkeit und Depressionen litt und reizbar und empfindlich wurde, was beide nicht als Symptome einer beginnenden Tuberkulose erkennen und wahrhaben wollten. Darum ist ebenfalls sein Gemütszustand angeschlagen: Auch Albert Schweitzer ist nervös, gereizt und reagiert gelegentlich ruppig, was die empfindliche Helene sehr verletzt. Mühlstein, S. 186 f.]

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Predigten

desJahres 1918

Morgenpredigt Sonntag, 24. November 1918,¦19¿ St. Nicolai Zum Gedächtnis unserer Toten

Apk. 21,4: Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und derTod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn dasErste ist vergangen

Zum fünften Male haben wir in der Zeit, da der Herbst sich zum Winter neigt, nicht nur derToten zu gedenken, die starben, weil Alter, Krankheit oder Unglücksfall sie dahinraffte, sondern auch derer, die von Menschenhand im mörderischen Kriege fielen. Wie sind sie gestorben? Das Geschoß hat ihren Leib zerrissen, und sie verbluteten, im Drahtgeflecht hingen sie wimmernd und verschmachtend tagelang, ohne daß ihnen ein Mensch Hilfe bringen konnte; auf kalter Erde erfroren sie in der Nacht; eine Sprengladung verschüttete sie oder warf sie zerfetzt in die Luft; gurgelnde Wasser zogen das Schiff, auf dem sie fuhren, in die Tiefe; sie rangen mit den Wellen bis zur Erschöpfung oder stemmten sich im Schiffsraum eingeschlossen in ohnmächtiger Angst gegen die Wände; die, die nicht auf dem Felde oder auf demWasser starben, gingen dahin, nachdem sie Wochen und Monate alle Qualen im Lazarett erduldet und mit dem Leben um die Existenz eines Krüppels gerungen hatten. War es uns nicht in diesen langen Monaten, wenn es still und dunkel um uns war, als hörten wir ein Jammern und Klagen von Erden zum Himmel steigen? Wir wollten uns davor verschließen. Aber es half nichts, es klang dennoch in unser Ohr.¦20¿ Nun gehört dieses Weh derVergangenheit an. Sie haben ausgeduldet, die Menschen, die von Menschenhand litten und starben. Gott hat ab19 [Am 21. November verließen die letzten deutschen Soldaten Straßburg, und die nachrückenden französischen Truppen wurden von der Bevölkerung jubelnd begrüßt. Mit Recht weist V. Mühlstein darauf hin, daß diese versöhnliche Predigt ein eindrückliches Zeichen von Zivilcourage in einer von Haß und Rachsucht geprägten Umgebung darstellt. Mühlstein M, S. 252 f. Schweitzer wurde denn auch wegen dieser zuwenig französischen Haltung von der Geheimpolizei überwacht. Die Einzelheiten beschreibt G.Woytt, Die Polizeiberichte über Albert Schweitzer, 1919–1921. DasManuskript befindet sich im Zentralarchiv Günsbach.] 20 [In einer Abschrift gibt es den folgenden Einschub:] Im Interniertenlager Garaison wurde ich zum Direktor gerufen. Es war in den Märztagen dieses Jahres, als die großen Schlachten geschlagen wurden. Nachdem er mir die betreffende dienstliche Mitteilung gemacht hatte, schwieg er und sagte dann plötzlich: Sehen Sie, ich muß arbeiten, um mich zu vergessen, denn ich vergehe, wenn ich daran denke, daß in dieser Stunde Menschen Menschen töten, und daßjeder Augenblick eine Unendlichkeit von Weh und Verzweiflung bedeutet. Da schauten wir uns an und waren nicht mehr Direktor und Gefangener, sondern zwei Menschen, die sich gestanden, daß sie im Banne desselben grauenvollen Gedankens standen.

Gott wird abwischen alle Tränen

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gewischt die Tränen von ihren Augen, und Leid und Geschrei und Schmerz sind nicht mehr für sie. Wie wollen wir ihr Gedächtnis feiern? Seid ihr schon hinter dem Sarge eines Menschen, der für euch ein Stück Leben bedeutete, dahingegangen und habt da im plötzlichen Entschluß euch mit diesem dem Leben schon Entrückten durch ein Gelöbnis verbunden, indem ihr den Entschluß faßtet, im Gedenken an ihn hinfort etwas zu meiden oder zu tun? So, glaube ich, müssen wir, Menschen aller Völker, denen, die in dem Krieg gefallen sind, etwas geloben. Geloben wir ihnen zuerst das Selbstverständlichste und Einfachste: daß wir ihrer nicht vergessen werden. Meint nicht, das sei leicht. Die Zeit löscht vieles aus, das wir behalten möchten, und nimmt es uns hinweg, wenn wir es nicht gegen sie verteidigen. Ich fürchte schon denTag, wo den Frauen, die ihren Mann im Felde verloren, nicht mehr mit der Teilnahme und der Ehrfurcht, die ihnen gebührt, begegnet wird, und wo den Waisen, deren Vater im Felde starb, nicht mehr die Liebe und Schonung, deren sie bedürfen, zuteil wird. Schon jetzt wird in Worten und Taten vieles versäumt, was wir diesen Hinterlassenen schulden. Ihr aber, wappnet euch dagegen. Diese Hinterbliebenen sind uns ein heiliges Vermächtnis. Sie müssen es uns anfühlen, daß wir uns als die Schuldner derer, die draußen starben, betrachten und es in der Art, wie wir nun gegen sie selbst sind, abzutragen suchen. Mit diesen Kronen und Kränzen wollen wir die Gräber schmücken. Kein Sturm soll sie verwehen, kein Regen soll sie bleichen. Und wisset, daß Hunderte und Tausende den Kriegshinterbliebenen durch ihre Teilnahmslosigkeit und Roheit weh tun werden, ihr aber, was von diesen versäumt wird, durch euer Mitfühlen gutmachen müßt. Was sollen wir den Toten noch geloben? Daß ihr Tod nicht nutzlos gewesen. Sie haben sich dahingegeben in allen Ländern, umjeder sein Volk vor den Greueln des Krieges zu bewahren und ihm die Freiheit zu erhalten. Undjedes Volk muß seinen Toten dafür danken. In den Ländern, denen der Sieg beschieden war, wird die Bedeutung ihres Todes in dem Jubel, der über die Gräber dahinbraust, ausgesprochen. In denen, die unterlagen, gedenkt man ihrer schmerzbewegt. Äußere Umstände entschieden bei den einen, daß der Tod den Sieg besiegelte, bei den anderen, daß er ohne Erfolg war. Aber dasist nicht dasletzte an der Bedeutung ihres Todes. Jetzt, wo wir auf den Krieg als etwas Vollendetes zurückblicken, stehen die, die geopfert wurden, als eine Schar, in der es keine Unterschiede von Rasse und Nation mehr gibt, als Menschen, die in Leid und Schmerz geeint sind, vor uns und fordern etwas von uns. Um unserer Schuld willen sind sie dahingegeben. Zu leicht dachte man in allen Völkern vomWohl undWehe des einzelnen Menschen. Zu

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Predigten

desJahres 1918

gering beurteilte man dasMenschenleben, diesen geheimnisvollen, unersetzlichen Wert. Zu leichtsinnig sprach man von Krieg und dem Elend, daser bringt. Man war gewohnt, für äußere Erfolge soundso viel Menschenleben in Rechnung zu setzen und verherrlichte und besang diese Unmenschlichkeit. So kam, was kommen mußte, aber tausendund tausendfach schwerer, als man es sich vorgestellt hatte. Und so häßlich und grausig, so voll Elend undJammer, daß keine Verherrlichung mehr möglich ist, sondern nur Schmerz und Entsetzen bleiben. Dem Geiste der Mitleidlosigkeit sind geopfert die, deren wir heute über jede Schranke von Nationalität hinaus gedenken. Indem wir uns vor ihnen anklagen und demütigen, geloben wir, daß der Geist, dem sie geopfert wurden, vernichtet sein soll. Die Gesinnung, in der dieses Menschengeschlecht aufgewachsen ist, wollen wir von uns tun als die große Sünde, an der dieWelt litt. Unsere Kinder sollen es von uns erfahren und alsVermächtnis in ihr Leben mithinausnehmen, daß das Gebot «Du sollst nicht töten» [Ex. 20,13] eine viel tiefere Bedeutung hat, als die Menschen, die uns erzogen, und wir selbst für wahr gelten ließen. Die Millionen, die töten mußten, weil es so gekommen war, daß Befehl und Notwehr sie dazu zwangen, sollen das Furchtbare, was sie dabei mit sich durchmachen mußten, auf alle kommenden Geschlechter derWelt bringen, daß keines mehr sich in ein solches Schicksal begebe. Ehrfurcht vor Menschenleid und Menschenleben, vor dem kleinsten und unscheinbarsten, sei das eherne Gesetz, dashinfort dieWelt regiere. Und nicht wollen wir damit neue Phrasen an Stelle der alten setzen oder meinen, daß mit tönenden Reden und Erklärungen der Politiker in dieser Sache etwas getan sei, sondern wissen, daß es nur die tiefinnerliche Gesinnung, von Mensch zu Mensch sich mitteilend, ist, die in der Welt solches vermögen wird. Indem die Gefallenen der Gesinnung, die dasWort «Du sollst nicht töten» noch nicht ganz verstand, geopfert wurden, haben sie für uns gesühnt. Die Schuld, die auf uns lag, ist durch das, was sie erduldet, von uns genommen, so daß die neue Zeit kommen kann und wir an ihr arbeiten dürfen. Die Wege, durch die Gott die Menschheit führt, sind uns dunkel. Nur zwei in sich zusammenhängende und an sich selbst rätselhafte Grundgesetze zeichnen sich in unbestimmten Umrissen für uns ab: Daß alle Schuld Sühne heischt und aller Fortschritt Opfer verlangt, wobei alles in Menschenleben, die dazu geweiht sind, bezahlt wird. Wir ahnen dies mehr, als wir’s verstehen. Es bleibt uns furchtbar wie viele Gesetze der Natur, aber wir müssen uns darunter beugen. Als Kinder einer gewaltigen Zeit verstehen wir das Geheimnisvolle der Schrift besser als andere Geschlechter vor uns. Und vor allem sind es dunkle Gedanken des Apostels Paulus, die sich für uns erhellen. Weis-

Gott wird abwischen alle Tränen

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sagend spricht er aus, daß nicht nur Christus leiden mußte, sondern daß sich sein unschuldiges Leiden und Sterben in der Menschheit fortsetzen müsse, damit dasReich Gottes kommen könne. Und was die Menschen der gewöhnlichen Zeit nicht verstehen, das tut sich vor uns auf, denn es ist vor unseren Augen geschehen, da Gott es zuließ, daß Millionen unschuldig litten und starben. Wie die Jünger wußten, daß der Tod ihres Herrn bedeute, daß etwas Neues in derWelt kommen müsse, so wissen wir es, indem wir auf die zurückschauen, die wir beweinen. Und so gewaltig das Opfer, so gewaltig muß das Neue sein, dasdadurch erkauft ist und daswir verwirklichen sollen. Horcht hin und vernehmt das Rauschen des Reiches Gottes in den Lüften, wie noch kein Geschlecht es vernehmen konnte. Wir sind berufen, den Schritt zu tun, den die Menschheit bisher nicht tun konnte, wir können nicht anders, die Toten helfen uns dazu und zwingen uns dazu. «Noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen.» Das erste, das ist die Welt, in der keine Ehrfurcht vor dem Menschenleben war, und die sich selbst aus dem Gesetz der göttlichen Liebe heraus unter die Gewalt des Elendes gestellt hat, das Menschen über Menschen bringen können. Das zweite, das andere ist dasReich Gottes, für dasJesus, für dasdie Millionen in diesen Monaten gestorben sind, wenn wir nicht als das Geschlecht, das hört und nicht hört und sieht und nicht sieht [Mt. 13,13], ihren Tod umsonst machen. Noch eins. Die unter uns, die überlebend geblieben sind – sei es, daß sie wunderbar aushundertfacher Gefahr gerettet wurden, sei es, daß das Schicksal es ihnen ersparte, wie die anderen fort und fort dem Tode und dem Verderben ins Auge sehen zu müssen – dürfen dies nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen, sondern müssen sich fühlen als solche, die aus dem Tode wieder zum Leben erstanden sind. Gott hat ihnen das Dasein in Gnaden wieder gegeben, damit sie es neu gebrauchen. Paulus spricht es des öfteren aus, daß wir Christen uns betrachten sollen als solche, die mit Christus gestorben und mit ihm zu neuem Dasein erstanden sind, daß wir hinfort in einem neuen Leben wandeln

[Röm. 6,4]. Wer soll dies Wort verstehen, wie wir es verstehen können? Auf wen kann es so gelten wie auf die Millionen unter uns, die in diesen Jahren in den Tod gegeben wurden, und, wenn sie die Sonne schauen, erstaunen, daß sie noch leben und daß morgen der gewohnte Tod nicht

mehr droht. In den Offenbarungen des Alten und des Neuen Testamentes von dem Kommen des Reiches Gottes am Ende derTage heißt es, daß Christus es aufrichten wird umgeben und in der Kraft von Tausenden und Abertausenden von Auferstandenen [Apk. 7]. Und wenn es ein Deuten jener Geheimnisse gibt, so wage ich, es auf unsere Zeit zu beziehen, auf

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uns, die Unzähligen, die wir aus demTode wieder zum Leben gekommen sind. Durch das, was wir erlebt haben an Elend, das wir um uns sahen, an Weh und Tod, die wir selber anrichten mußten, an Grauen über uns selbst, sind wir bereitet, wenn esje ein Geschlecht auf derWelt sein kann, den furchtbaren Ernst der Dinge zu erfassen, die Gedanken, in denen sich die neue Zeit, die dem Reiche Gottes gleicht, gestalten soll, zu denken und mit reinen Händen als neue Menschen an dem, was kommen muß, zu arbeiten. Wenn ich Bekannte sehe, die aus dem Felde heimkommen, ist es mir oft, als hätte sich ihr Gesicht verändert, als stände von all dem Furchtbaren, in dem sie sich befanden, etwas Geheimnisvolles in ihren Zügen und als schauten sie in ihren Gedanken weiter hinaus als früher. Ich verspüre dann etwas von dem Anfang einer neuen, vertieften und geläuterten Menschheit. Ist es ein Anfang, auf den etwas folgt, oder ein Anfang, der bald verkümmert, wenn die Gedankenlosigkeit des gewohnten Alltags wieder ihre Rechte begehrt oder gebotene Zerstreuung die Sinne ablenkt? Gott bewahre uns davor! Von uns, den aus demTode Überlebenden, hängt es ab, ob die Gefallenen für die Entwicklung der Menschheit zum Reiche Gottes vergebens gefallen sind oder ob Frucht ausihrem Leiden und Sterben kommt. Was wir versäumen, kann auf Jahrhunderte kein Geschlecht derWelt nachholen. Darum wollen wir ihnen vor Gott und Jesus versprechen, daß wir tun, wozu wir berufen sind. Und laßt euch nicht irremachen, wenn so viele um euch herum die Zeichen der Zeit nicht verstehen und in Äußerlichkeiten aufgehen, sondern wißt, daß, wenn nur wir denken und tun, was gedacht und getan werden muß, ein Segen für die Welt daraus entstehen wird. So wollen wir der Toten gedenken.

Morgenpredigt Sonntag, 8. Dezember 1918, St. Nicolai 2. Advent

Ps. 51,12: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist

Der Advent hat einen merkwürdig doppelten Charakter. In der alten Kirche galt er, wie es die damals auf diese Sonntage vorgeschriebenen Abschnitte der Evangelien bezeugen und es auch noch in unseren Kirchenliedern nachklingt, als Vorbereitung auf das Gericht und die Ankunft Christi, desWeltenherrschers, am Ende derTage zur wunderbaren Aufrichtung des Reiches Gottes. So singt Paul Gerhardt im letzten Verse von «Wie soll ich dich empfangen»:

Schaffe

in mir, Gott, ein reines Herz

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«Er kommt zumWeltgerichte, zum Fluch dem, der ihm flucht, mit Gnad und süßem Lichte dem, der ihn liebt und sucht. Ach komm, ach komm, o Sonne, und hol uns allzumal zum ewgen Licht undWonne

in deinen Freudensaal!»¦21¿ Der andere Advent ist der innerliche, persönliche, in dem wir uns bereiten, die Geburt und dasWirken des Heilandes, der vorJahrhunderten in unscheinbarer Gestalt in dieser Welt erschien, zu feiern und unsere Herzen ihm zu öffnen. Dies ist derAdvent, von dem es im Liede heißt: «Sieh, dein König kommt zu dir!

Seele, dassind frohe Worte. Sprich: Mein König, komm zu mir, sieh, ich öffne dir die Pforte; zeuch mit deiner Sanftmut ein; wasdu findest, dasist dein.»¦22¿ Welchen wollen wir feiern in dieser Stunde? Die gewaltigen Ereignisse, die dieWelt bewegen, laden uns ein, Advent zu halten wie die alte Kirche und sie zu deuten, inwiefern sie dasWalten Gottes in der Geschichte erkennen und nicht erkennen lassen und das Chaos darstellen, aus dem sich ein Zustand, der dem Reiche Gottes mehr gleicht als der vorherige, herausbilden kann. So selbstverständlich, so fast zwingend uns diese Feier scheint, so glaube ich, müssen wir doch dasBedürfnis empfinden, die andere, die innerliche, zu halten, wo wir absehen von allem, was Weltereignis ist, und unsere Seele mit sich selber Zwiesprache hält, und zuJesus spricht: «Ach mache du mich Armen zu dieser heilgen Zeit ausGüte und Erbarmen, HerrJesu, selbst bereit. Zeuch in mein Herz hinein, mach es zu deiner Krippen, so werden Herz und Lippen dir allzeit dankbar sein.»¦23¿ So gewiß wir nicht anders können, als das, was sich um uns ereignet, als religiöse Menschen anzuschauen, zu verarbeiten und daran teilzunehmen, so empfinden wir doch alle, wenn wir, was der Advent zu uns redet, recht verstehen, daß in diesen Jahren, in denen die Menschen aller 21 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 10.] 22 [Philipp Friedrich Hiller: Sieh, dein König kommt zu dir, Str. 1.] 23 [Valentin Thilo: Mit Ernst, o Menschenkinder, Str. 4.]

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Völker nicht anders konnten als immer wieder und fast ausschließlich sich als religiöse Menschen mit denVorgängen derWelt zu beschäftigen, die Religion selber, das Innerlichste undTiefste an ihr, zu kurz gekommen ist und Schaden gelitten hat. Und darum, wie wir alle dasGefühl haben, zuviel an Weltereignissen erlebt zu haben, und uns danach sehnen, in einer stillen Zeit, in der sich nichts oder fast nichts mehr ereignet, zu leben, waswir früher nicht genug geschätzt haben, so haben wir wieder Sehnsucht nach der stillen, reinen, ganz innerlichen Religion, in der wir mit Gott, mit der Unendlichkeit und mit Jesus allein sind und auf keinen Weltlärm hinhorchen, sondern uns nur mit uns selber beschäftigen, in uns gehen und beten mit dem Psalmisten: «Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist.»

Das ist nötig, denn die Reinheit unseres Herzens und die Festigkeit unseres Geistes hat in diesen Jahren in eigentümlicher Weise gelitten, weil wir zuviel von den Dingen außer uns in Anspruch genommen und zu wenig mit uns allein waren. Wie stand es um uns? Über vier Jahre lang haben wir gewissermaßen in ganz Europa außerhalb von uns selbst gelebt, weil wir fortgesetzt jeder in einem Volke aufgingen, mit ihm dachten, fühlten, urteilten, handelten. WasGroßes daran ist, darf nicht verschwiegen und nicht verkleinert werden. Die Menschen, die dies erlebt haben, haben eine Schule der Selbsthingabe und der Selbstaufopferung durchgemacht, in der sie über die Ideale des egoistischen kleinen Wohllebens hinausgekommen sind und sich in vielem zu einer Höhe der Selbstverleugnung erhoben haben wie kein Geschlecht vor ihnen. Alle haben sie gelernt, sich einem höheren Zwecke, dem der Gemeinschaft, unterzuordnen und es als etwasSittliches zu empfinden, dies zu tun, ob es sich dann für die draußen handelte, sich mit dem Gedanken desTodes auf ferner Erde abzufinden oder sich darein zu schicken, von den Seinen, dem Haus und dem Geschäft so lange getrennt zu sein, oder wie für die daheim, Sorgen ums tägliche Brot zu kennen, die vorher nicht bestanden, Hunger, Kälte und andere Entbehrungen zu ertragen und sich Bevormundungen von Seiten des politischen Gemeinwesens gefallen zu lassen, bei denen von natürlicher, persönlicher Freiheit fast nichts mehr übrig blieb, und die einzelnen nicht mehr wußten, wasesheißt, sein eigener Herr zu sein. Diese Schule der Selbstlosigkeit hat etwas Großartiges und eine tiefe, erzieherische Bedeutung gehabt, und es wird uns allen, bis zu den Kindern herab, die es halb unbewußt miterlebten, etwas davon fürs Leben nachgehen in allen Völkern. Aber dieses Aufgeben des Eigendaseins hat auch etwas für unser geistiges Leben furchtbar Gefährliches gehabt und hat es noch immer.

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in mir, Gott, ein reines Herz

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Zuerst einmal war schon die fortwährende Ablenkung von uns selbst, wie sie mit dem angespannten Miterleben von Ereignissen gegeben ist, etwas Bedenkliches. Wir saßen im Welttheater und waren von dem Schauspiel so in Anspruch genommen, daß wir damit, was die Pflege unseres eigenen Wesens angeht, veräußerlichten und gedankenlos wurden. Nehmt nur einmal zusammen, was an religiösen Schriften in diesen Jahren erschien! Welch eine oft erschreckende Veräußerlichung der Religion in ganz Europa und oft bei bedeutenden, tiefangelegten Menschen! Was da zutage tritt, das ist typisch für das geistige, innerliche Leben der einzelnen überhaupt. Ich glaube, wenn wir einmal wieder zu ruhiger Besinnung kommen, werden wir darüber erschrecken, wie groß die Verwüstungen sind, die der Mangel an Sammlung, die Oberflächlichkeit und die fortgesetzte Ablenkung von der innerlichen Beschäftigung mit sich selbst unter den Menschen angerichtet haben. Wir waren schon auf diesem gefährlichen Weg der fehlenden Sammlung dadurch, daß seitJahrzehnten die Ansprüche, die dasDasein an die Arbeitskraft und Arbeitszeit des einzelnen stellte, immer zunahmen. Die Menschen eines Hauses finden kaum Zeit, hastig und abgehetzt miteinander zu essen, aber sie leben nicht mehr miteinander, sie kennen keine ruhigen, beschaulichen Feierstunden mehr, wo ihr Geist ausruht oder sich in Zwiesprache mit dem andern oder einem zum Nachdenken anregenden Buche erholt, sondern es gibt nur noch angestrengteste Arbeit und geistlose Zerstreuung, die über die Müdigkeit hinwegtäuschen soll. Nehmt eine Zeitung von vor sechzig Jahren und seht, was sie zu bieten wagt und was sie von ihren Lesern verlangt. Heutzutage ist sie darauf eingerichtet, gedankenlos im Gehen und Fahren überflogen zu werden und durch packende Überschriften und aktuelle Bilder zu fesseln. So waren wir schon weit auf demWege vorangekommen, ungesammelte Menschen zu werden. Die Ablenkung, die die Kriegsjahre gebracht haben, kam dazu und machte das Begonnene vollständig. Nicht nur dieWorte Jesu und derApostel und der frommen Menschen aus früheren Generationen klingen uns so fremd in unsere Zeit hinein, sondern auch einfache Volkslieder, weil in ihnen sich eine Innigkeit und Süßigkeit ausspricht, wie sie gesammelte Menschen allein haben, und die bei uns keinen natürlichen Widerhall mehr findet, sondern nur Sehnsucht nach etwas Schönem, dasuns so schwer gemacht ist, daß wir es fast verloren haben, weckt. Dazu kommt noch das andere, daß wir nicht nur zu sehr zerstreut sind, um unsere Gedanken zu vertiefen, sondern in dieser gesteigerten Art, wie wir in den letzten Jahren der Allgemeinheit angehören, unser eigenes Denken an das ihre verlieren. Auch darin waren wir schon vor dem Kriege weit vorangeschritten. Vergleicht man uns mit den Men-

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schen früherer Zeiten, so ist es das Kennzeichen des modernen Menschen, daß er geistig wenig Eigenes hat, sondern sich von dem Denken und Urteilen, das in den Zeitungen, in der Gesellschaft, in seiner Kirche, in seiner politischen Partei, in seinem Volke herrscht, außerordentlich beeinflussen läßt und sich den Meinungen, die gelten, unterwirft, statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sich ein freies Urteil zu bilden. Er bezieht seine Gedanken aus der Öffentlichkeit, nicht aus seiner Vernunft. Darum ist es den Menschen so schwer, wenn sie sich miteinander über die Dinge unterhalten, daß sie auf dasWesen der Sache gehen, sondern sie reden nur als wandelnde Zeitungen, jeder die Meinung, die er angenommen hat, gegen die des anderen. Diese geistige Verarmung begegnet einem auf Schritt und Tritt und oft bei denen, die als Gebildete gelten, noch mehr als bei den Ungebildeten. Das ist nicht nur eine für das geistige Leben bedauerliche Schwäche, sondern etwas, das uns schlechter macht und unter dem unsere Sittlichkeit und unsere Religion leidet und das dem Geiste Jesu widerspricht, weil die Reinheit unseres Herzens und die innere Festigkeit des Geistes, ohne die keiner ein wahrer Mensch sein kann, davon betroffen sind. Die Reinheit unseres Herzens leidet. Es ist nicht nur so, daß sie gefährdet wird durch die argen Gedanken, die aus dem Herzen kommen und von denen unser Herr Jesus so eindringlich geredet hat [Mt. 15,19], sondern auch von denen wird sie bedroht bei uns ungesammelten und geistig unselbständigen Menschen, die von draußen in unser Herz hineingetragen werden. Zu sehr teilen bei allen Völkern die Menschen die Leidenschaften, die in diesen umgehen, und lassen sie in sich einströmen. Sie werden von einer Begeisterung und Aufregung, die sie vorfinden, mitgerissen und übersehen dabei alles, was in dieser Leidenschaft neben dem Großen, was an Begeisterung für Recht und Wahrheit an weniger Edlem, an Niedrigem, Häßlichem, Unwahrhaftigem, an Hartherzigkeit, Rachsucht, Lieblosigkeit enthalten sein kann, mit aufnehmen, ohne sich darüber klar zu werden, ob ihre Seele darunter nicht Schaden leidet. Sie sehen, daß es Dinge sind, die in der öffentlichen Meinung Kurs haben, daß viele Menschen, die sie als ehrbar achten, einfach mit diesen Ideen gehen, und empfinden dann nicht mehr so die Nötigung, die Ideen, die so von außen her in sie eingehen, genau zu prüfen, ob sie dem Ideale der Sittlichkeit nicht untreu werden, wenn sie sie aufnehmen. Das ist das furchtbare geistige Drama, das sich hinter dem Weltdrama der letzten Jahre bis auf den heutigen Tag abspielte und das so in keiner Vergangenheit wiederzufinden ist, weil niemals bisher die einzelnen so in der Allgemeinheit, mit Willen und Absicht, bis zur Verleugnung des eigenen Urteils und der eigenen Sittlichkeit aufgingen wie heute. Überall haben die Menschen insofern an Reinheit des Herzens, an natür-

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lichem, sittlichem Empfinden verloren, weil sie nicht mehr sie selbst waren, sondern gut benannten, was sie von sich aus nicht gut benannt hätten, weil es in der öffentlichen Meinung als solches ausgegeben und gelten mußte und aus demselben Grunde verurteilten, was sie sonst nicht verurteilt hätten, aus Schwäche, oder weil sie, der öffentlichen als Autorität auftretenden Meinung nach so mußten, oder weil sie es selber als zweckmäßig anerkannten, davon nicht zu reden, wo sie sich von der Leidenschaft einer Menge, die dasVolk nicht in seinem edleren Wesen darstellte, mitreißen ließen. In einem Worte: Alle haben wir uns in erschreckendem Maße, ohne uns oft selbst darüber klar zu werden, unter den Einfluß und die Vormundschaft der unpersönlichen und darum viel weniger hohen und sicheren Sittlichkeit der Masse gestellt, und dies ist uns so zur Gewohnheit geworden, daß wir es fort und fort noch tun, fast als etwas Selbstverständliches und nicht als etwas Abnormes, Furchtbares empfinden. – Und wie die Reinheit des Herzens des modernen Menschen durch unser abnormes Aufgehen in den Gedanken und Anschauungen der Masse gelitten hat, so auch die Festigkeit seines Geistes, was man Charakter oder Persönlichkeit im tiefen Sinne desWortes nennen kann. Eine der elementarsten Funktionen des Geistes, unsere eigene Meinung mit dem, was bei der Masse gilt, auseinanderzusetzen, ist uns abhanden gekommen, weil wir ungesammelte, unpersönliche Menschen geworden sind und es zum Teil werden mußten, weil der heutige Mensch, in Rücksicht auf das, was in der Öffentlichkeit gilt und gelten darf, während des Krieges allenthalben auf der Welt eine viel größere Zurückhaltung beobachten mußte, als natürlich ist und sich mit den Forderungen eines gesunden, geistigen Lebens verträgt. Darum ist der Charakter des modernen Menschen verkümmert. Es ist etwas an ihm gebrochen, tot, weil er oft anders urteilen mußte, als er es von sich aus getan hätte, oft schweigen mußte, wo er hätte reden sollen, oft sich untätig verhalten mußte, wo er für Menschen oder eine Sache hätte eintreten müssen. Er ist so unpersönlich geworden, daß er auch imVerkehr mit seinen Vertrauten gar nicht mehr recht aussich herausgeht, keine persönliche Meinung mehr äußert, sondern alles in sich verschließt, wenn er überhaupt noch eigenes Denken hat. Das sehen wir überall und erleben es an uns und finden uns damit ab, mehr oder weniger charakterlos zu sein. Wenn der moderne Mensch, was in den bewegten Verhältnissen so oft geschieht, auf die Probe gestellt wird, sein Menschentum in irgend einer Angelegenheit zu beweisen, so versagt er gewöhnlich, und auch hier der Gebildete nicht weniger als der Ungebildete. Er läßt sich zurückhalten, jemand zu helfen, wo er helfen sollte, für jemand einzutreten, der ihm nahe stehen sollte, und dergleichen mehr, weil er sich vor

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dem oder jenem Urteil der öffentlichen Meinung fürchtet.¦24¿ Auch das gehört zum Furchtbaren, was unserem Geschlecht beschieden ist. Wir verlieren den Glauben an die Menschen und die Menschheit, weil jeder von uns, wo er Menschen gegenüber wahrhaft Mensch sein sollte, unmittelbar, natürlich, in geistiger Freiheit, versagt. So werden wir durch das, was seit Tag undJahr und immerfort von außen auf uns einwirkt, in unserer Sittlichkeit und in unserem Charakter geschädigt und hören mehr und mehr auf, sittliche Persönlichkeiten zu sein, ja überhaupt uns noch vorzustellen, was eine solche ist. Und sagt nicht: Wenn einmal wieder normale Verhältnisse in der Welt sind, wird sich das alles wieder geben und das Übel, so groß es auch sei, wird mit der Zeit schwinden. Die abnormen Verhältnisse, unter denen wir lebten, sind anvielem schuld, aber dieWurzel reicht tiefer hinab. Wir sind diesen Verhältnissen so widerstandslos erlegen, weil es uns an Sammlung, an Bedürfnis nach Innerlichkeit gefehlt hat. Wir moderne Menschen waren in dieser Richtung schon schwach, ehe die äußeren Verhältnisse sich so gestalteten. Die Krankheit brach so stark aus, weil wir den Keim dazu schon in uns trugen. Und nur wenn wir den Keim dazu überwinden, können wir genesen, wenn die normalen Verhältnisse in derWelt zurückkehren. Dann gebe ich euch dasWort des Psalmisten «Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist» als ein Adventswort in dem Sinne, daß es für uns lautet: Herr, führe uns aus dem Lärm der gewaltigen Ereignisse in die Stille mit uns selbst. Laß uns uns sammeln, daß wir, die wir uns selber verloren haben an die Weltgeschichte und an dieWeltmeinungen, uns wiederfinden. Prüfe sich ein jeder in der heiligen Zeit des Advents, doppelt heilig in dieser Zeit gewaltigen Geschehens, was ihr in diesen Jahren gedacht und getan habt, was ihr jetzt denkt und tut, ob ihr Mensch geblieben seid und bleibt, Menschen, nicht wie sie in die Mode hineinpassen, sondern wieJesus sie will, Menschen mit Menschlichkeit und Ehrfurcht vor der Wahrheit, innerliche Menschen mit nicht zu ertötender Sehnsucht nach wahrem Menschentum und wahrer geistiger Freiheit, Menschen, die die Maßstäbe der Dinge nicht bei den Menschen der Menge, sondern in ihren Seelen und in Gott suchen. 24 [Auch hierin zeigte sich Schweitzer unabhängig von der öffentlichen Meinung und folgte seinem Gewissen, indem er den aus Straßburg ausgewiesenen Freunden Lebensmittel über die Grenze brachte und sich dadurch bei den Behörden verdächtig machte. Siehe Mühlstein, S. 187. Schweitzer berichtet selber kurz darüber. A. Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, in: Werke Bd. I, S. 192:] «In der Zeit des Waffenstillstandes und in den beiden auf ihn folgenden Jahren war ich eine den Zollbeamten der Rheinbrücke wohlbekannte Persönlichkeit, weil ich gar manchmal mit einem Rucksack voll Lebensmittel nach Kehl wanderte, um von dort aushungernden Freunden in Deutschland etwas zukommen zulassen.»

Deinen Willen1219

Sammelt euch, sammelt euch! Wir brauchen Sammlung mehr als irgendein Geschlecht der Welt, sonst geht unsere Menschheit geistig zugrunde. Sammelt euch, ihr, die ihr euch in den Ereignissen zerstreut. Sammelt euch auch ihr, die ihr Sorgen habt, Sorgen um eure Existenz, Sorgen im Weh und Enttäuschung und Leid, die ihr an Menschen erlebt. Vergeßt auch über Sorgen undWeh nicht, mit euch selber allein zu sein und mit euch selber Vernehmung zu halten. Hört auf den innerlichen Menschen in euch. Werdet stille, daß ihr seine Gedanken vernehmt und glaubt, daß ihr in diesen feierlichen Stunden der Einsamkeit mit euch selbst nicht nur besser werdet an Seele und Charakter, sondern auch die Kraft findet, dasSchwere, waseuch dasSchicksal und die Menschen bereiten können, besser zu tragen, zu verzeihen, wo ihr sonst nicht verzeihen könntet, an die Menschen zu glauben, wo sonst nur Verzweifeln bliebe. Adventsdunkel liegt über demWege der Menschheit; Adventsdunkel über dem, den einjeder von uns gehen muß, demWeg zum innerlicheren, stärkeren Menschen. Er verliert sich im Nebel. Wir wissen nicht, ob er über festes Land, über Sumpf dahingeht, und ob wir nicht über Wasser dahinschreiten müssen. Aber schaut ins Dunkel, da steht ein Mensch, fern. Mitleid, Güte, Liebe, Erbarmen, Verzeihen liegt in seinem Antlitz. Er streckt die Hand nach uns aus – Jesus, der wahre, innerliche, in Gott rein und fest gewordene Mensch, und lächelt uns an und winkt uns tröstend zu sich heran. «Ich lag in schweren Banden, du kommst und machst mich los.»¦25¿ Ja, komm Herr Jesus, mache uns los, die Menschheit undjeden einzelnen von uns. Schicke Sehnsucht nach Sammlung und Innerlichkeit in uns. Gib uns armen Menschen einer schweren Zeit den Advent, den wir brauchen. Wir bitten dich darum.¦26¿

Morgenpredigt Sonntag, 22. Dezember 1918, St. Nicolai 4. Advent

Ps. 40,9: Deinen Willen, mein Gott, tue ich gern

In den Worten des alten Bundes, die ich euch am Altare verlesen habe, stehen sich zwei Weltanschauungen gegenüber. Die eine, die aus den Prophetenworten des Buches Jesaja herausredet, ist zuversichtlich, optimistisch [Jes. 61,1ff; 65,17]. Die andere, die ein frommer jüdischer Denker aus späterer Zeit dem König Salomo in den Mund legt, ist düster, 25 [Paul Gerhardt: Wie soll ich dich empfangen, Str. 4.] 26 [R] Undeutliche Schrift wegen deszerbrochenen rechten Oberarms.

1220 Predigten desJahres 1918

pessimistisch [Koh. 1–2]. Wir wissen, zu welcher wir uns bekennen wollen. Advent feiern heißt an eine Zukunft der Welt glauben im Geiste und Sinne der Propheten, in der sich das Gute und das nach Gottes Willen Sinnvolle für die Gesamtheit und für die Einzelnen verwirklicht. Aber ihr wißt es von euch selber: Es ist nicht so einfach, die hoffnungsvolle Weltanschauung festzuhalten. Die andere, die trostlose, läßt sich nicht leicht verscheuchen, sondern kehrt immer wieder und will uns irremachen. Darum wollen wir an diesem letzten Advent in furchtloser Wahrhaftigkeit mit uns selbst versuchen, uns davon Rechenschaft zu geben, warum wir gegen alle Einwände der trostlosen Weltanschauung dennoch danach ringen, Jünger der Propheten, Menschen, die als Hoffende stark und frei und tätig im Leben stehn, zu bleiben. Die elementare Frage, um die es sich handelt, und auf die wir immer wieder zurückgeworfen werden, ist die, ob unser Leben, ob die Welt einen Sinn habe. Beides hängt zusammen. Nur wennjedes Einzeldasein einen Sinn hat, kommt ein solcher dem Sein derWelt und der Menschheit zu, und nur wenn die Welt und die Menschheit einen Sinn haben und wir uns selber als arbeitende Kräfte in dem Ziel, das ihnen gesteckt ist, erfassen, hat unser Leben eine befriedigende Bedeutung für uns. Unser ganzes Leben hängt davon ab, wie wir uns dazu stellen. Aus der zuversichtlichen, hoffnungsvollen Weltanschauung kommt Kraft zumWirken, Kraft zum Guten. Ist sie uns versagt, so schleppen wir uns durchs Dasein ohne Glauben an uns selbst, ohne Glauben an die Menschen, ohne Kraft zum Guten, religiös gesprochen: Wir müssen die Überzeugung haben, in unserem Dasein denWillen Gottes zu erfüllen, der uns zu etwas braucht, das er in der Welt verwirklichen will, so bescheiden es auch sein mag, dann wird es licht in uns. «Deinen Willen, mein Gott, tue ich gern»; so sprechen zu können, ist Lebensglück, das unabhängig ist von allen äußeren Lebensumständen. Schauen wir uns die Dinge an, wie sie sind, voraussetzungslos; wer hat da recht, die optimistische oder pessimistische Weltanschauung? Die

pessimistische. Unser Auge, unser äußerer Sinn sieht nichts anderes als der Prediger Salomo: Entstehen undVergehen; statt Fortschritt verworrene Wiederkehr der gleichen Entwicklungen; viel Unglück, wenig Glück; viel Ungerechtigkeit, wenig Gerechtigkeit; viel Phrase, wenig Wahrheit; und die Summe unseres eigenen Lebens, und wenn uns die Menschen ob unserer Gaben und unseres Glückes beneiden, ist etwas ganz Unbefriedigendes, so daß wir, wenn wir den Mut haben, wahrhaftig gegen uns selbst zu sein, das Nichtsein für besser erklären müssen als das Sein. «Eitelkeit der Eitelkeiten». «Alles ist eitel» [Koh. 1,2; 12,8]. Dieses Wort verfolgt uns. Es ist die Erklärung, die sich natürlich bietet zu den großen und kleinen Dingen. Es gab eine Zeit, bis vor etwa zwei Menschenaltern, wo man von

Deinen Willen

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der immer tiefer eindringenden Wissenschaft erwartete, daß sie eine optimistische, zuversichtliche Weltanschauung begründen könne. Einen Augenblick schien es auch so. In der Zeit, als Kant, Fichte und Hegel ihre philosophischen Systeme aufstellten, da konnten die Zeitgenossen sich der Freude hingeben, daß Zweck und Sinn desWeltenseins und des Menschenseins nun in tief eindringender Erkenntnis begriffen seien und der Wille zum Guten und die Zuversicht in den Sieg des Guten durch Überlegung zu erweisen schien fürjeden, der verstehen wollte. Aber diese kühne Erkenntnis brach zusammen. Wir haben kein solches Vertrauen mehr in die Wissenschaft. Wohl sind wir tief in die Geheimnisse der Natur eingedrungen, wir haben Macht über sie erhalten; aber nirgends haben wir eine Antwort auf die elementare Frage nach dem Endzweck des Seins gefunden. Immer finden wir nur eine Zweckmäßigkeit, oft eine wunderbare Zweckmäßigkeit auf die Erhaltung des Seins, auf dieses uns verwirrende tausendfältige Entstehen, Vergehen und Wiederkehren, aber dem Sinn des Seins sind wir nicht näher gekommen, nicht um einen Schritt. Die Erkenntnis hat uns arm gelassen.

Auch unsere tiefere Erkenntnis der Geschichte führt uns nicht zur Überzeugung, daß sich in den Schicksalen der Menschheit ein Zweck verwirklicht, im Gegenteil. Sie verwirrt uns, indem sie uns zeigt, daß an dem Webstuhl der Zeit nicht ein planvolles Werk in Arbeit ist. Was der Menschheit geistig erworben war und gesichert schien, geht unversehens verloren, und man weiß nicht, wie es wiederkehren soll. Die Fäden reißen, schleifen und verwirren sich. Überall ist nur Aufeinanderfolge von Altem und Neuem, aber nicht mit Sicherheit wirklicher Fortschritt zu entdecken. Ich wage mitleidslos, fast unfromm zu reden, weil nichts gefährlicher ist als schwankende Stützen. Es gibt manche Menschen, die wollen uns die zuversichtliche Weltanschauung einreden, indem sie uns sagen: Macht es wie wir, sucht die Dinge mehr von der guten Seite zu sehn. Wir aber suchen Wahrheit. Und ein getrübter und absichtlich unscharfer Blick ist dabei nicht zu brauchen. Und ich wage auch, dieses Harte zu sagen, weil mir gewiß ist, daß die äußere Erkenntnis in der Frage der Weltanschauung nicht das letzte Wort zu sprechen hat. Wir fühlen alle, wenn wir solche Stunden haben, in denen wir dem Prediger Salomo mit seinem furchtbaren «Alles ist eitel» [Koh. 1,2] recht geben wollen, daß sich etwas in uns dagegen auflehnt, und daß dieses Ergeben in die pessimistische Weltanschauung aus einer Müdigkeit und Traurigkeit kommt, daß aber unser Geist, wenn er frisch ist, sich dagegen wehrt, bis aufs Äußerste, wie gegen eine Art von geistigem Tod. Was ist es nun in uns, das sich gegen dasTrübselige, das uns die Erkenntnis aufdrängen will, wehrt? Der Wille. Weltanschauung ist nicht

1222 Predigten

desJahres 1918

nur Erkenntnis, sondern ein geheimnisvolles Gemeinsames von Wille und Erkenntnis, wie unser Wesen beides ist, rätselhaft, Wille und Erkenntnis. Das tiefere und ursprünglichere ist derWille; wir schaffen ihn uns nicht, sondern er ist in uns da, eine Erscheinung des unendlichen Weltwillens, und dieser Wille wehrt sich, wenn er gesund ist, gegen die pessimistische Weltauffassung der Erkenntnis und will sich eine Erkenntnis schaffen, die dem dunkeln, hoffenden Drang in ihm ent-

spricht. So liegen unser Erkennen und unser Wollen miteinander im Zwiespalt als Hoffnung und als Trostlosigkeit. Keines kann das andere ganz besiegen. Wem geben wir recht? DemWillen. DerWille sagt zuuns: Du sollst leben undwirken. Dein Leben hat einen Sinn, das Sein der Menschheit hat einen Sinn, die Welt hat einen Sinn, auch wenn du es mit deiner Erkenntnis nicht siehst und begreifst. Der Wille selber ist ein geheimnisvolles, dunkles Erfassen der Dinge von innen heraus, aus ihrem Wesen heraus, ein Wissen, das unmittelbar aus der letzten Wahrheit von den Dingen kommt. Aus dem Willen kommt der Glaube, denn dieser ist nichts anderes als eine von dem Willen geschaffene Erkenntnis, eine Erkenntnis, wie sie mit ihm in Harmonie ist. Das ist dasGroße und zugleich dasSchwache an dem Glauben. Die Propheten, Jesus, die Apostel, unsere Väter waren glücklicher als wir. Wille und Erkenntnis gingen bei ihnen noch nicht so auseinander wie bei uns, weil die äußere Erkenntnis noch nicht so ausgebildet war. In unbefangener Weise ordneten sie das Erkennen dem Wollen unter und brachten so beide in Einklang. Sie glaubten, daß Gott wie ein Regent in dasWeltgeschehen eingreife, und glaubten zu verstehen, wie er eingreife, und seine Gedanken und die Geschehnisse im voraus zu wissen. Darum waren sie der Zuversicht, daß sich ein neuer Weltzustand mit Macht anbahne, und hatten auch über die Bedeutung des Lebens des einzelnen so viele das Herz und die Seele befriedigende Gewißheiten. In dieser geschlossenen Weltanschauung, dieser einfachen Weltanschauung, fanden sie Halt und Stärke. Aber zugleich waren sie dem ausgesetzt, daß dieWirklichkeit ihrer Weltanschauung nicht entsprach und die zuversichtlichen Erwartungen, die ihnen Halt undWirkungsfreude und Frieden im Leben gegeben hatten, nicht eintrafen. Uns ist bestimmt, ärmer an greifbaren Hoffnungen, ärmer auch an Enttäuschungen zu sein. Das Weltbild, das ihr Glaube geschaffen hat, können wir in vielem nicht einfach zu dem unsrigen machen, das Erkenntnismäßige daran ist für uns abgetan. Aber der Wille, der in ihrer Weltanschauung lebt, den lassen wir in uns weiterleben, auch wenn wir ihn nicht wie sie durch äußeres Erkennen und Wissen stützen können.¦27¿

27 [R] Glaube: eine gewollte Erkenntnis.

Deinen Willen

1223

So vieles, worauf ihnen eine geschlossene, optimistische Weltanschauung Antwort gab, müssen wir dahingestellt sein lassen. Eine Resignation des Erkennens ist uns auferlegt, die sie noch nicht zu kennen brauchten. Es soll so sein. Alle Täuschung, auch die wohltuende, muß überwunden sein, damit der Weg derWahrheit frei werde, selbst wenn dieser Weg schwerer ist als wir wollten. So sagen wir: In unserem Herzen lebt einWille, ein Glaube, daß unser Dasein und das Dasein der Welt einen Sinn hat, daß es einen Fortschritt gibt zur Wahrheit und zum Guten, daß dieses Leben, mag es auch an Unglück uns viel mehr bringen als an Glück, wertvoll ist und kostbar ist, gelebt zu werden, weil sich in ihm ein Zweck verwirklicht, wenn wir es zum Guten gebrauchen. «Weicht ihr Trauergeister!»¦28¿ Wir können diesen Glauben nicht erweisen durch Erkenntnis. Die innere Anschauung derWelt und die äußere decken sich nicht. Aber dieser Glaube, dieses Fundament desGlaubens, wird durch denWillen, den wir in uns erleben, getragen, der Wille, der uns antreibt, im Sinne des Guten und des Fortschritts an uns und an der Welt zu wirken. Diesem folgen wir, unbeirrt, wie uns die Welt erscheinen mag, in ihm erheben wir uns über die Müdigkeit, über Enttäuschungen. Er ist das geheimnisvolle Band, das uns mit dem Unendlichen, mit demWesen derWelt, mit Gott verbindet. Unsere Zuversicht kommt aus dem Willen zum

Guten. So gehen wir unseres Weges. «Gott, deinen Willen tue ich gern», das ist unsere Losung.¦29¿ Im Wirken suchen wir Kraft. Mag alles andere dunkel bleiben; diese Helligkeit, die wir in uns tragen, kann nicht erlöschen. Mag dieser Wille Schweres von uns verlangen im Leiden und im Wirken, wir wissen, daß wir im Tun undWirken Glück und Frieden finden, wenn wir nur den Willen Gottes rein in uns vernehmen, ihn suchen und heilig halten. So feiern wir in einer großen, schweren, rätselhaften Zeit Advent. Begeisternde Hoffnungen, wie die Propheten, können wir aus unserer Weltanschauung nicht schöpfen. Und doch bleiben wir ihrem Geiste treu und grüßen sie als Brüder überJahrtausende zurück, denn auch wir wollen uns als hoffende Menschen, als Optimisten, im tiefen, edlen Sinn desWortes, erfassen und als solche leben.¦30¿

28 [Johannes Franck: Jesu, meine Freude, Str. 5.] 29 [R] = letzte Weisheit. 30 [R] Samstag, 21. 12. 1918. In der Nacht. Komme von der «Enfance du Christ «von Berlioz zurück.

1224 Predigten desJahres 1918

Nachmittagspredigt Sonntag, 29. Dezember 1918, St. Nicolai

I Thess. 5,18: Seid dankbar in allen Dingen

Ein großes, vielleicht das größte und entscheidungsvollste Jahr in der Weltgeschichte geht seinem Ende entgegen. Konnte es den Frieden noch nicht bringen, so setzte es doch dem Toben der Waffen ein Ende. Alle empfinden wir es, wie sich auch die Dinge gestalten mögen, als eine große Beruhigung, daß wir jetzt nicht, wie mehrmals an der Jahreswende, uns fragen müssen, wie lange in dem neuen Jahre dasMorden noch andauern werde. DasJahr der großen Ereignisse ist auch dasJahr der großen Sorgen. Niemals haben wir am Ende desJahres auf so viel Schweres zurückgeblickt, daswir durchmachen mußten, niemals haben wir so viel Sorgen mit lieben Menschen erlebt als in diesen Tagen, wo alles sich neu gestaltet, und die Unsicherheit der Existenz neben allem Schweren, was das Jahr uns sonst an Entbehrungen, an Verlusten an Menschen gebracht hat. Dies kommt fast einem jeden zu Bewußtsein, sei es für ihn selber, sei es für solche, die ihm nahe stehen.¦31¿ Wie nun von diesem Jahre scheiden? Mit welchen Gedanken in diesen letzten Tagen auf es zurückschauen? Laßt der Sorge ihr Recht. Aber alle fühlen wir auch, daß wir aus diesem Kessel auf die Höhe kommen müssen, um andere Luft zu atmen. Nun wollen wir dazu einen verborgenen Pfad betreten, den uns der Apostel Paulus zeigt, den Pfad der Dankbarkeit. Er ist nicht leicht zu finden. Man muß zuerst dasGebüsch auseinanderbiegen, bis er klar wird. Dankbarkeit eine Hilfe gegen Sorge! Ja, wie man auch mit Schnee ein erstarrtes Glied warm reibt. «Seid dankbar in allen Dingen», sagt der Apostel Paulus. «In allen Dingen», auch in den Dingen, die sich trübe ansehn, auch da, wo es euch gar nicht darum ums Herz ist. Es ist mit dem Danken ein eigentümlich Ding. Wenn jetzt jeder von uns auf das verflossene Jahr zurückblicken und Gott für Gutes, das ihm zuteil geworden ist, danken soll, so sagt er bei sich: Dieses Inventar ist bald gemacht. Es ist nicht viel. Nun sei ernst mit dir und fange einmal an, aber in aller Aufrichtig31 [Schweitzers hatten neben den gesundheitlichen Problemen noch große finanzielle Schwierigkeiten. Denn sie hatten für den Betrieb des Spitals während der Kriegsjahre bei der Pariser Mission Schulden machen müssen. G. Woytt beziffert die Summe auf vier Jahresgehälter. Schweitzer verdiente 1918 als Arzt und alsVikar zusammen etwa 5000 Franken imJahr. Die Schulden betrugen 21600 Franken. G.Woytt, Zwei Dokumente zur Rückführung vonAlbert undHelene Schweitzer nach Europa im Oktober 1917, in: AS Bd. II, S. 233– 235.]

Seid dankbar in allen Dingen

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keit; schau suchend in dein Leben hinein. Da taucht aus dem Dunkel ein heller Fleck nach dem andern auf, wenn dein Auge nur dankbar sehen will. Wer als lernender Arzt zuerst an das Mikroskop kommt, um Gewebe von Geschwülsten zu untersuchen oder um Bakterien festzustellen, ist in der ersten Zeit erstaunt, nicht das zu sehen, was andere zu sehen angeben oder was in den Büchern abgebildet ist. Aber mit der Zeit wird sein Auge scharf, weil er es dazu zwingt und anleitet, und er wundert sich, vorher so viel übersehen zu haben. So ist es auch mit dem Danken. Fang an zu überdenken die Gefahren, in denen du standest und ausdenen du herausgingst. Siehe, wer dasJahresende gesund erlebt, der soll schon dafür allein voll Dankbarkeit sein für sich und die Seinen, denn nicht nur die draußen im Felde, sondern auch die daheim waren bedroht durch die verheerenden Krankheitskeime, denen sie ausgesetzt waren. Wie viele sind doch neben uns davongerafft worden oder dem langsamen Siechtum verfallen. Hast du Nahrung gefunden? Wie antwortet dein Dankbarkeitssinn auf diese Frage? Nimmt er auch dies als etwas Selbstverständliches hin? Hast du Menschen getroffen, die gut zu dir waren? Hast du in etwas Erfolg gehabt? Sind dir Freunde beschieden gewesen? Stelle dir alle diese Fragen; durchleuchte dieses Jahr damit, such es ab wie mit einem Scheinwerfer! Siehe, es gibt zwei Arten von Menschen. Die einen nehmen das Gute als etwas Selbstverständliches hin. Sie folgen damit unserem natürlichen gedankenlosen Empfinden und regen sich nur über das Böse, das ihnen begegnet, auf, aber nicht auch über das Gute. Die andern Menschen sind in der großen Minderzahl und erstaunen auch über das Gute. Womit habe ich das verdient, ich bin doch nicht besser als andere Menschen? fragen sie sich, wo die andern gedankenlos hinnehmen. Mit dieser Frage schau in das vergangene Jahr hinein. Da siehst du so manche Errettung, so vieles, was dir zuteil geworden, daß du nicht mehr verstehen kannst, wie du gedankenlos weitergehen wolltest. Darf ich euch von etwas sprechen, was mich selber bewegt in diesen Tagen? Bisher nahm ich es als natürlich hin, daßich seinerzeit ruhig studieren und dann in die pfarramtliche Tätigkeit eintreten konnte. Heute, wo ich diejungen Leute sehe, die vierJahre im Felde standen, keine Jugend hatten, nicht studieren konnten oder ihre Studien unterbrechen mußten undjetzt in einem Alter, wo wir schon wirken durften, neu zu lernen anfangen müssen: Jetzt kommt mir, was mir selbstverständlich schien, als eine große Gnade vor, die das Unangenehme und Traurige, über dasich mich beschweren wollte, vielmals aufwiegt. So wage ich, in der Annahme, daß unter euch solche sind, die zu den am schwersten Geprüften gehören, auch zu sagen: Bereitet die Herzen zur Dankbarkeit! Denkt nur an so manche Angst, die euch ängstigte und die dann von euch genommen wurde!

1226 Predigten desJahres 1918

Wenn du dich nun so in Dankbarkeit sammeln willst, dann kommt die störende Frage: Warum soll ich denn dankbar sein und wem? Kommt denn das, was mir geschieht von Gott, oder ist es nicht alles Schicksal, Verkettung von Geschehnissen, die in sich bestimmt sind? Ich glaube, daß diese Frage eine Ablenkung von der Dankbarkeit nicht sein darf, wie man sie auch entscheide. Nehmen wir den äußersten Fall an, daß du ausinnerer Überzeugung zuletzt sagen zu müssen glaubst: Es ist doch alles nur Schicksal. Gut. Nun sei gegen das Schicksal, gegen diese unpersönliche Leitung der Geschehnisse deines Lebens dankbar. Fühle dich verpflichtet, das Gute, das dir geschieht, anzuerkennen, und fühle dich beschämt, wo du nicht besser bist als andere, ein gnädiges Los empfangen zu haben. Wenn du so nachdenklich bist, darf man dir schon sagen wie Jesus dem Schriftgelehrten: «Du bist nicht ferne vom Reich Gottes» [Mk. 12,34]. Aber siehe, wenn wir auch so viel dahingestellt sein lassen müssen, was dasWalten der Macht angeht, die unsere Geschicke bestimmt, so glaube ich, daßjeder, der tiefer in sein Leben hineinschaut, darin etwas Sinnvolles entdeckt, dasWalten einer geistigen Macht, die mit dem Geiste, den er selbst in sich trägt, in Beziehung steht. Für diese tiefere Betrachtung der Dinge hören dann die Geschehnisse, die ihn betreffen, auf, nur Schicksal zu sein, sondern sie werden von ihm, in einem nur ihm begreiflichen, innerlichen Schauen mit einem Willen, der ihn geheimnisvoll, nicht zum äußeren Glücke, sondern zur inneren Vollendung führen will, zusammengebracht. DemWillen, dem Vaterwillen Gottes, von dem unsJesus redet, fühlen wir uns dann unterworfen und dankbar. Keiner kann ihn dem andern für sein Leben erklären; man darf ihn auch nicht so äußerlich fassen wollen, wie es oft geschieht; jeder erkennt ihn nur innerlich für sich, äußerlich unbeweisbar. Diesen Willen dankbar erleben für dieses zu Ende gehende Jahr, das heißt, recht von ihm scheiden. Noch eins: Habt nicht nur Dankbarkeit gegen Gott, sondern auch gegen die Menschen. Überlege in diesen letzten Tagen, von wem du Gutes empfangen hast, sei es Hilfe im großen oder im kleinen, sei es eine Wohltat irgendwelcher Art, ein gutes Wort, eine Bezeugung der Teilnahme, Verständnis für das, was du wolltest oder was dich bewegte. Sag dann nicht: Er hat kein großes Verdienst in dem, was er für mich gemacht hat, denn er bedurfte keiner großen Mühe dazu, sondern überleg nur, was das, was er dir bezeigte, in jenem Augenblick für dich war, was du von ihm empfangen hast. Und wenn du kannst, laß dasJahr nicht zu Ende gehn, ohne daß du ihm auch in einem Worte sagst oder sonst irgendwie bezeugst, daß du dich dankbar fühlst und es ihm nicht vergessen hast. Dann erlebt ihr beide Glück und werdet besser dadurch und reicher zugleich, denn der herrlichste Reichtum ist der an Menschen, an Menschen, die sich ver-

Seid dankbar in allen Dingen

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stehen und die sich durch Schicksale des Lebens zueinander geführt und untereinander verbunden fühlen.

So beherzigt das Wort des Apostels: «Seid dankbar in allen Dingen». Es sei euch eine Pforte, die ihr euch erbaut, um unter ihr aus dem alten in dasneueJahr zu treten.

XVIII. Predigten desJahres 1919

Mardi, 28 janvier 1919, St Nicolas Mariage Carlier-Brendermann

[Ohne Text]

Mon frère, ma sœur, Vous m’avez demandé de bénir votre union. Vous êtes des inconnus pour moi comme je le suis pour vous. Il y a quelques jours encore votre nom n’avait jamais résonné à mon oreille et le mien pasà la votre. Et pourtant, sije dis mon frère, ma sœur, je ne le fais pas pour rester dans le langage du premier christianisme, mais cette appellation répond pour moi à une réalité et sije bénis votre union ce n’est pas seulement en ma qualité de prédicateur de l’Evangile, mais aussi avec une émotion tout à fait personnelle. Je vous sens frère et sœur dans la foi et dans l’espérance et dans l’esprit chrétien. Ses aspirations qui ont été les mobiles de mavie mouvementée, je les ai retrouvés chez vous, cher frère, dans les paroles que nous avons échangées à notre seul entretien, il y a quelques jours. Je les résume ainsi: Nous croyons à l’avènement du règne de Dieu. Nous le voyons; Cela n’est pas une vraie formule pour nous ou une partie de l’enseignement chrétien, vénérable partie, mais qui n’est plus vivante pour nous. Nous croyons que c’est l’esprit de Dieu qui doit transformer ce monde et que nous sommes tous appelés à travailler à cette transformation spirituelle. Et parce que nous le croyons, nous vivons presque comme étrangers au milieu de notre génération. Nous ne pouvons partager ses haines et ses passions; ce qui lui semble important, est pour nous au second et au troisième plan; Ce qu’elle prône et déclame comme de grandes vérités sonne à nos oreilles comme des phrases veines. Nous cherchons des hommes qui soient humains au sens profond de l’esprit du Christ et nous devons nous résigner à voir même ceux, que nous croyons vraiment chrétiens, emportés dans le grand courant de la non-chrétienté de nos jours à adorer desphrases aulieu delavérité. En fondant votre union vous fondez un foyer, d’où doit luire la lumière du vrai christianisme, de le faire en l’avènement du règne de Dieu. Que Dieu vous bénisse. Qu’il vous donne à tous les deux la force d’ être toujours sincères, véridiques, sévères avec vous-même, qu’il vous

Und er kam in seine

Vaterstadt1229

préserve de tout pharisianisme, qui est le grand danger pour ceux qui recherchent le chemin de la piété. Vous vous proposez de servir Dieu en portant sa parole chez ceux qui ne le connaissant point encore et en même temps en leur portant, tous les secours et tous les soulagements de notre art médical. Mon frère: on vous blâmera, on vous fera toute sorte d’objection sur vos projets. Laissez-moi, en cette heure, vous encourager à rester ferme dans vos décisions. J’ai suivi un chemin analogue au vôtre. Ayant déjà d’une bonne distance dépassé les années qu’on consacre ordinairement aux études, je me suis mis à la médecine, j’ai obtenu mes grades et je suis parti pour les terres lointaines et ce quej’ai vu en fait de misères là-bas et de bien que peut faire le médecin qui se dévoue à ces malheureux dans l’esprit du Christ et fortifié par la communion avec le Christ, m’a démontré la nécessité de cette œuvre et en même temps les résultats qu’on peut y obtenir, aidé par une compagne dévouée. Votre chemin sera dur.Vous avez devant vous des années d’études qui seront dures. Vous serez rongés par l’impatience de pouvoir enfin agir et vous dépenser. Et quand vous arriverez sur votre champ d’activité, vous trouverez encore que votre idéal doit s’expliquer avec les soucis de tous les jours, qu’il faut s’armer de patience, de ténacité pour être au-dessus despetites déceptions et desgrands ennuis. Mais mon frère et ma sœur, tout cela ne sera rien par rapport au privilège que vous avez de pouvoir consacrer votre vie à une œuvre au service de notre Seigneur. Sentez-le toujours bien ce privilège, qu’il vous rende heureux et modestes. Et que la pensée de ce grand privilège, la pensée du travail à faire pour le Christ vous unisse pour toujours dans votre vie et vienne s’ajouter comme l’amour éternel à l’affection maternelle que vous avez l’un pour l’autre. Ainsi soit-il. Amen.

Nachmittagspredigt Sonntag, 2. Februar Heimatlosigkeit¦2¿

1919,¦1¿

St. Nicolai

Mk. 6,1–6: Und er kam in seine Vaterstadt¦3¿ Ein tragisches Ereignis im Leben des Herrn wird in unserem Texte in nüchternen Worten erzählt: Er verliert die Heimat. 1 [Am Sonntagabend hat Albert Schweitzer für Annie Fischer eine Abschrift der Predigt gemacht. Die dabei vorgenommenen wichtigsten Ergänzungen sind unter [E] in den Fußnoten angegeben.]

2 [R] Heimatlosigkeit. [Albert und Helene Schweitzer haben darunter auch gelitten. Mühlstein, S. 187: «Albert Schweitzer geht es nicht besser als seiner Frau. Auch er verliert einen großen Teil seiner Freunde.»]

1230 Predigten desJahres 1919

Die Leute in seiner Vaterstadt verstehen ihn nicht mehr und er sie nicht mehr. Er ist ein Fremder für sie geworden, und seines Bleibens, wenn er kam, um sich zu Hause zu erholen und Heimatfrieden zu suchen, ist nicht fürderhin zu Nazareth. Die Genossen und Freunde ärgern sich an ihm, und auch in seinem Vaterhause findet er keine Heimat, denn die Seinen, wir lesen es am Schluß des dritten Kapitels des Evangeliums desMarkus, haben ihn schon einige Wochen vorher als von Sinnen erklärt und sich von ihm losgesagt. Warum verliert er die Heimat? Er nimmt sich dasRecht heraus, seine eigenen Gedanken zu haben. Er ist nicht beschäftigt mit dem, was in Nazareth an derTagesordnung ist. Die Ereignisse, welche dort für wichtig gehalten werden, sind es nicht für ihn. Er mißt den Diskussionen über die Auslegung dieses und jenes Gesetzes oder Gesetzchens keine Bedeutung bei; er macht nicht mit in der Selbstgerechtigkeit, die an der Tagesordnung ist, underklärt nicht alles alsverdammt, wasseine Volksgenossen verdammen. Zöllner, Sünder und Heiden sind für ihn auch Menschen und Brüder. Seine Gedanken gehen auf dasReich Gottes, auf das an sich Gerechte, auf das an sich Gute, auf das an sich Reine, auf das an sich Wahre. Und wo sie dies aus seinen Worten merken, sind sie mit ihm fertig. Sie erlauben nicht, daß der, den sie von Kindheit auf kennen, den sie als einen der Ihrigen in Anspruch nehmen, etwas anderes denkt als sie und höher hinaus denkt als sie. Wir, Kinder unserer Zeit, haben ein besonderes Verständnis für dieses schwere Erlebnis des Herrn, denn es wiederholt sich in mannigfacher Weise in diesen Tagen vor unsern Augen. Viele verlieren in diesen Monaten durch die Neuordnung der Dinge in der ganzen Welt die Heimat, die sie besaßen. Andere erleben die innere Heimatlosigkeit, indem sie, in der Heimat bleibend, den Ihrigen doch so fremd werden, daß sie auf heimatlicher Erde heimatlos sind. Ich wage zu sagen, daß keinem, der mit Ernst an das Reich Gottes denkt, dasErleben dieser geistigen Heimatlosigkeit ganz erspart bleibt. Nicht von heute oder gestern, sondern seit Jahr undJahr wird er Fremdling in der Gesellschaft, in der wir leben, und aus demselben Grunde wie Jesus: Weil er in der Beschäftigung mit dem Reiche Gottes eigene 3 [Und er ging aus von da und kam in seine Vaterstadt; und seine Jünger folgten ihm nach. Und da der Sabbat kam, hob er an, zu lehren in ihrer Schule. Und viele, die es hörten, verwunderten sich seiner Lehre und sprachen: Woher kommt dem solches? Und wasfürWeisheit ist’s, die ihm gegeben ist, und solche Taten, die durch seine Hände geschehen? Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn, und der Bruder desJakobus undJoses undJudas und Simon? Sind nicht auch seine Schwestern allhier bei uns? Und sie ärgerten sich an ihm. Jesus aber sprach zu ihnen: Ein Prophet gilt nirgend weniger denn im Vaterland und daheim bei den Seinen. Und er konnte allda nicht eine einzige Tat tun; außer wenig Siechen legte er die Hände auf undheilte sie. Und er verwunderte sich ihres Unglaubens. Und er ging umher in die Flecken im Kreis und lehrte.]

Und er kam in seine Vaterstadt

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Gedanken hat und Ideale bekennt, die unsere Zeit nicht gelten lassen will. Der moderne Geist ist noch unduldsamer als der jüdische, obwohl er sich als Geist der Freiheit ausgibt. Behorcht ihn genau, und aus tausend Äußerungen werdet ihr immer wieder das eine Gesetz heraushören: Du sollst keine eigenen Gedanken haben neben mir. So wie die öffentliche Meinung ist, so sollst du denken. Du sollst nicht auch noch etwas anderes daneben denken. Du sollst auch die Gedankenmode mitmachen und verherrlichen, was jetzt verherrlicht wird, und verdammen, was jetzt verdammt wird, wenn du auch wohl weißt, daß, was jetzt verherrlicht wird, später einmal ebenso allgemein verdammt wird, und was jetzt verdammt wird, später einmal ebenso allgemein verherrlicht werden wird. Und was sich seit Jahrzehnten ausgebildet hat, das tritt, wo gewaltige Ereignisse die Zeit und die Geister bewegen, unheimlich, mit naturhafter Gewalt, zutage. Und in dem Maße, wie diese Ereignisse die Menschen gefangen nehmen, verlieren sie das Verständnis der reinen Ideen, die das Reich Gottes ausmachen. Sie sind von dem Geistigen auf das Natürliche abgelenkt und ziehen das Ideal herunter, indem sie es mit ihren Gedanken vermengen. Sie veräußerlichen die Ideale, die uns vorschweben sollen, wie die Juden die Idee des Reiches Gottes in ihre engen und menschlichen Gedanken hineinzogen. Wer das reine Ideal hochhält, der ist der geheime Feind4, an dem man Ärgernis nimmt. Aber Jesus zeigt, wie die, die um der reinen Ideale willen die Heimatlosigkeit erleben, diese tragen sollen. Er, der so gewaltig reden kann, der so furchtbare Worte für den Unglauben Chorazins und Bethsaidas findet [Mt. 11,21], bleibt in Nazareth gelassen. Fast entschuldigend führt er an, daß der Prophet, dem alten Sprichwort nach, in seinem Vaterland nichts gelten könne. Er setzt sich mit ihnen nicht auseinander, er lehnt sich nicht auf, sondern als er sich unverstanden sieht, zieht er sich auf sich selbst zurück. So müssen auch die, denen heute die äußere oder die innere Heimatlosigkeit zum Los geworden ist, dieses schweigend tragen. Heimatlosigkeit ist etwas so Gewaltiges, daß es keinen Lärm duldet. Es ist ein erhabener Schmerz, dem menschliches Klagen und Jam mern und Rechten fernbleiben muß. Zum Schwersten der Heimatlosigkeit gehört, daß man nicht wirken kann, was man zu wirken imstande wäre und wirken möchte. Auch dies hat Jesus erlebt. Er kam nach Nazareth in der Zuversicht, hier wie an andern Orten Kranke, deren Leib krank war, weil die Seele litt, durch die Gewalt, die von seinem reinen Geiste auf Menschen ausging, heilen zu können. Und solcher Zeichen konnte er daselbst keine tun.

4 [E] der vielen

1232 Predigten desJahres 1919

So trifft es auch in unserer Zeit viele, daß sie, weil in irgendeiner Art heimatlos geworden, dasBeste, was sie geben möchten, nicht mehr geben können und untätig bleiben müssen, wo sie etwas zu leisten hätten. Dies ist so schwer wie der Schmerz, der schweigend getragen werden muß. Und doch will Heimatlosigkeit nicht nur heißen: Nicht geben können, was man geben möchte, sondern sie ist ein Erlebnis, das geistige Bedeutung hat. Denn in dem Heimweh um die natürliche Heimat, das weh tut, wächst das¦5¿ Heimweh nach der großen Heimat, dem Reich Gottes, das Heimweh, das wohl tut. Wie heißt es so wunderbar in dem Briefe an die Hebräer? «Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir» [13,14]. Einsam werden bedeutet Verbitterung oder Vertiefung.¦6¿ Es muß sein, daß Menschen in unserer Zeit gewaltsam losgelöst werden von dem, was uns sonst in unserer Umgebung fesselt,¦7¿ und damit frei werden zum Sinnen auf das allgemein Menschliche und auf die Dinge des Reiches Gottes, Menschen, erhaben über alle Vorurteile, die die Dinge sehen, wie sie sind, und in einem großen Schmerz um Frieden gerungen haben. Jesus, der Heimatlose, hat der Welt viel gegeben. So dürfen auch die, die heute erleben, was er erlebte, bei sich denken, daß auch sie von dem, was sie sich in dieser Traurigkeit erworben, der Welt etwas, daskostbar ist, zu geben haben. Jesus hat gesagt, daß, wer sein Jünger sein will, sein Kreuz auf sich nehmen und ihm nachfolgen solle [Mt. 16,24]. Mannigfach sind die Kreuze und Kreuzlein, die den Menschen bestimmt sind. Oft gehen wir unachtsam an ihnen vorbei, nicht merkend, daß ein Schicksal für uns dasKreuz ist, in dem wirJesus nachfolgen sollen. Erdulden wir Leiden, erfahren wir Ungerechtigkeit, wie oft zerarbeiten wir uns dann mit unserem ohnmächtigen «Warum?», wo es für uns naheliegen sollte, daß wir es als das Kreuz, das uns mit Jesus vereinigen soll, erkennen. Und weil wir es nicht erkennen, gehen wir des Segens verlustig, den es uns

brächte.

So ist in unserer Zeit gar manchen ein Kreuz zur Nachfolge Jesu bestimmt, an das wir nicht dachten und das wir so früher nicht kannten, ein schweres, drückendes Kreuz, das Kreuz der Heimatlosigkeit. Aber der Herr hat es getragen; darum, wenn es dir bestimmt ist, klage und 5 [E] andere 6 [E] An der Heimatlosigkeit geht man zugrunde oder man wird in ihr geläutert. 7 [E] damit sie frei werden, den Sinn auf das allgemein Menschliche, auf das Reich Gottes zu richten. Es muß sein, daß Menschen durch die Heimat, die sie verlieren, damit auch frei werden von allen Vorurteilen, die sich damit verbinden, und die Dinge sehen, wie sie sind, als solche, die in einem großen Schmerz Frieden gefunden haben und dadurch wissend geworden sind.

Das große Gebot

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zage nicht, sondern nimm es auf und finde den Herrn in diesem Kreuze und finde den Segen, den es dir bringen kann.¦8¿

Morgenpredigt Sonntag, 16. Februar 1919, St. Nicolai¦9¿ 1. Predigt über ethische Probleme

Mk. 12,28–34: Das große Gebot¦10¿ Der Schriftgelehrte, der die Frage nach dem großen Gebot an Jesus stellt, ist lernbegierig. Er möchte Bescheid haben über etwas, das ihn wie andere Volksgenossen beschäftigt hat. Im Evangelium Matthäus, dem Berichte des 22. Kapitels zufolge, stellen Schriftgelehrte diese Frage an Jesus, um ihn zu versuchen. Aber der Evangelist Markus hat sicher die bessere Erinnerung, wenn er den sympathischen Auftritt schildert, in demJesus und ein Schriftgelehrter sich für einen Augenblick verstehen und sich ins Herz schauen, um dann wieder auseinander zu gehen. Damals wurde unter den denkenden Israeliten die Frage erwogen, wie alle Gesetze und Gesetzlein auf ein Grundgesetz zurückzuführen seien. Auch wir haben ein ähnliches Bedürfnis. Wasist dasGute an sich? Ich las euch die ewigen Worte unseres Herrn vom Verzeihen, von der Barmherzigkeit, von der Liebe und von allen anderen Eigenschaften 8 [E] ... «Sein Kreuz und seinen Frieden hat uns der Herr beschieden in dieser armen Welt.» [Friedrich Weyermüller: Sein Kreuz und seinen Frieden, Str. 1.] 9 [Mühlstein, S. 188: «Wenn er für seine erste Predigt dasselbe Bibelwort wie Helene Schweitzer für ihren 1904 veröffentlichten Aufsatz ‹Gott› verwendet, so ist dies ein großes Kompliment an seine Frau. Besser als mit eigenen Worten kann er mit diesem Zitat seiner Frau zeigen, wieviel er ihr auch in seinem philosophischen Denken verdankt. Diese geschickte Art der Mitteilung läßt ihn banales Lob vermeiden und hat darüber hinaus denVorteil, daß sie nur für dieAngesprochene verständlich ist.»] 10 [Und es trat zu ihm der Schriftgelehrten einer, der ihnen zugehört hatte, wie sie sich miteinander befragten, und sah, daß er ihnen fein geantwortet hatte, und fragte ihn: Welches ist dasvornehmste Gebot vor allen? Jesus aber antwortete ihm: Das vornehmste Gebot vor allen Geboten ist das: «Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Gott; und du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von allen deinen Kräften.» Das ist das vornehmste Gebot. Und das andere ist ihm gleich: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» Es ist kein anderes Gebot größer denn diese. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrlich recht geredet; denn es ist ein Gott und ist kein anderer außer ihm. Und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüte, von ganzer Seele und von allen Kräften, und lieben seinen Nächsten wie sich selbst, das ist mehr denn Brandopfer und alle Opfer. DaJesus aber sah, daß er vernünftig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht ferne von dem Reich Gottes. Und es wagte ihn niemand weiter zu fragen.]

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Predigten

desJahres

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vor, die wir als seine Jünger in der Welt bewähren sollen. Aber wir haben alle das Empfinden, daß dies nur die Farben sind, in denen sich dasweiße Licht einer sittlichen Grundgesinnung, wie er sie von uns verlangt, bricht. Über diese Frage, was denn das Grundgebot aller Sittlichkeit sei und was die sittliche Grundgesinnung, möchte ich in dieser Stunde mit euch nachdenken, um dann mehrere Andachten den Fragen der christlichen Sittlichkeit zu widmen, die ich in der Ferne, in der Einsamkeit des Urwaldes, überdacht habe in dem Gedenken an diese Gottesdienste zu St. Nicolai und in der Hoffnung, euch einmal davon reden zu dür-

fen. Die Frage nach dem Grundwesen des Sittlichen drängt sich uns in dieser Zeit auf. Wir werden zu einer Erkenntnis gedrängt, vor der sich die Generationen vor uns und wir selber bisher immer gesträubt haben, der wir aber doch nicht entgehen können, wenn wir wahrhaftig sein wollen: Die christliche Sittlichkeit ist zu keiner Macht in derWelt geworden. Sie ist nicht tief in die Menschengemüter eingedrungen, sondern nur mehr äußerlich angenommen worden, mehr in Worten anerkannt als in derTat geübt. Die Menschheit steht so vor uns da, als ob die Worte Jesu nicht für sie existierten, als ob es für sie überhaupt keine Sittlichkeit gäbe. Darum nützt es gar nichts, die sittlichen Gebote Jesu einfach immer wieder zu wiederholen und auszulegen, als müßten sie sich zuletzt so dennoch allgemein Anerkennung verschaffen. Dies wäre, als wenn man mit schönen Farben auf eine nasse Mauer malen wollte. Wir müssen erst die Voraussetzungen für dasVerständnis derselben schaffen und unsere Welt zur Gesinnung führen, in der sie etwas für sie bedeuten, und es ist gar nicht so einfach, die Worte Jesu so auszulegen, daß sie praktisch im Leben verwertbar sind. Nehmen wir die beiden Sprüche, die das größte Gebot ausmachen. Was heißt denn das: «Gott lieben von ganzem Herzen» und aus Liebe zu ihm nun das Gute tun? Geh diesem Gedanken nach, und eine Welt von Überlegungen tut sich vor dir auf. Wann in deinem Leben hast du aus Liebe zu Gott das Gute getan, wo du sonst das Schlechte gewählt hättest? Und fasse das andere Wort an: «Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.» Es ist wahr, es ist wunderbar. Ich könnte es euch in den schönsten Beispielen auslegen. Aber ist es durchführbar? Nimm an, du wolltest von morgen an wörtlich danach leben, zu welchen Konsequenzen kämest du in einigen Tagen? Das ist das große Rätsel der christlichen Sittenlehre, daß wir die Worte Jesu nicht so ohne weiteres ins Leben übersetzen können, auch [nicht] mit dem heiligsten Willen, ihm zu dienen. Daraus ergibt sich dann die große Gefahr, daß wir ihnen eine ehrerbietige Referenz ma-

Das große Gebot

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chen und sie als Ideal preisen, in derWirklichkeit sie aber nicht zuWorte kommen lassen. Noch ein anderes Mißverständnis wird der Verwirklichung der christlichen Moral gefährlich. Sie macht leicht hochmütig. Wenn wir unsern Feinden vergeben, kommen wir uns furchtbar gut vor, wenn wir den, der unserer Hilfe bedarf, unterstützen, erscheinen wir uns selber sehr edel. Für daswenige, daswir vielleicht im Geiste Christi anders und besser tun als die andern, fühlen wir uns ihnen so überlegen, daß diese unsittliche Selbstbefriedigung uns oft fast unsittlicher macht als die, die die Gebote Jesu für ihr Leben nicht so anzuerkennen bestrebt sind wie wir. Es wird uns schwer vor uns selber, die Anforderungen Jesu, weil sie so etwas Außerordentliches verlangen, als etwas Selbstverständliches anzusehen, obwohl er es von uns verlangt, da er sagt, daß wir, wenn wir auch noch so viel getan haben, uns als unnütze Knechte fühlen sollen [Lk. 17,10]. Das ist’s also, warum wir miteinander über das Gute an sich nachdenken müssen: Wir wollen verstehen, wie die hochgespannten Forderungen Jesu im täglichen Leben als erfüllbar sich ausnehmen, und wir wollen sie, obwohl so hochgespannt, als selbstverständliche Pflicht der Menschen als solche begreifen müssen. Wir wollen dasGrundwesen des Sittlichen begreifen und aus diesem, wie aus einem obersten Gesetz, alles sittliche Handeln ableiten. Ja, aber ist an der Sittlichkeit überhaupt etwas zu begreifen? Ist sie nicht Herzenssache? Beruht sie nicht in der Liebe! Das hat man uns zweitausend Jahre wiederholt ... undwasist dasResultat? Betrachten wir die Gesamtheit der Menschen um uns herum und die einzelnen. Warum sind sie in vielem so haltlos? Warum sind sie fähig, auch die frömmsten unter ihnen und oft gerade diese, sich durch Vorurteile und Volksleidenschaften zu einem Urteilen und Handeln hinreißen zu lassen, das gar nichts Sittliches mehr hat? Weil es ihnen an einer auf Vernunft gegründeten, in der Vernunft logisch begründeten Sittlichkeit fehlt; weil ihnen Sittlichkeit nicht etwas mit dem Vernunftwesen als selbstverständlich Gegebenes ist. Vernunft und Herz müssen miteinander wirken, wenn eine wahre Sittlichkeit zustande kommen soll. Darin liegt dasProblem für alle allgemeinen Fragen der Sittlichkeit und für die Entscheide in den Dingen destäglichen Lebens. Ich sage Vernunft: Ein in die Tiefe der Dinge gehender und die Gesamtheit der Dinge umfassender, in dasGebiet desWillens hinübergreifender Verstand. Das ist das merkwürdig Zwiespältige, das wir erleben, wenn wir uns im Hinblick auf den sittlichen Willen in uns selber zu verstehen suchen: Wir bemerken, daß er einerseits mit der Vernunft zusammenhängt, andererseits, daß wir damit zu Entschlüssen gedrängt werden,

1236 Predigten desJahres 1919

die im gewöhnlichen Begriffe nicht mehr vernünftig sind, sondern Forderungen entsprechen, die man gemeinhin als überspannt ansehen würde. In diesem Zwiespalt, in dieser merkwürdigen Spannung hängt dasWesen desSittlichen. Die Angst, daß eine auf der Vernunft begründete Sittlichkeit etwas zu niedrig Eingestelltes, Kaltes, Herzloses sei, ist unbegründet, denn sowie die Vernunft wahrhaft in die Tiefe der Fragen geht, hört sie auf, kühle Vernunft zu sein, und fängt an, ob sie will oder nicht, mit in den Tönen des Herzens zu reden. Und das Herz selbst, sowie es sich zu ergründen sucht, entdeckt, daß sein Gebiet in dasderVernunft hineinragt, daß es durch dasLand derVernunft ziehen muß, um an die letzten Grenzen seines Bezirks zu kommen. Wie geht daszu? Nun wollen wir denWeg zum Urbegriff des Guten zuerst vom Herzen und dann von der Vernunft aus gehen und sehen, ob beide sich begegnen. Das Herz sagt: Das Sittliche beruht in der Liebe. Ergründen wir dieses Wort! Liebe bedeutet Wesensharmonie, Wesensgemeinschaft und gilt ursprünglich in dem Bereich von Personen, die sich in irgendeiner Weise natürlich angehören, daß ihre Existenzen in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen, so Kinder und Eltern, Gatten und Menschen, die sich in enger Freundschaft nahegekommen. Und nun sollen wir, so verlangt die Sittlichkeit, auch den Menschen, die wir nicht kennen, gegenüber nicht das Gefühl der Fremdheit haben dürfen, auch denen gegenüber, die uns mehr sind als fremd, weil wir Abneigung gegen sie haben oder sie uns Feindschaft beweisen, sondern uns zu ihnen verhalten müssen, als stünden sie uns nahe. Das Gebot der Liebe heißt also im letzten Grunde: Es gibt für dich keine Fremden, sondern nur Menschen, deren Wohl und Wehe dir angelegen sein muß. Es ist uns etwas so Natürliches, daß uns die einen nahe angehen und die andern indifferent sind; und dieses Natürliche will die Sittlichkeit nicht gelten lassen? UndJesus hebt dieses Fremdsein so weit auf, daß er sagt: Der andere Mensch muß dir so nahe stehen wie du dir selber; du mußt, was ihn angeht, so unmittelbar erleben wie das,

wasdich betrifft. Weiter soll das Herz auslegen, was das heißt: «Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüte und von allen deinen Kräften!» Gott, dieses ferne, unergründliche Wesen, lieben! Hier wird noch deutlicher, daß dasWort, wo es sittlich gemeint ist, in übertragener Bedeutung gebraucht wird. Gott, der unser nie bedarf, sollen wir lieben, als wäre er ein Wesen, dem wir im Leben begegnen! Ist den Menschen gegenüber Liebe etwas wie Miterfahren, Mitleiden und Helfen, so bedeutet es Gott gegenüber etwas im Sinne von ehrfürchtiger Liebe. Gott ist das unendliche Leben. Also bedeutet das elementarste Sittengesetz mit dem Herzen begriffen: Aus Ehrfurcht zu dem unbegreiflich Un-

Das große Gebot

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endlichen und Lebendigen, daswir Gott nennen, sollen wir uns niemals einem Menschenwesen gegenüber als fremd fühlen dürfen, sondern uns zu helfendem Miterleben zwingen. Soweit das Herz, wenn es das Gebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten auf seinen allgemeinsten Ausdruck zu bringen sucht. Nun rede dieVernunft. Sie suche, als wäre uns nichts über Sittlichkeit überliefert, wie weit sie im Nachdenken über die Dinge zu etwas gelangt, das unser Handeln bestimmt. Wird auch sie uns nötigen, aus uns selbst herauszutreten? In der Vernunft, hört man gewöhnlich sagen, ist nur der Egoismus begründet: Wie mache ich es, daß ich es gut habe? Das ist ihre Weisheit, weiter nichts. Bestenfalls kann sie uns eine gewisse Ehrbarkeit und Gerechtigkeit lehren, weil diese mehr oder weniger zum Gefühl des Glückes gehören: Vernunft ist Bedürfnis nach Erkennen und Bedürfnis nach Glück, beide innerlich geheimnisvoll zusammenhängend. Bedürfnis nach Erkennen! Suche zu ergründen alles, was um dich herum ist, gehe bis an die äußersten Grenzen des menschlichen Wissens, und immer stößt du zuletzt auf etwas Unergründliches – und dies Unergründliche heißt: Leben! Und dies Unergründliche ist so unergründlich, daß der Unterschied zwischen wissend und unwissend ein ganz relativer ist. Welches ist der Unterschied zwischen einem Gelehrten, der die kleinsten und ungeahntesten Lebenserscheinungen im Mikroskop beobachtet, und dem alten Landmann (der kaum zu Lesen und Schreiben kommt), wenn er im Frühling sinnend in seinem Garten steht und die Blüte betrachtet, die am Zweige des Baumes aufbricht? Beide stehn sie vor dem Rätsel desLebens, und einer kann es weitgehender beschreiben als der andere, aber für beide ist es gleich unergründlich. Alles Wissen ist zuletzt Wissen vom Leben und alles Erkennen Staunen über das Rätsel des Lebens ... Ehrfurcht vor dem Leben in seinen unendlichen, immer neuen Gestaltungen. Was ist denn das, daß etwas entsteht, ist, vergeht, in anderen Existenzen sich erneut, wieder vergeht, wieder entsteht und so fort und fort, von Unendlichkeit zuUnendlichkeit? Wir können alles und können nichts, denn wir vermögen in aller unserer Weisheit nichts zu schaffen, daslebt, sondern waswir hervorbringen, ist tot! Leben heißt Kraft, Wille, aus dem Urgrund des Willens kommend, in ihm wiederaufgehend, heißt Fühlen, Empfinden, Leiden... . Und vertiefst du dich ins Leben, schaust du mit sehenden Augen in das gewaltige belebte Chaos des Seins, dann ergreift dich plötzlich wie ein Schwindel. In allem findest du dich wieder. Der Käfer, der tot amWege liegt ... er war etwas, das lebte, um sein Dasein rang wie du, an der Sonne sich erfreute wie du, Angst und Schmerz kannte wie du, und nun nichts mehr ist als verwesende Materie ... wie du über kurz oder lang sein wirst.

1238 Predigten desJahres 1919

Du gehst draußen, und es schneit. Achtlos schüttelst du den Schnee von den Ärmeln. Da mußt du schauen ... Eine Flocke glänzt auf deiner Hand. Du mußt sie schauen, ob du willst oder nicht, sie glänzt in wundervoller Zeichnung; dann kommt ein Zucken in sie: Die feinen Nadeln, aus denen sie besteht, ziehen sich zusammen, sie ist nicht mehr ... geschmolzen, gestorben auf deiner Hand. Die Flocke, die aus dem unendlichen Raum auf deine Hand fiel, dort glänzte, zuckte und starb ... dasbist du. Überall wo duLeben siehst ... dasbist du! Was ist also das Erkennen, das gelehrteste wie das kindlichste: Ehrfurcht vor dem Leben, vor dem Unbegreiflichen, das uns im All entgegentritt, und das ist wie wir selbst, verschieden in der äußeren Erscheinung und doch innerlich gleichen Wesens mit uns, uns furchtbar ähnlich, furchtbar verwandt. Aufhebung des Fremdseins zwischen uns und den andern Wesen. Ehrfurcht vor der Unendlichkeit des Lebens ... Aufhebung des Fremdseins ... Miterleben, Mitleiden: Das letzte Ergebnis des Erkennens ist also dasselbe im Grunde, was das Gebot der Liebe uns gebeut. Herz und Vernunft stimmen zusammen, wenn wir wollen und wagen, Menschen zu sein, die dieTiefe der Dinge zu erfassen suchen! Und die Vernunft entdeckt das Mittelstück zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen ... die Liebe zur Kreatur, die Ehrfurcht vor allem Sein, dasMiterleben allen Lebens, mag es dem unseren äußerlich noch so unähnlich sein. Ich kann nicht anders, als Ehrfurcht haben vor allem, was Leben heißt, ich kann nicht anders, als mitempfinden mit allem, was Leben heißt: Dasist derAnfang und dasFundament aller Sittlichkeit.¦11¿ Wer dieses einmal erlebt hat und weiter erlebt – und wer es einmal erlebt hat, erlebt es immer weiter – der ist sittlich. Er trägt seine Sittlichkeit in sich unverlierbar, und sie entwickelt sich in ihm. Wer es nicht erlebt hat, der hat nur eine angelernte Sittlichkeit, die nicht in sich gegründet ist, ihm nicht gehört, sondern von ihm abfallen kann. Und das Furchtbare ist, daß unser Geschlecht nur die angelernte Sittlichkeit hatte, die in der Zeit, wo es Sittlichkeit bewähren sollte, von ihm abgefallen ist. Seit Jahrhunderten wurde es nur mit der angelernten Sittlichkeit erzogen. Es war roh, unwissend, herzlos, ohne es zu ahnen, weil es den Maßstab für das Sittliche noch nicht besaß, da es keine allgemeine Ehrfurcht vor dem Leben besaß. Du sollst Leben miterleben und Leben erhalten ... das ist das größte Gebot in seiner elementarsten Form. Anders, negativ ausgedrückt: Du sollst nicht töten ... dasVerbot, mit dem wir es so leicht nehmen, indem 11 [R] Kultur eines Volkes: Ob es dieVögel schont, nicht wie viele berühmte Maler, Musiker, Romanschreiber, Mathematiker und Astronomen es zählt.

Denn unser keiner lebt sich selber 1239

wir geistlos die Blume brechen, geistlos das arme Insekt zertreten und dann geistlos, in furchtbarer Verblendung, weil alles sich rächt, dasLeiden und das Leben der Menschen mißachten und es kleinen, irdischen

Zielen opfern. Man redet viel in unserer Zeit vom Aufbau einer neuen Menschheit. Wasist der Aufbau der neuen Menschheit? Nichts anderes, als die Menschen zur wahren, eigenen, unverlierbaren, entwickelbaren Sittlichkeit führen. Aber sie kommt nicht dazu, wenn die vielen einzelnen nicht in sich gehen, aus Blinden Sehende werden, und anfangen, das große Gebot zu buchstabieren, dasgroße, einfache Gebot: Ehrfurcht vor dem Leben, in dem mehr hängt als dasGesetz und die Propheten, in dem hängt die ganze Sittlichkeit der Liebe, in ihrem tiefsten und höchsten Sinn, und aus dem sie sich für den einzelnen und die Menschheit immer wieder erneuert.

Morgenpredigt Sonntag, 23. Februar 1919, St. Nicolai 2. Predigt über ethische Probleme

Röm. 14,7: Denn unser keiner lebt sich selber

Die Probleme der Sittlichkeit sollten uns, so sagte ich vergangenen Sonntag, in unsern nächsten Andachten beschäftigen. Im Anschluß an die Frage nach dem größten Gebot des Alten Testamentes, die Jesus dem fragenden Schriftgelehrten beantwortet, indem er ihm zwei Gebote – das Gebot der Liebe zu Gott und das Gebot der Liebe zum Nächsten – zusammenstellt, warfen wir die Frage nach dem Wesen des Sittlichen, nach dem letzten Grundprinzip der Moralität auf. Wir wollten uns nicht bei dem hergebrachten Bescheide, daß dasWesen des Sittlichen in der Liebe bestehe, begnügen, sondern gingen weiter und fragten: Was ist denn die Liebe? Was ist die Liebe zu Gott, die uns zwingt, gegen die Menschen gut zu sein? Was ist die Liebe gegen den Nächsten?

Und wir befragten nicht nur das Herz, sondern auch die Vernunft über das Sittliche, weil wir die Schwäche unserer Zeit darin sehen, daß es ihr an einer vernünftigen, durch keine Vorurteile und durch keine Leidenschaften zu zerstörenden Sittlichkeit fehlt, und weil wir überhaupt nicht annehmen können, daß Vernunft und Herz so ohne Berührung nebeneinander hergehen. Das wahre Herz überlegt, und die wahre Vernunft empfindet. Wir fanden, daß beide, Herz und Vernunft, darin übereinstimmen, daß das Gute im letzten Grunde in der elementaren Ehrfurcht vor dem Rätselhaften, das wir Leben nennen, besteht, in der Ehrfurcht vor allen seinen Erscheinungen, den kleinsten wie den größ-

1240 Predigten desJahres 1919

ten. Gut ist: Leben erhalten und fördern; schlecht ist: Leben hemmen und zerstören.¦12¿ Sittlich sind wir, wenn wir aus unserem Eigensein heraustreten, die Fremdheit den andern Wesen gegenüber ablegen und alles, was sich von ihrem Erleben um uns abspielt, miterleben und miterleiden. In dieser Eigenschaft erst sind wir wahrhaft Menschen; in ihr besitzen wir eine eigene, unverlierbare, fort und fort entwickelbare, sicher orientierte Sittlichkeit. Diese allgemeinen Ausdrücke «Ehrfurcht vor dem Leben», «Aufgeben des Fremdseins», «Drang nach Erhaltung des Lebens um uns herum», klingen kalt und nüchtern. Aber wenn es auch unscheinbare Worte sind, können sie doch reich sein. Das Samenkorn ist auch unscheinbar, und doch trägt es das Gebilde, das aus ihm hervorwächst, in sich. So liegt in diesen unscheinbaren Worten die Grundanschauung beschlossen, aus der sich die ganze Sittlichkeit entwickelt, ob dies den einzelnen bewußt ist oder nicht. Voraussetzung der Sittlichkeit ist also, daß wir alles, was nicht nur die Menschen, sondern überhaupt alle Wesen um uns herum erleben, miterleben und dadurch gezwungen werden, alles, was wir zur Erhaltung und Förderung desLebens tun können, zu tun. Der große Feind der Sittlichkeit ist die Abstumpfung. Als Kinder hatten wir, soweit unser Verständnis für die Dinge ging, eine elementare Fähigkeit des Mitleidens. Aber diese Fähigkeit ist mit denJahren und mit dem zunehmenden Verständnis nicht gewachsen. Sie war uns etwas Unbequemes, Verwirrendes. Wir sahen so viele Menschen, die sie nicht mehr besaßen. Dann drängten auch wir die Empfindsamkeit zurück, um zu werden wie die andern, um nicht anders zu sein als sie, und weil wir uns nicht Rat wußten. So werden die vielen Menschen wie Häuser, bei denen sich ein Laden nach dem andern schließt, und die dann kalt und fremd in die Straße hineinschauen. Gut bleiben heißt wach bleiben! Wir gleichen alle dem Menschen, der draußen in der Kälte und im Schnee geht. Wehe ihm, wenn er sich hinsetzt, um der Ermattung nachzugeben und zu schlafen: Er wird nicht mehr erwachen. So erstirbt der sittliche Mensch in uns, wenn wir es müde werden, was die andern Wesen um uns herum erleben, mitzuerleben, mit ihnen zu leiden. Wehe uns, wenn unsere Empfindsamkeit sich abstumpft: Unser Gewissen, das Gewissen im weitesten Sinne, das heißt dasBewußtsein von dem, waswir sollen, geht damit zugrunde. Die Ehrfurcht vor dem Leben und dasMiterleben des andern Lebens ist das große Ereignis für uns und das große Ereignis für die Welt. Die Natur kennt keine Ehrfurcht vor dem Leben. Sie bringt tausendfältig 12 [R] Hier noch näher: Sittlichkeit nicht nur ein Verhalten gegen Menschen, sondern einVerhalten gegen dasLebendige überhaupt, die innere Stellungnahme dazu.

Denn unser keiner lebt sich selber

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Leben hervor in der sinnvollsten Weise und zerstört es tausendfältig in der sinnlosesten Weise. Durch alle Stufen des Lebens hindurch bis in die Sphäre des Menschen hinan ist furchtbare Unwissenheit über dieWesen ausgegossen. Sie haben nur denWillen zum Leben, aber nicht die Fähigkeit des Miterlebens, was in anderen Wesen vorgeht; sie leiden, aber sie können nicht mitleiden. Der große Wille zum Leben, der die Natur erhält, ist in rätselhafter Selbstentzweiung mit sich selbst.¦13¿ Die Wesen leben auf Kosten des Lebens anderer Wesen. Die Natur läßt sie die furchtbarsten Grausamkeiten begehen. Sie leitet Insekten durch Instinkt an, mit ihrem Stachel Insekten anzubohren und ihre Eier in sie hineinzulegen, daß das, was sich aus dem Ei entwickelt, von der Raupe leben und sie damit zu Tode quälen soll. Sie leitet die Ameisen an, sich zusammenzutun und ein armes kleines Wesen anzufallen, um es zuTode zu hetzen. Schaue der Spinne zu! Wie grauenvoll ist dasHandwerk, dassie die Natur gelehrt! Die Natur ist schön und großartig, von außen betrachtet, aber in ihrem Buche zu lesen, ist schaurig. Und ihre Grausamkeit ist so sinnlos! Das kostbarste Leben wird dem niedersten geopfert. Einmal atmet ein Kind Tuberkelbazillen ein. Es wächst heran, gedeiht, aber Leiden und früher Tod sitzen in ihm, weil diese niedersten Wesen sich in seinen edelsten Organen vermehren.¦14¿ Wie oft packte mich in Afrika das Entsetzen, wenn ich das Blut der Schlafkranken untersuchte. Warum saß der Mann mit leidenverzerrtem Gesicht da und stöhnte: Oh, mein Kopf, mein Kopf! Warum mußte er Nächte hindurch weinen und elend sterben? Weil da, unter dem Mikroskop, feine, kleine, blasse Körperchen, zehn- bis vierzehntausendstel Millimeter lang, vorhanden waren – oh, nicht viele, oft nur ganz wenige, so daß man zuweilen Stunden suchen mußte, um nur eines zu entdecken! So steht durch die rätselhafte Entzweiung in demWillen zum Leben Leben gegen Leben und schafft dem andern Leiden undTod, schuldlos schuldig. Die Natur lehrt grausigen Egoismus, nur dadurch auf kurze Zeit unterbrochen, daß sie in die Wesen den Trieb gelegt hat, dem 13 [R] Zitieren: «Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht, dieWeisheit deiner Wege, die Liebe, die für alle wacht, anbetend überlege,

so weiß ich, von Bewunderung voll, nicht, wie ich dich erheben soll, mein Gott, mein Herr undVater.» [Christian Fürchtegott Gellert, Str. 1] Sagen, daß dies einseitig. 14 [V. Mühlstein stellt die Frage, ob Schweitzer hier nicht indirekt auf die Tatsache hinweist, daß seine Frau zu der Zeit lebensbedrohlich anTuberkulose erkrankt ist. Mühlstein, S. 193.]

1242 Predigten desJahres 1919

Leben, dasvon ihnen abstammt, solange es ihrer bedarf, Liebe und Helfen entgegenzubringen. Aber daß dasTier seine Jungen mit Selbstaufopferung bis zum Tode liebt, also hier mitfühlen kann, macht es nur noch schrecklicher, daß ihm das Mitleiden für die Wesen, die nicht in dieser Weise mit ihm zusammengehören, versagt ist. Die Welt, dem unwissenden Egoismus überantwortet, ist wie ein Tal, dasim Finstern liegt; nur oben auf den Höhen liegt Helligkeit. Alle müssen in dem Dunkel leben; nur eines darf hinauf, das Licht schauen: das höchste, der Mensch. Er darf zur Erkenntnis der Ehrfurcht vor dem Leben gelangen, er darf zu der Erkenntnis des Miterlebens und Mitleidens gelangen, aus der Unwissenheit heraustreten, in der die übrige Kreatur schmachtet. Und diese Erkenntnis ist das große Ereignis in der Entwicklung des Seins. Hier erscheinen dieWahrheit und das Gute in derWelt, das Licht glänzt über dem Dunkel, der tiefste Begriff des Lebens ist erreicht: Das Leben, das zugleich Miterleben ist, wo in einer Existenz der Wellenschlag der ganzen Welt gefühlt wird, in einer Existenz dasLeben als solches zum Bewußtsein seiner selbst kommt¦15¿– dasEinzeldasein aufhört, dasDasein außer unsin dasunsrige hereinflutet. Wir leben in derWelt und dieWelt lebt in uns. Um diese Erkenntnis selbst die Rätsel sich türmen. Warum gehen Naturgesetz und Sittengesetz so auseinander? Warum kann unsere Vernunft nicht einfach übernehmen und fortbilden, was ihr als Äußerung des Lebens in der Natur entgegentritt, sondern muß mit ihrem Erkennen in einen so ungeheuren Gegensatz zu allem, was sie sieht, kommen? Warum muß sie ganz andere Gesetze in sich entdecken als die, die die Welt regieren? Warum muß sie mit der Welt zerfallen, wo sie den Begriff des Guten erreicht? Warum müssen wir diesen Widerstreit erleben ohne Hoffnung, ihn jemals ausgleichen zu können? Warum statt der Harmonie die Zerrissenheit?¦16¿

Und weiter. Gott ist die Kraft, die alles erhält.¦17¿ Warum ist der Gott, der sich in der Natur offenbart, die Verneinung von allem, was wir als sittlich empfinden, sinnvoll Leben aufbauende und sinnlos Leben zerstörende Kraft?¦18¿ Wie bringen wir Gott, die Naturkraft, in eins mit Gott, dem sittlichen Willen, dem Gott der Liebe, wie wir ihn uns vorstellen müssen, wenn wir uns zum höheren Wissen vom Leben, zur Ehrfurcht vor dem Leben, zum Miterleben und Mitleiden erhoben haben?¦19¿

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[R] Die Idee, als ob Gott zur Erkenntnis seiner selbst. [R] Wenn man anfängt zuüberlegen, verliert man denVerstand. [R] Er lebt in der ganzen Welt, und die ganze Welt lebt in ihm. [R] Die Erkenntnis Gottes ausder Natur: reich, aber furchtbar. [R] Darum sagt man: DasVernünftige ist die Gefühllosigkeit, dasLeben in Harmonie mit den Naturgesetzen.

Denn unser keiner lebt sich selber 1243

Als wir vor einigen Sonntagen¦20¿ miteinander über optimistische und pessimistische Weltanschauung ins Klare zu kommen suchten, sagte ich euch, daß es ein großes Unglück für unsere Menschheit sei, daß man ihr keine geschlossene, in sich einfach gefügte Weltanschauung bieten könne, weil dasWissen, je weiter es fortschreitet, uns immer mehr von einer solchen abführt.¦21¿ Und dies nicht nur, weil immer deutlicher wird, wie wenig wir eigentlich im Wissen erfassen können, sondern auch weil dies Widerspruchsvolle im Sein sich immer tiefer auftut. «Unser Wissen ist Stückwerk», sagt derApostel Paulus [I Kor. 13,9]. Damit ist viel zu wenig gesagt. Noch schwerer ist, daß unser Wissen eine Einsicht in unlösbare Gegensätze bedeutet – alle zurückgehend auf den einen, daß das Gesetz, nach dem sich das Geschehen in der Welt vollzieht, nichts von dem an sich hat, waswir als sittlich erkennen und empfinden. Statt unsere Sittlichkeit in einer geschlossenen Weltanschauung und in einem einheitlichen Gottesbegriff festigen zu können, müssen wir sie immer gegen die Widersprüche aus der Weltanschauung schützen, die wie eine vernichtende Brandung gegen sie heranströmen.¦22¿ Wir müssen einen Damm aufführen ... und wird er halten? Das andere, was die Fähigkeit und den Willen zum Miterleben bedroht, ist die sich immer wieder aufdrängende Überlegung: Es nützt ja nichts! Was du tust und kannst, um Leiden zu verhüten, um Leiden zu mildern, um Leben zu erhalten, istja doch nichts im Vergleich mit dem, wasgeschieht auf derWelt um dich herum, ohne daß du etwas dazu tun kannst.¦23¿

Gewiß, es ist furchtbar, sich vorstellen zu müssen, in wie vielem wir ohnmächtig sind, ja, wie viel Leid wir selbst andern Wesen schaffen, ohne es verhindern zu können. Du gehst auf einem Waldpfad; die Sonne scheint in hellen Flecken durch dieWipfel hindurch; die Vögel singen; tausend Insekten summen froh in der Luft. Aber dein Weg, ohne daß du etwas dafür kannst, ist Tod. Da quält sich eine Ameise, die du zertreten, dort ein Käferchen, das du zerquetscht, dort windet sich ein Wurm, über den dein Fuß gegangen. In das herrliche Lied vom Leben klingt die Melodie vonWeh undTod, die von dir, dem unschuldig Schuldigen kommen, hinein. Und so fühlst du in allem, was du Gutes tun willst, die furchtbare Ohnmacht, zu helfen, wie du wolltest. Dann kommt die Stimme desVersuchers und sagt dir: Warum dich denn quälen? Es hilft nichts. Gib es auf, werde gleichgültig, werde gedankenlos und gefühllos wie die andern. 20

[Siehe S. 1219. 22.12.18.]

21 [R] Weil dasDenken in Abgründe führt, zu denken aufhört. 22 [R] Und es ist kein Ausgleich zwischen Gedanken und Beobachtungen möglich: Ein anderer Geist offenbart sich in derWelt, ein anderer in uns. 23 [R] Unmoralisch aus Mutlosigkeit.

1244 Predigten

desJahres 1919

Noch eine andere Versuchung tritt auf. Mitleiden heißt leiden. Wer einmal dasWeh der Welt in sich erlebt, der kann nicht mehr glücklich werden in dem Sinne, wie der Mensch es möchte. In den Stunden, die ihm Zufriedenheit und Freude bringen, ist er nicht imstande, sich unbefangen dem Behagen hinzugeben, sondern dasWeh, daser miterlebt, ist da. Er hat gegenwärtig, was er geschaut. Er gedenkt des Armen, den er angetroffen, des Kranken, den er geschaut, des Menschen, von dessen schwerem Schicksal er gelesen ... und Dunkel fällt in die Helligkeit seiner Freude. Und so fort und fort. In der fröhlichsten Gesellschaft ist er plötzlich geistesabwesend. Und da sagt derVersucher wieder: So kann man nicht leben. Man muß absehen können von dem, wasum einen vorgeht. Nur keine so große Empfindsamkeit. Erziehe dich zur notwendigen Gefühllosigkeit, leg einen Panzer an, werde gedankenlos wie die andern, wenn duvernünftig leben willst. Zuletzt kommen wir dann so weit, daß wir uns schämen, das große Miterleben und das große Mitleiden zu kennen. Wir verheimlichen esvoreinander und tun, alswäre es uns etwas Törichtes, so etwas, das man ablegt, wenn man anfängt, ein vernünftiger Mensch zuwerden.¦24¿ Dies sind die drei großen Versuchungen, die uns unversehens die Voraussetzung, aus der das Gute kommt, zugrunde richten. Seid wachsam gegen sie. Der ersten begegne, indem du dir sagst, daß Mitleiden und Mithelfen für dich eine innere Notwendigkeit ist. Alles, was du tun kannst, wird in Anschauung dessen, was getan werden sollte, immer nur ein Tropfen statt eines Stromes sein; aber es gibt deinem Leben den einzigen Sinn, den es haben kann, und macht es wertvoll.¦25¿ Wo du bist, soll, soviel an dir ist, Erlösung sein, Erlösung von dem Elend, das der in sich selbst entzweite Wille zum Leben in die Welt gebracht hat, Erlösung, wie sie nur der wissende Mensch bringen kann. DasWenige, dasdu tun kannst, ist viel ... wenn du nur irgendwo Schmerz und Weh und Angst von einem Wesen nimmst, sei es Mensch, sei es irgendeine Kreatur. Leben erhalten ist daseinzige Glück. Der anderen Versuchung, daß das Miterleben dessen, was um dich vorgeht, Leiden für dich ist, begegne dadurch, daß du dir bewußt wirst, daß mit dem Mitleiden zugleich die Fähigkeit des Mitfreuens gegeben ist. Mit derAbstumpfung gegen dasMitleiden verlierst du zugleich das Miterleben desGlückes der andern. Und so wenig dasGlück ist, daswir in der Welt erschauen, so ist doch das Miterleben des Glückes um uns herum mit dem Guten, das wir selbst schaffen können, das einzige Glück, welches uns dasLeben erträglich macht. 24 [R] Meinen, die Gefühllosigkeit, in der die Menschen herumgehen, sei etwas Selbstverständliches.

25 [R] DasMitleiden ist dieWahrheit.

Der Gerechte

erbarmt sich

1245

Und zuletzt hast du gar nicht das Recht, zu sagen: Ich will so sein oder so, weil du meinst, daß du so glücklicher bist als anders, sondern du mußt sein, wie du sein mußt: wahrer, wissender Mensch, Mensch, der mit derWelt lebt, Mensch, der dieWelt in sich erlebt. Ob du damit nach der gewöhnlichen Auffassung glücklicher bist oder nicht, ist gleichgültig. Nicht das Glücklichsein, sondern das Gutsein verlangt die geheimnisvolle Stimme in uns ... ihr zu gehorchen, ist das einzige, was befriedigen kann. So sage ich euch: Laßt euch nicht abstumpfen, bleibt wach!¦26¿ Es geht um eure Seele. Wenn ich in diesen Worten, in denen ich das Innerste meiner Gedanken preisgebe, euch, die ihr jetzt hier seid, zwingen könnte, daß ihr den Trug, mit dem uns die Welt einschläfern will, zerreißt, daß keiner von euch mehr gedankenlos sein kann, daß ihr nicht mehr davon loskommt, die Ehrfurcht vor dem Leben und das große Miterleben kennen lernen zu müssen, euch darin zu verlieren: Dann wäre ich zufrieden und würde meine Tätigkeit als gesegnet ansehen, auch wenn ich wüßte, daß mir morgen dasPredigen verboten wird oder daß ich mit meinem Predigen bisher nichts ausgerichtet und hinfort nichts anderes mehr ausrichten könnte. Ich, der ich sonst wie eine Angst habe, Einfluß auf Menschen auszuüben, wegen der Verantwortung, die man dabei übernimmt, möchte Gewalt besitzen, euch zu verzaubern, daß ihr mitfühlend werdet, bis jeder von euch den großen Schmerz erlebt, von dem man nicht mehr loskommt, wissend werdet im Mitleiden; denn ich dürfte mir dann sagen, daß ihr auf demWeg zum Guten seid und ihn nicht mehr verlieren könnt. «Unser keiner lebt sich selber»: Möge uns das Wort verfolgen und nicht zur Ruhe kommen lassen, bis man uns ins Grab bettet.

Morgenpredigt Sonntag, 2. März 1919, St. Nicolai 3. Predigt über ethische Probleme Prov. 12.10: Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs, aber dasHerz der Gottlosen ist unbarmherzig

Das Grundgesetz der Sittlichkeit, sahen wir in den beiden letzten Predigten, ist Ehrfurcht vor dem Leben, Miterleben und Miterleiden dessen, was um uns her lebende Wesen erleiden. Aus dieser Grundgesinnung allein kommt erst die Tat, die den Menschen überall Sittlichkeit 26 [R] Gedanken wagen auszusprechen, was ihr schon in euch bewegt, aber nicht zu Ende zu gehen wagtet.

1246 Predigten desJahres

1919

bewähren läßt. Aber die große Gefahr ist, daß wir in diesem wahren Menschentum müde werden, und zwar hat diese Müdigkeit drei Ursa-

chen: Dieses Sittengesetz von der wahren Menschlichkeit vermag sich keine passende, geschlossene Weltanschauung zu schaffen. Auf der einen Seite sehen wir, wie in der Natur alles nach Egoismus und Grausamkeit als wie von einem gottgewollten Gesetz zugeht; auf der andern fühlen wir, daß wir in der Ehrfurcht vor dem Leben uns der wahren Erkenntnis nahen. Der Gott der Liebe, der uns in ihr entgegentritt, läßt sich nicht vereinen mit dem Gott, der uns in der Natur entgegentritt, das Sittengesetz nicht in Einklang bringen mit den Naturgesetzen. Dazu kommt als zweites, daß alles Mitleiden Leiden bedeutet. Wer für alles Weh, dasum ihn her sich abspielt, offen ist, kann nicht mehr in dem gewöhnlichen Sinne glücklich und unbefangen sein. Dann spricht der Versucher und sagt: So kann man nicht leben. Stumpf dich ab wie die andern! Das dritte ist dieVerzweiflung, die uns ergreift, wenn wir sehen, wie wenig das, was wir helfend tun können, ist neben dem, was geschieht, ohne daß wir etwas helfen können. Hier sagt dann der Versucher: Es nützt alles nichts, quäle dich nicht, werde wie die andern! So werden wir müde und verlieren die innere Energie zur Sittlichkeit, wenn wir nicht wach bleiben und wissen, daß wir so müssen, daß daswahre Menschentum daseinzige Glück ist, unsere große geheimnisvolle Pflicht in derWelt. Und nun wollen wir miteinander die praktischen Fragen der Sittlichkeit überdenken, indem wir heute mit unserm Verhalten gegen die Kreatur beginnen. Ich sagte euch schon, daß ich etwas viel Allgemeineres verlange als Mitleid gegen dieTiere: Es muß dieses auf dem Boden einer allgemeinen Ehrfurcht vor allem, was Leben ist, erwachsen. Sonst ist es unvollständig und unbeständig. Das zeigt schon die Geschichte des Mitleids gegen dieTiere. Schon die Heiden desAltertums kannten dasMitleid gegen die Kreatur. In Athen, erzählt ein Schriftsteller, wurde ein Knabe zum Tode verurteilt, weil er einer Krähe die Augen ausgerissen hatte. Auch daß Pferden und andern Zugtieren das Gnadenbrot gegeben wurde, ist mehrfach berichtet. Im Alten Testament wird der Tiere mehrmals mit Liebe gedacht. So heißt esim Sabbatgebot, daß auch dieTiere am Feiertag der Ruhe teilhaftig sein sollen [Dtn. 5, 14]. Ausdrücklich wird verboten, daß der Ochse, der auf der Dreschtenne dasKorn ausstampft, dasMaul zugebunden bekommt [Dtn. 25,4]. Wunderbar schildert später der Apostel Paulus im Brief an die Römer, wie auch die Kreatur seufzt, mit uns von dem Geängstigtsein und derVergänglichkeit erlöst zuwerden [Röm. 8,22].

Der Gerechte

erbarmt sich

1247

Aber dennoch ist das Christentum den sittlichen Forderungen, die unser Verhalten zur Kreatur bestimmen sollen, nicht weiter nachgegangen. Größte Gedankenlosigkeit und Roheit findet sich mit der ernstesten Frömmigkeit verbunden, jahrhundertelang. Man denkt weniger daran, was wir der armen Kreatur sein sollen, als immer wieder, wie man den Unterschied zwischen dem Menschen und ihr möglichst hervorhebe. [Der Mensch] soll die innere Verwandtschaft, die zwischen allem Lebendigen herrscht, nicht erleben dürfen, sondern sich immer nur vorsagen: Du hast eine unsterbliche Seele, dasTier aber hat keine, eine unüberbrückbare Kluft liegt zwischen uns... als ob wir darüber etwas wissen. So hat dasChristentum der ersten Jahrhunderte bis tief ins Mittelalter die Menschen in ihrem Verhalten zur Kreatur nicht veredelt, sie nicht zu Wissenden gemacht. Erst mit dem erwachenden Denken kommt Besinnung auf das, waswir an der armen Kreatur sündigen. Zuerst ist es Martin Luther, der, in fast zaghafter Weise, sich ihrer annimmt. Sein Diener hatte sich einen Vogelherd zum Fangen der Zugvögel eingerichtet. Daraufhin, um ihn davon abzubringen, setzt Luther, anno 1534, eine launige Bittschrift der Zugvögel auf an ihn, daß er ihm dies böse Handwerk verbieten solle.¦27¿ 27 [«Wir Drosseln, Amseln, Finken, Hänflinge, Stieglitze samt andern braven, ehrbaren Vögeln, die in diesem Herbst über Wittenberg reisen wollen, lassen eure Liebe wissen, daß, wie uns glaubhaft berichtet wird, einer, genannt Wolfgang Sieberger, Euer Diener, sich eines großen, frevelhaften Übermuts unterstanden und einige alte, verdorbene Netze aus großem Zorn und Haß auf uns teuer gekauft habe, um damit einen Finkenherd einzurichten; und daß er nicht allein unsern lieben Freunden, den Finken, sondern auch uns allen die Freiheit, in der Luft zu fliegen und auf Erden Körnlein zu lesen, von Gott uns gegeben, zu wehren vorhat: daß er zudem unserm Leib und Leben nachstellt, obwohl wir doch gegen ihn gar nichts verschuldet noch solch ernsten und tückischen Übermut um ihn verdient haben. Weil denn dasalles, wie Ihr selbst könnt bedenken, uns armen, freien Vögeln (die ohnehin weder Scheune noch Häuser noch etwas darin haben) eine gefährliche und große Beschwerung ist, ist an Euch unsere demütige undfreundliche Bitte, Ihr wollet Eurem Diener solchen Übermut verweisen oder, wenn dasnicht sein kann, ihn doch dahin bringen, daß er uns des Abends zuvor Körner auf den Herd streue und morgens vor acht Uhr nicht aufstehe und zum Herd gehe. Dann wollen wir den Zug über Wittenberg hin nehmen. Wird er dasnicht tun, sondern uns so frevelhaft nach unserm Leben stehen, dann wollen wir Gott bitten, daß er ihm wehre, so daß er amTage auf dem Herd Frösche, Heuschrecken und Schnecken an unserer Statt fange und zur Nacht von Mäusen, Flöhen, Läusen, Wanzen angegriffen werde, damit er uns vergesse und den freien Flug uns nicht wehre. Warum gebraucht er solchen Zorn und Ernst nicht wider die Sperlinge, Schwalben, Elstern, Dohlen, Raben, Mäuse und Ratten, die Euch doch viel zuleide tun, stehlen und rauben und auch aus den Häusern Korn, Hafer, Malz, Gerste usw. wegtragen, waswir nicht tun, sondern nur daskleine Bröckllein und einzelne beiseite gefallene Körnlein suchen. Wir gründen diese unsere Sache auf rechtmäßige Vernunft, ob uns von ihm nicht zu Unrecht so hart wird nachgestellt. Wir hoffen aber zu Gott, weil von unsern Brüdern und Freunden so viele im Herbst vor ihm bewahrt geblieben und ihm entflohen sind,

1248 Predigten desJahres 1919

Viel weiter geht dann im ausgehenden 17.Jahrhundert der große ElIn seinen Katechismen wagt er ausdrücklich zu lehren, daß das Gebot «Du sollst nicht töten» [Dtn. 5,17] dem Geiste nach auch das Verbot, Tiere unnütz zu töten oder zu quälen, in sich schließe. In dem Gesangbuch der Gemeinde von Mülhausen im Elsaß vom Jahre 1826 steht sogar ein Lied über das Mitleid mit denTieren. Die Tierschutzbewegung der heutigen Tage geht auf den Stuttgarter Pfarrer Dann zurück, der als erster eine ausgedehnte Darstellung unserer Pflichten gegen dieTiere wagt. Er wurde dazu getrieben, als er es mitansehen mußte, wie ein roher Mensch einen Storch tötete. Da faßte er den Entschluß, alles, waser anTierquälerei mitangesehen, niederzuschreiben und die Leser damit zu erschüttern. Die Schrift erschien am Anfang des 19. Jahrhunderts zur Zeit der Napoleonischen Kriege. Am Ende entschuldigt er sich, daß er die Aufmerksamkeit auf das Mitleid gegen die Tiere lenke, wo so viele Menschen bluteten und litten. Aber, sagt er, wenn die Menschen es zuletzt über sich bringen, sich gegenseitig zu töten, so ist es, weil sie nicht vonJugend an zum Mitleid erzogen worden sind undin der gedankenlosen Mißhandlung der Kreatur verrohen. Also ist der Aufruf zum Mitleid mit den Tieren auch in der Zeit, wo unser Schmerz demvielen Weh der vielen Menschen gilt, nicht unzeitgemäß. Von da an ist die Tierschutzbewegung nicht wieder eingeschlafen. Aber sie hat dasGewissen unserer Menschheit nicht geweckt, daswahre Verhältnis zur Kreatur ist uns nicht selbstverständlich, weil dazu eben jenes Allgemeine gehört: Die Ehrfurcht vor dem Leben als solchem, das große Miterleben ... als das große Wissen vom Leben. Alles andere bleibt Stückwerk und ist auf Sand gebaut. Wie weit hinab reicht die Grenze des bewußten, fühlenden Lebens? Niemand kann es sagen. Wo hört dasTier auf, wo beginnt die Pflanze? Und die Pflanze: Fühlt und empfindet sie nicht, wenn wir es auch nicht nachweisen können? Ist nicht jeder Lebensvorgang, bis herab zur chemischen Verbindung zweier Elemente, mit etwas wie Fühlen und Empfinden verbunden? Darum muß unsjedes Sein heilig sein. Wir dürfen nichts davon achtlos vernichten. Reiß keine Blume, kein Blatt ab! Siehst du ein Pflänzchen, auch das gewöhnlichste, vor dir auf deinem Pfade, tritt so, daß du es nicht zertrittst, wenn du es vermeiden kannst! Gehst du mit Kindern in die Natur, laß sie nicht gedankenlos Blumen brechen in der ersten Stunde, die dann in den heißen Händchen welken und die sie dann, weil sässer Spener.

wir werden auch seinen nichtsnutzigen und üblen Netzen, die wir gestern gesehen, entfliehen. Gegeben in unserm himmlischen Sitz unter den Bäumen, unter unserm gewöhnlichen Siegel und Federn.» K. Bornkamm, G. Ebeling (Hg), M. Luther, Ausgewählte Schriften, Bd. II, 1982 Frankfurt am Main, S. 265.f.]

Der Gerechte

erbarmt sich

1249

sie ihnen unbequem werden, achtlos wegwerfen, sondern wage, sie von den ersten Jahren an zur Ehrfurcht vor dem Leben zu erziehen. Mache dich meinetwegen vor gedankenlosen Menschen lächerlich, die über solche Marotten spotten. Aber die Kinder werden von dem Schauer desGeheimnisses ergriffen werden und dir danken einmal, daß du die große Melodie der Ehrfurcht vor dem Leben in ihnen geweckt hast. Die Spottenden selbst aber werden von der elementaren Wahrheit, die in dem, wassie so ungewohnt berührt, mehr bewegt, alssie zugestehen wollen. Schon hier aber taucht nun die Schwierigkeit, die durch die Selbstentzweiung des Willens zum Leben, wie er in der Natur gegeben ist, auf. Der Mensch kann nicht aus der Luft und dem Boden seine Nahrung nehmen wie die Pflanze, sondern er bedarf dieser. Das höhere Leben vernichtet das niedere, um von ihm zu leben. Unbarmherzig fährt unsere Sense in der Zeit, wo alle Blumen blühen, durch die Wiese und legt sie zum Tode nieder, weil wir ihrer als Nahrung für das Hausgetier bedürfen.

Wo die Notwendigkeit uns leitet, nehmen wir uns das Recht zum massenhaften Vernichten und können nicht anders. Aber gerade weil wir so unter dem furchtbaren Naturgesetz stehen, dasdasLebendige das Lebendige töten läßt, müssen wir mit Angst darüber wachen, daß wir nicht aus Gedankenlosigkeit vernichten, wo wir nicht unter dem Zwang der Notwendigkeit stehen. Wir müssen jedes Vernichten immer als etwas Furchtbares empfinden und uns in jedem einzelnen Falle fragen, ob wir die Verantwortung desselben tragen können, ob es nötig ist

oder nicht. Was liegt doch nicht für eine furchtbare Gedankenlosigkeit in der Sitte, die Zimmer mit geschnittenen Blumen zu schmücken, sich mit geschnittenen, gar noch auf Draht gewundenen Blumen zu erfreuen. Der Anblick ist schön ... wir tragen Natur ins Zimmer. Aber Natur in welchem Zustande? Natur im Sterben! Die Blumen im Glas sterben, ehe ihnen ihr Ende gesetzt ist, um dich zu zerstreuen. Das Bild, an dem dudich erfreust, ist dasBild desTodes! Ich weiß, wie überspannt dies alles der ererbten Gedankenlosigkeit vorkommen muß. Aber wer einmal über das, was wir tun, nachzudenken anfängt, der kann nicht haltmachen, wo er will, sondern er wird immer zurückgeführt auf die Ehrfurcht vor dem Leben als auf das oberste Gesetz, das über allen Gebräuchen steht und bestimmt ist, alles zu beherrschen. So wird einst die Zeit kommen, wo die Kinder in den Schulbüchern lesen werden, bis zu welchem Jahrhundert sich die Menschen in naiver Roheit mit sterbenden Blumen erfreuten. Auf das Tier angewendet, heißt die Ehrfurcht vor dem Leben zunächst: Das Töten des Tieres sei kein Schauspiel und kein Sport! Kein Schauspiel: Ich sehe mich noch immer an einem strahlenden Herbstsonntage auf dem großen Platz in Barcelona. In hellen Gewändern, mit

1250 Predigten desJahres 1919

flatternden Spitzenkopftüchern fuhren Frauen und Mädchen alle nach einer Richtung: zur Arena! Um zu sehen, wie wütende Stiere armen Maultieren mit den Hörnern den Bauch aufschlitzten und dann selber, unter demJubel der Menge, endlich zuTode gequält wurden. Der Dirigent der großen Musikgesellschaft, deren Gast ich war, redete auf mich ein: Sie müssen kommen! Sie müssen es einmal gesehen haben, sonst wissen sie nicht, was Spanien ist! Alle andern Musiker sind immer dazu gekommen. Und der Mann, ein tieffrommer Künstler, mit dem ich mich noch am Morgen so ernst über Christentum unterhalten hatte, verstand nicht, warum ich mir das nie verzeihen könnte, und ließ mich dann stehen, um ja den Anfang nicht zu verfehlen ... Und ihr wißt: Arenen für Stierkämpfe werden im südlichen Europa seit zwei Jahrzehnten wieder gebaut, wo sie früher verboten waren ... In einem Jahrhundert sind sie vielleicht in ganz Europa zu finden. Und dieJagd? Ist diese damit auch verurteilt? DieJagd als notwendigesTöten von allerlei Getier des Feldes, sei es zur Nahrung, sei es, um seinem Überhandnehmen zu wehren, nicht. Aber dieJagd als Vergnügen: ja! Jagen sei ein notwendiges Handwerk wie das eines Schlächters, bei dem statt mit Beil und Messer mit dem Geschoß gearbeitet wird; aber nicht einVergnügen. Daß es bei uns so lange als eine Unterhaltung galt, sogar als eine Erziehung zur Männlichkeit galt, wird einstens als eine der bedeutungsvollen Tatsachen in der Geschichte desGeisteslebens angeführt werden. Diejenigen aber, die meinen, daß solche Empfindlichkeit die Geschlechter verweichliche, können uns nicht außer Fassung bringen. Die Männlichkeit, die sich in der gedankenlosen Freude amVernichten und Quälen zeigt, ist nicht die rechte. Mir selber ist dies alles als Kind klar geworden, besonders in einem merkwürdigen Erlebnis. Der Nachbarsknabe und ich hatten uns Schleudern verfertigt. Da sagte er am Sonntagmorgen, es war am Ende der Passionszeit, zu mir: Komm, wir gehen vor der Kirche hinters Dorf in die Gärten, und dort holen wir mit unsern Schleudern die Spatzen von den Bäumen! Der Gedanke war mir unheimlich. Er paßte nicht zum Sonntag, nicht zum Frühling, und ich fürchtete mich zum voraus, den von uns getöteten Vogel zu sehen ... aber ich wagte nicht, mich lächerlich zu machen. Vor einem kahlen Baum, auf dem viele Vögel zwitscherten, hielten wir vorsichtig und legten mit wichtiger Miene die Schleudern an ... Da, mit einem Male, tönte es mild vom Turm in den stillen Frühlingstag hinein. Ein furchtbares Weh überkam mich, als riefen uns die Stimmen zu, die große Sünde nicht zu tun... Ich stürzte nach Hause und wußte, ich ging, glaube ich, im ersten Jahre zur Schule, daß ich etwas für mein ganzes Leben Entscheidendes erlebt hatte.¦28¿ Vor der 28 [Vgl. dazu A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 275 f, wo dieses Erlebnis ebenfalls erzählt wird.]

Der Gerechte

erbarmt sich

1251

Erinnerung anjene Glocken habe ich mehr Angst als vor dem Lächerlichwerden, wenn ich seither wage, mich nicht mehr vor andern zu fürchten, wenn ich Überzeugungen vertrete, die nach den jetzt geltenden Begriffen überspannt erscheinen ... obwohl es nur selbstverständliche Wahrheiten sind. Vor einer besonderen Versuchung zur Mißachtung der Ehrfurcht vor dem Leben müssen wir uns alle hüten: Wir werden leicht mitleidslos dem unsympathischen Geschöpf gegenüber oder dem, das wir als böse kennen. Sehen wir eine Kröte, so haben wir einen Instinkt, ihr einen Stein nachzuwerfen. Um Ratten, Mäuse und anderes Getier zu vertilgen, scheint unsjedes Mittel recht, auch das, von dem wir wissen, daß es furchtbar lange Qual undTodesangst mit sich bringt. Davon müssen wir uns freimachen. Auch dem unsympathischen und schädlichen Tier gegenüber müssen wir uns immer der Verantwortung in jedem einzelnen Falle bewußt bleiben, daß wir es nur, wenn eine Notwendigkeit vorliegt, töten dürfen und dann sinnen müssen, dies mit den am wenigsten qualvollen Mitteln zu tun. Auch aus Angst undWiderwillen dürfen wir nicht grausam werden. Eine besondere Frage: Darf ich in den Kampf des Lebens gegen das Leben, der sich in der Natur abspielt, Partei ergreifen und in ihn eingreifen? Auf dem Boden draußen kriecht eine große Spinne. Ich weiß, daß sie viele arme Insekten, die sich in dem Netz, das sie bereiten wird, fangen, martern und töten wird. Ein Tritt von mir zerquetscht sie und schafft in einem Wesen so viel Qual für andere aus der Welt. Darf ich das? Soll ich das? Hier kann kein Entscheid gegeben werden, sondern du mußt in jedem einzelnen Fall aus Überzeugung, nach deinem Gewissen, handeln und wirst vielleicht einmal so, ein anderes Mal anders

tun. Um mein Haus in Afrika standen Palmen, von denen die Nester der Webervögel herunterhingen. Wenn dieJungen ausgekrochen waren, kamen große Habichte und fraßen sie unter dem Wehgeschrei der Alten. Dieses Leid gab mir das Recht, den Räuber zu töten. Aber wenn wir an einer Sandbank vorbeifuhren, auf der der Kaiman schlief, schoß ich nicht auf ihn, wie die andern sonst taten – sie taten es aus Sport – obwohl ich mir ausrechnete, was er in der Nacht unter den Fischen für Verheerungen anrichtete, weil ich ihn nicht auf der Tat antraf und nicht die Schuld auf mich nehmen wollte, daß er verwundet ins Wasser tauchte und dort litt. Die Entscheide können so oder so ausfallen, wenn du nur nach Verantwortung und Gewissen handelst – und nicht nach Gedankenlosigkeit – bist du im Recht. Unserer Verantwortung bewußt werden, heißt auch, daß, wo etwas mit einem Tiere in unserm Tatbereich geschieht, wir alles tun, umWeh zu verhüten. Für viele Menschen existiert dasWeh nicht, wenn sie es nur nicht anzusehen brauchen. Sie flüchten sich und bedenken nicht,

1252 Predigten desJahres 1919

daß sie gerade mit diesem Nichtansehenkönnen schuldig werden. Die Hausfrau kann nicht mitansehen, wie der Fisch oder das Huhn getötet werden, sie läuft fort, schlägt dieTür zu und die Hände vor das Gesicht und überläßt es dem Mädchen, dem es ebenso geht, und das dann aber, weil es muß, in trostloser Unerfahrenheit die schlechteste Methode anwendet. Nachher kommt sie wieder und ist erlöst, daß «alles fertig ist», aber in dem gequälten Gesicht des toten Tieres könnte sie lesen, daß sie den letzten Liebesdienst, den sie ihm schuldete, an ihm versäumt hat. Darum erziehe deine Kinder nicht zu solchem Sichverstecken; sie müssen wissen, wie man dasTöten, das das gewöhnliche Leben mit sich bringt, am besten vollzieht, und müssen die, die damit zu tun haben, belehren können und beaufsichtigen. In Afrika, wo man alles Schlachten selber vollziehen muß, zwang ich mich, nach Möglichkeit zugegen zu sein, umjede unnötige Qual desTieres zu verhindern. Sind Kätzchen abzuschaffen, gib sie nicht zum Ertränken und meine nicht, alles sei gut, wenn du sie nur ausden Augen hättest, wo sie dann vielleicht stundenlang jammernd im Wasser treiben, sondern töte sie selber mit einem Hammerschlag auf den Kopf. Dasist deine Pflicht an ihnen. Daß wir gezwungen sind, vielfältig Leben zu vernichten, sei es für unsere Erhaltung, sei es, umTiere, die geboren werden und die wir nicht aufziehen können, abzuschaffen, sei es, um uns vor schädlichen Tieren zu schützen, das ist das furchtbare Gesetz der Entzweiung desWillens zum Leben, dem wir unterworfen sind. Nie dürfen wir uns darein gedankenlos ergeben. Immer ist es uns gleich furchtbar, gleich unheimlich. Aber das eine müssen und können wir tun: die Verantwortung in jedem einzelnen Fall erwägen, die Notwendigkeit prüfen und dann auf die schonendste Art vorgehen. Hat einem gutsituierten Landmann ein Pferd treu gedient, so hat er nicht das Recht, es, wenn es zu seinem Dienste durch Alter unfähig wird, es in Hände zu verkaufen, die es quälen, um das Letzte aus ihm herauszuholen, sondern er gebe ihm das Gnadenbrot oder verkaufe es

zumTöten. Aber nicht nur nicht töten sollen wir, sondern Leben erhalten, wo es möglich ist. Daß wir dem Gesetz, töten zu müssen, dasniedere Leben dem höheren zu opfern, in tausendfältiger Weise unterworfen sind, ist furchtbar. Nur etwas gibt es, das es uns auf Zeit vergessen läßt und wie in eine andere Welt versetzt: das Lebenerhalten und das Helfenkönnen. Halte deine Augen offen, damit du die Gelegenheit nicht versäumst, wo du darfst Erlöser sein! Geh nicht achtlos an dem armen Insekt, das ins Wasser gefallen ist, vorüber, sondern ahne, was es heißt: mit dem Wassertod ringen. Hilf ihm mit einem Halm oder einem Hölzchen heraus, und wenn es sich dann die Flügel putzt, so wisse, es ist dir etwas Wunderbares widerfahren: das Glück, Leben gerettet zu haben ... im Auftrage und in der Machtvollkommenheit Gottes gehandelt zu haben.

Richtet nicht

1253

Der Wurm auf der harten Straße, auf die er sich verirrt hat, verschmachtet, weil er sich nicht einbohren kann, lege [ihn] aufs weiche Erdreich oder ins Gras! «Wasihr getan habt einem dieser Geringsten, dashabt ihr mir getan» [Mt. 25,40] ... diesWort Jesu gilt uns für alles, waswir an der geringsten Kreatur tun. Wer die Gehobenheit nicht kennt, die wir dann erleben, wenn das wunderbare Licht des Helfendürfens in die grausige Nacht des Zerstörenmüssens hineinfällt, weiß nicht, wie reich das Leben sein kann. Und auch hier: Kümmere dich nicht um die hergebrachten Vorurteile, habe keine Angst, lächerlich zu sein, sondern handle. Was du tust, gehört zum Menschsein. Wo du es selber am andern siehst, ist es dir nicht, als versöhnte es dich mit den Menschen und dem Leben, mit denen du innerlich zerfallen bist? Am dunkeln Winterabend, wenn die Pferde den schweren Wagen wegen Eis und Schnee nicht die Brückenwölbung hinaufbringen und nun einige Vorübergehende Hand anlegen und schieben helfen, ist es dir nicht, so gering es ist, wenn du dazu kommst, als versänke die dunkle Winternacht und gingest du in einer wunderbaren Nacht weiter? Und stehen dir diese Menschen, mit denen du Hand anlegtest, dann nicht näher durch dieses unscheinbare, natürliche Tun als viele, mit denen du über soundso viel Dinge geredet hast?

Morgenpredigt Sonntag, 16. März 1919, St. Nicolai¦29¿ 4. Predigt über ethische Probleme

Mt. 7,1: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet Die Ehrfurcht vor dem Leben der niederen Kreatur beschäftigte uns in unserer letzten Andacht.¦30¿ Wir suchten zu verstehen, bis zu welchem Grade wir das Recht haben,¦31¿ das niedere Lebewesen dem höheren zu opfern, und welche Pflicht wir haben, Leiden undTod bei aller Kreatur, wo wir es nur immer können, abzuwehren.¦32¿ In jedem Augenblicke, sagte ich, müssen wir uns unserer Verantwortlichkeit für das, was wir 29 [Neben dem handschriftlichen Original befindet sich im Zentralarchiv Günsbach eine Abschrift mit Schreibmaschine, die nachher geschrieben wurde, aber von Albert Schweitzer unterschrieben ist. Es handelt sich wohl um die Nachschrift der gehaltenen Predigt. Im folgenden werden wesentliche Ergänzungen oder Abweichungen daraus in den Fußnoten unter MS wiedergegeben.] 30

[Siehe S. 1245. 02.03.19.]

31 [MS:] nach dem furchtbaren Gesetz der Entzweiung desWillens zum Leben. 32 [MS] Ich sagte euch auch, daß es kein Gesetz für jeden einzelnen Fall geben könne, sondern in ...

1254 Predigten desJahres 1919

mit dem Lebewesen unternehmen oder was wir an ihm unterlassen, bewußt sein und uns freimachen von der Gedankenlosigkeit, mit der der gewöhnliche Mensch sich an der Kreatur versündigt.¦33¿ Zugleich müssen wir bedenken, daß wir moderne Menschen eine große Dankesschuld an die Kreatur abzutragen haben. Die Mittel, mit denen Krankheiten geheilt und Schmerzen gestillt werden können, verdanken wir zum großen Teil der armen Kreatur, die sich zu den Versuchen, die die Medizin vorwärtsbrachten, hergeben mußte.¦34¿ Was wir einem Tiere Gutes antun, ist also immer nur eine Dankesschuld, die wir abtragen für das, wasdie leidende Kreatur für uns erworben hat. Und nun:¦35¿ Was bedeutet die Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben? Wasgebietet mir diese Ehrfurcht? Wasgebietet mir dasMiterleben desLebens der Menschen um mich herum? Die Ehrfurcht vor dem Menschenleben beginnt mit der Ehrfurcht vor demeigenen Dasein. Der Mensch, sagt der Philosoph Hegel einmal, als dashöchste Wesen hat die große Freiheit, daß er seinem Dasein freiwillig ein Ziel setzen kann.¦36¿Daß wir im Dasein bleiben, ist ein Akt der Sittlichkeit. Bei vielen ist es ein unbewußter Akt, der ihnen erleichtert und nahegelegt wird durch ein Grauen vor dem großen Unbekannten, dasheißt Tod, durch eine wohltuende Gedankenlosigkeit, die ihnen das bißchen Genuß, das das Leben bieten kann, als etwas erscheinen läßt, dasdasLeben lebenswert macht. Wer aber zu denken wagt,¦37¿ wer Fragen an das Dasein stellt, wer den Sinn der Existenz, die er trägt, zu begreifen sucht, wer dasWeh der Welt miterlebt, der kennt die Stunden, in denen das Grauen vor dem Dasein ihm stärker ist als das Grauen vor dem Nichtmehrsein, wenn er auch den anderen als ein glücklicher, vielleicht gar als ein lebenslustiger Mensch vorkommt, und wo die Versuchung, auf irgendeine Weise seinem Leben ein Ende zu setzen, an ihn herantritt. Du gehst neben Menschen einher und meinst, sie zu kennen, aber du kennst sie nicht, weil du nicht weißt, daß sie solche Stunden durchlebt haben, wo sie schwankten, ob sie sich für das Sein oder dasNichtsein entschieden.¦38¿ 33 [R] Auseinandersetzung mit derWirklichkeit. 34 [MS] zur Ausprobierung von Medikamenten, die uns zugute kommen. Daß wir uns dasRecht nehmen müssen, leiden zu machen, um Leiden zu entgehen, um Menschen vomTode erretten zukönnen, ist wiederum eine furchtbare Folge der Entzweiung des Willens zum Leben.

35 [MS] denken wir uns heute ein in die Gedanken der Sittlichkeit dem Menschen gegenüber.

36 [MS], wenn es nicht mehr lebenswert scheint. 37 [MS] Wer anfängt zu denken, der wird dann immer wieder auf die Frage stoßen: Warum lebst du noch? Wer anfängt, das Weh der Welt in sich zu erleben, der muß sich doch fragen: Wie kannst du dies durch dein ganzes Dasein hindurchschleppen? 38 [MS] Du gehst mit einem Menschen und meinst ihn zu kennen. Er scherzt, er lacht, er gehört nach den Ansichten der Gesellschaft zu den Glücklichen, und du kennst ihn

Richtet nicht

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Bist du nie an einem Grab gestanden – das Laub spielte im Herbstwind, oder Frühlingsblumen bewegten sich im Winde – und in dem Schweigen des Friedhofs versank dieWelt, versank dein Sein,¦39¿ und eine furchtbare Sehnsucht erfaßte dich, nun auch zu ruhen ... daß du wie mit Schmerz wieder erwachtest und hinaustratest?¦40¿ So kommt fürjeden, der dasLeben wahrhaft kennen lernt, eine Krise, wo ihm dieses Dasein wertlos wird, mag er es auch noch weiter tragen. Aus ihr führt nur die Ehrfurcht vor dem Leben heraus, daß wir aus Pflicht leben. Es liegt ein tiefer Sinn in dem Gedanken, daß wir alle wiedergeboren werden müssen, um zu sein, was Gott von uns verlangt: Alle müssen wir ausdem unbewußten Willen zum Leben zum höheren, bewußten wiedergeboren werden, in dem wir dann leben, weil das Leben an sich, so dunkel es ist, so unerklärlich es bleibt, uns als etwas Rätselhaft-Kostbares erscheint. In dem wirren Lärm derWelt hören wir das ewige Lied vom Leben wie eine reine, klare Melodie über dem Ganzen schweben und lassen uns dadurch führen, welches auch unser Schicksal sei.¦41¿ Zu der Ehrfurcht vor dem eigenen Dasein kommt die vor dem Sein, das von uns seinen Ausgang nimmt. Welches Recht haben wir, andere Menschen ins Dasein treten zu lassen? Du schaust dein Kind in der Wiege an. Was wird sein Dasein sein? Es wird dieselbe Last tragen wie du.Vielleicht geht es körperlich und geistig zugrunde. Und du, du lädst ihm die Last des Daseins auf, du trägst mit die Verantwortung, daß das furchtbare Spiel der Existenz der Menschheit sich von Generation zu Generation fortsetzt. Man sagt, daß der indische Buddhismus sich bereite, in der Welt auf Eroberungen auszugehen. Ob es dazu kommt oder nicht, die Weltanschauung, die er vertritt, ist eine große Versuchung. Er lehrt die Erlösung derWelt als ein Aufhören des Lebens. Wenn es keine Menschheit mehr gibt, niemand mehr zu Leid und Weh geboren wird, dann ist Seligkeit über dieWelt ausgegossen. Diesen Gedanken braucht man nicht von außen in uns hineinzutragen. Er ist in uns. Und wir müssen mit ihm fertig werden und ihn durch sein Gegenteil überwinden, daß dies die Wahrheit ist, daß möglichst viel Menschen leben auf der Welt, daß es einen Weltzweck gibt, der will, daß möglichst viele Menschen dasDasein erleben, und daß wir uns ihm beugen und jedes neue Menschendasein als etwas Wertvolles nicht, denn du kennst nicht die Stunden, die dieser Mensch durchgemacht hat, wo er am Abgrund des Lebens wandelte und wo sein eigenes Leben ihm feil war, daß nur die Anstrengung, es von sich zuwerfen, ihn bewog, es weiter zu tragen. 39 [MS] dubeneidetest, die schon schlummerten unter dieser Erde, 40 [MS] ausdiesem traumhaften Entrücktsein 41 [MS] Keiner wird wahrhaft zum sittlichen Menschen, der sich nicht zu dieser höheren Ehrfurcht vor seinem eigenen Sein hindurchgerungen hat.

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für dieWelt ansehen als etwas, das sein soll, und den andern Gedanken der Verminderung des Seins von Menschen in der Welt als Sünde empfinden. Dafür gibt es aber keine andere Begründung als die Ehrfurcht vor dem Leben. Man kann nicht sagen, daß die Menschheit irgendeinen Zweck in derWelt verwirklicht, sondern sie ist selber Zweck. Und auch hier wandeln wir zwischen Rätseln: Die Ehrfurcht vor dem höchsten Leben gebietet uns, auch das sinnlose oder qualvolle Menschenleben nicht aufzuheben. Wenn ich ein Tier sehe, das leidet, darf ich ihm Erlöser sein, indem ich seinem Dasein ein Ende setze. Bei dem leidenden Menschen, auch wenn ich weiß, daß sein Dasein nur noch Leiden ist, darf ich es nicht. Ich soll es nicht einmal um eine

Stunde verkürzen. Und mein eigenes Dasein muß ich tragen, auch wenn es nur noch Schmerz und Qual ist. In diesen Fällen kann man noch sagen, daß das Dasein noch den Sinn habe, daß wir den andern das Leiden vorleben und uns selber im Leiden läutern, wenn auch in vielen Fällen die Qual so ist, daß von einer Besinnung und geistigen Verarbeitung des Wehs keine Rede sein kann. Aber in seiner ganzen Furchtbarkeit steht das Rätsel vor uns, wenn es sich um Menschenexistenzen handelt, denen die Menschenvernunft fehlt und die wir aus Ehrfurcht vor dem Menschenleben an sich im Dasein erhalten. Ein alter Arzt erzählte mir vor Jahren, welche Versuchung er erlebt hatte. Er war zu einem schwachsinnigen Kinde, das an Diphterie erkrankt war, gerufen worden. Einige Stunden Zögern in den zu ergreifenden Maßnahmen, und das Kind wäre von seinem elenden Dasein erlöst gewesen. Ich kämpfte mit mir, sagte er, und zuletzt siegte die Ehrfurcht vor dem Leben. Es wurde gerettet, und ich trage die Verantwortung, daß es sein elendes Dasein vonJahr zuJahr weiterschleppt. Die Rätsel, die sich hier auftun, vermögen wir nicht zu lösen. Du hast dir die schönste Weltanschauung aufgebaut und gehst an den vergitterten Fenstern einer Nervenklinik vorüber. Stellst du dir das Elend vor, das dahinter wohnt, und mußt du den Gedanken des rettungslos sinnlosen Lebens denken, so geht alles, wasdu dir erdachtest, zugrunde, denn in der Weltanschauung ist nur für das vernünftige, entwickelbare Menschendasein Platz, nicht für dasrettungslos sinnlose. So treten wir durch das Tor der Ehrfurcht vor dem eigenen Dasein in das Gebiet der Sittlichkeit hinein und schauen wie auf einer Brücke gehend in einen Abgrund unlöslicher Probleme hinein, den wir weiterschreitend zurücklassen, von dem wir die Blicke abwenden, um sie nach vorn zu richten, und der uns doch immer wieder zum Rückschauen zwingt. Ehrfurcht vor dem Leben, auf dasMenschendasein angewandt, heißt nun nicht nur Ehrfurcht vor dem Sein als solchem und seinem Leiden wie bei der Kreatur, sondern Ehrfurcht vor allen Werten und Zwecken,

Richtet nicht

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die in diesem höchsten Sein gegeben sind.¦42¿ Ich kann mein Leben als lebenswert im tieferen Sinne nur begreifen, wenn ich es auf seinen höchsten Wert bringe, das heißt, wenn ich die geistige und sittliche Vollendung erstrebe. Und in der Ehrfurcht vor dem Leben der anderen ist ebenfalls diese Ehrfurcht vor der Bestimmung des Menschenlebens gegeben. Was ich als das in uns drängende Ziel des Seins verstehe, ist, daß mein Leben zugleich mit dem aller Menschen auf seinen höchsten Wert gebracht werde. Das ist der Weltgedanke, wie ich ihn in mir erlebe. Damit habe ich dieWelt nicht erklärt; der Zweck der Natur mit ihren tausend Lebenserscheinungen ist damit nicht begriffen, denn die Natur ist nicht bloß Voraussetzung des Daseins der Menschheit. Und wenn ich die Augen zum Firmament erhebe und mir sage, daß diese leuchtenden Punkte dort oben eine Unendlichkeit von Welten bedeuten, so wird meine Existenz und die der Menschheit daneben etwas so Kleines, daß ich die Vollendung des Daseins dieser Menschenwesen nicht als Weltzweck denken kann. Die Natur ist nicht Voraussetzung der Menschheit, und die Menschheit läßt sich nicht als Zweck der unendlichen Welt, der Unendlichkeit von Welten begreifen, und doch ist die Vollendung des Menschen der einzige Zweck, den wir dem Sein überhaupt geben können. Das ist die immer wiederkehrende Schwierigkeit jedes Versuchs zu einer sinnvollen Weltanschauung, die uns in tausend immer neuen Gestalten im Denken und in der Religion begegnet. Daß die Welt um der armseligen Menschlein willen bestehen soll, wo wir uns selber in der Unendlichkeit des Seins als etwas ganz Kleines, fast Zufälliges vorkommen, ist der Anstoß, den wir schon als Kinder, als unser Denken erwachte, empfunden haben und der sich vertieft, je weiter wir kommen. Der Gedanke, daß die Vollendung des einzelnen und der Menschheit der einzige Zweck ist, den wir in dem Sein entdecken können und den wir als natürlich empfinden, ist nicht so, daß wir eine Weltanschauung darum erbauen können, sondern wir müssen uns immer wieder bescheiden, ihn an sich und für sich selbst zu nehmen, ihn als etwas, was wir elementar erleben, aber nicht weiter ausführen können, festzuhalten. Nur in einem vermögen wir, es ahnend zu begreifen: Die Entwicklung des Menschen und der Menschheit hat eine das Sein der ungeheurenWelt erfüllende und überragende Bedeutung, weil es sich um etwas Geistiges handelt. Und wo das Geistige einsetzt, hören die Maßstäbe, mit denen man die Dinge messen und vergleichen kann, auf. In dem Menschen und in der Menschheit kommt Gott, der Weltgeist, wie es die Mystiker immer sagten, zum Bewußtsein seiner selbst, und zwar zu 42 [MS] Hier handelt es sich nicht nur um die Frage der Existenz an sich, sondern das Wie der Existenz hat eine Bedeutung.

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einem um so reineren Selbstbewußtsein, je mehr sich Mensch und Menschheit geistig und sittlich vollenden. Dies ist das ungeheure, geheimnisvolle, einzigartige Ereignis in dem Geschehen, und insofern kann die Vollendung des Menschen und der Menschheit als Endzweck der Welt begriffen werden, aber nur wie in traumhaftem Ahnen, denn erklärt sind die Rätsel nicht, die sich hier um uns türmen. Sittlichkeit ist also, daß mir das eigene Dasein und das Dasein jedes Menschen heilig ist und daß ich von der höheren Bestimmung meines eigenen Wesens wie der jedes Menschenwesens überzeugt bin und danach verfahre.¦43¿ Negativ heißt also Sittlichkeit, daß ich in nichts schädigend in das Dasein eines Menschen eingreife, sondern seinen Besitz, seine Stellung, sein Glück, seinen Namen, seinen Ruf, alles, was zu seinem Dasein gehört, unangetastet lasse. Wie weit können wir das durchführen? Zunächst einmal, soweit unsere Gesinnung reicht. Was hindert unsere Gesinnung? Gedankenlosigkeit, Neid und Haß. Mit diesen drei Feinden hat jeder von uns sein Leben lang zu kämpfen. Nehmen wir den sichtbarsten zuerst, den Haß. Ich soll einen Menschen in seinem Dasein in keiner Weise schädigen, auch wenn er mir unsympathisch und verhaßt ist, auch wenn er mir Böses angetan hat. Wir lernen es von Jugend auf, und wir fühlen instinktiv, daß es wahr ist. Jedesmal, wenn wir eine Gehässigkeit begehen, und wenn wir sie noch mit so viel guten Gründen umgeben, auch wenn wir uns klarmachen wollen, daß wir nicht auspersönlichen, sondern aussachlichen Motiven handeln, hören wir ein klares Warnen in uns, das uns sagt, daß wir im Begriffe sind, zu fallen. Zuletzt lassen wir uns dann abstumpfen und handeln nach dem «Auge um Auge, Zahn um Zahn» [Mt. 5,38], Hinterlist um Hinterlist, Verdächtigung umVerdächtigung, Verleumdung um Verleumdung, daswir als dasAlltägliche um uns sehen. Damit sind wir auf dem Wege des geistigen Zugrundegehens, denn nichts frißt so an unserer Seele und bringt uns so herunter. Und wo wir so in der Nacht der Welt versinken, funkeln über uns die wunderbaren Worte des Herrn: «Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel» [Mt. 5,44 f.] und die Sprüche des Apostels: «So deinen Feind hungert, so speise ihn; dürstet ihn, so tränke ihn; wenn du das tust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln» [Röm. 12,20]. Wie ergeht es uns mit diesen Worten? Laßt uns ganz nüchtern reden, und daß sich unsere Gesinnung mit den Tatsachen auseinandersetze. 43 [R] Materielle undgeistige Pflichten.

Richtet nicht

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Keiner von uns denkt daran, diese Worte außer Kraft setzen zu wollen, sondern malt sich die Situationen aus, in denen er nach ihnen verfahren möchte, und empfindet zum voraus Genugtuung über seinen Edelmut. Jeder von uns, wenn er mit einem Menschen sehr verfallen ist, stellt sich vor, wie er ihm großmütig helfen würde, wenn er in Not wäre, wie er ihm Böses mit Gutem vergelten würde. Aber die Schauwunder der Liebe auszuführen, an denen wir uns zum voraus ergötzen, finden wir im Leben keine Gelegenheit. Wie schön wäre es, unsern Feind – ich meine den persönlichen Feind – zu tränken, wenn er verschmachtet, oder ihn zu speisen, wenn er hungrig ist; aber siehe: Er bedarf unser gar nicht, denn er hat zu essen und zu trinken. Auch sonst kommt er nicht in die Lage, daß wir ihm zu seiner Beschämung so recht zeigen können, was christliche Feindesliebe ist, und wollen wir ihm auf irgendeine andere Weise zeigen, daß wir ihn lieben und feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln wollen, so verbittet er es sich und mißversteht und höhnt uns in jeder Art. Auch unser Verzeihen mag er nicht. Kurz: Er stellt sich in keiner Weise an, daß wir unserm Großmutsbedürfnis an ihm Genüge tun können; und zwar nicht einer, sondern so ziemlich alle. Und weil unsere Feinde nicht zu der edeln Gesinnung, die wir in uns tragen, passen, fühlen wir uns unverstanden, enttäuscht ... und machen es zuletzt dann wie der Durchschnitt der Menschen um uns herum ... Und warum dies? Weil sich unsere Gesinnung nicht mit der Wirklichkeit auseinandergesetzt hat. Wer in uns ist enttäuscht? Wer wird von derWelt um seine beste Gesinnung betrogen? Nicht der wahre Mensch in uns, sondern der Schauspieler. In jedem von uns wohnt ein Schauspieler, der uns durchs ganze Leben begleitet und nach schönen Rollen verlangt, um sie zu spielen. Und wir verwechseln die Sittlichkeit mit den schönen Rollen, die wir ihm zudenken. Die schönste, die er am liebsten spielt, ist die der Großmut. Und weil er sie nicht spielen kann, sagt er zum Menschen in uns: Das Leben erlaubt uns nicht, sittlich zu sein. Solange der Träumer, der Phantast – eben dieser Schauspieler, der sich in seiner Großmut sonnen will – noch in deine Sittlichkeit hineinreden, in ihr Befriedigung suchen will, bringst du es zu nichts. Fürchte dich, vor den Menschen großmütig erscheinen zu wollen; fürchte dich davor, dir selber noch so vorzukommen. Leg alles nieder, was in deinen Gedanken irgendwie mit dem Gefühl der Großmut zusammenhängt, wie man ein altes, verwinkeltes Stadtviertel niederlegt, um breite Straßen auszuführen, in die Sonne hineinscheint, und Häuser zu bauen, in denen sich wohnen läßt. Dies ist nicht mehr so poetisch und so malerisch, aber es ist besser. So auch in deiner Sittlichkeit. Gehe nicht auf Schauwunder der Feindesliebe aus. Es ist dir vielleicht im ganzen Leben nicht beschieden,

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eines zu erleben, sondern baue von unten auf und leiste das Unscheinbare und Verborgene, das viel schwerer ist als das anerkannt Großartige, dann wirst du das Großartige tun so, wie es sein soll und wie es in Jesu Geist liegt, unbewußt.¦44¿ Das Einfache, das so schwer ist, ist, wenn du mit einem Menschen zerfallen bist, ein unfreundliches Wort oder eine häßliche Andeutung über ihn, die du irgendwo anbringen könntest, und wo kein Mensch, der weiß, wie ihr zueinander steht, etwas dabei finden würde, zu unterdrücken; oder wo er dich irgendwo reizt, zu tun, als wüßtest du es nicht; oder wo man dir etwas über ihn hinterbringt, dich nicht dafür zu interessieren; wo du ihm schaden könntest, dich davon zu enthalten; nicht davon zu sprechen, was er dir angetan hat, auch wenn du ihn vor den Menschen hundertmal ins Unrecht setzen könntest ... Das alles gehört zu dem unscheinbaren Wort, nicht schädigend in sein Dasein eingreifen, und ist die Vorschule, die schwere Vorschule der Sittlichkeit. Diese Sittlichkeit läßt sich nicht in Geboten formulieren, sondern sie wächst wie ein Strauch in großen und kleinen Trieben aus der Ehrfurcht vor dem Dasein des anderen heraus. Denn zuletzt hält dich in dieser alltäglichen Anstrengung nichts aufrecht, als daß du immer wieder zur Überlegung zurückkehrst: Er ist ein Mensch wie ich.Wasich an ihm kenne, ist nicht sein ganzes Dasein. Wie ich in vielem besser bin, als die Menschen, von denen mich etwas trennt, ahnen und gelten lassen wollen, so auch er. Und wie ich in so vielem schlechter, furchtbar viel schlechter bin als die Ehrbarkeit, in der ich in der Gesellschaft herumwandle, und die mir zugestanden wird, so auch er. Wie ich nach der Sehnsucht und dem Schmerze, die ich in mir trage, und den Idealen, die sich in mir regen, ein ganz anderer bin, als ich michje zu erkennen gebe, so auch er. Keiner von uns kann sagen: Ich kenne den und den, und wenn er mit ihm im Hause wohnt und sein Leben teilt ... Sondern jeder Mensch, und oft je näher wir ihn kennen, ist zuletzt für uns ein Geheimnis, wie sich das Gute und das Böse, das Sehnen nach Idealen und das Verbrauchtsein durchs Leben in ihm durchdringen und seine Entschlüsse bestimmen, und wie sich das Schicksal gestaltet, das über ihm waltet. Und weil sein Leben ein Rätsel für dich ist ...: Wenn du dich in diesen Gedanken vertiefst, dann lebst du in der Ehrfurcht vor einem jeden Menschendasein, daß du dir das Recht, das sich die gedankenlosen Menschen nehmen, in irgendeiner Leidenschaft in dasselbe einzugreifen, nicht mehr zuerkennst. Es ist nicht mehr Leben des persönlichen 44 [MS] Du weißt, ich muß aus einem ganz andern Grunde sittlich handeln; ich muß sittlich handeln mit jedem Menschen und darf sein Dasein nicht stören, weil ich ihm Ehrfurcht schulde.

Daß ihr nicht

widerstreben sollt

dem Übel

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Feindes für dich, sondern Leben schlechthin – etwas, woran du nicht rühren darfst, um es zu stören, sondern nur, um es zu erbauen.45 So furchtbar nüchtern und kühl zu reden, wage ich, weil ich die Gewißheit habe, daß eben in der Ehrfurcht vor dem Leben etwas so Großes und Überwältigendes liegt, daß der Enthusiasmus, der uns durchs Leben tragen muß, wenn wir dem Guten dienen sollen, darin wie eine große, ruhige Melodie gegeben ist.

Morgenpredigt Sonntag, 30. März 1919, St. Nicolai46 5. Predigt über ethische Probleme

Mt. 5,39: Ich sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel Mt. 18,21: Wie viel mal muß ich meinem Bruder vergeben?47 Jesu Grundsatz, daß wir nie aus Haß oder Abneigung schädigend in das Dasein eines Menschen eingreifen dürfen, auch wenn er anerkanntermaßen keine Sympathie verdient und uns Böses zugefügt hat, müssen wir also an die Spitze jeder Sittlichkeit stellen; denn von seiner Beobachtung hängt ab, ob wir moralisch bleiben oder nicht. Und es ist nicht nur die intimste Forderung der Sittlichkeit, sondern auch die, die keiner Einschränkung unterworfen ist, die uns in keine Konflikte mit uns selbst bringt und wo es nur von unserer Gesinnung abhängt, ob wir sie erfüllen. Bei allen anderen Forderungen der Sittlichkeit, denen wir jetzt begegnen werden, muß sich das Ideal mit der Wirklichkeit auseinandersetzen und ihren Forderungen Rechnung tragen. Hier aber bin ich Herr auf diesem immensen Gebiet der alltäglichen Sittlichkeit, das grundlegend für das gegenseitige Verhältnis zwischen Menschen ist. 45 [MS] So schwebt über der Eingangspforte der Sittlichkeit das große Wort «Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.» Weil jedes Menschendasein für uns ein Geheimnis ist und wir niemand so kennen, daß wir mit ihm abrechnen könnten, wollen wir in unserm zeitlichen Leben versuchen, nicht die großartige Sittlichkeit, sondern die bodenständige Sittlichkeit zu üben, in der das Großartige sich selbst vollzieht, ohne daß es uns zum Bewußtsein kommt, daß wir überhaupt etwas Großartiges getan haben.

46 [Wie zur 4. gibt es auch zur 5. ethischen Predigt neben dem handschriftlichen Original im Zentralarchiv Günsbach eine später entstandene maschinengeschriebene Fas-

sung. Daraus werden die wichtigsten Ergänzungen unter [MS] in den Fußnoten vermerkt.] 47 [MS] In unserer letzten Morgenbetrachtung traten wir ein in die Gebote der Sittlichkeit gegen unseren Nebenmenschen und versuchten zu verstehen, was es in den einzelnen Fällen heißt, daß wir Ehrfurcht vor seinem Leben haben sollen. Und das erste allgemeine Negative, das ich vor uns aufstellte, das ist, daß wir nicht schädigend in seine Existenz eingreifen.

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Hier [brauchst du] nicht zu sorgen, ob du verstanden wirst, sondern ob verstanden oder mißverstanden: Immer kannst du dem Ideal nachgehen.¦48¿

Gleich bei der nächsten jetzt auftauchenden Frage stellt sich die Auseinandersetzung zwischen Ideal und Wirklichkeit ein. Es handelt sich um die Frage, wie weit ich denen, die meine Existenz in böswilliger Weise schädigen, nachgeben muß. Heute wollen wir uns weiter in diese Frage hineindenken. Unser Herr Jesus hat hier das Ideal aufgestellt, in der Bergpredigt, indem er sagt: «Ihr sollt nicht widerstreben dem Übel, sondern so dir jemand gibt einen Streich auf deinen rechten Backen, dem biete auch den andern dar, und sojemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel, und so dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei» [Mt. 5,39–41]. Die Grundidee, die er in diesen extremsten Beispielen aufstellt, leuchtet uns ein. Wir sollen nicht jede Schädigung unseres Daseins sogleich abwehren, sondern uns gewöhnen, Unrecht zu erdulden mit Ruhe und Milde, und nicht meinen, daß mit jedem Unrecht, das uns geschieht, unsere Existenz gleich bedroht ist. Jesus wendet sich gegen dieses instinktive Reagieren auf alles, wasuns angetan wird. Fassen wir es so: Du sollst dich nicht alsbald gegen jedes Übel, das dir angetan wird, zur Wehr setzen, sondern erziehe dich, daß du Verleumdung, Lüge, Intrigen, Schädigung, die gegen dich ergehen, als etwas hinnimmst, das kommen muß. Arbeite innerlich an dir, daß du über dies alles hinauskommst. Lerne das große Vergeben des Nichtbeachtens.¦49¿ An der Ungerechtigkeit, die dir begegnet, liegen 50 Prozent an den Umständen, 25 Prozent an der Unwissenheit und Gedankenlosigkeit der Menschen und nur 25 an wirklicher Böswilligkeit. Und du selber bist mit verstrickt in gleiche Schädigung der Existenz der anderen Menschen. Bedenke nur eines: Was redest du ungeprüft nach, was man Törichtes und Übles gegen einen Menschen vorbringt! Ziehe ab, was die Umstände an der Ungerechtigkeit und Härte, die dir begegnen, teilhaben, ziehe ab, was die Menschen in Gedankenlosigkeit dir scha48 [MS] Keine Macht der Erde zwingt dich, etwas Häßliches gegen ihn zu tun. Und dasist die Fundamentierung der Sittlichkeit. Die Grundlage der Sittlichkeit ist eben, daß du dich in der Gewalt hast und nicht alles Böse, was man dir tut und was sich in dir regt, den Menschen zurückgibst. Halte dich zurück, damit du dich als sittlicher Mensch bewährst.

49 [MS] Wenn ihr am Meer geht, seht ihr die Welle kommen; und sie wirft sich mit

ihrem schäumenden Kamm auf das Land, und plötzlich, wo ihr meint, das Wasser müßte stehen, steht es nicht mehr, sondern die Erde hat es in sich aufgenommen. So soll jeder Mensch sein wie die Erde, die dasWasser in sich aufnehmen kann, daß es in ihr versickert. Der gewöhnliche Mensch ist wie das Erdreich, das dasWasser nicht durchläßt, so daß es sich sammelt und als häßliche Pfütze dasteht. Er behält alles, was gegen ihn gesagt wird undführt Rechnung undbeschäftigt seine Gedanken damit.

Daß ihr nicht

widerstreben sollt

demÜbel

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den, wie du den andern schadest. – Was bleibt noch, worüber du dich empören darfst? Als Petrus den Herrn – sie waren schon auf dem Leidensweg nach Jerusalem – fragte, ob es genug sei, wenn er seinem Bruder siebenmal vergebe, antwortete er ihm: «Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal» [Mt. 18,22] und schließt als Erklärung das Gleichnis an von dem Menschen, der wegen einer Schuld von zehntausend Pfund alles verkauft bekommen soll und ins Gefängnis wandern muß, und dem dann alles erlassen wird. Und wie er einen seiner Mitknechte findet, der ihm hundert Groschen schuldig ist, überfällt er ihn, würgt ihn und läßt ihn trotz aller Bitten ins Gefängnis werfen [Mt. 18,23– 35]. Das ist für uns alle so furchtbar wahr, wenn wir wagen, unser Leben so zu sehen, wie es ist. Und dann: In vielem, das uns begegnet, wo wir äußerlich dasRecht hätten, weil es ein Unrecht ist, uns zu entrüsten und es abzuwehren, haben wir das Recht innerlich nicht. Führe eine geheime Rechnung über das, was du in Gedankenlosigkeit oder Schlechtigkeit an Rücksicht auf die Existenz der anderen versäumt hast, und komme zur Erkenntnis, daß du dies sühnen mußt, indem du ähnliches dafür an dir geschehen lassen mußt. Habe Angst vor deiner Entrüstung, wie du Angst hast vor deiner Großmut. Nur wer das, waser selbst antut, in Rechnung setzt in dem, waser erlebt, und zur Erkenntnis durchgedrungen ist, daß wir so vieles, was uns begegnet, als Sühne ansehen müssen für das, was unsere Schuld an den Menschen darstellt, versteht das Leben. Er ist frei von dem oberflächlichen Empfinden der Ungerechtigkeit, das uns in großen und kleinen Dingen in blinder und überstürzter Weise auf alles, was uns angetan wird, Abwehr tun läßt. Das ist der tiefe Sinn des Gebotes Jesu, daß wir dem Übel nicht widerstreben sollen. Jesus hat dies absolut ausgedrückt: «Daß ihr überhaupt nicht widerstreben sollt dem Übel» und dies mit drastischen Beispielen belegt. Wie kam er dazu? Weil er die Gesinnung in ihrer elementaren Gewalt erwecken will und darum das Absolute fordert; sodann aber, weil er der Auseinandersetzung dieser absoluten Forderung mit der Wirklichkeit in dieser wie in so vielen anderen Fragen dadurch enthoben ist, daß er der Welt nur noch eine kurze Existenz beilegt und einen neuen Himmel, eine neue Erde, eine ins Übernatürliche verklärte Menschheit für die nächste Zeit erwartet. Wir aber, die wir mit der Fortdauer dieses Weltverlaufes und unserer Existenz zu rechnen haben, müssen jene absolute Forderung, daß wir dem Übel nicht widerstehen sollen, mit derWirklichkeit sich auseinandersetzen lassen und zugeben, daß ein Augenblick kommen kann, wo wir das Recht haben, uns gegen die ungerechte Schädigung unserer Existenz zurWehr zu setzen. Als Beispiel kann manJesus selber anführen, der trotz seines Wortes von dem andern Backen, den man dem, der

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schlägt, darbieten sollte, nicht so verfährt, als ihn der Kriegsknecht vor Gericht mißhandelt – wenn der Evangelist Johannes uns recht berichtet [Joh. 18,23] – sondern ihn zur Rede stellt. Wo beginnen aber Recht und Pflicht derAbwehr? Das kann dir niemand festsetzen, sondern das mußt du in jedem Falle mit dir selber ausmachen. Im allgemeinen sagen wir, daß da, wo unsere Existenz als solche bedroht ist, sei es durch Gewalt, sei es durch Ungerechtigkeit, sei es durch Verleumdung, wir Recht und Pflicht haben, uns aufzulehnen. Aber der Entscheid, ob sie wirklich bedroht ist, ist ein ganz persönlicher und mutmaßlicher. Oft sind unsVerleumdungen, die wir als offenbar sinnlos auf sich beruhen zu lassen geneigt sind, viel gefährlicher, selbst bei unseren Bekannten, als das oder jenes viel ernster scheinende Unternehmen gegen uns. Einen allgemeinen Grundsatz aber können wir aufstellen, den nämlich, daß wir alle viel eher darin fehlen, daß wir etwas als wirklich bedrohlich ansehen, als daß wir es unterschätzen.¦50¿ Diese Überlegung leite euch und lasse euch in jedem Falle ernstlich prüfen, ob eine Abwehr in irgendeiner Form nötig ist oder ob ihr nicht vielmehr das Wort von dem Nichtwiderstreben dem Übel gegenwärtig haben sollt.¦51¿ Nicht aus Haß schädigend in das Dasein des andern eingreifen, ohne Abwehr ertragen, was man dir antut, und alles verzeihen können; dasist das Fundament der sittlichen Persönlichkeit. Wer nicht in dieser Hinsicht sich über sich selbst klar ist und an sich arbeitet und gegen das Banale und Gemeine, das sich in uns regt, mit tiefer, zielbewußter Überlegung kämpft, der findet die enge Pforte der Sittlichkeit nicht. Trotz aller besseren Regungen bringt er es zu nichts, weil der Grund nicht gelegt ist. Ich kenne einen Kaufmann, er ist schon sehr alt, der vor einem Menschenalter entdeckte, daß sein Teilhaber, der die Bücher führte, ihn seit Jahren betrog und Tausende auf seine Seite gebracht hatte. Er konnte es ihm Posten für Posten nachweisen und ihn ins Zuchthaus bringen und die Wiedererstattung der großen Summen erlangen. Aber alsjener um seiner Kinder willen um Gnade bat, ließ er sich erweichen, verlangte die Summe nicht zurück und behielt den andern auch noch im Geschäft. Gedankt hat es ihm dieser nicht, auch der Sohn nicht, und das Geschäft leidet noch immer an dem Ausfall, den es damals erlitten, und es war mehr denn einmal in Gefahr, unterzugehen. Und doch nehmen es die Kinder demVater nicht übel, daß er damals so gehandelt hat, ob50 [MS] Eines ist sicher: Tue lieber zu wenig als zu viel. Wir sind leicht geneigt, zu meinen, daß etwas von uns Abwehr erfordert, wo sie nicht notwendig ist, sondern wo wir es im Sande verlaufen lassen können. 51 [R] Nicht gleich: Meine Würde ist bedroht! Meine Würde verlangt es.Je mehr einer wirklich Würde hat, desto weniger braucht er sie zu verteidigen.

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demÜbel

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wohl sie ein ganz anderes Leben hätten, wenn er damals seine Ansprüche, wie es sein Recht gewesen, gegen den Betrüger durchgesetzt hätte; denn sie wissen, daß diese Tat ein geistiges Vermächtnis ist, das sie und Kinder und Kindeskinder innerlich reich macht. Nun aber die zweite große Frage: Die Erhaltung meiner Existenz bringt mich nicht nur in die Lage, daß ich Eingriffe in dieselbe abwehren muß, sondern auch, daß ich die des anderen mit oder ohne Wissen schädige. In den alten Büchern über Sittenlehre ist so schön geschieden zwischen Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen den Nächsten. In Wirklichkeit aber lassen sie sich nicht so säuberlich auseinanderhalten, wie wir es möchten. In dem Bestreben, an sich legitime Selbsterhaltung zu üben, komme ich dazu, in das Dasein anderer schädigend einzugreifen. Die Selbstentzweiung desWillens zum Leben, wie sie in dem menschlichen Kampf ums Dasein in die Erscheinung tritt, bringt dies mit sich. Mein Fortkommen und dasdieses oderjenes andern Menschen sind nicht immer in Harmonie zu bringen. Ich bin Kaufmann. Mein Geschäft geht voran, und die Kundschaft mehrt sich. Ich freue mich darüber. Aber was ich mehr verdiene, das büßt ein anderer ein, der vielleicht geradeso tüchtig und arbeitsam ist wie ich, nur daß ich geschickter bin und vielleicht über mehr Kapital verfüge. Ein Mensch bringt eine Verbesserung an einer Maschine an, die die Produktion eines bestimmten Artikels um einige Prozente verbilligt. Sein Patent trägt ihm viel ein, und er wird als großer Erfinder gepriesen. Aber sein Glück ist mit dem Unglück so vieler andern erkauft, die nicht das Kapital besitzen, ihre Betriebe mit den verbesserten Maschinen auszustatten und nun notwendig zugrunde gehen. Ich bewerbe mich um eine Stelle, und habe Aussicht, anzukommen. Ein anderer, der es viel schwerer hat als ich und gerade auf diese Stelle seine letzte Hoffnung gesetzt hatte, muß zurücktreten, weil man mich als den geeigneteren ansieht. Darf ich dies geschehen lassen? Kann ich die Verantwortung tragen, daß er durch mich, weil ich ihm gerade im Wege stehe, geschädigt wird? Die Welt sagt: Was nicht mit schlechten Mitteln erreicht ist, darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Du trägst keine Verantwortung. Es ist der Dinge Lauf: Was dem einen sein Glück ist, ist des andern Unglück. Aber so vernünftig und recht es klingt, so darfst du dich doch nicht dabei beruhigen.¦52¿ Du darfst dir nicht sagen: Das ist ein Gesetz¦53¿, gegen dasman nichts vermag, sondern du mußt dieVerantwortung füh52 [MS] Haben wir das Recht, uns so in die Ruhe hineinwiegen zu lassen? Ich antworte: Nein. Es gibt eine Verantwortung, die kann keine Erwägung, die allgemein gilt, von dir nehmen, sondern in allem, was du tust, trägst du eine Verantwortung den Menschen gegenüber, die durch dein Handeln betroffen werden. 53 [R] Sittlichkeit etwas anderes als Gesetzlichkeit.

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len und in jedem Falle entscheiden, ob es wirklich notwendig ist, daß um deines Fortkommens willen ein anderer den und den Schaden erleiden soll. Wir müssen alle ankämpfen gegen die Rücksichtslosigkeit, die uns dasLeben und die Gesellschaft lehren wollen.¦54¿ Hast du sie gelernt, dann wisse, daß dafür etwas in dir tot ist, das zum guten Menschen, zu deinem besseren Ich gehört. Wäge ab, ob du nicht anders kannst – und in so manchen Fällen wirst du anders können und etwas, was in deinem Vorteil liegt, aufgeben, um einem andern, vielleicht einem Unbekannten, der nicht einmal weiß, was du für ihn tust, kein Leid zu bereiten. – Wehe denen, die im täglichen Leben zu viel Herz haben, sagt man gewöhnlich. Gewiß, sie haben es nicht leicht, und sie können oft ihren Vorteil nicht in Unbefangenheit verfolgen, wo ein anderer es tun kann. Sie haben nicht diese Sicherheit und Zielbewußtheit desAuftretens, die zum Gelingen gehört. Aber sie kennen ein Glück, das den anderen immer verborgen bleiben wird, und sie haben eine tiefere Erkenntnis des Lebens und der Wahrheit. Ihre Seele und ihr Herz haben an ihrem Leben teil, und es geht Liebe von ihnen aus. Darum wehre dich gegen die Rücksichtslosigkeit und suche die Fälle, wo du dich ihrem ehernen Gesetze entziehen kannst. Wir müssen den andern Menschen wissend und unwissend so viel weh tun, daß jeder einzelne Fall, wo wir uns diesem Tun, zu dem wir verurteilt sind, entziehen können, einen Gewinn bedeutet, der Sonnenschein in unser Dasein hineinbringt. Und wo wir einer am andern dieses Bestreben, das Glück des andern zu achten, auch wo wir uns nach den gewöhnlichen Regeln des Kampfes ums Dasein darüber hinaussetzen dürften, erkennen, da sind wir mit der Menschheit versöhnt und freuen uns, auch wenn es sich nur um Kleinigkeiten handelt. Und auch wenn du in den Augen der andern unpraktisch giltst und dir niemand Dank weiß, bleibe wie die innere Stimme dich zu sein heißt.¦55¿

54 [R] Aus der Rücksichtslosigkeit eine Theorie machen. Dies als große Weisheit ausgeben. 55 [R] Das gute Gewissen ist eine unmoralische Erfindung. (Magnetnadel große Kraft nach Norden, und doch, eben weil [sie] so ein Ziel hat, hin und her zittert.)

So wird einjeglicher

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Morgenpredigt Sonntag, 4. Mai 1919, St. Nicolai|56¡ 6. Predigt über ethische Probleme

Röm. 14,12: So wird einjeglicher für sich selbst Gott Rechenschaft

geben|57¡

Nun kommt noch die dritte Frage: Ich komme in die Lage, schädigend in das Dasein eines andern Menschen einzugreifen, weil ich sachliche Interessen zu vertreten habe.|58¡ Ich leite ein Geschäft und habe darin einen Arbeiter, der seinen Platz nicht richtig ausfüllt. Das Interesse des Betriebes, in dem ich angestellt bin, verlangt, daß ich ihn durch einen geeigneteren ersetze. Aber er hat Frau und Kind. Nun stehe ich zwischen der Pflicht, dasWohl des Geschäftes zu vertreten, und der persönlichen, menschlichen Rücksichtnahme, die mir gebietet, gegen jenen Menschen, der nachlässig ist, vielleicht auch trinkt, Nachsicht zu üben um seiner armen Hausgenossen willen, wo er selbst mir für diese Nachsicht nicht einmal dankt.|59¡ Oder ich leite als Musiker ein Konzertunternehmen und habe Sänger und Sängerinnen zu engagieren. Nun, wo ich siejahrelang jeden Winter singen ließ, merken andere und ich, daß die Stimmen nicht mehr so gut sind; sie gefallen nicht mehr. Das Interesse des Unternehmens gebietet,

56 [Schweitzer hat diese Predigt zusammen mit der 5. ethischen Predigt [Siehe S. 1261. 30.03.19] vorbereitet und dazu geschrieben:] [R] Hier beginnt mit einer Rekapitulation die 6. ethische Predigt. [Diese Einleitung ist nur in einer maschinengeschriebenen Abschrift vorhanden, bei der es sich offensichtlich wie bei der 4. und 5. ethischen Predigt umeine Nachschrift der tatsächlich gehaltenen Predigt handelt. Sie ist fast dreimal länger als das Manuskript und vermittelt einen lebendigen Eindruck davon, wie weit sich Schweitzer im mündlichen Vortrag von der geschriebenen Vorlage entfernt hat. Neben der Einleitung hat er auf der Kanzel spontan weitere Beispiele hinzugefügt. In den folgenden Anmerkungen werden einzelne Abschnitte daraus [MS] zitiert.] 57 [Da Schweitzer nach der 5. ethischen Predigt Feiertagsgottesdienste zu Konfirmation, Karfreitag und Ostern gehalten hatte, beginnt die Einleitung mit den Worten:] Von den feiertäglichen Andachten gehen wir mit dem heutigen Tage zurück zu den Betrachtungen, die uns in diesen Sonntagen beschäftigen. Wir haben uns vorgenommen, miteinander über die Fragen der christlichen Sittlichkeit nachzudenken. [Nach der Zusammenfassung der bisherigen Predigten heißt es dann in MS:] Und heute nun soll uns in Verfolgung dieser Gedanken ein anderes Problem beschäftigen. 58 [MS] Wie weit wir das Recht haben, schädigend in das Dasein des andern einzugreifen entsprechend dem Problem zwischen sachlicher und menschlicher Verantwortung, darf ich gleich an einem Beispiel erläutern. 59 [MS] Ein Lehrer schreibt Zeugnisse am Ende desJahres, dieVersetzung oder Nichtversetzung bedeuten. Er hat einen Schüler, der sich Mühe gegeben und den er gerade noch mit gutem Willen versetzen könnte, und doch muß er sich fragen, habe ich das Recht dazu? Wenn ich gerecht sein will, muß ich ihn von derVersetzung ausschließen. Doch dieser macht dann sein Schuljahr nach, was für seine Eltern soundso viel Verlust, für denKnaben vielleicht einen Wechsel im Leben, dasmanmit ihmvorhatte, bedeutet.

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Predigten

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daß ich andere, jüngere Kräfte anstelle; das Interesse am Menschen aber sagt mir, daß es eine Grausamkeit ist, wo der Sänger schon von anderen genug Absagen erhält und zu fühlen bekommt, daß seine Stimme am Ende ist, und die Sorge, was nun aus ihm wird, vor sich aufsteigen sieht, daß ich ihm nun auch sein Elend zeige. Ich habe diese Verzweiflung mit mehreren, früher berühmten Sängern erlebt und war dann immer froh, wenn ich nicht zu bestimmen hatte, wer singen sollte oder nicht, und wo ich es tun mußte und zwischen Herz undVernunft, Herz oder Gerechtigkeit zu entscheiden hatte, habe ich oft schwer gelitten.|60¡ In der bescheidensten Stellung kommt der Mensch in diese Konflikte, undje umfassender seine Tätigkeit ist, desto schwerer werden sie. Keiner wirkt etwas im Leben, der nicht schädigend in die Existenz von Menschen eingreifen muß und Entscheidungen zu treffen hat, die ein Weh für Menschen bedeuten, und schuldig wird. Schon in dem Kampf für das Gute kommen wir dazu, schädigend in dasDasein von Menschen einzugreifen. Ich weiß, daß der Einfluß dieses oderjenes Menschen schlecht ist, und erkenne es mit anderen als Pflicht —ohne daß ich etwas persönlich gegen ihn habe – ihn kalt zu stellen und mich an dem, was gegen ihn unternommen wird, zu beteiligen. Der Zweck gibt mir das Recht. Aber ich schädige einen Menschen|61¡, ich tue ihm vielleicht in manchem auch unrecht, in der besten Absicht.|62¡ Tätig sein über die Grenzen meines eigenen Interesses, heißt also, schuldig werden. Wer das noch nicht gefühlt hat, der hat sich noch nie für eine Sache hingegeben. Darum dürfen wir nicht einstimmen in alle Verurteilung, die gegen Männer in leitenden Stellungen ausgesprochen wird, sondern wir müssen ihnen die Verantwortungen, die sie tragen, und die Notwendigkeit, in der sie sind, die sachlichen Interessen über die menschlichen zu setzen, zugute halten.|63¡ 60 [MS:] Und so kommt jeder von uns, wenn er einmal irgendwie in ein Werk oder Unternehmen eingreift, in diesen furchtbaren Konflikt zwischen sachlicher und menschlicher Verantwortung. Undje größer derWirkungskreis eines Menschen ist, desto gewaltiger ist der Konflikt, wo es sich umVerantwortung handelt, wo einer über Wohl undWehe vonTausenden zu entscheiden hat. 61 [MS:] Es ist nicht leicht, in diesen Dingen ein Urteil zu fällen über andere. Darum habe ich an die Spitze unserer Betrachtung das tiefe Wort des Paulus gestellt, daß ein jeder für sich selbst muß Rechenschaft geben. 62 [R] Widersprechende Urteile Jesu über die Pharisäer. Kämpft gegen sie und fühlt, dass er ihnen doch unrecht tut. 63 [MS] Wenn wir an ihrer Stelle wären, müßten wir vielleicht nicht ebenso handeln? Mir ist einmal im Leben begegnet, daß Damen in einem Komitee, dem sie angehörten, über das Schicksal einer Dienerin, die langsam zu alt geworden war und ihren Dienst noch versah, zuentscheiden hatten. Wir dachten, daß sie schwer mit sich kämpfen und das Menschliche über das Sachliche stellen würden. Und siehe, diese, die so große Worte hatten, hatten in fünf Minuten die Frage erledigt und die alte Frau mit einer kargen Pension vor die Türe gesetzt, wo es möglich gewesen wäre, die alte Frau noch fürJahre in ihrem Dienst zu behalten.

So wird einjeglicher

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Die Menschen, die für sich leben und keine Verantwortungen tragen, die nicht für das Tüchtige und Gute eintreten und darum auch nicht schuldig werden wie die, die in dem Kampfe und in der Tätigkeit stehen, [wissen davon nichts]. Aber wo du den Konflikt zwischen den sachlichen und den menschlichen Rücksichten erlebst, darfst du nicht einfach sagen: Ich diene einer Sache; mein Handeln ist unpersönlich, also lasse ich nur die sachliche Verantwortung sprechen und bin der menschlichen Verantwortung enthoben. Freilich, die, die so sagen, haben es leichter als die andern und erreichen viel; sie sind auch rechtlich unanfechtbar; ihre Lauterkeit und Ehrbarkeit darf nicht bezweifelt werden. Aber um so sein zu können, haben sie die persönliche Sittlichkeit, die Menschlichkeit in sich ertötet und damit dasBeste in sich zugrunde gerichtet.|64¡ Der Mensch darf niemals aufhören, Mensch zu sein. In aller Tätigkeit darfst du nie unpersönliche Energie, Ausführungsorgan irgendeiner Sache, Beauftragter der Gesellschaft sein, sondern du mußt dich in allem mit deiner persönlichen Sittlichkeit auseinandersetzen, so unbequem, so verwirrend es für dich ist, und versuchen, in allem, was du tun mußt, nach der Menschlichkeit zu verfahren und dieVerantwortung für das Los, das du einem andern Menschen bereitest, zu tragen.|65¡ Kein Mensch kann dir angeben: Soweit mußt du den Anforderungen des sachlichen Handelns nachgeben, soweit darfst und mußt du dich von Erwägungen der persönlichen Sittlichkeit leiten lassen, sondern in jedem Falle mußt du selber entscheiden, ohne der Gefahr entgehen zu können, nach der einen wie nach der andern Seite zu irren.|66¡

64 [MS] Seid nicht sicher wie die andern, sondern seid unsicher in den großen Fragen der Verantwortung. Bleibt Menschen zunächst einmal. Wo diese Konflikte an mich herantreten, frage ich mich genau, sind es denn sachliche Motive, die mich so in das Leben eines andern eingreifen lassen.

65 [R] 1) Sachliche Interessen, nicht persönliche Rachsucht, Gereiztheit. 2) Ist es notwendig, geht es nicht anders, als daß ich ihm weh tue? Ist, was ich ihm antue, wirklich im Verhältnis zum sachlichen Interesse, das in Frage kommt? Ringe der Menschlichkeit dasUnmögliche ab, sei nie ruhig, erlaube dir nie das, wasmanein gutes Gewissen nennt, zu haben. Für den sittlichen Menschen gibt es kein gutes Gewissen, sondern immer nur Kampf mit sich selber, Zweifel und Frage, ob er gewesen ist, wie er nach den Forderungen der verinnerten Menschlichkeit sein soll, Angst, daß er dem sittlichen Menschen in sich dasWort verbietet, wo er gebieten soll. 66 [MS] Lieber zu menschlich sein als zuwenig Mensch zu sein, denn die ganze Entwicklung der Menschheit in den letzten Generationen hat uns dahin geführt, daß wir gar nicht mehr richtig wissen, wasmenschlich ist.Wir haben die Menschen preisen hören, die keine Erregung gelten lassen, sondern ihr Ziel geradeaus verfolgen und über das Weh der andern hinwegschreiten. Es bedarf einer Entwicklung von Jahrzehnten, bis unsere Menschheit wieder das normale Gefühl für dasMenschliche hat, bis sie wieder erkennt, daß es nicht nur ein sachliches Recht gibt, sondern auch eine menschliche Verantwortung.

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Aber wenn du irrst, sei lieber in Gefahr, das Menschliche über das Sachliche zu stellen.|67¡ Wir, Kinder unserer Zeit, sind zu sehr an die Theorien der Objektivität gewöhnt, in denen unserem Geschlecht seit Jahrzehnten aufgehen soll, daß menschliche Rücksichten in allem zurückzutreten haben, daß nur der etwas leistet, der sich im gegebenen Augenblick, nicht aus Hartherzigkeit, sondern aus Überlegung über alles hinaussetzt.|68¡ Wisse: Es kommt nicht nur darauf an, was wir äußerlich in derWelt leisten, sondern was wir menschlich geben, in allen Lagen. Wenn du es einem Menschen anfühlst, daß er mit sich kämpft, um Mensch zu bleiben in allem, was er wirkt, dann empfindest du eine Befriedigung und bist mit dem Leben versöhnt. Der Zwiespalt, die Selbstentzweiung des Willens zum Leben, die uns dieWelt verfinstert, ist aufgehoben, nur für einen Augenblick, nur an einem Punkte, aber aufgehoben, die Erlöserbestimmung des Menschen erfüllt.|69¡ Von solchen Menschen geht eine Kraft zum Guten aus. Sie vermögen vieles auszurichten, was ein anderer, der nicht in demselben Maße um sein Menschentum kämpft, hinter 67 [R] Wisse: Der moderne Mensch ist nicht menschlich genug. 68 [R] Der Südpolfahrer und seine Hunde ... zuTode gepeitscht. Ich hätte den Südpol gelassen, wo er ist, die Welt dreht sich doch, in mein Buch [hätte ich] eingetragen: Nach dem Sternenstand bin ich bis soundso viele Grade vom Südpol gekommen. Um meiner armen Hunde willen komme ich nicht mehr weiter. [In MS heißt es ausführlich:] Typisch für unsere Zeit ist, was der Entdecker des Nordpols in seinen Erinnerungen schreibt. Er schildert, wie er, als er dem Nordpol immer näher kam, sich gezwungen sah, seine Zughunde, die sonst jeden Morgen ihn mit lieben, treuen Augen angeblickt haben, zu züchtigen. Wenn er sich anschickte, sie anzuschirren, winselten und heulten sie, denn sie konnten fast nicht mehr weiter, ihre wunden Füße schmerzten sie, undin den letzten Tagen kam er dazu, sie immer mit der Peitsche züchtigen zu müssen, bis sie sich nur dazu hergaben, sich ins Geschirr zu legen. Und mit der Peitsche holte er die letzten hundert Kilometer Schritt für Schritt ausihnen heraus, um an den Nordpol zu gelangen. Und er sagte, daß er Monate hindurch das Gewimmer seiner Hunde nicht los geworden ist. Das ist dasGleichnis desVerderbens desMenschen, und ich muß sagen, washätte es getan, wenn er 100 Kilometer vom Pole sich überlegt: Darf ich diese arme Kreatur züchtigen und quälen bis aufs Letzte, damit ich den Namen habe als Entdecker des Nordpols, darf ich es verantworten, um dieser Genugtuung willen so furchtbares Elend zu bringen über diese, die mir nahe standen. So groß sein Name steht in goldenen Lettern unter den Entdeckern, größer wäre er, wenn unter seinem Namen zu lesen wäre: Nach meinen astronomischen Beobachtungen bis an 120 Kilometer vom geographischen Pole [gekommen], meine Tiere können fast nicht mehr, ich will sie nicht zugrunde richten, das Mitleid mit ihnen zwingt mich dazu. Und die Frage, vor der der Mensch stand und sie nicht erkannte und nicht erkennen wollte, weil er nicht mehr genug Mensch war, um zu überlegen, ob das, was er wollte, imVerhältnis stand zu dem, wasandere dafür bezahlen mußten, diese Frage tritt uns im Leben immer wieder entgegen [In MS wird korrigiert: Entdecker des Nordpols.].

69 [R] Urwald: Fahrt, große Leuchtkäfer, zuerst für fernes Wetterleuchten. Dann mir ein Bild des Lebens wurden. Glück: Aufleuchten in der beängstigenden Dunkelheit desDaseins.

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dem der Mensch nicht so miterlebend und mitempfindend hervorschaut, nicht vermag. Dem strebe nach. Diese Auseinandersetzung zwischen sachlicher und menschlicher Verantwortlichkeit findet sich bei Jesus nicht, weil er diese Welt nur für kurz bestehend ansieht und allem Wirken in ihr also keine Bedeutung beimißt. Darum sagt er den Menschen: Zieht euch von allem zurück, haltet euch von derWelt rein, werft alles ab, was euch in der Ausübung der persönlichen Sittlichkeit behindern und beschränken kann. Stellt euch außerhalb derWelt. Für solche Menschen hat er das Ideal der voll-

kommenen persönlichen Sittlichkeit gezeichnet.|70¡ An uns aber ergeht die Stimme seines Geistes in der Zeit, in der wir stehen, daß wir mit dem Ideal dieser vollkommenen persönlichen Sittlichkeit als tätige, wirkende Menschen in der Welt stehen und es in allem als das Kostbarste, was wir haben, als die Energie unserer Seele verteidigen und, soweit wir können, bis zum Äußersten gegen die Verhältnisse, und wassie uns diktieren und auferlegen, ankämpfen, in allem Wirken und Tun mitleidend mit den Menschen bleiben und uns von unserer persönlichen Verantwortung, wie wir auf ihre Schicksale einwirken, niemals frei machen können. Die Gedanken Jesu als das große, wahre Muß anerkennen und mit ihnen in der modernen Welt undin derTätigkeit stehen und sie unsdabei retten, wie einer etwas Kostbares auf seinem Haupte mit hocherhobenen Armen durch einen reißenden Strom trägt, dasist’s, waswir sollen.

Morgenpredigt Sonntag, 11. Mai 1919, St. Nicolai

7. Predigt über ethische Probleme: 1. Predigt über Besitz I Kor. 7,30: Die, die daerwerben, sollen sein, alsbesäßen sie es nicht Jeden Sonntagmorgen, wenn ich fortfahre, euch von ethischen Fragen zu reden, ist es mir, als müßte ich euch umVerzeihung bitten, euch wieder eine rein lehrhafte Predigt zu halten. Es sind sicher welche unter euch, die in diese Kirche kamen, umTrost zu suchen, und die dann un70 [R] Darum [habe ich] alsText zur heutigen Predigt kein Gleichnis, sondern nur ein vereinzeltes Wort [gewählt]. [MS:] Und gewiß, die fernstehen von allem Wirken derer, von aller Verantwortung, sie haben es leichter als andere. Und doch, wenn wir einen suchen, der nie einem Menschen weh getan hat, sehe ich, er hat aber auch nie

etwas getan für den Fortschritt, nie etwas für die Wahrheit, nie etwas getan für das Gute, nie etwas, um dasUnrecht gutzumachen. Denn wenn er das getan, wird er eben schuldig und kann nicht anders, als andern Menschen weh tun. Und darum sage ich: Die Welt besteht noch, und unsere Aufgabe ist, in derWelt zu leben und dabei dennoch Menschen zubleiben.

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Predigten

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befriedigt bleiben, weil ich ihre Andacht auf einen ihnen ganz ferne liegenden Gegenstand zwinge. Und doch fühle ich die innere Nötigung, mit euch in dieser Zeit über viel klar zu werden, was man sonst in der Predigt nur streift, damit wir in diesem Nachdenken miteinander versuchen, die Menschen zu werden, die diese Zeit mit den vielen Fragen, die sie in sich trägt, braucht.|71¡ Nachdem wir in den letzten Andachten darüber nachdachten, was wir zu vermeiden haben, um nicht schädigend in die Existenz eines andern Menschen einzugreifen, wo das Leben uns mit unserem Wissen und ohne unser Wissen fortgesetzt dazu bringt, daß wir ihm Schaden zufügen oder wehe tun, und ich unser Verantwortlichkeitsgefühl in allen Fragen, die sich hier auftun, zu schärfen suchte, beginnen wir heute mit den Problemen, die es mit der Hilfe, die wir ihm angedeihen lassen sollen, zu tun haben, und zwar greife ich dasProblem desBesitzes heraus, dasaktuellste und schwerste der heutigen Probleme. Es steht auf der Grenze der Fragen, die es mit dem Nichtschädigen der Existenz des andern Menschen zu tun haben, insofern als derjenige, der es zu Besitz bringt, ob er es auch nur seiner Tüchtigkeit und unanfechtbaren Mitteln verdankt, dennoch begütert wird auf Kosten von andern. Es sammelt sich in seiner Hand, wassich sonst auf mehrere verteilen würde. Er besitzt in dem Maße, als andere entbehren. Nach der andern Seite steht das Problem des Besitzes auf der Grenze insofern, als sich mit dem Besitze an denen, die bedürftig sind, und für jeden guten Zweck Gutes tun läßt.|72¡ Wie weit ist der, der besitzt, gehalten, seinen Besitz in dieser Art zu verwerten? Die beiden großen Fragen, die sich stellen, sind also: Inwieweit ist der Besitz, ganz allgemein betrachtet, rechtmäßig; und: Inwieweit ist er dazu bestimmt, zum Wohle anderer verwertet zu werden? Auf diese beiden Fragen suchen wir vergebens eine klare und uns befriedigende, uns den Weg für unser Urteilen weisende Antwort bei Jesus, wie ihr aus den Stellen, die ich euch am Altar gelesen habe, entnommen habt. Jesus, mit den Menschen um ihn herum, erwartet das Weltende für die nächste Zeit. Also hat alles Erwerben und Besitzen für ihn keine Bedeutung. Darum predigt er: «Sammelt euch nicht Schätze!» [Mt. 6, 19]. Was der Mensch besitzt, nützt ihm nichts. Er predigt auch nicht, daß man arbeiten und erwerben soll, um sein Leben redlich zu fristen; denn auch dies fällt für ihn unter den Begriff des irdischen Sorgens, das nicht mehr am Platze ist. Schon unter den ersten Jüngern war überdies eine Unsicherheit über Jesu Stellung zum Besitz. Die beiden ältesten Evangelien, Markus und Matthäus, lassen den Herrn nur jede weltliche Sorge bekämpfen; der 71 [R] Nüchtern, aber darin die Begeisterung für dasWahre undEdle lebt. 72 [R] Seligkeit nicht durch Almosen erkaufen [Mt. 6,1–4].Vollkommen sein [Mt. 5,48].

Die, die da erwerben

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Evangelist Lukas hingegen läßt ihn harte Worte gegen die Wohlhabenden aussprechen.|73¡ In der Bergpredigt, wie er sie bietet, läßt er auf die Seligpreisungen an die Gläubigen furchtbare Wehe über die Reichen folgen und ihn mehrmals so reden, als stände der Nichtbesitzende als solcher dem Reiche Gottes näher als der Besitzende [Lk. 6,20– 26] – was, wie ich glaube, nicht den Gedanken Jesu entsprach, der einzig auf die Gesinnung des Herzens sah und nicht so äußerlich dachte. Ihr hört oft das Wort: Jesus war der erste Sozialist. Das ist richtig und falsch zugleich, wie immer, wenn manVorstellungen unserer Zeit auf eine vergangene zurückträgt. Jesus war Sozialist insofern, als er den Besitz aufheben wollte. Aber er war es nicht, weil er mit dem Besitz, den die Begüterten herausgeben sollten, nicht bessere wirtschaftliche Verhältnisse für die vielen schaffen wollte, wie der moderne Sozialismus, sondern ihr Aufgeben verlangte um des Seelenheils des Besitzenden willen. Gib deinen Reichtum, damit du einen Schatz im Himmel habest! [Mt. 6,20; 19,21]. Der Sozialismus sagt: Der Arbeit muß richtiger, gleich verteilter Erwerb entsprechen. Jesus stellt aber auch das Problem der Arbeit nicht auf. Durch die Tatsache, daß dasWeltende nicht eintrat, wurde auch Jesu Anschauung vom Besitz durch die Ereignisse widerlegt. Die Gemeinde zu Jerusalem erfuhr es am eigenen Leibe. Ihre ersten Mitglieder beschlossen, daßjeder Acker und Güter verkaufte und daß das Geld unter die Gesamtheit verteilt würde. Der Erfolg war, 1) daß ein Streit zwischen den altjüdischen und griechisch-jüdischen Armen ausbrach, indem die einen behaupteten, die anderen würden besser bedacht als sie, 2) daß Christen, wie die Geschichte von Ananias und Saphira zeigt (Apostelgeschichte [5,1—10]), der Versuchung des Betrügens erlagen und taten, als verteilten sie alle ihre Habe, während sie ein Teil für sich selbst zurückbehielten, 3) daß die Gemeinde furchtbar verarmte und bei der übrigen Christenheit, unter Berufung auf ihr Vorrecht als älteste Gemeinde, betteln gehen mußte. In den Briefen des Apostels Paulus könnt ihr lesen, wie er für sie in Griechenland und Kleinasien kollektierte und ihr den Ertrag brachte. Paulus ist es auch, der die Lehre aus diesem Experiment des urchristlichen Kommunismus zieht; niemals fordert er zur Entäußerung des Besitzes auf, sondern verlangt, daßjeder arbeite und erwerbe, um selber unabhängig zu leben und aushelfen zu können denjenigen, die in Not sind.|74¡

73 [R] Wo euer Schatz ist, da ist euer Herz [Mt. 6,21]. 74 [R] Und noch an Weltende glaubt: Aber Konsequenz nun: Wer besitzt, keinen Wert darauf [legt].

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Wenn wir sagen, Jesu Gedanken über den Besitz sind durch die Ereignisse, die dasWeltende, das er erwartet hatte, verneint haben, außer Kraft gesetzt, so meinen wir nur das Äußerliche daran. Der innerliche Gedanke Jesu, daß wir nicht im Erwerben und Besitzen aufgehen dürfen, daß wir darum kämpfen müssen, innerlich frei von irdischen Gütern zu bleiben, gilt für alle Geschlechter, wie sie sich auch sonst im einzelnen zur Frage des Besitzes stellen. «Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit» [Mt. 6,33] ... «Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele» [Mt. 16,26]: Das sind ewige Worte, die jeden von uns angehen, als wären sie gestern gesprochen, uns vielleicht mehr als irgendeine Generation vor uns, weil wir, ob wir wollen oder nicht, mit dem Materiellen so beschäftigt sind und davon so abhängen. Dies vorausgesetzt, welches ist unsere Stellung zu irdischen Gütern und zum Besitze? Wir unterscheiden die beiden Fragen: Ist der Besitz als solcher rechtmäßig, und inwieweit hat der Besitzende die Verpflichtung, ihn für andere zu verwenden? Die erste Frage ist eigentlich mehr eine sozialpolitische als eine religiöse und wird gewöhnlich auch so behandelt. Wenn ich sie hier im Gottesdienst zu streifen wage, so ist es nicht, um zu der oder jener politisch-sozialen Anschauung Stellung zu nehmen, was mir hier nicht zusteht und wo die Meinungen verschieden sein können. Ich berühre sie aus zwei Gründen. Erstens einmal ist die Frage des Besitzes heute so in ihrem ganzen Umfange aufgerollt, daß sie nicht nur rein religiös überdacht werden kann, sondern in ihrem ganzen Umfang überblickt werden muß. Sodann aber ist es notwendig, auf dasWesen selbst des Besitzes zurückzugehen, denn aus dem Wesen eines Dinges wird begriffen, welche Stellung wir zu ihm einzunehmen haben. Welches ist dasWesen des Besitzes? Wie kommt er zustande? Ein Mensch bearbeitete ein Stück Land, und weil er seine Mühe darauf verwendete und die Saat, es fruchtbar zu machen, beschaffte, sagte er: Dieses Feld gehört mir, dasheißt ich darf es abernten, ich darf eswiederbebauen, und wenn ich sterbe, dürfen es meine Kinder abernten und bebauen. So entstand der Landbesitz. Ein Mensch arbeitete in einer Hantierung und ließ sich dafür Wertgegenstände geben und behauptete, dies sei nun, weil er diese und diese Arbeit geleistet habe, sein und seiner Nachkommen. So entstand das Kapital. Besitz ist also aufgespeicherte Arbeit und als solcher berechtigt. Aber er ist nicht nur das, sondern es kommt noch etwas anderes hinzu: das Mitwirken der Gesellschaft. Die Gesellschaft schafft die geordneten Zustände, die dem einzelnen ermöglichen, das, was er erworben hat, zu behalten. Sie garantiert ihm, daß kein anderer kommt und ihm sagt: Ich brauche, was du hast, also nehme ich’s; sie garantiert ihm,

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daß sogar die, die in äußerster Not sind, ihm nicht nehmen, was seine eigenen Bedürfnisse, mag es auch noch so weit sein, übersteigt.|75¡ Der Besitz ist also aufgespeicherte Arbeit, die von der Gesellschaft an sich, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bedürftigen, garantiert wird. Es liegt also etwas Zwiespältiges darin. Als aufgespeicherte Arbeit ist er berechtigt; alsvon der Gesellschaft ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bedürftigen garantiert, ist er beanstandbar. Beanstandbar ist er ferner noch, weil die Vergrößerung des Besitzes, wo er einmal gegeben ist und durch die Umstände begünstigt wird, nicht mehr wirklich eine Aufspeicherung von Arbeit darstellt, sondern sich nach dem Gesetze vermehrt, dasJesus so ausgesprochen hat: «Wer da hat, dem wird noch gegeben», das zur Ergänzung hat: «Wer da nicht hat, dem wird noch genommen, was er hat» [Mt. 25, 29]. Wer von der Arbeit seiner Eltern eine Summe ererbt, der kann besitzen und Besitz vermehren, ohne besondere, seinem Besitze entsprechende Arbeit jemals geleistet zu haben, wenn er nur die Klugheit und das Glück hat, seine Mittel in einem guten Unternehmen anzulegen. Andere arbeiten nun für ihn. Sie arbeiten viel, und manche unter ihnen haben vielleicht kaum zum Leben, während er dem Genuß und dem Nichtstun, wenn er will, sich hingeben kann und dennoch täglich reicher wird. Dies, daß die Gesellschaft den Besitz garantiert ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bedürftigen und daß Besitz nicht nur aufgespeicherte eigene Arbeit, sondern Ausnützung und Aufspeicherung der Arbeit anderer ist, macht es, daß wir ihn nicht nur als etwas Berechtigtes empfinden, was er als Aufspeicherung eigener Arbeit ist, sondern auch an ihm irre werden und immer wieder irre werden, wenn wir denkende Menschen sind. Wir können nicht anders, als anzuerkennen, daß die Gesellschaft in letzter Linie Herr des Besitzes ist und das Recht hat, wo es dasWohl derAllgemeinheit erfordert, den Besitz einzuschränken und für sich in Anspruch zu nehmen. In der Zeit des großen Elendes, der wir entgegengehn, kann sie nicht anders, als so vorgehen. Sie wird den Besitz und insbesondere die Vererbung desBesitzes in unerhörter Weise besteuern, Ausbeutung der Minenschätze des Landes und so viel anderes mehr den Privaten entreißen und für den Staat in Anspruch nehmen. Eine ungeheure Evolution wird sich in den nächsten Jahren unter dem Drucke der Verhältnisse, unter dem Drucke der Not, unter dem Drucke der Ideen, die aus dem Nachdenken über dasWesen des Besitzes kommen, vollziehen. Sie läßt sich aus äußeren und inneren Gründen nicht aufhalten; sie wird mit furchtbarem äußerem Unrecht gegen die Besitzenden, mit furchtbarer Überhebung derer, die lieber reden statt zu arbeiten, einhergehen. Wollte Gott, wir hätten in der ganzen Welt diese Umgestaltung der Verhältnisse 75 [R] Gesellschaft hilft den Besitz schaffen: also Anteil daran [hat].

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schon erlebt und die Kämpfe überstanden, die sie bringen wird. Wie sie sich zuvollziehen hat, dazu hat die Religion nichts zu sagen. Es handelt sich dabei um äußere Maßnahmen der Zweckmäßigkeit, über die die Mitglieder eines Volkes sich schlüssig zu machen haben.|76¡

Morgenpredigt Sonntag, 25. Mai 1919, St. Nicolai

8. Predigt über ethische Probleme: 2. Predigt über Besitz Hebr. 13,16: Wohlzutun und mitzuteilen vergesset nicht

In der letzten Andacht, in der ich zu euch sprach, traten wir in die schwerste und zeitgemäßeste Frage der Sittlichkeit ein, indem wir anfingen, über den Besitz miteinander nachzudenken. Jesus, so sahen wir aus der Verlesung von Schriftstellen, gibt uns keine Antwort auf die Frage nach dem Besitze, wie wir sie als moderne Menschen stellen, weil er, mit den Menschen um ihn herum, dasbaldige Ende derWelt erwartet, wodurch für ihn Besitz, Erwerb und Arbeit hinfällig werden und nur noch als Beschwerung der Vorbereitung auf das Reich Gottes in Frage kommen. WennJesus die Seinen und uns lehrt, daß wir innerlich frei bleiben müssen von irdischen Gütern, so haben die eindringlichen Worte, in denen er es uns lehrt, ewige Bedeutung: «Was hülfe es dem 76 [R] Skizze des Schlusses: 1) Problem des Besitzes nicht aufheben. Nicht alles verstaatlichen. Die Grenzen des wirtschaftlichen, sozialen Vermögens des Staates viel enger. Besitz bleibt ohne Initiative. Sozialistische Ideale, kommunistische, wenn es in unserer Gesellschaft verwirklicht, so sicher der Ruin der Gesellschaft, als es der der ersten Christengemeinde zuJerusalem. 2) Äußerlich, materiell nicht zu lösen, sondern nur durch Gesinnung, indem die Besitzenden den rechten Gebrauch von ihrem Besitze machen, das Unrecht, das in dem Wesen des Besitzes sich mit dem Recht verbindet, gutmachen und ihn in den Dienst der guten Zwecke und der Bedürftigen stellen. Und nicht dies als solche, die ein gutes Werk tun, sondern unter dem Zwang der Überlegung, die ausdemWesen des Besitzes selbst kommt. 3) Besitz nicht nur besitzen, [denn man] nicht nur von seiner Arbeit ihn hat, sondern von der Gesellschaft. Nicht Besitz besitzen, sondern verwalten im Sinne der Gesellschaft. Die enge Auffassung desBesitzes durchbrochen: Dasist mein, ich darf mit machen, wasich will. Das dasGeistige ausdem Nachdenken über dasWesen desBesitzes: Alles Gut gehört der Gesellschaft, auch wasich davon durch Arbeit erwerbe, denn die Gesellschaft erst ermöglicht es. Als solche die Nichtbesitzer. Wort desPaulus, dasüber unserer Betrachtung schwebt, ausgesprochen. (Nächste Predigt: Wer sind denn die Besitzenden?) Er es von dem Gedanken der Weltenderwartung: Das Wesen der Welt vergeht. Wir ausWesen des Besitzes selbst die einzige Stellung zu Besitz. Als die, die nichts haben, obwohl sie haben, und dieVerantwortung tragen, was sie zumWohle der anderen damit angefangen. Wasdasfürjeden von unsbedeutet.

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Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?» [Mt. 16,26]. Aber um als moderne Menschen eine Stellung zum Erwerb und zum Besitz einzunehmen, dazu hilft unsJesus nicht, weil er unsere Verhältnisse nicht voraussetzt, sondern wir müssen, um zur Klarheit zu kommen, in sittlichem Geiste über dasWesen des Erwerbes und Besitzes nachdenken. Indem wir dies das letzte Mal taten, beschäftigte uns vornehmlich die Frage nach der Berechtigung, mit der wir sagen: Das gehört mein. Wir sahen, daß darin Berechtigtes und Unberechtigtes durcheinandergehen. Berechtigt ist der Besitz, soweit er durch Arbeit erworben ist, aufgespeicherte Arbeit darstellt. Andererseits aber, wenn ich besitze und sehe die Not der Darbenden, und in meiner Hand vermehrt sich das Geld nach dem Gesetze «Wer da hat, dem wird gegeben» [Mt. 25,29], kann ich wieder irre werden und mich fragen, ob ich es für mich behalten darf. Dazu kommt noch dasandere, daß es die Gesellschaft mit ihren Ordnungen und Rechten ist, die den Besitz schützt und erst ermöglicht. Ich besitze also nicht nur, weil ich erarbeitet habe oder den Ertrag der Arbeit meiner Eltern übernommen habe, sondern auch weil mir die Gesellschaft die Möglichkeit gibt, es zubehalten. So ist die Gesellschaft an allem Besitze beteiligt, sie besitzt mit. Alles Gut, dasich besitze, gehört nicht mir in dem Sinne, daß ich sage: Das ist mein, ich kann damit machen, was ich will, sondern nur in dem Sinne, daß ich mir sage: Das ist Gut, das ich in einem für die Allgemeinheit nutzbringenden Sinne verwalten soll und für das ich vor meinem Gewissen Verantwortung schuldig bin. Besitz heißt also, und damit kommen wir zur Frage, die wir uns für heute vorgenommen haben: Verantwortung. Was soll ich mit dem, was ich besitze, tun? Wie weit darf ich es für mich verwenden? Wie weit muß ich es denen, die bedürftig sind, zukommen lassen? Zunächst nun die Frage: Wer ist ein Besitzender? Wer hat sich verantwortlich zufühlen für Gut, über daser verfügt? Es ist euch vielleicht aufgefallen, daß ich bisher nie von Reichen und Reichtum, sondern immer nur ganz allgemein von Besitzenden und Besitz geredet habe. Wir wollen nicht in dasbillige, oft für religiös gehaltene Räsonieren verfallen, wie ganz anders die Dinge in der Welt stünden, wenn die Reichen ihre Pflicht an den Armen erfüllten. Der Beispiele, daß Reiche dahinleben, nur auf Vergnügen und Luxus bedacht, ohne sich darum zu kümmern, was sie mit ihren Mitteln Gutes tun können, gibt es sicher genug. Ebenso sicher aber ist, daßjeder, der die Augen auftut, auch auf Reiche aufmerksam wird, die ihrer Verantwortung bewußt sind undim stillen viel zur Linderung der Not beitragen. Wenn vor mir jemand über die Reichen loszieht, muß ich bei mir denken, ob er wohl, wenn ihm jetzt zufällig großer Besitz zufiele, ihn

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richtig verwenden würde. Oft sind es ja gerade die, die im Reichtum aufgewachsen sind, die am meisten Herz haben, während die, die erst neu zu Gelde gekommen sind, vorerst oft mehr daran denken, wie sie ihn recht genießen. Lassen wir also die Reichen, wir sind nicht ihre Richter, und freuen wir uns in dieser harten Welt jedes Begüterten, der Gutes zu tun sucht. Reden wir von uns, den Begüterten und Besitzenden. Für gewöhnlich fängt für uns der Begüterte und Besitzende erst da an, wo unsere Mittel aufhören. Wer dreitausend Francs verdient, vielleicht auch über etwas Zurückgelegtes verfügt, sagt sich: Du bist ein Arbeiter oder Handwerksmann, was du verdienst, dasreicht gerade zum Leben, du bist davon entbunden, dich um andere kümmern zu müssen; überlaß es denen, die zehntausend verdienen. Und der, der zehntausend verdient, sagt sich: Ich habe große Ausgaben; was ich für andere abgeben kann, ist nicht viel, kommt kaum in Frage; ja, wenn ich wäre wie die, die hunderttausend auf der Bank liegen haben! Und diese wiederum sagen: Was sind hunderttausend heutzutage? Das Geld trägt immer weniger ein, die Steuern werden immer höher, und zuletzt gilt man als reich und hat doch kaum zum Leben. So reden wir von einer Besitz- undVerdienststufe zur andern hinauf und wälzen jeder dieVerantwortung auf die, die mehr begütert sind als wir selber, und malen uns aus, was wir alles tun wollten, wenn wir mehr Mittel hätten. Dieser Selbstbetrug ist der große Feind des Nachdenkens über die Pflichten, die uns mit dem, waswir besitzen und verdienen, auferlegt sind. Darum heißt es die Frage in aller Schärfe stellen: Wo fängt der Besitz an? In aller Schärfe lautet die Antwort: Besitzender ist jeder, der abends beim Zubettegehn etwas für den nächsten Tag übrig behalten hat.Wollt dasnicht als etwas Übertriebenes, daslogisch vielleicht richtig ist, praktisch aber keine Bedeutung hat, ansehen, sondern als die Wahrheit, die wir nicht gern einsehen wollen, weil sie uns unbequem ist. Woher nimmst du das innerliche Recht, mit Geld in der Tasche abends nach Hause zu gehn, wo du auf der Straße Leuten begegnest, denen der Hunger aus den Augen schaut und die nicht wissen, wie sie übernachten? Oder du gehst in der Straße und siehst einen Menschen mit durchlöcherten, ausgetretenen Schuhen im Schneewasser waten und hast zu Hause ein zweites oder ein drittes Paar Schuhe und sagst ihm nicht: Laß sehen, ob wir ungefähr den gleichen Fuß haben, und wenn es ungefähr so ist: Komm und nimm das Paar Schuhe, das ich in Reserve habe. Oder du siehst einen in einem zerrissenen Anzug, mit dem er sich nirgends zeigen und nirgends Arbeit finden kann, und hast zu Hause einen, den du nicht trägst. Wie darfst du an ihm vorübergehen und den Gedanken abweisen, ihm deinen anderen anzubieten, weil er keinen hat?

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Das sind keine überspannten Anschauungen. Weh dir, wenn du damit fertig bist und dir eine so bequeme, vernünftige Sittlichkeit zurechtgelegt hast, in der diese Fragen, wie du etwas für dich behalten darfst, während andere nichts haben, dich nicht mehr belästigen. Weh dir, wenn du dir nicht schlecht vorkommst, wenn du ruhig deinen Weg weitergehst! Weh dir, wenn du nicht gequält bist von Erinnerungen an Menschen, bei deren Begegnung dir die innere Stimme sagte, du solltest ihnen helfen, und wo du dann zögertest und dir ausrechnetest, du wärest dazu eigentlich nicht in der Lage. Wie wir die großen alltäglichen Wunder des Lichts, desWachstums und so viele andere nicht mehr als Geheimnisse empfinden, weil wir sie fort und fort erleben, so auch empfinden wir die großen sittlichen Fragen, die sich uns fortgesetzt aufdrängen, nicht mehr, als was sie sind, sondern sehen sie als Fragen an, die im alltäglichen Leben ihre selbstverständliche Lösung gefunden haben und über die man zurTagesordnung übergehen darf. Aber wie nur der die Dinge um ihn herum erlebt, der die Naturvorgänge immer wieder als etwas Wunderbares erlebt, so steht auch nur der im sittlichen Leben, der von den Fragen, ob und wie weit wir behalten dürfen auf Vorrat und Zukunft, wo andere, waswir haben und hingeben könnten, brauchten, immer wieder bedrängt wird. Unter den Vorgängen aus meinem Leben, die ich nicht loswerde, gebe ich euch einen preis, damit ihr versteht, was mich bewegt. An einem häßlichen Winterabend kam ich in Paris an und fuhr, mit dem Koffer vorn auf demWagen, zu Freunden, bei denen ich absteigen und logieren sollte. Zweihundert Meter vor dem Hause fing ein Mensch auf demTrottoir an, neben demWagen herzutraben in der Hoffnung, beim Abladen und Heraufschaffen des Koffers mithelfen zu dürfen. Als der Wagen hielt, faßte mich derJammer dieser Existenz an: Abgerissen, verhungert, erfroren, durchnäßt hielt er keuchend undwollte sich mit dem Koffer zu schaffen machen. Aber der Portier des Hauses, der unterdes herausgetreten war, ließ nicht zu, daß er eintrat, denn er sah nicht vertrauenerweckend aus. Ich konnte ihm nicht dreinreden, denn er handelte nur nach seiner Instruktion, und ich war Fremder im Haus und hatte keine Rechte. In der Eile drückte ich ihm einige Münzen in die Hand ... die schwere Tür schlug zu, der Koffer ging mit dem Aufzug in die Höhe, ich schritt dasTreppenhaus hinauf. Abends saß man froh amTisch zusammen ... aber ich wurde den abgerissenen Menschen nicht los und konnte mir es nicht verzeihen, daß ich der inneren Stimme, die mir sagte, ich solle mich um diesen Menschen kümmern, nicht gefolgt war, daß ich nicht den Koffer hinaufschaffen ließ und trotz der hoheitsvollen Miene des Pförtners mich mit dem Manne zu schaffen machte, mit ihm irgendwo hinging und ihm, so gut ich konnte, Essen, Schuhe und Kleider besorgte ... mit einem Worte, daß ich die Stimme in meinem Inneren, die mir sagte: Das ist

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dein Nächster, vom Schicksal geschickt, den mußt du mit dem Deinen versorgen, niederkämpfte mit Berufung auf die Umstände und daß mein Benehmen auffällig und überspannt gelten könne. Wagen wir, solchen Erinnerungen, die uns verfolgen, Red und Antwort zu stehen und auf die Fragen, die uns in dieser Art immer wieder begegnen, Antwort zu geben, dann kommt uns das Gewohnte, Vernünftige als etwas Unhaltbares, in dem wir uns selber betören wollen, vor. Und dieWahrheit, daß wir auch daswenige, daswir haben und für uns behalten wollten, hergeben müßten, fällt dich an wie eine Meute grimmer Tiere, die dich umstellen, daß du weder vor noch zurück kannst. Den Weg zur Sittlichkeit findet keiner, der nur die Augen der gewöhnlich geltenden Vernünftigkeit hat, sondern nur der weiß, daß er auch das muß, was dem gewöhnlichen Urteil als überspannt vor-

kommt. Darum, auch wenn wir zu denen gehören, die mehr oder weniger von der Hand in den Mund leben, so ist das, was wir uns von einem Tag auf den andern oder einer Woche auf die andere aufbewahren, nicht ein selbstverständliches Recht, wie wir uns gerne einreden möchten, sondern etwas, für das wir dieVerantwortung tragen und daswir hingeben müssen, wo es uns die innere Stimme sagt. Zwei Kräfte wirken auf uns ein. Die eine ist die Ursprünglichkeit, das elementare Miterleben und Mitempfinden mit dem andern Menschenwesen, dasuns sagt: Du hast noch, also soll der andere auch haben. Die andere ist die Vernünftigkeit, die sagt: Du mußt für dich und die Deinen etwas haben, das dich und die Deinen von einem Tag zum andern sicherstellt, daß du, wenn der Verdienst ausfällt, etwas habest und dich davor bewahrst, durch irgend etwas Unvorhergesehenes selber ein Bedürftiger, der auf anderer Hilfe angewiesen ist, zu werden. In beiden Kräften ist Wahrheit. Beide streiten widereinander. In diesem Gegensatz läßt sich kein Entscheid geben, sondern jeder muß tastend denWeg seinerVerantwortung suchen und von einem Fall zum andern entscheiden, waser als Pflicht, als Muß erlebt. Kein Mensch kann dem anderen darlegen: Dies darfst du vernünftigerweise für dich behalten und dies mußt du hergeben. Jeder muß es mit sich abmachen. Nur daß er mit der Frage nicht fertig ist, sondern immer wieder unruhig wird, ob er derVerantwortlichkeit, die ihm mit dem, was er besitzt, auferlegt ist, gerecht wird, ob er nicht vergißt, «wohlzutun und mitzuteilen» in dem Maße, als es ihm bestimmt ist. Jedem ist es auf eine besondere Weise bestimmt. Der eine darf erwerben, Besitz zu Besitz legen, um ein großes Werk zu gründen, das soundso vielen Menschen gesichertes Brot bietet. Er muß und soll Kapital haben, damit sein Unternehmen sichergestellt ist und auch in verlustreichen Zeiten aushalten kann. Einem andern ist es bestimmt,

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weniger an die Mehrung seines Besitzes als an die beste Verwendung desselben zu denken; er kann sich vornehmen, denselben zum Guten aufzubrauchen und für sich ein Leben zu führen, so anspruchslos und bescheiden, daß es zu seinem Besitze in gar keinem Verhältnisse steht. Hier muß jeder suchen, was ihm bestimmt ist: auf die innere Stimme horchen, die in ihm redet. Für manchen wird und muß dasWort wahr werden: «Gehe hin und verkaufe alles, was du hast» [Mt. 19,21]. Hier ist ein Weh, das braucht dich, dasbraucht deine Mittel. Gib dich ihm hin! Wo es nicht Menschen gibt, die eine solche Stimme hören, bleibt unter uns und bleibt in der Ferne viel ungetan, was getan werden müßte. Und niemals dürfen wir ruhig werden, sondern müssen uns immer fragen: Ist es denn wirklich notwendig und erlaubt, daß du dieses für dich behältst, statt damit Gutes zu tun? Alle, welches auch sonst unsere Bestimmung sei, stehen im praktischen Leben immer wieder vor der Frage, insbesondere vor der einen Frage: Das ist Überfluß, das hätte den Armen gegeben werden können.|77¡ Du kaufst dir ein Möbel oder ein Kunstwerk, nach dem dein Sinn stand, du leistest dir ein schönes Buch, du begehst ein Fest im Kreise der Verwandten, oder wir unternehmen eine kleine Reise zur Erholung. Und gerade, wenn wir uns freuen wollen, kommt uns der Gedanke: Was hättest du damit Gutes tun können? Darfst du es so für dich verwenden? Und schlagt diese Erwägung nicht ein für alle Male tot, sonst ist etwas in eurem Herzen tot! Verbannt sie nicht aus eurem Haus, wie einen unbequemen Mahner, sondern laßt sie vor euch treten, laßt die Euren, laßt eure Kinder merken, daß ihr euch darüber Gedanken macht. Es gibt Erwägungen, die wir zur Beschwichtigung anführen können: Was wir ausgeben, ist für die anderen nicht verloren, sondern es stellt einen Verdienst dar, der soundso vielen zum Leben verhilft. Ferner hat Jesus selbst das Recht des «Überflüssigen» verteidigt und dargetan, daß es Fälle geben kann, wo es angebracht ist. Als dasWeib zu Bethanien ihn mit köstlicher Spezerei salbte, murrten die Jünger und sagten, sie hätte die Narde verkaufen und das Geld den Armen geben sollen. Er aber sagt: «Was bekümmert ihr dasWeib? Sie hat ein gut Werk an mir getan» [Mt. 26,10]. Ein gut Werk, indem sie ihm mit einer an sich unnötigen Ausgabe Liebe erwies. Damit haben auch wir dasRecht, gegen die Unseren ähnlich zu handeln. Und doch dürfen diese Erwägungen dich nicht dauernd beruhigen, sondern du mußt von der Frage bewegt bleiben. Unfertig und widersprechend ist also das, was ich euch über den Besitz sage, weil einesteils Besitz eine gesellschaftliche Notwendigkeit ist, 77 [R] Savonarola: alles verbrannt.

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auf der der Bestand der Gesellschaft und die Schaffung normaler und gedeihlicher Zustände beruhen; weil alles Ausgeben eine Ermöglichung von Arbeit und Verdienst für andere ist; weil aber zugleich Besitz ein Für-sich-Behalten ist denen gegenüber, die in Not sind. Ich kann uns allen nur immer sagen: Jeder, der nur etwas übrig behält, ist ein Besitzender und darf sich nicht in Ruhe wiegen, sondern muß immer unruhig sein, ob er es verantworten kann und inwieweit er es verantworten kann, etwas zu haben, während andere darben. Und weiter noch kann ich nur sagen, daß wir uns nicht in die Regeln der Vernünftigkeit entschließen dürfen und sagen: Dies und dies bedarf ich für den Lebensunterhalt, wie ich ihn gewohnt bin, und zur Sicherstellung meiner Existenz und der der Meinen, sondern gegenwärtig haben müssen, daß die von der inneren Stimme an uns ergehende Forderung, zu helfen, bedingungsloses Geben und Hingeben von uns verlangt. Zu diesem notwendig Unfertigen und Widersprechenden gebe ich euch noch Gesetze, die fürjeden durchführbar sind und eine weit gediehene Lösung des Problems des Besitzes darstellten, wenn sie allgemein Geltung bekämen.

Das erste heißt: Schränke deine Lebensbedürfnisse ein, daß du habest, zu geben. Revidiere deine Lebensführung und die der Deinen und schau, wasdu sparen könnest, um reich zu sein zumWohltun.|78¡ Und ich sage dasgerade uns, die wir nicht zu den Begüterten zählen, und die wir so leicht in Versuchung kommen, uns einreden zu wollen, daß alles, was wir haben, für uns selber notwendig sei. Was der Welt fehlt, sind nicht die großen Summen, die die oderjene Reiche für sich behalten, sondern die vielen kleinen Gaben, die die wenig Besitzenden unnötig ausgeben. Das sind die Wassertropfen, die den Strom bilden sollten zum Bewäs-

sern des Landes.|79¡ Der Herr Jesus kannte die Menschen. Was er in einem seiner letzten Gleichnisse, in dem Gleichnis von den anvertrauten Pfunden, ausgesprochen hat, ist ergreifend wahr. Er läßt drei Menschen Gut von einem Herrn zumVerwalten empfangen und schildert: Zwei fangen damit an, was sie sollen; der dritte ist unnütz und vergräbt sein Pfund ... und dieser dritte ist gerade der, der am wenigsten empfangen hatte [Mt. 25,14–30]. Steht eine Stunde an die Tür eines Kinematographen und schaut, wer da kommt Geld bringen, um während einiger Minuten geistlos auf der weißen Wand hopsende Figuren zu sehen: Menschen, die von der Hand in den Mund leben ... zu Hunderten und Tausenden. Was könnte mit dem Geld, dasdiese Tag fürTag dahin tragen, Gutes geschaffen werden! Und essind nicht Menschen, die nicht wissen, wasElend ist, die so 78 [R] Rauchen. Trinken. 79 [R] Die soziale Frage.

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im kleinen, geistlosen Luxus treiben, sondern die sehen, was Elend ist, wenn sie über den Hof des Hauses, in dem sie wohnen, gehen, die Angehörige haben, die darben. Darum weg bei uns allen mit dem Geistlos-Überflüssigen! Laßt uns so einfach wie möglich leben, daß wir haben, zu geben! Wenn ich euch dies heute so eindringlich zu sagen wage, so ist es nicht nur, weil die Verschwendungssucht derer, die von der Hand in den Mund leben, ins Maßlose gestiegen ist wie das Elend der Darbenden, sondern weil jetzt jeder leicht und unauffällig eine Änderung seiner Lebensweise durchführen kann.

Die Begriffe von «standesgemäß», die bisher Große und Kleine im Zwang hielten, so viele sinnlose Ausgaben verschuldeten und ein schweres Hindernis für die Rückkehr zur Einfachheit darstellen, sind durchbrochen durch die Not der Zeit, die mit so vielem Hergebrachten aufgeräumt hat, und durch die Verschiebung des Besitzes, die aus Vornehmen und Reichen Minderbegüterte gemacht hat. Damit ist wie eine allgemeine Forderung der Rückkehr zur Einfachheit aufgestellt. Beherzige sie für dich und die Deinen und mache den vielen unnötigen Bedürfnissen ein Ende, auf daß du in der Not helfen kannst. Ein anderes Gesetz noch wage ich aufzustellen, praktisch durchführbar für einen jeden und von großer Tragweite für die Allgemeinheit, wenn eine Reihe von Menschen damit Ernst macht. Gestattest du dir etwas, das nicht zum Lebensnotwendigen, sondern der Erholung oder der Genugtuung am Schönen und Angenehmen dient, so nimm ungefähr den gleichen Wert und bestimme ihn für Wohltaten. Gehe mit dem, wasdudir so gönnst, nicht höher alswasdu andern zugute kommen läßt! Unternimmst du eine Reise zur Erholung, so bestimme eine Gabe, die Armen und Kranken, die aus der dumpfen Stadtluft hinaus sollen, zufließen soll. Machst du deinen Verwandten oder Freunden ein Fest, richte dich nach deinen Mitteln so ein, daß du denen, die hungern, mit demselben Betrag, der euch erfreut, zu Hilfe kommst. Kaufst du dir ein Stück Möbel oder sonst etwas, das dir Freude macht, denke daran, etwas in derselben Höhe für die, die desNotwendigsten ermangeln, die nicht wissen, wie sie ihre Miete bezahlen, zu entrichten, undso in allen Annehmlichkeiten, die dudir gönnst. Ich meine also, wir müssen gewissermaßen in allem, was über das Notwendige hinausgeht, mit den Bedürftigen teilen, eine freiwillige geheime Steuer entrichten, durch die wir uns innerlich die Erlaubnis erwirken, von dem in unserer Hand befindlichen Gut so für uns zu verwerten. Indem ich dies ausspreche, bitte ich auch diejenigen, die noch jugendlich sind und keinen eigenen Hausstand haben, über dieses geheime Erkaufen dessen, womit sie sich das Leben in ihrer Ungebundenheit angenehm machen, nachzudenken. Wenn ich einen sehe, der bei den

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heutigen Preisen eine Zigarette nach der andern ansteckt und Geld in die Luft hinausbläst, bloß weil er sich diese Leidenschaft angewöhnt hat, möchte ich gerne das Recht haben, mich zu ihm zu stellen und mit ihm zu reden, ob er nicht die Hälfte davon für etwas, was Bedürftigen not ist, bestimmen wollte, um das furchtbar Unsittliche seiner Vergeudung zu heben ... und so in manchem anderen, wo dieJugend egoistisch und gedankenlos sich Luxus gestattet. Damit habe ich uns nun etwas Festes, Praktisches in die Hand gegeben, um uns auf einem weiten Gebiete der verwirrten Frage nach Besitz und Gebrauch des Besitzes zurechtzufinden. Laßt uns jeder darüber nachdenken! Es ist durchführbar, und wenn wir im Leben damit Ernst machen, dürfen wir hoffen, etwas Gutes zu tun und dem Knechte im Evangelium zu gleichen, dem sein Herr sagte: «Du bist über wenigem getreu gewesen» [Mt. 25,21].

Morgenpredigt, Sonntag, 1.Juni 1919, St. Nicolai 9. Predigt über ethische Probleme: 3. Predigt über Besitz

Gal. 6,9: Lasset uns Gutes tun und nicht müde werden

Zwei Sonntage habe ich euch bereits, in der Verfolgung unserer Andachten über sittliche Probleme, vom Besitz und der mit ihm gegebenen Verantwortung gesprochen.|80¡ Besitz, so ergab sich uns aus dem Nachdenken über sein Wesen, kann es für uns nicht mehr in dem naiven Sinn geben, daß wir sagen: Das ist mein, ich kann damit machen, was ich will. Immer kann es sich nur um die Verwaltung eines Gutes handeln, an dem die Gesellschaft mitbeteiligt ist in irgendeiner Art und das ich in dem Bewußtsein der damit gegebenen Verantwortung so zu gebrauchen habe, daß es der Allgemeinheit zunutze kommt.|81¡ Diese Verwaltung geschieht souverän in dem Sinne, daß niemand dem Besitzenden vorrechnen darf, er dürfe soundso viel für seine Lebensführung verwenden, inwieweit er den Besitz mehren, inwieweit er ihn verausgaben darf, und müsse davon soundso viel der Allgemeinheit nutzbar machen. In allem hat er nur dem persönlichen Gefühl der Verantwortung zu folgen. Wo fängt der Besitz an? fragten wir. Nicht jedes Mal erst bei denen, die mehr haben als ich, wie es mir die Bequemlichkeit einreden will, sondern als Besitzenden hat sichjeder zu betrachten, scharf ausgedrückt, der am Abend etwas auf den morgigen Tag übrigbehält. Denn er steht 80

[Siehe S. 1271. 11.05.19 und 1276. 25.05.19.]

81 [R] Wieviel von meinem Besitz darf ich für mich behalten?

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dann vor der Frage, wie er etwas übrig haben und an solchen, die für diesen Abend selbst darben, vorübergehen dürfe. Keiner von uns, auch

der, der mehr oder weniger von der Hand in den Mund lebt, darf innerlich zur Ruhe kommen. Die Vernünftigkeit sagt ihm: Du und die Deinen, ihr müßt gesichert sein auf die nächste Zeit für den Fall, daß derVerdienst ausfällt oder Unglück kommt; für das Geschäft muß genügend Betriebskapital vorhanden sein, damit es nicht bei irgendeiner auftauchenden Schwierigkeit zusammenbreche. Das denkende Herz sagt uns: Wie darfst du haben und dich für die Zukunft gesichert haben, wo andere jetzt im Elend sind? Und niemand kann diesen Widerstreit lösen. Wir bewegen uns fortwährend in Kompromissen, wobei wir individuell jedes Mal entscheiden müssen, wieweit wir dieser Vernünftigkeit, auf der daswirtschaftliche Leben unserer Gesellschaft beruht, und wieweit wir dem Herzen zu folgen haben und uns dagegen wehren müssen, daß nicht dieVernünftigkeit ein für alle Male siege und unsvon der quälenden Frage, wieviel wir von unserem Gute für uns behalten dürfen, befreie.

In diesen Gedanken wagte ich zu betonen, daß das Elend in der Welt nicht davon herrührt, daß viele Reiche ihren Besitz nicht richtig verwerten, sondern daß die vielen wenig Besitzenden und bescheiden Verdienenden sich, weil sie nicht reich sind, das, was sie der Allgemeinheit zugute kommen lassen könnten, für sich behalten. Für uns, die wir zu dieser Klasse gehören, stellte ich zwei Gesetze auf: 1) Deine Lebensführung soll hinter deinen Mitteln zurückbleiben, daß du reich seist, zugeben. 2) In dem, was du über das eigentliche Bedürfnis hinaus zu deiner Annehmlichkeit oder Erholung für dich verwendest, richte dich so ein, daß du ungefähr gerade soviel gebest für die Bedürftigen, um, mit ihnen gewissermaßen teilend, das Recht, das Nichtnötige für dich zu verwenden, zu erkaufen. Nachdem nun so vom Besitzen und von dem, was man geben soll, die Rede war, laßt uns heute darüber nachdenken, wie wir geben sollen. «Lasset uns Gutes tun und nicht müde werden», sagt derApostel. Gutes tun will überlegt und gelernt sein. Weil sie keine rechte Vorstellung vomWohltun haben, es sich ausdenken, wie es der auf edelmütige Rollen bedachte Komödiant in ihnen vorhat, und dann Schwierigkeiten und Enttäuschungen erleben, kommen die meisten Menschen nicht dazu, das Gute, zu dem sie sich eigentlich gedrungen fühlen, zu tun. Sie sind wie die Knaben, denen man eine Fischgerte und einen Angelhaken gekauft hat, und die nun voll Eifer ans Wasser stehen, meinend, alle Augenblicke einen großen Fisch herauszuziehen, und wenn es ein paar Stunden ergebnislos gedauert hat, die Sache liegen lassen.

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Wohltun ist nicht etwas so Poetisches, wie es auf Abbildungen versinnbildlicht wird, sondern etwas Prosaisches, das Ausdauer und einen Idealismus, der sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzt, ohne etwas von seiner Energie zuverlieren, verlangt. Unsere Zeit fordert zwei Arten vonWohltun von uns: das unpersönliche und daspersönliche. Das unpersönliche besteht darin, daß wir den organisierten Gesellschaften Mittel zurVerfügung stellen, damit sie die wohltätigen Zwecke, die sie sich gestellt haben, erfüllen können. Diese Gesellschaften sind moderne Schöpfungen und stellen, wenn man sich die Geschichte derWohltätigkeit vergegenwärtigt, einen großen Fortschritt dar. Sie leisten, kraft der zielbewußten Organisation, was der einzelne oder die vielen individuell wirkenden einzelnen nicht vollbringen könnten, und suchen, nicht nur der ausgebildeten Not zu steuern, sondern ihr vorzubeugen. Einen Teil von dem, was du deiner Verantwortlichkeit nach für die Bedürfnisse derAllgemeinheit aufwenden willst, gib also diesen Gesellschaften ... und warte nicht, bis sie dich aufsuchen, sondern suche sie auf! Die große Gefahr für uns moderne Menschen ist nun, daß wir uns bei derTätigkeit der Gesellschaft und der Gesellschaften zu leicht beruhigen und es im Vertrauen auf sie mit unserer persönlichen Verantwortung zu leicht nehmen. Gefährlich ist schon, so richtig es an sich ist, daß durch ihre Tätigkeit das Elend von den Plätzen und Gassen verschwindet. Wir meinen dann, es bestehe nicht mehr, weil wir es nicht sehen, statt daß wir es aufsuchen, wo es ist, auch wenn es nicht mehr die schreienden und herzbewegenden Formen annimmt, die es hat, wenn es es darauf ablegt, dasöffentliche Mitleid zuerregen. Aber noch mehr. Wir haben ein falsches Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Organisationen. Eine Organisation kann nicht mehr leisten, als es in ihrer Natur liegt. Zunächst einmal ist sie nur darauf eingerichtet, in einer Reihe von Fällen, die ungefähr gleich liegen, Hilfe zu bringen. Je eigenartiger die Verhältnisse eines Falles, desto weniger ist eine Organisation in der Lage, ihn zu erledigen. Sie kann nicht individualisieren und arbeitet dann unzweckmäßig oder versagt ganz. Die Gesellschaften sind wie Wasserläufe, die das Land durchziehen, da, wo dazwischen Wiese liegt, die unbewässert bleibt, weil ihr die Flüssigkeit in kleinen Gräben zugeführt werden muß.¦82¿ Dies das eine. Dazu noch das zweite: Die wohltätigen Gesellschaften arbeiten für viele Fälle auch zu langsam. Die Ordnung verlangt, daß, ehe geholfen wird, erst diese und diese Erhebung angestellt und diese und diese Papiere beigeschafft sind. Anders kann die Gesellschaft nicht 82 [Ohne Zweifel bringt Schweitzer hier viel von dem ein, was er von seiner Frau über ihreTätigkeit alsWaiseninspektorin in Straßburg gehört hat.]

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bestehen. Aber es treten viele Fälle auf, wo schnell und ohne Formalitäten geholfen werden muß oder überhaupt nicht geholfen ist. Gar mancher kann die Hilfe einer Gesellschaft nicht so in Anspruch nehmen, wie er möchte, weil er eben nicht die Zeit hat, von einem Büro aufs andere zu gehn und auf jedem zu warten, bis die Reihe an ihn kommt, und auch den Mut dazu verliert. Wer die Verhältnisse der Bedürftigen kennt, wer es mit angesehen, wie oft eine Mutter die kleinen Kinder allein zu Hause lassen mußte, um auf dem oder jenem Büro sich einzufinden, weiß, wie wahr dies ist.¦83¿ Zum dritten: Die Gesellschaft arbeitet mit Geld, das ihr anvertraut ist. Sie darf nur da unterstützen, wo sie weiß, daß die Mittel sicher gut angebracht sind. Sie muß darauf bedacht sein, nicht zu riskieren, etwas zu vergeuden. Aber in vielen Fällen ist nur zu helfen, wenn riskiert wird, daß das Geld zum Fenster hinausgeworfen und das Unterstützen gewagt ist. So handeln kann nur der einzelne, der mit seinem eigenen Gute dasExperiment macht. Zum vierten ist dasHelfen der Organisation zu unpersönlich, zu wenig menschlich. Zuletzt bleibt die Arbeit derselben an einigen wenigen Menschen hängen, die als Angestellte oder Freiwillige in ihrem Dienste stehen und die ausführenden Organe darstellen, durch die sie auf die vielen, die ihrer bedürfen, wirkt und mit ihnen im Verkehr ist. Aber diese Menschen haben nicht die Zeit, denen, mit denen sie zu tun haben, so nachzugehen, wie es nötig wäre; sie können auch gar nicht die geistige Frische behalten, auf sie so einzugehen, sie so anzuhören, so mit ihnen zu fühlen, wie es notwendig ist, sondern es kommt etwas Geschäftsmäßiges, Kaltes in ihr Verfahren. Sie können, auch mit dem bestenWillen, denen, die zu ihnen kommen, nicht dassein, wassie sollten, und die Leistung der Organisation ist dementsprechend herabgesetzt. Dies alles nur, damit wir uns nicht in falscher Sicherheit wiegen und unssagen: Die vielen wohltätigen Vereine, die bei uns sind, die werden’s schon schaffen. Es ist bei uns wirklich gut bestellt. Die Wirklichkeit sieht eben gewöhnlich nicht so gut aus, wie sie sich nach den gedruckten Jahresberichten ausnehmen sollte. Haben wir es nicht in der Zeit, die hinter uns liegt, auf allen Gebieten erlebt, daß wir die Leistung der Organisation an sich überschätzt haben, zu einem Überorganisieren gelangt sind, in dem das Unzweckmäßige der Leistung mit erschreckender Deutlichkeit zutage trat? Waren nicht viele Organisationen, die wir, der Not der Zeit zu begegnen, geschaffen hatten, fast wie leerlaufende Mühlen? Jede Organisation, die auf die Wohltätigkeit gerichteten inbegriffen, 83 [R] Mit einem Gesuch in der Hand in einem Büro erscheinen, von einem Zimmer zum andern geschickt werden, immer wieder dieselben Angaben machen ... Kommen Sie morgen wieder.

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ist auf die Dauer nur so viel wert, als sich tüchtige Menschenenergien in ihr betätigen, denn die persönliche Initiative, die vielgestaltig anpassungsfähige Kraft der einzelnen, ist die Einheit, aus der sich jede wirk-

liche Leistung aufbaut. Darum bedenke zunächst das eine: Die wohltätigen Organisationen brauchen nicht nur deinen Beitrag, sie brauchen auch dich, deine Zeit, deine Arbeit, deine menschliche Gesinnung. Sie kranken alle daran, daß sie nicht genügend Arbeiter haben, Menschen, die die Gänge unternehmen, nach den Bedürftigen sehen, sie kennen, mit ihnen fühlen. Wer die Geschichte der wohltätigen Vereine unserer Stadt durch zwanzig Jahrzehnte verfolgt, der kann bemerken, wie Vereine, die anfangs, als sie noch unter dem Einfluß der arbeitenden Gründer standen, praktisch viel geleistet haben, nach und nach alterten, nur noch aus Statuten, einem Jahresbericht, einem Komitee, einer Gabensumme, einem Büro und einigen Angestellten bestanden, weil der Nachwuchs der tätigen Menschen fehlte.¦84¿ 84 [Der 2. Teil der Predigt ist ausder folgenden Skizze zu erahnen:]

Wohltun ist eine Arbeit: 1. Arbeiten in Vereinen unscheinbare Arbeit. Irgend etwas, wozu du Befähigung. – Nicht nur geben, sondern deine Zeit. Deine Muße. Nicht für dich behalten! Deine Menschlichkeit. So dasunpersönliche Geben ohne Grenze in daspersönliche übergeht. 2. Das persönliche Geheiß (Lob der Privatinitiative). Auf eigene Faust. Und hier nicht leicht. Exempel von tausend Francs. Rede aus Erfahrung. Summe erhalten. Verwenden Sie sie zum Besten. Gedankenloses Geben. Den Menschen nachgehen. Beispiel Ernst. 1) Zeit

Mit Zeit und kleinen Mitteln viel ausrichtet. Takt. – Beispiel vom Nächsten, der uns begegnet, und keine Zeit. Hier Beispiel aus Paris, das in voriger Predigt steht [Siehe S. 1279. 25.05.19.] 2) Geistige Frische Geist und Frische: Es mit dem andern zu erleben, sich in Sorge zu versetzen. Und nicht nur Gabe, sondern Sorgen. Anstellung. – Für einen Menschen einstehen. Sich verbürgen. Ihm leihen. (Jetzt leihen, die früher nie geliehen haben.) Warte nicht auf den Nächsten, der von Räubern überfallen bewußtlos am Boden liegt. Gang für ihn

tust. 3) Suche nicht dasGroßartige Nicht das großartige Helfen. Daß der barmherzige Samariter vorher hilfsbereit sich erwiesen; dann ihm selbstverständlich, daß er nicht neben jenem vorüberging und sich sagte: Es wird schon jemand kommen, ich bin auf einer Geschäftsreise. [R: Predigt über Nebenamt] 4) Werde nicht herrisch Sei lieber zu leichtgläubig. Nicht herrisch sein. Sich etwas darauf einbilden, sich nicht betrügen zu lassen. So etwas Abwehrendes wie Polizeibeamter. Panzer. – Menschlich: nicht nachrechnen. – Bedürftig so und so. Kanarienvogel. 5) Werde nicht verbittert Das bist du. Mit welchem Rechte verbittert? Nicht müde werden. Geld hinausgeworfen. Fall von Vagabunden. Operiert mit Briefen. – Was tun? Geld verbraucht. – Zu-

Dienet einander

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Morgenpredigt Sonntag Trinitatis, 15.Juni 1919, St. Nicolai 10. Predigt über ethische Probleme

I Petr. 4,10: Dienet einander, einjeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes

In die Reihe unserer Betrachtung über sittliche Probleme tritt dieser Trinitatis-Sonntag ein, an dem, dem Brauche unserer elsässischen Kirche gemäß, derWerke der inneren Mission gedacht werden soll. Dieses Gedenken fügt sich in die Gedanken, die uns beschäftigten, ein. Was ist nämlich innere Mission? Der Name ist nicht besonders glücklich gewählt, denn es könnte danach erscheinen, als ob das Bekehren zur Kirche im Vordergrunde stände. Er kam auf, als in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die christliche Kirche anfing, sich auf ihre sozialen Pflichten zu besinnen, angesichts der Not, die schon durch die Komplizierung der wirtschaftlichen Verhältnisse geschaffen wurde. Er bedeutet also, daß, wie Jesus dieJünger aussandte, unter den Heiden zu arbeiten, so auch die Kirche bestimmt ist, in allen Nöten, die unter uns auftreten können, zu helfen. Sie hört auf, allein eine Lehr- und Gnadeninstitution zu sein, wie sie es nach der alten Auffassung war, und wird ein Organismus desHelfens. Das galt, als es die Männer, die die großen Werke der Fürsorge gründeten, zum ersten Mal aussprachen, als etwas Revolutionäres. Uns heute ist es etwas so Selbstverständliches geworden, daß wir uns die Kirche im Prinzip gar nicht mehr anders denken können und wünschten, sie möchte in Wirklichkeit und in Werken sozial noch viel mehr leisten, als sie leistet, und die Christen noch tausendmal mehr zu den tätig-fürsorgenden Menschen machen, die unsere Zeit braucht. Und wo wir das Fest der sozialen Wirksamkeit der Kirche feiern, nicht mit Genugtuung auf Vergangenheit zurückblicken, aufzählen, was sie geleistet hat, sondern nach vorn, auf die großen Aufgaben, die dem Geiste Jesu in der jetzigen und der kommenden Zeit gestellt sind, mögen wir in unseren Gotteshäusern von dem Geiste erfaßt werden, stand des Fremdseins aufheben. Das bist du!Je mehr Menschen sich annehmen, je weniger Mißbrauch. Dieser davon lebt, daß Gabe bekommt, um ihn los zusein. Um Gewissen zu salvieren. «Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert» [Philipp Friedrich Hiller]: So viele sprechen, auf ihr Leben zurückblicken. Die Gesellschaft, die sie als ihren Feind. Schluß: Die Probleme nur durch Gesinnung. Menschen versöhnen mit Besitz: Mechanische Lösung. Kampf zwischen Kapital und Arbeit: Kampf, beide verlieren. Menschentum. Andere Atmosphäre schaffen.

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Predigten

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den der Verfasser des ersten Briefes des Petrus in den herrlichen Spruch kleidete: «Dienet einander, einjeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes.» Ich meine, daß durch unsere vorhergehenden Betrachtungen dieses Wort sich uns in seiner ganzen tiefen Schönheit offenbart, wenn wir heute dabei ausruhen wollen, ehe wir an kommenden Sonntagen, unserenWeg in weitere ethische Fragen fortsetzen.¦85¿ «Dienet einander!» Wir gingen ausvon dem elementaren Grundprinzip aller Sittlichkeit, von der Ehrfurcht vor dem Leben, für die das Erhalten und Fördern jeglichen Seins, soweit unser Wirkungsbereich nur immer ausgedehnt werden kann, als eine zwingende Forderung auftritt. Leben heißt für uns nicht nur, unsere eigenen Schicksale erleben, sondern alles, was sich mit anderem Sein um uns ereignet, mit der Kreatur und mit den Menschen, zugleich als ein dem unsrigen nicht fremdes Schicksal miterleben, die Sorge in Sorge mitempfinden, die Angst als unsere Angst mitmachen, mithelfen, wo eine Anstrengung gemacht wird auf Erhaltung oder auf Steigerung und Vervollkommnung des Lebens. Miterleben heißt, sich für alles, wassich in innerem Bereiche abspielt, verantwortlich fühlen. Der gewöhnliche Verstand will uns einreden, daß wir nur verantwortlich sind für das, was uns nach den geltenden rechtlichen Anschauungen zufällt. Aber das tiefer denkende Gewissen lehrt uns, daß der Kreis innerer Verantwortlichkeit gar nicht abzustekken ist, sondern daß wir in fortgesetzter Unruhe leben müssen, ob wir uns so für den Erfolg des Guten und Wahren, für die leidende Kreatur und für die Menschen eingesetzt haben, wie wir es sollten, und ob wir dasbequeme Wort «Das ist nicht meine Sache» immer von uns gewiesen haben, wenn es uns beruhigen wollte, wo wir uns der Ruhe nicht ergeben durften. So werden wir hineingezwungen in ein «Dienen» ohne Grenzen, wie es die Schicksale, die uns im Leben begegnen, verlangen. Keiner von uns darf sich frei fühlen, sondern jeder hat zu helfen, wo es ihm die innere Stimme sagt. Dieses Dienen ist zugleich ein «Abverdienen». Als wir über den Besitz nachdachten, wurde uns klar, daß keiner sagen dürfe: Das ist mein, ich kann damit machen, wasich will, sondern daß wir, ob wir viel oder wenig haben, immer vor der Frage stehen müssen: Wie darfst du für dich behalten und für dich genießen, wo andere darben, und waswir für uns behalten und für uns genießen, erkaufen müssen durch das, waswir für die, die unser bedürfen, verwenden. Aber so ist es nicht allein mit dem Besitz: Alles Gut, alles Glück will abverdient sein durch das, wasdu davon für andere opferst und davon an die Allgemeinheit abführst. 85 [R] Rückschau und Umschau halten.

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Das größte Gut, und wir achten es gewöhnlich zu gering, ist die Geein Mensch in deinen Jahren wirken kann. Du hast einen guten Schlaf und kennst die Nächte nicht, die sich dem wachen Menschen endlos hinziehen, und wo man morgens elender und zerschlagener aufsteht, als man sich abends hingelegt hat. Du hast nie Schmerz undWeh erfahren wie andere, denen das Krankenlager eine vertraute Stätte geworden ist, unddiesich ein Leben in normaler Gesundheit ebensowenig mehr vorstellen können als die andern dasParadies.¦87¿ Du hast eine gesunde Gemütsart, die dich die Dinge, die dich betreffen, nicht krankhaft schwer nehmen läßt wie so viele andere, die ein weniger gutes Gleichgewicht von der Natur erhalten haben, undstößt nicht ungeschickt underregt anjeder Kleinigkeit anwie sie.¦88¿ Darfst du alles, was dir damit zuteil geworden ist, als selbstverständlich hinnehmen? Nein, sondern du mußt auch dieses abverdienen durch ein Tun, das du dafür opferst.¦89¿ Wenn du dein Glück verstehst, kannst du nicht anders, als dich angetrieben fühlen, etwas dafür zu tun.¦90¿ Daß für alles Glück von uns der Preis erlegt werden muß in einem Tun durch Helfen, das du dir schaffst, das ist das tiefe Wissen vom Leben, aus dem erst das wahre Glück kommt ... und in dem wir auch stark werden, uns auf «Nichtglück» und Leiden, das uns beschieden sein kann, zu besundheit.¦86¿Dubist rüstig undkannst wirken, soviel

reiten.¦91¿

Alles Helfen undWirken, zu dem du im Leben berufen sein kannst, ist ein materielles und ein geistiges zugleich, wie in dem, wasden Menschen angeht, beides immer ineinander geht, da für sein Leben, als das deshöchsten Wesens, beides miteinander in Betracht kommt.¦92¿ 86 [Als Schweitzer das schreibt, befindet er sich im Spital, um sich erneut einer Operation zu unterziehen, und seine Frau leidet stark unter denVerhältnissen, in denen sie leben. Mühlstein, S. 186– 188.] 87 [R] Frömmigkeit zusammen fühlen. Höheres Wissen vom Leben. 88 [R] Hier noch «Zeit» einfügen. 89 [R] ausPhilipperbrief: «Hielt er’s nicht für einen Raub ... » [Phil. 2,6 f.]. 90 [A. Schweitzer, Aus meinem Leben undDenken, in: Werke Bd. I, S. 98 f.] «Es kam mir unfaßlich vor, daß ich ein glückliches Leben führen durfte. An einem strahlenden Sommermorgen, als ich – es war im Jahre 1896 – in Pfingstferien zu Günsbach erwachte, überfiel mich der Gedanke, daß ich dieses Glück nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen dürfe, sondern etwas dafür geben müsse. Indem ich mich mit ihm auseinandersetzte, wurde ich, bevor ich aufstand, in ruhigem Überlegen, während draußen dieVögel sangen, mit mir selber dahin eins, daß ich mich bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr für berechtigt halten wollte, der Wissenschaft und der Kunst zu leben, um mich von da an einem unmittelbaren menschlichen Dienen zu weihen. Gar viel hatte mich beschäftigt, welche Bedeutung dem Worte Jesu ‹Wer sein Leben will behalten, der wird es verlieren, und wer sein Leben verliert um meinet- und des Evangeliums willen, der wird es behalten› [Mt. 10,39. 16,25] für mich zukomme. Jetzt war sie gefunden. Zu dem äußeren Glücke besaß ich nun dasinnerliche.» 91 [R] Nichts ist umsonst in derWelt, das [ist] dasgroße Gesetz. 92 [R] Das Ganze sehn. Knechte [Mt. 13,24–30].

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Ehrfurcht vor dem Leben heißt dem Menschen gegenüber nicht nur Erhaltung des äußeren Daseins und Förderung desselben, sondern daß wir mithelfen, alles, was Menschenleben um uns herum ist, auf seinen höchsten geistigen Wert bringen, daß zuletzt eine vollkommene und glückliche Menschheit entsteht. Das ist, was wir alsWeltzweck in uns erleben, das Licht, von dem aus ewige Helligkeit auf das Dunkel des Seins fällt. Wenn eine Not einen Menschen drückt, oder wenn er in irgendeiner Gefahr ist, so bedarf er nicht nur der äußeren Hilfe, sondern sein Geist bedarf der Erquickung.¦93¿ Diese aber kann ihm nur von dem Geiste eines Menschen kommen. Wo nicht dieses ganze Helfen ist, da ist nichts getan. Ich sprach es in unserer letzten Betrachtung aus, wiejedes Gut, um zweckmäßig zum Helfen dienen zu können, sich mit einer Menschenenergie verbinden muß.¦94¿ Alle Mittel, die zur Verfügung stehen, bekommen erst ihren wahren Wert, wenn entsprechend Menschen zur Verfügung stehen, die die Zeit, dasNachdenken, dasNachforschen aufwenden, um sie am besten zu verwerten, die das Herz besitzen, um an dem Schicksal derer, denen geholfen werden soll, teilzunehmen, die sich nicht verbrauchen, wo menschliche Güte mißbraucht wird, sondern im Leben betätigen, was der Apostel sagt: «Die Liebe glaubt alles, sie duldet alles, sie hofft alles» [I Kor. 13,7]. Alle Probleme, die großen wie die kleinen, die gelöst werden müssen, können nur durch Gesinnung gelöst werden zwischen den einzelnen wie zwischen den Gesamtheiten. Es scheint so, alswollte man alle materiellen und sozialen Probleme durch einen Machtkampf zwischen Kapital und Arbeit und durch die Funktion von Organisationen lösen. Wo wir diese Überzeugung um uns herum verbreitet finden, in der gewöhnlichen Meinung und in der Presse, muß uns angst werden. Dies ist eine Weisheit, die noch in Geltung ist, obwohl sie sich schon überlebt hat. Aus der Auseinandersetzung von Macht zu Macht kommen wohl diese und jene zweckmäßigen Zugeständnisse von beiden Seiten, aber eine Verständigung, die gemeinsames Zusammenwirken zur Schaffung einer besseren Zukunft bedeutet, wird niemals daraus entstehen, denn diese bedarf der Schaffung eines gegenseitigen Vertrauens, das nur aus der Begegnung beider Gesinnungen kommen kann. Nicht anders ist es mit den Organisationen. Sie können wohl dies und dies, sogar viel, in der Besserung der Verhältnisse leisten, aber [nicht] die große und entscheidende Besserung [herbeiführen], daß immer mehr einzelne Menschen in dasgroße Dienen, dessen unsere Zeit bedarf, eintreten und sich darin vielfältig, jeder nach den Gaben, die ihm eigen sind, betätigen. 93 [R] Erlöst vom Erdrücktsein von derWelt. Ausder Fremdheit erlöst. 94 [Siehe S. 1284. 01.06.19.]

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Was neben allem dem, was jetzt im wirtschaftlichen und sozialen Kampfe vor sich geht, kommen muß, wenn wir nicht in materielles und noch mehr in geistiges Elend kommen wollen, ist die tätige Menschlichkeit, immer reicher sich auswirkend. Diese gilt es zu wecken. Diese müssen wir alle, die wir das, was vorgeht, durchschauen, begreifen, betätigen wollen, daß eine neue Atmosphäre, eine erquickende, warme, lebenspendende Luft an die Stelle der Kälte trete, die unsjetzt umgibt. Es ist, als riefe der Apostel sein «Dienet einander» uns zu als dem Geschlecht, dessen Rettung davon abhängt, daß es diese Wahrheit begreift. Womit kannst du dienen? Es ist ein großer Unterschied hier zwischen den Menschen. Dem einen erlaubt seine gewöhnliche, alltägliche Arbeit an dem Erziehen und Helfen, das not tut, beteiligt zu sein; die andern sind in einer mechanischen Arbeit, in der sie sich nicht als Menschen ausgeben können, gefangen. Was die ersteren anbetrifft, ob sie nun ein Amt in der Kirche oder in der Schule oder sonst irgendwo bekleiden, wo sie Menschen Gutes tun können, so müssen sie esjeden Tag empfinden, daß sie Bevorzugte sind, weil sie eben in ihrer täglichen Arbeit Gutes tun können an Menschen. Diese Gnade ist groß. Man muß sie sich immer wieder vorhalten und darin die Energie zu freudiger Pflichterfüllung finden. Was bedeutet es doch, daß solche Menschen sich jeden Morgen beim Erwachen sagen können: Du darfst am Guten in derWelt mitarbeiten, was du tust, alles, dient einem großen Ziel unmittelbar, du darfst dich als Mensch ausgeben!¦95¿

Was sollen aber die andern tun, denen kein solches Wirken zuteil geworden ist, deren tägliche Arbeit in irgendeiner mechanischen Arbeit, in der Bedienung irgendeiner Maschine, einer Schreibarbeit oder wases sonst sei, besteht? Diese mechanische Tätigkeit, in der der Mensch sich abschließt, ist eine große Gefahr, die mit dem modernen Wirtschaftsleben gegeben ist. Der Mensch verarmt innerlich und zieht sich auf sich selbst zurück. Er verliert den Gedanken, daß er als Mensch auch noch etwas zu wirken hat. Darum sei allen die Sehnsucht wachgehalten und die Überzeugung, daß sie der Welt auch als Menschen etwas zu geben haben. Ich deutete das schon in dem Schluß der letzten Betrachtung an, als ich sagte, daß jeder neben seinem Beruf, der ihm seinen Lebensunterhalt gewährt, noch irgendwie eine Beschäftigung suchen muß, in der er als Mensch den Menschen dient.¦96¿ Ist diese Sehnsucht in ihm wach, dann kann es nicht kommen, daß er den Zusammenhang mit der Welt und der Not 95 [R] Was aus dem Chaos der Ereignisse bleibt: Wo ein Mensch Mensch war für einen andern.

96 [Siehe S. 1288. 01.06.19.]

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außer ihm verliert und sich ganz auf sich zurückzieht in einem langsamen Prozeß, wie es in tausend und tausend Fällen geschieht. Nicht in unserer beruflichen Tüchtigkeit dürfen wir uns genug tun und uns dann einreden, ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu sein, sondern dazu gehört noch, daß wir als Menschen für Menschen etwas sind. So müssen wir ausuns selbst, ausunserem Berufe, ausunserer Umgebung heraustreten, indem wir suchen, uns in menschlicher Weise daneben irgendwo undirgendwie nützlich zu machen. Wie kannst du das tun? Da sage keiner, daß er nichts zu geben habe, denn hier kommt es nicht auf irdische Güter an, die dir zugefallen sind, sondern auf dich selbst. Du selbst, mit den Gaben, die du erhalten hast, das heißt mit deiner Zeit, mit deinem Herzen, mit deiner Arbeitsenergie, mit deinen besonderen Fähigkeiten, mit deiner Art, mit Menschen umzugehen, sollst in Anspruch genommen werden. Halte die Augen auf, ob sich nicht eine Gelegenheit finde, wo du als Mensch in irgendeinem Helfen oder Vorbeugen oder Erziehen mitzutun hast, sei es für dich, sei es im Rahmen irgend einer Organisation. Das kann ein jeder finden. Er muß nur suchen, warten und klein anfangen. Wie die Arbeiter, die nach dem Gleichnisse Jesu der Herr für seinen Weinberg warb, am Markte standen und ausschauten, ob jemand käme, sie zu dingen [Mt. 20,1– 16], so sucht still und bescheiden, wo Gott euch brauchen kann, und werdet nicht müde im Warten und Suchen, denn wenn irgendwo dasWortJesu gilt, «Wer dasucht, der findet» [Mt. 7,7], so ist es hier. Ihr werdet finden, wo ihr dienen könnt, und die Seligkeit dieses Dienens erfahren.¦97¿

Morgenpredigt Sonntag, 20. Juli 1919, St. Nicolai 11. Predigt über ethische Probleme

Phil. 4,5: Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen

In unserer letzten Andacht faßten wir die allgemeinen Grundsätze, die wir uns im Nachdenken über sittliche Fragen gemeinsam vergegenwärtigt hatten, zusammen.¦98¿Heute setzen wir unsern Weg weiter und gehen vom Allgemeinen wieder zum Besonderen.¦99¿Eine ganz alltägliche Frage, dieeuch sicher schon mannigfach bewegt hat, soll unsbeschäftigen. 97 [R] Durch Propaganda nie etwas Intelligentes verbreitet. Nur was durch Abstumpfung zu erreichen ist. 98

[Siehe S. 1289. 15.06.19.]

99 [R] Auf ein entlegenes Gebiet führen, hen.

[auf]

ein besonderes Eckchen im Garten hinge-

Eure Lindigkeit lasset kund sein

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Zum Ausgangspunkt ist das schöne Wort des Apostels Paulus «Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen» gewählt. Es drückt aus, was ich mit meinen eigenen Worten so aussprach, daß ich sagte, wir müßten immer, wo es der Augenblick und die Gelegenheit verlangen, unsere Menschlichkeit betätigen und für Menschen mitfühlende und helfende Menschen sein.¦100¿ Angenommen, dies sei uns selbstverständlich gewesen und in unserm gemeinsamen Nachdenken noch selbstverständlicher geworden, so daß wir uns vornehmen, in Zukunft damit ganz anders Ernst machen zu wollen als in der Vergangenheit. Dann aber hat unser guter Wille, besonders wenn er sich auch in den kleinen Dingen des täglichen Lebens so verhalten will, sich mit den Sitten und Gewohnheiten, die für den Verkehr zwischen den Menschen bestehen, auseinanderzusetzen.¦101¿ Diese richten Schranken zwischen uns auf undwollen es gar nicht zulassen, daß wir unsere Lindigkeit allen Menschen kund sein lassen. Zu vielem, wozu uns das Herz antreibt, sagen sie: Dies schickt sich nicht, oder: Dies könnte aufdringlich sein oder auffällig erscheinen. Wir aber stehen alle so sehr unter dem Einfluß der geltenden Anschauungen, daß wir in vielen Fällen nicht taten, wie es uns ums Herz gewesen ist. Die Regeln über Höflichkeit und Anstand sind also schuld, daß die Menschen oft, wo sie es innerlich nicht so wollten, fremd und kalt aneinander vorübergehen und einander versagen, was sittlich und natür-

lich wäre.¦102¿

Ein Beispiel für viele. Im Nebenhause wohnt jemand, den du seitJahren von Ansehen kennst. Eines Tages triffst du ihn in Schwarz und mit traurigem Gesicht an. Dein innerliches Gefühl sagt dir: Geh auf ihn zu und frag ihn, wen er verloren hat, und drücke ihm deine Teilnahme aus. Aber alsbald kommt dir das Bedenken, daß du noch nie mit ihm gesprochen hast und also kein Recht habest, ihn anzureden. So unterdrückst du, was du tun wolltest, und ein Strahl von Herzlichkeit, der einem andern Menschen wohlgetan hätte, leuchtet in dieser Welt nicht auf. Was haben nun Religion und Sittlichkeit zu den Umgangsformen, wie sie unter uns gelten, zu sagen? Wie weit soll dasGute, dasin denselben liegt, geachtet werden, und wie weit dürfen wir uns über sie hinwegsetzen, wenn sie der Äußerung wahrer Menschlichkeit hinderlich sind?

Die ungeschriebenen Gesetze, denen wir uns unterworfen fühlen, faßt man in dem Worte «Höflichkeit» zusammen. Höflichkeit bezeich100 [R] Heraustreten aus der Fremdheit, für Menschen da sein, auf tägliches Leben hinweisen.

101 [R] Umgangsformen. 102 [R] Bild Quelle: nicht wahrhaft gefriert, nurAnschein.

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net ursprünglich das feine, gesittete Benehmen an einem Hofe, im Unterschied zu der unerzogenen Natürlichkeit des unverfeinerten Menschen. Wie diese Natürlichkeit ihre guten und schlechten Seiten hat, so auch ihr Gegenteil, die Höflichkeit. Die Natürlichkeit der Sitten bringt die Gefahr mit sich, daß Takt und Zurückhaltung nicht zu ihrem Rechte kommen; die Verfeinerung der Sitten führt leicht zu Veräußerlichung undzuUnnatürlichkeit, die wider die Sittlichkeit streiten. Wie steht es in dieser Hinsicht mit der unter uns geltenden Höflichkeit? Die Gesetze, die sie aufstellt, bezwecken ein Dreifaches: Sie halten uns an, den Menschen, mit denen wir zu tun haben, Hochachtung zu bezeugen; zugleich legen sie uns nahe, in möglichst angenehmen und freundlichen Formen mit Bekannten zu verkehren; drittens gebieten sie uns, Zurückhaltung zu beobachten. In diesen drei Klassen lassen sich alle Gebote der Höflichkeit unterbringen. Für die beiden ersten läßt sich die Auseinandersetzung mit der Sittlichkeit ziemlich leicht erledigen. Unsere Höflichkeit ist nichts weniger als gesund. Was die Begrenzung der Hochachtung angeht, will es der Brauch, daß wir uns in übertriebenen Ausdrücken bewegen sollen. Schreiben wir einem Menschen, den wir bestenfalls für halbwegs ehrbar ansehen, so müssen wir ihn «Hochgeehrter Herr» titulieren. «Geehrter Herr», was doch an sich schon reichlich viel ist, könnte er unfreundlich finden; «Mein Herr» gar gilt schon fast als beleidigend. Gebrauchen wir «Lieber Herr», um aus der Verlegenheit einer Bezeugung von Ehrerbietung in leeren Worten herauszukommen, so wird es uns unter Umständen als unangebrachte Vertraulichkeit übel genommen. Wie töricht ist auch die Ehrerbietung, die uns vorgeschrieben ist, wenn wir miteinander durch eine Tür hindurchgehen sollen! Jeder muß tun, als hielte er sich nicht würdig, mit dem andern zugleich die Schwelle zu überschreiten. Darum nötigt einer den andern, ja doch vorauszugehen, als ob die Bezeugung der Ehrerbietung in einer so lächerlichen Kleinigkeit etwas so Wichtiges wäre.¦103¿ Weil die Gesittung uns nicht erlaubt, uns in der Bekundung der Hochachtung gegen andere in natürlichen Grenzen zu halten, drängt sie uns Lüge und Heuchelei in kleinen Dingen desLebens auf und verdirbt uns den Charakter. Mit der Bezeugung der Freundlichkeit liegt es nicht anders. Auch hier fordert die geltende Höflichkeit zuviel Äußerliches, indem sie uns konventionelle Schmeichelei, geheucheltes Interesse und geistloses Komplimentemachen auferlegt.

103 [R] Die Glocken läuten eben am 13 VI 19, um 9 1/4, den Frieden ein. Ich liege in der Stoltz’ schen Klinik nach der Operation der Periproktitis-Fistel. ff. [= fortissimo, sehr schmerzhaft?]

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Die Zeit wird einst kommen, wo die Höflichkeit in diesen zwei Punkten vereinfacht werden wird. Wir sollten es schon jetzt versuchen. Aber es gehört Geschick und Klugheit dazu. Tappige Auflehnung nützt nichts. Erkennen wir das Berechtigte der geltenden Vorschriften an! Sie verlangen, daß wir uns in jedem Augenblicke beherrschen und nicht nach Laune ehrerbietig oder freundlich, oder unfreundlich und unehrerbietig sind. Das vermögen wir nur, wenn wir uns geprägten Formen unterwerfen. Ferner aber enthalten diese Satzungen, mögen sie auch noch so übertrieben sein, einen Hinweis auf eine Sache, die ihnen zugrunde liegt und die wertvoll ist. Sie fordern uns auf, der Ehrerbietung und der Freundlichkeit auch in unserer wirklichen Gesinnung ihr Recht zukommen zu lassen.¦104¿ Die Höflichkeit der Form soll uns zur Höflichkeit des Herzens anhalten. In der Durchdringung beider entsteht die wahre Höflichkeit, bei der dann das Übertriebene der Formen von selbst abwelkt. Auf diesem Wege ist für die Einzelnen wie für die Gesellschaft die Gesundung der Höflichkeit zu erstreben. Mit der Kritik desLächerlichen und Heuchlerischen der oder jener törichten Formen ist nicht viel getan. Die Sittlichkeit braucht also den Kampf gegen die geltenden Ehrerbietungs- und Freundlichkeitsvorschriften nicht als etwas Dringendes anzusehen, weil diese, bei all ihrer Verfehltheit im einzelnen, das Aufkommen der Herzenshöflichkeit nicht aufzuhalten vermögen. Anders liegt es aber mit denVorschriften der dritten Art, die es mit der zu beobachtenden Zurückhaltung zu tun haben. Das Notwendige und Berechtigte an ihnen sei voll anerkannt. Wir leben enggedrängt nebeneinander und können unmöglich mit allen Menschen, die uns begegnen, in Beziehung treten, noch sie mit uns in Beziehung treten lassen. Es darf nicht sein, daßjeder, wie es ihm gerade einfällt, sich an den oder jenen heranmacht, ihn anredet, ihn in Anspruch nimmt, ihm seine Meinung kundgibt, und was dergleichen mehr ist. Der Respekt vor dem Nebenmenschen verlangt, daß wir uns dem Unbekannten nicht aufdrängen. Dasselbe sollen wir von andern uns gegenüber erwarten dürfen. Diese Gesetze dürfen aber naturgemäß nicht weiter ausgebaut werden, als es die Verhütung der Aufdringlichkeit verlangt. Wie alle Höflichkeitsbestimmungen finden sie sich aber bei uns ins Äußerliche und Unnatürliche übertrieben. Wir verurteilen uns gegenseitig dazu, in einer geradezu lächerlichen Weise als Fremde nebeneinander herzugehen, wo die Umstände ein Bekanntwerden in irgendeiner Form nahelegen oder geradezu fordern. 104 [R] Hier kein Widerstreit mit Herzenshöflichkeit, sondern nur Vertiefung durch Herzenshöflichkeit.

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Das freundliche Schicksal kann uns stundenlang mit einem Menschen zusammenbringen, für den wir Interesse und Sympathie haben, wie er seinerseits solches für uns empfindet. Aber derAnstand will, daß wir tun, als wären wir einander ganz gleichgültig, weil wir bisher nicht miteinander bekannt gemacht worden sind und niemand da ist, der dieses Amt übernehmen kann. Oder ein Unbekannter, wie in dem zu Anfang gebrauchten Beispiel, ist in einer Lage, die unsere Teilnahme erweckt. Wir möchten sie ihm gerne aussprechen, und ihm täte es gut, sie von uns zu empfangen; aber wir kennen einander nicht und gehen verschüchtert, als achteten wir nicht aufeinander, einer an dem andern vorüber. Ein Mensch könnte zufällig unsere Hilfe brauchen, und wir möchten sie ihm gerne anbieten. Aber wir wagen es nicht, weil er nach den geltenden Anstandsgesetzen glauben könnte, wir wollen uns ihm aufdrängen. Oder wir unsererseits bedürften seiner und fühlen auch, daß er uns gern das Nötige antun würde; aber wir wagen ihn nicht zu bitten, und er nicht, sich uns anzubieten, und gehen so, als wären wir gleichgültig gegeneinander geblieben, auseinander. Die Satzungen der Höflichkeit der Zurückhaltung lassen uns also soundso oft, wie es jeder schon hundertfach an sich erfahren hat, die Triebe der Höflichkeit des Entgegenkommens unterdrücken und in Fremdheit verharren, wo wir andern aus Unbekannten Bekannte und ausFernen Nächste werden könnten und sollten. Der Schaden geht noch weiter. Dadurch, daß das Herz in so vielen Gelegenheiten schweigen muß, werden die Anschauungen über das, was die natürliche Herzlichkeit unter uns gelten soll, langsam gefälscht. Wir gewöhnen uns daran, daß dem Unbekannten Gleichgültigkeit entgegengebracht wird, und daß wir uns nicht mehr als empfindende Menschen, sondern als unpersönliche Dinge zueinander verhalten. Diese Entwicklung hat in den letzten Jahrzehnten beängstigende Fortschritte gemacht. Anstelle der natürlichen Herzenshöflichkeit, die unsern Großvätern als Ideal vorschwebte, ist heute überall das Ideal der weltmännischen Höflichkeit der Kälte getreten. Die Formen, die die rücksichtsvolle Zurückhaltung gegen den Unbekannten regeln sollten, sind durch sinnlose Übertreibung undVeräußerlichung zu Formeln der Abweisung geworden. In einer korrekten Weise, stumm oder mit Worten, dem uns unbekannten Menschen, mit dem wir irgendwo zusammenkommen, zu verstehen zu geben, daß er Luft für uns sei und sich nicht unterstehen solle, etwas anderes sein zu wollen: Dies ist dasWesen der Höflichkeit, die sich als vornehm von oben her gegen die früheren besseren Sitten durchsetzen will. Sie hat schon weite Kreise betört. So oft ich durch die Umstände in ein vornehmes Hotel verschlagen werde, graut mir vor der Rücksichtslosigkeit und der Unkultur, die der Durchschnitt dieser geputzten Menschen in gewandten Formen zur Schau trägt. Tagelang leben sie unter demselben Dache, hausen Zimmer

Eure Lindigkeit lasset kund sein

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an Zimmer, speisen Tisch an Tisch, ohne sich auch nur zu grüßen, wenn sie auf derTreppe aneinander vorübergehen, und ohne sich, wo es die Gelegenheit verlangen würde, die geringste Rücksicht zu erweisen. Wie sehr sie Schule machen, kann man an soundso vielen jungen Menschen aller Klassen sehen, die in ihrer Umgebung die Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit gegen den Unbekannten als eine Errungenschaft der modernen Erziehung vertreten und sich auf ihre glatte Forschheit nicht wenig einbilden. Die gelehrten Botaniker haben nachgewiesen, daß die Wasserpest, die Pflanze, die unsere stehenden und fließenden Gewässer so behindert, nicht vonjeher bei uns existierte, sondern erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit aus der Fremde in unsere Gegenden verschleppt wurde, und, bereits unausrottbar, vonJahr zuJahr zu unserm Schaden an Verbreitung gewinnt und zugleich die bisherigen harmlosen Wasserpflanzen verdrängen wird. Was hier in der Natur geschieht, ist im Begriff, sich auch in den Umgangsformen durchzusetzen. Darum ist es so zeitgemäß, daß wir fragen, wie sich Religion und Sittlichkeit zu den geltenden oder um Geltung ringenden Formen der Höflichkeit der Kälte stellen. Wassagt uns der Geist Jesu, der sichere Führer in den Fragen des Verhaltens von Mensch zu Mensch? Die Höflichkeit besteht ausForm und Geist. Der Geist ist dasWesentliche, die Form dasUnwesentliche. Ihrem Wesen nach ist die Höflichkeit nichts anderes als die taktvolle Betätigung der Sittlichkeit und Menschlichkeit in dem täglichen Verkehr mit bekannten und unbekannten Menschen. Zur leeren Form soll sie niemals werden. Erziehung zur Höflichkeit ist vor allem Erziehung zur natürlichen Menschlichkeit. Dies sei der Grundsatz, nach dem du dich selber entwickelst und nach dem du die, welche unter deiner Autorität stehen, heranbildest. Dem Geiste der Zeit entgegen sei dir dessen bewußt, daß Höflichkeit nicht aus der Erlernung und Anerkennung von soundso vielen Umgangsregeln kommt, sondern vor diesen als eine feinfühlige, entgegenkommende Gesinnung im Herzen existieren muß. Es verhält sich damit wie mit der Musik. Das Vermögen, Melodien zu schaffen, wird nicht durch erlernte Regeln geweckt, sondern diese können nur dazu dienen, der aus dem innerlichen Gestaltungstriebe entstandenen Tonlinie ihre vollendetste Form zu geben. Das Ideal der Höflichkeit, wie es den innerlichen Menschen aller Zeiten und aller Bildungsstufen vorgeschwebt hat und immer vorschweben soll, deckt sich also mit den Worten des Apostels: «Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen» ... allen Menschen, auch den unbekannten.¦105¿ Eine Vorstellung von Höflichkeit, die nicht in lebendigen sittlichen An105 [R] Höflichkeit desEntgegenkommens.

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schauungen wurzelt, ist ein Schaden für die Gesellschaft, in der sie zur

Geltung kommt. Wie weit nun hat sich die Höflichkeit des Entgegenkommens den in unserer Zeit bestehenden Geboten der Zurückhaltung zu unterwerfen? Diese sind in dem Umfange verbindlich, als das nahe Zusammenwohnen und die tägliche Berührung mit vielen Unbekannten es uns unmöglich machen, uns zu ihnen im allgemeinen anders denn als Fremde zu verhalten. Aber diese Fremdheit darf mir nicht etwas Selbstverständliches werden. Ich muß sie immer als etwas mir durch die Umstände Auferlegtes empfinden. Mein Herz soll sich gegen sie auflehnen und mich anhalten, jedem Menschen Interesse entgegenzubringen. So wie es die Umstände erlauben, darf und soll ich die Unnatur der Fremdheit ablegen. Dies gilt gleich von dem Gruß, dieser bescheidensten und zurückhaltendsten Art, die Fremdheit zwischen einem Menschen und mir aufzuheben. In einer Stadt wäre es sinnlos, wenn ichjeden grüßen wollte. Ich muß mich auf meine Bekannten beschränken. Sowie ich aber irgendwo bin, wo die Menschen nicht zu Dutzenden um mich herumstehen oder an mir vorbeihasten, verlangt die innerliche Höflichkeit, daß der Gruß gegen jedermann in sein Recht trete. Gehe ich durch ein Dorf, begegne ich Menschen auf einer Landstraße, steige ich in ein Eisenbahnabteil ein, so soll es mir natürlich sein, auch dem Unbekannten dadurch, daß ich ihm einen guten Tag wünsche, zu bekunden, daß er ein Mensch und nicht ein Ding für mich ist. Wenn die natürliche Höflichkeit des Grußes heute so viel in Abgang gekommen ist, so tragen die Städter, und besonders die Großstädter, die größte Schuld daran. Bei sich verhindert, den Unbekannten zu grüßen und in ihrer Gedankenlosigkeit dieses Unnatürliche nicht mehr als unnatürlich empfindend, gelangen sie dazu, den Gruß auch da unterbleiben zu lassen, wo er möglich und angebracht wäre. Kommen sie aufs Land, so tragen sie die Stadtunhöflichkeit des Nichtgrüßens als das moderne Benehmen und den überlegenen guten Ton mit sich. Ihr Beispiel findet Anklang, besonders unter der jüngeren Generation, weil die Menschen unserer Tage eine krankhafte Angst davor haben, in irgend etwas nicht «mit der Zeit zu gehen». In einem entlegenen kleinen Tale der Schweiz hatte ich Gelegenheit, dasAufkommen desNicht-mehr-Grüßens genau zuverfolgen. Vor etwa zwanzig Jahren wurde dort ein Hotel erbaut, in dem ich, vom zweiten Jahre seines Bestehens an, am Ende jedes Sommers mit einigen Freunden aus der Großstadt zu einem längeren Aufenthalte zusammentraf¦106¿ In den beiden ersten Jahren grüßten alle Einwohner die Hotelgäste freundlich. Diese nahmen dies als etwas bei so naiven und zurückgeblie106 [Grimmialp im Diemtigtal in der Schweiz.]

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benen Leuten Selbstverständliches hin, meinten vielfach wohl auch, es sei ihrem Geld, ihren schönen Kleidern und ihrer Vornehmheit mehr oder weniger geschuldet. Die Antwort hatte bei den meisten einen Beigeschmack von Herablassung, wenn sie nicht fast unmerklich war oder ganz ausfiel. Als ich mehrmals darauf hinwies, daß wir Hotelgäste nicht auf den Gruß der Landleute zu warten hätten, sondern diesen, weil wir doch in ihrer Gegend als Gäste aufgenommen wären, zuerst die Zeit zu bieten hätten, wurde dies von den meisten als eine Absonderlichkeit aufgenommen. Die Einbildung der Großstadtleute ging so weit, daß sie, von zwei oder drei Familien abgesehen, nicht einmal ihre Kinder dazu anhielten, die erwachsenen Landleute zuerst zu grüßen.¦107¿ Was kommen mußte, kam. Nach zehn Jahren grüßten die Leute der Umgegend die Hotelgäste kaum noch und gewöhnten sich auch schon daran, an ihresgleichen stumm vorüberzugehen. Als dann eine Dame, die ich im ersten Jahre dort kennen gelernt hatte, sich mir gegenüber entrüstete, daß die Landleute ihre früher so wohltuende Höflichkeit aufgegeben hätten, konnte ich ihr antworten: Sie gehen mit dem Fortschritt und haben von den Hotelgästen gelernt. Es gilt also, daß wir uns durch die von dem modernen Geiste der Kälte und der Gedankenlosigkeit in Aufnahme gebrachten Umgangsformen nicht beirren lassen und die natürliche Herzenshöflichkeit im Gruß gegen jeden Menschen bewähren, wo dies nur irgend durchführbar ist. Daß wir uns von Mensch zu Mensch einen glücklichen Tag wünschen, hat eine tiefe Bedeutung. Beim Gruß lüftet der Mensch den Schleier der Fremdheit für einen Augenblick. Ausder Ferne macht er Bekanntschaft mit dem Unbekannten, ohne ihr weitere Folge zu geben und ohne daraufhin eine größere Annäherung von ihm zu erwarten. Unter welchen Umständen darf ich einen weiteren Schritt tun? Hier sind sichere undweniger sichere Fälle zu unterscheiden. Das Recht, ohne Rücksicht auf irgendeine geltende Form die Fremdheit zwischen einem Menschen und mir aufzuheben, habe ich, sobald mir die Gewißheit kommt, daß er die Hilfe eines andern braucht, und ich dieser andere sein kann.

Gehe ich in der Unterführung eines Bahnhofs neben einem Menschen, der schwer schleppt, so darf ich, ob er nun vornehm oder arm gekleidet ist und welchem Stand ich selber immerhin angehören mag, ihm anbieten, mit anzufassen. Glaube ich, daß er eines Rates oder einer Auskunft bedarf, um nicht wider Wissen Schaden zu leiden, so darf ich ihm hierin meine Dienste anbieten. Komme ich bei Leuten durch, die bei Annähe107 [R] Daß wir Stadtleute in Gefahr sind, unhöflich zu sein (unherzlich).

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rung eines Gewitters Heu oder Garben in Sicherheit zu bringen suchen, so darf ich meine Hilfe anbieten. Erfahre ich, daßjemand, der in meiner Nähe wohnt, eine Leiter oder ein Werkzeug braucht, wie sie zufällig in meinem Besitze sind, so darf ich ihm vorschlagen, es ihm zu leihen. Ist irgendwo ein Kranker, dem etwas, wasich habe, dienen könnte, so darf ich hinschicken, um zu fragen, ob ich es ihm zukommen lassen soll. In einem Worte: Sobald ein Unbekannter meiner bedarf oder ich ihm etwas Gutes antun kann, darf ich aus meiner Zurückhaltung heraus-

treten. Darf ich es auch, wenn es sich nicht um ein Helfen in äußeren Taten handelt, sondern wenn ich nur mehr den Eindruck habe, daß ich als teilnehmender Mensch etwas für ihn sein könnte? Dieser Fall liegt nicht so klar. Ich kann mich hier eher irren oder eher mißverstanden werden als in anderen Lagen. Überlegen vor der Annäherung an den andern und taktvolle Vorsicht bei der Ausführung sind erforderlich. Aber allem Zweifeln und Zaudern zumTrotz soll die Regel gelten, daß, wenn unser Herz uns treibt, einem Unbekannten, der unsere Aufmerksamkeit in irgendeiner Lage erregt, Interesse und Teilnahme zu bezeugen, wir dies tun sollen, wasauch daraus kommen mag. In einem Nachtschnellzug, der gegen Tagesanbruch in Straßburg ankommen sollte, sah ich mich – vor etwa zehnJahren – beim Erwachen einem älteren Manne gegenüber, der, während ich schlief, irgendwo eingestiegen sein mußte. Er hatte nicht eine Haltung, die zur Anknüpfung eines Gespräches einlud, sondern sah eher abweisend aus. Aber ein unbestimmtes Ahnen trieb mich an, ein Gespräch zu suchen und ihm Freundlichkeit zu erzeigen. Dabei kam heraus, daß er durch ein Telegramm nach Straßburg gerufen war. Sein Sohn lag im hiesigen Militärlazarett an einem schweren Typhus darnieder. Es fand sich, daß ich ihm noch mehr als Teilnahme erweisen konnte: Mit der Stadt unvertraut, war er froh, als ich ihn desMorgens, als noch keine Trambahnen gingen, auf dem nächsten Weg zum Lazarett geleitete, ihm seine Sachen tragen half und ihn für Unterkunft beriet.¦108¿ Am verwickeltsten liegen die Fälle, wo ein Mensch die Zurückhaltung nicht im Interesse des andern, sondern in seinem eigenen aufgeben möchte.

Ich bin in der Lage, daß die Unbekannten, die um mich sind, mir mit irgendeiner Kleinigkeit einen großen Dienst leisten könnten. Darf ich im Eisenbahnabteil die Mitreisenden, wenn ich mir nicht mehr anders helfen kann, um ein Messer oder ein Stück Schnur angehen? Oder ich komme an einem Grundstück vorbei, auf dem Äpfel abgemacht werden, bin durstig und hätte große Lust nach einer oder zwei dieser 108 [R] Die besten Freunde durch Zufall.

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Früchte. Darf ich um eine solche bitten? Ich brauche eine Auskunft. Darf ich Menschen, die gerade in meiner Nähe sind und sie mir vielleicht geben können, darum angehen? Ein Wort Jesu aus der Bergpredigt sei hier in dieWaagschale geworfen: «Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan» [Mt. 7,7]. Kraft dieses Ausspruches dürfen wir uns, wo wir einen Menschen brauchen, an die Unbekannten wenden, ob einer von ihnen uns in der Sache, die uns anliegt, Nächster werden will, mögen die Überlegungen, die wir von uns allein aus anstellen würden, uns auch in ängstlicher Zurückhaltung gefangen halten wollen. Wie steht es aber in den Fällen, in denen ich einen Menschen nicht aus irgendeinem Bedürfnis nötig habe, sondern nur eine Sehnsucht verspüre, ihn kennen zu lernen, um geistig etwas von ihm zu haben oder ihm irgendeine Gedankengemeinschaft, die zwischen uns besteht, bekannt zu geben? An wie vielen Menschen, zu denen es uns hinzog, sind wir vorübergegangen, weil wir den kleinen Schritt zum Bekanntwerden aus Angst, aufdringlich zu erscheinen, nicht wagten! Haben wir immer recht getan, die Schüchternheit siegen zu lassen? Waltet in dem Triebe, der uns die Bekanntschaft von Menschen, die uns anziehen, suchen läßt, nicht etwas, das höher steht als alle zwischen Menschen geltenden Satzungen desUmgangs? Darum wage ich, für alle Fälle, die für das Aufgeben der Fremdheit zwischen Menschen in Betracht kommen können, darauf zu dringen, daß wir viel natürlicher und herzlicher sind, als es nach den geltenden Regeln gebräuchlich und erlaubt ist. Haben wir das Empfinden, daß wir einem Menschen etwas sein können, sei es durch ein äußeres Helfen, sei es durch freundliche Teilnahme, oder bedürfen wir seiner, sei es zur Hilfe, sei es zur Teilnahme, oder endlich, fühlen wir uns gedrungen, ihm näher zu kommen, ihm etwas von unserem Wesen zu geben und vielleicht etwas von dem seinen zu empfangen: Immer dürfen wir uns dabei als Herren über die Formen, die uns daran hindern wollen, ansehn. Oft liegt etwas Geheimnisvolles in den kleinen Dingen, die die Menschen zueinanderführen wollen. Es kann sein, daß der Mensch, dem du bekannt wirst, wenn du die Gelegenheit, dich ihm zu nähern, wahrnimmst, dir für das ganze Leben lieb und wertvoll werden wird. Wem verdanken wir die nächsten und treuesten Freunde? Zufällen des Lebens, die uns einmal bekannt machten, oder Worten und Handlungen, die wir, einem inneren Triebe folgend, ihnen gegenüber wagten. Das andere, was dann das Bleibende und Tiefe zwischen uns schuf, kam dann von selbst, nachdem einmal die erste Berührung vollzogen war. Liebe Menschen im Leben zu haben, macht den Reichtum des Daseins aus. Oft bleiben wir arm an Menschen, wo wir solche, die uns viel sein

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sollten, hätten finden können, weil wir Umstände, die sie uns so nahe brachten, daß wir nur die Hand nach ihnen auszustrecken brauchten, ungenutzt vorübergehen ließen. Welcher Art sind die Erfahrungen, die wir machen, wenn wir wagen, natürlich undherzlich sein? Durchweg ermutigend. Der andere faßt unser Überschreiten des gezogenen Grabens nicht falsch auf, sondern freut sich darüber und hat es oft im stillen schon seinerseits gewünscht. Wenn einer im Vorübergehen um einen Apfel zu bitten wagt, so hat der hinter dem Zaun soundso oft schon bei sich gedacht gehabt: Der da draußen hätte sicher gerne einen; wenn ich es nur wagen dürfte, ihm einen anzubieten! Von so merkwürdigem Zusammentreffen kann jeder etwas erzäh-

len. Eines Morgens saß ich etwas mißgelaunt im Hotel zu Barcelona. Beim Orgelkonzert am vorhergehenden Abend hatte ich die Hilfe eines guten Registerziehers sehr entbehrt und überlegte vergebens, wen ich für die beiden noch ausstehenden Konzerte für dieses Amt gewinnen könnte. In demselben Augenblicke klopfte es, und ein sehr schüchterner Mensch schob sich zurTüre herein. Er fing an, sich deslangen und breiten zu entschuldigen, daß er mich als Unbekannter und gar noch außer Besuchszeit, aufzusuchen wage. Er sei Lehrerssohn vom Rhein, habe als solcher selber etwas Orgel gespielt, sei nun als Ingenieur in Barcelona, fühle sich fremd, hätte Sehnsucht, wieder einmal eine Orgel zu berühren und habe sich deswegen gestern abend während des Konzertes vorgenommen, mich aufzusuchen. Ich möchte ihm die Zudringlichkeit verzeihen, er könne nicht anders. Darauf konnte ich ihm mit gutem Gewissen sagen, er komme mir wie gerufen. Am selben Abend probten wir auf der Orgel. Er machte seine Sache ausgezeichnet. Ich konnte für ihn die Erlaubnis erwirken, nach Belieben auf der Orgel des Konzertsaals zu spielen. Er erwies sich imstande, dieselbe zu unterhalten und ihre Schäden zu reparieren, was sonst niemand in Barcelona konnte. Die Dirigenten des Chors und des Orchesters wurden seine lieben Freunde, so daß er nicht mehr einsam war. Ich selber schloß mich bei jedem Aufenthalt in Barcelona enger an ihn an. So war einer Reihe von Menschen Dienst geleistet und geistige Erquickung bereitet, weil ein Schüchterner sich für einen Augenblick, wie auseinem inneren Ahnen heraus, überwunden hatte. Im letzten Herbst kam ich, von einer Krankheit noch geschwächt, mit dem letzten Zuge gegen Mitternacht in Straßburg an. Trambahn, Wagen oder Träger waren nicht mehr zu haben. Also versuchte ich es, meine beiden schweren Handkoffer, so gut es ging, nach Hause zu schleppen. Ehe ich, mit öfterem Niederstellen, dreihundert Meter gemacht hatte, ward mir klar, daß es unmöglich wäre. Ich beschloß also, mir ein Herz zu nehmen und den nächsten Passanten, der mich über-

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holen würde, zu fragen, ob er nicht in meiner Richtung ginge und in diesem Falle mir beim Tragen behilflich sein wollte. Ein Herr schlenderte vorüber. Ich ließ ihn gehen, um vorerst zu sehen, ob er nicht nach links oder rechts einböge. Er aber ging wie unschlüssig weiter, schaute erst in die Sterne und dann in die III hinab, als ob es daunten etwas sehr Interessantes zu sehen gäbe. Ein merkwürdiger Mensch, dachte ich, rief ihn zuletzt aber doch an. Er kam eilends und hörte meine Bitte an. Dann lachte er und sagte: Seit dem Bahnhof gehe ich hinter Ihnen her und überlege mir, ob ich es wagen darf, Ihnen meine Hilfe zum Tragen anzubieten. Als ich mir eben Mut dazu fassen wollte, kamen Sie mir zuvor. So gingen wir selbander mit dem Handgepäck durch die Nacht und philosophierten darüber, wie viel Liebes in derWelt durch falsche Befangenheit der Bedürftigen und derer, die helfen könnten, unterbleibt, und ermunterten uns gegenseitig, aus dem, was wir eben miteinander erlebt hatten, den Entschluß zu fassen, in allen Lebenslagen natürlich gegen Menschen zu sein. So kann jeder, der es nur wagen will, die Erfahrung machen, daß die Annäherung an Unbekannte, wenn sie wirklich durch die Umstände nahegelegt ist oder auswahrem Interesse entspringt, viel weniger als Aufdringlichkeit mißverstanden wird, als wir befürchten. Instinktiv empfindet der andere, daß hier nicht Neugierde und Taktlosigkeit im Spiele sind, und ist entgegenkommend, auch wenn er uns zuerst vielleicht nicht ganz versteht und wir uns auch mehr oder weniger ungeschickt benehmen. Es würde viel mehr Liebe unter den Menschen offenbar werden, wenn die Herzen mutiger wären. Vor Jahren stand in einem religiösen Blatt folgende Geschichte: Ein Pariser Trambahnschaffner wurde von einer Insassin seines Wagens gefragt, warum er so traurig aussehe. Sie sind der erste Mensch mit Herz, dem ich heute begegne. Den ganzen Tag habe ich meinen Dienst versehen und den Schmerz nicht meistern können. Ich habe ein Kind, das zu Hause im Sterben liegt. Sie sind die erste, die mir ansieht, daß ich traurig bin, und die mir einWort derTeilnahme sagt. Für die andern war ich nicht ein Mensch, sondern nur der Mann, der seinen Dienst zu tun hatte. An diesen Vorfall knüpfte das religiöse Blatt Betrachtungen über die Herzlosigkeit der Menschen. Das war falsch. Wahrscheinlich sind Dutzende von Fahrgästen von dem Ausdruck des Schmerzes auf dem Gesicht des Schaffners berührt worden, aber sie hatten nicht den Mut, ihn anzureden, aus Angst vor der Antwort: Was geht es euch an, welches Gesicht ich mache? Wer die natürliche Herzlichkeit betätigt, wird gewiß auch Abweisungen erfahren. Wir können an Leute geraten, die keinen Sinn für das, was die echte Menschlichkeit gebietet und erlaubt, besitzen, vielleicht auch in jenem Augenblicke gereizt oder schlecht gelaunt sind. Es kann auch sein, daß sie von einer Sorge oder einem Kummer so in Anspruch ge-

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nommen sind, daß sie vorerst ganz für sich bleiben wollen und nicht einmal Teilnahme ertragen. Diese Fälle werden aber immer Ausnahmen bleiben. Erfahren wir bei unserer guten Absicht eine Zurückweisung, so bleibt uns nichts anderes übrig, als sie ohne weitere Bemerkungen anzunehmen und uns für kommende Gelegenheiten nicht mutlos machen zu lassen. Was wir, dem Geiste der wahren Sittlichkeit folgend und uns in entscheidenden Augenblicken über die geltenden Satzungen erhebend, in unserem Leben an Menschen Gutes tun und von ihnen Gutes empfangen können, ist es wohl wert, daß wir hie und da auch die sogenannte «Schande» einer Zurückweisung mit in Kauf nehmen. Keiner kann im Sinne Jesu handeln, ohne bei derWelt Anstoß zu erregen. So ist die Höflichkeit, die die Religion und die Sittlichkeit gebieten, in manchem eine andere als die, welche sich in den von unserm Geschlecht übernommenen und weitergebildeten Formeln durchsetzen will. In Kleinigkeiten beugen wir unslächelnd unter das, wasäußerlich gilt, wie auch Jesus die mannigfache Berechtigung des Herkommens anerkannte und sich den Äußerlichkeiten derselben unterwarf.|109¡ Aber wo die Umstände die innerliche Höflichkeit fordern, haben wir dem Geiste der wahren Menschlichkeit zu gehorchen. Wo Satzungen und Herz in Konflikt miteinander stehen, macht uns das Gesetz des Geistes frei von dem Gesetz der Satzungen. Es erlaubt uns, unsere Lindigkeit allen Menschen, denen sie wohltun kann, kund sein zu lassen und dasselbe von ihnen zu erwarten, ohne uns durch das, was uns im gewöhnlichen Leben zur Fremdheit gegeneinander verurteilt, beirren zu lassen.|110¡

So wagen wir, danach zu streben, feinfühlige, natürliche Menschen zuwerden und dasEvangelium der herzlichen Natürlichkeit, dessen unsere Welt so sehr bedarf, zu verkünden und zu leben. Es trägt sein Teil dazu bei, die neue Gesinnung der Menschheit heraufzuführen. |111¡

109 [R] Bild vom Grün im Frühjahr. Alles sich verändert. Woran? Kleine Pflänzlein. 110 [R] Stumm wie die Mehlsäcke auf dem Karren desMüllers. 111 [R] 28 VI 19. In der chirurgischen Klinik Stoltz, als Rekonvaleszent.

Seid dankbar in allen Dingen

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Morgenpredigt Sonntag, 27. Juli 1919, St. Nicolai 12. ethische Predigt: Dankbarkeit 1|112¡

I Thess. 5,18: Seid dankbar in allen Dingen|113¡ Das Sprichwort «Undank ist derWelt Lohn» spricht eine traurige Wahrheit aus, diejeder schon erfahren hat. Es liegt in diesem Worte mehr als eine einfache Feststellung, daß die Welt mit Undank zu lohnen pflegt. Der Gedanke «Es hat also keinen Sinn, Gutes zu tun», klingt darin an. Dies ist dasTragische. Durch den herrschenden Undank bleibt nicht nur so viel in Menschenherzen unbefriedigt, wasbefriedigt werden könnte, sondern eswird dadurch auch soviel Gutes, dasgeschehen könnte, hintangehalten. Die Undankbarkeit hemmt den Geist der sittlichen Tat in derWelt.|114¡ Freilich, wenn die Menschen dem Pessimismus des Sprichwortes so gerne beistimmen, sind sie nicht immer im Recht. Haben wir da, wo wir von Undank reden, immer nur den Dank gesucht, den wir als sittliche Menschen suchen dürfen? Seien wir offen gegen uns selber. Vielmals sind wir im Dank getäuscht worden, den wir nicht oder nicht auf diese Art verlangen durften. Für uns alle besteht eine große Versuchung darin, daß das Gute, das wir tun, zur Schlinge wird, mit der wir einen andern Menschen für uns einfangen. Weißt du denn nicht mehr, wasich für dich getan habe? werfen wir ihm vor, wenn er einmal nicht unserer Meinung ist oder nicht tun will, waswir von ihm verlangen. So schleifen wir ihn am Lasso der Dankbarkeit hinter uns her, bis er nicht mehr kann. Wehrt er sich, so rufen wir unsere Bekannten zu Zeugen über seine Undankbarkeit an. Diese geben uns recht und helfen uns mit, den anderen zu demütigen. Wir aber tun groß in heiliger Entrüstung. Was liegt aber eigentlich vor? Du selber hast dich viel mehr gegen die Dankbarkeit versündigt als der andere, denn du hast sie mißbraucht und Erpressung damit getrieben. Jeder von uns ist in dieser Versuchung schon zu Fall gekommen, weil das Häßliche hier in so ehrbarer Gestalt an uns herantritt und sich als etwas so Berechtigtes aufspielt, daß wir seine wahre Art übersehen.|115¡ Es kann uns sogar vorkommen, daß wir 112 [Schweitzer hat diese unddie nächste Predigt alsDoppelpredigt über die Dankbarkeit konzipiert. Siehe dazu auch die folgende Randbemerkung.] 113 [R] Fugenthema und Gegenthema. [Wie in der Komposition einer Fuge dem Hauptthema ein Gegenthema gegenübergestellt wird und beide sich zu einer spannungsreichen Einheit verbinden, so bringt Schweitzer hier als Hauptthema den Dank zur Sprache und eng damit verbunden als Gegenthema den Undank.] 114 [R] DasWort «Undank etc.» ist so bequem, weil es als Entschuldigung für das unterlassene Gute [gebraucht werden kann.] 115 [R] Heute von derkleinen Dankbarkeit reden. Nächste Betrachtung über die große.

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dem uns verpflichteten Menschen zumuten wollen, aus Dankbarkeit gegen Überzeugung und Gewissen zu handeln, ohne uns über unser Tun Rechenschaft zu geben. Darum habe acht auf dich. Willst du dich über Undankbarkeit, die dir widerfährt, entrüsten, geh ein bißchen mit dir selbst beiseite und frage dich leise, ob es denn auch wirklich eine vor dem sittlichen Gewissen gültige Dankbarkeitsforderung sei, und denke daran, was du selber gelitten hast, wo Menschen dich mit der Dankbarkeit festhielten und demütigten. Noch andere Dankbarkeitsforderungen, die der gedankenlose Mensch aufstellt, muß der sittliche Mensch sich versagen. Es sind die törichten und äußerlichen Erwartungen, die du mit dem Guten, das du tust, verbindest. Wir wollen, daß die, denen wir einen Dienst geleistet haben, uns einen schönen Namen bei den Menschen machen. Tun sie dies nicht laut genug, so empfinden wir es als Undankbarkeit. Darum, wenn du in das Wort «Undank ist der Welt Lohn» einfallen willst, horche vorerst einmal zu, ob nicht der eitle Mensch in dir die Stimme am lautesten erhebt. Oft wirst du, wenn du noch ehrlich gegen dich sein kannst, finden, daß dem so ist. Dann gebiete ihm Schweigen und revidiere deine Vorstellungen über die Ansprüche auf Dankbarkeit. Nimm dir eine Warnung daran, daß die gedankenlosen Menschen am meisten über Undankbarkeit klagen. Diejenigen, die ernst über die Undankbarkeit, die ihnen widerfährt, nachdenken, finden den hohen Ton der Entrüstung nicht mehr so leicht wie die anderen. Aber angenommen, daß wir uns dazu erzogen haben, das Häßliche, Eitle und Äußerliche nicht mehr in unserer Dankbarkeitserwartung mitreden zu lassen, angenommen auch, daß wir in der Selbstläuterung soweit gelangen, daß wir versuchen, das Gute wirklich um seiner selbst willen und nicht in Hoffnung auf irgendwelche Anerkennung zu tun, so werden wir dennoch durch die herrschende Undankbarkeit betroffen.

Was die Menschen sich durch gegenseitige Dankbarkeit geben können und geben sollen, ist mehr als Befriedigung von mehr oder weniger berechtigten und lauteren Erwartungen. Die Dankbarkeit, die wir antreffen, hilft uns an das Gute in der Welt glauben und stärkt uns dadurch, dasGute zu tun. Es nützt uns nichts, uns gegen die Undankbarkeit wappnen zu wollen. Die Enttäuschung, die unsere Seele trifft, schwächt uns. Der gute Same, der in guter Erde liegt, sproßt wohl bei jedem Wetter, aber doch gedeiht er bei guter Witterung anders als bei schlechter. Wir haben alle große Mühe, die optimistische Weltanschauung, die uns Kraft zum Guten gibt, festzuhalten. Darum ist die Undankbarkeit, die uns immer wieder die Begeisterung nimmt, eine der schlimmsten Kräfte des Bösen in derWelt.

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An diesem Bösen sind wir alle beteiligt. Wir versagen einer dem andern das, womit wir uns gegenseitig helfen könnten. Dabei lassen wir es nicht nur an der Dankbarkeit fehlen, die eine Leistung darstellt, weil sie sich in Taten, die etwas von uns verlangen, zu zeigen hat. Auch an der, die sich im Gedenken, inWorten, in kleinen Freundlichkeiten zu äußern hätte und uns also nicht teuer zu stehen käme, lassen wir es fehlen. Wir könnten einander ohne große Mühe, mit etwas Aufmerksamkeit, viel Befriedigung schaffen und unterlassen es. Darin liegt dasProblem. Warum sind wir gewohnheitsmäßig undankbar? Würde uns jemand sagen, daß auch wir zu den Undankbaren gehören, so kämen wir leicht in Entrüstung. Zwar Fälle, wo wir wirklich undankbar gehandelt haben, sind einem jeden in Erinnerung und brennen uns in der Seele, auch wenn wir sie vor derWelt nicht gelten lassen wollen. Aber wir sind geneigt, sie alsvorübergehende Schwächen anzusehen und uns im übrigen zu den nicht undankbaren Menschen zu rechnen. Berechtigt halten wir uns dazu, weil wir uns nicht viele Akte der Undankbarkeit vorwerfen zu müssen glauben. Wagen wir einmal, uns über uns selber zu befragen. Wir meinen im allgemeinen, nicht zu den Undankbaren zu gehören. Geben wir uns da keiner Selbsttäuschung hin? Der Geist der Undankbarkeit in der Welt besteht nicht nur darin, daß Akte der Undankbarkeit begangen werden, sondern auch darin, daß zu wenig Dankbarkeit bezeugt wird. Angenommen, daß ich mich von Akten der Undankbarkeit mehr oder weniger freisprechen kann oder zum wenigsten meine, es zu können, kann ich mir auch das andere bezeugen, daß ich überall, wo ich Anlaß hatte, Dankbarkeit an denTag zu legen, dies tat oder mich wenigstens anhielt,

es zu tun? Sowie wir so dasWort Undankbarkeit nach seinen beiden Seiten beleuchten, kommt unsere Zuversicht ins Wanken. Alle fehlen wir darin alltäglich, daß wir Wohltaten und Freundlichkeiten aufschlucken, wie ein sandiger Boden dasWasser. Das Bestreben, uns dankbar zu erweisen, ist keine Triebkraft in unserem gewöhnlichen Leben. Was der Apostel in seinem wunderbaren Worte «Seid dankbar in allen Dingen» meint, ist noch nicht in unsern Sinn eingedrungen. Nach dem, was die wahre Sittlichkeit von uns fordert, gehören wir alle zu den Undankbaren, ob wir diesen Ruf auch vor derWelt nicht besitzen. Um mit uns ins klare zu kommen, müssen wir die allgemeine Frage: Bist du dankbar? in zwei zerlegen: Empfindest du hinreichend Dankbarkeit? Und bekundest du hinreichend Dankbarkeit? Um die erste, ob wir hinreichend Dankbarkeit empfinden, richtig zu würdigen, müssen wir uns vergegenwärtigen, wie oft wir uns der Dankbarkeit nicht im Augenblicke selbst, wo uns Gutes erwiesen wurde, sondern erst nach und nach bewußt wurden, so daß wir nachher über uns selbst staunen mußten, daß wir uns von der Bedeutung der er-

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wiesenen Wohltat nicht alsbald Rechenschaft gaben. Keiner von uns kann ohne Beschämung an das, was er so ohne Gefühl der Dankbarkeit in seiner Jugend hinnahm, zurückdenken. Mit Schmerz beschauen wir die Gräber derjenigen, die an unserer Erziehung gearbeitet oder die uns sonst in aufopfernder Weise vorwärts geholfen haben. Sie gingen dahin, ohne daß wir ihnen gezeigt haben, was sie uns waren. Wir haben es ihnen nicht gezeigt, weil wir es nicht ermaßen, und wir ermaßen es nicht, weil wir es nicht bedachten.|116¡ Mit zunehmendem Alter haben wir durch die Erfahrung, die Dinge besser einschätzen gelernt. Aber was das unvollkommene Empfinden vonWohltaten anlangt, bewahrt sichjeder von uns, auch wenn er schon ergraut ist, eine unglaubliche Jugendlichkeit. Als die Träumenden gehn wir dahin und nehmen, was andere an uns tun, als selbstverständlich an, wo es gar nicht selbstverständlich ist, und wo wir für dasGeringste, was wir selber tun, erwarten, daß es der andere schätzt und darüber gerührt ist. Alle fehlen wir darin, daß wir uns auf unser natürliches dankbares Empfinden verlassen und meinen, dies reiche aus, um uns zu dankbaren Menschen zu machen. Dieses verhält sich zur wahren Dankbarkeit wie die Ähren des Grases zu denen des Getreides. Auch das Gras hat Ähren, die blühen und Körner bringen wie das Getreide. Diese so armseligen Körner vermögen uns aber nicht am Leben zu erhalten, während die des durch Veredlung und Pflege ausden Gräsern hervorgegangenen Getreides dazu imstande sind. So müssen wir, um in dem Sinne, wie es das Leben von uns verlangt, dankbar zu empfinden, durch Selbsterziehung dasnatürliche Gefühl der Dankbarkeit vervollkommnen und veredeln. Unterlassen wir es, so ist es gewöhnlich so, daß die gute Charakteranlage noch mit beihilft, uns die Einbildung zu erhalten, als wären wir wirklich dankbare Menschen. Sich zum Dankbarkeitsgefühl erziehen will heißen, nichts, von wem es auch komme und was es auch sei, als selbstverständlich hinnehmen, sondern immer den freundlichen Willen, der hinter dem Tun steht, aufsuchen und schätzen. Halte dich an, alles, was dir von Menschen an Gutem begegnet, nach seinem wahren Werte zu ermessen. Nichts von dem, was dir widerfährt, ist selbstverständlich. Alles geht auf einen Willen zum Guten zurück, der auf dich gerichtet ist. Versuchst du es ernstlich und anhaltend, dich zum Dankbarkeitsgefühl zu erziehen, so hast du deine liebe Not mit dem störrischen Men116 [A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 303:] «Blicke ich auf meine Jugend zurück, so bin ich vom Gedanken bewegt, wie vielen Menschen ich für das, wassie mir gaben und was sie mir waren, zu danken habe. Zugleich aber stellt sich das niederdrückende Bewußtsein ein, wie wenig ich jenen Menschen in meiner Jugend von diesem Danke wirklich erstattet habe.»

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schen in dir; wo er Anerkennung empfinden soll, scheut er wie ein törichtes Pferd vor einer Pfütze. Immer weiß er einen Ausweg, um das Empfangene herabzusetzen. Seiner Schliche ist kein Ende. Die gewöhnlichste Ausrede, mit der er sich dem Empfinden der Dankbarkeit entzieht, lautet: Der andere hat nur seine Pflicht getan. Damit ist das Empfinden der Dankbarkeit gegen die Menschen, die uns am nächsten stehen, herabgesetzt und dasTraurige erreicht, daß wir von denen, die uns am liebsten sind, das Gute annehmen, ohne ihnen dafür die Erquickung, deren sie bedürfen, zuteil werden zu lassen. Ist es nicht dieser Mangel an Dankbarkeitsgefühl gegen die Nächsten, der so viel dazu beiträgt, daß sich Entfremdung und Mißverständnis zwischen ihnen und uns einschleichen kann? Laß daher in der Beurteilung dessen, wasman dir antut, ganz dahingestellt, inwieweit der andere, indem er dir Gutes tut, eine Pflicht erfüllt oder nicht. Nur der Wille zum Guten, der sich in Bezug auf dich regt und verwirklicht, nichts anderes, darf von dir in Rechnung gesetzt werden. Er stellt dieWirklichkeit dar, wie sie für dich in Betracht kommt. Merke auch auf einen doppelten Schlich, den der dankbarkeitsscheue Mensch in dir anwendet. Ist der Dienst, der dir geleistet wird, bedeutend, so sagt er: Ja, aber er hat dem andern keine große Mühe gemacht. Weiß er, daß der Dienst dem anderen große Mühe gemacht hat, so sagt er: Ja, aber so groß ist der Vorteil gar nicht, den ich davon gehabt habe. Aus Angst, einem Menschen innerlich etwas zu schulden, wollen wir uns verhalten wie bei einem Geschäft, wo es zu unterbieten gilt. Laß dich auf solches Gebaren nicht ein, sondern setze immer den höchsten Wert in Rechnung. Bringe bei der für dich begangenen Tat gleichzeitig in Anschlag sowohl, was sie von dir aus beschaut ist, als auch, was sie vom Standpunkt des andern darstellt. Jemand hat dir einen großen Dienst geleistet mit wenig Mühe. Gesetzt den Fall, er hat dir zu einer Stellung verholfen, indem er einen Gang tat, um dich zu empfehlen, oder er war sonst durch einen Zufall in der Lage, dir ohne große Anstrengung seinerseits von Vorteil zu sein. Vielleicht ist es gar so, daß er nicht einmal ahnt, wie viel er dir nützlich war. Du aber bedenke, was es für dich bedeutete, daß er in jenem Augenblicke dies oder dastat, und fühle dich ihm gegenüber für immer dementsprechend dankbar. Ist der Wert des Dienstes für dich klein, erwäge immer, daß du gar nicht ermessen kannst, wie schwer oder wie leicht er dem andern fiel. Das äußerlich Unscheinbare stellt oft eine große Mühe dar oder bedeutet Überwindung ernster Schwierigkeiten. Du bittest um eine Auskunft und erhältst den Brief, der sie dir gibt. Der Brief stellt vielleicht zehn Minuten Arbeit dar. Aber der Mensch, der dir ihn schrieb, wird, weil er dienstbereit ist, von vielen Seiten angegangen und muß viele solcher Briefe schreiben oder viele Gänge tun. Du schuldest ihm nicht nur

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Dank für den Brief, den er für dich schrieb, oder den Gang, den er für dich tat, sondern dafür, daß er überhaupt gewillt ist, die Zeit, die andere sich für Erholung nehmen, für die, die seiner bedürfen, zu verwenden. Den Brief mit der Auskunft an dich hat er vielleicht um Mitternacht oder am Sonntagnachmittag geschrieben. Mir ist immer vorgekommen, als ob gerade die Menschen, die selber nicht dienstbereit sind, die kleinen Dienste, die ihnen geleistet werden, nicht würdigen. Sie kennen die Arbeit und die Opfer, die sich mit einer unscheinbaren Freundlichkeit verbinden, nicht auseigener Erfahrung. Bei der Selbsterziehung zur Dankbarkeit achte auch darauf, daß du dich nicht nur verbunden fühlst für das, was sichtbar als geleisteter Dienst auftritt, sondern auch für das, wassich äußerlich gar nicht so ausnimmt oder wo die Erinnerung vielleicht dir peinlich ist. Du warst einmal in der Lage, daß ein Mensch dich durch einWort, das dir unbedacht entfahren war, ein Versäumnis, das du begangen hattest, oder irgend etwas, was er über dich wußte, in der Hand hatte. Er hätte dich in Ungelegenheiten, vielleicht in Schande bringen können und tat es nicht. Jetzt liegt alles in der Zeit zurück. Vergiß nicht, was du ihm schuldest, wenn es dich auch demütigt. Bei dieser Selbsterziehung zum Dankbarkeitsgefühl bist du ganz auf dich allein angewiesen. Deine Angehörigen werden dich nie zur Dankbarkeit anhalten, sondern dich immer in der Selbsttäuschung unterstützen, daß du ein sehr dankbarer Mensch seist. Wenn sie dich verlachen, daß du zu viel Wesens machst aus dem, was dir der undjener Gutes angetan, und wenn du ihnen dein Empfinden gar nicht mehr mitteilen kannst, weil sie dich hierin nicht verstehen, dann bist du auf dem richtigenWeg. Warum gibt eine Saite auf einer Harfe oder einer Geige einen so schönen Ton, wo sie auf demTisch aufgespannt kaum lautbar wird? Der empfindsame Resonanzboden schwingt mit. Also bringt die Wohltat, die dir in der Welt begegnet, den richtigen schönen Ton hervor nur dann, wenn die Resonanz des zum Dank bereiten Gemütes vorhanden ist.

Die Frage: Bekundest du genug Dankbarkeit? führt dich ebenso auf denWeg zur Selbsterziehung, wie die nach dem Empfinden der Dankbarkeit. Die Kälte in der Welt rührt daher, daß wir das, was wir an Dankbarkeit empfinden, denen, denen sie gilt, nicht genügsam kundgeben. Darin schließen diese auf Undankbarkeit und leiden darunter. Warum versäumen wir es so oft, die empfundene Dankbarkeit auszudrücken? Aus Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit. Unsere Aufmerksamkeit ist nicht genügend darauf gerichtet. Von den zehn Aussätzigen, dieJesus geheilt hatte, kam nur einer zu ihm zurück, um ihm zu danken [Lk. 17,11–19].Waren die neun andern undankbar? Mitnichten. Sie haben seiner vielleicht ebenso herzlich gedacht wie der andere

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und mit Rührung von dem, was er an ihnen getan, gesprochen. Aber als sie sich in Jerusalem dem Priester gezeigt hatten und heim konnten, dachte nur einer daran, vorerst wieder zum Herrn zurückzukehren. Die andern gingen in ihr Dorf. Über dem Nächstliegenden vergaßen sie die Bekundung des Dankes. So handelst du hundert und hundert Mal in kleinen und großen Dingen. Letzthin sagte mir eine Krankenschwester, die Operierte zu pflegen hat: Auf meinem Saal geht die Hälfte der Kranken fort, ohne mir auch nur Lebewohl zu sagen. Sind die, die es versäumen, alle undankbar? Gewiß nicht. Aber wenn der Tag der Entlassung kommt, sind sie so mit ihrer Abreise beschäftigt und so von denVerwandten, die sie abholen, in Anspruch genommen, daß sie den Dank an die Schwester, wenn diese nicht gerade zufällig um die Wege ist, vergessen. Sie haben es zu eilig, um sie zu suchen und ihr die Hand zu drücken und versagen im Drang desAugenblicks, weil sie sich nicht zum Danksagen erzogen haben. Verschiebe die Dankbarkeit nie. Es heißt in der Schrift: «Lasset die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen» [Eph. 4,26]. Laß dasselbe für die Dankbarkeit gelten! Bezeuge sie an dem Tage, an dem du sie empfindest! Ein Freund vom Land hat dir etwas Obst geschickt. Du bist gerührt darüber und nimmst dir vor, ihm dieser Tage zu schreiben. Nach acht Tagen kommt er in die Stadt, ohne daß du ihm geschrieben hast, und erkundigt sich im Laufe des Gespräches, ob die Sachen auch angekommen seien, und ausdem herzlichen Danken wird ein für beide Teile

peinliches Entschuldigen.|117¡ Im Krieg haben viele als Gefangene oder Verwundete Wohltaten von Fremden, vielleicht von Feinden empfangen. Als sie von jenen Leuten schieden, versicherten sie sie, daß sie sie nicht vergessen würden, und nahmen sich vor, ihnen bei der ersten Gelegenheit einen Brief zu senden und später immer wieder in Beziehung mit ihnen zu bleiben. Von tausend Briefen, die so geplant wurden, sind jedesmal kaum ein Dutzend geschrieben worden. Dann sagen sich die in der Ferne mit Bitterkeit, daß es keine Dankbarkeit gebe. In Wirklichkeit ist sie in den Herzen vorhanden. Aber es ist, als existierte sie nicht, weil die betreffenden Menschen sich nicht aufraffen, einen Brief zu schreiben, wo sie vielleicht Zeit finden, drei oder vier Zeitungen im Tage bis auf die letzte Zeile zu lesen. Wollen wir einmal nur fünf Minuten ernst nachdenken, was wir an versäumter Bezeugung der Dankbarkeit uns zuschulden kommen lie117 [A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 304] «So müssen alle wir uns anhalten, unmittelbar zu sein und die unausgesprochene Dankbarkeit zur ausgesprochenen werden zu lassen. Dann gibt es in der Welt mehr Sonne und mehr Kraft zum Guten.»

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ßen, so wird uns angst und bange von allen quälenden Erinnerungen, die da vor uns aufsteigen. Wie wollen wir nur die anerkennenden Worte und die Briefe zählen, die wir versäumt, und die Besuche, die wir unter-

lassen! Vieles unterblieb, weil wir es vergaßen. Anderes nahmen wir uns immer wieder vor, schoben es immer wieder auf und brachten es nicht zur Ausführung. Es lag zuletzt so weit dahinten, daß wir mit guter Art nicht mehr darauf zurückkommen konnten. Manchmal auch ist einer, dem wir Dank bezeugen wollten, gestorben, ehe wir ihm denselben kundgaben. Zu dem Schmerz, ihn verloren zu haben, kommt dann noch der andere, unsere Undankbarkeit nicht mehr gutmachen zu können. In anderen Fällen haben wir einem Menschen Dankbarkeit ausgedrückt, hätten aber Gelegenheit, ihm nach Jahren noch einmal anzudeuten, daß wir seiner Freundlichkeit noch immer gedenken, unterlassen es aber. Es ist ganz unglaublich, wie Schüchternheit, Torheit, Leichtsinn und Trägheit sich miteinander verbinden, um uns zu undankbaren Menschen zu machen, und wie wir gegen diese Verführung so wenig auf der Hut und so widerstandslos sind. Darum erziehe dich dazu, dasWort oder den Gang zur Bezeugung der Dankbarkeit nie zu verschieben und eine Dankbarkeit nie als erledigt anzusehen, sondern später, wo es die Gelegenheit nur bietet, dem andern kundzugeben, daß

sie noch in dir lebt. Wie es für dich keinen Aufschub und keine Verjährung der Dankbarkeit geben darf, so auch keine Aufhebung derselben durch später eintretende Umstände. Ein Mensch hat dir Gutes getan. Nachher kommt ohne deine Schuld etwas zwischen euch. Er nimmt dir die Ansichten, die du hegst, oder deine Beziehungen zu dem und dem Menschen übel, wenn er dir nicht gar etwas Häßliches antut oder sonst etwas begeht, das euch trennt. Mit Menschen, die man gerne hatte, entzweit sein, ist schwer; noch schwerer aber ist es, wenn es sich um solche handelt, denen wir durch Dankbarkeit verbunden waren. Wer dieses im Leben durchmacht, weiß, in welche Verwirrung es einen wirft. Mag nun aber auch kommen was will, sage dir nie: Ich bin fertig mit ihm. Laß die Erinnerung der Dankbarkeit alles, was später eintritt, überleben, und wo du eine Gelegenheit findest, ihm auf irgend eine Weise kundzutun, daß sie trotz allem in dir lebt, versäume es nicht. Nicht einmal die Schüchternheit, er könnte dir es übelnehmen oder dich verhöhnen, darf dich davon abhalten. Bedenke doch, was Dankbarkeit ihrem innersten Wesen nach bedeutet: Daß ein Mensch durch geheimnisvolle, durch irgendeine von ihm ausgegangene Tat geschaffene Bande auf immer dir verbunden ist. Er hat ein Recht auf dich, nicht ein Recht, das sich nach allgemeinen Gesetzen feststellen läßt und das er von sich aus geltend machen kann, sondern eines, dasvon dir aus gegeben undvon dir erkannt und anerkannt ist.Wasdieses Recht dir ge-

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bietet, mußt du ihm zu geben suchen, wo und wann du es nur kannst. Der Mensch, dem du Dankbarkeit schuldest, sei dir nie ein Mensch wie ein anderer und werde es nie, sondern bleibe dir etwas Besonderes, wie etwas, dasdir geheiligt ist.

Morgenpredigt Sonntag, 17. August 1919, St. Nicolai 13. ethische Predigt: Dankbarkeit 2

I Thess. 5,18: Seid dankbar in allen Dingen Die Bekundung der Dankbarkeit durch Worte und Freundlichkeiten ist das alltäglich Geforderte. Nur in einem kleinen Bruchteil der Fälle kommen wir in die Lage, unsere Erkenntlichkeit durch Handlungen, die eine nennenswerte oder große Anforderung an uns stellen, zu erweisen zu haben. Sich zurAbleistung dieser Dankbarkeit erziehen, heißt den Kampf gegen unsere Charakterlosigkeit und Bequemlichkeit aufnehmen. Wie gerne und mit welchem Geschick gehn wir ihr aus dem Wege!

Die besten unter uns besitzen hierfür ein Talent, sich selbst zu betrügen, das ihnen Grauen einflößen muß, wenn sie wagen, es sich einzugestehen. Die Abrechnung über die Enttäuschungen, die wir den Menschen, die unser bedurften und ein Recht auf unsere Dankbarkeit besaßen, bereitet haben, ist für einen jeden von uns niederschmetternd. Wer sieht nicht im Geiste, ohne sie mehr loswerden zu können, Augen, die ihn vorwurfsvoll anschauen? Und oft waren es nicht einmal große Opfer, die von uns verlangt wurden, sondern Dienste, die wir mit einigem guten Willen wohl hätten leisten können. Tue nicht, wie so viele um dich herum, die nur darauf ausgehen, diese Erinnerungen los zu sein, ja, die die Menschen, die von ihnen im Stiche gelassen wurden, geradezu hassen, weil sie demütigende Erinnerungen in ihnen wecken. Erlebe die Demütigung als etwas, das dich ernst und stark macht auf das, was du in Zukunft zu geben hast. Nur wer von uns in Rückschau auf sein Leben Grauen und Angst vor der Undankbarkeit erfahren hat, ist zur Dankbarkeit fähig.|118¡ Wichtig für die Dankbarkeit, die du zu betätigen hast, ist, daß du nicht wartest, bis der andere sie von dir fordert. Wo du nur ahnen kannst, daß er ihrer bedarf, komme ihm zuvor und biete sie ihm an. Denke an die Fälle, wo du zu einem Menschen gehen und mit Berufung 118 [A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit undJugendzeit, in: Werke Bd. I, S. 304:] «Darum kommt es mir immer vor, als ob wir alle geistig von dem lebten, wasuns Menschen in bedeutungsvollen Stunden unseres Lebens gegeben haben.»

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auf seine Dankbarkeit einen Dienst von ihm erbitten mußtest! Es sind die schwersten Gänge. Warum nehmen wir sie, wo wir es können, einander nicht ab? Habe Feingefühl und Geschick im Erweisen von Dankbarkeit. Wie oft demütigen und verletzen wir den andern, der in solcher Lage auf uns angewiesen ist!|119¡ Sei auch auf der Hut, daß deine Dankbarkeit nicht durch Menschenfurcht zu Falle komme. Viele Dienste, die wir als Erweis der Dankbarkeit zu leisten haben, bestehen darin, daß wir in irgendeiner Art für Menschen eintreten sollen, sei es, um sie zu empfehlen, sei es, uns für sie zu verbürgen, sei es, sie gegen Verleumdungen und Ungerechtigkeiten in Schutz zu nehmen. Schüchternheit und Charakterlosigkeit dringen auf dich ein und erbieten sich, dich von diesen Verpflichtungen loszusprechen. Jeden andern Dienst möchtest und könntest du leisten, sagen sie dir. Aber daß du dich auf diese Weise hervortust, dassei deines Amtes nicht. Was du ihm so nützen könntest, wäre wenig, gar nichts im Verhältnis zu den Mißverständnissen und Unannehmlichkeiten, denen du dich dabei aussetztest. So und ähnlich reden diese beiden glatten Advokaten. Weisest du sie nicht gleich, unter dem Einfluß der ersten guten Regung, ab, so bringen sie dich herum. Und bist du ihnen erst einmal gefolgt, so haben sie dich immer in der Gewalt. Noch eines merke für die Ableistung der Dankbarkeit. Erlaube dir nicht abzuwägen, ob der Dienst, der dirjetzt zufällt, nicht größer ist als der, den man dir einst geleistet hat. Das Schicksal kann dich berufen, daß du für etwas Kleines, dasdu empfangen, mit etwas Größerem, vielleicht gar mit etwas Großem zu vergelten habest. Rechte nicht mit ihm. Dasselbe Schicksal bestimmt anderen, daß sie dir Kleines mit Großem heimzuzahlen haben. Seine merkwürdigen Fügungen kannst du nicht nachprüfen. Unterwirf dich ihnen wie im Empfangen, so im Geben. Gewähren von Dankbarkeit ist aber noch etwas mehr und etwas Allgemeineres, als daß ich Menschen, die mir einen Dienst geleistet haben, bei Gelegenheit meinerseits helfe. Es besteht darin, daß ich für alles, was ich Gutes empfangen habe, Gutes tue. Oft kannst du einem Menschen nicht vergelten, waser dir erwiesen, weil er nie in die Lage kommt, dich zu brauchen, vielleicht auch nicht mehr auf der Welt ist. Überhaupt kannst du für alle Barmherzigkeit, die dir geschieht, nicht immer bestimmten Menschen danken. Oft kennst du die nicht, von denen sie ausgeht. Ein Mensch wird zur Operation in die Straßburger Klinik gebracht. Wem dankt er es, wenn er dort geheilt werden kann? Nicht nur dem

119 [a.a.O. S. 304:] «Es flutet viel Wasser unter dem Erdboden, das nicht als Quelle herausbricht. Dessen dürfen wir uns getrösten. Selber aber sollen wir Wasser sein, das den Weg findet, Quelle zu werden, an der Menschen den Durst nach Dankbarkeit stillen können.»

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Professor, der ihn operiert, den Assistenten, die ihn verbinden, und den Schwestern, die ihn pflegen, sondern noch andern Menschen, die im Hintergrunde der Vergangenheit stehen. Daß das Spital da ist, um ihn aufzunehmen, geht auf diejenigen zurück, die es durch ihre Schenkungen in vergangener Zeit gründeten. Daß er sanft eingeschläfert wird, und die Operation für ihn nicht grausige Qual bedeutet, wie es vor hundert Jahren der Fall gewesen wäre, kommt ihm von denen zu, die die Wirkungen des Äthers und des Chloroforms entdeckten, und von denen, die sich zu den ersten Versuchen mit diesen Stoffen hergaben. Daß man endlich Operationen aseptisch, das heißt ohne Angst um die Vereiterung, die früher die schwere Gefahr aller chirurgischen Eingriffe bildete, unternehmen kann, hat ihm derWiener Arzt Semmelweis durch seine Beobachtungen erworben, daß alleWundfieber von unsichtbarem Schmutz, den der Operateur an seinen Händen in die Wunde bringt, hervorgerufen werden und zuvermeiden sind, wenn er sie vorher mit desinfizierenden Stoffen – Semmelweis verwandte zuerst Chlorkalk – reinigte. Diese unbekannten Wohltäter der Vergangenheit helfen bei jeder Operation mit, und der Operierte schuldet ihnen seine Heilung, ohne die Dankbarkeit je an sie abtragen zu können. Also muß er sie in ihrem Namen denen zugute kommen lassen, die ihrer bedürfen. Darum, in der Art, wie dir Gutes widerfahren ist, tue Gutes zum Dank. Führe bei dir selbst Rechnung darüber, ob du den Betrag, den du an das Schicksal und an unbekannte Menschen schuldest, richtig begleichst. Ist dir in Krankheit geholfen worden, wisse, daß du dafür etwas für einen Kranken tun sollst. Hat dir jemand in der Bedrängnis mit einem Darlehen ausgeholfen, und es ist einer in der gleichen Not wie du, hilf ihm ausDankbarkeit für das, wasan dir getan wurde. Du kamst irgendwo als Fremder hin und jemand nahm sich deiner an; dies will heißen, daß du einem Fremden dasselbe tun sollst. Jemand tat für dich einen Gang oder trat für dich ein; dafür mußt du einem andern in derselben Weise dienen. Jemand war dir behilflich, daß du die richtige Lehre bekamst, um etwas Tüchtiges zu werden; sieh dich um, wo ein Mensch deiner so bedarf. Irgendeiner gab dir umsonst, was man sonst bezahlt; gib du dafür irgend jemandem umsonst, was du dir bezahlen lassen könntest. Oder er nahm Zeit für dich, wo er kaum welche zurVerfügung hatte. Das will heißen, daß du selber einmal, auch wo du überarbeitet bist, Zeit für einen Menschen haben mußt. Also tu in deinem ganzen Leben, im großen wie im kleinen. Rede nicht viel davon. Es beruht auf einer Buchführung, in die du allein Einblick hast und haben sollst. Sie geht die anderen nichts an. Mache nur, daß die Rechnung stimmt. Es gibt in der Natur Pflanzen, die sich unterirdisch verbreiten. Die Wurzel wächst unter der Erde weiter und sendet an einer bestimmten

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Stelle einen neuen Trieb in die Höhe, so daß dann mehrere Pflanzen nebeneinander, scheinbar selbständig und unabhängig voneinander, auf demselben Platze stehen. In Wirklichkeit aber sind sie aus der Wurzel der einen, die zuerst dastand, hervorgegangen. Also sei es mit der Verbreitung des Guten. Das Gute, das dir widerfuhr, sende durch dich triebfähige Wurzeln aus, aus denen neue Taten hervorgehen. Verstehe das Geheimnis der Dankbarkeit. Sie ist mehr als eine sogenannte Tugend. Als ein geheimnisvolles Gesetz des Geschehens werde sie dir offenbar. Im Gehorsam gegen dasselbe haben wir unsere Bestimmung zu erfüllen. Dies ist eine mystische Auffassung der Dinge. Gewiß. Aber wo wir den Dingen auf den Grund gehen, kommen wir immer auf etwas Geheimnisvolles. Das Leben und alles, was damit zusammenhängt, ist unergründlich. Was in das Gebiet des Alltäglichen zu gehören scheint, nimmt seinen ungeahnt tiefen und folgenreichen Charakter an, sobald wir es zu Ende überdenken. Das Wissen vom Leben ist das Erkennen des Geheimnisvollen. Recht handeln heißt, den Gesetzen gehorchen, die ausdiesem Erkennen desGeheimnisvollen kommen. Arbeitest du an dir, das große Gesetz der Dankbarkeit zu erfüllen, so trägt dir diese Anstrengung nebenbei etwas Merkwürdiges ein: Du leidest viel weniger unter der Undankbarkeit, die dir begegnet, als vorher. Beobachtest dudich selber im täglichen Leben undbemerkst dudie hundertfachen Versäumnisse an Dankbarkeit, die du dir fort und fort zuschulden kommen läßt, so rechtest du mit den anderen nicht mehr so wie die, die noch nicht zur Selbstbesinnung gekommen sind. Das Gefühl der Schuld, dasauf dir selber lastet, macht dich nachsichtig. Du hast eingesehen, wie schwer es ist, sich in allem und gegen alle wirklich dankbar zu erweisen. Was an dir versäumt wird, tut dir nicht mehr so weh, alswenn du dich noch naiv entrüstetest. Ferner aber weißt du auch, daß mehr Erkenntlichkeit vorhanden ist, als in die Erscheinung tritt, weil viel empfundene Dankbarkeit nicht dazu kommt, sich in Worten oder Taten kundzugeben. Mit diesem Trost tröstest du dich, wo andere fassungslos sind. Die Undankbarkeit, die in der Welt ist, ist eine Macht des Bösen, die über dich nicht mehr ihre ganze Gewalt hat. Du überläßt den vielen gedankenlosen und undankbaren Menschen das Sprichwort «Undank ist derWelt Lohn» zur Beute. Für dich aber lernst du darüber lächeln als einer, der in die Dinge und hinter die Dinge gesehen hat und bei so trauriger Weisheit nicht stehen bleibt.|120¡

120 [R] 4 VII 19. Im Bett. Chirurgische Klinik, nach der Operation.

Darum leget die Lüge ab

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Morgenpredigt Sonntag, 7. September 1919, St. Nicolai|121¡ 15.|122¡ ethische Predigt: Wahrhaftigkeit

Eph. 4,25: Darum leget die Lüge ab und redet dieWahrheit Laßt uns diese Stunde über Wahrhaftigkeit miteinander nachdenken.|123¡ Als es sich um die Dankbarkeit oder Gerechtigkeit handelte, war jeder von uns versucht, bei sich zu denken: Ich gehöre eigentlich nicht zu den undankbaren Menschen, auch nicht zu den ungerechten. Grobes auf diesem Gebiete habe ich mir nie zuschulden kommen lassen. Aber hier [kommen wir] keinen Augenblick in die Lage, uns dies einreden zu wollen, sondern [wir fühlen uns] niedergeschmettert, sobald wie wir nur daran denken. Jeder von uns vergeht vor Scham, denn [wir sind alle] mit Unwahrheit umgegangen. Zwischen den liebsten Freunden, zwischen unsern Hausgenossen und uns steht etwas, das mit seinem häßlichen Namen Lüge heißt. Die Ehrbarkeit, in die wir uns kleiden, wird abgerissen, [weil wir] als Lügner in hundert und hundert Fällen dastehen. Man lügt nicht, sagt der Vater mit strenger Miene zu einem Kinde, wenn er es auf Unwahrheit ertappt. Niemals sollst du lügen. Und indem er dies mit heiliger Entrüstung ausspricht, muß er plötzlich die Augen schließen und seinem Denken Halt gebieten, denn [es kommt] ihm in den Sinn, wie er selber gestern und vorgestern mit Unwahrheit umgegangen ist, und sich kaltblütig vornimmt, morgen und übermorgen wieder in den und den Fällen nicht anders zu handeln. Oder der Pfarrer setzt sich im Konfirmandenunterricht an sein Pult. Heute, Kinder, betrachten wir die Sprüche der Wahrhaftigkeit. Er liest sie vor.Wie schön klingen sie. Nun soll er anfangen zu erklären, wie sie im Leben zu halten sind. Da wird es ihm schwer ums Herz. Wie leicht war es, sie zur Güte, zur Barmherzigkeit zu begeistern, wo er selber diese Begeisterung in sich trug. Aber mit welchem Recht darf er ihnen von Wahrhaftigkeit reden, vor ihnen tun, als wäre ihm diese etwas Selbstverständliches und Gewohntes? In der Bibliothek desThomasstifts drüben stehen Bände von Predigten aus allen Jahrgängen, Reihe an Reihe. Wenn man sie durchblättert, findet man, daß alle Gegenstände, besonders der rechte Glaube, reichlich behandelt werden; aber die Wahrhaftigkeit kommt nur spärlich dran. Denn jeder fürchtet sich, davon zu reden. In allem, was er sagt, [steckt] eine Art von Selbstbekenntnis und er muß sich fragen: Woher 121 [R] Skizze. 122 [Die 14. ethische Predigt besteht nur ausStichwörtern zumThema Gerechtigkeit.] 123 [R] Predigt über Lauterkeit.

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nehme ich die Autorität, so zu reden? Ist nicht mein Eifer für Wahrhaftigkeit verglichen mit dem, was in meinem Leben sich ereignet hat und wasin mir ist, [unwahr]? Darum rede ich selber zu euch jetzt nicht in großen Worten, sondern unsicher. Ich fühle mich nicht als der, der lehren und ermahnen darf, sondern es ist mir, als wären wir Wallfahrer, die miteinander an jeder Kreuzstation unseres Lebens miteinander Halt machen und uns müde auf demWeg dahinschleppen. Was wir an uns selbst merken, gestehen wir es einander ein: Wir sind mürbe geworden und paktieren mit der Unwahrheit. Wahrhaftigkeit ist wie eine Fahne, die man nicht mehr in Wind und Sonne flattern läßt, sondern in einen Wachstuchüberzug steckt. Warum sind wir mürbe geworden? Nicht aus Mangel an Erkenntnis um das, was bei derWahrhaftigkeit auf dem Spiele steht. Die Unwahrhaftigkeit zehrt an unserem inwendigen Menschen. Man kann daran zugrunde gehen. Denn sie ist das Fundament der sittlichen Menschen. Alles andere hilft nichts. Ein Baum grünt, blüht und bringt Früchte. Man sieht ihm nichts an. Aber durch ein unscheinbares Loch von einem abgebrochenen Ast tröpfelt Regenwasser hinein. Fäulnis frißt sich im Mark weiter herunter; inwendig ist der Baum häßlich und krank. Bei Sturm wird er einst zerbrechen. Und einige Zeit [darauf] bekommt er dann dürre Äste und wird ein unnützer Baum werden. Wir sind mürbe geworden weil wir glauben, bei der Erkenntnis zu enden, daß man mit Wahrhaftigkeit nicht durchs Leben kommt. Und niemand hat dies so wie unser Geschlecht erfahren. In den letzten Jahren wurde der Sinn für Wahrhaftigkeit heruntergewirtschaftet. [...] Eine geistige Demoralisation hat stattgefunden, wir sind um Jahrhunderte zurückgefallen. Unterstützt wird diese Demoralisation durch die Rolle, die die Unwahrhaftigkeit im öffentlichen Leben spielt. Wohl war dies in irgendeinem Masse vonjeher der Fall, aber nicht in dem Umfang [wie heute]. Wir, die wir jetzt im mittleren Mannesalter stehn, haben es erlebt, wie von Jahr zu Jahr in der ganzen Welt die Unwahrheit mehr gepflegt wurde. Nachrichten und Meinungen, die nicht auf Wahrheit beruhten, aber irgendeinem Interesse dienstbar waren, [wurden] systematisch verbreitet. Es wurden dafür alle Mächte in Bewegung gesetzt. Das täglich gedruckte Wort stellte sich in den Dienst der Propaganda. Wo die größte Macht war und die größten Mittel aufgeboten wurden, siegte die Meinung, nicht dieWahrheit. [Darum haben] wir den Glauben an den Sieg derWahrheit verloren. Die Menge wird bearbeitet, betäubt. Das ist die furchtbare Demoralisation, die wir erlebt haben. Unwahrhaftige Menschen [sind wir] fast aus Not in einer immer offener der Unwahrhaftigkeit sich ergebenden Welt geworden.

Siehe,

wirpreisen

selig

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Nun heißt es für den einzelnen wie für dieVölker, sich wieder zur Wahrhaftigkeit durchzuarbeiten. Man hört viel von Regeneration reden. Große Programme [werden] dafür in allen Ländern aufgestellt. Aber alles ist eitel, wenn nicht Wahrheit, Ehrfurcht vor der Wahrheit wieder aufkommt ... Und dies alles [muß] von dem einzelnen ausgehen. Darum [gilt es] jetzt nicht, einen Hymnus über die Wahrhaftigkeit anstimmen, sondern sich mit der Frage derWahrhaftigkeit in der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Die Umstände desLebens, die Luft, in der wir atmen, will uns die Wahrhaftigkeit nehmen. Schritt für Schritt müssen wir sie uns erkaufen. (Ich kam einmal an einen Acker, den ein Mensch im Schweiße seines Angesichts bearbeitete. Der Acker sah schön aus, eben und glatt. Warum pflügt ihr ihn nicht, fragte ich ihn. Es geht nicht, antwortete er: Der Acker war früher ein Rebstück und steckt nun voller Rebwurzeln. Seit drei Jahren hacke ich ihn um und grabe, so viel ich kann, die Wurzeln heraus. Dann kann man später wieder einmal mit dem Pflug darüber. Und von neuem trieb sein müder Arm den Karst in die Erde.) So geht es uns, wenn wir dieWurzeln der Unwahrhaftigkeit ausunseren Herzen reißen müssen. Ich weiß nicht, ob ich in allem das Richtige treffe.|124¡

Morgenpredigt, Sonntag, 2. November 1919, St. Nicolai,|125¡ Totenfest

Jak. 5,11: Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben Das Laub fällt von den Bäumen. Herbstnebel bedecken dasLand. Raben [krächzen] auf winterlichem Feld. Über dem ganzen Lande liegt es wie ein stummes Lied vonVergehen und Sterben. Unsere Gedanken wenden sich denToten und demTode zu. – Als wir vor einem Jahre an demselben Sonntage der Toten gedachten|126¡, dawar unser Denken in zwei Gedanken geteilt. Wie eine Erleichterung empfanden wir es, zum letzten Male das schauderhafte Totenfest zu feiern, da nicht derTod, noch die Macht, die ihn bestimmt, seine gewohnte Ernte holte unter den Vergänglichen, sondern da Menschen in furchtbarer Verblendung ihm zu Tausenden und Millionen Menschen opferten. Und zugleich mußten wir daran denken, was der Tod dieser Geopferten für die Welt und uns bedeutete, und was wir uns als 124 [Der Schluß besteht aus stichwortartigen, unvollständigen Sätzen. Die 2. Predigt über Wahrhaftigkeit, die 16. ethische Predigt, weist nur einige Stichwörter auf.] 125 [Skizze.] 126 [Siehe S. 1208. 24.11.18.]

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Menschheit und als Menschen angesichts dieser Gräber zu geloben hätten, damit niemals in derWelt wieder solche Totenfeste gefeiert werden müßten. Heute nimmt dasTotenfest wieder seine natürliche Gestalt an.Wohl hat das Morden in der Welt noch nicht aufgehört. Im Osten dauert es noch an, und wer weiß, ob sich in der zerrütteten Welt diesen Winter nicht, noch mehr als im vorigen, Seuchen anschicken werden, das Zerstörungswerk, das die Menschen gegeneinander begonnen haben, zu vollenden. Aber doch, wir wollen es hoffen, das sind nur die letzten Zuckungen desElends, daswir uns geschaffen haben. So reicht die grausige Vergangenheit in unser heutiges Todesgedenken hinein. Jeder von uns hat Gräber, denen sein Gedenken gilt, die er auf ferner, unbekannter Erde zu suchen hat, und wenn er die Schritte dorthin lenken könnte, fände er sie doch nicht, weil nichts mehr anzeigt, daß hier ein Mensch, der Mensch, den wir suchen, ruht. Andere Gräber [haben] überhaupt keine Spur [hinterlassen], denn das Grab ist dasewig wogende, ewig gleiche, ewig wechselnde Meer. Und zudiesen kommen die Gräber derer, die auf unseren heimatlichen Friedhöfen [liegen], die ein schwerer oder sanfter natürlicher Tod aus dem Dasein abgeholt hat. Mit welchen Gedanken [begehen wir diesen Tag]? Gedanken der Wehmut: Wie arm ist das Leben geworden dadurch, daß die, die da draußen schlummern, daraus genommen sind. Die Frau beweint den Mann; Kinder sind ohne Eltern; Freunde, Geschwister [sind nicht mehr da]. Das Elend, dasdiese Gräber für alle bedeuten, nicht nur für uns, sondern für alle, [ist groß]. Es ist gut, daß ein Tag, an dem wir diesen Schmerz alle miteinander erleben, kommt. Die Ereignisse ebnen alles ein und lenken ab. Die Gegenwart begehrt ihr Recht. Die Welt geht ihre Bahn weiter. Und dazu kommt noch Vergnügen und Zerstreuung auf. [Darum:] «Weinet mit denWeinenden» [Röm. 12,15]. Daß die, die dasSchwerste tragen, sich heute von allen verstanden wissen. Vergesst auch nicht das Opfer der Dankbarkeit an den Gräbern. Vor deinem Sinn stehe das Gute, was du von denen, die da schlummern, empfangen hast, wo sie in dein Leben helfend eingegriffen. [Das sind] Blumen, die im Frost nicht vergehen. Gedenke auch an das, was sie dir zu vergeben hatten. Vielleicht seid ihr geschieden, ohne daß es eine Aussprache gab, ja, ohne zu ahnen, mit welchen Gedanken und Handlungen du dich an ihnen vergangen. Du bist beschämt, erniedrigt. Flüchte dich nicht vor dir selbst, sondern gehe in dich. Was du den Toten schuldest, soll dir zur Warnung für die Lebenden werden. Mit Unrecht und Haß vergehst du dich. Vergib selber. Manch einer, der da unten schläft, hat dir im Leben weh getan, dich enttäuscht, dich betrogen. Du kanntest diesen Menschen in seinen Schwächen. Laß die Erinnerung daran in dir sterben.

Unser Wissen

ist Stückwerk

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Vergib und vergiß. Der beherrschende Gedanke aber ist, wenn wir an den Gräbern stehen: Sie sind selig. Sie sind gestorben in der Blüte derJugend, sie hatten viel vom Leben zu fordern, sie nahmen sich vor, viel in ihm zu wirken. Sie sind in Verzweiflung, in Auflehnung gegen den Tod aus dem Leben gerissen worden; wir beklagen sie und beweinen sie. Aber dies alles kommt zur Ruhe. Über dies alles schauen wir hinaus auf das, wasist; der letzte Gedanke über denTod hat etwas Beruhigendes und Befreiendes. Der letzte Eindruck ist: «Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben.» Was ist der Tod? Keiner von uns kann es sich vorstellen. In uns selbst ist das Grauen vor dem Schmerz, die Angst vor demTage, wo auch wir den dunkeln Weg gehen, und doch [lebt] hinter diesem Grauen der Gedanke – wie soll ich sagen – die allgemeine Stimmung dieses Gedankens: der Gedanke desFriedens. «Die erduldet haben.» Das Dulden liegt hinter ihnen. Aus der Unruhe sind sie zur Ruhe gekommen. Sie sind der Bande ledig geworden. Der Geist ist ausdem Kerker desLeibes befreit in den unendlichen Geist, aus dem er kam, zurückgekehrt und zur Ruhe gekommen. «O wie selig seid ihr doch, ihr Frommen, die ihr durch den Tod zu Gott gekommen!»|127¡ – «Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein» [Apk. 21,4]. Der Tod verliert seine Schrecken ... daß es ein Ende gibt aus diesem Dasein. Nicht der Tod ist das Rätsel, sondern das Leben ist das Rätsel. Was soll dieses Dasein? Für Menschen, die die furchtbaren Zeiten, die wir durchlebt, mitmachten, die in eine dunkle Zukunft von Unordnung, Not und Elend [gehen], in einer Zeit, in der keine Ideale sind ... Wo die Weltentwicklung die Richtung verloren hat ... Wozu diese Welt, wozu

mein Sein?|128¡

Morgenpredigt Sonntag, 16. November 1919, St. Nicolai|129¡ Zweite Predigt über dieToten|130¡

I Kor. 13,9: Unser Wissen ist Stückwerk In dieser Zeit, in der wir der Toten gedenken und dasVergehen in der Natur erleben, taucht die Frage in euch auf, welches denn eigentlich unsere christlichen Vorstellungen über das Leben nach dem Tode sind. 127 128 129 130

[Simon Dach: O wie selig seid ihr doch, ihr Frommen, Str. 1.]

[R] DasRätsel desLebens schüttelt uns. [R] Skizze. [R] Vorstellung desLebens nach demTode.

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Predigten

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Wenn ihr versucht, euch zu vergegenwärtigen, was ihr darüber als christliche Lehre gelernt habt und wasin der Bibel steht, [ist es] viel Unklares und Unzusammenhängendes; und wenn ihr anfangt nachzudenken, steht ihr vor so vielen Fragen. Im gewöhnlichen Leben redet man nicht viel davon. Es sind Dinge, die man nicht leicht mit andern berührt. Ihr lest auch nicht viel darüber. Und doch gehört es zur christlichen Weltanschauung. Und so laßt uns in dieser Stunde darüber nach-

denken miteinander. Zuerst die Frage: Können wir uns dieVorstellungen über Tod und Leben nach demTod so aneignen, wie sie uns vonJesus, von den Aposteln und der alten Kirche überliefert sind? Dort wird die Erwartung des Schicksals nach demTode mit der Erwartung desbaldigen Gerichts und des messianischen Reiches verbunden. Die Lehre ist folgende: Es finden zwei Totenauferstehungen statt. Die erste, die sogenannte Auferstehung der Gerechten, für alle die, die gläubige Christen waren. Diese werden am messianischen Reich teilnehmen. Nachher, das messianische Reich ist als etwas Vorübergehendes gedacht, findet die allgemeine Totenauferstehung statt, wo die frommen Israeliten, die Frommen unter den Heiden, die zur Seligkeit berufen sind, aus allen Generationen seit dem ersten Menschengeschlecht aus dem Grabe hervorgehen und mit den seligen Christen in das eigentliche Reich Gottes eingehen, von dem Paulus sagt, daß dann Gott sein wird «alles in allen» [Röm. 15,28]. Unsere Vorstellung hat sich gewandelt. Wir erwarten kein Weltgericht mehr als nahe bevorstehend, sondern unsere Religion rechnet mit dem Gedanken, der sich uns aus allem, was wir beobachten, aufdrängt, daß dieWelt noch lange so bestehen wird und wir über ihr Ende nichts wissen. Darum bringen wir dieTotenauferstehung nicht mehr mit Gericht und messianischem Reich zusammen und meinen, daß der Abgeschiedene leblos so lange Zeiten weilt, um erst dann wieder zum Leben zu kommen. Diese Idee ist für unsüberhaupt schwer faßbar, sondern wie als selbstverständlich denken wir, daß im Augenblicke desTodes selbst die Scheidung vomVergänglichen zum Ewigen statthat unddasEwige, Geistige in die Ewigkeit, Geistigkeit zurückkehrt. Dies ist uns so selbstverständlich, daß wir in unsern Leichenfeiern immer in diesem Sinne reden und denken und dann eine gewisse Verwirrung entsteht, wenn wir uns an die altkirchliche Lehre, die unsganz entschwunden ist, erinnern. Gegen diese Wandlung im Denken vermögen wir nichts. Sie kam ganz von selbst. Also empfinden wir, so viel wir uns vorstellen können, die Notwendigkeit, – es handelt sich hier ja nicht um ein Wissen – uns zu denken, daß nicht erst nach langer Zeit, sondern im Augenblick des Todes, dasUnvergängliche des Menschen in die Unvergänglichkeit eingeht. Aber in welcher Art wird dasUnvergängliche an der Unvergänglichkeit teilhaben? Die alte Vorstellung ist die der leiblichen Auferstehung.

Unser Wissen

ist Stückwerk

1325

Für das zukünftige Leben erhält der Mensch eine Gestalt der jetzigen gleich, die sich aus seinen leiblichen Überresten bildet, nur daß sie nicht aus Fleisch und Blut besteht und keine Unvollkommenheit aufweist. «Eswird gesät verweslich, undwird auferstehen unverweslich» sagt Paulus [I Kor. 15,42]. Der Leib wird in die Erde gesät, davon [entsteht] ein anders gearteter Leib als Frucht. [Man hatte] Angst, als in Lyon bei einer Christenverfolgung die Heiden die Leiber der getöteten Christen zu Asche verbrannten und in die Rhone streuten; [sie gerieten] nun in Not, wie die Auferstehung zustande kommen [könne]. Auch viele abergläubische und materialistische Vorstellungen [waren damit verbunden]. [Das Abendmahl galt als] Medizin der Unsterblichkeit. Demgegenüber [wurde] von manchen Sekten die reine Geistigkeit der zukünftigen Existenz [verkündet]. Nur das Unkörperliche [blieb] ewig. [Diese Auffassung wurde von der Kirche] verurteilt. Aber [sie] erhält sich doch und [gilt] unsheute, wo wir durch dasDenken in dasWesen der Materie eingedrungen sind, als etwas Selbstverständliches. Trotz der apostolischen Glaubensbekenntnisse [dürfen wir uns] nicht zwingen lassen, etwas, was unserem Denken zuwiderläuft, anzunehmen. Viele Christen, geben aus Ehrfurcht auch vor dem Buchstäblichen der alten Kirche, die leibliche Auferstehung gegen alle Wahrscheinlichkeit nicht ab.Wir achten ihre Überzeugung, wie wir erwarten, daß sie die unsrige achten. Nun tritt eine Frage, die nicht nur unsere Vorstellung, sondern auch unser Herz beschäftigt, in dreifacher Gestalt auf: 1) In der Schrift lesen wir, daß es zwei Klassen von Menschen gibt (so lautet auch die Lehre der Kirche): die einen sind zur Seligkeit berufen, zum ewigen Leben, die andern zur Verdammnis und ewigem Tod. [Es ist die] alte Frage der Prädestination, die in die Lehre vom Schicksal nach dem Tode hereingreift. Viele und erbitterte Verhandlungen haben darüber in der Kirche stattgefunden. Auch hier werden wir darüber hinausgeführt. Die Vorstellung können wir mit der Liebe und Gerechtigkeit Gottes nicht vereinigen, und da diese das Wesen Gottes ausmachen, lassen wir sie fallen.|131¡ 2) Die andere Form der Frage hat euch sicher schon als Kind beschäftigt. Wenn wir nur durch Christus selig werden können, was wird aus den Menschen, die lebten, ehe Christus erschien? Sind sie deswegen vom ewigen Leben ausgeschlossen? Die alte Lehre nahm auf diese Frage Bezug. Die getauften Gläubigen sollten an der ersten Auferstehung und am messianischen Reich teilhaben, also einen Vorzug [haben]. Aber bei der zweiten Auferstehung [sollten] alle Frommen, auch ausden Heiden, am eigentlichen Reich Gottes [teilhaben]. «Sie werden kommen von Mitternacht und vom Mittage, vom Morgen und vom Abend, die zu Tische sitzen werden im Reich Gottes» (Lk. 13,29). Im ersten Petrusbrief 131 [R] Später über Prädestination predigen.

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Predigten

desJahres

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wird angenommen, Jesus sei in die Unterwelt hinabgestiegen, um ihnen das Evangelium anzubieten, daß sie sich noch bekehren können [I Petr. 3,19 f.].Wir brauchen diese Hilfen nicht: Alles, wassich zu Gott gesehnt hat und ihm versucht zu dienen, findet in Gott Frieden, ist nicht verloren. Nun aber die dritte Form der Frage. Halten wir wirklich überhaupt an derVorstellung fest, daß es ein verschiedenes Schicksal der Menschen nach dem Tode gebe, daß Geistiges, Ewiges überhaupt verloren gehen könne, oder fühlen wir uns nicht gezwungen, zu glauben, daß im letzten Grunde in jedem Menschenleben etwas ist, das unzerstörbar ist, weil es aus Gott als dem Urquell des Lebens kommt, daß, was aus Gott kommt, wieder in ihn zurückkehren müsse. Diese Frage schlummert in des Menschen Herz, in jeder denkenden Religion taucht sie auf. In den indischen Religionen, im Buddhismus und im Hinduismus steht sie auch da. [Dort wird sie] mit der Annahme gelöst, daß eine Seelenwanderung stattfindet. Dieselbe Seele wird in immer neuen Existenzen verleiblicht, bis sie zuletzt so geläutert ist, daß sie in Gott eingehen kann. Also [wird die Frage] bejaht. Und ich glaube, auch wir können sie bejahen, ohne die Seelenwanderung zu Hilfe zu nehmen. Aus zwei Gründen: In demWesen der Seele liegt die Unvergänglichkeit. [Sie wird] nicht erworben. Ewigkeit will heißen, zeitlos, vor der Zeit gewesen sein und nach der Zeit sein. Zeitlosigkeit [heißt] in Gott sein. Und dann: Ob ein Mensch ein sittliches Leben führt, so schwere Fragen [sind damit verbunden]: Vererbung. Kinder haben Laster oder Schwächen geerbt oder [kamen zu] Menschen in Erziehung oder Umgebung, die ihnen zumVerderben [wurden]. Daß die Umstände desLebens über Seligkeit und ewiges Leben entscheiden sollen, erscheint uns dann als etwas Ungeheuerliches. Aber wird damit nicht der ganze Wert des Glaubens und der Anstrengung zum gottgefälligen Lebenswandel preisgegeben? In meinem Spital in Afrika lag ein alter Neger. Von weit [her war er gekommen und litt an einem] Blasenleiden. [Er hatte] niemand mehr. [Er hatte] Predigt gehört, war aber Heide geblieben. Unter seinem Bett lag ein schmutziges Kistchen. Den Schlüssel dazu [trug er] um den Hals. [Darin waren] seine Reichtümer. [Ich habe ihm] nicht vonJesus geredet, nur die Liebe Jesu erzeigt, ihm wortlos gepredigt. [Ich habe ihn in ein] Tuch gewickelt und in große Palmblätter gehüllt. Und er starb. Am Rand des Urwalds auf dem Spitalkirchhof begrub ich ihn unter den gewaltigen Bäumen. Ich konnte nicht anders und sagte, auch er, der arme Fetischgläubige, [werde seine] letzte Heimat in Gott findet. Auf dem Rückweg [machte mir ein amerikanischer Missionar Vorstellungen und Vorwürfe. [Da mußte ich an das Gleichnis von den Arbeitern denken [Mt. 20,1– 16].

Ich will euch ein neues Herz

1327

Unsere Begriffe von Gerechtigkeit reichen nicht aus. [Wir brauchen] höhere: Der Wille Gottes zum Guten und Erbarmen, dies ist die höchste Gerechtigkeit. [Wird so nicht] das Fundament der Religion untergraben? Nicht untergraben, sondern vertieft. Auch wasim Leben ferne von Gott wandelt, findet in Gott Frieden, weil alles Menschenleben aus Gott [stammt]. Gott dienen wir nicht in dem Gedanken, daß wir allein erlöst werden, sondern weil wir es als das Glück des Lebens erkeennn, Gott dienen zu wollen. Und so lösen sich quälende Rätsel. Die Angst um Menschen, die auf gottfernem Wege gehen, läßt uns los. «Gott macht alles wohl» [Mk. 7,37]. Mit Ruhe sehen wir das Unbegreifliche, daß das Unvergängliche des Lebens in Gott durch eine vergängliche Existenzform hindurchgeht. Dies ist dasRätsel der Rätsel, daß es überhaupt eine sichtbare Welt mit aller Unvollkommenheit und allem Weh und allem Leid gibt und, was ewig ist, durch sie hindurch muß. Sicher [hat das] eine Bedeutung, [es ist] eine innere Notwendigkeit, aber wir verstehen sie nicht. So tritt das Geistige in uns im Leben eine Wandlung an ferne von Gott und dem Reinen, Geistigen. In denen, die nicht den Blick auf Gott gerichtet haben und seinen Willen suchen, wird die Heimat vergessen über dem Irren in der Fremde; bei denen, die die Sehnsucht behalten und Gott und seinen Willen suchen, [bleibt] die Heimat da, inwendig in uns. [Sie fühlen sich] nie ganz fremd; es ist nie ganz dunkel in ihnen, und sie erfüllen den Zweck Gottes dieses Wandeins in der Fremde. Aber beide, die, die die Heimat vergessen und die, die sich ihrer erinnern, nimmt Gott in die Heimat zurück. Dieser Glaube ist nicht so ausgesprochen in der christlichen Lehre. Aber aus Christi Geist ist er in uns gewirkt. Dessen wollen wir uns getrösten.

Morgenpredigt Sonntag, 14. Dezember 1919, St. Nicolai

3. Advent|132¡

Ez. 36,26: Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben

Der Advent hat ein doppeltes Gesicht. Unsere Gedanken bewegen sich in zwei Richtungen. Zuerst ist Advent die Zeit der Innerlichkeit. Das liegt in dem Klang desWortes, den wir von unserer Kindheit her hören. 132 [R] Skizze.

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Predigten

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Bist du bereitet, daß du dich mitfreuen darfst, daßJesus in dieWelt geWas ist in deinem Herzen, das fortgeschafft werden muß, ehe Jesus in dieser heiligen Zeit drin einziehen kann? So holt uns der Advent ausdem Alltag heraus und zwingt uns, uns mit uns selbst zu beschäftigen, daß alles, wasum uns herum vorgeht, versinkt. Weihnachtskommen?|133¡

advent. Zugleich aber zieht der Advent unsere Aufmerksamkeit auf dieWelt. Advent heißt Feier der Ankunft des Herrn, seiner Geburt zumWirken in derWelt und seines Kommens zurWeltherrschaft. Die alten Adventsevangelien handeln vomWeltgericht. So heißt uns der Advent, uns Rechenschaft geben, ob wir die Schicksale derWelt alsJünger Jesu miterleben. Was vermag er über unsere Welt? Was dürfen wir für sie hoffen, was müssen wir für sie fürchten, in welcher Weise sollen wir uns um sie Sorge machen? Weltadvent. Als Weltadvent laßt uns heute miteinander Advent feiern und in die Zukunft derWelt miteinander hinausschauen. Wie können wir, und wie sollen wir als denkende Christen in die Zukunft der Welt hinausschauen? Ich vermag euch keine geschlossene Anweisung darüber zu geben, sondern nur aus einem Chaos von Gedanken einige Gedanken mit euch überdenken, als Mittelpunkt das schöne Wort des Propheten Ezechiel nehmen, die Verheißung Gottes, daß er der Menschheit ein neues Herz und einen neuen Geist geben will. Es ist für uns wie ein Zwang, auf die Zukunft derWelt hinauszudenken. Auch diejenigen, die sich früher nicht mit den öffentlichen Dingen beschäftigten, können jetzt nicht anders, als es tun. Früher hatten viele von uns das Gefühl, der Fortschritt der Menschheit sei ein Ziel, das wir wie auf einem guten Dampfer und unter sicherer Leitung mit der Zeit wohl erreichen werden. Heute aber ist Unruhe unter den Passagieren. Sie müssen fürchten, daß der Kurs verloren ist, und sie sich auf dem Ozean verlieren werden. Du triffst einen Freund auf der Straße. Ihr kommt ins Gespräch, und nach einigen Augenblicken redet ihr, ob ihr wollt oder nicht, von dem, was die Welt jetzt durchmacht. Du gehst weiter und triffst einen andern, und es ergeht dir mit ihm gerade so. Triffst du einen dritten an demselben Morgen, so gehen deine Gedanken mit ihm denselben Weg. Was ihr miteinander erwägt, ist trostlos. Wo soll es hinaus mit dem Elend, in dem wir stehen? Wer von uns kann noch hoffen? Ach, wenn man nur nicht mehr denken müßte, man verliert den Verstand, wenn man noch wagt, denken zu wollen ... Das ist’s, was ihr gegeneinander aussprecht. Es liegt etwas vonWeltendstimmung in unserer Zeit. Es ist etwas fertig und bricht zusammen. Wohl ist es nicht dasWeltende, dasdie Schrift 133 [R] «Siehe, ich stehe vor derTür und klopfe an»[Apk. 3,20].

Ich will euch ein neues Herz

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beschreibt. Keine Zeichen am Himmel lassen sich sehen, keine Trompeten von Engeln geblasen ertönen. Ein lautloses Zusammenbrechen, aber nur um so unheimlicher, unheimlich wie das Rieseln im Gebälk, das dem Sturz vorausgeht. Ein modernes Weltende: Das Geld verliert seinen Wert, und es gibt keine Kohlen! Das heißt soviel wie wirtschaftlicher und sozialer Zusammenbruch Europas. Vor einem Jahr waren wir noch reicher an Hoffnung als heute, viel reicher, und in einem Jahr vielleicht noch ärmer als heute. Der geistige Zusammenbruch ist nicht minder unheimlich. Was ist anWahrhaftigkeit und Ehrbarkeit, an Lebensernst, an Glauben an Ideale in den letzten Jahren bis auf den heutigen Tag zugrunde gegangen? Kommt man auf ein Dorf, wo einer den andern kennt, und hört man den einen von dem andern erzählen, wie er’s getrieben hat, wie dieser gewuchert, wie jener gewuchert, wie dieser gestohlen, wie jener gestohlen, wie dieser betrogen, wiejener betrogen, wie dieser verleumdet undjener verleumdet, wie dieser intrigiert undjener intrigiert, so graut es einem vor dem Ort, der so friedlich daliegt, und dessen Kamine so anheimelnd einen Rauchschleier über es breiten. Unredlichkeit und Leichtfertigkeit herrschen als Herren der Tage. Luxus und Vergnügungssucht treten als Geschwister des Elends auf, nicht nur bei den Hohen, sondern auch bei den Niederen. In unserer Stadt tut sich ein Kinematographentheater nach dem andern auf, und keines macht schlechte Geschäfte (Anschlagsäulen). Auch die öffentliche Verrohung fehlt nicht, dieses mit dem Aberglauben sicherste Zeichen des geistigen Verfalls. In einer Hauptstadt derWelt traten zwei Faustkämpfer gegeneinander auf. Die Vornehmsten desVolkes, bis zu den Prinzen hinauf, hatten sich fabelhaft teure Sitze erstanden, um zu sehen, wer von den beiden den anderen zuerst niederschlagen würde, und der Telegraph berichtete darüber mit allen Einzelheiten nach allen Gegenden der Welt als über ein sensationelles Ereignis. Ihr habt Spalten darüber in den Zeitungen gelesen. Hat eine gewagt, zu sagen, daß solche Schauspiele und das Interesse, das ihnen entgegengebracht wird, etwas Gemeines sind, etwas, das in furchtbarer Weise an die Mentalität des untergehenden Rom mit seinen Schaustellungen erinnert? Morgens über die Straße: Halbwüchsige Burschen rauchend, nichtstuend miteinander stehen, freiwillig Arbeitslose. Wie aber verhalten sich der äußere Zusammenbruch und der geistige zueinander? Das wirtschaftliche und soziale Elend kommt ausdem Geistigen. Die Fragen der Ernährung, der Arbeit, der Neuorganisierung der Gesellschaft, der Fürsorge für die Elenden sind nicht an sich allein zu betrachten. Zuletzt gehen sie alle, so merkwürdig es scheinen mag, auf das Geistige zurück. Wer sich in die Geschichte der Menschheit versenkt, wird immer finden, daß alle Ereignisse, die guten wie die bösen, die sie ausmachen, durch Gedanken hervorgebracht sind, die in der Menschheit zur Geltung kamen.

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Predigten

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Das Geheimnisvolle, was die Dinge in der Natur gestaltet, und das wir Kraft nennen, ohne es erklären zu können, das ist auf dem Gebiete des menschlichen Geschehens die Gesinnung der Menschheit. Gebt der Menschheit einen neuen Geist und ein neues Herz, alles andere kommt dann wie von selbst. Die ersten, die so die Bedeutung des Geistigen erkannten, waren die Propheten. Seither hat jedes Jahrhundert diese Wahrheit aufs neue bestätigt. In dem, was wir mit unserer Zeit erlebt haben, drängt sie sich uns auf mit Gewalt. Sie tönt laut ausallem heraus. Die verfinsterten Gedanken der Menschheit haben dieses vielgestaltige Elend verschuldet; wie das Geistige zerstörend wirkte, so kann es auch wieder aufbauen. Wir werden noch Jahre des Elendes durchmachen, aber wenn der neue Geist und das neue Herz da sind, arbeitet sich das Neue, Bessere mit Notwendigkeit aus den Trümmern dieser Zeit her-

aus. Diese Erkenntnis mußjetzt im Advent unter uns ausgesprochen werden, daß wir uns damit miteinander trösten. Schaut nicht das Äußere allein der Dinge, das Trümmerfeld unserer Zivilisation an, und fragt euch nicht, wie kann man wieder zurecht schieben, denn sonst kommt ihr aus der Verzweiflung nicht heraus, sondern erkennt, daß eine Kraft daist, die sich nicht darum zu kümmern braucht, ob man dies oderjenes wiederum zurecht schieben kann, sondern die aufräumt und aufbaut, wenn man sie ansWerk treten läßt. Dies ist die Frömmigkeit, die wir bekennen und die uns aufrecht erhält, in der wir uns über das gedankenlose Verzweifeln, das um uns herum laut wird, erheben. Es ist nicht ein erzwungenes Glauben in dieser Frömmigkeit, sondern was wir als fromme Menschen glauben wollen und glauben müssen, ist dasselbe, was sich aus der Ergründung der Geschichte ergibt. Der Geist schafft alles; er ist Herr der Ereignisse. In dieser Hoffnung tut sich eine neue Hoffnungslosigkeit auf. Ist es möglich, daß unserer Menschheit ein neuer Geist und ein neues Herz werde? Unser Elend ist ein viel tieferes als dasje einer elenden Zeit vor uns. Im Mittelalter und später noch, wo geistige Not dieWelt im Elend erhielt, konnte man hoffen auf neue Gedanken und Ideale, die unter den Menschen Gewalt gewinnen und die Menschheit vorwärts bringen würden. Man sagte sich: Wir haben dasGute noch nicht richtig erkannt. Jetzt wollen wir es erkennen, dann wird es aufwärts gehen. Diese Hoffnung auf die Macht neuer definitiver Ideale hielt sie aufrecht. Lest die Bücher der Männer, die im 18.Jahrhundert sich mit den Dingen der Menschheit beschäftigten. Sie haben einen Glauben an die Macht der Ideen des Guten und des Wahren, der uns nicht mehr erschwinglich ist. Sie sind Millionäre der Hoffnung, wir arme Bettler. Das ist das Unfaßbare: Wir, die wir uns die Natur dienstbar gemacht haben in einer Weise, die man früher nicht ahnen konnte, wir, die wir Eisenbahn, Dampfschiff, Telegraph, Flugzeug und Maschinen aller Art

Ich will euch ein neues Herz

1331

haben, sind doch arme, arme Menschen mit jenen verglichen, weil wir in einer Zeit leben, in der die Ideale derWahrheit und des Guten keine Macht mehr haben, in einer Zeit, die an alle Fortschritte glaubt, nur nicht an den geistigen ... den einen, der not tut, ohne den alle andern wertlos sind. Das ist, ob wir es klar erkennen oder nur fühlen, der Grund der dumpfen Hoffnungslosigkeit, die sich unser aller bemächtigt hat.|134¡

Alle Ideen, die den geistigen Fortschritt der Menschheit unterhalten können, sind ihr bekannt. Die Propheten, Jesus, Paulus und die tiefen Denker der vergangenen Jahrhunderte haben sie ausgesprochen. Auch die Institutionen, diese Ideen zu verwirklichen, sind da. Früher konnte man sagen: Wenn erst einmal dafür gesorgt ist, daß sich Erkenntnis in alle Welt und in alle Schichten der Bevölkerung verbreiten kann, dann wird’s besser. Es ist dafür gesorgt: Wir besitzen dasgedruckte Wort, Zeitungen, Schulen ... aber es kam daraus nur ein äußerlicher Fortschritt des Wissens, auch eine Eingebildetheit, Wissen zu besitzen, aber kein wirklicher, geistiger, innerlicher Fortschritt. Man sagte: Wenn einmal dieVölker sich selbst regieren, dann werden sie immer das Zweckmäßige und Gute bestimmen und Ideale verwirklichen. Seit Jahrzehnten bestimmen sie sich mehr oder weniger selbst, und gerade in diese Zeit fällt das Kraftloswerden der wahren Ideale in dem öffentlichen Leben und das Aufkommen der Leidenschaften und falschen Ideale, welche dieWelt ins Elend geführt haben. So hat sich alles verbraucht. Ideale, deren wir bedürfen, sind kraftlos geworden. Wir sind wie Menschen, die ein Feuer anzünden sollen, und das Holz will nicht brennen. Und wir haben nicht die Hoffnung, uns sagen zu können: Das Holz ist nicht trocken, wenn erst nur eine kleine Flamme da ist, wird es trotzdem in Flamme kommen, sondern wir müssen uns eingestehen, daß das Holz nicht brennt, weil es morsch ist, weil es Holz ist, dasseit soundso lange gehauen ist, dem Regen und der Sonne ausgesetzt war und seine Brennkraft verloren hat. Verbrauchte Ideen unverbraucht, die Phrase wieder zurWahrheit machen, das ist’s, was wir müssen leisten, wenn unsere Zeit einen neuen Geist und ein neues Herz erhalten soll. Von der Schwere der Aufgabe könnte uns der Mut vergehen. Was kann die Religion dazu tun? Was kann sie unserer Zeit geben? Die Religion ist heute nicht wie ein siegender Strahl, der die Nacht durchbricht, sondern ein zitterndes Licht, dasman in dasDunkel hinausträgt und die Hand drum halten muß, daß es der Lufthauch nicht verlöscht. Denn in dem Kraftloswerden der Ideen desWahren und des Guten ist die Religion selber schwach geworden. 134 [R] Neuer Plan dieser Predigt für Basel, St. Pauluskirche, 2. Dez. 1923, Abendgottesdienst. [Unter diesem Titel folgt dann die Skizze einer abgeänderten Predigt.]

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Predigten

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Unsere Religion kann nicht im öffentlichen Leben auftreten, anklagend, richtend und zurechtweisend, wie sie es zur Zeit der Propheten tut. Einmal würde unser öffentliches Leben eine solche Religion nicht mehr ertragen. Die Könige beugten sich vor dem Geiste der Propheten. Noch in diesen Tagen las ich in den Lebensbeschreibungen unserer protestantischen Liederdichter des 16. und 17. Jahrhunderts, mit welchem Freimut sie als Sprecher der Religion sich vor den Fürsten ihrer Zeit über alles äußern durften. Heute aber regiert dasVolk und duldet keine Mahner mehr. Es soll wohl so sein. Manchmal will es uns bedünken, wenn man die Schriften der Propheten liest, daß es für ihre geistige Wirksamkeit ein Hemmnis war, daß sie in dieser Weise in die öffentlichen Dinge hineinredeten. Und heute noch beobachten wir, daß die Religion, je mehr sie in die öffentlichen Dinge verstrickt ist, desto mehr an geistiger Macht verliert. Sie verbraucht sich und ihr Ansehen. (Partei in dem öffentlichen Leben ergreift.) Aber in der gewaltigen, unscheinbaren Arbeit, die verbrauchten Ideale desWahren und Guten wieder zu unverbrauchten zu machen, ist die Aufgabe der Religion, die Aufgabe, die sie allein lösen kann. Sie muß das Feuer entzünden, das sonst nicht angehen kann. In unseren Herzen soll sie es tun. Wir dürfen nicht von derWelt reden, als ständen wir außer ihr. In uns allen, in dir wie in mir, in denJugendlichen wie in den Erwachsenen, sind die Ideale des Wahren und Guten, von denen wir und dieWelt leben muß, verbraucht. Ehe sie die Religion derWelt, nicht inWorten, sondern in Kraft, wieder geben kann, müssen sie in dir und in uns wieder unverbraucht werden, ausWorten zu etwas Realem. Wir haben uns gehen lassen in allem, was sich um uns bewegte: Wir sind in die Leidenschaften der Masse, in die Unwahrhaftigkeit, in die Gedankenlosigkeit, in alles sind wir mit hineingekommen. Das ist es, was dein Hoffen undVorstellen so schwach macht. Das erste, was unverbraucht werden muß, ist die Hoffnung, der Glaube selber, daß eine geistige Erneuerung möglich ist. Diese Hoffnung haben wir nicht, nicht nur weil die Welt so trostlos aussieht, sondern weil es in uns selber verödet und verwüstet ist. Du glaubst nicht mehr an dieWahrheit und das Gute, darum hast du keinen Glauben für dieWelt. Dich selber [mußt du] sammeln, dich wieder unter die Macht des Guten und Wahren bringen, an dir arbeiten. Was die Welt erleben soll, [mußt du] an dir erleben, und wenn du etwas davon erlebt hast, dann glaubst du auch, daß es die Welt erleben kann. [Wir sind] alle Hoffnungslose, weil wir nur das Äußere sehen, Hoffende werden wir durch das, was wir an uns erleben. Die Weltanschauung, das was man Weltanschauung nennt, ist bestimmt durch das, was im Menschen ist, nicht

Ich will euch ein neues Herz

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durch das, was er außen um sich beobachtet, nicht durch sein Wissen und Erkennen. Dies ist nur das Baumaterial. Der Bau selber ist sein eigenes Wesen, dasihn gestaltet. Darum, wenn du ganz hoffnungslos bist für die Zukunft der Welt, dann sage dir: Ich selber bin nicht gut und wahr genug, ich selber lasse den Geist nicht in mir wirken, darum glaube ich nicht an seine Kraft. Darum [wollen wir uns] an diesem Adventstag nicht mit Reden zum Glauben an dasWort des Propheten zwingen, daß Gott der Welt einen neuen Geist und ein neues Herz geben kann, gegen allen Augenschein, sondern [wir wollen uns] auf Weg zu diesem Hoffen stellen: Auch du glaubst dann an den neuen Geist und das neue Herz in dem Masse, wie du selber die Kraft des Geistes erlebst. Das eben ist die wahre Auffassung des Glaubens: In ihm [begegnet uns] etwas, das wir selber erlebt haben, [er ist] nicht ein erzwungenes Fürwahrhalten.|135¡

135 [R] Nicht weil jede Predigt einen versöhnenden Schluß [braucht, sage ich das], sondern «Ich glaube, darum rede ich» [II Kor. 4,13]. Nur in diesem Glauben [finde ich] die Kraft, das Evangelium zu predigen. [Es ist] der Glaube an die Kraft des Geistes, desWahren und Guten, des Geistes Jesu, das Unverlierbare in allem Irren und dem Zweifeln undVerzweifeln, dem ein Mensch unterworfen sein kann.

XIX. Predigt ausdemJahr 1920

Morgenpredigt Neujahr, Donnerstag, 1.Januar 1920, St. Nicolai|1¡

Gen. 32,25–27: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn|2¡

Was verlangten wir vom Jahr, dasjetzt in der Unendlichkeit versinkt: Glück. Was verlangen wir von dem, das vor uns aufsteigt: Glück. In dem Worte sind alle Menschen einig, nur nicht in dem Sinn, der ihm beizulegen ist. Glück heißt zunächst Gelingen. Vonjedem neuen Jahr [erwarten die Leute], daß es ihnen Gesundheit, Sinn, Wohlstand, Anerkennung, Freude in der Familie, Erfolg in der Arbeit, Anerkennung von Seiten der Menschen bringe, die Zahl der Freunde mehre, die der Feinde mindere. Dies ist natürlich und berechtigt. Wo aber der menschliche Geist in den Gedanken des Geistes Gottes denkt, verlangt er von demJahre weniger und mehr zugleich: Nicht ausschließlich ein glückliches, sondern ein gesegnetes Jahr.|3¡ Du weißt nicht, wie mit dem alten Jahre fertig werden. Für uns alle war es ein schweres. Für dich war es vielleicht dein schwerstes, indem es dir nicht nur an Glück versagte, was du von ihm erwarten zu dürfen glaubtest, sondern dich in Not und Sorge brachte, auf die du nicht gefaßt warst. Es hat dir vielleicht deinen Wohlstand genommen, dich Freunde verlieren lassen, dir Feinde gebracht, dir die Heimat genommen, den Glauben an die Menschen wankend gemacht, dich aus deiner Lebensbahn geworfen, dir die liebsten Menschen durch denTod entrissen, dich dem Hohn und der bösen Nachrede der Menschen preisgegeben. Scheide nicht von ihm als ein Grollender, sondern ringe mit ihm, wie dort der Erzvater nach der geheimnisvollen Erzählung der Schrift 1 [R] Skizze. Verzeihen. EinWort gesucht für dieses Jahr, dasfür unsalle paßt. 2 [Jakob blieb allein. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und da er sah, daß er ihn nicht übermochte, rührte er dasGelenk seiner Hüfte an; und dasGelenk der Hüfte Jakobs ward über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber er antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.] 3 [R: Wir alle Pläne machen. Vergesst nicht, manche von uns zum letzten Mal Neujahr feiern, und gerade diejüngsten.]

Ich lasse dich nicht, dusegnest mich denn

1335

mit einem Engel rang und diesen nicht losließ, bis er sich von ihm gesegnet fühlte.

Ringe mit demJahre, hadere nicht mit ihm. Jedes Jahr ist uns gesetzt, daß es uns nicht nur in der Zeit unseres Lebens, sondern auch innerlich vorwärts bringe. Es führt uns der Ewigkeit entgegen und soll uns reif machen für die Ewigkeit. Reifen will aber heißen, Sonnenschein, Regen und Sturm erleben und darin wachsen und stark werden am inwendigen Menschen. Dies wisse und überlege. Tritt aus demWeltgetümmel auf den stillen hohen Berg, rufe deine reinsten Gedanken, rufe Jesus, den Freund deiner Seele, rufe zu Gott, und dann setze dich mit dem Jahr auseinander. Vergiß nicht den rechten Anfang, den Dank. In allem Schweren hat dir Gott Gutes zukommen lassen, wo du es am wenigsten erwartetest. Denke aufmerksam in dasJahr zurück, was du zu danken habest. Dann gehn dir an demselben Lichter auf, wo du sie nicht vermutetest, wie man beim langen Anschauen des Himmels Sternlein an Sternlein sieht, wo manvorher nur Dunkel erblickte. Hast du gedankt, dann bereite dich auf das Ringen vor, indem du dich demütigst. Gedenke an deine Sünde. Was hast du nicht in diesem Jahr in Taten, in Worten, in Gedanken übel getan! Wie oft hätte dich Gott furchtbar strafen können für deine Vergehen, und er tat es nicht! Wie oft hätte er dich der Verachtung der Menschen ausliefern können, und er fügte es, daß deine Häßlichkeit vor ihnen zugedeckt blieb! Noch eins: Vergib! Menschen haben sich an dir vergangen. Sie haben dein Vertrauen mißbraucht, sie haben hinterlistig gegen dich gehandelt. Deine besten Freunde sind gegen dich aufgestanden, vielleicht gerade, wo du dasWahre und das Gute wolltest. Aber behalten darfst du ihnen nichts. Du mußt ihnen im Herzen verzeihen, auch wenn du vorerst nicht mit ihnen sein kannst wie vorher. Lege alle Bitterkeit ab. Hast du dich so vorbereitet, dann ringe mit demJahre. Regeln dieses Ringkampfes brauchst du dann nicht zu kennen. Du wirst ihm Segen abringen, weil du dir die Kraft dazu erworben hast. Alle Rätsel, die es birgt, verstehst du nicht. Nur auf das eine kommt es an: Daß du dich in allem, was du erlebt hast, läutern und Gott näherbringen lässest. Was dein das Höhere suchender Geist aus demJahr macht, das ist es für dich. DasWort «Denen die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen» [Röm. 8,28], stärke und tröste dich und lasse dich als einen Geprüften, aber als einen, wenn auch nicht äußerlich, so doch innerlich Glücklichen, Gesegneten durch die Furt in das neue Land einziehen.|4¡

4 [R] Predigt über Gottvertrauen.

XX. Predigt aus demJahr 1921

Adventsandacht Sonntag, [11.] Dezember

Storkyrkan Stockholm

1921,|1¡

[Ohne Text]

Laßt uns in dieser Adventsstunde uns sammeln, indem wir miteinander ganz unmittelbar über Religion nachdenken. Auf welche Bedürfnisse, Erkenntnisse und Erlebnisse geht Religion in uns zurück? Wie entwickelt sie sich in uns? Was ist der Grundgedanke des Christentums? Inwiefern ist er denknotwendig, so daß das Denken über dieWelt und unser Leben mit Notwendigkeit auf ihn geführt wird? Es werden in unserer Zeit so viel Menschen unreligiös. Woran liegt dies? Ist dies mit dem Fortschritt der modernen Bildung unabwendbar gegeben? Aber auch bei uns, die wir religiös bleiben wollen, nimmt sich die Religion kümmerlich aus. Sie ist wie eine Pflanze, die in magerem Boden nicht recht vorankommt. Woran liegt dies? Was ist Religion? Ganz allgemein gesagt: Die Gemeinschaft mit Gott erleben und dadurch, obwohl derWelt unterworfen, von derWelt frei werden. In der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen, in dem Zeitlichen eins werden mit dem Ewigen, in der Unvollkommenheit erfaßt werden vom Vollkommenen, in dem niederen, sündigen Wollen hineingezogen werden in das höhere, sündlose Wollen ... in jederWeise sich in Gott geborgen und von derWelt erlöst fühlen: dies ist Religion. Im Drang, zu dieser Gewißheit zu gelangen, schlägt unser Denken denWeg ein, der ihm der natürlichste scheint. Wir wollen denWeltplan Gottes begreifen und daraus verstehen, wie wir in der Unvollkommenheit, der wir unterworfen sind, dennoch teilhaben an der Vollkommenheit und wie wir in derWelt seiend dennoch von ihr erlöst sind.

1 [Das Manuskript trägt den Vermerk 1922. Doch war Schweitzer im Dezember 1922 im Elsaß. Hingegen gab er in Norwegen mehrere Konzerte im November, Dezember 1921 und imJanuar 1922. Am 11. Dezember spielte er in der Storkyrkan in Stockholm. Darum ist es naheliegend, daß er an diesem Tag dort auch gepredigt hat.]

Adventsandacht

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So will die Religion als ein Verstehen der göttlichen Weltordnung auftreten. Dem Volke Israel verkünden die Propheten als die von ihnen eingeschaute göttliche Weltordnung, daß ihm, weil es von Gott erwählt ist, sein Recht werden wird, wenn es nur an Gott festhält. Es soll einen mit Gottes Geist ausgerüsteten Abkommen aus dem Hause Davids zum Herrscher erhalten, der dieWeltreiche, die es bedrohen, unterwirft und dasgroße Friedensreich über die Erde bringt. Die ersten Christen verstehen die Weltordnung Gottes, indem sie mit brennender Sehnsucht auf dasWeltende warten und glauben, daß Gott bald alles Böse vernichten und eine Welt schaffen werde, in der nicht mehr Gewalt, Sünde, Angst, Schmerz undTod, sondern verklärtes Leben sein werde. Diese Gläubigen begriffen die Gemeinschaft mit Gott also durch den Gedanken, daß sie die Ablösung der unvollkommenen Welt durch die vollkommene erleben und so aus der Unterwerfung unter die Welt in die Freiheit der Kinder Gottes eingehen werden. In dem Vertrauen auf den so begriffenen Weltplan Gottes findet ein Apostel Paulus mit seinen Zeitgenossen Kraft, sich Gott hinzugeben, finden die ersten Märtyrer Freudigkeit zum Leiden. Aber in einer schmerzvollen Erziehung müssen die Christen es dann lernen: «Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken» [Jes. 55,8]. Gott führte die neue Welt nicht herbei. Wer die Schriften der beiden ersten christlichen Jahrhunderte kennt, weiß, was es für die ersten Generationen der Christen für eine Entsagung bedeutete, den Glauben an die bevorstehende übernatürliche Erneuerung derWelt aufgeben zu müssen. Seither versucht das christliche Denken, den Weltplan Gottes zu erfassen, indem es diesen unvollkommenen Weltlauf dennoch als Ausfluß des göttlichen Wirkens deutet. Es will begreifen, inwiefern das Übel und die Unvollkommenheit in dieser Welt nach Gottes Plan notwendig seien, wie auch das Übel seinen Zwecken dient, und wir also glauben dürfen, in Gott zu sein, wenn wir in derWelt sind. Gottes Walten in der Natur und in der Geschichte begreifen, das ist’s, was die Kirchenlehrer aller Zeit wollten, dasist’s, wasuns selber beschäftigt. Diese alles erklärende Religion schwebt uns als Ideal vor. Und wieder führt Gott auch uns tiefer in die Wahrheit des Wortes hinein: «Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken.» Immer mehr kommen wir dazu, das Walten Gottes in der Geschichte und in der Natur als ein schweres Rätsel zu empfinden. Dies ist das Erlebnis der Menschheit, dies ist das Erlebnis, ausgeprägter oder weniger ausgeprägt, eines jeden von uns. Wer wagt noch, mit Überzeugung zu behaupten, daß sich in der Geschichte der Menschheit die Gerechtigkeit Gottes, wie wir sie als Menschen uns vorstellen möchten, verwirklicht? Das stärkere Volk besiegt das schwächere, und die Kriege werden immer grausamer und sinnloser

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und die Friedensschlüsse immer gewalttätiger: Das ist’s, was an der Geschichte zutage tritt. Und wo ist die Güte und Liebe Gottes in der Natur? Schau in die Welt hinein. Wunderbar herrlich schaffender Wille waltet in ihr... und zugleich Vernichtung. Wie grausam sind dieWege der Natur, um ein Leben auf Kosten von anderem Leben zu erhalten! Quälende Fragen, mit denen wir nie fertig werden, arbeiten täglich an unserm Herzen. Alle gehen sie zurück auf dieTatsache, daß wir den Gott, den wir im Herzen tragen, in den Ereignissen der Geschichte und in dem Geschehen der Natur nicht zu entdecken vermögen. Gott, wie wir ihn im Herzen erfassen, ist Wille der Liebe. Gott in den Geschehnissen der Geschichte und der Natur ist wunderbar schöpferische Kraft, in der aber Wille der Barmherzigkeit und der Liebe nicht zutage tritt. Nun sagt das gewöhnliche Denken: Ich merke nichts von dem Walten eines guten Gottes in der Welt. Also hat Religion keinen Sinn. Die Schwierigkeiten der religiösen Erklärung der Welt und der Geschichte führen die vielen auf denWeg der Irreligiosität. Wie oft bekommen wir Geistliche auf dem Festland esjetzt zu hören: Herr Pfarrer, ich gehe in keine Kirche mehr. Der Krieg hat mir meinen Glauben genommen. Und wie schwer haben wir es, die religiös bleiben wollen, gegen alle diese Anstöße zu kämpfen! Habt ihr nicht manchmal den Eindruck, daß wir am Ende der Kraft des Glaubens sind? Ich habe mich durchgekämpft und bin stille geworden. Meine Überzeugung ist, daß wir in der eindringenderen Beobachtung des Weltgeschehens und in den schweren geschichtlichen Ereignissen, die wir mitmachen, etwas erleben, dasdem vergleichbar ist, dasdie ersten Christen durchmachten, als ihre Hoffnung auf das Ende dieser Welt und das Kommen der neuen sich nicht erfüllte. Auch uns nimmt Gott in seine schwere Schule, indem er uns zwingt, die Hoffnung aufzugeben, als könnten wir etwas von seinem Walten in derWelt verstehen. Wir hätten gewollt, daß die Religion für uns eine ebene, gebahnte Straße sei, die wir im Sonnenschein begingen. Es ist uns aber bestimmt, daß wir auf einem schweren Pfade, am Hang eines Berges entlang, gehen müssen, im Nebel die Richtung suchend. Ringsum sind wir vom Unbegreiflichen umgeben. So viel, wovon wir durch die Religion Auskunft und Gewißheit haben möchten, müssen wir dahingestellt sein lassen. Aus demWeltgeschehen, aus dem Geschichtsverlauf und aus dem, was in uns ist, wollten wir Gott erkennen und müssen unsjetzt damit bescheiden, daß wir ihn nur erkennen durch das, wasin uns ist, wie er als Geist unserem Geiste sich offenbart. Ich sage: Wir werden zum Gedanken gedrängt, daß wir Gott nach seinem Walten, wie wir es außer unswahrnehmen, nicht verstehen, sondern ihn nur in uns erleben können. Der Weg unserer Religiosität ist, daß wir ihn so lebendig, als es Menschen nur verliehen sein kann, er-

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leben wollen. Dies eine muß uns alles ersetzen, was wir im Verzicht auf dasErkennen, wie es uns vorschwebte, aufgegeben haben. Wir leben in derWelt wie ein Mensch, der ein großes Landgut geerbt hat. Er darf nicht sagen: Ich will damit beginnen, es mit einer festen Mauer aus Stein zu umfriedigen. Denn diese Arbeit übersteigt seine Kräfte. Er läßt das Haus verfallen, den Garten verwildern und das Feld veröden und stirbt, ehe er nur ein Stück der Steinmauer fertig hat. Er wollte das Gut von außen besitzen. Zuerst soll er das Haus unterhalten, den Garten pflegen, dasFeld bebauen und so dasGut von innen her besitzen. Und wenn ihm dann noch Kraft und Mittel bleiben, mag er versuchen, die Mauer aufzuführen. Wenn wir die Zeichen der Zeit verstehen, so spricht Gott zu uns: Haltet euch an das Innerliche der Religion! Welch einen tiefen Sinn bekommt für uns doch dasWort: «Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde» [Ps. 73,25]. Gott redet mit uns. Als Wille zuWille redet er zu uns. Als Wille der Reinheit und der Liebe, sagt er zu dir, sollst du mir leben und darin frei werden von derWelt. Das eine, was not tut, ist, daß du in dem höheren Wollen lebst, dasdurch mich in dir ist.Wie ein klarer Ton in dem unbegreiflichen Weltlärm erklinge ich in dir. Laß ihn zur Melodie deines Lebens werden. Der Welt unterworfen sind wir in allen unseren Geschicken, nur Geschöpf unter Geschöpfen vor dem unerforschlichen Schöpfer. Zugleich aber sagt der Schöpfer zu uns: In dir will ich wirken, was nicht in der Welt ist: Liebe und Barmherzigkeit. In der Welt bin ich schöpferischer Wille, den du bewunderst, vor dem du erschrickst. In dir bin ich Wille der Reinheit und der Liebe. Nichts davon verstehst du. Ich, der ich alles bin in allem, ich, in dem alles Geschehen mit Notwendigkeit verläuft, ich lasse dich frei. Als Geist zu Geist verkehre ich mit dir. Wenn du willst, kannst du gedankenlos im Strome des natürlichen Geschehens dahintreiben, ein Stück Welt sein, das im Weltgeschehen verläuft. Du kannst sein nur wie der Baum, der blüht, weil das Blühen sich in ihm in natürlicher Weise verwirklicht. Aber dann gehörst du nur der Welt und bist ihrer Unruhe hingegeben. An meinem höchsten Wollen teilzuhaben, anders in mir zu sein als nur als Geschöpf, in mir zu sein als Geist im Geiste, hast du preisgegeben. Arm bist du geblieben wo du solltest reich werden. Das Geheimnis, zu dem du bestimmt warst, hast du nicht erlebt. Um Willensunfreiheit und um Willensfreiheit hat man sich in der Religion gestritten. Groß ist dasGeheimnis. Der Geist zwingt den Geist nicht. Freiheit tritt auf in der Unfreiheit. Kein Erkennen wird es ergründen. Nur erleben können wir es, erleben, daß uns Gott berufen hat, sich ihm hinzugeben. Sehnsucht überkomme uns alle, dieses Geheimnis zu erleben, und

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so in derWelt seiend ausihr herauszutreten und in Gott zu sein ... durch Wollen undWirken in Gott zu sein. Nicht verstehen wir das Sein in Gott wie es die indischen Mystiker und wie viele Mystiker, die unter uns geredet haben, es verstehen. Sie wollen sich durch einen Akt des Denkens in Gott als dem unveränderlichen Absoluten verlieren. Sie sind müde vom Leben wie Schiffbrüchige, die auf dem hohen Meere schwimmen und dann die Hände ruhen lassen und zur Tiefe sagen: Tiefe, zieh mich nieder, ich will in dir begraben sein. Als tote Geister wollen sie in einen toten Gott eingehen. Wir aber wissen, daß Gott Wirken ist, schöpferisches Wirken in der Natur, Wirken desWillens der Liebe in uns. Dem wirkenden Gott geben wir uns hin, teilzuhaben an dem beseligenden, höchsten Geheimnis seinesWirkens, daß er in unsWirken der Liebe sein will. Zu einem Leben, das lebendiger und höher ist als das natürliche, wollen wir in ihm gelangen. Was du draußen siehst, sagt Gottes Wille in uns zu uns, ist Existenz, die sich gegen andere Existenz durchsetzt, ist Leben, das anderes Leben vergewaltigt, Leid über es bringt, es vernichtet ... ist Wille zum Leben, der glücklich werden will, indem er sich auslebt. Diesem blinden Willen zum Sichausleben ist die Kreatur unterworfen. Warum Gott dieses Dunkel über die Welt gelegt hat, begreifen wir nicht. Eines aber ist uns klar, und an dieses müssen wir uns halten: daß Gott das Dunkel von uns genommen hat und uns die Gnade gibt, von uns zu wollen, daß wir anders sind als dieWelt, daß unser Leben nicht bestimmt ist, ein Sichausleben zu sein, sondern ein Sichhineinleben in den Liebeswillen Gottes werden darf. Nach dieser verborgenen Weisheit leben, dies ist, den Sinn des Lebens in Gott verstehen. In gewaltigem Worte hat es uns unser Herr Jesus gesagt: «Wer sein Leben verliert [um meinet- und des Evangeliums willen], der wird es behalten!» [Mk. 8,35]. Nur so viel Leben in Gott hast du, als du von deinem natürlichen Leben in dem Anderssein als die Welt hingegeben hast. Arm sind wir, weil wir uns nicht genug zu diesem Anderssein als dieWelt zwingen. Waswir von diesem Leben verlieren müssen, hat unsJesus offenbart, zunächst in den Seligpreisungen von den Sanftmütigen und Friedfertigen [Mt. 5,5+9], in dem Worte, daß wir nicht widerstehen sollen dem Übel [Mt. 5,39]. Kraft ist der Mensch, der nicht Macht anwendet, sondern Macht erduldet. Er hat geistige Macht über die Herzen ... Macht, die Herzen zu Gott zu führen. Alle fühlen wir, daß dies die Wahrheit ist, erlösende Wahrheit für uns und die Welt. Aber wenn uns dann gesetzt ist, daß wir etwas hinnehmen sollen, eine Beeinträchtigung, eine Verleumdung, eine Ungerechtigkeit, dann lassen wir uns durch den natürlichen Menschen

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betören, der da spricht: Diese Sache hat nichts mit der Religion zu tun. Sie muß nach rein natürlichen Erwägungen erledigt werden. Hier mußt du dir dein Recht wahren. Und wir tun so.Wir werden geschickte Menschen, geübt und stark in der Art, auf weltliche Weise Wettkampf zu betreiben, aber schwach in Gott, Gott selber nicht in uns habend, nichts von Gottes Geiste den Menschen gebend. Wir wehren uns dagegen, ein bißchen von unserem Leben zu verlieren, indem wir auf ein bißchen Rechthaben verzichten.|2¡ Furchtbar ist diese Betörung, der wir alltäglich im Kleinen und Großen erliegen, der wir erliegen im Verhalten zu den uns am nächsten stehenden Menschen wie in dem zu den Fremden. Wir erliegen ihr nicht nur, weil wir nicht ein Stückchen von unserm Leben – oft ein Stückchen, das kaum geschmerzt hätte – hingeben wollen, sondern weil wir als natürliche Menschen greifbaren Erfolg sehen wollen. Ja, wenn das Nachgeben, das Anderssein als die Welt gleich auf die Herzen der andern einwirkte, dann wollten wir es tun. Auch aus dieser Betörung schreite heraus. Wie in dem schöpferischen Wirken Gottes das Gesetz der Erhaltung der Kraft gilt, demzufolge keine Kraftwirkung im Weltall verloren geht, sondern jede ihren Effekt hat, so auch in dem Wirken des Liebeswillens Gottes. In allem, wo du anders bist als dieWelt, bist du Kraft Gottes und wirkst als Kraft Gottes, ob du es siehst oder nicht, ob du es erlebst oder nicht. Geh voran, schau dich nicht um. Wie heißt es in der Schrift: «Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach» [Apk. 14,13] ... «und ihre Werke folgen ihnen nach»: Nicht säst du, was nicht aufgeht und Frucht trägt, nur daß du dann schon von dannen gewandert bist und es nicht erschaust. Nichts hast du in dem Anderssein als dieWelt von deinem Leben hingegeben, dasnicht einen Wert hätte für dieWelt. Oft darfst du nicht sehen, was du gewirkt hast, denn du könntest stolz werden und sagen: Dies habe ich ausgerichtet. Manchmal nur lüftet Gott ein bißchen den Schleier deiner Wirksamkeit in seinem Geiste, daß du erquickt wirst und wieder Mut bekommst. Während des Krieges war ich mit meiner Frau Gefangener. Wir sollten einen Nachtzug nehmen, um von einem Ort nach dem andern transportiert zu werden. Durch ein Mißverständnis glaubten wir, noch vierundzwanzig Stunden vor uns zu haben, als man uns in der Nacht zur Fahrt weckte. Nichts hatten wir gepackt. Die Zeit drängte. Der Gendarm, der an dem Mißverständnis unschuldig war, wurde ungeduldig. Sein Recht wäre gewesen, uns zu sagen: Ihr habt eure Sachen nicht gepackt, also bleiben sie hier; der Zug wartet nicht. Aber er wurde sanft. 2 [R] Wo du zur Selbstbehauptung gedrängt wirst, nicht Selbstbehauptung üben.

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Mit der Kerze half er uns, im Dunkel die Geschirre, die Decken und die anderen, für Gefangene so wertvollen, armseligen Habseligkeiten zusammensuchen und zusammenbinden, setzte sich dem aus, den Zug zuversäumen und deswegen von seinem Vorgesetzten zur Rechenschaft gezogen zu werden, und kam im letzten Augenblick noch mit uns an die Bahn.|3¡

Er hat jene Stunde vielleicht nicht mehr in Erinnerung. Vielleicht hat er sich schon manchmal gefragt, was es für einen Sinn habe, daß er sich seinen Beruf erschwere, indem er der Sanftmut, die nicht dazu gehöre, Raum gebe. Ich weiß nicht, wie er heißt, noch wo er zu finden ist. Darum bleibt ihm verborgen, daß er injener Stunde etwas gesät hat, das in meinem Leben hundertfältig Frucht getragen hat. Soundso vielmal, wo ich gerne mit Menschen nach Ungeduld und einfachem Recht verfahren wäre, stand er vor mir, und ich mußte sein wie er, und nie wird er aufhören, in meinem Leben etwas zu bedeuten. Wasich hier erzähle, hatjeder von euch schon in mannigfacher Weise erlebt. Wir alle wissen, daß Menschen durch ihr Anderssein als dieWelt uns etwas gegeben haben, ohne zu ahnen, daß geistige Kraft von ihnen zu uns überging. Aber weil wir nicht selber sehen, waswir wirken, werden wir Opfer der Betörung durch den Geist derWelt. Als zweites gehört zum Anderssein als die Welt, daß du nicht nur dein Recht, sondern auch von deinem Glücke dahingibst. Nicht darfst du nur dein Leben erleben. Das Leben aller Existenzen, die um dich herum sind, mußt du miterleben. Wie eine Woge desWeltmeeres mußt du am Gewoge desWeltmeeres teilhaben. Alle Angst, alle Sorge, aller Schmerz, alles Leid, die in derWelt sind, mußt du in dir fühlen und von deiner Ruhe undvon deinem Glücke geben, daß es ein bißchen weniger Angst, weniger Sorge, weniger Schmerz und weniger Leid werde. Statt wogende Woge in dem unruhigen Gewoge des Ozeans zu sein, möchtest du dich lieber abschließen und Gewässer einer ruhigen Bucht sein. Wehe dir, wenn du es erreichst. Injener Ruhe stirbt deine Seele. Wo ist das Ende der Aufopferung? Wieviel von deinem Leben mußt du hingeben, und wieviel darfst du behalten? Keiner kann es dir sagen. Zwischen Gott und dir muß es abgemacht werden. Manchen ist es bestimmt, daßsiediegesicherte Existenz unddiedamit gegebene Unabhängigkeit dahingeben, um als Arbeiter an dem Damm zu arbeiten, der die Flut desUnglücks in derWelt eindämmen soll. Wasin den Augen desvernünftigen Überlegens Torheit ist, muß ihnen, nachdem sie alles in Ruhe überlegt haben wie derMann im Evangelium, dereinen Turm bauen soll [Lk. 14,28], zurWeisheit werden, in der sieihr Leben in Gott verstehen. Andern, es sind die meisten unter uns, ist gesetzt, daß sie nur so viel von ihrem Leben dahingeben sollen, als sich mit der Erhaltung einer 3 [Vgl. A. Schweitzer, Aus meinem

Leben

undDenken, in: Werke Bd. I, S. 177 f.]

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einigermaßen geregelten und unabhängigen Existenz verträgt. Ihnen ist dasunscheinbare Dahingeben des Lebens bestimmt, das oft schwerer ist als dasoffenbare. Ihnen ist auferlegt, daß sie stetig mit sich kämpfen, um wach zu bleiben, daß sie nicht in dem geregelten Leben unmerklich in dasFürsichleben hineingleiten und nicht mehr merken, wo sie gerufen werden, im Großen und im Kleinen von ihrem Leben und Glück dahinzugeben.

Wer viel von seinem Leben dahingibt, darf sich nicht erheben über den, von dem er meint, daß er weniger dahingegeben habe. Wie viel und wie wenig die Menschen von ihrem Leben behalten, ist eine Sache zwischen jedem einzelnen und Gott. Wasals großes Opfer vor den Menschen erscheint, ist vielleicht vor Gott klein, und was vor ihm groß ist, ist vielleicht vor den Menschen klein. Wir haben einander nicht zu beurteilen. Einer sollen wir den andern merken lassen, daß uns dasHingeben des Lebens als die große, sich täglich erneuernde, tiefste Bestimmung unseres Lebens bewegt, und daß wir in steter Unruhe sind, ob wir nicht Stücke von unserem Leben und unserem Glück behalten, die wir, wenn wir dem Willen Gottes in uns gehorchten, hingeben müßten. In Gott zur Ruhe kommen will heißen, in Gott unruhig sein über sein Leben. Diese Unruhe kenne die Frau an dem Mann, das Kind an den Eltern, der Freund an dem Freunde, der Mensch an den Menschen, mit denen er zu tun hat, daß wir uns darin verstehen als Suchende, die auf demselben Wege wandeln, einer den andern damit stärken und darin über alles Urteilen undVerurteilen hinausgeführt werden. Vielen von uns ist es schwer gemacht, ein Stück von dem Menschen in ihnen hinzugeben, weil ihr Beruf ganz unpersönlich ist. Den ganzen Tag bedienen sie Maschinen im Fabrikraum, haben sonst eine mechanische Hantierung, sitzen, mit Ziffern beschäftigt, auf einem Kontorstuhl, geben Fahrkarten aus an einem Billettschalter oder sind ein Rädchen in der Maschinerie eines großen Geschäfts. Ihr Leben ist so, daß sie in Gefahr sind, ausMenschen Menschendinge zu werden. Wohl tragen sie die Sehnsucht in sich, sich als Menschen auszugeben und hinzugeben. Aber die Resignation lauert auf sie. Der Augenblick kann kommen, wo sie sich sagen: Ich muß mich darein ergeben, etwas zu sein, das ganz in der unpersönlichen Arbeit um das tägliche Brot aufgeht und zu nichts anderm in der Welt berufen ist. Ihnen wage ich zu sagen, daß jeder Mensch, auch der, der äußerlich betrachtet nichts anderes mehr ist als ein Maschinenteilchen in dem modernen Betriebe, von Gott bestimmt ist, als hingebender Mensch etwas von Gott aus für Menschen zu sein. Schaffe dir ein Nebenamt, ein Wirken, wo du als Mensch an Menschen Gott dienst in Stunden, die du sonst für dich verwenden würdest. Tu die Augen auf, schau, wo Gott dir ein solches Nebenamt zeigt. Vielleicht schickt er dir einen Menschen auf den Weg, der die Zeit eines

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Menschen braucht, und du kannst der Mensch sein, der ihm diese Zeit gibt. Oder er schickt dir einen Menschen, der dieTeilnahme eines Menschen braucht, nicht eine vorübergehende Teilnahme, sondern eine von Wochen und Monaten, und du kannst der Mensch sein, der ihm diese Teilnahme leistet. Ein anderer braucht die Geduld eines Menschen oder den Lebensmut eines Menschen, und du bist es, der dies bieten kann. Ein anderer braucht, daß man sich seiner annimmt und ihn berät, und du bist es, der es tun kann. Oder ein Unternehmer, der Hilfe an Menschen bedarf, der unentgeltlichen Zeit und der unentgeltlichen Mitarbeit von Menschen, um bestehen und seinen Zweck ausrichten zu können. Frage dich, ob du nicht der Mensch bist, der in den Stunden, die er für sich verbrauchen würde, diese Zeit aufbringen und diese Tätigkeit leisten könnte. Keiner von uns ist so arm an Mitteln und arm an Zeit, daß Gott nicht auch ihn zum Dienen an Menschen in seinem Geiste aufriefe. Für manches braucht er gerade die, die arm an Zeit und arm an Mitteln sind. Und wenn du der Überbeschäftigtste bist und seufzen mußt, daß du zu den Menschen gehörst, die am meisten der Maschine gleichgemacht sind, so hat auch dir Gott ein Nebenamt bestimmt, in dem du, im Dienen für ihn, dir die höhere Lebensfreudigkeit erhalten darfst. Wie kennt doch unser Herr Jesus das Leben, wenn er in dem Gleichnis von den anvertrauten Pfunden den Knecht, der am wenigsten für den Herrn zu verwalten hat, der Versuchung unterliegen läßt, mit diesem wenigen nichts anzufangen [Mt. 25,14–30]! Diejenigen unter uns aber, denen ein Beruf zugefallen ist, in dem sich der Mensch an Menschen im Dienen ausgeben kann, müssen sich jeden Tag aufs neue darauf besinnen, daß ihnen damit eine große Gnade widerfahren ist und daß sie nie geistig müde werden dürfen. «Welchem viel gegeben ist, von dem wird man viel fordern» [Lk. 12,48]. So müssen wir alle in dem Anderssein als die Welt und dem Dienen in Gottes Liebeswillen unsimmer tiefer in dasSein in Gott hineinleben, Gott nahekommen und Gott den Menschen nahebringen. Zu wenig denken wir daran, wie viel an uns liegt, daß Gott in den Herzen der anderen Menschen lebendig ist oder ertötet wird. Alle Menschen, mit denen du zusammenkommst oder an denen du vorübergehst, tragen ein Sehnen in sich, von dem sie nicht reden und von dem nichts auf ihrem Gesichte geschrieben steht. Sie wollen erleben, daß Gott eine Macht in den Herzen der Menschen ist. Sie dürsten danach, ihn als eine greifbare Wirklichkeit anzutreffen. Oft sind sie schon sehr müde, die Menschen, an denen duvorbeigehst. Sie sind bereit, sich darein zu ergeben, daß es nur Welt und Weltverlauf und Menschen, die wie die Welt und der Weltverlauf sind, gibt, und alles andere Illusion ist. Vielleicht reden sie schon höhnend über das, was andern heilig ist. Aber mit der Sehnsucht, zu erleben, daß Gott eine Macht in Menschenherzen ist,

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sind sie dennoch nicht fertig. Wo sie im Großen oder im Kleinen einem Anderssein als die Welt begegnen, da arbeitet es an ihrem Herzen wie die Frühlingssonne an der Wintererde, und eine Kraft wirkt auf sie, die auch sie ausderWelt erlöst. AusMenschenherzen heraus scheint Gott in Menschenherzen hinein. An dir kennst du sie, die Stunden, wo ein Mensch, wie wir uns ausdrücken, dich mit der Welt und dem Leben versöhnt hat und dir Freudigkeit ins Herz gab, von der du zehren konntest, als duvielleicht gerade geistig amVerschmachten warst ... Und der, der dir es gab, ahnte vielleicht nichts davon, was für ein Sonnenschein dir aus seinem Anderssein als dieWelt aufleuchtete. So sind wir alle für einander, ohne daß wir davon reden, Dürstende nach Gott undhaben den Beruf, einer den andern in derWüste dieser Welt mit einem Becher Wasser zu tränken.|4¡

4 [Der Rest des Manuskripts fehlt. Doch weist eine Randbemerkung in die Richtung der Schlußgedanken:]. [R] Kaum je hat euch einer von Religion gesprochen und euch gesagt von so vielem: Das kann ich euch nicht erklären, aber eines nur weiß ich, und dieses weiß ich gewiß: «Wer sein Leben verliert, der wird es finden» [Mt. 10,39]. Es auszusprechen wagte ich mit Enthusiasmus, damit wir uns miteinander stärken, es erleben zu wollen.

XXI. Predigt ausdemJahr 1923

Abendgottesdienst Montag, 31. Dezember 1923, Günsbach Silvester. Jahresschluß

II Kor. 12,9: Laß dir an meiner Gnade genügen Ausder Geschäftigkeit dieser letzten Tage [sind wir] zur Sammlung [zusammen gekommen. Wir wollen] aus dem alten Jahr als gesammelte Menschen scheiden und ins neueJahr hineingehen als gesammelte Menschen. Wir bedauern, dass so viele aus einem Jahr ins andere hineintaumeln. DasJahresende ist ihnen nur Anlaß zu Vergnügungen. Wir aber sitzen in den Bänken des Gotteshauses, jeder mit seinen Gedanken vor Gott hintretend, ihm dieselben darzubringen. Womit wollen wir beginnen? Mit danken, zuerst mit danken für das, was wir Angehörige dieser Pfarrei miteinander zu danken haben. Wir haben schon tragische Silvesterabende in dieser Kirche gefeiert. Die Kriegssilvester – ob unser Dorf am nächsten Silvester noch stehen würde – mit Sorge [haben wir] an die Männer unseres Dorfes [gedacht], die draußen im Feld standen. Nun haben wir ein Jahresende, wo nichts Besonderes für die Allgemeinheit vorgefallen ist. Kein Mißjahr, keine böse Seuche, kein großes allgemeines Unglück – wieder ein gewöhnliches neues Jahr, einJahresende, wie wir sie früher nicht zu schätzen wußten. Dafür wollen wir danken, wo sonst so viel Elend ist. Umgekehrt wie beim Turm von Siloah [Lk. 13,4] müssen wir fragen: Herr, sind wir denn besser als die vielen Dörfer und Städte auf der Erde, die dieses Jahresende inJammern und Klagen feiern wegen Arbeitslosigkeit, wegen Hunger, wegen Seuche, wegen Erdbeben (Japan)? Nein, sondern als Gnade [wollen wir es] hinnehmen und empfinden. Also für dies danken wir gemeinsam. Nun kann jeder für sich still danken. Ja, für was habe ich zu danken? Mir ist nichts besonders Gutes zugestoßen. Ich habe dasJahr schlecht und recht hingebracht. So [darf man] nicht mit Gott reden. Bei Gott ist alles Gnade – in der Natur ist alles Wunder. Nichts ist selbstverständlich. Da fängt die christliche Weisheit an. Deine Gesundheit, die deiner Lieben, die Menschen, die gut zu dir sind, was dir gelingt, wovon du verschont bliebst: Nichts nimmst du mehr als selbstverständlich hin.

Laß diran meiner Gnade genügen

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Und wir denken an die Erwartungen, mit denen wir ins neue Jahr hineingingen, und was sich davon nicht erfüllt hat. Aber versetzt euch zurück. Denkt an die Sorgen, mit denen ihr ins Jahr hineingingt, und die nun nicht mehr sind, wie es ganz anders gekommen ist, als ihr befürchtetet. Sorge für euer Auskommen, für eure Gesundheit, Sorge um ein Kind, Unfriede war da. Es ist an euch vorüber gegangen – o dankt! Dankbar [gilt es auch zu sein] für das Geistige: Die Güte, das Verstehen, dasVerzeihen der Menschen. Demütiget euch: Da ist Schuld undVerfehlung. Was ist aus dir geistig geworden dieses Jahr? Siehe, wie viel zwischen dir und Gott steht. Ich bin so ehrbar wiejeder andere. Das gilt hier nicht. Hier vor Gott mußt du bekennen, wie vielen häßlichen Gedanken du in deinem Herzen Raum gegeben und sie gehegt hast. Wie viel Unwahrheit ist ausdeinem Mund gekommen, kühl gelogene Unwahrheit, glatte Unwahrheit durch Verstellung, durch Verschweigen. Da ist der Anfang zu machen mit dem Demütigen. Dies ist die tiefe Sünde. (Bild vom Druck der Atmosphäre, den wir unbewußt alle tragen.) Und nun erst kommt zu Gott mit euren Sorgen. Ihr habt deren von aller Art mitgebracht. Sorgen für die Gesundheit, Sorgen für das Fortkommen, Sorgen um das Geraten der Kinder, Sorgen um den Frieden im Haus, Sorgen um den guten Namen; ausgesprochene und unausgesprochene Sorgen. Die, die unter euch als die, denen alles gut geht, gelten, haben Sorgen. Die, die immer Späße machen und als lustig scheinen, haben Sorgen. Ach, wenn wir einander ins Herz schauen könnten! Wir haben Angst, denn die Zukunft lastet auf uns. Sorgen vor Gott bringen, will nicht heißen, Gott nur seine Sorgen klagen, sondern sie als ein Gotteskind betrachten. «Dein Wille geschehe» [Mt. 6,10]. Bitte nicht nur: Herr, nimm von mir, sondern: Herr, sende mir deinen guten Geist, hilf tragen. Denn in solchem Geist allein wirst du reif für die Zukunft. Darum will ich den Sorgenden dasWort mitgeben in das neue Jahr: «Laß dir an meiner Gnade genügen!» Paulus hatte gerungen mit Gott, dass er ihn von schwerer körperlicher Pein (wahrscheinlich epileptische Anfälle) befreie. Und es geschah nicht, sondern er bekam diesen Bescheid und lebte davon. Was heißt das? Er erlebte es, daß Gott ihm die Kraft gab zu tragen, was er nicht glaubte tragen zu können. Nehmt es mit hinaus ins neueJahr, diesWort! Darf ich euch etwas erzählen, was mich vor einigen Wochen in London tief ergriffen hat. Vor anderthalb Jahren, als ich dort war, wurde ich mit einer Dame in weißem Haar, einer Rentnerin, bekannt. Beim Abschied sagte sie mir: Ich bin nicht untätig; ich habe auch einen Beruf. (Gütiges Aussehen, etwas merkwürdig Fesselndes in den Augen.) Dies-

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Predigt

aus demJahr 1923

mal, wo ich nur zwei Tage dort war zur Vorbereitung meiner Reise nach Afrika, bat sie mich, sie auf einer Fahrt zu begleiten. In der Untergrundbahn durch die Tunnel sausend, wo man sich kaum verstand, fragte ich sie nach ihrem Beruf. Sie sagte: Ich suche behinderte Menschen auf und lehre sie, ihr Leid und ihre Sorgen anders anzusehen, als sie es tun. Ich lehre sie stille werden, wie ich selber in großem Leid stille geworden bin. Diese Gabe habe ich mir erworben und übe sie nun aus. «Laß dir an meiner Gnade genügen!» Das ist dasWort, daswir alle lernen müssen und einer dem andern helfen, es zu lernen. Dann [fühlen wir uns] nicht mehr so arm. Wir sind hier nicht nur mit Gott, sondern auch miteinander; miteinander, um derer zu gedenken, die von uns schieden. Die, die ihre Lieben dieses Jahr auf den Friedhof trugen, sind nicht allein mit ihrem Schmerz. Mit ihnen gedenken wir derer, die von uns gingen. Möge Gott sie bei sich aufnehmen. [Es gilt], zu weinen mit den Weinenden, sich zu freuen mit den Freuenden [Röm. 12,15] und so zu bekennen, dass wir uns als Glieder einer Gemeinde fühlen. Nun vergiß nicht dasBegraben: dasBegraben des empfangenen Unrechts, böse Worte, Unliebenswürdigkeit, Hinterlist und Demütigung. – Das will ich nicht vergessen! Lieber Mensch, daswillst du mitschleppen ins neueJahr, so eine schwere und stinkende Last? «Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern» [Mt. 6,12]. Das, was wir beim Ausgang miteinander beten, soll keine Phrase sein. Kommt, laßt uns in Gedanken ein Grab graben, weit und tief. Kein Theater machen. Es ist nicht mehr. Das Laub der Bäume ist nicht mehr – es ist verwest. Das wollen wir miteinander bedacht haben und so, mit Gottes Hilfe, von dem alten Jahr Abschied nehmen und mit ihm fertig werden.

XXII. Predigt ausdemJahr 1924

Morgenpredigt Sonntag, 16. November 1924, Lambarene

(Erste Predigt, die ich wieder in Lambarene

halte)|1¡

I Joh. 4,16: Dieu est amour; et celui qui demeure dans l’amour demeure en Dieu, et Dieu demeure en lui. Als die ersten Weißen zu euch kamen, setzten sie eureVäter in Erstaunen durch das, was sie alles wußten und konnten und besaßen. Sie hatten Gewehre, mit denen man eine Kugel hundertmal weiter schießen konnte als einen Pfeil mit dem Bogen, und man brauchte keinen Bogen zu spannen. Sie hatten wundervolle Stoffe, die nicht ein Weib mühsam geflochten hatte, sondern die die Maschine von selbst verfertigt hatte. Sie hatten Uhren, die genau die Zeit anzeigten. Und je mehr ihr mit den Weißen zusammen gekommen seid, desto mehr konntet ihr erstaunen über das, was sie wissen und können und besitzen. Jetzt schicken sich manche von euch an, sich von dem, was die Weißen wissen, etwas anzueignen, nicht nur lesen, schreiben und rechnen. Diejenigen, die Holzhandel treiben, die lernen die Kunst, wenn man die Länge und Dicke eines Stammes kennt, zu berechnen, wieviel Holz darin ist und wie viel er wiegt. Es wird die Zeit kommen, wo manche unter euch noch viel mehr in dasWissen derWeißen eindringen werden. Einst wird es so sein, daß eure Söhne selber die Kunst des Arztes lernen, um den Kranken zu helfen. Alle diese Wissenschaft, die euch dieWeißen bringen, hat einen großen Wert. Aber wir, die wir im Dienste der Mission gekommen sind, wir bringen euch viel, viel mehr: dasWissen von Gott. Dies Wissen von Gott ist in drei Sprüchen aus dem Evangelium des Johannes. Der erste lautet: «Gott ist Geist» [Joh. 4,24]. Bewahrt alle diese drei Sprüche. «Gott ist Geist.» Damit haben wir euch befreit von aller Angst und allem Aberglauben, der auf euch lag. Es gibt keine Geister in der Natur, die Macht über Menschen haben, und vor deren Macht man sich durch 1 [Neben dem ersten Entwurf gibt es einen zweiten, aus dem Erweiterungen unter [E] zitiert werden.]

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Predigt

aus demJahr 1924

Zauber schützen muß, oder deren Gunst man sich gewinnt für die Angelegenheiten, die man vorhat. Sondern es gibt nur einen Geist, der in allem ist, der die Bäume wachsen läßt, dieWolken und denWind leitet, die Sterne am Himmel gehen läßt.|2¡ Nun der zweite Spruch: «Gott ist die Liebe.» Das ist nun ein großes Geheimnis.|3¡ In dem ersten Spruch schauen wir Gott an und sehen ihn in allem, was er geschaffen hat. Er ist der mächtige Geist, der alles, was ist, hervorgebracht hat. Aber in dem zweiten redet Gott zu uns und befiehlt uns. Ich bin Liebe, sagt er, und meine Liebe soll durch euch getan werden. Nicht nur an Gott glauben, [heißt es], sondern mit ihm zusammenhängen, daß unser Herz in Gott ist und Gott in unserem Herzen. Diese höchste Weisheit euch zu bringen, sind wir gekommen. Wir haben das Recht, euch zu sagen: «Gott ist die Liebe», und zu verlangen, daß ihr dieses annehmt, denn um der Liebe Gottes willen sind wir zu euch gekommen. Alle haben wir, die wir hier sind, große Opfer gebracht, weil es die Liebe Gottes von unsverlangte für euch. Jeder von uns hätte können eine schöne Stellung in Europa haben. Wir haben sie nicht, um euretwillen. Der von uns hat seine Kinder in Europa gelassen; der Frau und Kind; alle haben wir Eltern und Freunde, unser Dorf, unser Haus verlassen um euretwillen. Um euretwillen kommen wir unter einer Sonne leben, die zu heiß für uns ist und die unsere Gesundheit nicht erträgt. Man hat uns aus Europa geschrieben, daß Frau Pelat ganz erschrak, als ihr Mann diesmal nach Europa zurückkehrte, weil er so müde und alt geworden war. Müde und alt vor dem Alter ist er um euretwillen geworden. Wäre er in Europa geblieben und dort ein grand chef mécanicien geworden, hätte er heute vielleicht noch kein graues Haar. Das alles sage ich euch, weil ihr es nicht genug bedenkt. Ihr nehmt es gar sehr als selbstverständlich an, daß Missionare bei euch sind, und bedenkt nicht genug, daß dieTatsache, daß wir da sind und diese Opfer für euch gebracht haben, schon an sich eine Predigt ist von demWorte: «Gott ist die Liebe».|4¡ 2 [E] Seine Herrlichkeit alsWeltschöpfer offenbart er in Blumen, in Bäumen, in den Käfern mit bunten Flügeln, im Mond, der silbern über denWassern leuchtet, in Sternen, die ungezählt am Himmel funkeln. 3 [E] Das kannst du erst glauben, wenn du Gottes Liebe gesehen hast, dich daran gewärmt hast wie der Mensch, der morgens kalt hat, naß ist, und wo dann die Sonne kommt und ihm richtig warm gibt.

4 [E] Wir kannten euch ja nicht. Auf dem Papier, wo die ganze Erde aufgezeichnet ist, da seid ihr ein kleiner Punkt, da steht darauf Gabon, Ogoué. Weil die Liebe Gottes in unseren Herzen geredet hat, [sind wir hier]. Und wir bereuen es nicht. Denn wenn wir auch viel Müdigkeit haben und viel schwächer werden, magerer (der junge Doktor), weil wir solche Hitze und Sonne nicht gewohnt sind, ist unser Herz froh und still. Wir tun, wasdie Liebe Gottes unsgebietet.

Gott ist Liebe

1351

Nun sind wir gekommen, daß auch ihr denWillen Gottes hört, der

durch euch Liebe tun will in derWelt. Das Feuer der Liebe wollen wir in euch entzünden mit den brennenden Kohlen, die wir mitgebracht haben. Aber ach, dieses Feuer will nicht brennen, denn das Holz ist naß. Es ist naß, als wäre es grün im Walde geholt und die ganze Nacht im

Regen gelegen.|5¡

5 [E] Die Liebe macht das Leben unbequemer. Und ihr liebt nicht die Unbequemlich-

keit! Das [habe ich] nach acht Tagen gelernt. [Aber wir sind] nicht wie einWäscher, der die Wäsche kochen soll und hat nasses Holz und sitzt auf dem Boden und denkt dabei: Wenn dieWäsche heute morgen nicht kocht, so kocht sie heute nachmittag. Das ist für mich eine gute Gelegenheit, auszuruhen. Und er sitzt dabei und bläst nicht einmal ins Feuer.

Wir sind ungeduldige Menschen für das Feuer, das wir anzünden müssen. Denn ihr seid nasses Holz, so naß, alshätte manes grün ausdemWald geholt unddie ganze Nacht

im Regen liegen lassen.

[Le gouvernement veut] changer la situation surl’Ogooué par desdécrets. Nous venons changer vos coeurs. [Hier bricht dasManuskript ab.]

XXIII. Predigt ausdemJahr 1931

Taufrede Sonntag, 5.Juli 1931, im Spital zu Lambarene Taufe Roger Matter

[Ohne Text]

En prenant la parole comme maître de la maison, c’est tout d’abord pour souhaiter la bienvenue à ceux qui sont venus pour cette fête. C’est unejoie pour nous tous à l’hôpital, que les membres de la Mission d’Andende soient avec nous aujourd’hui au complet. Que la fête du baptême de cet enfant soit célébrée à l’hôpital est une chose naturelle. Le père de l’enfant et moi sommes à peu près du même village, car Munster et Gunsbach se touchent. En langage indigène je pourrais dire que M. Matter est frère pour moi. Il n’est donc quejuste que le baptême se fasse ici. Réunis pour cette fête nous souhaitons à cet enfant qu’il se souvienne toujours d’ être né d’un père missionnaire et dans un hôpital missionnaire. Que l’amour de la vérité de l’Evangile soit dans son coeur à tout jamais et que la miséricorde de Dieu, que nous tâchons de servir dans cet hôpital, prenne aussi unjour sesdroits dans savie. Nul ne sait, ce qui lui est destiné de la part de notre père céleste dans la vie qui s’ouvre devant lui. Qu’aura-t-il en fait de ce que les hommes appellent bonheur? Quel fardeau lui sera imposé de ce que les hommes appellent malheur? Nous l’ignorons. Mais nous savons une chose: Que son bonheur ne dépendra pas de la part de bonheur et de malheur qui sera la sienne, mais de ce qu’il trouve Dieu, dans tout ce qu’il rencontrera dans la vie. C’est dans cette certitude que nous le recommandons à Dieu aujourd’hui aujour de son baptême et que nous formons le souhait pour lui qu’il devienne véritablement un enfant de Dieu et qu’il arrive à la paix des enfants de Dieu. A présent, comme cet enfant ne comprend encore que la langue qu’il a dans le sang, l’alsacien, n’ayant pasencore fréquenté l’école où on lui enseignera l’autre, je demande la permission à ceux qui ne comprennent pas cette langue, de dire encore quelques mots pour être compris par l’enfant. Lieber Roger. Ein Münstertäler wünscht dir im Urwald geborenen Münstertäler am heutigen Tage Glück und Gottes Segen auf deinem Lebensweg. Mögest du heranwachsen zur Freude deiner Eltern und zu-

Taufrede

1353

nehmen «an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen» [nach Lk. 2,52]. Fern von unserer Heimat geboren, gehörst du ihr doch an. Hab sie lieb. Bleibe ihr treu. Mögen die Lüfte der Berge des Münstertals dich umspielen. Mögest du dort bodenständig sein und dasBild der einzig schönen Heimat so im Herzen tragen, wie wir es tun. Gott segne deinen Weg.

XXIV. Predigt aus demJahr 1932

Morgenpredigt Sonntag, 7. August|1¡1932,|2¡ Günsbach|3¡

Mt. 13,30: Lasset beides miteinander wachsen bis zu der Ernte Als sie damals in Galiläa noch in rauhen Frühjahrsstürmen die Saat säten, sprach Jesus das Gleichnis vom Sämann [Mt. 13,3–9], und als dieselbe Saat wuchs, sprach er dasGleichnis von der Saat, die wächst, ohne daß ein Mensch irgendetwas dazu tun kann [Mk. 4,26– 29], und als die Saat golden zur Sichel reif da stand, da sprach er dasGleichnis vom Unkraut unter demWeizen.|4¡ So hat er für jedes Jahr die Saat geweiht, auf daß sie predige, waser in siehineingelegt hatte. 1 [Schweitzer schreibt in einem im Zentralarchiv Günsbach liegenden Brief seiner Frau am 7. August:] «Ich habe morgens in Günsbach undabends in Griesbach gepredigt. Es hat mich sehr angestrengt, aber esging. Undeshatdenbeiden Dörfern Freude gemacht.» 2 [Am 22. März hatte Schweitzer in Frankfurt amMain die Gedenkrede zur 100. Wiederkehr von Goethes Todestag gehalten und imJuli in Ulm einen Vortrag über Goethe als Denker und Mensch. Dazu kamen Orgelkonzerte in Holland, England, Deutschland und Frankreich.] 3 [Der maschinengeschriebene Text trägt denVermerk Stenogramm.] 4 [Mt. 13,24–30.36–43: DasGleichnis vomUnkraut unter demWeizen undseine Deutung: DasHimmelreich ist gleich einem Menschen, derguten Samen aufseinen Acker säte. Da aber dieLeute schliefen, kamsein Feind undsäte Unkraut zwischen denWeizen undging davon. Da nun dasKraut wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch dasUnkraut. Da traten die Knechte zudemHausvater undsprachen: Herr, hast dunicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher haterdenn dasUnkraut? Er sprach zuihnen: DashatderFeind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du denn, daß wir hingehen und es ausjäten? Er sprach: Nein! Aufdaßihr nicht zugleich denWeizen mitausraufet, soihr dasUnkraut ausjätet. Lasset beides miteinander wachsen bis zuderErnte; undumder Ernte Zeit will ich zudenSchnittern sagen: Sammelt zuvor dasUnkraut undbindet esin Bündlein, daßman esverbrenne; aber denWeizen sammelt mir in meine Scheuer. Undseine Jünger traten zu ihm undsprachen: Deute unsdasGleichnis vomUnkraut auf dem Acker. Er antwortete undsprach zuihnen: DesMenschen Sohn ist’s, der daguten Samen sät. DerAcker ist die Welt. Dergute SamesinddieKinder desReichs. DasUnkraut sinddieKinder derBosheit. Der Feind, dersiesät, ist derTeufel. Die Ernte ist dasEnde derWelt. Die Schnitter sind die Engel. Gleichwie man nun dasUnkraut ausjätet und mit Feuer verbrennt, sowird’s auch amEnde dieser Welt gehen: desMenschen Sohn wird seine Engel senden; undsiewerden sammeln ausseinem Reich alle Ärgernisse unddiedaUnrecht tun, undwerden siein den Feuerofen werfen; dawird sein Heulen undZähneklappen. Dann werden die Gerechten leuchten wiedieSonne in ihresVaters Reich.WerOhren hat, zuhören, derhöre!]

Lasset beides miteinander wachsen

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Nun steht die Ernte auf dem Felde zur Sichel reif. Zum letzten Mal wohl ist um die Saat im Bann dieser Gemeinde der Klang der Sonntagsglocken dahingefahren. Wenn die Glocken noch einmal läuten, ist manches von dem, wasjetzt draußen steht, heimgebracht. Darum: Haben wir gehört in diesem Jahre, was die Saat in unsere Herzen predigen soll, geweiht durch dieWorte unseres Herrn Jesus? Ist in diesen Tagen, wo du durch die wogenden Felder gegangen bist mit dem goldenen Weizen, ist in diesen Tagen dein Herz nachdenkend geworden? So wollen wir überdenken, wasdie Saat, die reif auf dem Felde steht, uns zu sagen hat! Etwas gar Merkwürdiges hat unser Heiland in sie hineingelegt, das ihm gar nicht gleicht; er, der sonst so eifert für dasGute, ist hier fast indifferent: «Lasset beides miteinander wachsen!» Was ist das erste, was diese Saat uns verkündet? Das ewige Geheimnis, daß Gott das Böse in derWelt zuläßt, das Geheimnis, mit dem wir unsjeden Tag mit uns selber und um unsherum auseinandersetzen müssen: Gott ist die Güte, Gott ist die Allmacht; warum hat er nicht in dieser Welt dasBöse verzehrt, so daß schon Reich Gottes da ist und sein Wille geschieht wie im Himmel? Wenn ihr nun das Denken der Menschheit kennt und das Denken der frömmsten Menschen, dann werdet ihr immer finden, daß sie versucht haben, diese Frage zu beantworten. Jesus versucht es gar nicht, sondern er sagt, indem er auf die Felder deutet: Schaut, so ist’s. Das Böse ist da neben dem Guten. Und so wollen wir es hinnehmen, weil Gott es also verordnet hat; aber nicht einfach hinnehmen, sondern den Glauben haben, daß das Gute zuletzt

dennoch siegt. In diesem Glauben predigt er seinen Jüngern und uns Geduld und sagt: «Lasset beides miteinander wachsen!» Er predigt uns Geduld in unserer Ohnmacht und in unserer Angst. In der Tat brauchen wir diese Geduld besonders in dieser Zeit ... Wir leben ja in einem Chaos. Immer neue Ideen kommen auf und betören die Menschen. Wir fragen uns: Wie soll das Gute sich behaupten? Wie soll unsre Jugend ihren Weg durchs Leben finden? Wie sollen sie christliche Menschen werden mitten in diesen Ideen, die sie umgeben und in ihr Herz hineinwollen? Und in dieser Ohnmacht sagt unsJesus: Habt Geduld! Habt mehr: Habt Vertrauen! Glaubt, daß Gott, der das Böse in derWelt zuläßt, ohne daß wir es begreifen, den Sieg des Guten will, und daß sich aus allem dem, waswirjetzt gar nicht verstehn, dasGute seinen Weg bahnen wird. Wenn wir jetzt diesen Text miteinander betrachten: «Lasset beides miteinander wachsen!», dann ist er besonders für bekümmerte Seelen, für Menschen, die hier mit der großen Sorge hereingekommen sind um solche, die sie lieben, um die Kinder, die in der Ferne sind, wo sie sich sagen: Was soll aus diesen werden, wenn ich sie nicht ermahnen kann? Solche bekümmerte Seelen sind an diesem Sonntag in jeder Kirche. Diesen gilt insbesondre dies: «Lasset beides miteinander wachsen!»

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Predigt

aus demJahr 1932

«Lasset beides miteinander wachsen!» Du bist ohnmächtig. Du kannst nicht immer ermahnen. Du kannst nicht immer zurechtweisen. Es nützt nichts mehr, und nun mußt du zusehen. Dieses furchtbare Zusehen! Da sagt dir der HerrJesus: HabVertrauen in Gott. Denke an dein eigenes Leben zurück! War es damals nicht auch schon so, daß die, die neben dir waren, sagten: DasBöse wird in ihm Meister, und wo sie ohnmächtig waren bei dir? Undjetzt, wo du auf dein Leben zurückblickst, darfst du sagen: Gott hat mir in jenen Stunden den Sieg gegeben. Das Böse, das für mich so verlockend war, ist abgewendet, und das Gute durfte sich in mir durchsetzen. Darum, weil du an dir selber erlebt, was keiner von dir weiß, so darfst du gewiß sein, Gott wird auch dem andern so helfen, wenn du ohnmächtig bist. Denn es ist ein ganz merkwürdiges Ding, das mit dem Reifen, daß die Frucht schön wird und dasUnkraut häßlich. Wie war es doch, als dasUnkraut blühte in allen Farben und der Weizen als ein kaum beachtetes, unscheinbares Gras dastand, da konnte die Kindlichkeit, die in uns wohnt, von den Blüten gefangen werden; aber als es reifte, da veränderte es sich. Da wurde die Frucht schön, und da wurde dasUnkraut häßlich, etwas, das auf dem Boden dahinlag ohne Gestalt. So ergeht es uns im Leben, daß uns dann das Häßliche des Bösen klar wird, daswir nicht gesehen hatten. Und darum sagt der Herr Jesus: Geduld! «Lasset beides miteinander wachsen!», dann wird es sich scheiden undjedes sein wirkliches Aussehen gewinnen. Wenn der Herr Jesus uns sagt: Geduld, dann sagt er uns auch noch: Und du kannst doch etwas dazu tun, gerade durch deine Geduld; denn in jeder Geduld ist Glauben. Bring denen, für die du in Angst bist, Glauben entgegen, denn so viele Menschen haben keine Kraft, nicht weil es an Ermahnung fehlt, sondern weil ihnen von denen, die um sie sind, nicht genug Glaube entgegengebracht wird, weil sie nicht emporgehoben werden durch Vertrauen. Das hast du an dir selber erlebt: Wo du in schwierigen Lagen warst mit dir selbst, da haben dir nicht die geholfen, die dich zurechtwiesen, sondern die stillen Menschen, die an dich glaubten undGütigkeit für dich hatten. Das ist das große Geheimnis, das du siehst in der Natur; denn nicht jedes Jahr ist das Unkraut gleich mächtig. Warum habt ihr euch in diesemJahr müssen abarbeiten und seid doch des Unkrauts nicht Meister geworden? Weil nicht genug Sonne da war; da wuchs das Unkraut empor in Regen und Wind. So ist’s mit dem Menschen. Es muß Sonne da sein, dann kommt das Unkraut in Abgang; es muß die Sonne der Güte in ein Menschenherz hineinscheinen ausandern Menschenherzen, dann welkt dasUnkraut ab. Darum, wenn der Herr Jesus sagt: «Lasset beides miteinander wachsen!», Gutes und Böses, und dir Geduld predigt, so predigt er dir auch Güte. Du mußt nicht dastehen ohnmächtig, sondern eine Macht ist dir

Lasset beides miteinander wachsen

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in die Hand gegeben, die Macht der Güte. Weil du es von dir selber weißt, was Güte vermag, wo du dich ohnmächtig fühlst, wo gar kein Vermahnen, kein Schelten mehr hilft, da sage dir eins: Nun soll die Güte helfen, stille, betende Güte, die aus meinem Herzen in sein Herz scheinen soll; denn wenn das rechte Wetter im Herzen des andern nicht ist, dann nimmt das Unkraut zu, und wenn die Sonne der Güte in sein Herz scheint, dann welkt es ab. Darum bewahrt dies Geheimnis, das ihr überall in der Natur seht,

daß das Gute stark wird unter der Sonne und das Unkraut welkt und verdorrt. Wenn Sonne ist, dann wachsen die Halme empor, und das Unkraut liegt darnieder. So laß auch Sonne sein in deinem Warten und Zusehen, daß das Böse im Herzen dessen, um den du sorgst, abwelke. Sei gewiß, die Macht dieser Sonne ist unberechenbar. Undjetzt laß all die andern und denke an dich «Der gute Same sind die Kinder des Reichs» Gottes, sagt der Herr Jesus in diesem Gleichnis. Bist du der gute Same? Ist der gute Same in dir gereift? Denn es ist etwas ganz Merkwürdiges. Solange das Korn nicht reif ist, obwohl es etwas so ungeheuer Wertvolles ist, ist es nicht mehr als Gras. Wenn du es abschneidest, ehe es reif ist, kannst du nicht mehr damit anfangen als mit irgendeinem Gras. Erst wenn das Korn reif ist, dann sind all die kostbaren Stoffe darin, durch die es zur Erhaltung der Menschheit dient. Da du das draußen siehst, sei nicht ein unverständiger Mensch, der ist wie Korn, das nicht reif ist, sondern zwinge dich zum Reifwerden! Wir sind ja alle Toren. Mit dem unreifen Guten, das wir in uns tragen, wollen wir etwas ausrichten und wundern uns, wenn das nicht geht. Aber nur mit dem reifen Guten ist etwas zu tun, denn nur dasreife Gute ist kostbar. Darum, wenn du noch die Ähren wogen siehst in Sonne und Wind, reife, kostbare, dann frage dich: Ist dasGute auch in mir reif? Werde bedrängt von diesem Geheimnis, daß nur das reife Gute kostbar ist. Bald wird die Frucht, diejetzt steht, verschwunden sein. Wenn wieder neue, reife Frucht auf den Gefilden um diese Gemeinde herum steht, das nächste Jahr, sind die und die, diejetzt hier waren, nicht mehr da, sondern die Sichel ist an diese Halme gelegt. Das kannst du sein; das kann ich sein. Darum frage dich, ob das Gute reif war in dir oder ob nicht eine unreife Frucht heimgeholt wurde von Gottes Schnitter; denn nur dasreife Gute ist kostbar. Möge uns Gott geben, daß wir das Gute in uns reifen lassen, daß sich an uns erfülle: «Der gute Same sind die Kinder des Reichs» Gottes! So wollen wir heute die Ernte, die auf dem Feld steht, Abschied nehmend anschauen und alles hören, was der Herr Jesus an tröstlichem Geheimnis in diese wogenden, unkrautumwucherten, starren Ähren gelegt hat. Er segne uns, daß wir dies beherzigen und danach tun.

XXV.

Predigten ausdemJahr 1934

Mariage Robert Minder Samstag, 22. September 1934, Gunsbach

Eph. 5,8 f.: Marchez comme les enfants de la lumière. Car les fruits dela lumière consistent en toute sorte debonté, dejustice et de vérité Vous avez tenu à venir vous recueillir en ce lieu saint, avant de commencer le chemin de la vie à deux. Que cette heure soit bénie pour vous. Vous sentez la grandeur de la décision que vous prenez. Et vous voulez la consacrer par les sentiments les plus élevés que vous portez en vous, la prendre et l’affirmer sous les yeux de Dieu, votre union consacrer au nom de Dieu. Et vous jetez un regard en arrière sur votre vie. Vous vous souvenez de ce que Dieu a fait pour vous – et vous lui rendez grâce. Et votre souvenir reconnaissant vavers ceux qui ont protégé votre jeunesse et ont fait de vous ce que vous êtes, vous ont élevé et éduqué. Hélas, ceux auxquels vous voudriez et devriez l’exprimer ne sont plus tous parmi vous. Toi ma sœur, tu as eu la douleur de perdre ton père dans la grande guerre. Ce n’est plus qu’à ta courageuse mère, qui t’a élevé aux prix de combien de sacrifices avec ta sœur. Toi mon frère, tu as perdu ta mère qui te comprenait si bien et qui était ta confidente. Ceux d’entre nous qui l’avons connue cette nature d’élite nous savons ce que tu as perdu. Mais s’ils ne sont pas vivants parmi nous, ils sont présents à votre esprit.

Vous avez connu les bons et les mauvais jours. Lavie s o uvre belle de’ vous, nous le vant vous. Vous avez la confiance d’ être heureux. Et avec souhaitons. Et nous prions Dieu en cette heure qu’il vous conserve aux deux ce précieux don qu’est la santé, qu’il vous donne les forces pour remplir votre devoir dans la vie. Et je voudrais qu’en cette heure, en rendant grâce à Dieu, vous vous rendiez compte ensemble combien vous êtes privilégiés. Vous êtes unis dans le même travail. Votre travail d’éduquer lajeunesse. Et je crois assez bien vous connaître, pour savoir, que vous considérez cette tâche, sous son aspect le plus beau: Vous ne voulez pas seulement instruire, transmettre des connaissances, mais éduquer véritablement: Mettre dans les cœurs de vos élèves les idées de ce qui est bien, de ce qui est vrai, de ce

Wandelt

wie die Kinder desLichts

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qui est noble, pour qu’ils emportent de vous quelque chose pour la vie. Que Dieu vous aide. Aidez l’un l’autre, à garder cette noble et grande conception de votre tâche. Entretenez l’un chez l’autre le sentiment que vous êtes privilégiés dans votre activité. Et tirez-en le courage et de lajoie. Et pour vous même prenez la résolution d’être toujours unis dans les plus nobles pensées de votre coeur. Vous connaissez trop bien la vie et les choses pour ne pas savoir que votre union sera mise à l’épreuve à la dure épreuve de la prose de la vie de tous lesjours. Vous aurez besoin d’avoir patience l’un avec l’autre. Et comment triompherez-vous de tout ce que la vie suscitera de difficultés dans votre existence à deux? Et étant unis non seulement par l’affection, mais en ayant eu connu un idéal. Que l’un de vous sache toujours de l’autre qu’il est un être qui lutte et qui cherche le chemin qui mène vers le haut. Quand vous connaissez l’un de l’autre le plus profond de votre coeur, quand vous avez l’un pour l’autre non seulement de l’amour mais de la vénération, alors vous êtes à même d’affronter tous les dangers de la vie de tous les jours. Vous en triompherez.

Et c’est pour cette raison que je voue donne comme parole pour vous accompagner dans votre vie et pour vous rappeler cette heure solennelle celle de St. Paul dans l’épître aux Ephésiens: Marchez comme les enfants de la lumière. Et n’oubliez pasdans votre vie en commun, d’avoir desheures de recueillement. Ayez de la pitié, de cette vraie pitié qui est dans toutes les confessions. Cherchez ensemble à ne pas être enfants de ce monde, mais enfants de Dieu. Cherchez ensemble la paix de Dieu, qui est au-dessus de toute intelligence humaine et le Royaume de Dieu. Que Dieu vous protège et vous garde. Et qu’il vous donne la grâce que tout ce qui arrive, le bonheur et le malheur vous unisse toujours plus profondément, qu’il y ait entre vous l’union spirituelle. Alors quels que soient les événements de votre existence en commun, vous connaîtrez le vrai bonheur. Marchez comme les enfants de la lumière.

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Predigten

aus demJahr 1934

Abendpredigt Sonntag, 28. Oktober 1934, London Guildhouse-Gemeinde|1¡

Mt. 6,12: Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern

Dies ist die einzige Bitte desVaterunsers, zu der der Herr Jesus eine Erklärung hinzufügt, um zu bestimmen, wie sie zu verstehen sei. Alle andern sind ohne Erklärung. Durch diese beigefügte Erklärung spricht Jesus in deutlichen Worten und als etwas ganz Selbstverständliches aus, daß dasVergeben, das Gott uns gegenüber übt, davon abhängig ist, daß wir selber den Menschen verzeihen. Daß dies wirklich sein Gedanke ist, spricht er auch in einem Gleichnis aus. Ein König erläßt seinem Knechte, erzählt er, die große Schuld, die er ihm nicht bezahlen kann. Nachher trifft der Knecht einen seiner Mitknechte, der ihm eine kleine Summe schuldig ist; und obwohl dieser ihn bittet, Geduld mit [ihm zu haben], läßt er ihn verurteilen und ins Gefängnis sperren, bis er es bezahlt hat. Als dies dem König zu Ohren kommt, macht er das Erlassen der Schuld, das er schon gewährt hatte, zunichte und läßt nun ihn ins Gefängnis werfen, wie er es mit dem Mitknechte tat. Und dieses Gleichnis beschließt er mit den Worten: «Also wird euch mein himmlischer Vater auch tun, so ihr nicht vergebt von eurem Herzen ein jeglicher seinem Bruder seine Fehler» [Mt. 18,23– 35]. Man wundert sich darüber, daß der Herr Jesus sich so wenig über die Lehre von der Sündenvergebung äußert und sich nicht über den wahren Glauben an die Sündenvergebung und das, was sein Tod für diesen Glauben bedeutet, ausläßt. Darüber gibt er uns keine nähere Erklärung. Das will wohl heißen, daß er den rechten Glauben an die Sündenvergebung, über den in der Christenheit so viel gestritten worden ist, gar nicht für so wichtig hält. Die Hauptsache des Glaubens an die Sündenvergebung besteht für ihn darin, daß der Mensch weiß, daß er den Menschen vergeben muß, um von Gott Vergebung erlangen zu können. 1 [Im Oktober 1934 war Schweitzer in Oxford und London, wo er an den Universitäten Vorlesungen hielt über «Das religiöse Element in der modernen Kultur» (Hibbertvorlesungen). Dabei predigte er in der ihm von früheren Aufenthalten her vertrauten Gemeinde. G. Seaver schreibt dazu: «Am 28. Oktober besuchte er seine Freunde in Putney undpredigte am gleichen Abend im Guildhouse über dasThema «Verzeihen». Die letzten Tage des Monats waren ausgefüllt mit einem Empfang im Friend’s House, einem Bachkantatenkonzert in St. Margaret in Westminster, einem Hausempfang für Besucher, einem Lichtbildervortrag über Lambarene und einem Besuch bei Basil de Selincourt, der damals schwer krank war.» Seaver S. 170.]

Undvergib uns unsere Schuld

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Eine einfache, aber auch harte Lehre von der Sündenvergebung! Merkwürdigerweise spielt sie in dem Artikel über die Sündenvergebung in den Glaubensbekenntnissen der alten Kirche und der Reformatoren keine Rolle. Aber es ist die Lehre Jesu, und er hat sie in dasVaterunser hineingelegt, daß wir jedes Mal an sie erinnert werden, wenn wir dasVaterunser beten. Wir wagen uns die Lehre von der Sündenvergebung, die in dieser Bitte des Vaterunsers liegt, nicht einzugestehen. Wir machen uns die Tragweite dieser ihr angefügten Worte «wie wir vergeben unsern Schuldigern» nicht mehr klar. Warum? Weil wir sie nicht ertragen können. Wir haben nicht mehr den Mut und die Energie, sie durchzuführen in unserem Leben. Es fehlt uns nicht am guten Willen. Wir alle fühlen, daß Vergeben die Wahrheit ist. Aber wir bringen nur ein bißchen Vergeben fertig, nicht das ganze Vergeben. Um uns herum häuft sich in unserem Leben ein wüster Haufe von Unvergebenem. Und wir können nur leben, indem wir den Blick von ihm abwenden. Und wir sehen, daß vor der Tür der andern auch ein solcher Haufe von Unvergebenem liegt. Und so sagen wir uns, daß dasVergeben ein Ideal sei, das sich leider bei weitem nicht ganz durchführen lasse. Wir hören auf, in der Sache des Vergebens wirklich Christen zu sein. Darum wollen wir unsjetzt miteinander mit demVerzeihen beschäftigen. Jeder von uns hat es nötig. Warum gelingt uns so wenig Verzeihen? Viel schuld daran ist, daß wir uns eine falsche Vorstellung vomVerzeihen machen. Wir stellen uns Verzeihen vor als etwas, wobei wir eine schöne Rolle spielen. Wir möchten, daß der Mensch, dem wir etwas zu verzeihen haben, seine Schuld demütig eingesteht, daß wir ihm dann großmütig verzeihen und daß dann die Leute uns bewundern und sagen: Schaut, dieser hat ihm das und das angetan, und er verzeiht es ihm; das ist schön von ihm. Wir belieben, uns einVerzeihen vorzustellen, bei dem wir die schöne Rolle spielen und den andern demütigen. Aber in der Wirklichkeit liegen die Dinge so, daß sich die Gelegenheit dieses klassischen Falles desVerzeihens so gut wie niemals findet. Der Mensch, dem wir glauben etwas zu verzeihen zu haben, denkt gar nicht daran, sich seiner Schuld uns gegenüber bewußt zu sein und sie einzugestehen. Im Gegenteil. Er tut, als wenn er im Rechte und wir im Unrechte wären. Die Leute aber sagen, daß die Schuld auf beiden Seiten liegt. Der schöne, einfache Fall des schönen, einfachen Verzeihens, auf den der Schauspieler in uns wartete, der findet sich in der Wirklichkeit also gar nicht, sondern nur ganz verwickelte Fälle. Und mit denen werden wir nicht fertig. Dies ist der eigentliche Grund, daß wir dasVerzeihen unterlassen und so viel Unverziehenes mit uns durchs Leben schleppen. Also heißt es zuerst, die falsche Vorstellung von demVerzeihen abtun. Verzeihen ist nicht, eine Szene der Großmut aufführen. Es ist keine

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Predigten

aus demJahr 1934

schöne Frömmigkeits-Rolle für den Schauspieler, der in uns allen wohnt. Es darf nichts mit Demütigen des anderen Menschen zu tun haben wollen. DasVerzeihen erfordert, daß wir selber demütig werden. Kraft zum Verzeihen haben wir nur, wenn wir im Geiste gegenwärtig haben, wie viel uns selber verziehen werden muß, nicht nur von Gott, sondern auch von den Menschen. Wird dir dasVerzeihen schwer, dann denke nur daran, wie viel Unwahrhaftigkeit dir die Menschen verzeihen müßten, wenn sie alle Unwahrhaftigkeit, die du gegen sie begangen, kennen würden, auch die verborgen gebliebene! Und wie sie dir verzeihen müßten, die, die nicht mehr im Leben weilen. Demütig sein ist Voraussetzung des Verzeihen-Könnens. Verzeihen kann nur, wer die Schuld, die auf ihm selber liegt, erkennt und schwer daran trägt. Das andere, was zumVerzeihen gehört, ist das Schweigen. Verzeihen muß still vor sich gehen. Daß Verzeihen mißrät wegen Redens, habt ihr schon alle erlebt. Es lag etwas vor zwischen dir und einem andern. Ihr wart beide guten Willens, die Sache aus derWelt zu schaffen, und fingt an, sie zu besprechen, um sie aufzuklären und zu erledigen. Und über der Besprechung wurde sie schlimmer, denn keiner wollte weniger im Unrecht sein als der andere. Jeder wollte derjenige sein, der eigentlich zu verzeihen hätte. Und die Leute, die sich noch darein mischten, die verdarben vollends alles. Das Bereden von einem solchen Fall ist, wie wenn man einem Feuer durch Aufreißen von Fenstern und Türen Luft zuführt. Dann lodert es empor, daß man es nicht mehr löschen kann. Am besten wird man eines Feuers Herr, wenn man es erstickt. Wie viele Schiffsbrände ereignen sich, ohne daß es zu einer Katastrophe kommt, ohne daß die Passagiere nur etwas davon merken. Sie werden erstickt. Manche meinen, das Christliche bestehe darin, daß man mit dem Bruder alles bespricht. Es kann Fälle geben, in denen dies gut ist. Es sind die, in denen es sich wirklich um ein Mißverständnis handelt. Aber nach dem, was ich selber vom Leben kenne, glaube ich, daß es in den meisten Fällen das bessere ist, den Fall zur Ruhe kommen zu lassen. Wenn man einem Arzt einen bei einem Unfall Verletzten bringt, wühlt er nicht in derWunde herum, sondern er macht einen vorläufigen Verband. So mache um alles, was zwischen dir und deinem Bruder sich ereignet, den vorläufigen Verband des Schweigens. Ja, sagst du, wie merkt dann der andere, daß ich verzeihen will? Wie erkennt er meine Gesinnung? Durch die Art deines Schweigens. Beginne zu verzeihen, indem du mit niemand über die Sache redest. Ach, wie viel verschlimmert sich dadurch, daß wir [mit andern] reden und die Sache unwillkürlich zu unseren Gunsten darstellen. Diese erzählen es dann weiter, manchmal in guter Absicht, gewöhnlich aber, und ohne daß sie sich nur Rechenschaft davon abgeben, in unlauterer. Unser

Undvergib uns unsere Schuld

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armes, böses Menschenherz ist so gemacht, daß es sich nicht, wie es sollte, der Wahrheit, sondern der Ungerechtigkeit freut. Immer wieder müssen wir uns darüber schämen, daß wir eine heimliche Freude daran haben, daß irgendeine Uneinigkeit zwischen Menschen entsteht. Wir verfolgen mit Interesse die Phasen des Streites zwischen ihnen. Also glaube mir: Der andere merkt schon deine Bereitwilligkeit zumVerzeihen in derArt deines Schweigens. Halte fest an dem Schweigen. Wenn sie zu dir kommen und dir sagen: Ihr habt etwas miteinander; erzähl doch, wie es ist; ja, der andere hat keinen guten Charakter; mit dem kommt niemand aus... Dann sage: Es ist unsere Sache, und es wird schon wieder in Ordnung kommen. Und wenn du mit ihm zusammenkommst? Tue, als wäre nichts. Dränge dich nicht auf. Sei zurückhaltend. Aber habe die Gesinnung eines Menschen, der verziehen hat und für den jene Sache nicht mehr besteht. Die Hauptsache ist, daß du verziehen hast. Wenn es wirklich der Fall ist, so merkt es dir der andere an.Wie es dann einmal zwischen euch kund wird, dasist dasNebensächliche. Es hat Zeit. Es kommt vielleicht einmal so, daß der andere von einem Unglück betroffen wird. Dann bezeugst du deine Teilnahme in einfacher Weise. Oder er kommt in die Lage, daß er jemand braucht, der ihm in etwas Hilfe oder einen Dienst leistet: Dann tust du es, ohne großes Getue. Oder umgekehrt: Du kommst in die Lage, daß dir Teilnahme bezeigt werden oder Hilfe oder ein Dienst geleistet werden muß. Und dann erlebst du es, daß der andere so mit dir verfährt und daß die Versöhnung verwirklicht wird ... die herrliche Versöhnung, wo kein Wort von Verfehlung und Vergebung gesprochen wird, sondern wo die Versöhnung einfach da ist wie die Sonne, die ausdenWolken hervorbricht. Das schönste Vergeben ist, wo gar kein Vergeben ist, sondern wo einfach das Vergangene begraben wird. Das Vergessen-Können ist das rechte Vergeben ... Dieses unscheinbaren Vergebens müssen wir fähig sein. Nun aber der Fall, daß der andere dein Schweigen nicht achtet und nicht verstehen will. Er deutet es als Schuldbewußtsein deinerseits. Er höhnt und provoziert dich. Er redet mit den Leuten darüber und setzt dich aufjegliche mögliche Weise ins Unrecht. Da denkst du, es seijetzt Zeit, aus deiner Zurückhaltung herauszutreten und die Sache richtig zu stellen. Tue es nicht. Laß geschehen. Wie sich auch der andere verhält: Es entbindet dich nicht davon, ihm im Herzen zu verzeihen. Und verzweifle nicht. DasVerzeihen, dasin dir ist, ist eine wirkende Kraft. Wenn der Frühling kommt, dauert es lange, bis das schmutzige Eis in den Straßenrinnen und zwischen den Häusern der Menschen zum Schmelzen kommt. Auf den Feldern und auf den Wiesen sind Schnee und Eis schon fort. Aber das schmutzige Eis in den Straßen der Dörfer und Städte, das im Schatten der Häuser der Menschen liegt, will nicht

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Predigten

aus demJahr 1934

weichen. Und doch kommt derTag, daes weicht: Wenn die Sonne stark genug ist und es lange genug bescheint.|2¡ Vielleicht stirbst du, ehe der andere dein Verzeihen angenommen hat. Oder er selber stirbt, ehe dieVersöhnung zustande kam. Dann folgt dasVerzeihen in die Ewigkeit ... Ich habe ganz nüchtern von der schweren Sache des Verzeihens zu euch geredet. Denn so viel versäumen wir im Verzeihen, nicht weil wir nicht den guten Willen haben, sondern weil wir es nicht recht anzufangen wissen. Zum Verzeihen gehört Klugheit. Nicht die Klugheit der Welt, sondern die Klugheit, die aus dem Herzen kommt, die Klugheit, die die Geheimnisse der geistigen Dinge kennt.|3¡ Jeder trägt einen alten Schutthaufen in seinem Herzen. – Siehe: Wir wollen den Willen haben und den Mut hernehmen, ihn abtragen zu wollen. Und wenn wir dies haben beim Hinausgehen, dann war dieser Gottesdienst gesegnet. – Möge Gott uns helfen zu dem, wasgetan werden muß in seinem Geiste.|4¡

2 [In einer englischen Übersetzung im Zentralarchiv Günsbach, deren Schluß erhalten ist, heißt es:] «Ausdiesem Grund sage ich euch: Habt Bereitschaft zumVerzeihen in euren Herzen, Vergebung und Sonnenschein. Macht es wie die Sonne!» 3 [Hier folgen Stichworte bis zum Schlussabschnitt. In der englischen Übersetzung heisst es hier noch:] «Ich wollte euch Mut machen zumVerzeihen. Ich wollte euch zum Nachdenken führen über die Bedeutung des Satzes: ‹Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern›, damit diese Bitte für euch nicht nur ein Wort bleibt,

sondern eine Kraft zumVergeben wird.» 4 [Die englische Übersetzung fügt hier an:] «In wenigen Wochen ist es Advent, von dem es in der Offenbarung so wundervoll heißt: ‹Siehe, ich stehe vor derTür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird und dieTür auftun, zu dem werde ich eingehen.› Jesus fragt uns im Advent: Ist dein Herz bereit, mich aufzunehmen? Und in unsern Herzen gibt es so viele Dinge, die wir nicht vergeben haben, und in ein solches Herz kannJesus nicht kommen. Darum wirf im Blick auf den Advent alles aus deinem Herzen, was nicht vergeben ist. Leer dein Herz! Vergib in Demut und Stille. Möge Gott uns allen helfen, diese schwerste Liebe zu üben, die Liebe desVerzeihens.»

XXVI. Predigt ausdemJahr 1948

Sonntag, 8. August 1948, Lambarene|1¡ Ansprache bei derTaufe von Roland Mittner

[Ohne Text]

Wir sind hier vereinigt, um ein hier geborenes Kindlein durch die Taufe in die Kirche Christi aufzunehmen und Gott zu weihen. Es soll der Gnade der Taufe von den ersten Tagen seines Lebens an teilhaftig sein. Indem wir es zur Taufe bringen, wollen wir nicht einfach einem ehrwürdigen christlichen Brauch folgen, sondern wir tun dies, weil wir daran halten, daß es getauft werde. Indem wir es zurTaufe bringen, geben wir unserem Willen Ausdruck, daß es schon jetzt, wenn auch unbewußt, der Zahl der Christen angehöre durch die empfangene Taufe, und daß es darnach trachte, wenn es erwachsen ist und die geistigen Dinge begreifen kann, in Wirklichkeit Christ zu werden, zu halten, was in der Taufe für es gelobt worden ist. Wenn es anfängt, über sich selber nachzudenken, soll ihm gegenwärtig sein, daß es von seiner Geburt an durch den Willen seiner Eltern bestimmt war, Gott und seinem Erlöser anzugehören. Es soll wissen, daß es einen Herrn hat, Jesus Christus, und eine geistige Heimat, dasReich Gottes. In seinem Sinnen soll ihm dasGeheimnis aufgehen, daß es nicht nur der sichtbaren Welt, sondern auch einer unsichtbaren, geistigen angehört, und daß es nicht nur darauf bedacht sein soll, wie es in dieser Welt etwas wird und es zu etwas bringt, sondern auch, wases seinem inwendigen Menschen nach wird. Es soll nicht nur um die irdischen Dinge, sondern auch um seine Seele besorgt sein. Eine ununterdrückbare Sehnsucht, ein Kind Gottes zu sein, soll in seinem Herzen wohnen. Es soll sich verpflichtet fühlen durch die Taufe, die es als Kind empfangen hat, und aufrecht erhalten werden durch das Bewußtsein, Christus von Kind auf anzugehören. Wo wir es jetzt zur Taufe bringen, wissen wir nichts über das, was ihm im Leben beschieden sein wird. Wird es nach menschlichem Ermessen ein glückliches Dasein haben oder werden Sorgen und schwere Erlebnisse sein Los sein? 1 [Der Täufling war im Spital als Kind von Eltern aus der Schweiz geboren worden.]

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Predigt

aus demJahr 1948

Eines aber wissen wir: Das eine, worauf es ankommt, ist, daß es den Herrn Jesus gesucht und gefunden hat.Wenn es seine Stimme in seinem Herzen vernommen hat, wenn es durch sein gewaltiges Wort «Washülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, damit er seine Seele wieder löse?» [Mt. 16,26] ... berührt ist, ist es auf demWeg zum wahren, zum innerlich Glücklichwerden. Es hat denWeg gefunden, der zum Leben führt. Möge diesem Kinde beschieden sein, zu erleben, «daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen» [Röm. 8,28]. Möge es der innerlichen Stimme, in der sich ihm Gottes Wille offenbart, gehorsam sein und im tiefsten und schlichtesten Sinne ein frommer Mensch werden. Möge Gott seinen Geist in ihm wohnen lassen und es durch diesen stärken, den guten Kampf zu kämpfen [I Tim. 6,12], den Kampf, der uns allen bestimmt ist, denwir führen müssen, um unserer Seele treu zu bleiben und daszuwerden, wozu wir von Gott bestimmt sind. Dies ist es, was wir für dieses Kind erwünschen und erhoffen, indem wir es zur Taufe bringen. Möge es in Erfüllung gehen ... Das walte

Gott.

XXVII. Predigten ohne Datum

[Ehrfurcht vor einander]|1¡

Mt. 7,12: Alles, wasihr wollt, daß euch die Leute tun, dastut ihr ihnen auch

Das soeben ausder Bergpredigt verlesene WortJesu ist nicht auf den ersten Blick besonders tief. Es enthält eine fast zu alltägliche Lebensregel, die mit dem Gemüte desMenschen scheinbar nichts zu tun hat. Ein Gesetzeslehrer mit etwas Herz und Sinn – und es gab deren sicher zujener Zeit – hätte ungefähr dasselbe sagen können, wie man denn auch annimmt, daßJesus mit diesem Worte nur einen Rabbinerspruch, der damals umging – «Was ihr nicht wollt, daß euch die Leute tun, das tut ihr ihnen auch nicht!» – auf seine Art wiedergegeben habe. Wie dem auch sei, dasVorkommen dieses Spruches in der Bergpredigt hat seine Bedeutung. Jesus fordert darin eine Beobachtung des Seins und Tuns den anderen Menschen gegenüber, bei der wir davon

ausgehen, daß wir erwägen, was uns selber von ihnen angenehm oder unangenehm ist. Und da merkt man gleich, wie tief das Wort in das Menschenleben eingreift. Es handelt sich nicht um Liebe undMaß, sondern mehr um die indifferenten Dinge desLebens. Für gewöhnlich faßt man dasunter dasWort «Takt» zusammen. Wer diese Selbstbeobachtung hat, wird taktvoll, wer sie nicht hat, taktlos genannt. Nun möchte ich, daß wir, durch dasWort Jesu berechtigt, in unserem Gottesdienst darüber nachdächten, was wir unter Takt verstehen, wie wir vor vierzehn Tagen uns mit der Dankbarkeit befaßten, wobei wie ich glaube, manche Saite, die wir schon lange nicht mehr berührt hatten, in uns wieder erzitterte. Haben wir als religiös denkender Mensch die Vorstellung von Takt, wie sie gang und gäbe ist, oder ist es hier wie bei der Dankbarkeit, daß eine tiefere, geistigere Lebensauffassung uns auch manches, was zum Takt gehört, feiner und wärmer empfinden läßt, als es bei der gewöhnlichen Auffassung der Dinge der Fall ist? 1 [Diese Predigt ist als Maschinenabschrift im Zentralarchiv in Günsbach ohne Angabe von Ort und Datum.]

1368

Predigten ohne Datum

Mit der Beschreibung destaktlosen Menschen brauche ich mich nicht aufzuhalten. Er ist euch schon oft über die Straße und ins Haus gelaufen, der Mensch, der da, als müßte es so sein, alles fragt, immer seine Meinung auspackt, immer das unrechte Wort am unrechten Platz bringt, nicht bös ist und doch so viel Böses und so viel Unfrieden schafft, als ein böser es vermag. Warum sind die Menschen taktlos? Die einen sind es, weil ihnen alles Empfinden von Natur aus dafür fehlt oder weil sie es verloren haben, insofern sie keine richtige Herzenserziehung bekamen und bei sich selbst nicht darauf achteten. Es sind das die naiv taktlosen, die in dieselbe Klasse gehören wie die naiv undankbaren, die Menschen, die im nicht guten Sinn geblieben sind wie die Kindlein. Daneben sehen wir Menschen, die die Fühlhörner, mit denen wir den anderen die Dinge an- und abempfinden, nicht verloren haben und in manchem sehr feinfühlig sind, aber in gewissen Umständen und Augenblicken die anderen vor den Kopf stoßen und verletzen und Schaden anrichten, wie man es nicht erwarten würde. Oft sind es Menschen von einer herzlichen Herzensgüte, die aber dann trotzdem in manchen Dingen unbrauchbar werden, weil sie wie ein Kurzsichtiger über die geringsten Anlässe stolpern und alles in Unordnung bringen und da schaden, wo sie nützen wollten. Wenn wir von uns selber reden, so haben wir alle den Gedanken, daß wir uns zu den taktvollen Menschen rechnen, daß wir uns dessen befleißigen, weil wir wissen, welche Rolle es im Leben spielt und wie untüchtig ein Mensch ist, der nur sein Herz und seinen Impuls, aber nicht die rechte Selbstbeobachtung hat. Aber gestehen müssen wir uns doch alle, daß wir auf vieles, was uns peinlich ist, zurückblicken müssen, daß unsere Arbeit an uns nicht so ernst war, wie sie hätte sein sollen. Ein paar Punkte möchte ich aufzählen, und ich glaube, es wird mirjeder im Innern recht geben. Zunächst handelt es sich um das Fragen. Man diskutiert viel über die Wahrhaftigkeit, und wir sehen es tagtäglich um uns, daß die Menschen sich gewöhnt haben, mit kleinen Unwahrhaftigkeiten umzugehen, als ob sie falsche Scheidemünzen gebrauchten. Kommt das alles von Leichtfertigkeit und mangelndem Wahrheitssinn? Nein, sondern mehr als zur Hälfte kommt es von den Menschen, die fra-

gen. Ich rede jetzt nicht von den ausgesprochen neugierigen Fragen, wo ein Mensch meint, der andere sei ihm als Beute ausgeliefert und müsse über alles Rede und Antwort stehen, wie man das so oft sieht, und wo die unbeholfenen, schüchternen Menschen gefangen werden wie die Mücke im Netz der Spinne und gar zu oft sich durch Lügen herausreißen, statt den anderen auf den rechten Platz zu stellen, sondern ich rede von den unbedachten Fragen. An der Unwahrhaftigkeit sind immer

Alles, was ihr wollt

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zwei schuld: der, der fragt, und der, der antwortet. Und oft ist der Fragende schuldiger als der Antwortende. Hier nehmen es auch die Menschen, die von Natur aus nicht gerade bös neugierig sind, zu leicht. Sie überlegen sich nicht, ob diese Frage den andern nicht in Verlegenheit bringen kann und damit in Versuchung, sich mehr oder weniger wahrhaftig herauszureden. Man sieht gar manchmal, wie durch irgendeine Frage ein Mensch in Verlegenheit kommt. Nicht alle sehen’s! Manche sind so abgestumpft, daß sie die leichte Verlegenheit dem andern nicht einmal anmerken. Oder sie merken es und denken nur: Hier muß etwas dahinter liegen! Tu, als merktest du nichts, spiele den Unbefangenen und frage weiter! Was daraus manchmal entstehen kann, habt ihr an euch und andern genug erfahren. Aber es ist so schwer, daß die Menschen sich selber beherrschen, und wenn sie dieVerlegenheiten bei einem andern bemerken, nun unauffällig einen andern Weg einschlagen, weil sie dann immer irgendwie den Gedanken haben, es müsse hinter der Verlegenheit sich irgend etwas Schlechtes verbergen, wo sie dann einem Menschen gegenüber, der ihnen nicht besonders nahesteht, fast alle Rücksichten fallen lassen oder der wach gewordenen Neugier nachgeben. Und sie könnten es doch aus sich wissen, daß wir aus den mannigfachsten Gründen gar oft in die Lage kommen, über dies undjenes keine Auskunft geben zu können, das an sich nicht bös, sondern gleichgültig ist, und wie dankbar wir den Menschen sind, die uns nicht in Verlegenheit bringen und uns nichts entreißen wollen. Für diese Schonung und feinere Empfindung für das, waswir für unsbehalten wollen, gilt sicher dasWort Jesu: «Was ihr wollt, daß euch die Leute tun, das tut ihr ihnen auch!» Noch in einer anderen Frage heißt taktvoll sein, sich der Verantwortung gegen die Menschen bewußt werden, nämlich in dem, was wir über sie oder von dem, was sie angeht, von andern erfahren können. Es ist merkwürdig, wie leicht auch feinere Menschen da dem verrohenden Geist der gewöhnlichen Anschauung erliegen. Die gewöhnliche Anschauung sagt: Was du erfahren kannst, das darfst du ruhig zu erfahren suchen. Da wird alles unternommen! Man bringt die schwatzhaften Leute zum Reden, man fragt Kinder aus, man animiert diejenigen, die auch in ihren Mitteilungen über andere sich unvorsichtig gehen lassen. Man übt auch ein sich unschuldig und brav gebendes Aushorchen und Ausspionieren und bedenkt nicht, daß dasjenige, wobei man die Unreifheit oder die weniger guten Instinkte der Menschheit benutzt, nichts Gutes sein und nichts Gutes schaffen kann, auch wenn einem niemand direkt sagen kann, daß man gerade darin und darin schlecht gehandelt habe. Die meisten Menschen meinen, und wir selbst reden uns das ein, man hätte seine volle Bewegungsfreiheit, wo man mit Worten und

1370

Predigten ohne Datum

Überlegung nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden kann. Ich habe schon manchmal den Einwand gehört: Wenn ich dies oder jenes, worauf es mir ankommt oder was mir einmal nützlich sein kann, von Dritten über einen Menschen erfahren kann und ich tue es, was soll daran Schlechtes sein?

Widerlegen läßt sich hier nichts; denn da gibt es keine Beweise. Es ist hier wie bei den Farben. Diese hören nicht da auf, wo man nicht mehr genau zwischen gelb und rot und blau und violett unterscheiden kann, sondern gerade in den wunderbarsten Schöpfungen der Natur sind sie so gemischt, daß keiner eigentlich der Farbe einen Namen geben kann – und doch ist es Farbe. So ist es auch im Leben. Es gibt viele Handlungen, wo man die Worte gut oder böse nicht mehr in der gewöhnlichen Art begründen und anwenden kann, weil hier so vieles durcheinander geht und die Nuancen so fein sind, daß die Worte nicht mehr ausreichen, und doch sind die Handlungen gut oder bös – nur daß das ernste innerliche Gefühl des Menschen darüber entscheidet als Richter, gegen den es keinen anderen Appell gibt. Für den, dersich anhält, dieDinge ernst aufzufassen ist dieFrage nicht die, ob er dieses oder jenes über einen Menschen oder seine Angelegenheiten mit mehr oder weniger Geschicklichkeit und unter Benutzung der geistlichen und sittlichen Schwächen Dritter erfahren kann. Er sagt auch nicht: Die Verantwortung mögen die tragen, die es mir gesagt haben, ich habe sie doch nicht gezwungen, sondern er fragt sich, ob es im Willen jenes anderen liegt, daß er sich über das und jenes Kenntnis verschafft; und wenn er dasGefühl hat, daßjener selbst es ihm nicht mitgeteilt hätte, hat er dasEmpfinden, er hätte esirgendwie gestohlen. Wenn man dies vor den Menschen ausspricht, wird man oft verlacht als eigenartig und schrullenhaft, und doch hat es eine tiefe Bedeutung, daß wir Menschen, die so eng aufeinander wohnen, daß wir uns ins Haus und ins Leben hinein schauen können, eine Ehrfurcht voreinander haben und dem andern nicht stehlen, was er uns nicht selber gibt. Auch von unsern Angelegenheiten und Gedanken sind manche in den Händen anderer, die wir nicht möchten in jede Hand gelangen lassen. Wie können wir uns aber selbst in den Besitz derselben Dinge setzen, die von einem andern in den Händen Dritter ruhen? Wir brauchen die Ehrfurcht der andern für uns und unsere Angelegenheiten, wir haben es nötig, daß sie nicht alles, was sie erfahren könnten, nun auch zu erfahren suchen. Für diese Ehrfurcht, die wir einander entgegenbringen müssen, gilt sicher: «Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute tun, das tut ihr ihnen auch!» Zum wahren Takte gehört auch, daß wir uns der Verantwortung bewußt werden in Beziehung auf das, was wir von einem oder über einen Menschen in der Hand haben. Wir haben ja alle etwas von andern in

Johannes der Täufer

1371

Händen, Worte, Gedanken, Urteile über Menschen, Handlungen, und ungewollt kommen wir manchmal in Mitwisserschaft von Dingen, die einen andern betreffen. Da unterscheiden sich die Menschen in der Art, wie sie damit haushalten. Viele meinen, man könne den Gebrauch davon machen, den man wolle, wenn es nicht direkt als ein Geheimnis bezeichnet sei, oder wenn einem nicht ausdrücklich Schweigen auferlegt worden sei. Nun geben sie unbedacht heraus oder gehen damit hausieren; und wenn sie nachher sehen, was sie angerichtet haben, entschuldigen sie sich laut, daß sie nicht hätten einsehen können, warum man dasnicht weitersagt, und können auch ganz ruhig sagen, daß sie die Folgen wirklich nicht hätten voraussehen können, da sie ja nur durch eine Reihe ganz unerwarteter Zufälle sich so gestaltet hätten.|2¡

[Johannisfest]|3¡

[Mt. 11,11: Johannes derTäufer]|4¡ Alljährlich an dem Sonntag, der dem Fest Johannes des Täufers am nächsten liegt, fühle ich dasBedürfnis, euch von ihm zu reden. Wir wissen sehr wenig von ihm, und fühlen uns doch menschlich zu ihm hingezogen, weil so etwas Tragisches über seinem Leben liegt. Nur ganz kurze Zeit war es ihm vergönnt, zu wirken. Dann schlossen sich die Pforten des Gefängnisses hinter ihm. Nun hört er dunkel, was draußen vorgeht, daß ein Größerer als er aufgetreten, daß dieser Zeichen und Wunder tut, daß das Volk ihm anhängt. Er schickt seiner Jünger zween, um von ihm zu erfahren, wer er sei, und ehe diese zurückkommen, tritt der Henker in seine Zelle und fordert sein Haupt. Um der Laune eines leichtfertigen Mägdleins willen muß er sein Leben lassen. Und von diesem Menschen, dessen Leben Unglück war, sagt Jesus, daß er der Größte ist unter denen, die je vom Weibe geboren worden sind. Warum das? Weil er so selbstlos war. Er wollte nichts für sich, keine Ehre, keinen Namen, sondern er tat alles nur im Hinblick auf etwas, daskommen sollte, und wußte zum voraus, daß vor dem künftigenVollkommenen sein Unvollkommenes verbleichen würde. Und das entmutigte ihn nicht! 2 [Der Schluß fehlt.] 3 [Das Originalmanuskript hat keinerlei Angaben über Ort und Zeit.] 4 [Unter allen, die von Weibern geboren sind, ist nicht aufgekommen, der größer sei dennJohannes derTäufer.]

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Predigten ohne Datum

Was war dieses Neue? Es war das Kommen eines neuen Geistes. Er wußte nicht Namen noch Tag noch Stunde, wann es geschehen sollte, aber er predigt und verheißt gewiß, daß einer kommen wird, der die Welt mit dem heiligen Geiste taufen soll. Und diesem Geist bahnt er denWeg. Dasist seine Lebensaufgabe. Gibt uns dieser Mensch nicht zu denken? Jesus ist gekommen, er hat der Welt den Geist gebracht ... und doch ist so wenig Geist Jesu unter den Menschen. Du verspürst seinen Hauch draußen in der Welt nicht. Es ist, als ob er an die Menschen nicht herankäme. Warum nicht? Es sind nicht genug Johannesnaturen in der Welt, die es sich zur Aufgabe machen, dem Geiste Jesu bei den Menschen die Wege zu bereiten. Wir tun es nicht genug! Ich rede nicht davon, daß wir ihn hienieden [im Stich lassen] durch das, waswir reden und tun, wo sich dann die Leute fragen, wo denn bei uns der Geist Christi bleibt, wenn sie uns hart, lieblos, neidisch, kleinlich, rachsüchtig sehen. Das ist eine Sorge, die wir alle kennen, daß wir in unserm Leben um uns her den Geist Jesu aufhalten, und fühlen, wie wir in unserer Schwäche den Menschen um uns her oft ein Hindernis sind, daß sie an eine Wirkung des Geistes Jesu nicht glauben. Ich meine, jeder ernste Christ hat diese Traurigkeit schon gekannt. Aber davon wollen wir nicht reden, sondern von dem, was wir trotz unserer Schwäche tun wollen und tun können. Was machte den Täufer so stark? Sein Glaube an das Kommen des Geistes. Nur ein hoffender Mensch ist eine Kraft in der Welt. «Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht» [Hebr. 11,1]. Johannes mußte an den Geist glauben, weil er noch nicht wußte, wases war; und wir, weil wir ihn seit 2000 Jahren an der Arbeit sehen und uns nicht vorstellen können, wie er eine Kraft an allen wird, sondern sehen, wie viel stärker die Menschengleichgültigkeit und die Menschentorheit gegen den heiligen Geist ist und was für Kräfte ihm entgegenarbeiten. Jetzt eben in diesen Tagen legt der französische Gouverneur von Madagaskar der protestantischen Mission alle Schwierigkeiten in denWeg, weil sie die Eingeborenen nicht zu Arbeitstieren macht, sondern sie geistig hebt. Und davor hat jener Regierungsmann Angst, daß jene Menschen durch den Geist Christi frei gemacht werden. Wie wenig Menschen glauben heute noch an die Zukunft des Geistes Christi, daß er eine Kraft werden wird? Es ist kein Sehen, sondern es ist ein Glauben. Nur Menschen, die an den Geist glauben, können etwas wirken. Wer von uns nicht die Zuversicht hat, daß wir einer Morgenröte entgegengehen, der kann nicht auf die andern wirken. Wer sie aber hat, von dem geht eine Helligkeit auswie von denWolken desHimmels, die zu erstrahlen beginnen, lange ehe die Sonne aufgeht. Ein solcher Mensch war der Täufer. Darum stand er so frei unter sei-

Nun lässest dudeinen Diener

1373

nem Volk, frei von Gunst und Ungunst, frei von Schriftgelehrsamkeit, frei von Angst vor den Herren und konnte die Seinen aus der dumpfen Betäubung, in der sie dahinlebten, aufwecken. So merkt man es auch jedem Menschen an, ob er an die kommende Herrschaft des Geistes glaubt. Wir wollen solche Menschen sein.|5¡ Gott gebe, daß wir so treu sind wiejener!

[Evangelium vom christlichen Sterben]

[Lk. 2,25–30: Nun lässest du deinen Diener in Frieden

fahren]|6¡

Sollte ich dem soeben verlesenen Evangelium eine Überschrift setzen, so würde ich es das Evangelium vom seligen, friedsamen christlichen Sterben nennen. Es ist das Evangelium, das die Kirche seit Alters auf einen der ersten Sonntage nach Neujahr verlegt. Sie hat es getan zunächst wohl, weil die Darstellung des Kindleins im Tempel, wo Simeon es erkennt, ja bald auf die Geburt folgt. Aber kommt für uns zu diesem Äußerlichen nicht noch ein bedeutungsvoll tiefer innerlicher Geist, daß wir an einem der ersten Sonntage im Jahr gerade das Evangelium vom

seligen, friedfertigen Sterben betrachten?|7¡ Eine neue Wegstrecke liegt vor uns, an die 360 Meilensteine. Muß da nicht der Gesündeste und Lebensfrischste unter uns sich fragen: Komme ich bis ans Ende oder werde ich nicht bei einem dieser Meilensteine niedersinken? Wird nicht amJahresende mein Name aufgezeichnet sein unter denen, die der Herr abberufen hat? Ist denn auch nur einer unter uns, der nicht im vergangenen Jahr durch das plötzliche Dahinscheiden eines Verwandten, Freundes oder Bekannten gemahnt worden ist, wie schnell der Tod an uns herantritt? Darum wollen wir an diesem ersten Sonntag imJahr desTodes gedenken. Freilich, die Welt wird das abgeschmackt und krankhaft finden, daß wir gerade jetzt, wo wir mit neuen Kräften und mit neuem Mut in die 5 [Nach einigen Stichwörtern heißt der Schlußsatz:] 6 [Und siehe, ein Mensch war zuJerusalem, mit Namen Simeon; und derselbe Mensch

war fromm und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der heilige Geist war in ihm. Und ihm war eine Antwort geworden von dem heiligen Geist, er sollte den Tod nicht sehen, er hätte denn zuvor den Christus des Herrn gesehen. Und er kam aus Anregen des Geistes in den Tempel. Und da die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, daß sie für ihn täten, wie man pflegt nach dem Gesetz, da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach: Herr, nun lässest du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gese-

hen.]

7 [R] Nichts Äußerliches ohne tiefen Sinn.

1374

Predigten ohne Datum

Arbeit eines neuen Jahres eintreten, des Todes gedenken. Sie hält das nicht für taktvoll, sondern zum guten Ton gehört es, nie vom Tode zu reden. Das kann jeder beobachten, der die Menschen in ihren Gesprächen beobachtet und den Leichenbegängnissen folgt. Kaum sind die ersten hundert Schritte getan und die gewöhnlichen anerkennenden und bedauernden Redensarten wie: Die Seinigen verlieren halt viel an ihm, oder: Es ist ihm ein guter Tag geschehen, oder: Er hat viel leiden müssen, oder: Altershalber hätte er noch lange leben können – verbraucht, dann wendet sich das Gespräch. Man redet von Regen und schön Wetter, vom Nachbarn und vom Freund, von Politik und Geschäften, man gestikuliert, man lacht. Wenn man einem so unehrerbietigen Leichenzug in der Stadt begegnet, da hat man so das Gefühl, daß viele von diesen Leuten bestrebt sind, sich den Anschein zu geben, als gingen sie eigentlich nicht in einem Leichenzug her, als genierten sie sich, einem Sarg zu folgen. Und dann, wie oft kann man das auf Kirchhöfen sehen, daß manche, wenn man die Stätte des Grabes verläßt, nicht warten können, bis das Gitter des Friedhofs hinter ihnen liegt, sondern noch zwischen den Gräberreihen ihre Zigarre anzünden. Nun fragt, warum diese Leute, statt schweigend und ernst, wie es sich geziemt, hinter dem Sarge einherzugehen, mit aller Gewalt von gleichgültigen und weltlichen Dingen miteinander schwatzen, fragt, warum sie der Ruhestätte derToten nicht die Ehrerbietung erweisen die ihr gebührt. Es ist nicht, weil sie den Toten nicht gern haben, es ist nicht, daß sie in ihrem Innern teilnahmslos sind, sondern im Gegenteil, sie fühlen sich eigentümlich bewegt, der Tod, den sie immer vergessen und ignorieren möchten, der steht jetzt da; ob sie wollen oder nicht, hinter dem Sarg auf dem Friedhof müssen sie an ihn denken, und das erfüllt sie mit Unbehagen und mit Schrecken, sie haben Angst, daß plötzlich die Frage vor ihnen auftaucht: Wie wird’s sein, wenn man einst deinen Sarg hinausgeleitet? Darum flüchten sie sich vor ihren eigenen Gedanken; sie fangen an, von gleichgültigen Dingen zu sprechen. sie lachen, um euch glauben zu machen, daß ihnen nicht bänglich zu Mut ist, und gerade weil sie so Komödie spielen mit sich selbst, kommen sie dann so weit, daß sie, um sich über die Furcht vor dem Tode hinauszuhelfen, die natürlichste Ehrfurcht vor dem Tode, wie sie selbst die unzivilisierten Völker beobachten, hintansetzen und höhnen. Diese Furcht vor demTode, die sich über die Ehrfurcht vor demTod hinwegsetzt, dasist die unterste Stufe desTodesgedenkens, freilich auch die am meisten verbreitete. Es ist die weltliche, unfromme Art, des Todes zu gedenken.|8¡ 8 [R] Leichtsinn – Gedankenlosigkeit.

Nun lässest du deinen Diener

1375

Welches ist aber die christliche Art, desTodes zu gedenken? Es gibt auch eine christliche Furcht vor demTode, wo dasängstigende Todesgedenken in den Mittelpunkt des Lebens gerückt wird, wo der Mensch eigentlich nur auf derWelt ist, um sich in steter Furcht vor demTode auf sein Ende vorzubereiten. Ich brauche euch von diesem Todesgedenken nicht viel zu sagen. Es ist mehr die katholische Art, ich möchte fast sagen, die mönchische Art.|9¡

9 [Die Fortsetzung desManuskripts konnte bisher nicht gefunden werden.]

Liste der unveröffentlichten Predigten VonRichard Brüllmann

Es handelt sich um Skizzen, die stichwortartig den Verlauf der Predigt aufzeichnen. Mit A wird darauf hingewiesen, dass die Skizze als ausge-

führte Predigt vorliegt.

I. Predigten desJahres 1898 31. 7. 1898

Mt. 7,17– 21A

II. Predigten desJahres 1901 17. 3. 1901

Joh. 18,33–38A

1. 9. 1901

Mt. 16,13– 20A

15.

Mt. 16,1A

9.1901

III. Predigten desJahres 1902 6. 4.1902

6.4.1902

25.12.1902

Mt. 13,31–32A Mt. 21,22 Eph. 1,3– 6

IV. Predigten desJahres 1904 12.5.1904

Phil. 3,20A

V. Predigten desJahres 1906 18. 2. 1906

I Tim. 6,6A

3. 6. 1906

Lk. 16,10

15.10. 1911 10. 12. 1911 17. 12. 1911 24. 12. 1911

23.8.1908

Phil. 2,1–4

VII. Predigten desJahres 1911 19.3.1911 25. 6. 1911 16. 7. 1911

Mt. 16,26 Mt. 11,7 Joh. 6,63

Jes. 40,3 A

Lk. 2,1– 20

VIII. Predigten desJahres 1912 7. 1. 1912

Phil. 4,5

18. 2. 1912

25.2.1912 1. 3. 1912

I Kor. 4,20A Apk. 2,10A Mt. 26,6– 13

7. 1912

Mt. 13,24– 30

14. 1. 1912

Mt. 7,13

IX. Predigten desJahres 1913 2. 3. 1913 9.3.1913

Mt. 18,3A Phil. 4,7A

X. Predigten desJahres 1918 25.8.1918 3. 11. 1918

24. 11. 1918 15. 12. 1918

VI. Predigten desJahres 1908

Mt. 7,17 Dan. 7,13

22. 12. 1918 29. 12. 1018

Jes. 65,1 I Petr. 5,7 + Gal. 6,2A

Apk. 21,4A Jes. 40,31

Ps. 40,9A I Thess. 5,18A

XI. Predigten desJahres 1919 1. 1. 1919

2.2.1919

16. 2. 1919

23.2.1919

Joh. 16,33

Mk. 6,1–6A Mk. 12,28– 34A Röm. 14. 7A

Liste derunveröffentlichten Predigten

1378

2. 03. 1919 9. 3. 1919 16. 3. 1919

16. 3. 1919 30. 3. 1919 6. 4. 1919 13.4.1919 18. 4. 1919 18. 4. 1919 20.4.1919 20. 4. 1919 21. 4. 1919 4. 5. 1919 4. 5. 1919 11. 5. 1919

11. 5. 1919 11. 5.1919

25. 5.1919

25. 5.1919 29. 5.1919 1. 6.1919 1. 6. 1919 8. 6. 1919 15. 6. 1919 15. 6. 1919

20. 7. 1919

27. 7. 1919 24. 8. 1919 7. 9. 1919 21. 9. 1919 30. 11. 1919 7. 12. 1919 14.12.1919 25. 12. 1919

28. 12. 1910

Prov. 12,10 A Mk. 8,31–9,1 Mk. 10,42 Mt. 7,1A Mt. 5,39 + Mt. 18,21A

Mt. 26,31– 35

Röm. 8,14 Mt. 16,24

Mt. 26

Röm. 6,11

Lk. 24,36 Lk. 24,36 Röm. 14,12A I Thess. 1+2 A

ohne Text A Lk. 12,33 A

I Thess 3 Hebr. 13,16A I Thess. 4 II Kor. 5,7

Gal. 6,9

I Thess. 5,1– 11 I Thess. 5,19 I Petr. 4,10A I Thess. 5,12 Phil. 4,5A I Thess. 5,18A Prov. 12,28 A Eph. 4,25A ohne Text Propheten 1 Propheten 2 Ez. 36,26A Lk. 12,13 f. Lk. 2,10 f.

XII. Predigten desJahres 1920 4. 1.1920 11. 1. 1920 18. 1. 1920

25. 1. 1920 8. 2. 1920

7. 3. 1920 14. 3. 1920 21. 3. 1920 1. 4. 1920

2.4.1920

Lk. 2,52 ohne Text Lk. 4,28– 34 I Kor. 12,3 Mt. 16,13

Mt. 19,13– 15 Mt. 26,47– 54

Mt. 26,31– 35 Mt. 26,26– 29

Mt. 27,57–61

11. 4. 1920

18. 4. 1920 11. 7. 1920

18. 7. 1920 25. 7. 1920 1. 8. 1920

8. 8.1920 15. 8.1920 21.8.1920

22.8.1920

29. 8. 1920 5.9.1920 12. 9.1920

Ps. 104,24

II Kor. 5,17 4,26– 39 Joh. 4,24 I Thess. 5,17 Mk.

I Kor. 13,12

Mt. 6,10 Gal. 5,1 Ps. 37,5 Act. 26– 39 Act. 4,32– 5,11 Act. 5,17–42 Act. 6– 8

26.9.1920 3.10.1920 3.10. 1920

Phil. 3,20

24. 10. 1920

Ps. 50,14– 15

31. 10. 1920

Ps.

17.

10.1920

5.12.1920

12. 12. 1920 19.

12.1920

25.12.1920

Act. 9,1–9 Act. 11 + 13

Mt. 13,12

78,1– 4

Dan. 7 Mk.

8,27– 29

Jes. 40,3 Lk. 2,11

XIII. Predigten desJahres 1921 1. 1. 1921

2. 1. 1921 9. 1. 1921 16. 1. 1921

23. 1. 1921

13. 3.1921

2.3.1921

24. 3.1921

25. 3. 1921 27. 3.1921 3. 4.1921 10. 4. 1921

5.

5.1921

I Kor. 13,13

Joh. 7,16– 17 Lk. 16,19– 31 Mk. 1,9– 11 Act. 14,16– 17

Mt. 26,62– 63 Mt. 21,1– 11 Mt. 26,26– 28

Mt. 27,57–60 II Kor. 5,7 I Thess. 5,19 I Kor. 13,8

Hebr. 13,14

XIV. Predigten desJahres 1932 3.4.1932 12. 6.1932 7.8.1932

Phil. 4,8

4.9.1932

18.9.1932

Röm. 8,14 Mt. 6,12

18. 9. 1932

I

21. 8.1932

Mt. 25,14– 30

Ex. 20,8 Mt. 25,14– 30

Thess. 4,11

Liste der unveröffentlichten Predigten

1379

XV. Predigten desJahres 1934

XVII. Predigten desJahres 1949

8.4.1934

16.

5. 8.1934

Mt. 10,38 Mt. 6,12– 15

1.1949 17. 4.1949

Eph. 3,17

Ps. 26,8

XVI. Predigt desJahres 1948

XVIII. Predigt desJahres 1959

12.12.1948

5.7.1959

ohne Text

ohne Text

Register VonRichard Brüllmann 1. Bibelstellen als Predigttexte

a) Altes Testament Gen. 472 4,9 1334 32,25– 27 Ps. 23

481

34,9

1196

40,9 50,14 50,14 f.

481 398

51,12

1219

1212 210

62,2 139,1– 12, 23 f. 364 Prov. 12,10

1245

Koh. 1,2

88

Jes. 9,1 40,3

52,13– 53,9

427 866,1155 355

1327

Dan. 7,13

869

Am. 8,11 f.

3,1– 10

5,3 5,4 5,5

5,7 5,8 5,9

5,13 5,13– 15 5,14– 16 5,15 5,37

5,39 6,10 6,12

6,14 f.

6,25– 33 7,1

Ez. 36,26

b)Neues Testament Mt. 1066 2,10 f.

600

Sach.

4,6

582

9,9

1179

7,7 f. 7,7– 11 7,11

7,12 7,13 7,17– 21 7,21

9,2

10,16 10,38

11,2–6

200

165,194 169, 244, 285 189,1137

185 196 153, 801 655 340 310

623 849 1261

519,1087 1159,1360 854

228, 878 1253

549 258 496

406, 1367 1157 62

330

788 797

980, 1104

97, 699

11,11

1371

11,3

972

11,28– 30 12,36

12,38– 41 13,3–9

1141

694 322

286

1382

Register

13,12

13,24– 30

368 706

13,30 13,31 f. 13,33 13,52

379 856 736

14,22– 32 15,21–28 16,13– 20 16,21 16,21– 24 18,3

18,20 18,21 18,21– 35 18,23– 33

20,20– 23 21,5

21,45 f. 22,1– 14

22,2–

13

22,14 25,1– 10 25,14– 30 25, 23

26,6– 13 26,17– 19 26,26– 28 26,26– 30 26,36– 46 26,47– 50 26,69– 75 27,11– 26 27,21– 26 28,18– 20 28,20

1354

686

58, 439

316

1030 236

472, 675, 1014, 1186 907 1261

772 955

1033

250, 1101 129 179

142

841 597

214, 403, 939 160

464, 731 649 818

462

635 810 717

8,36 8,36 f. 9,14–27 9,32 9,33– 35 9,38–40

10,13– 16 10,17– 27 10,26 f. 10,35–40 10,45 10,46– 52 12,28– 34 12,41–44 14,22– 24 14,32–42 14,61

1,41 f.

352 615 577

6,47– 49 9,51– 56

515

3,22– 30 3,29 f.

279

1147

17,11– 19 17,20 f.

1057

1063 785

1017

3,4 4,14– 30 5,1– 11 5,4– 11

792

1229

374

607

1,21 f.

6,17– 29 6,31 8,27– 29

241

2,52

11,1

584

253

102

2,25– 30

1,17

4,26– 29 6,1– 6

1233

640

2,10 f.

542

845

419 377, 726, 895, 903 529

205

12,49 13,6– 9 13,23– 30 14,28– 33 16,19–31

3,31– 35

114

293 900

1,68– 80

611

Mk.

1095 1083 1076

Lk.

9,62 10,17– 21 10,25– 37 10,29 10,38–42

984 147

1145

990 740

18,9– 14 18,18– 30 19,46 23,34 24,36

1373

512

332 413 603 386

392 831

508 460

502

691

296 488 943 661

486 586 65 422

733 1112, 1116

1383

Register

Joh.

1267

1,12

702

14,12 15,13

3,30 5,39 6,63

574 338

I Kor.

1132

2,10

999

7,17 f. 8,12

522 256

2,13

925

8,31– 36 11,46– 54 12,32 f. 14,6– 10 14,11 f. 14,18

14,27 15,5 15,9 15,9– 16 15,26 16,12– 14 16,13

16,22 17,9– 19 18,33– 38 21,1– 17 21,15– 18

400 232

836 539 590 873

262

246, 644 274 566

1,7

2,1 6,3– 11 6,10 f. 8,15

887 572

821

1021

8,22 8,28 8,31 f.

959 327, 891 452

12,2

950

12,12 12,15 12,18

1041 118,

12,5

14,7

931

1121 1239

106

1048

1323

859 78 183

II Kor. 1,3– 5 3,6

722

766 535

133, 527, 1098

5,17

1108

5,17– 21 8,7–9 12,9 12,9 f.

173

Gal. 2,16– 21 4,6

434 779 137

1162

13,13

4,10 5,15

1124

1271 446 976 936

683

15,57 f.

193

561, 1024, 1167

13,8 f. 13,9

15,25 f. 15,53–57

555 838 390

918

Röm.

13,7

408

1,12

2,1– 12 16,9 17,27 f.

710

12,3 13,4– 7,13

322

271

993

4,2

8,2 f.

219

Act. 1,9– 12

3,21 4,20 7,30

372

491

448 664, 756, 1346 882 436

355

5,1

761, 1010

6,9

921, 1164, 1284

5,1– 13 5,16–25 6,2 Eph. 4,23 4,25 4,25– 32 5,8 f. 6,7 f.

340 782 1203

679 1319

558 748, 1358 414

1384

Register

Phil.

12,1 f.

1,23

249 500

2,5– 10 2,5– 11 2,14 f. 3,12– 14 3,20 4,4–6,7

346, 752 313

361

4,5

384, 467, 553, 745 305 1044, 1294

4,7

1191, 1198

Kol. 1,24

813

3,2– 15

301

546

3,16

I Thess. 5,16

5,18

5,19 5,21

118, 715

2,5

478

13,16

1276

Jak. 1,22

1176 476

5,11

1321

1,17 f.

I Petr. 3,18–4,6 4,1

4,10

4,12 f. 5 5,6 f. 5,7

86 536, 652 1289

689 93 430

1203

I Joh.

1224, 1307, 1315 667, 1036

2,15 f.

631

1072

4,16

1349

I Tim. 6,6–8

II Tim.

442

13,14

713

479

Hebr. 4,15

807

Apk. 2,10

484, 1152, 1172

3,20

357

4,11 14,13 21,4

592 620

21,5 21,7

1208

336 659

2. Predigten ohneBibeltexte Adventsandacht

1336

Bestattungsansprache 182, 1184 [Freude] 203 [Gedanken zur Erntezeit] 81 Gemeinschaft mitJesus 826 Glaubensbekenntnis, 3. Artikel 1127 [Kindheit Jesu] 72

3. Zeiten und Tage im Kirchenjahr Advent 97, 200, 205, 346, 352, 422, 427, 496, 500, 597, 600, 603, 694, 699, 782, 785, 866, 869, 955, 959, 1014, 1155, 1179, 1212, 1219, 1327, 1336

Mission 966 Taufe 1052 Taufpredigt 1352, 1365 Trauung 1288 Über dasWunder 910 400. Geburtstag von Calvin

1004

Heiliger Abend 102, 702 Weihnachten 72, 102, 203, 205, 355, 607, 873, 1017 Jahresende 106, 357, 788, 1157, 1224, 1346

1385

Register

Neujahr 210, 430, 434, 508, 1021, 1334 Epiphanias 966 Epiphanienzeit 615, 797, 972 Oculi 635 Passion 129, 133, 142, 148, 236, 241, 246, 374, 377, 448, 452, 455, 527, 535, 536, 640, 644, 717, 722, 726, 731, 807, 815, 900, 903, 980, 984, 1030, 1033, 1083, 1087, 1095, 1098 Palmsonntag 250, 726, 990, 1101 Gründonnerstag 253, 462, 649, 818,

Karfreitag 147, 652, 733 Ostern 78, 539, 542, 821, 1108 Cantate 546, 661

Rogate 549 Himmelfahrt 160, 271, 467, 553, 745, 836, 918 Pfingsten 279, 390, 555, 558, 667, 838,

1041, 1124 Trinitatis 561, 672, 1044 Johannistag 478, 1371 Reformationsfest 338, 340, 779, 856,

1104

4.

Besondere Anlässe

Amtsjubiläum desVaters 1196 Bestattungsansprache 182, 193, 244, 249, 285, 1184 Calvinjubiläum 1004 Ernte- und Dankfest 493, 592, 691, 1176, Fasching 114, 631, 715 Gedächtnis der Toten des Ersten Weltkrieges 1208 Gedenkfeier für den 200. Todestag Speners 620

Innere Mission 392, 561, 672, 921, 1044, 1289 Jahresfest desliberalen Vereins 1024 Kaisers Geburtstag 801 Konfirmation 250, 990, 1101 Mission 106, 439 Missionsfest 214, 512, 611, 792 Ordination 196 Taufe 1352, 1365 Trauung 748, 936, 1228, 1358 Zweites Examen 173

5. Predigten über die Ehrfurcht vordemLeben 1. Das Wesen des Sittlichen ist Liebe zu Gott und den Menschen 1233 2. Das Wesen des Sittlichen ist Miterleben desandern Lebens 1239 3. Praktische Fragen der Sittlichkeit: Unser Verhalten zur Kreatur 1245

4. Praktische Fragen der Sittlichkeit:

Unser Verhalten zum Mitmenschen 1253 5. Praktische Fragen der Sittlichkeit: Unrecht erdulden 1261 6. Praktische Fragen der Sittlichkeit: Persönliche Verantwortung tragen 1267

7. Praktische Fragen der Sittlichkeit: Ist Besitz berechtigt oder unberechtigt 1271

8. Praktische Fragen der Sittlichkeit: Wer sind die Besitzenden 1276 9. Praktische Fragen der Sittlichkeit: Wie wir geben sollen 1284 10. Praktische Fragen der Sittlichkeit: Dienen ohne Grenzen 1289 11. Praktische Fragen der Sittlichkeit: Höflichkeit und Anstand 1294 12. Praktische Fragen der Sittlichkeit: Dankbarkeit 1307 13. Praktische Fragen der Sittlichkeit: Dankbarkeit 1315 15. Praktische Fragen der Sittlichkeit: Wahrhaftigkeit 1319

1386

Register

6. Predigten infranzösischer

Sprache

Erste Predigt beim zweiten Aufenthalt in Lambarene 1349

7. In denPredigten zitierte

Hochzeit Robert Minder in Günsbach 1358

Lieder

Die Liedertexte werden nach dem Evangelischen Gesangbuch für Elsaß-Lothringen [EL] von 1899 zitiert, das Schweitzer benützt hat. Auf Lieder, die im Evangelischen Gesangbuch [EG] stehen, wird nach der Ausgabe für die Evangelischen Kirchen im Rheinland von 1996 hingewiesen. Die übrigen werden nach denTexten Schweitzers

angeführt. «Ach bleib mit deiner Gnade», Stegmann Josua, 1588– 1632, EL 273, EG 347:

411

«Auf meinen lieben Gott trau ich in Angst und Not», Lübeck vor 1603, EL

408, EG 345: 304

«Befiehl du deine Wege», Gerhardt Paul, 1607– 1676, EL 300, EG 361: 231 f., 433 «Dies ist der Tag, den Gott gemacht», Gellert Christian Fürchtegott, 1715– 1769, EL 17, EG 42: 205, 372 «Dir, Jesus, ist kein Lehrer gleich», von Meyer Joh. Friedr., gest. 1849, Gesangbuch für die evangelischen Gemeinden Frankreichs, Straßburg, 1850: 744 «Eines wünsch ich mir vor allem andern», Knapp Albert, 1798– 1864, EL

39, EG 554: 252 «Ein feste Burg ist unser Gott», Luther Martin, 1483– 1546, EL 103, EG 362: 619, 779 «Gelobet seist du, Jesu Christ», Str. 2–7 Luther Martin, 1483– 1546, EL 21, EG 23: 354 «Gib dich zufrieden und sei stille», Gerhardt Paul, 1607– 1676, EL 303, EG 371: 412, 432, 493 «Gott sei Dank durch alle Welt», Held Heinrich, 1620– 1659, EL 4, EG 12: 209 «Herr, Gott, nun schleuss den Himmel auf», Bach Johann Sebastian, 1685– 1750, Neumeister Choräle: 8: 238

«Hüter, ist die Nacht verschwunden?», Barth Christian Gottlob, 1799– 1862, EL 95: 1168

«Ich hab’ in guten Stunden», Gellert Christian Fürchtegott, 1715–1769, EL 309: 1051 «Ich weiß, woran ich glaube», Arndt Ernst Moritz, 1769– 1860, EL 197, EG

357: 335 «Ich wollt, daß ich daheime wär», von Laufenberg Heinrich, 15. Jahrhundert, EL 336, EG 517: 265 «In allen meinen Taten», Fleming Paul, 1609– 1640, EL 311, EG 368: 433, 481, 553, 1185 «Jesu, meine Freude», Franck Johann, 1618– 1677, EL 238, EG 396: 597, 1223 «Jesus Christus herrscht

als König», Hiller Philipp Friedrich, 1699– 1769, EL 76, EG 123: 919

«Komm, Heilger Geist», von Laufenberg Heinrich, 15. Jahrhundert, EL 379:

667

«Komm,

o Tod, des Schlafes Bru-

der», Bach Johann Sebastian, 1685–

1750, Kantate BWV 56, Schlußchor:

173 «Komm, süßes Kreuz», Bach Johann Sebastian, 1685– 1750. Matthäuspassion

Nr. 66: 654

«Meine Seele senket sich hin», Winckler Johann Joseph, 1670– 1722, EL 313:

332

1387

Register

«Mir ist Erbarmung widerfahren», Hiller Philipp Friedrich, 1699– 1769, EL 200, EG 355: 1289 «Mit Ernst, o Menschenkinder», Thilo Valentin, 1607– 1662, 1657, EL 9, EG 10 : 1213

«Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen», vorreformatorisch nach Notker von St. Gallen, 850–912, EL 338, EG 518: 479, 822 «Nun bitten wir den Heiligen Geist», Str. 113. Jahrhundert, Str. 2–3 Luther Martin, 1483–1546: EL 83, EG 124:

266 «Nun ruhen alleWälder», Gerhardt Paul, 1607– 1676, EL 140, EG 477: 575, 1175

«O daß ich hätte mitempfunden», Strophe 3, Möller, Gesangbuch für die

evangelischen Gemeinden Frankreichs, Strassburg 1850: 219 «O Heilger Geist, kehr bei uns ein», Schirmer Michael: 1606– 1673, EL 85, EG 130: 392, 667, 1124 «O Lamm Gottes, unschuldig», 16.Jahrhundert, EL 52: 454 «Seele, mach dich heilig auf», Kiesel Abraham, 1636– 1702, EL 54: 1083 «Sein Kreuz undseinen Frieden», Weyermüller Friedrich, 1810– 1877, EL 315: 1233

8. Namen,

1213

«Wach auf, mein Herz, und singe», Gerhardt Paul, 1607– 1676, EL 134, EG

446: 41

«Wachet auf, ruft uns die Stimme», Nicolai Philipp, 1556– 1608, EL 354, EG

147: 599, 782 «Was mein Gott will, gescheh allzeit», Albrecht von Preußen, 1490– 1568, EL 322: 194 «Was wär ich ohne dich gewesen», von Hardenberg Friedrich (Novalis), 1772– 1801, EL 205: 410, 704 «Was willst du dich betrüben? Der alte Gott lebt noch», Arndt Ernst Moritz, 1769– 1860, Evangelisches Gesangbuch für Rheinland und Westfalen, Dortmund 1952, 470: 212 «Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht», Gellert Christian Fürchtegott: 1715– 1769, EL 225, EG 506: 1241 «Wer nur den lieben Gott läßt walten», Neumark Georg: 1621– 1681, EL 324, EG 369: 213 «Wie soll ich dich empfangen», Gerhardt Paul, 1607– 1676, EL 14, EG 11: 203, 354, 387, 496, 598, 655, 704, 774, 782, 965, 1183, 1213 «Wie wird uns sein», Spitta Friedrich, 1852– 1924, EL 357: 245, 250

Orte, Sachen

Albigenser 413 Angelus Silesius 102 Anselm von Canterbury 1099 Athanasianum 999 Athanasius 977 Augustin, Aurelius 224, 260, 438, 487, 505, 531, 544, 839, 842, 957

Bach, Johann Sebastian 238, 251, 654, 1067

«Sieh, dein König kommt zu dir», Hiller Philipp Friedrich, 1699– 1769, EL 12:

Bartholomäusnacht 414 Beethoven, Ludwig van 1117

Belisar 107 Bernhard von Clairvaux 206 Björnson, Björnstjerne 322 Bodelschwingh, Friedrich von 397, 1045 Böhme, Jakob 1178 Booth, William 581 Boxeraufstand 233 Brahmanismus 888 Bucer, Martin 153 Buddhismus 888, 1255 Calvin, Johannes 842, 1000, 1004

1388

Register

Calvinisten 621 Christophorus 546 Chrysostomus 224, 422, 547 Curtius, Gerda 1020 Curtius, Olympia 807

Dann, Christian Adam 1248 Dreyfus, Alfred 624, 897 Eckehart 224 Farel, Guillaume 1006 Flammarion, Camille 308 Fichte, Johann Gottlieb 953, 1201, 1221 Francke, August Hermann 269 Franz I. 1005 Franz von Assisi 67, 248, 438, 973 Franziskaner 67 Gardiner Allen 235 Goethe, Johann Wolfgang von 1354 Grimmialp 41, 943, 1160, 1300 Gustav II. Adolf 604 Gustav-Adolf-Verein 163, 933 Haas, Elsa 748 Haeckel, Ernst 1068 Hegel, Georg Wilhelm 310, 839, 1178, 1221, 1254 Heilsarmee 224, 282, 490, 581 Henoch 91 Herero-Aufstand 612 Hillel 407 Hus, Johannes 278, 413, 896 Hussiten 166 Hypatia 413

Jaëll, Marie 88 Johannistag 44, 1053 Justin 227, 319, 504, 787 Kalthoff, Albert 771 Kant, Immanuel 268, 525, 839, 954, 1178, 1221

Kirche katholische 76, 162, 166, 263, 317, 464, 633, 706, 906, 916, 973, 1045, 1054, 1098, 1126 Kirche morgenländische 973

Kirche reformierte 1005, 1024, 1109 Kirchenraum 29 Kirchenväter 96, 348, 487, 531, 604, 822, 842, 926, 1054

Knox, John 1008 Koch, Robert 992 Kongo 613, 969

Leibnitz, Gottfried Wilhelm 531

Lissabon 243 Livingstone, David 383, 612 Lourdes 912 Ludwig XIV. 1017 Luther, Martin 67, 153, 166, 176, 189,

218, 224, 269, 281, 296, 379, 391, 414, 416, 438, 464, 476, 505, 509, 544, 551, 561, 578, 604, 619, 621, 770, 825, 839, 842, 856, 870, 957, 793, 998, 1009, 1022, 1054, 1100, 1138, 1247

Machärus 98 Melanchthon, Philipp 267 Mohammedanismus 888 Münzer, Thomas 487

Naumann, Friedrich 952 Nietzsche, Friedrich 730, 1149 Novalis 978

Oberlin, Johann Friedrich 429 Oelenberg 861 Origenes 348 Pietisten 622

Pius IX + Pius X 857 Plinius 95 Quäker 224

Radelklub 33, 35, 748 Reformation 40, 159, 162, 166, 281, 317, 338, 348, 413, 604, 622, 663, 682, 822, 839, 856, 933, 1006, 1010, 1055, 1120 Reformatoren 116, 268, 311, 316, 343, 423, 464, 839, 842, 901, 904, 934, 1002, 1004, 1011, 1018, 1054, 1092, 1099, 1361 Richter, Ludwig 126

1389

Register

Savonarola, Girolamo 1281 Schiller, Friedrich von 271 Schleiermacher, Friedrich D. E. 175, 839, 953, 1003, Schopenhauer, Arthur 224, 305, 388 Sekten 409 Semmelweis 1317 Servet, Michel 1000, 1009 Sokrates 456, 896, 1080 Spener, Philipp Jakob 145, 243, 269,

281, 344, 429, 620, 1248

Thomas a Kempis 827 Tholuck, August 269 Tolstoi, Leo 362, 475

Trajan

95

Voltaire 243 Wagner, Richard 962 Waldenser 166 Walter, Georg 748 Wichern, Johann Hinrich 397 Wright, Orville undWilbur 953

Zinzendorf, Ludwig von 269, 281, 397,

978

Zola, Emile 624 Zwingli, Huldrych 414, 793, 842

9. Themen Abendmahl 152, 157, 253, 462, 649, 818 Aberglaube 1070 Äußerlichkeiten 131 Allwissenheit Gottes 364 Anteilnahme 732, 1048 Arbeit 95, 414, 1063 Arbeitsfreudigkeit 286 Arbeitsgeist 508

Arm und Reich 65, 713 Armut geistige 165 Auferstehung 78, 1108 Ausruhen 1063

Bankrott geistiger 368 Barmherzigkeit 185 Barmherzigkeit gegen Tiere 186 Beispiel desVaters 73 Bergpredigt 332 Besinnung 510 Besitz 1271, 1276, 1284 Bibel lesen 338 Christenstand 262 Christentum 97, 147, 488, 907, 972 Christentum derTat 332, 515 Christlich – nichtchristlich 106, 147 Christsein 142, 577, 600

Dankbarkeit 142, 253, 307, 358, 398, 493, 546, 592, 661, 1176, 1224, 1307, 1315, 1334, 1346 Demut 93, 430, 1083 Dienen 726, 943, 1032, 1289 Dulden 1261

Ehe 748, 936, 1228, 1358 Ehrfurcht vor dem Schmerz 1033 Ehrfurcht vorJesus 976 Einsamkeit 97, 731, 836 Emporkömmlinge 1066 Entkirchlichung 392 Erfolg 403 Ergebung 236, 635 Erkenntnis 1076 Erkenntnis Gottes 529, 999

Erlösung 241 Erneuerung 336, 679, 1108 Ersatz 918 Ernte 86, 584 Erziehung 1132 Evangelium 736 Evangelien 271

Feierstunden 1063 Feinde des Christentums 246 Festigkeit 1212

1390

Register

Feuer 502 Freiheit 340, 1004 Freiheit im Glauben 1024 Freiheit von derWelt 455, 675 Freude 102, 203, 250, 305 Friede Gottes 305, 1191, 1198 Friede Jesu 539 Friede im Haus 1116 Friede im Herzen 1112 Friede mit den Menschen 1121 Friedfertigkeit 153, 434, 801 Fröhlichkeit 118, 715 Frucht bringen 590, 691 Führung Gottes 481 Fürbitte 258

Geben 65 Gebet 196, 258, 460, 549, 586 Gebetserhörung 549, 586 Geborgenheit in Gott 891 Gedächtnis der Toten 1152, 1208, 1321 Geduld 133, 582 Geist der Freiheit 65 Geist derWahrheit 555 Geist Gottes 582 Geist heiliger 279, 390, 558, 667, 838, 841, 1124, 1127

Geld ausgeben 65

Gemeinschaft geistige 1147, 1152 Gemeinschaft mit Gott 196, 553, 572 Gemeinschaft mit Jesus 250, 271, 357, 436, 542, 574, 702, 826, 907 Gemeinschaft mit den Menschen 542, 615, 1196

Gerechtigkeit Gottes 142, 179 Gesetz 93 Gewissensfreiheit 856 Glaube 740, 1066 Glaube an die Menschen 706 Glaube desPaulus 106 Glaube, Hoffnung, Liebe 106 Gleichgültigkeit 147, 246 Glück 436, 519, 1191, 1334 Glück – Unglück 106, 305 Gnade 434, 664 Gott 1076 Gottesdienst 414, 422, 907, 1147 Gottesdienstbesuch 379

Gottheit Jesu 925 Gottvertrauen 93, 228, 882, 1184 Grausamkeit 413 Güte Gottes 86, 142 Gutes und Böses 1354 Gutes tun 414, 496, 1087, 1164, 1284 Handeln 472

Haß 413

Heidentum 887 Heiland 102, 316 Heilige 262 Heimatlosigkeit 1229 Heimweh 262 Herodes undJohannes 1057

Herz 305, 313

Herzensfrömmigkeit 620 Herzensreinheit 196, 1212 Himmelfahrt 467 Himmel in uns 745 Höflichkeit 993, 1294 Hoffnung 106, 491, 603, 1041, 1155 Industrie 392

Jesu Kindheit 72 Jesu Leben 129 Jesu Leiden und Tod 133, 137, 377, 408, 452, 527, 535, 895, 1098 Jesus als Beispiel 78 Jesus dasLicht derWelt 256 Jesus der Erlöser 785 Jesus der Herr 752, 1179 Jesus der Lebendige 686 Jesus der Heiland aller Menschen 86 Kampf 479 Kinder 114 Kinder Gottes 86, 142, 659 Kindertaufe 1053 Kindheitserinnerungen 72 Kindlichkeit 355, 476, 607, 1014, 1186 Kino 1063, 1066 Kirche 931 Klugheit 797 Kreuz Christi 372 Kreatur 1245

Krieg 1208

Register

Leben 1076 Leben im Geist 782 Legenden im Neuen Testament 1072 Leichtgläubigkeit 1162 Leiden 169, 236, 241, 419, 722, 813 Leiden als Heiligung 903 Leidensnachfolge 980 Licht – Finsternis 427 Liebe 133, 406, 408, 683, 873, 936 Liebe zu Gott 322, 446 Liebe zuJesus 566 Lindigkeit 1044

Maria 1017 Menschlichkeit 58, 72, 869 Menschsein 500, 672 Messias 97 Mission 106, 439, 611, 792, 887, 966 Mitarbeiter Jesu 699, 939 Miterleben 1239 Mitleiden 807 Mitmenschlichkeit 561, 1253, 1289 Müde werden 921 Mutterliebe 72 Nachbarschaft 65 Nachfolge Jesu 78, 137, 918, 1141, 1179 Nachsicht 706 Nächstenliebe 392 Nebenamt 831, 1179, 1336 Neujahrswünsche 434 Nothelfer 1289

Offenbarung 408 Offenheit 623 Opfer 232, 640 Optimismus 1219 Patriotismus 950 Paulus, Leben 756 Paulus, Evangelium der Freiheit 761 Paulus, Evangelium desGeistes 766 Phrasen 623 Pilatus 984 Prädestination 841 Predigt 515 Propheten 1155 Protestantismus 160, 340, 779 Prüfen 1072

1391

Realpolitik 553, 826, 869, 950 Reich Gottes 62, 97, 486, 1167, 1186 Reich Gottes, Arbeit am 62, 160, 228 Reich Gottes, Vollendung 97 Reich Gottes, Naherwartung 65 Reichtum 65, 293 Religion 866, 1336 Religion desGeistes 1036 Religion ist Privatsache 577, 1076 Saat – Wachstum – Ernte 86 Sanftmut 189, 1101, 1137 Schlüsselgewalt 316 Schutzengel 273 Schuld gegenüber Heiden 512 Schweigen 374 Seele 346, 1145 Segen Gottes 250 Segnung 104 Selbstprüfung 582 Seligkeit 296 Sinn des Lebens 214, 310, 346, 522, 1152 Sittlichkeit 1233 Sonntag 1147 Sorgen 228, 256, 878, 1021, 1203 Soziale Frage 65, 1044 Sünde 173, 442 Sünde wider den heiligen Geist 279, 845 Sündenvergebung 538, 649, 788, 900, 1098, 1159 Sündhaftigkeit 496

Takt 114 Taufe 86, 1053, 1352, 1365 Tiere 959, 1245 Tierschutz 185 Tod 193, 244, 859, 1323, 1373 Tod und Leben 182, 249, 285, 821 Traurigkeit 980 Treue 403, 484, 713, 717, 1172 Trost 169, 194, 1141

Ungerechtigkeit 1104 Unverdient 715 Unzufriedenheit 313 Vaterunser 72, 460 Verantwortung 484, 694, 984, 1267

1392

Register

Verbitterung 629 Verdammnis 841 Vergänglichkeit 478 Vergebung 717, 733, 772, 854, 955, 1346, 1360

Verheißung und Erfüllung 205 Verklärung 262, 384 Verrat 810 Versöhnung 173 Vertrauen 1095 Vollkommenheit 361

Wahrhaftigkeit 849, 1072, 1319 Wahrheit 246, 400, 515, 644 Warten 597 Wegbereitung 203, 352, 1371 Weise aus dem Morgenland 1066 Weitherzigkeit 1076

Weltanschauung 1087 Weltliebe 631 Werke gute 464 Wiedergutmachung 274 Willen Gottes tun 62, 519, 522, 1219 Willensstärke – Willensschwäche 1057 Wirken fürJesus 386, 655 Wissenschaft 400, 1066 Wohltätigkeit 65, 448 Wunder 219, 910 Wunder Jesu 322

Zerstreuung 1063 Zufriedenheit 313 Zukunft 1155, 1327 Zuversicht 210 Zweifel 332

E-Book 2017 1. Auflage. 2001 © Verlag C.H.Beck oHG, München 2001 Umschlaggestaltung: Andreas Brylka, Hamburg ISBN Buch 978-3-406-46997-8 ISBN eBook 978-3-406-70474-1

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