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German Pages 220 Year 2002
de Gruyter Studienbuch Peter Ernst Pragmalinguistik
Peter Ernst
Pragmalinguistik Grundlagen · Anwendungen · Probleme
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002
Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Ernst, Peter: Pragmalinguistik : Grundlagen, Anwendungen, Probleme / Peter Ernst. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (De-Gruyter-Studienbuch) ISBN 3-11-017013-2
© Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Hansbernd Lindemann, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: W. Hildebrand, 13357 Berlin
Meinem Sohn Albert
Vorwort Nicht nur die Seele ist ein weites Land, sondern auch die Pragmatik. Wesensbestimmung, Aufgabengebiet und Gegenstandsbereich dieser Forschungsrichtung sind alles andere als klar umrissen. Zudem sind die Grenzen zwischen der allgemeineren „Pragmatik" (als der Lehre vom menschlichen Handeln) und der spezielleren „Pragmalinguistik" (der Lehre vom Handeln mit Sprache) nicht genau zu bestimmen. So gesehen ist es ein Ding der Unmöglichkeit, eine Einführung in dieses Fachgebiet geben zu wollen, die allen Anforderungen gerecht wird und die in alle Problembereiche und Diskussionen in gleichem Maß einführt. Man kann zu nahezu jeder Meinung eine Gegenmeinung finden, und jeder Bereich der Pragmalinguistik kann kontrovers diskutiert werden. Das vorliegende Buch versteht sich daher als eine problemorientierte Vorstellung des pragmatischen Ansatzes in der Linguistik mit Vorführung einer subjektiv ausgewählten Anzahl von Fallbeispielen und Einzelgebieten und keineswegs als umfassende Einführung in alle Probleme oder Detailergebnisse. Zudem scheint die Pragmatik oder Pragmalinguistik - nach einem ersten Höhepunkt von der Mitte der 70er- bis zum Beginn der 80er-Jahre - in den letzten Jahren wieder stärker in Mode gekommen zu sein, da nicht nur eine Fülle von Einzeluntersuchungen, sondern auch moderne umfassende Darstellungen und Einführungen vorgelegt wurden (so HEUSINGER 1995, LEVINSON 2000, HOLLY 2001, MEIBAUER 2001). Es kann keinen Sinn machen, ein weiteres Buch in dieser Richtung vorzulegen. Sinnvoller erscheint es vielmehr, mit dieser Darstellung jene Sachgebiete aufzugreifen, die in aktuelleren Werken aus Raum- und Zeitgründen nicht so ausführlich behandelt werden konnten. Insbesondere da sich die anderen Einführungen eher auf pragmatische Aspekte der synchronen Sprachbeschreibung konzentrieren, die vorliegende Darstellung in ihrer Gesamtkonzeption aber genetisch-historisch ausgerichtet ist, erscheint eine solche Vorgangsweise berechtigt. Natürlich dürfen aber die Grundlagen des pragmalinguistischen Ansatzes auch in diesem Buch nicht fehlen.
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Vorwort
Die Literatur zum Thema ist mittlerweile auch für Experten nahezu unübersehbar geworden. Es wurde daher versucht, in diesem Band in erster Linie das deutschsprachige Schrifttum zu berücksichtigen, obwohl man in Einzelfragen nicht ohne englische Originalliteratur auskommt. Die Literaturangaben verstehen sich allerdings als Auflistung der benützten oder maßgeblichen Literatur und keineswegs als umfassende Bibliographie. Ferner steht die Anwendung der Methoden und Prinzipien auf die deutsche Sprache im Vordergrund, und dies kann sich nicht in der Übersetzung englischer Beispiele ins Deutsche erschöpfen. Aber auch hier gilt, dass man auf gewisse, berühmt gewordene Zitate aus dem Englischen nicht verzichten kann. Besser bestellt ist es um die Situation auf dem Gebiet der Textlinguistik und der Gesprächsanalyse, die seit dem Beginn der 70er-Jahre auf eine reichhaltige Tradition im deutschen Sprachraum zurückblicken kann. Es ist mir eine angenehme Pflicht, all jenen zu danken, die mir bei der Arbeit an diesem Buch geholfen haben, vor allem meinen Kollegen Prof. Dr. Heinz-Helmut Lüger (Universität Koblenz-Landau), Dr. Arne Ziegler (Universität Münster), Dr. Harald Baßler (Freiburg i. Br.) und Dr. Paul Rössler (Universität Wien) für zahlreiche Hilfestellungen und wertvolle Hinweise. Dr. Heiko Hartmann, Dr. Stephan Koban und Grit Müller vom Verlag Walter de Gruyter danke ich für die äußerst angenehme Zusammenarbeit. Selbstverständlich fallen alle Fehler und Unvollständigkeiten in meine Verantwortung. Ganz besonders danke ich meiner Frau Gertrude und meinem Sohn Albert für ihre Geduld und Unterstützung, ihnen sei dieses Buch auch gewidmet.
Wien, im Juni 2002
Peter Ernst
Inhalt l Allgemeines 1.1 Zur Einführung 1.2 Terminologie und Gegenstandsbereich 1.3 Definitionen 1.4 Pragmatik als linguistische Disziplin
l l 4 9 15
2 Die Sprache in unserer Welt 2.1 Weltwissen, Sprachwissen, Sprachverhalten 2.2 Theoretische Grundlagen des sprachlichen Handelns 2.3 Präsupposition und Inferenz 2.3.1 Voraussetzungen 2.3.2 Pragmatische und semantische Präsuppositionen 2.3.3 Eigenschaften von Präsuppositionen 2.4 Deixis 2.4.1 Personaldeixis 2.4.2 Lokaldeixis 2.4.3 Temporaldeixis 2.4.4 Sozialdeixis 2.4.5 Situationsdeixis 2.4.6 Diskursdeixis
19 19 25 30 30 33 36 43 47 50 53 55 58 59
3 Pragmalinguistik als allgemeine Zeichentheorie 3.1 „Traditionelle" Sprachwissenschaft 3.2 Amerikanischer Pragmatismus 3.3 Der Wiener Kreis und LUDWIG WITTGENSTEIN 3.4 Pragmatische Zeichentheorie am Beispiel des Eigennamens
63 64 73 79 82
Inhalt
4 Pragmalinguistik als Sprechhandlungstheorie
89
4.1 Die Anfänge bei LUDWIG WITTGENSTEIN
89
4.2 JOHN L. AUSTIN und JOHN R. SEARLE
91
4.3 Grenzziehung zwischen Pragmatik und Semantik 4.3.1 „Wahr" und „falsch" 4.3.2 Indirekte Sprechakte 4.4 Sprechakt und Dialog
103 103 107 112
5 Pragmalinguistik als Linguistik des Gesprächs 5.1 Die GRlCE'schen Konversationsmaximen 5.2 Gespräch und Gesprächsforschung 5.3 Sprecherwechsel und Redebeitrag 5.4 Korrektur und Reparatur
117 121 128 144 149
6 Pragmalinguistik als Linguistik des Textes 6.1 Von der Textstruktur zur Textfunktion 6.2 Pragmatische Konzepte der Textlinguistik 6.3 Pragmalinguistik und Stilistik 6.4 Pragmalinguistik und Sprachgeschichte
155 156 164 169 173
7 Internetadressen im deutschsprachigen Raum
183
8 Literatur
187
9 Register
203
l Allgemeines l. l Zur Einführung „Der Gegenstandsbereich der linguistischen Pragmatik ist bislang keineswegs klar definiert."1 Diese von BRIGITTE SCHLIEBEN-LANGE im Jahr 1979 getroffene Feststellung hat bis heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt. Womit sich die Pragmalinguistik beschäftigt, kann vielleicht mit einem einfachen Beispiel veranschaulicht werden: Mutter: Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du dein Zimmer aufräumen sollst? Kind: Noch vier Mal, bitte. Die Semantik ist nur hilfreich bei Klärung der Frage, was man im Deutschen unter Zimmer und aufräumen und anderen Wortbegriffen versteht, und das kann in jedem Wörterbuch nachgeschlagen werden. Weitere Informationen kann sie uns nicht geben. So gesehen müsste der Dialog folgenden Sinn ergeben: Die Mutter fragt ihr Kind, wie oft sie es zum Aufräumen seines Zimmers ermahnen soll, und sie erhält auch eine Antwort, nämlich vier Mal. Personen, die des Deutschen nicht oder nur unzureichend mächtig sind, mag dieser Dialog daher durchaus als sinnhaft erscheinen - insbesondere das bitte am Ende der Antwort kann diesen Eindruck erwecken und das Kind zudem als besonders wohlerzogen erscheinen lassen. Trotzdem weiß jeder, der das Deutsche in ausreichendem Maß beherrscht, dass diese Interpretation als sinnlos oder widersinnig einzustufen ist: Die Mutter möchte natürlich keine Information der beschriebenen Art, sondern fordert ihr Kind zum Aufräumen seines Zimmers auf. Zur Verstärkung dieser Ermahnung, die sie - wie wir dem Dialog entnehmen können — schon öfter ausgesprochen hat, formuliert sie sie als Frage, die natürlich nicht als wirkliche Frage aufzufassen ist - in dem Sinn, dass die Mutter eine Antwort darauf erwartet -, sondern als Aufforderung: Tatsächlich liegt hier ein indirekter Sprechakt vor. Das Kind aber reagiert so, als ob die Mutter eine „echte" Frage gestellt hätte, und beantwortet sie. Das abschließende bitte ist daher nicht als Ausdruck der Höflichkeit, sondern als ironisches Stilmittel - oder auch als „freche Antwort" SCHLEHEN-LANGE 1979, S. 11.
2
l Allgemeines
aufzufassen. Dies berechtigt uns dazu, die Antwort als Zurückweisung der Aufforderung zu interpretieren. Äußerungen dieser Art, längere oder kürzere, kommen in unserer Alltagssprache zuhauf vor. Wir können ihre wahre Bedeutung erkennen, weil wir sie interpretieren können. Der Sinn des Dialogs ist für uns deshalb erfassbar, weil der kurze Text auf unsere Erfahrungen mit der realen Welt, auf unser Weltwissen referiert. Oder anders ausgedrückt: Wir fügen aus unserer Alltagserfahrung bestimmtes Hintergrundwissen in Form von Ergänzungen ein, die uns helfen, den Text zu interpretieren: Wir wissen (vermutlich auf Grund unserer eigenen Kindheit), dass eine Mutter von ihrem Kind üblicherweise nicht wissen will, wie oft sie es zu einer bestimmten Handlung auffordern soll. Zudem wissen wir, dass Feststellungen, Aufforderungen oder Fragen nicht an bestimmte sprachliche Formulierungen gebunden sind. So könnte die Aufforderung der Mutter - außer der bereits angeführten — in folgende sprachliche Ausdrücke gefasst sein: • Räum' endlich dein Zimmer auf. • Kannst du bitte dein Zimmer aufräumen? • Wenn du nicht bis Mittag dein Zimmer aufgeräumt hast, darfst du am Abend nicht ins Kino gehen. • Dein Zimmer gehört aufgeräumt. etc.2 Wenn wir auf unser Weltwissen zurückgreifen, können wir das Gespräch etwa folgendermaßen „übersetzen": Mutter: Räum' endlich dein Zimmer auf! Kind: Nein, ich will nicht. Anhand dieses Beispiels können wir schon vier wichtige Beobachtungen über die Verwendung von Sprache im Allgemeinen machen: 1. Alltagssprachliche Äußerungen vermitteln nicht immer den Inhalt, den die grammatische Form nahe legt, oder umgekehrt, die Grammatik orientiert sich nicht immer an jener Sprachform, die wir als 2
Die sprachlichen Möglichkeiten zum Ausdruck verschiedener Sprechakte variieren in den verschiedenen Einzelsprachen. Einen typologischen Vergleich etwa zwischen dem Deutschen und dem Ungarischen bietet SZOBOSZLAI 2001.
1. l Zur Einführung
3
Alltagssprache bezeichnen. Dabei müssten wir noch klären, was man unter „Alltagssprache" zu verstehen hat.3 2. Äußerungen enthalten oder transportieren auch Informationen, die über die enthaltenen Sprachformen hinausgehen. Anders ausgedrückt: Der Sinn einer Äußerung besteht nicht nur in der Summierung ihrer Wortbedeutungen. 3. Wir fügen der Bedeutung von Sprachformen durch kognitive Prozesse Ergänzungen oder Erweiterungen hinzu, die auf unserer Erfahrung beruhen. Einen solchen Vorgang nennt man Inferenz oder Inferieren. Inferieren bedeutet, dass man etwas aus dem eigenen Wissen oder der eigenen Erfahrung ergänzt, was in einem sprachlichen Ausdruck nicht direkt (durch die Wortsemantik) enthalten ist. 4. Wir inferieren auf Grund von Sinnvoraussetzungen, die wir im Laufe unseres Lebens erworben haben und die wir als selbstverständlich annehmen. Diese Sinnvoraussetzungen nennt man Präsuppositionen. 4 Daran kann bereits gesehen werden, dass sich die Pragmalinguistik mit Dingen und Vorgängen beschäftigt, die über das hinausgehen, was man mit den Methoden der Systemlinguistik über Sprache herausfinden kann. Sie hat viel mit dem zu tun, was man salopp mit „zwischen den Zeilen enthalten" bezeichnet. Aber auch diese Vorgänge folgen festen Regeln, die man auf wissenschaftliche Weise eruieren und beschreiben kann. So gesehen kann man durchaus behaupten, dass die Beherrschung der Grammatik einer Sprache noch nicht zur Kommunikation in dieser Sprache befähigt, solange man nicht über die Pragmatik Bescheid weiß. Würde ein Außerirdischer, der das Deutsche nach einer Schulgrammatik perfekt in Wort und Schrift gelernt hat und dementsprechend beherrscht, unserem kleinen Dialog beiwohnen, so könnte er doch nicht den Sinn erfassen, wenn ihm die Erfahrung fehlt, wie er die Äußerungen interpretieren soll. Man hat dementsprechend auch zwischen einer grammatischen Kompetenz und einer pragmatischen Kompetenz unterschieden: Die grammatische Kompetenz erlaubt dem Sprachteilneh3 4
Vgl. dazu etwa RAMGE 1977. Vgl. BUSSMANN 1990, S. 600 f.
4
l Allgemeines
mer, eine sprachliche Äußerung hinsichtlich ihrer Grammatik zu beurteilen. Dies betrifft etwa die Wohlgeformtheit von sprachlichen Äußerungen, ihre Übereinstimmung mit der Grammatik oder ihre Abweichung davon oder die Bedeutung sprachlicher Formen, wie man sie in Wörterbüchern u. dgl. kodifiziert findet. Die pragmatische Kompetenz hingegen erlaubt uns, eine sprachliche Äußerung hinsichtlich ihrer kommunikativen Funktion zu beurteilen: Ist sie ihrem situativen Kontext angemessen (so wie die Antwort des Kindes als „frech" eingeschätzt werden kann), ist sie erfolgreich, führt eine sprachliche Handlung wie eine Bitte zum Ziel, erhalten wir also das Erbetene auch wirklich etc.?
l .2 Terminologie und Gegenstandsbereich Aus dem einführenden Beispiel sollte deutlich werden, dass sich die Pragmatik oder Pragmalinguistik mit dem menschlichen Handeln beschäftigt. Es enthält zwei kleine Handlungen: Die Mutter fordert das Kind zum Aufräumen des Zimmers auf, und das Kind gibt zu verstehen, dass es der Aufforderung nicht Folge leisten will. Griech. pragma bedeutet, Sache , ,Ding , aber auch ,Tun ,,Handeln .5 Unter dem Begriff Pragmatik wird heute weniger eine Wissenschaftsrichtung verstanden als eher ein Sammelbecken für jede Art der Sprachbetrachtung, die sich mit der Einbeziehung der sprechenden Subjekte und der Beschreibung von Sprache in ihrer konkreten Verwendung beschäftigt.6 Die Vorstellung, die hinter der Pragmatik steht, ist jene, dass der Sprechende mit Sprache handelt oder dass Sprache eine besondere Rolle im menschlichen Handeln spielt. Pragmatik oder auch Pragmalinguistik lässt „sich grob dadurch charakterisieren [...], dass Sprechen als eine besondere Form menschlichen Handels aufgefasst wird und dass Sprechhandlungen demzufolge immer in ihren Einbettungen in nichtsprachliche Handlungen gesehen werden".7 Die Linguistik, die Wissenschaft von der Sprache, ist kein homogenes, in sich geschlossenes Fachgebiet. Auf die Frage, was die Linguistik im Einzelnen oder in ihrer Gesamtheit untersucht, gibt es keine 5
" 7
Vgl. dazu LINKE/NUSSBAUMER/PORTMANN 1996, S. 170. So GARDT 1999, S. 339. Pragmatik 1975, S. 327.
l .2 Terminologie und Gegenstandsbereich
5
einheitliche Antwort, außer jener sehr allgemeinen und daher kaum brauchbaren, dass der Untersuchungsgegenstand der Linguistik die (menschliche) Sprache im Allgemeinen und die natürlichen Einzelsprachen im Besonderen sind. Noch viel weniger wird die Nennung einer bestimmten Methodik allgemeine Zustimmung finden. Am einfachsten wäre es wohl zu sagen, Linguistik ist das, womit sich Linguisten beschäftigen. Eine reine Aufzählung ist jedoch auch nicht zielführend. Wenn man sich daher an eine Systematik der Linguistik wagen will, muss man davon ausgehen, dass sich im Lauf der Wissenschaftsgeschichte linguistische Kernbereiche und Methoden gebildet haben, die gemeinsame Merkmale aufweisen und/oder in weiteren Kreisen akzeptiert sind. Folgendes Modell ist in weiten Linguistenkreisen anerkannt ist:8 l Semiotik 2 Systemlinguistik (Grammatik)
3 Angewandte Linguistik (Pragmatik)
4 Zusätzliche linguistische Betrachtungsweisen 1. Semiotische Betrachtungsweisen können bis zu den Anfängen der abendländischen Wissenschaft zurückverfolgt werden. Bereits bei ARISTOTELES findet man auch ihren Namen, der von griech. semeion ,Zeichen' herrührt. Damit ist die Semiotik die Lehre von den Zeichen sowohl sprachlicher als auch nichtsprachlicher Natur. Da Sprache auf Zeichengebung und -Verwendung beruht, betrifft ein großer Teil semiotischer Fragestellungen auch die Linguistik. Jener Teilbereich der Semiotik, der sich mit menschlichen (natürlichen) Sprachen beschäftigt, wird oft auch als Allgemeine Sprachtheorie verstanden. Die Semiotik geht der Frage nach, was ein Zeichen zu einem Zeichen macht. Sie unterscheidet verschiedene Zeichenarten und -systeme und bezieht sosohl den Zeichengebrauch als auch den Zeichenverwender in ihre Überlegungen mit ein. Die Verwendung von Zeichen, ihre Natur und ihr Verhältnis zu dem, was sie bezeichnen, ist
Zum Folgenden vgl. LINKE/NUSSBAUER/PORTMANN 1996, S. 6 ff.
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l Allgemeines
eine Grundeigenschaft der menschlichen Sprache und hat daher von Anfang die Philosophie beschäftigt. Aus dieser Eigenschaft der sprachlichen Zeichen ergeben sich Überschneidungen zwischen Semiotik, Philosophie, Erkenntnistheorie, Logik, Mathematik und Linguistik. Von dem amerikanischen Philosophen CHARLES SANDERS PEIRCE wird die Semiotik als eigene Wissenschaftsdisziplin begründet, er schafft - in einer z. T. schwer verständlichen Sprache - eine bis heute aktuelle Zeichenlehre. Der Schweizer Sprachwissenschaftler FERDINAND DE SAUSSURE begründet die Zeichenlehre im Rahmen der Linguistik, ihn interessieren demgemäß nur sprachliche Zeichen. Der Amerikaner CHARLES WILLIAM MORRIS schließlich legt mit seiner berühmten Trias Semantik, Syntax und Pragmatik die Grundlagen für die moderne Pragmatik. 2. Sind die Grenzen zwischen Semiotik und Linguistik nicht genau zu bestimmen, so drängt sich die Frage auf, wie denn nun das Nachdenken über (sprachliche) Zeichen für die Beschreibung von Sprache und Sprachen am besten genutzt werden könne. Am Beginn der modernen Linguistik steht ein berühmtes Buch: Der „Cours de linguistique genorale" („Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft") des großen Sprachwissenschaftlers FERDINAND DE SAUSSURE. Dieses Werk wurde für die Linguistik dermaßen bedeutend, dass man sie in eine Zeit „vor Saussure" und „nach Saussure" eingeteilt hat. Neben vielen anderen sind vor allem zwei Gedanken für die weitere Geschichte der Linguistik von ungeheurer Bedeutung geworden: 1. dass die Sprache in ihrem synchronen, gegenwärtigen Zustand zu beschreiben ist, und 2. dass Sprache in diesem Zustand ein System darstellt, d. h. eine Struktur bildet.9 Obwohl heute höchst unterschiedliche oder sogar widersprüchliche Meinungen darüber bestehen, was unter System oder Struktur in Bezug auf Sprache zu verstehen ist, kann man die Grundgedanken vielleicht folgendermaßen zusammenfassen: Dass Sprache ein System ist, in dem die Teile zueinander in Beziehung stehen und eine Struktur aufbauen, stellt genau genommen eine Abstraktion dar. Dahinter steht Zu Geschichte und Bedeutung des „Cours" vgl. ERNST in SAUSSURE 2001.
l .2 Terminologie und Gegenstandsbereich
7
der Wunschgedanke der Linguisten, dass jede natürliche Sprache eine gewisse Regelhaftigkeit aufweist, die sich als System äußert. Alle Versuche, eine natürliche Sprache auf regelmäßige Strukturen zu reduzieren, hinterlässt allerdings stets einen Rest sprachlicher Mittel, der sich einer solchen Einordnung widersetzt. Um die Suche nach der Struktur zu erleichtern, bedienten sich die strukturalistischen Linguisten somit eines Tricks: Sie setzten eine homogene Sprachform voraus, d. h. sie ignorierten - bewusst oder unbewusst - die Tatsache, dass es in ein und derselben Sprachgemeinschaft verschiedene Varietäten von Sprache gibt. Auf das Deutsche bezogen, kann man verschiedene diatopische Varietäten (in Form von in ihrer regionalen Gültigkeit eingeschränkten Dialekten) oder diastratische Varietäten (schichtspezifische Sprachformen, die an demselben Ort in unterschiedlichen Situationen, etwa im öffentlichen oder privaten Bereich, verwendet werden) unterscheiden. Und noch eine dritte Abstraktion kam zum Tragen: Als oberste Untersuchungseinheit kam bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts - und zum Teil sogar noch darüber hinaus - nur der Satz in Frage. Dies war die Folge der Überzeugung, dass eine Sprache als (endliche oder unendliche) Menge von Sätzen aufgefasst und beschrieben werden kann. Nun sind aber natürliche Sprachen ihrem Wesen nach weder „in ihrer Form beständig noch homogen"10. Die sprachlichen Produkte, die beim Sprechen entstehen, sind selten in der Form von Sätzen zu beschreiben. Oft sind sie unvollständig, werden unter- oder abgebrochen, enthalten Wiederholungen oder Regelverstöße gegen eine (fiktive) Normgrammatik. Trotzdem weisen die sprachlichen Produkte einer Sprachgemeinschaft genügend konstante und homogene Elemente auf, um das Postulat eines zu Grunde liegenden abstrakten Sprachsystems aufrechtzuerhalten. Allerdings sind die Fragen, wie dieses System aussieht, ob es primär mündlich oder schriftlich definiert ist, und aus welchen Subsystemen es besteht, in der Linguistik höchst umstritten. Heftig diskutiert wird auch, was mit jenen sprachlichen Elementen geschehen soll, die nicht in das System passen.
10
LYONS 1992, S. 61.
g
l Allgemeines
3. Die Systemlinguistik war seit dem „Cours" bis ans Ende der 60erJahre die beherrschende Anschauung über Sprache. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des Jahres 1968 führten an den Universitäten u. a. dazu, dass von den Wissenschaften gesellschaftliche Relevanz eingefordert wurde. Die Anhäufung von Wissen um seiner selbst willen oder das Studium von Fachbereichen, deren Nutzen für die Gesellschaft nicht offen zu Tage lagen (und dazu gehörte eben auch die Linguistik mit theoretischen Teilbereichen wie Phonemsystemen, rekonstruierten Ursprachen u. dgl.), waren verpönt; in der Sprachwissenschaft wurde der Begriff Systemlinguistik zunehmend pejorativ verwendet. Man forderte für die Wissenschaften allgemein die Hinwendung zu Themen, die für die Gesellschaft Relevanz besitzen. Der Sinn der Wissenschaft sollte nicht mehr darin bestehen, dass der einsame Gelehrte in seinem Arbeitsraum an obskuren Themen arbeitet, für die sich niemand außer ihm selbst und einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter interessiert, sondern die Ergebnisse der Forschung sollten helfen, ihre Beziehungen zur Gesellschaft und die Funktionsweisen in der gesellschaftlichen Ordnung besser zu verstehen. In der Linguistik bewirkte diese „pragmatische Wende" die Etablierung neuer oder den Ausbau bereits bestehender Fachrichtungen, v a. der Soziolinguistik, der Textlinguistik, der Sprechakttheorie und der Pragmalinguistik im engeren Sinn. Der alles übergreifende Begriff war die Kommunikation; die Kommunikationsforschung, insbesondere im Zusammenspiel der verschiedenen Disziplinen, erlebte einen ungeheuren Aufschwung. Jene Gruppe, die gerne als Angewandte Linguistik oder auch Pragmatik im weitesten Sinn bezeichnet wird, strebte eine Verbindung zwischen Sprache und außersprachlicher Wirklichkeit an, oder anders ausgedrückt, sie fragte nach den Funktionen und Anwendungen von Sprache in realen Situationen. Die Angewandte Linguistik untersucht Sprache in Hinblick darauf, wie und in welchen Situationen sie als Kommunikationsmittel eingesetzt wird und welche kommunikativen Ziele damit erreicht werden sollen. Dabei dürfen sprachliche Äußerungen nicht nur als reale Manifestationen des Sprachsystems gesehen werden, denn wir wollen mit Sprache überreden, überzeugen, täuschen, unterhalten, also etwas bei den Kommunikationspartnern bewirken. Mit anderen Worten: Die Angewandte Linguistik untersucht Sprache in ihrer tatsächlichen
l .2 Terminologie und Gegenstandsbereich
9
Verwendung, ihrem Gebrauch, die Systemlinguistik untersucht Sprachen in ihrer abstrakten, theoretischen Form. Eine der großen Schwierigkeiten in jenem Bereich, den wir hier als Angewandte Linguistik bezeichnet haben, besteht darin, dass ihre Wissenschaftsdisziplinen relativ jung sind, nicht älter als 30 Jahre. Dadurch haben sich (noch) keine festen Abgrenzungen zwischen den einzelnen Disziplinen etablieren können. Die aktuelle Forderung nach Interdisziplinarität lässt eine solche für die nahe Zukunft auch gar nicht erwarten. 4. Zu der dritten Sparte in unserem Schema, „Zusätzliche linguistische Betrachtungsweisen", zählen Fachrichtungen, die ihre Wurzeln noch vor dem Strukturalismus haben und die traditionellerweise nicht einem der beiden Bereiche von Systemlinguistik und Angewandter Linguistik zugeordnet werden können wie die Sprachgeschichte, die Dialektologie, die Namenkunde u. a. m. Wenn sie nicht auf gleicher Stufe wie die beiden anderen Gruppen stehen, dann deshalb, weil sie Einflüsse von beiden Richtungen zeigen, auch wenn die kommunikationslinguistischen Ansätze natürlich noch jüngeren Datums sind. So stellt man in den letzten Jahrzehnten in der Dialektologie vermehrt soziolinguistische Fragen, und die Sprachgeschichte setzt sich immer mehr mit historischer Sprachpragmatik auseinander.
1.3 Definitionen Wir können versuchen, den Gegenstandsbereich der Pragmalinguistik herauszufinden, indem wir zunächst eine möglichst allgemeine Definition geben, diese auf ihre Tauglichkeit untersuchen und dann, wenn sie akzeptabel erscheint, näher einengen. Oft kann man folgende, ganz allgemeine Auffassung finden:
Pragmalinguistik ist die „Lehre vom Gebrauch sprachlicher Zeichen".
10
l Allgemeines
Diese sehr allgemeine Definition enthält zwei sehr wichtige Anknüpfungspunkte: Vor allem das Wort Gebrauch lässt uns aufhorchen, ist doch in der Systemlinguistik nirgendwo von „Gebrauch der Sprache" die Rede. Und der Gebrauch „sprachlicher Zeichen" lässt darauf schließen, dass es auch noch andere Arten des Gebrauchs geben muss. Wie schon oben angedeutet, wird Pragmatik oft als der weitere, allgemeinere Begriff verstanden, der sich auf das menschliche Handeln im Allgemeinen bezieht, und Pragmalinguistik als der engere, auf das menschliche Handeln mit Sprache eingeengte Unterbegriff. Dies müssen wir näher betrachten. Wenn wir von dem der Bezeichnung zu Grunde liegenden Etymon griech. pragma = ,Tun, Handeln ausgehen, dann können wir sagen:
Definition 1: Pragmatik ist die Lehre vom Handeln.
Vom gesamten Spektrum menschlichen Handelns interessieren uns als Linguisten aber nur jene Vorgänge, die mit Sprache zu tun haben. Wenn wir alle Tätigkeiten des Menschen als Handeln auffassen, also auch Essen, Schlafen, Spazierengehen etc., dann sind auch jene Tätigkeiten, die mit Sprache verbunden sind, also Sprechen, Schreiben, Lesen etc., Teil des menschlichen Handelns. Wie wäre es also, wenn wir sagen:
Definition 2: Pragmatik ist die Lehre vom menschlichen Handeln.
Dieser Satz scheint zunächst in sich widerspruchsfrei zu sein. Allerdings ist er wirklich sehr weit gefasst. Das erkennt man, wenn man sich zwei Fragen stellt:
l .3 Definitionen
\\
1. Sind Pragmatik und Pragmalinguistik gleichzusetzen? 2. Was ist mit Handeln gemeint? ad 1. Wenn wir exakt vorgehen wollen, dürfen wir Pragmatik und Pragmalinguistik nicht ohne weiteres gleichsetzen. Zumindest muss nach dem Verhältnis der beiden Richtungen zueinander gefragt werden. ad 2. Wir können hier nicht mit philosophischen Mitteln klären, was mit Handeln gemeint sein kann. Zudem sind wir wohl gezwungen, Handeln von Verhalten oder Instinkt abzugrenzen. Handeln Tiere? Um hier eine einfache Trennung durchzuführen und die Pragmatik von der Verhaltensforschung (Ethologie) abzugrenzen, können wir sagen:
Definition 3: Pragmalinguistik ist die Lehre vom menschlichen Handeln mit Sprache. Als solche ist sie Teil der Pragmatik, der Lehre vom menschlichen Handeln.
Als Nächstes müssen wir uns demnach klar darüber sein, was unter „Handeln mit Sprache" zu verstehen ist. Der Gedanke, der dahinter steht und der im Folgenden noch näher auszuführen sein wird, ist der, dass wir mit sprachlichen Äußerungen Handlungen begehen, also jemanden überzeugen, belehren, informieren, unterhalten etc. wollen. Aus diesen Überlegungen wird deutlich: 1. Handeln bedeutet Aktivität. 2. Sprachliches Handeln bedeutet sprachliches Interagieren mit der Umwelt. Ein wesentlicher Aspekt des sprachlichen Handelns wäre nach diesem Verständnis die Interaktion mit der außersprachlichen Umwelt. Zur Verdeutlichung: Nicht pragmalinguistischer Art wäre die Frage, wie das mittelhochdeutsche Phonem /i/ im Neuhochdeutschen repräsentiert wird. Solche und ähnliche Fragestellungen beschäftigen sich mit dem Sprachsystem und haben nichts mit Interaktion oder
12
l Allgemeines
sprachlichem Handeln zu tun. Man könnte jedoch auch solche und ähnliche Fragen mit pragmatischen Absichten stellen, etwa: Welche pragmalinguistischen Einflüsse haben dazu geführt, dass das Phonem mhd. l\l im Neuhochdeutschen durch das Phonem /ei/ repräsentiert wird? Aus dem bisher Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass für die Pragmalinguistik die Sprache nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern nur zusammen mit der Umwelt, d. h. der konkreten Situation, in der eine sprachliche Äußerung getätigt wird. Diese Situation wird auch als Kontext bezeichnet. Der Kontext ist zu unterscheiden vom Kotext, das ist die Summe der sprachlichen Umgebungen einer Äußerung. Man kann sich dies etwa so vorstellen: Sprecher
sprachliche Äußerung
Umwelt
A
Für unser Verständnis von Pragmalinguistik heißt dies aber auch, dass Sprache nur unter Berücksichtigung des Kontexts angemessen zu beschreiben ist. Oder anders:11
Definition 4: Pragmalinguistik ist die Lehre der Beziehungen zwischen Sprache und Kontext.
Diese Definition hat mehrere Vorzüge: 1. Sie betont, dass sprachliche Aktion in Zusammenhang mit nichtsprachlichen Phänomenen steht. 1
'
Dazu und zum Folgenden vgl. LEVINSON 2000, S. 23 ff.
1.3 Definitionen
13
2. Sie anerkennt, dass sich die Pragmalinguistik auch mit Sprachexterna zu beschäftigen hat. 3. Sie stellt fest, dass Sprachexterna in Sprachstrukturen hineinreichen. 4. Sie schließt damit die Aspekte der Erforschung des Sprachgebrauchs ein. Damit ist ein wichtiges Schlagwort gefallen: der Sprachgebrauch. Wir können ihn als eine Form der sprachlichen Interaktion und vorderhand als die konkrete Verwendung von Sprache durch den Sprecher auffassen. Wenn wir aber die Zusammenhänge zwischen Sprache und Sprachexterna weiter verfolgen, stoßen wir unweigerlich auf den Bereich der Semantik, der sich auch mit dem Verhältnis sprachlicher Zeichen und außersprachlicher Umwelt beschäftigt. Es ist daher als Nächstes nach dem Verhältnis zwischen Semantik und Pragmatik zu fragen. Wie wir noch sehen werden, kann die Semantik (vor allem im Sinn von CHARLES WILLIAM MORRIS) als Lehre von der „Beziehung der Zeichen zu ihren Designata"12 und damit zu den Objekten, die sie denotieren können, verstanden werden. An dieser Stelle muss noch kurz ein Verständnis von Pragmatik angeführt werden, das von GERALD GAZDAR stammt und eine gewisse Berühmtheit erlangt hat: Für GAZDAR ist Pragmatik gleich bedeutend mit der Bedeutungslehre, wenn man die Wahrheitsbedingungen von Äußerungen ausklammert:
Definition 4a: Pragmatik = Bedeutung - Wahrheitsbedingungen (GAZDAR)
12
GLÜCK 2000, S. 618.
14
l Allgemeines
„Die Pragmatik befasst sich mit denjenigen Aspekten der Bedeutung von Äußerungen, die sich nicht mit dem direkten Bezug auf die Wahrheitsbedingungen der geäußerten Sätze erklären lassen."13 Dieses Verständnis von Pragmatik erweckt zum einen den Eindruck, dass die Pragmatik ein Teil der Bedeutungslehre, also der Semantik, ist. Zum anderen stellt sich die Frage, ob es zwei Arten von Semantik gibt, eine mit und eine ohne Wahrheitskonditionen. Wir werden auf dieses Problem weiter unten (Kap. 2.3.2 und 4.3.1) noch zurückkommen. Da sich aber die Pragmatik auch mit dem außersprachlichen Kontext befasst, ist hier die Grenzziehung nicht ganz klar. Vielleicht kann man die Pragmatik daher eher so sehen:
Definition 5: Pragmalinguistik ist die Lehre von den Beziehungen zwischen Sprache und Kontext, die grammatikalisiert oder in der Struktur einer Sprache enkodiert sind.
Diese Bestimmung baut das Verhältnis von Semantik und Pragmatik auf der Basis von kodiert/nicht kodiert auf (Kodierung ist in der Sprachwissenschaft die Umsetzung von Gedanken bzw. Intuitionen in das zwischen Sprecher und Hörer gebräuchliche, konventionalisierte Zeichensystem der Sprache). Störend wirkt sich in dieser Definition aber die Betrachtung der Sprachstruktur aus, die ja, wie wir schon gesehen haben, bei der Pragmatik keine sonderliche Rolle spielen sollte. Auch gegen diese Ansicht - die auf dem Gegensatz zwischen Systemlinguistik und Pragmatik aufbaut - können Einwände erhoben werden. Die Meinung, dass pragmatische Theorien die Struktur linguistischer Konstruktionen nicht einschließen, wird nicht von allen geteilt. Um weniger auf die Sprachstruktur hinzuweisen, ersetzen wir 13
GAZDAR 1979, S. 2; dt. Übersetzung zit. nach LEVINSON 2000, S. 13; vgl. auch MEIBAUER2001,S. 5.
l .3 Definitionen
\5
in unserer Definition „Sprache" doch eher mit „sprachlichen Äußerungen". Und um auch die Beziehungen der Sprachstrukturen zu ihrem Kontext genauer erfassen zu können, sagen wir besser:
Definition 6: Pragmalinguistik ist die Lehre von den grammatikalisierten Beziehungen der sprachlichen Äußerungen zu ihrem Kontext, die sich sowohl in den grammatischen Strukturen als auch in der realen Sprachverwendungssituation manifestieren.
Mit dieser Begriffsbestimmung scheinen alle Anforderungen der Pragmalinguistik abgedeckt zu sein: Ihr Anspruch, sprachliche Äußerungen in der realen Äußerungssituation mit all ihren Verflechtungen zu untersuchen, aber auch die Absicht, die grammatischen Formen und ihr Verhältnis zu pragmatischen Zielsetzungen nicht außer Acht zu lassen.
l .4 Pragmatik als linguistische Disziplin Der scheinbar griffige Terminus Pragmalinguistik, parallel gebildet zu Soziolinguistik und Psycholinguistik und anderen Fachbezeichnungen, scheint zu suggerieren, dass wir es mit einem klar umrissenen Forschungsgebiet zu tun haben wie etwa das der Sprachgeschichte, Phonologie und Wortbildung. Leider entspricht das nicht den Tatsachen. Für die Verwendung der Begriffe Pragmalinguistik, L i n g u i s t i sche Pragmatik, Sprachpragmatik oder auch nur Pragmatik kann man im Wesentlichen folgende Positionen finden: 1. Die Begriffe sind synonym und sachlich gleichwertig:14 Die Termini Pragmalinguistik = Pragmatik = Linguistische Pragmatik = Sprachpragmatik bezeichnen die „Lehre vom sprachlichen Handeln". Als linguistischer Fachbereich ist sie von der Soziolinguistik abge14
Etwa bei GLÜCK 2000, s. v. S. 543. Hier werden Pragmatik und Linguistische Pragmatik bereits im Lemma gleichgesetzt.
16
l Allgemeines
trennt und steht mit ihr auf der gleichen Ebene: „Die Soziolinguistik hat es zu tun mit dem Verhältnis verschiedenartiger Gruppen zueinander, die linguistische Pragmatik mit der Formulierung einer Sprachhandlungstheorie."15 Pragmatik
Soziolinguistik
2. Wenn soziologische Aspekte der Grammatik im Vordergrund stehen, können grammatische Strukturen der Soziolinguistik untergeordnet werden. Manchmal hingegen werden Aspekte pragmatischer Linguistik in die Soziolinguistik eingeordnet.16 Das gilt v a. für die Sprechakttheorie und die Konversationsanalyse. 3. An anderer Stelle wiederum findet man den Begriff Pragmalinguistik als Synonym für Pragmatik im Sinne einer allgemeinen Zeichenund Handlungstheorie: Pragmalinguistik ist eine „Kommunikationsorientierte Teildisziplin einer sog. Sozialpragmatik, die die Sprachzeichen und deren Kombination im Sprachkommunikationsprozess beschreibt und durch eine Aktionskomponente zu ergänzen versucht. P. wird in diesem Zusammenhang der Psycho- und Soziolinguistik zugeordnet, während linguistische Pragmatik den Bereichen Syntax und Semantik zugewiesen wird." 17
Psycho- und Soziolinguistik Pragmatik
Syntax-Semantik Pragmalinguistik
Wir wollen in der Folge den Terminus Pragmatik für eine übergreifende, allgemeine Handlungstheorie verwenden. Der Begriff Pragmalinguistik scheint uns dann gerechtfertigt, wenn linguistische Aspekte im Vordergrund stehen. Es wurde bereits erwähnt, dass Soziolinguis15 16 17
SCHLIEBEN-LANGE 1991, S. 86. So bei GLÜCK 2000, S. 645 f. BUSSMANN 1990, S. 605 f.
l .4 Pragmatik als linguistische Disziplin
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tik und Pragmalinguistik enge Anknüpfungspunkte aufweisen, da sich beide Disziplinen mit der Verwendung von Sprache durch Individuen in einer Gesellschaft oder sozialen Ordnung beschäftigen und offenbar näher zusammengehören. Aus diesem Grund erscheint der Begriff Soziopragmatik äußerst sinnvoll, und es ist zu hoffen, dass er sich in der Forschung durchsetzt. In der vorliegenden Darstellung wird aber die soziolinguistische Komponente weniger berücksichtigt, sodass wir bei Pragmalinguistik bleiben. Wenn man sich fragt, welche Aufgaben die Pragmalinguistik im Kreis der linguistischen Disziplinen übernimmt und wie sie sich von anderen linguistischen Teilbereichen unterscheidet und abgrenzt, so sind zunächst zwei grundlegend verschiedene Betrachtungsweisen möglich: 1. Zum einen kann man, wie bereits erwähnt, die einzelnen linguistischen Disziplinen als in Methodik und Aufgabenbereich mehr oder minder scharf voneinander abgegrenzte Teilbereiche der Linguistik auffassen, gleichsam als Module oder Bausteine, aus denen sich die gesamte Linguistik zusammensetzt (obwohl Überschneidungen prinzipiell denkbar und möglich sind). Jeder Teilbereich steht dabei für ein Modul, wobei die Gesamtheit der Module additiv den Gegenstandsbereich der Linguistik bildet. Verkompliziert wird diese Einteilung allerdings dadurch, dass die Termini und Fachdisziplinen keineswegs allgemein anerkannt oder einheitlich wären. Man kann zudem etwa Soziolinguistik oder Pragmalinguistik sowohl auf die gegenwärtige Sprachstufe beziehen als auch auf vergangene. Das in unserem Zusammenhang Wesentliche ist nun, dass nach dieser Ansicht die Pragmalinguistik nur EIN Modul neben vielen anderen ist. Man muss also davon ausgehen, dass es ein Modul Grammatik mit Unterteilungen wie Phonologie, Morphologie, Syntax u. a. gibt, neben dem weitere Module wie eben Pragmatik, Soziolinguistik, Textlinguistik usw. bestehen. Dieses Denkschema macht es mithin notwendig, die Inhalte und Methoden jeweils genau zu definieren und von den anderen Modulen abzugrenzen. 2. Im Gegensatz dazu kann man Pragmatik aber auch als einen Aspekt oder eine grundsätzliche Methodik der Linguistik betrachten, also nicht als einen Teilbereich, sondern eine Betrachtungs- oder Untersuchungsweise, die auf alle sprachlichen Ebenen (des Lautes,
lg
l Allgemeines
Wortes, Satzes, Textes usw.) sowie auf die verschiedenen Dimensionen der Sprache (etwa die historische Entwicklung) anwendbar ist. Diese Auffassung hat den unbestreitbaren Vorteil, dass Pragmatik kein festes Arbeitsgebiet sein muss, sondern sich eher auf die Art der Betrachtungsweise von Sprache bezieht. Man kann sprachliche Phänomene demnach unter dem Aspekt der Systemlinguistik UND der Sprachpragmatik betrachten (etwa Phänomene des Sprachwandels), und die beiden Betrachtungsweisen müssen keinen Gegensatz darstellen, ganz im Gegenteil, sie ergänzen und bereichern einander. In unserer Darstellung werden wir versuchen, beiden Aspekten Rechnung zu tragen. Kapitel l ist eine Einführung in allgemeine Problemstellungen der Pragmalinguistik. In Kapitel 2 werden allgemeine Grundlagen der Pragmalinguistik vorgestellt, die in keiner pragmalinguistischen Darstellung fehlen dürfen. Die Kapitel 3, 4, 5 und 6 widmen sich Themen, die üblicherweise als Kernbereiche der Pragmalinguistik angesehen werden, wobei besonderer Wert auf ihre historische Genese, d. h. die Herauslösung aus der traditionellen Systemlinguistik, gelegt wird. Dabei sollte auch deutlich werden, dass Pragmalinguistik primär nicht als weiterer Stein in einem Baukastensystem im Sinn der Modullinguistik zu sehen ist, sondern als neu- und andersartiger Zugang zum Wesen der Sprache und der Methodik ihrer Beschreibung. Eingebunden in diese Darstellung sind Themen, die in pragmalinguistischen Einführungen bisher nicht zu finden waren wie z. B. die Zusammenhänge mit Stilistik und Sprachgeschichte.
2 Die Sprache in unserer Welt 2.1 Weltwissen, Sprachwissen, Sprachverhalten Im S AUSSURE'sehen Modell des sprachlichen Zeichens (s. dazu Kap. 3.1) wird die Vorstellung (der „Inhalt", das signifiant) im Sprachlichen verankert. Aus Sicht der Pragmatik scheint dies eine kapitale Fehlannahme zu sein. Was ein Haus ist, wissen wir, weil wir schon einmal ein Haus gesehen haben und darin wohnen, also weil es uns im täglichen Leben ständig begegnet. Man kann mithin annehmen, dass die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens nicht in diesem selbst begründet liegt, sondern in unserer Erfahrung. Von einem Ausdruck, den wir noch nicht kennen oder gelernt haben, können wir uns auch keine Vorstellung machen. Oder wissen Sie auf Anhieb, was ein Papau ist?18 Die Inhaltsseiten der sprachlichen Zeichen erhalten ihre Füllung erst durch unsere Erfahrung, d. h. durch die Erfahrung der Sprachteilnehmer. Wir können diesen Prozess deutlich bei Kindern beobachten, wenn sie die Bedeutung eines Wortes noch nicht kennen und etwa fragen: Was ist ein Planet? In etwas anderer Form begegnet uns dieser Prozess beim Vokabellernen einer Fremdsprache wieder. Die Kernfrage muss also lauten, woher die Vorstellungen bei einem sprachlichen Zeichen stammen. Vorstellungen beziehen sich nicht auf die reale Welt, sondern auf unsere Erfahrungen in und mit ihr. Dieses „Erfahren der realen Welt" können wir auch als Weltwissen bezeichnen. Dabei ist es völlig unerheblich, ob es bestimmte Gegenstände in der Realität tatsächlich gibt oder nicht, wichtig ist nur, dass wir sie „erfahren" haben und somit ihre Bedeutung kennen, also eine Vorstellung mit einem Begriff verbinden. Unser Weltwissen muss nicht auf die reale Welt referieren, es kann auch eine nichtexistente, imaginierte sein. Es ist also ohne Bedeutung, ob ein Gott Dionysos wirklich existiert, wichtig ist nur, dass wir erfahren haben, dass
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Falls Sie es nicht wissen: Der Papau (Asimina) ist eine Gattung der Annonengewächse, kleine Bäume und Sträucher im atlantischen Nordamerika. Der dreilappige Papau (Asimina triloba) mit großen braunen Blüten und gelben, essbaren Früchten ist in Europa ein Parkstrauch. Nachzulesen in jedem größeren Konversationslexikon. Das Beispiel wurde so gewählt, dass es an Botanik Interessierten durchaus möglich ist, die Frage zu beantworten.
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2 Die Sprache in unserer Welt
es die Vorstellung von einem Gott des Weines namens Dionysos gegeben hat oder immer noch gibt. Der Begriff des Weltwissens ist seiner Natur nach ungenau und wenig präzise. Es können damit die unterschiedlichsten Wissensinhalte angesprochen werden. So hat man versucht, zwischen Alltagswissen und individuellem Erfahrungswissen zu unterscheiden: Das Alltagswissen steht demnach allen Angehörigen einer Gemeinschaft gleichermaßen zur Verfügung und umfasst so banale Dinge wie das Einkaufen, das Bewegen im öffentlichen Verkehr (Rot heißt stehen, Grün heißt gehen etc.) und vieles andere mehr. In einer Gemeinschaft wird davon ausgegangen, dass alle Teilnehmer über dieses Wissen verfügen. Tun sie das nicht, sind sie als Außenseiter (etwa als Angehörige eines anderen Kulturkreises, Alkoholisierte, psychisch Kranke usw.) stigmatisiert. Das Erfahrungswissen hingegen ist an bestimmte Individuen oder Gruppen gebunden (so z. B. als Fachwissen aller Ärzte, Jäger, Sprachlehrer etc.) und kann daher nicht allgemein definiert werden. Die Grenze zwischen individuellem Erfahrungswissen und überindividuellem Alltagswissen ist fließend und lässt sich nicht genau bestimmen.19 Entscheidend ist, dass der Begriff des Weltwissens mit Erfahrung zusammenhängt und dass Welt nicht als geographische oder kosmologische Entität im Sinne von ,Erde' oder ,Planet' verstanden werden darf. Besser wäre es daher vielleicht, an Stelle von Weltwissen von Gebrauchskontext zu sprechen, also jenen außersprachlichen Umständen und Zusammenhängen, in denen eine sprachliche Äußerung ihren Sinn ergibt. Deshalb kann auch jedes Individuum mehreren Welten oder Gebrauchskontexten angehören, und jeder Augenblick und jede Ortsveränderung kann einen neuen Gebrauchstext ergeben.20 Das Weltwissen, das auch treffend als „Mitzuverstehendes" umschrieben wurde, bildet die Grundlage für unser gesamtes Leben und damit auch für die Sprachverwendung.21 Zum Weltwissen gehören Erfahrungen wie:
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20 21
S. LlNKE/NUSSBAUMER/PORTMANN 1996, S. 227 ff.
S. BALLMER 1974, S. 194. VON POLENZ 1988, S. 302 ff.
2.1 Weltwissen, Sprachwissen, Sprachverhalten
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(a) Der Mensch braucht Sauerstoff zum Atmen. (b) Die Sonne geht im Osten auf. (c) Ein Auto fährt nur mit Kraftstoff. (d) Der Sonntag ist der Tag des Herrn. (e) Dionysos ist der Gott des Weines. Dabei gibt es offenbar Abstufungen: Satz (a)-(b) dürfte weltweit gelten, Satz (c) nur dort, wo auch Autos bekannt sind, Satz (d) nur bei Angehörigen christlicher Religionen, (e) nur bei Kennern der griechischen Mythologie oder bei Menschen mit humanistischer Bildung etc. Aus diesen Ausführungen geht Folgendes hervor: 1. Es gibt eine reale Welt, in der wir leben. 2. Unsere Erfahrungen beruhen nur zu einem Teil auf dieser realen Welt, ein anderer Teil sind vom Menschen gemachte Konventionen und Übereinkünfte (z. B. Mythen, religiöse Überzeugungen, moralische Wertvorstellungen, Fiktionen, Wunschdenken etc.), die sich aber ebenfalls in unserer Welt abspielen. 3. Das Weltwissen ist kein absoluter Wert, sondern es ist individuell gestaltet. Jedes Individuum verfügt über mehrere persönliche Weltwissen, je nach Art und Anzahl seiner Welten. 4. Was wir als gemeinsames Weltwissen empfinden, sind die Überschneidungen der individuellen Weltwissen:
Unser individuelles Weltwissen bildet die Grundlage für unsere sprachliche Aktivität. Um von einem Haus sprechen zu können, muss man 1. wissen, was in einer Sprachgemeinschaft unter einem Haus verstanden wird, und
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2 Die Sprache in unserer Welt
2. voraussetzen können, dass auch der Empfänger über dieses Wissen verfugt. Dies könnte man auch als den „sprachlichen Vertrauensgrundsatz" bezeichnen. Auch die Konversationsmaximen von H. PAUL GRICE beruhen letztlich auf diesem stillschweigenden Übereinkommen (vgl. das einführende Beispiel und S. 129 ff.). Das grammatische Wissen, das im Zusammenhang mit sprachlicher Aktivität vonnöten ist, wollen wir als Sprachwissen bezeichnen. Entscheidend für unser Modell des sprachlichen Zeichens ist nun, dass sich unser Sprachwissen offenbar auf unser Weltwissen bezieht, mit diesem aber nicht identisch ist. Unser Sprachwissen ist demnach das Wissen darum, was wir tun müssen, um eine sprachliche Äußerung, die von anderen akzeptiert wird, hervorzubringen oder eine Äußerung von anderen verstehen zu können. Um sagen zu können Der Hund ist bissig, muss uns klar sein, was man (d. h. der/die Kommunikationspartner) unter dem Ausdruck Hund versteht und was unter bissig. Nur so können wir sicherstellen, dass man uns auch versteht. Aber das Sprachwissen geht noch weiter und wirkt sich konkret auf die Form sprachlicher Äußerungen aus. So wird folgender Satz als nicht akzeptabel empfunden, wenn wir wissen, dass es sich um ein und dieselbe Person namens Hugo handelt (und nicht um zwei verschiedene Personen, die beide den Namen Hugo tragen): *HugOj weiß, dass Hugo, einen Fehler gemacht hat. Hier muss uns unser sprachliches Wissen sagen, dass der Satz die Form aufweisen muss: Hugo weiß, dass er einen Fehler gemacht hat. Ebenso muss die Kongruenz und andere grammatische Mittel gewahrt sein. Auch die berühmten reflexiven Formen sind so zu sehen: *HugOj wäscht Hugot.
>
Hugo wäscht sich.
Nach unserem Verständnis umfasst das Sprachwissen somit die grammatische Kompetenz , und es baut auf unserem Weltwissen auf. Die philosophische Streitfrage, ob Denken ohne Sprache möglich ist, stellt sich aus dieser Sicht erst gar nicht. Das Sprachwissen ist aber nicht gleichzusetzen mit den sprachlichen Äußerungen selbst. Unser Sprachwissen manifestiert sich viel-
2.1 Weltwissen, Sprachwissen, Sprachverhalten
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mehr in unserem individuellen Sprachverhalten, d. h. der Gesamtheit unserer sprachlichen Äußerungen. Das Sprachverhalten stellt nun den Übergang von einer grammatischen Betrachtungsweise zur pragmatischen dar, denn es passt die Form sprachlicher Äußerungen an ihre Äußerungssituation an. Im Vordergrund steht nicht die grammatische Wohlgeformtheit: Wenn also besagter Hugo mit seinem Freund ein Treffen vereinbart, wird er dies in der Regel nicht mit der Äußerung bekräftigen *Hugo kommt dich morgen besuchen. Sondern er wird sagen Ich komme dich morgen besuchen. Ausgenommen ist - wie stets in Beispielen dieser Art - die „uneigentliche Redeweise" in Scherz, Ironie oder Kindersprache, die als regelwidrig anzusehen ist. Ebenso ist es eine Frage des Sprachgebrauchs und nicht der Grammatik, die Reihenfolge aufgezählter Satzgliedteile nach „Höflichkeit" zu bestimmen, also: Hugo und ich kommen dich morgen besuchen. Unüblich und als „unhöflich" angesehen wird die Reihenfolge Ich und Hugo kommen dich morgen besuchen. Vom Sprachsystem (der Grammatik) her gesehen gibt es keinen Grund, eine solche Reihenfolge nicht zu verwenden. Das Sprachverhalten ist somit eingebettet in das Sprachwissen, denn nur auf der Basis des Sprachwissens ist angemessenes Sprachverhalten möglich. Sprachwissen und Sprachverhalten sind die pragmatischen Entsprechungen für die vergleichbaren Begriffe Kompetenz und Performanz. So kann z. B. der Fall eintreten, dass wir auf Grund unseres Sprachwissens eine Äußerung tätigen wollen, diese aber wegen ungünstiger Faktoren auf der Ebene des Sprachverhaltens nicht „gelingt". Dazu gehören etwa Fehler durch Ermüdung, Unaufmerksamkeit oder falsche Einschätzung der Sprachsituation. Auch richtet sich das Sprachverhalten nach dem Sprachwissen. Wenn etwa zwei Geschäftspartner einander begegnen, die zuvor miteinander nur telefoniert haben, so werden sich ihre sprachlichen Äußerungen auch daran orientieren, ob ein alter und ein junger Mann oder zwei gleichaltrige,
2 Die Sprache in unserer Welt
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zwei sozial etwa Gleichgestellte oder ein Chef eines Großunternehmens und einer Kleinfirma einander gegenübertreten. Es ist auch möglich, dass man sich in diesem Sinn im sprachlichen Ton „vergreift". So wäre es denkbar, dass sich jüngere Menschen gleich duzen, es ist aber unangebracht, wenn ein Jüngerer einen Älteren spontan mit du anspricht. Wir können uns dieses Dreierschema etwa folgendermaßen vorstellen: Weltwissen Sprachwissen Sprachverhalten
Aufgabe der Pragmalinguistik muss es nun sein, vom realen Sprachverhalten auf das Sprachwissen zu schließen. Ausgangspunkte für diese Schlussfolgerungen müssen reale Äußerungen in realen Situationen sein, etwa singuläre Äußerungen für die Sprechakttheorie, gesprochene Gespräche für die Gesprächsanalyse und geschriebene Texte für die Textlinguistik. Aufgabe der Pragmalinguistik ist es, operationale linguistische Verfahren zu entwickeln, die diese Rückschlüsse erlauben. Darauf wird in den einzelnen Kapiteln näher einge-
2.1 Weltwissen, Sprachwissen, Sprachverhalten
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gangen werden. Zuvor aber müssen wir uns mit den sprachtheoretischen Grundlagen des Sprachwissens beschäftigen, dem sprachlichen Handeln.
2.2 Theoretische Grundlagen des sprachlichen Handelns Wenn sich die Pragmalinguistik mit dem menschlichen Handeln mit Sprache befasst, dann muss jeder Beschäftigung mit diesem Thema eine Theorie des sprachlichen Handelns zu Grunde gelegt werden. Sprachliches Handeln ist als Teil einer umfassenderen Theorie des menschlichen Handelns betrachtet worden. Wesen und Art des menschlichen Handelns im Allgemeinen sind so weit gefächert und vielfältig, dass sie nicht umfassend dargestellt werden können. Als Grundlage menschlichen Handelns werden jedoch stets die Kriterien der I n t e n t i o n a l i t ä t und der Zielgerichtetheit angeführt.22 Das bedeutet, dass Handeln vom Handelnden als solches beabsichtigt und auf ein bestimmtes Ziel oder Ergebnis gerichtet sein muss. Somit ist zu unterscheiden zwischen der H a n d l u n g selbst und dem Handl u n g s z i e l ; beides kann, muss aber nicht übereinstimmen. Ob eine Handlung vorliegt, kann nun entweder vom Standpunkt des Handelnden betrachtet werden (subjektorientiert) oder aber von einem auswärtigen Standpunkt (objektorientiert). In diesem Sinn obliegt es dem Betrachter zu entscheiden, ob Gähnen, Husten u. dgl. als Handlungen interpretiert werden sollen.23 Nimmt man die Interaktion als weiteres grundlegendes Kriterium hinzu, kommt man zum Begriff des sozialen Handelns, für das der Interaktionspartner unabdingbar ist. So gesehen ist sprachliches Handeln, wenn es zwischen mindestens zwei Kommunikationspartnern stattfindet, als Teil des sozialen Handelns anzusehen.24 Als Pionier auf dem Gebiet des sozialen Handelns wird MAX WEBER angesehen, der Handeln als menschliches Verhalten versteht, mit dem der Handelnde einen subjektiven Sinn verbindet (Handeln kann
22 23 24
Etwa SANDIG 1978, S. 61 ff. Vgl. HOLLY/KÜHN/PÜSCHEL 1984, S. 277. Vgl. dazu etwa BEHRMANN 1978.
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2 Die Sprache in unserer Welt
demnach auch in Unterlassungen bestehen). Soziales Handeln ist durch seine Ausgerichtetheit auf das Verhalten anderer bestimmt.25 Dieser allgemeine Handlungsbegriff kann und muss nun noch näher eingeengt werden. Mit WERNER HOLLY kann man sieben Kriterien einfuhren: Sinnhaftigkeit, Gerichtetheit, Kontrollierbarkeit, Regelhaftigkeit, Verantwortbarkeit, Komplexität und Interpretationsabhängigkeit. Auf anderer Ebene stehen die Muster der Absichtlichkeit, Willentlichkeit und Bewusstheit. Kombiniert man beide Schemata, so erhält man vier verschiedene Handlungsarten: Rationalhandeln, Routinehandeln, Zwangshandeln und Versehenshandeln.26 Sprachlichem Handeln, dem Handeln mit und durch Sprache, liegen offenbar dieselben Kriterien zu Grunde, allerdings ist es definiert als Teilmenge aus dem Bereich des sozialen Handelns. Ein zentraler Begriff dabei ist jener der K o m m u n i k a t i o n . Ohne hier genauer auf diverse Kommunikationsmodelle und die darauf basierenden Überlegungen eingehen zu können, stellen wir lediglich fest, dass sprachliches Handeln das Interagieren zwischen mehreren Personen mit dem Mittel der Sprache bedeutet. Daraus wird aber auch deutlich, dass Sprache als wesensidentisch mit sprachlichem Handeln erscheint und dieses nicht einfach nur als Folge von sprachlichen Äußerungen zu betrachten ist: Auch mit sprachlichen Äußerungen intendieren wir etwas, bewirken wir etwas und richten uns an Interaktionspartner. Es wurde mit Recht darauf hingewiesen, dass Handeln und damit auch sprachliches Handeln nur in Interaktion mit Wissen möglich ist, was uns wieder zum Weltwissen führt. Allerdings kann man in Bezug auf Sprachhandeln verschiedene relevante Wissenssysteme im Sinn von Informationssystemen unterscheiden, etwa situationsbezogenes, partnerbezogenes oder textbezogenes Wissen.27 Sprachliches Handeln findet - wie natürlich auch nonverbales Handeln - nicht im leeren Raum statt. Der Rahmen für Handlungen ist in der Gesellschaft zu sehen, in der sprachliche Äußerungen stattfinden. Zu unterscheiden ist zwischen der individuellen H a n d l u n g selbst und der Handlung als Typus, dem H a n d l u n g s m u s t e r (z. B. 25 26
27
Vgl. WEBER 1973 bzw. WEBER 1976. HOLLY 2001, S. 9 ff. Aus Raummangel kann dies hier nicht näher ausgeführt werden.
So STROHNER/BROSE 2002, S. 1173 ff.
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2 Die Sprache in unserer Welt
Ergebnis nicht identisch sind oder sein müssen und dass sich das Ergebnis - vom Handelnden beabsichtigt oder unbeabsichtigt durchaus vom Ziel unterscheiden kann, etwa wenn ein gewünschtes Ergebnis nicht eintritt oder ein nicht gewünschtes Ergebnis eintritt). Daraus folgt, dass sprachliches Handeln nicht nur unter allgemein psychologischen Gesichtspunkten untersucht und beschrieben werden darf, sondern dass der Prozess der Sprachproduktion und -rezeption als identitätsstiftender Vorgang die Grundlage der Beschreibung bilden muss. Solcherart kommt man auf folgende allgemeine Aspekte der Sprachhandlungstheorie:30 • einen allgemein psychologischen Aspekt, der die grundsätzlichen Fragen zur Struktur von Handlungen erfasst wie Kenntnis, Einstellungen, die Rolle von Wertsystemen, Entwicklungen von Handlungsplänen usw.; • einen sozialpsychologischen Aspekt, der den Rahmen konkreter Handlungen in einer Gesellschaft absteckt: die Möglichkeiten, Voraussetzungen, Folgen von Handlungen in einer konkreten Gesellschaftssituation; • einen kommunikationstheoretischen Aspekt, der die kommunikationstheoretischen Voraussetzungen in Form von Kommunikationsmodellen oder Interaktionsvorstellungen zwischen Kommunikation und Gesellschaft betrifft und der der Frage nachgeht, wie sprachliche Handlungen in allgemeine Handlungen eingebettet sind und beschrieben werden können; • einen philosophischen Aspekt: die Zusammenhänge zwischen Handeln, Denken, Sprache und Wirklichkeit werden im Rahmen einer Erkenntnistheorie mit moralischen und ästhetischen Nonnen thematisiert; • einen semiotischen Aspekt: die Einbettung von Handlungen und Teilhandlungen in den Rahmen einer sprechakttheoretischen Fundierung. Aus dem letzten Punkt und dem zeitlich-linearen Charakter der sprachlichen Handlung folgt außerdem, dass sie einen Anfangs- und NachMOTSCH 1978. S. 19 ff.
2.2 Theoretische Grundlagen des sprachlichen Handelns
29
einen Endpunkt und einen dazwischen liegenden Verlauf haben muss, auch wenn er noch so kurz sein mag. Aus diesem Verständnis heraus kann man • Initialbedingungen • Verlaufsbedingungen und • Resultatbedingungen formulieren, nach denen Handlungen aufgefasst, definiert und in Gruppen zusammengefasst werden können. Der Ansatz der Sprechakttheorie, wie ihn JOHN R. SEARLE vorgestellt hat, folgt diesen Überlegungen (vgl. dazu Kap. 4.2).31 Damit diese aber auch „gelingen", müssen zuvor einige Bedingungen erfüllt sein. Eine der wesentlichsten scheint der Rückgriff auf ein kollektives Wissen zu sein. Zwei oder mehrere Personen (als A und B bezeichnet), die miteinander kommunizieren, setzen voraus: A weiß, dass p. B weiß, dass p. A weiß, dass B weiß, dass p. B weiß, dass A weiß, dass p.32 Diese vier Voraussetzungen bezeichnen nicht nur den Rückgriff auf ein gemeinsames Weltwissen, sondern auch das Wissen, dass dieses zu Grunde liegende Weltwissen allen Kommunikationspartnern gemeinsam oder zumindest zugänglich ist. Ein wesentlicher Punkt einer Sprachhandlungstheorie muss zudem der Zusammenhang zwischen sprachlichen Handlungen und ihren sprachlichen Ausdrucksformen sowie den linguistischen Mitteln zur Beschreibung beider Aspekte sein.
31 32
Vgl. MOTSCH/PASCH 1987, S. 16 ff. So KELLER 1977, S. 13.
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2 Die Sprache in unserer Welt
2.3 Präsupposition und Inferenz 2.3.1 Voraussetzungen Es sollte schon durch unsere Beispielsätze in der Einleitung deutlich geworden sein, dass jeder Sprachteilnehmer alle sprachlichen Äußerungen, seien es eigene oder fremde, in einen Erfahrungsrahmen entsprechend seinem Weltwissen einordnet. Es kann vorkommen, dass jemand zu einem Termin zu spät kommt und als Entschuldigung vorbringt Ich komme zu spät, weil mein Auto nicht angesprungen ist. Wir haben nun die Wahl, diesen Satz als „wahr" oder „falsch" einzustufen. Wir können darauf vertrauen, dass der Sprecher die Wahrheit sagt, dass also sein Wagen tatsächlich nicht angesprungen ist und dies die Ursache für sein Zuspätkommen darstellt. Wir könnten aber auch daran zweifeln, ob dies den Tatsachen entspricht, und mutmaßen, dass der Sprecher einfach „lügt". Tatsachen oder Ereignisse, die wir als Fakten einstufen, können uns in der jeweiligen Ansicht bestärken. Präsuppositionen haben aber mit dem Wahrheitsgehalt von Äußerungen nichts zu tun, sie betreffen einen anderen Aspekt:33 Durch unsere Erfahrungen wissen wir, dass man ein Auto zur Fortbewegung benutzt, dass ein Auto einen Motor hat und dass man, um sich fortbewegen zu können, zuerst den Motor starten muss, was als Anspringen bezeichnet wird. All das muss nicht gesondert erklärt werden. Es wird vom Sprecher vorausgesetzt, dass die Gesprächsteilnehmer über dieses Wissen verfügen, und er nimmt darauf Bezug. Etwas ungewöhnlicher wäre die Äußerung Ich komme zu spät, weil mein Rennauto nicht angesprungen ist. Menschen bewegen sich im Alltag normalerweise nicht mit einem Rennauto fort. Es wäre höchstens denkbar, dass jemand sein Auto, eben weil es nicht besonders schnell fährt, ironisch als „Rennauto" bezeichnet. Genauso wissen wir, wenn wir die Äußerung Beethoven wurde im Alter taub Vgl. dazu etwa REIS 1977, S. 6 ff.
2.3 Präsupposition und Inferenz
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hören, auf Grund unserer Erfahrung (unseres Wissens, unserer Bildung), dass es sich dabei um den deutschen Komponisten Ludwig van Beethoven (1770-1827) handeln muss. Der Sprecher muss nicht ausführen: Beethoven wurde im Alter taub; Beethoven war ein berühmter Komponist und Musiker und lebte von 1770 bis 1827 etc. Das bedeutet, wir legen durch unser Weltwissen etwas in die Äußerung hinein, wir inferieren oder ergänzen die Äußerung. Was wir inferieren, hängt natürlich von unserem Weltwissen ab, das seinerseits die Grundlage der Präsupposition bildet.34 Präsuppositionen kann man sich als Sinnvoraussetzungen vorstellen, die in der Äußerung selbst nicht angesprochen, für das Verständnis aber vorausgesetzt werden. Die Hierarchie kann man etwa wie folgt darstellen: Weltwissen
Präsupposition / Implikatur
Inferenz
V sprachliche Äußerung
Die Präsupposition wurde, wenn auch unter anderem Namen, von GOTTLOB FREGE, dem „Architekten der modernen Logik"35, eingeführt (der Begriff Präsupposition selbst stammt von PETER F. STRAWSON). Der Mathematiker und Philosoph FREGE verfasste grundlegende Arbeiten zum Verhältnis von Logik und Mathematik und be-
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S. dazu LINKE/NUSSBAUMER 2002. Eine weiterführende Systematik des nicht explizit Ausgedrückten bietet u. a. VON POLENZ 1988.
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Dazu LEVINSON 2000, S. 184 ff.
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2 Die Sprache in unserer Welt
gründete damit die mathematische Logik als selbstständige Disziplin; er übte großen Einfluss u. a. auf BERTRAND RÜSSEL, EDMUND HUSSERL und LUDWIG WITTGENSTEIN aus. Eine berühmte Aussage von FREGE lautet: „Wenn man also behauptet, so ist immer die Voraussetzung [= Präsupposition, P. E.] selbstverständlich, dass die gebrauchten, einfachen oder zusammengesetzten Eigennamen eine Bedeutung haben. Wenn man also behauptet, ,Kepler starb im Elend', so ist dabei vorausgesetzt, dass der Name ,Kepler' etwas bezeichnet."36 Jemand, der aus einem anderen Kulturkreis stammt oder aus anderen Gründen den Namen Kepler nicht kennt, könnte dem Satz Kepler starb im Elend keine Bedeutung zumessen. D. h. der Satz wäre für ihn weder wahr noch falsch, er hätte einfach keine Bedeutung. Wichtig ist allerdings, dass die „Voraussetzung" (Präsupposition) des Satzes Kepler starb im Elend nicht die Tatsache ist, dass Kepler tatsächlich im Elend starb (das könnte wahr oder falsch sein), sondern die Tatsache, dass es einen Menschen namens Kepler gab oder, anders ausgedrückt, dass Kepler etwas bezeichnet. Die Präsupposition lautet demnach >Es gab einen Menschen namens Kepler.< Präsuppositionen haben also nichts mit dem Wahrheitsgehalt einer Äußerung zu tun und dürfen nicht damit verwechselt werden. So enthält die Äußerung China hat die Atombombe die Präsuppositionen 1. >Es gibt gegenwärtig einen Staat namens China.< 2. >Atombombe bezeichnet etwas.< Aus diesen Überlegungen geht auch hervor, dass dieselben Präsuppositionen auch für die Negation des Satzes gelten: China hat die Atombombe nicht. Präsuppositionen haben wie gesagt nichts mit dem „Wahrheitsgehalt" einer Äußerung zu tun. Um es noch klarer zu sagen: Präsuppositionen entscheiden nicht darüber, ob eine Aussage als „wahr" oder „falsch" angesehen wird oder zu gelten hat.
FREGE 1986, S. 54
2.3 Presupposition und Inferenz
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Am Phänomen der Präsupposition werden die Grenzen zwischen Semantik und Pragmatik besonders deutlich.37 Auf den ersten Blick sieht es nämlich so aus, als würde die Präsupposition von der Bedeutung sprachlicher Zeichen abhängen. Man kann aber mit pragmatischen Mitteln beweisen, dass dem nicht so ist. Ein berühmtes Beispiel stamm von JOHN L. AUSTIN:38 Die Katze liegtauf der Matte. Wir inferieren: >Die Matte ist unter der KatzeDie Matte ist nicht unter der Katzex Wenn es sich um eine Präsupposition handelte, müsste sie aber trotz Negierung gleich bleiben, also *>Die Matte ist unter der Katzex Das heißt, unsere Aussage stellt keine Präsupposition dar, sondern bezieht sich auf den Wahrheitsgehalt der Aussage. Die Präsupposition (die auch bei Negation des Satzes bestehen bleibt, würde lauten: >Katze, liegen. Matte bedeutenetwas.> Genauer gesagt, hängt dies mit der Semantik der sprachlichen Einheiten Katze, Matte, liegen und unter zusammen. Daraus folgern wir, dass die Semantik im Gegensatz zur Pragmatik etwas mit dem wahrheitsfunktionalen Aspekt von Sprache zu tun hat. 2.3.2 Pragmatische und semantische Präsuppositionen Nach allem bisher Gesagten muss die Kernfrage lauten: Sind Präsuppositionen Elemente der Semantik oder der Pragmatik? Und wie kann man in einer sprachlichen Äußerung die Präsuppositionen ermitteln? Als brauchbarste Lösung haben sich zwei Theorien erwiesen, die man als die semantische und die pragmatische Präsuppositionstheorie bezeichnen könnte und an denen sich die enge Schnittstelle zwischen Pragmalinguistik und Semantik zeigt.39
37 38 39
Vgl. dazu etwa WIMMER 1977 c. Aus AUSTIN 1962/1975. Die Unterscheidung zwischen semantischen und pragmatischen Präsuppositionen wird aber auch in Zweifel gezogen, da sie möglicherweise nur unterschiedliche
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2 Die Sprache in unserer Welt
Semantische Präsuppositionen Präsuppositionen dürfen zunächst nicht mit den allgemeineren logischen Folgerungen verwechselt werden. Aus A folgt B, wenn jede Situation, die A wahr macht, auch B wahr macht. Bekanntes Beispiel ist die Sokrates-Schlussfolgerung: A
Alle Menschen sind sterblich.
A' Sokrates ist ein Mensch. also: B Sokrates ist sterblich. Wahrheitsfunktionale Aussagen gehen über das hinaus, was die reine Semantik ermitteln kann. Man glaubt annehmen zu können, dass alle semantischen Relationen in einer Äußerung anhand semantischer Merkmale definiert werden können. Um das zu erreichen, muss man die logische Struktur in der Semantiktheorie allerdings markant abkürzen. Die semantischen Präsuppositionen legen nahe, dass die Voraussetzungen von Präsuppositionen in den semantischen Merkmalen der sprachlichen Äußerungen liegen, oder, wie wir oben festgestellt haben, durch die Wörter festgelegt werden. Die Verfechter dieser Theorie geraten aber in große Schwierigkeiten, vor allem durch die Eigenschaft der Aufhebbarkeit (s. dazu S. 43). Mit semantischen Mitteln sind die Präsuppositionen einer Äußerung wie Peter musste nicht bedauern, durchgefallen zu sein, weil er bestanden hatte nicht eindeutig beschreibbar. Die Präsupposition der Äußerung ohne We/7-Satz lautet >Peter ist durchgefallen.
Peter ist nicht durchgefallen.< Dadurch hebt sich die Präsupposition gleichsam auf, allerdings nur unter speziellen Bedingungen wie dieser.
Pragmatische Präsuppositionen Aus solchen und ähnlichen Überlegungen heraus ist man von semantischen Präsuppositionstheorien abgekommen und versucht, die Präsuppositionen vom Sprachgebrauch her zu fassen. Dafür ist es zunächst notwendig anzunehmen, dass die an einer sprachlichen Äußerung Beteiligten a. über gemeinsames Weltwissen verfügen und b. dass die sprachliche Äußerung dem Weltwissen angemessen ist: Eine Äußerung A präsupponiert pragmatisch eine Proposition B, wenn A B angemessen und B den Gesprächspartnern wechselseitig bekannt ist. Der Grundgedanke dieser Definition ist demnach, dass sprachliche Äußerungen nur als angemessen angesehen werden können, wenn im Kontext angenommen wird, dass die angesprochenen Propositionen (s. dazu S. 36) allen Gesprächsteilnehmern bekannt sind. Es wird also auf das gemeinsame Weltwissen Bezug genommen. Eine Äußerung wie Ich komme zu spät, weil die Straßenbahn nicht angesprungen ist wäre demnach als nicht angemessen zu beurteilen, weil von den Kommunikationsteilnehmern das Wissen erwartet werden kann, dass eine Straßenbahn nicht „anspringt" wie ein Auto. Aus Sicht der pragmatischen Präsuppositionstheorie ist nicht der Wahrheitsgehalt der Äußerung zu prüfen, sondern die Feststellung zu treffen, dass die Äußerung dem Weltwissen nicht angemessen ist. Es ist aber auch einsichtig, dass man dieses Angemessenheitsprinzip in der Praxis kaum als absoluten Maßstab einsetzen kann.
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2 Die Sprache in unserer Welt
Denn es liegt im Ermessen der Sprachteilnehmer, was sie als angemessen betrachten, und dieses Ermessen ist von vielerlei Faktoren wie individuellem Wissen, Situation, Bekanntheitsgrad der Kommunikationsteilnehmer untereinander u, v a. m. abhängig. Eine Äußerung unter Partygästen wie Ich komme zu spät, weil mein Auto nicht angesprungen ist wird sicherlich als angemessen betrachtet werden können. Wie steht es aber mit einer Äußerung wie Ich komme zu spät, weil meine Kutsche in Reparatur ist ? Bevor man diese Äußerung als unangemessen zurückweist, weil eine Privatperson normalerweise keine Kutsche fährt, sollte man bedenken, dass man, wie oben schon erwähnt, ein Auto ironisch auch als „Kutsche" bezeichnen und eine solche Äußerung also durchaus angemessen sein kann. 2.3.3 Eigenschaften von Präsuppositionen Zwei der grundlegenden Eigenschaften von Präsuppositionen sind ihre Negationskonstanz und ihre Aufhebbarkeit. N e g a t i o n s k o n s t a n z bedeutet, dass die Negation einer Aussage auf die Präsupposition keinen Einfluss hat, sehr wohl aber auf den Wahrheitsgehalt der Äußerung.40 Wie bereits erwähnt, darf eine Präsupposition nicht mit dem Wahrheitsgehalt von Äußerungen gleichgesetzt werden. Jener Teil einer Aussage, der im Sinne der Wahrheitslogik oder -semantik beurteilt werden kann, wird als Proposition (oder auch propositionaler Gehalt) bezeichnet.41 Leider ist der Ausdruck vieldeutig und wird in der Linguistik in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht (etwa auch in der Sprechakttheorie). In unserem Sinn, auf den Wahrheitsgehalt einer Aussage bezogen, kann der Unterschied vielleicht mit dem Satz Paris liegt an der Donau
40 41
Vgl. dazu MEIBAUER 2001,44 ff.; s. auch REIS 1977. Eingehend mit der Proposition von Sätzen beschäftigt sich VON POLENZ 1988, S. 101 ff.
2.3 Presupposition und Inferenz
37
verdeutlicht werden. Die Wortsemantik setzt voraus, dass die sprachlichen Zeichen Paris, Donau und liegen eine Bedeutung haben. Ferner kann die Gesamtaussage (die Satzsemantik) nach ihrem Wahrheitsgehalt beurteilt werden, nämlich die Aussage, dass eine unter dem Namen Paris bekannte Stadt an einem Fluss namens Donau situiert sei. Dies ist die Proposition des Satzes, sie kann wahr oder (wie in unserem Fall) falsch sein. Die Präsupposition des Satzes kann hingegen angegeben werden als >Es gibt eine Stadt Paris, und es gibt einen Fluss Donau.< Der Beweis ergibt sich wieder aus der Negationskonstanz: Der negierte Satz Paris liegt nicht an der Donau ändert auch die Proposition von +falsch (-wahr) auf -falsch (+wahr), nicht aber die Präsupposition, die weiterhin lautet >Es gibt eine Stadt Paris, und es gibt einen Fluss Donau.< Also gehört die Proposition der Ebene der Semantik an, die Präsupposition hingegen der Ebene der Pragmatik. Um sich dem Phänomen und dem Konzept der Präsuppositionen zu nähern, ist zunächst der einfache Test hilfreich, eine Aussage zu negieren und zu sehen, welche Präsuppositionen übrig bleiben. Nehmen wir den einfachen Satz:42 A Heinz schaffte es, rechtzeitig aufzuhören so können wir zwei Präsuppositionen inferieren: 1 >Heinz hörte rechtzeitig auf.< 2 >Heinz versuchte, rechtzeitig aufzuhörend Wenn wir nun Satz A negieren A' Heinz schaffte es nicht, rechtzeitig aufzuhören so inferieren wir folgende Präsuppositionen: l' >Heinz hörte nicht rechtzeitig auf.< 2' >Heinz versuchte, rechtzeitig aufzuhören, es gelang ihm aber nicht.
Jemand erfand den Buchdruck.< 11. Einfache Aussagen, Vergleich und Kontraste Gutenberg erfand den Buchdruck [nicht]. > Jemand erfand den Buchdruck. Karl ist als Pantomime [nicht] besser als Franz. >Franz ist Pantomime.< 12. Verben der Beurteilung Er bezichtigte ihn des Diebstahls. >Er findet, dass er des Diebstahls schuldig ist.< Diese Sonderfälle zeigen zwei Eigenheiten: 1. Nicht bei allen ist eine Negation möglich oder sinnvoll. 2. Es zeigt sich, dass Präsuppositionen nicht nur an Verben gebunden sind. Das Dilemma resultiert aus der mangelhaften theoretischen Fundierung sowie der nicht bewältigten Berührung von Semantik und Präsupposition. Man darf nicht vergessen, dass die obige Liste in erster Linie von der Definition der Präsupposition abhängt. Wenn man sie vom Verb abhängig macht, können alle jene Fälle nicht erfasst werden, die sich nicht auf Verba beziehen, also Nr. 6-11. Nimmt man die Negation als Nagelprobe für die Präsupposition, scheiden alle Fälle aus, bei denen die Negation keine Rolle spielt, also Nr. 6-9, 11, 12.
2.3 Präsiipposition und Inferenz
4J
Die zweite der angesprochenen Eigenschaften von Präsuppositionen ist ihre Aufhebbarkeit. 4 6 Eine der seltsamsten Besonderheiten der Präsuppositionen ist, dass sie sich in gewissen Kontexten in Nichts auflösen können. Dies ist vor allem der Fall, wenn die Art der Präsupposition im Unklaren bleibt: Ein Sonderfall sind Präsuppositionen wie47 Susanne weinte, bevor sie ihre Diplomarbeit beendete. Susanne starb, bevor sie ihre Diplomarbeit beendete. STEPHEN LEVINSON geht davon aus, dass die in diesen Sätzen vorhandene Präsupposition aufgehoben wird oder dass sie „verschwindet", und zwar aus folgendem Grund: Wir wissen, dass man nach seinem Tod nicht in der Lage ist, Tätigkeiten zu Ende zu führen, sodass die im ersten Satz enthaltene Präsupposition im zweiten Satz nicht gegeben ist und sich aufhebt. Nun ist diese Meinung aber dahingehend anfechtbar, dass es sich ja im Grunde genommen um zwei selbstständige, voneinander unabhängige Äußerungen handelt. Damit liegen aber auch zwei Präsuppositionen vor, nämlich Susanne weinte, bevor sie ihre Diplomarbeit beendete. >Susanne beendete ihre Diplomarbeitx Susanne starb, bevor sie ihre Diplomarbeit beendete. >Susanne beendet ihre Diplomarbeit nichtx Es ist daher m. E. nicht zutreffend, dass eine Präsupposition in einer anderen aufgeht oder sich „auflöst". Nach allem bisher Gesagten kann man also verschiedene Arten von Präsuppositionen unterscheiden: Als große Gruppen wären die zeic h e n g e b u n d e n e n Präsuppositionen (als Teil der Semantik) und die gebrauchsgebundenen Präsuppositionen (als Teil der
46
47
Weitere problematische Eigenschaften von Präsuppositionen sind ihre N ich tabt r e n n b a r k e i t und ihre P r o j e k t i o n s f ä h i g k e i t , auf die wir hier aber aus Platzgründen nicht eingehen wollen. Sie werden ausführlicher diskutiert bei GREWENDORF/HAMM/STERNEFELD 1989, S. 436 ff. Beispiel aus LEVINSON 2000, S. 205.
42
2 Die Sprache in unserer Welt
Pragmatik) zu sehen.48 Letztere sind nicht an den Text direkt gebunden und zwingen den Rezipienten zu inferieren, also Informationen aus dem eigenen Weltwissen zu ergänzen. Ein Beispiel wäre die Entschuldigung Mein Wagen ist nicht angesprungen eines zu spät Gekommenen, aus denen inferiert wird, dass man ein Auto zur Fortbewegung benötigt, der Sprecher ein Auto besitzt, dieses aber einen technischen Defekt hat. Diese Inferenzen können als die eigentlichen pragmatischen P r ä s u p p o s i t i o n e n angesprochen werden. Die zeichengebundenen Präsuppositionen werden, wie ihre Bezeichnung schon ausdrückt, mit einzelnen sprachlichen Zeichen verbunden. Lösen diese einen allgemeinen referenziellen Bezug aus, liegt eine referenzielle Präsupposition vor wie in RÜSSELS berühmtem Beispielsatz Der König von Frankreich hat eine Glatze. Aus ihm kann inferiert werden, dass es einen König von Frankreich gibt. Enthalten die sprachlichen Zeichen darüber hinausgehende Informationen, die nur an diese spezifischen Zeichen gebunden sind, liegen semantische Präsuppositionen im eigentlichen Sinn vor. In unserem Beispielsatz Heinz schaffte es, rechtzeitig aufzuhören beinhaltet das Wort schaffen die Präsupposition des Versuches. Wir kommen auf diese Weise zu folgendem Schema als Übersicht zu den Präsuppositionen: Präsuppositionen zeichengebunden referenziell
48
gebrauchsgebunden semantisch
Vgl. dazu LlNKE/NUSSBAUMER/PORTMANN 1996, S. 232 ff.
pragmatisch
2.3 Presupposition und Inferenz
43
Wichtig für die Linguistik wurden die Ansichten von PETER F. STRAWSON49; er war es, der die bis dahin eher philosophischen Überlegungen für die Sprachwissenschaft fruchtbar gemacht hat. Nach STRAWSON beziehen sich Präsuppositionen auf den referenziellen Teil einer Äußerung, aber Präsuppositionen sind selbst kein Teil der Äußerung. Ihre Annahme ist für die Produktion und Rezeption von Äußerungen grundlegend und unbedingt notwendig. Das bedeutet, dass man zwischen den Äußerungen selbst und dem Gebrauch von Äußerungen unterscheiden muss. Nicht die Sätze an sich sind wahr oder falsch, sondern der Gebrauch von Sätzen in bestimmten Situationen. So kann der obige Satz Der König von Frankreich hat eine Glatze etwa im Jahr 1603 auf seinen Wahrheitsgehalt geprüft werden, er ist aber im Jahr 2002 weder wahr noch falsch, weil es keinen König von Frankreich gibt. Daher muss auch die nahe liegende Präsupposition >Es gibt einen König von Frankreich< im Jahr 2002 hinterfragt werden. Es müssen also gewisse Voraussetzungen dafür erfüllt sein, dass man einen Satz für eine wahre oder falsche Aussage gebrauchen kann. Eine dieser Voraussetzungen ist der Gebrauch der Kategorie bezeichnender (referierender) Ausdrücke. Wird ein Ausdruck „falsch" oder „leer" gebraucht, dann kommt keine Aussage oder Behauptung zu Stande, die als wahr oder falsch beurteilt werden kann. Solche Aussagen oder Behauptungen bezeichnet STRAWSON als Präsuppositionen.
2.4 Deixis Sprachliche Zeichen referieren, wenn auch indirekt, auf die reale Welt, die außersprachliche Realität. Die sprachliche Bezugnahme kann auf Personen, Gegenstände und Sachverhalte gerichtet sein. Eine Äußerung wie
49
Vgl. STRAWSON 1950.
44
2 Die Sprache in unserer Welt
Der Vater schläft stellt, wenn sie nicht literarisch gemeint ist, einen Bezug her zu einer real existierenden Person und einem Vorgang/Zustand, d. h. sie referiert darauf. In diesem Sinn kann prinzipiell jede Äußerung eine Referenz aufbauen (zum Begriff der Referenz s. S. 72). Einen Sonderfall stellt diese Äußerung dar: Mein Vater schläft. Hier wird eine besondere Art von Referenz aufgebaut, und zwar durch den Sender. Er referiert auf einen besonderen Vater, nämlich seinen eigenen. Nur durch den sprachlichen Ausdruck mein wird damit klargestellt, dass der Vater des Senders gemeint ist, und ein anderer Sender kann, wenn er dieselbe Person meint, nicht denselben Ausdruck mein verwenden. Gebraucht ein anderer Sender das sprachliche Zeichen mein, so ist damit der Vater des anderen Senders gemeint. Die Ausdrücke ich, mein, dein, unser, euer, ihr usw. stellen somit eine besondere Art von Referenz her. Sie sind vom Kontext und von der Situation des Gebrauchs abhängig, sie „zeigen" auf bestimmte Personen, Gegenstände oder Sachverhalte in Bezug auf etwas, das meist der Sender selbst ist. Ähnlich ist es mit Zeitangaben wie jetzt oder Wörtern wie da, dort. Diese Ausdrücke werden durch ihren Bezug auf eine konkrete sprachexterne Situation gekennzeichnet. Es handelt sich also in erster Linie um Demonstrativa, Personalpronomina der ersten und zweiten Person, Temporalformen von Verben, spezifische Adverbien lokaler und temporaler Art „sowie eine Vielzahl anderer grammatischer Phänomene, die in direktem Zusammenhang mit den Umständen der Äußerung stehen"50, also auch gewisse Aspekte bei Substantiven, Adjektiven und Präpositionen. Mit anderen Worten: Die Sprache stellt dem Sender Mittel zur Verfügung, mit denen er auf seine persönliche Situation referieren kann. Jede sprachliche Aktion erfolgt in Raum und Zeit, und es kann darauf Bezug genommen werden. Das sprachliche Phänomen, das dies ermöglicht, nennt man Deixis (griech. deikynai ,zeigen'), es ist die
LEVINSON 2000, S. 55.
2.4 Deixis
45
Beziehung zwischen sprachlichem Zeichen und außersprachlichem Kontext in Bezug auf den Sender: „Mit Deixis meint man die Lokation und Identifikation von Personen, Objekten, Ereignissen, Prozessen und Handlungen, über die gesprochen oder auf die referiert wird, in Relation zu dem zeitlichräumlichen Kontext, der durch den Äußerungsakt und die Teilnahme von normalerweise einem Sprecher und wenigstens einem Adressaten geschaffen und aufrechterhalten wird."51 Deiktische Ausdrücke indizieren eine sprachliche Äußerung in Bezug auf den Sender, also denjenigen, der die Äußerung tätigt. Deiktische Mittel werden, einer linguistischen Tradition folgend, als eines von mehreren sprachlichen Mitteln gewertet, auf die außersprachliche Welt zu referieren. Im Allgemeinen kann man drei Arten unterscheiden:52 1. Eigennamen, z. B. Wolf gang Amadeus Mozart 2. nominale Kennzeichnungen, z. B. der Komponist der „Zauberflöte" 3. deiktische Ausdrücke, z. E. er Von KARL BÜHLER stammt der grundlegende und für die Entstehungszeit geradezu revolutionäre Vorschlag, die sprachlichen Zeichen in ein Symbolfeld und ein Zeigfeld zu untergliedern. Dem Symbolfeld gehören die Zeichen des appellativischen Bereichs an wie Haus und Baum. Das Zeigfeld hingegen umfasst jene Elemente, die man als deiktisch einstufen kann. Die Deixis betrifft die Arten, wie Sprachen den Äußerungskontext und das Sprechereignis kodieren. Im Grunde genommen ist jede Äußerungssituation egozentrisch in dem Sinn, dass der Sprecher in seiner Eigenschaft als Sprecher die Rolle des Ego mit sich selbst besetzt.53 So gesehen sind drei Grundkategorien der Deixis primär: die Person, der Ort und die Zeit, also die Personal-, Lokal- und Temporaldeixis;
51
52 33
LYONS 1983, S. 249.
So etwa WIMMER 1977 b, S. 109. LYONS 1983, S. 250.
2 Die
46
Sprache in unserer Welt
sie werden auch gerne als „klassische Deixis-Dimensionen"54 angesehen. Daneben gibt es auch andere, sekundäre Formen, die Sozial-, Situations- und Diskursdeixis, auf die wir der Reihe nach zu sprechen kommen werden. Es gibt auch deiktische Mittel, die genau genommen keinen Referenzbezug aurweisen, obwohl sie die Form von Deiktika haben. Wenn ein Autor in einem Roman einer Erzählerfigur die Form ich in den Mund legt, so muss er nicht wirklich sich selbst meinen. Das ich hat damit keine deiktische Funktion im oben beschriebenen Sinn, und das gilt für alle deiktischen Verweise in fiktiven Welten. Solche Deiktika hat man a l s D e i x i s am Phantasma bezeichnet. Die Grenze zur eigentlichen Deixis ist dabei nicht immer eindeutig zu ziehen.55 Die Deixis, die eine sprachliche Universalie zu sein scheint, also offenbar in allen natürlichen Sprachen der Welt vorkommt, wirft eine Reihe von theoretischen Problemen auf und ist oft der Ausgangspunkt für sprachphilosophische Untersuchungen. In der Tat scheinen sich gerade in diesem Punkt Philosophie und Linguistik besonders eng zu berühren. In der praktischen Arbeit gibt es etliche Untersuchungen zur Verwendung deiktischer Ausdrücke,56 es fehlt aber bis heute eine systematische Darstellung deiktischer Verwendungsweisen. Die Diexis scheint durchaus nicht so eindeutig zu sein, wie sie auf den ersten Blick aussieht. So ist z. B. nicht geklärt, wo man das Phänomen der Deixis ansetzen soll: Ist sie eine Eigenschaft des Lexikons bzw. spezieller Elemente des Lexikons - genau genommen wäre sie dann ein semantisches Phänomen -, oder gehört sie dem kommunikativen Bereich, also der Pragmatik, an? Nach der ersten Auffassung gibt es unterschiedliche Zeichen, deiktische und nichtdeiktische. Der Sender wählt davon jene Zeichen aus, die er gerade braucht. In diesem Sinn sind auch das Symbol- und das Zeigfeld BÜHLERS zu sehen.57 Nun kann man aber einwenden, dass auch Appellative eine gewisse Zeigefunktion besitzen, denn auch wenn man einen Ausdruck wie Haus in einer konkreten Sprechsituation verwendet, verweist man auf etwas 54
55 56 57
RAUH 1984, S. 27.
Vgl. dazu RAUH 1978, S. 104. Stellvertretend für viele andere: VATER 1991, VATER 1996, EHRICH 1992, ROLAND HARWEG etwa spricht von „deiktischer V e r w e n d u n g s w e i s e von Pronomina", vgl. HARWEG 1979, S. 42.
2.4 Deixis
47
Außersprachliches. So gesehen verlagert sich das Problem der Deixis auf die Referenzebene, man kann sie also als besondere Art der Referenz ansehen. Andererseits lässt sich die Deixis auch als Phänomen begreifen, das sich erst im Kommunikationsvorgang unter Einbeziehung der kommunikativen Situation konstituiert: Der Sprecher konstruiert deiktische Verweise unter Zuhilfenahme der situativen Aspekte und unter Berücksichtigung seiner Gesprächspartner: „Deixis ist ein Verfahren der Informationskodierung im Rahmen von Kommunikationsereignissen, bei dem mit Anweisungen zur Repräsentation von Nachrichten an Wissensbestandteile angeknüpft wird, die im gleichen Kommunikationsereignis gebildet wurden oder noch gebildet werden müssen."58 Deixis kann sowohl als Teil des Kodierungs- als auch des Referenzverfahrens gesehen werden. Der entscheidende Punkt sind die Wissensbestandteile, die im Augenblick des Kommunikationsereignisses gebildet wurden oder werden. Demnach wäre Deixis ein Kodierungsverfahren und keine lexikalische Eigenschaft. Es dient zur Kommunikationserleichterung. Aber auch in diesem Fall bleiben die Kategorien der Personal-, Lokal-, Temporal-, Sozial-, Situations- und Diskursdeixis bestehen, denn man kann jeden Kommunikationsvorgang in Bezug auf seine Begleitumstände betrachten: Wer ist daran beteiligt? Wo und wann findet er statt? Wie sind die sozialen und situativen Begleitumstände? Wie ist die sprachliche Äußerung organisiert?59 2.4.1 Personaldeixis Durch die Personaldeixis werden in der Sprache die Rolle und die Sichtweise des Sprechers enkodiert. Mit lat. persona (in der Bedeutung ,Maske') wird die Rolle im Gespräch bezeichnet, da man sich in der Antike die Rede als kleines Drama vorstellte.60 Die Grammatikalisierung der Referenz auf die sprechende Person erfolgt in der ersten Person, jene auf einen oder mehrere Adressaten in der zweiten Person. 58 59 60
BLÜHDORN 1993, S. 45. Im Gegensatz zu anderen Darstellungen halte ich die so genannte Modaldeixis für nicht nachvollziehbar. Näheres s. bei BLÜHDORN 1993, S. 48 ff. Vgl. LYONS 1983, S. 250.
48
2 Die Sprache in unserer Welt
Die dritte Person steht für Personen und Größen, die weder auf den Sprechenden noch auf Adressaten referieren, also als Mitspieler oder Zuhörer im Drama gedacht sind. Diese Überlegungen beruhen, wie leicht ersichtlich, auf der gesprochenen Sprache. Dementsprechend kann man bei den sprachhandelnden Personen zwischen Anwesenden und nicht Anwesenden unterscheiden. Sender und Adressat müssen per defmitionem anwesend sein. Voraussetzung für die erfolgreiche Kodierung und Dekodierung von Personen in einer Sprache ist die Festlegung der Rollen in dieser Sprache. Für das heutige Deutsch gilt folgendes Schema:61 Singular Sprecher Adressat Dritte
ich du er/sie/es
Plural wir
ihr sie
Das war nicht immer so. Die Sprachhistoriker wissen, dass es im Germanischen noch einen Dual gegeben hat, also die spezielle Enkodierung von zwei Adressaten (im Gegensatz zu einem Einzelnen oder mehr als zwei Adressaten), der im Indogermanischen wurzelt. Im bairischen Dialekt exisiteren heute noch die Formen eJ 'ihr' und enc 'euch', die im 12. Jahrhundert Pluralbedeutung angenommen hatten.62 Am einfachsten ist die Handhabung der ersten Person Singular, ich. Die Identifizierung mit dem Sender ist eindeutig und bedarf keiner weiteren Spezifikation. Der Plural wir bedeutet schon eine Differenzierung insofern, als er inklusiv (d. h. den/die Adressaten einbeziehend) oder exklusiv (den/die Adressaten nicht mit einbeziehend) verwendet werden kann: Wenn von drei anwesenden Personen (etwa einem Ehepaar A und B und einem Gast C) ein Ehepartner äußert
61
62
Hier nur der Nominativ, für die Casus obliqui s. Duden 1995, S. 325. Einen Überblick über die verschiedenen Anredeformen in ausgewählten europäischen und nichteuropäischen Sprachen gibt HAASE 1994.
Vgl. KRANZMAYER 1954 und SEEBOLD 1984.
2.4 Deixis
49
Morgen fahren wir an die Adria so kann damit je nach Kontext nur das Ehepaar A und B (exklusiv, ohne C) oder alle drei (inklusiv, mit C) gemeint sein. Hier wird deutlich, dass über die Verwendungsweise ein gemeinsames Merkmal, ein tertium comparationis, entscheidet, das - auch das geht aus dem Zitat hervor - nicht immer eindeutig sein und eventuell metasprachlich definiert werden muss. Ein solches tertium comparationis ist nur in der übertragenen Redeweise redundant, etwa der uneigentlichen Verwendungsweise des Pluralpersonalpronomens: Na, wie geht es uns denn heute? (Trotzdem kann das uns hier ganz allgemein als ,im Raum anwesend' verstanden werden). Probleme ergeben sich, wenn man die grammatischen Kategorien Person und Numerus auf natürliche Personen übertragen will, ebenso wie grammatisches und natürliches Geschlecht nicht notwendigerweise übereinstimmen müssen. Das System der Personalpronomina, wie es oben dargestellt wird, ist insofern unsymmetrisch, als nur für Dritte im Singular eine Unterscheidung nach Genera erfolgt. Demgegenüber gibt es in vielen anderen Sprachen als dem Deutschen z. T. wesentlich komplexere Pronominalsysteme. So unterscheiden manche Sprachen nach „in Sichtweite" und „nicht in Sichtweite",63 dem Genus des Sprechers, dem sozialen Status des Adressaten u. v a. m. Eine Schnittstelle zwischen Personaldeixis und Sozialdeixis stellen die Anrede formen dar, sofern sie diachron aus den Personalpronomina erwachsen sind (pronominale Anredeformen), also Sie vom Personalpronomen 3. Person Plural zur Anredeform 2. Person Singular und Plural64 neben pronominalem du (Personalpronomen der 2. Person). Wieso es zu dieser Umprägung der Verwendungsweise kommt, ist eine Frage der diachronen Linguistik.65 Schwerer wiegt die Frage, wie die heutigen Anredeformen im synchronen Pronominalsystem einzuordnen sind, vor allem wie die pragmatische Verwendung von du und Sie im synchronen Grammatiksystem unterzubringen ist. 63 64 65
Nach der Darstellung von LEONARD BLOOMFffiLD etwa das Kwakiutl, vgl. BLOOMFIELD 2001, S. 320. Duden 1995, S. 325. BESCH 1998 mit weiterführender Literatur.
2D e
50
' Sprache in unserer Welt
Neuere Darstellungen66 sprechen sich vermehrt dafür aus, im Deutschen eine eigene grammatische Kategorie Respekt anzusetzen, analog zu den bereits anerkannten Kategorien Tempus, Modus, Aspekt, Genus verbi (beim Verb), Genus, Kasus, Person und Numerus (beim Nomen). Neben den pronominalen Anredeformen gibt es auch die nicht pronominalen (wie z. B. Titel: Herr Schmidt, wie geht es Ihnen?), die appellativischen Anredeformen für die dritte Person (mein Herr, mein Fräulein) sowie Eigennamen (Franz, bist du das?).61 Darin zeigt sich auch der oben angesprochene Unterschied zwischen lexikalischen Formen und pragmatischer Verwendungsweise, wie etwa bei Herr Müller ist mein Chef und Herr, was bilden Sie sich ein? Auch hierzu mehr bei der Sozialdeixis. Schwierigkeiten ergeben sich bei der Zuordnung der Elemente dieser, jener, der etc. Man kann sie der Personaldeixis zurechnen mit dem Argument, dass man damit auf Personen verweist, und das wird wohl der nächstliegende Gedanke sein. Doch es gibt auch Argumente, sie der Lokaldeixis zuzuweisen. Dafür spricht die Tatsache, dass sie der Sprecher nach Nähe oder Ferne zu seiner eigenen Position verwendet, und sie solcherart lokaldeiktisch interpretiert. 2.4.2 Lokaldeixis Die Orts- oder Raumdeixis bezeichnet Standorte im Bezug auf Sprecher, Adressaten oder Dritte. Zwei Referenzarten sind möglich: l. absolut in Bezug auf ein genormtes Messsystem, z. B. Längen- und Breitengrade, 2. relativ in Bezug auf etwas Genanntes: Das Restaurant ist dreihundert Meter vom Rathaus entfernt (dort befindet es sich immer, unabhängig von der Position des Sprechers). Das Restaurant ist dreihundert Meter vor dem Rathaus (damit wird auf die Sprecherposition Bezug genommen).
'* Vgl. z. B. SIMON 1999 mit Aufarbeitung und Kommentierung der Forschungsliteratur genannt. 67 Vgl. HARTMANN 1975 a, S. 114 ff.
2.4 Deixis