Praktische Sprachreflexion [Reprint 2011 ed.] 9783110938425, 9783484220614

Proceeding from the assumption that 'how' we think about something (reflection and reasoning) has a decisive i

165 87 9MB

German Pages 297 [300] Year 1999

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Table of contents :
Vorwort
1. Einleitung
1.1 Reflexionspraxen und Reflexionsprodukte
1.2 Das sprachwissenschaftliche Interesse an praktischer Sprachreflexion
1.3 Gegenstand und Vorgehensweise
2. Alltagstheorien über Sprache
2.1 Produkte nicht-linguistischer Sprachreflexion
2.2 „Cognitio clara confusa“ oder „cognitio clara distincta inadaequata“? Grenzen des reflexiven Zugriffs auf das handlungsleitende Wissen im Spiegel sprachwissenschaftlicher Gegenstandsbestimmungen
2.3 Sprachwissenschaftliche Konzeptualisierungen des nicht-linguistischen Reflexionspotentials
2.4 Der Landkartenvergleich
3. Handlungsentlastete und praktische Sprachreflexion
3.1 Das Selbstverständnis wissenschaftlicher Reflexion und die Polarisierung von handlungsentlasteter und praktischer Reflexion
3.2 Praktische Sprachreflexion
3.3 Die Perspektive der Teilnehmer und das methodische Problem ihrer Rekonstruktion
4. Das Reflexionspotential von Gesprächsteilnehmern
4.1 „Reparatur bei laufendem Motor“. Die Aktivierung des Reflexionspotentials in Kontinuität zum Erlebnisstrom
4.2 Stationen einer kulturspezifischen Reflexionsbiographie. Die diskontinuierliche Aktivierung des Reflexionspotentials
4.3 Reflexive Verarbeitung von Kommunikationserfahrungen: die diachrone Dimension praktischer Sprachreflexion
4.4 Möglichkeiten und Grenzen praktischer Sprachreflexion
5. Für eine Neubewertung des praktischen Reflexionspotentials
Anmerkungen zu den Transkriptionen
Verzeichnis der Beispielsequenzen
Literatur
Sachregister
Personenregister
Recommend Papers

Praktische Sprachreflexion [Reprint 2011 ed.]
 9783110938425, 9783484220614

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Peter Eisenberg und Helmuth Kiesel

Ingwer Paul

Praktische Sprachreflexion

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999

Für Lewe

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Paul, Ingwer: Praktische Sprachreflexion / Ingwer Paul. - Tübingen : Niemeyer, 1999 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 61) Zugl. Kurzfassung von: Berlin, Freie Univ., Habil.-Schr., 1998 ISBN 3-484-22061 -9

ISSN 0344-6735

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Hugo Nadele, Nehren

Inhalt

Vorwort

VII

1.

Einleitung

1

1.1 1.2

1

1.3

Reflexionspraxen und Reflexionsprodukte Das sprachwissenschaftliche Interesse an praktischer Sprachreflexion Gegenstand und Vorgehensweise

7 12

2.

Alltagstheorien über Sprache

16

2.1 2.2

17

2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.4

Produkte nicht-linguistischer Sprachreflexion „Cognitio clara confusa" oder „cognitio clara distincta inadaequata"? Grenzen des reflexiven Zugriffs auf das handlungsleitende Wissen im Spiegel sprachwissenschaftlicher Gegenstandsbestimmungen Sprachwissenschaftliche Konzeptualisierungen des nicht-linguistischen Reflexionspotentials Bewußtseinsorientierte Sprachuntersuchung Volkslinguistik Laien-Linguistik Praktizierte individuelle Sprachtheorien Der Landkartenvergleich

37 38 42 46 54 56

3.

Handlungsentlastete und praktische Sprachreflexion

59

3.1

Das Selbstverständnis wissenschaftlicher Reflexion und die Polarisierung von handlungsentlasteter und praktischer Reflexion . . . . Die Modellierung des Kommunikationsereignisses nach dem Vorbild des epistemischen Wissenschaftsideals Sprachreflexivität und Kommunikative Kompetenz Praktische Sprachreflexion „Gemeinsam Musizieren". Ein konstruktives Gegenmodell des Kommunikationsereignisses unter Einbeziehung des Erlebnisstroms Ein Modell praktischer Sprachreflexion

2.3

3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1

3.2.2

29

59 61 71 85

85 91

VI 3.3 3.3.1 3.3.2

4.

Die Perspektive der Teilnehmer und das methodische Problem ihrer Rekonstruktion Die Wahrnehmung des Kommunikationsereignisses aus der Teilnehmerperspektive Die Übernahme der Teilnehmerperspektive als methodisches Problem Das Reflexionspotential von Gesprächsteilnehmern

„Reparatur bei laufendem Motor". Die Aktivierung des Reflexionspotentials in Kontinuität zum Erlebnisstrom 4.2 Stationen einer kulturspezifischen Reflexionsbiographie. Die diskontinuierliche Aktivierung des Reflexionspotentials 4.2.1 Die Vermischung von handlungsentlasteter und praktischer Sprachreflexion im Sprachbetrachtungsunterricht 4.2.2 Didaktische und strategische Initiierung diskontinuierlicher Sprachreflexion 4.3 Reflexive Verarbeitung von Kommunikationserfahrungen: die diachrone Dimension praktischer Sprachreflexion 4.3.1 Die Geschichte eines wiederkehrenden Reflexionsauslösers 4.3.2 Die retrospektive Verarbeitung und Aktualisierung von Differenzerfahrungen 4.3.3 Schrittweise Rekonstruktion einer Kommunikationserfahrung unter halbexperimentellen Bedingungen 4.4 Möglichkeiten und Grenzen praktischer Sprachreflexion 4.4.1 Die deutsch-deutsche Kommunikationssituation nach der Wende als Sonderfall interkultureller Kommunikation 4.4.2 Die retrospektive und prospektive Verarbeitung der deutsch-deutschen Differenzerfahrungen im Gespräch 4.4.2.1 Die Rekonstruktion der deutsch-deutschen Differenzerfahrung 4.4.2.2 Die prospektive Verarbeitung der deutsch-deutschen Differenzerfahrung

102 102 113 120

4.1

5.

Für eine Neubewertung des praktischen Reflexionspotentials

120 149 153 171 177 178 182 198 212 212 221 222 237 244

Anmerkungen zu den Transkriptionen

257

Verzeichnis der Beispielsequenzen

259

Literatur

261

Sachregister

281

Personenregister

287

Vorwort

Dieses Buch ist die gekürzte und leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Mai 1998 vom Fachbereich Germanistik der FU Berlin angenommen wurde. Die Untersuchung praktischer Reflexionsereignisse lehrt uns u.a., daß ein nicht zu unterschätzender Teil der Lernprozesse, die in Kontinuität zum Erlebnisstrom ablaufen, von den Akteuren unbemerkt bleiben. - Prinzipiell anders verhält es sich mit der handlungsentlasteten Reflexion, zu der auch ein großer Teil der wissenschaftlichen Arbeit gerechnet werden sollte. Hier kann man im Idealfall die einzelnen Schritte, die zu einer bestimmten Einsicht geführt haben, im nachhinein rekonstruieren. Und, da Wissenschaft kein monologischer Prozeß ist, kennt und schätzt man die Interaktionspartner, die an dem Erkenntnisprozeß in seinen verschiedenen Stadien beteiligt waren. Diese nichtalltägliche Voraussetzung ist für mich ein besonders einschlägiger Grund all denen zu danken, „ohne die das Buch in der vorliegenden Form nicht zustandegekommen wäre". Vieles von dem, worauf ich später in den Analysen gestoßen bin, geht auf spontane Fragen und Probleme praktisch Reflektierender zurück. Zu bedanken habe ich mich besonders bei den Schülern und Studenten, die mich schon früh auf das Thema „praktische Sprachreflexion" aufmerksam gemacht haben. Ihr Interesse und ihre Kooperationsbereitschaft - auch als „Teilnehmer" - haben die Untersuchung über weite Strecken vorangetrieben. Im Kommunikationsalltag dient die praktische Sprachreflexion der Überwindung von Barrieren und Verstehensblockaden. Daß sie für mich nicht zu größeren Problemen oder Widerständen geführt hat, sondern sogar ein erfreulich diskursiver Prozeß geblieben ist, dafür danke ich all jenen, die an meiner Arbeit im Gespräch teilgehabt haben. Da sind in grober zeitlicher Reihenfolge zuerst die Mitglieder der Forschungsgruppe am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld zu nennen, mit denen ich kurz nach der „Wende" versucht habe, die sprachlichen und nicht-sprachlichen Hintergründe der OstWestkommunikation zu verstehen. Später, als es darum ging, meine Vorstellungen klarer zu konturieren, gab es in Form der regelmäßigen „DKF'-Sitzungen zusammen mit Walther Dieckmann und Peter Klein eine vorbildliche Institution zur Präzisierung eigener und fremder Gedanken. Außerdem danke ich Peter Eisenberg, Esther Frotscher, Elisabeth Gülich, Harald Haferland, Thomas Kotschi, Cornelia Müller, Eva Neuland, Ruth Reiher, Reinhold Schmitt,

vm Gerhard Voigt und Jürgen Zeck fur viele anregende, engagierte und kritische Hinweise. Für das Erscheinen des Buches in der vorliegenden Form danke ich den Herausgebern der Reihe „Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft" und nicht zuletzt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Niemeyer Verlags, die das Projekt in seiner letzten Phase durch ihre Kooperativität und durch viele sachdienliche Hinweise sehr gefördert haben. Ich wünsche mir, daß die „praktische Sprachreflexion" fur viele Studenten, Lehrer und Hochschullehrer nützlich sein kann.

Berlin, März 1999

Ingwer Paul

„Die Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat. Wenn sie vorher, oder in dem Augenblick der Entscheidung selbst, ins Spiel tritt: so scheint sie nur die zum Handeln nötige Kraft, die aus dem herrlichen Gefühl quillt, zu verwirren, zu hemmen und zu unterdrücken; dagegen sich nachher, wenn die Handlung abgetan ist, der Gebrauch von ihr machen läfit, zu welchem sie dem Menschen eigentlich gegeben ist, nämlich sich dessen, was in dem Verfahren fehlerhaft und gebrechlich war, bewußt zu werden, und das Gefühl für andere künftige Fälle zu regulieren." Heinrich von Kleist Von der Überlegung. Eine Paradoxe

1. Einleitung

1.1 Reflexionspraxen und Reflexionsprodukte Sprachwissenschaftler1 sind bei ihrer Tätigkeit nicht in ein laufendes Kommunikationsereignis eingebunden. Ihre Form der Sprachreflexion ist handlungsentlastet. Daher können sie im Idealfall alle denkbaren Rückkopplungseffekte zwischen ihrem unmittelbaren Wahrnehmungsurteil als Kommunikationsteilnehmer und ihrem mittelbaren Urteil als Sprachbeobachter kontrollieren. Die Teilnehmer eines Kommunikationsereignisses reflektieren Sprache nicht handlungsentlastet, sondern praktisch. Wenn sie sich mit sprachlichen oder mit sprachvermittelten Problemen auseinandersetzen, produzieren sie ihre Beschreibungen, Deutungen und Erklärungen ad hoc und in Kontinuität zu ihrem Erlebnisstrom. Da die Ergebnisse wissenschaftlicher Sprachreflexion gemeinschaftlich nachprüfbaren Adäquatheitsprüfungen unterworfen sind, und ihre Entstehung, Diskussion und Tradierung allgemein akzeptierten und explizierbaren Kriterien unterliegt, überrascht es nicht, daß die Reflexionsprodukte von Laien und Alltagstheoretikern, deren Entstehung und deren epistemologischer Status noch weitgehend ungeklärt oder umstritten sind, von den meisten Sprachwissenschaftlern mit Skepsis betrachtet werden. Wenn ich mich in dieser Arbeit trotzdem mit dem praktischen Reflexionspotential der Gesprächsteilnehmer, also mit den Formen, Funktionen und Grenzen praktischer Sprachreflexion, befasse, dann nicht deswegen, weil ich die Skepsis gegenüber vorwissenschaftlicher Theoriebildung nicht teilte, sondern weil ich der Auffassung bin, daß das praktische Reflexionspotential durchaus eine innere Systematik besitzt. Diese Systematik erschließt sich allerdings nicht durch die Beschreibung der alltagsweltlichen Reflexionspro deshalb bin ich auch hier also+ ich mein . ich find so.. ma so=n . generelleren schlenk erstmal- die universitär' oder Wissenschaft' is eigentlich: ne sache gewesen we=man sich die' Vertreter . innerhalb der gesamten

11 Μ 12 Μ Ρ 13 Μ Ρ 14 Μ Ρ 15 Μ Ρ 16 Μ Ρ 17 Ρ

geschichte anguckt' ham se idle . entweder η schwAnz' gehabt- oder waren (eu?)
nein ich wei/ ich weiß nich also+ ich hätt auch sagn könn s=waren (lacht) mAnner, okay punkt, man kann ich find man kann richtich kannste (red?) weiter+ auch ne blumenreiche spräche benutzen,+ oder'+ nö: mUßte nich, aber ich finde nein muß ich nich ich fühl mich auch nich unter dem zwang jetz+ dann' (mußte nich lachen?)/(schlachwörter?) aber wenn dann die frau ankommt un/ un/ und die mit typen bezeichnet sie will ja

okay ich kann dann auch sagn ich werde mich dann in Zukunft zurückhaltend auf deinen hinweis hin hm/ne nja du du siehst das wieder fAlsch, ich finde es einfach nur unnötich solche f . was weiß ich na wieso manner hAm aggressionsbeladenen . bezei:chnungen+ was was sOU' das

Aufnahme: Fritjof Werner, Transkription: Fritjof Werner, vgl. Werner (1983, 185216).

144 23 Μ Ρ R 24 U Μ Ρ R 25 U Μ X Ρ 26 Μ Χ R S 27 Μ Ρ R 28 Ρ 29 Μ Ρ 30 υ Μ Χ Ρ 31 Μ

doch η schwänz ob man nun schwänz oder mann sagt is doch naja dann okay okay: einigen einigen wir uns auf gut einigen wir uns na gut okay:+ we uns auf manner lassen wir das mehr spräche der frauen ne'man sieht ja die unterschiede die spräche der frau (hm?) (M?) hm' (m?) na ich sach jetz e/+ jaja: sicher (nur das ....?) (aber das hat er ?) (ja (hier?) is ne provokation das hat er doch extra gemacht (naja?) sicher war das ne provo (...) na du würdest wenn de ne+ frau das is schon ne ...?) kennenlernst in der kneipe würdste auch ni glei anfangen so mit typ mit typ mi=m schwa:nz weißte also

ne: des sIEht se dann ja auch (weil ich ja ja: warum

(vielen dank he?) auch?)+

nein also ich (lachen)(vielen dank he?) (lachen) muß das (...?) weiß ich eine von diesen andern Sprüchen da meine

Der Auslöser Einer der Männer (M) verwendet, nachdem er einen „generelleren schlenk" (9) zu dem Thema angekündigt hat, eine formulierungstechnisch aufwendige und stilistisch markierte Konstruktion zur Bezeichnung der Kategorie „Männer": „die universitär' oder Wissenschaft* is eigentlich: ne sache gewesen we=man sich die' Vertreter . innerhalb der gesamten geschichte anguckt' ham se alle . entweder η schwAnz gehabt- oder waren" (9-11). Damit weicht er ohne erkennbaren Grund von den üblichen Formulierungsroutinen im Bereich der Wortwahl, speziell im Bereich der Kategorisierung von Personen ab. Die Äußerung wird von einer der anwesenden Frauen (P) prompt zurückgewiesen: „das vokab- Vokabular könn wa uns auch sparn also" (12), nicht nur weil sie anstößig ist, sondern weil sie gezielt anstößig ist. Gerade aus der Komplexität der Personenkategorisierung und dem Aufwand, den Μ getrieben hat, geht für Ρ hervor, daß dem Sprecher kein Lapsus unterlaufen ist, sondern daß eine gezielte Verwendung des monierten Ausdrucks vorliegen muß. Die Reaktion von

145 Μ zeigt, daß ihm die Vermeidbarkeit des Routinebruchs in Form der vorhandenen Formulierungsalternative durchaus bewußt ist: „ich hätt auch sagn könn s waren männer, okay: punkt," (13-14). Diese Einsicht, mit der Μ die Berechtigung der Kritik ratifiziert, führt zu einem vorübergehenden Konsens zwischen den Kontrahenten („richtich", 14), bei dem Μ es aber nicht bewenden läßt. Der Konflikt Μ verweigert im folgenden die für eine Aufrechterhaltung der Gesprächsgrundlage notwendige Bereitschaft zur Perspektivenübernahme und besteht darauf, eine „blumenreiche" (15) Sprache benutzen zu können, womit er die eigentliche, den Arbeitskonsensus der übrigen Anwesenden bedrohende Qualität seines Routinebruchs zu einer Frage der stilistischen Freiheit uminterpretiert. Bleibt er bei dieser Haltung, ist die Verständigung in der Tat ernsthaft bedroht, denn er hat ja unmittelbar vorher zu verstehen gegeben, daß er die Kritik an seinem Verhalten richtig deuten kann. Er ist nur nicht bereit, die gewünschten Konsequenzen zu ziehen.34 Als Rechtfertigung seines Verhaltens dient ihm die Gleichsetzung persönlicher Freiheit mit der Freiheit der Wortwahl („ich fühl mich auch nich unter dem zwang jetzt", 16). Er wäre zwar bereit, sein Verhalten zu ändern, aber nur auf den persönlichen Wunsch seiner Gesprächspartnerin hin. Damit vertritt er die Position, an seinem Verhalten sei grundsätzlich nichts Anstößiges, und er gibt zu verstehen, daß er die geforderte Rücksichtnahme selbstverständlich leisten wird, aber nur weil sie - in Abweichung von anderen gleichwertigen Kommunikationskontexten - ausdrücklich von ihm gefordert wird. Damit kehrt er tendenziell das Verursacherprinzip um: Während er aus der Sicht von Ρ überflüssigerweise vom Standard abgewichen ist, muß er sich jetzt aus seiner Sicht, in Vernachlässigung anderer gruppenspezifischer Kommunikationsprinzipien, zu einer Standardformulierung bequemen. Diese von ihm angebotene Deutung des zukünftigen Kommunikationsgeschehens, die der Intention seiner Gesprächspartnerin und wohl auch seiner eigenen besseren Einsicht widerspricht, macht eine aufwendige Bearbeitung nötig. Verweigerung der Perspektivenübernahme Konsensherstellung

und Notwendigkeit der

Nach ihrer ersten Reaktion auf den Auslöser, der die Äußerung von Μ als Normverletzung sanktioniert, bemüht sich Ρ um die Herstellung von Symmetrie. Um ihre Haltung zu verdeutlichen, präsentiert sie eine Situation, die den unmittelbar vorhergegangenen Austausch reflektiert bzw. mit anders verteilten Rollen spiegelt: „aber wenn dann die frau ankommt un un und die mit

34

Diese Strategie bezeichnet Werner (1983, 206) als „Sich dumm Stellen".

146 typen bezeichnet sie will ja auch nich als als als . als torte' oder als sOnstwas bezeichnet werden was sOll' das" (17-18). Durch diese Parallelkonstruktion macht sie Μ und den anderen Teilnehmern klar, wie der monierte Sprachgebrauch von ihr verstanden worden ist, nämlich als Beleidigung einer Gruppe von Personen. Bemerkenswert ist das Gleichgewicht, das sie in ihrem Beispiel zwischen Männern und Frauen herstellt. Ebensowenig wie Männer von Frauen als „Typen" bezeichnet werden wollen, wollen Frauen von Männern als „Torten" bezeichnet werden. Damit formuliert sie, in Absehung von der Tatsache, daß die Normverletzung offensichtlich anders funktioniert hat - Μ ist ja Mitglied der Gruppe, die er beleidigt - eine Formel, die aus ihrer Sicht geeignet scheint, den Arbeitskonsensus zwischen ihr und Μ zu sichern.35 Zu dem drohenden manifesten Konflikt zwischen Μ und Ρ kommt es nun, weil Μ dieses Angebot zum Perspektiventausch nicht annimmt, sondern es zum Anlaß nimmt, das Problem zu personalisieren. Die Differenz zwischen Ρ und Μ wird noch deutlicher, wenn Μ Ps Einwand, „aggressionsbeladene bezei:chnungen" seien „einfach nur unnötich" (21-22), gezielt mit dem Hinweis auf die außersprachliche Wirklichkeit mißversteht. Mit seiner Äußerung „na wieso männer hAm doch η schwänz ob man nun schwänz oder mann sagt ist doch" (22-23) führt Μ nur zum Schein eine sprachreflexive Begründung für sein Verhalten an, denn durch die Abwegigkeit seines semantischen pars pro toto Arguments gibt er gleichzeitig zu verstehen, daß er nicht bereit ist, der Perspektive seiner Gesprächspartnerin zu folgen. Ρ reagiert mit Resignation („naja dann", 23), denn solange Μ sich weigert, ihre Perspektive einzunehmen, steht Ρ als diejenige da, die den Verlauf des Gesprächs ihrerseits unnötigerweise unterbrochen hat, und nicht als diejenige, die sich im Interesse einer Sicherung des Arbeitskonsensus zu einer kritischen Äußerung genötigt sah. Zu diesem Zeitpunkt, in dem die Perspektivendifferenz zwischen Μ und Ρ droht, zu einem ernsten Problem zu werden, greift einer der anderen Teilnehmer mit einem Vermittlungsangebot ein: „okay okay: einigen wer uns auf männer lassen wir das" (23-24). Diese Äußerung erkennt die Existenz divergierender Perspektiven an, ratifiziert damit den drohenden Konflikt zwischen Μ und Ρ und bietet zugleich die Formel für einen zukünftigen konsensfähigen Sprachgebrauch an. Ein Vorschlag, der von Ρ und Μ sofort unterstützt wird (24). Vermutlich wäre es bei dieser Sprachregelung geblieben, wenn sich nicht noch ein zweites Vermittlungsangebot angeschlossen hätte, das eine andere Deutung des Auslösers impliziert: „einigen wir uns auf mehr spräche der frau-

33

Zur Gtundidealisiening von der Austauschbarkeit der Standpunkte vgl. Schütz (II, 98): „Ich glaube an die Erfahrung meines Mitmenschen, weil, wenn ich an seiner Stelle wäre (oder gewesen wäre), ich die gleichen Erfahrungen machen würde (oder gemacht hätte) wie er [...]".

147 en" (24-25). Dieser Einigungsvorschlag konzipiert den Auslöser nicht als ein „normales" Formulierungsproblem, sondern er konstatiert darüber hinaus eine quasi unvermeidbare, an natürliche Kategorien gebundene Perspektivendifferenz zwischen Ρ und M. Indem die Erklärung, die U anbietet, die Ursache für den Konflikt einem primären und bipolaren Kategorienset („Mann-Frau") zuordnet, macht sie weitere Konflikte von diesem Typ erwartbar. Gleichzeitig ist ihr Vorschlag auch als pauschaler Vorwurf gegen die anderen Männer interpretierbar. Praktische Erklärungen

und Eingrenzung des Konflikts

Die drohende Zuspitzung und Ausweitung der Auseinandersetzung zwischen Μ und Ρ ist von den übrigen Teilnehmern nicht nur bemerkt worden, sondern sie wird durch explizite Einigungsangebote auch thematisiert und damit in den Fokus der ad hoc zu bewältigenden Aufgaben gestellt. Die Bearbeitung der Perspektivendifferenz zwischen Μ und Ρ erreicht einen höheren Grad an Explizitheit und Verbindlichkeit. Hatte sich R in seinem Einigungsvorschlag (24-25) noch darauf beschränkt, die Einigung als solche zu fordern, indem er ohne weiteren Kommentar auf das konsensfähige „männer" rekurrierte und dazu aufforderte, „das" zu lassen, 36 deutet U einen Erklärungsansatz an, demzufolge die Gesprächsgrundlage zwischen Männern und Frauen generell gefährdet ist, da die Mitglieder der jeweiligen Personengruppen mit teilweise unvereinbaren Erwartungen und Routinen an Gesprächen teilnehmen. Fände diese Erklärung, die ihrem theoretischen Anspruch nach weit über den situativen Kontext hinausgreift, Zustimmung bei den anderen Teilnehmern, dann gäbe es bis auf weiteres einen permanenten Auslöser für die Reflexion der Verständigungsgrundlagen zwischen Männern und Frauen. Frauen müßten sich fortwährend vergewissem, ob sie sich den Männern verständlich gemacht haben, und umgekehrt. Die Reaktionen von X und S, zwei männlichen Teilnehmern, die auch formal als Widerspruch zu der Äußerung Us vorgetragen werden („aber das hat er" (26), „is ne provokation das hat der doch extra gemacht", 26), wenden sich insbesondere gegen die Tendenz zur personenunabhängigen Verallgemeinerung dessen, was zwischen Μ und Ρ vorgefallen ist. Beide Sprecher betonen den singulären, vom Standard abweichenden Charakter der auslösenden Äußerung Ms. Wenn nämlich das Verhalten von Μ eine „provokation" war, dann liegt kein routinemäßiger Konventionsbruch, sondern ein - wie auch immer motivierter und individuell zu verantwortender Verstoß gegen ansonsten wechselseitig anerkannte Prinzipien vor. Wenn also im weiteren Gespräch

36

Das „das" (24) bleibt in seiner Referenz mehrdeutig. Es kann sowohl die Redestrategie von Μ als auch der spezifische Sprachgebrauch gemeint sein. Daraus ergeben sich mindestens zwei Lesarten: „Lassen wir die Provokation" und „Lassen wir diese Ausdrücke".

148 ähnliche Verstöße vorkommen sollten, dann sind sie auch individuell zu verantworten und zu rechtfertigen. Damit ist von den nicht unmittelbar betroffenen Teilnehmern in spontaner Supervision ein Meinungsbild erstellt worden, wie der Auslöser der sprachreflexiven Sequenz zu beurteilen ist und wie mit dem Auslöser in dieser Situation weiter verfahren werden soll. Besondere Bedeutung kommt der auf den ersten Blick widersinnig erscheinenden Renormalisierungsstrategie zu, den Auslöser als „provokation" einzustufen. Auf diese Weise kann natürlich der Konflikt als solcher nicht gelöst oder abschließend geklärt werden, aber durch die Zurückbindung des Normverstoßes an die individuelle Verantwortung des Sprechers wird ein größerer Schaden vermieden, der durch die Kategorisierung des Normbruchs als typisch männlich droht. Der Erfolg dieser Strategie läßt sich daran ablesen, daß Ρ ihr Angebot zur Perspektivenübernahme (17-18) in modifizierter Form wiederholt („ na du würdest wenn de ne+ frau kennenlernst in der kneipe würdste auch ni glei anfangen so mit typ mit typ mi=m schwa:nz weißte also", 27-29). Ρ hält also am Gleichheitsgrundsatz fest, wenn sie Μ daran erinnert, daß er sich in einer vergleichbaren Situation anders verhalten hätte. Strategischer

Normverstoß und die Grenzen praktischer

Sprachreflexion

Spätestens daran, daß der Verantwortliche trotz besserer Einsicht nicht bereit ist, sein Verhalten zu ändern, wird das Motiv des Normverstoßes für die anderen Teilnehmer offensichtlich. Durch seinen strategischen Charakter unterscheidet sich der Auslöser in diesem Beispiel qualitativ von den Auslösern in „mlTTelgroß" und „bewältigung der Vergangenheit oder Verarbeitung der Vergangenheit". Μ behält seine strategische Haltung in der Bearbeitungsphase bei, womit er die anderen Teilnehmer zu besonderen Anstrengungen der Verständigungssicherung nötigt. Seine Rechtfertigungen sind nicht dazu angetan, den Auslöser konsensfähig zu erklären, sondern sie vertiefen die Divergenz der Perspektiven. Bleibt Μ bei dieser Kommunikationshaltung, wird der nächste vergleichbare Auslöser nicht lange auf sich warten lassen. Die praktische Bearbeitung der Blockadestrategie Ms vollzieht sich in drei Stadien: Identifikation des Auslösers, wechselseitige Anerkennung des Auslösers und Bearbeitung der Perspektivendifferenz, wobei im dritten Stadium nacheinander zwei komplementäre Verfahren eingesetzt werden. Der Auslöser soll entweder durch die Explikation von Grundidealisierungen begrenzt (P) bzw. individualisiert (S, X) oder er soll - als dieser Versuch fehlgeschlagen ist - durch die ausdrückliche Ratifikation einer Perspektivendifferenz verschärft werden (M und U). Zur zweiten Variante gehört der Vorstoß von U, den Auslöser auf der Grundlage einer Prämisse zu erklären, die ein Festhalten an der Grundidealisierung von der Austauschbarkeit der Standpunkte nicht mehr unter allen Umständen erlaubt. Diese Variante kann sich nicht durchsetzen, obwohl auf diesem Wege

149 dem Verhalten von Μ durchaus rational Rechnung getragen werden könnte. 3 7 Die prinzipielle Unterscheidung zwischen „Sprache der Frauen" und „Sprache der Männer" stellt insofern eine symmetrische Reaktion auf Ms Verhalten dar, als sie dessen strategisches Vorgehen in einem zentralen Punkt spiegelt: Wo Μ für sich (als Mann) das Recht in Anspruch nimmt, von Normen abzuweichen, konstatiert die Erklärung Us einen Unterschied im Sprachgebrauch von Männern und Frauen. Sowohl die Eingrenzung und Entschärfung des Konflikts als auch seine bewußte Etablierung operieren, wenn auch in unterschiedlicher Weise, auf dem Gleichheitsgrundsatz. Gegenüber der prinzipiellen Verweigerung der Kooperativität muß aber jeder Versuch der Renormalisierung letztlich machtlos bleiben.

4.2 Stationen einer kulturspezifischen Reflexionsbiographie. Die diskontinuierliche Aktivierung des Reflexionspotentials Das Wissen der Teilnehmer über Sprache und Kommunikation ist nicht einheitlich und konsistent, weil weder die Reflexionsanlässe, noch die Verfahren zu ihrer Bearbeitung oder Überwindung einheitlich sind. Während sich ein Teil des praktischen Reflexionspotentials auf Erfahrungen mit der Bewältigung spontan auftretender Reflexionsanlässe zurückführen läßt, wird ein anderer Teil von den Teilnehmern in sprachreflexiven Kontexten erworben, die sich nicht naturwüchsig, also nicht in Kontinuität zu ihrem aktuellen Erlebnisstrom ergeben. Das Kind aus dem Beispiel „mlTTelgroß" wird z.B. im Verlaufe seiner Reflexionsbiographie einerseits durch neue Kommunikationserfahrungen mehr darüber lernen, wie mit Unterbrechungen des Erwartungsfahrplans praktisch umgegangen werden kann, und es wird andererseits parallel dazu mit Reflexionskontexten konfrontiert werden, in denen es lernt, wie sprachliche Phänomene in seinem Kulturkreis thematisiert werden, welche Verfahren der Thematisierung von Sprache in seiner Kommunikationsgemeinschaft einschlägig 37

Werner (1983, 194) beruft sich in seiner Analyse darauf, daß „die Verwendung unanständiger Wörter zur stereotypen Männlichkeit gehört". Μ folgt demnach einer subkulturellen Norm, wenn er bewußt vom Standard abweicht. Ms Verhalten wäre unter dieser Voraussetzung von U richtig als Versuch der Präsentation geschlechtsgebundenen Sprachverhaltens gedeutet worden. Aus der zeitlichen Distanz heraus ist es allerdings schwer nachvollziehbar, daß Μ einen „Imageverlust" befürchten muß, weil seine spezifische Form der Selbstpräsentation nicht als positive Form der Selbstverwirklichung gewürdigt wird, vgl. Werner (1983, 194ff.). Durch diese Interpretation werden m.E. Ursache und Wirkung vertauscht. Ps Reaktion zeigt, daß sie nicht Anstoß an einer schlechten Selbstpräsentation Ms nimmt, sondern an der (bewußten) Verletzung von Gesprächsregeln.

150 sind und auf welche Common sense-Annahmen es dabei zurückgreifen kann. In diesem Sinne sind bereits die kommunikativen Verfahren und die aktivierten Interpretationsressourcen, mit denen Kinder über Sprache sprechen und nachdenken, nicht nur als direkter, naturwüchsiger Reflex auf subjektive Wahrnehmungen zu deuten, sondern darüber hinaus als Ergebnisse einer Teilnahme an bestimmten kulturspezifischen Bildungspraktiken und Bildungstraditionen. Für die kontinuierliche und die diskontinuierliche Aktivierung des Reflexionspotentials gelten grundsätzlich verschiedene Bedingungen. Während der reflektierte Auslöser in kontinuierlicher Reflexion direkt mit dem Erlebnisstrom und der Kommunikationserfahrung der Reflektierenden rückgekoppelt wird, muß in diskontinuierlicher Reflexion kein direkter Zusammenhang zwischen dem reflektierten Wissen und den Kommunikationserfahrungen der Reflektierenden bestehen. Sprache kann im Sprachbetrachtungsunterricht ein Reflexionsobjekt wie jedes andere sein, ohne daß für die Schüler ein naturwüchsiger oder lebensweltlich vermittelter Bezug erkennbar oder herstellbar wäre. Die „Theorien in und hinter"38 den Teilnehmern werden nicht nur durch die Auswahl und Weitergabe von Lerninhalten tradiert, sondern auch dadurch, daß die Gesellschaft bestimmte Reflexionsverfahren in bestimmten Interaktionskontexten arrangiert. Gegenstand und Ziel der Unterrichtskommunikation als einer spezifischen Form der institutionell geregelten Kommunikation ist die Vermittlung von Einsichten und Fertigkeiten im Gespräch. Die Kommunikationsgemeinschaft hat für die thematische Aktivierung sprachbezogenen Wissens, wissenssoziologisch gesprochen, spezifische „kommunikative Gattungen" 39 ausgebildet. Den Einfluß der Reflexionspraxis auf die Bildung, Verfestigung und Tradierung der von ihm so genannten „praktizierten, individuellen Sprachtheorien" hat schon Glinz hervorgehoben:40 Der Einfluß kann eher indirekt, aber mindestens ebenso wichtig sein durch die Art, wie der Lehrer die ihm von den Schülern vorgelegten Texte korrigiert, wie er sie wertet, wie er im mündlichen Unterricht die Beiträge der Schüler aufnimmt (sie herauslockt oder sie eher abblockt, wenn sie ihm nicht ins Konzept passen) - wie der Lehrer überhaupt umgeht mit den Verstehensreaktionen aller Art bei den Schülern, mit den Leistungen der Schüler und vor allem mit den noch nicht korrekten Leistungen oder eindeutigen Fehlleistungen.

Das Verhältnis von initiierter Sprachreflexion und aktiviertem Reflexionspotential wird in der einschlägigen didaktischen Literatur, in Rahmenplänen und in Unterrichtsentwürfen aber kaum thematisiert und noch seltener empirisch untersucht, vermutlich weil stillschweigend und nicht ohne Grund vorausge-

38 39 40

Glinz (1993). Vgl. Luckmann (1986). Glinz (1993, 393).

151 setzt wird, daß jeder Wissenszuwachs letztlich nur über die reflexive Praxis möglich ist. Von gesprächsanalytischer Seite hat sich das Interesse bisher meist auf die Rekonstruktion spezifischer Merkmale des Diskurstyps gerichtet. 41 Was aber die Unterscheidung von Wissen und Können, von reflektierter Einsicht und handlungsleitender Kompetenz, in ihren Konsequenzen für die Praxis des Sprachbetrachtungsunterrichts bedeutet, ist dabei noch nicht systematisch untersucht worden. Die exemplarischen Analysen von Unterrichtssequenzen in Switalla (1993) und in Boettcher (1994) bilden in dieser Hinsicht Ausnahmen. Insbesondere Switalla weicht vom forschungspraktischen Mainstream ab, indem er ausdrücklich auch an der Verzahnung von typischen Eigenschaften der Reflexionspraxis und Formen des aktivierten (grammatischen) Wissens interessiert ist. Seine programmatische Erklärung für die Notwendigkeit mikroanalytischer Untersuchungen der Unterrichtskommunikation läßt sich direkt auf das Forschungsinteresse der vorliegenden Untersuchung übertragen: 42 Wenn nämlich Kommunikation das Kriterium dafür ist, ob wir wissen, was wir wissen und wie wir wissen, was wir wissen, dann kommt eben alles darauf an, wie wir uns als Interpreten anderer Personen und zu Interpretationen anderer Personen verhalten. Also sollten wir wissen, wie wir einander interpretieren und was solche Interpretationen ausmacht.

Warum sich die Frage nach der Anschlußfähigkeit des zusätzlich erworbenen Reflexionspotentials an erfahrungsbezogene praktische Formen der Sprachreflexion in der Schulpraxis kaum stellt, kann mehrere Gründe haben. Als einer der wichtigsten kann der Umstand geltend gemacht werden, daß sich das zusätzliche Reflexionspotential der Schüler in erster Linie in der Schreibpraxis und nicht in der mündlichen Kommunikation bewähren muß. Schreibenlernen ist zentral für den Erfolg in der Schule und nicht nur dort. Es ist daher folge41

42

Zum Bereich Schule und Ausbildung liegen zahlreiche Arbeiten aus gesprächsanalytischer Sicht vor, die die Unterrichtskommunikation unter qualitativen und strukturellen Aspekten (Form und Funktion institutionsspezifischer Handlungs- und Interaktionsmuster, Verhältnis von verbalen und praktischen Handlungen, Verhältnis von Hauptund Nebendiskurs, Einsatz von Modalverben im Untericht usw.) untersucht haben. Es ist als wesentliches Verdienst dieser Arbeiten anzusehen, die kommunikative Gattung Unteirichtsdiskurs empirisch erschlossen zu haben. Vgl. hierzu die Bibliographie von Becker-Mrotzek (1990/1991). Switalla (1993, 38). Boettcher (1994, 29f.) beklagt vor allem ein mangelndes Vertrauen in die sprachreflexiven Fähigkeiten der Schüler: „Ein solches Vertrauen in die sprachreflexiven Fähigkeiten der Schüler - und der Studierenden - gibt es offenbar nicht, entsprechend gibt es wenig Vertrauen in ein tatsächlich induktives grammatisches Arbeiten in Schule und Hochschule; und angesichts der vermeintlich zu erreichenden begrifflichen Ergebnisse haben Referendare wenig Geduld mit den Lernwegen der einzelnen Schüler, weil sie ihrerseits keine solchen Modellerfahrungen haben."

152 richtig, daß sich der Forschungstrend auf die Bedeutung von Sprachbewußtheit fur den Erwerb von schriftlicher und nicht von mündlicher Sprachkompetenz richtet. 43 Weil sich nahezu alle explizierbaren (schulrelevanten) Wissensanteile, die ein Sprecher im Verlaufe seiner Reflexionsbiographie erworben hat, auf die handlungsentlastete Reflexion geschriebener Texte zurückführen lassen, wird mit „Sprachbewußtsein" in der Literatur nicht selten ein verfügbares und explizierbares sprachliches Wissen bezeichnet, welches anhand geschriebener Texte erworben wurde und das meist auch in Bezug auf ebensolche Texte wieder produktiv angewendet wird:44 Mit Sprachbewußtsein kann weiter gemeint sein, daß jemand etwas über seine Sprache weiß. Dies ist das Sprachwissen, wie es etwa im Grammatikunterricht vermittelt wird ('Das Subjekt steht im Nominativ') oder wie es bei der Formulierung von Rechtschreibregeln ins Spiel kommt. Es ist die verbreitetste Form von wirklich explizitem Sprachwissen, das ein Sprecher hat.

In dieser Definition des Sprachbewußtseins ist das praktische Reflexionspotential der Teilnehmer konzeptuell nicht vorgesehen. „Wissen" meint hier vor allem ein terminologisches, normatives und technisches Wissen, das die Teilnehmer auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse vermittelt bekommen haben. Zwar verweisen die Autoren auch auf das problematische und offene Verhältnis von Sprachwissen, Sprachbewußtsein und Sprachgebrauch (ebd.), aber sie gehen nicht der Frage nach, ob sich aus der kontinuierlichen Reflexionspraxis der Teilnehmer nicht schon ein primäres Sprachbewußtsein herausgebildet haben könnte. Dieses erfahrungsnahe Wissen der Teilnehmer kann aus linguistischer und sprachdidaktischer Sicht vermutlich nicht in allen Aspekten als sachadäquat angesehen werden, aber es könnte, weil es in der Kommunikationspraxis sozial wirksam und abgesichert ist, zum Ausgangspunkt für entsprechende kontrollierte Reflexionserfahrungen in der Schule gemacht werden, um auf diesem Wege schädliche Interferenzen zwischen unterschiedlichen Wissensformen im Unterricht zu vermeiden. Auch wenn sich die Teilnehmer in diskontinuierlichen Lernsituationen mit Problemen beschäftigen, die weitab von naturwüchsigen Differenzerfahrungen und der alltagsweltlichen Kommunikationspraxis zu liegen scheinen, wäre es voreilig, diese Tatsache als einen Hinweis darauf zu deuten, daß das in sekundärer Reflexion erworbene Potential ein „praxisfernes" oder nur „versprachlichtes" Wissen sei. 45 Dagegen spricht, daß die diskontinuierliche Reflexionspraxis eben auch eine kommunikative Praxis der Teilnehmer darstellt, und zwar eine Praxis, in der genau diejenigen Verfahren eingeübt werden, die in anderen, „natürlicheren" Kontexten darüber entscheiden können, welches 43 44 45

Vgl. Andresen (1993, 119). Eisenberg/Klotz (1993, 8). Vgl. Ehlich/Rehbein (1986, 170).

153 sprachbezogene Reflexions- und Interpretationspotential den Teilnehmern explizit zur Verfügung steht. Obwohl die reflexive Bearbeitung situativ relevanter Merkmale der Kommunikationssituation als Reaktion auf eine Differenzerfahrung und die extrakommunikative Thematisierung von sprachlichem Wissen analytisch deutlich voneinander zu trennende Formen der Sprachreflexion sind, sind in der Kommunikationspraxis häufig Mischformen zu beobachten, da jede Differenzerfahrung im zweiten und dritten Bearbeitungsschritt die Thematisierung von sozial gebilligtem Wissen über Sprache und Kommunikation auslösen kann, und umgekehrt jede erfahrungsdistanzierte Form der Sprachthematisierung zum Auslöser einer Differenzerfahrung werden kann. Die Aneignung eines sprachbezogenen Reflexionspotentials findet auch in diskontinuierlichen Lernsituationen weder voraussetzungslos noch in einem sozialen Vakuum statt. Sein Erwerb ist nur sinnvoll nachvollziehbar als das Produkt einer aktiven Auseinandersetzung mit den überkommenen Reflexionspotentialen einer Kommunikationsgemeinschaft. Aus diesem Grund muß die Analyse bei den diskursiven Verfahren ansetzen, mit denen das vorhandene Reflexionspotential aktiviert, verändert und reproduziert wird.

4.2.1 Die Vermischung von handlungsentlasteter und praktischer Sprachreflexion im Sprachbetrachtungsunterricht Der folgende Ausschnitt stammt aus einer Sprachbetrachtungsstunde in einer vierten Klasse. Beispiel „was so ein Satzglied ist"* 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

L L L L L L Grit Grit Grit L Grit L

bei euren letzten aufsätzen is mir aufgefalln daß viele so gar nich richtich wUßtn wann ein . sAtz vollständig ist'. beziehungsweise welche fA'lle, sie gebrauchn solin da war denn immer DEN wenns DEM heißt und umgekehrt, dEswegn ham wer in den letztn stundn mal geUbt'. was überhaupt sAtzglieder sind' und wie wir die bestimm:,. wlßt' ihr denn noch überhaupt was so ein Satzglied ist,.. grit ehm we=man den satz ausn:nander nimmt aber ä:hm also we=man den in zwei tEIle . teile zerschnEIdet oder auch ausn:nander mit so strichen ausn:nander. nimmt so mhm' is schon richtich wir hatten das auch ma zEichnet ausn:nAndergeschnittn und wir ham aber ne ganz bestimmte prO'be immer

Aufnahme: ZLU Berlin; Transkript: Ingwer Paul.

154 11 L 12 L Wolfgang 13 L Sabine 14 Sabine

angewandt um herAUszubekomm: was immer sAtzglieder sind'. wißt ihr

15 Sabine 16 Sabine

satz hat was man sagen wollte also daß man so erzählt

17 Sabine 18 L Sabine 19 L

spricht er mit jemand und denn spricht der andere und wenn=er

20 L Gabi 21 Gabi 22 L Gabi 23 L Sven 24 L Sven 25 L

die noch wie die hieß wolfgang,

ganz toll,. und wAnn is denn umstellprobe

nun überhaupt ein sAtz' Immer vollständich,

sabine ja also we=

man sagt zum beispiel we=man glaubt daß man alles . in dem (Räuspern) daß man . daß er grade ausm haus ging' und denn du meinst jetzt die wörtliche gesprochen hat daß dann η punkt kommt (?) rEde auch besonders die wir gelernt haben ne' aber wir hAm' jetz noch was nEUes kenn:gelernt wann ein satz vollständig ist,. . gabi ehm der ehm satz is vollständich wenn ein Subjekt. ein adjek ähm quatsch ein . . mUß das akkusativ.objekt Immer im prädikat und akkusa.TIVobjekt drin is satz sein' sven' äh wenn prädikat η Subjekt und der satz η äh vollständigen &richtich sinn also gibt,

der SINN war noch &dann is=et η richtiger satz

sehr wichtich es kann also auch durchaus sein daß nur subjekt und

26 L 27 L

prädikat da is und es Is schon ein vollständiger sAtz, könnt ihr euch da

28 L Michael 29 L Michael Sx

vollständiger satz' weils η sinn ergab' michael

30 L Sven 31 L Sx 32 L

sowas η beispiel ne' äh sven'

33 L

nochmal einen satz an die tafel,

noch an ein beispiel erinnern'. subjekt und prädikat und es war schon ein ehm ehm die kinder gehn ins richtich, dis war bett

die kinder wachn auf die kinder wachn (?) + ja gU:t. so oder. großmutter . schnarscht

und äh ihr habt heute die möglichkeit Alles was wir gelernt haben auf gAnz (Schnarchgeräusch) verschlEdene wEIse zu üben, zur Wiederholung schreib ich euch jetzt aber

Am Anfang der Stunde stellt die Lehrerin - ausgehend von der Schreibpraxis der Schüler - einen Reflexionsbedarf fest. Zugleich verweist sie auf eine gemeinsame Interaktionsgeschichte, in deren Rahmen die Schüler bereits ein einschlägiges Reflexionspotential erworben haben: „bei euren letzten aufsätzen is mir aufgefalln daß viele so gar nich richtich wUßtn wann ein . sAtz

155 vollständig ist' . beziehungsweise welche fÄ'lle, sie gebrauchn solln da war denn immer DEN wenns DEM heißt und umgekehrt, dEswegn ham wer in den letztn stundn mal geübt' . was überhaupt sAtzglieder sind' und wie wir die bestimm:, . wlßt' ihr denn noch überhaupt was so ein Satzglied ist, . . grit" (Ιό). Die einleitenden Bemerkungen verknüpfen die kontextfreie Sprachanalyse mit einem konkreten Sprachproduktionsproblem. Die Reflexionskompetenz der Schüler wird von der Lehrerin dadurch in relativ großer Bandbreite angesprochen. Die Antwort von Grit lautet: „ehm we=man den satz ausn:nander nimmt aber ä:hm also we=man den in zwei tEIle . teile zerschnEIdet oder auch ausn:nander mit so strichen ausn:nander. nimmt so zEichnet" (6-9). Die Schülerin reagiert hier nicht auf die Frage, was Satzglieder sind, sondern sie vergegenwärtigt sich den Handlungskontext, in dem das technische und analytische Wissen vermittelt wurde, um Satzglieder zu bestimmen. Der Beitrag von Grit, der aufgrund seines Formats noch einen zweiten Teil - die Konsequenz des angefangenen Konditionalsatzes - erwartbar werden läßt, wird von der Lehrerin abgebrochen. Gefragt ist nicht das technisch-praktische Wissen („wenn-dann"), sondern der Fachausdruck, mit dem die von der Schülerin zutreffend beschriebene Technik bezeichnet wird: ,,mhm' is schon richtich wir hatten das auch ma ausn:nAndergeschnittn und wir ham aber ne ganz bestimmte prO'be immer angewandt um herAUszubekomm: was immer sAtzglieder sind' . wißt ihr die noch wie die hieß wolfgang" (9-12). Während die Lehrerin der Präsentation des technisch-praktischen Wissens mit einer klassischen „Ja-aber-Konstruktion" nur eingeschränkt zustimmt, wird der gesuchte Fachausdruck als ein wichtiges Element des kanonischen Wissens („umstellprobe", 12) von ihr uneingeschränkt und mit besonderer Emphase bestätigt: „ganz toll" (12). Im zweiten Teil ihrer Äußerung: „und wAnn is denn nun überhaupt ein sAtz' Immer vollständich, sabine" (12-13) reaktiviert die Lehrerin eine der Aufgaben, die sie in ihrer Einleitung angesprochen hatte. Bemerkenswert an ihrer Formulierung ist der gehäufte Gebrauch von Partikeln und die Wiederholung von „immer" (vgl. auch in 3, 11 und 22). Die auffällige Verwendung des temporalen Adverbs hat eine diskursspezifische Funktion: „immer" verweist auf die Rekurrenz des reflektierten Phänomens und lenkt damit die Aufmerksamkeit der Lernenden auf dessen Regelhaftigkeit. Es stützt die angestrebten Verallgemeinerungen auf der begrifflichen Ebene und fördert die Produktion von Beispielen im „Kochbuch"-Format („wenn-dann"). Die Antwort von Sabine wird ebenso wie die von Grit als Konditionalsatz vorgetragen. Sabine setzt sich aber insofern lernzielorientierter mit der Aufgabenstellung auseinander, als sie die eher handwerkliche Perspektive durch die Perspektive einer Schreibenden ersetzt. Sie reformuliert die Frage der Lehrerin nach der Vollständigkeit eines Satzes als Frage danach, wann ein Punkt gesetzt werden muß: ,ja also we=man sagt zum beispiel we=man glaubt daß man alles . in dem satz hat was man sagen wollte also daß

156 man so erzählt (Räuspern) daß man . daß er grade ausm haus ging' und denn spricht er mit jemand und denn spricht der andere und wenn=er gesprochen hat daß dann η punkt kommt" (13-18). Sabine weiß zwar, daß nach einem „vollständigen satz" ein Punkt gesetzt werden kann oder muß, d.h. sie hat schon einschlägiges Wissen erworben, aber sie scheint ad hoc Kriterien für die Vollständigkeit eines Satzes zu bilden. Zunächst reformuliert sie die Frage der Lehrerin als Aufgabe für die schriftliche Sprachproduktion, um dann in der Konkretisierung eine mündlich-dialogische Situation zu entwerfen. Sie stellt also keine Beziehung zu der neu erworbenen Metasprache her, sondern sie leitet das geforderte Kriterium letztlich aus ihrer Erfahrung als Sprecherin und aus ihrem Alltagswissen über mündliche Kommunikation ab, wobei es ihr intuitiv und zur Freude jeden Gesprächsanalytikers angemessen zu sein scheint, dialogische Einheiten zu bilden. Die Reaktion der Lehrerin hat das gleiche Format wie in (9-12): „du meinst jetzt die wörtliche rEde auch besonders die wir gelernt haben ne' aber wir hAm' jetz noch was nEUes kenn:gelemt wann ein satz vollständig ist, . . gabi" (1820).

Gabis Beitrag erreicht als Folge der massiven Steuerungsarbeit von allen bisherigen Schüleräußerungen den höchsten Abstraktionsgrad: „ehm der ehm satz is vollständich wenn ein Subjekt . ein adjek ähm quatsch ein . . prädikat und akkusa.TIVobjekt drin is" (20-22). In ihrer Antwort präsentiert sie nach anfänglichem Zögern insgesamt vier fachsprachliche Ausdrücke, wobei ihr zwei Fehler unterlaufen, die ihre Unsicherheit im Umgang mit der Metasprache zeigen. Während sie den ersten Fehler noch selbst korrigiert, wird die Korrektur des zweiten durch eine Lehrerfrage vorbereitet: „mUß das akkusativ.objekt Immer im satz sein' sven" (22-23). Sven beantwortet die Frage der Lehrerin, indem er die beiden gewünschten Begriffe nennt: „äh wenn prädikat η Subjekt und der satz η äh vollständigen sinn also gibt, (...) dann is=et η richtiger satz" (23-24). Darüber hinaus nennt er mit dem „vollständigen Sinn" ein weiteres Kriterium, wobei in seiner Formulierung wie selbstverständlich aus dem „vollständigen satz" der Anfangssequenz nun ein „richtiger", d.h. ein regelgerechter Satz geworden ist. Der letzte Beitrag der Lehrerin leitet den Beginn der nächsten Phase des Unterrichtsgesprächs ein: ,ja gU:t . so und äh ihr habt heute die möglichkeit Alles was wir gelernt haben auf gAnz verschlEdene wEIse zu üben, zur Wiederholung schreib ich euch jetzt aber nochmal einen satz an die tafel" (30-33). Das reaktivierte Wissen wird nun anhand einer schriftlichen Vorlage vertieft, mit dem Ziel, aus dem bisher nur reflexiv zugänglichen ein automatisiertes Wissen und damit ein Können zu machen. Die Schüler erwerben im analysierten Grammatikunterricht im wesentlichen ein technisch-analytisches Können (Zerschneiden, Schreiben), ein metasprachliches Vokabular und die kommunikative Kompetenz, das Gelernte in lernzieladäquater Form unter den Bedingungen des Unterrichtsdiskurses anzuwenden. Die Schüler lernen dagegen z.B. nicht, wann ein Satz vollständig

157 ist bzw. was ein vollständiger Satz ist; denn das wußten sie als kompetente Sprecherinnen und Sprecher schon vorher. Die relativ kleinschrittige Reaktivierung des Lernstoffes durch die Lehrerin korrespondiert mit einer deutlichen Tendenz zur Bevorzugung erfahrungsnaher Antworten. Die Schüler zeigen noch kaum abstraktes Verständnis, sondern sie setzen bei den „funktionalen Beziehungen" an, „in denen ein Gegenstand im Handlungskontext vorkommt". 46 Sie präsentieren zuerst ihr handwerkliches und technisches Wissen, um sich allmählich auf höhere Abstraktionsebenen vorzuarbeiten. Das vorherrschende „Wenn-dann-Format", in dem sie ihre Antworten vorbringen, steht beispielhaft fur die handwerklichen und fur die gesprächstechnischen Strategien, die sie zur Lösung von auferlegten Relevanzen in vergleichbaren Kontexten erworben haben. Die Schüler aktivieren ihr Reflexionspotential im Unterrichtsgespräch nicht aufgrund von spontanen Differenzerfahrungen, sondern aufgrund von auferlegten Relevanzen, wobei das Problem bzw. die Fragen, mit denen sie konfrontiert werden, in keinem konkreten Zusammenhang mit ihren praktischen Reflexionserfahrungen stehen. Auch das laufende Kommunikationsereignis liefert ihnen keine relevanten Informationen zur Beantwortung der Frage, wann ein Satz vollständig ist, obwohl ihre sprachlichen Handlungen zeitgleich genau dieses Wissen voraussetzen. Ansätze für eine erfahrungsnahe Spachreflexion gibt es durchaus (vgl. Fälle von spontaner Reflexivität oder den Beitrag Sabines), aber die Frage nach der Praktikabilität eines didaktisch-methodischen Vorgehens, das die Schüler in erfahrungsnaher Reflexion zu sachadäqaten Kategorisierungen und Explikationen ihres handlungsleitenden Wissens bringen könnte, muß auf der Grundlage des kurzen Ausschnitts eher mit Skepsis beantwortet werden. Beispiel „ich mach mir sEhr viel sOrgen" Die folgenden Ausschnitte stammen aus einer Übung zur Stilistik in einer siebten Klasse.47 Gegenstand des Unterrichtsgesprächs war die Beurteilung eines schriftlichen Textes und die Begründung von Kriterien für die Adäquatheit einzelner Varianten mit dem Ziel, Emphasen aus der jeweiligen Intention des Sprechers zu erklären. In ihrem Kommentar hebt Redder hervor, daß die Schüler ihr „eigenes Wissen über Betonungen anwenden und reflektieren sollen":48 Unterrichtsthema ist die Intonation im Deutschen, speziell die Funktion von Emphase. Dazu wurde bereits früher eine Geschichte aus dem Deutschbuch besprochen, in der drei Möglichkeiten der Betonung (Emphase) von 'So sehe ich nicht aus' konkretisiert wurden (Emphase von 'so', 'ich', 'nicht'). In einer Gruppenarbeit sollen die Schüler

46 47 48

Vgl. Andresen (1985, 66). Die Unterrichtsstunde liegt vollständig transkribiert in Redder (1982) vor. Redder (1982, XII).

158 nun selbst zwei Geschichten erfinden, in denen die vorgegebene Äußerung 'Du machst dir Sorgen* jeweils verschieden betont wird. Mithilfe solcher Geschichten sollen sie ihr eigenes Wissen über Betonungen anwenden und reflektieren.

Obwohl das Unterrichtsgespräch in hohem Maße sprachreflexiv ist, findet sich kein Beleg dafür, daß es den Schülern gelingt, ihr handlungsleitendes Wissen mit ihrem reflektierten Wissen über stilistische Variation analytisch zu verbinden. Da sich das reflektierte Phänomen (Betonung) im Unterschied zu seinem natürlichen Auftreten in mündlicher Kommunikation, wo es von den Teilnehmern mühelos produziert und interpretiert wird, gegen eine kontextfreie Analyse sperrt, ist es fraglich, ob mit dem praktizierten Reflexionsverfahren überhaupt ein sinnvoller Erkenntnisfortschritt möglich ist. Bevor die Schüler das Gelernte in einer schriftlichen Übung anwenden sollen, will der Lehrer an Bekanntes anknüpfen. Er erinnert zu diesem Zweck an den Beispielsatz „So sehe ich nicht aus" und demonstriert drei Möglichkeiten der Emphase. Die Schüler stimmen in dieser Phase des Unterrichtsgesprächs unaufgefordert ein, greifen der Beispielpräsentation vor und vermitteln damit in direkter Kooperation mit dem Lehrer den Eindruck, daß sie schon wissen, worum es geht: „ich mach mir sEhr viel sOrgen" (Ausschnitt 1) L S1 L S1 S2 S3

(...) und wenn ich mich recht erinnere warn d i . gabs drei verschiedene so:' möglichkeiten . . . so: . ich und nicht ich so ich nicht sO ich sehe nicht aus

Der Lehrer stellt in diesem Ausschnitt fest, daß es Betonungsvarianten gibt. Seine Formulierung soll perspektivisch so verstanden werden, daß es möglich ist, nach bestimmten überprüfbaren Kriterien zu entscheiden, welche Variante jeweils richtig oder angemessen ist, welches der drei Wörter also jeweils betont werden muß. Während sich die Schüler S1 und S2 in ihren Zurufen auf die fraglichen Elemente des Beispielsatzes beschränken („so", „ich" und „nicht"), reproduziert der Schüler S3 den Beispielsatz - in syntaktischer Variation vollständig. Im nächsten Ausschnitt läßt der Lehrer den Beispielsatz durch einen Schüler vortragen. Dabei kommt es zu einer Selbstkorrektur, die vom Lehrer aufgefangen wird:

159 ,ich mach mir sEhr viel sOrgen" (Ausschnitt 2) 1 S1 2 S1 3 S1 Ss L 4 S1 L S2 S3 5 S1 L S3 S4 6 S1 L S4

(...) der fotograf ist anderer meinung . er versucht ihr klarzumachen . daß grade dAs bild das sie nicht mag besonders gut gelungen ist. aber hildegard schüttelt den köpf. sa:gen sie,. was sie wollen,. das gefÄLlt öh ich mein (kichern . .) ne: das das gefÄllt mir nicht, so sehe Ich nicht Aus . . geht hm' nein das ist falsch das so sO: sehe ich nicht aus sollts de so:

sO sehe ich nicht aus+ sO seh Ich nicht aus sO sO sehe Ich nicht aus is die erste möglichkeit ne' (...)

sehe Ich nicht aus

Was die Irritation des Vorlesenden ausgelöst hat, warum er ausgerechnet über eine Betonung stolpert, die nicht vom Standard abweicht, ist nur hypothetisch zu beantworten. Die Reaktion „ne: das geht" (3-4) impliziert ein Angemessenheitsurteil, das der Lehrer zu diesem Zeitpunkt zwar nicht begründet, das er aber prinzipiell für begründbar hält. Die spontanen Korrekturen der Mitschüler gleichen die Ziel Variante mit vorstellbaren eigenen Äußerungen ab. Sie suchen quasi zur Beurteilung des Beispielsatzes nach „ihrer" Variante. Auch sie setzen also voraus, daß es eine „richtige" Variante gibt, ohne daß dieses Urteil („nein das ist falsch", 4) - abgesehen von weiteren Präsentationen des Beispiels - begründet wird. Anschließend stellt der Lehrer die erwartbare Frage nach der „richtigen" bzw. nach der „angemessensten" Betonungsvariante. „ich mach mir sEhr viel sOrgen" (Ausschnitt 3) L L J G L G L

(...) ja was haltet ihr von den drei möglichkeiten . welche is wohl die: . . . ja die richtige oder die . . angemessenste jörg mh' guido Ich . so sehe Ich nicht aus, das so und jetzt brauchn nicht. das is ja: . die vemEinung . . so sehe ich NICHT aus . wir nur noch einn der meint bei so wärs richtig dann habn wir wieder alle drei ne'

160 Wie und auf welcher Grundlage soll aber eine der drei Betonungsvarianten von den Schülern ausgezeichnet werden können, wenn alle drei möglich sind? Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß nicht nur eine, sondern jede Variante als die „richtige" vorgeschlagen wird. Andererseits gibt es auch schon eine Antwort, die den Versuch unternimmt, die Lücke zwischen handlungsleitendem und reflektiertem Wissen durch eine Begründung zu schließen, vgl. den Beitrag von G: „das nicht. das is ja: . die vernEinung" (2-3). Aber es scheint dem Lehrer (noch) nicht darauf anzukommen, Begründungen für die eine oder die andere Variante zu hören, denn er übergeht diesen ersten Erklärungsversuch und setzt stattdessen gezielt einen Impuls, der zur Komplettierung der Beispielsatzserie führen muß: „so und jetzt brAuchn wir nur noch einn der meint bei so wärs richtig dann habn wir wieder alle drei ne" (3-4). Erst jetzt wird die Frage nach dem Entscheidungskriterium vom Lehrer ausdrücklich gestellt. Zu diesem Zeitpunkt, in dem also von den Schülern explizit ein reflektierter Zugriff auf ihr sprachliches Wissen erwartet wird, geschieht etwas Bemerkenswertes: Die Schüler plädieren zur Lösung der Aufgabenstellung für eine Mehrheitsentscheidung und weichen damit einer individuell zu verantwortenden Begründung aus: „ich mach mir sEhr viel sOrgen" (Ausschnitt 4) 1 L S1 2 S1 S2 S3 S4 S5 Ss

(...) wie könn wer . wie können wir das denn entscheiden .

absolute mehrzahl indem wir Abstimmen genau nä nä (Heiterkeit)

Zwar erhebt sich auch Widerspruch gegen diesen Vorschlag, aber eine Alternative wird nicht angeboten. Die Schüler wollen sich zur Beurteilung der Adäquatheit und Normgerechtheit der Beispielsätze lieber auf das eigene Sprachgefühl und das ihrer Mitschüler verlassen als auf ad hoc zu bildende externe Kriterien. Der Lehrer gibt keinen Hinweis, in welcher Richtung die Schüler eventuell nach einer Begründung suchen könnten, sondern er setzt noch einmal nach, indem er sämtliche Varianten vorträgt (nicht transkribiert). Damit hält er die Ausgangsfrage nach einem nicht-intuitiven Begründungskriterium ohne zusätzliche Informationen aufrecht, macht es aber zugleich nahezu unausweichlich, daß die Schüler raten müssen, was auch geschieht. Als eine Schülerin willkürlich die letzte Variante vorschlägt, kann sie sic^i nicht durchsetzen, da

161 auch die anderen, von ihrer Möglichkeit abweichenden Vorschläge ohne nähere Erläuterung vorgetragen werden, und daher im Prinzip gleichrangig sind. Diese aus didaktischer Sicht äußerst unbefriedigende Situation hätte dem Lehrer Veranlassung sein können, die Möglichkeiten und Grenzen des eingeschlagenen Weges zu thematisieren. Stattdessen bittet er die Schüler um die schriftliche Konstruktion von Kontexten, in denen der Satz „Du machst dir Sorgen" jeweils unterschiedlich betont wird. Von diesem Methodenwechsel erhofft er sich größere Klarheit: „vielleicht wird es uns ein bißchen klarer wenn wir das mal an einem beispiel selbst probieren".49 Beim Vorlesen der zweiten Geschichte, deren Anfertigung den Schülern große Mühe bereitet hat, kommt es zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem Lehrer und einem vorlesenden Schüler, auf die auch Redder in ihrer Einleitung hinweist: 50 Bei der Besprechung der einzelnen Geschichten, die die Schüler vorlesen, zeigt sich etwas Interessantes. Häufig stimmt die Emphase beim Vorlesen nicht mit der vom Schüler in der Geschichte angelegten, zielgemäßen Emphase überein. Zwischen dem reflektierten sprachlichen Wissen - bei der 'Erfindung' einer Geschichte zu einer zuvor bestimmten 'Betonung' - und dem praktizierten sprachlichen Wissen beim Vorlesen besteht eine Diskrepanz. Manchmal bestreiten die Schüler ihr 'falsches' Vorlesen. Dadurch entstehen Situationen, die eher einem Aushandeln gleichkommen als einem Einsehen in den Zweck von Emphase als einem sprachlichen Mittel.

„ich mach mir sEhr viel sOrgen" (Ausschnitt 5)

Sl L Sl L S2 Sl L S2 Sl L S2 Sl L L

49 50

(...) ich mach mir . sEhr viel sorgen, herbert Ich' . auf das sEhr viel. .

worauf betonste das' . . hab ich wo:hl. ich mach

n:e: haste nich jemacht, sEhr doch' mir sehr vIEl sorgen, herbert,. sO hab ich das gesagt hab ich doch ne: ne: dOch hier gesagt ich mach mir wie hat er das betont'. ne: eh vIEl sOrgen ich mach mir sorgen sEhr viel sOrgen sOrgen sOrgen sOrgen liest es . liest du bitte die geschichte noch ma,

Vgl. Redder (1982, 53). Redder (1982, Xllf.).

162 Die Geschichte des Schülers endet mit „ich mach mir . sEhr viel sorgen, herben" (1). Da die Betonung nicht oder jedenfalls für den Lehrer nicht eindeutig genug mit einer der Zielvarianten übereinstimmt (entweder „ich" oder „Sorgen" sollten betont werden), fragt er noch einmal gezielt nach (1). Die Diskrepanz zwischen der vom Schüler intendierten, der realisierten und der vom Lehrer angestrebten Variante führt zu einer der von Redder erwähnten Aushandlungssequenzen, bei der die Mitschüler sich zur praktischen Klärung des Problems eines ähnlichen Verfahrens bedienen wie im zweiten Ausschnitt. Ein Ende der Aushandlungssequenz wird schließlich dadurch erreicht, daß der Schüler seinen Text noch einmal mit einer für den Lehrer befriedigenderen Betonungsvariante vorliest. Er betont nun alle in Frage kommenden Ausdrücke: ich mach mir „sEhr viel sOrgen, hcrbert". 51 Das Dilemma, das sich nach der Analyse der didaktisch motivierten Sprachreflexion abzeichnet, besteht darin, daß für einige Reflexionsobjekte ein Kontinuum zwischen kontextfreier Reflexion und situationsbezogener Äußerung bzw. zwischen Verstehen und Vollziehen einer Sprachregel weder besteht noch ohne weiteres herstellbar ist. Angesichts dieser Ausgangssituation überrascht es nicht, daß alle Beteiligten einschließlich des Lehrers die Tendenz haben, die Beispielsätze immer wieder zu produzieren, ohne sie zu analysieren. Die Lücke, die zwischen dem Ausgangsdatum und der eigenen Erfahrung klafft, wird bevorzugt durch spontanes Ausprobieren und Vergleichen einzelner Varianten geschlossen. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist dieses Verfahren durchaus vernünftig, weil die Schüler auf diesem Wege versuchen, die Intuition möglichst vieler Sprecher zusammenzuführen; die Instanz, auf die sie sich damit für die Richtigkeit oder Angemessenheit einer Variante berufen, ist weder die fragmentarische Sicht des Einzelnen noch ein ad hoc zu bildendes, möglicherweise sachfremdes Kriterium, sondern der Usus der Kommunikationsgemeinschaft. Das Unterrichtsgespräch fördert in diesem konkreten Fall ein Verfahren der Sprachreflexion, das den sprachreflexiven Möglichkeiten der Schüler als Teilnehmern nicht entgegenkommt. Ein organischer, reflexiv vermittelter Anschluß zwischen den eigenen Kommunikationserfahrungen und den zu reflektierenden Beispielsätzen scheint nur möglich zu sein, wenn das vorhandene Reflexionspotential auf eine erfahrbare Kommunikationssituation bezogen wird, in die einer der Beispielsätze eingebettet werden kann. Erst dann könnte sich zeigen, welches Reflexionspotential die Schüler zur Beschreibung und Verarbeitung ihrer Kommunikationserfahrungen aktivieren können. Andererseits ist erkennbar, daß die Schüler versuchen, den künstlichen Reflexionsanlaß mit ihren Möglichkeiten als Sprecher anzugehen. Sie probieren im Wechselspiel alle Betonungsvarianten aus, und es ist sehr gut denkbar, daß sie auf diesem Wege, der vom Lehrer didaktisch nicht unterstützt wird, etwas näher an

51

Vgl. Redder (1982, 72).

163 eine erfahrungsbezogene Zuordnung der stilistischen Varianten herangekommen wären als es ihnen unter den gegebenen Reflexionsbedingungen möglich ist. Qualitativ andere Bedingungen für die Bearbeitung des Reflexionsanlasses würden sich beispielsweise ergeben, wenn die Schüler aufgefordert gewesen wären, ein Rollenspiel zu erfinden und zu spielen, in dem die Bezugsäußerung vorkommt. Beispiele „Vollversammlung" und „son typ" Wenn der Lehrer im letzten Beispiel ein Rollenspiel mit den Schülern arrangiert hätte, wäre die Chance, ein durch eigene Erfahrungen fundiertes Urteil zu bekommen, sicher größer gewesen. Andererseits bieten Rollenspiele, aber auch andere Formen elizitierter erfahrungsnaher Reflexion keineswegs die Gewähr dafür, daß die Reflektierenden zur Verarbeitung des Ausgangsdatums nicht auch ein dem primären Material äußerliches oder ein durch diskontinuierliche Reflexion erworbenes Wissen heranziehen. Grundsätzlich unterscheidet sich das methodische Problem eines Konversationsanalytikers in diesem Punkt nicht von dem eines reflektierenden Rollenspielers. 52 Das Beispiel „Vollversammlung" gibt den ersten Teil eines Rollenspiels wieder, das die Teilnehmer einer Übung zu Methoden und Arbeitstechniken der Konversationsanalyse produziert haben. 5 3 Gegenstand der Lehrveranstaltung war es, den kontrolliert reflexiven Erkenntnisprozeß eines Konversationsanalytikers von der Datenerhebung bis zur Analyse eines Transkripts exemplarisch nachzuvollziehen. 54 Bei der Beschaffung von Daten für die Arbeit im Seminar wurde aus methodischen Erwägungen heraus nicht auf ein „natürliches" Gespräch zurückgegriffen, sondern die primären Daten wurden von den Teilnehmern in Form von kurzen Rollenspielen (3-4 Minuten) selbst hergestellt. Eines der Rollenspiele wurde nach einigen praktischen Erwägungen für alle weiteren Reflexionen zugrundegelegt. Natürlich wurde in diesem Zusammenhang ausführlich darüber diskutiert, o b und in welchem Sinne ein Rollenspiel ein authentisches Gespräch sein kann oder nicht, denn es ist unbestreitbar, daß ein Rollenspiel keine natürliche Situation im Sinne alltagsweltlicher Erwartungen an vergleichbare Sequenzen darstellt. Dieser Aspekt ist aber zweitrangig, da auch ein Rollenspiel ein Stück Vollzugsrealität darstellt, das der Reflexion zugänglich ist. Rollen-

52

53

54

Vgl. hierzu die theoretisch-methodischen Reflexionen in Bergmann (1981) und (1994). Ich danke den Rollenspielteilnehmerinnen und dem Rollenspielteilnehmer sowie allen anderen Seminarteilnehmern für ihre Mitarbeit und für die Bereitstellung der Daten. Die Idee zur Analyse der Analyse geht zurück auf Anregungen von Dorothea Franck (1989) und ein von Reinhold Schmitt initiiertes Experiment zur Supervision und Reflexion einer konveisationsanalytischen Sitzung in Bielefeld 1992.

164 spiele sind keine natürlichen Gespräche, aber sie sind authentische Rollenspiele. 55 Fragwürdig sind Rollenspiele allerdings dann, wenn im Umkehrschluß angenommen wird, daß die in der reflexiven Verarbeitung hervorgehobenen Merkmale des Kommunikationsereignisses mit denen eines vergleichbaren, naturwüchsig entstandenen Gesprächsausschnitts identisch seien; das Rollenspiel bleibt ein Kommunikationsereignis mit besonderen Gesetzmäßigkeiten. Letztere wurden von den Rollenspielteilnehmem - z.T. entgegen der Intuition der Rollenspielbeobachter - so charakterisiert: verstärkte Kontrolle des eigenen Verhaltens durch die Wahrnehmung der Spielsituation, mangelnde Spontaneität, Vermeiden von Pausen und Fortsetzung des Gesprächs, auch wenn es nichts zu sagen gibt. Beispiel „Vollversammlung"* (Anfang des Rollenspiels) 1 A 2 A 3 A Β C 4 C 5 A Β C D 6 A Β C 7 Β C 8 Β D 9 D 10 Β D

na'= habt=ihr au= alle diese f:lUgblätter bekommen' diese schönen din a fünf kleinn f:lUgblätter zur. Vollversammlung'. habt ihr die schon mal + gelesen' überflo:gen . ja da kam letztens son typ ins seminar und hat die (irgendwie . aufn tUsch gelegt aber hh ich hab . bin=noch =nich dazu gekommn mir ma eins zu (k.?) irgendwie nErven die auch η bißchen diese vOllversammlungn kommt greifen,. hm sowieso nichts bei rau:s man br verbringt da seine z e i : t . . .

also bishe:r, wieso:', . findste' ja: die sind sowieso auch alle für strei:k . also ich find die eigentlich immer ganz produktiv

und .. man kann da eigentlich nich viel m ne .so kann man das ja auch nich sa:gen,. nd ich find das schOn sehr wichtig also da hlnzugehn und wir sind so:n großer fAchbereich nd die sind immer also ich find das Auch wichtig daß man mal so lee:r ich find das nicht gut,

Einer der ersten Arbeitsschritte56 und zugleich einer der wichtigsten Reflexionsanlässe nach dem Rollenspiel war die angemessene Verschriftlichung

55

Zur Authentizität von Rollenspielen als eigenständiges soziales Ereignis vgl. Schmitt

(1997). *

Aufnahme und Transkription: Ingwer Paul.

165 der Tonbandaufnahme. D i e Übungsteilnehmer haben zu diesem Zeitpunkt schon über die zu erwartenden Unterschiede zwischen gesprochener und g e schriebener Sprache diskutiert, und es war ihnen für die schriftliche Ü b u n g aufgetragen worden, geeignete Konventionen für spezifische Merkmale der g e sprochenen Sprache (Minimalbestätigungen und andere Hörersignale, Pausen, Verschleifungen, Dehnungen, Versprecher, Räuspern, Husten, Lachen, Gähnen) zu finden. Die folgenden Ausschnitte z e i g e n den jeweils ersten Versuch einer Verschriftlichung des Rollenspielanfangs (s.o. Beispiel „Vollversammlung")' 5 7 1. Vorschlag 1 A: 2 3 4B: 5C: 6 7 8 9 B: 10 11C: 12 B: 13 14 A: 15 C: 16 17 B: 18 19 D: 20 21 22

na habt ihr auch alle diese flugblätter bekommen diese schönen dina fünf kleinen flugblätter zur Vollversammlung.. ..habt ihr die schon mal gelesen ...überflogen ...ja da kam letztens son typ ins seminar und hat die..irgendwie aufn tisch gelegt aber...(lacht) ich hab..bin noch nich dazu gekommen mir mal eins zu greifen irgendwie nerven die auchn bißchen diese Vollversammlungen....kommt sowieso k nichts bei raus man br verbringt da seine zeit also bisher ja hö wiesoo findste also ich find die eigentlich immer ganz produktiv sind sowieso auch nur alle für streik.. und man kann ja eigentlich nich so ...nee so kann man das ja auch nich sagen...und ich find das schon sehr wichtig..also..dahin zu gehen und wir sind son großer fachbereich und die sind immer...so leer..ich find das nich gut

2. Vorschlag 1 A: 2 3 4 B:

56 57

na habt ihr auch alle diese FFLUgblätter bekommen, diese schönen din a 5 kleinen FFLUgblätter zur. Vollversammlung.. (EA). habt ihr die schon mal gelesen überflogen

Weitere Arbeitsschritte werden in Abschnitt 4.3.3 analysiert. Ich danke Ulrike Bohle für die Übertragung der Originale. Die Besonderheiten der Vorlagen - Rechtschreibung, Abstände, Zeilengestaltung, Konventionen für Merkmale der gesprochenen Sprache, synchron gesprochene Äußerungen u.sw. - wurden nach Möglichkeit beibehalten.

166 SC: 6 7 8 B: 9 10 ?: IIB 12 A: 13 C: 14 15 B: 16 17 D: 18 19 20

ja da kam letztens son typ ins seminar und hat die irgendwie aufn tisch gelegt aba he (lacht) ich hab..bin noch nich dazu gekommen mir ma eins zu greifen irgendwie neerven die auchn bißchen diese

ich find das auch schon sehr wichtig...also da hinzugehen und wir sind son kleiner fachbereich und wir sind immer so lee.a ...ich find das nich guut

3. Vorschlag 1 Λ: Na habt ihr auch alle diese Flugblätter bekommen diese 2 schönen Din AS kleinen Flugblätter zur Vollversammlung? # 3 Habt ihr die schon mal gelesen? 4 B: Überflogen 5 C: Ja da kam letztens son Typ ins Seminar und hat die irgendwie 6 aufn Tisch gelegt aba he da ich hab bin noch nich dazu gekomm 7 mir mal eins zu greifen. 8 D: Irgendwie nerven die auch η bißchen diese Vollversammlungen 9 # kommt sowieso nichts bei raus. Man ver verbring da seine Zeit 10 A: Hm 11C: wieso?? # Findste? # Also ich find die eigentlich immer 12 D: Also bisher # ja 13 C: ganz produktiv 14 D: Die sind sowieso auch nur alle für Streik 15 und # man kann da (eigentlich nicht viel) 16 B: Nee so kann man das ja auch nich sagen. # Nee ich 17 find das schonn sehr wichtig also da hinzugehen. Und wir 18 sind so η großer Fachbereich und die sind immer # so leer 19 Ich find das nich gut. 4. Vorschlag 51 Na, habt ihr auch alle diese Flugblätter bekommen, diese schönen DIN A S kleinen Flugblätter zur Vollversammlung, habt ihr die schon mal gelesen? 52 Überflogen 53 Ja, da kam letztens so'n Typ ins Seminar und hat die irgendwie aufs Tisch gelegt, aber LACHT ich hab bin noch nich dazu gekommen, mir mal eins zu greifen S2 Irgendwie nerven die auch'n bißchen, diese Vollversammlungen. Kommt sowieso nichts bei raus, man br verbringt da seine Zeit S1 hm

167 S3 52 53

wieso also bisher Finste?

also ich fint die eigentlich immer ganz produktiv 52 sind sowieso auch alle nur fur Streik und + + man kann da eigentlich nich hin 53 ο nee, so kann man das ja auch nich sagen. Ich fint das schon wichtig also da hinzugehen und wir sind so:n großer Fachbereich und wir sind immer + so leer, ich fint das nich gut 5. Vorschlag 1 A: 2 3 4 B: SC: 6 7 8 B: 9 IOC: IIB: 12 A: 13 C 14 B: 15 C: 16 B: 17 C: 18 B: 19 D: 20 21 22

Na, habt ihr auch alle diese Flugblätter bekommen, diese schönen Din A 5 kleinen Flugblätter zu Vollversammlung, habt ihr die schon mal gelesen? überflogen Ja, da kam letztens so' η Typ ins Seminar und hat die irgendwie auf η Tisch gelegt, da war (lacht) ich hab ich bin noch nich dazu gekommen, mir mal eins zu greifen. Irgendwie nerven die auch'n bißchen, diese Vollversammlungen, kommt sowieso nichts bei raus, man (pr) verbringt (kü) da seine Zeit= = (eh) = Wieso? = also bisher & Find'ste? Also ich & ja, ( ) & sind sowieso auch nur alle & für Streik und ( ) (ich) & find' die eigentlich immer ganz produktiv & & kann da eigentlich nich so & & nee, so kann man das ja auch & nich sagen, (nee) ich find' das schon sehr wichtig, da hinzugeh'n, wir sind so'n großer Fachbereich, und die sind immer so leer, ich find' das nich gut.

6. Vorschlag Sl: Na habt ihr auch alle diese Flugblätter bekommen diese schönen DIN A5kleinen Flugblätter zur Vollversammlung...habt ihr die schon mal gelesen. S2: Überflogen S3: Ja, da kam letztens so nen Typ ins Seminar und hat die irgendwie auf η Tisch gelegt, aber (he) Ich hab/bin noch nicht dazu gekommen, mir (mh) eines zu greifen. S2: Irgendwie nERven die auch η bißchen diese Vollversammlungen kommt sowieso nichts bei raus und man verbr verbringt da seine Zeit. Κ:

K...

WieSO...findste..also, ich find die eigentlich immer ganz produktiv. Sl: K.... S2: also bisher Ja,. Sind

168

S4:

sowieso auch alle immer für Streik...und ich kann da eigentlich nicht Nee, so kann man das ja auch nich sagen. Ich find das schon sehr wichtig .also da hinzugehen. Und wir sind so η großer Fachbereich und die sind immer..so leer. Ich find das nicht gut.

Alle Transkribenten haben versucht, den Besonderheiten der gesprochenen Sprache in ihrer Verschriftlichung Rechnung zu tragen. Auf der Grundlage verschiedener Lösungsvorschläge fiir dasselbe Phänomen ergab sich im Vergleich der Übungstranskriptionen die Notwendigkeit, die jeweilige Version nachträglich zu begründen oder zu rechtfertigen. An der Diskussion um eine angemessene Verschriftlichung fällt auf, daß viele Transkribenten zur Begründung ihrer Vorschläge auf ein in diskontinuierlicher Reflexion erworbenes Erklärungs- und Reflexionspotential zurückgreifen. Besonderen Diskussionsbedarf gab es in dem abgedruckten Ausschnitt an drei Stellen: 1. Wie kann das mit markierter Frageintonation (auffälliger Intonationskurve) realisierte „wieso" (6) adäquat wiedergegeben werden? 2. Wie soll die deutlich hörbare, dem gesprochenen Standard vollkommen entsprechende Kontraktion von „so" und „ein" zu „son" (3) verschriftlicht werden? 3. Welche Rolle oder Funktion kann die Interpunktion bei der Transkription gesprochener Texte übernehmen? Am einfachsten war es, in der ersten Frage Übereinstimmung herzustellen, denn obwohl die Übungstranskriptionen an dieser Stelle stark voneinander abweichen, stimmen sie doch darin überein, daß es an dieser Stelle etwas Auffälliges zu transkribieren gibt. Die Divergenzen konzentrierten sich darauf, welche Konvention für ein von allen in ähnlicher Form wahrgenommenes Phänomen sinnvoll sein kann. Einige Transkribenten geben die Dehnung durch Verdoppelung oder Großschreibung des Vokals wieder, andere bevorzugen Interpunktionszeichen wie Apostroph oder Doppelpunkt. Schwieriger war es für die Teilnehmer, im zweiten Punkt zu einer Einigung zu kommen, weil das in diskontinuierlicher Reflexion erworbene Erklärungspotential in dieser Frage z.T. direkt mit ihrem Wahrnehmungsurteil interferiert. So wie ein Lehrer nach langjähriger Diktierpraxis davon überzeugt sein kann, daß ein geschriebener Doppelkonsonant ein direktes gesprochenes Äquivalent haben muß, bilden einige der Teilnehmer Hypothesen über Eigenschaften der gesprochenen Sprache nach ihrer Kenntnis der geschriebenen Variante: Beispiel „son typ" (Ausschnitt 1) 1 2 3

stimmt dann hab ich hab ich falsch gehört, genauso Α am Anf A am anfang sagt auch nich habt ihr

169 2 2 3 4 1 3 2 1 4 2 5 5 2 5 6 2 1 7 2 1 8 2 1 9 1 κ 10 1 6 11 6 12 2 6 13 2 1 14 2 1 Κ 6 Χ

hh . sondern habter

also eher e als i habter+ . .

(

?)

. ich hab auch dazu noch η kleines problem

zu so ein typ son typ wozu

(.?) hat ja ja'

gesagt er präferiert dieses . son typ . . und ich meine sie sagt so.n:typ,

und mh

deshalb würde ich die dritte . äh präferieren,.. und vielleicht auch die zweite also mh' wenn mans denn schon genau machen will. fAlsch ja dann müßte hier a müßte ja die pAUse dazwischen. man aber . dann weiß ich nich was dieses apostroph soll. so N: ja dann is das ne pause dann müßte man hier ach so dann . würd ich zuerst mal ne pausenkonvention einfach . . hier so zum beispiel also mit punkt oder . wie (Tafelanschrieb) auch immer auf jeden fall hier irgendwas machen. kann man nich vielleicht noch η punkt über das η schreiben oder so ne mischform aus aus lautschrift oder sonstwas ne es is ja wenn man jetzt drunter schreibt. daß das η dann halt son . sone art. . dazwischen . die pause zwischen ο und äh wolln sie nochmal hörn was er s was sO:'n, was sie da sagt' . ja' son typ' (Einspielung des Beispiels) so: n: (··.·?) so::n

Beispiel: „son typ" (Ausschnitt 2)

1 1 2 XI X2 2 1 XI X2 X3

sUn sagt sie sUn also ich finde hh ich hör das nich was sie sagen ne, ich doch also (....?) so: N: zum beispiel da eher sOn würd ich sagen ich habs auch mit apostroph geschrieben weil

170 3 1 2 X2 X3 4 1 X4 5 1 2 X4

das kann gar nich sie setzt nicht ab also ich meine das JA ne absetzen tut sie nicht ich ich hör das hier . eindeutig sie spricht es auch sehr lAnge find ich dieses n:: also nee son . das is doch aber sOn dann dann würde das ja man hört es ganz schön

6 1 2

sun

7 1

son typ das wäre für mich . . was höm . was hOm sie denn sagn sie mal

son typ heißt es für mich son typ nee sie betonen jetzt einfach diese (..?) aber

2 Κ 8 1 2 9 1 2

mir gehts (Tafel) ja darum daß ich das daß ich das empfinde daß das N: als eigen also is es ja auch es natürlich is eben die Abkürzung für ein also daß es daß sies betont als eigenes . . wort,

In der gesamten Diskussion wurden die Verschriftlichungsvorschläge immer wieder mit dem akustischen Eindruck der Rollenspielsequenz abgeglichen. Der erste Ausschnitt gibt die Diskussion zwischen zwei Tonbandeinspielungen vollständig wieder. Ein Teilnehmer weist darauf hin, daß keine der angebotenen Verschriftlichungen die ersten drei Wörter des Rollenspiels („na'=habt=ihr") adäquat wiedergibt. Er schlägt daher vor, habt und ihr zu einem Wort zusammenzuziehen und das „i" durch ein „e" zu ersetzen (1-2). Teilnehmerin (2) greift diese Bemerkung auf, um ihr „problem" mit der Verschriftlichung von „son typ" vorzutragen (2-6). 58 In ihrer Problemformulierung kontrastiert sie mehrere Verschriftlichungsvarianten, wobei ihr Problem in der offensichtlichen Differenz zwischen den vorgeschlagenen Varianten und der schriftsprachlichen Norm begründet ist. Es ist auf dem Wege der Analyse nicht entscheidbar, was (2) tatsächlich gehört hat. Bemerkenswert ist aber, daß sie, obwohl sie selbst auch den entsprechenden Ausdruck genau in der von ihr monierten Form realisiert (vgl. Ausschnitt 1, 3, 4), bei ihrer Kritik an der mehrheitlich vorgeschlagenen Version bleibt.

58

Die Vorschläge wurden im Seminar wie folgt numerieit: 1. son 2. so nen 3. so'n 4. sonn

171 Eine Erklärung für diese auffällige Diskrepanz ist m.E. weder darin zu suchen, daß die Teilnehmerin den entsprechenden Ausdruck privatsprachlichidiolektal anders realisiert als die anderen Übungsteilnehmer, noch darin, daß sie etwas anderes gehört hat. Naheliegend ist vielmehr, daß ihr Wahrnehmungsurteil maßgeblich durch ihr reflektiertes Wissen beeinflußt wird. In ihren späteren Begründungen überspringt sie daher den unmittelbaren akustischen Eindruck, um die Plausibilität ihres Vorschlags direkt an die Regeln der Schriftsprache zu binden. Weil das „n" in „son" die Abkürzung für „ein" ist, und weil „so" und „ein" zwei Wörter sind, muß die Sprecherin aus der Sicht von (2) daher an dieser Stelle eine Pause gemacht haben (Ausschnitt 1, 7-8). Die „Empfindung", von der (2) als der Quelle ihrer Differenzerfahrung spricht (Ausschnitt 2, 8), geht nicht auf ihr Sprachgefühl, sondern auf ihr Sprachbewußtsein zurück. Letzteres ist ihr so selbstverständlich geworden, daß es sich in der nachträglichen Reflexion sogar gegen den abweichenden, i η der eigenen Formulierungspraxis erfahrbaren, Eindruck durchsetzen kann: „mir gehts darum daß ich das daß ich das empfinde daß das N: als eigen also i s es ja auch es is eben die Abkürzung für ein also daß es daß sies betont als eigenes . . wort" (Ausschnitt 2, 7-9). Es ist kaum zu erwarten, daß dieser Typ von Differenzerfahrung in der tatsächlichen Kommunikationspraxis jemals zum Auslöser einer sprachreflexiven Sequenz wird. Die Sprecherin wird auch weiterhin keine Pause zwischen „so" und „n" sprechen und sie wird, da Wortgrenzen in der gesprochenen Sprache nicht besonders markiert werden, diese Formulierungspraxis bei ihren Gesprächspartnern auch nicht als störend empfinden.

4.2.2 Didaktische und strategische Initiierung diskontinuierlicher Sprachreflexion. Diskontinuierliche Reflexionsaktivitäten können auch gezielt ausgelöst werden, ohne daß der Initiator ein Interesse daran hat, an die Kommunikationserfahrungen der anderen Teilnehmer anzuknüpfen. Im folgenden werden zwei Beispiele diskontinuierlicher Sprachreflexion untersucht, die hinsichtlich der Einstellung des Initiators zum Adressaten exemplarisch für komplementäre Formen elizitierter Sprachreflexion stehen. Während der Initiator des didaktisch motivierten Auslösers seine Adressaten mit einer Differenzerfahrung konfrontiert, um sie mit ihnen durchzuarbeiten, strebt der Initiator des strategisch motivierten Auslösers von vornherein keinen Erkenntnisgewinn bei seinem Gesprächspartner an. Beide Vorgehensweisen ähneln sich darin, daß sie spontane Wahrnehmungsurteile und Reflexionsaktivitäten ihrer Gesprächspartner nur zum Anlaß einer demonstrativen, auf einen normativen Konsensus bezogenen Reflexionsaktivität nehmen, deren Ergebnis vom Initiator einseitig festgelegt ist. Der Reflexionsanlaß ist in beiden Fällen ein sozialer Konflikt, der im allgemeinen Interesse reflexiv gelöst werden soll.

172 Lange bevor „politische Korrektheit" zum festen Bestandteil des Gleichheitsdiskurses und des sozial gebilligten Wissens wurde, warnte der S o z i o l o g e Lewin vor einer erfahrungsdistanzierten didaktischen Reflexion sozialer Konflikte:59 Umerziehung ist häufig in Gefahr, nur das offizielle Wertesystem, den Bereich des Wortschatzes und nicht den des Verhaltens zu erfassen. [...] Ein Faktor von großer Bedeutung für die Herbeiführung eines Gefühlswandels ist der Grad, in dem der Einzelne wirklich mit dem Problem zusammenstößt. Wo dieser Zusammenstoß fehlt, dürfte keine objektive Tatsache für den betreffenden Einzelnen den Rang einer Tatsache erhalten und damit sein soziales Verhalten beeinflussen. Daß der Einzelne in den beiden nächsten Beispielen nicht „wirklich mit dem Problem zusammenstößt" ist wesentlich auf den demonstrativen Charakter der sprachreflexiven Aktivitäten zurückzuführen; letzterer wird durch die Tatsache begünstigt, daß die Kommunikationsereignisse für das Fernsehen aufgezeichnet wurden. Ein Umstand, der auch erklären könnte, warum binnenkommunikativ keine natürliche Gesprächssituation entstehen konnte, selbst wenn i n der Inszenierung alles dafür getan wurde, die Situationen so natürlich wie möglich aussehen zu lassen. Beispiel: „eine frau ist eine frau' oder"*

1 J Κ 2 J Κ 3 J Κ 4 J 5 J κ 6 J 7 J

s 8 J κ

s

59

schön gutn morgEn kinder1

isch heiß jean jerome schiku kaljem morgE:n hä' so . ich schreib EUch auf ehe .

+ vereinzeltes reden, ich komme . aus . zalre' ihr seht doch + ich bin eine Echte . ausländer, mitbuchstabieren, lachen>+ oder', wenn ihr mich auf der Straße seht he' ihr seht doch sofort daß ich ein ausländer bin oder'+ oder nicht, . . ich meuchte mh+ ja, jo mh nur daß wir Uns . hä' nAher kennen lernen', daß Ihr AUch mal ein afrikaner von anderen . aspEkt äh'kennen lernt' &leben sie mit einer deutschen oder mit einer is das so cüberdehnt hoch> wichtig+ . . ob jo afrikanischen frau zusammn,

muljemma

Lewin ('1968, 102). Aufnahme: Jürgen Zeck, Transkription: Ingwer Paul. Bei dem Beispiel handelt sich um die erste Sequenz eines Fernsehprogramms mit dem Titel „Das Fremde" (ARD).

173 9 J Κ 10 J Κ S 11 S

ein deutsche oder eine afrikanische frau- +

12 S 13 J

besser gesagt dann würde das die äh auslanderfrEUndlichkeit besser bestimmen,

14 J 15 J

betrifft äh' aufgrund der unterschiedlische sitte und kulturen äh' manchmal gibt es

16 J

ein dEUtsche frau gibt auch probleme . oder'

eine frau clauteres reden>

ist eine frau' oder'

aber' clauteres reden, lachen> aber' aba

wenn man mit einer afrikanischen frau zusammen lebt- + oda mit einer deutschen aha . isch lebe mit einer dEutsche frau zusammn,. ja, aber=äh was problem problEm aber du weißt selbst daß . Um den dEUtsche . eine dEUtsche mann und

Ein in Deutschland lebender Afrikaner besucht eine Schulklasse mit dem erklärten Ziel, daß die Kinder „ein afrikaner von anderen aspEkt" (6-7) kennenlernen sollen; das didaktische Ziel des Unterrichtsgesprächs ist also der Abbau von Ausländerfeindlichkeit. Die Vorstellungssequenz (1-5) ist bereits ein Teil des Lernprogramms. Der Initiator der Reflexionsaktivität präsentiert sich selbst als Auslöser für mögliche Fremdheitserfahrungen und etabliert damit einen Reflexionsanlaß für das folgende Gespräch: „ihr seht doch + ich bin eine Echte . ausländer, oder', wenn ihr mich auf der Straße seht he' ihr seht doch sofort daß ich ein ausländer bin oder" (3-5). Mit seiner zweiteiligen Frage unterstellt der Lehrer, daß die Schüler ihn als „echten ausländer" (3) wahrnehmen und er impliziert, daß diese Kategorisierung ein Problem darstellt. Die Frage ist so suggestiv gestellt (vgl. die Verwendung der Partikel „doch" und das mehrmalige Nachfragen), daß nur zustimmende Reaktionen erwartbar sind. Aus der Sicht des Lehrers haben die Schüler ein Wissens- und Kompetenzdefizit, weil sie noch keine Kommunikationserfahrungen mit Fremden haben bzw. weil sie die wenigen Erfahrungen mit Fremden in unbefriedigender Weise verarbeitet haben: „ich möchte nur daß wir Uns . hä' nÄher kennen lernen', daß Ihr AUch mal ein afrikaner von anderen . aspEkt äh'kennen lernt" (5-7). Die Explikation des Lernziels zeigt in der Kontrastierung von Selbstkategorisierung („afrikaner") und projizierter Fremdkategorisierung („Echte ausländer"), worin in der Wahrnehmung des Lehrers der Reflexionsanlaß besteht. Das Problem ist aber (noch) nicht das Problem der Kinder. Mit ihrer Zwischenfrage „&leben sie mit einer deutschen oder mit einer afrikanischen frau zusammn," (7-8) kehrt eine Schülerin die Dialogrollen um, sie folgt damit i η gewisser Weise aber auch der erklärten Programmatik des „Sich Kennenlernens". Ihr spontaner Vorstoß, mit dem sie einen Teil ihres relevanten Hintergrundwissens aufdeckt und zur Disposition stellt, könnte in einer anderen Situation vielleicht als Anlaß für eine natürliche Form des Kennenlernens dienen.

174 Diese Gelegenheit wird vom Lehrer aber nicht wahrgenommen, sondern in einer Gegenfrage stuft er die Relevanz der Zwischenfrage massiv zurück „is das so cüberdehnt, hoch> wichtig+ . . ob ein deutsche oder eine afrikanische frau-" (8-9). Mit der tautologischen Formel „eine frau ist eine frau" (9-10) bestreitet er, daß es relevante Unterschiede zwischen Frauen unterschiedlicher Kulturzugehörigkeit gibt, und er immunisiert sich gegen weitere Problematisierungsversuche der Schülerin an diesem Punkt. Erst nachdem die Schülerin in einer komplexen Äußerung dargelegt hat, daß ihre Zwischenfrage einen wesentlichen Beitrag zum Unterrichtsziel leisten kann „aba wenn man mit einer afrikanischen frau zusammen lebt- oda mit einer deutschen besser gesagt dann würde das die äh auslanderfrEUndlichkeit besser bestimmen" (ΙΟΙ 2), wird ihre Frage beantwortet. Auffällig ist, daß die Schülerin im ersten Teil ihrer Formulierung die unpersönliche Form des Personalpronomens wählt und im zweiten Teil sogar vollständig auf ein Agens verzichtet. Das Subjekt, das die „ausländerfrEUndlichkeit" bestimmt, wird nicht von ihr genannt. Dies stützt die Hypothese, daß der Lernerfolg der Schülerin nicht in einer Reflexion eigener Hintergrundannahmen oder interpretativer Ressourcen fiir die Kommunikation mit Fremden besteht, sondern in einer Anpassung an das Relevanzsystem des Lehrers. Auch die positive Reaktion des Lehrers (13-16) zeigt, daß es in diesem Gespräch nicht um die reflexive Auseinandersetzung mit der realen Erfahrung von Differenz, sondern um die korrekte diskontinuierliche Reflexion dieser Erfahrung geht. Erschwert wird die Verständigung durch die einseitige Projektion des Auslösers: ,ja, aber=äh was problem betrifft äh' aufgrund der unterschiedlische sitte und kulturen äh' manchmal gibt es problEm aber du weißt selbst daß um den deutsche . eine deutsche mann und ein deutsche frau gibt auch probleme oder" (13-16). Wieder thematisiert der Lehrer vor allem sein eigenes Problem und nicht das seiner Schülerin. Die Schülerin wollte, soweit sich das aus den verfügbaren Daten ablesen läßt, weder über die schwierigen Beziehungen zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Kulturen noch Uber die Eheprobleme ihres Gesprächspartners sprechen, sondern sie wollte etwas fragen, um ihren Gesprächspartner besser kennenzulernen. Die Realisierung des Unterrichtsziels steht aus mehreren Gründen unter keinem guten Stern. Abgesehen davon, daß ein entkrampftes „kennenlernen" (6) unter den Bedingungen des medialen Diskurses nicht möglich ist, scheitert das Vorhaben des Lehrers, der zugleich der personifizierte Reflexionsanlaß ist, daran, daß die Schüler eine widersprüchliche Aufgabe zu lösen haben. Ihre eigenen Kommunikationserfahrungen (und die ihres Lehrers) sind zwar Ausgangspunkt und Legitimation des geführten Unterrichtsgesprächs, aber ein großer Teil ihrer Interpretationsressourcen und ihres Hintergrundwissens, auf die der Lehrer zugleich explizit zurückgreifen will, sind für die reflexive Verarbeitung der Differenzerfahrung im Gespräch nicht zugelassen.

175 Das didaktische Ziel, von der Schülerin selbst als „ausländerfrEUndlichkeit" (12) bezeichnet, wird dadurch erreicht, daß die Differenzerfahrung auf einer abstrakten Ebene durch eine fragwürdige Sprachregelung im Sinne des offiziellen Gleichheitsdiskurses beigelegt wird. Dies ist aber nur möglich, wenn die Subjekte des Reflexionsprozesses von ihrer unmittelbaren Anschauung, aber auch von ihren übrigen Kommunikationserfahrungen abstrahieren. Tun sie dies nicht, drohen sie das Opfer einer kommunikativen Doppelbindung zu werden, weil sie zwei entgegengesetzte Aufforderungen zu verarbeiten haben: 1. Erkennen und Akzeptieren von Differenz, 2. Erkennen und Akzeptieren von Gleichheit. 60 Die Schüler werden auf diese Weise ungewollt zu Objekten eines Reflexionsprozesses, dessen Subjekte sie eigentlich sein müßten, wenn das Unterrichtsziel tatsächlich erreicht werden soll. Beispiel „okto:ber"* In einem politischen Fernsehmagazin wird den Zuschauern ein in mehrfacher Hinsicht auffälliges Kommunikationsereignis präsentiert. Einer der Teilnehmer (TV), der dem kundigen Publikum als Kabarettist bekannt ist, verwickelt auf dem Marktplatz von Magdeburg einen Passanten (Bürger) in ein Gespräch. TV Blickkontakt TV Blickkontakt TV Blickkontakt TV Gesten TV Gesten TV Bürger Blickkontakt

60

(...?) wir müssen uns ja überlegen was machen wir am nächsten (zum Bürger) (zur hErrentag . wir sind jetzt 1994 der herrentag liegt jetzt eine gute Kamera) (zum Bürger) woche hinter uns. aber der nächste herrentag kommt ja wIEder und es (kurz zur Kamera und zurück zum Bürger) is gar nich gesagt daß es immer im mAI sein wird vielleicht is es (öffnende, schon in diesem jähr im äh . . . . ich will jetzt. nich den einladende Geste ) teufel an die wand malen+ ja beispielsweise Oktober das im okto:ber (..?) (zur Kamera)

Zur Doppelbindungstheorie vgl. Watzlawick u.a. (1967, 194-196). Die Bedingungen für einen Double Bind sind: 1. Eine Beziehung der Abhängigkeit zwischen den Kommunizierenden, 2. eine in sich widersprüchliche Mitteilung des strukturell überlegenen Teilnehmers mit Aufforderungscharakter, 3. die Unmöglichkeit einer (metakommunikativen) Bearbeitung des Konflikts, in dem sich der strukturell unterlegene Teilnehmer befindet. Aufnahme: Esther Frotscher, Transkription: Ingwer Paul. Quelle: ΖΑΚ. Zu einer ausführlichen Analyse der Beispiele „okto:ber" und „herrenmenschentag" vgl. Paul (1997).

176 XV Blickkontakt

kann manchmal schneller unverhofft kommt leider oft (neues Bild)

Der vorgeschobene Gesprächsanlaß ist eine gemeinsam zu bearbeitende Aufgabe, die der Initiator nicht weiter begründet, sondern die er als gegeben konstatiert: „wir müssen uns ja überlegen was machen wir am nächsten hErrentag" (1-2). Die nachgeschobenen Erläuterungen (2-6) dürften für den Gesprächspartner alles andere als einsichtig sein. Trotzdem geht die Überrumpelungsstrategie des Initiators auf, der angesprochene Bürger läßt sich - durch die Körpersprache seines Gegenüber heftig unterstützt - auf die Situation ein. Kaum hat das Opfer aber seine Bereitschaft zur Kooperation unter Beweis gestellt, wendet sich der Initiator des Gesprächs wieder von ihm ab; die Ratifikation der Äußerung „im okto:ber" (6) wird nur noch außenkommunikativ realisiert. Für den Außenstehenden ist offensichtlich, daß TV kein Interesse an einem verständigungsorientierten Gespräch mit dem Bürger hat. Der Journalist will den Bürger - umgangssprachlich ausgedrückt - nur vorführen. Bemerkenswert ist an dieser Vorgehensweise, daß TV seinem Gesprächspartner sowohl auf der Inhalts- als auch auf der Beziehungsebene sämtliche Möglichkeiten einer praktischen Lösung des Problems von vornherein verwehrt. Der Bürger soll zwar formal kooperieren, aber er soll weder die vorgeschobene Aufgabe verstehen, noch soll er in einen praktischen Diskurs zur Klärung konstitutionslogischer Aufgaben eintreten können. Die Logik des Kommunikationsereignisses „okto.ber" ist nur nachvollziehbar, wenn man die Rahmenhandlung, von der der Bürger nichts weiß und von der er nichts wissen soll, in die Betrachtung miteinbezieht. Beispiel herrenmenschentag* also herrenmenschentag heißt das wohl zumindest DIESmal in magdeburg hoffentlich nIE wIEder sie warn mitm rÄ:del da die führer inzwischen sind Einige verhaftet heute nachmittag in bUrg. gleich nebenan wohl noch mehReRe dutzend die auch dafür in frage kamen inzwischen spU:tet sich die polizei dAmals vor. zwei wochen war sie kritisIErt worden weil sie viel zu LAx rangegangen is motto statt Verhaftung hAArwuchsmittel für die glatzen, das is natürlich QUAtsch denn nUr. wo nichts drAUf ist ist nichts drin' im schädel, das gilt bei köpfen eben nicht' und deswegen wollten thomas wittmann und heinrich pAchel wissen was in den nor'malbehaarten köpfen in magdeburg steckt

Die Anmoderation des verantwortlichen Redakteurs hat den Zuschauern die Informationen gegeben, die dem Bürger fehlen. Demzufolge ist das Gespräch auf dem Magdeburger Marktplatz in Analogie zu einer Meinungsumfrage zu deu-

Wie „okto:ber"

177 ten, bei der es darum geht, was in „nor'malbehaarten köpfen" steckt. Dieser Anspruch wird dadurch eingelöst, daß die Trägheit und Reflexionsunfähigkeit der Interviewpartner ver Ort bewußt ausgestellt wird. Im Hinblick auf eine Typologie provozierter diskontinuierlicher Reflexionsauslöser unterscheidet sich die Strategie der Fernsehjournalisten von der des Lehrers im letzten Beispiel vor allem darin, daß sie von vornherein keinen Lernerfolg bei ihren Gesprächspartnern anstreben. Beobachtbare Formen der Sprachreflexivität wie in der Anmoderation („sie warn mitm rÄ:del da die führer") sind daher nicht als Reaktion auf eine Differenzerfahrung zu erklären, sondern als ein rhetorisches Mittel der Selbstdarstellung, mit dem der Redakteur sich und seinen Zuschauern bestätigt, daß er nicht zur Kategorie der „nor'malbehaarten köpfe" gehört. Sprachreflexivität in ihrer ästhetisch verspielten oder strategisch den Informationsfluß hemmenden Form soll die Routine des Gesprächs stocken lassen, ohne daß es zu einer praktischen Reflexion kommt. Die Inszenierung scheiternder Kommunikation ist in diesem konkreten Fall strategisch und zynisch, weil weder der Reflexionsauslöser noch seine Bearbeitung fiir den überrumpelten Gesprächspartner zur Disposition stehen. Sofern es den Fernsehjournalisten tatsächlich um eine ernsthafte Lösung sozialer Konflikte gegangen sein sollte, haben sie das Gegenteil von dem erreicht, was sie vorgeben, erreichen zu wollen: Die Aufgeklärten fühlen sich in ihrer kritischen Haltung bestätigt, weil sie sich zu den nicht normalbehaarten Köpfen zählen können und die „nor'malbehaarten köpfe" werden vorsätzlich an einer erfahrungsnahen Durcharbeitung des Problems gehindert.

4.3 Reflexive Verarbeitung von Kommunikationserfahrungen: die diachrone Dimension praktischer Sprachreflexion Die Rekonstruktion des praktischen Reflexionspotentials aus der Teilnehmerperspektive kann immer nur exemplarisch an relativ kurzen Abschnitten vorgenommen werden; aber weder die kontinuierliche noch die diskontinuierliche Aktivierung des praktischen Reflexionspotentials dürfen als punktuelle Vorgänge aufgefaßt werden, die mit dem Ende einer Reflexionssequenz zu einem definitiven Abschluß gekommen sind. Jede, auch die rein affirmative, Aktivierung des praktischen Reflexionspotentials konsolidiert und nivelliert, überprüft und ändert das sozial gebilligte Wissen über Spache und Kommunikation und ist somit Teil eines nie abgeschlossenen Lernprozesses. Die diachrone Dimension praktischer Sprachreflexion ist methodisch besonders schwer zu erfassen, da 1. die Verarbeitung einer Differenzerfahrung ein prinzipiell offener Prozeß ist, der qualitativ unterschiedliche Reflexionsformen integriert, 2. die Teilnehmer aufgrund der praktischen Handlungszwänge,

178 denen sie bei laufendem Motor ausgesetzt sind, keine explizite Sicherung ihrer Lernerfolge betreiben, sondern das Gelernte von ihnen direkt in die Kommunikationspraxis umgesetzt wird, 3. die Verarbeitung von Differenzerfahrungen häufig zeitlich versetzt in mehreren Stadien geschieht. Im folgenden Abschnitt wird die diachrone Dimension praktischer Sprachreflexion von drei Seiten, mit unterschiedlicher Berücksichtigung des Zeitfaktors, beleuchtet. Im ersten Schritt soll die Geschichte eines repräsentativen wiederkehrenden Auslösers im Modell nach vollzogen werden (4.3.1), im zweiten Schritt werden Nahtstellen und Umschlagpunkte analysiert, an denen die Teilnehmer beobachtbar versuchen, entweder eine Differenzerfahrung retrospektiv zu verarbeiten oder sie für das laufende Kommunikationsereignis zu aktualisieren und damit (wieder) verfügbar zu machen (4.3.2), im dritten Schritt wird die Verarbeitung einer Differenzerfahrung anhand einer Rollenspielanalyse über mehrere Stadien hinweg nachvollzogen (4.3.3).

4.3.1 Die Geschichte eines wiederkehrenden Reflexionsauslösers Aus Teilnehmersicht stellte sich vor ca. zwanzig Jahren vermehrt die Frage, wie eine Gruppe von Teilnehmern anzusprechen sei, ohne daß die weiblichen Adressaten sich durch die Formulierung diskriminiert fühlen: Ist die geschlechts"neutrale" Form (noch) angemessen, muß nach dem Geschlecht der Anwesenden differenziert gesprochen werden? In der Folge solcher und ähnlicher Überlegungen und ihrer praktischen Folgen für den Sprachgebrauch haben sich das Sprachgefühl der Teilnehmer und mit ihm das Sprachsystem des Deutschen an diesem Punkt verändert.61 Die jüngste Reflexionsgeschichte zur Personenreferenz im Deutschen scheint Saussures These von der Unveränderlichkeit des sprachlichen Zeichens zu widersprechen, weil ein Teil des „Volkes" mit den „sprachlichen Tatsachen" nicht mehr zufrieden war:62 Ferner kann man darauf hinweisen, daß die Überlegung bei dem Gebrauch eines Idioms nicht beteiligt ist; daß die Gesetze der Sprache den sprechenden Personen großenteils nicht bewußt sind; und wenn sie sich darüber nicht Rechenschaft geben, wie könnten sie dieselben umgestalten. Und selbst wenn sie sich ihrer bewußt wären, so mttßte man sich gegenwärtig halten, daß die sprachlichen Tatsachen kaum zu Kritik

61

62

Weil das Sprachsystem durch die sprachreflexiven Aktivitäten der Teilnehmer in Bewegung geraten ist, eignet sich das Problem ausgezeichnet für einen kritischen Sprachunterricht, der mit dem Vorsatz Emst machen will, bei den Reflexionserfahrungen der Schüler anzusetzen. Vgl. das entsprechende theoretisch begründete Desiderat bei Neuland (1993) und den Unterrichtsvorschlag von Linke und Voigt (1995) als ein Beispiel für die praktische Umsetzung dieses Desiderats. Saussure (21967, 85).

179 Anlaß geben, insofern nämlich jedes Volk im allgemeinen mit der Sprache, die es empfangen hat, zufrieden ist.

Die durch wiederkehrende Differenzerfahrungen ausgelöste Sprachdiagnose feministischer Sprachkritiker stützte und stützt sich ausdrücklich auf das Verhältnis von Sprachstruktur und gesellschaftlicher Wirklichkeit: Weil sich eine „frauenfeindliche Einstellung [...] natürlich auch in der Sprache niederschlägt", 63 lautet der Umkehrschluß, daß eine bewußte Korrektur der gesellschaftlichen Wirklichkeit auch eine Änderung der Sprache nach sich zieht bzw. daß eine Reform der Sprache die gesellschaftliche Wirklichkeit verändert. Für einen imaginären Teilnehmer stellt sich der Reflexionsanlaß konkret als eine Unterbrechung der Formulierungsroutine dar. Während er bisher gewohnt war, eine Versammlung alternativlos in der generischen Form anzusprechen, z.B. „die Studentenvertreter haben...", so kann es ihm reflektierend adäquat erscheinen, die Personenreferenz anders als gewohnt zu realisieren, z.B. „die Studentenvertreterinnen und Studentenvertreter haben...". Durch die Wahl der markierten Form muß der Sprecher nicht notwendigerweise einer „richtigen" Einsicht gefolgt sein, noch muß er davon überzeugt sein, daß die gewählte Formulierung sprachsystematisch, z.B. morphologisch oder referenzsemantisch, vernünftig begründbar ist. Weil seine Entscheidung zudem (noch) gegen das eigene Sprachgefühl verstößt - sein handlungsleitendes Wissen läßt ihn vielfach an vergleichbaren Stellen noch auf die generische Form zurückgreifen, ist die Verwendung der markierten Form kaum als ein Schritt auf dem Weg zu einem „verbesserten" Sprachbewußtsein zu interpretieren. Sofern die Entscheidung für eine geschlechtsdifferenzierende Anredeform für den Teilnehmer darin begründet liegt, eine möglichst kooperative und geschmeidige Form der Gesprächsabwicklung aufrecht zu erhalten, ist sie vielmehr das Resultat praktischer Überlegungen. Es gibt empirische Evidenz dafür, 64 daß die Teilnehmer ihren Sprachgebrauch weder von einem Tag auf den anderen umschalten, noch daß sie, wenn sie sich der markierten Formen bedienen, dies ohne Rücksicht auf den Kontext 63

64

Vgl. Trömel-Plötz u.a. (1981, lf.). Interessant ist in diesem Zusammenhang eine textlinguistische Untersuchung von Oelkers (1996). Oelkers kommt zu dem Ergebnis, daß die Teilnehmer sich im anaphorischen Gebrauch des Personalpronomens unter bestimmten kontextuellen Bedingungen am Geschlecht der gemeinten Person und nicht an der Genusklasse des Bezugsausdrucks orientieren („das Mädchen und seine Mutter" vs. „das Mädchen und ihre Mutter"). Fälle von biologisch motivierter Kongruenz waren dreimal so häufig zu beobachten wie Fälle von grammatischer Kongruenz (ebd., 10). Ich stütze mich auf Selbstbeobachtungen, auf Beobachtungen anderer Teilnehmer und auf die Analyse von geschriebenen Texten, bei denen die Autoren einen reflexiven Sprachgebrauch ihrer Rezipienten voraussetzen konnten, z.B. aus der in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle einnehmenden Tageszeitung „die tageszeitung".

180 tun. Typisch ist nach meinen Beobachtungen ein scheinbar inkonsistenter Sprachgebrauch, der daraus resultiert, daß immer dann, wenn sich die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf eine mögliche Differenzerfahrung konzentriert (z.B. am Gesprächs- oder Textanfang oder bei der Anrede bestimmter Adressatengruppen), die markierte Variante gewählt wird, während später im selben Kontext meist unwidersprochen auf die unmarkierte Form zurückgegriffen wird. Die Wahl einer Formulierungsvariante geschieht hier wie auch an anderen Punkten, an denen die Kommunikationsgemeinschaft einen Reflexionsbedarf ausgemacht hat, nicht voraussetzungslos. Der konkreten Entscheidung für eine differenzierende oder für eine generische Form der Personenreferenz ist die Verarbeitung analoger Reflexionsanlässe vorausgegangen. Vielleicht gab es in der Reflexionsbiographie des Teilnehmers so etwas wie eine Initialzündung, bei der ihm durch eine Unterbrechung des Kommunikationsflusses klarwurde oder klar gemacht wurde, daß es an dieser Stelle einen Reflexionsbedarf gibt: „Ich finde es nicht in Ordnung, wenn Sie nur von Studentenvertretern sprechen, wie sollen sich die Studentenvertreterinnen da mitgemeint fühlen können?!" - „Aber ich habe bisher immer nur von Studenten Vertretern gesprochen, und es hat noch nie jemand Anstoß daran genommen ..." usw.). Die Adressaten können auf der anderen Seite sehr wohl wissen, wie die unmarkierte Formulierung eines Sprechers gemeint war, und trotzdem ein Interesse daran haben, seinen Sprachgebrauch zu thematisieren. Selbst wenn der Sprecher nicht provozieren wollte und er subjektiv sicher war, mit der genetischen Form sämtliche von ihm gemeinten Personen angesprochen zu haben, können die anderen Teilnehmer seinen Sprachgebrauch kritisieren, vor allem, wenn es aufgrund einer gemeinsamen Interaktionsgeschichte ein einschlägiges sozial sanktioniertes Wissen bei allen Teilnehmern gibt. Sprecher und Angesprochene können dann eine sprachreflexive Sequenz starten, ohne daß eine Differenzerfahrung im Sinne eines echten Verständigungsproblems vorliegen muß, weil sie aufgrund der gemeinsamen Reflexionsgeschichte wissen, wie mit Reflexionsanlässen vom Typ X im Kontext Y umzugehen ist oder umgegangen werden kann. Was dann sprachreflexiv verhandelt wird, ist weniger eine Differenzerfahrung als eine unterschiedliche Auslegung sprachlich-kommunikativer Normen. Nicht das Verständigungsproblem steht im Vordergrund, denn verstanden hat man sich bereits, sondern die divergierenden Interpretationen und Bewertungen des Reflexionsauslösers. Solange der Sprachgebrauch an einem Punkt umstritten ist, ist von den Teilnehmern in Abhängigkeit vom situativen Kontext ein zusätzlicher Planungsaufwand gefordert, so daß zwangsläufig jede Formulierungsalternative reflexiv aufgeladen ist. Die einzelnen Varianten bekommen, weil sie Gegenstand von Reflexionssequenzen waren, einen spezifischen Signal- und Identifikationswert für die Teilnehmer, und mit der Entscheidung für die eine oder die andere Formulierung zeigt der Sprecher, auf welcher Seite der Diskussion er sich zugeordnet hat. Sobald sich ein gemeinsames Wissen über die divergie-

181 renden Bewertungen von Formulierungsalternativen herausgebildet hat, können die Teilnehmer daher durch die Wahl einer Variante versuchen, Komplikationen im Gespräch zu provozieren oder Komplikationen zu vermeiden. Der explizit reflexive Einsatz sprachlicher Varianten beeinflußt die Organisation des Kommunikationsereignisses und die Definition der Situation durch die Teilnehmer, was gegebenenfalls durchaus erwünscht sein kann, etwa um einen notorischen Ignoranten vor einer Gruppe von aufgeklärten Sprechern zu entlarven. Entscheidet sich der imaginäre Sprecher dafür, weiterhin ausschließlich seinem handlungsleitenden Wissen zu folgen, setzt er sich der Gefahr aus, immer wieder ungewollt über selbstproduzierte Reflexionsanlässe zu stolpern. Einmal in die öffentliche Reflexionsgeschichte eines Ausdrucks, einer Formulierungsvariante usw. verstrickt, haben die Sprecher, ob sie wollen oder nicht, ihre Unbefangenheit an diesem Punkt verloren. Durch die Irritation seines handlungsleitenden Wissens stutzig geworden, mag sich der Sprecher nicht länger allein auf sein Sprachgefühl verlassen. Er wird zusätzliches Wissen über den gängigen Sprachgebrauch heranziehen wollen, um sich selbst mehr Klarheit zu verschaffen. Zu diesem Zweck kann er entweder versuchen, sein Sprachgefühl ad hoc zu explizieren bzw. rationalisierend zu begründen, um sich mit anderen Teilnehmern über deren Sprachgefühl auszutauschen, oder er kann die einschlägigen Passagen in einem linguistischen Standardwerk nachlesen. Angenommen, der Sprecher kommt aufgrund seiner Recherchen zu einer Position, die er mit linguistischen Modellen über das Verhältnis von Sprachstruktur und Wirklichkeitsstruktur, über die Funktion des Genus als grammatischer Kategorie, über Formen und Funktionen der Markierung auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems und mit Einsichten über Gesetze des Sprachwandels begründen kann, so wird er in der Kommunikationspraxis feststellen müssen, daß die strittige Frage, welche Form der Personenreferenz adäquat sei, nicht diskursiv, also z.B. aufgrund sprachstruktureller Erwägungen, sondern praktisch entschieden wird. Maßgeblich für den Sprachwandel ist für die Teilnehmer nicht das in handlungsentlasteter Reflexion verifizierbare Modell des sprachlichen Wissens, wie es dem Anspruch nach von Linguisten rekonstruiert wird, sondern entscheidend sind die Annahmen über das Wesen der Sprache, die die Teilnehmer für wahr halten:65 Wenn nämlich für Gruppen von Sprecherinnen und Sprechern Genus Sexus konnotiert, dann ist das jenseits der Frage, ob diese Verknüpfung Bestandteil der sprachlichen Wirklichkeit war oder sich erst vermittelt über eine möglicherweise fehlgeleitete Reflexion gebildet hat, ein relevantes sprachliches Faktum. Das produktive und rezep-

65

Dieckmann (1988, 1).

182 tive Sprachverhalten der Sprecherinnen und Sprecher wird reguliert von dem, was sie für wahr halten.

Da die Teilnehmer ihr Reflexionspotential in einem laufenden Kommunikationsereignis nicht handlungsentlastet, also interesselos und kontextfrei aktivieren können, und da jeder Reflexionsakt unmittelbar an die Formulierungspraxis rückgekoppelt ist, werden beim Auftreten einer Differenzerfahrung vom skizzierten Typ weder die impliziten Annahmen feministischer Sprachkritiker noch das handlungsleitende Wissen der Teilnehmer explizit zur Disposition gestellt. Stattdessen findet in der Kommunikationspraxis eine wechselseitige Anpassung an die Perspektive der jeweiligen Adressaten statt: die Teilnehmer orientieren sich praktisch daran, welche Formulierungsalternative von wem wie sanktioniert wird. Da sich das Interesse der Teilnehmer in praktischer Reflexionshaltung darauf konzentriert, wie eine mögliche Differenzerfahrung in Abwägung aller Kontextfaktoren sinnvoll und kooperativ ausagiert werden kann, bleibt der Widerspruch zwischen einer Ad hoc-Lösung des Konflikts und einer nur in handlungsentlasteter Einstellung zu leistenden Rekonstruktion des Auslösers unter den Bedingungen eines laufenden Kommunikationsereignisses bestehen. Die impliziten Annahmen, die ursprünglich zu der Differenzerfahrung geführt haben, bleiben daher in aller Regel unreflektiert. Sie sind zwar fur die Differenzerfahrung konstitutiv, aber sie werden frühestens dann Gegenstand von Aushandlungsprozessen, wenn das Kommunikationsereignis von den Teilnehmern neu definiert werden kann. Die Skizze eines wiederkehrenden Reflexionsauslösers zeigt, daß die Teilnehmer, indem sie ihren Sprachgebrauch praktisch reflektieren, das Sprachsystem weiterentwickeln und neue sprachliche Fakten schaffen. Die Sprache gibt den Teilnehmern Anlaß zur Kritik und die alltagsweltliche Einsicht in das Wesen der Sprache wird in der Kommunikationspraxis sozial relevant. Die Frage, ob die Teilnehmer dabei die Gesetze der Sprache angemessen berücksichtigt oder expliziert haben, erübrigt sich, wenn man ihre sprachreflexiven Aktivitäten als einen relevanten Faktor der Sprachentwicklung anerkennt. In welchem Verhältnis die sprachreflexiven Aktivitäten der Teilnehmer zu den linguistischen Tatsachen im Sinne de Saussures stehen, hängt also nicht zuletzt von dem zugrundegelegten Sprachbegriff ab.

4.3.2 Die retrospektive Verarbeitung und Aktualisierung von Differenzerfahrungen Das erste Beispiel zeigt, daß die Teilnehmer eines Kommunikationsereignisses durchaus in der Lage sind, in diskontinuierlicher Reflexion erworbenes Wissen über Sprache und Kommunikation auch spontan praktisch zu verarbeiten und einzusetzen. Die transkribierte Sequenz wurde während einer Tagung

183 mit d e m T h e m a „ W a s ist ein gutes G e s p r ä c h ? " aufgezeichnet, sie stammt aus der letzten P h a s e der ca. zweistündigen Schlußdiskussion.

Laut ausgedrucktem

P r o g r a m m sollen zu diesem Zeitpunkt E r g e b n i s s e der Gruppenarbeit im P l e num diskutiert werden, de facto stehen aber auch die s i t u a t i o n s t y p i s c h e n

Auf-

gaben R e s ü m e e , Tagungskritik und Ausblick auf der T a g e s o r d n u n g . Die T e i l nehmer nutzen die Schlußrunde für einen Rückblick auf das Gelernte und für eine Evaluation seines praktischen Nutzens. Beispiel „kommunikati.tive T O D s ü n d e " * 1 Ra

(...) un:d öh . ich möchte eigntlich nochmal etwas . . öh: ver . zeihen sie

2 Ra

gestatten sie herr scheeler zu IHnen sagn'. ahm . mir gehts: . . wie . . herm .

3 Ra

erich'. . ich beWUNdere, ihre geschliffene sprAche, und i c h : . frEU mich auch

4 Ra

immer wenn ich sie: . . ahm . . nAchvollziehn kann'. aber ich frAge mich . ä h : .

5 Ra

ob es nicht zur führung e i n e s : . . ä h : . gUten gesprächs'.. das wir

6 Ra

hier mitnander wahrscheinlich auch fühm . wollten'+ . . nicht AUch gehört' daß

7 Ra

man sich auf seine gesprächspartner . . EINstellt'. . (?

8 Ra

ihnen . also:. nicht immer geLUNgn, sie habn vielleicht

9 Ra

mINderwertigkeitskomplexe erzeugt,.. (lacht etwas) das nur das nur mal so am

) . ich glaube das is

10 Ra

RANde, obwohl ich das also . sehr schön finde, aber W I R können nicht alle auf

11 Ra

diesen höhen verweiln'.. öh: weil wir uns in den tiefn des alltags,. bewegen

12 Er Κ

jAähäh (Lachen, allgemeine Unruhe)

(starke Unruhe bei den

13 Er Κ

Tagungsteilnehmenden)

14 Er

WEItergebe'. und wir müssen jetzt auch: äh . langsam die schlUßrunde einläutn'

15 Er Κ

. . hier wirds j a schon (?...) ordntlich getan'. . äh::m . . . (Lachen, allgemeine Unruhe)

16 Er

es ist sicherlich . SO gewEsn . tatsächlich wie ich d also . ganz am ANfang, in

17 Er

meiner einleitung gesacht habe daß also letztlich von den . . prAktikern, wieder

18 Er Κ

mehr . . geDULD . verlangt wird als von den . theoREtikern,. äh: . . äh nicht (ziemlich laute

19 Er Κ

nur deshalb weil die . theoretiker'. ä h : . halt h i e r . . eh per r e f e R A T ' . äh Hintergrundgeräusche)

2 0 Er

ERSTmal dominiern sondern auch weil sie in der diskussION leicht dominiern,.

wenn ich also da jetz bevor ich das wort noch

21 Er

. auf der ANderen s e i t e ' . . gestattn sie herr rahn wenn ich also mal ä h : . äh jetz .

22 Er

ö . poLEmisch formuliere:'. . das was sie zuLETZT gesacht habn'. das äh: .

23 Er

schien mir ein KOketTIERN des praktikers . . ä h : . äh mit seinem . NICHTwissn

Κ

(leises Lachen, Unruhe)

Aufnahme: Elisabeth Giilich, Transkription: Ingrid Furchner, Elisabeth Gülich.

184 24 Er

zu sein'. was nämlich . wenn man . NAher . ranguckt' also gar nich so: nich is,

25 Er

. . ä h : . . DAS also . nich nich vielleicht speziell auf S I E gemünzt' aber doch ebn

Κ

(allgemeine Unruhe

)

26 Ra Er

& also DAS war ne als . als . symptom' was man manchmal findet, . . . ne'

27 Ra

kommunikati.tive TODsünde, wenn=ich das sAgn darf,. indem sie einn .

28 Ra

gesprächsbeitrag eines anderen jetzt beWERtn, in der qualität,

Er

. eh . nicht
NEIN nlcht'+

nEIn nein nein,

äh: . . J A . nun, .

)

(?indem sie) ihm unterstelln daß er was ANdres meint als (?...),

XI 3 0 Er

gUt, o k A Y , . . äh . ich hab aber nicht seinn BEItrag in seiner

31 Er

qualiTÄT bewertet' sondern ich habe seine AUSsage:+ ins n e i n ' . in . . bezwEIfelt,

X2 32 Er Κ X3 33 Er

seinem in seiner: . in . in der . in ihrem INhalt' äh:kommentiert.. ja' (Unruhe) . . (?...) das ist also noch . was ANdres,+ . .

ich habe . ich habe also nicht sein (Unruhe)

Κ 34 Er

grundsätzliches ANliegen bezweifelt, nur ich habe also . öh öh: . damit SAgn

35 Er

wolln' oder das zum ANlaß nehmn W O l l n ' . . (Räuspern) öh: . auf: . . die

36 Er

mögliche PENdelbewegung,.. die also A U C H , . öh: drin ist' . . äh in rlchtung

37 Er

. . äh: . . a u : f . . äh: . . . Unterdrückung von theorie:'. . äh: . öh . . aufmerksam,

38 Er

. zu machn . . wenn das also in der form daNEbengegangn i s , . . dann: . . nA,

X3 39 Er X3 4 0 Er S

ahm . . DAraufhin' gabs aber . nächstes jähr (?wird einiges) besser gemacht reaktlOnn, j a und zwar wollte ich ganz kurz nur feststellen' daß der praktiker, j a

41 X 3 S

sehr richtig eigentlich auch theoretiker ist

I m V e r l a u f e d e s G e s p r ä c h s entwickelt sich e i n e Turbulenz, weil einer der T e i l n e h m e r ( R a ) als s e l b s t e r n a n n t e r

„ P r a k t i k e r " einen A n g r i f f g e g e n die „ T h e o -

r e t i k e r " unter den T a g u n g s t e i l n e h m e r n startet ( 1 - 1 1 ) . Zur B e g r ü n d u n g s e i n e s V o r w u r f s stützt er sich a u f ein unbestrittenes W i s s e n aller A n w e s e n d e n :

„aber

ich f r A g e m i c h . äh: . o b e s nicht zur führung eines: . . äh: . g U t e n g e s p r ä c h s ' . . < s c h n e l l > das wir hier mitnander w a h r s c h e i n l i c h auch f ü h m . w o l l t e n ' + . . nicht A U c h g e h ö r t ' daß m a n sich a u f seine g e s p r ä c h s p a r t n e r

. . EINstellt" (4-

7 ) , nutzt d i e s e s aber insofern strategisch aus, als für j e d e r m a n n e r k e n n b a r i s t , daß R a selbst k e i n e P r o b l e m e hat, sich als g l e i c h w e r t i g e r g e g e n ü b e r d e n „ T h e o r e t i k e r n " zu behaupten.

Gesprächspartner

185 Die strategische Wendung des sozial gebilligten Wissens durch Ra greift der Tagungsleiter (Er) auf. Er gibt Ra insofern Recht, als er die Bewertung der Rollenverteilung durch Ra auch in ihren negativen Konsequenzen, für die er sich verantwortlich fühlt, akzeptiert. Andererseits weist er das strategische Vorgehen Ras als „KOketTIERN des praktikers" zurück (23). Ra verteidigt sich durch eine scharfe Zurückweisung der Kritik (26-28). M i t keinem Wort auf den Vorwurf Ers eingehend, thematisiert er - wieder auf gemeinsames Wissen zurückgreifend - die Tatsache, daß Ers Beitrag weitend gewesen sei. In seiner Erwiderung (28-38) präzisiert und relativiert Er seinen Angriff, nachdem er die Kritik an seinem Vorgehen aufwendig ratifiziert hat. Indirekt räumt er die Kritikwürdigkeit seiner Äußerung ein, indem er Besserung für die Zukunft verspricht. Die Sequenz endet mit einer Sprachregelung, die der vorangegangenen Kontroverse die Grundlage entzieht, indem sie die personenbezogenen Kategorisierungen neu definiert (40-41). Bezogen auf den epistemologischen Status des aktivierten Wissens bestätigt der Ausschnitt „kommunikati.tive TODsünde" den Befund aus Abschnitt 4.1: Selbst wenn die Teilnehmer ihren aktuellen Erlebnisstrom synchron mit ihrem reflektierten Wissen abgleichen können, können sie nicht aus den praktischen Zwängen der Situation ausbrechen. Das reflexiv verfügbare Wissen wird von ihnen nicht um seiner selbst willen aktiviert, sondern seine Aktivierung und Prozessierung bleibt an die Wahrnehmung der Situation, die Umsetzung von Weil- und Um zu-Motiven gebunden. Die praktische Befangenheit der Teilnehmer zeigt sich nicht nur im Verhalten Ras, der sich gezielt auf ein exklusives sozial gebilligtes Wissen stützt, um sich Vorteile als Teilnehmer zu erarbeiten, sondern auch in der scheiternden Kritik Ers sowie im Kompromißvorschlag von S, der die Situation entschärft, um bis auf weiteres eine tragfähige Arbeitsgrundlage für das Gespräch zu etablieren. Während die Öffnung der sequenziellen Klammer bei Begrüßungsritualen zu den seltenen Ausnahmen gehört, lassen andere Fortsetzungsmuster von vornherein eine reflexive Bearbeitung konditioneller Relevanzen zu oder machen sie sogar erwartbar. Zu den systematisch offenen Paarsequenzen gehört die Annahme von Komplimenten, die durch den Adressaten nicht sofort vergolten werden können.66 Die Annahme von Komplimenten ist nicht wie die Erwiderung eines Grußes eindeutig präferiert, weil sich der Empfänger in einer Zwickmühle zwischen zwei Präferenzsystemen befindet. Einerseits darf der Urheber des Kompliments auf eine positive Reaktion des Adressaten rechnen, andererseits ziemt es sich offensichtlich nicht, einem Kompliment, auch wenn man es noch so gerne hört, rückhaltlos zuzustimmen. Obwohl die unmittelbare Reaktion auf ein Kompliment nicht in einem Gegenkompliment bestehen muß, haben Kompli-

66

Zum Austausch von Komplimenten als „adjacency pair" vgl. Sacks (II, 521).

186 mentiersequenzen nicht zuletzt deshalb eine hohe sozialorganisatorische P o tenz, weil sie auf lange Sicht nicht einseitig bleiben (dürfen). 67 Der f o l g e n d e Ausschnitt stammt aus einer Talkshow, in der die Unterhaltung der Zuschauer im Studio und am Fernsehschirm oberstes Ziel der beiden Moderatoren ist. Eingeladen sind vier Männer und eine Frau, die nacheinander zu ihrer Person befragt werden. Die Sequenz beginnt mit einem ironisch-provokativen Gesprächszug des männlichen Moderators an die eingeladene Schauspielerin. A u s dem „Kompliment" des Moderators entwickelt sich in der Folge eine in mehrfacher Hinsicht markierte Komplimentiersequenz: Beispiel „die tOllste frau in deutschland"*

1 di 2 di 3 di 4 di

Lorenzo

frau berben seit jähren äh äh sagen alle deutschen manner sie seien die

Lorenzo

tOllste frau in deutschland ahm sie ich bin sicher das schmeichelt

Lorenzo Lorenzo

η bißchen wahrscheinlich nervt es auch η bißchen weils immer wieder

5 di Lorenzo Berben Tibi Bartel 6 di Lorenzo Berben Bartel 7 di Lorenzo Berben Bartel 8 Berben

kommt' ich hab mich aber gefragt traut sich eigentlich noch ein normal sterblicher mann sie anzusprechen' m=boh, +

+ meinst du na ich meine äh- sprich du mal ne ach so auf der straße so hallo' oder wie gOttin an + wie schO:n' *das tut mir ja gut* ich werd jetz aber *ich komm nich in die Verlegenheit* auch ganz verlegen weil ich gar nich weiß wie ich darauf antworten soll,

9 Berben 10 Berben

nein ich glaube man selber sieht sich sowieso ganz anders, also

11 Berben 12 Berben

ich gar nich so nachempfinden wobei ich sagen muß die

13 Berben 14 Berben

heute kann ich besser damit umgehn, heute ich

15 Berben 16 Berben Tibi

67

das was andere menschen in einen hineininterpretiern das kann komplimente die man kriegt oder- die ja die attribute die man einem gibt bin: fast fümunvierzich jähre alt + äh nehm ich das sehr viel souveräner, als ich jung' war hab ich mich über diese komplimente geärgert *weil ich gedacht hab* ja nein ich meine aber als ich diesen *sie sind immer noch jung ja'*

Zu weiteren strukturellen Merkmalen von Komplimentiersequenzen vgl. Pomerantz (1978). Aufnahme: Esther Frotscher, Transkription: Esther Frotscher, Ingwer Paul. Sendetermin: ORB 3.3. 1995.

187 17 di Lorenzo Berben Tibi 18 di Lorenzo

Berben Tibi Battel Kartte 19 di Lorenzo Berben Tibi Bartel Kartte Publ. 20 Tibi Bartel Kartte 21 Tibi

*(?) frau berben er läßt ni:chts+ aus* < beruf jünger anfing *danke + da wollt=ich nich so*

lacht> + + s=macht spaß hier + ja + na sie kuckn aber auch tibi schmeißt sich an

so als ob sie gradI naja ich hab den gan/ die ganze zeit überlegt

äh wissen sie herr ja ich habs gesehn . . sehn sies (ruhiger?), frau bartel kartte ich muß das also täglich mit meiner frau machen meine frau is

22 Tibi

auch fümfunvierzich jähre alt und sie sagt mir jeden morgen guten

23 Tibi 24 di Lorenzo Tibi 25 di Lorenzo Berben Tibi Bartel Schwanitz 26 Bartel

morgen kuck' ich bin alt geworden ich bin schon fümfunvierzich un=

27 Bartel Schwanitz 28 Schwanitz 29 Schwanitz

machn=se ma vor ja ich kann kannte sie ja nich und deswegen hätt=ich ja die möglichkeit gehabt zu sagen also so eine frAU mit charisma hab=ich

30 di Lorenzo Schwanitz 31 di Lorenzo Berben Bartel 32 Berben Schwanitz 33 Berben Tibi Bartel Schwanitz 34 Bartel

ich=sage=ihr liebe ulla du bist noch jung und sie sind auch sehr jung, < + ja:'

lacht> + danke lacht> +

könnten sie denn so dann isser ja trainiert sowas zu sagen ausm stand irgendwie was nettes so die göttin+ ansprechen

selten gesehn' grade das charisma intressiert mich an fraun weil das es ja führungs-äh-fähigkeiten zeicht' und das sehe ich in ihnen klang jetz anders (...?) grade das charisma intressiert mich laß ma laß ma das das war irgendwie doch schön das hat mir gUt gefalln er sIEht es, ich s/ ich würde auch *danke' +* (?) aber wenn sie das sagen*(sie sind eine powerfrau?)* das sieht man eben (...?) sagen klingt das so als ob sie als quOtenfrau bei ihnen als erste dürfte ja'

35 Berben Bartel Schwanitz 36 Berben Schwanitz

das wiird ich nich wolln + gegen quotenfrauen hab ich was ja nee &nein die ganze Universität war sich da einig brauch keine quote

& &nein

37 Berben Tibi Schwanitz

ne quote wolln wir nich

&nein wir wolln wir wolln aus aber ich freue mich daß

38 Berben Bartel Schwanitz

Überzeugung und aus können und aus talent und aus kraft chA'risma chA so ist es

39 Berben Tibi Bartel

aus charisma auch' j a j a wenn (es da is?) ich freue mich daß das bei ihnen so gut ankommt 'risma

40 Tibi 41 Tibi

und in berkeley wenn ich' das gesagt habe' was ich jetzt ihnn

Berben 42 Tibi Schwanitz

das hab ich gehört gesagt hätte ich konnte eine klage haben weil das ist sexual harassment ja ja ja

Berben 43 Tibi Schwanitz

ja, und ich bin froh daß wir in europa sind eine frau mag äh so gelobt (sexist remarks?)

Berben 44 Tibi

ich denke auch werden und das gehört zum le'ben ja' äh und also ich finde

45 Tibi

amerika in dieser hinsieht furchtbar und ich hoffe europa wird nich

di Lorenzo 46 Tibi Schwanitz

amerikanisiert ja'

di Lorenzo 47 Bartel Schwanitz

sie hier grade so gut behandelt werden von alln kuck ma du kannst es nich sehn bißchen+

di Lorenzo 48 Berben Tibi Bartel Wischnewski

wollten sie auch mal' + + + herr wischnewski saß eben auch gra:de auf dem sprung nein nein

49 Wischnewski

ich ich würde sagen . alles ist gut, was einem freude bereitet, sie

&nein

also weil ich im vergangenen jähr hab ich in berkeley gelebt und gelehrt

frau berben äh wo zeigt sich aber doch in der Universität η

50 di Lorenzo Berben Tibi Wischnewski

anzusprechen . bereitet freude und deshalb isses gut,

51 di Lorenzo Berben Bartel

(peng?)* äh beklemmende stille' kompliment vielen dank* ja ja ich überlege grad ob political

52 Bartel

correctness- da damit is das okay das darf man gra:'de noch, gra:de noch

*mh ne also das is •das is ein liebes +

189 ja, also wo sie' ich wollte grade ansetzen, auch no=ma ansetzn und

53 di Lorenzo Bartel

ne'

54 di Lorenzo

sagen wo sie so gut behandelt werden hier von lauter . herren'.

55 di Lorenzo Berben Publ.

glAUben sie das frauen- die bessren menschen sind' (4 Sek.) oh mann äh ich kann dazu nur sagen meine- äh ich ich ich v: verhalte

56 Berben Publ.

+

57 Berben

oder ich bin sehr viel lieber unter männern also ich hab sehr viel mehr

58 Berben

faimeß unter männern diese vielzitierte weibliche Solidarität'
vermiss ich eigentlich-ähm die vermiss ich eigentlich ziemlich

60 Berben

ziemlich äh ziemlich grade also- bei männern ich ich be habe viel

61 Berben

häufiger ein sehr . gutes kumpelverhältnis zu mÄnnern auch und hab

62 Berben

sehr viel ehrlicher und grade so in diesem beruf wo man sagt also

63 Berben

wo man ansagen machen kann und sich auseinandersetzt mit leuten'
ahm hab ich überhaupt keine probleme darum also die frage

65 di Lorenzo Berben

*&zu beantworten ja das (freut mich?) mh,* aber ich denke ist schwer-*äh zu beantworten*

66 di Lorenzo

sie ist die antwort ist äh baisam auf die wunde seele von bassam tibi,

67 di Lorenzo Berben Bartel

he:rzlichen dank auch dAfür frau berben,

68 di Lorenzo Berben Bartel

wie' leichter ja:',' sie sind lei aufn tisch die sind auch lEIchter oder 1 männer' mit ihn

69 di Lorenzo Berben Bartel

ja wenn du mit alln so umgehst ja man kann leichter mit ihn umgehn. umzugehn das is (wirklich?) leicht

70 di Lorenzo Bartel Publ.

wie mit mir' das glaub ich dir

71 Berben Bartel Schwanitz Publ. 72 Berben

ja sie häm recht

Bartel 73 Berben Bartel 74 Berben Tibi Bartel

+ ich wollt grad sagen- karten

meinst du'

du wir hams j a inzwischen geschafft' oder'

.oder'

ja' ne'

al sim/leichter find= sind simpler vielleicht?)

+ wir wolltn das jetz nich ich wollte grad sagen sie ich ne ich wollt nich sagen simpler wollten das einfach auch+ ich wollte das einfach so sagen', weil fraun sind ja

ja

das muß schwieriger komplizierter . zickiger + sowas

190 75 di Lorenzo

ich

Berben Tibi Bartel

nich sein' ne' sagen SIE so wir reden ja unter mädels hier +

Publ. 76 di Lorenzo

finde im rAhmen meiner fürsorgepflicht entzieh ich jetz hier juliane das

77 di Lorenzo

wort' bedanke mich ganz herzlich b e i . . iris berben+ so isses so sieht es nämlich auch

Bartel 78 di Lorenzo Berben Bartel

mu:sik bitte ja aus bei uns hm

Geht man aus sequenzanalytischer Perspektive von einem Kompliment und der Erwiderung eines Kompliments als zwei systematisch aufeinander bezogenen Teilen einer Paarsequenz aus, dann fällt bei diesem Beispiel als erstes auf, daß es weder einen symmetrischen noch einen einmaligen Austausch von Komplimenten gibt. Aus einer einfachen Paarsequenz entwickelt sich durch die Aufforderung der Moderatorin an die anwesenden Männer (18-19, 25-27, 47-48), „aus dem Stand" (26) Komplimente an Frau Berben zu richten, eine Komplimentierrunde. Komplimentieren wird auf diese Weise zu einem kompetetiven Spiel mit verteilten Rollen, bei dem die Teilnehmer mit mehr oder weniger kontrollierten Normverstößen ihr eigenes und das Gesicht ihrer Gesprächspartner aufs Spiel setzen, um den Unterhaltungswert der Sendung zu steigern. Die gesichtsbedrohende Kraft des ersten Kompliments wird von seinem Urheber deutlich ausgestellt und zugleich zurückgenommen. Indem er Gewährsleute nennt, übernimmt er nicht selbst die volle Verantwortung für die möglichen Komplikationen, die er im weiteren Verlauf des Gesprächs mit seiner Gesprächsstrategie provoziert: „sagen alle deutschen männer" (1). Im direkten Anschluß folgt ein metakommunikativer Kommentar „ich bin sicher das schmeichelt η bißchen" (2-3), der exakt die Zweischneidigkeit seines Tuns benennt „wahrscheinlich nervt es auch η bißchen" (3), wobei die Begründung „weils immer wieder kommt" (3-4), wenig stichhaltig ist, da sie das eigentliche, viel offensichtlichere Problem, nämlich die Unwahrhaftigkeit der Aussage, verdeckt. Darüber hinaus schützt der Sprecher sich und die anderen Teilnehmer durch einen klaren Modalitätswechsel. Parasprachliche Ironiesignale und die deutliche Übertreibung in der Formulierung des eigentlichen Kompliments sorgen dafür, daß die Botschaft nicht für das genommen wird, was sie rein äußerlich auch zu sein vorgibt: „traut sich eigentlich noch ein normal sterblicher mann sie anzusprechen" (4-5) und „sprich du mal ne gÖttin an" (67). Aus der reflexiv-spielerischen Ausdehnung und Neudefinition des Handlungsmusters Komplimentieren entstehen Probleme für die Aufrechterhaltung

191 des rituellen Gleichgewichts, denn die Teilnehmer können kaum noch unterscheiden, welches Kompliment echt ist und welches nicht, da sie die Komplimente z.T. auf Zuruf produzieren und da jedes Kompliment zugleich metakommunikativ ausgewertet und verarbeitet wird. Die Häufung reflektierender, wertender und kommentierender Äußerungen - Komplimente oder komplimentähnliche Äußerungen werden unter Hinweis auf ihre gesichtsbedrohende Kraft und ihre strukturelle Ambivalenz vorgetragen (1-5), negativ bewertet (11-16, 18), in Frage gestellt (30-31, 33-34) oder ironisiert (6-7, 18, 46-47, 53-54) ist ein deutliches Indiz dafür, daß aus Teilnehmersicht eine Blockade droht oder bereits vorliegt. Die größte Gefahr für die Aufrechterhaltung des rituellen Gleichgewichts ist nicht die paradoxe Aufforderung an die Männer, „ausm stand (...) die göttin" anzusprechen (26), sondern die Rolle, die Frau Berben von den Moderatoren zugewiesen wird. Die Adressatin der Komplimente muß sich während der gesamten Situation damit auseinandersetzen, daß ein Teil ihrer sozialen Identität durch die Aufgabenstellung des Gesprächs systematisch von ihr abgespalten wird. Während sie einerseits als Expertin für Komplimente angesprochen wird, wird sie andererseits mit (zweifelhaften) Komplimenten überschüttet. Dabei darf sie, wenn sie keine Spielverderberin sein will, keines der Komplimente zurückweisen, obwohl ihr unklar sein dürfte, welchem Teil ihrer Person - der „göttin" oder der Schauspielerin Iris Berben - die Komplimente gelten sollen. Gerade weil die Sequenz im höchsten Maße doppelbödig ist, sind die praktischen Reparaturmöglichkeiten der Teilnehmer stark beschnitten. Für die Adressatin ist es am wenigsten möglich, ihre Erfahrung explizit zu thematisieren, ohne der Versammlung ein massives Problem zu bescheren. Stattdessen erfolgt die Thematisierung des latenten Auslösers aus der Perspektive der Komplimentierenden: „ich freue mich daß das bei ihnen so gut ankommt also weil ich im vergangenen jähr hab ich in berkeley gelebt und gelehrt und in berkeley wenn ich' das gesagt habe' was ich jetzt ihn gesagt hätte ich konnte eine klage haben weil das ist sexual harassment ja und ich bin froh daß wir in europa sind eine frau mag äh so gelobt werden" (39-44). Mit dieser Äußerung, mit der er nahtlos an die prekären Komplimente anschließt, legt der Sprecher offen, daß man bei den vorangegangenen Aktivitäten durchaus Böses denken konnte, denn er gesteht ein, daß ihm die Gefahr eines möglichen Normverstoßes sehr wohl bewußt ist, dessen Prämissen er allerdings persönlich nicht teilt. Die Adressatin der Komplimente kann sich aus seiner Sicht etwas darauf zugute halten, daß sie nicht zu den Frauen gehört, für die politische Korrektheit eine einzuklagende Maxime kommunikativen Handelns darstellt. Zugleich setzt der Sprecher das Einverständnis seiner Gesprächspartnerin großzügig voraus. Der bleibt kaum etwas anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, denn würde sie nicht zustimmen, wäre der Arbeitskonsensus massiv bedroht und der latente Konflikt hätte sich in einen manifesten verwandelt.

192 Eine deutliche Zäsur erfährt die kritische Komplimentiersequenz in dem Moment, als es einem der angesprochenen Männer gelingt, ein Kompliment vorzutragen, das so glaubwürdig wirkt, daß es von der Adressatin ohne Einschränkung akzeptiert werden kann: „nein nein ich ich würde sagen . alles ist gut, was einem fieude bereitet, sie anzusprechen . bereitet fireude und deshalb isses gut" (48-50), „das is ein liebes kompliment vielen dank" (50-51); vgl. im Unterschied dazu die systematisch zwischen Ablehnung und Zustimmung changierenden Reaktionen auf die anderen Komplimente, z.B. „m=boh, „ (5); „ ach ... + wie schÖ:n' das tut mir ja gut ich werd jetz aber auch ganz verlegen weil ich gar nich weiß wie ich darauf antworten soll" (7-8), „ja nein (...) danke" (16-17). Erst auf dieser Grundlage - die unmittelbar gesichtsbedrohende Wirkung des Gesellschaftsspiels ist für alle Beteiligten durch die letzte, gelungene Komplimentiersequenz vorerst abgewendet - ist eine metakommunikative Thematisierung des latenten Auslösers möglich: ,ja ich überlege grad ob political correctness- da damit is das okay das darf man gra:'de noch, gra:de noch ne" (51-53). Aus der Plazierung der Reflexionssequenz, die mit dieser Äußerung eingeleitet wird, geht hervor, daß die Teilnehmer, ungeachtet der formalen Unterschiede zwischen Gruß- und Komplimentiersequenz, eine reflexive Verarbeitung des Problems außerhalb der lokal wirksamen Handlungszwänge bevorzugen. Die denkbare Alternative, eine Ad hoc-Bearbeitung des problematischen Vorgehens durch die anderen Teilnehmer, die sich ja durchaus anbietet, weil der Moderator sein erstes Kompliment mit deutlichen Ironiesignalen versieht und Frau Berben ihre Verlegenheit ebenso deutlich artikuliert, müßte unweigerlich dazu führen, daß diese explizite Reparatur zu einem funktionalen Element der Komplimentiersequenz wird, was angesichts der Ambivalenz des Handlungsmusters zu weit größeren Komplikationen geführt haben dürfte. Obwohl sich das Verhalten der Moderatorin und des Moderators an der Grenze zu einem Krisenexperiment bewegt, bleibt die Thematisierung der akuten Differenzerfahrung aus. Von „political correctness" spricht die Moderatorin nicht, um eine anhaltende Differenzerfahrung zu überwinden, sondern um dem inszenierten Normverstoß, der die Differenzerfahrung auslöste, im nachhinein erklärend einen Sinn zu geben. Im Kommunikationsalltag können die Reflektierenden auf weit zurückliegende Differenzerfahrungen zurückgreifen, um sich mit anderen Teilnehmern in evaluierender oder problematisierender Einstellung über ihr Reflexionspotential zu verständigen. Im nächsten Beispiel versuchen die Teilnehmer eine thematisch einschlägige Differenzerfahrung zu aktualisieren, um sie in diskontinuierlicher Reflexion verarbeiten zu können. Das Setting entspricht dem einer üblichen Phone in-Sendung, der Moderator hat als Gesprächsthema „Politische Korrektheit" (p.c.) vorgeschlagen.

193 Beispiel „anja is chE'miker"*

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

Μ Μ Μ Μ Μ Α Μ Α Α Α Α Α Α Μ Α Α Α Α Μ Μ Α Μ Μ Μ Α Μ Α Α Α Μ Α Α Α

(...) wie hast du denn deine mÄ'dchen und öh frühn fraunjahre erlebt, ich mein nehm=ma=an als als jUnges mädchen da macht man sich noch nich so große gedank/ da nimmt man die spräche so hin wie sie gegeben is aber- is denn ma so der moment gekommen wo du sagtest. wieso wir sind doch sogar mEhr als fünfzig prozent der bevölkerung' wieso werden wir ständig der is mir eigentlich eher aufgefallen als es mal. sprachlich ausgegrenzt' abgelegt wurde und zwar wo das erste mal in irgendeiner- tAgeszeitung seriOsn tageszeitung dieses INNEN eingeführt wurde ΜΓΓ dem großen i halt schriftlich' < EA> wO- s um wissenschaftlerinnen Arztinnen ging wo für mich auf einmal also das bild war ja stimmt'. da können ja vielleicht auch frAUn' im weißen kittel dran geforscht ham oder so, also vorher war für mich das ne reine männliche domAne irgendwie also wars nichts von mir sElber ich hmm,' selber wollte immer chEmikerin werden un son zeug aber äh ich sah mich schon dann in der in der zEIt' wo ich das überlegte schon eher EINSAM ne' und als das dann plötzlich in dieser zeitung AUFtrAt, is mir aufgefalln ja wunderbAr' also da scheinen auch frAUen am werk gewesen zu sein, ne' hmm, also wenn dich jemand genAnnt hätte' anja. der chem/na äh eh anja is chE'miker, hm da hättste dich schOn'- nich angesprochen gefühlt' weil das doch η eindeutig männlicher ausdru/ man könnt ja auch sagen daß dieser ausdruck eigentlich neutral is . und weder mann' noch frAu' meint, könnte man denken ja, ich denke für mich isses auch oder so eher wichtig also ich selber leide jetzt nich unter irgendwelchen weiblichen minder,-wertigkeitskomplexen also ich kann mich also ich arbeite jetz im videobereich und kann mich da ganz gut durchsetzen, aber für mich hmm,' isses wichtig also weil vorhin war davon die rede daß halt die schickerlA in amerika diese spräche erfindet' für mich is eigentlich wichtig daß wirklich die die in diesen KLAssischen bildern aufwachsen DAS lesen un das begrEIfen

Aufnahme: Esther Frotscher, Transkription: Esther Frotscher, Ingwer Paul. Sendetermin: Radio Fritz 25.5.1994.

28 Α

dann auch ne'

Μ

ja, aber sie treibens eben und das macht eben . äh im äh . die

29 Μ 30 A

linke schickaRIA aus sie trEIbens' natürlich in ein extrEm wo sie .

Μ 31 Α 32 Α

gUt' gemeinte absichten' der lÄcherlichkeit preisgeben, den frAUn hIEr' und die sowas betrEIben und ich weiß daß ne unglaubliche wUt

33 Α

natürlich dahintersteckt also grAde, äh dabei fällt mir ein jetz die äh
na gut äh, naja gut ich mein kenn die amerikAner jetz selber nlch so gut aber ich weiß halt äh, von

Μ

ja,

34 Α

langsamer> lieselOtte- oder luise ef pUsch heißt sie, mit hintemamen'+ is'

35 A

halt ne sehr bekannte feministische linguistin die natürlich WE'=man sich mit der

36 Α

spräche ausnrnandersetzt natürlich dann irgendwann mal. knallt der mal was

37 Α

dU'rch also, das wort DÄMlich zum beispiel stammt' ja von DAME ab, ne'

38 A

also diese wunderbam bezeichnungen muß man ma wirklich

Μ 39 Α

ah, sO:' . siehste' nachschauen s gibt da wunderbare bEIspiele und SEE hat zum beispiel η ganz

40 A

simples', beispiel genannt irgendwie äh wenn ein verKÄUfer sagt der

41 A

kUnde mit der kAtze dann kann es sich um ein kAter' handeln der macht sich nix

42 Α

draus, ne' wenn er aber sagt die kUndin mit dem kAter' dann wird der

Μ

hmm,'

43 Α

künde' schon ziemlich bÖ'se werden also daß er als kUndin' bezeichnet wird

Μ 44 Α

weil er sich eventuell als tUnte verkannt wird oder so, ne

Μ 45 A

< EA>

ja, aber kAtze' sacht man doch jaja klAr' bei dem kater isses ja

Μ 46 A

au wurscht daß das so* ne aber der kU'*nde wird sich schOn' ärgern wenn=er

zum beispiel ganz äh egal wie das geschlecht des tieres is,

Μ 47 Α

plötzlich als kUN'DIN' bezeichnet wird

*ja du wir wolln mal beim*

Μ

ja, während man beim hUnd' ja . der hllnd sacht und

48 A Μ

ja klar' aber jetzt nochma andersrum wenn s könnte auch ne hÜndin', sein,

49 Α

ne kUndin reinkommt oder Ich komm in irgendn bürO und sag da sagt jemand zu

Α

mir, der nÄchste bitte' dann hab ich mich da bitteschön nlch drüber zu ärgern, ne'

50 Μ Α

hjaha+

ja,
und Erst von

195 56 A Μ 57 A Μ 58 A Μ

also der nA'chste radikAln feminls'tinnen drauf gestoßen worden seid,

59 A Μ 60 A Μ

gesprochen irgendwie mAnner- zwingen frauen zur Abtreibung oder so das war n:e, von

61 A Μ 62 A Μ 63 A

zwingen nee andersrum zwingen frauen zum kindergebAren so andersrum schön' wEIß was du meinst+ ja das wird also auch von

64 A Μ 65 A

SIND'ja von männem geschaffen also kA=man des auch Umkehrn und sagen, sie dAs is wAHR'

66 A 67 A Μ 68 Μ 69 Μ 70 Μ 71 A Μ 72 A Μ 73 A Μ 74 A Μ 75 A Μ 76 A 77 A Μ 78 A Μ 79 Μ

nervt mich mittlerweile schon sEhr, ja' *mir is aber vorhin' noch + * ja,ja' der nächste was aufgefalln, du hast doch gesagt* & du hast irgendwie von dieser Abtreibung bitte'* & ja,

konkret auch der WITZ dabei äh äh nee äh manner zwingen äh Abtreibung harn wer heut noch nich geredet, ach so' ja ich we ich

wärs wenn die ja + nee wo mir das äh AUch' auffiel diesen politisch korrekten behauptet irgendwie äh was äh ich mein die die äh zum beispiel die abtreibungsgesetze

zwlngn' männ äh frAUn zum gebäm, weil frauen ja scheinbar zu . DÄMlich nochma sind äh selber dArüber zu entschei'den ob sie jetz mUtter wem wolln, oder nich ne' naja, aber sie könn:s doch' verhindern indem sie zum beispiel banAl,' gesagt sich mit keinem mann EInlassn'+ indem sie lEsbisch' agiern unter Umständen' Oder' wenn sie sich denn schon' mitm mAnn heterosexuell einlassen' daß die frAUn dann gewisse nja', sch wieder naja aber ich mein sie können ja auch vOrsorgen treiben, nAchträglich Vorsorge tragen indem sies einfach' abtreibn, is ja ihr eigener körper. dA:s, isn' das isn (?)

anderes thema das find ich ja immer so peinlich daß im bundestag ja und sonstwo ma abgesehn von rita süß'muth im wesentlichen MÄNNER . über ja vor alln=dingn die kl'rche ne also . männliche priester nee gUt solche Sachen entscheiden' ja, die hams natürlich gUt ne so die- äh dUrfn ja offiziell Eh mit nix davon zu tun' ham, es is sehr amüsAnt daß sIE darüber entscheiden ja' ja, gut ich dAnk' dir erstmal' ja, und natürlich noch wEI'terhin bitt ich doch die frAUen' unter den fritzhörerinnen . und hOrern anzurufen unter (...)

196 Inder Eröffnungsphase (1-6) entwirft der Moderator eine fiktive Reflexionsbiographie für seine Gesprächspartnerin, in deren Verlauf ein reflexionsloser Zustand durch ein Initialerlebnis unterbrochen oder aufgehoben wird: „aber- is denn ma so der moment gekommen" (3-4). Die potentielle Differenzerfahrung, nach der er sucht, ist konzipiert als ein deutlich aus dem Erlebnisstrom herausragendes, punktuell identifizierbares Ereignis. Als ein mögliches Initialerlebnis bietet die Anruferin eine Differenzerfahrung beim Lesen des großen „i" an (6-9). Bis zu diesem Zeitpunkt, den sie wie vom Moderator angelegt als punktuelles Erlebnis darstellt - „auf einmal" (910), „plötzlich" (14), hat sie demnach die generische Form der Personenbezeichnungen exklusiv auf das männliche Geschlecht bezogen. Der Moderator fordert in seinem zweiten Angebot (16ff.) eine persönliche Stellungnahme, indem er das etwas vage, auf die geschriebene Sprache bezogene Kernerlebnis in eine Face to Face-Situation überträgt: „also wenn dich jemand genAnnt hätte' anja . der chem/ na äh eh anja is chE'miker" (17). Zur Verdeutlichung skizziert er eine feministische und eine nicht-feministische Sichtweise, nicht zuletzt, um die Anruferin mit der zweiten Position - „man könnt ja auch sagen daß dieser ausdruck eigentlich neutral is . und weder mann' noch frAu' meint, oder so" (19-21) - zu einer persönlichen Stellungnahme zu provozieren, zumal sie schon zu erkennen gegeben hat, daß sie movierte Formen zur Bezeichnung von Frauen in männerdominierten Berufen befürwortet. Die Anruferin weicht der Provokation aus. Sie räumt zwar ein, daß auch die nicht-feministische Lesart möglich ist (21). Sie tut dies aber nicht, um zu der erwarteten Parteinahme für die feministische Position anzusetzen, sondern sie produziert stattdessen einen Einschub, mit dem sie sich durch massive Imagearbeit gegen den Eindruck schützt, sie könnte jemand sein, für den es persönlich wichtig ist, den Kampf gegen sprachliche Diskriminierung zu führen (2128). Da sie weder „unter irgendwelchen weiblichen minder,-wertigkeitskomplexen" (22-23) leidet, noch zu denjenigen gehört, „die in diesen KLAssischen bildern" (27) aufgewachsen sind, scheidet sie aus ihrer Sicht sowohl als Subjekt als auch als Objekt der Kampagne aus. Damit will sie nicht die Bedeutung der Diskussion schmälern, deren Sinn fur andere sie durchaus anerkennt, und den sie durch Extremisten, die p.c. nur als Mode (vgl. „schickerlA in amerika", 25-26) betreiben, gefährdet sieht. Der Moderator reformuliert und verallgemeinert den Gedanken der Anruferin: Wenn p.c. zur Sache der „linken schickaRIA" (29) wird, droht der aufklärerische Aspekt der Debatte diskreditiert zu werden, weil „gUt* gemeinte absichten' der lÄcherlichkeit" (30) preisgegeben werden. Die Anruferin läßt sich nur zögernd auf das verallgemeinernde Statement des Moderators ein. Aus der Vermeidung eines Pauschalurteils heraus, aber auch, um einen Beleg für eine engagierte Sprachreflexion zu liefern, führt sie als Gewährsfrau eine prominente Vertreterin der feministischen Linguistik an.

197 Die zwischen Zustimmung und Ablehnung schwankende Bewertung der p.c.Diskussion setzt sich in ihrer Erzählung fort, in der vor allem offen bleibt, ob das zentrale Beispiel „DÄMlich" (37) zeigen soll, welche kuriosen Formen die Sprachkritik annehmen kann, oder ob es als Beleg fur die frauenfeindlichen Abgründe dienen soll, auf die man bei intensiver Beschäftigung mit der Materie stößt. Wichtig für den Fortgang des Gesprächs ist vor allem, daß die Anruferin i η dieser Phase Reflexionsanlässe präsentiert, wenn auch nicht aus erster Hand, sondern vermittelt über Dritte. Zu einem vorläufigen Abschluß kommt die Sequenz aber erst dann, als sie ihre eigene Reflexionspraxis in einem konkreten Beispiel offengelegt hat: „oder Ich komm in irgendn biiiO und sag da sagt jemand zu mir, der nÄ'chste bitte' dann hab ich mich da bitteschön nlch' drüber zu ärgern, ne" (49-50) und noch einmal resümierend: „also der nÄ'chste nervt mich mittlerweile schon sEhr, ja" (56-57). In ihrer Unterhaltung nähern sich die Gesprächspartner schrittweise der erfahrungsnahen Rekonstruktion eines thematisch einschlägigen Auslösers. Die lästige und vorhersagbare Fragestrategie des Moderators vom Typ „Was empfanden Sie als...?" kann als Versuch gedeutet werden, einen möglichst erfahrungsnahen Zugriff auf das Ausgangsproblem zu bekommen, was den Interessen der Anruferin zwar nicht nur entgegenkommt, wie das ambivalente Fortsetzungsmuster des Gesprächs zeigt, was aber von der Sache her durchaus begründbar ist. Denn die individuelle Kommunikationserfahrung der Teilnehmer und ihre Anschließbarkeit bei der retrospektiven Verarbeitung eines Auslösers ist für die Diskussion des Gegenstands in der Tat kriterial, da die öffentliche p.c.-Debatte unabhängig von wechselnden Themen und Reflexionsanlässen kontextübergreifende Prinzipien ausgebildet hat, die sich relativ unabhängig von konkreten Reflexionserfahrungen behaupten können (vgl. Abschnitt 4.2.2 „eine frau ist eine frau' oder"). Genau dieses Problem, die Verselbständigung normativer Maximen gegenüber faktischen Reflexionserfahrungen, wirft die zentrale Alternativfrage des Moderators auf: , j a dAs will ich nämlich mal von euch FRAUn unter den fritzhörern' und hörerlnnen' oder hörerinnen und hörern rauskriegen+ wiewEIt euch das Immer euer leben lang genErvt' hat Oder- ob ihr vielleicht' könnte ja AUch' sein äh völlich Unbefangen damit aufgewachsen seid' und Erst von radikAln feministinnen drauf gestoßen worden seid" (51-56). Das Resümee der Anruferin „also der nÄ'chste nervt mich mittlerweile schon sEhr, ja" liefert die gesuchte Betroffenheitserklärung für eine differenzierte Bewertung von p.c., denn bei aller Kritik an der Funktionalisierung und an der modischen Übertreibung ist die Berechtigung der Debatte zwischen den Teilnehmern unstrittig. Beiden erscheint es aufgrund ihrer alltags weltlichen Annahmen grundsätzlich sinnvoll, soziale, politische und lebensweltliche Fragen anhand beobachtbarer sprachlicher Phänomene zu thematisieren.

198 Die Spannung des Gesprächs resultiert nicht aus divergierenden Einschätzungen des Gegenstandes, sondern aus den situativen Schwierigkeiten, eine eigene Differenzerfahrung zu aktualisieren. Die Anruferin schiebt eine ungebrochene Reproduktion des Auslösers so lange heraus, bis sie den Reflexionsanlaß als selbstgewählte Relevanz präsentieren kann, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, sie gehöre zu denjenigen, die p.c. entweder nur professionell oder aus einer unterlegenen Position heraus thematisieren.

4.3.3

Schrittweise Rekonstruktion einer Kommunikationserfahrung unter halbexperimentellen Bedingungen

Die Teilnehmer können sich einer handlungsentlasteten Einstellung annähern, wenn sie auf vergangene Kommunikationserfahrungen in diskontinuierlicher Reflexion eingehen. Ein konkreter Reflexionsauslöser kann dabei als Teil einer gemeinsamen Reflexionsbiographie immer wieder thematisiert, neu bewertet und neu interpretiert werden. I n d e r i n Abschnitt 4.2.1 vorgestellten Übung zur Konversationsanalyse wurde dieser Prozeß, der sich beliebig lange ausdehnen kann und der im normalen Kommunikationsalltag gewöhnlich durch lange Phasen nicht reflexiver Interaktion unterbrochen wird, im Experiment nachvollzogen. Die Übungsteilnehmer sollten, nachdem sie aus dem flüchtigen Gegenstand „Rollenspiel" auf halbinterpretativem Wege ein statisches Reflexionsobjekt hergestellt hatten, eine sequenzanalytische Beschreibung ihrer Transkripte anfertigen. Die Phase der detailgenauen Beschreibung der Transkripte wurde in Form eines gelenkten Unterrichtsgesprächs realisiert. Im folgenden soll anhand von drei Ausschnitten untersucht werden, auf welche interpretativen Ressourcen die Reflektierenden bei der Rekonstruktion ihres Rollenspiels zurückgreifen, welchen praktischen Restriktionen sie unterliegen und wie sie eine nachträglich identifizierte Differenzerfahrung verarbeiten. In allen Stadien der Reflexion stützten sich die Seminarteilnehmer neben ihrer Erinnerung auf das Transkript „Vollversammlung": Beispiel „Vollversammlung"* (VV) 1 A 2 A 3 A Β C

na'= habt=ihr au= alle diese f:lUgblätter bekommen' diese schönen din a fünf kleinn f:lUgblätter zur. Vollversammlung'. habt ihr die schon mal + gelesen' überflo:gen. ja da kam letztens son typ ins seminar und hat die ürgendwie .

* Wie „Vollversammlung" und „son typ" in Abschnitt 4.2.1.

199 4 C

aufn tÜsch gelegt aber hh ich hab . bin=noch =nich dazu gekommn mir ma eins zu

5 Ä Β C D 6 Α Β C 7 Β C 8 Β D 9 D

(kl) irgendwie nErven die auch η bißchen diese vOllversammlungn kommt greifen,. hm sowieso nichts bei rau:s man br verbringt da seine zei:t. . .

also bishe:r, wieso:', . findste' ja: die sind sowieso auch alle für strei:k . also ich find die eigentlich immer ganz produktiv und . . man kann da eigentlich nich viel m ne .so kann man das ja auch nich sa:gen,. nd ich find das schOn sehr wichtig also da hlnzugehn und wir sind so:n großer fAchbereich nd die sind immer

10 Β D

so lee:r ich find das nicht gut,

11 Β

was unternimmt nd sich vielleicht engagIE:rt aber in diesen Vollversammlungen

12 13

Β

also ich find das Auch wichtig daß man mal

wird das irgendwie nichts,

C Β

klEineren gruppen-

C 14

Β C

15 A 16 A Β

aber

in

na wie willstn dich dann Anders organisieren, diese massenveranstaltungen mnaja aber das is ja das is ja problematisch also ich kenn keine naja' kleine gruppe die sich irgendwie so zusammentut und irgendwas erreichen könnte, ne kleinere gruppe gibts=ja=au n e : . da gibts ja au ne: fAchschaftsinitiative hier im fachbereich germanistik u n d - . die wolln auch gar nich strEIken=also j a das stimmt,

17 Α

zumindest wenn ich das flugblatt richtig gelesen habe: eh heißt e s : . man muß

18 Α

eigentlich streiken um zu studlEren aber wenn man streiken würde kÖNnte man gar

19 Α

nich studieren'. . was also tUN,.

Β 20 Β

ja eben,

C 21

C

22 C 23 C 24 C 25 C

ja klAr und wenn man nich streiken will

sollte man vielleicht auch was dafür untemEhmen aber, na das wolln die ja grade in der: vauvau mAchen eben genau: einn weg zu findn: die uni zu verbessern ohne daß wir strEIken müssen,. also: öh also ich glaub also das was ich so: m gehört habe über das flugblatt m naja das ziel dieser vauvau is halt ehm: . ja: . auch mal zu überlegen welche Verantwortlichkeiten wir als Studenten und studier und studentINnen haben, u:nd- daß man vielleicht auch in den seminAren

26 Β C 27 Β 28 Β C

aber es gab schon was verbessern kann ohne jetzt die ganze Uni zu r e v o l u z z e n , . . sO: viele vollversch . Vollversammlungen unds kam irgendwie bisher nich viel dabei raus . ne' nja vielleicht sind die leute nich mit der: richtigen Einstellung

200 29 A Β C D

eh bei der letztn ν: bei dann wirds wahrscheinlich dieses mal AUch so, hingegangen ich wEiß es nich, ich

30 A D 31 D

der letztn find schOn daß dabei was rauskam man kann ja nich daß das so schlecht läuft hier

32 A Β D 33 A Β D 34 A D 35 A C 36 A 37 A 38 A Β 39 A 40 A 41 A C 42 C 43 Β C 44 C

an der uni kann man ja nich de:r der germanlstikvollversammlung emit nd bei bei der letztn

( Lachansatz> zum vorwurf machen irgendwie'+ Vollversammlung w Arn ja auch viele dA: da warn fünfhundert leute fast da in dem .dran geändert ? ) ja einen hörsaal zwei also ich glaub bei einer Vorlesung sind nie so viele ja Studenten da wie b wie bei dieser Vollversammlung

u:nd immerhin wurde da stimmt,

beschlossen daß man über: . Aktionen rEden will also im letztn semester wurde beschlossen was man im nächsten also im jetzigen semester: mAchen will. eine möglichkeit war strEIk . . da man aber, nun studieren will und nich streiken will hm und das halt η ziemliches paradO'x is, und man aus diesem paradox nur irgendwie rauskommt wenn man: ideen hat um halt da rAuszukommen . muß man sich doch eigentlich auch trEffen und überlegen und: ideen sammeln' nja ich find auch . ich wollt grade sAgen weil ich find auch in dem moment schon wo du dir da selber gedanken drüber hm machst brINgt doch so ne vauvau schon was,. es muß ja jetzt nich immer die totale änderung danach eintreten am tag nAch der vauvau+

Das Stadium

der

Beschreibung

Im Stadium der Beschreibung, das die Identifizierung und Fokussierung e i n e s bestimmten Ausschnitts der g e m e i n s a m e n Kommunikationserfahrung voraussetzt, thematisieren die Seminarteilnehmer Aspekte des R o l l e n s p i e l s und setzen sie damit für die weitere Rekonstruktion relevant. Grundsätzlich gibt e s b e l i e b i g v i e l e Aspekte, unter denen ein identifizierter Ausschnitt b e s c h r e i b bar ist, so daß e s kaum s i n n v o l l scheint, in diesem Stadium von s y s t e m a t i schen Restriktionen auszugehen. D i e e i n z i g e n Grenzen, die nach einer Ausklammerung der wahrnehmungsbedingten Restriktionen (s.o. Abschnitt 3.3.1) zu bestehen scheinen, sind die der Thematisierbarkeit, d.h., es k ö n n e n nur die A s p e k t e eines fokussierten Ausschnitts in der Beschreibung aktuali-

201 siert werden, die auch mit sprachlichen Mitteln darstellbar sind, für die die Reflektierenden also eine Beschreibungssprache haben.68 In der ersten Beispielsequenz beschreiben die Teilnehmer „was der Sprecher in zeile eins bis zwei tut" (1-2). Beispiel: „was der Sprecher in zeile eins bis zwei tut"* 1 Sm 1 Sx η 2 Sm 1 Sm 2 3 Sm 2 4 Sm 2 5 Sm 2 6 Sm 2

(30 Sek.) also . versuchen sie zu beschreibn'. ahm was- der Sprecher in zeile eins bis zwei tut, . . . mhm' mein er formuliert die die Stichwörter für das die festgelegt sind um das gespräch zu fühm also vor allem Vollversammlung und zur erläuterung flUgblätter also er versucht ahm . den kontakt herzustelln indem er auf dieses thema anspielt denn, na habt ihr auch das is so=n bißchen planlos' dann dieses stichwort mit den flugblättern was er erläutert' also diese schönen

7 Sm 2 8 Sm 2 9 Sm 2 Sw 1 10 Sw 1

din a fünf kleinen flugblätter um zu dem eigentlichen thema Vollversammlung zu

11 Sw 1 12 Sw 1 13 Sm 2 Sw 1 14 Sm 2

eigentlich voraus' das es ganz wichtich is das wir die flugblättern gelesen haben

15 Sm 2 16 Sm 2 17 Sm 2 18 Sm 1 Sm 2 Sx η Sw 4 19 Sm 1 Sw 2 Sw 3 20 Sw 2 Sw 3 Sx η 21 Sw 3 Sx η

ja klar das sonst hätte man das thema ja sicherlich nich . vOrgeschlagn ne' und

68

*

komm' und direkt anknüpfend dann äh diesen nun aufgenommenen faden den andern zu übergeben habt ihr die schon alle gelesn aber ich denk grade mit diesen drei Wörtern na habt ihr auch unterstellt er . oder ne äh er er setzt das war nun in gewisser weise so ne aufforderung insofern würde ich das also aber man muß ja dazusagen das das ja planlos find=ich=s (an sich?) nich bekannt is das die flugblätter vergeben wUrdn das is ja eben in dem fall war das äh plAnlos gut mir (gehts?) zu beschreiben das sich vor allem in der verschleifung und so das is so ne floskel so na:=habt=ihr=auch' + äh und gut und dann . gehts zur sache mit den flugblättern (?) is da ne aufforderung' (4 Sek.) mhm:,' das klingt so (?) vielleicht so=n bißchen irOnisch müßte ma jetz hm:,' noch ma anhörn aber . na wart ihr denn alle auch ganz brav oder so irgendwie (Lachen)+ wenn jemand η satz na habt ihr denn auch alle+

(Husten) +

Vgl. Lucy (1993). Wie „Vollversammlung".

202 22 Sm 1 Sw 3 23 Sm 1 24 Sm 1

ch=hab ne flugblätter gelesen + also das klang' für mich nich als aufforderung also ne verstehnsfrage hab=ich zu dem was SIE gesagt ham sie mein: das is klar das alle die flugblätter gele'sen harn (...)

Die Bezugsäußerung, zugleich die Eröffnung des Rollenspiels, lautet: „na'= habt=ihr au= alle diese f:lUgblätter bekommen' diese schönen din a fünf kleinn f:lUgblätter zur. Vollversammlung' . habt ihr die schon mal + gelesen" (VV, 1-3). Für Sm2, der selbst nicht am Rollenspiel teilgenommen hat, steht die Handlungsmodalität im Vordergrund (2-9). Er interpretiert die Bezugsäußerung als einen im voraus präparierten Zug innerhalb eines Spiels. Die einzelnen Bestandteile des Tunis werden von ihm daraufhin überprüft, welchen funktionalen Beitrag sie zur Initiierung des vorher „festgelegten" Interaktionsverlaufs leisten: Formulierung des „stichworts" und Präsentation des „eigentlichen themas" verweisen auf die Ebene der Themaorganisation, den „faden den andern zu übergeben" (8-9) auf die Organisation des Sprecherwechsels. An der Äußerung von Sm2 fällt auf, daß weder der Handlungsaspekt noch die Satzart der Bezugsäußerung benannt werden, was nach der vorausgegangenen Frage (1-2) durchaus erwartbar gewesen wäre. Stattdessen beschränkt sich Sm2 darauf, diejenigen Bestandteile der Bezugsäußerung, die syntaktisch und semantisch den Handlungsaspekt markieren, wörtlich zu wiederholen. Swl widerspricht Sm2 aus der Teilnehmerperspektive (vgl. „wir", 11), sie kontrastiert die erfahrungsdistanzierte Sicht von Sm2 mit einer erfahrungsnahen Beschreibung desselben Ausschnitts. Zur Identifikation und Beschreibung der Bezugsäußerung bedient sie sich teilweise derselben Technik wie ihr Vorredner, indem sie die entsprechende Passage zuerst zitiert (10), um dann im Gegensatz zu Sm2 aus ihrer Beschreibung einen Handlungsaspekt herauszufiltern: „das war nun in gewisser weise so ne aufforderung" (12). Für Swl folgt aus ihrer Beschreibung, daß die Bezugsäußerung nicht „plAnlos" (16, vgl. 5) gewesen sein kann. In seiner Erwiderung (13-18) besteht Sm2 auf seiner Version, wobei er sich zur Begründung seiner Sichtweise massiv auf sekundäre Überlegungen stützt. Seine rationalisierende Deutung unterstellt, daß das eigentliche Kommunikationsereignis mit der Bezugsäußerung noch nicht begonnen hat. In diesem Sinne nimmt er sie als „floskel" (17) wahr, die noch nichts „zur sache" (18) beiträgt. Die Uneigentlichkeit der „floskel" leitet Sm2 zum einen aus dem Vergleich mit seiner Einschätzung des gesamten Kommunikationsereignisses ab und zum anderen aus seiner Kenntnis der schriftsprachlichen Norm. Die Kontraktion bzw. „verschleifung" (17) der Äußerungsbestandteile ist fur ihn ein Indiz dafür, daß (noch) keine relevante Aktivität vorliegt. In eine ähnliche Richtung weist der Beitrag von Sw3, die auf eine Zwischenfrage von Sw4 „is da ne aufforderung" (18) reagiert. Sw3 problematisiert

203 die Modalität der Bezugsäußerung „vielleicht so=n bißchen irOnisch" (19), womit sie beiden vorher geäußerten Positionen entgegenkommt. Sm2 könnte Recht behalten, wenn sich im Konsens herausstellen sollte, daß die Bezugsäußerung „nur" ironisch gemeint war und Swl behielte auch Recht, miißte allerdings das Vorzeichen vor der von ihr identifizierten Handlung ändern. Bemerkenswert ist der produktive Einsatz der bekannten Zitiertechnik durch Sw3. Sie gestattet sich wesentlich größere Freiheiten als ihre Vorredner bei der wörtlichen Wiedergabe der Bezugsäußerung, indem sie nicht nur deren handlungsrelevanten Bestandteile zu einer Äußerung zusammenzieht „na habt ihr denn auch alle" (21), sondern indem sie zuvor spielerisch eine Vergleichsäußerung produziert, die die Bezugsäußerung in Form einer pragmatischen Austauschprobe in einen anderen Kontext piaziert und ihr damit eine andere Lesart gibt: „na wart ihr denn alle auch ganz brav" (20). Spätestens mit dieser Reflexionstechnik verlassen die Teilnehmer das Stadium der Beschreibung zugunsten einer aktiven Reinterpretation und Rekonstruktion des Ausgangsdatums. Das im Stadium der Beschreibung aktivierte Reflexionspotential variiert grundsätzlich mit dem Teilnehmerstatus der Reflektierenden. Während der distanziertere Beobachter (Sm2) eher dazu neigte, reflektiertes, in diskontinuierlicher Reflexion erworbenes Wissen in die Beschreibung einzubringen, stützten sich die Rollenspielteilnehmer (Swl) eher auf ihr erfahrungsnahes Wissen. Bezogen auf die eingesetzten Reflexionstechniken und Inhalte sind im übrigen kaum Unterschiede auszumachen. Die Teilnehmer identifizierten die Bezugsäußerung ähnlich wie die Schüler im Beispiel „ich mach mir sEhr viel sOrgen" (Abschnitt 4.2.1) vorzugsweise durch wörtliche Wiederholung, wobei sie intuitiv diejenigen Äußerungsbestandteile isolierten, die syntaktisch den Handlungsaspekt bestimmen. Neben der mehr oder weniger interpretativen Wiederholung und Reinszenierung der Ursprungsäußerung bedienten sie sich zur Beschreibung der Bezugsäußerung der Reformulierung und Zuschreibung von Motiven, der Explikation des Handlungsaspekts durch sprechaktbezeichnende Verben oder Substantive, der pragmatischen Austauschprobe und der spielerischen Überprüfung der Modalität. In Austins Terminologie konzentrierte sich die kategoriale Beschreibung der Äußerung als Handlung auf den illokutionären und den perlokutionären Akt. Für den lokutionären Akt bevorzugten die Teilnehmer dagegen eine direkte Reproduktion des Ausgangsdatums.

204 Das Stadium der Erklärung Beschreibungen und Erklärungen entsprechen nach einer Einteilung von Schütz 69 Konstruktionen erster und zweiter Ordnung. Während der analytische Impuls der Reflektierenden im Stadium der Identifikation und der Beschreibung des Auslösers beim Ausgangsdatum ansetzt, um wahrnehmbare und thematisierbare Eigenschaften von Äußerungen zu identifizieren und zu kategorisieren, gehen die Reflektierenden im Stadium der Erklärung von komplexeren theoriewertigen Konzepten aus, denen sie die zuvor thematisierten Phänomene nachträglich zuordnen. In der Beschreibung vollzieht sich eine Bewegung vom Phänomen zur analytischen Konstruktion, in der Erklärung dagegen vom analytischen Konzept zum Phänomen. Das qualitativ Neue der Erklärungsphase gegenüber der Beschreibungsphase liegt also im Wechsel des Interpretationsmodus von einer vorwiegend rekonstruierenden zu einer vorwiegend konstruierenden Einstellung gegenüber dem reflektierten Ausschnitt. Die analytische Unterscheidung von Beschreibung und Erklärung als zwei Stadien praktischer Reflexion darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Beschreibung und Erklärung in einem Schritt vollzogen werden können. Beschreibende Kategorisierungen verhalten sich nicht neutral gegenüber Erklärungen. So kann ein Teilnehmer, indem er z.B. das kommunikative Verhalten eines anderen Teilnehmers beschreibend als „Unterbrechung" einordnet, ohne dies zu wollen, einen bestimmten Erklärungskontext präjudizieren. Gewöhnlich gibt es fiir die Teilnehmer eines Kommunikationsereignisses keinen Erklärungsbedarf, sie bevorzugen - wie empirische Untersuchungen belegen konnten - eine „Nichts besonderes passiert"-Haltung, 70 die sie so lange wie möglich beibehalten, auch wenn offensichtlich regelwidriges oder abweichendes Verhalten vorliegt. In der handlungsentlasteten Reflexion einer gemeinsamen Kommunikationserfahrung ändert sich die Haltung der Teilnehmer, die flüchtigen Phänomene der Ausgangssituation werden dekontextualisiert, problematisiert und plausibilisiert, wobei sich Problemidentifikation und Erklärung in der Rekonstruktion des Auslösers gegenseitig bedingen: Wenn die Reflektierenden kein Problem identifizieren, gibt es für sie auch keinen Erklärungsbedarf, während andererseits ein identifiziertes Problem bereits das Spektrum möglicher Erklärungen vorgeben kann. Die Teilnehmer der Übung entschieden sich bei der Auswahl des Materials für ein bestimmtes Rollenspiel, weil sie beim Abhören der Tonbandaufnahme ein Problem auf der Ebene der Gesprächsorganisation wahrgenommen hatten. Zu erklären war demnach, warum ein bestimmter Sprecherwechsel nicht reibungslos funktioniert hatte. Das Beispiel „fraun männer schiene" gibt den Zeitpunkt wieder, in dem die Teilnehmer zum ersten Mal eine mögliche Erklärung fur den mißlungenen Sprecherwechsel diskutieren. Der ausgesuchte 69 70

Schütz (1,7). Emerson (1970).

205 Reflexionsauslöser, der Mehrfachstart des Sprechers A (VV, 29-32), ist im Sinne der Konversationsanalyse ein „unproblematisches" Problem, das im Rollenspiel (bei laufendem Motor) nicht reflexiv bearbeitet wurde - es gibt kein „Laß mich mal ausreden" oder „Unterbrich mich doch nicht". Beispiel „fraun männer schiene"* 1 Sm 2 Sm 3 Sm Κ 4 Sm Κ 5 Sm

1

also mIR' ist AUFgefallen daß=äh:.. daß . ich kenn eure nAmen' nich,=aber

1

Eine frau is der andern . ich glaub zwei beitrage vorher'. (leise) äh + ins wort gefalln, ne'. hörte man nur noch son leises JA'ber'. öh, jA A:'ber . im (zustimmende

6 Sm IP 7 Sm IP Κ 8 Sm IP 9 Sm IP Κ 10 IP

1 1

hintergrund, und dann'. äh:, kam es rein' und dANN kommt dieser lANgere Rückmelder verschiedener Sprecher)

1

beitrag, und die pause, und da is da also bevOR'. dU probleme hattest mit

1

deinem rEderecht' is da öh: schon sone . sache passiERT'

womit der peter' < hm'

1

leisen» peter' heißt du, ne'+ . allerdings nICHTS' zu tun hatte,. . also also hm' (Zustimmung aus dem Publikum)

1

Ich find das nich so gUT wenn man sich jetz so auf auf ihn alLEIne so stürzt' aber das

1

weil .

11 IP 12 IP Sf 1 13 Sf 1 14 IP Sf 1 15 Sf 1 16 Sm 2 Sf I 17 Sm 2

dIE Sachen . sin ja vORher auch passiert,. . hm' also sIE haben die: . (Zustimmung von einer weiteren Studentin)

beobachtung gemacht daß: äh: analoge . . phänomene schon . . also strukturell Ähnliche phänomene vORher schon passiert sind,. die wir vielleicht nich so: wAHRgenommen haben' wie: jetz grade das . . bei bei peter, und was wahrscheinlich dAran liegt' daß dIEjenige eben gar nicht so dadrauf bestANden ja: . . hat,. . . dann trotzdem noch was zu sagen,. . also ich weiß nich ob dat jetz sINNvoll is jetz wieder auf die fraun männer schiene zu: + . also in in dEM kontext fällt schlEben, jA' also'+ da kann man . .

mirn aspekt ein der vielleicht bißchen sEHR naIV' gedacht ist aber'. daß uns 18 Sm 2 dIEses beim ERsten hören . diese stelle so marKANT vorkam' liegt es vielleicht 19 Sm 2 einfach auch dran' daß daß peter der einzige mann bei vier fraun is' und Sf 1 ja genau,+ 20 Sm 2 UNterschiede zwischen . sEIner stimme'. zu den anderen vIEL markANter sind 21 Sm 2 als bei den anderen'. also ich ja ich weiß zum beispiel noch noch (...?) Sf 1 stimmt' (···?) er

Wie „Vollversammlung".

22 Sm 2 Sf 1 23 Sm 2 Sf 1 24 Sm 2 25 Sm 2 26 Sm 2 Sf 1

teilnehmerinnen gewesen* er spricht sehr 1AUT und es spricht auch sehr 1AUT ne'* ja also man hört es . ich glaube aber daß daß daß äh:m* daß äh: in sOfem akUStisch auf jEden fall noch deutlicher als bei den andern* wIRken seine beitrage f/auf mICH jedenfalls also würden sie s also die ANderen wirken relativ EINheitlich, stilistisch und und von der sprachebene und so und

27 Sf 1 Κ 28 Sf 1 29 Sm 2 Sf 1 30 Sm 2 Sf 1 Sf 2 31 Sf 2 32 Sf 2

ganz ο wertvoll auch dann für f ü : r . äh:m.. ja wenn man sich mal (schnalzen)

33 Sf 34 Sf 35 Sf Sf Κ 36 Sf

2 2 1 2

1 37 Sf 1 Sf 2

und das η kontrast (...?) is auf jeden fall gegeben aber das ich glaub dein: gedanke: is

überlegt', was denn dann ich meine diesen EINdruck werden ja die auch wahrnehm ja ja' gesprächsteilnehmenden' also dann sprich die frAUN' eben' dann AUch gehabt ja' ham, und das is dann vielleicht. η ganz guter hintergrund,. . also ich war nämlich auch ganz überrascht eigentlich' daß . jetzt kEIner von den fraun' oder kEIne von den fraun' für peter sozusagn die partEI ergriffen hat, sondern . irgendwie es war doch ne ganz .+ ganz äh. interessante: atmosphäre so von Einigkeit n e ' . so peter kam nich zu potte' und ja Ich hatte immer so das gefÜHL' daß erimmer das war auch o.k.' so, ne' . (lachen unter den Zuhörern) + etwas außen vor' blieb,. auch inhaltlich . . also der äh daß er auf ner ganz andern=äh: schiene . . argumentiert hat' er hat halt er is halt η total engagierter,. ja +

38 Sf 1 39 Sf 1 40 Sf 1

student und is ebn auch inner fachschaft in dem (...?) dA so seine message +

41 Sf 1 42 Sf 1 43 Sf 1

UNtereinander haben irgenwie versucht auch . so mITeinander zu

44 Sf 45 Sf Sf Κ 46 Sf

1

warn' wir ham auch INhaltlich auf ganz andren Ebenen gesprochen, das müßte

1 3

man sich vielleicht AUch nochmal ansehn,

3 47 Sf 3 48 Sf 3 49 Sf 3 50 Sf 3 51 Sf 3 52 Sf 3

rüberbringen' und sIE und η die kommilitonen auch zur mTTarbeit bewegen'. und wIR' hatten natürlich ich glaub, was heißt wir' also ich glaube die fraun argumentieren' und warum' warum'. . s wenig mitarbeit gibt' oder oder . also wir ham so glaub ich Eher so versucht'. ja, weiß' nich,. also . ich glaub'. wir

also Ich hab hab das eigntlich AUch (Zustimmung) so empfunden daß:=äh die gesprächsteilnehmeRINnen irgendwie bißchen mehr aufeinander eingegangen is' und daß E r ' . ähm . auch so:: ja: äh:m η bißchen so als . der kompetente student+ und ich kann mein wissen anbringen dENN es gibt ja nicht nur die Vollversammlung' es gibt j a auch noch dann die fachschaftsini'. und dann irgendwann kam später sein ding mit den zEItungen irgenwie' und die Zeitungen werden von den sKANdinavisten und den und den gemacht ihr werdet es nicht wissen aber Ich weiß + und irgendwie . son

207 53 Sf 1 Sf 3 Κ 54 Sf 2 Sf 3

jaja bißchen'. nE: das is jetz nICH irgendwie: äh:m böse gemeint und ich meine das (Gemurmel der Zuhörer) mehr zugespitzt jetzt jetzt auch nICH so von wegen aus der blickrich blickrichtung feministische

55 Sf 3 56 Sf 3

linguIStik das mEIN' ich gar nicht, sondern . daß Er halt INhaltlich irgendwie:

57 Sm 1 Sf 3 58 Sm 1 Sf 3

also . das war halt nur Werbung' eigentlich . also er hat halt nUR gesagt' jetzt für das . jaja

59 Sm 1 Sf 3 60 Sf 3

irgendwas . . wirklich argumente gebracht,. hm stimmt schon, + ja also er

61 Sf 3 Κ 62 IP Sf 3 Κ 63 IP

technisch auf die Studentin halt EINzuwirken, und irgendwie: nich so: naja, (Gemurmel tja,. aber ham wir uns jetzt nicht plakata plakativ, . is halt nich' angebracht,.. der Zuhörer) entfernt von de:r . . vom kämpf ums rEderecht'

äh:m . auf der argumentationsebene fand ich η bißchen rAUS'fiel, . weiß du' .

die ganzen Sachen' so:, plakativ geworben, aber halt wirklich nicht überzeugend genau,

hat irgendwie nich so versucht' äh:m sagn mer mal überzeugungsarbeits'.

Die Erklärung des Auslösers in diskontinuierlicher Reflexion entspricht einer expliziten praktischen Lösung des Ausgangsproblems. In der Rekonstruktion wird aus der problematischen Sequenz ein Vorgang, der mit der Kommunikationserfahrung der Teilnehmer und mit ihren aktivierbaren Interpretationsressourcen kompatibel ist. Auf dem Weg zu einer konsensfähigen Erklärung der Differenzerfahrung sind zwei Verarbeitungstechniken hervorzuheben: die Präsentation eines Erklärungsrahmens und die Einführung einer personenbezogenen Kategorie. Die Präsentation eines

Erklärungsrahmens

Sml rekonstruiert in seiner Darstellung (1-9) den Verlauf des Rollenspiels vor dem als reflexionswürdig empfundenen Sprecherwechsel. Er problematisiert die einseitige Beschreibung der anderen Seminarteilnehmer und versucht, den Reflexionsanlaß zu verschieben, indem er die Singularität des gewählten Auslösers anzweifelt. Nach dieser Initiative, die er mit Hilfe einer Kurzdarstellung des Kommunikationsgeschehens stützt, bleibt erklärungsbedürftig, warum die Verteilungsprobleme, die die Rollenspielteilnehmerinnen auf der gesprächsorganisatorischen Ebene nach seiner Ansicht ebenso hatten wie der mit Namen identifizierte Rollenspielteilnehmer, beim Abhören des Rollenspiels nicht wahrgenommen wurden. Gäbe es keine plausible Erklärung für die Beobachtung von S m l , dann müßte das Gesprächsverhalten der Rollenspielteil-

208 nehmerinnen in der Rekonstruktion genauso behandelt werden wie das des Teilnehmers. In diesem Fall blieben für die Diskussion zwei Optionen übrig: entweder müßte es sich dann bei dem Mehrfachstart von Α (vgl. W 29-32) (auch) um ein unproblematisches Problem gehandelt haben, oder das Gesprächsverhalten der Frauen müßte nachträglich problematisiert werden. In dieser Situation bietet Sfl mit der „fraun männer schiene" (15) eine Erklärung dafür an, daß das kommunikative Verhalten des Rollenspielteilnehmers anders wahrgenommen wurde als das der Teilnehmerinnen: „ also ich weiß nich ob dat jetz sINNvoll is jetz wieder auf die fraun männer schiene zu: + . schlEben, jA' also'+ da kann man" (14-16). Der Mehrfachstart von Α wird nach dem Vorschlag von Sfl vor dem Hintergrund eines Erklärungsansatzes interpretierbar, der den meisten Seminarteilnehmern bekannt sein dürfte. Der Wechsel der Reflexionsebene von einem eher deskriptiven zu einem eher konstruktiven Modus ist an formalen und inhaltlichen Merkmalen der Äußerung ablesbar: Indem die „fraun männer schiene" einen ersten, am Einzelfall orientierten Erklärungsversuch einem Typ von Erklärungen zuordnet, bewegt sie sich auf einer höheren Abstraktions- bzw. Distanzierungsstufe als die unmittelbar vorangegangene kontextsensitive Begründung. Auffällig ist das gehäufte Auftreten von prospektiven und retrospektiven Modalisierungen. Die Sprecherin sichert sich mehrfach ab und stellt den Erklärungsrahmen in einem stärkerem Maße zur Disposition als ihre erste Begründung. Durch die besondere pragmatische Markierung ihres Vorschlags lädt sie zur Fortsetzung ihres Gedankenganges ein, wobei der inhaltliche Rahmen für weitere Stellungnahmen, Kategorisierungen und Interpretationen vorläufig durch die Nennung eines primären Kategoriensets (Mann-Frau) gesteuert wird. Mit „Schiene" wird alltagssprachlich eine Position bezeichnet, an die bestimmte Argumente erwartbar anknüpfbar sind, so daß aus einer Einzelbeobachtung eine Perspektive, aus einer einzelnen Stellungnahme eine kohärente Kette von Stellungnahmen oder aus einer Ad hoc-Klassifikation ein Erklärungsmuster wird. Daß sich der Erklärungsansatz bereits in anderen Interaktionskontexten bewährt hat, wird schließlich durch die Formelhaftigkeit seiner Präsentation und durch den Hinweis auf seine Rekurrenz („wieder", 15) angedeutet. Der Erklärungsrahmen

als sozial akzeptiertes

Wissen

Der Erklärungsrahmen kann nicht von einem Teilnehmer allein etabliert werden. Damit er sich in der Diskussion durchsetzen kann, ist eine produktive Aufnahme von den anderen Teilnehmern erforderlich. Zustimmung erfahrt Sfl prompt durch Sm2, der die „fraun männer schiene" als „kontext" (16) reformuliert. Für die Reflektierenden impliziert die „fraun männer schiene" offenbar, daß es sinnvoll ist, bei der Beschreibung und Erklärung von gemischt geschlechtlichen Gesprächen von einer geschlechtsgebundenen Differenz im Sprachverhalten der Teilnehmer und von einem damit zusammenhängenden

209 latenten Konfliktpotential auf der Ebene der Gesprächsorganisation auszugehen. Mit dieser Annahme steht ihnen ein Erklärungsraster für das sprachliche Verhalten der Rollenspielteilnehmer zur Verfügung: das Verhalten des männlichen Rollenspielteilnehmers wird im folgenden auf der Grundlage der „fraun männer schiene" auf den Ebenen stimmliche Qualität, Lautstärke und Stil profiliert. Ein Zusammenhang zum Mehrfachstart des Rollenspielteilnehmers Α wird durch die Anwendung des Erklärungsrahmens nicht explizit hergestellt, sondern die Reflektierenden geben sich nur Aufschluß darüber, warum sie das sprachliche Verhalten von Α wahrgenommen haben, das der Rollenspielteilnehmerinnen B, C, D dagegen nicht. Ein direkter Zusammenhang zur übergreifenden Fragestellung - „Warum wurde der Mehrfachstart von Α als Problem wahrgenommen?" - muß nicht hergestellt werden, da dieser Zusammenhang für die Reflektierenden durch die gemeinschaftliche Ratifizierung des Erklärungsrahmens bereits besteht. Die Einführung von personenbezogenen Kategorisierungen als Bindegliedern zwischen kontextsensitiver und kontextfreier Rekonstruktion des Ausgangsdatums Ein entscheidender Schritt zur retrospektiven Erklärung von As Verhalten ist die Bereitstellung von erklärungsmächtigen personenbezogenen Kategorisierungen: „total engagierter student" (37-38) und „der kompetente student" (48). Die personenbezogenen Kategorisierungen stellen wie die „fraun männer schiene" für die Reflektierenden einen Erklärungsansatz zweiter Ordnung bereit, indem sie es ermöglichen, einzelne Aktivitäten der kategorisierten Person als typischerweise an diese Kategorie gebundene Aktivitäten auszuweisen. 71 Die Tatsache, daß Α „auf ner ganz ander=äh: schiene . . argumentiert hat" (36-37, vgl. auch 43-44), wird somit erklärbar mit seiner Eigenschaft, ein „total engagierter Student" zu sein. Die „MIR-Kategorisierungen"72 liefern zwar das interpretative Material zur Konkretisierung der abstrakteren „fraun männer schiene", aber sie fungieren nicht als eigenständige Theoreme, d.h. sie würden für sich genommen nicht als Erklärung für ein bestimmtes kommunikatives Verhalten ausreichen. Das funktionale Zusammenwirken von Erklärungsrahmen und Alltagswissen wird

71

72

Sacks (I, 42) beschreibt diese Reflexionstechnik als eine typische Form der Aktivierung von Alltags wissen: „The way you get a piece of knowledge involves pulling out the name and putting in some category. Then one gets, not 'John did X,' but 'a suchand-such did X'." Zur Erläuterung des Terminus „MIR membership categorization device" vgl. Sacks (I, 41): „I'm calling this whole apparatus the MIR device. And that is an acronym. 'M* stands for membership. 'I* stands for inference-rich, and 'R' stands for representative."

210 deutlich im Beitrag von Sf3 (45-62). Ausgehend vom abstrakten Erklärungsrahmen, dessen Anwendbarkeit sie bestätigt, arbeitet sie sich über die MIRKategorisierung zu einer konstruktiven Reinterpretation des Ausgangsdatums vor. Soziale Akzeptanz und praktische Einbettung der Erklärung. Jede Erklärung beinhaltet zwangsläufig eine Verallgemeinerung. Anders wäre es nicht möglich, ein konkretes Kommunikationsereignis mit der Alltagserfahrung der Teilnehmer in Beziehung zu setzen und vor dem Hintergrund allgemein akzeptierten Wissens nachvollziehbar zu machen. Wenn es bei diesen Verallgemeinerungen um Eigenschaften und Handlungen von Personen geht, greift jeder explizite Rekonstruktionsversuch in die Persönlichkeitssphäre der betroffenen Personen ein. Betrifft diese Verallgemeinerung sogar anwesende Personen, so ist das Gesicht dieser Personen unmittelbar tangiert, was in der Diskussion nicht ohne Konsequenzen für die praktische Durchsetzung der jeweiligen Erklärungen sein kann. Solange der Erklärungsrahmen „fraun männer schiene" in der Diskussion produktiv bleibt, gibt es daher einen strukturellen Widerspruch zwischen extrakommunikativer Deutung und metakommunikativer Wirksamkeit der aktuellen sprachreflexiven Sequenz, was Sf3 z.B. zu der Versicherung Anlaß gibt, daß ihre Erklärung nicht „böse gemeint" (53) sei. Der Erklärungsrahmen soll in praktischer Perspektive möglichst für alle Anwesenden zustimmungsfähig werden. Dafür ist es wichtig, daß mögliche negative Assoziationen, die mit der „fraun männer schiene" verbunden sind, möglichst entkräftet werden: „ich meine das jetzt auch nICH so von wegen aus der blickrich blickrichtung feministische linguIStik das mEIN' ich gar nicht" (53-55). Diese Beteuerung kommt für die übrigen Teilnehmer wahrscheinlich insofern überraschend, als allen bewußt gewesen sein dürfte, daß die „fraun männer schiene" nichts anderes als eine alltagsweltliche Anspielung auf den genannten theoretischen Kontext ist. Ein nachgetragener Erklärungsversuch von Sml (57-59), der die Differenz zwischen dem Rollenspielteilnehmer A und den Rollenspielteilnehmerinnen B, C, D als Gegensatz zwischen geschlechtsungebundenen Redestilen bzw. -Strategien konzeptualisiert, bietet schließlich einen alle Teilnehmer einschließenden Kompromiß, weil er sowohl auf extra- als auch auf metakommunikativer Ebene eher anschluß- und zustimmungsfähig ist als die ursprüngliche Formel. Das Stadium der Überprüfung des sozial gebilligten Wissens und Neustart der Reflexion Der über weite Strecken der Diskussion zustimmungsfähige Erklärungsrahmen für den gemeinsam identifizierten und beschriebenen Auslöser wird in der folgenden Sequenz in Frage gestellt.

211 Beispiel „kämpf ums rederecht"*

1 2 3 4 5 6

7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 lg

Sm 1 Sml Sm 1 Sm 1 Sxn Sm 1 Sm 1 Sm 2 Sx η Sm 2 Sm 3 Sm 3 Sm 3 Sm 3 Sm 3 Sm 3 Sx η Sm 3 Sm 3 Sm 3 Sw 1 Sw 1 Sw 1 Sw 1

also als betroffner würd=ich vielleicht vorschlagen daß die frage ja=auch lauten kann . wie denn der EINsatz eines sprechers realisiert wird oder wie wie man versucht. zum äh sprecheinsatz zu komm' also (ds?) + reinst als kämpf ums rederecht zu bezeichnen is etwas martiAlisch etwas übertrieben (Lachen)+ vielleicht auch im gründe genomm wie praktisch son äh sprecheinsatz fUnktionEErt' oder wie er halt nich funktioniert hm (4 Sek.) ka=man das so hm reformu/ ach so entschuldigung (dann?) bloß wir müssen ja in irgendner form äh versuchen die frage so zu gestalten daß sie auch tatsächlich auf diesen einen sprechereinsatz hier gilt also grundsätzlich m: sollte man dann vielleicht eher fragen warum dieser sprecherwechsel NICHT im ersten anlauf funktioniert äh wie es die anderen mEhr oder weniger nahtlos vorher ja tun also nach unserm akustischen eindruck jedenfalls insofern also äh kämpf ums (Husten) + rederecht klar is η bißchen übertriebn aber äh man kann ja wirklich also fragen warum also hier in (reihenfolge?) mit deinen bei den letztn ansätzn kurz bevor es bevors klappt daß du das rederecht bekommst (4 Sek.) hat ja immer zwei seitn, also einmal derjenige der gerne das rederecht übernehmen möchte und dann auf der andern seite diejenigen die ihrs vielleicht abgeben wolln oder nich abgeben wolln . . . (finde?) das sind dann zwei seitn (?) (...)

Sprecher S m l zweifelt nicht ausdrücklich an der Überzeugungskraft des Erklärungsrahmens „fraun männer schiene" oder an einem Detail seiner Anwendung in diesem konkreten Fall. Stattdessen setzt er „als betroffner" (1) grundlegender an, indem er vorschlägt, die Ausgangsfrage zu ändern und die D i s k u s s i o n mit einer anderen Fragestellung neu zu starten. Durch seinen kritischen Hinweis auf die „martialische" (4) Beschreibungssprache entzieht er außerdem den bisherigen Rekonstruktionsversuchen die Grundlage, denn sein Vorschlag zielt darauf, den bisher problematisierten Ausschnitt als nicht problematisch aufzufassen. Während S m l unter ausdrücklichem Hinweis auf seine Erfahrung als Rollenspielteilnehmer (und objektiv zu Recht!) die Markiertheit seines Sprecheinsatzes abstreitet, besteht Sm3 weiterhin darauf, daß es einen Erklärungsbedarf

Wie „Vollversammlung".

212 in Bezug auf die reflektierte Sequenz gibt (7-15). Was von Sml mit dem Prädikat „nicht ungewöhnlich" versehen worden ist - „wie praktisch son äh sprecheinsatz fUnktionlErt' oder wie er halt nich funktioniert" (5-6), wird von Sm3 anders bewertet. Die Tatsache, daß der reflektierte Sprecherwechsel nicht beim ersten Mal geglückt ist, reicht für ihn aus, von einem markierten Fall auszugehen: „sollte man dann vielleicht eher fragen warum dieser sprecherwechsel NICHT im ersten anlauf funktioniert" (9-10). Kompromißbereitschaft deutet Sm3 zwar auf der Ebene der Beschreibungssprache an, aber auf der sachlichen Ebene bleibt der Widerspruch zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive bestehen. Swl, deren Äußerung vor allem als Korrektur der Position von Sm2 zu verstehen ist, beendet die drohende Polarisierung mit einer Kompromißformel: „hat ja immer zwei Seiten" (16). Um ihrem Vorschlag zu folgen, müßte der vorgeschlagene Erklärungsrahmen allerdings deutlich revidiert und damit das gesamte Kommunikationsereignis neu bewertet werden.

4.4 Möglichkeiten und Grenzen praktischer Sprachreflexion Die politische Wende im Herbst 1989 verschaffte den Teilnehmern aus Ost und West praktisch von einem Tag auf den anderen ungehinderte Kommunikationsmöglichkeiten mit Mitgliedern einer soziokulturell und sprachlich anders sozialisierten Kommunikationsgemeinschaft. Obwohl die Aufhebung der Grenze durchweg begrüßt wurde, kam es und kommt es im Gespräch zwischen Ost- und Westdeutschen immer wieder zu Verständigungsproblemen, von denen die Teilnehmer vor allem in der ersten Begegnungsphase eher überrascht wurden. In diesem Abschnitt wird die kognitive und sprachliche Verarbeitung der deutsch-deutschen Differenzerfahrungen aus zwei Blickwinkeln untersucht: Abschnitt 4.4.1 stellt unter Berücksichtigung erster Forschungsergebnisse die deutsch-deutsche Kommunikationssituation nach der Wende als einen Sonderfall interkultureller Kommunikation vor, Abschnitt 4.4.2 rekonstruiert Techniken der retrospektiven und prospektiven Verarbeitung des Problems aus Teilnehmersicht.

4.4.1 Die deutsch-deutsche Kommunikationssituation nach der W e n d e als Sonderfall interkultureller Kommunikation Mögliche Auslöser der deutsch-deutschen

Differenzerfahrungen

Nachdem im Herbst 1989 die äußeren Bedingungen zur uneingeschränkten Kommunikation zwischen Ost- und Westdeutschen vor dem Hintergrund der

213 real gefallenen Mauer in öffentlichen Verlautbarungen durchweg optimistisch als Chance zur Normalisierung im Verhältnis zwischen den bis dahin getrennten Teilnehmern interpretiert wurde, setzte sich recht bald nach der Wende die Einsicht durch, daß es spezifische erfahrungs- und einstellungsbedingte Divergenzen zwischen ost- und westdeutschen Sprechern gibt, die einer unproblematischen Verständigung entgegenstehen. Nach kurzer Zeit hatte sich die „Mauer im Kopf' als zentrale, Teilnehmer- und Beobachterperspektive in gleicher Weise beherrschende Konzeptualisierung zur Rekonstruktion des deutschdeutschen Kommunikationsproblems und zur Verarbeitung gemeinsamer Interaktionserfahrungen durchgesetzt. 73 Die Differenzerfahrungen zwischen ostdeutschen und westdeutschen Teilnehmern wurden und werden nach übereinstimmenden fachwissenschaftlichen Urteilen, 74 die den Common sense-Annahmen der Teilnehmer an diesen! Punkt z.T. massiv widersprechen (vgl. das Beispiel „Brainstorming einer Akademietagung" in Abschnitt 2.1), nicht primär durch erkennbare und mühelos reflektierbare lexikalische oder grammatische Unterschiede, sondern durch unvermittelte Kommunikationserfahrungen und Hintergrundannahmen der beiden Teilnehmergruppen verursacht. Paradoxerweise leistet die Tatsache, daß beide Gruppen Deutsch sprechen, den Kommunikationsproblemen Vorschub, weil die Beteiligten keinen offensichtlichen Anhaltspunkt für einen Reflexionsauslöser haben. Die realen Probleme der Teilnehmer erwägend, wirft von Polenz daher den Herausgebern des ersten gesamtdeutschen Duden nach 1989 „'Wende'-euphorische Spracheinheitsbehauptungen" und eine Verharmlosung der Verständigungsprobleme zwischen Ost- und Westdeutschen vor:75 So hat Günter Drosdowski, im Hinblick auf die inzwischen erstaunlich rasch erfolgte Herausgabe des ersten gesamtdeutschen Rechtschreib-Duden, festgestellt, daß die deutsche Sprache als 'einigendes Band der Kultumation' offenkundig so gehalten habe, daß sich Deutsche aus Ost und West 'lachend und weinend in den Armen lagen und auch darüber jubelten, daß sie sich nach wie vor verständigen können.'

In welcher Richtung eine linguistisch fundierte Erklärung der spezifischen Differenzerfahrungen zwischen Mitgliedern der ostdeutschen und der westdeutschen Kommunikationskultur gehen könnte, deutet von Polenz zwar nur für den Bereich der Wortsemantik an, aber sein Hinweis auf die „tückischen

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74 75

Die „Mauer im Kopf ist der beste Beweis dafür, daß die Teilnehmer die deutschdeutsche Kommunikationssituation als eine Erfahrung der Differenz verarbeitet haben, vgl. Fleischer (1992, 22); Müller (1994); Kramer (1996, 55); Reiher/Läzer (1996). Vgl. von Polenz (1993); Glück (1995). Von Polenz (1993, 140).

214 Polysemien" läßt sich sinngemäß auch auf den Bereich der Pragmatik und andere Voraussetzungen der Verständigung übertragen:76 Langfristig wirksamer und konfliktträchtig (weil meist unbewuBt) sind hunderte oder tausende von semantischen Unterschieden beim gleichen Wortkörper [...]: Dem Besserwessi ganz unproblematisch erscheinende Wörter wie planen, Markt, Bilanz, bilanzieren, rationalisieren, sanieren, kalkulieren, Fonds, ökonomisch, persönlich, individuell, Eigentum, privat, gesellschaftlich, sozial, staatlich, Staat, Partei, Freiheit, Demokratie, Pluralismus, russisch [...] haben bei Ostdeutschen teilweise andere Bedeutungen, mit anderen Konnotationen, Voraussetzungen oder Implikationen, aber man merkt dies meist nicht. Westliche Neuwörter wie evaluieren, Abwicklung, Warteschleife, Wiedereinrichter, privatisieren, Rechtsstaat werden von Ostdeutschen meist nur ironisch verwendet [...]. Solche unscheinbaren Anlässe für MiBverständnisse und Irritationen könnte man 'tückische Polysemie' nennen. Die Differenzerfahrungen in deutsch-deutschen Gesprächen waren und sind für die Teilnehmer diffus, schwer reflektierbar und artikulierbar, weil notwendige Idealisierungen und die Restriktionen praktischer Sprachreflexion eine Differenzerfahrung aus der Binnenperspektive nicht erwarten lassen. Schwerwiegender als die unübersehbaren Differenzen auf lexikalischer oder auch auf dialektaler Ebene, die die Verständigung aufgrund der zusätzlichen Orientierungsmöglichkeit, die sie den Teilnehmern bieten, vielleicht sogar eher erleichtern, sind Inkongruenzen im Bereich der nicht von heute auf morgen vermittelbaren Interpretationsressourcen, mit denen die Teilnehmer ihre sprachlichen Äußerungen kontextualisieren und in ihren gewohnten Wissens- und Erfahrungshorizont integrieren. 77 Lerchner sieht die Ursache für „situative Differenzen" in den divergierenden Wissensbeständen zweier „Kommunikationskulturen" 78 und fordert daher zur

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Von Polenz (1993, 142f.). Stellvertretend für ähnliche Äußerungen zitiert Lerchner (1992, 297) den Bericht eines Studenten: „Er verstehe, wenn er die großen westdeutschen Zeitungen lese, (fast) jedes Wort, wisse nur manchmal nicht, ob er den Sinn der Äußerung auch richtig erfasse." Auch Fraas (1993, 260) sieht die Ursache für die „massiven Kommunikationshavarien" zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen darin, daß dieselben Wörter für die Angehörigen der jeweiligen Sprechergruppe unterschiedliches bedeuten: „Hierin liegt das Konfliktpotential, in semantischen Unterschieden bei gleichem Lautkörper". Gumperz hat in seinen Arbeiten zur interkulturellen Kommunikation schon früh auf die zentrale Bedeutung von Kontextualisierungshinweisen für das Verständnis interkultureller Kommunikation hingewiesen. Nach Gumperz (1982, 209) benötigen die Teilnehmer für eine problemlose Verständigung im interethnischen Dialog sowohl ein hinreichendes grammatisches Wissen als auch ein hinreichend übereinstimmendes Inventar an Kontextualisierungswissen. Lerchner (1992, 311).

215 Rekonstruktion ost- westdeutscher Mißverständnisse eine „soziopragmatische" bzw. eine „ethnomethodologische" Untersuchung: 79 Die situativen Differenzen werden in ihrer kommunikativen Langzeitwirkung dadurch erheblich verstärkt, daß mit ihnen je unterschiedliche Lebenswelten, andere Welt- und Menschenkenntnisse bzw. Erfahrungswerte korrelieren. Die fehlende Kompatibilität von Wissensbeständen (von einer Kongruenz gar nicht erst zu sprechen) dürfte m.E. das wesentlichste Moment divergierender kommunikationskultureller Gegebenheiten in Ost und West ausmachen.

Zur Erläuterung seiner These, die inzwischen durch die Ergebnisse empirischer Untersuchungen gestützt werden kann,80 beschreibt Lerchner einige gravierende Unterschiede zwischen der ostdeutschen und der westdeutschen Kommunikationskultur. 81 Demzufolge gab es DDR-spezifische Kommunikationssituationen mit entsprechenden Voraussetzungen und z.T. stereotypisierten Durchfiihrungsmitteln wie „Aussprache", „Rechenschaftslegung", „Erfahrungsaustausch", „Auszeichnungsveranstaltung", „Roter Treff'. Diese Praxis erstreckte sich nach Lerchner nicht nur auf „staatspolitische Verlautbarungsakte", sondern auf den gesamten institutionellen, und letztlich auch auf den privaten Bereich. Es gab als Folge eine DDR-spezifische Diglossie bzw. eine besondere Form des strategischen, aber auch des routiniert angepaßten Code-Switching. 82 Ferner korrelieren mit den situativen Differenzen ,je unterschiedliche Lebenswelten, andere Welt- und Menschenkenntnisse bzw. Erfahrungswerte", d.h., die DDR-Bürger haben ein anderes „Weltwissen" erworben als ihre westdeutschen Gesprächspartner. 83 Außerdem sorgen „Immunisierungsstrategien" der kommunikativen Kompetenz, die sich die Teilnehmer selten bewußt machen, für die Reproduktion der Strukturen des (vertrauten) Weltwissens. 84 Lerchner stellt resümierend fest, daß die Bürger der beiden deutschen Staaten unterschiedliche „Traditionen des Sprechens" besitzen. 85 In Ost und West haben sich in den Jahrzehnten vor der Wende kommunikative Verhaltensmuster 79 80

81

82 83 84 85

Lerchner (1992, 314). Erste Ergebnisse eines Gemeinschaftsprojekts der DFG „Fremdheit in der Muttersprache" lassen darauf schließen, daß die Ursache für die spezifisch deutsch-deutschen Verständigungsprobleme aus der uneinheitlichen Prozessierung von Kommunikationsaufgaben sowie aus divergierenden und inkongruenten Interpretationen von Kommunikationseieignissen resultiert, vgl. Antos (1996). Zu weiteren qualitativen empirischen Untersuchungen des deutsch-deutschen Kommunikationsproblems vgl. Lerchner (1992); Czyzewski u.a. (1995) und Reiher (1995). Vgl. (ebd., 31 Iff.). Inzwischen liegt auch eine hochinteressante Sammlung DDR-spezifischer schriftlicher Alltagstexte vor (Reiher 1995), die geeignet ist Lesern mit westdeutscher Biographie einen Eindruck des ostdeutschen Ethos zu vermitteln. Vgl. hierzu auch Thierse (1992). Lerchner (1992, 314). Lerchner (1992, 315). Lerchner (1992, 320).

216 auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlicher Reichweite ausgebildet, die nun „mehr oder weniger ungebremst aufeinanderprallen".86 Ost-westdeutsche Kommunikation

Kommunikation als Sonderfall

interkultureller

Von „interkultureller Kommunikation" kann also gesprochen werden, weil sich in der Folge der politischen Teilung Deutschlands auf beiden Seiten der Mauer in der Tat unterschiedliche Kommunikationskulturen entwickelt haben. Damit soll nicht bestritten werden, daß es auch nach der deutschen Teilung eine deutsche Sprache und eine deutsche Kulturnation gab und gibt. „Kultur" wird hier im Sinne des ethnomethodologischen „Ethnie"-Konzepts verstanden. Letzteres ist in Bezug auf die deutsch-deutsche Differenzerfahrung insofern einschlägig, als es ermöglicht, zwei ihrer konstitutiven Elemente - Alltagswissen und Mitgliedschaft - systematisch aufeinander zu beziehen. Patzelt definiert als Mitglieder einer Ethnie jene Akteure, welche „die innerhalb der Ethnie als selbstverständlich gehegten Hintergnmderwartungen routinemäßig nicht verletzen und folglich die Konstruktion und Reproduktion sozialer Strukturen durchzuführen vermögen."87 Die Hintergrunderwartungen der Teilnehmer, also ihre routiniert eingesetzten Wissens- und Interpretationspotentiale, können nicht isoliert von konkreten Kommunikationsereignissen untersucht werden, da sie programmatisch und unwillkürlich in die „serielle Struktur des Sozialen" 88 einfließen. In deutsch-deutschen Gesprächen haben sich vor allem diejenigen Hintergrunderwartungen als fragwürdig erwiesen, die den Bezugsrahmen fur die wechselsei-

86 87

88

Lerchner (1992, 317). Patzelt (1987, 59). Den für die Ethnomethodologie zentralen Begriff des „Alltagswissens" übernimmt Garfinkel (1959, 190) und (1967, 36f.) aus der Phänomenologie des Alltagslebens von Schütz. Der Begriff des Alltagswissens ist wechselseitig konstitutiv mit dem der „gemeinsamen Kultur". Garfinkel (1959/1981, 189): „Die Erschließung der gemeinsamen Kultur beinhaltet zunächst die Aufgabe, überhaupt Bestände an Alltagswissen von sozialen Strukturen aufzuspüren." Der Begriff der „Kultur" Jost wissenschaftssprachlich und konzeptuell den Parson'sehen Ausdruck „Kollektivität" ab, den Garfinkel in derselben Arbeit ebenfalls verwendet. Eine „Kollektivität" in diesem Sinne ist zu verstehen als die Gesamtheit deijenigen Interaktionspartner, für die eine wechselseitige Integration der Rollenerwartungen besteht, wobei diese Integration über gemeinsame Wissensbestände, Erwartungen, Weitemuster und Deutungen geleistet wird. Vgl. die Anmerkung der Herausgeber zu Garfinkel (1959/1981, 218f.) und Patzelt (1987, 302f ). Zur Diskussion des Kulturbegriffs, der der Analyse interkultureller Kommunikation zugrundegelegt wird, vgl. Rehbein (1985, 27-30). Hettlage (1991, 101).

217 tige Interpretation einzelner Situationsmerkmale bilden. Dies betrifft nach Patzelt vier Typen von Hintergrunderwartungen: 89 a) Jeder erwartet, daß der andere über die seiner wahrgenommenen sozialen Position entsprechenden ethniespezifischen Wissensbestände verfügt, auf welche man sich dann als Durchführungsmittel seiner Interaktion verlassen will; b) jeder erwartet, daB jeder mit diesen Durchfuhrungsmitteln routinemäßig kompetent umgeht; c) jeder erwartet, daß jeder routinemäßig die verfügbaren Interpretationsverfahren verwendet und gegebenenfalls ihre Benutzbarkeit durch Accounts verdeutlicht; d) jeder erwartet, daß die Handlungen jedes anderen gemäß den situativ heranziehbaren Regeln als sinnvoll und normal zu interpretieren sind.

Die Hintergrunderwartungen der Teilnehmer erfüllen eine wichtige Funktion bei der Verteilung und Integration des gesellschaftlich relevanten Wissens. Da nicht alle impliziten Annahmen durch eigene Erfahrungen gedeckt sein können - der andere Teil besteht aus Erfahrungen, die der Reflektierende von Anderen übermittelt bekommt - gründet ein großer Teil von ihnen auf der Grundidealisierung von der Austauschbarkeit der Standpunkte: „Ich glaube an die Erfahrung meines Mitmenschen, weil, wenn ich an seiner Stelle wäre (oder gewesen wäre), ich die gleichen Erfahrungen machen würde (oder gemacht hätte) wie er." 90 Eben dieser Teil des interaktionslogisch notwendigen und sozial gebilligten Wissens erweist sich in deutsch-deutschen Gesprächen als zwiespältig. Einerseits haben die Teilnehmer in Ost und West vor der Wende schlicht nicht dieselben Erfahrungen gemacht, so daß die Grundidealisierung von der Austauschbarkeit der Standpunkte nicht immer geeignet ist, vorhandene Perspektivendifferenzen sinnvoll zu überbrücken, andererseits hat jedes Abweichen von dieser Grundidealisierung schwerwiegende praktische Konsequenzen, da die Teilnehmer in der Gesprächspraxis eine reflexive Haltung einnehmen müßten, die sie zwingt, von der Alltagsroutine abzurücken. Kommunikationskultur

und Ethos

Im Herbst 1989 begegneten sich Vertreter zweier Kommunikationskulturen, die bis dahin politisch und ideologisch voneinander isoliert waren, und innerhalb derer sich in den vorausgegangenen Jahrzehnten ein unterschiedlicher „tone of behavior" bzw. ein unterschiedliches „Ethos" 91 entwickelt hatte. Das Zusammentreffen der ostdeutschen und der westdeutschen Kommunikationskultur bei Zufallsbegegnungen auf der Straße, beim symbolischen Durchschreiten des Brandenburger Tors, in der inszenierten Realität der „runden Ti89 90 91

Patzelt (1987, 58). Schütz (II, 98f.). Vgl. Bateson (1936/1958, 119). Bateson (ebd., 32) definiert „Ethos" wie folgt: „I shall use the word ethos to refer collectively to the emotional emphases of the culture". Gemeint ist also vor allem die affektive Einstellung eines Individuums als Teil seiner kulturellen Identität.

218 sehe" und in zahlreichen medial arrangierten Kommunikationsereignissen kann in seiner Komplexität, aber auch in seiner Brisanz als Auslöser praktischer Reflexionsaktivitäten nicht adäquat erfaßt werden, wenn man von der Tatsache absieht, daß sich die Teilnehmer zu diesem Zeitpunkt auch in ihrer kollektiven sozialen Identität unterschieden haben.92 Das Ethos einer Teilnehmergruppe existiert grundsätzlich unabhängig vom ideologischen Überbau eines politischen Systems, es ist das Resultat und zugleich die Voraussetzung gemeinsamer Kommunikationserfahrungen. 93 Weil die Teilnehmer ihre Kommunikationserfahrungen als Folge ihres spezifischen Gruppenethos unterschiedlich organisieren und reflektieren, kommt es immer wieder zu objektiven Reibungsverlusten bei laufendem Motor, aber auch bei dem Versuch, die wahrgenommenen Blockaden mehr oder weniger handlungsentlastet zu verarbeiten und eine gemeinsame Basis für zukünftige Kommunikationserfahrungen zu schaffen. Die asymmetrische Grundlage für eine praktische Überwindung der deutschdeutschen Differenzerfahrungen Die Bearbeitung von Differenzerfahrungen in deutsch-deutschen Gesprächen wird dadurch erschwert, daß die Ausgangsbedingungen für die praktisch reflektierenden Teilnehmer nicht gleich sind. Während sich an den Kommunikationsbedingungen für westdeutsche Teilnehmer subjektiv vergleichsweise wenig geändert hat, erlebten die ostdeutschen Teilnehmer im Zuge der Wende eine radikale Veränderung ihrer sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen: 94 Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik wurde den DDR-Bürgem ihre alte Identität auch dann genommen, wenn diese wenig geliebt oder sogar verhaßt gewesen sein mag. Die Abschaffung aller alten Identifikationssymbole und deren einfache Ersetzung durch die der Bundesrepublik mußte den [...] Eindruck bewirken, in die Bundesrepublik gleichsam „hineingesogen" zu werden. [...] Auch in sprachlicher Hinsicht erwies sich die deutsche Vereinigung als ein ziemlich einseitiger Prozeß. Niemand kann von unseren ostdeutschen Landsleuten, den Einwohnern der östlichen oder neuen Bundeslän-

92

93

94

Als Kriterien für die Homogenität einer Gruppe nennt Bateson (21983, 65f.) 5 Kriterien, die sämtlich von der ostdeutschen und der westdeutschen Teilnehmergruppe erfüllt werden: 1. gleiche Normen, 2. emotionale Folgerichtigkeit und gemeinsames Ethos, 3. ökonomische Einheit, 4. zeitliche und räumliche Einheit, S. soziologische Einheit. Das Verlautbarungswissen einer Kommunikationsgemeinschaft ist gleichwohl ein wesentlicher Bestandteil ihres faktischen Reflexionspotentials. Offizielle Behauptungen eines spezifisch ostdeutschen Ethos finden sich z.B. in programmatischen Stellungnahmen der ideologischen Führung (Rodegang o.J.): „Die Bürger sozialistischer Staaten denken nicht nur anders als die Bürger imperialistischer Staaten. Sie haben auch eine grundsätzlich andere, eben eine sozialistische Gefühlswelt." Burkhardt/Fritzsche (1992, Xf ).

219 der, den Bürgern der ehemaligen DDR oder, wie es im Einigungsvertrag heißt, den 'Bewohnern des Beitrittsgebiets' erwarten, daß sie einfach in eine West-Identität schlüpfen. Identifikationsprozesse vollziehen sich nicht von heute auf morgen. Und durch das extreme Wirtschaftsgefälle zwischen den 'alten' und den 'neuen' Bundesländern werden sie nicht erleichtert. Die Deutschen in Ost und West sprechen dieselbe Sprache und sind sich doch immer noch erstaunlich fremd: Zuweilen begegnen sie sich wie Ausländer im eigenen Land.

Wenn sich die Auslöser der deutsch-deutschen Kommunikationsprobleme darauf einkreisen ließen, daß zwei Gruppen von Teilnehmern über Jahrzehnte hinweg unterschiedlich sozialisiert worden sind, dann hätte man es zwar mit zwei Kommunikationskulturen und den daraus erwartbar resultierenden Schwierigkeiten zu tun, aber ein großer Teil der aus Teilnehmerperspektive und Beobachterperspektive gleichermaßen wahrgenommenen Probleme dürfte nicht existieren, oder er könnte durch die üblichen impliziten und expliziten Reparaturmechanismen verarbeitet werden. Das Besondere an der deutsch-deutschen Differenzerfahrung liegt darin, daß die Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen Kommunikationskulturen nicht als neutrale Gesprächsvoraussetzung existiert, sondern daß sie prospektiv und retrospektiv latenten und manifesten Bewertungen durch die Teilnehmer unterliegt. Die deutsch-deutsche Differenzerfahrung entwickelt sich in dem Maße zu einem asymmetrischen Reflexionsanlaß, wie die eine Kommunikationskultur der anderen - sei es durch implizite Kategorisierungen oder durch explizite Sanktionierungen - nicht gleichgestellt wird. Es sind primär die ostdeutschen Teilnehmer, die nach der politischen Wende mit einem Kontinuitätsbruch fertig werden mußten und müssen. Sie erfahren den Prozeß der politisch-kulturellen Einigung mehrheitlich als einseitigen Anpassungsprozeß: 95 „Die Konfrontation der neuen Bundesbürger mit einer Fülle an neuen Sachverhalten und Bezeichnungen, die ihnen fremd sein mußten, zwingt zu Anpassungsleistungen, die mehr Kraft erfordern, als sich ein Altbundesbürger überhaupt vorstellen kann." Teilnehmer mit westlicher Identität empfinden auf der anderen Seite keine Notwendigkeit, sich besonders auf ihre ostdeutschen Gesprächspartner einzustellen, da sie keine vergleichbare Erfahrung gemacht haben. Dieser Prozeß bringt es mit sich, daß die westdeutsche Perspektive gegenüber der ostdeutschen Perspektive auch dann als dominant erfahren wird, wenn von westdeutscher Seite subjektiv alle Voraussetzungen für eine (formale) Gleichberechtigung der Perspektiven geschaffen sind. Weil die kulturelle und die soziale Identität der Teilnehmer aus beiden Kommunikationsgemeinschaften einschließlich ihrer spezifischen Kommunikationserfahrungen, Deutungsschemata und nicht zuletzt auch einzelner sprachlicher Ausdrücke nicht als gleichwertig wahrgenommen werden, bedeutet ein Festhalten an Routinen für die Teilnehmer der westdeutschen Kommuni-

95

Glück (1995, 205).

220 kationsgemeinschaft nicht dasselbe wie für ihre ostdeutschen Gesprächspartner. Die asymmetrische Grundlage fiir die praktische Überwindung der deutschdeutschen Differenzerfahrungen wird zwar in ihren Auswirkungen meist negativ beurteilt, aber sie gibt auch Anlaß zu einer Rückbesinnung auf spezifische Tugenden der benachteiligten Kommunikationskultur. So hat Thierse in seiner bekannten Rede am Institut für deutsche Sprache 96 das DDR-spezifische Verhältnis zur Sprache als „Tugend einer Notgemeinschaft" bezeichnet. Als herausragende Fähigkeit der Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft stellt er ihre besondere „Sensibilität" fiir die Sprache heraus. Andere Menschen an ihrer Sprache zu erkennen, sei in der Alltagskommunikation der DDR wichtiger gewesen als in der Bundesrepublik, so die Argumentation. Die „Erkennbarkeit durch Sprache" sei daher für die Ostdeutschen zu einem Teil ihrer positiven sozialen und kulturellen Identität geworden.97 Ob die Mitglieder der ostdeutschen Kommunikationskultur aufgrund ihrer spezifischen Kommunikationserfahrungen Uber ein qualitativ anderes Reflexionspotential verfügen können als ihre westdeutschen Gesprächspartner, kann ich nicht beurteilen. Ich halte es aber für möglich, daß die weit verbreitete alltagstheoretische Annahme, daß es sinnvoll oder gar notwendig sein kann, sein Gegenüber an der Sprache zu erkennen, eine Ursache in den spezifischen Kommunikationserfahrungen der ostdeutschen Teilnehmer haben könnte. Thierse u.a. beklagen zu Recht, daß es zwischen Ost- und Westdeutschen ein „asymmetrisches Interesse" gibt. Aus dieser Asymmetrie ein einseitiges Desinteresse an Personen und Lebensschicksalen abzulesen, ist aber m.E. eine ebenso verständliche wie unzutreffende Schlußfolgerung. Unzutreffend vor allem deshalb, weil damit eine objektive Asymmetrie, die nicht allein das Ergebnis divergierender lebensweltlicher, kultureller und z.T. auch sprachlicher Entwicklungen in der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft ist, auf die Ebene individueller Kommunikationserfahrungen projiziert wird. Was durch die Integration der DDR in die neue Bundesrepublik in allen Bereichen des sozialen Lebens auf der überindividuellen Ebene Gültigkeit erlangt hat, einschließlich der kollektiven Bewertung des politischen Wandels nach 1989, ist weder von einzelnen Teilnehmern noch von Angehörigen einer Gruppe zu verantworten. Die asymmetrische Grundlage der deutsch-deutschen Differenzerfahrungen spiegelt sich notwendigerweise auch in der wissenschaftlichen Auseinander96

97

Thierse (1992). Thierses mehrfach wiederabgedruckter Vortrag war einer der ersten Beiträge zum Thema. Das anhaltende Interesse an der „Kommunikationsproblematik" nach der Wende läßt sich auch durch die schnell wachsende Zahl von Publikationen belegen. Im folgenden beziehe ich mich exemplarisch auf die Beiträge von Fraas (1993), Baudusch (1995) und Pätzold/Pätzold (1995). Vgl. Thierse (1992, 4).

221 setzung um die Möglichkeit einer teilnehmerorientierten Rekonstruktion des Kommunikationsproblems. Bei der Sichtung der fachwissenschaftlichen Literatur zum Thema ost-westdeutsche Verständigung fällt auf, daß die Thematisierung eines „Kommunikationsproblems" überproportional häufig von ostdeutscher Seite ausgeht. 98 Die Spezifik der reflektierten Differenzerfahrungen macht es erforderlich, sich die Standortgebundenheit des Analytikers in einem Maße zu vergegenwärtigen, das über die übliche methodische Kontrolle von Beobachter- und Teilnehmerperspektive hinausgeht. Auch wenn Analytiker mit westdeutscher Identität offensichtlich anders involviert sind als ihre Kollegen mit ostdeutscher Identität, ist es für den westdeutschen Wissenschaftler nur scheinbar leichter, die Haltung eines „unbeteiligten" Beobachters einzunehmen, worauf Pätzold zu Recht in kritischer Absicht hinweist. 99

4.4.2 Retrospektive und prospektive Verarbeitung der deutsch-deutschen Differenzerfahrungen im Gespräch Die Kommunikationswirklichkeit schafft soziale Fakten, die retrospektiv und prospektiv, wenn Uberhaupt, in praktischer Einstellung nur schwer zur Disposition gestellt werden können. Weil die Teilnehmer aus wahrnehmungspsychologischen, praktisch-funktionalen und wissenssoziologischen Gründen dazu neigen (müssen), an ihren „Theorien" auch angesichts von Differenzerfahrungen festzuhalten, 100 kann die in der Öffentlichkeit häufig moralisierend oder wertend vorgetragene Kritik an den Fehl- oder „Vorurteilen" der Teilnehmer dem realen Problem nur teilweise gerecht werden. Die Wahrnehmung des Gesprächspartners als „Ossi" oder als „Wessi" ist aus Teilnehmersicht nicht nur eine wichtige Interpretationsressource, sondern sie wurde und wird in der Alltagskommunikation prinzipiell unkontrolliert und beiläufig vorgenommen. Das Dilemma der uneinholbaren Wahrnehmungsurteile bliebe für die praktisch Reflektierenden selbst dann bestehen, wenn alle Teilnehmer in handlungsentlasteten Kontexten, sei es durch Kommunikationstrainings, run-

98

99 100

Z.B. käme zum gegenwärtigen Zeitpunkt wohl niemand auf die Idee, einen Sammelband mit unkommentierten westdeutschen Alltagstexten herauszugeben, vgl. Reiher (1995). Die reflexive Distanz, die dieses spezifische Interesse bedingt, wird erst möglich und erklärlich durch den einseitigen Kontinuitätsbruch, der mit für die deutschdeutschen Differenzerfahrungen verantwortlich ist. Vgl. Pätzold (1995, 408). Sacks (I, 38) bezeichnet daher einen Teil der „Laientheorien" („lay theories") als „programmatisch". Goffman (1974, 26) spricht von einer „Isomorphie" zwischen dem Wahrgenommenem und seiner kognitiven Verarbeitung: „A correspondence or isomorphism is thus claimed between perception and the organization of what is perceived, in spite of the fact that there are likely to be many valid principles of organization that could but don't inform perception." Vgl. auch Hettlage (1991, 129f.).

222 de Tische, „Zwiegespräche", Selbsthilfegruppen oder Balintgruppen für die Verständigung mit den Mitgliedern der „fremden" Kommunikationsgemeinschaft sensibilisiert werden könnten. 101 Wenn sich die Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft ihren Kommunikationserfahrungen im Gespräch konstruktiv oder rekonstruktiv reflektierend zuwenden, greifen sie vor allem auf zwei kommunikative Verfahren zurück: die prospektive Rahmung des fortlaufenden Erlebnisstroms und die retrospektive Kategorisierung, Deutung und Erklärung von Erfahrungen. Weder die Rahmung noch die (Re-) Konstruktion von Reflexionsauslösern sind als Reflexionstechniken einer bestimmten Phase praktischer Reflexion eindeutig zuzuordnen, da sie bei laufendem Motor gleichsam die Möglichkeit eines Neustarts vorbereiten. Die Übergänge sind fließend: Zentrale Motive („Mauer im K o p f ) oder personenbezogene Kategorisierungen („Jammerossi", „Besserwessi") aus narrativen Sequenzen können sich verselbständigen und als Erklärungsrahmen für die Deutung einer Differenzerfahrung eine gewisse Verbindlichkeit erlangen. 102 4.4.2.1 Die Rekonstruktion der deutsch-deutschen Differenzerfahrung In diesem Abschnitt werden mit wechselnden Schwerpunkten vier Sequenzen untersucht, in denen die Teilnehmer ihre deutsch-deutschen Kommunikationserfahrungen narrativ verarbeiten. Im ersten Beispiel konzentriert sich die Analyse auf die Rekonstruktion des Auslösers. Beispiel „ziemlich ÄHNlich"* Die Sequenz gibt das Gespräch zwischen der Moderatorin einer Phone in-Sendung und einer Anruferin vollständig wieder. Das Thema der Sendung war eine Infasstudie (4), bei der Bürger des vereinten Deutschland gefragt worden waren, wie lange der Vereinigungsprozeß noch dauern wird. Das Setting provoziert neben wertenden und kommentierenden Äußerungen die narrative Rekonstruktion konkreter Erfahrungen mit dem „Zuammenwachsen" von Ost und West. (...) jetzt ham wer frau h. gutn a:mnd'

2 Mw 3 Mw

sie lAnge warten müssn ehm was ham sie denn so ne meinungn fur ne meinung zum thema' was denken sie wie lange es noch dauern wird das berlln ost

II

1

101 102

ja + jetz ham gUten a:mnd m. h.,

Vgl. Maaz (1991, 123-149). Zur retrospektiven Verarbeitung einer gemeinsamen Kommunikationserfahrung unter halb-experimentellen Bedingungen vgl. Abschnitt 4.3.3. Aufnahme und Transkription: Esther Frotscher. Sendetermin: 22.11.1994, Radio B2 „Eastside-Westside".

223 4 Mw

und berlin west wenn wir mal hernehmin darauf basiert diese infasstuda Studie

5 Mw

auch zusammwachsn,

Aw Aw Aw Mw Aw Mw Aw Mw

also ganz konkret denk ICH daß es vierzig jähre gedauert hat daß zwei ehm gesellschaften entstandn sind in ost und west und ich glaube auch daß es genauso vierzig jähre wieder dauern wird bis da gehn sie ja SEHR hoch ähm bis es - ein deutschland in dEm sinne geben wird ran obwohl sie zu den gut fünfzich prozent dann gehöm die sagen (lacht) + ja' fünfzehn jähre und meh:r- also da gibt es schon sind sie sozusagen in ja in

Mw Aw Mw 12 Aw

gemeinschaft mit=ä jedem zweiten deutschen (lacht) + gewissermaßen ja:, warum (lacht) + ja'denken sie wirds so lange dAUern' ja ich ich denke einfach wir ha:m in in beiden

6 7 8 9 10 11

13 14 15 16 17 18 19

Aw

ähm deutschlands ähm unterschiedliche sozialisationen erfahrn und ich meine
das is auch täglich so im Umgang mitn:nander zu spürn ich selber bin aus

Aw

Westberlin' bin dort aufgewachsn bin hab quasi. die letztn . zwanzich

Aw

jähre vor der wende mit der realität gelebt und die letztn fünf jähre seit. äh

Aw

Öffnung der mauer damit gelebt und äh- j a , . . äh aber es geht mir jetz so

Aw

daß ich halt ehin auch mit der arbeit auch in in ostberlin beschäfticht bin' und das

Mw Aw

ja, durchaus is immer wieder doch ein thema dieses Ossi WEssi

20 Mw 21 Mw

nich' also das=ä ka=man nicht=äh wegleugnen wenngleich=äh das oft=äh

22 Mw Aw

so nach dem motto ist doch alles in Ordnung nÄ' ich find=es auch ganz schwierich

23 Aw

irgendwie wenn wenn jemand- kEIne ossis kEnnt' und und mir fällt es auch sehr

24 Aw 25 Aw

schwEr' jetzt äh andre (lacht)+ menschen im meim: alter kennzulem die auch aus

26 Aw 27 Mw

weiter äh zu tun habe mit denen ich auch schon VOR' der Öffnung der mauer zu

Aw

gEm getan wird, daß man also angehalten ist=äh das alles glatt zu sehn und=äh

berlin komm: aber eben aus Ost'berlin weil ich genau äh in den kreisen so obwOhl sie ja wenn sie osten rbeiten doch eigentlich ganz gut kontakt tun hatte (?)

28 Mw Aw

haben müßtn' oder nich: ja gut aber s is halt so daß man zusammn arbeitet aber so

29 Aw

mehr- darüber hinaus ergibt' sich auch nich, wall dann oft auch gesagt wird
wessis sind ja arrogant und äh mir gehts auch so daß ich oft

32 Aw

soviel dabei dEnke' ehm einfach so . damit umgehe und dann kommt von

33 Aw

denen aber ne> . also von von meinen arbeitskollegen sozusagen

34 Mw Aw

ne reaktion mit der ich gar nich gerechnet habe +

35 Mw Aw

se uns ma: η beispiel daß wir uns was vorstellen könn was jetzt son begriff äh (lacht) +

irgendwie- w Wörter oder . ausdrücke oder sowas gebrAUche', mir gar nich

was isn das zum beispiel' geben

224 36 Mw 37 Mw Aw 38 Aw

betrifft'. weil spräche sacht ja viel aus über dEnken und über hAltungn und über

39 Aw

kollegin dann gleich naja ZIEMlich ähnlich also wieder sowas

40 Aw 41 Aw

das im gegensatz halt zu zu jemand dem ich gleich An'sehn kann daß er

42 Mw Aw

ach so, sie halt aus nem andern land kommt oder der ne andere sprAche spricht ich meine

43 Mw Aw

mein:

Umgang miteinander äh ja: was war das jetz, also, äh . na wir sEhn uns ja alle ziemlich AHNlich + hab ich nu gesagt. ähm und daraufhin'. meinte meine arrogantes wessihaftes so und dabei mEInt=ich das gar nich so sondern meinte

s sie meinten damit daß man sozusagen gar nich mehr so unbedingt

ja:, glEIch auf den ersten blick erkenn: kann ob einer ausm ostn oder westn kommt
obwohl frau bü. im beitrag eben ja festgestellt hat daß in den U und S genau',

46 Mw

bahnen noch so viele leute mit den buntn beutelchen seien aber

II

47

48 Mw

na gut + (lacht) + ja so verschieden sind da auch die erfahrungen frau:- äh h. (lacht) + ja:, schön: dank daß sie sich beteilicht haben'jetzt ham wer noch frau bo. (...)

Die Unterstellung einer realen Differenz in der Rahmenhandlung des Gesprächs Die Ausgangsfrage - „wie lange es noch dauern wird daß berlln ost und berlin west (...) zusammenwachsen" (3-5) unterstellt, daß es nach der politischen Einheit noch kein einheitliches politisches, kulturelles und soziales Gebilde Deutschland gibt. Wie in vergleichbaren Sendungen richtet sich das Interesse der Medienvertreterin auch hier auf die Elizitierung vorzeigbarer und bewertbarer Erfahrungen aus erster Hand. Die Anruferin bestätigt von sich aus die praktische Relevanz und die Aktualität der zentralen Aufgabenstellung. Indem sie die Erwartung äußert, daß das Zusammenwachsen ebensolange dauern wird wie das Auseinanderleben der zwei „gesellschaften" (6), liefert sie die Grundlage für ein Gespräch über mögliche Widerstände, die dem schnellen Zusammenwachsen entgegenstehen. Bereits in ihrer ersten Erläuterung - „wir ha:m in in beiden ähm deutschlands ähm unterschiedliche sozialisationen erfahrn" (12-13) - verweist die Anruferin auf die sozialpsychologische Dimension der Ausgangsfrage. Sie stellt klar, daß die Einheit, von der sie spricht, nicht durch ein politisches Dekret, sondern nur durch eine Angleichung der erfahrungsbedingten Wissensbestände und der entsprechenden kommunikativen Haushalte erreichbar ist.

225 Kontinuität

und

Kontinuitätsbruch

Im folgenden (11-19) konstruiert die Anruferin nach einer kurzen Begründung ihrer Hypothese einen klaren Gegensatz zwischen der Zeit vor und nach der Wende. Ohne ein konkretes Problem anzusprechen, konstruiert sie den kategorialen Rahmen für spätere Belegerzählungen, indem sie den Zeitpunkt des kumulativen Aufeinandertreffens von Ossis und Wessis als einen deutlichen Bruch ihres Erfahrungskontinuums konzipiert. Ihre mentale Verarbeitung der Umbruchsituation nach der Wende stellt sie sprachlich durch drei Koordinaten auf der Zeitachse dar: als Kontinuum (1), als Emergenz des problematischen Ereignisses (2) und als Rekurrenz der neuen Erfahrung (3). (1) In ihrem Kommunikationsalltag entspricht der Hintergrund, vor dem sich die neue Erfahrung abhebt, der Epoche der natürlichen Einstellung, also der routinierten Abwicklung ihres Erwartungsfahrplans. Als unproblematisch hat die Anruferin die Zeit vor der Wende erfahren: „zwanzich jähre vor der wende" (15-16), aber interessanterweise auch die Zeit nach der Wende bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihre Arbeit in Ostberlin aufgenommen hat. Das Kontinuum ihrer individuellen Kommunikationsgeschichte ist erst unterbrochen worden, als sie durch den Wechsel ihrer Arbeitsstelle alltäglich mit Gesprächspartnern aus dem Ostteil der Stadt zu tun hatte: „und äh- ja, . . äh aber es geht mir jetz so daß ich halt ehm auch mit der arbeit auch in in ostberlin beschäftigt bin" (17-18). Durch das Verlassen der homogenen Kommunikationsgemeinschaft stellt sich für die Anruferin fortan ein doppeltes Vermittlungsproblem, in dem ihre Differenzerfahrung manifest wird: Sie findet in ihrer vertrauten Umgebung niemand, dem sie ihre neuen Erfahrungen vermitteln kann (22-23), aber sie findet auch keine gleichwertigen Sozialkontakte in der neuen Bezugsgruppe (23-27). (2) Die Emergenz eines Reflexionsauslösers wird in der Darstellung durch einen Formulierungsabbruch, durch Verzögerungen, durch Gliederungssignale, durch eine kurze Pause, durch eine adversative Konjunktion, durch einen Tempuswechsel und nicht zuletzt durch eine adverbiale Bestimmung der Zeit sehr aufwendig markiert „ äh- ja, . . äh aber es geht mir jetz so" (17). Dieselben Darstellungstechniken lassen sich z.T. auch später, als die Anruferin ein konkretes Beispiel präsentiert, nachweisen (28ff.). Das gilt insbesondere für die Verwendung der Konjunktionen und der adverbialen Bestimmungen der Zeit, mit denen sie die kritischen Äußerungen in der erzählten Zeit einbettet („aber", 28, 33; ,jetz", 37; „nu", 38; „gleich", 39), aber auch für die Dramaturgie der Darstellung insgesamt (auf Kontinuität folgt Kontinuitätsbruch). (3) Das einmalige Auftreten eines Kontinuitätsbruchs rechtfertigt aus Teilnehmersicht noch nicht die Annahme eines ernsthaften Kommunikationsproblems. Erst das gemeinsame Auftreten von Emergenz und Rekurrenz in der praktischen Kommunikationserfahrung dient der Anruferin als Hinweis auf eine ernsthafte Bedrohung der Verständigungsgrundlagen. Zur sprachlichen Markierung der Rekurrenz ihrer Differenzerfahrung dienen ihr vor allem adver-

226 biale Bestimmungen der Zeit „immer wieder" (19), „oft" (29, 30), „täglich" (14). 103 Zusammen mit der Abtönungspartikel „doch" ergibt sich aus der Verwendung der adverbialen Bestimmung „immer wieder" (19) im resümierenden Teil der Äußerung, daß die Irritierung des Erwartungsfahrplans in der aktuellen Kommunikation zwischen Ossis und Wessis aus Sicht der Teilnehmerin kein Einzelfall ist. Sie wird wechselseitig bemerkt und als besonderes Ereignis wahrgenommen. Die Differenzerfahrung resultiert „immer wieder" in der Thematisierung eines Problems, das die Anruferin mit „Ossi WEssi" (19) abkürzt. 104 Die Rekonstruktion des Auslösers Unterstützt durch die Moderatorin versucht die Anruferin zu rekonstruieren, warum sich das Zusammenwachsen von Ost und West in ihrem Lebenszusammenhang schwierig gestaltet. Ausgangspunkt ist ihre Selbstdarstellung als Grenzgängerin - eine erste biographische Information, mit der sie sich als Expertin in Ost-West Fragen profiliert hat.105 Problematisch für das gegenseitige Kennenlernen ist nach ihrer persönlichen Erfahrung die mangelnde Durchmischung der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaften, die sie als „kreise" (25) bezeichnet. Aus ihrer Antwort auf eine verwunderte Rückfrage der Moderatorin (27-28) läßt sich entnehmen, daß die Isolation der „kreise" nicht eine zufällige Voraussetzung für möglichen Kontakt, sondern bereits ein Resultat mißglückter Kommunikationsversuche darstellt. Für Fehlschläge in der interkulturellen Kommunikation macht sie die Vorurteile der anderen Teilnehmer verantwortlich, wie sie sich in stereotypen Fremdkategorisierungen artikulieren: ,ja gut aber s is halt so daß man zusammn arbeitet aber so mehr- darüber hinaus ergibt' sich auch nich, weil dann oft auch gesagt wird wessis sind ja arrogant" (28-30). Den Versuchen, wie gewohnt ins Gespräch zu kommen, steht nach dieser Diagnose eine stereotype Wahrnehmung durch Mitglieder der anderen Kommunikationsgemeinschaft entgegen. Der allgemeine Befund wird von der Anruferin im nächsten Schritt durch den Hinweis auf wiederkehrende eigene Erfahrungen untermauert: „ mir gehts auch so daß ich oft irgendwie- w Wörter oder . ausdrücke oder sowas gebrAU103

In der Parallelsituation „kollegin aus marzahn" (s.u.) läßt sich ähnliches beobachten: „immer wieder überraschend" (6), „viel zu oft" (13). 104 Die Umkehrung von „ein Thema sein" bedeutet alltagssprachlich, daß ein bestimmter Vorgang den Gang der Dinge nicht aufhält: „Das ist kein Thema!". Im intertextuellen Vergleich zeigt sich, daß die Beobachtung der Rekurrenz eine wichtige Voraussetzung für die Feststellung von Typizität und damit der Ansatzpunkt für praktische Erklärungen ist, vgl. Beispiel „kollegin aus marzahn": „wenn sich das hÄu:ft", „wenn des nicht nur an an einem punkt ist" (19-20). 105 S.a. das Beispiel „caputh".

227 che', mir gar nich soviel dabei dEnke* ehm einfach so . damit umgehe und dann kommt von denen aber ne:-. also von von meinen arbeitskollegen sozusagen ne reaktion mit der ich gar nich gerechnet habe" (30-34). Der Reflexionsauslöser, den die Anruferin in dieser Äußerung als beispielhaft für ihre Kommunikation mit ostdeutschen Arbeitskollegen darstellt, ist typisch für Mißverständnisse in interkultureller Kommunikation. Ihr Festhalten an der Routine einschließlich der interaktionslogischen Idealisierungen („einfach so", „mir gar nich soviel dabei dEnke") führt zu unerwarteten Reaktionen, weil ihre Äußerungen („Wörter oder ausdrücke") von den Gesprächspartnern in einer Weise kontextualisiert werden, die sie mit ihren Interpretationsressourcen nicht ohne weiteres nachvollziehen kann. Die Aufforderung der Moderatorin, ein konkretes Beispiel für eine durch die verwendeten sprachlichen Ausdrücke objektivierbare Differenzerfahrung zu nennen (34-37), enthält in ihrer Formulierung neben deutlichen Verweisen auf sprachbezogene Common sense-Annahmen zugleich Hypothesenangebote über mögliche Ursachen des Kommunikationsproblems. Sprache scheint aus Teilnehmersicht alle relevanten Bereiche des Problemzusammenhangs miteinander zu verbinden. Die Beschäftigung mit ihr verspricht daher Rückschlüsse über alle konstitutiven Faktoren des Kommunikationsereignisses. Auf die Frage der Moderatorin antwortet die Anruferin mit einer Beleggeschichte: „äh ja: was war das jetz, also, äh . na wir sEhn uns ja alle ziemlich ÄHNlich hab ich nu gesagt. ähm und daraufhin' . meinte meine kollegin dann gleich naja ZIEMlich ähnlich also wieder sowas arrogantes wessihaftes so und dabei mEInt=ich das gar nich so sondern meinte das im gegensatz halt zu zu jemand dem ich gleich An'sehn kann daß er halt aus nem andern land kommt oder der ne andere sprAche spricht ich meine" (37-42). Die Anruferin rekapituliert in diesem Ausschnitt ein zweizügiges Kommunikationsereignis zwischen ihr und einer Kollegin, wobei ihre Äußerung „wir sEhn uns ja alle ziemlich ÄHNlich" ihr als „wessihaftes" Verhalten ausgelegt wurde. Da sie überzeugt ist, etwas entgegengesetztes von dem gemeint zu haben, was ihr von ihrer Gesprächspartnerin unterstellt wird, kommt sie in ihrer retrospektiven Deutung zu dem Ergebnis, daß sie falsch verstanden worden sein muß. Offenbar wollte sie zum Ausdruck bringen, daß es für sie rein äußerlich weniger Unterschiede zwischen deutschen Kollegen gibt als zwischen Kollegen aus Deutschland und aus anderen Ländern, eine Lesart, die von der Moderatorin wenig später in Frage gestellt wird (42-47). Die Anruferin fühlt sich aber auch deshalb falsch verstanden, weil sie mit ihrer Äußerung gerade nicht „wessihaft" und „arrogant" erscheinen wollte. Subjektive und objektive Rekonstruktion des Auslösers Eine objektive Rekonstruktion des Auslösers ist von einer - noch dazu öffentlich elizitierten - Belegerzählung dieses Typs nicht zu erwarten, da die Anruferin vermutlich nur ihre Sicht des Kommunikationsereignisses kennt und weil

228 es ihr unter den gegebenen Umständen wesentlich darum geht, ihre eigene Perspektive vor der Moderatorin und den Radiohörem zu begründen bzw. zu rechtfertigen. Aus dem wenigen, was die Zuhörer aus ihrer Deutung des Kommunikationsereignisses über die Reaktion der anderen Teilnehmerin erfahren, läßt sich aber schließen, daß es sich weniger um einen Konflikt gehandelt hat, der durch die Verwendung von bestimmten Wörtern ausgelöst wurde, sondern eher durch die Tatsache, daß die Erzählerin - von ihr unbemerkt, wie sie richtig analysiert hat - durch die zitierte Äußerung eine bestimmte Beziehungs- und Situationsdefinition etabliert hat, die einen komplementären Interpretationsrahmen bei ihrer Gesprächspartnerin ausgelöst hat. Die wahrnehmbaren Unterschiede der Alltagssprache, anhand derer die Reflektierenden versuchen, sich ihre Kommunikationserfahrungen zu erklären, sind bei distanzierter Betrachtung nicht für das vage Gefühl, von Mitgliedern der anderen Gruppe falsch verstanden zu werden, verantwortlich zu machen. Trotzdem sind die Teilnehmer zum Teil fest davon überzeugt, daß es die Unterschiede im Sprachgebrauch sind, die für eine oft schmerzlich erfahrene Kommunikationsblockade verantwortlich sein müssen. Abgesehen von dem grundsätzlichen Problem, daß es noch kaum gesicherte Angaben darüber gibt, worin die Unterschiede im handlungsleitenden Wissen der beiden Teilnehmergruppen tatsächlich bestehen und wie sie sich praktisch in der interkulturellen Kommunikation auswirken, droht die alltagsweltlich etablierte Konzeptualisierung einschlägiger Differenzerfahrungen sich zusehends auf die Wahrnehmung der jeweils anderen Kommunikationskultur und ihrer Mitglieder zu übertragen. Im nächsten Beispiel gehen die Teilnehmer der Frage nach, worin mögliche sprachliche Ursachen für die deutsch-deutschen Verständigungsprobleme liegen könnten. Die Thematisierung des Auslösers wurde durch einen sprachwissenschaftlichen Vortrag mit dem Thema „Fremdheit und Vertrautheit. Sprachliche Verhaltensweisen in Deutschland vor und nach der Wende"106 provoziert. Interessanterweise stimmt die Mehrheit der Diskutierenden nicht mit der - wissenschaftlich gut begründbaren - These der Referentin überein, daß die Ursache des Problems nicht im unterschiedlichen Wortgebrauch liegt.107 In Abgrenzung von dieser Position versuchen die Teilnehmer, der deutsch-deutschen Differenzerfahrung auch konkret habhaft zu werden, indem sie Beispiele für objektivierbare sprachliche Unterschiede zwischen der ostdeutschen und der westdeutschen Kommunikationskultur diskutieren.

106 107

Baudusch (1995). Baudusch (1995, 313): „Denn tatsächliche Schwierigkeiten im Ost-West-Dialog bereiten nicht die oft beklagten Mißverständnisse, die durch unterschiedlichen Wortgebrauch entstehen, sondern Erlebnisse mißglückter Kommunikation, einer Sprachlosigkeit auf beiden Seiten, hervorgerufen durch unterschiedliche Erfahrungswelten und Interessengebiete, Vorurteile und mangelndes Einfühlungsvermögen."

229 Beispiel „kollegin aus marzAhn"* 1 Fl

ja ich denke auch in der Alltagssprache macht sich da noch gAnz dEUtlich η

2 Fl 3 Fl

unterschied . bemerkbar,=ich arbeite im momEnt' mit einer kollegin aus marzAhn zusammen' wir arbeiten beide . im: . Vorschulbereich' und ihr' sprachverhalten

4 Fl

gegenüber den klndern' und gegenüber den eitern, ist ein Anderes' als Ich

5 Fl F2

es gewöhnt bin,

6 Fl

spaß sich da gegenseitig Auszutauschen, aber es . is immer wieder überraschend,

7 Fl

und auch was SIE sagten, intervIEWs vor allem, zum beispiel polizlsten im

8 Fl 9 Fl

d r' äh . leute warn oder ob das wEstberliner polizisten sind

die ganzen jähre, es ist' aha'

intressant es macht also auch viel hm

fernsehen, äh sind auch gAnz deutlich erkennbar' ob das ich sag mal ehemalige d es ist ein andrer hm

Ml 10 F l Ml

Sprachgebrauch, wirklich' in der alltagssprache, das bei meiner tochter im bürO

11 F l

arbeiten mehrere damen aus den . Ostbezirken' die ham gar nicht solche lAxe

12 F l

spräche wie se unter jungen leuten hier is . die haben zum beispiel ne kasse

13 F l

angelegt' weil die . wEstberliner leute viel zu o f t . scheiße sagen als die .

14 F l xyz

Ostberliner, die finden das ganz äh na unschön und überraschend ist des ko/

15 F l xyz

also kein hochgestochenes büro+ des is ein ganz einfaches stEUerberaterbüro,

16 F l xyz

aber des . das der Umgang äh in wEstberlin mit der spräche ist sehr viel laxer Gemurmel>

17 F l F2 xyz

gewesen unter jungen leuten und sehr v i e l . . j o a flAcher auch,

ja