Portrait à la mode: Weibliche Figurenbilder der École de Paris zwischen Belle Époque und Années folles 9783110766554, 9783110766417

The École de Paris, or School of Paris, stands for the international Parisian art scene in the early years of the 20th c

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German Pages 300 [298] Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Gegenstand der Arbeit
Terminologie und Methodik
Forschungsstand
Nommer, c’est faire exister – Die Genese der École de Paris
Alte und neue Definitionsansätze
Erste und zweite École de Paris
Die Wiege des modernen Figurenbildes
Reflexionen über den Begriff der Schule
Der jüdische Anteil der École de Paris
Die Bedeutung von Paris und den Cités d’Artistes
Die Rezeptionsgeschichte der École de Paris
Das Frauenbild nach 1900
Eine Frage des Geschlechts
Neue Frauen- und neue Berufsbilder
Der Dualismus des Entre deux Guerres …
Les Femmes et la Création
Entre deux Guerres – Entre deux Genres: Geschlecht und Geschlechtlichkeit zwischen den beiden Weltkriegen
Die Garçonne
Portrait à la mode: Vom 19. ins 20. Jahrhundert – eine Zeitenwende
Einleitung
Les Instantanés de la Grâce de la Femme – Das Portrait à la mode in der Belle Époque
Tableaux éventails – Das Portrait à la mode am Vorabend des Ersten Weltkrieges
Mon Portrait – Selbstbildnisse und Selbstbilder von Künstlerinnen
La Femme libérée des Années folles – Freikörperkultur im Portrait à la mode
Von der Garçonne zur Femme Dandy – Das Portrait à la mode unter dem Eindruck von Cross-Dressing
Portrait à la mode: Genre und Zeitdokument
Farbtafeln
Danksagung
Anhang
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Portrait à la mode: Weibliche Figurenbilder der École de Paris zwischen Belle Époque und Années folles
 9783110766554, 9783110766417

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Portrait à la mode

Nina Goldt

Portrait à la mode Weibliche Figurenbilder der École de Paris zwischen Belle Époque und Années folles

düsseldorf university press

Gefördert durch die Messe Düsseldorf, die die Dissertation mit dem drupa Preis 2021 auszeichnete. Diese Dissertation wurde im Mai 2019 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf unter dem Titel „Portrait à la mode – Das weibliche Figurenbild der École de Paris im Spiegel seiner Entstehungszeit“ eingereicht und ebendort im Januar 2020 verteidigt. D61

ISBN 978-3-11-076641-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-076655-4 Library of Congress Control Number: 2022930861 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston d|u|p düsseldorf university press ist ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH Einbandabbildung: Maurice Mendjizky, Kiki de Montparnasse (Ausschnitt), Öl auf Leinwand, 61,5 × 30 cm, 1921, Paris, Collection Fonds de Dotation Mendjisky-Ecoles de Paris. Satz: Eberl & Koesel Studio, Altusried-Krugzell Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com dup.degruyter.com

Inhalt

Einleitung

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Gegenstand der Arbeit Terminologie und Methodik Forschungsstand

7 10 13

Nommer, c’est faire exister – Die Genese der École de Paris 19 Alte und neue Definitionsansätze Erste und zweite École de Paris Die Wiege des modernen Figurenbildes Reflexionen über den Begriff der Schule Der jüdische Anteil der École de Paris Die Bedeutung von Paris und den Cités d’Artistes Die Rezeptionsgeschichte der École de Paris

19 22 24 28 30 34 54

Das Frauenbild nach 1900 69 Eine Frage des Geschlechts 69 Neue Frauen- und neue Berufsbilder 72 Der Dualismus des Entre deux Guerres … 74 Les Femmes et la Création 88 Entre deux Guerres – Entre deux Genres: Geschlecht und Geschlechtlich­keit zwischen den beiden Weltkriegen 102 Die Garçonne 117

Portrait à la mode: Vom 19. ins 20. Jahrhundert – eine Zeitenwende 127 Les Instantanés de la Grâce de la Femme – Das Portrait à la mode in der Belle Époque Tableaux éventails – Das Portrait à la mode am Vorabend des Ersten Weltkrieges Mon Portrait – Selbstbildnisse und Selbstbilder von Künstlerinnen La Femme libérée des Années folles – Freikörperkultur im Portrait à la mode

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Inhalt

Von der Garçonne zur Femme Dandy – Das Portrait à la mode unter dem Eindruck von Cross-Dressing 198 Portrait à la mode: Genre und Zeitdokument 215

Farbtafeln Schluss 225 Fazit 225 Ausblick 231

Danksagung 235 Anhang 237 Literaturverzeichnis 237 Übersetzungen aus dem Französischen 260 Bildnachweise 270 Personenregister 271

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Einleitung

Gegenstand der Arbeit Bei dem der französischen Sprache entstammenden Begriff „Porträt“ denkt man in erster Linie an ein künstlerisches Bildnis, meist vom Gesicht einer Person, dessen Zweck darin besteht, das Erscheinungsbild, aber auch die Persönlichkeit der oder des Porträtierten einzufangen. Tatsächlich reicht die Dimension bestimmter Porträts jedoch sehr viel weiter: „Etudier l’évolution de la représentation féminine dans un art donné, c’est étudier en quelque sorte l’évolution de sa situation dans cette société.“1, erklärte der französische Gelehrte Waldemar Déonna 1928 in der Revue internationale de Sociologie. Als Kunstgattung ist das Porträt visueller Ausdruck der jeweiligen Zeit, der herrschenden historischen wie soziokulturellen Umstände  – und so verwundert es auch nicht, dass bereits im vorigen Jahrhundert eine komplette Geschichte der Frauen im Bild2 geschrieben wurde. Erst recht gilt das Gesagte für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit: das Portrait à la mode. Gemeint ist damit das gemalte, weibliche Figurenbild innerhalb der École de Paris, welches an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und in den drei darauffolgenden Dekaden durch seine ungemein große Darstellungsvielfalt beeindruckt.3 Diese Vielfalt abzubilden, zu analysieren und zu kontextualisieren ist das vorrangige Ziel dieser Studie. Ferner gilt es, unter den einzelnen Positionen Gemeinsamkeiten auszumachen, die – unabhängig von Künstler/-in und Entstehungsjahr – für das Portrait à la mode charakteristisch sind. Abschließend soll so eine verbürgte Aussage über den Kern dieser Bilder getroffen und deren kunsthistorischer Rang aufgezeigt werden. Ebenso wie die enge Relation zwischen Porträtkunst und Gesellschaft steht dabei jene zwischen Porträtkunst und Mode im Fokus. Es scheint nämlich, dass sich gerade in der Damenwelt der Moderne – im Fin de Siècle sowie zwischen den beiden Weltkriegen, dem sogenannten Entre deux Guerres  – in rasanter Folge die unterschiedlichsten Geschmäcker und Charaktere identifizieren lassen, aber eben auch gewisse Standards.4 ­Einen gewaltigen Teil hierzu trug sicher der rapide sozialgeschichtliche Wandel bei, re  Déonna 1928, 260.   Duby/Perrot 1995. 3   Um einen ersten, exemplarischen Eindruck dieses Spektrums zu bekommen, genügt es, je ein frühes und ein spätes Portrait à la mode herauszugreifen, etwa Il Pastello bianco von 1888 (Abb. 1) und Portrait de la Duchesse de la Salle von 1925 (Abb. 36). 4   Vgl. dazu Déonna 1928, 259: „En effet, il n’a pas seulement des types individuels de l’idéal féminin, il y a, sous les divergences individuelles, des types communs, par lesquels se trahissent les goûts, les tendances d’un temps, d’un pays.“ 1 2

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Einleitung

sultierend in neuen Gesellschaftsformen, Kunstrichtungen, Kulturphänomenen und Mode­trends, welche in corpore schließlich das Frauenbild jener Epoche formten. Um das Portrait à la mode zufriedenstellend zu dechiffrieren, muss insofern dessen gesamter Bezugsrahmen berücksichtigt werden. Dazu zählen, neben dem erwähnten Entstehungszeitraum, die als „Capitale des Arts“5 gerühmte Stadt Paris mit ihrer besonderen Infrastruktur und der dort beheimateten École de Paris, die Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte sowie die Entwicklung von Mode und Populärkultur. Würde man eine strikt kunsthistorische Untersuchung durchführen und die genannten Nachbardisziplinen ausklammern, so würde sich der Gehalt des Portrait à la mode gewiss nicht vollständig erschließen. Besonders stark beeinflusst ist das Porträt durch die Kleidermode – und dies bereits seit Jahrhunderten. Als Medium der vestimentären Kommunikation beansprucht Mode nicht nur im Herrscher- oder Rollenporträt, sondern auch darüber hinaus einen äußerst prominenten Part und beschwört kontinuierlich neue Körperbilder herauf. Seit der Renaissance konstruiere Mode Körper, konstatierte die deutsche Kunsthistorikerin Petra Kreuder in ihrer Arbeit über das feminine Ganzfigurenbildnis.6 Ebenfalls sehr wirksam waren, zumal am Beginn des 20. Jahrhunderts, die eng geknüpften Bande zwischen neuer Kunst und neuer Mode  – einerseits personell, da Maler/-innen und Designer/-innen sich untereinander austauschten oder miteinander kollaborierten, andererseits in Form gemeinsamer, gattungsunabhängiger Gestaltungsprinzipien wie Funktionalismus und Ökonomie. Die Avantgardemode bzw. Haute Couture waren damals etwa einer dem Kubis­mus – oder auch der Neuen Sachlichkeit – vergleichbaren Ideologie verpflichtet.7 Und diese Idee drang schließlich ohne große Verzögerung bis in die Tages- und Massenmode vor. Wie fruchtbar sich das reziproke Verhältnis zwischen Bildender Kunst und Mode im Paris des Entre deux Guerres äußerte, dokumentierten bereits mehrere internationale Museumsausstellungen, darunter Cubism and Fashion in New York (1998), Les Années folles (1919 – 1929) im Pariser Museum für Mode (2007 – 2008) oder Culture Chanel in Peking (2012). Zur Malerei und Mode gesellt sich außerdem die Literatur hinzu. Denn auch diese Kunstform brachte im 19. und 20. Jahrhundert modische Trends bzw. Typen hervor, die anschließend Geschichte schrieben – exemplarisch sei hier an Baudelaires Peintre de la Vie moderne (1860) oder an die weltberühmte Garçonne aus Marguerittes gleichnamigem Roman (1922) erinnert. Von solch fiktionalen, dabei an der Realität orientierten Werken ließen sich einerseits Künstler/-innen inspirieren; andererseits entzündete sich daran die zeitgenössische, gesellschaftliche Debatte um Anstand, Moral und Geschlechtlichkeit. Im Portrait à la mode flossen all diese Impulse zusammen, weshalb sich dieses Subgenre bei genauerem Hinsehen als ein kaleidoskopischer Reigen von Frauenbildern präsentiert: Einige von ihnen waren damals schon etabliert, andere brachen erst mit ­allen Konventionen, bevor sie zur Mode wurden – einer Mode mit Ausläufern bis ins 20. und sogar 21. Jahrhundert hinein. So begegnen Abwandlungen der Garçonne oder des Dandys z. B. noch in der heutigen Bild- und Popkultur; ja selbst die Parisienne, eigent­lich eine typische Erscheinung des 19. Jahrhunderts, lebt mit neuen Inhalten versehen bis in die Gegenwart fort.   George/Guillaume 1929, 181.   Vgl. Kreuder 2008, 72. 7   Über Mode und Design vgl. Loschek 2007, 211 – 247, hier 219 – 222. 5 6

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Gegenstand der Arbeit

Aus diesem Grund ist es nicht nur Aufgabe der Medienwissenschaften, sondern ebenso der Kunstgeschichte, sich diesen teils ikonischen Frauenbildern zu widmen, genauer gesagt deren Niederschlag und Entwicklung im Porträt. Dazu braucht es ein Verständnis der Materie und deren Historie, außerdem wissenschaftliche Expertise, Methodik, ein geschultes Auge und nicht zuletzt Unvoreingenommenheit. Denn das Porträt, namentlich das Mode- oder Gesellschaftsporträt, hatte mitnichten einen leichten Stand – weder zuzeiten der sich bahnbrechenden Moderne noch im Verlauf der späteren Kunstgeschichtsschreibung. Unter dem Eindruck der Avantgarde geriet es in den Ruf, anachronistisch, oberflächlich oder kommerziell zu sein. Zudem behandelten monografische Publikationen und Ausstellungen zur École de Paris in der Regel nur große, klangvolle Namen wie Picasso, Matisse oder Chagall. Erschwerend kommt hinzu, dass die Gattung des Porträts von vielen Frauen bedient wurde, die sich, wenn überhaupt, nur mit Mühe in der männlich dominierten Kunstszene, der Pariser Bohème, zu behaupten vermochten. Entsprechend schwer war es für sie, auf dem Kunstmarkt zu reüssieren. Anders verhielt es sich jedoch in bürgerlichen Kreisen: Dort zählten Frauen wie Marie Laurencin oder Tamara de Lempicka zeitweise zu den gefragtesten Porträtist/-innen überhaupt und malten auf Auftrag die Spitzen der Pariser Gesellschaft, Aristokratinnen, feine ­Damen und Prominente. Diese Dissertation wird sich daher, neben dem Bild der Frau, auch deren sozialer Stellung und Wahrnehmung widmen, speziell im künstlerischen Bereich. „Die Malerei ist ein männlicher Beruf “, behauptete der Gegenwartsmaler Markus Lüpertz, immerhin mit der Einschränkung: „Ein männlicher Beruf, den Frauen hervorragend ausüben können.“8 Es zeigt sich hieran, dass Kunst noch immer eher als männliche Domäne empfunden und die Idee des Genies zuallererst mit dem Mann assoziiert wird.9 Die Künstlerin hingegen galt lange Zeit als unprofessionell oder stümperhaft, und selbst im 20. Jahr­ hundert hielt sich, aller Professionalisierung zum Trotz, die Vorstellung von der Unzulänglichkeit weiblichen Kunstschaffens: Um 1910 gerierte sich Guillaume Apollinaire als Fürsprecher des Art féminin; doch so positiv seine Kritiken zunächst klingen mögen, mit jeder Würdigung ging immer auch eine Isolation oder zumindest Marginalisierung der künstlerisch tätigen Frau einher. Letzten Endes sorgte Apollinaire – gemeinsam mit anderen Autoren – zwar dafür, dass der Art féminin öffentliches Ansehen erfuhr, zugleich lenkte er dessen Rezeption aber nachhaltig in eine gewisse Richtung. Wie hieraus hervorgeht, knüpft die vorliegende Studie gleich an zwei ebenso bedeutende wie problematische Zweige der kunsthistorischen Forschung an: Zum einen sondiert sie die Rolle des Porträts, zum anderen die Rolle der Frau innerhalb der modernen Kunstentwicklung. Da hier wie dort immer wieder Extreme der Geschichtsschreibung vorkommen, sind diese anhand der zu analysierenden Texte und Bilder einer kritischen Prüfung zu unterziehen und, eventuell, zu revidieren.

  Zitiert nach Timm, Tobias: „Der Markt ist mir egal“, in: Die Zeit 16 (16. April 2015), 57.   „Aux hommes le génie, aux femmes le bon goût.“, Morineau 2010, 277.

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Einleitung

Terminologie und Methodik Terminologie Eine Besonderheit dieser Arbeit ist, dass der Leser darin eine Vielzahl französischer bzw. dem Französischen entlehnter Begriffe vorfinden wird. Denn erforscht wurde das Portrait à la mode überwiegend anhand französischsprachiger Literatur. Schon das im Titel enthaltene Wort „Portrait“ bedarf einiger Erklärung: Die deutsche Sprache verfügt ­neben „Porträt“ über verwandte Bezeichnungen wie „Bildnis“ oder „Figurenbild“, wobei „Figurenbild“ das Kriterium der Porträtähnlichkeit nicht strikt zu erfüllen braucht. Anders verhält es sich im Französischen, wo man kein Synonym zu Portrait kennt, sondern höchstens – allgemeiner – von der Darstellung der Frau, „la représentation féminine“10 bzw. „la représentation de la femme“11, spricht. Im Folgenden wird deshalb meist sowohl Porträt als auch Bildnis gebraucht, wohlgemerkt ohne damit eine protokollhafte, naturgetreue Wiedergabe zu verbinden. Der Zusatz „à la mode“  – auf Deutsch „der Mode entsprechend“ oder „nach der neuesten Mode“ – erscheint im heutigen Sprachgebrauch womöglich floskelhaft und bedeutungsleer, wurde hier aber nicht ohne Hintergedanken gewählt. Vielmehr kommt ihm sowohl werkimmanent als auch -transzendent eine wichtige Funktion zu. An erster Stelle benennt „à la mode“ die Eigenart der so bezeichneten Porträts, d. h. das hinter dem konkreten Gegenstand stehende Idealbild. Dieses war imaginär und volatil und wandelte sich über die Jahre; beispielsweise ging die zunächst stark polarisierende Garçonne ­binnen kurzer Zeit in der Femme Nouvelle auf – einer modernen Leitfigur mit immenser gesellschaftlicher Breitenwirkung. Daneben ist „à la mode“ aber auch als direkter Verweis auf das Werk, auf dessen stilistische Ausrichtung zu verstehen. So abwechslungsreich wie die Kunst der Moderne präsentierten sich auch die Portraits à la mode: Klassische, realistische oder impressionistische Tendenzen wichen im neuen Jahrhundert Anklängen an den Kubismus oder Futurismus; und sogar von der Abstraktion blieb das Portrait à la mode – obwohl dies im Grunde seinem figurativen Charakter widerspricht – nicht unberührt. So gesehen muss der Begriff „à la mode“ hier klar entgrenzt werden, bezieht er sich doch mitnichten allein auf das Kostüm, sondern auf die Bildenden Künste insgesamt. Hiermit verbunden ist die Idee eines allumfassenden Kunstbegriffs, der im Übrigen gerade auch mit Blick auf die Gegenwart unabwendbar scheint. Tatsächlich wurden während des Entre deux Guerres bereits bestehende gattungsspezifische Grenzen überwunden und die Kluft zwischen angewandter und hoher Kunst, zwischen Populärund Hochkultur erheblich geschmälert. Schaut man in die einschlägige Literatur, so stößt man dort wiederholt auf Termini, die zwar in jener Epoche lexikalisiert waren, mittlerweile aber nicht mehr gebräuchlich sind oder, besser gesagt, nicht mehr gebräuchlich sein sollten. Verantwortlich dafür ist in erster Linie die Differenzierung zwischen männlicher und weiblicher Kunst, erkennbar an Wortkombinationen wie Art féminin oder Femme-peintre bzw. Femme Artiste. Damit wurden eigens weibliche Positionen bezeichnet, während man für die Kunst von Männern keinerlei Spezifizierung verwendete.   Déonna 1928, 260.   Ribemont (Hg.) 2007, 16; Gossmann 2008, 300.

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Terminologie und Methodik

Wie angekündigt treten in dieser Arbeit auch dem Französischen entnommene Begriffe auf, die sich auf Epochen, Stile, Strömungen, Institutionen, Gruppen oder Personen beziehen – etwa das erwähnte Entre deux Guerres, Fin de Siècle, die Académie des Beaux-Arts, die École de Paris, der Peintre mondain. Da es sich hierbei überwiegend um Eigennamen oder aber um ähnlich heikle Begriffe wie Art féminin und Femme-peintre handelt, werden auch sie nicht übersetzt, sondern lediglich durch Kursivstellung hervorgehoben. Mit École de Paris verbindet sich etwa die fixe Vorstellung einer Schule, also eines in sich geschlossenen Künstlerkollektivs, und hinter den französischen Peintres mondains vermutet man Modemaler/-innen, die sich galant in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bewegten. Oft sind derartige Assoziationen rezeptionsgeschichtlich bedingt und können, wie noch genauer zu sehen sein wird, leicht in die Irre führen, z. B. durch einen negativen Beiklang oder Unterton. Der Gebrauch der deutschen Pendants – „Frauenkunst“, „Pariser Schule“, „Modemaler/-innen“, „Gesellschaftsmaler/-innen“ und dergleichen  – wird deshalb bewusst vermieden. Stattdessen sollte man sich ihres Ursprungs sowie ihrer Konnotation gewahr sein, um sie, sofern sie nicht (mehr) korrekt ist, entsprechend abzuändern. Dies ist umso wichtiger, wenn man nicht bloß inhaltlich, sondern auch sprachlich die ausgetretenen Pfade der Kunstgeschichtsschreibung verlassen und eine Studie nach heutigen, wissenschaftlichen Standards durchführen möchte.

Methodik Es sollen im Folgenden terminologische, soziologische und (kunst-)historische Fragen, die sich rund um das Portrait à la mode stellen, konstruktiv miteinander verbunden werden. Die methodische Grundlage hierfür bildet eine Kombination von Literatur- und Quellenkritik mit detaillierten, kunsthistorischen Analysen. Dabei werden jüngere und jüngste Forschungsergebnisse  – überwiegend aus Frankreich, teils aber auch aus dem deutsch- bzw. englischsprachigen Raum – sinnvoll ergänzt durch Zeitgenössisches und Publizistisches, darunter Anthologien, Kunstkritiken, Zeitschriftenartikel, Selbstzeugnisse von Maler/-innen ebenso wie von Schriftsteller/-innen. Auf Künstler/-innen-­ Monografien wird hingegen nur am Rande zurückgegriffen, was dem beabsichtigten interdisziplinären, zugleich werkorientierten Ansatz entgegenkommt: Mehr als dem Urheber soll sich die Untersuchung schließlich seinem künstlerischen Schaffen und dessen Rezeption widmen. Die hierzu notwendige, aktuelle Forschungsliteratur stellen das Pariser Institut national d’histoire de l’art sowie die Bibliothèque nationale de France bereit. Wichtiges Quellenmaterial, in weiten Teilen unveröffentlicht, befindet sich außerdem in der Bibliothèque littéraire Jacques Doucet, die u. a. zahlreiche Nachlässe von Künstler/-innen konserviert und verwaltet. Außerdem lohnt sich das Studium von älteren Ausstellungskatalogen, Auktionskatalogen, Periodika und Illustrierten – zu finden in der Bibliothèque du musée des arts décoratifs  – sowie nicht zuletzt der originalen Kunstwerke. Hier bieten sowohl die Pariser Museen als auch Galerien und private Sammlungen wesentliche Anlaufpunkte, um die Originale zu betrachten, aber auch um Experten zu konsultieren und sich über bestimmte, noch unbekannte oder strittige Œuvres auszutauschen. Anknüpfend an die Recherchen vor Ort wird das gesammelte Material ausgewertet und bei richtungsweisenden Texten eine getreue Übersetzung angefertigt, die im Anhang der Arbeit nachzulesen ist. Schließlich soll diese Forschungsarbeit, neben den Grenzen der Disziplinen und Kunstgattungen, auch die sprachlich-geografi-

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Einleitung

schen Hürden ein Stück weit überwinden und so eine Bereicherung für den deutschfranzösischen Wissenschaftstransfer sein. Der Arbeit zugrunde liegt eine problemorientierte Struktur; sie fügt sich aus scheinbar thematisch unabhängigen Kapiteln zusammen. Die Verwandtschaft zwischen den zwei großen Themenblöcken zur École de Paris und zum Frauenbild nach 1900 wird jedoch durch Querbezüge und kausale Zusammenhänge ersichtlich. Beide verweisen bereits auf den Untersuchungsgegenstand, das Portrait à la mode, und leisten dessen erwähnte unverzichtbare Kontextualisierung. Das erste Großkapitel mit der Überschrift „‚Nommer c’est faire exister‘ – Die Genese der École de Paris“ ist ein Resümee, das sich immer wieder der Literaturdiskussion ­nähert, um so zu einer kritischen Neubewertung insbesondere von veralteten oder radikalen Positionen zu gelangen. Anschaulich wird dabei geschildert, wie man im Paris der Belle Époque oder der Années folles, also der Verrückten zwanziger Jahre, lebte, welche künstlerischen Zentren es gab und wie der besondere Reiz dieser Metropole, allen voran für die Kunstwelt, zu erklären ist. Natürlich steht dabei, wie der Titel vermuten lässt, auch die Namensgebung der École de Paris auf dem Prüfstand: Angefangen bei den ­ersten Definitionsversuchen und der Taufe, wird die Rezeption dieser Gruppe bis zu ihren Ausläufern nach 1945 rekapituliert. Der zweite Teil ist den Frauen vor ebenso wie hinter der Leinwand gewidmet. Hier werden, unter besonderer Berücksichtigung des Entre deux Guerres, zunächst wichtige Entwicklungsetappen der Frauengeschichte aufgezeigt – einerseits äußerliche, optische Veränderungen, andererseits Umbrüche, die das weibliche Denken und Handeln steuerten. Dabei werden zugunsten der Anschaulichkeit verstärkt zeitgenössische, teils noch unbekannte Autoren bzw. Werke zitiert und zur Diskussion gestellt. Besonders stark wandelte sich damals das öffentliche und berufliche Wirken der Frau, erst recht jenes der Künstlerin. Mit ihrer Situation, ihren Chancen, aber auch ihren Handicaps im Kunst­ betrieb wird sich daher schon hier auseinandergesetzt, bevor – im Rahmen des Studiums der Portraits à la mode – die Künstlerin abermals im Fokus steht, dann allerdings anhand konkreter Beispiele. Nicht fehlen dürfen unter dem Titel „Das Frauenbild nach 1900“ Garçonne und weiblicher Dandy, gehören sie doch beide zu den prominentesten Frauenbildern des Entre deux Guerres und weisen zudem Berührungspunkte mit der Femme Artiste auf. Zur Skizzierung dieser Figuren dient hauptsächlich die Belletristik des 19.  und 20. Jahrhunderts, aus der zunächst der baudelairesche Dandyismus, anschließend der Kleidungs- und Lebensstil à la garçonne entsprangen. Da dieses Großkapitel den damals herrschenden Auffassungen von Mode, Körperästhetik und Geschlechtlichkeit gewidmet ist, wird es – neben Frauen- und Modegeschichte – noch einen anderen Teilbereich der Geschichtswissenschaften streifen, nämlich die Geschlechtergeschichte. Kern des dritten, werkorientierten Teils dieser Arbeit ist, in Form eines umfangreichen Bildkorpus, das Portrait à la mode. Ausschlaggebend für die Zusammenstellung waren das Motiv, ergo das Modell, die Originalität und Qualität, das Entstehungsjahr und, in einigen Fällen, auch der/die ausführende Künstler/-in. Dahinter steht der Gedanke, dass dem heutigen Publikum zwar viele Positionen der École de Paris längst vertraut sind – dank kontinuierlicher, öffentlichkeitswirksamer Ausstellungen und Auktionen zu z. B. Manet, Picasso, Matisse oder Modigliani, während andere Künstler/-innen wieder in Vergessenheit geraten oder noch gar nicht publik geworden sind. Sie wurden

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Forschungsstand

genauso wie das Figurenbild früher sehr viel mehr honoriert als heute. Diese Diskrepanz soll – parallel zur Bildanalyse – anhand einer systematischen Kritik von Literatur und Quellen aus Pariser Beständen aufgezeigt werden. Die Bildanalyse selbst setzt um 1890 an und endet mit Werken um 1930; sie folgt der Chronologie und demnach der zeitgenössischen Kunstentwicklung.

Forschungsstand Eine fundierte kunstwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Portrait à la mode in der hier definierten Form steht bis dato noch aus. Wohl gibt es im französischen, im deutschen und englischen Sprachraum Publikationen über das moderne, weibliche Figurenbild  – zu nennen sind hier der in Paris lebende, rumänische Kunsthistoriker Gabriel Badea-Păun mit Portraits de Société12, die bereits erwähnte Petra Kreuder mit Die bewegte Frau13 sowie Tamar Garb mit The painted Face. Portraits of Women in France 1814 – 191414  –, doch wurde das Portrait à la mode dabei meist nur oberflächlich gestreift: Badea-Păun, dessen Buch die Arbeiten sogenannter Peintres mondains vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg behandelt, folglich die meisten Berührungspunkte mit dem Portrait à la mode aufweist, konzentriert sich auf sozio-ökonomische Aspekte und bezieht dabei nicht nur die französische, sondern die gesamte westeuropäische und nordamerikanische Produktion ein.15 Ebenfalls nur als Teilaspekt begegnet das Portrait à la mode bzw. begegnen dessen Vorläufer in Die bewegte Frau. Weibliche Ganzfigurenbildnisse in Bewegung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Hier wird, neben der Mode, vor allem die Flânerie, also das Flanieren, zur „Modernitätsformel“16 der Parisienne à la Manet deklariert. Unterdessen fanden jüngere Positionen, welche die spannende Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung des Porträts im 20. Jahrhundert illustrieren, keinen Eingang in Kreuders Buch. Auf englischer Seite gelang es Tamar Garb, Professorin für Kunstgeschichte am UCL, die Modernität der Pariser Porträtist/-innen – und damit verbunden die zeitgenössische Wahrnehmung von Feminität – aufzuzeigen. Leider beschränkt sich ihre bemerkenswert akribische Bildanalyse auf gerade einmal sechs kanonische Werke von Künstler/-innen, die innerhalb der Moderne ohnehin unbestritten bedeutend sind.17 Ergänzend zu diesen jungen Forschungsergebnissen können ältere Standardwerke zur Porträtkunst, etwa von Gottfried Böhm oder Andreas Beyer,18 ebenso herangezogen werden wie zeitgenössische Autoren, namentlich Armand Dayot. 1899 veröffentlichte

  Badea-Păun 2007.   Kreuder 2008. 14   Garb 2007. 15   Besagte Ansatzpunkte finden sich in den Kapiteln „La Belle Époque, l’apogée d’un genre“, 132 – 175, und „Le désaveu“, 176 – 213. 16   Vgl. die Kapitel „Die Pariserin. Mode als Modernitätsformel“, 213 – 215, „Die Pariserin. Bewegung als Modernitätsformel“, 215 – 218, und „Die Flaneuse“, 218 – 226. 17  Im Einzelnen sind dies Jean-Auguste-Dominiques Ingres, Éduard Manet, Mary Cassatt (als einzige Künstlerin), Paul Cézanne, Pablo Picasso und Henri Matisse. 18   Z. B. Boehm 1985; Beyer 2002; Busch (Hg.) 2010. 12 13

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Einleitung

dieser in Paris das Opus L’Image de la Femme. De l’Antiquité jusqu’à nos Jours.19 Doch auch dort begegnet einem die Problematik, dass das Porträt gemeinhin als Genre des 19. Jahrhunderts gilt,20 das mit der Avantgarde förmlich unterzugehen scheint. Aus diesem Grund nähert man sich dem Portrait à la mode am besten auf Umwegen  – über seine diversen Teilgebiete. So lieferten z. B. Sabine Denuelle,21 Christine Bard22 und Julia Drost mit ihrer ausgezeichneten literaturwissenschaftlichen Promotion über die Garçonne, La Garçonne – Wandlungen einer literarischen Figur23, nützliche Erkenntnisse zu den verschiedenen, im Portrait à la mode verborgenen Frauenbildern. Aber auch ältere kulturhistorische Publikationen wie La Femme aux Temps des Années folles24 von Dominique Desanti oder Entre-deux-guerres25, herausgegeben von Olivier Barrot und Pascal Ory, gewähren gute Einblicke in die Vergangenheit und zelebrieren zudem das oben erwähnte, ganzheitliche Kunstverständnis: Notre objet est la création, toute. Les beaux-arts, certes, ainsi qu’on les qualifiait alors, littérature, musique, peinture, ballet, théâtre, architecture ; également, les disciplines périphériques, arts décoratifs, ­affiche, photographie, chanson, haute couture ; la presse, écrite, parlée, illustrée ; les sciences humaines et les loisirs, le sport et la cuisine, l’automobile et l’avion.26

Zudem sind aus der Periode der Années folles einige wertvolle Dokumente erhalten, aus denen exemplarisch die zeitgenössische Sicht auf bestimmte Frauenbilder hervorgeht. Cécile Jéglot etwa verfasste gegen Ende der zwanziger Jahre eine Reihe moralischer Texte über die Jeune Fille,27 und in La Femme émancipée28 ließ Fernand Divoire mehrere weibliche Autoren zu der damals stark umstrittenen Emanzipationsbewegung zu Wort kommen. Solche Zeugnisse transportieren nicht zuletzt den damals herrschenden Dualismus: auf der einen Seite ein demonstrativ freizügiges Gebaren, auf der anderen Seite eine streng konservative Denkweise. Wie ein Stimmungsbarometer offenbaren sie soziale oder geistige Bewegungen, die für diese Epoche – und damit für die Kunst – prägend waren. Auf dem Feld der deutschen Geschlechterforschung stechen Werke wie das Perio­dikum Querelles29 mit einschlägigen Beiträgen zu historischen Frauen- und Männerrollen oder auch der kürzlich erschienene Sammelband Der Dandy. Ein kulturhistorisches Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts30 heraus. Geisteswissenschaftlich betrachtet sind demnach also weder die Garçonne noch der Dandy ein unbeschriebenes Blatt. Und obwohl sich unter Künstler/-innen ebenso wie unter Modellen der Portraits à la mode das eine oder andere Exempel befindet, mangelt es bisher doch an Versuchen, die Ergeb  Dayot 1899.   Vgl. Beyer 2002, 19. Jahrhundert. Das bürgerliche Porträt, 291 – 320. 21   Denuelle 2011. 22   Bard 1997 und 1998. 23   Drost 2003. Die Autorin ging neben der Romangestalt insbesondere auf die breite, gesellschaftliche und kulturelle Wirkung der Garçonne ein, verursacht durch deren Transfer in diverse Medien. 24   Desanti 1984. 25   Barrot/Ory (Hg.) 1990. 26   Ebda., 8. 27   Jéglot 1928 und 1929. 28   Divoire (Hg.) 1927. 29   Z. B. Bock/Alfermann 1999(=Querelles, 4); Bung/Zimmermann 2006(=Querelles, 11). 30   Ludewig et al. (Hg.) 2013. 19 20

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Forschungsstand

nisse von Kulturhistorikern und Geschlechterforschern gezielt auf die Porträtkunst anzuwenden. Eingangs klang bereits an, dass diese Arbeit u. a. beleuchten soll, wie sich die Damenmode und damit einhergehend das weibliche Körperbild im Entre deux Guerres wandelten. Dieser spezielle Forschungszweig ist hierzulande erfreulicherweise stark repräsentiert, namentlich dank der Modeexpertinnen Ingrid Loschek und Gertrud Lehnert. Gemäß dem Credo, dass Mode mehr als bloße Kleidung ist, beziehen sich die interdisziplinären Forschungen der beiden auf soziologische, geschlechtliche, artifizielle und theatrale Komponenten von Mode und zeigen dabei deren identitätsstiftende Rolle auf.31 So prägte Lehnert beispielsweise den Begriff des „modischen Körper[s]“32, dem sie plastische, ja sogar illusionistische Qualitäten zusprach: [Die Frau] ihrerseits kann sich in ihrer Kleidung entweder zur Schau stellen oder sich im Gegenteil darin verstecken; das hängt ganz davon ab, wie sie die formende und umhüllende Kleidung interpretiert und benutzt: als Fiktion des Körpers, der sie nicht ist, oder als Ausdruck des Körpers, der sie ist.33

Lehnerts Theorie lässt sich gewiss auch auf die Mode der Gegenwart oder Zukunft beziehen, insbesondere aber gilt sie für historische Moden wie das Korsett oder die Mode à la garçonne. Insofern verspricht sie gerade der Untersuchung des weiblichen Körperund Figurenbildes wertvolle Anregungen zu geben. Besonders viel Raum wird in dieser Arbeit dem Wirken und der Rezeption von Künstlerinnen zuteil, da für sie im Paris des frühen 20. Jahrhunderts ein neues Zeitalter anbrach.34 Ihre Lebensgeschichte(n) niederzuschreiben, um sie der Vergessenheit zu entreißen, übernahm, zumindest partiell, die seit den 1970er-Jahren aktive feministische Kunstwissenschaft.35 Wegweisende Essays und Monografien, wie Why have there been no great Women Artists? (1971) von Linda Nochlin, Old Mistresses von Griselda Pollock und Rozsika Parker (1981) oder auch Whitney Chadwicks Women, Art and Society (1990) mündeten schließlich in eine weit gestreute Beschäftigung mit Kunst von Frauen, auch und vor allem mit der weiblichen Avantgarde in Paris. So behandelte etwa Gillian Perry als eine der Ersten die Künstlerinnen Émilie Charmy, Jacqueline Marval, Alice Halicka und Marevna Vorobev in ihrer Publikation Women Artists and the Parisian Avant-garde: Modernism and ‘Feminine’ Art, 1900 to the late 1920s36. Einige Jahre später zog mit geballter Kraft die französische Kunstgeschichtsschreibung nach: In zwei exemplarischen, wissenschaftlich begleiteten Ausstellungen, Elles de Montparnasse (2002), gefolgt von Elles@ centrepompidou (2009), widmeten sich u. a. Sylvie Buisson und Cathérine Gonnard den in der französischen Hauptstadt wirkenden „Femmes Artistes“37. Hinzu kamen diverse   Lehnert 1997, 1998, 1999 und 2013; Loschek 1984, 1994 und 2007.   Lehnert in Antoni-Komar (Hg.) 2001, 126. 33   Ebda., 131. Diese These wurde von der Autorin selbst mehrmals wieder aufgegriffen und ausgeführt, u. a. in Lehnert 2013, Kapitel 2: Körper & Kleid, insbes. Fokus 4 und 5, 67 ff. 34   „Dans les ateliers, une nouvelle époque allait naître où les femmes ne reviendraient plus en arrière. La guerre les avait affranchies.“, Buisson (Hg.) 2002, o. S. 35   Als treibende Kräfte sind hier Linda Nochlin als Initiatorin, Griselda Pollock und Rozsika Parker, Gillian Perry, Whitney Chadwick, Bridget Elliott und Jo-Ann Wallace zu nennen. 36   Perry 1995; vgl. auch Perry in dies. (Hg.) 1999. 37   Gonnard: Les Femmes Artistes et les institutions avant 1950, in: Elles@centrepompidou, Ausst-Kat. 2009, 286 – 289. Vgl. dazu auch Gonnard/Lebovici 2007. 31 32

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Einleitung

Veröffentlichungen der unter Michelle Perrot promovierten Marie-Josèphe Bonnet, die als Historikerin zunächst die Geschichte weiblicher Homosexualität erforschte,38 bevor sie sich mit der diffizilen Frage befasste: Qu’est-ce que les Femmes ont apporté à l’Art?39. Ebenfalls feministisch gefärbt ist die Dissertation von Marlène Gossmann mit dem Titel Artistes femmes à Paris dans les Années vingt et trente du XXe Siècle40. Darin kommen individuelle Lebensläufe ebenso zur Sprache wie die Entwicklung der Künstlerinnenbewegung insgesamt; das Fazit der Autorin fällt allerdings recht oberflächlich und stark verallgemeinernd aus.41 Während sich jüngere Studien also häufig durch eine feministische und generalisierende Tendenz auszeichnen, die unbedingt erkannt, hinterfragt und gegebenenfalls korrigiert werden muss, schlagen ältere, männliche Autoren wiederum eine frauenfeindliche Richtung ein. Angefangen bei La Femme dans l’Art42 von 1897 bis hin zu dem gut vierzig Jahre jüngeren Werk La Femme dans la Peinture française XVe – XXe Siècle43 stilisieren diese Bücher „la Femme“44 vor allem zur Muse, ohne jedoch die aktive weibliche Rolle einer „créatrice d’art“45 anzuerkennen. Einen Höhepunkt erreichte die antifeministische Geschichtsschreibung am Ende der 1920er-Jahre, zu einer Zeit, in der außergewöhnlich viele Künstlerinnen emporkamen. Zeitgleich mit Die Frau als Künstlerin (1928), worin der Deutsche Hans Hildebrandt seinen berühmten Gedanken von der „zweite[n] Stimme im Orchester“46 formulierte, erschienen damals in Frankreich zwei Werke mit demselben Tenor: Les grands Maîtres du XVIIIe Siècle et leurs Reflets féminins47 (1927) von Edmond Pilon und im Jahr darauf der eingangs erwähnte Beitrag Déonnas zum Thema Art et Société. La Femme dans l’Art48. Aus der pauschalen Aussage, die Frau sei per se nicht fähig, Neues zu kreieren, erklärt sich das vermeintliche Nicht-vorhanden-Sein  – bzw. die vermeintliche Minderheit  – namhafter weiblicher Künstler. Tatsächlich zählten zur École de Paris aber, wie man heute weiß, mehrere Frauen und Künstlerpaare. Mittlerweile ist der École de Paris ein eigenes Forschungsfeld im Bereich der französischen Geschichts- und Politikwissenschaft zuteilgeworden, vertreten durch Laurence Bertrand Dorléac,49 Professorin am renommierten Pariser IEP, sowie durch Sophie Krebs, die ebendort 2009 unter dem Titel L’École de Paris. Une Invention de la Critique d’Art des Années vingt50 eine umfassende und gründlich recherchierte Doktorarbeit vorlegte. Das eigentliche Schlüsselwerk zur École de Paris lieferte allerdings ein   Bonnet 1998 und 2001.   Bonnet 2004 und 2006. 40   Gossmann 2006. 41   „Cette étude a permis de mêler les expériences de ces femmes artistes. Comme on peut le voir, leur peinture se développe dans des directions variées. Tous ces exemples prouvent que le regard féminin, scrutateur, peut être critique et créateur. Dans toutes leurs individualités, ces artistes donnent à voir une création féminine plurielle constituée de facettes multiples.“, ebda. 301. 42   Vachon 1893. 43   Robiquet 1938. 44   Vgl. z. B. das Schlusswort des Autors, Vachon 1893, 600. 45   Déonna 1928, 274; vgl. dazu auch ebda., 276 f. 46   Hildebrandt 1928, 109. 47   Pilon 1927. 48   Déonna 1928. 49   Dorléac 1995 – 1996. 50   Krebs 2009. 38 39

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Forschungsstand

Zeitzeuge, nämlich der Kunstkritiker André Warnod, mit Berceaux de la jeune Peinture51 aus dem Jahr 1925. Wie andere bekannte Chronisten zeichnete Warnod darin ein außergewöhnlich authentisches Bild von der Kunstszene in Montmartre und Montparnasse52. Im Diskurs um die École de Paris, aber auch hinsichtlich des Portrait à la mode ist die Bedeutung der Primärliteratur bzw. Erinnerungsliteratur insofern auf keinen Fall zu vernachlässigen. Nicht nur gewährt sie einen interessanten Einblick in die Vergangenheit – sie kann außerdem als verlässliche Informationsquelle oder, wenn nötig, sogar als Korrektiv der Kunstgeschichtsschreibung dienen.

  Warnod 1925.   Vgl. auch Carco 1944; Georges-Michel 1954; Salmon 1955.

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Nommer, c’est faire exister – Die Genese der École de Paris

Alte und neue Definitionsansätze So gebräuchlich der Begriff École de Paris auch ist, so heterogen fielen doch – selbst von wissenschaftlicher Seite – seine Definitionen aus. Konsultiert man etwa zwei der größten deutschsprachigen Referenzwerke, Seemanns Lexikon der Kunst und den Brockhaus Kunst, drängen sich Zweifel darüber auf, ob die sogenannte Pariser Schule überhaupt definierbar und datierbar ist. Während der eine Titel nämlich konkret von einer „[…] Bezeichnung für die Pariser künstler. avantgardist. Szene von 1901 – 1924 […]“ spricht, welche „[…] vornehmlich die in Paris, im ‚Nervenzentrum der europäischen Malerei‘ ansässig gewordenen ausländ. Künstler […]“1 betrifft, appliziert der Brockhaus den Begriff zunächst auf „[…] Maler verschiedener Nationalität, die erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und bis etwa 1960 in Paris tätig waren.“2 In Frankreich editierte Lexika – genannt seien das Dictionnaire international des Arts sowie das Dictionnaire de l’Art moderne et contemporain – definierten die École de Paris als eine Gemeinschaft von primär nicht-französischen Kunstschaffenden, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Montmartre bzw. Montparnasse einfanden.3 Damit konformgehend sah auch der Amerikaner George Heard Hamilton die in der Pariser Kunstszene herrschende Internationalität als maßgebliches Kriterium der École de Paris an: „[…] the term signifies not so much the continuation of French art […] as it does the presence in Paris after 1900 of painters and sculptors from almost every civilized country of the globe.“4 heißt es in seinem Nachschlagewerk Painting and Sculpture in Europe, 1880 – 1940. Jene Maler/-innen und Bildhauer/-innen also, die es aus aller Welt ins künstlerisch und intellektuell vibrierende Paris zog, wurden, diesseits wie jenseits kunsthistorischer Fachkreise, angeführt, sobald es um die École de Paris ging.5 Indes: Der Kunstliterat André Warnod, der diesen Terminus als einer der Ersten gebrauchte, definierte hiermit nicht notgedrungen – und schon gar nicht exklusiv – die ausländischen Kunsteinwanderer. In

  Lemma: École de Paris, in: Olbrich/Strauss (Hg.) 1989, 259.   Lemma: École de Paris, in: Bambach-Horst (Hg.) 2006, 209. 3   Vgl. Lemma: École de Paris, in: Cabanne (Hg.) 1979, 1010 – 1012; Lemma: École de Paris, in Durozoi (Hg.) 2002, 222 f. 4   Hamilton 1993, 425. 5   Vgl. diesbezüglich auch Gindertael 1960, 36. Der Autor ist ebenfalls der Auffassung, dass ursprünglich nur die immigrierten Künstler/-innen in Abgrenzung zu den einheimischen als École de Paris bezeichnet werden. 1 2

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Nommer, c’est faire exister – Die Genese der École de Paris

zwei Artikeln, die 1925 in der Wochenzeitung Comœdia6 erschienen,7 honorierte er mehr das gesamte, sich außerhalb der Institutionen abspielende Kunstschaffen in Paris.8 Freilich zählten dazu Persönlichkeiten wie Pablo Picasso, Jules Pascin, Marc Chagall, Kees van Dongen oder Amedeo Modigliani. Sie stellte Warnod den Einheimischen André Derain, Maurice de Vlaminck, Raoul Dufy, Luc-Albert Moreau, André Lhote, Dunoyer de Segonzac etc. gleichberechtigt zur Seite: Mais à côté de ces artistes français, et travaillant dans le même sens, apparaissent des étrangers qui se sont formés en France et affirment ainsi d’une façon absolue l’existence de l’Ecole de Paris avec ceux qui ne font que passer et que des raisons affectives retiennent seules chez eux.9

Den Ausschlag für Warnods Verständnis von der École de Paris gab aber in erster Linie deren Status abseits des Establishments, d. h. abseits der Société des Artistes Français, des Institut de France, der École nationale supérieure des Beaux-Arts sowie der offiziellen ­Salon-Malerei.10 In Analogie hierzu hatte schon 1922 André Salmon von „l’école des grands reformateurs de ce siècle“11 gesprochen und Roger Fry 1924 die unakademische, individuelle Ausrichtung der „artistes d’aujourd’hui“12 lobend erwähnt. Doch die definitive Ernennung erfolgte erst im Januar 1925, als Warnod von einer „école de Paris“13, kurz darauf dann von der „École de Paris“14 sprach. Aus der Defensive und dem Individualismus der Pariser Künstler/-innen entstanden, Warnod zufolge, jene Attribute, die ihre Gültigkeit bis heute bewahrt haben: Unabhängigkeit nebst absoluter künstlerischer Freiheit. „Mais quoi! Chaque école a son caractère propre. Un des titres de gloire de l’Ecole de Paris sera peut-être justement de s’être développée dans la bataille, en gardant toute son indépendance, toute sa liberté.“15 Ihre Kunst widerspräche in ihrem Gehalt und Stil notgedrungen dem noch regierenden Akademismus und speise sich aus der jeweils eigenen ästhetischen Vorstellung ihrer Urheber bzw. aus den gegenwärtigen Tendenzen: „Quelle puissance occulte donne un privilège à l’art académique qui ne représente plus rien des tentatives aujourd’hui, qui va à l’encontre de tout ce qui fait la vie de l’art français, tout ce qui contribue à faire de l’école de Paris la première du monde.“16   6  Bei Comœdia, der Zeitung, für die Warnod ab März 1909 als Kolumnist tätig war, handelte es sich eigentlich um eine Theater- bzw. Boulevardzeitung; doch ihr Herausgeber Gaston de Pawlowski berücksichtigte genauso die Bildenden Künste, die Literatur und Poesie, die von Experten rezensiert wurden. Dem Kunstressort stand z. B. Arsène Alexandre vor, dem Theaterressort Léon Blum. Vgl. Warnod 1955a, 96 – 101.  7   Die betreffenden Artikel trugen die Überschriften „L’État et l’art vivant“ (04. 01. 1925) und „L’Ecole de Paris“ (27. 01. 1925), sie erschienen jeweils auf der „Une“, der ersten Seite der Zeitschrift. Beide Texte sind – ins Deutsche übertragen – im Anhang dieser Arbeit zu finden.  8   Noch im selben Jahr stellte Warnod seine Aussagen als Vorwort der Monografie Les Berceaux de la jeune Peinture voran. Hier und im Folgenden vgl. soweit nicht anders vermerkt Warnod 1925, 7 – 11.  9   Ebda., 10. 10   Vgl. ebda. 11   Salmon 1922, 218. 12   Fry 1924, 141. 13   Warnod 04. 01. 1925, 1. 14   Warnod 27. 01. 1925, 1. Erst hier verwendete Warnod – im Unterschied zum Artikel vom 4. Januar – École de Paris großgeschrieben als Eigenname. 15   Warnod 1925, 11. 16   Warnod 04. 01. 1925, 1.

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Alte und neue Definitionsansätze

Auf die betonte Lebendigkeit und institutionelle Unabhängigkeit der neuen Kunst spielten noch weitere französische Schriftsteller an: André Salmon rief für das 20. Jahrhundert den Art vivant aus, im Sinne einer „leçon de vie et de liberté“17, und antizipierte Warnod, als er schrieb: C’est l’art académique, au contraire, qui stérilise (il ne les cristallise même pas) les forces particulières, individuelles, sans jamais atteindre à quelque art européen, lequel réclamerait au moins un don authentique d’humanité dont nos indigents officiels sont singulièrement dépourvus.18

An seiner Seite verfochten Gustave Coquiot und Florent Fels eine sinngleiche, ebenfalls unabhängige Jeune Peinture bzw. einen Art indépendant.19 Keiner dieser Termini insinuierte dabei einen spezifisch internationalen oder gar einen nicht-französischen Charakter der Kunstbewegung. Die École de Paris, dergestalt wie Warnod sie 1925 vor Augen hatte, ist daher nicht unbedingt synonym, wohl aber im Kontext solcher Stilbezeichnungen zu begreifen.20 Ihre originale Bedeutung wäre damit allgemeiner, und eventuell unverfänglicher,21 als diejenige, die Warnod und seine Nachfolger vorsahen und die nicht zuletzt mit nationalen Kategorien zusammenhing. Unabhängig davon ist hervorzuheben, dass die École de Paris erst durch ihre namentliche Erwähnung, sozusagen ihre Taufe, eine Existenzberechtigung im öffentlichen Diskurs erhielt. „Nommer, c’est faire exister“22, wie es die Autorin Gladys Fabre in dem Essay Qu’est-ce que l’École de Paris? auf den Punkt brachte. Ebenso sollte man sich der Flexibilität vergewissern, die von Beginn an den Begriff École de Paris markierte und ihn in der Konsequenz manipulierbar machte.23 So wirkten Ausstellungen in Kunstinstituten, Debatten in Ateliers, Galerien und Cafés sowie deren Niederschlag in Zeitschriften und Zeitungen, dazu Recherchen und Manifeste von Künstlern, Literaten, Philosophen gemeinsam am Konstrukt der École de Paris mit.24 Vor diesem Hintergrund entwickelte man die Hypothese, dass es sich lediglich um das Ergebnis eines Wortgefechts, letzten Endes um eine Fiktion handele, die im Verlauf ihrer Geschichte beliebig konstruiert, rekons­truiert und dekonstruiert wurde.25 Natürlich spielten, wie weiter unten zu sehen sein wird, Autoritäten wie Presse, Stadtverwaltung und Museen eine erhebliche Rolle in dem Diskurs um die École de ­Paris, etwa wenn sie zu bestimmten Zeiten über deren Mitglieder – und folglich Prägung – entschieden. Dem praktischen Teil dieser Arbeit wird jedoch die ursprüngliche und authentische Definition der École de Paris aus dem Jahr 1925 zugrunde gelegt. Ihre positiven Merkmale, nämlich ihre stilistische Vielfalt, Internationalität sowie Unabhän-

17   Salmon 1920, 16. Warnod selbst verwendete diesen Begriff in sinngemäßer Entsprechung zur École de Paris, vgl. Warnod 1925, 11. 18   Salmon 1920, 17. 19   Coquiot 1921; Fels 1950. Bei Fels heißt es z. B. „L’art ne vit que d’indépendance.“, ebda., 113. 20   Lydia Harambourg setzte die École de Paris ebenfalls in direkten Zusammenhang mit der Moderne und dem Art vivant. Vgl. Harambourg 1993, 8. 21   Vgl. Dorléac 1995 – 1996, 252. 22   Fabre in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 25. 23   „Le mot est lancé pour longtemps, même si le contenu est encore à définir.“, Krebs 2009, 12. 24   Vgl. Adamson in Chevrefils Desbiolles/Froissart Pezone (Hg.) 2011, 137 – 153, insbes. 138 f. und 153. 25   Vgl. ebda., 138 f.

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Nommer, c’est faire exister – Die Genese der École de Paris

gigkeit vom „art académique“26, sind dann nicht nur auf Künstler/-innen, sondern auch und insbesondere auf Werke der École de Paris, auf die Portraits à la mode, zu beziehen.

Erste und zweite École de Paris Die École de Paris, wie sie sich im kunsthistorischen Rückblick darstellt, sollte in erster Linie als loser, in Paris ansässiger Verbund von Künstler/-innen unterschiedlicher Nationalitäten und stilistischer Ausprägungen aufgefasst werden. Dabei war und ist seine Dimen­sion noch immer unmöglich zu beziffern: 1925 veranschlagte Louis Vauxcelles beispielweise „28 000 citoyens venus du monde entier avec le pouce dans la palette“27, während ein späterer Publizist nur noch von „plusieurs centaines, certainement et allons jusqu’à millier“28 sprach.29 Genausowenig lässt sich eine präzise Zeitspanne definieren, die als Schaffenszeit der École de Paris gelten könnte. Erik Stephan lokalisierte sie bereits im 19. Jahrhundert;30 George Heard Hamilton machte die gleichermaßen grobe Angabe „after 1900“31. Diese allerdings stimmt zumindest mit der Einschätzung Warnods überein, demzufolge sich die École de Paris nämlich frühestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete.32 Erst vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914 fand sich in der Tat das Gros der internationalen Künstler/-innen in Paris ein.33 Weitere Ströme von Kunsteinwanderern, speziell von Flüchtlingen aus Zentral- und Osteuropa, folgten dann erneut nach 1918.34 Giulio Argan, Autor der Propyläen Kunstgeschichte, verortete die École de Paris nicht minder vage als Stephan oder Hamilton in der gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.35 Heute, drei Jahrzehnte nachdem Argan seine „Kunst des 20. Jahrhunderts“ verfasste, steht außer Frage, dass die Glanzzeit der École de Paris nicht erst mit dem Zweiten Weltkrieg, sondern bereits während der dreißiger Jahre zu Ende ging. Denn schon die politischen und ökonomischen Umbrüche von 1929 bedingten ein Auseinanderdriften der betreffenden Pariser Künstler/-innen, bevor deren Bewegung mit der Eröffnung des Musée du Jeu de Paume 1932 auch offiziell ihr Ende fand.36   Warnod 04. 01. 1925, 1.   Vauxcelles: L’Année artistique, in: L’Éclair (04. 01. 1925), zitiert nach Krebs 2009, 224. 28   Limbour 1957, 59. 29   Ein Grund für diese Wissenslücke ist, dass man bisher kaum der Frage nachging, wie viele Künstler/-innen sich z. B. zwischen 1900 und 1930 in Paris einfanden. In der Immigrationsforschung werden entsprechende Zahlen leider unabhängig vom Beruf der Einwanderer erhoben. 30   Vgl. Stephan: École de Paris, in: Von Renoir bis Picasso, Ausst.-Kat. 2011, 121. Zwar beherbergte Paris um 1890 schon zahlreiche aus dem Ausland kommende Künstler/-innen, z. B. Van Gogh. Doch man rezipierte mehrheitlich die Qualitäten französischer Kunst und befand sich weniger in einem veritablen, wechselseitigen Austausch mit den Franzosen. Diese Argumentation führte auch Dorival an, der es strikt ablehnte, für den Zeitraum vor 1900 von einer École de Paris zu sprechen, vgl. Dorival 1961, 10 f. 31   Hamilton 1993, 425. 32   „Toutes ces forces vives, qui donnent à l’École de Paris, […] sa signification, ont commencé à se manifester au commencement de ce siècle.“, Warnod 1925, 11. 33   Vgl. dazu die „Carte des lieux d’origine d’artistes arrivés à Paris avant 1930“ in Dorléac 1995 – 1996, o. S.; die genannte Karte befindet sich am Ende des Beitrags. 34   Vgl. ebda. 35   Vgl. Argan 1984, 18. 36   Vgl. Krebs 2009, 20. Vgl. auch Raynal/Tériade in: L’Intransigeant (15. 03. 1932), 6. 26 27

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Erste und zweite École de Paris

Es  folgten die Jahre des Zweiten Weltkrieges, geprägt von der Besatzung durch deutsche Truppen, der Konfiszierung moderner Kunst, vom Exil zahlloser Künstler/-innen, Kunsthändler/-innen und Intellektueller. Zwar könnte man einwenden, dass die französische Hauptstadt aufgrund der restriktiven nationalsozialistischen Politik der Deutschen abermals einen Schwung Emigranten empfing und so zumindest bis 1940 ihre Stellung als Kunstmittelpunkt Europas beibehielt,37 doch angesichts der sich politisch zuspitzenden Lage überwogen in der Weimarer Republik die Push-Faktoren gewiss vor den Pull-Faktoren, die ursprünglich von Paris, genauer von Montmartre oder Montparnasse, ausgegangen waren. Vor allem aber bedeutet der Moment, in dem eine vermeintlich inoffizielle Avantgardekunst in offiziellen Museumsbesitz übergeht, zwangsläufig einen Markstein in deren Entwicklung. Ebendaher erscheint die Datierung der École de Paris auf die Jahre vor 1932 – wie von Sophie Krebs in ihrer Dissertation vorgeschlagen – nicht nur genauer als andere Datierungsversuche, sondern auch historisch legitimiert.38 Wenn gelegentlich das Label École de Paris auf die ganze erste Jahrhunderthälfte, bisweilen sogar auf das komplette 20. Jahrhundert projiziert wurde,39 dann auch, weil im Nachhinein eine klare Abgrenzung zur neuen École de Paris ausblieb. Stattdessen wollte man um die Mitte des Jahrhunderts einen fließenden Übergang von der einen zur anderen Gruppierung beobachten: Bien entendu, les générations se chevauchent, il n’y a pas de délimitation précise entre ces deux phases de l’Ecole de Paris. Plusieurs des grands maîtres de l’entre-deux-guerres sont encore vivants, et Picasso est sûrement l’un des plus jeunes artistes de l’Ecole de Paris.40

Außer Frage steht, dass das moderne Paris ununterbrochen und selbst zu Kriegszeiten Schauplatz einer produktiven wie global einflussreichen Künstlerschar war. Doch ihre Produktivität begann, wie soeben erwähnt, bereits vor der Occupation zu stagnieren; auswärtigen Kunstschaffenden wurde kurzzeitig sogar der Eintritt in die École de Paris versagt,41 bevor man nach der Libération schließlich die neue, jüngere Ausgabe willkommen hieß.42 Eine zweite Generation, ein neu erweckter Geist waren in der Stadt spürbar, die bedeutsamen Galerien hießen nun Galerie de Babylone, Galerie Cravan und Galerie Charpentier, die wichtigen Künstler „Manessier, Pignon, Bazaine, Hartung, Soulages, Schneider, Atlan, Poliakoff, Deyrolle, Vieira da Silva, Estève, etc.“43. Zur neuen École de Paris zählte neben älteren Vertretern, die in den Jahren vor 1914 geboren wurden, also eine ganz junge Künstlergeneration, angefangen bei dem zitierten Pierre Soulages (* 1919).44 Sie reanimierte ab 1946 den modernen Pariser Kunstbetrieb, während dieser   Vgl. Dorival 1962, 14.   Vgl. Krebs 2009, 20. 39   „Für das 20. Jahrhundert wird von der École de Paris, der Pariser Schule, in dem gleichen Sinne gesprochen, in dem die Kunstwissenschaft Künstler/-innen und Werke älterer Epochen nach nationalen, regionalen oder lokalen Eigentümlichkeiten zu ordnen pflegt.“ Peter H. Feist: Pariser Kunstverhältnisse, in: Von Renoir bis Picasso, Ausst.-Kat. 2011, 11 – 16, 11. 40   Limbour 1957, 62. Vgl. hierzu auch die einschlägigen Ausstellungskataloge der Galerie Charpentier aus den fünfziger Jahren (École de Paris, Ausst.-Kat. 1954 – 1960). 41   Vgl. Dorléac 1995 – 1996, 268. 42   Im Rahmen einer 1946 in Bern stattfindenden Ausstellung wurde erstmalig nach dem Zweiten Weltkrieg wieder von École de Paris gesprochen, vgl. Meyer 1982, 138. Vgl. auch Francastel 1946, 13 – 17. 43   Ragon 1955, 17. Vgl. dazu auch Dorival 1962, 14. 44   Vgl. Meyer 1982, 139. 37 38

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Nommer, c’est faire exister – Die Genese der École de Paris

selbst weiterhin die erste École de Paris anpries: Erst recht auf internationaler Bühne reihten sich nun einschlägige Ausstellungen über die bekannten Protagonisten Chagall, Matisse oder Braque aneinander.45 Dennoch: Bei der Nouvelle École de Paris handelte es sich nicht mehr um dieselbe, sondern bereits um eine neue Künstlergemeinschaft,46 was allein schon ihre Neigung zur abstrakten, informellen Malerei belegt.47 Insofern grenzte sich die zweite sichtbar von der ersten École de Paris ab,48 bei gleichzeitiger Annäherung an die zeitgenössische New York School, von der man in Paris soeben überflügelt worden war.49 Diese jüngeren Künstler/-innen – „Jeune École de Paris“50 – blieben dabei deutlich kürzer als ihre Vorgänger, nämlich nur von 1945 bis etwa 1960, aktiv.51

Die Wiege des modernen Figurenbildes Da die École de Paris alle „in Paris lebenden und mit den Pariser Künstlerzirkeln verbundenen in- und ausländischen Künstler“52 einschloss, ist nicht zuletzt eine Spezifikation nach Namen fast unmöglich. Zwar kennt man namhafte Vertreter der künstlerisch avantgardistischen Szene wie die Franzosen Éduard Vuillard, Pierre Bonnard, Maurice de Vlaminck, Henri Matisse, André Derain, Georges Braque, Fernand Léger, Robert und Sonia Delaunay oder wie die Spanier Pablo Picasso, Juan Gris und Joan Miró, die Italiener Amedeo Modigliani und Giorgio de Chirico, den Russen Marc Chagall, den Litauer Chaïm Soutine, den Niederländer Kees van Dongen, den Rumänen Constantin Brancusi, den Schweizer Alberto Giacometti, den Japaner Tsuguharu Foujita, den Polen Moïse Kisling.53 Doch genau genommen zählte die École de Paris weitaus mehr Persönlichkeiten: Solche, die vor Ort schnell wieder in Vergessenheit gerieten, weil sie Paris vielleicht nur flüchtig durchquerten, die dafür aber jenes neue Wissen, das sie in der Kunstmetropole erlangt hatten, andernorts verbreiteten.54 Und schließlich könnte man noch diejenigen anführen, die selbst zwar keine Kunst herstellten, aber sie anderweitig zu ihrer Profession machten und lancierten: Mäzene wie Gertrude Stein, Sammler und 45   So zeigte etwa das MoMA in New York 1946 eine Chagall-Retrospektive, 1949 eine Braque-Ausstellung und 1951 eine Matisse-Retrospektive, vgl. Meyer 1982, 138. 46   „[…] la ‚première‘ École de Paris pour la différence d’une ‚seconde‘ (ou ‚nouvelle‘, ou ‚jeune‘), née pendant et après la guerre.“, Suzanne Pagé: Avant-propos, in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 17 – 20, 18. 47   Vgl. Bambach-Horst (Hg.) 2006, 209. 48   Zum Begriff „Zweite École de Paris“ vgl. Olbrich/Strauss (Hg.) 1989, 259. 49   Vgl. Durozoi (Hg.) 2002, 223. 50   Meyer 1982, 138. 51   Vgl. Olbrich/Strauss (Hg.) 1989, 259; Bambach-Horst (Hg.) 2006, 209. 52   Bambach-Horst (Hg.) 2006, 209. 53   Exemplarische Auswahl d. Verfasserin. Warnod benannte dabei vor allem französische Künstler/-innen, deren Namen heute kaum mehr bekannt sind, vgl. Warnod 1925, 9 f. 54   Die Redakteure der Kulturzeitschrift Montparnasse begriffen folgende Persönlichkeiten als „la plupart des talents symptomatiques de l’Ecole de Paris“, von denen über die Hälfte nicht-französischer Herkunft waren: „Bauchand, Maria Blanchard, Borès, Bosshard, Braque, Campigli, Clement, Czaky, Derain, Debercq, Dufy, Farkas, Fasini, Flouquet, Foujita, Gallibert, Gleizes, Gounaro, Gris, Gromaire, Halicka, Herbin, ­Joaquim, Laglenne, Laurens, Lahner, La Serna, Le Fauconnier, Léger, Lhote, Loutreuil, Lurçat, Marcoussis, Masereel, Masson, Matisse, Monteiro, Papazoff, Picasso, Rendon, Sandoz, Sénabre, Severini, Sterling, Survage, Valmier, Vlaminck, Vines, Zak.“, zitiert nach Krebs 2009, 376.

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Die Wiege des modernen Figurenbildes

Händler wie Daniel-Henry Kahnweiler, Kunstschriftsteller und Kritiker wie Guillaume Apollinaire, Dichter und Philosophen.55 Von Letzteren wurde die École de Paris meist mit Lobreden besungen, von den Romanciers in Geschichten verewigt und mythifiziert.56 Dies war ein traditionsreiches, auf Gegenseitigkeit beruhendes Geschäft – „Der Dichter besingt den Maler. Der Maler zeichnet den Dichter“57  – zwischen Künstler/-­ innen und Literaten.58 Namentlich André Salmon, Guillaume Apollinaire, Maurice Raynal, Blaise Cendrars und Max Jacob wechselten übergangsweise in die Rolle des Feuilletonisten, Redakteurs oder Herausgebers,59 um sich als solche zu rühmen, eine neue, seriöse Form der Kunstkritik in der Tradition Diderots und Baudelaires zu üben.60 Dabei verteidigten Raynal als erster Biograf Picassos oder Apollinaire als Verfasser des Essays Les Peintres cubistes über mehrere Jahre hinweg die junge, zeitgenössische Kunst.61 Nochmals mehr Persistenz bewies Salmon – in den Augen Nacentas „der letzte lebende Zeuge eines großartigen Abenteuers“62 –, da er vom Beginn bis zum Ende der École de Paris immer wieder den Schulterschluss mit deren Künstler/-innen suchte.63 Von den sehr ­engen Verbindungen mit literarischen Zirkeln zeugten Diskussionsrunden, Gemeinschaftsprojekte wie z. B. Ausstellungen und Publikationen.64 Hinzu kamen Porträts von u. a. Max Jacob, Jean Cocteau und Apollinaire, die in den Reihen der École de Paris entstanden, und diverse von Literaten verfasste Erinnerungen in Buchform.65 Ohne ebendieses  – mehrheitlich jüdische – Netzwerk, so der Kunsthistoriker Sepp Hiekisch-Picard, wäre „die enorme Anerkennung und Verbreitung dieser Kunst nicht vorstellbar“66 gewesen. Neben dem zeitgenössischen Diskurs und der Erinnerungsliteratur zur École de ­Paris ist jedoch vor allem deren Kunstproduktion zu befragen, um sich dem Portrait à la mode anzunähern: Gab es innerhalb der École de Paris überhaupt Stilmerkmale? Wurden gewisse Sujets und Genres anderen vorgezogen? Rekurrierte man auf gemeinsame Traditionen, Vorbilder, Meister? Oder ist – resultierend aus der bunt gemischten Schar – auch stilistisch von einem unüberschaubaren Potpourri auszugehen? Tatsächlich wurde dieser Zusammenhang im geschichtlichen Verlauf wiederholt thematisiert,67 und selbst 55   Eduardo Roditi nennt solche Persönlichkeiten „les véritables parrains de […] l’art de l’École de Paris“, siehe Roditi: Quand l’art français devient l’École de Paris, in: Ritter et al. 2000, 39 – 44, 42. 56   Vgl. hierzu Jacqueline Gojard: Au rendez-vous des poètes, in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 114 – 126; Krebs 2009, 16 f. 57   Franck 2011, 53. 58   Einzelne Beispiele siehe Gojard in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 116. 59   Vgl. Fabre in ebda. 2000, 29; Gojard in ebda., 120 – 122. 60   Vgl. Salmon 1922, 30 f. 61   Vgl. Nacenta 1959, 41 f. 62   Nacenta 1960, 62. 63   Vgl. ebda. 64   Vgl. dazu Nacenta 1959, 41 – 44; Gojard in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 114 – 126. 65   Internationale Berühmtheit erlangten etwa Propos d’artistes von Florent Fels (1925) und L’Ami des peintres von Francis Carco (1944). 66   Hiekisch-Picard 2003, 195. 67  Ein frühes, extremes und deshalb streitbares Beispiel gab der Kunstschriftsteller Waldemar George: „L’École de Paris est un répertoire aisément transmissible et accessible à tous. […] L’École de Paris, cet amalgame informe, est passible de transfiguration. Elle n’est passible d’aucun développement. Elle est régie par l’idée du progrès.“, George  Juni 1931, 92 f. Siehe dazu auch die Übersetzung im Anhang dieser Arbeit. Greenberg sprach später schlicht von „la peinture française moderne“, zitiert nach Dorléac 1995 – 1996, 251.

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die jüngste Forschung tut sich noch schwer damit, für die École de Paris eine treffende Stilbezeichnung zu finden: „[…], l’École de Paris consistait plutôt en une collectivité fantasmagorique sans origine clairement identifiable, sans titulaires permanents ni élèves dociles.“68 Als eine Gruppe aus Individualisten repräsentierte die École de Paris folglich ein reiches Repertoire moderner Kunst, das sich von den Ausläufern des Impressionismus über Expressionismus und Kubismus bis zu den Vorboten der abstrakten Malerei spannte, inklusive Unterkategorien wie Neo-Impressionismus, Fauvismus, Futurismus, Orphismus, Neo-Kubismus, Purismus, Neo-Realismus, Dada- und Surrealismus. Wie noch gezeigt werden wird, vertrat zudem kaum eine oder einer der Pariser Künstler/­innen nur einen Stil oder eine Ästhetik, und so behalf man sich damit, ihre Kunstproduktion zumindest zeitlich klar zu unterscheiden. Die zwei zentralen Jahrzehnte, 1910 – 1930, lassen sich demnach in drei Perioden auffächern: erstens die „Entstehung des Kubismus und Fauvismus“ vor 1914, hiernach die „Strömung der expressionist. Kunst und Koexistenz der Kunststile“ zwischen 1918 und 1924 und abschließend die „Verbreitung des Surrealismus“ nach 1925. 69 Ob und in welchem Maße der genannte Stilpluralismus auch im Unter­suchungs­ gegen­stand, dem Portrait à la mode, widerhallt, ist eine zentrale Frage dieser Arbeit und wird sich endgültig erst im Laufe der Bildanalyse herausstellen. Anzunehmen ist dies aber in jedem Fall, da die École de Paris eine klare Vorliebe für figurale – man könnte auch sagen: realitätsbezogene – Malerei auszeichnet.70 Die Mehrzahl ihrer Bilder konstituierte sich aus der Landschaft, dem Stillleben und Figurenbild, aus Gattungen also, die in der neuzeitlichen Kunsttradition des Abendlandes einen festen Platz einnehmen.71 Sicher gab es für die Hinwendung zur Porträtmalerei auch historische und wirtschaft­ liche Gründe, doch den Pariser Künstler/-innen, insbesondere den Frauen, schien sie zudem ein patentes Mittel zu bieten, ihre Umwelt, die herrschende Stimmung, Mode oder auch sich selbst zu reflektieren. Das Figurenbild bildete demnach ein Distinktionsmerkmal der École de Paris; schließlich war in der europäischen Kunst gerade die Abstraktion zur Vollendung gelangt, und dies nicht allein durch den als Vater der abstrakten Malerei gefeierten Kandinsky, sondern durch einen breiten, gemeinschaftlichen Impuls, der erst die russische und anschließend die deutsche Kunstszene erfasst hatte.72 „Ce qu’on devait, plus tard, appeler ‚l’abstraction‘ ne se manifestait guère à Paris, ou n’y re­ cevait encore qu’un accueil assez froid.“73 Die abstrakte Tendenz hatte in Paris zunächst also wenig Einfluss. Ganz anders der – nicht mit ihr gleichzusetzende – Kubismus, der um 1910 wiederum das Emblem einer französischen Avantgardekunst wurde und in Picasso seinen Hauptrepräsentanten 68   Adamson in Chevrefils Desbiolles/Froissart Pezone (Hg.) 2011, 138. Sophie Krebs wählte den bildhaften Ausdruck „no man’s land artistique“, Krebs 2009, 15. 69   Vgl. hierzu Olbrich/Strauss (Hg.) 1989, 259. 70   „L’École de Paris se construisit par l’affrontement entre l’art abstrait et les contre-traditions de la figuration et du réalisme. La représentation du réel était l’enjeu central, tant formel que politique, de la conceptualisation de cette ‚École‘.“, Adamson in Chevrefils Desbiolles/Froissart Pezone (Hg.) 2011, 143. 71   Vgl. Hamilton 1993, 426. 72   Vgl. Ragon 1957, 15 und 17. 73   Limbour 1957, 60.

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fand.74 Leider stiftet in dieser Hinsicht die Lektüre älterer Autoren, etwa von Maurice Raynal, einige Verwirrung. Er unterschied in seiner Anthologie de la Peinture en France de 1906 à nos Jours zwei künstlerische Lager: Naturalisten auf der einen und Idealisten auf der anderen Seite. Demzufolge gingen die Mitglieder der École de Paris mit dem natura­listischen Lager und die Kubisten mit der idealistischen Strömung konform.75 So betrachtet wäre eine Künstlergruppe, die gleichermaßen naturalistische und kubistische Werke hervorbrächte, ausgeschlossen. In der Retrospektive hat sich jedoch gezeigt, dass Vertreter der École de Paris sehr wohl beide Stile pflegten bzw. sie sogar fusionierten. Daraus entstand eine elegante, weil maßvolle, kubistische Kunst, deren Bildmotiv zwar teils facettiert und geometrisch aufgefasst wurde, dabei aber nicht vollends in der Abstraktion aufging. Im Speziellen tritt diese Form des Kubismus bei Jean Crotti, Alice Bailly, Marie Laurencin und Tamara de Lempicka zutage. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts korrigierte man immerhin die frühere, scharfe Trennung (Art vivant versus Kubisten) und setzte die École de Paris sogar mit dem Kubismus gleich.76 Doch auch diese Perspektive erscheint insofern verzerrt, da die École de Paris zu keinem Zeitpunkt nur kubistische Maler umfasste; der Kubismus war lediglich ein Stil mit transnationaler Ausstrahlung, der dieser Pariser Kunst weithin Geltung verschaffte: „[…], le premier mouve­ ment véritablement international qui ait brassé l’apport de la France avec celui d’autres pays, […].“77 Dem Gesagten zufolge liefern die Porträtmalerei und der Kubismus bzw. dessen Wegbereiter Paul Cézanne wichtige Determinanten, um die Kunstproduktion der École de Paris zu beschreiben. Cézanne, den Warnod zutreffend in die Riege impressionistischer Maler/-innen einordnete, habe den jüngeren Pariser Künstler/-innen ihren Weg gewiesen.78 Zudem müssten als Vorbilder Auguste Renoir, Claude Monet, Alfred Sisley, Edgar Degas, Henri de Toulouse-Lautrec oder Paul Gauguin genannt werden, die – obschon modern in ihrer Manier – merklich in der Nachfolge älterer französischer Meister stünden;79 des Weiteren das Atelier Gustave Moreau, dem auch Henri Matisse, George Rouault, Paul Signac und Félix Vallotton angehörten. Es fungierte in Warnods Augen als Schmiede einer jungen, revolutionären Malergeneration, die wiederum bedeutende Lehrer für die École de Paris hervorbrachte. Man sieht: Von den alten Meistern über die Impressionist/-innen hin zu den modernen Künstler/-innen zeichnete Warnod eine kontinuierliche Entwicklungslinie. Sie wird sich im weiteren Verlauf auch an den Portraits à la mode ablesen lassen, wenn diese etwa den Manierismus und das Rokoko oder die Künstler Jean-Auguste-Dominique Ingres und Jean-Honoré Fragonard zitieren. Auch besteht die Möglichkeit, das Pariser Künstlerkollektiv auf zwei ungleiche künstleri-

  Vgl. Hiekisch-Picard 2003, 195; Andral/Krebs 2000, Cubisme et cubisant, o. S.   „En principe, nous distinguerons d’un côté la tendance naturaliste, avec les efforts de la pléiade d’artistes que l’on pourrait également ranger sous la rubrique L’Art Vivant, préconisée par André Salmon et Florent Fels. Dans un camp opposé, nous reconnaîtrions l’Idéalisme parmi les efforts des Cubistes et de certains de leurs disciples.“, Raynal 1927, 10. 76   „On dirait aussi bien pour caractériser l’art du début du XXe siècle, l’École de Paris que le Cubisme.“, Francastel 1946, Le Cubisme et l‘École de Paris, 152 – 154, 153. 77   Dorival 1961, 11. 78   Vgl. Warnod 1925, 9. Vgl. auch Buisson 2012, 101. 79   Vgl. hier und im Folgenden Warnod 1925, 9 – 11. 74 75

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sche Linien zurückzuführen:80 einerseits „la grande lignée principale de la tradition française“81, deren Sukzession Renoir und die Impressionisten antraten, andererseits deren „charmante lignée adjacente plus facile“82, womit der Vertreter dieser Theorie, Wilhelm Uhde, den innovativeren, von Cézanne geebneten Weg meinte. Matisse beispielsweise ließe sich demnach der ersten Richtung, Picasso hingegen dem erwähnten Nebenweg zuordnen. Dabei gaben sich aber auch die vermeintlich traditionsbewussten Künstler/innen keineswegs mit einer Fortführung des tradierten Reglements zufrieden, sondern trieben eine radikale Weiterentwicklung voran, die Uhde zufolge letztlich den Bruch mit der französischen Kunsttradition vollzog.83 Festzuhalten bleibt, dass die École de Paris zahlreiche Ahnen und Vorläufer kannte, die, wie Impressionisten und Fauves, eine genuin französische Kunst schufen. Abseits der Akademie und mitunter außerhalb Frankreichs suchte zugleich eine jüngere Generation nach neuem Zündstoff für ihre Kreativität. Beide Tendenzen sind im Schaffen der École de Paris zu einem harmonischen Ganzen vereint, wobei namentlich die Portraits à la mode neben der französischen Kunsttradition teils auch von anderen, ausländischen Tendenzen geprägt sind. Nicht zuletzt deshalb fällt es heute so schwer, von bestimmten nationalen Meistern zu sprechen, die der École de Paris ein wiedererkennbares Gepräge verliehen hätten. Einflussreicher und anziehender als ikonische Einzelpersönlichkeiten waren für die École de Paris sicher die in der französischen Kultur verwurzelten, abstrakten Werte und Prinzipien: „la liberté, un certain art de vivre dû aux conditions géographiques et climatiques […] l’harmonie, la belle ordonnance, la lumière…“84.

Reflexionen über den Begriff der Schule Für den Kunsthistoriker ist eine Schule gemeinhin eine Künstlergemeinschaft „regionalen oder lokalen Charakters“85, die auf einer kollektiven Ausbildung oder auf vergleichbaren Ausgangspunkten fußt. Die Kölner Malerschule, die Schule von Barbizon sowie diejenige von Fontainebleau liefern hierfür überregional bekannte Beispiele, wobei man sie ebenso gut mit den Begriffen Künstlergruppe oder Künstlerkolonie versehen könnte.86 Bei der École de Paris verhält es sich jedoch etwas anders: Nach dem, was bisher über sie gesagt wurde, birgt ihr Name seit seiner Erfindung eine klare Widersprüchlichkeit in sich. Denn: Une Ecole suppose un corps de doctrine, une unité de direction, des maîtres, un enseignement, des disciples, des élèves. Ici, rien de tel, bien au contraire l’Ecole de Paris triomphe par l’indépendance farouche de tous ceux qui se réclament d’elle.87

  Zu dieser Perspektive vgl. Uhde 1928, 19 ff.   Ebda., 27. 82  Ebda. 83   „Henri Matisse apparaissait tout à l’opposé des héros de la tradition française tels que Courbet, Géricault, Daumier, […]“, ebda., 22. 84   Krebs 2009, 13. 85   Lemma: Schulen, in: Olbrich/Strauss (Hg.) 1994, Bd. VII, 540. 86   Vgl. ebda. 87   Nacenta 1956, o. S. 80 81

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Reflexionen über den Begriff der Schule

Im Gegensatz zur École de Paris hat jede der oben genannten Schulen eine transparente Identität: Man überblickt ihre Mitglieder, ihre nationale Herkunft, ihre Stilrichtung, Vorbilder und Leitsterne, wohingegen das Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts – dies zeigte der obige Versuch der Eingrenzung  – gleich in mehrfacher Hinsicht einem Schmelztiegel glich.88 Der Kosmopolitismus in Paris expandierte sogar noch Jahr für Jahr, da es nicht allein Künstler/-innen, sondern Immigrant/-innen mit den verschiedensten Berufen in die französische Hauptstadt lockte. Je nach Nationalität verteilten sich diese auf bestimmte Pariser Quartiere, sodass der obligatorische „lokale[n] Charakter[s]“ einer Schule hier höchstens ansatzweise gegeben war.89 Diesen „brodelnden Kessel unterschiedlicher Kulturen“90 vor Augen fragt man sich einmal mehr, wie und durch welche gemeinsamen Merkmale die Bezeichnung Pariser Schule überhaupt zu legitimieren ist. Letzten Endes kann man vor allem Berührungspunkte geistiger Art anbringen, beispielsweise den Wunsch nach grenzenloser künstlerischer Entfaltung, der sämtliche Kunsteinwanderer nach Paris trieb. Gemeinsam erteilten sie jedweder Ästhetik und Doktrin eine Absage, ganz gleich, ob diese einer bestimmten Religiosität oder dem offiziellen Akademismus entsprungen waren. Aufgrund dessen ging es den Pariser Künstler/-innen nicht nur um kreative Freiheit in der Malerei, Grafik oder Bildhauerei, sondern ganz allgemein um eine Existenz ohne Restriktionen. „Leur désir commun“, gab dementsprechend Jean-Marie Tasset zu verstehen, „c’est une vie libre.“91 Nach einer solch weitreichenden Freiheit strebend ging jeder Debütant mit diversen Stilen und Einflüssen auf Tuchfühlung: Ausländische Studenten eigneten sich die Manier à la française an, Franzosen wiederum ließen sich von fremden Kulturen inspirieren, die gerade mannigfach in Paris Einzug hielten.92 Nicht jedoch gab man dabei seine Eigenart, seine Originalität dem Anderen preis, sondern absorbierte sie gleichsam, um eine bis dato ungekannte, abwechslungsreiche Kunst entstehen zu lassen.93 An diesem Punkt entzündete sich auch der Diskurs darum, ob die École de Paris ihren Namen zu Recht trüge oder ob sie nicht die École française, die Garantin einer nationalen Tradition, unterminiere.94 Die spätere Kunstgeschichtsschreibung begrüßte demgegenüber die vom Ausland herkommende Bereicherung der Kunstszene;95 nach ihrem Verständnis gehörten der Spanier Picasso, der Deutsche Max Ernst oder der Russe Marc Chagall „mit ebenso viel Berechtigung zur 88   Vgl. dazu auch Ragon 1957, 82: „[…] die Pariser Schule ist kein Stil (wie es in der Vergangenheit zum Beispiel die Schule von Pont-Aven war), sondern das Ergebnis zahlloser Begegnungen, Zusammentreffen und Experimente.“ 89   Vgl. hierzu Jakobi in Chaudonneret (Hg.) 2007, insbes. 238. Vgl. auch Kenneth Silver: Made in Paris, in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 41 – 57, 41. Das Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird hier als „le lieu le plus international et cosmopolite qui soit offert à la création artistique nouvelle […]“ bezeichnet. 90   Franck 2011, 30. 91   Tasset 2009, 73. 92   Vgl. Peter Kropmanns 2001, 243. Vgl. auch Catalogue, in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 159 – 324, 224. 93   „L’Ecole de Paris a une faculté d’absorption extraordinaire. Elle enregistre, elle digère tout ce qui lui vient des cinq parties du monde et le transmue dans un art divers et singulier, assez indéfinissable en somme, mais où l’on reconnaît sa marque.“, Ragon 1955, 17. 94   Vgl. dazu exemplarisch George Juni 1931; ders. September 1931, sowie das Kapitel École française ou École de Paris?, 58 ff. 95   „Zwei Erscheinungen sind es, die die Bedeutung Frankreichs auf dem Gebiet der Kunst bestätigen: das Wirken zahlreicher französischer Künstler in allen Ländern der Erde und der Zustrom ausländischer Künstler nach der französischen Hauptstadt.“, Dorival 1962, 7.

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Pariser Schule wie die gebürtigen Franzosen Matisse, Léger, Braque usw.“96. Kein ein­ ziger Kunsthistoriker erklärte allerdings bisher sein volles Einvernehmen mit dem Termi­nus École (de Paris); eher scheint man sich mit diesem Kompromiss zu begnügen und dabei zu hoffen, dass sich in Zukunft eine bessere sprachliche Lösung auftun werde.97 Gleichzeitig tauchen in der Literatur immer wieder Paraphrasen auf, von denen man sich wohl verspricht, dass sie dem wahren Charakter der École de Paris mehr gerecht werden, als es die fixe Idee einer Schule tut. So ist des Öfteren von einem „courant[s]“,98 einer „communauté“,99 oder einfach von einem (einzigartigen) kunsthistorischen Phänomen die Rede,100 das sich einer präziseren Definition entzöge. Auch heißt es, die École de Paris käme einem Schmelztiegel, einem epochalen Höhepunkt oder ­einem Mythos gleich,101 wobei immer auch Paris selbst als Nabel der Kunstwelt glorifiziert wird.102 Unabhängig davon, wie abstrakt das eine oder andere dieser Surrogate anmutet, ist die Existenz der École de Paris wissenschaftlich doch besiegelt und wurde von Experten wie Nacenta oder Ragon zu „un fait historique“103 erklärt.

Der jüdische Anteil der École de Paris Bevor abschließend die erwähnte Faktizität der École de Paris diskutiert wird, soll hier noch eine bestimmte Komponente, nämlich die sogenannte „jüdische Pariser Schule“104, zur Sprache kommen. In sämtlichen Bereichen der modernen wie avantgardistischen Kunst lässt sich rückblickend zumindest ein jüdischer Beitrag zur École de Paris verzeichnen, auch wenn sich dieses ‚Jüdische‘ einer allgemeingültigen Charakterisierung entzieht. Sicher ist aber, dass Frankreich bereits während des 19. Jahrhunderts nicht wenige jüdische Künstler/-innen beheimatete, noch bevor diese zwischen 1905 und 1945 das Profil sowohl der École de Paris als auch von Montparnasse prägten.105 Vor dem Ersten Weltkrieg und verstärkt zwischen beiden Weltkriegen emigrierten zahllose jüdische   Ragon 1957, 82.   „[…] l’École de Paris (sens à déterminer) […], Beckett 1948, 4; „Bien que le mot Ecole soit impropre et qu’on l’emploie faute d’un autre qui reste encore à inventer, une réalité se cache bien derrière ce terme, […].“, Limbour 1957, 59; „Le mot est lancé pour longtemps, même si le contenu est encore à définir.“, Krebs 2009, 12.  98   Harambourg 1993, 8.  99   Durozoi (Hg.) 2002, 222; Fabre in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 40. 100   Vgl. Nacenta 1956, o. S.; Carluccio 1981, 108; Camille Bourniquel, zitiert nach Adamson in Chevrefils Desbiolles/Froissart Pezone (Hg.) 2011, 150. 101   Vgl. Ragon 1957, 82; wiederum Carluccio 1981, 108 und 111; Pagé in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 18. 102   Vgl. Dorléac 1995 – 1996, 255 und 269 f. Zur Mythenbildung um Paris im Allgemeinen vgl. Stierle 1998 sowie Schüle 2003. 103   Nacenta 1956, o. S.; Ragon 1957, 81; vgl. auch Parinaud 1967 – 1968, o. S. 104   Hiekisch-Picard 2003, 193. 105   Vgl. Szapiro 2003, 3 f. Als geläufige Vertreter sind Moïse Kisling, Jacques Lipchitz, Simon Mondzain, Jules Pascin und Chaïm Soutine zu nennen, des Weiteren Marc Chagall, Michel Kikoïne, Amedeo Modigliani, Louis Marcoussis, Otto Gutfreund, Jiři Kars und Mané-Katz. Daneben dürfen unbekanntere Künstler/­innen wie Henri Epstein, Georges Kars, Pavel Krémègne, Oscar Miestchaninoff, Elie Nadelmann, Chana Orloff und Marek Szwarc keineswegs unterschlagen werden, vgl. Hiekisch-Picard 2003, 193 und 203.  96  97

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Künstler/-innen aus Russland, Polen, Bulgarien, Rumänien, Litauen, Ungarn, aus der Ukraine oder der Tschechoslowakei, um den dortigen, eingeschränkten Studienmöglichkeiten, drohenden Pogromen oder generell der beengten Provinz zu entfliehen.106 In Frankreich fanden sie das Geburtsland der Menschenrechte und Bürgerrechte vor, hier bot ihnen das weltstädtische Paris – gleichwie die Metropolen Berlin oder Wien – die Option, sich vom Heimatstaat zu emanzipieren und mit den Ausdrucksmitteln der westlichen, speziell der französischen Kunst vertraut zu machen.107 Die Neuankömmlinge assimilierten sich in Montparnasse mit La Ruche, „das Bateau-Lavoir der jüdischen Maler aus Osteuropa“108 als Hauptanlaufstelle. Wenngleich auch nicht-jüdische Künstler/innen in diesem Atelierhaus wohnten, wurden Unterhaltungen und Debatten häufig auf Jiddisch geführt und bereits 1912 die erste moderne Revue der jüdischen Gemeinschaft namens Mahmadim editiert.109 Wie Gemälde und andere Selbstzeugnisse dokumentieren, waren sich auch angepasste Juden, z. B. Amedeo Modigliani, Jacques Lipchitz oder Marc Chagall, ihrer semitischen Abstammung durchaus bewusst.110 Sie knüpften und pflegten vor Ort engste Verbindungen mit anderen Juden, ungeachtet der jeweils persönlichen, künstlerischen Gesinnung.111 Diese Gruppendynamik, die nebenbei jener der Deutschen im Café du Dôme ähnelte, geriet allerdings rasch in die Kritik: Von einer École juive war von französischer Seite die Rede,112 während der Deutsche Werner Haftmann im Rückblick eine „eigentümliche jüdische Enklave“113 identifizierte und bezogen  auf Marc Chagall von „ostjüdischer Geistigkeit und chassidischer Religiosität“114 sprach.115 Dies mag an gewissen, wiederkehrenden, in der jüdischen Volksliteratur verwurzelten „Bildchiffren“ liegen – der Betteljude, das Zicklein, die Holzhütte oder der siebenarmige Kerzenleuchter.116 Allerdings flossen in Chagalls Bilder nicht nur Erinnerungen an eine ostjüdische Lebenswelt ein, sondern ebenso Exilerfahrungen des Künstlers.117 „Es war eine Welt, in der er selbst seine Wurzeln hatte, auf die er aber wegen seiner ausgedehnten Aufenthalte im Westen und der dort gemachten Erfahrungen zugleich mit einem neuen, fremden Blick schaute.“118, so Alfred Bodenheimer. Während heutige Autoren solche Nuancen zu erkennen und zu deuten wissen, wurde Marc Chagall oder auch Chaïm Soutine zeitlebens nachgesagt, ein künstlerisch verwilderter Einzelgänger

  Vgl. Bodenheimer 2017, 41; Hiekisch-Picard 2003, 193; Szapiro 2003, 2 f.; Nieszawer 2000, 12.   Nieszawer spricht diesbezüglich von einer gesamteuropäischen „émancipation juive“, ebda. 12. 108   Franck 2011, 221. 109   Vgl. Hiekisch-Picard 2003, 194. 110   Vgl. ebda. 196 f., 199, 201. 111   Vgl. ebda. 112   Vgl. Dorléac 1995 – 1996, 266, Anm. 85, sowie das Kapitel Y a-t-il une peinture juive?, 56 ff. 113   Haftmann 1987, 321. 114  Ebda. 115   Dass eine solche Voreingenommenheit der östlichen Kultur gegenüber keinesfalls eine deutsche Eigentümlichkeit war, zeigen entsprechend drastische Ausführungen des französischen Chronisten Georges-­ Michel über Chagall, vgl. Georges-Michel 1954, 147. 116   Vgl. Weber 2018, Jüdische Lebenswelt und künstlerische Identität, 14 – 115, 20. 117   Zur Rolle der Erinnerung bzw. Retrospektive bei Chagall, vgl. ebda., Erinnerung und Motivrepertoire, 20 f., sowie Berger 2019, Der Rabbi mit der Zitrone. Marc Chagalls Malerei und die jüdische Überlieferung, 292 – 303. 118   Bodenheimer 2017, 47. 106 107

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sowie der Inbegriff des Jiddischen zu sein.119 Der jüdische Modigliani hingegen galt als Wahrzeichen von Montparnasse, und somit der École de Paris.120 Sicher war auch das spezifische Kunstverständnis des Ostens ein Grund, warum jüdische Künstler/-innen ihre Laufbahn in einem mehr aufgeschlossenen Kulturkreis fortzusetzen wünschten. Denn im Talmud war das strikte Verbot künstlerischer Repräsentationen der menschlichen Figur fixiert: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem was unten auf der Erde, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.“121 Ein Blick auf die Geschichte der jüdisch-islamischen Kunst zeigt indes, dass sich das Judentum mitnichten erst in der Moderne der figuralen Kunst annahm.122 Auch zielte der talmudische Gesetzestext mehr auf bildhauerische denn auf malerische und eher auf dreidimensionale als auf zweidimensionale Repräsentationen ab, weshalb er z. B. für Fresken und Gemälde keine absolute Gültigkeit besaß. Aus diesen Beobachtungen schloss Francine Szapiro: „Il y avait donc, au départ, si discrète, si minimale fût-elle, une tradition ‚d’image‘ et ‚d’artistes‘ ininterrompue dans le judaïsme“123; die ewige Bildlosigkeit der jüdischen Kunst erklärte sie damit nachweislich zu einer dem Klischee erwachsenen Schimäre. Zu jener Zeit allerdings, als die jüdischen Maler/-innen der École de Paris das moderne, nach der Natur ausgeführte Figurenbild für sich entdeckten, wähnte sich ihr Umfeld noch als Zeuge von etwas ganz und gar Neuem und Wundersamem. Ein entsprechender Kommentar des Publizisten Florent Fels lautet: Cette École de Paris a permis ce miracle original: les peintres d’origine juive ont compris que la figure humaine était nécessaire à l’expression de l’humaine beauté, du pathétique humain, fait nouveau dans l’histoire esthétique des peuples d’Israël.124

Von Anfang an hatten der Kunstbetrieb und Kunsthandel eine hohe Meinung von den jüdischen Montparnos,125 wofür exemplarisch der junge Galerist Léopold Zborowski zitiert werden kann.126 Neben ihm zeichneten für die Ausstellungsaktivität, Promotion 119   Vgl. Faure 1929, 4, http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb32094619j (Zugriff 30. 07. 2014); vgl. auch Andral/Krebs: Soutine. Un irréductible, in: Dies. 2000, o. S. 120   Vgl. Basler/Kunstler 1929, 101: „Mais Amedeo Modigliani fut la figure la plus pittoresque de la Babel montparnassienne.“ 121   Ebda., Franck 2011, 223. Vgl. dazu auch Dorléac 1995 – 1996, 255. 122   Im Gegenteil, es sind diverse frühere, historische Beispiele für ein figürliches Kunstschaffen des Judentums dokumentiert, vgl. Szapiro 2003, 7; Hiekisch-Picard 2003, 194. 123   Szapiro 2003, 7. 124   Fels: Le roman de l’art vivant, Paris (1959), zitiert nach Nieszawer 2000, 22. Vgl. auch George Charensol: Kisling (Moïse), in: Édouard (Hg.) 1931, II, 249: „Aujourd’hui, l’atmosphère de la douce terre de France a agi sur lui, comme sur tous les peintres de l’École de Paris.“ 125   Ein Großteil der Pariser Kunsthändler war selbst jüdischen Ursprungs, etwa Kahnweiler, Bernheim, Rosen­berg und Weill, vgl. École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 31. 126   Selbst Pole vertrat Zborowski unmittelbar nach seiner Ankunft in Paris im Jahr 1914 die neue, junge Kunst, darunter Modigliani und Soutine, in denen er zwei der größten Künstler nach Picasso und Matisse erkannte. Überhaupt war der Galerist von der Schlüsselrolle des Judentums für die Kultur überzeugt. ­Zborowski präsentierte denn auch als einer der Ersten Arbeiten von Modigliani, Kisling, Soutine und ­Utrillo in öffentlichem Rahmen – zunächst in Gruppenausstellungen, Seite an Seite mit Picasso, Matisse, Derain oder Léger, anschließend in Soloschauen in den Galerien von Montparnasse. Zu Zborowski vgl. Nahon 1998, 95 f.; Nieszawer 2000, 13 f., 22; Jakobi in Chaudonneret (Hg.) 2007, 243 f.

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und den Verkauf der neuen Kunst aber noch viele weitere Juden verantwortlich. Daher stand etwa in der Histoire de l’Art contemporain von Huyghe über „Les peintres juifs“ geschrieben: L’importance des Juifs dans l’art contemporain est considérable, sinon en tant qu’importance de création, du moins en tant qu’importance comme foyer d’activité. Parmi les marchands, les collectionneurs, les mécènes, les écrivains d’art, on compte en effet un bon nombre d’israélites, l’art trouve donc en eux un puissant ferment.127

Im Unterschied zum internationalen Kunstmarkt bewerteten konservative, pro-französische Kritiker die jüdische Kunst jedoch skeptisch bis ablehnend. Sie ergriffen Partei für die tradierte französische Malschule,128 die ob ihrer Versiertheit, Raffinesse und ihres Esprits auswärtigen Künstler/-innen wahlweise überlegen oder unzugänglich sei.129 In der antisemitisch geprägten Debatte wog das Argument der unangefochtenen, intellektuellen Pariser Kunst besonders schwer.130 In Opposition dazu wurde das Wirken des als arm stereotypisierten jüdischen Volkes mit Folklore, Aberglaube, Schwermut und Instinkt identifiziert, mit einem Hang zur Kulturlosigkeit und Barbarei, der sich aus dessen Heimat ableiten lasse.131 Den Ton legte man dabei auf die positive, sublimierende Kraft von „la douce terre de France“132, die dem rohen jüdischen Stil im Sinne einer Verfeinerung oder gar Kultivierung zum Vorteil gereichen sollte. Die Werke jüdisch-osteuropäischer Künstler/-innen darf man sich unter keinen Umständen als Antithese zur französischen Kunst denken, die tatsächlich spätestens seit dem Impressionismus in Osteuropa geläufig und verehrt war. Einzelne Mentoren wie Ilja Repin oder Adolf Fényes, mit Lehrstühlen an den großen Kunstschulen in St. Petersburg bzw. Budapest, hatten zunächst diesen künstlerischen wie kulturellen Transfer geleistet.133 Immer mehr Juden wurden danach in Montparnasse ansässig und trafen dort ­direkt mit ihren französischen Vorbildern und Zeitgenoss/-innen zusammen. Und schließlich gelang es ihnen, begünstigt durch die konjunkturelle Belebung, auch über­ regional, jenseits von Montparnasse, kommerzielle Erfolge zu verbuchen.134 127  Roger Brielle: Les peintres juifs. 1. Modigliani et l’inquiétude nostalgique, in: Bazin/Huyghe (Hg.) 1933 – 1934, 141 – 149, 141. 128   „L’art français n’est ni cosmopolite, ni universel, ni international. Quelles que soient ses racines, quelles que soient ses ramifications, il dégage un parfum qui trahit le lieu de sa naissance.“, George Dezember 1931, 162. 129   Basler, George und Vauxcelles äußerten sich dabei nicht antisemitisch, sondern zugunsten einer Integration der jüdischen Künstler/-innen in die französische Kunstentwicklung, vgl. Dominique Jarrassé: La critique d’art dans les revues juives de langue française durant l’entre-deux-guerres: Jacques Biélinky et la part juive de l’École de Paris, in: Chevrefils Desbiolles/Froissart Pezone (Hg.) 2011, 79 – 90, 79. Die judenfeindliche Kritik verschärfte sich in den folgenden Jahren weiter, vgl. Dorléac 1995 – 1996, 259; Faure 1931, 231 – 238. 130   Vgl. Basler 1925, 115. 131   Vgl. Raynal 1927, 287 f.; Haftmann 1987, 321; vgl. dazu auch Dorléac 1995 – 1996, 257. 132   Charensol in Édouard (Hg.) 1931, II, 249. 133   Vgl. hierzu und im Folgenden Nieszawer 2000, 9, 12, 22 und 24. 134   So z. B. Kisling, über den Charensol schrieb: „Kisling appartient à la génération qui connaît seulement depuis peu d’années la faveur du grand public. Bien avant la guerre pourtant, la célébrité de Kisling était déjà solidement établie dans les milieux d’artistes, mais elle n’avait guère franchi les frontières de Montparnasse. Aujourd’hui, au contraire, ses œuvres atteignent aux gros prix et les riches amateurs prennent volontiers le chemin de son atelier.“, Charensol, in: Édouard (Hg.) 1931, II, 248.

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Nommer, c’est faire exister – Die Genese der École de Paris

Obwohl sich das Verständnis von der École de Paris seit 1925 beständig ausdehnte, blieb die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit ihrer Mitglieder lange Zeit ein viel zitier­tes Kriterium.135 Dabei erschöpfte sich der jüdische Beitrag zur École de Paris nicht etwa in einem flächendeckenden Einbringen folkloristischer Themen,136 sondern variierte von Œuvre zu Œuvre. Statt das Jüdische allgemeingültig zu charakterisieren, ist es daher höchstens angebracht, es im spezifischen Erleben des Einzelnen – und womöglich im Subtext von dessen Bildern – aufzuspüren. Denn selbstredend gibt es nicht die jüdische Malerei, sondern lediglich die Malerei einzelner, unterschiedlicher jüdischer Künstler/-­innen.137 Speziell das Werk Chagalls ist darüber hinaus im historischen Kontext der Ästhe­ti­sierung der Ostjuden zu betrachten.138 Der Name École juive scheint insofern unan­gemessen sowie ungenügend – trotz des erwiesenen Anteils von Juden aus Ost­europa –, da man hiermit der Mannigfaltigkeit innerhalb der École de Paris genauso wenig beikommt wie mit der Bezeichnung École française.

Die Bedeutung von Paris und den Cités d’Artistes Es drängt sich die Frage auf, warum der Laie, der Kritiker und der Rechercheur bei der École de Paris überhaupt von einer Schule sprechen. Mit welcher Berechtigung? Um dies zu beantworten, muss man sich des Charakteristikums gewahr werden, das die frag­ lichen Künstler/-innen seit alters eint: ihre prägende Erfahrung in der „Capitale des Arts“139. Lange vor der Taufe der École de Paris schmückte Paris sich mit diesem Renommee, Welthauptstadt der Kunst und Lebensart zu sein.140 Sich hier aufzuhalten und fortzu­bilden konnte „im Sinne eines international anerkannten Prädikates“141 den be­ ruflichen Werdegang oder das Œuvre einer oder eines ausländischen Künstlers/-in aufwerten. So bescheinigten schon Vincent van Gogh und Paul Cézanne, beide Vorläufer der Pariser Avantgarde, diesem Studienort eine beflügelnde, fast magische Wirkung.142 Und auch die späteren Überlieferungen des Deutschen Fritz Stuckenberg riefen ein geheimnisvolles Paris wach, das ihm zur „Befreiung und Fortsetzung der Entwicklung“143 135   Vgl. Ragon 1957, 82; Pierre Cabanne (Hg.): Dictionnaire international des arts 1979, 1010, zitiert nach Dorléac 1995 – 1996, 251 f.  136   Vgl. Haftmann 1987, 321. 137   Für Roger Brielle vertreten z. B. Modigliani, Kisling und Pascin „un certain Fauvisme pathétique“, vgl. Brielle in Bazin/Huyghe (Hg.) 1933 – 1934, 142. 138   Die Tendenz zur Ästhetisierung der Ostjuden war in Kunst, Literatur, Sprache sowie Folklore zu beobachten, vgl. Bodenheimer 2017, 41. 139   George/Guillaume 1929, 181. 140   Vgl. Stephan in: Von Renoir bis Picasso, Ausst.-Kat. 2011, 121. Pierre Courthion gemäß galt Paris teilweise schon seit der Romantik als „centre international des arts“, vgl. Courthion 1957, 105. 141   Kropmanns in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 29. 142   „Paris ist Paris: Was sich hier erreichen lässt, ist Fortschritt, und was zum Teufel das auch sein mag, der ist hier zu finden.“, Van Gogh in einem Brief an Horace Lievens, zitiert nach Ewers-Schultz in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 233. Vgl. auch Cézanne in einem Brief an Émile Zola vom 3. Mai 1861, aus: Cézanne: Correspondances, Paris 1978, 67, zitiert nach Fischer, Yona: Le désir de Paris, in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 103 – 113, 108. 143   Stuckenberg in einem Brief an seine Eltern, [Paris d. 29. Dez. 1907], zitiert nach Paris leuchtet, Ausst.Kat. 2007, 54.

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Die Bedeutung von Paris und den Cités d’Artistes

gereiche. Hier fände man, so George Limbour, Kunst und Kultur in einer unvergleichbaren Dichte und Intensität vor.144 Ein blühender Kunstmarkt und eine ausgeprägte Sammelkultur erhoben das moderne Paris in der Tat zu einem Mekka für jedermann, der, sofern er talentiert war, dort auf raschen Erfolg hoffen durfte.145 Mehr noch: Für verkannte Künstler/-innen, Idealist/-innen oder Bohemiens geriet die Stadt an der Seine „zum Resonanzkörper und zum Stimulanz“146 der eigenen Hoffnungen und Träume. Dazu Roger Gindertael: „Pourquoi Paris? Peut-être parce qu’on y peut garder l’espoir jusqu’au bout. Partout ailleurs, il faut faire carrière et réussir vite. Paris n’est-il le seul lieu du monde où l’on puisse être un raté et vivre heureux, parce qu’ici il n’est jamais trop tard?“147 Unumstritten hat dieses viel gelobte Ambiente auch die meisten auswärtigen Mitglieder der École de Paris angezogen.148 Als Zugkraft schien es ungleich bedeutender als die gesammelten Kunstreichtümer der Stadt. Heute hingegen sind nur letztere noch real und manifest: Der Louvre oder das Palais du Luxembourg, die École nationale des BeauxArts, der Salon des Tuileries sowie der Salon d’Automne – dies waren einst die etablierten Kunstinstitutionen, deren Besuchern ein Konvolut von Anschauungs- und Studien­ objekten aus sämtlichen Zeitaltern offeriert wurde; im 20. Jahrhundert ging die Stimulanz jedoch zunehmend auch von progressiven Einrichtungen aus, vom Salon des Indépendants, von großen und kleinen, neu eröffnenden Galerien, von aufgeschlossenen Privatakademien, Ateliers oder Werkstätten, die unter der Bezeichnung „académies ­libres“149 zusammengefasst werden können.150 Dort herrschte, im Unterschied zu den anderen halbstaatlichen Einrichtungen, jene Freiheit vor  – „cette liberté sans laquelle l’art ne peut s’épanouir“151‒ der Warnod einst größte Bedeutung beimaß. Dieses abstrakte, kreative Potenzial im Rückblick zu fassen, scheint umso schwerer, da schon Zeitgenoss/-innen wie Fritz Stuckenberg hierfür kaum Worte fanden: Was für Nutzen Paris in künstlerischer und menschlicher Beziehung bedeutet, beginnt mir ganz allmählich klarer zu werden. In wenigen Worten das zu schildern ist sehr schwer. Freier, ungezwungener erscheint hier der einfachste Mensch, man atmet leichter und arbeitet dadurch frischer und freudiger.152

  Limbour 1957, 59.   Vgl. ebda.; siehe auch Albert Sarrault: Préface, in: Les Maîtres de l’art indépendant, Ausst.-Kat. 1937, 7 – 10, 9 : „C’est à Paris que tout artiste, de quelque pays qu’il soit, vient chercher sa consécration.“ 146   Padberg 2013, 19. 147   Gindertael 1956, 9. 148   Vgl. Charensol, in Édouard (Hg.) 1931, 249; Warnod in Ders. 1925, 8: „[…] mais plus encore que nos richesses artistiques, ces artistes veulent connaître le pays où ont vécu nos grands peintres, respirer l’air qu’ils ont respiré, s’émouvoir eux aussi devant les perspectives de chez nous, d’une si belle ordonnance, goûter la douceur du climat, la lumière, connaître enfin le bonheur de vivre et jouir de cette liberté sans laquelle l’art ne peut s’épanouir.“ 149   Andral/Krebs 2000, o. S. 150   Vgl. dazu Barbara Alms: Paris leuchtet, in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 11 – 15; Kropmanns in ebda., 29 – 44; Martina Padberg: Eine „neue Natur“ und ein „neuer Raum“, in ebda., 243 – 252. 151   Warnod 1925, 8. 152   Stuckenberg in einem Brief an seine Eltern, [Paris, d. 17 Jan. 1908], zitiert in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 54 f. 144

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Ein solch freies Schaffen wie hier beschrieben war möglich, da in Paris selbst die zeit­ genössische Kunst, der Art vivant, in breiten Schichten honoriert wurde.153 Die Deutsche Grete Ring spricht im Jahr 1930 von „einer allgemein kunstliebenden und kunstachtenden Atmosphäre“154 sowie von einer Weltoffenheit, die sie namentlich in der franzö­ sischen Metropole beobachtete. Erst jene Offenheit brachte, wie oben bereits erwähnt, den aus vielen Ethnien zusammengesetzten Stilpluralismus der École de Paris auf den Weg.155 Diesem Zusammenhang ging in der Theorie der Philosoph Georg Simmel nach, etwa in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben156: Bedingt durch ihre Betriebsamkeit und ihr Tempo schaffe eine Großstadt die notwendigen psychologischen Bedingungen für den Intellektualismus, ganz im Gegensatz zu einer Kleinstadt oder zur Provinz, die eher von Gemächlichkeit geprägt seien. Großstädter seien Individualisten und pflögen einen freiheitlichen Lebensstil, der gelegentlich in Extravaganz ausarte. Das internationale Klima einer Großstadt wie Paris, betonte Simmel, strahle dabei weit über die physischen Stadtgrenzen hinaus. In diesem Sinne erschien Paris wie ein modernes Athen oder Rom,157 wie eine „Cité occidentale par excellence“158 und war als solche die perfekte Wirkstätte für ein multinationales, freidenkerisches Künstlertum. Wenn man nun auf die problematische Terminologie rund um die École de Paris zurückkommt, dann ist es nur logisch, sie nach dieser beispielgebenden Stadt – sozusagen stellvertretend für deren beispielgebende Atmosphäre – zu benennen. Anstatt um eine Person scharten sich ihre Mitglieder und Verbündeten an einem Ort zusammen, der für sie genauso viel Persönlichkeit oder Charakter wie ein Mensch besaß. Zwar ist einzuwenden, dass noch vor dem Ersten Weltkrieg Europäer wie Amerikaner mit der Intention nach Paris gezogen waren, dort konkreten Meistern der Kunst nachzustreben.159 Doch mit den Jahren stieg die Weltstadt selbst mehr und mehr zum Leitstern der Kunstschaffenden auf, freilich nicht unbeeinflusst von jenen Stimmen, die sie mystifiziert und personalisiert hatten.160„Peu à peu la Ville jette sur eux son inéluctable et merveilleuse emprise.“161, schrieb beispielsweise 1927 Charles Fegdal im Hinblick auf zugereiste Künstler/-innen.162 Insofern kann man dieses auratische Paris mit Recht als Mentor der dort entstandenen École de Paris ansprechen. Bis heute wird die Stadt schließlich zur idealen Schutzpatronin der Enfants terribles ernannt, etwa in Bezug auf das dortige ­Debüt von Maurice Utrillo.163 Insgesamt bleibt die aktive Wirkung der Stadt auf die bil  Vgl. Ring 1930, 182 und 184.   Ebda, 184. 155   Für einen Vergleich mit Deutschland vgl. Meier-Graefe 1987, Nachwort des Herausgebers, 727 – 757, 727. 156   Vgl. im Folgenden Simmel 1995, 116 – 131. 157   Salmon preist es als „la Rome nouvelle en ce siècle“, Salmon 1922, 218. 158   Carluccio 1981, 108. 159   Vgl. Padberg in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 243. 160   Zur Mythenbildung um Paris vgl. Schüle 2003, 140 und 143; Dorléac 1995 – 1996, 253. 161   Fegdal 1927, 63. 162   Siehe auch ebda., 63 f.: „Les ciels fins et l’atmosphère fluide, l’ordonnance toute de logique beauté des paysages parisiens, la grâce noble et la splendeur avenante des monuments, l’élégance sobre et le sourire effleurant des femmes, l’entregent sans flatterie et l’enjouement blagueur sans méchanceté des hommes, ‒ tout cela, quoi qu’ils en aient, s’insinue inconsciemment dans la cervelle et dans le cœur même de ceux qui séjour­nent parmi nous.“ 163   Tasset 2009a, 62. 153 154

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Die Bedeutung von Paris und den Cités d’Artistes

denden Künste jener Zeit unumstritten und Paris muss als einflussreiche Akteurin auf einer Stufe mit Künstlertum und Bohème gesehen werden. Wie also hätten Warnod und andere die angestammten und neu hinzugekommenen Kunstschaffenden im damaligen Paris anderweitig benennen sollen? In keiner anderen Hinsicht – weder national, noch personell, noch stilistisch – waren sie schließlich gebunden; und so diente ihr Kristallisationsort notgedrungen als Namenspatron. Ausdrücklich ist dabei vom Patron und nicht bloß vom Namensgeber der École de Paris die Rede, da diesem gemäß dem Beispiel des mittelalterlichen Patronats auch eine ideelle Funktion zukam: Gerade so wie im Glauben des Mittelalters die numinose Kraft eines Heiligen auf die nach ihm benannten Plätze, Gebäude oder Menschen übergehen sollte, so knüpfte auch der moderne Mensch an den ‚heiligen‘ Ort Paris bestimmte qualitative Erwartungen. Wie die Kunstlandschaft von Paris tatsächlich erlebt wurde und welche Voraussetzungen sie der jungen Künstlerschar bot, soll nun anhand der zwei bedeutendsten Künstlerviertel der geistigen und künstlerischen Moderne geklärt werden: zum einen Montmartre im äußersten Pariser Norden, zum anderen, südlich der Seine gelegen, Montparnasse. Um beide Viertel wurden über die Jahre legendäre Anekdoten, Erzählungen und Mythen gesponnen; zeitgenössische Autoren, allen voran Warnod, würdigten diese Stadtteile als „berceaux de la jeune peinture“164. Dabei muss man klar zwischen Montmartre und Montparnasse differenzieren und Ersteres als Ursprungsort des neuen künstlerischen Geistes sehen.165 Montmartre darf – obschon die Kunst der École de Paris schwerpunktmäßig mit der Époque Montparnasse verbunden ist – als legitimer Vorläufer von Montparnasse gelten. Warnod verdeutlichte dies mit folgender Redewendung: „On moissonne à Montparnasse, mais les semailles ont été faites à Montmartre, et il ne paraît guère qu’une période aussi ardente, aussi riche, aussi généreuse, ait suivi ces années montmartroises.“166 Entsprechend dieser Rangfolge und Chronologie werden im Anschluss also zuerst die „Kunstverhältnisse“167 am rechten und hiernach die Situation am linken Ufer der Seine, in Montparnasse, betrachtet.

Die Butte Montmartre Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erfolgte die Besiedlung von Montmartre zunächst aus städtebaulichen und demografischen Gründen. Schließlich bot der erst 1860 in die Innenstadt eingemeindete, nördlich gelegene Hügel ein rurales Milieu und moderate Mieten, während das Zentrum nunmehr von imposanten Wohnblocks und prachtvollen Boulevards dominiert wurde.168 Ein Zeitgenosse erinnerte sich:   Warnod, in ders. 1925, 11.   Vgl. z. B. Weill 2009, 47: „De Montmartre, on voit surgir cette source d’idées et de conceptions nouvelles d’où émane cette effloraison qui doit bouleverser le pontife … et le monde!“; vgl. auch Warnod 1925, Montmartre. Précurseur de Montparnasse, 15 – 18, insbes. 16 f. 166   Ebda. 17 f. 167   Zu diesem Begriff vgl. Feist, in: Von Renoir bis Picasso, Ausst.-Kat. 2011, 11. 168   Zur Entwicklung von Montmartre vgl. Schüle 2003, 30; Stephan: La Butte Montmartre, in: Von Renoir bis Picasso, Ausst.-Kat. 2011, 27 – 52, 27; vgl. auch Franck 2011, 13; Colombani: Montmartre au tournant du siècle. La bohème à Montmartre, in: Le Figaro 2009, 80 – 89, 85; Alms in Dies. 2007, 60 f. 164 165

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Aux environs de 1900, Montmartre est encore un peu un village, dans la journée il en a la paisible appa­ rence, le souriant pittoresque, avec ses jardins potagers, ses dernières vignes, ses petites bicoques, ses bistrots et leurs bosquets, un village de banlieue assagie par la ruée monstrueuse de la ville avec ses lourdes maisons, qui telles de colosses de pierres, montent lentement.169

Aus diesem Grund gesellten sich zu dem in die Peripherie abgedrängten Proletariat junge Kreative und Intellektuelle hinzu, die Abstand von der bourgeoisen Stadtgesellschaft und deren Gepflogenheiten suchten.170 Allein zwischen 1860 und 1910 machten so über 500 bildende Künstler/-innen in Montmartre Station, darunter zuallererst die Impressionisten Manet, Van Gogh, Monet, Renoir, Pissarro, Fatin-Latour und Degas.171 Für sie war Montmartre ebenso ein Stück des alten Paris wie ein Sehnsuchtsort: Hier agglomerierte sich das Pariser Nachtleben, hier gab es Music-Halls, Bälle, Cafés, italienische Kaba­retts und das neuartige Cabaret artistique.172 Zwei dieser Etablissements gelangten dank der ikonischen Illustrationen von Théophile-Alexandre Steinlen und Henri de Toulouse-Lautrec zu besonders großem Nachruhm: Le Chat Noir sowie Le Moulin Rouge. Gemeinsam mit Juwelieren, Modehäusern und Trabrennbahnen bildeten die Vergnügungstempel ein Sammelbecken, in dem sich Pariser Oberschicht und Halbwelt gleichermaßen amüsierten. Durch diesen gesellschaftlichen Zusammenschluss kam der bis heute geläufige Terminus Tout Paris auf,173 in dessen Mitte sich die Kunst der Montmartrois entwickelte. Dazu Warnod: „Le mélange d’authentiques filous, faussaires, ­voleurs et pis encore, de fillettes perdues et de jeunes gens débuchés fuyant leur respectable famille, composait la toile de fond devant laquelle se jouaient l’existence et la carrière de beaux artistes.“174 In erhöhter Lage, direkt an der Place Émile Goudeau befand sich das Bateau-Lavoir, eine ehemalige Klaviermanufaktur, die, nachdem man dort Zwischenwände eingezogen hatte, von 1904 bis 1913 als Unterkunft und Wirkstätte der künstlerischen Bohème fungierte.175 Diese innen wie außen karge Behausung wurde und wird noch immer für den Kristallisationspunkt der markantesten kreativen Innovationen vor dem Ersten Weltkrieg gehalten.176 Denn hier entstand das erste Netzwerk aus in- und ausländischen Kunstschaffenden, Kritikern und Schriftstellern, die sogenannte Bande à Picasso.177 In dieser Wendung drückt sich bereits die Führungsrolle aus, die man – abweichend von zeitgenössischen Berichten – im Nachhinein Picasso zuschrieb. Zu dem engen, oftmals hinter der Persönlichkeit des Spaniers zurücktretenden Kreis gehörten u. a. die Künstler Constantin Brancusi und Juan Gris ebenso wie die Dichter Pierre Reverdy, André Sal  Cogniat in Bazin/Huyghe (Hg.) 1933 – 1934, 17.   Vgl. Gosling 1980, 59. 171   Die Pleinairisten wurden dabei insbesondere durch die Schulen von Barbizon und Fontainebleau nach Paris gezogen, vgl. Fischer in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 105. 172   Vgl. hierzu Ursula Perruchi-Petri: Die Welt der Vergnügungen. Toulouse-Lautrec und Félix Valloton, in: Die Nabis und das moderne Paris, Ausst.-Kat. Bern 2001, 83 – 98, 83. 173   Vgl. König/Schuppisser 1958, 273 und 300. 174   Warnod 1925, 23 f. 175   Vgl. Alms in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 60 f. Der heute geläufige Name Bateau-Lavoir („Waschboot“) geht auf eine Wortfindung Max Jacobs zurück, wohingegen Picasso die Behausung das „Trapperhaus“ genannt haben soll, vgl. Franck 2011, 82 f. 176   Vgl. Warnod 1925, 16 – 18; Weill 2009, 47; Courthion 1957, 98; Padberg in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 243. 177   Vgl. Andral/Krebs: L’artiste en arlequin: Picasso, in: Dies. 2000, o. S. 169 170

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mon und Max Jacob.178 Außerdem agierte Apollinaire, seines Zeichens Franzose mit italienisch-polnischen Wurzeln, an Picassos Seite als eine Art Spiritus Rector des BateauLavoir.179 Er selbst erhob dabei keinen Anspruch auf eine Hierarchisierung, sondern förderte den regen, freigeistigen Austausch der Gemeinschaft.180 Unter den Mont­ martrois herrschte also eine antiautoritäre, kollegiale Arbeitsatmosphäre, in der jede/r Künstler/-in Initiative, aber auch Empathie mit den anderen zeigte. Nichtsdestotrotz ist die spätere Fokussierung der Kunstgeschichte auf Picasso gerade auch Apollinaire zuzuschreiben, da dieser ihn eindeutig hervorhob: „Car Picasso est de ceux-là dont MichelAnge disait qu’ils méritent le nom d’aigles parce qu’ils surpassent tous les autres […].“181 Nachdem Picasso 1907 das für den Kubismus programmatische Gemälde Les Demoiselles d’Avignon angefertigt hatte, erlangte die französische Metropole ausgehend vom Bateau-Lavoir den Ruf einer Stadt der Kubisten.182 Zudem verschob sich durch den Einzug der Avantgarde das geografische Zentrum von Montmartre, welches während der Belle Époque noch die Boulevards und der Hang gebildet hatten, weiter den Berg hinauf.183 Während auf geistesgeschichtlicher Ebene die Dekadenz des Fin de Siècle im Rückgang begriffen war, erstarkte die Solidarität zwischen Künstler/-innen, die radikal ausgedrückt „zerrissen und außerhalb der Normen“184 lebten. Man kann sagen, dass das romantische Dasein der Pariser Bohème, wie es Salonmaler/-innen und Impressionist/innen im 19. Jahrhundert kultiviert oder besser gemimt hatten, nun sehr viel realer wurde. Denn unter den Bewohner/-innen des Bateau-Lavoir herrschten diffizile, mithin prekäre Lebensumstände und fast alle Künstler/-innen, deren kommerzieller Erfolg erst noch bevorstand, litten unter chronischer Geldnot.185 Übereinstimmend mit zahlreichen Weggefährten schilderte Mac Orlan jenen Ort wie folgt: Le Bateau-Lavoir […] c’est la pire époque de ma vie! J’ai toujours détesté cet endroit dont on a fait une légende. La vérité, un cauchemar pour tous ceux qui y mettaient les pieds! J’y ai connu la faim, le froid, l’humiliation et je vous jure que ça ne s’oublie pas.186

Picassos Galerist, Daniel-Henry Kahnweiler, war sogar überzeugt, dass das in der Rue Ravignan herrschende Elend für die Nachwelt unvorstellbar bleiben würde.187 Und Amedeo Modigliani beklagte sich ebenfalls darüber, dass gerade Künstler/-innen der   Vgl. Alms in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 60 f. und 87.   Vgl. ebda. 180   So die Schilderung von Marcel Adéma, dem Biografen Apollinaires: „Tous gardent leur indépendance et jamais Apollinaire ne cherchera à organiser un groupement, il ne veut pas être un chef d’école ou de cénacle et se défendra toujours de le devenir.“, Adéma 1952, 78. 181   Apollinaire: Méditations Esthétiques (1913), o. S., zitiert nach Campa/Read (Hg.) 2009, 123. 182   Vgl. Courthion 1957, 105. Max Jacob soll das Bateau-Lavoir dementsprechend die „Akropolis des Kubismus“ genannt haben, vgl. Alms in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 60 f. 183   Vgl. Colombani in: Le Figaro 2009, 85. 184   Franck 2011, 51. 185   Die Unterkunft bestand gänzlich aus Holz, wodurch sie schlecht isoliert, anfällig für Kälte und Feuchtigkeit, instabil und morsch war. Für sämtliche Mieter stand nur ein einziger Wasseranschluss bereit, auf Elektrizität und Strom verzichteten sie notgedrungen ganz, was ihr Schaffen in den ohnehin dunklen Räumen oder während der Nächte umso mühevoller gestaltete. Vgl. Jeanne Warnod: Le Bateau-Lavoir, in dies. 2004, 205 – 209, insbes. 206; Franck 2011, 82 f ; Colombani in: Le Figaro 2009, 87. 186   Mac Orlan, zitiert nach Warnod 2004, 206. 187   Vgl. Kahnweiler, zitiert nach Ritter: Introduction, in: Ritter et al. 2000, 11 – 38, 17. 178 179

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Moderne – konkret bezog er sich auf seinen Freund Maurice Utrillo – im Unterschied zu früheren Epochen von gewaltiger Armut geplagt seien.188 Wenn man allerdings Warnod Glauben schenkt, der immerhin ein enger Freund der Montmartrois war, dann war die finanzielle Not der Künstlerschaft immer auch mit einem gewissen Stolz verknüpft.189 Dazu wiederum passt, dass man sich im Bateau-Lavoir auch äußerlich bzw. vestimentär von den erwähnten, gut gekleideten ‚Pseudo-Malern‘ unterscheiden wollte.190 Im bewussten Kontrast zum Chic des Fin de Siècle setzte sich die modische Einfachheit der Montmartrois in neuen Künstlertreffs – in rustikalen, familiär geführten Bistros – fort. Neben dem Azon in der Rue Ravignan, dem Aux Enfants de la Butte in der Rue des Trois Frères oder dem Vernin in der Rue Cavalotti, wo man meist auf Kredit speiste und trank, versammelte sich die Künstlerschar vor allem in der Rue des Saules, wo sich bis heute das Lapin Agile befindet. Dessen damaliger Inhaber, Père Frédéric, bewirtete – so war es in allen Restaurants der Nachbarschaft Usus – seine Gäste mit großer Kulanz, unabhängig davon, dass ein Essen manchmal weniger als einen Franc kostete.191 Schulden, Streitigkeiten, Schnorrerei und sogar Diebstahl waren in Montmartre an der Tagesordnung; im Notfall finanzierten sich die Künstler/-innen durch Gelegenheitsarbeiten und viele Modelle gingen sogar der Prostitution nach.192 Chronisten wie Francis Carco oder Roland Dorgelès sprachen deshalb auch vom „dolorisme“193, dem hintergründigen Elend der Künstler/-innen in Montmartre, betonten aber zugleich deren festen Zusammenhalt, treue Kameradschaft und Brüderlichkeit.194 Neben ihrem praktischen Zweck, nämlich der Verpflegung und dem Obdach, dienten die Cafés der Butte als Diskutierstuben, Lesebühnen oder als improvisierte Ausstellungsorte, weshalb Erik Stephan sie „Salons der Armen“195 nannte. In erster Linie aber entfiel die Aufgabe, Kunst zu verkaufen, auf mehrere Galerien in der Rue Laffite, der einstigen „Hauptschlagader“196 des Pariser Kunstmarktes. Führende Händler wie Ambroise Vollard, Clovis Sagot, Bernheim und Durand-Ruel begründeten hier vor oder um 1900 eine „Bilderstraße“197, die innerhalb von Paris vorerst außer Konkurrenz stand.198   Vgl. Modigliani, zitiert nach Georges-Michel 1954, 165.   „La pauvreté était portée là-haut comme un drapeau. Gagner de l’argent paraissait indigne d’un pur artiste.“, Warnod 1925, 36. 190   „Nous voulions nous distinguer des rapins de la Butte avec leur grand chapeau, leur cape et leur cravate lavallière qui faisaient ‚artiste‘.“, Mac Orlan, zitiert nach Warnod 2004, 207. Picasso trug etwa einen blauen Overall; Mac Orlan zeigte sich mit Schiebermütze und Pfeife; Derain und Vlaminck, der amerikanischen Mode folgend, in Zweiteilern aus kariertem Tweed, vgl. ebda. 191   Vgl. Alms in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 91 f.; Colombani in: Le Figaro 2009, 87. Eine anschauliche Vorstellung vom Interieur und von der Klientel des Bistros gab Warnod in Les Berceaux de la jeune Peinture, vgl. Warnod 1925, 25. 192   Vgl. ebda., 35. 193   Zitiert nach Schüle 2003, 30. 194   Vgl. Warnod 2004, 218; Colombani in: Le Figaro 2009, 88. 195   Stephan in: Von Renoir bis Picasso, Ausst.-Kat. 2011, 27. 196   Kropmanns in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 34. Franck spricht analog von der „Hauptader des Pariser Kunstmarktes“, Franck 2011, 42. 197   Alms, in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 13. 198   Vgl. Stadtplan von Paris in ebda., S. 16 f., markiert sind dort auch Kunsthändler und Galerien (Nr. 20 – 29), etwa Ambroise Vollard, 6, Rue Laffite (Nr. 20); Clovis Sagot, 46, Rue Laffite (Nr. 21); Paul Durand-Ruel, 16, Rue Laffite (Nr. 22); Berthe Weill, 25, Rue Victor Massé (Nr. 29). Vgl. auch Franck 2011, 42. 188 189

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Dies war sicherlich der unmittelbaren Nähe zu den Wohnungen, Ateliers und Cafés der Künstler/-innen, aber auch zu den Farbengeschäften und dem Auktionshaus Drouot zu verdanken.199 Da bald mehr und mehr ausländische Händler ihren Weg in dieses Galerieviertel fanden, wechselte gleichzeitig das Interesse für eine traditionell französische Kunst zu einer in Paris produzierten Kunst.200 Bevor dieser Übergang stattfinden konnte – dank aufgeschlossener Mäzene wie Leo und Gertrude Stein –, dominierte jedoch der Geschmack der ersten Sammlergeneration, und so kaufte und verkaufte man bei z. B. Georges Petit noch Werke von den Impressionisten, Cézanne und dessen Nachfolgern.201 Ambroise Vollard hingegen war kühn und progressiv,202 seine Galerie laut ­Salmon „[e]in Stapelplatz noch umstrittener Meisterwerke“203. Dabei beeinträchtigte Vollards Hang zum Chaos aber nicht, dass er in der Rolle des Kaufmanns und Verlegers dauerhaft brillierte. Selbst Berthe Weill, die ihn zunächst attackiert hatte, gestand in ­ihren Memoiren zugunsten Vollards: Ce que je ne puis taire, cependant, c’est que, parmi les marchands, il est un des rares qui n’ait pas trafiqué; il eut de la chance, vint au bon moment, acquit très vite le goût des belles choses; il ne doit donc qu’à cette chance, qu’à son goût sûr, le succès de ses affaires.204

Vollard kam neben der Förderung von grafischer Kunst das besondere Verdienst zu, die Maler Bonnard, Picasso, Chagall sowie Rouault publik gemacht zu haben.205 Andere Händler, die das übersichtliche Galerieviertel – bis dato reichte es von der Place Pigalle im Norden bis zu den Grands Boulevards im Süden  – expandieren ließen, taten es ­Vollard gleich.206 Aus dieser jungen, der modernen Kunst wohlgesonnenen Sammlergeneration stach der Deutsche Daniel-Henry Kahnweiler alias „Händler der Kubisten“207 hervor. 1907 nahm er seinen Galeriebetrieb mit einer Präsentation fauvistischer Kunst auf, doch zeigte er bereits im Folgejahr  – mittlerweile kannte und bewunderte er die Demoi­selles d’Avignon – kubistische Bilder von George Braque. Ferner lancierte Kahnweiler Juan Gris, Fernand Léger, André Derain und nahm nach dem Tod Vollards dessen Platz als Galerist Picassos ein. Mit Braque und Picasso vertrat er die, wie er sie nannte, „großen Begründer des Kubismus“208 und publizierte zudem die dazugehörige, kunsttheoretische Schrift Der Weg zum Kubismus (1920). Durch sein Angebot an kubistischer Malerei verfügte Kahnweiler auf dem Pariser Kunstmarkt über ein Alleinstellungsmerk  Vgl. Kropmanns in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 34.   Vgl. Fischer, in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 111 – 113. 201   Vgl. Salmon 1958, 35 f. 202   Vgl. ebda., 37 f; Franck 2011, 41 – 47. 203   Salmon 1958, 37. 204   Weill 2009, 173 (Appendice). 205   Vgl. Nacenta 1960, 67; Alms in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 15. 206   Vgl. Kropmanns in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 34 f. Im Einzelnen waren zwischen 1907 und 1912 die wichtigsten Pariser Kunsthandlungen: „J. Allard, Galerie des artistes modernes, Barbazanges, Marcel Bernheim, Georges Bernheim, Bernheim-Jeune, Eugène Blot, Boutet de Monvel, Charles Brunner, Cercle artistique et littéraire, Devambez, Eugène Druet, Durand Ruel, Henry Graves, Haussmann, Charles Hessèle, A. A. Hébrard, Malesherbes, Manzi (Joyant & Cie.), Georges Petit, Rosenberg, Clovis Sagot, Edmond Sagot, Sedelmeyer, Tooth, Charles Vildrac, Vollard, Berthe Weill“. 207   Franck 2011, 207. Zu Kahnweiler vgl. ebda., 207 – 212. 208   Kahnweiler 1920, 16. 199 200

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mal. Schließlich spezialisierte sich die Mehrheit der Kunsthandlungen nach wie vor auf Van Gogh, Cézanne, die Impressionisten, Gauguin, die Fauves und die Nabis.209 Doch auch wenn die junge Kunst zuallererst in unabhängigen Salons präsentiert wurde, kann der Beitrag des Pariser Kunsthandels zur Bildung der École de Paris und zur internationalen Durchsetzung der Moderne gar nicht genug betont werden. Das Galeriewesen war, argumentierte so z. B. Argan, „wesentlich an der schnellen Abfolge der Stile und an der damit verbundenen polemischen Auseinandersetzung beteiligt“210. Es gewann gerade in den Jahrzehnten nach 1900 kontinuierlich an Breite und Vielfalt; und nach dem Ersten Weltkrieg, als sich das kreative Kraftzentrum von Montmartre an die Rive G ­ auche verlagerte, eröffneten dort immer neue Galerien,211 bis der Kunsthandel letztlich als „Träger des lebendigen französischen Kunstlebens“212 fungierte.

Die Époque Montparnasse Welche Gründe trieben die Künstlergemeinde in den 1910er Jahren dazu, von Montmartre nach Montparnasse zu wandern? Sicher ist diesbezüglich die beginnende „Yuppisierung“213 des einst dörflichen Stadtteils anzuführen, in deren Konsequenz die Kosten für Miete und Lebenshaltung stark stiegen. Montmartre wurde außerdem zunehmend touristisch, und parallel zu seiner wachsenden Beliebtheit bei auswärtigen Besuchern sank das Interesse der einheimischen Künstler/-innen und Intellektuellen an diesem Viertel.214 Montparnasse, der „Berg der Dichter“215 schien hingegen prädestiniert für die Ansiedelung von Privatakademien, Künstlerhäusern und Ateliers.216 Hier befand sich die Schnittstelle von künstlerischer Lehre und kleinbürgerlichem Wohnraum, dessen Preis wesentlich niedriger als in Montmartre ausfiel.217 Zusätzlich luden das ebenerdige Areal sowie die dortigen Gärten und Bauernhöfe dazu ein, geräumige und von Licht ­erfüllte Ateliers, insbesondere für Bildhauer/-innen, entstehen zu lassen.218 Aus diesen Gründen zogen noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges viele Montmartrois und (spätere) Mitglieder der École de Paris vom einen Seineufer ans andere, vom einen Hügel im Pariser Stadtgebiet zum nächsten.219 Kunstschaffende aus anderen Ländern siedelten sogar bereits ab 1905 ins 13., 14. und 15. Pariser Arrondissement über,220 zunächst nur vereinzelt, später aber in Strömen, sodass man zu ihrer Beherbergung mehrere Künstler  Vgl. Kropmanns in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 37 f.   Argan 1984, 18. 211   „A Paris, tout reprend son cours: expositions, ouvertures de nouvelles galeries, dont le nombre s’accroît chaque jour : […]“, Weill 2009, 164. 212   Ring 1930, 182. 213   Schüle 2003, 35. 214   Vgl. Warnod 1925, 21 – 23; Franck 2011, 239. 215   Schüle 2003, 34. 216   Vgl. Ewers-Schultz in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 234. 217   Vgl. Schüle 2003, 35. 218   Vgl. Franck 2011, 219 f.; Schüle 2003, 35. 219   „Alpinisme pour alpinisme, c’est toujours la montagne, l’art sur les sommets.“, Apollinaire, zitiert nach Courthion 1957, 105. 220   Vgl. Gaston Diehl: L’Ecole de Paris et les peintres de Montparnasse, in: L’extraordinaire aventure de l’aube du XXe siècle, Ausst.-Kat. 1979, 197 – 228, 197. 209 210

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siedlungen, die sogenannten Cités d’Artistes221, errichtete.222 Infolge der Ankunft dieser Maler/-innen und Bildhauer/-innen zogen auch einschlägige Geschäfte – Rahmenhersteller, Farbenverkäufer, eine Plattform für Modelle  – nach Montparnasse um.223 Dadurch entstand inmitten der ruralen Nachbarschaft mit ihren zahlreichen Kleinbauern und Arbeitern an der Kreuzung Boulevard Raspail/Boulevard Montparnasse ein kommunikatives Zentrum, das sogenannte Herz von Montparnasse224. Trotz dieses Wandels hob sich Montparnasse weder stark von anderen Vierteln ab, noch erschien es spezifisch künstlerisch.225 Im Gegensatz zu Montmartre war es „moins étouffant de mystère, moins pittoresque, moins exceptionnel et cependant pas trop banal.“226, so der zeitgenössische Kunstkritiker Raymond Cogniat. Auch wurde längst nicht jeder oder jede Kunstschaffende in Montparnasse sesshaft,227 wenngleich sich die Ateliers in bestimmten Straßen dieses Viertels dicht an dicht reihten.228 Viele kamen nur immer wieder nach Montparnasse zurück, um dort die Freiheit als Künstler/-in und Individuum auszukosten.229 Im Übrigen wurde dort – nach den schweren Zeiten des Bateau-Lavoir – endlich die Hoffnung auf bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen gestillt, auf ein passables ökonomisches Auskommen.230 Académies libres und La Ruche In Montparnasse begegneten sich berufserfahrene Künstler/-innen und Debütant/-­innen; junge Intellektuelle trafen hier auf arrivierte Literaten und Einheimische kamen mit Neuankömmlingen in Kontakt, wodurch das Viertel zu einem kosmopolitischen Fixpunkt wurde.231 Von der Nähe zur Sorbonne und Kunstakademie abgesehen, befeuerten diesen spirituellen Austausch vor allem die ansässigen Kunstschulen und Ateliers. Sie bildeten schließlich das Pendant zur Pariser École nationale des Beaux-Arts, die ihrerseits für eine tadellose, allerdings strikt konservative Ausbildung stand.232 Zeitgenössische Intellektuelle favorisierten daher die privat geführten Académies libres. Diese verfügten 221   Sylvie Buisson: À la Ruche, art et génies à tous les étages, in: Elles de Montparnasse, Ausst.-Kat. 2002, 58 – 73, 58. 222   Vgl. Schäfer 2000, 2558 – 2560. 223   Vgl. Franck 2011, 219 f. 224   Warnod 1925, 156. 225   „Montparnasse n’a rien dans son aspect qui lui donne l’air d’un quartier d’artistes.“, ebda., 155. 226   Cogniat in Huyghe/Bazin (Hg.) 1933 – 1934, 18. 227   Vgl. Warnod 1925, 162. 228   Etwa in der Rue Boissade, wo namentlich deutsche Zuwanderer residierten, oder der Rue CampagnePremière, zu deren Bewohner/-innen Othon Friesz, Giorgio de Chirico, Wassily Kandinsky, zwischenzeitlich auch Picasso, Giacometti und Max Ernst zählten, vgl. Schäfer 2000, 2558 – 2560. 229   Vgl. Warnod 1925, 162. 230   „Le Paris du début du siècle, celui de la Butte Montmartre, […] offrait à tout le monde l’aventure, promettait la gloire, mais ne donnait que la misère. Tandis que le Paris des années vingt, celui de Montparnasse, offre encore l’aventure, promet encore la gloire, mais il donne la richesse à plus qu’un artiste.“, Diehl in: L’extraordinaire aventure de l’aube du XXe siècle, Ausst.-Kat. 1979, 197. 231   Vgl. Fischer in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 105. 232   Florent Fels über die Ausrichtung solcher Institutionen: „Les Ecoles donnent tout au plus, une attitude. Elles ne donnent ni génie, ni talent, ce que nous réclamons aux peintres.“, Fels 1926, 176. Vgl. auch Warnod 1925, 9: „[…], l’École des beaux-arts offre un enseignement sans espoir, tandis qu’ailleurs règne une vivante activité“.

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über ein durchlässiges, internationales Netzwerk, während an der École des Beaux-Arts nur ein Minimum an ausländischen und weiblichen Studenten zugelassen wurde.233 Die Gründer der neuen Lehrstätten, meist erfolgreiche Maler/-innen oder Bildhauer/-innen, empfingen aber nicht nur Kunststudent/-innen, sondern wurden ebenso von Personen aus dem Handel, Mäzenatentum, der Kunstkritik oder Museumsbranche aufgesucht.234 Und so dienten ihre Ateliers auch der Pflege karrierefördernder Kontakte – als „Sprungbretter“235 für die noch jungen Talente. Selbst unter den vielen kleineren Ausbildungsstätten, die nicht einen Matisse, Colarossi oder Julian im Namen trugen, herrschte eine der­artige „souplesse“236, dass ihr Personal, Lehrende wie Studierende, ohne Weiteres zwischen den einzelnen Standorten wechselte und auf diese Art einen regen Dialog im ge­­sam­ ten Pariser Stadtraum garantierte.237 Entstanden waren die ersten dieser improvisierten Malschulen nach 1900 an der Rive Gauche, eingangs noch mit der gezielten Intention, Schüler auf die Aufnahmeprüfung an der École des Beaux-Arts vorzubereiten.238 Dabei nutzten Schüler und Schülerinnen einen Gemeinschaftsraum sowie ein Modell und erhielten Korrekturen durch Professoren oder Künstler/-innen. Bald jedoch entwickelte sich diese Form der Lehre zu einer selbstständigen Größe im Kunstbetrieb und schließlich galt ein Künstlerhaus, äquivalent zur École nationale des Beaux-Arts, als seriöse Ausbildungsmöglichkeit. Es stellte damit einen der sogenannten „lieux de convivialité […] ou d’activité“239 dar, welche für die „Pariser Kunstverhältnisse“240 unabdingbar waren. Nun könnte man leicht dazu neigen, die freien Akademien als Nachfolger des ­Bateau-Lavoir zu betrachten, doch mit diesem verwandt ist am ehesten La Ruche, das nach einem Bienenkorb benannte Atelierhaus in Montparnasse: „Les abeilles offrent à l’homme le plus bel exemple d’union qui soit dans le travail, dans l’effort…voilà pourquoi nous avons créé la Ruche.“241, erklärte der verantwortliche Architekt von La Ruche, ­Alfred Boucher. Nach der Weltausstellung von 1900 ließ Boucher den geräumigen Pavillon der Winzer in ein funktionales Ensemble aus insgesamt 140 Ateliers umbauen.242 Der Bau lag etwas versteckt an der Rue de Dantzig, im 15. Arrondissement, gegenüber den Schlachthöfen von Vaugirard.243 Wie um das Bateau-Lavoir rankten sich auch um La Ruche viele legendenhafte Erzählungen, z. B. wurde sie zu einer „Villa Médici de la misère“244 hochstilisiert, die auf der einen Seite für drastische Armut und auf der anderen Seite für faszinierende Kunst stand.245 Historisch gesehen war die Künstlersiedlung   Vgl. Ewers-Schultz in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 234.   Vgl. Kropmanns, in ebda., 31. 235  Ebda. 236   Fischer in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 111. 237   Vgl. ebda. 238   Vgl. hier und im Folgenden Ewers-Schultz in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 234; Bonnet 2000, 198. 239   Andral/Krebs, in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 21 f. 240   Feist, in: Von Renoir bis Picasso, Ausst.-Kat. 2011, 11 – 16. 241   Zitiert nach Buisson 2002, 58. 242   Jede Unterkunft wurde mit einer Schlafgelegenheit über der Tür ausgestattet, Strom und Gas gab es ­genauso wenig wie fließendes Wasser, was die Mieten wiederum extrem niedrig hielt, vgl. Gosling 1980, 208; Dorléac 1995 – 1996, 256 – 258; Franck 2011, 221 f. 243   Vgl. Nieszawer 2000, 19. 244   Jeanine Warnod, in: Elles de Montparnasse, Ausst.-Kat. 2002, 30. 245   Vgl. Warnod 2004, Les enfants de la Ruche, 243 f. (u. a. Schilderungen mehrerer Bewohner/-innen von La Ruche). 233 234

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in der Tat stark von Kontrasten gezeichnet – zunächst vom kriegsbedingten Elend und anschließend von der konjunkturellen und kulturellen Belebung, wobei für die École de Paris aber beide Perioden gleichermaßen essenziell sind: Bis zum Ersten Weltkrieg fanden sich, begleitet von ehemaligen Bewohner/-innen des Bateau-Lavoir, in La Ruche Avantgardisten wie Archipenko, Brancusi, Lipchitz, Zadkine, Chagall, Soutine, Krémègne und Kikoïne ein.246 So konzentrierten sich in dieser ersten Epoche bereits mehrere bekannte Persönlichkeiten der École de Paris an diesem Ort.247 Während der Années folles stieg der Zustrom aus dem Ausland dann erneut an,248 und es wurde deutlich, inwieweit sich diese multinationale Mieterschaft von jener des Bateau-Lavoir unterschied: Vornehmlich zogen in La Ruche nämlich slawische und jüdische Immigrant/-innen aus Mittel- sowie Osteuropa ein,249 daneben Japaner, Skandinavier und US-Amerikaner.250 So unterschiedlich die Nationalitäten, so vielfältig war auch der tägliche Sprach­ gebrauch unter den Bewohner/-innen von La Ruche. Das Jiddische konkurrierte als länderübergreifendes Idiom mit der französischen Sprache, wohingegen Russisch, Italienisch, Polnisch, Norwegisch, Deutsch und Schwedisch nur selten gesprochen wurden.251 Warnod widmete den Russen, Polen, Skandinaviern, Amerikanern und Japanern je ein eigenes Kapitel in seinem Buch über Montmartre und Montparnasse;252 später erweiterte sein Zeitgenosse Élie Faure den Kreis der Montparnasse-Künstler/-innen um Afrikaner, Araber, Hindus, Perser, Ägypter und Chinesen.253 Somit waren La Ruche und Montparnasse in ihrer zweiten Ära, die der Zeit des Entre deux Guerres entsprach, mehr denn je international geprägt. Im Übrigen war die Tatsache, dass an der Rive Gauche längst nicht mehr nur die einheimische Kunst und der französische Geist, sondern „tous les pays du monde ancien et nouveau“254 wirkten, ausschlaggebend für das besondere Klima dieses Stadtteils.255 Hiervon einmal abgesehen nahm Frankreich damals tatsächlich mehr Immigranten als andere Länder auf, primär aus wirtschaftlichen und demografischen Motiven, da die französische Bevölkerung im Zuge des Krieges stark dezimiert und die Geburten­rate überdies im Sinken begriffen war.256 Umso dringender wurde für die Montparnos eine neue Anrede benötigt, die ihren geeinten, aber multikulturellen Cha  Vgl. Buisson 2002, 64; Dorléac 1995 – 1996, 256.   Vgl. Buisson 2002, 66: „Elle [La Ruche, Anm. d. Verf,] avait recueilli les étincelles de génie et des grands et jeunes mythiques de l’École de Paris […].“ 248   Vgl. Fischer in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 105; Restellini: Jonas Netter et l’aventure de Montparnasse. Aux origines de l’École de Paris, in: Modigliani, Ausst.-Kat. 2012, 8 – 27, 15. 249   Vgl. Dorléac 1995 – 1996, 255. Vgl. auch die Auflistung in Franck 2011, 222 f. 250   Vgl. Warnod 1925, 160 f.; Modigliani, Ausst.-Kat. 2012, 15. 251   Vgl. Gosling 1980, 208. 252   Vgl. Warnod 241 – 264. 253   Vgl. Faure 1931, 231. 254   Warnod 1925, 160 f. 255   „Il est certain que le choc de toutes ces races, de toutes ces civilisations, cette soif de liberté que chacun apporte de son pays mettent à Montparnasse une fièvre que ne lui donneraient pas les peintres français qui ont leurs habitudes.“, ebda., 163. 256   Vgl. Romy Golan: The ‚Ecole française‘ vs. the ‚Ecole de Paris‘: The Debate about the Status of Jewish Artists in Paris Between the Wars. In: Kenneth Silver/Romy Golan (Hg.): The Circle of Montparnasse: Jewish Artists in Paris, 1905 – 1945, New York 1985.  https://www.academia.edu/7216174/Ecole_Francaise_vs_Ecole_de_Paris_The_Debate_over_Jewish_Artists_ in_Paris_1905 – 1945 (zuletzt geprüft am 15. 11. 2021). 246 247

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rakter berücksichtigte. Warnods Vorschlag, École de Paris, leistete dies in angemessener Weise, da er keine Verbindung mit der französischen Nation, wohl aber eine lokale Verknüpfung der Künstler/-innen mit Paris insinuierte. Die École de Paris, eigentlich eine aus der Not geborene Bezeichnung, wurde so ab Mitte der zwanziger Jahre geläufig und avancierte zu einer Art Gütesiegel oder Marke, wodurch ihre Verbreitung nur noch weiter angefacht wurde. Gewiss war ihr öffentliches Renommee vor allem auf ihren Kosmopolitismus zurückzuführen, doch gleichzeitig ließ sich das Publikum von bestimmten, charismatischen Persönlichkeiten der École de Paris beeindrucken  – etwa durch ihr tragisches Schicksal, ihren ominösen Lebenswandel oder ihr aus dem Rahmen fallendes Talent. Dazu zählen zweifellos Amedeo Modigliani, Chaïm Soutine, Jules Pascin und Moïse ­Kisling,257 ebenso wie der Kunsthändler Adolphe Basler oder die Kabarettsängerin Kiki de Montparnasse als Lieblingsmodell der zitierten Maler.258 Sie unterstützten die École de Paris dabei, ein lukratives Label zu werden und sorgten – geradeso wie heutige Markenbotschafter  – dafür, dass sich beim internationalen Publikum ein Markenbewusstsein etablierte und die Nachfrage an Kunstwerken „Made in Paris“259 anstieg. Cafékultur Ebenfalls günstig wirkte sich der lebendige Café- und Restaurantbetrieb von Montparnasse aus.260 Viele der dortigen Cafés hatten neben ihrer kommunikativen Rolle eine wichtige distributive Funktion, indem sie als Verkaufsplattform oder, wie Kropmanns es ausdrückte, „als Umschlagplatz der Informationen, als Laboratorium der Ideen oder, je nach Position, Brutstätte künstlerischen Anarchismus“261 dienten. Zwischen den beiden Weltkriegen florierten der örtliche Ausstellungsbetrieb und Handel, wodurch weitere Maler/-innen und Modelle nach Montparnasse gelockt wurden.262 Fels erinnerte sich z. B. bildlich, wie man in oder vor den Cafés mit Kunstwerken der École de Paris han­ delte.263 Sonderausstellungen wie diejenige der Compagnie des Peintres et Sculpteurs professionnels im Café du Parnasse von 1921 wurden meist gemeinschaftlich von Gastro­ nomen und Künstlervereinen organisiert.264   Vgl. Carluccio 1981, 108 und 113; Haftmann 1987, 327 f.   Zu Basler vgl. Warnod 1925, 272; zu Kiki de Montparnasse vgl. Franck 2011, 390, 395 f. 259   Silver in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 41. 260   „L’Ecole de Paris doit son succès et sa fortune à tous ceux qui fréquentent les ateliers, les théâtres, les ­salons et les bars (ces derniers ne cessent d’augmenter en nombre, surtout à Montparnasse, de plus en plus populaire, qui voit s’ouvrir le Select en 1924 et la Coupole en 1927).“, Carluccio 1981, 108. Vgl. auch Andral/ Krebs: La communauté artistique, in dies. 2000, o. S. 261   Kropmanns in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 32. 262   Vgl. zu dieser Epoche René Pillorget: Kapitel VII. Les Annés Folles, in Bastié/Pillorget 1997, 271 – 310. 263   „[…] sous le manteau ou sous les terrasses de La Rotonde, du Dôme, de La Coupole, des trafiquants achètent et vendirent des esquisses de Derain, des aquarelles d’Utrillo, des croquis de Modigliani, des épures de Picasso échappés par miracle du carton des artistes.“, Fels: Le roman de l’art vivant, Paris 1959, zitiert nach Nieszawer 2000, 59. 264   Diese Ausstellungen kamen zuallererst solchen Maler/-innen zugute, die der offiziellen Kunst abschworen und gleichzeitig Distanz wahrten zu anderen, Aufsehen erregenden Gruppierungen. „Parmi eux, il y a des étrangers de tous les pays, il y a aussi beaucoup de Français ; tous luttent, coincés entre le tapage des beaux parleurs et, d’autre part, les élèves de l’École des Beaux-Arts qui les accusent de faire ‚le jeu des métèques‘. C’est parmi ces artistes que se recrutent la plupart des peintres qui exposent dans les cafés de Montparnasse.“,Warnod 1925, 191. 257 258

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Wie ein Salon, nämlich mit von Bildern übersäten Wänden, präsentierte sich infolgedessen das Interieur zahlreicher Cafés.265 Oftmals wurden Künstler/-innen sogar dazu ermutigt, dem Gastwirt die eine oder andere ihrer Arbeiten, eventuell auch als Zahlungsmittel, zu überlassen. So ließ sich etwa Bob Lejeun, der Betreiber des Jockey, von jedem seiner Stammgäste ein Kunstwerk aushändigen.266 Weitaus geschichtsträchtiger als das Jazzlokal Jockey war allerdings die Closerie des Lilas, 267 im Deutschen Fliedergärtchen, die zuvor von Monet und Renoir, Paul Verlaine, André Gide und Paul Léautaud frequentiert wurde. Die Stammgäste dieses Cafés, bestehend aus Studenten/-innen, Maler/-innen und Intellektuellen, trugen ihm und seiner Nachbarschaft schließlich den Ruf einer Künstlerszene ein, was Pierre Courthion in seinem Roman de l’Art vivant vor allem auf Apollinaire zurückführte: Au moment où l’intérêt des nouveaux artistes arrivés se porte sur ce quartier, Guillaume Apollinaire, chez l’éditeur Figuière, publie les Peintres cubistes, et fait de la Closerie des Lilas le premier café littéraire et artistique de la rive gauche, celui des cubistes et des futuristes.268

Le Dôme, das zusammen mit La Rotonde zu den renommiertesten Cafés der französischen Hauptstadt zählte, wurde insbesondere von auswärtigen Künstler/-innen besucht; schließlich ersetzte es mit seiner kosmopolitischen, inspirierenden Atmosphäre „die Heimat der heimatlosen Europäer“269, so der Eindruck von Friedrich Ahlers-Hestermann, einem der zahlreichen deutschen Dômiers.270 Damit übereinstimmend schrieben die Franzosen Adolphe Basler und Charles Kunstler „Ce café […] était devenu une sorte d’université ‚sans doctrine et sans pensums‘“271. Dabei gingen die überwiegend deutschen Gäste von Le Dôme privat wie beruflich ihren üblichen Gewohnheiten nach und bildeten eine enge Gemeinschaft, was zwangsläufig einen intensiven Austausch mit ihrem französischen Gastland verhinderte.272 „Eigentlich lebten wir doch alle wie richtige Emigranten, lasen deutsche Zeitungen, bewunderten wohl französisches Leben, beschauend, ohne besonders stark daran teilzunehmen!“273 gestand Hans Purrmann, Stammgast in Le Dôme, während seiner Studienzeit in Paris. Indessen präsentierten sich die deutschen Händler Wilhelm Uhde, Alfred Flechtheim und Herwarth Walden sowohl aufgeschlossen als auch engagiert; auf ihre Vermittlung gingen eine Vielzahl von Verbindungen zwischen Dômiers und französischen Avantgardisten – darunter Robert Delaunay, Albert Gleizes oder Jean Metzinger – sowie einige der bis 1914 in Deutschland organisierten Ausstellungen zurück.274 Als der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, mussten die Dômiers jedoch fluchtartig nach Deutschland zurückkehren.275 Denn gemeinsam   Ebda., 188.   Vgl. ebda., 203 f. 267  Zur Closerie des Lilas vgl. Franck 2011, 225 f. 268   Courthion 1957, 105. 269   Ahlers-Hestermann 1918, 402. 270   Vgl. Auch Franck 2011, 239; zu den Dômiers vgl. Gautherie-Kampka 1995. 271   Basler/Kunstler 1929, 100. 272   Vgl. Ewers-Schultz in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 236. 273   Zitiert nach ebda. 274   Vgl. ebda. Zu besagten Ausstellungen zählte u. a. der Erste Deutsche Herbstsalon in der Berliner SturmGalerie (1913), außerdem Les Dômiers in der Düsseldorfer Galerie Flechtheim (1914), vgl. Nieszawer 2000, 15. 275   Vgl. Ewers-Schultz in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 237. 265 266

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mit dem Kubismus, den die Pariser jetzt als Art boche verschrien, wurden sie, aber mit ihnen auch zahlreiche nicht-deutsche Anhänger der Avantgarde, aus Frankreich verdrängt und entwurzelt.276 Auf derselben Stufe wie Le Dôme stand die nur wenige Schritte entfernte Brasserie La Rotonde. Ab 1911 fanden Maler/-innen und Literat/-innen hier ein Refugium und in dem Inhaber Victor Libion einen gutherzigen Spender vor, der ihnen, analog zu Frédéric Gérard in Montmartre, bereitwillig Kredite oder einen Unterschlupf gewährte.277 Nicht ohne Grund betitelte Warnod diesen Künstlertreff, der später auch junge, vornehmlich russische Talente wie z. B. Chaïm Soutine oder Natalija Gontscharowa anzog, als „Palais des beaux-Arts“278. Beide Lokalitäten, Le Dôme wie auch La Rotonde, waren für Montparnasse gleichermaßen bedeutend – Le Dôme vor allem als Treffpunkt vor 1914, La Rotonde demgegenüber als Inbegriff des florierenden Stadtteils während der Années folles. Gemeinsam mit anderen, kleineren Cafés – dem Café du Parnasse, Le Caméléon, La Closerie des Lilas – bildeten sie die für Künstler/-innen essenziell wichtige Cafészene von Montparnasse. Besonders gut kommt diese enge Verbundenheit von Gastronomie und Kunst in einer Rede von Serge Romoff aus dem Jahr 1921 zum Ausdruck: Au café, où nous passons quelquefois les meilleurs moments de notre vie, nous voulons apporter le meilleur de nous-mêmes : notre art. Nous le soumettons au jugement non seulement des initiés mais de la foule, sans fiacre. Aux passants, la porte est ouverte ! La bonne fortune nous a permis de nous installer ici, dans ce centre artistique du Montparnasse qui est le carrefour de la grande capitale du monde, dans ce Paris qui est la capitale de la Grande République internationale des lettres et des arts279.

Kunsthandel Durch den beschriebenen inoffiziellen Handel diversifizierte sich nicht nur die Pariser Künstlerschar, sondern auch die Gruppe der Sammler und Händler: Bereits Mitte der  1920er-Jahre widmeten sich Sammler/-innen, Liebhaber/-innen, Dichter/-innen, Schriftsteller/-innen und selbst Künstler/-innen dem Aufstöbern von und Spekulieren mit Werken der Kunst.280 Aus dieser breiten Schicht ragten als ausgewiesene Kenner der Montparnos und als Fürsprecher der École de Paris zwei Persönlichkeiten heraus: Léonce Rosenberg und Léopold Zborowski.281 Erstgenannter lancierte in seiner Galerie L’Effort Moderne in der Rue de Baume vor allem kubistische Maler/-innen,282 deren Werke er – nachdem Daniel-Henry Kahnweiler   Vgl. ebda.   „Cette première Rotonde fut plus que tout autre endroit, le vrai berceau du Montparnasse actuel. On y voyait réunis les peintres qui, après avoir inventé le cubisme, avaient quitté Montmartre et le bateau-lavoir : Picasso, Braque, Derain, Vlaminck, Max Jacob, Apollinaire, Salmon.“, Warnod 1925, 208. Vgl. außerdem Nieszawer 2000, 15 – 17; Franck 2011, 248 f. 278   Warnod 1925, 211. 279   Romoff: Vorwort im Ausstellungsblatt von Quarante-sept artistes exposent au café du Parnasse, 103, boulevard du Montparnasse, Paris, Eröffnung am 8. April 1921, zitiert nach Fabre in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 27 f. 280   Vgl. Warnod 1925, Les marchands, 270 – 274. 281   Zu Rosenberg und Zborowski vgl., sofern nicht anders vermerkt, Jakobi in Chaudonneret (Hg.) 2007, 242 – 247. 282   Im Einzelnen Picasso, Metzinger, Laurens, Lipchitz, Gris, Léger und Braque, vgl. Nahon 1998, 130. 276 277

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1914 in die Schweiz exiliert war – eifrig aufkaufte.283 In der Nachfolge Kahnweilers wirkte er wie „le père adoptif du cubisme“284, griff förmlich dem nahenden Aufschwung und dem Internationalismus des Après-Guerre vor. Denn neben Braque und Léger, Picasso, Gris und Maria Blanchard zählten zu seinen Klienten auch die Italiener Severini und De Chirico, der Russe Chagall, der Pole Hayden, der Litauer Lipchitz, der Ungar Csàky sowie der Mexikaner Rivera. Darüber hinaus war Rosenberg im Laufe der zwanziger Jahre verlegerisch tätig, gab etwa die monografische Serie Les Maîtres du Cubisme (1920 – 1921) sowie das Bulletin de l’Effort Moderne (1924 – 1927) heraus, noch immer in dem Bestreben, den Kubismus in der figurativen, französischen Tradition zu verwurzeln. Die Autorin Marianne Jakobi mutmaßte daher zu Recht, dass Rosenberg anderen Händler/-innen zuwiderhandelte und vor allem just jene Künstler/-innen ausstellte, die diese für nicht würdig hielten, in Paris ausgestellt zu werden. Seine Geschäftsmethoden sind mit denen des jungen polnischen Händlers Léopold Zborowski vergleichbar, auch wenn dieser für eine gänzlich andere Kunstrichtung stand. Seit 1916 der Galerist von Modigliani, nahm sich Zborowski nämlich rasch der als Peintres maudits285 charakterisierten Künstler an. Er sicherte ihnen zuerst einen Namen und ein gewisses Einkommen, bevor er sie, gleichsam salonfähig, in die angesehenen Kunsthandlungen der Rue la Boëtie und von dort aus auf dem offiziellen Kunstmarkt einführte. Als ein „marchand en appartement“286 operierte Zborowski von seiner Wohnung in der Rue Josephe Bara aus, die sich unweit des Boulevard Montparnasse, somit in nächster Nähe zur Künstlerszene befand. Seine Kunst reichte er, ebenso wie Léonce Rosen­berg, an die bekanntesten Galerien für moderne Kunst am rechten Seineufer weiter, namentlich an jene von Paul Rosenberg und Paul Guillaume. Wie dies Schritt für Schritt funktionierte, erläuterte ein zeitgenössischer Artikel mit der Überschrift Der junge Künstler und sein Händler in Berlin und Paris aus der deutschen Zeitschrift Kunst und Künstler: Wenn der neue Künstler einschlägt – das heißt wenn der Händler eine Reihe von Personen findet, die mit ihm auf den Künstler ‚setzen‘ ‒, können die Preise vorsichtig gesteigert werden. Die größeren Händler der Rive gauche werden auf den neuen Mann aufmerksam, sie erwerben Lots seiner Werke, bemühen sich ihrerseits, ihre Amateure für ihn zu gewinnen. Der Künstler wird jetzt suchen, einen günstigeren Vertrag zu erbeuten, möglichst schon diesseits der Seine, im Quartier der Rue la Boëtie.287

Die Autorin dieses Artikels, Grete Ring, sprach im Weiteren  – übereinstimmend mit André Warnod – von einem neuartigen Händlertypus, dessen Handeln sich stärker als zuvor am Geschmack der expandierten Schicht der Sammler orientierte.288 Ein zweites Merkmal dieses Typus war sicherlich, auch im Falle von Zborowski, das ausgesprochen enge Verhältnis zum Protegé: Mit Modigliani verband ihn etwa eine lange Freund  Vgl. Franck 2011, 361.   Campa/Read (Hg.) 2009, 19. 285   Coquiot porträtierte 1924 insgesamt neun Pariser Künstler unter dem Titel Les Peintres Maudits: Cézanne, Daumier, Gauguin, Lautrec, Modigliani, Rouault, Seurat, Sisley, Utrillo und Van Gogh, vgl. Coquiot 1924. Die Bezeichnung ließ sich aber genauso gut auf weniger Künstler/-innen oder mehr (jüdische) Künstler/-innen beziehen, ohne dabei – ähnlich der École de Paris – eine feste Mitgliedschaft vorauszusetzen. 286   Warnod 1925, 271; oder „marchands en chambre“, Jakobi in Chaudonneret (Hg.) 2007, 244. 287   Ring 1930 – 1931, 180. 288   Vgl. ebda. 182 und Warnod 1925, 271. 283 284

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schaft,289 und sein Einfühlvermögen und Charisma, das man ihm attestierte, konnten ihm im Umgang mit Künstler/-innen als auch Käufer/-innen nützlich sein.290 Sammlerinnen gab es nur wenige, angeführt von der Verlegerin Gertrude Stein, 291 die man rückblickend als eine „finanzielle und geistige Wohltäterin“292 für das Kunstschaffen abseits der großen Akademien würdigte. Tatsächlich ähnelten ihre Räumlichkeiten in der Rue Fleurus Nr. 27 weniger einem Kunsthandel als einem Ausstellungsort und lite­rarischen Sammelpunkt in Montparnasse. Zur Diskussionsrunde am Samstagabend, den „soirées du samedi“293, kehrten bei den Steins demnach Gelehrte und Künstler/-innen verschiedener nationaler Herkunft ein, darunter Picasso, den sich Gertrude Stein als Protégé auserwählte, und Matisse, für den sich insbesondere ihre Brüder Leo und ­Michel begeisterten.294 Diese drei aus einer gut situierten amerikanischen Familie stammenden Geschwister zogen bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts an die Rive Gauche, wo sie Mäzene der ersten Stunde wurden.295 Mit dem Erwerb von Matisse’ Hauptwerken sowie von Picassos Bildern aus der Rosa Periode legten die Steins den Grundstock für ihren mit neuester Kunst ausgestatteten Salon; überdies antizipierten sie dem kaufkräftigen Publikum aus Amerika, das während der zwanziger Jahre in Paris einstürmte.296 Die erste von einer Frau geführte Galerie eröffnete Berthe Weill Ende 1901 in der Rue Victor Massé Nr. 24 im 9. Pariser Arrondissement, an der Rive Droite.297 Weill zählte neben Gertrude Stein zu den frühesten Abnehmern von Picassos Œuvre, sie erwarb außer­dem Arbeiten von Metzinger und Gris sowie von Matisse und den Fauves, noch bevor sie unter diesem Namen in die Kunstkritik eingingen.298 Damit war Weill die Erste, gefolgt von Clovis Sagot und Ambroise Vollard, die das neue, zeitgenössische Kunstschaffen in privatem Rahmen ausstellte. Während des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegszeit wechselte die Galerie B. Weill dann mehrfach ihren Sitz, bezog 1917 Geschäftsräume in der Rue Taitbout und drei Jahre später in der Rue Laffite.299 An ihrem zweiten Standort fand im Oktober 1917 die Vernissage zur ersten Einzelausstellung Modiglianis statt. Wie Weill persönlich in ihren 1933 publizierten Memoiren berichtete, wurde diese Präsentation, die in einen öffentlichen Skandal mündete, durch Modiglianis Händler Zborowski angeregt: „Zborowski me demande de faire une exposition de peintures et dessins de Modigliani; j’accepte, bien entendu.“300 Gleich darauf folgt eine Schilderung vom Tag der Ausstellungseröffnung, dem 3. Oktober 1917:   Vgl. Franck 2011, 362 – 366.  Vgl. z. B. Warnod 1925, 271; Réné Gimpel, Tagebucheintrag vom 9. 9. 1926, zitiert nach Nieszawer 2000, 22. 291   Zu Gertrude Stein vgl. The Steins Collect, Ausst.-Kat. 2011, 286 – 422. 292   Franck 2011, 132. 293   Emily Braun: Les soirées du samedi chez les Stein, in: The Steins Collect, Ausst.-Kat. 2011, 118 – 146, 118. 294   Zu den Geschwistern Stein vgl. auch Gosling 1980, 122 – 126 sowie 132. 295   Vgl. insbes. Rebecca Rabinow: Les Stein à la découverte de l’art moderne. Les premières années à Paris, 1903 – 1907, in: The Steins Collect, Ausst.-Kat. 2011, 52 – 98. 296   Darunter u. a. der amerikanische Kunstsammler Albert C. Barnes, vgl. Carluccio 1981, 101. 297   Vgl. Perry 1995, 37. 298   Vgl. ebda.; Nacenta 1960, 68 f. 299   Vgl. Weill 2009, 165. 300   Ebda., 124. 289 290

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Le dimanche on accroche et le lundi 3 octobre 1917, vernissage. Nus somptueux, figures anguleuses, portraits savoureux. Assemblée choisie. Le jour baisse, on allume a giorno. Le passant, intrigué de voir  tant de monde en cette boutique, s’arrête médusé. Deux passants,… trois passants … la foule s’amasse.301

Letzten Endes wandte sich noch am selben Abend die Gendarmerie an die Galeristin und drohte ihr mit der Beschlagnahmung der freizügigen Exponate, sollte sie diese nicht eigenhändig entfernen. Zwar lief der Ausstellungsbetrieb auch ohne die strittigen Aktbilder weiter, der Erlös allerdings beschränkte sich auf 60 Francs für zwei verkaufte Zeichnungen, sodass Weill, um ihren Kollegen Zborowski entschädigen zu können, selbst fünf weitere Gemälde Modiglianis ankaufte. Dieses ambitionierte, dabei unrentable und selbstlose Ausstellungsprojekt deutet bereits darauf hin, dass Weill für den Durchbruch vieler Montparnos wichtige Vorarbeiten leistete. „Tous les peintres qui ont un nom à présent“, schrieb in diesem Zusammenhang Warnod, „tous ceux qui ont joué un rôle dans l’art d’aujourd’hui ont été accueillis par elle alors qu’ils débutaient dans la carrière et n’étaient soutenus par personne.“302 Weills Kunsthandel blieb trotz aller Widrigkeiten und finanzieller Schwierigkeiten über Jahre hinweg bestehen; zur Jubiläumsausstellung am 21. Februar 1921 drangen diverse Künstler/-innen, Sammler/-innen und Kunstkritiker/-innen in die Rue Laffite, darunter Druet, Basler und Zborowski,303 was von der großen Anerkennung zeugt, die Weill bei diesen renommierten Pariser Galeristen genoss. Sie selbst sah ihre Lebensaufgabe hingegen nicht so sehr im finanziellen Erfolg  – „Gagner de l’argent, est-ce mon rôle? Non!“304  –, sondern darin, sich für das Fortkommen anderer stark zu machen. Dem­ entsprechend waren die von ihr lancierten Künstler/-innen für Weill mit Kindern vergleichbar, die sie unter Inkaufnahme gewisser Opfer emporbrachte.305 Dazu zählten nicht nur viele Mitglieder der École de Paris, sondern vor allem auch Künstlerinnen, namentlich Alice Halicka, Marie Laurencin, Jacqueline Marval, Suzanne Valadon und Émilie Charmy. Dieser Blick auf Montparnasse offenbarte nochmals, was weiter oben bereits erkennbar wurde, nämlich dass sich der rentable Handel mit Pariser Kunst auf ein vielschichtiges Netzwerk, auf rege Beziehungen und Freundschaften zwischen Produzenten, Sammlern und Käufern stützte.306 Ob „in einer der entlegeneren Bilderstraßen des linken Seineufers“307 oder im zentralen Galerieviertel – junge Händler und Connaisseure waren, durch ihre Beratung und Empfehlung, maßgeblich an der Gestaltung des modernen Kunstmarktes beteiligt. „Weshalb“ fragte die zitierte Autorin Grete Ring, „macht der große Händler das Geschäft nicht von Anfang an?“, um hiernach zu erläutern, dass dieser den Künstler lieber „fertig hergerichtet zur endgültigen Weitergabe an den großen Sammler [übernimmt]“308, nachdem ihn z. B. ein Marchand en chambre wie Zborowski   Hier und im Folgenden ebda., 124 f.   Warnod 1925, 272 f. 303   Vgl. Weill 2009, 141. 304   Ebda., 170 f. 305   Vgl. ebda., 170: „Eh! Oui, le succès a couronné mes efforts! Tous mes enfants, ou presque tous, ont réussi!“ 306   Vgl. dazu Malcolm Gee: Le réseau économique, in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 127 – 137. 307   Ring 1930, 180. 308   Ebda., 182. 301 302

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in den Kunstmarkt eingeführt hatte. Einmal mehr stellen sich solche unabhängigen Galeristen  – nebst den Gastronomen  – also als die wahren Entdecker und Förderer der École de Paris heraus. Festkultur In seiner Autobiografie Fils du Montmartre schwärmte Warnod geradezu von der zeitgenössischen Pariser Festkultur: Comme il faisait bon vivre à Paris durant les années qui précédèrent la guerre de 1914  ! Paris se passion­nait pour les fêtes, les bals costumés, les spectacles somptueux. On aimait l’esprit. Un bon mot faisait rire longtemps. Le désir de s’amuser animait toutes les classes de la société.309

Auch in Montparnasse zeichneten u. a. wieder die bekannten, karitativen Künstlerverbände für abendliche Bälle und andere Festivitäten verantwortlich.310 Diese konnten je nach Anlass und Gastgeber elegant, komödiantisch oder exzentrisch ausfallen.311 Im aristokratischen Milieu wurde so z. B. zu einer seriösen Soirée, gelegentlich auch zu ­einem Kostümfest geladen; als Künstler/-in hingegen zelebrierte man unterschiedlichste Mottos und staffierte sein Atelier oder sogar die ganze Straße mit passenden, selbst kreierten Dekors und Plakaten aus. Zum Verkleiden lud vor allem der Bal des Quat’z Arts ein, benannt nach den vier Bildenden Künsten Malerei, Bildhauerei, Zeichnung und Architektur.312 Dessen wechselnde Themen bedingten, dass die Gäste sich zwar einem Volksstamm entsprechend, jedoch nicht unbedingt mit historischer Akkuratesse, kostümierten. Außerordentlich stark frequentiert wurden auch die Bälle der A. A.A.A. (Aide amicale aux Artistes) sowie die Bälle im Hause Watteaus, der Bal Bullier und schließlich der berüchtigte Bal Nègre.313 Bei diesem öffentlichen Spektakel in der Rue Blomet spielten Musiker die Klarinette und das Tambourin, man tanzte die indische Beduine und trank Rum; neben Afrikanern und Soldaten aus dem französischen Kolonialgebiet wohnten dem Bal Nègre während der Années folles auch mehr und mehr Künstler/-innen und Literat/-innen der École de Paris sowie neugierige Einheimische bei.314 Brassaï nahm dieses Tanzspektakel deshalb auch als eine körperbetonte und ekstatische Form der Völkerverständigung wahr.315 Losgelöst von gesellschaftlichen Konventionen erschien die Festkultur in Montparnasse in der Tat exzessiv. Selbst die Bankette, die man zu Ehren von Künstler/-innen,   Warnod 1955a, 158.   Vgl. Brassaï über „Les bals d’artistes de Montparnasse“, ders. 1976, 125. 311   Zu den unterschiedlichen Bällen vgl. Franck 2011, 449 – 451; Modigliani, Ausst.-Kat. 2012, 16. 312  Zum Bal des Quat’z Arts vgl. Brassaï 1976, 151 – 156; Warnod 1955a, 162 f. 313  Zum Bal Nègre vgl. Brassaï 1976; Modigliani, Ausst.-Kat. 2012, 16. 314   Vgl. ebda.; Franck 2011, 450 f. 315   „Comme si le carnage avait suscité une frénésie sexuelle, brusquement les femmes blanches, folles de leurs corps et oubliant que jusqu’alors tout contact avec les Noirs frôlait le scandale, furent irrésistiblement attirées vers ce Harlem parisien du quinzième arrondissement. Tous les soirs, les voitures luxueuses y déversaient leur cargaison de névrosées élégantes du Bottin mondain, pressées de se jeter littéralement dans les bras de beaux Sénégalais, Antillais, Guinéens ou Soudanais taillés en athlètes./Une magie hystérique s’emparait de cette salle secouée par ces rythmes syncopés ; les épaules frissonnaient, les seins frôlaient, les hanches ondulaient. On aurait cru assister à quelque cérémonie vaudou. Etroitement accolés ventre contre ventre, poitrine contre poitrine, les couples se tortillaient comme s’ils étaient nus dans leur lit …“, Brassaï 1976, 129. 309 310

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Händler/-innen oder anderen geistigen Größen ausrichtete, zählten selten weniger als 20 Gäste; das Festmahl für Louis Vauxcelles hatte gar 300 Gäste, sodass sich manch einer wieder nach den kleinen, intimen Banketten früherer Zeiten zurücksehnte.316 Es verwundert daher nicht, wenn Hemingway, der die ausschweifenden zwanziger Jahre in der französischen Hauptstadt verbrachte, verlautbarte: „Paris est une fête“317. Auch die Souvenirs von Kiki de Montparnasse ließen die typischen Ausschweifungen dieser Ära nicht unerwähnt: „[…] on boit et on danse. On fume et on fait l’amour. […] On écrit et on peint. […] Du coco, de l’héroïne, de la neige […]. On se pique et on renifle entre le pouce et l’index.“318 Ohne hier weiter auf die klischeehafte Verbindung von Amour libre und freier Kunst einzugehen, ist das kreative Potenzial der oben geschilderten Fest­essen, Tanzabende, Straßenfeste oder Kostümpartys unumstritten. Sie sorgten dafür, dass Künstler/-innen, Dichter/-innen und Denker/-innen allabendlich mit ihresgleichen, aber auch mit gut situierten Pariser Bürger/-innen, d. h. mit künftigen Auftraggeber/-innen, zusammenkamen. Neben den populären Cafés machten deshalb gerade auch diese Feierlichkeiten Montparnasse zu einem der energetisch bedeutenden Orte für die Durchsetzung der Pariser Kunst. Der Börsenkrach von 1929 und die daraufhin einsetzende globale Panik bescherten der Kunstszene von Montparnasse eine jähe Krise: Tout alla ensuite de mal en pis. Une crise financière en Amérique eut des répercussions désastreuses. Un vent de panique souffla. Les nouveaux mécènes, les collectionneurs, les marchands voulurent se défaire tous ensemble de leurs tableaux. Cela jeta le désarroi sur le marché de la peinture ; le pactole cessa de couler dans les ateliers, les spectres de la misère et de l’inquiétude se dressaient un peu partout.319

Zwar erstarb die lokale, künstlerisch-artistische Szene dadurch nicht ganz, doch es kristallisierte sich bald ein neues Avantgarde-Zentrum heraus, das Montparnasse ablösen sollte. Während einst Montmartre vom Tourismus heimgesucht worden war und die ­Pariser Bohème nach Montparnasse getrieben hatte, schwand nun auch hier der Charme des alten, authentischen Paris dahin. Allmählich strebte man daher ins 6. Arrondissement, nach Saint-Germain-des-Prés320, das als Ausdehnung des Quartier Latin verstanden werden kann. Dieser Stadtteil bot trotz seiner zentralen Lage eine noch ruhige Atmo­sphäre; in seinen vielen Buchhandlungen, Antiquariaten und alten Stadtpalais schlug sich seine Vergangenheit als Viertel der Literaten nieder. Hier sollten ab 1930 zunächst die Philosophen und Schriftsteller, später die Künstler/-innen eintreffen und die weithin bekannten Cafés am Boulevard Saint-Germain bevölkern: das Deux Magots, das Flore sowie die Brasserie Lipp. Namen wie André Breton, Jean Giraudoux, Antoine de Saint-Exupéry oder Léon-Paul Fargue ließen die literarische Tradition vor Ort wiederaufleben und sind bis heute untrennbar mit dieser „capitale intellectuelle de Paris“321 verbunden.   Vgl. Weill 2009, 137, 168.   Ernest Hemingway: Paris est une fête, Paris: Gallimard 1964; die Originalausgabe erschien 1964 unter dem Titel A Moveable Feast bei Charles Scribner’s Sons in New York. 318   Kiki de Montparnasse 1929, 97 f., 100, zitiert nach Modigliani, Ausst.-Kat. 2012, 153. 319   Warnod 1955a, 286. 320   Zu Saint-Germain-des-Prés vgl. Nacenta 1960, 18 – 20. 321   Ebda., 18. 316 317

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Wie gesehen wechselte die École de Paris nahezu zyklisch ihren Standort. Dieser Umstand führte sie letztlich durch die verschiedenen Milieus der Stadt: durch das pastorale Montmartre mit seinen Gartenwirtschaften, anschließend den Dreh- und Angelpunkt Montparnasse und zuletzt das weniger künstlerische, dafür intellektuelle SaintGermain-des-Prés.

Die Rezeptionsgeschichte der École de Paris In seinem 1961 erschienenen Werk über die moderne Pariser Kunst schrieb Bernard Dorival: Vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit können wir in Frankreich wie im Ausland stets die gleiche Erscheinung verfolgen: Zuerst unbekannt, dann angefeindet, gelang es den avantgardistischen Künstlern nach und nach, eine kleine Elite von vorausschauenden Kritikern, dem Neuen offenen Sammlern und mit Spürsinn begabten Kunsthändlern für sich zu interessieren.322

Nach wie vor gilt dies für die fachkundige genauso wie die öffentliche Diskussion über kunsthistorische Phänomene – handelt es sich nun um eine Person, eine Gruppierung oder einen Stil. Das Ungewohnte, Unbekannte und Neue wird zunächst mit größter Skepsis oder auch mit Widerwillen beäugt und abqualifiziert, bevor es am Ende die Gunst der Kritik und – wiederum mit einiger Verzögerung – des Publikums erntet.

La Querelle des Indépendants Einerseits waren die Jahre kurz vor 1914 für die Malerei eine außerordentlich fruchtbare Epoche.323 Andererseits traten Impressionisten, Fauves und Kubisten derzeit den einen oder anderen öffentlichen Eklat los: Sie wurden als fremdartige Koloristen ohne tech­ nisches Können oder als Widersacher der traditionellen Feinmalerei verschrien.324 Dabei wurden speziell die Kubisten von der Pariser Stadtverwaltung ebenso diskreditiert wie von dem landesweit anerkannten Kunstschriftsteller Louis Vauxcelles.325 Als erklärter Gegner des Kubismus platzierte dieser die betreffenden Künstler/-innen nämlich außerhalb der französischen Kunstentwicklung, die im Großen und Ganzen eine von der Natur inspirierte, zumeist realistische Manier umfasste.326 Wie bereits beschrieben, wurde der Art vivant indessen von diversen Literaten, Poeten und Pariser Kunsthändlern unterstützt, was seinem weltumspannenden Ruf, ja seinem Marktwert spürbar zugutekam.327 Als Stichdaten dürfen diesbezüglich die Armory Show 1913 in New York,328   Dorival 1962, 46.   Warnod 1955a, 151 f.: „C’était une époque magnifique pour les Beaux-Arts et pour la peinture. Là-haut, sur la Butte, le Cubisme venait de naître et le Fauvisme déchaînait des passions que reflétaient le Salon des Indépendants et le Salon d’Automne.“ 324   Vgl. ebda., 41; Campa/Read (Hg.) 2009, 292. 325   Gemeint ist hier die Kritik des Stadtrates an der Maison du Cubisme, ein Gemeinschaftswerk von u. a. Duchamp-Villon, André Maré und Marie Laurencin. Vgl. Dorival 1962, 44. 326   Vgl. Christopher Green: Les cubismes de l’‚École de Paris‘, in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 58 – 70, 64. 327   Vgl. Gojard in ebda., 125. 328   Vgl. Franck 2011, 321 ff. 322 323

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die für den Kubismus äußerst erfolgreiche Pariser Vente de la Peau de l’Ours bei Drouot im März 1914 und schließlich der wegweisende Salon d’Antin im Jahr 1916 genannt werden, denn bei diesen Präsentationen waren stets zahlreiche Mitglieder der (späteren) École de Paris vertreten.329 Zu diesem Zeitpunkt drehte sich die Kunstkritik aber nicht mehr nur um stilistische Fragen. Denn nun stand die Debatte um eine Erneuerung der französischen Kunst klar unter dem Eindruck des internationalen Konflikts und wurde verstärkt nach nationalistischen Kriterien geführt. Viele der ausländischen Aussteller tat die Presse als kulturlose Boches ab und kritisierte sogar den (aufgrund der zahllosen, nicht-französischen Beiträge) angeblich unpassenden Ausstellungstitel L’Art moderne en France.330 Nachdem das Kunstgeschehen vom Ersten Weltkrieg nur mäßig beeinträchtigt worden war,331 entzündete sich ein paar Jahre später derselbe Diskurs an der sogenannten Querelle des Indépendants,332 d. h. an der diffizilen Frage, wie sämtliche, beim Pariser Salon eingereichten Kunstwerke zu gruppieren seien. Der Jury um Paul Signac schwebte einerseits eine neuartige Hängung nach Nationalitäten und damit eine klare Trennung zwischen einheimischen und auswärtigen Beiträgen vor. Andererseits hegten die betroffenen Künstler/-innen und deren Sympathisant/-innen berechtigte Zweifel an der Umsetzbarkeit eines derart radikalen Plans.333 „[L]e seul classement logique est celui qui prévalait autrefois : le classement par affinités, par tendances.“334, urteilte etwa Jacques Guenne in L’Art vivant, und auch der Künstler Moïse Kisling hielt die neue Hängung für abstrus.335 Damit hatte er insofern Recht, als etliche Maler/-innen zwar nicht in Frankreich geboren, aber wohl seit Langem in Paris zuhause waren. Im Zuge der Querelle veröffentlichte George einen brisanten Artikel in L’Amour de l’Art, der die allgemeine Frage aufwarf: „Doit-on considérer l’art français comme une notion ethnique ou comme une notion purement esthétique?“.336 Damit stand er stellvertretend für die kritische Auseinandersetzung Frankreichs mit den neuen ausländischen Einflüssen, die man tendenziell als Gefährdung der eigenen Kunsttradition einschätzte. George selbst stellte diesbezüglich klar: „Un Jongkind, un Sisley, un Camille Pissarro, un Vincent Van Gogh, un Pablo Picasso, font désormais partie du patrimoine de la France.“337 Mit dieser Erklärung griff der Autor bereits einer Tendenz vor, die verstärkt erst nach der Libération zum Tragen kommen würde: Sämtliche Künstler/-innen auf französischem Boden sollten der École de Paris einverleibt werden, ungeachtet ihrer nationalen Herkunft, ihres Stils oder Bekanntheitsgrades.338 Blickt man nochmals auf die Namensfin329  Zur Vente de la Peau de l’Ours vgl. Nahon 1998, 99; Franck 2011, 213 – 215. Beim Salon d’Antin wurden u. a. erstmalig Picassos Demoiselles d’Avignon öffentlich gezeigt, vgl. hierzu Krebs 2009, 21 – 25. 330   Vgl. ebda.; Franck 2011, 353. 331   Francine Szapiro beschreibt diese Phase als nichts weiter als „une rupture très relative. […] la vie continue, normale à quelques bombes près, à quelques décès près. Les peintres et sculpteurs créent, les galeries exposent, les marchands vendent […].“, Szapiro 2003, 6. 332   Vgl. dazu z. B. Warnod: La question des étrangers, in: Comœdia (11. 02. 1924). 333   Vgl. z. B. Weill 2009, 150. 334   Guenne 1927, 97. 335   „Vraiment ça va mal avec les esprits aujourd’hui – mais avec qui vont-ils mettre Pissarro, Van Gogh, Sisley, Picasso? – (et le plus parisien?! De tous les parisiens, Van Dongen?)“, Kisling in einem Brief an Jacques Lipchitz aus dem Jahr 1923, zitiert nach Ritter in Ritter et al. 2000, 28. 336   Hier und im Folgenden George 1924, 41 – 45. 337   George 1924, 42. 338   Vgl. Dorléac 1995 – 1996, 266.

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dung der École de Paris zurück, die ja letztlich auch deren internationalen Charakter – in Opposition zur École française – berücksichtigte, dann erscheint diese wie die logische Konsequenz, wie ein Resultat aus der Querelle des Indépendants von 1923.339 Warnods Artikel wie auch sein Buch Les Berceaux de la jeune Peinture übten außerdem eine richtungsweisende Wirkung auf die Historiografie aus. Und dies, obwohl sich der Autor selbst das Vermögen absprach, die École de Paris seinerzeit schon charakterisieren zu können.340 Dabei falsifizierte er doch die Einschätzung seines Kollegen Waldemar George, demzufolge die Kunsteinwanderer zuallererst Profiteure der französischen Kultur seien, indem er erklärte: „de plus, il y a parmi eux de grands artistes, des artistes créateurs qui, eux, donnent plus qu’ils ne prennent.“341 Frankreich profitiere außerdem von jenen Ausländern, so Warnod weiter, die nur wenige Lehrjahre in Paris verbringen und im Anschluss den exzellenten Ruf der französischen Kunst in die Welt hinaustragen.342 Daher rührte auch Warnods Vorwurf an staatliche Institutionen wie die École des Beaux Arts, die der jungen Kunst nach wie vor mit Verschlossenheit oder gar Ablehnung begegneten und sich damit letzten Endes nur selbst schadeten.

Y a-t-il une peinture juive? Gerade erst wurde die Existenz der École de Paris proklamiert, da widmeten sich die französischen Medien bezeichnenderweise schon der Frage, ob es eine genuin jüdische Malerei gibt.343 Tatsächlich waren der französische Antisemitismus und Antigermanismus kein akutes Phänomen der zwanziger Jahre, sondern reichten realiter von der Dreyfus-­Affäre kurz vor 1900 bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts.344 Ausschlag­ gebend dürfte dennoch der quantitative Anstieg jüdischer Künstler/-innen und Kunsthändler/-innen in Montparnasse gewesen sein, der insbesondere von der nationalgesinnten Presse nicht unbemerkt blieb. Jene wetterte gegen den Kubismus oder, was einen erstaunlichen Mangel an Differenzierung verrät, gegen jede Form moderner Kunst, die aus dem Ausland stammte.345 Aus einer historisch-ethnologischen Perspektive entwickelten Publizisten die These, dass Juden allein aus Interesse am Handel, aus Geldgier oder Bestechlichkeit im Kunstsektor tätig seien,346 und dass ihnen von Natur aus Ori­ ginalität und Kreativität abgingen.347 In einer Artikelreihe,348 die zwischen Juli und November 1925 im Mercure de France erschien und Stellungnahmen zu der Frage Y a-t-il une peinture juive?349 beinhaltete, trat dieser Antisemitismus besonders stark hervor. Er   Vgl. auch Kangaslathi 2009, 95 f.: „Warnod’s conceptualisation of an integrated, independent School of Paris should be understood as one response to the debate. […].“ 340   Vgl. Warnod 1925, 7. 341   Ebda., 8. 342   Vgl. hier und im Folgenden ebda., 8 f. 343   Z. B. Vanderpyl 1925, 381 – 396. 344   1893 heißt es z. B. bei Vachon: „L’Art n’est grand et ne devient populaire qu’à la condition d’être national, de traduire dans une forme simple, compréhensible par tous, les idées et les sensations de la race.“, Vachon 1893, 602. Vgl. auch Szapiro 2003, 3. 345   Vgl. Green in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, insbes. 61. 346   Vgl. Vanderpyl 1925, insbes. 391 f., 395. 347   Vgl. Jaccard 1925, insbes. 81 und 92. 348   Vanderpyl 1925; Jaccard 1925; Basler 1925. 349   Basler 1925. 339

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resultierte offenbar aus der Angst vor einer pluralistischen, internationalen Kunst, die den Schwund der eigenen, vaterländischen Kunsttradition bedeuten würde.350 Fritz Vanderpyl, der die Artikelreihe des Mercure eröffnete, empörte sich, dass die neuen Künstler/-innen kein Recht hätten, sich Schule zu nennen, und dass sie völlig zu Unrecht im Pariser Salon und auf dem Kunstmarkt reüssierten.351 Ihre künstlerischen Leistungen nannte er medioker, „[…] non seulement d’un coloris sale et d’une pauvreté de matière antifrançaise, mais encore [elles sont] tristes et scatologiques, d’une laideur voulue, […]“352. Der zweite Beitrag, L’art grec et le spiritualisme hébreux, stammte von Pierre Jaccard, der damit eine Ausweitung der bisherigen Thesen und damit eine noch schärfere Degradierung des Jüdischen mithilfe pseudo-wissenschaftlicher Argumente beabsichtigte.353 Der dritte und letzte Kommentator war Adolphe Basler, selbst Kunsthändler mit jüdischen Wurzeln.354 Im Einvernehmen mit seinen Vorgängern erläuterte er, dass Juden niemals eine spezifisch jüdische Kunst schaffen würden, denn: „Ils ne re­­ flètent que la culture artistique du pays dans lequel ils vivent.“355, und betonte nochmals ihre Abhängigkeit von Ort und Zeit: „C’est Paris qui les forma tous et tous font une peinture qui est celle d’une époque et non d’une race déterminée.“356 In diesem Punkt harmonierte Basler einerseits mit George, der sich ebenfalls gegen eine ethnische Konnotation der École de Paris aussprach,357 andererseits mit Warnod und Uhde, die den jüdischen Künstler/-innen eine gesamteuropäische Identität bescheinigten.358 Uhde lobte etwa Chagall, Modigliani, Soutine, Pascin und Marcoussis als Mitbegründer einer „peinture européenne“359. Mehrere Juden, so Uhde weiter, zeichneten in ihrer Funktion als Händler, Sammler und Kritiker für den berechtigten Eingang zeitgenössischer Kunst in Mu­­ seums­besitz verantwortlich, darunter Adolphe Basler, Max Jacob, Marcel Hiver, Jacques Bielinky, Gustav Kahn und Claude-Roger Marx.360 Es zeigt sich somit, dass in dem kritischen Diskurs um den jüdischen Beitrag zur École de Paris differenziert werden sollte: zwischen den moderaten Autoren Uhde und Basler auf der einen Seite und Vanderpyl, Jaccard und Mauclair als Vertreter eines härteren, xenophoben Kurses auf der anderen Seite. Dieser nationalistische Flügel plädierte zu einem späteren Zeitpunkt sogar für die Auflösung der École de Paris, um so die unverfälschte französische Malerei zu bewahren.361 Eine solche Forderung erscheint nicht nur anmaßend, sondern auch sehr unsachlich und liefert ein gutes Beispiel für die verquere 350   Vgl. dazu z. B. Vanderpyl 1925, 390: „[…] le sens local, l’esprit local, le sujet local, la couleur locale souffrent d’une décadence si certaine qu’une vague possibilité d’art international se fait jour.“ 351   Vgl. ebda, 393 und 395. 352   Ebda, 393. 353   Vgl. Jaccard 1925, 81. Z. B. wollte der Autor dem Leser klarmachen: „[…]: il n’y a pas d’art juif. […] En art, Israël […] n’a jamais eu le moindre génie créateur.“, ebda., 92. 354   Basler 1925. 355   Ebda., 112, 114. 356   Ebda., 115. 357   Vgl. George 1924, insbes. 41 f. 358   Vgl. Warnod 1925, 336; Uhde 1928, 82. 359   Uhde 1928, 60. 360   Vgl. ebda, 81 – 84. 361   Vgl. hierzu auch Éric Michaud: Un certain antisémitisme mondain, in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 85 – 102.

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Vorstellung dieser Autoren; schließlich ist gerade die École de Paris wichtiger Bestandteil der französischen Kunst. Glücklicherweise nahmen die ausländischen Künstler/-innen trotz negativer Kritik damals weiterhin am französischen Kunstgeschehen teil und wurden weder in der Ausübung ihrer Profession noch in ihrem kommerziellen Erfolg wirklich behindert. Dies belegen ihre Kooperation mit den renommierten Kunsthändlern rechts der Seine sowie ihr erfolgreicher Einstieg auf dem US-amerikanischen Kunstmarkt.362 Darüber hinaus wurde die durch Warnod geleistete Taufe der École de Paris im Jahr 1927 von dem Kunstschriftsteller Charles Fegdal nochmals befeuert.363 Sein positiver Essay zur École de Paris würdigte das einzigartige Zusammenspiel aus lokalen und fremden, französischen und exotischen Einflüssen innerhalb dieses Kollektivs.364 Wichtig zu erwähnen ist zudem, dass Fegdal der École de Paris durch die Kursivierung ihres Namens noch mehr Gültigkeit verlieh – gerade so, als handele es sich dabei um eine geschützte Marke.

École française ou École de Paris? Zwei Jahre später meldeten Adolphe Basler und Charles Kunstler in La Peinture indépendante en France (1929) erneut Zweifel an der Qualität und Faktizität der École de Paris an: Sans doute Montparnasse est une Babel de la peinture. Mais est-ce l’Ecole de Paris? Et y a-t-il même une Ecole de Paris? Il est vrai que depuis le début du dix-neuvième siècle jusqu’à nos jours, aucune grande ville d’Europe, d’Asie ou d’Amérique n’a donné naissance à autant d’écoles de peinture que Paris. Mais l’histoire de l’art français moderne se réduit à deux douzaines à peine de véritables créateurs.365

Zudem habe das personelle und stilistische Durcheinander so verheerende Ausmaße angenommen, dass sich nun auch außerhalb von Paris und Frankreich das Potential für neue Kreativzentren forme. Beide Autoren drückten damals Verlustängste aus, die auf den immer intensiveren Austausch zwischen den unterschiedlichen Nationen Europas zurückzuführen waren – vor, während sowie nach dem Ersten Weltkrieg. Roger Brielle nannte dies später eine „compénétration“366, infolge derer die Nationalcharaktere vereinheitlicht würden. Natürlich wog aus Sicht der Feuilletonisten die Angst am schwersten, die eigene Kunsttradition einzubüßen, sie eventuell sogar ans Ausland abzutreten. Des362   Für die avantgardistischen Pariser Künstler/-innen engagierte sich außerdem seit 1920 die von Marcel Duchamp und Katherine Dreyer gegründete Société anonyme mit Sitz in New York; weitere wichtige Kanäle führten über den Anwalt John Quinn, den Arzt Julian Barnes und den Schriftsteller Henri-Pierre Roché von Frankreich nach Übersee. Barnes’ Investitionen – 1922 erwarb er ein Konvolut an Gemälden von Soutine sowie einige Arbeiten von Modigliani und Lipchitz –, dazu der massive Wertverlust des Franc im Vergleich zu anderen Währungen, ließen die Preise mehrerer Montparnos in die Höhe schnellen. Dank der neuen, vermögenden US-Käuferschaft kulminierte dieser Aufwärtstrend Mitte der zwanziger Jahre schließlich in einem Boom des Pariser Kunstmarktes. Vgl. dazu Meyer 1982, 137; Nahon 1998, 89, 95; Gee in: École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 132 f. 363   Vgl. im Folgenden Fegdal: L’Ecole de Paris, in ders. 1927, 63 – 68. 364   Der vollständige Text ist – ins Deutsche übertragen – im Anhang dieser Arbeit nachzulesen. 365   Vgl. im Folgenden Basler/Kunstler 1929, La peinture multinationale ou l’Ecole de Paris, 96 – 105; hier zitiert 96 f. 366   Brielle in Bazin/Huyghe (Hg.) 1933 – 1934, 141.

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halb besann man sich sehr bald auf nationale Charakteristika zurück und wertete jede ausländische oder jüdische Tendenz herab. Den Namen der École de Paris gebrauchte die Kritik dabei bewusst, um auswärtige Künstler/-innen zu ächten und zu stigmatisieren, während sie die École française weiterhin derart hochleben ließ wie teils nach 1918.367 In diesem Dissens um die École de Paris zeigte sich George abermals wortführend: Hatte er 1929 noch das Engagement des Sammlers Paul Guillaume gewürdigt und dessen Akquisition – Werke von Derain, Laurencin, Matisse, Modigliani, Picasso, Renoir, Soutine – in einem Katalogband präsentiert,368 klingen seine beiden aufeinander folgenden Artikel von 1931 wie Schmähschriften auf dieselben Maler.369 Provokant überschrieb er sie mit der Frage École française ou École de Paris?, um anschließend eine rein französische Malschule zu verteidigen. Vor allem aber kritisierte George darin den angeblich artifiziellen Charakter der École de Paris, die er als unbeständiges und fragiles Gebilde umschrieb, als ein „amalgame informe“370, das erheblich verklärt worden sei. Ihr bisheriger Erfolg schien ihm unbegründet und nichts anderes als ein Zufall der Geschichte zu sein, sowie „[…] une attestation somme toute assez subtile et assez hypocrite de l’esprit francophobe.“371 An sein erstes Pamphlet anknüpfend diente das zweite dazu, der Kontinuität der École française zu applaudieren.372 Hier bezog George den Begriff der französischen Linie mehr auf die Geisteshaltung denn auf das Kunstschaffen in Frankreich. Dass seine Zeilen von der herrschenden, antimodernen und ausländerfeindlichen Politik geprägt waren, bestätigte dabei Georges Erwähnung des angeblich gefährdeten „ordre français“373, den die École de Paris als anarchistische Gruppierung unterlaufen würde. Mit Aplomb appellierte er deshalb an seine Leser: „Brisons l’élan factice de l’École de Paris, cette éphémère, cette étoile filante et restaurons dans ses prérogatives l’École de France, cet emblème de durée!“374 Beide Artikel vermitteln bereits Georges Fürsprache für Frankreich als Global Player in der Kunst und darüber hinaus. Doch ein weiterer Beitrag, 375 der ebenfalls 1931 erschien und den die Sekundärliteratur bisher kaum berücksichtigte, gibt seine Sichtweise noch einmal komprimiert wieder. La France devant le Monde hieß die Rubrik, in der George auf nur einer Seite eine Défense et Illustration de l’Art français vortrug. In der jüngeren Vergangenheit sei die kunsthistorische Bedeutung der französischen Kunst von dem zunehmend sensationssüchtigen Publikum verkannt worden. Zusätzlich warb George für den lokalen und daher wiedererkennbaren Charakter des französischen Kunstschaffens, „un parfum qui trahit le lieu de sa naissance.“ Man könnte vermuten, dass Waldemar George Frankreichs Leistung gerade im Bereich des   Vgl. Faure 1922; Vanderpyl, Jaccard und Basler 1925.   George/Guillaume 1929. Darin beklagt George sogar die mangelnden öffentlichen Ausstellungsmöglichkeiten für Maler/-innen wie Picasso, Derain oder Chagall, vgl. ebda., 181 f. 369   George Juni 1931; ders. September 1931. Beide Texte wurden, als Pendant zu Warnods Äußerungen aus dem Jahr 1925, ins Deutsche übertragen und sind, auszugsweise, im Anhang dieser Arbeit nachzulesen, vgl. 267 ff. 370   George Juni 1931, 93. 371   Ebda., 92. 372   Vgl. George September 1931, 110 f. 373   Ebda., 111. 374   Ebda. Zuvor nannte George die École de France schon einmal „cette grande constante française“. 375   Vgl. im Folgenden George Dezember 1931, 162. 367 368

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Porträts für unangefochten hielt, da ihm die gesamte französische Zivilgesellschaft auf den Menschen ausgerichtet erschien und die Pariserin ihm zufolge die schönste und höchste Inkarnation europäischer Kultur darstellte.376 Davon unabhängig glaubte George fest an die Führungsrolle der französischen ­Nation innerhalb Europas, bezeichnete sie als „moelle de l’Europe“ oder auch als „l’indispensable armature de l’Europe“. Zudem sei die nationale Kunst ausreichend gefestigt, um die schädlichen Einflüsse aus dem Ausland abzuwehren.377 Jene Theorien von einer jüdischen Verschwörung, die der Kritiker in seinen Zeitungsbeiträgen entwickelte, klingen im Hinblick auf den näher rückenden Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg bereits alarmierend. Noch deutlicher wurde George allerdings in seinen nachfolgenden Buchtiteln, L’Esprit français et la Peinture française378 und L’Humanisme et l’Idée de la Patrie379, die beide einen Hang zum Faschismus offenlegen. Dasselbe gilt für die pamphletartigen Texte Mauclairs in L’Ami du Peuple380 (1928 – 1929) sowie in Teilen für das von Édouard herausgegebene Künstlerlexikon, an dem etliche Kritiker der École de Paris mitwirkten, u. a. George und Mauclair. Ausführlich behandelt dieses Werk die jüdischen Maler/-innen aus La Ruche und stereotypisiert sie als arme, durch Frankreichs Gunst von ihrem prekären Schicksal erlöste Juden.381 Hier wird die Umdeutung manifest, welche der École de Paris – ursprünglich ein loser Begriff für das zeitgenössische Künstlertum – schleichend widerfuhr: Mittlerweile stand sie für in Paris wirkende, dabei ausländische, vorwiegend jüdische Maler/-innen und Bild­hauer/-innen. Und man ahnt bereits, dass sich dieser fremdenfeindliche Diskurs während der dreißiger Jahre, in der Konsequenz von finanzieller und wirtschaftlicher Krise, noch verhärten würde. Gleichzeitig drang die Kunstkritik auf Anregung von George und Mauclair mehr in die Gesellschaft vor und forderte, ganz im Sinne des Retour à l’Ordre, entweder den Ausschluss oder die vollständige Assimilation nicht-französischer Künstler/-innen. Während George Rivière seinen Artikel Avons nous encore un Art Français? als Frage formulierte,382 war sich Élie Faure bereits sicher, dass das Ende der französischen Malerei unmittelbar bevorstünde.383 Erstgenannter machte in L’Art vivant von neuem auf die Uniformität der jungen Kunst, auf die Unkenntlichkeit ihres jeweiligen nationalen Ursprungs aufmerksam. Dies käme daher, dass die Kunstimmigrant/-innen sich im Unterschied zu früher nicht mehr in die Gesellschaft integrierten, sondern heute in Enklaven 376   „L’art français, comme la cité française et comme la femme française qui est non seulement le plus bel ornement de la France, mais aussi le plus haut phénomène de culture authentique qui existe en Europe, portent la marque d’origine du merveilleux pays qui les vit naître.“ 377   George sprach hier wörtlich von „dangers de contamination“. 378   George: L’Esprit français et la Peinture française. En Marge de l’Exposition d’Art français à Londres, ­Paris: Éd. des Quatre Chemins 1931. 379   George: L’Humanisme et l’Idée de la Patrie, Paris: Fasquelle 1936. 380   1929 veröffentlichte Mauclair unter dem Titel La Farce de l’Art Vivant seine gesammelten, in dieser Zeitung erschienenen Artikel erneut. Gegenstand ist die Dekadenz der französischen Malerei im 20. Jahrhundert, wobei der Verfasser einen rechten, antigermanischen Kurs vertritt. Auszugsweise zitiert in Dorléac 1995 – 1996, 261. 381   Vgl. z. B. Charensol in: Édouard (Hg.) 1931, II, 249; George in ebda., I, 266. 382   Rivière 1930. 383   Vgl. Faure 1931.

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lebten.384 Dementsprechend ignorierten sie auch die Ästhetik und den Stil à la française zugunsten der ihnen eigenen Exotik.385 Rivière bedauerte, dass diese sowohl das Interesse des Handels als auch des großen Publikums geweckt hat und die französischen Künstler/-innen dazu zwingt, sich ihr anzuschließen.386 Élie Faure, Kunsthistoriker und Verfasser der monumentalen, noch heute zitierten Histoire de l’Art (1919 – 1921), veröffentlichte  – parallel zu den Essays von Waldemar George – L’Agonie de la Peinture (1931).387 Darin sprach Faure ebenfalls von einem innereuropäischen Siegeszug Frankreichs auf dem Gebiet der Kunst,388 der jedoch durch die Schwemme an Immigranten gefährdet sei. Seine Argumente waren dabei teils altbekannt, ebenso wie seine Tiraden gegen eine außerstaatliche, unbeständige Kunstszene in Montparnasse.389 Neu war wiederum, wie Faure die Massengesellschaft in Paris thematisierte: Der gesamte Kunstbetrieb  – Personen ebenso wie Werke oder Gedankengut  – würde dem herrschenden Massengeschmack zum Opfer fallen und die Kunst würde in der Folge an Wert einbüßen. Indiz für diese Inflation sei die beeindruckende Zahl von 40.000 aktiven, professionellen Künstler/-innen in der französischen Hauptstadt.390 „Croyez-vous que les besoins spirituels auxquels pourrait répondre encore la peinture exigent ce chiffre-là?“391, fragte Faure aufgebracht.392 Wie schon Uhde tendierte auch er stark dazu, anstatt der Gesamtheit einige wenige ‚Übermaler‘ in den Fokus zu nehmen, namentlich die bereits erwähnten Picasso und Matisse sowie Cézanne und Renoir.393 Sätze wie „Il faut détourner de la peinture qui n’est pas né pour être peintre“394 implizieren außerdem, dass Frauen und Ausländer in Faures Vorstellung von der Kunst ausgeschlossen blieben – auch wenn sich sein Text nicht explizit gegen diese Gruppen richtete. In der Realität verhielt es sich jedoch ganz anders: Die genannten Künstler sollten wenig später einen festen Platz in der Kunstgeschichte erlangen, als man, zunächst vor allem in der Schweiz, damit begann, Picasso, Léger, Rousseau, Braque, Chagall oder Modigliani in großen Retrospektiven zu würdigen.395 Frankreich hingegen wies der École de Paris mit dem Musée du Jeu de Paume zwar einen repräsentativen, aber isolierten Aus384   „Une immigration massive venue de tous les coins du monde a pris pied en France apportant avec elle ses mœurs, son état d’esprit, son activité propre dans tous les domaines. Trouvant dans leur milieu ethnique des éléments suffisants de relations sociales, les étrangers vivent chez nous en marge de la société française.“, Rivière 1930, 722. 385   „La plupart des étrangers venus à Paris pour conquérir le monde occidental se soucient peu d’ailleurs de connaître les causes profondes de la beauté de notre art, puisqu’ils ont l’ambition de nous faire accepter leurs propres conceptions. […] Ils pensent qu’ils peuvent se passer de toutes règles ou en créer de nouvelles à leur usage.“, ebda. 386   Vgl. ebda. 387   Faure 1931. 388   Hier und im Folgenden, sofern nicht anders vermerkt, vgl. ebda., 231 f. 389   „Écoles durant de huit jours à six mois que fonde le premier venu s’il a quelque malice et qui font beaucoup de bruit, grâce au badauds toujours si vite assemblés à Paris.“, ebda., 232 f., vgl. auch ebda., 235. 390   Vgl. ebda., 235. 391  Ebda. 392   Sein Zorn über diese Entwicklung wird auch sprachlich, nämlich durch eine spezifische, der Biologie oder Botanik entlehnte Lexik („pullulation“, „parasites“) greifbar, ebda. 232 f. Daneben erwähnt Faure den französischen Nektar („la sève française“) sowie dessen Blüte („efflorescence“), ebda., 231. 393   Ebda., 235. 394   Vgl. ebda., 235, 237. 395   Vgl. Meyer 1982, 134.

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stellungsort zu, was in literarisch-künstlerischen Kreisen entsprechend kritisch aufgenommen wurde. Nach Meinung von Raynal und Tériade wollte die französische Regierung mit dieser Selektion „une sorte de reconcentration ethnico-esthétique“396 erreichen: Enfin, pour la rendre plus inoffensive encore, on a purgé cette ‚Ecole de Paris‘ de ses éléments les plus dangereux, à savoir les plus grands parmi eux, pour le bon ordre muséal français. Le monde entier les connaît. Il ne connaît même que ceux-là, puisqu’il les accroche uniquement dans ses musées.397

Hieraus geht auch hervor, dass man international fast ausschließlich „les plus grands“ der Pariser Künstler/-innen ausstellte, was zwangsläufig den späteren Geniekult in der Kunstgeschichte ins Rollen brachte. Frankreich separierte unterdessen weiterhin die zugewanderten von den einheimischen Künstler/-innen, so geschehen in der von Huyghe und Bazin herausgegebenen Histoire de l’Art contemporain398. Dabei handelt es sich um eine mehrere hundert Seiten umfassende Rekonstruktion der französischen Kunstentwicklung bis hin zu „Les tendances actuelles“. Statt ausländische Kunstschulen vollwertig einzubinden, wurden diese gebündelt in einem einzigen Kapitel am Ende des Buches abgehandelt.399 Ferner zeigte sich, dass nach den Museen nun langsam auch die Historiografen eine retrospektive Position einnahmen. Denn in den dreißiger Jahren stellte die École de Paris kein junges Kunstphänomen mehr dar, sondern wurde im Einzelnen bereits von der folgenden Generation nachgeahmt, wie z. B. der Salon des Indépendants von 1933 veranschaulichte: „Il y a d’abord la série des peintres qui bornent leurs ambi­ tions à exécuter des faux d’après les grands maîtres de l’école contemporaine“400, berichtete Bazin über die Teilnehmer dieses Salons. Von anderer Seite hieß es, die Begründer, aber vor allem der Nachwuchs der École de Paris, hätten sich zerstreut und letzten Endes den „Artistes français“ das Feld, d. h. Paris, überlassen.401 Das Niveau der École de Paris schien demzufolge zu sinken und ihre Glanzzeit allmählich zu Ende zu gehen. Nichtsdestotrotz wurde der École de Paris noch im Herbst 1937 eine offizielle ­Ehrung  zuteil, als im Petit Palais die Ausstellung Les Maîtres de l’Art indépendant 1895 – 1937402 eröffnete. Bei dieser Gelegenheit rühmte sich die Stadt Paris als Schirmherrin mit ihrem angeblich langjährigen Wirken zugunsten der Moderne.403 Explizit wurde auf die zwei namhaften Pariser Salons, den Salon des Indépendants und den Salon d’Automne, hingewiesen, die den Publikumserfolg der École de Paris erst möglich gemacht hätten.404 Umgekehrt räumte man aber auch ein, dass die École de Paris bis dato die Vormachtstellung von Paris als Kunstzentrum sichergestellt habe.405 Diese späte Ho  Raynal/Tériade 1932, 6.  Ebda. 398   Bazin/Huyghe (Hg.) 1933 – 1934. 399   Vgl. das Inhaltsverzeichnis, ebda., 528 – 530. 400   „Il y a d’abord la série des peintres qui bornent leurs ambitions à exécuter des faux d’après les grands maîtres de l’école contemporaine.“, Bazin 1933, 6. 401   Vgl. Raynal/Tériade 1932, 6. 402   Les Maîtres de l’Art indépendant 1895 – 1937, Ausst.-Kat. 1937. 403   „C’est pour Paris une tradition d’accueillir avec une grande libéralité les tendances les plus audacieuses de l’art français.“, Raymond Escholier: Préambule, in ebda., 5 f, 5. 404   „Enfin, ne l’oublions pas, les deux salons dont nous dressons ici le bilan – de 1895 à 1925 – les Indépendants, le Salon d’Automne doivent une bonne part de leur existence à la Ville de Paris.“, ebda. 405   Vgl. Albert Sarrault: Préface, in ebda., 7 – 10, 9. 396 397

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norierung ging, wie bereits angedeutet, mit dem Versuch einher, die École de Paris nachträglich in die eigene Kunsttradition einzubinden, sie quasi mit der parallelen französischen Kunst zu fusionieren, nicht zuletzt um deren Autorität zu steigern. Somit war die einst nonkonforme Bewegung – ob gewollt oder nicht – in die offizielle Gunst übergegangen; ihre antibürgerliche Aura verflog, ihr Kampf um Anerkennung in Frankreich war sozusagen siegreich ausgefochten.406 Wie spät dies im Vergleich mit anderen Ländern geschah, lässt sich anhand der frühen Ausstellungsaktivität in England, Dänemark, Belgien, vor allem aber in der Schweiz und den USA ermessen.407 Hier fanden bereits seit 1930 regelmäßig Gruppenausstellungen oder Retrospektiven der Pariser Künstler/-­innen statt, vorrangig im Museum of Modern Art, das zwischen 1931 und 1943 Wanderausstellungen durch diverse amerikanische Bundesstaaten sowie nach Kanada organisierte.

Retour à Paris Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, der vierziger Jahre und unter dem Einsatz des Vichy-Régimes war die École de Paris – vorerst – nicht mehr an einem zentralen Ort versammelt. Viele ihrer Mitglieder und Verbündeten flüchteten aus Paris in die französische Provinz oder exilierten ins Ausland, um der Bedrohung ihrer Berufsausübung bzw. Existenz zu entgehen.408 Angelegt war die faschistisch motivierte Verfemung durch die höchste Instanz bereits im Rassismus-Diskurs sowie in der Identitätskrise der franzö­ sischen Kunst, Kultur und Gesellschaft, welche, wie oben geschildert, die öffentliche Meinung damals maßgeblich mitgestalteten. Aus kunsthistorischer Sicht brachten die nun folgenden Kriegsjahre  – im Unterschied zum Ersten Weltkrieg – eine klare Zäsur, an die sich eine Wende, eine neue Phase der Rezeptionsgeschichte der École de Paris, anschloss. So wurden in Frankreich in der zweiten Jahrhunderthälfte gerade diejenigen künstlerischen Positionen akzeptiert, ausgestellt und lanciert, die zuvor noch als Fremdkörper geächtet wurden: „Alors que l’on s’évertuait avant et pendant la guerre à fermer les portes de Paris pour ne pas laisser passer les indésirables, les portes se ferment dorénavant pour qu’ils ne puissent plus en sortir“409, so der Kommentar von Bertrand Dorléac zu diesem zwiespältigen Verhältnis von Kulturerbe und Diaspora. Gewiss stand dahinter eine diplomatische Absicht, nämlich die betreffenden auswärtigen und jungen Künstler/-innen als die eigenen zu werten, um Frankreich als den Hort einer weltumspannenden, revolutionären Kunstschule zu stärken. So versuchte etwa Pierre Francastel in seiner 1946 veröffentlichten Monografie ­Nouveau Dessin, nouvelle Peinture. École de Paris das Verständnis dieses Kollektivs zu globalisieren.410 Er anerkannte die vergangenen Leistungen der École de Paris, die er mit so bedeutenden Epochen wie dem Realismus oder Impressionismus auf eine Stufe stellte.411 Doch sei sie keineswegs am Ende, beteuerte Francastel,412 sie läute im Gegenteil 406   Vgl. nochmals Escholier in ebda., 6.: „[…] pour la gloire de Cézanne, pour les conquêtes du fauvisme et du cubisme, pour cette longue bataille qui s’achève aujourd’hui en victoire.“ 407   Hier und im Folgenden vgl. Meyer 1982, 134, 137. 408   Vgl. Dorléac 1995 – 1996, 259 f. 409   Ebda., 268. 410   Vgl. Francastel 1946, insbes. Retour à Paris 1944, 177 – 179. 411   Vgl. ebda., Deux Paris. Les nouveaux quartiers de la peinture, 13 – 17. 412   „L’École de Paris n’est pas épuisée. Elle s’apprête à se révéler sous une forme nouvelle, […]“, ebda., 178.

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eine neue Ära ein: „[…] nous assistons, en ce moment, à un changement complet de ­décor et qu’une nouvelle époque d’art est sans doute commencée: la troisième depuis près d’un siècle. Je salue les prémices de la nouvelle École de Paris!“413 Zwei Epochen, Fin de Siècle und Entre deux Guerres, waren, wie der Autor andeutete, der Nouvelle École de Paris vorausgegangen. In jenen Jahren erlebte sie, und mit ihr das Portrait à la mode, eine Blütezeit, die jedoch nicht lange andauerte. Dennoch zeigt sich schon an diesem zitierten Beitrag, inwieweit die französische Kunstkritik nach der Libération darum bemüht war, eine Kontinuität zwischen alter und neuer École de Paris herzustellen. Zu diesem Zweck bezog man die Avantgarde der Nachkriegszeit – darunter abstrakte Maler/-innen wie Pignon, Manessier und Bazaine  – zurück auf Neuerungen, die den Beginn des 20. Jahrhunderts markiert hatten.414 Rückwirkend entstand so eine scheinbar ununterbrochene Chronologie von den modernen Anfängen der Pariser Kunst bis zu deren avantgardistischen Ausläufern. Was die Ausstellungsaktivität auf internationaler Ebene anbelangt, tat sich zum wiederholten Male die Schweiz als Vorreiterin hervor, als sie 1946 den Pariser Künstler/-­ innen eine Ausstellung in Bern widmete.415 Rezeptionsgeschichtlich bedeutete dies einen Meilenstein, da im Ausstellungskatalog erstmals nach dem Krieg wieder der Name École de Paris erwähnt wurde. Sehr viel problematischer als in der Schweiz oder in Nord­ amerika gestaltete sich die Wiederbelebung des modernen Kunstbetriebs dagegen in Deutschland, das seinen Status als europäische Großmacht eingebüßt hatte und nun in Besatzungszonen strukturiert war. Lediglich auf Initiative Frankreichs fanden 1946 in Berlin und 1947 in Freiburg einzelne Ausstellungen statt, allerdings ohne das wahre, breite Spektrum der École de Paris abzubilden. Eher verschrieben sich die europäischen Kunstmetropolen wie schon zuvor den großen Künstlern der klassischen Moderne, Picasso, Léger, Chagall, Kandinsky oder Delaunay, sowie den führenden Köpfen der Nabis. In Paris vereinte 1946 die Galerie Charpentier Cent Chefs-d’œuvre des Peintres de l’École de Paris416 und zeichnete damit immerhin für eine der ersten einschlägigen Ausstellungen in der französischen Hauptstadt verantwortlich. Zwar waren bewusst keine jungen, d. h. keinerlei Künstler/-innen zugegen, die erst nach 1930 tätig waren, aber man wollte dennoch einen vollständigen Eindruck von der École de Paris vermitteln.417 Deshalb wurden unter dem Régime von Vichy verbotene Positionen mit eingeschlossen, wie René Huyghe im Vorwort des Katalogs erläuterte. Darauf folgen weitere, für die Rezeptionsgeschichte der École de Paris interessante Beiträge, nämlich Le Rayonnement de la France von Jean Cassou sowie Les Etrangers von Jacques Lassaigne. Im ersten der beiden Aufsätze heißt es: Aujourd’hui les étrangers qui viennent à Paris au contact de l’art vivant sentent brûler leur gangue et ils prennent conscience de leurs qualités naturelles, ils sont révélés à eux-mêmes. Ils doivent à Paris, à son atmosphère exaltante de liberté et de création, d’apprendre à exprimer un message original qui à son tour devient le patrimoine commun. D’où cet élargissement de l’art français contemporain aux limites au moins de l’Europe et de la Méditerranée.418   Ebda., 179.   Vgl. auch Durozoi (Hg.) 2002, 222. 415   Zur Ausstellungssituation nach 1945, außerhalb von Paris vgl. Meyer 1982, 138. 416   Cent Chefs-d’œuvre des Peintres de l’École de Paris, Ausst.-Kat. 1946. 417   Vgl. hier und im Folgenden René Huyghe: Introduction, in ebda., o. S. 418   Lassaigne in ebda., o. S. 413 414

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Die Vormachtstellung Frankreichs kam hier in aller Deutlichkeit zur Sprache; noch dazu definierte Cassou den französischen Esprit zuallererst über die in Frankreich gefertigte Kunst.419 Dies ist sicher noch immer im Zusammenhang mit der vorausgegangenen Kunstkritik zu begreifen, insbesondere mit dem zitierten Urteil aus Défense et Illustration de l’Art français von George. Wie die École de Paris wahrgenommen und kritisiert wurde, war schließlich seit den zwanziger Jahren durch die Frage nach ihrer Nationalität und Integrität bestimmt. Leitmotivisch kehrten im Verlauf der Jahre entsprechende Argu­mente wieder, etwa die Darstellung Frankreichs als Kulturnation des Okzidents oder der Vergleich von Montparnasse mit dem biblischen Babel. Zudem beließ es die Kritik selten dabei, nur das jeweilige Œuvre zu beurteilen; stattdessen ging man verstärkt auf die Person – auf ihre Herkunft, Bildung und Lebensgeschichte – ein. Eine solche Herangehensweise diente, wie gesehen, vorrangig dazu, eine Ethnie, meist Slawen oder Juden, unter Generalverdacht zu stellen; sie war von Skepsis oder Hass gegen das Fremde geprägt, kurzsichtig und ungerecht. Umso tragischer erscheint dies, wenn man sich das Selbstverständnis der betreffenden Künstler/-innen ins Gedächtnis ruft, definierte sich die École de Paris doch mitnichten allein über ihren hohen Ausländeranteil, sondern – dies ging aus den Texten von Warnod und Salmon hervor – über ihre Un­­ abhängigkeit vom Art officiel sowie von der École nationale des Beaux-Arts. Ein wichtiger Meilenstein für das Pariser Kunstleben war 1948 die Ausstellung der niederländischen Künstler Bram und Geer van Velde in der Galerie Maeght. Samuel ­Beckett beschwor zu diesem Anlass gar eine Krise der École de Paris herauf, deren Hauptvertreter schließlich größtenteils schon tot waren.420 Gleichzeitig warf Beckett ­einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft der École de Paris, da diese, fortgeführt durch abstrakte Maler/-innen wie die Brüder Van Velde, ihre Jugend und Frische durchaus bewahren könne.421 Die Ausstellung der Galerie Maeght ebenso wie Becketts Artikel zeigen, dass gegen Mitte des Jahrhunderts die erste École de Paris bereits durch die zweite abgelöst worden war, dass ungegenständliche und informelle Tendenzen im Begriff waren, die traditionell figurative Ausrichtung, die bei Charpentier noch anhand zahlreicher Porträts deutlich wurde,422 aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verdrängen. Darüber hinaus drückte sich in diesem stilistischen Wandel eine zeitliche Wende – von der ersten zur zweiten Jahrhunderthälfte – aus. Diese Wende veranlasste einige französische Feuilletonisten zu einer Gesprächsrunde über die Existenz der École de Paris, die in Form von vier Zeitungsartikeln in Cimaise (1955 – 1956) publiziert wurde. Gleich der erste Autor, Julien Alvard, sprach der École de Paris ihre Existenzberechtigung ab: Paris sans École423 wählte er als markante Überschrift seines Artikels, der sich namentlich auf den Phantomcharakter der besagten Schule stützt. Alvard nahm Anstoß an Kuratoren und Kunstschriftstellern, die, indem sie ganz unterschiedliche Künstler/-innen 419   „Dans les ouvrages de la peinture la France imprime sa griffe: on l’y reconnaît. L’étranger sait que cette peinture porte la marque de l’esprit français et que rien d’autre au monde, même de chez nous, ne la porte de façon aussi profonde.“, Cassou in ebda., o. S. 420   Vgl. Beckett hier und im Folgenden 1948, 3 – 7, 4. 421   Vgl. ebda. 422   Vgl. die reproduzierten Exponate in Cent Chefs-d’œuvre des Peintres de l’École de Paris, Ausst.-Kat., 1946, o. S. 423   Alvard 1955, 10. Im Folgenden vgl. ebda.

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unter dem Label École de Paris subsumierten, nur leeres Stroh dreschen würden.424 Da Paris schon immer aufgeschlossen war für neue Kunstströmungen, sei hier, gemäß ­Alvard, der Begriff einer Kunstschule völlig unangemessen.425 Alvards Mitstreiter, darunter die Chefredakteurin von Cimaise, Herta Wescher, ergriffen dagegen unisono Partei für die École de Paris, für deren Vielfalt, Anonymität und Durchlässigkeit.426 Michel Ragon kam in seinem Artikel erneut auf die Absorptionsfähigkeit der École de Paris zu sprechen, die George schon einmal während der zwanziger Jahre bemüht hatte, um sein Ideal von einer rein französischen Malschule zu illustrieren, in der sämtliche ausländischen Einflüsse aufgingen. Nun jedoch wurde dasselbe Charakteristikum ausdrücklich der École de Paris zugeschrieben: L’Ecole de Paris a une faculté d’absorption extraordinaire. Elle enregistre, elle digère tout ce qui lui vient des cinq parties du monde et le transmue dans un art divers et singulier, assez indéfinissable en somme, mais où l’on reconnaît sa marque.427

Auch Roger van Gindertael, der die Diskussion zur École de Paris beschloss, bediente sich in seinem Artikel zweier Rubriken, nämlich „Paris et l’Art international“428, die nach Meinung beider Autoren gleichwertig und fest miteinander verbunden seien. Um den historischen Charakter dieses Bündnisses zu demonstrieren, ging Van Gindertael weit in der französischen Geschichte zurück: bis zur mittelalterlichen École de Paris mit ihren Einflüssen aus Flandern oder Italien. Bis heute käme die französische Metropole ihrem Sendungsauftrag nach und weise ausländischen Künstler/-innen weiterhin den Weg, auch wenn sie zwischenzeitlich einen Teil ihres Vorbildcharakters an andere Kunstschulen, wie z. B. das Bauhaus, abgetreten habe. Nachfolgend wurde dieses Argument – nämlich die Vitalität der französischen Kunst und deren unablässige Erneuerung – beherzt aufgegriffen,429 einerseits zur Würdigung der neuen École de Paris, andererseits um die evolutionäre Natur der französischen Tradition zu unterstreichen.430 Der Kurator des Musée national d’Art moderne, Jean Cassou, gab als Repräsentant der französischen Museen dazu folgende Erklärung ab: „[…] il est assuré que l’école de Paris d’aujourd’hui poursuit la route tracée par l’école de Paris d’hier, laquelle se situe dans l’illustre tradition de toute école française […].“431 424   „[…] et c’est parler pour ne rien dire.“ Ohne Namen zu nennen, spielte Alvard damit höchstwahrscheinlich u. a. auf die Galerie Charpentier an. 425   „[…] le mythe de Paris est incompatible avec la notion d’Ecole.“ 426   Vgl. Ragon 1955, 17; Wescher 1956, 16; Roger van Gindertael 1956, 9. Wescher betonte z. B.: „À l’entrée de cette Ecole, on ne vous demande ni acte de naissance, ni passeport, ni certificats acquis ailleurs.“, Wescher 1956, 16. 427   Ragon 1955, 17. 428   Vgl. hier und im Folgenden Gindertael 1956, 9. 429   Wie ein Schlüsselbegriff tauchte das Wort „vitalité“ in diesem Zusammenhang bei Nacenta 1956, o. S. und bei Cassou 1958, o. S. auf. Letzterer hatte schon zuvor, in Le Rayonnement de la France, die Lebenskraft („vitalité“) der französischen Nation beschworen, vgl. Cassou in: Cent Chefs-d’œuvre des Peintres de l’École de Paris, Ausst.-Kat. 1946, o. S. 430   Vgl. Nacenta 1956, o. S.: „Ce qui caractérise cette Ecole de Paris est son constant renouvellement, sa marche incessante à la recherche sur tous les plans à la fois d’un message original qui enrichit le patrimoine commun.“; ebenso wie Cassou 1958, o. S. 431  Ebda.

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Jedoch konnte damals kaum geleugnet werden, was z. B. Samuel Beckett konstatiert hatte, nämlich dass jene Künstler/-innen, die die École de Paris geprägt hatten, inzwischen als Klassiker, als Alte Meister oder Plejaden galten.432 Hinzu kommt, dass die Konsequenzen des Zweiten Weltkrieges erst mit beträchtlicher Verspätung in vollem Ausmaß berücksichtigt wurden. […] Paris n’est plus celui du début du siècle ou même celui d’après la première guerre mondiale où les promenades à pied étaient encore agréables, où la rêverie était possible, où le peintre pouvait installer son chevalet sur une place.433

Damit nahm ein weiterer Autor die Untergliederung des Jahrhunderts in drei Epochen vor – in den Jahrhundertbeginn, die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und die Jahre nach der Libération. Die École de Paris habe sich, so Limbour weiter, hiernach völlig neu ausgerichtet, sowohl personell als auch stilistisch.434 Im Vergleich dazu wirkten spätere Versuche, Tradition als dynamische Kraft umzudeuten oder weiter über die Kontinuität der École de Paris zu dozieren,435 bemüht und verzweifelt. Offenkundig sahen sich die betreffenden Vertreter des Kunstbetriebs in der Pflicht, den aktuellen Eindruck einer Krise abzuwehren.436 Und dennoch waren in den 1960er Jahren neue Tendenzen wie Abstrakter Expressionismus oder Pop Art endgültig auf dem Vormarsch, nicht nur in New York, sondern europaweit,437 und in der öffent­ lichen Wahrnehmung trat die Pariser Künstlerschaft dahinter zurück.438 Dies lag gewiss auch an Frankreichs Traditionsbewusstsein, das, wie gezeigt werden konnte, in zahlreichen Publikationen immer wieder zutage trat und das als Mangel an Einfallsreichtum und Spontaneität ausgelegt wurde.439 Zudem besiegelten die ersten, um 1960 erschienenen Monografien zur École de Paris bereits deren Historizität.440 Sie, d. h. die École de Paris wie auch die Nouvelle École de Paris, waren nun offiziell ein Phänomen der Vergangenheit und ihre zeitgenössische Rezeption war abgeschlossen. Zugleich sollten aber die immer wieder geäußerten Zweifel an ihrer Existenz – „L’Ecole de Paris n’existe peut-être pas“441 – bis ins Heute fortleben.

Fazit Die wichtigsten Etappen der Rezeptionsgeschichte, von der Geburt bis hin zum Ausklang der École de Paris, konnten hier aufgezeigt und durch markante Beispiele illustriert werden. Zunächst alternierten, wie gesehen, verschiedene künstlerische Tendenzen in   Vgl. Nacenta 1956, o. S.; Meyer 1982, 139.   Limbour 1957, 59. Nacenta stützte sich in seiner späteren Monografie namentlich auf die Ausführungen Limbours, vgl. Nacenta 1960, 54. 434   Vgl. Limbour 1957, 60. 435   De l’Impressionnisme à l’Ecole de Paris, Ausst.-Kat. 1960, o. S.; Nacenta: Préface, in: École de Paris, Ausst.-Kat. 1962, o. S. 436   Vgl. Boudaille: La crise … de conscience, in ebda., o. S. 437   Vgl. z. B. die Ausstellung Painting and Sculpture of a Decade 54 – 64 in der Tate Gallery in London (1964). 438   Vgl. Wescher 1964; Parinaud 1967 – 1968; Boudaille 1967 – 1968. 439   Vgl. Boudaille 1967 – 1968. 440   Vgl. Nacenta 1959 und Dorival 1961. 441   Parinaud 1967 – 1968, o. S. 432 433

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Frankreich derart rasant, dass sowohl Publikum als auch Presse sich schwertaten, mit ihnen Schritt zu halten. Daneben wurde die bunt gemischte Pariser Kunst durch eine französisch-nationale Stimmung, die sich während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg bemerkbar machte, weiter desavouiert. Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts herrschten überdies in weiten Teilen der französischen Gesellschaft rassistische oder antisemitische Tendenzen, und das Verhältnis zum Nachbarn Deutschland war historisch stark belastet (Antigermanismus). Dies äußerte sich zuerst in der Verunglimpfung des Kubismus als Art boche, sodann in dem allgemein ausländer- und speziell judenfeindlichen Kurs der Kunstkritik. Aus Angst, die Reinheit der französischen Malerei einzubüßen, stempelte man das Jüdische als Inkarnation des Anderen und Fremden ab, redete dessen Beitrag zur Kunstgeschichte klein und brachte den jüdischen Part der Pariser Künstler/-innen in Misskredit. Als Antipoden konnten in diesem Konflikt Camille Mauclair auf Seiten der rückwärtsgewandten, xenophoben Rechten sowie André Warnod als Stellvertreter einer aufgeschlossenen, progressistischen Kritik identifiziert werden. Gemeinsam mit Warnod sprach sich außerdem das Gros der Literaten für eine paneuropäische bzw. internationale Kunst aus oder verbrüderte sich gar mit der École de Paris, was schlussendlich deren außerordentlichen Erfolg während des Entre deux Guerres bedingte. Dank amerikanischer Sammler, namentlich Albert Barnes, die damals Pariser Kunst nachfragten, wurde darüber hinaus auch der Kunstmarkt flexibler und die Werke einiger Montparnos erfuhren in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre einen beispiellosen Boom. Allerdings hielten die Misstöne an, wurden sogar umso lauter, je dichter Montparnasse bevölkert und je einflussreicher damit der Art vivant wurde. Dabei schwang in den analysierten Texten, d. h. in der Debatte um die École française und deren angebliche Bedrohung durch die École de Paris, nicht nur Angst mit, sondern auch Stolz ob der eigenen Meisterschaft, dem französischen Métier. Man berief sich auf die seit dem 15. Jahrhundert währende Kunsttradition samt deren großen Meistern, unterstrich deren Weltrang und verkündete, dass sämtliche Einflüsse des Auslands in dieser nationalen Tradition auf­gingen. Während der Grande Dépression kamen die Aktivitäten der École de Paris zwar nicht zum Erliegen, doch das revolutionäre Potenzial ihrer Kunst schien vorerst ausgeschöpft. So standen die dreißiger Jahre nicht nur im Zeichen eines sich verschärfenden antisemitischen Diskurses, sondern auch einer ersten – nicht uneigennützigen – staat­lichen Anerkennung der École de Paris. Als der Zweite Weltkrieg unmittelbar bevorstand, sanken Produktivität und Novität naturgemäß ebenso wie der öffentliche Zuspruch. Erst nach der 1944 erfolgten Libération zeigte sich die französische Kritik wieder entschlossen, inländische und ausländische Positionen der Moderne auf eine Stufe zu stellen, sie gleichermaßen in die französische Kunstgeschichte einzubinden. Dieser nachträgliche Schulterschluss darf allerdings weder darüber hinwegtäuschen, dass die École de Paris sich zuvor stets harscher Kritik ausgesetzt sah, noch dass sie in der Französischen Republik definitiv durch „une nouvelle école“442 abgelöst wurde.

  Limbour 1957, 60.

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Im Falle der zu behandelnden Portraits à la mode sind die Modelle, die auf der Leinwand dargestellt wurden, und die Künstler, die sie porträtierten, überwiegend weiblich. Ihnen soll im dritten Kapitel die Aufmerksamkeit gelten, wobei man sie freilich nicht isoliert betrachten darf, sondern den sozialpolitischen Bezugsrahmen dieser Frauen und Künstlerinnen mitberücksichtigen muss. Insbesondere da die Periode von 1900 bis zum Ende der zwanziger Jahre für die Veränderung des Geschlechterverhältnisses bezeichnend war, ist es notwendig, Kunst und Kunstschaffende dieser Zeit auch hinsichtlich ihrer geschlechtlichen Identität zu betrachten.

Eine Frage des Geschlechts Auch in der Moderne war eine Künstlerin in erster Linie eine Frau. Und ungeachtet der Tatsache, dass sie sich selbst sehr wahrscheinlich über ihre Kunst definierte, trat ihre Profession in der öffentlichen Wahrnehmung hinter ihrem Geschlecht zurück. So erfuhr die Künstlerin der Moderne am eigenen Leib, was die Sozial- und Medienwissenschaftlerin Cornelia Eck zum Thema Gender, Doing Gender und Geschlechterrollen festhielt: Im Gegensatz zu anderen Rollen, die man im Laufe des Lebens erwirbt und die nur in bestimmten Kontexten zum Tragen kommen wie z. B. die Berufsrolle, ist die Geschlechterrolle zugeschrieben und omnipräsent. Deshalb hat sie auch Einfluss auf die Gestaltung anderer, spezifischer Rollen wie etwa die eben genannte Berufsrolle.1

Hier interessiert nun die Frage: Wie wirkte sich dieser Sachverhalt auf Frauen – aus bürgerlichen Schichten und im städtischen Umfeld – zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus? Als engerer topografischer Rahmen soll bei der Beantwortung Frankreich mit seiner Hauptstadt Paris dienen; als zeitlicher Rahmen, wie auch im Vorigen, schwerpunktmäßig das Entre deux Guerres. Dabei sind jedoch die Vorkriegszeit und der Erste Weltkrieg nicht auszuklammern, da Letzterer speziell in der Geschlechterforschung immer wieder als entwicklungsgeschichtlicher Meilenstein zitiert wurde.2 Nachhaltig habe der Krieg die geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse verändert, neue feminine Archetypen ge1   Eck 2008, 26. Die hier angesprochene Geschlechterrolle als eine veränderliche Zuschreibung ist verankert im Gender-Konzept, wobei Gender ausdrücklich nicht die biologische Kategorie, sondern die kulturelle Dimension von Geschlecht bezeichnet. Zur Geschlechterdifferenz und zum Gender-Begriff in der Kunst­ geschichte vgl. Anja Zimmermann: Einführung. Gender als Kategorie kunsthistorischer Forschung, in dies. (Hg.) 2006, 9 – 60, insbes. 13 – 20. 2   Vgl. z. B. Muller in Dufresne/Messac (Hg.) 1988, 50: „Après la guerre de 14 le travail féminin est reconnu et admis.“

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Das Frauenbild nach 1900

boren und so das herrschende Frauenbild transformiert. Darüber hinaus sei es der geschichtspolitischen Lage geschuldet, dass Frankreich – wie andere europäische Staaten auch – dazu tendierte, „[…] die Frauen zu ‚nationalisieren‘ und, mit eigenen Modellen von Weiblichkeit, dem Kommunismus ebenso zu widerstehen wie der Amerikanisierung.“3 Um derlei weiblichen Modellen auf den Grund zu gehen, wird hier kurz das Geschlechterverständnis im historischen Wandel dargestellt, im Hinblick auf die genannte, programmatische Zeitspanne zwischen beiden Weltkriegen. Das Problem für die Frauen bestand seit dem Mittelalter darin, daß Weiblichkeit in Begriffen wie erlaubte Verhaltensweisen, notwendige Pflichten und akzeptierte Tätigkeiten verstanden wurde, denen sie sich zu unterwerfen hatte. Dieses Konstrukt wurde durch Religion, Medizin, Philosophie und Gepflogenheit legitimiert und durch die Konzepte Ehe, Eigentum und Recht legalisiert.4

Dieses Zitat von Frances Borzello aus Wie Frauen sich sehen macht deutlich, dass Weiblichkeit – im Sinne von Gender – nicht nur das biologische Geschlecht meint, sondern sich im Laufe der Geschichte zu einer kulturell und gesellschaftlich geprägten, somit teils künstlichen Konstruktion entwickelt hat. Wie aber wurde Weiblichkeit konkret verstanden und welche (restriktiven) Konzepte waren außer den hier zitierten mit ihr verbunden? Noch im 18. Jahrhundert, dem Siècle des Lumières, war die Frau dem Mann keinesfalls ebenbürtig, sondern strikt untergeordnet. Zwar feierte das vermeintliche „Jahrhundert des Weibes“5 Frauen für deren Schönheit, Anmut und Geist, aber z. B. in der Malerei oder Musik wurden sie dennoch als abstraktes, schwer fassbares Wesen begriffen.6 Während des 19. Jahrhunderts gewannen eindimensionale Geschlechterkategorien – etwa Häuslichkeit und Fortpflanzung – zunächst sogar noch an Macht hinzu, und die Rolle der Familie als stützender Pfeiler der Zivilgesellschaft erstarkte: Frauen wurden als „Priesterin des heimischen Herds“ oder „Engel des Hauses“ von der öffentlichen Sphäre isoliert, ganz im Einklang mit der ins Private fliehenden Kultur des Biedermeier.7 Grundlage dieser Rollenzuweisung war ein biologistisches Geschlechtermodell,8 das sämtliche Unterschiede zwischen Mann und Frau allein mit deren körperlichen Merkmalen erklärte. Dieses Modell behauptete sich bis zur Jahrhundertwende, wurde selbst von Medizinern und Psychologen vertreten. Konkret seien demnach im weib­ lichen Gehirn die für Emotionalität und Sensibilität zuständigen Bereiche am weitesten entwickelt, woraus sich der besonders sensible Charakter der Frau ableite; das männliche Geschlecht wurde demgegenüber mit dem Merkmal Intelligenz assoziiert. Infolgedessen galten Frauen ohne Ehemann als unvollkommen; Ehelosigkeit war gesellschaftlich nicht nur verpönt – unverheiratete Frauen bezeichnete man spöttisch als Vieilles Filles –, sondern ganz und gar unmöglich. Dies verrät ein Blick auf den verzeichneten Wortschatz des 19. Jahrhunderts: „célibataire“, französisch für „alleinstehend“, verwendete man da  Thébaud (Hg.) 1995, 22.   Borzello 1998, 28. 5   Hildebrandt 1928, 83 6   Zum Weiblichkeitsbegriff speziell des 18. Jahrhunderts vgl. Eva und die Zukunft, Ausst.-Kat. 1986, 14; Borzello 1998, Das 18. Jahrhundert, 68 – 101, insbes. 71. 7   Vgl. und zitiert nach Thébaud (Hg.) 1995, 114. 8   Vgl. hierzu Garb 1989, 49. 3 4

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Eine Frage des Geschlechts

mals ausschließlich auf den Mann bezogen; ein weibliches Pendant gab es überhaupt nicht.9 Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein traten Wissenschaftler und Autoren eifrig für die vermeintlich naturgegebene Ungleichheit der Geschlechter ein, und einschlägige Werke der Psychologie, Anthroposophie oder Geschichte hielten die Lehre von den ‚Geschlechtscharakteren‘ am Leben.10 Dabei wurden Eigenschaften wie Gefühlsbetontheit, Gemeinschaftssinn, Passivität oder praktische Intelligenz unter der Rubrik der Expressivität zusammengefasst, der Frau angedichtet und mit der Instrumentalität des Mannes kontrastiert.11 Des Weiteren finden sich in der zeitgenössischen Literatur wiederholt Verweise auf die ausgeprägte Gefallsucht oder Eitelkeit der Frau, auf ihren Hang zu Neid und Eifersucht sowie auf ihren Instinkt.12 Auch an gängigen Tiermetaphern, beispielsweise Femme-serpent oder Femme-jaguar, ist ablesbar, dass man den genannten Instinkt in Richtung eines wilden, animalischen Wesens interpretierte. Diese Animalität konnte positiv konnotiert sein oder – und dies war in der Kunstkritik weitaus öfter der Fall – zur Herabwürdigung des weiblichen Geschlechts dienen.13 Während also weiterhin ein patriarchalisches Lebensmodell vorherrschte, das der Frau einen gänzlich passiven Part zuwies, taten sich für Frauen gleichzeitig neue Erwerbsmöglichkeiten sowie Lebenskonzepte auf, die das bis dato gültige Geschlechterverhältnis mitsamt der Theorie von der weiblichen Natur erschütterten. Die moderne Kulturgesellschaft hielt nicht mehr an dem statischen Modell der komplementären Zweigeschlechtlichkeit fest, sondern ließ Grauzonen zwischen den Kategorien ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ zu. Zudem lehrte sie die Vergangenheit, dass dynamische Prozesse und Umbrüche innerhalb der Gesellschaftsordnung jene Qualifikationen, Kompetenzen oder Identitäten, die man dem Geschlecht zuschrieb, verändern konnten. So wurde z. B. ein alter Weiblichkeitsentwurf wie die Vieille Fille von einem modernen Gegenentwurf, nämlich der Garçonne, förmlich abgelöst. Dies war allerdings noch lange kein Garant für weibliche Modernität oder gar Individualität; denn die visuellen Medien des 20. Jahrhunderts – zunächst grafische, später auch filmische Arbeiten – produzierten weiterhin Geschlechterstereotype bzw. Prototypen: Es war schwer, alternative Darstellungsformen zu ersinnen. Weil ihre industrielle Reproduzierbarkeit den Bildern moderner Weiblichkeit eine solche Geltung verschaffte, weil die institutionalisierte Kunst sich eines enormen kulturellen Ansehens erfreute und weil zu visuellen Definitionen von Weiblichkeit auch Definitionen von Schönheit und Lust gehörten, konnte sich niemand gänzlich den Geschlechterkonventionen entziehen.14

  Vgl. Perrot 1981, 222 f. Zu Motiven der Eheschließung vgl. ebda., 227.   Z. B. Scheffler 1908; Déonna 1928; Hildebrandt 1928; Lombroso 1929; Lombroso 1929a. 11   Vgl. Eck 2008, 25. 12   Vgl. z. B. Jéglot 1928a, 1; Déonna 1928, 276; Lombroso 1929a, 63 – 66, 87. 13   Vgl. Lascault 2008, 14 – 16. 14   Thébaud (Hg.) 1995, 388. Vgl. hierzu auch Eck 2008, 26: „Sie [die Medien, Anm. d. Verf.] vermitteln nicht nur kontinuierlich Geschlechterstereotype, also das Wissen um die typischen Eigenheiten von Männern und Frauen, sondern auch, was angemessen ist bzw. was von den einzelnen Geschlechtern erwartet wird – die Geschlechtsrollenerwartungen.“ 9

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Das Frauenbild nach 1900

Neue Frauen- und neue Berufsbilder Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhoben französische Schriftstellerinnen die delikate gesell­schaftliche Situation jener Zeit zum Thema ihrer Romane und schilderten darin neuartige Lebenswege. Ihre Heroinen besaßen dabei nicht notgedrungen feministische Züge, obschon Titel wie La Rebelle von Marcelle Tynaire, Claudine s’en va oder La Vagabonde, beide von Sidonie-Gabrielle Colette, dies vermuten lassen. In der Realität figurierten ebenfalls sogenannte Nouvelles Femmes; sie hießen Rosa Bonheur, George Sand, Gertrude Stein, Flora Tristan, Romaine Brooks und Natalie Clifford Barney und gingen als Amazonen oder als Frauen von der Left Bank15 in die Geschichtsbücher ein. Elles ressuscitent ce qu’avaient pu être les ruelles des Précieuses, ou les salons féminins du XVIIIe siècle. Journalistes, écrivains ou artistes, les femmes ne se contentent plus des seconds rôles, de la littérature enfantine, des livres de cuisine ou de la miniature.16

Sowohl viele Angehörige der Bohème als auch erklärte Feministinnen wollten aus ihrem bis dato minderwertigen und passiven Status heraustreten oder ihn zumindest infrage stellen. Durch den Kriegsausbruch zerschlug sich allerdings jäh das über nationale Grenzen hinausreichende, feministische Bündnis.17 Umgekehrt erschlossen sich Frauen im eigenen Land aber neue Betätigungsfelder im Dienstleistungssektor oder traten jene Stellen an, die ehemals mit Männern besetzt waren. Speziell französische Frauen wählten ihren Posten dabei eigenständig. Der Erste Weltkrieg, der eine jahrelange Abwesenheit oder gar den Verlust der Ehemänner zur Folge hatte, lehrte die Frauen, ihren Alltag selbstbestimmt zu bewältigen und zu organisieren. Ihre Einbindung in den Beruf rief neue Konnotationen von Weiblichkeit wie die Munitionnette (Rüstungsarbeiterin) auf den Plan, während gleichzeitig noch die Heilsbringerin, der Engel und die Frau als „Gegenbild des Krieges“18 beschworen wurden. Besonders gefragt waren in den französischen Medien solche Frauengestalten, die Mutterschaft und Aufopferung personifizierten, etwa die Ehefrau, Krankenschwester oder die Marianne. Rückblickend ging der französische Historiker Georges Duby davon aus, dass „[…] der Krieg eher den Mythos von der Frau als Retterin und Trösterin [symbolisch belebte], statt ihre konkreten, praktischen Tätigkeiten aufzuzeigen.“19 Tatsächlich wurde Frauenarbeit in akademischen, zumal medizinischen Zirkeln klar abgelehnt. Da sie einen Gegenentwurf zum althergebrachten Frauenbild bot und als Bedrohung der Dichotomie der Geschlechter empfunden wurde, begegnete man der Munitionnette sogar mit Angst. In diesem Klima entwickelte sich, angestoßen durch den Arzt Huot, der Begriff der ‚Vermännlichung‘  – ein Terminus, der vor allem im Entre deux Guerres den Diskurs unter Gelehrten und Prominenten dominierte. Unabhängig davon, dass der Erste Weltkrieg sicher viel ins Rollen brachte, was die Beschäftigung der weiblichen Bevölkerung angeht, erlebte jedoch jede Frau die Kriegsjahre sehr individuell, abhängig von ihrem sozialen Status‘, ihrer Natio  Vgl. Benstock 1986; Weiss 2006.   Perrot 1981, 229. 17   Zur Situation der Frau während sowie nach dem Ersten Weltkrieg vgl. im Folgenden, soweit nicht anders vermerkt, Thébaud (Hg.) 1995, 42 – 88. 18   Ebda., 52. 19   Ebda., 49. 15 16

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nalität und ihrem Alter. Das junge, mehr Freiheit verheißende Rollenbild stand zudem der vom Malthusianismus gekennzeichneten, französischen Politik diametral gegenüber. Durch den Krieg konnten die Rollenklischees dieser Innenpolitik, die eigentlich schon überholt waren, sogar erneut belebt werden; denn in jener unsicheren Zeit gaben sie den Menschen ein Gefühl von Sicherheit. Nach dem Krieg jedoch führten junge Frauen, auch in Anbetracht ihrer Zukunft und, womöglich, ohne auf die Unterstützung eines Ehemannes oder ihrer alternden Eltern zählen zu können, vielfach ihre Arbeit fort; sie investierten in eine Aus- oder Weiterbildung, um ihren späteren Lebensunterhalt eigen­ständig sicherzustellen: Sans bruit, elles se mirent à l’action ; de tous côtés, dans les écoles, dans les universités, dans les ateliers, affluèrent des jeunes filles et des femmes désireuses de gagner leur pain quotidien. Elles avaient compris que la guerre avait bouleversé les situations et qu’une ère nouvelle s’ouvrait pour elles.20

Dieses Zitat stammt von Yvonne Netter, Autorin von Plaidoyer pour la Femme française (1936). Ihr optimistisches Bild von einem neuen Zeitalter ist gewiss nicht auf das gesamte weibliche Geschlecht zu beziehen; doch in der Tat ging mit dessen Möglichkeit, sich über eine schulische Ausbildung und ein Studium ins Berufsleben einzugliedern, ein sozialer Wandel vonstatten. Neben die wenig attraktiven Posten in Fabriken und Ateliers der wachsenden Textilindustrie traten nun auch Berufsbilder, die teils denen der Männer vergleichbar, teils völlige Neuschöpfungen waren.21 Ein wichtiges Fundament für diese neuen Bildungs- und beruflichen Chancen wurde 1919 mit der Einführung des Abiturs (Baccalauréat) für Mädchen gelegt, gefolgt von einer schrittweisen Nivellierung der Gymnasialausbildung von Mädchen und Jungen.22 Damit waren die Zugangsvoraussetzungen zu den Universitäten zwar weni­ger vom Geschlecht des Studierenden beeinflusst als zuvor; ein Studium der Natur- oder Geisteswissenschaften nahmen dennoch sehr viel mehr Männer als Frauen auf. Für Letztgenannte hatten bereits während des Krieges auf Ökonomie und Ingenieur­wesen spezialisierte Écoles pratiques eröffnet; jetzt kamen noch Schulen weiterer Fachrich­ tungen hinzu.23 Mädchen und Frauen erwarben hier neue Kenntnisse und Fertigkeiten, von denen zuallererst die Wirtschaft und das dienstleistende Gewerbe profitierten; die Schülerinnen selbst erhielten nach wie vor eine subalterne, teils auf Handarbeit fixierte Lehre. Legitimiert wurde diese Regelung noch immer mit dem biologischen Geschlechterverständnis des 19. Jahrhunderts, etwa in dem Buch La Femme dans la Société actuelle24 (1929), in dem sich die Philosophin und Soziologin Gina Lombroso25 mit der   Netter 1936, 11.   „Professeurs, médecins, avocats, architectes, ingénieurs, pharmaciennes, devenaient chaque jour plus nombreuses, comme aussi se créaient de nouvelles professions spéciales aux femmes, devenues indispensables dans tous les domaines : ingénieurs sociales, assistantes d’hygiène, surintendantes d’usine, inspectrice du travail, etc., toutes professions auxquelles on n’avait jamais pensé jusqu’alors.“, ebda. 22   Vgl. Thébaud (Hg.) 1995, 86. 23   Zu den Écoles vgl. ebda.; Lombroso 1929, 122. 24   Lombroso 1929. 25   Nach Studien der Geisteswissenschaften und der Medizin befasste sich Lombroso (1872 – 1944) während des Entre deux Guerres wiederholt mit Fragen rund um das weibliche Geschlecht, sowohl in Büchern als auch Essays mit soziologischem Anspruch, vgl. Lombroso 1929a, Avertissement du traducteur, 7 – 9. Hierbei fällt auf, dass Lombroso sich wesentlich auf die von Biologie und Humanmedizin bereitgestellten Er20 21

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sozialen Stellung und den Bedürfnissen des weiblichen Geschlechts auseinandersetzte: Demnach bedürfe die von Natur aus mit Intuition und Fantasie gesegnete Frau, anders als der Mann, einer eher praktischen Ausbildung.26 Nur sehr wenige Mädchen waren der Autorin zufolge „dotées d’une intelligence masculine“27 und insofern zum Studium der Wissenschaften geeignet; allen anderen riet sie zum Besuch der erwähnten Schulen – „écoles qui, par suite, n’auraient pas en vue de faire de la femme une concurrente de l’homme, mais de la pousser vers les professions, les charges, les fonctions plus spécialement féminines et appropriées à ses tendances.“28 Diese anachronistische Sichtweise erstaunt zunächst, doch tatsächlich äußerten sich während des Entre deux Guerres neben Lombroso mehrere gelehrte Frauen contra-­ feministisch und bekannten sich öffentlich zu einer Weiblichkeit, die dem modernen Frauenbild komplett zuwiderlief.29 So sprach z. B. die Dichterin Louise de Vilmorin in einem Vortrag mit dem Titel Sur les Femmes30 davon, dass die Egalität, welche Frauen u. a. mithilfe höherer Bildung zu erringen hofften, wider die Natur und redundant sei: „L’évidence nous prouve que le rôle des hommes est de créer et il me semble, à moi, que le rôle des femmes est de conserver.“ Ihre logische Schlussfolgerung hieraus lautete, dass Frauen, statt sich im Schulunterricht fortzubilden, lieber traditionsgemäß das Haus ­hüten sollten. Man war sich einig, dass dies schließlich den familiären Verpflichtungen der Frau, die unter deren außerhäuslichem Engagement litten, zugutekäme.31

Der Dualismus des Entre deux Guerres … Derart konservative Ansichten erscheinen mit den radikalen Neuerungen des Entre deux Guerres unvereinbar; doch in Wirklichkeit waren in dieser Periode des Übergangs gleich mehrere, gegensätzliche Tendenzen wirksam. Besonders offensiv schlug sich diese Widersprüchlichkeit im zeitgenössischen Diskurs um die Frauenemanzipation nieder, die nun, ausgehend von folgendem Zitat, kritisch hinterfragt werden soll: Man mag ihre Stellung im Hause, in der Ehe, in der Familie, oder ihr Verhältnis zur Außenwelt und zur Gesellschaft ins Auge fassen, oder man mag ihre Rechte im bürgerlichen Leben betrachten, immer wird es sich ergeben, daß das Loos [sic] der Frauen im Laufe der Zeiten sich glücklicher, freier und würdiger gestaltet hat.32

kenntnisse über die Beschaffenheit der Geschlechter berief, um diese mit ihrer eigenen autobiografischen Sichtweise zu verknüpfen. 26   Vgl. Lombroso 1929, 122. 27   Ebda., 129. 28   Ebda., 129 f. 29   Vgl. exemplarisch Lombroso, Tinayre, Brunschvicg in Divoire 1927; Rachilde 1928; Vilmorin (o. J.): Sur les Femmes. Conférence à Bruxelles sur les Femmes. BLJD, Fonds Louise de Vilmorin, Ms 28875. 30   Hier und im Folgenden Vilmorin (o. J.), Ms 28875. 31   „La participation de la femme à la vie publique aboutirait donc à un relâchement de son esprit de devoir, et, par voie de conséquence, à un relâchement de l’intérêt et de l’amour qu’elle a aujourd’hui pour la famille.“, Lombroso 1929, 106. 32   Guhl 1858, 1.

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Diese stark vereinfachende Sicht stammt von Ernst Guhl, dem Verfasser von Die Frauen in der Kunstgeschichte und mag zu Lebzeiten des Autors vielleicht noch nachvollziehbar gewesen sein; in moderneren Zeiten allerdings konnte von einer sich reibungslos und kontinuierlich verbessernden Situation der Frau keine Rede sein. Stattdessen wurde ihr berufliches und gesellschaftliches Weiterkommen wiederholt durch Hemmungen, Rückschläge oder Phasen verzögert, die sich dem allgemeinen Retour à l’Ordre verdankten. Dieser Dualismus des Entre deux Guerres steuerte kultur- und mentalitätsgeschichtliche Prozesse, die für die Emanzipation ausschlaggebend und z. B. in der Mode, der Literatur, aber auch im Tanz zu beobachten waren.33 Neben dem Bildungssektor sendeten diese Bereiche neue Impulse aus, wirkten modernisierend und emanzipierend. Die Frau des Entre deux Guerres wurde zunehmend aktiver, nahm sich selbst, ihren Körper und ihr Erscheinungsbild bewusster wahr als sie es im Fin de Siècle getan hatte; und womöglich – dies gilt es noch zu überprüfen – war ihr alltägliches Sein dadurch sogar ein anderes.34 Wegen seines großen Einflusses auf das Körperbild wird von den oben genannten Bereichen hier als erstes der Tanz behandelt, danach die Mode, die natürlich Berührungspunkte mit dem Tanz – Stichwort Bühnenkostüm – aufweist, und abschließend die Literatur.

… im Tanz Im Bereich des Tanzes sind für die Zeit kurz nach 1900 zwei Phänomene zu erwähnen, die auf das Körperbild und die Sexualität der Frau eine impulsgebende Wirkung hatten: Erstens der absolut neue Tanzstil von Loïe Fuller und Isadora Duncan, zweitens die gleichermaßen inspirierenden Darbietungen der aus Russland stammenden Ballets russes. Die Amerikanerin Fuller durchbrach mit ihrem charakteristischen Serpentinentanz während der 1890er Jahre das Dogma des klassischen Tanzes.35 Dabei war es weniger die Choreografie selbst als vielmehr die raffinierte, dem Theater verpflichtete Ausstattung ihres Serpentinentanzes, die das Publikum begeisterte und andere Künstler/-innen inspirierte:36 Fuller befestigte voluminöse Seidentücher an langen Stangen und diese wiederum flügelgleich an ihren Armen, um damit zur Musik geschmeidige Spiralbewegungen zu vollführen. Und stets stand dabei ein effektvoller Lichtzauber im Vordergrund, hervorgerufen durch eine von unten angestrahlte, gläserne Bühne, Leuchtstoffe sowie begleitende Farb- und Lichtprojektionen. Die Figur der Tänzerin wurde vom fließenden, seidenen Stoff umschmeichelt und in farbiges Licht getaucht. Ohne ausgefallene Kostümierung, sondern in schlicht weißen, symbolistisch anmutenden Gewändern verkörperte Fuller Lilien oder Flammen in der Tradition des Art nouveau. Somit bildete ihr Körper das Zentrum des Bühnengeschehens. Diese Betonung des Leibes – eine erotische 33   „Le combat en faveur de la liberté sexuelle féminine ne se joue pas sur le terrain politique, mais sur le terrain culturel et plus précisément sur celui de la mise en place de nouveaux modèles […].“, Bonnet 2000, 196. 34   Vgl. dazu Duby/Thébaud 1995, 87. 35   Zu Loïe Fuller (1862 – 1928) vgl. soweit nicht anders vermerkt Schmidt 2002, 17 – 19. 36   Für das zum Serpentinentanz gehörende Kostüm und die Bühnentechnik erwarb Fuller damals sogar ein eigenes Patent.

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Konnotation – lässt sich zudem ikonografisch feststellen, da der Fantasietanz Fullers auf den Tanz der Salomé, den Tanz mit sieben Schleiern, zurückwies.37 Das Erbe Fullers trat gewissermaßen die jüngere, ebenfalls aus Amerika stammende Isadora Duncan38 an. Ihren Auftritten lag ein Naturkonzept zugrunde; sie tanzte deshalb ohne Korsett, Spitzenschuhe, Strumpfhose oder Schminke, was zunächst beim Pariser Publikum für einen Eklat sorgte. Kenner und vor allem auswärtige Zuschauer gerieten hingegen in Verzückung darüber, wie kühn Duncan sich aller Formeln des akademischen Balletts entledigte: „Es wurde für mich ein Genuß von großer Schönheit.“, ließ Fritz Stuckenberg seine Eltern in einem Brief wissen. „Es ist erstaunlich, welcher Anmut der menschliche Körper fähig ist, wenn er einer alle Muskeln berücksichtigenden Erziehung unterworfen wurde.“39 Offenbar ließen sich die Bewegungsabläufe der Tanzenden also in ganzer Deutlichkeit an deren Körper ablesen, was nicht weiter verwundert, da Duncan nur in einem Peplon, einem lockeren, hellenistischen Gewand, und darüber hinaus auf nackter Sohle tanzte.40 Beide Solotänzerinnen, sowohl Fuller als auch Duncan, markierten tanzgeschichtlich einen Bruch mit dem westeuropäischen und mit dem russischen Klassischen Ballett, das um die Jahrhundertwende ohnehin schon an Popularität verloren hatte.41 Sie führten eine noch nie da gewesene Bewegungsfreiheit und ausdrucksstarke Körperlichkeit in den Tanz ein, denen überdies eine wichtige modegeschichtliche Rolle zukam. Die Tanzwissenschaftlerin und Kuratorin Jane Pritchard resümierte diesen Zusammenhang wie folgt: Their style of dance was liberating. For decades the body had been encased in corsets or tight-fitting boned bodices, forcing dancers to hold their upper body tilted forward with minimal movement, encouraging static groups and poses. [….] Duncan’s impact derived from her danced response to concert-hall music with heightened natural movements enhanced by her free-flowing tunic. Her body was unrestricted by her garments; her bare feet liberated from the steel pointes of the late-nineteenth-century ballerina.42

Sicherlich ließe sich der um die Jahrhundertwende auftretende Spielraum in Tanz, Kunst und Mode auch aus einer allgemeinen „Tendenz zur Destabilisierung“43 herleiten; doch an dieser Stelle soll es mehr um die soeben angesprochene Entfesselung des weiblichen Körpers gehen – etwa durch die Absage an das Korsett und an die steife Ästhetik des Klassischen Balletts. In beiden Fällen wurde nämlich eine neue Flexibilität insbesondere des Oberkörpers gewonnen, der zuvor klar vertikal ausgerichtet war und sich weder zur Gänze durchdrücken noch krümmen ließ. Von nun an aber konnten auf der Tanzbühne extreme Biegungen und abstrakte Figuren präsentiert werden, das Körpergewicht wurde

  Vgl. Thalhofer 2010, 209.   Zu Isadora Duncan (1877 – 1927) vgl. soweit nicht anders vermerkt Schmidt 2002, 20 – 23. 39   Stuckenberg an seine Eltern, [Paris, d. 14. Febr. 1909], Brief vollständig abgedruckt in: Paris leuchtet, Ausst.-Kat. 2007, 63. 40   Das Peplon wurde von Boris Kochno erwähnt, vgl. König/Schuppisser 1958, 294. 41   Vgl. Diaghilev and the golden Age of the Ballets russes 1909 – 1929, Ausst.-Kat. 2013, 49. 42   Ebda., 52. 43   Die Nabis und das moderne Paris, Ausst.-Kat. 2001, 80. 37 38

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abrupt verlagert, Füße und Hände wurden angewinkelt, was im Klassischen Ballett undenkbar gewesen wäre.44 Ein frei beweglicher Körper zeichnete auch das zweite angesprochene Phänomen, nämlich das theatrale System der Ballets russes, aus.45 1909 hatte Serge Diaghilew diese Ballettkompanie gegründet und sie, zusammen mit dem Solisten Vaslav Nijinsky, dem Choreografen Michel Fokin und dem Komponisten Igor Strawinsky, erfolgreich in Paris eingeführt. Nicht nur gerieten Stücke wie Cléopâtre (1909), Shéhérazade (1913) oder ­Salomé (1913) zu Favoriten des französischen Publikums oder stiegen deren Protagonisten Nijinsky und Ida Rubinstein zu internationalen Stars der Ballettszene auf, sondern ihr Geschehen speiste sich auch weitgehend aus dem Orient, zelebrierte diesen in all seiner Sinnlichkeit.46 Bei der Umsetzung solch orientalischer Märchen auf der Bühne verstand Diaghilew sich auf eine „overall production“47, zugunsten derer artistische, tänzerische, musikalische und technische Möglichkeiten voll ausgeschöpft wurden. Daraus schließlich erwuchs in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts „eine ästhetische Ideologie des theatralen Gesamtkunstwerks“48  – das Signum der Tanzkompanie um Diaghilew und Nijinsky. Bezogen auf die Ballette mit orientalistischer Thematik sind konkret drei formgebende Komponenten zu erwähnen: Die Gestaltung der Kostüme durch Léon Bakst, die Choreografien von Michel Fokin sowie die Mitwirkung der beiden herausragenden Solotänzer Nijinsky und Rubinstein. Dabei eröffnete das exotische Ambiente auf der einen Seite einen direkten Zugang zu ausschweifender Erotik, auf der anderen Seite schuf die historische Verortung des Geschehens im fernen Orient wiederum Distanz zur zeitgenössischen, westlichen Gesellschaft. So konnte z. B. die Hauptfigur aus Cléopâtre quasi „unter dem orientalischen Deckmantel“49 erotische Gelüste vergleichsweise unumwunden nach außen tragen und dadurch gegebenenfalls Fantasien des Publikums verkörpern.50

… in der Mode Neben Baksts Bühnendekor trugen gerade auch dessen Kostümentwürfe, die auf eine körperästhetische Wirkung abzielten, zur gesteigerten Erotik von Cléopâtre bei: Genau wie die Gewänder von Loïe Fuller oder Isadora Duncan umspielten weite Pluderhosen den Körper der oder des Tanzenden; sie waren fernöstlich inspiriert und nahezu transparent; zusätzlich wurde durch Aussparungen in den dünnen Stoffen die darunterliegende Haut enthüllt. Beispielsweise bestand das Kostüm der Kleopatra aus einem flexiblen Perlenvorhang, der sich verführerisch um ihre Silhouette schmiegte und im Zusammenspiel mit nackter Haut einen starken haptischen Reiz evozierte. Solch eine   Vgl. Bellow 2013, 7.   Zu den Ballets russes vgl. soweit nicht anders vermerkt Christoph B. Balme/Claudia Teibler: Orient an der Wolga. Die Ballets Russes im Diskurs des Orientalismus, in Jeschke (Hg.) 1997, 113 – 133, insbes. 113 – 128. 46   Vgl. Nancy van Norman Baer: Die Aneignung des Femininen. Androgynie im Kontext der frühen Ballets Russes 1900 – 1914, in Jeschke (Hg.) 1997, 40 – 53, 42; Diaghilev and the golden Age of the Ballets russes 1909 – 1929, Ausst.-Kat. 2013, 52. 47   Diaghilev and the golden Age of the Ballets russes 1909 – 1929, Ausst.-Kat. 2013, 57. 48   Balme/Teibler in Jeschke (Hg.) 1997, 113. 49   Ebda., 126. 50   Vgl. auch Lehnert 1999, 121. 44 45

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Kostümierung unterstrich zusätzlich die fließenden, geschmeidigen Bewegungen, die Ida Rubinstein als Kleopatra oder Vaslav Nijinsky als Goldener Sklave in Shéhérazade ausführten. Rasch zog deshalb auch die damalige Kritik den Vergleich zu einer Katze oder einer Schlange – dieselben Tiere, die auch von der Modepresse immer wieder zur Umschreibung des femininen Körpers bemüht wurden.51 Dabei war diese Koinzidenz keineswegs willkürlich, sondern ist mit dem Trend zur sogenannten serpentinen Linie zu erklären. Hierunter wird ein Figurenideal verstanden, das zu Beginn der zehner Jahre die durch Wespentaille und Cul de Paris vorgewölbte weibliche Silhouette begradigte und für mehr Beweglichkeit und Anmut sorgte.52 Desgleichen wurde die erwähnte Pluderhose, zusammen mit Turban, Seidentüchern und Edelsteinen, von der zu Opulenz neigenden Haute Couture aufgegriffen.53 Sie war als Beinkleid, das sich aus dem Rock entwickelte – daher prägte sich die Bezeichnung Jupes-Culotte (Humpelrock) aus – in der Mode der Vorkriegszeit vorherrschend und wurde darüber hinaus als Symbol sozialer Emanzipation wertgeschätzt.54 Federführend erwies sich diesbezüglich Paul Poiret, den man als „Prototyp eines Modeschöpfers“55 begreifen kann und dessen Verdienst – so die Romanistin Julia Drost – darin besteht „[…] vor dem Krieg einen grundlegenden Wandel des weiblichen Kostüms eingeleitet zu haben.“56 Poirets Kreationen, maßgeblich beeinflusst durch Orientalismus und Ballets russes, repräsentierten demnach eine frühe Etappe der sich bald ausprägenden und unter Coco Chanel reüssierenden Garçonne,57 allerdings noch ohne eine unverkennbare Anpassung der weiblichen an die männliche Garderobe. Insgesamt lässt sich anhand der von circa 1908 bis 1914 reichenden „Epoche Poiret“58 ablesen, dass der Tanz – oder allgemeiner das Theater – eine fruchtbare, symbiotische Verbindung mit der Mode einging: Dank der Vermittlung über Bühnendekors und Kostüme erlangten neue Farben, Schnitte oder Materialien schneller öffentliche Akzeptanz; umgekehrt machten sich Modeschöpfer bei der Inszenierung ihrer Kleider das theatereigene Vokabular zunutze.59 Es verwundert daher nicht, dass sowohl in der Belle Époque als auch im Entre deux Guerres Modemacher ebenso wie einige Künstler/-innen gezielt eine Beschäftigung am Theater suchten. Dieser Ort diente ihnen schließlich als lukrative Plattform für ihr Schaffen und vereinte, gemäß des Gesamtkunstwerk-Gedankens von Richard Wagner, die unterschiedlichsten Kunstformen in sich.60 Um den für die Frau so entscheidenden historischen Wandel weiter zu verfolgen,   Zur Modepresse vgl. Steele 1985, 229.   Vgl. Steele 1985, 228 f. Der Cul de Paris (Pariser Steiß) betonte das Gesäß als weibliches Geschlechtsmerkmal durch einen enganliegenden Rock und eine entsprechende Polsterung; wegen des flach gedrückten Bauchs wurde diese Vorrichtung auch als Sans Ventre betitelt, vgl. Sykora 1994, 37. 53   Vgl. Diaghilev and the golden Age of the Ballets russes 1909 – 1929, Ausst.-Kat. 2013, 126. 54   Vgl. Steele 1985, 230; Leloir 1951 (Lemma Jupes-Culottes), 32; Loschek 1994 (Lemma Humpelrock), 266. 55   König/Schuppisser 1958, 311. 56   Drost 2003, 237. 57  Zur Garçonne vgl. im Einzelnen das gleichnamige Kapitel dieser Arbeit, 117 ff. 58   König/Schuppisser 1958, 311. 59   Paul Poiret unterhielt ein eigenes Atelier nur für Theaterkostüme. Die Illustrationen seiner Modeentwürfe, ausgeführt durch Georges Lepape und Paul Iribe, weisen mehrfach eine Bühne oder ein Auditorium als Fond auf, reproduziert in: Diaghilev and the golden Age of the Ballets russes 1909 – 1929, Ausst.-Kat. 2013, 64 f. 60   Vgl. Thalhofer 2010, 152; Brandes 2012, 65. 51 52

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lohnt es, die erwähnten Entwicklungen im Bereich des Tanzes und Theaters nun modegeschichtlich zu verorten und zu präzisieren. Dabei soll beachtet werden, dass Kleidermode hier nicht als Oberflächlichkeit oder bloß als Artefakt, sondern vielmehr als ein Zeichensystem aufgefasst werden muss, das auf visueller und sozialer Ebene wirksam ist.61 In dieser Funktion vermag sie innerhalb einer Kultur Identität ebenso wie Alterität zu schaffen oder zu konstituieren. Wie sich anhand der zwanziger Jahre zeigte, kann Mode sogar symbolisch für „die Ausprägung einer neuen weiblichen Identität“62 stehen.63 Hier ist dabei der Kleidermode Vorrang einzuräumen vor den Accessoires und Attributen, die in dieser Arbeit erst im direkten Zusammenhang mit der Garçonne behandelt werden.64 Als wichtiger Schritt sind neben der Entwicklung zum zweiteiligen Beinkleid für die Frau gewiss die Abschaffung des Korsetts sowie die „Fragmentierung der Kleidung“65 zu erwähnen. Genauso wie die Hosenmode fielen diese Novi zeitlich mit dem Ausklang der pompösen Belle Époque zusammen, außerdem besaßen beide dieselben praktischen Auswirkungen: Ohne Korsettierung konnte so z. B. eine aufrechte Haltung eingenommen, freier geatmet und der Torso beliebig bewegt werden; auch durfte die Frau nun mit ihren Beinen weiter ausschreiten, dadurch wurde ihr Gang weniger affektiert und ge­­ löster. Es genügt, sich ein Porträt wie Parisienne sur la Place de la Concorde von Jean Béraud66 oder vergleichbare Straßenszenen von Pierre Bonnard anzuschauen, um das Ausmaß der damals üblichen Verhüllung und Überformung, verursacht durch Schnürmieder und Cul de Paris, zu verstehen.67 Erkennbar ließ sich damit die Körperfülle ­wider ihre Natur verschieben: Der Busen wurde etwa empor und nach vorn gepresst, das  Gesäß übertrieben nach hinten verlagert, wodurch ein Hohlkreuz entstand, und mithilfe fester Bestandteile wie Fischbein wurde der Bauch frontal flach gedrückt, um gleichzeitig durch die im Rücken verlaufende Schnürung die gewünschte Wespentaille zu modellieren.68 In der Folge war es der Frau kaum oder gar nicht möglich, sich zu beugen, Treppen hinaufzusteigen oder vernünftig zu sitzen; selbst das Atmen wurde erschwert. Den anatomischen Unterkörper verbarg meist zur Gänze ein stark aufgebauschter Rock, als Resultat des im Second Empire getragenen Reifrocks oder genauer der Tournüre, die Modewissenschaftlerinnen anschaulich als „einen höchst artifiziellen modischen Körper: einen regelrechten Sockel“69, als „Raumskulptur“70 oder als „Körper­ 61   Vgl. z. B. Lehnert 2013, 1; Mode als kulturelle Praxis, ebda., 15 – 49, insbes. 17 – 19; Loschek 2007, Modetheorie. Kleidung als Form, 24 – 29, Mode als System, ebda., 29 – 39; zum Aspekt der Geschlechterkonstruktion vgl. Gaugele 2002. 62   Drost 2003, 232. 63   Vgl. dazu auch Steele 1985, 240. 64   Vgl. dazu 121 ff.. 65   Loschek 2007, Wann ist Mode?. Sinn, 187 – 197, 191. Gemeint ist damit die zunehmende Zerlegung eines Komplet in einzelne Kleidungsstücke. 66   Jean Béraud, Parisienne sur la Place de la Concorde, um 1885, Öl auf Leinwand, 47,7 × 39,8 cm, Musée Carnavalet, Histoire de Paris. 67   Zur formgebenden Qualität von Kleidung vgl. Loschek 2007, Kleidung als Form, 24 – 26. 68   Eine Vorstellung des Korsetts in all seinen Einzelteilen sowie eine präzise Erklärung von deren Funktionen findet sich in Shannon Miller in Ortlepp (Hg.) 2010, 77 – 96. 69   Lehnert 1999, 121. 70   Lehnert in Fischer-Lichte (Hg.) 2001, 528 – 549.

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attrappe[n]“71 umschrieben. Die Damenmode als Ganzes war seit Jahrhunderten durch Statik und Dreidimensionalität geprägt, die Männermode unterdessen durch Gerad­ linigkeit und Dynamik: „Frauen füllen den Raum“, stellte die Modeexpertin Gertrud Lehnert mit Blick auf die Kostümgeschichte bis ins 19. Jahrhundert fest, „Männer gliedern und strukturieren ihn, indem sie sich durch ihn hindurchbewegen.“72 Zeitgenössisch übte an dieser so überspannten Damenmode bereits Octave Uzanne heftige Kritik  – ein französischer Bibliophiler und Autor, dessen Theorien über die Pariserin europaweit rezipiert wurden. In seinem 1902 erschienenen Buch L’Art et les Artifices de la Beauté beschuldigte Uzanne die Pariser Modeschöpfer, die weiblichen Proportionen verfälscht und sich an der natürlichen Schönheit versündigt zu haben: „Ils ont ainsi souvent déterminé des modes ridicules, faussé le goût d’une époque, fait de la femme un être disgracieux ou grotesque, […]“73 Wahrscheinlich meinte Uzanne damit auch den selt­ samen, da eingeengten Gang der Pariserin, der in dem oben erwähnten, beispielhaften Bild Bérauds verewigt ist. Dieser Mangel an Grazie wurde allerdings schon sehr bald gemindert, als einzelne Größen der französischen Mode das korsettlose Kleid oder auch Hemdkleid konzipierten.74 Der Vorteil und die Innovation dieses Kleidungsstücks bestanden vor allem darin, dass es – anstatt von der Taille ausgehend – von den Schultern abwärts, somit nur noch in eine Richtung, entworfen und genäht werden musste.75 Statt üppiger Dreidimensionalität, Bauschungen und Rüschen strebte die Mode in den Folgejahren zunehmend nach Zweidimensionalität und entfaltete ihre Wirkung weniger durch Dekoration als durch ihre Machart bzw. Schnittform. Diese Vorliebe für Fläche und Flächigkeit, auch in den dekorativen Elementen, lässt sich konzeptuell in Beziehung zum Kubismus setzen: Montage- und Collagetechniken, gerade, kantige Schnitte, die Negation von Plastizität – all diese Prinzipien waren sowohl in der Malerei als auch in der Kleidermode mehr und mehr gegenwärtig.76 Nun war der Kleiderstoff fließend und fiel lose, um der schlanken Silhouette zu schmeicheln und Abstand zu nehmen von den einst geschätzten Volumina des weiblichen Körpers. Dazu René Pillorget: „La robe devient une sorte de tuyau. Les courbes naturelles du corps féminin se trouvent effacées. La taille descend sur les hanches ou juste au-dessous.“77 Für den weiblichen Körper bedeutete dies, dass ausladende Hüften, ein üppiger Busen oder ein zur Schau getragenes Gesäß nicht länger als schick galten; gefragt war nun „une allure de jeune fille ou même de garçon“78, also ein über Jugend definiertes Schönheitsideal. Doch ist zu beachten, dass gerade die Presse und kommerzielle Grafik, die das neue Figurenideal erfolgreich in Umlauf setzten, nicht

71   Loschek 2007, Modetheorie. Kleidung als Form, 24 – 26, 24. Zur Illustrierung vgl. ebda., Invention. Inventionsstrategien in der Mode, 49 – 102, insbes. 53 – 60. 72   Lehnert in Antoni-Komar (Hg.) 2001, 132. 73   Uzanne 1902, 93. 74   Vgl. dazu Steele 1985, The Poiret Figure and the Beginning of Modern Fashion, 224 – 234. 75   Vgl. ebda., 227. 76   “When flat, no longer specifically representational, and not as dogmatically single purpose as before, dress seems conjoined to the principles of Cubism.”, Cubism and Fashion, Ausst.-Kat. 1998, 42. Vgl. dazu auch Lehnert in Antoni-Komar (Hg.) 2001, 134. 77   Bastié/Pillorget 1997, 289. 78  Ebda.

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durchweg der Realität entsprachen. Hier handelte es sich im Gegenteil um eine Idealisierung der durchschnittlich gebauten Frau aus der Zeit vor 1914.79 Zu Zeiten des Krieges entwickelte der Kleidungsstil dann eine naturgemäße Schlichtheit, die ohne Accessoires, Kostbarkeiten und Exotika auskam. Außerdem erwies es sich für die Lebenspraxis der Frauen als förderlich, ihre Rocklänge leicht zu kürzen oder Hosen und dazu eine Frisur im Herrenschnitt zu tragen.80 Kleidung sollte im Widerspruch zum Prinzip des l’Art pour l’Art nicht mehr nur kunstvoll, sondern ökonomisch, funktional und unkompliziert in der Handhabung sein. In diesen Eigenschaften wurden bereits Vorboten der Mode à la garçonne gesehen; allerdings darf neben dem Stellenwert der Frauenarbeit die neue Wertschätzung der Freizeit und des Sports nicht unterschlagen werden, von der schließlich wichtige Impulse für die Mode ausgingen. Als Konkurrentin von Poiret und Pionierin damenhafter Freizeitbekleidung – für z. B. Tanz und Sport – tat sich damals Gabrielle, genannte Coco, Chanel81 hervor.82 So wurde bei Chanel erstmals sportive Oberbekleidung, wie Pullover und Hosen, aus fließend-weichem Jersey gefertigt, und man differenzierte zwischen bequemen Tageskleidern und eleganteren Roben für den Abend.83 Merklich wurde bei der Konzeption also auf Funktionalität, auf die Angepasstheit des Kleidungsstücks an seine Trägerin, an den Adressaten bzw. Anlass geachtet. Sportarten wie Tennis, Fechten, Golf oder Schwimmen – damals eindeutig mit Luxus konnotiert – regten zur Kreation spezieller Kleidungsstücke an, etwa des Tennisrocks, des Sweatshirts, der Schirmmütze oder des Badeanzugs aus Strick samt passender Badekappe und künstlichen Perlohrringen.84 Ebenso hinterließ der im Trend liegende Reitsport Spuren in der Mode, wohingegen man sich als Gast der entsprechenden Spektakel in Longchamp, Auteuil oder Chantilly nach wie vor in fest­ lichem Habit zeigte.85 Durch die sportliche Note der Mode wurden die zweifelhafte Befreiung des weib­ lichen Geschlechts und die Frauenemanzipation optisch weiter vorangetrieben. Während zuvor der „eiserne Käfig des Korsetts […]“86 eine Aura der Moral und Unantastbarkeit schuf, offenbarte die Garderobe der Frau nun mehr Haut – nackte Unterschenkel, bloße Arme und Schultern, tiefe Dekolletés – und gestand dem weiblichen Körper ein hohes Maß an Bewegungsfreiheit zu. Gleichzeitig wurde durch die Tatsache, dass Mädchen und Frauen beherzt Sport trieben, dass sie in ihrer Freizeit Fahrrad fuhren, tanzten,   Vgl. Steele 1985, 229 f.   Vgl. Püskül 2003, 4. 81   Zu der Mode und dem Weiblichkeitsentwurfs Chanels (1873 – 1971) vgl. Lehnert 1999, 123; Diaghilev and the golden Age of the Ballets russes 1909 – 1929, Ausst.-Kat. 2013, 164 f. 82   „L’année de la Garçonne, la femme élégante demeure telle que Poiret l’a dessinée. Elle est entourée de turbans, de plumes et d’étoffes orientales. Elle porte de grands chapeaux et des aigrettes. Mais une petite marchande de Deauville comprend que le costume féminin doit s’adapter à l’époque, que la jupe longue ne peut convenir à la femme active, que le travail, le sport et la danse doivent déterminer son style. Les robes de tricot, les pull-overs et les pantalons de marins de Coco Chanel enthousiasment de nombreuses Parisiennes.“, Bastié/Pillorget 1997, 288. 83   Vgl. Loschek 1994, 84 f. 84   Vgl. Diaghilev and the golden Age of the Ballets russes 1909 – 1929, Ausst.-Kat. 2013, 164 f.; Denuelle 2011, 156 und 159. 85   Zudem blieben Pferderennen vorerst die Domäne der feinen Pariser Gesellschaft und der Haute Couture, vgl. König/Schuppisser 1958, 300. 86   Shannon Miller in Ortlepp (Hg.) 2010, 85. 79 80

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Schlittschuh oder Ski liefen, das Bewusstsein für den eigenen Körper geschärft. Weniger die Körperform diktierend, sondern sich ihr nunmehr anpassend entsprach die Mode der frühen zwanziger Jahre ganz diesem neuen körperästhetischen Verständnis. Dies lässt sich auch insofern behaupten, als das Volumen und die räumliche Wirkung von Kleidung in Entsprechung zum Volumen des weiblichen Körpers abnahmen. Denn es kamen fortan weniger schwere Materialien, sondern eher zarte Stoffe zum Einsatz, in die weder Kissen zur Aufpolsterung noch Streben zur Stabilisierung eingenäht wurden. Was darunterlag, war demnach deutlicher denn je zu erahnen oder, im Falle der Arme und Beine, partiell sogar entblößt, weshalb diese langgliedrig und schlank sein sollten. Die Aufmerksamkeit wurde also nicht mehr wie beim Korsett auf die Körpermitte und die erogenen Zonen, auf Brüste und Hüften gelenkt, sondern lag auf den Extremitäten der Trägerin. Eine solche Mode rief automatisch das Bild junger Mädchen in der Vorpubertät ins Gedächtnis, denn konventionell durften allein sie ihre Gliedmaßen unbedeckt lassen.87 Ein jugendliches Erscheinungsbild galt demzufolge in demselben Maße als attraktiv wie Schlankheit oder eine gute körperliche Verfassung, die man durch regelmäßigen Sport erreichte. Im Rahmen dieses Schlankheits- und Jugendkultes waren jegliche Anzeichen sowohl des Alters als auch der geschlechtlichen Reife unerwünscht und wurden oftmals bis zur Unsichtbarkeit kaschiert: Si les femmes de nos jours conservent longtemps leur jeunesse, c’est qu’elles repoussent beaucoup plus qu’autrefois l‘idée de la vieillesse. De cette lutte contre leur plus redoutable ennemie, elles savent à force de volonté, sortir triomphantes. L’âge d’une femme est donc une chose qui n’existe plus.88

Auch das Thema Mutterschaft war hiervon insofern betroffen, als es in der Mode- und Gesellschaftspresse weitestgehend ausgeblendet wurde; schließlich ließen sich Attribute einer Schwangerschaft, wie ein betonter Busen oder ein gewölbter Bauch, kaum mit dem Image des jungen Mädchens, im Französischen Jeune Fille, vereinbaren.89 Es gab einen regelrechten Bruch mit dem Konzept der Gebärenden und Mutter, zuvor unterstützt durch das Korsett bzw. die optische Verbreiterung des Beckens. So wurde das bekannte, sexualisierte „Bild der Frau als Quelle körperlicher Freuden“90 auf den ersten Blick zwar gedämpft, doch von einer ‚Entsexualisierung‘ darf rückblickend trotzdem nicht die Rede sein. Schließlich präsentierte sich die neue Mode freizügig und zwanglos, wohingegen das Korsett immer auch ein Symbol von Haltung und Moral darstellte. Sie barg also ebenso wie das Korsett einen nicht zu unterschätzenden Widerspruch in sich: Wenn man sich noch einmal die stilisierte, flache Silhouette der zwanziger Jahre vor Augen führt, dann fällt auf, dass hiermit keineswegs nur eine Befreiung der Weiblichkeit einherging. Sondern das Diktat der Mode bestand – nur in anderer Qualität – weiter fort. Äußerlich brachte der neue Kleidungsstil wohl die Erlösung vom lästigen Korsett und erlaubte der Frau, sich uneingeschränkter zu bewegen; innerlich erlegte er ihr aber neue Zwänge auf: Der Körper wurde weiterhin der Mode unterworfen und künstlich in Form gebracht,91 denn ohne körperliche Strapazen konnte die Frau dem knabenhaften Figu  Vgl. Steele 1985, 239.   Jean-Gabriel Domergue, zitiert nach Soyer 1984, 134 f., 134. Vgl. auch ebda., 20. 89   Vgl. Steele 1985, 239; Stewart 2008, 40 f., 51. 90   Shannon Miller in Ortlepp (Hg.) 2010, 90. 91   Loschek 2007, Wann ist Mode?. Sinn, 187 – 197, insbes. 193. 87 88

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renideal, dem Jugendwahn und der typischen Grazie, mit denen die Garçonne-Mode verknüpft war, kaum gerecht werden. Anstelle des Korsetts übernahm sie es zwangsläufig selbst, ihren Körper dem Trend entsprechend zu pflegen, zu trimmen und ewig jung erscheinen zu lassen, sei es durch sportliche Aktivität oder durch Schlankheitskuren. Indirekt bestimmte daher immer noch das Kleid à la mode, wie der Körper der Frau beschaffen sein sollte. Es verwundert daher auch nicht, dass das Idealbild der jungen, sportiven Frau, sobald es sich in breiten Schichten der Gesellschaft durchgesetzt hatte, bisweilen energisch attackiert wurde: „En outre, j’ai continué à manger à ma faim sans aucun souci de la ligne, vous savez la terrible ligne, à laquelle il faut tout sacrifier, l’estomac, les hanches et les grossesses !“92, verkündete beispielsweise die Schriftstellerin Rachilde in ihrem 1928 erschienenen Pamphlet Pourquoi je ne suis pas féministe. Genauso ereiferte sich später Colette über die mit Diäten einhergehenden gesundheitlichen Risiken und über die zweifelhafte Schönheit einer gewollt mageren Jugend.93 Indem diese einflussreichen Autorinnen mit Nachdruck von der modisch-androgynen Linie abrückten, suchten sie den Bruch mit dem das Entre deux Guerres begleitenden Schlankheitswahn. Die katholische und von der Académie française ausgezeichnete Schriftstellerin Cécile Jéglot legte ihrerseits in ihren Büchern Beschwerde gegen die vermeintliche Sexualisierung der Damenmode ein. Besorgt schrieb sie etwa in La jeune Fille et la Mode, dass nun sämtliche Frauen begeistert die neue, körperbetonte Kleidung – „robes menues, trop courtes, parfois trop ouvertes, à peine séparées du corps“94 – trugen und sich obendrein die dazugehörigen „attitudes sans-gêne ou de flirt“95 aneigneten. Selbst der Künstler Jean-Gabriel Domergue, der sich während des Entre deux Guerres mit aufreizenden Porträts extrem schlanker Frauen profilierte, sollte sich später abfällig über den zwanghaften Trend zur Schlankheit äußern: „Chacune doit être belle selon son type. Un lévrier ne peut pas ressembler à un pékinois.“96, so sein scherzhafter Kommentar. Historisch betrachtet, bedingten gerade die erwähnte Schlankheit, Körperlichkeit und Freizügigkeit, dass der (nackte) Körper selbst – losgelöst vom Kleid – zur Inkarnation von Mode werden konnte.97 Darüber hinaus kommt in den obigen Kritiken zum Ausdruck, dass die neue Mode ferner eine demokratisierende Wirkung ausübte. Ihrem Ursprung nach sei Mode, so die Ansicht Georg Simmels in dessen Philosophie der Mode, nämlich „ein Produkt klassenmäßiger Scheidung“98, dessen Aufgabe sowohl in der Sozialisation als auch Individualisierung besteht. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich die neue Mode allerdings nicht mehr nur in der Oberschicht, sondern quer durch die Gesellschaft durch – „du haut en bas de la société“99 – und entfaltete eine alters- und generationsunabhängige Anziehungskraft: „Tout est mêlé, les races, les milieux, les âges,   Rachilde 1928, 70.   Colette: Vollschlank oder mager, in: Die Dame (April 1933), Nachdruck in: Ferber (Hg.) 1980, 249 f. 94   Jéglot 1928, 16. 95  Ebda. 96   Zitiert nach Soyer 1984, 134. 97   Vgl. dazu Lehnert in Antoni-Komar (Hg.) 2001, 138. 98   Simmel 1995, Die Mode, 7 – 38, 12. 99   Jéglot 1928, 7. Vgl. hierzu auch ebda., 16: „Les femmes, en effet, se ressemblent plus qu’autrefois. Du haut en bas de l’échelle sociale, ce sont les mêmes robes […].“ 92 93

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les mères et les filles.“100 Zu dieser Hinwendung zum Massenkonsum trug gerade auch das Pressewesen seinen Teil bei: Fachzeitschriften wie Le Jardin des Modes und Kataloge der bekannten Warenhäuser Le Printemps, Les Galeries Lafayette, Les Grands Magasins du Louvre oder Au Bon Marché brachten die neue Eleganz nicht nur der modebewussten Pariserin nahe, sondern jeder Französin.101 Wenn nun beinahe jede Frau, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, der neuen Mode folgte und ihr Äußeres dementsprechend pflegte, wurden standesgemäße Unterschiede automatisch nivelliert, man könnte sogar sagen: uniformiert. Dazu noch einmal ein Kommentar von Jean-Gabriel Domergue: Voyez-vous, nous sommes à une époque où jamais les femmes n’ont été aussi jolies. Ce chic était autrefois réservé aux belles de l’aristocratie ou du grand monde : élégance, chic, soins d’elles-mêmes, les jeunes filles d’aujourd’hui, de tous les milieux, peuvent en profiter.102

Dabei betraf dies nur den äußeren Eindruck, eventuell noch den Habitus, wohingegen die realen Lebensverhältnisse der einzelnen Frau eher unberührt blieben. Und dennoch: Die Tatsache, dass Einflüsse aus der Haute Couture in die gemeine Mode übergingen und Innovationen aus der Île de France in die Provinz oder in Nachbarländer vordrangen, machte die neue Mode zumindest zeitweise auf breiter Ebene verfügbar. Über ihre Garderobe konnte so prinzipiell jede Adressatin, ob aus Bourgeoisie oder Demimonde stammend, das Gefühl erwerben, eine Verkörperung des französischen Geschmacks und Esprit zu sein.103 Womöglich bildete die aktuelle Mode sogar eine Conditio sine qua non, um sich als durchschnittliche Frau, der nicht alle Möglichkeiten des Freizeitvergnügens offenstanden, selbstbewusst und unabhängig zu fühlen. Je näher aber das folgende Jahrzehnt, die dreißiger Jahre, rückte, desto mehr besann man sich darauf, wie weibliche Schönheit traditionell definiert wurde – angelehnt an den klassischen, antiken Figurentypus und in klarem Widerspruch zur Garçonne, die man unterdessen als unattraktiv und unweiblich empfand.104 Modemacher folgten diesem Trend und passten ihre Entwürfe – anstelle der Jeune Fille – nun wieder der reiferen Dame und deren natürlichen Proportionen an.105 Weiterhin waren zwar sportliche Outfits mit hohem Tragekomfort in Mode, doch kaschierten diese kaum, dass die Kleidermode der dreißiger Jahre gänzlich im Zeichen einer Rückkehr zur Weiblichkeit stand.106

  Ebda., 17; vgl. auch Die Nabis und das moderne Paris, Ausst.-Kat. 2001, 92.   Journalisten und Zeitschriften fungierten damals wie heute als „Pioniere, Boten und Richter der Mode“, König/Schuppisser 1958, 225, vgl. dazu auch ebda., 243 f. Das Wachstum der Großwarenhäuser wurde auch thematisiert in Zola 1883. 102   Zitiert nach Soyer 1984, 134. Zum Verhältnis von Mode und gesellschaftlichem Fortschritt vgl. Simmel 1995, 32. 103   Vgl. dazu auch Chadwick 2013, 275. Zum Image im Allgemeinen vgl. Loschek 2007, Wann ist Mode?. Sinn, 187 – 197, insbes. 188 f. 104   Vgl. Steele 1985, 240. 105   Vgl. Püskül 2003, 4. 106   Vgl. Stewart 2008, 208 – 210. 100 101

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… in der Literatur Ausgehend von den Massenmedien näherte sich die Frauenrolle gegen Ende des Jahrzehnts also erneut dem traditionellen Geschlechterverständnis an.107 Dabei spielte auch eine Rolle, dass US-amerikanisches Gedankengut, wie das von Hollywood propagierte Modell moderner Weiblichkeit, in Europa vergleichsweise unkritisch rezipiert wurde.108 Faktisch stellte es eine restaurierte Version der inferioren, häuslichen Frau dar, die auf der Leinwand allerdings in trügerischem, neuem Glanz erstrahlte. Im Nachhinein zu eruieren, inwiefern die in den Massenmedien beworbenen Ideale auf das Publikum abfärbten, oder ob sie doch nur dessen unterbewusste Sehnsüchte wiedergaben, ist freilich nicht leicht. Mit Gewissheit lässt sich hingegen sagen, dass, während sich die Années folles ihrem Ende zuneigten, die Tendenz zur Rückkehr zur Ordnung auch in der zeitgenössischen Schriftstellerei widerhallte, wo über Jahre hinweg lebhaft die Stellung der Frau diskutiert wurde. Man stößt hier auf zahlreiche Bekenntnisse zu einem komplementären Geschlechtermodell und einer prononcierten Weiblichkeit. Dabei würden ­einige Titel aus diesem Literaturzweig, die obendrein von Frauen stammen, ebenso gut auf das exakte Gegenteil – auf ein gesellschaftspolitisches Statement – schließen lassen: La Femme émancipée (1927), La Femme dans la Société actuelle (1929), L’Âme de la Femme (1929), Plaidoyer pour la Femme française (1936). Grund für diese Diskrepanz zwischen Form und Inhalt ist wahrscheinlich der Umstand, dass die Autorinnen selbst nicht mehr für Unabhängigkeit und Emanzipation eintraten, sondern jene als schon erreicht oder zumindest in die Wege geleitet ansahen. Die Frauenemanzipation unterstützten sie deshalb nicht vehement, sondern beurteilten sie mit einer gewissen Distanz. Das erstgenannte Buch La Femme émancipée darf dabei als repräsentatives Beispiel herangezogen werden; denn darin kamen gleich mehrere weibliche Gelehrte zu Wort, so­ genannte „femmes qui ont le mieux, avec le plus d’attention et de compétence, étudié la situa­tion des femmes d’aujourd’hui, l’âme des femmes d’aujourd’hui.“109, darunter die Feministin, Philosophin und Vorsitzende der Union française pour le Suffrage des Femmes Cécile Brunschvicg. In ihrem Beitrag räsonierte sie darüber, dass die Beziehung zwischen Mann und Frau zwar auf Gleichberechtigung, nicht aber auf Gleichheit abzielen sollte.110 Der Auftrag der Frau bestünde schließlich an erster Stelle darin, „de rester femme, enfin de devenir vraiment l’associé de l’homme.“111 Auch die zweite Kommentatorin, Marcelle Tinayre, ging davon aus, dass die Emanzipation das allgemeine, weibliche Bedürfnis nach Rückhalt und Sekurität unbeachtet ließe und insofern nicht dem Wohl der Frau diene.112 Von den Erwartungen der Französinnen hatte Tinayre ein entsprechend klares Bild: Les femmes, en immense majorité, ne demanderaient qu’à être mariées, nourries et habillées – le mieux possible – par un mari pas trop embêtant ; à élever deux ou trois enfants, et enfin, et surtout, à être   Zum Frauenbild während der dreißiger Jahre vgl. Thébaud (Hg.) 1995, 108.   Vgl. König/Schuppisser 1958, 322. 109   Fernand Divoire: Préface, in ders. (Hg.) 1927, 9 – 12, 10. 110   „Les devoirs de la femme ne sont ni inférieurs, ni supérieurs à ceux de l’homme, ils sont différents et complémentaires.“, Brunschvicg in Divoire (Hg.) 1927, 19. 111   Ebda., 16. 112   Tinayre in ebda., 37 – 48. 107 108

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maîtresses au logis, ministres de l’intérieur, ayant voix consultative pour les affaires étrangères. Puis à l’âge venu, à bien marier leurs enfants et à jouir de la sécurité matérielle dans la vieillesse, ce qui est l’idéal des Français moyens et encore plus des Françaises moyennes !113

Lombroso, die ebenfalls an La Femme émancipée mitwirkte, befand sich genauso wie ihre Kolleginnen im Zwiespalt: Einerseits erkannte sie durchaus das praktische Verdienst der Frauenbewegung an  – die Schaffung neuer Freizeitbeschäftigungen, Chancen auf Bildung und Karriere –, andererseits habe sich das seelische Befinden der Frau in dem Moment verschlechtert, als sie, veranlasst durch den Feminismus, ihrem Geschlecht zuwiderhandelte:114 „La femme d’aujourd’hui est plus malheureuse, puisqu’elle a voulu prendre part aux joies des hommes, sans penser que ces jouissances sont souvent en contradiction avec elle-même.“115 Auch mache sich die Frau durch maskuline Allüren unbeliebt beim anderen Geschlecht, das ausdrücklich feminine Eigenschaften wertschätze.116 Die Autorin war, wie weitere ihrer Schriften offenbaren, fest von der geschlechtlichen Disparität überzeugt – sei es in Bezug auf die Physis, den Geist oder die Moral.117 Während der Ehrgeiz des Mannes sich auf die Wissenschaften und Künste richte, verwirkliche die Frau sich mehr im Umgang mit Kindern, mit der Familie und dem Heim – den konkreten Dingen ihrer Umwelt.118 Diese prädeterminierte Différence, abgeleitet aus der Naturlehre, mache es zwingend notwendig, dass Erziehung und Ausbildung, Berufe und Gehälter, Rechte und Pflichten geschlechtsabhängig reglementiert würden.119 Wenn Frauen aber bestrebt waren, diese Ungleichheit zu überwinden, etwa indem sie am öffentlichen Leben teilnahmen oder sich besonders freizügig gerierten, dann schade dies ihrem Familiensinn und ihrer Moralität.120 Auf lange Sicht, so die Prognose der Autorin, würde ein nonkonformes Rollenverhalten, welches verstärkt in Ober- und Unterschicht grassiere, die bürgerliche Gesellschaft ernsthaft bedrohen.121 Ob nun in La Femme dans la Société actuelle oder in L’Âme de la Femme – beide Bücher Lombrosos zeichnen erneut ein Frauenbild mit scharfen Konturen, nachdem diese im Zuge des Krieges sowie neuer Trends bereits aufgeweicht worden waren: Die Altéroémotivité, eine Ableitung von Altérocentrisme, verwies bei Lombroso sowohl auf die gesteigerte Emotionalität als auch die Fürsorge des weiblichen Geschlechts;122 immer wieder wurden weiblicher Altruismus und männlicher Egoismus einander gegenübergestellt, um hiermit zugleich die Abhängigkeit der Frau vom Mann zu legitimieren.123 Dabei ru-

  Ebda., 39.   Vgl. Lombroso in ebda., 49 – 68. 115   Lombroso in Divoire 1927, 57. 116   Vgl. ebda., 67 f. 117   Vgl. Lombroso 1929, 82, 221 f. 118   Vgl. ebda., 145. 119   Vgl. ebda., 221 f. „La différence“, betonte Lombroso, „ne constitue pas, en elle-même, et par elle-même, une injustice, mais une inégalité souvent juste.“, ebda., 82. 120   Vgl. ebda., 103, 105 f., 155 f. 121   Wörtlich erwähnt Lombroso die aktuelle „mélange illimité des sexes“ und damit einhergehende „graves dangers sociaux“, ebda., 151. 122   Vgl. Lombroso 1929a, 30. 123   Vgl. ebda., 42 f. 113 114

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fen diese „vertus caractéristiques de la femme“124 bestimmte Kategorien in Erinnerung, mittels derer männliche Wissenschaftler lange zuvor das Weibliche zu typisieren pflegten.125 Hier jedoch trat im Jahr 1929 eine Intellektuelle nicht minder kategorisch für die Geschlechterdifferenz ein, wobei es sich bei diesen Büchern ausdrücklich um keine wissenschaftlichen Studien handelte.126 Dies zeigt nur nochmals, wie weit der Retour à l’Ordre damals in die Gesellschaft vorgedrungen war  – so weit schließlich, dass sogar erfahrene, gebildete Frauen gegen die modernen Strukturen oder die neue Mode protestierten. Am Ende dieses Exkurses soll mit der Anwältin Yvonne Netter127, die sich durch ihr Engagement in diversen feministischen Gruppierungen und mit entsprechenden Publikationen hervortat, noch eine feministische Position zitiert werden. Expressis verbis prangerte Netter in Plaidoyer pour la Femme française128 Frankreichs rückständige Rolle innerhalb der internationalen, weiblichen Unabhängigkeitsbewegung an, verwies dabei auf England, die USA oder Australien, wo das Wahlrecht und andere Bürgerrechte zum damaligen Zeitpunkt bereits politisch durchgesetzt worden waren.129 Da man andernorts die französischen Frauen bewunderte und Frankreich als Geburtsstätte des Feminismus anpries, war Netter umso enttäuschter von ihrer Regierung.130 La femme française n’est pas citoyenne.“131, schrieb sie in ihrem Plädoyer, mit dem sie sich damals zum Sprachrohr aller Französinnen machte: „Femmes françaises, qui que vous soyez, mère de famille ou célibataire, commerçantes ou employées, chefs d’industrie, bourgeoises ou bien ouvrières, voici votre plaidoyer !132 Interessant ist, dass Netter die Reklamation nach Unabhängigkeit keineswegs als unweiblich begriff, so wie die vorherigen Autorinnen. Für sie war eine nach Souveränität strebende Frau keine Umstürzlerin, sondern eine ebenso treue wie würdige Verbündete des Mannes.133 Ihre traditionellen Aufgaben  – Partnerschaft, Mutterschaft, häusliches sowie familiäres Engagement – würden demnach auch nicht Gefahr laufen, durch ihre außerhäuslichen Ambitionen beeinträchtigt zu werden.134

  Ebda., 59.   Lombroso nannte etwa das Mitgefühl, die Sentimentalität, die Großherzigkeit, die Parteilichkeit, etc., vgl. Lombroso 1929, 59, 123. Den typisch weiblichen Charme charakterisierte sie als „l’un des principaux attraits que la femme a pour l’homme“, ebda., 101. 126   Vgl. die einleitenden Worte der Autorin in Lombroso 1929a, 13. 127   Zu Yvonne Netter vgl. Christine Bard: L’Avocate Yvonne Netter (1886 – 1985), une militante Féministe et Sioniste de l’Entre-deux-guerres, in: Centre d’Études et de Recherche germanique (Hg.): Sexe et Race, Paris: Univ. de Paris 7 1992, 143 – 172. 128   Netter 1936. 129   Vgl. ebda., 15, 27, 29 f.: „La France reste loin derrière tous ces pays; les femmes, chez nous, n’ont rien obtenu et leurs revendications sont restées vaines.“ 130   Vgl. ebda., 9, 27. 131   Ebda., 29. 132   Ebda., Préface, 5 f., 6. 133   Ebda., 9 f. 134  Ebda. 124 125

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Fazit Gerade auch mit Blick auf literarische Zeugnisse lässt sich das Entre deux Guerres unmöglich kategorisieren. Es handelte sich hierbei, auch in Fragen der Emanzipation, um eine vielschichtige, von Widersprüchen und Inkonsequenzen markierte Zeit: Auf der einen Seite gab es im Kulturleben eine Reihe aussichtsreicher Impulse, mittels derer das konventionelle, geschlechterspezifische Rollenverhalten zunächst konterkariert wurde. Vom Ballett, namentlich von dessen modernen Richtungen, wie dem Ausdruckstanz, und von der neuen Mode strahlte ein Bewusstsein für den  – möglichst schönen und schlanken – Körper aus, das stärker war als je zuvor. Dabei trat die Garçonne-Mode zunächst als Erlösung der Weiblichkeit sowie als Symbol für den Anbruch einer neuen Zeit auf, doch einmal adaptiert, drängte sie viele Frauen zu einer wahrhaften Metamorphose: Ihnen wurde durch die Modebranche und deren eigene Körperästhetik eine schmale, langgezogene Silhouette diktiert, d. h. der Bruch mit dem bisher betont fraulichen Körperbau. Dieser durch die Presse forcierte Zwang, einem ganz bestimmten Körperbild nachzueifern, ist gewiss als Kehrseite des Stils à la garçonne zu betrachten, führte er doch zu einer gravierenden Überbewertung von Schlankheit. Mit unserer heutigen Kenntnis lässt sich überdies schlussfolgern, dass die Années folles in modischer Hinsicht den Auftakt zu „un XXe siècle lipophobe“135 gaben – zu einem Jahrhundert, das wieder und wieder der jugendlichen, teils auch androgynen Schönheit huldigen sollte. Das gleichnamige Frauenbild, die Garçonne, entspricht dieser Entwicklung der Mode­geschichte insoweit, als es erst zum Sinnbild der Emanzipationsbewegung avancierte, dann jedoch wieder dem ebenso konservativen wie beliebten Konzept von Weiblichkeit anheimfiel. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg ohne­hin unter dem Einfluss der Rückkehr zum klassischen Ideal stand. Der Retour à l’Ordre manifestierte sich in einer reaktionären Familienpolitik und drang spätestens ab den dreißiger Jahren in alle soziokulturellen Lebensbereiche vor. Eingangs wurde dies schon anhand der Rezeptionsgeschichte der École de Paris und nun erneut anhand von Zeugnissen der Kulturgeschichte deutlich. Es lässt sich demnach festhalten, dass das Entre deux Guerres bei aller Neuheit und Schnelllebigkeit am Ende doch einem klassischen Schönheitsbegriff und einer traditionellen Rollenverteilung verpflichtet blieb. Mentalitätsgeschichtlich bildete der Retour à l’Ordre, inmitten lauter Variablen, die Konstante jener Zeit: Er gab der Gesellschaft Halt sowie die Sicherheit, dass nach den tiefgreifenden, historischen Umbrüchen wieder eine natürliche Ordnung einkehren würde.

Les Femmes et la Création Für das Vordringen der Frauen in kreative Berufe war die gerade skizzierte, die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts beherrschende Emanzipationsbewegung ein entscheidendes Kriterium. So bedingte etwa die wachsende Chancengleichheit in schulischer und akademischer Bildung, dass Frauen, ausgestattet mit einem neuen Selbstverständnis, auch in der Bildenden und Darstellenden Kunst oder in der Dichtkunst mutig voran135

  Bard 2001, 118.

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schritten. Dies nahm u. a. der deutsche Kunsthistoriker Hans Hildebrandt zur Kenntnis,136 der 1928 Die Frau als Künstlerin veröffentlichte. Entgegen Hildebrandts ansonsten zweifelhaften Ausführungen muss ihm beigepflichtet werden, dass das 20. Jahrhundert einen „neue[n] Typus der schaffenden Frau“137 hervorbrachte. „Heute“, fuhr der Autor feierlich fort, „wird zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit dem weiblichen Geschlechte […] die grundsätzliche Ebenbürtigkeit zugestanden.“138 Auf französischer Seite hieß es parallel dazu  : „Plus qu’à aucune autre époque, l’art féminin affirme son existence.“139 Doch natürlich gab es weibliches Kunstschaffen nicht erst seit dem 20. Jahrhundert, und der Weg dorthin war länger, mitunter auch beschwerlicher, als es Hildebrandt u. a. einst empfanden. Wie angehende Künstlerinnen ausgebildet wurden und wie sie sich selbst wahrnahmen, soll nun mit Fokus auf die entsprechenden Bildungswege in Frankreich kurz nachgezeichnet werden. Ziel ist es, zum einen die Möglichkeiten des zeitgenössischen weiblichen Künstlertums, zum anderen dessen Beschränkungen aufzuzeigen und schließlich ein lebendiges Bild seiner Rezeption zu zeichnen.

Staatliche versus private Ausbildung Obgleich das Paris der Belle Époque im Ruf stand, ein Sehnsuchtsort der Frau zu sein,140 war es intellektuellen Frauen gegenüber – ob in Literatur oder Kunst – nur begrenzt aufgeschlossen. Eher bot es ihnen eine Art Parallelwelt zur Männerdomäne, jedoch ohne die dazugehörigen, klaren Strukturen und Regelungen.141 Tatsächlich partizipierten Frauen über einen langen Zeitraum, nämlich bereits vom Second Empire bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, zunehmend am Kunstbetrieb, allerdings weitgehend beschränkt auf die sogenannten „arts d’agrément“,142 also auf jene Kunstformen, die vorrangig dem Zeitvertreib und Amüsement dienten. Verfolgten Frauen hingegen ernsthaft eine Laufbahn als Künstlerin, mussten sie Kompromisse eingehen und hohe Kosten tragen.143 Ein Schüler-Meister-Verhältnis, das dem jungen Talent seinen Weg zum Ruhm garantierte, existierte für Frauen zunächst genauso wenig wie eine Ausstellungsmöglichkeit mit breiter Öffentlichkeit. Aus diesem Grund traten weibliche Kunstschaffende mit ihrer Malerei, Bildhauerei oder Grafik im semiöffentlichen Raum, d. h. in Salons, auf und ließen sich seltener bei einem wirklichen Maître ausbilden. Häufiger kam es dagegen vor, dass 136   Hans Hildebrandt schilderte diesen Wandel 1920 wie folgt: „Die neue Stellung des Weibes und seine innere Umbildung spiegeln sich mit am augenfälligsten im Bereiche der Kunst. Man spürt die überwältigende Freude des so lange bevormundeten Geschlechtes an der neugewonnenen Freiheit. Die Frau beginnt zu wagen, betritt neugiervoll und tatenlustig jedes ihr bislang verwehrte Gebiet männlichen Gestaltens, […].“, Hildebrandt 1928, 108. 137   Ebda., 7. 138  Ebda. 139   Warnod 1925, 226. 140   Vgl. z. B. Vilmorin (o. J.): Sur la Mode parisienne. BLJD, Fonds Louise de Vilmorin, Ms 28842. 141   Der Ausdruck der Parallelwelt stammt von der bereits zitierten Frances Borzello, vgl. dazu Borzello 1998, 28 – 35. 142   Vachon 1893, 593; vgl. dazu auch Déonna 1928, 282: „Elles [les femmes, Anm. d. Verf.] ne comprennent pas la profonde valeur de l’art, sa mission humaine ; rares sont celles qui font de véritables portraits psychologiques et non de simples ressemblances ; rares sont celles qui s’élèvent au-dessus de l’art ‚d’agrément‘.“ 143   Vgl. hier und im Folgenden Berger 2008, 40.

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junge Frauen im häuslichen Bereich unterrichtet wurden, entweder durch einen Hauslehrer oder einen besonders kunstsinnigen Vater.144 Die Ursache hierfür war ein lange währender Mangel an entsprechenden Ausbildungsmöglichkeiten auf institutioneller Ebene:145 Als einzige staatliche Kunstschule im 19. Jahrhundert figurierte die École nationale de Dessin pour les jeunes Filles, die man 1803 als Pendant zur bereits bestehenden École Gratuite de Dessin gegründet hatte. Zwischen der Leitung dieser Zeichenschule, die neben anderen der Tiermalerin Rosa Bonheur oblag, und dem Staat herrschten immer wieder Meinungsverschiedenheiten, weil Letzterer den Akzent auf die angesprochenen Dekorativen Künste legte. Um subversiven Schülerinnen Einhalt zu gebieten und sie konsequent von der hohen Kunst fernzuhalten, verleibte man die École nationale de Dessin 1890 schließlich der École nationale des Arts décoratifs ein. Eine künstlerische Ausbildung, die über den angewandten Bereich hinausging, war somit – vorerst – nur noch an kostenpflichtigen Privatschulen möglich, d. h. höheren Töchtern vorbehalten. Unter diesen für Paris charakteristischen „ateliers privés“146 rangierte ganz oben die Académie Julian, 1868 gegründet und 1875 um eine Klasse eigens für weibliche Studenten bereichert.147 Wie auch die Académie Colarossi wurde sie primär von Ausländerinnen, vor allem von Deutschen, Amerikanerinnen und Engländerinnen auf der Suche nach einer alternativen, liberalen Lehrstätte frequentiert, während die einheimischen Frauen, um zum Kunststudium zugelassen zu werden, weiter sieglos gegen die École ­nationale des Beaux-Arts ins Feld zogen. Der beispiellose Einsatz von Rodolphe Julian, die Ausschreibung von Geldpreisen, nicht zu vergessen die anziehende Wirkung von Marie Bashkirtseff, die hier ab 1877 Schülerin war, machten die Académie Julian zur ersten Wahl vor Ort. Anders als die staatliche Kunstschule war sie das ganze Jahr hindurch ganztägig geöffnet; am Nachmittag und selbst während der Abendstunden konnte dort das Studium bei Gasbeleuchtung fortgesetzt werden. Ein weiteres Distinktionsmerkmal bestand in der seltenen Möglichkeit, unter Rodolphe Julian nach dem lebenden Nacktmodell zu zeichnen, zunächst in gemischten Klassen und ab 1875, wie erwähnt, in getrennten Damenateliers.148 Dies war insofern entscheidend, als Frauen seit Gründung der Académie royale im 17. Jahrhundert das Aktzeichnen verwehrt war; damit fehlte ihnen eine wesentliche Qualifikation zum Malen vielfiguriger Gemälde, die vor allem für die Historienmalerei unverzichtbar war.149 Wie dieses Novum  – ein ge  Vgl. Gonnard in: Elles@centrepompidou, Ausst.-Kat. 2009, 286.   Zur Entwicklung der institutionellen Künstlerinnenausbildung vgl. Garb 1989, insbes. 44: „There can be no doubt that the institutional provision for women artists in late nineteenth-century Paris was far inferior to that which existed for men.“ Vgl. außerdem Garb: Men of Genius, Women of Taste. The Gendering of Art Education in late Nineteenth-Century Paris, in: Becker/Weisberg (Hg.) 1999, 115 – 133. 146   Buisson 2012, 86. 147  Zur Académie Julian und Académie Colarossi vgl. soweit nicht anders vermerkt Noël 2004, 3 f. und Berger 2010, 55 f. Zur Bedeutung der Privatakademien vgl. außerdem Perry 1995, The Role of private Academies: an Education for Women?, 16 – 19. 148   Weibliche Modelle posierten in den Damenklassen nackt, männliche Modelle hingegen „caleçonnés“, vgl. Noël 2004, 4. 149   Demgemäß ist es laut Chadwick auch nur dem „Nachlassen der Dominanz von mythologischen und Historiengemälden“ zu verdanken, dass im 20. Jahrhundert zunehmend auch Frauen unter den Ausstellern der Salons akzeptiert wurden, vgl. Chadwick 2013, 174. 144 145

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mischtes Atelier – am Ende des 19. Jahrhunderts funktionierte, vermitteln die Aufzeichnungen der Deutschen Vally Wygodzinski.150 1898 schrieb sie z. B. in einem Brief aus Paris: Nachmittags gehen wir jetzt öfter in eine Aktstunde. Es ist keine Korrektur, man zahlt 50 centimes für das Modell und arbeitet dann zwei Stunden. Das Modell wechselt alle halbe Stunde die Stellung. Es sind zum größten Teil Herren da.151

Später gründeten sich weitere Privatschulen, darunter die Académie Vitii, an der Maria Blanchard bei Kees van Dongen studierte, oder die Académie russe, die neben Ossip Zadkine und Chaïm Soutine auch von Maria Vorobieff Stebelska, alias Marevna, besucht wurde.152 Besondere Erwähnung verdient an dieser Stelle die Malerin Marie Vassilieff, da sie – nach der Mitbegründung und Leitung der Académie russe – 1912 schließlich ihre eigene integrierte Kunstschule ins Leben rief: die Académie Vassilieff.153 Hier unterrichtete sie zeitweise eine internationale, mehrheitlich weibliche Studentenschaft, bevor sie der Krieg zur Schließung zwang. Diese privaten Pariser Bildungsstätten stellten weder ein Provisorium noch eine zweite Wahl dar, sondern erfreuten sich großer Beliebtheit, auch wenn 1897 endlich auch die École nationale des Beaux-Arts Frauen zum kostenfreien Studium zuließ.154 Ihre Stellung war zu diesem Zeitpunkt bereits geschwächt, ihre zentralistische Organisation, ihre Hierarchie und verbindliche Lehre erschienen veraltet im Vergleich zu der unab­ hängigen Pariser Konkurrenz, die aus jungen Galerien, Künstlerateliers und Privatakademien bestand. Mit ihrer „Mischung aus Partizipation und Unverbindlichkeit“155 läuteten diese schließlich das 20. Jahrhundert ein und lösten die École nationale des Beaux-Arts als zentrale Pariser Kunstschule ab.

L‘Art féminin – Frauenbilder und Rezeptionsmuster in der Kunstgeschichte Von der Diversifizierung des lokalen Kunstbetriebes gleich auf eine grenzenlose, berufliche Freiheit für Künstlerinnen zu schließen, wäre falsch, da Frauen im Wettbewerb mit ihren männlichen Zeitgenossen weiterhin stark benachteiligt waren. Sie befanden sich sogar in einem Dilemma, konnten kaum die Ansprüche der Kunstkritik erfüllen, in deren Augen ihre Arbeiten entweder typisch weiblich, somit schwach, oder in seltenen Fäl-

150   Vgl. Wygodzinski 1910. Die Zeugnisse dieser Künstlerin fanden bisher leider erst wenig Aufmerksamkeit; berücksichtigt wurden sie namentlich von Renate Berger in dies. 1987, 227 – 243. Bei dem Beitrag Was wir Kommenden zeigen wollen […] (Berger 2008) handelt es sich außerdem um ein Zitat von Wygodzinski. 151   Wygodzinski 1910, Brief vom 13. November 1896, 73 – 75, 75. 152   Vgl. Gonnard/Lebovici 2007, 38; Perry 1995, 19. 153   Zur Laufbahn Marie Vassilieffs (1884 – 1957) vgl. z. B. Bernard Houri: Marie Vassilieff – Galionsfigur von Montparnasse, in: Marie Vassilieff, Ausst.-Kat. 1995, 62 – 69, insbes. 62; Thormann in ebda., 70 – 77, insbes. 71. 154   Vgl. Gonnard in: Elles@centrepompidou, Ausst.-Kat. 2009, 287. Dieser historische Schritt erfolgte freilich sehr spät, wenn man bedenkt, dass einige Kunstschulen Osteuropas, etwa in Moskau, Sankt Petersburg oder Kiew, schon Jahrzehnte früher weibliche Studenten akzeptierten, vgl. Morineau 2010, 15. 155   Berger 2008, 43.

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len stark, dafür aber unweiblich waren.156 Frauen brachte man längst nicht die gleiche Anerkennung entgegen wie Männern, selbst wenn sie im künstlerischen Bereich eine gleichwertige Ausbildung durchlaufen hatten. Eingedenk des Geschlechterdualismus wurde der Art féminin157 nur am Rande der männlich konnotierten Gesamtkultur wahrgenommen und separat bewertet oder komplett ausgeklammert. Catherine Gonnard dazu: […], ainsi défini comme lié à la singularité de la femme, l’art féminin ne peut être pris en compte dans l’histoire des formes, ni de la modernité, il est définitivement à part. Cette définition va de fait rendre invisible toutes celles qui vont participer à l’avant-garde.158

Welche begrifflichen und diskursiven Muster, welche Frauenbilder tauchten während der Rezeption des wachsenden weiblichen Kunstschaffens im 19. sowie 20. Jahrhundert immer wieder auf? Und wie hingen sie mit dem beschriebenen Ausschluss des Art féminin aus einer männlich geprägten Kultur zusammen? Diese teils waghalsigen Kategorien, entsprungen aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, sind erst einmal theoretisch nachzuvollziehen, bevor sie im Verlauf der Analyse der Portraits à la mode erneut auftauchen werden, dann allerdings mit Bezug auf konkrete Künstlerinnen. Die Femme à Foyer Während die hohe Kunst, insbesondere die avantgardistische, traditionell als ein dem Mann vorbehaltenes Feld rezipiert wurde – „un champ clairement défini comme celui des hommes“159  –, fielen praxisorientierte, dekorative Kunstformen, die sogenannten Arts mineurs, der Frau zu. Indem man sie mit dem Art féminin gleichsetze, minderte man also nicht bloß dessen künstlerischen Eigenwert, sondern verhinderte sogleich, dass sich die Geschlechter in den Bildenden Künsten mischten und dadurch eine direkte Konkurrenz zu den Schöpfungen männlicher Künstler entstand. Zum einen bezeichneten die Arts mineurs Kunstgattungen wie Porzellan- und Miniaturmalerei, Kupferstecherei, Textilkunst oder später Fotografie, zum anderen waren damit auch feste Bildgattungen innerhalb der Malerei gemeint, etwa das Porträt, insbesondere die Mutter-Kind-Beziehung thematisierend, das Landschaftsbild oder Blumenstillleben.160 Am anderen Ende des Kunstkanons standen die hochgeschätzten Beaux-Arts oder auch der Grand Art, der traditionell religiöse und historische Sujets umfasste.161 Die Kluft zwi156   „Quand on dit d’une œuvre d’art : ‚C’est de la peinture ou de la sculpture de femme‘, on entend par là ‚C’est de la peinture faible ou de la sculpture mièvre‘, et quand on a à juger une œuvre sérieuse due au cerveau et à la main d’une femme, on dit : ‚C’est peint ou sculpté comme par un homme‘.“, Virginie Demont-Breton: La Femme dans l’Art, in: Revue des Revues XVI (1. März 1896), 448, zitiert nach Noël 2004, 8. 157   Zur Kategorie des Art féminin vgl. Garb 1989. 158   Gonnard in: Elles@centrepompidou, Ausst.-Kat. 2009, 289. 159   Ebda., 289. 160   Vgl. Guhl 1858, 5 – 7; zur Ausrichtung französischer Künstlerinnen vgl. ebda. 244. Das genannte Pflanzenstillleben bildete sich im 17. Jahrhundert unter Einfluss weiblicher Künstler heraus und genoss zunächst hohes Ansehen; doch im 19. Jahrhundert wurde es nicht nur innerhalb der offiziellen Gattungshierarchie auf den untersten Rang verbannt – vor allem galt es aufgrund der Geduld und feinen Detailarbeit, die es erforderte, als adäquates Genre der Frauenkunst, vgl. Chadwick 2013, 129 f. 161  Zu den Beaux-Arts vgl. Gonnard/Lebovici 2007, Femmes d’intérieur. Beaux-Arts et Arts ‚mineurs‘, 14 – 17; den historischen Begriff Grand Art griff z. B. Bonnet auf, vgl. Bonnet 2004, 73.

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schen Beaux-Arts und Arts mineurs wurde im zeitgenössischen Dissens gezielt dazu benutzt, das immer versiertere, weibliche Schaffen zu kanalisieren und zu degradieren, wie folgendes Zitat aus der Revue internationale de Sociologie veranschaulicht: Si la femme échoue dans les hautes productions de l’art, elle réussit mieux dans les arts mineurs, décoratifs, où la servent ses qualités plus que ne l’entravent ses défauts, goût, délicatesse, patience, ingéniosité, sens de couleurs et de leurs harmonies, etc. C’est là, en art esthétique, son véritable domaine.162

Analog hierzu kontrastierte man im deutschsprachigen Raum niedere mit hoher Kunst oder Angewandte mit Bildender Kunst und zitierte besonders gern das Kunstgewerbe als Betätigungsfeld, das von Natur aus der Frau zusagen sollte.163 Um zu verstehen, weshalb sich ebendieser Antagonismus so lange aufrechterhalten ließ, muss man die männlichen, oft misogynen Erwartungshaltungen ebenso kennen wie jene geschichtsträchtigen Konventionen, die sich schließlich in aller Deutlichkeit in der kunsthistorischen Kontroverse des 20. Jahrhunderts niederschlugen. Dazu gehörte zuallererst das seit dem 18. Jahrhundert bestehende Stereotyp von einer dekorativen, femininen Kunst – in klarer Abgrenzung zu einer intellektuellen, maskulinen Kunst.164 Bedeutende Literaten, neben anderen Pierre-Joseph Proudhon, schrieben diese Tradition im Verlauf des 19. Jahrhunderts fort.165 Eine Passage aus Parisiennes de ce Temps von Uzanne, erschienen 1910, steht namentlich in dieser Tradition und ist Beweis dafür, wie lange die Überzeugung, dass Genie und Weiblichkeit einander ausschließen würden, noch anhielt: Pour toutes les raisons qui précèdent le génie se rencontre donc très rarement chez les femmes ; et, quand il se rencontre, il est moins intense que le génie des hommes. Le curieux et paradoxal physio­ logiste va même jusqu’à affirmer qu’il n’y a pas de femmes de génie, et lorsqu’elles manifestent du génie, c’est par une supercherie de la nature, en sens qu’elles sont des hommes.166

Demnach war das Genie – gemeint waren Intellekt, Verstand, Originalität, Intention und Tiefgang  – eine Tugend, die nicht der Künstlerin, sondern einzig dem männlichen Künstler bescheinigt wurde. Davon ausgenommen war höchstens das sogenannte ‚Mannweib‘,167 als dessen Verkörperung schlechthin die Malerin Rosa Bonheur galt. Ausgezeichnet mit dem französischen Verdienstorden, der Légion d’Honneur, wurde Bonheur anschließend auch in der Kunsthistoriografie als mutmaßlich einzige Könnerin des 19. Jahrhunderts aufgeführt. Sie habe ein abnormes, weil männliches Talent, was sie zu einem wahren Künstler und innerhalb der weiblichen Kunst zu einem Solitär mache,   Déonna 1928, 284.   Vgl. vor allem Hildebrandt 1928, 156 f. 164   Vgl. Garb 1989, 39. 165   Obwohl kein ausgewiesener Kunstkenner schuf Proudhon unter dem Titel Du Principe de l’Art et de sa Destination sociale ein kunstsoziologisches Buch, dem Reminiszenzen an die Salonkritiken Diderots zu entnehmen sind, vgl. Proudhon 1988, Einführung in Proudhons Kunsttheorie von Klaus Herding, 13 – 64, insbes. 13 – 16. Generell sprach Proudhon sich für den Einfall und die Ratio, ergo den gesellschaftlichen Zweck eines Kunstwerkes aus und deklassierte damit einhergehend l’Art pour l’Art, die Kunst als Selbstzweck, vgl. ebda., 269: „Die Idee des Künstlers muss immer logisch, rational und wahr sein; […].“ Auf Proudhon rekurrierte Jules Amadée Barbey d’Aurevilly mit der Streitschrift Les Bas bleus (1878), aus der sich wiederum Octave Uzanne für eines seiner Kapitel in Parisiennes de ce Temps (1910) bediente. 166   Uzanne 1910, XI. Femmes artistes et Bas-bleus, 257 – 296, 262. 167   Zum Vorurteil des ‚Mannweibes‘ vgl. z. B. Hildebrandt 1928, 34 f. 162 163

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geradeso wie George Sand in der Literatur.168 Bis über Frankreichs Grenzen hinaus fand das Ausnahmetalent Bonheurs bzw. dessen männliche Konnotation ein kräftiges Echo.169 In dem umfangreichen Opus Women Painters of the World170 wurde die Tiermalerin gar als Pionierin geadelt, die den Frauen den Weg in eine künstlerische Karriere gebahnt und dadurch einen historischen Wendepunkt eingeleitet habe:171„From that day forth, there appeared a new phase in the artistic life of women.“172 Die Rezeption Bonheurs liefert ein Musterbeispiel für ein überspitztes und verzerrtes Geschichtsbild. Sie offenbart die der Kunstliteratur eigene Gepflogenheit, arrivierte Malerinnen aus der breiten Schicht der künstlerisch tätigen Mädchen und Frauen heraus­zugreifen, um sie  – bei gleichzeitiger Überhöhung ihres angeblich maskulinen ­Talents – auf einen Sockel zu heben, so geschehen mit Sofonisba Anguissola, Artemisia Gentileschi oder Angelika Kauffmann. Indem man diese Frauen zu Vorführkünstlerinnen, zu Ausnahmen der Regel erklärte, weil sie Kunst nicht nur aus Vergnügen betrieben, weil sie sich an die hohe Kunst der Ölmalerei oder an ehrwürdige Sujets heranwagten, festigte man automatisch das gewünschte Bild von der mediokren und genügsamen Künstlerin. Diese sollte sich vorzugsweise nur innerhalb der ihr zugewiesenen Sphäre, den Arts mineurs, bewegen. Darüber hinaus wies die Angewandte Kunst einen direkten Bezug zur Arena des privaten Heims auf, umfasste sie doch vor allem das in Frankreich traditionsreiche Arbeiten mit Textilien: die Gestaltung von Stoffen, Bezügen, Möbeln und Tapeten, aber auch die Anfertigung und Verzierung von Töpferware, Keramik oder anderen Objekten der Innenausstattung. Im Heim hatte man bereits lange vor 1900 den biologisch determinierten Aufgabenbereich der Frau und Mutter identifiziert; nun wurde die Rolle der Femme à Foyer oder Femme d’Intérieur speziell auch der Künstlerin addiziert.173 Im Zusammenhang damit hoben sowohl sittengeschichtliche Bücher als auch die ersten literarischen Werke zur ‚Frauenkunst‘ hervor, dass die Frau an sich zur Verschönerung und Zierde neige und eine ausgeprägte Putz- und Gefallsucht habe.174 Hildebrandt führte demgegenüber das angeborene „Spielenwollen“175 der Frau, also deren Infantilität und Fantasie ins Feld, die sie zur Anfertigung von Puppen, anderem Spielzeug oder Bilderbüchern, d. h. von Kunstgewerbe bestimmten.176 Motivgeschichtlich mögen außerdem stereotype Figuren des Art nouveau, wie die Liane oder Amazone, bedingt haben, dass gerade das Weibliche so eng mit dem Dekorativen verknüpft war.177   „Son talent viril et puissant, d’une rare originalité de conception et d’une maîtrise de métier superbe, n’est-il point à la hauteur de celui des animaliers les plus célèbres?“, Vachon 1893, 593 f. Auch Bonheurs Biograf Léon Roger-Milès gedachte insbesondere ihrer „qualités mâles“ und „volonté au-dessus de son âge et de son sexe“, Roger-Milès 1900, 37, 41. Zu George Sand vgl. ebda., 36. 169   Vgl. z. B. Hildebrandt 1928, 105: „Eine Frau mit Temperament und dem trotzigen Eigensinn des geborenen Künstlers, der keine Hindernisse anerkennt. Eine männliche Kraft und halb ein Mann in ihrem Leben, […].“ 170   Sparrow (Hg.) 1905. 171   Vgl. Léonce Bénédite: French School. 1755 – 1847, in ebda., 178 – 182, 181 f. 172   Ebda., 182. 173   Zu beiden Termini vgl. Garb in Becker/Weisberg (Hg.) 1999, 115 – 117; Gonnard/Lebovici 2007, 14 – 18. 174   Vgl. Vachon 1983; Uzanne 1902; Lalo 1922; Lombroso 1929. 175   Hildebrandt 1928, 157. 176   Vgl. Hildebrandt 1928, 156 f. 177   Vgl. Gonnard/Lebovoci 2007, 17. 168

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Die Muse Die Muse war ebenfalls ein wichtiges Leitmotiv im Umgang mit künstlerisch aktiven Frauen. Auch sie entsprang der Logik einer bürgerlichen, männlich dominierten Klassengesellschaft, die der Frau jede Autonomie absprach und sich allein die Deutungs­ hoheit über sie zuerkannte.178 Unabhängig davon ob sie nun als Muse, Resonator, Elegie, Inspirationsquelle oder anderweitig betitelt wurde, kam in solchen Titeln stets zum Ausdruck, dass man der Frau keinerlei schöpferische, sondern höchstens inspirierende Kräfte zutraute. „La Femme est l’idéal qui domine l’Art, c’est l‘éternelle inspiratrice. […] Elle inspire, elle encourage, elle domine, là est son rôle, mais elle ne peut pas exécuter.“179, äußerte sich exemplarisch ein Journalist über die Ausstellung der Union des Femmes Peintres et Sculpteurs im Jahr 1889. Noch weiter ging Karl Scheffler, Autor von Die Frau und die Kunst, als er Frauen für unfähig erklärte, aus sich selbst heraus Interesse oder Begeisterung für Kunst zu entwickeln; Kunst sei schließlich „vom Mann für den Mann gemacht.“180 Als „Anregerin“181 des männlichen Schaffensdranges schätzte Scheffler die Frau dafür umso mehr. In Frankreich wurde der weibliche Beitrag zur Kunstgeschichte insgesamt zwar als positiv dargestellt; inhaltlich mündeten aber auch die dort publizierten Werke fast immer in die Negation eines weiblichen Genies. Beispielhaft sind in dieser Hinsicht die Worte von Marius Vachon, dem Herausgeber des opulenten Bands La Femme dans l‘Art: „En l’écrivant, l’auteur a poursuivi un seul but : La glorification de la Femme, pour le rôle brillant et fécond qu’elle a joué dans l’Art“. Hiernach allerdings wurde die Leistung der Frau genauer bestimmt: „Comme inspiratrice des grands génies,/ Comme modèle des chefs-d’œuvre,/Comme protectrice des maîtres,/Comme artiste.“182 Die Reihenfolge, in der hier die weibliche Rolle in den Künsten angegeben wurde, diente sicher auch dazu, die aktive Teilhabe der Frau an der künstlerischen Produktion zu verschleiern. So hob Vachon deren passive Eigenschaften als Muse und Modell besonders hervor, immer unter der Bedingung, dass die Frau sich für den Ruhm des einzelnen, männlichen Heros‘ aufopfere.183 Natürlich konnte diese einseitige Form der Zusammenarbeit auch spiritueller Natur sein; doch überwiegend – erst recht im Falle eines Künstlerpaares – lief es auf eine körperliche Beziehung zwischen kreativem Genie und Modell hinaus.184 Diese traditionelle, sexuell konnotierte Idee vom Maler und seiner Muse wurde durch Paradebeispiele wie Auguste Rodin und Camille Claudel oder durch die Tatsache, dass viele junge Malerinnen, um sich ihren Beruf zu finanzieren, auch Modell standen, neu belebt und hielt noch bis ins 20. Jahrhundert hinein an.185 Auf der anderen Seite darf hier nicht verschwiegen werden, dass einige Frauen, die   Vgl. Eva und die Zukunft, Ausst.-Kat. 1996, 17.   C. Bonheur: Art. La huitième exposition de l’Union des Femmes Peintres et Sculpteurs, in: La Chronique moderne 5 (März 1889), 25, zitiert nach Garb 1989, 46. 180   Scheffler 1908, 29. 181   Ebda., 80. Vgl. dazu das Kap. XII, Die Anregerin, ebda., 80 – 82. 182   Vachon 1893, Avertissement des Éditeurs, o. S. 183   „Dans l’exécution de tous les chefs-d‘œuvre de l’Art, la Femme a joué un rôle qui en fait un véritable collaborateur des maîtres et lui confère le droit de réclamer une part de leur gloire. Elle est ou la Muse qui inspire les hautes pensées, ou la Beauté qui offre son corps aux lignes pures, aux formes harmonieuses, pour leur donner la réalité.“, ebda., 599 f. 184   Zu den Künstlerpaaren im Umfeld der École de Paris vgl. im Einzelnen das Kapitel Künstlerpaare, 171 ff. 185   Vgl. dazu Bard 2001, 108. 178 179

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als Muse eines berühmten Malers wirkten, ihre Rolle durchaus zum eigenen Vorteil nutzten und sich später selbst in die Geschichte der Malerei einschrieben. Die zweite Stimme im Orchester Mit dem Image der Muse eng verwandt ist das Image der Epigonin, das die Künstlerin in gleicher Weise dem männlichen Pendant unterordnet. Die Vorstellung eines weiblichen Epigonentums, das dem männlichen Genie nacheiferte, ohne es aber je zu erreichen, dürfte sich vor allen aus dem im 19. Jahrhundert üblichen Lehrer-Schülerinnen-Verhältnis ergeben haben. Damals hieß es, die Frau sei schon biologisch nicht dazu bestimmt, Neues zu kreieren; ihre Mission bestünde vielmehr „in der liebevollen Weiterbildung eines Bestehenden und Ueberlieferten“186. Motiviert durch den Philosophen Simmel, der den Begriff einer weiblichen Kultur prägte,187 sowie durch den Kritiker Mauclair wurde erst langsam eine Sichtweise entwickelt, die Frauen eine eigenständige, vom männlichen Künstler abweichende Kunstproduktion zumaß.188 Um die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg huldigte vor allem Apollinaire dem Art féminin – immer noch vor dem Hintergrund, dass Männer und Frauen prinzipiell über unterschiedliche künstlerische Fähigkeiten verfügten.189 Später, als die Anzahl weiblicher Kunstimmigranten ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde ihr vermeintliches Unvermögen, hohe Kunst zu schaffen, verschiedenartig begründet: mit dem steten Drang, sich dem herrschenden Goût anzupassen,190 verschiedene Einflüsse zu adaptieren und zu mischen,191 oder mit „l’état embryonnaire“192, also mit dem frühen Entwicklungsstadium, in dem sich die junge weibliche Künstlerschaft damals noch befunden haben soll.193 Sie bedürfe daher eines männlichen Vorbilds, hieß es auch von deutscher Seite. Dort sprach zuerst Karl Scheffler von der Frau als „Imitatorin par excellence“ 194, später identifizierte Hildebrandt sie als „die zweite Stimme im Orchester“195 und befeuerte damit die Debatte um weibliche Positionen in der Kunstgeschichte. Damals entschied man allerdings auf beiden Seiten des Rheins, dass die Frau unfähig zur Originalität, wohl aber prädestiniert zur Imitation sei:

  Guhl 1858, 4.   Vgl. dazu Simmel: Weibliche Kultur, in ders. 2001, 251 – 289. 188   „Nous verrons de très grandes œuvres signées par celles qui auront eu la force et la foi de ne pas envisager l’art masculin comme un modèle à égaler, mais uniquement comme un monde voisin et distinct du leur.“, Mauclair: L’Art féminin, in: La Revue bleue 9 (27. Juni 1908), 817 – 820, 820, zitiert nach Thormann 1993, 27, Anm. 61. 189   Vgl. Apollinaire: Le Salon des Femmes Peintres et Sculpteurs, in: L’Intransigeant (05. 02. 1911), zitiert nach Apollinaire 1960, 144 f.; ders.: Chroniques d’Art. Les Peintresses, in: Le Petit Bleu (05. 04. 1912), zitiert nach Apollinaire 1993, 302 – 307, 302 f. 190   Vgl. Focillon 1926, 274 f. 191   Vgl. Carco 1924, 145. 192   Élie Faure, zitiert nach Carco 1924, 148. 193   Vgl. dazu auch Hildebrandt 1928, 152: „Das berufliche Wirken des Weibes steht noch am Beginn seiner selbständigen Ausübung und bedarf ordnender Fürsorge.“ 194   Scheffler 1908, 42. 195   Hildebrandt 1928, 108 f.: „Die Kunst der Frau begleitet die Kunst des Mannes. Sie ist die zweite Stimme im Orchester, nimmt die Themen der ersten Stimme auf, wandelt sie ab, gibt ihnen neue, eigenartige Färbung; aber sie klingt und lebt von jener.“ 186 187

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Da die Frau […] original nicht sein kann, so bleibt ihr nur, sich der Männerkunst anzuschließen. Sie ist die Imitatorin par excellence, die Anempfinderin, die die männliche Kunstform sentimentalisiert und verkleinert, die, nach Goethes Wort, ‚keiner Idee fähig ist‘ und ‚das Wissen und die Erfahrung des Mannes als ein Fertiges nimmt und sich damit schmückt‘.196

Auf französischer Seite fielen das Urteil und selbst der Wortlaut sehr ähnlich aus; dort hieß es später: Aussi, la femme n’a jamais laissé d’empreinte durable en peinture, elle n’y a point été véritablement originale. Comme sa littérature, sa peinture n’est que le reflet de l’art masculin, un écho plus qu’une voix, une interprète plus qu’une initiatrice, et beaucoup de femmes du reste n’ont eu d’autre désir que d’égaler en art les hommes, de les imiter au lieu d’être elles-mêmes.197

Neben der Hauptaussage, dass die Frau statt einer eigenen Kreation bloß eine feminisierte Kopie der meisterhaften, männlichen Kunst zustande brächte, verrät das franzö­ sische Zitat, dass Malerei und Literatur in Frankreich stark parallelisiert wurden; so maßen Kritiker z. B. Rosa Bonheur, auf Seiten der Malerinnen, und George Sand, auf Seiten der Schriftstellerinnen, wiederholt mit gleicher Elle.198 In der Konsequenz dieses nicht enden wollenden Vorwurfs des Epigonentums bekannte sich ein Teil der betroffenen Frauen notgedrungen zu der eigenen Weiblichkeit und lebte diese ostentativ aus – sowohl privat als auch über die Kunst.199 Unter keinen Umständen sollte ihr künstlerisches Schaffen eine Nachahmung der männlichen Konkurrenz darstellen – die Deutsche Vally Wygodzinski, die Ende des 19. Jahrhunderts in Paris studierte, schrieb dahingehend: Ich will kein Künstler sein, ich bin eine Künstlerin, und mein höchster Stolz ist, daß meine Kunst weiblich sei. […] Mir ist nichts mehr zuwider, als wenn eine bedeutende Frau sich Männerhosen anlegt, weil sie sich ihres Geschlechts schämt.200

Die Dilettantin Bereits im ersten Abschnitt wurde der Begriff der Femme à Foyer erläutert, der eine den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts angepasste und dem häuslichen Bereich zugeordnete Frau bezeichnete. Eine Tochter aus gutem Hause sollte sich nicht nur passiv, sondern auch aktiv in sämtlichen kulturellen Belangen bilden – Vorbild war diesbezüglich das Bildungsideal und Humanismuskonzept der Renaissance.201 So übte sie sich in sämtlichen künstlerisch-musischen Aktivitäten, die bekanntermaßen auf Etikette, gute Erziehung und guten Geschmack, somit auf eine höhere gesellschaftliche Herkunft hindeuteten:202 Musizieren, Gesang, Rezitieren, Tanzen oder Fremdsprachen. „Les femmes seront bientôt louées pour la multiplicité de leurs talents, le dilettantisme devenant la   Scheffler 1908, 42.   Déonna 1928, 282. 198   Vgl. z. B. Roger-Milès 1900, 36; Léonce Bénédite: French School. 1755 – 1847, in Sparrow (Hg.) 1905, 178 – 182, 182; Faure 1931, 237. 199   Vgl. dazu auch das Kapitel Mon Portrait – Selbstbildnisse und Selbstbilder von Künstlerinnen, 161 ff., sowie, exemplarisch, Selbstinszenierung von Künstlerinnen, 211 ff. 200   Wygodzinski 1910, Brief vom 11. August 1896, 50 f., 50. 201   Konkret lässt sich das wegweisende Libro del cortegiano (1528) von Baldassare Castiglione anführen, vgl. Noël 2004, 3. 202   Vgl. Garb in Becker/Weisberg (Hg.) 1999, 115 – 117. 196 197

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marque du génie féminin.“203, so die Schlussfolgerung von Denise Noël über den Dilettantismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Neben dem humanistischen Ideal des Bürgertums leitete sich dieser Dilettantismus zudem aus der Schulreform her, die in Paris und anderen europäischen Städten mutmaßlich für eine steigende Anzahl an künstlerisch aktiven „Bürgertöchtern“204 verantwortlich war. Parallel dazu schien es an weiblichen Ausnahmekünstlern zu mangeln; zumindest nahmen Kunstschriftsteller nur selten wirklich „große Künstlerinnen“, dafür mehr und mehr Dilettantinnen wahr.205 Und so dienten die im 19. Jahrhundert eröffneten Malschulen für Damen denn auch als lukrative Einnahmequelle für ihre Leiter – für jene Kunstprofessoren und Akademiemitglieder, die Renate Berger deshalb „heimliche Apologeten des weiblichen Dilettantismus“206 nannte. Unterdessen gab es in Frankreich zwar Berühmtheiten wie Mary Cassatt, Eva Gonzales oder Berthe Morisot, die in einem als typisch weiblich empfundenen Stil, nämlich impressionistisch, malten und dennoch einen hervorragenden Ruf genossen.207 Doch zugleich zeigten auf den Salon-Ausstellungen immer mehr Teilnehmerinnen betont maskuline Kunstwerke, um sich dem Image der Bürgertochter und Dilettantin zu entziehen.208 Die männliche Kunstkritik reagierte darauf noch jahrzehntelang überrascht: „Dans nos salons actuels, lorsque nous rencontrons le tableau d’une femme peintre, nous sommes frappés le plus souvent par une facture vigoureuse qui ne semble pas en harmonie avec la nature féminine.“209 Diese Zeilen konnte man 1926 in Les Arts et les Artistes lesen, wiewohl damals längst bekannt war, dass Frauen Kunst nicht nur als Freizeitbeschäftigung praktizierten. Neben den Amateurinnen betrieben professionelle Künstlerinnen das Malen als Broterwerb, um öffentliche Anerkennung zu ernten oder um sich persönlich zu verwirklichen.210 Die Schöne „Die Frau ist künstlerisch unproduktiv, aber sie ist als Individuum ästhetisch im Körperlichen und Geistigen.“211 Die Sicht von Karl Scheffler auf die ‚Gattung‘ Frau teilten viele zeitgenössische Autoren.212 Künstlerinnen des 19. und anbrechenden 20. Jahrhunderts mussten insofern erleben, wie ihr Äußeres in der öffentlichen Debatte mehr Raum einnahm als ihre Kunst, die ihrerseits bereits „unter dem Diktat des Schönheitsideals“213 evaluiert wurde. Tradierte Definitionen von Weiblichkeit wurden zu jener Zeit immer   Noël 2004, 3.   Scheffler 1908, zitiert nach Berger 2010, 51. 205   Vgl. Guhl 1858, 238: „So kann man in der That sagen, daß es weniger ausgezeichnete und große Künstlerinnen in unseren Tagen giebt; man wird aber hinzufügen müssen, dass die Zahl der guten Künstlerinnen größer als sonst ist.“; vgl. auch Hildebrandt 1928, 96 – 98. 206   Berger 2008, 40. Vgl. auch dies in: Sie. Selbst. Nackt, Ausst.-Kat. 2013, 22. 207   Zur Gleichsetzung des Impressionismus mit Weiblichkeit vgl. Parker/Pollock 1981, 41. 208   Vgl. Noël 2004, 8. 209   Goulinat 1926, 289. 210  Vgl. Nicoïdski 1996, 193; sowie Uzannes Ausführungen über die Psychologie de la Contemporaine, Uzanne 1910, 447 – 478, insbes. 465. 211   Scheffler 1908, 33. 212   Der Begriff der Gattung fiel zusammen mit dem Begriff des weiblichen Prinzips ebda., 23 f. 213   Thormann 1993, 32. 203 204

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wieder neu überdacht und verhandelt. So empörte sich z. B. die Kunstschülerin Marie Bashkirtseff 1879 über die Determiniertheit ihres zu Schönheit verdammten Geschlechts und sprach in ihrem Tagebuch davon, sich verunstalten zu müssen  – „si laide que je ­serais libre comme un homme“214 –, um als Künstlerin überhaupt wahrgenommen zu werden. Dieser scheinbar absurde Wunsch nach Hässlichkeit ist sicher mit dem wachsenden Schönheitskult zu erklären, der um 1900 in Dutzenden von Kompendien und Ratgebern zur Schönheitspflege oder zeitgenössischen Mode zutage trat.215 Einer der betreffenden Experten, Octave Uzanne, berief sich dabei auf zwei große französische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, nämlich Charles Baudelaire und Honoré de Balzac: „La beauté est, en effet, le plus grand des pouvoirs humains. Elle vaut souvent plus que la vertu et le talent, et Balzac avait raison d’écrire : ‚La petite vérole est la bataille de Waterloo des femmes.‘ Qui dit beauté, dit gloire et conquêtes.“216 Hohe Attraktivität – ob unter weiblichen Künstlern oder Intellektuellen – zog ganz automatisch eine gesteigerte Aufmerksamkeit nach sich; hierzu braucht man lediglich die zeitgenössischen Rezensionen über Tamara de Lempicka oder die Hommagen an Natalie Clifford Barney zu studieren.217 Deren Talent wurde nur selten über ihre Schönheit gestellt, etwa von Max Jacob, der in einem Brief an Clifford Barney folgendes Lob auf ihr Genie aussprach: [B]onne et illustre amie[.] Ne soyez pas jalouse des anges[,] même s’ils pouvaient rivaliser avec vous en beauté, ils ne sauraient même espérer le faire en esprit. Je ne leur souhaite pas d’essayer si je vous souhaite de rester ce que vous êtes. Votre ami très fidèle Max Jacob218

Doch wenn sich moderne Malerinnen, wie De Lempicka oder Laurencin, damals einer öffentlichen Debatte über ihr Äußeres ausgesetzt sahen, dann lag die Ursache dafür genauso bei ihnen selbst. Sie forcierten schließlich die Verknüpfung zwischen dem eigenen Erscheinungsbild und ihrem Œuvre, indem sie mannigfach Porträts von sich selbst produzierten. In den Augen der Kritiker reihten sie sich damit in eine Künstlerinnen-Tradition ein, für die vor allem Élisabeth Vigée-Lebrun repräsentativ war.219 Während die Por-

214   Marie Bashkirtseff: Journal (Eintrag vom 2. Januar 1879), zitiert nach Gonnard/Lebovici 2007, 19. Für weitere, ins Deutsche übertragene Zitate aus den Tagebüchern (1877 – 1884) der Künstlerin vgl. Berger (Hg.) 1987, 169 – 190. 215   Beispielhaft Uzanne 1902; Comtesse de Tramar: Bréviaire de la Femme. Pratiques secrètes de la Beauté, Paris: Victor Havard & Cie 1903; dies.: L’Évangile profane. Rite féminin, ebda. 1905; Baronne d’Orchamps: Tous les Secrets de la Femme, Paris: Bibliothèques des Auteurs modernes 1907; Comtesse de Tramar: Que veut la Femme ? Être jolie, être aimée et dominer, Paris: Malet et Cie 1911. 216   Uzanne 1902, 59. Zu Baudelaire und dessen Éloge du Maquillage vgl. ebda., 10. 217   Insbesondere Remy de Gourmont schien besessen von Barneys attraktivem Äußeren; diesbezüglich verfasste er frenetische Liebesbekundungen und schließlich die Lettres intimes à l’Amazone (1914), vgl. Chapon (Hg.) 1976, 33 – 37. 218   Brief vom 2. Januar 1934, zitiert nach ebda., 42. 219   Vgl. Thormann 1993, 25 f. Auf den Stellenwert Vigée-Lebruns bzw. des 18. Jahrhunderts wird ausführlich im Kapitel Mon Portrait – Selbstbilder und Selbstbildnisse von Künstlerinnen eingegangen, vgl.164 und 167 f.

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trätmalerin in Frankreich als größte Künstlerin des 18. Jahrhunderts gefeiert wurde,220 stand sie – eben aufgrund ihrer Selbstdarstellung – im Ausland lange Zeit in dem Ruf, narzisstisch veranlagt zu sein.221 Zudem maß sie der Mode ihrer Zeit hohe Bedeutung bei,222 wie z. B. ihr berühmtes Selbstporträt mit Strohhut nahelegt.223 Darin verewigte sich Vigée-Lebrun zwar erkennbar als Malerin mit Farbpalette und Pinsel, zugleich aber trägt sie eine prächtige, der damaligen Mode entsprechende Robe. Ganz so wie von den Hoheiten, die ihr Modell saßen, darunter Marie-Antoinette, bot die Künstlerin von sich selbst ein gefälliges Idealbild dar.224 Ihre Kunst drehte sich insofern nicht nur um das Weibliche, sondern des Öfteren auch um ihre eigene Person. Während die Betonung der eigenen Weiblichkeit zu jener Zeit womöglich noch aus Not oder Zwang erfolgte,225 handelten einzelne Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts in dieser Hinsicht nachweislich aus eigenem Antrieb. Sowohl privat als auch beruflich zelebrierten sie ihre feminine Seite; „[…], je me sens parfaitement à l’aise avec tout ce qui est féminin …“226, schrieb beispielsweise Laurencin. Das Tierwesen Wenn sich Autoren mit dem Wesen der Frau auseinandersetzten, thematisierten sie vielfach deren Instinkt. Da dieser die natürlichen Triebe und Affekte der Frau bezeichnete, verwendete man im französischsprachigen Raum auch den Begriff der Animalité. Natürlich konnte dieses geschlechtsspezifische Attribut positiv aufgeladen sein, etwa in Verbindung mit Sehnsucht nach Unverfälschtheit und Natürlichkeit,227 meist jedoch, zumal in der Kunstkritik, schwang darin eine Herabwertung der (weiblichen) Natur mit. Gilbert Lascault, der 2008 ein Glossar mit Schlüsselbegriffen zur Darstellung der Frau publizierte,228 führte diesbezüglich aus: „Le plus souvent l’usage de la métaphore animale pour désigner une femme intervient ici de manière péjorative. Elle s’accompagne d’un humanisme triomphant, d’un mépris pour les bêtes, pour les plantes, pour l’univers.“229   Vgl. Goulinat 1926, 291 – 294.   „Die Zahl ihrer Selbstbildnisse, bald nur die eigenen Züge, bald auch die ihrer Tochter wiedergebend, ist schwer zu bestimmen. Denn Élisabeth Lebrun ist verliebt in sich selbst – und hat dazu auch allen Grund.“, Hildebrandt 1928, 84. 222   „Das Hübsche allein inspiriert Madame Vigée-Lebrun. Sie will, daß man hübsch ist, und, wenn man es nicht ist, versteht sie es, dafür zu sorgen. […] Ihr Pinsel findet Gefallen an Kleidern aus Samt, an fließenden Spitzen, die der Satinschuh hervorhebt; […].“, Pierre de Nolhac: Madame Vigée Le Brun. Peintre de la reine Marie Antoinette. 1755 – 1842, Paris 1908, 2, aus dem Französischen übersetzt und zitiert nach Thormann 1993, 29. 223   Élisabeth Vigée-Lebrun, Self Portrait in a Straw Hat, nach 1782, Öl auf Leinwand, 97,8 × 70,5 cm, National Gallery, London, vgl. https://www.nationalgallery.org.uk/paintings/elisabeth-louise-vigee-le-brun-selfportrait-in-a-straw-hat (zuletzt geprüft am 15. 11. 2021). 224   Vgl. Parker/Pollock 1995, 96; Emma Barker: Women artists and the French Academy: Vigée-Lebrun in the 1780s, in Perry (Hg.) 1999, 108 – 128, 114. 225   Vgl. Chadwick 2013, 148. 226   Laurencin 1952, 1. 227   Scheffler sprach z. B. von einer „Urweltlichkeit ohne Selbstbeschauungskraft“, die der Frau, anders als dem Mann, zu eigen sei, vgl. Scheffler 1908, 25. 228   Lascault 2008. 229   Lascault 2008, 14; vgl. auch ebda., 15 f. 220 221

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Besonders stark manifestierte sich diese Bedeutung in den Texten Baudelaires oder den Gemälden von Edgar Degas.230 Diverse seiner Zeitgenossen, darunter Kunsthistoriker, hielten Degas‘ Frauenfiguren für Reinkarnationen einer spezifisch weiblichen Animalität.231 Seine Mädchenakte waren zunächst einmal ein „Synonym für sexuelle Verfügbarkeit“232. Ferner ließen sich Degas’ Frauengestalten, sofern sie waschend oder kämmend wiedergegeben waren, mit Tieren, z. B. mit einer Katze, gleichsetzen, die meist nichts weiter tut als unbeobachtet ihrem Instinkt zu gehorchen.233 Von diesen Modellen ausgehend wandte man die Metapher der Animalität auch auf die Künstlerin selbst an, verglich sie, entweder im Verbund mit ihren Modellen oder aber an deren Stelle, mit einer Katze, einem Reh, einer Gazelle oder Schlange.234 Dass derlei Assoziationen mit der Natur in der Tradition eines biologistischen sowie dualistischen Geschlechterverständnisses standen, muss nicht weiter erläutert werden. Denn Tier und Pflanze verwiesen als Pars pro Toto auf das Naturreich,235 im Widerspruch zum Reich der Kultur, wo im damaligen Verständnis ja allein der Mann agierte. Dass weibliche Animalität zudem sehr stark erotisch besetzt war, soll abschließend ein Zitat aus den Paris-Notizen von Scheffler veranschaulichen: „Die Legitimierung des Erotischen verleiht der Pariserin einen Zug, der sie gefährlich macht. Es ist um sie her eine Atmosphäre von Animalität, ein Parfüm von Naturwärme.“236 Fazit Im Vorigen wurde untersucht, wie man künstlerisch ambitionierte, aktive Frauen während der Moderne wahrnahm; dabei lag das Augenmerk auf der männlichen Kunstkritik sowie der Situation in Paris. Es bestätigte sich, dass – wie in anderen Bereichen – eine Mischung der Geschlechter auch innerhalb der Künste kaum akzeptiert war. Stattdessen bemühten sich Kritiker und Chronisten, die Frau auf den angewandten Bereich, die Arts mineurs, einzuschwören oder, wenn dies nicht gelang, sie aus dem Dunstkreis des Grand Art und der Avantgarde zu verbannen. Wie gesehen identifizierten sie die Frau mit der Muse oder dem Modell, griffen auf den Vorwurf des weiblichen Epigonentums, der Mittelmäßigkeit oder auch des Dilettantismus zurück. Jedoch: Im 20. Jahrhundert, als sich Künstlerinnen durch entsprechende Vereine professionalisiert hatten und als sie mit eigenen Ausstellungen in die Öffentlichkeit vordrangen, konnte diese Argumentations­ linie immer schwieriger aufrechterhalten werden. Deshalb berief sich die Kunstkritik zusätzlich auf das äußere Erscheinungsbild, die Schönheit der Künstlerin, und nutzte diese gezielt dazu, von ihrem Schaffen abzulenken oder ihr eine narzisstische Neigung zu unterstellen. Solche Ausschlussmechanismen gingen unweigerlich aus der damals herrschenden, einseitigen Sicht auf das weibliche Geschlecht hervor, waren demnach ideeller Natur. Wohl dienten sie aber auch einem praktischen Zweck, nämlich demjeni  Vgl. ebda., 17 f.   Vgl. z. B. Robiquet 1938, 200. 232   Doschka 1996, 20. 233   Vgl. ebda. 234   Vgl. Lascault 2008, 15. 235   „Was der Dichter von der Pflanze sagt, gilt auch von der Frau. Was der Mann in dieser verehrt, ist die klare, lautere Natur.“, bezogen auf einen Vers Friedrich Schillers, Scheffler 1908, 23. 236   Scheffler 1908a, 216. 230 231

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gen, die Chancen einer weiblichen Konkurrenz auf dem Kunstmarkt zu minimieren. Ausnahmekünstlerinnen à la Rosa Bonheur wurden dazu, wie die obigen Textbeispiele zeigten, als Wunder – im Sinne eines widernatürlichen Phänomens – bezeichnet. Letztendlich bildeten all die genannten, speziell in der Kunstgeschichte auftretenden Stilisierungen wichtige Eckpunkte in einem, wie Ellen Thormann es nannte, „Koordinatensystem von ‚Weiblich- und Männlichkeit‘“237. Innerhalb dieses Systems hielt man noch bis weit ins 20. Jahrhundert an Traditionen fest, etwa an dem Geniekult oder an der Vorstellung von dem Maler und seiner Muse, und erschwerte dadurch der Frau, in der Kunstszene Fuß zu fassen.

Entre deux Guerres – Entre deux Genres: Geschlecht und Geschlechtlich­keit zwischen den beiden Weltkriegen Wie soeben gezeigt werden konnte, tauchte in der historischen Auseinandersetzung mit der weiblichen Kunst ein bestimmtes Argument vermehrt auf: die Unvereinbarkeit des Kunstschaffens mit der weiblichen Natur. Was jedoch war damit gemeint, wenn von ­einer Frau als männisch oder gar als ‚Mannweib‘ gesprochen wurde?238 Wie passten derartige Bezeichnungen überhaupt noch mit dem 20. Jahrhundert und der Zeit des Entre deux Guerres zusammen? Denn damals befanden sich die Geschlechtergrenzen – in der Mode- und Theaterszene, aber genauso in der realen, beruflichen Welt – ohnehin schon in einem Auflösungsprozess und wurden stets aufs Neue hinterfragt. Diesen Fragen soll dieses Kapitel auf den Grund gehen, indem es sich jenen ein- und zweigeschlechtlichen Modellen widmet, die in der zeitgenössischen, französischen Gesellschaft immer wieder zur Diskussion standen: Androgyn, Dandy, Sappho und natürlich die bereits erwähnte Garçonne. Nicht nur sind diese Figuren in direktem Zusammenhang mit der Rezeption weiblicher Kunst zu betrachten, sondern sie stehen darüber hinaus auch in Verbindung mit sexuellen, partiell homo- oder bisexuellen Identitäten.

Androgyn Etymologisch setzt sich Androgyn aus „andros“, dem griechischen Wort für „männlich“, und „gynos“, dem griechischen Wort für „weiblich“, zusammen, womit schon der markanteste Wesenszug des Androgyn benannt ist: das ihm innewohnende Potential beider Geschlechter.239 Dabei ist der Androgyn kein zweigeschlechtliches Wesen, sondern eine harmonische Verschmelzung beider Naturen in einem (männlichen oder weiblichen) Körper und insofern der Gegenentwurf zu einer scharf abgegrenzten, rein genitalen Sexualität. Dem Bereich des Mythos zugehörig, gründet er sich u. a. auf eine in Platons Symposium überlieferte Erzählung des Aristophanes; darin wird von der Existenz kugelförmiger Mischwesen, sogenannter Kugelmenschen, berichtet, in denen sich Sonne,

  Thormann, in: Marie Vassilieff, Ausst.-Kat. 1995, 71.   Z. B. in Scheffler 1908, 40 f.; Hildebrandt 1928, 34, 105. 239   Zur Definition und Quellenlage vgl. Ursula Prinz: Einführung, in: Androgyn, Ausst.-Kat. 1986, 9 – 32, insbes. 9 – 11. 237 238

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Mond und Erde zu einer Art drittem Geschlecht vereinen. Hiervon auf eine asexuelle Identität des Androgyn zu schließen, wäre aber falsch, da: Grundsätzlich gilt, daß sich in der Androgynie das Geschlecht nicht auflöst; im Gegenteil ist es von überaus großer Bedeutung. Denn Androgynie spielt zwar immer mit den Grenzen des (biologischen wie kulturellen) Geschlechts, überschreitet sie immer wieder und verschiebt sie dadurch, behält aber doch immer die Option, sie auch wieder in die andere Richtung zu überschreiten.240

Wie die lesbische Schriftstellerin Colette betonte, erwächst der verführerische Reiz des Androgyn aus ebendieser Unbefangenheit im Umgang mit der eigenen Sexualität und aus der erwähnten Ungewissheit.241 Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr die Figur beträchtlichen Erfolg durch Romanautoren wie Honoré de Balzac, Oscar Wilde oder Charles Baudelaire.242 Den deutlichsten Anstoß gab dabei der Okkultist Joséphin Péladan, der einen preziösen Roman namens L’Androgyne (1891) und zusätzlich das Büchlein De l’Androgyne (1910) publizierte. Aus jenem Werk ist das folgende Loblied auf den Androgyn entnommen: Feingliedrig-hagerer Ephebe, Mischung aus herangehender Kraft und schwingender Grazie. O vager Augenblick des Leibes wie der Seele, köstliche Nuance, unmerkliches Intervall körperlicher Musik, erhabenstes Geschlecht, drittes Wesensbild! Gelobt seist du! Schlankarmige Jungfrau mit flachen Brüsten, Trugbild der Stärke mit darin schlummernder Anmut, unbestimmter Moment des Körpers und dunkler verworrener Seelenpunkt, schwankender Farbklang, Akkord in reiner Harmonie, Heros und Nymphe zugleich, Gipfel aller Form - die einzig wahrnehmbare in der Welt des Geistes! Gelobt seist du! […]243

Bemerkenswert ist zum einen die sehr mystische und symbolistische Interpretation des Androgyn, zum anderen die Erwähnung gewisser, weiblicher Figuren – namentlich der Nymphe und der Jungfrau. Ganz offensichtlich waren sie mit dem Körperbild des Androgyn verwandt, auch wenn ihn Péladan weder als körperliches noch irdisches ­Wesen auffasste.244 Sein für das 19. Jahrhundert typischer Mystizismus verflüchtigte sich nach der Jahrhundertwende und wich schließlich einer modernen Roman- und Identifika­tions­figur: der Garçonne, die für viele die reine Personifikation von Andro­ gynie darstellte. Erst jetzt schien Androgynie als physisch attraktiv wahrgenommen zu werden. Weshalb das ursprünglich literarische Motiv zu jener Zeit so beliebt war, erklärten Gilles Barbedette und Michel Carassou in Paris Gay. 1925, dadurch, dass der Androgyn im Vergleich zu anderen Figuren weniger abnorm oder pervers, dafür geheimnisvoll und erhaben wirkt.245 Indessen betrachteten Sozialwissenschaftler Androgynie als ein

  Lehnert 1999, 119.   Vgl. ebda. 242   Vgl. dazu Francine-Claire Legrand: Das Androgyne und der Symbolismus, in: Androgyn, Ausst.-Kat. 1986, 75 – 112. 243   Joséphin Péladan: Hymne à l’Androgyne, veröffentlicht in: La Plume (1. März 1891), wieder aufgenommen in: De l’Androgyne, Paris 1910, 121 f., 129 f., 133, zitiert nach Legrand in: Androgyn, Ausst.-Kat. 1986, 79 f. 244   Vgl. ebda., 80. 245   Vgl. Barbedette/Carassou 1981. 240 241

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historisch bedingtes Phänomen, das „insbesondere in Zeiten des (krisenhaften) gesellschaftlichen Umbruchs“ auftauche, „in denen auch das Geschlechterverhältnis neu verhandelt wird.“246 Verständlich wird dieser Ansatz, wenn man sich die zeitgenössischen psychologischen Theorien von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung vergegenwärtigt, oder bedenkt, wie seinerzeit mit Geschlechterrollen bzw. mit sexuellen Identitäten gespielt wurde. Der Fotograf Brassaï schilderte in seinem Bildband Paris de Nuit (1933), gespeist aus Wanderungen durch das nächtliche Paris, ebendiesen freizügigen Umgang mit Sexualität: „Je vis aussi de maintes créatures énigmatiques, floues, flottant entre les frontières mal tracées des deux sexes dans une sorte de no man’s land. […]. Le fléau oscillait entre l’homme et la femme.“247 Sehr deutlich spricht hieraus, dass die Geschlechtszugehörigkeit der zitierten – wohl weiblichen  – Gestalten kaum wahrnehmbar, dass der Übergang zwischen beiden Geschlechtern praktisch fließend gewesen sein muss. Ferner zeigen Brassaïs Beobachtungen, dass Androgynie während des Entre deux Guerres sowohl im modernen Stadtbild präsent als auch in literarisch-künstlerischen Kreisen sehr populär war.248 Überhaupt wurde Geschlechtlichkeit im 20. Jahrhundert zu einer Komponente des eigenen Ichs, die sich wählen, formen und variieren ließ, „une sorte de création individuelle comparable à une œuvre plastique.“249 Sie war nicht länger ein fixer Zustand, sondern rückte in die Nähe der Performanz.250 Trat eine Frau als Garçonne oder Dandy in Erscheinung, fühlte sie sich womöglich selbstbestimmter, verwegener, unter Umständen auch männlicher im Sinne von stärker – deshalb besaß Androgynie nicht zuletzt für die Emanzipationsbewegung einen äußerst hohen Symbolwert. Vor allem rückblickend wurde die weib­ liche Kostümierung in Frankreich gar als unverzichtbar eingeschätzt – nicht nur für die Gleichberechtigung, sondern auch für das „matrimoine“251, d. h. das weiblich geprägte Kulturerbe. Soviel bis dato über die Frauen als Profiteure der androgynen Mode geforscht und publiziert wurde, so wenig erfährt man über die Konsequenzen der Androgynie für die Männerwelt. Dabei kam es im Verlauf der Geschichte mindestens ebenso oft zu einer Feminisierung des Mannes wie zu einer Virilisierung der Frau, um den Androgyn bildlich darzustellen.252 Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Rede von der „Doppelgeschlechtlichkeit des Individuums“253 – gleich ob Mann oder Frau. Hier muss nochmals der Tänzer Vaslav Nijinsky erwähnt werden, der sich nämlich auf der Bühne über die strikte Geschlechterordnung im Ballett hinwegsetzte. Dies tat er sowohl mit seinem eigenen Körper, den er elegante, schlangenähnliche Bewegungen beschreiben ließ, ohne ­virile Kraft zu demonstrieren, als auch vestimentär durch körperbetonte Unisex-Kostüme. Dabei überwog weder die maskuline noch die feminine Komponente, sondern er

  Ulla Bock, zitiert nach Eck 2004, 30.   Brassaï 1976, 167. 248   Vgl. Morineau 2010, 43. 249   Ebda., 44. 250   Vgl. Lehnert 1999, 118, zum Begriff der Performance vgl. Butler 1991 (Originalausgabe 1990). 251   Feminisierte Form von „patrimoine“, siehe Bard: Préface, in Leduc (Hg.) 2006, 13 – 22, 19. 252   Vgl. Prinz in Androgyn, Ausst.-Kat., Berlin 1986, 11. 253   Scheffler 1908, 41. 246 247

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besetzte, so Nancy van Norman Baer, „den androgynen Raum dazwischen“254. Allerdings war es nicht allein Nijinskys Verdienst, dass die Repräsentation sexueller Identität im Ballett seither immer weniger ins Gewicht fiel. Auch der Tanz als solcher hatte daran erheblichen Anteil, wie Annette Runte in ihrem Beitrag Ballerina/Ballerino. Androgynie im Ballett255 verdeutlichte. Zudem gab es abseits der Bühne die Tendenz, Androgynie mit einer Vermänn­ lichung der Frau gleichzusetzen, angeregt durch Botschafterinnen der androgynen Mode wie Coco Chanel oder Romaine Brooks. Umso wichtiger ist es klarzustellen, dass Androgynie und Travestie zum einen vor allem aus modisch-ästhetischen Gründen, zum anderen von Frauen und Männern gleichermaßen praktiziert wurden (Garçonne, Dandy, Femme Dandy).256 „Alors que la mode féminine se masculinise, la mode masculine se féminise.“ 257, schrieb dazu Christine Bard.258 Für beide Geschlechter galt im Übrigen auch, was weiter oben bereits auf die Frau bezogen wurde: Dass die neue Mode, entsprechend der Auffassung von Androgynie, die Jugendlichkeit ihres Trägers oder ihrer Trägerin unterstrich. Androgyn wirken konnte nur, wer sichtbar jung war und noch keine Geschlechtsreife bzw. keine sichtbare Geschlechtszugehörigkeit aufwies.259 Gefordert waren deshalb die bekannte, betont knabenhafte und flachbrüstige Körperform sowie der Kurzhaarschnitt samt Pony in der Fasson Chanels, von der sich, wie gesagt, Frauen beinahe jeden Alters modisch beeinflussen ließen.

Dandy Anders als der Androgyn liefert der Dandy einen Topos, der noch im heutigen Sprachgebrauch ständig, und geradezu beliebig, auftaucht. Man appliziert ihn wie ein Güte­ zeichen auf Musiker, Schauspieler, Designer und Models, um eine besondere (modische) Eleganz oder Originalität auszudrücken; mit Blick auf jüngste, publizistische Entwicklungen scheint „Dandy“ gar zu einem Modewort avanciert zu sein.260 Doch natürlich kann diese Figur weder in einer einzelnen historischen Person noch in den wenigen eben genannten Eigenschaften wirklich greifbar werden. Der Dandy ist schließlich  – ­darauf verweist schon die Bezeichnung „Dandyismus“ – ein komplexes, von Menschenhand geschaffenes Konstrukt, ein Kulturphänomen, das bereits seit dem 18. Jahrhundert je nach Zeitalter in variabler Form existiert. Dementsprechend uneinheitlich fallen auch die historischen Definitionen aus, deren Inkunabeln man in der Mitte des 19. Jahrhunderts antrifft: Honoré de Balzacs Traité de la Vie élégante (1830), gefolgt von Jules Barbey d’Aurevillys Traktat Du Dandysme et de George Brummel (1843) und hiernach der weithin bekannte, biografische Essay Le Peintre de la Vie moderne (1863), worin sich Bau­   Van Norman Baer in Jeschke (Hg.) 1997, 43.   Runte in Bock/Alfermann (Hg.) 1999, 95 – 117, insbes. 95. 256   Seidenhemden, lockere Kragen und weit ausgestellte Hosen wurden z. B. von beiden Geschlechtern gleichermaßen getragen, vgl. Bard 2001, 119. 257   Bard 1998, 33. 258   Innerhalb der einschlägigen, deutschen Forschung wurde androgyne Mode dagegen ausdrücklich als „Übernahme vermeintlich männlicher Elemente in die Frauenmode“ verstanden, vgl. exemplarisch Lehnert 1999, 125. 259   Vgl. Lehnert 1999, 123 f. 260   Vgl. z. B. den 2009 gegründeten und 2021 beendeten Modeblog für Männer, Dandy Diary. 254 255

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delaire u. a. dem Dandy widmete.261 Die Heterogenität dieser und späterer Deutungen erschwert es wiederum, eine dem Dandy angemessene, allzeit gültige Definition zu finden. Zeitlich interessiert im Rahmen dieser Arbeit aber ohnehin der Entwurf eines Dandy à la Baudelaire; dieser nämlich vereint in sich den für das Fin de Siècle typischen Ästhetizismus und Elitismus. Wenn Baudelaire in Le Dandy auch des Öfteren an den von Barbey d’Aurevilly entworfenen Urtypus anknüpfte, in persona George Bryan Brummell (1778 – 1840),262 so bemühte er sich doch um weitaus mehr Kürze und Universalität als Barbey d‘Aurevilly.263 Der Dandy à la Baudelaire Worin besteht nun der angesprochene, gegen Ende des 19. Jahrhunderts kultivierte Dandyismus? Gemäß der historischen Definition von Günther Erbe, der sich namentlich mit Aristokratismus und Dandytum im 19. und 20. Jahrhundert auseinandersetzte, ist der Dandy durch die ursprüngliche Nähe zum Aristokratismus und die daraus folgende Erwerbslosigkeit bestimmt.264 Er pflege demgemäß „einen Lebensstil des demonstrativen Konsums und des kultivierten Müßiggangs“265. Eine adlige Abstammung besaß demgegenüber nicht einmal der musterhafte George „Beau“ Brummell, wohl aber verfügte er über enge Verbindungen zum damaligen Prinzregenten Englands. Ein solch privilegiertes Dasein erhob auch Baudelaire zum Hauptkriterium des Dandytums,266 das er mit einem neuen, noblen Adelsgeschlecht, hervorkommend in Zeiten des sozialen Wandels, gleichsetzte: Le dandysme apparaît surtout aux époques transitoires où la démocratie n’est pas encore toute-puissante, où l’aristocratie n’est que partiellement chancelante et avilie. Dans le trouble de ces époques quelques hommes […] peuvent concevoir le projet de fonder une espèce nouvelle d’aristocratie, d’autant plus difficile à rompre qu’elle sera basée sur les facultés les plus précieuses, les plus indestructibles, et sur les dons célestes que le travail et l’argent ne peuvent conférer.267

Deutlich spricht aus diesen Zeilen der Elitegedanke, welcher in Baudelaires Le Dandy durchgängig spürbar ist. Verwandte Begriffe, mit denen der Autor das Dandytum be261   Honoré de Balzac: Traité de la vie élégante. Suivi de La théorie de la démarche, hg. v. Claude Varèze, ­ aris: Bossard 1922.; Barbey d’Aurevilly/Natta 1989; Baudelaire: Le Peintre de la Vie moderne, in ders. P 2002 – 2006, Bd. 2. Relevant für das Verständnis des baudelairschen Dandyismus sind insbesondere IX. Le Dandy, 709 – 713, sowie IX. Éloge du maquillage, 714 – 718.  Ergänzend zu den hier angeführten und behandelten Titeln lässt sich noch das Kultbuch Joris-Karl Huysmans, „À rebours“ (Paris: G. Charpentier 1884), nennen. Es behandelt ebenfalls einen dandyhaften Heroen, Jean des Esseintes, bricht mit dem Naturalismus und zelebriert stattdessen den l’Art pour l’Art. 262   „Mais ôtez le Dandy, que reste-t-il de Brummell ? Il n’était propre à être rien de plus, mais aussi rien de moins que le plus grand Dandy de son temps et de tous les temps. […] : il fut le Dandysme même.“, Barbey d’Aurevilly/Natta 1989, 97 f.  263   Baudelaire wies dem Dandyismus weder einen konkreten Helden noch eine bestimmte Epoche zu, vgl. dazu Baudelaire 2002 – 2006, 711. 264   Vgl. den Aufsatz von Günther Erbe in Ludewig et al. (Hg.) 2013, 11 – 28. 265   Ebda., 11. 266   „Ces êtres n’ont pas d’autre état que de cultiver l’idée du beau dans leur personne, de satisfaire leurs passions, de sentir et de penser.“ Baudelaire 2002 – 2006, 709 f. Zur weiteren Charakterisierung des Dandys à la Baudelaire vgl. ebda., 710 – 712. 267   Ebda., 711.

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legte, z. B. „superiorité“, „spiritualisme“, „caste“, „héroïsme“,268 und die er allem Materiellen, Vulgären und Trivialen entgegensetzte, durchziehen seine Theorie ebenso wie die seines Vorgängers Barbey d’Aurevilly. Über irdische Güter wie Geld und Leidenschaften sei das Dandytum klar erhaben, vergleichbar einem Mönch, dessen Priorität allerdings nicht die Suche nach Gott, sondern nach dem Glück – „la recherche du bonheur“269 – darstelle. Jenes elitäre Wesen müsse der Dandy nach außen tragen; er müsse sich – am besten über sein Äußeres, seine Toilette  – von der breiten Masse distinguieren. Seit Brummell rangierte in dieser Hinsicht Schlichtheit vor Luxus und Raffinesse vor Pomp.270 Le Dandy hingegen verrät nichts darüber, wie sich diese unverzichtbare Distinktion ­konkret bemerkbar machte; erst Roland Barthes’ retrospektiver Bericht von 1962, Le Dandysme et la Mode271, beschreibt u. a., wie die Industrialisierung der Mode dem Individualismus und der Originalität der maskulinen Mode ein Ende setzte; wie der maßgefertigte Herrenanzug zu einem en masse produzierten Standard, zu einer Norm wurde. Mithilfe einer neuen, ästhetischen Kategorie – dem Detail – trachtete der Dandy danach, ebendieses Mittelmaß zu überwinden. Dahinter konnten sich ein exklusiver Hemdstoff, bestimmte Knöpfe oder auch eine ausgefallene Schließe am Schuhwerk verbergen.272 Die größte Variationsbreite aber bot gewiss die Krawatte,273 mittels deren Farbe, Material und Bindetechnik man sich, so die Worte Honoré de Balzacs, selbst verwirklichen konnte: „En effet de toutes les parties de la toilette, la cravate est la seule qui appartient à l’homme, la seule où se trouve l’individualité. […]; c’est par elle que l’homme se révèle et se manifeste.“274 Das Detail gab dem Dandy die Möglichkeit, sein Kostüm kreativ abzuwandeln, sich innerhalb fixer, vestimentärer Grenzen hervorzutun, zu radikalisieren  – weniger über den Gegenstand an sich als über dessen Beschaffenheit.275 Nicht das Was, „l’élégance maté­rielle“276, sondern das Wie, „cette façon de porter un habit“277 waren für den baudelaireschen Dandy kennzeichnend; er war ein Selbstdarsteller und Gesellschaftsmensch, der seinen öffentlichen Auftritt sorgsam und bis ins Detail hinein plante; denn mit seiner Performanz wollte der Dandy zwar erstaunen, nicht jedoch in unangemessener Weise auffallen. Daher beherrschte er den guten Ton eines Gentlemans  – Manieren, Reiten, Konversation  –, und den eleganten Gang eines Flaneurs.278 Ebenso wie der Flaneur   Ebda., 701 f.   Ebda., 710. 270   Vgl. Barbey d’Aurevilly/Natta 1989, 119. Bei Baudelaire heißt es analog: „Aussi, à ses yeux épris avant tout de distinction, la perfection de la toilette consiste-t-elle dans la simplicité absolue, qui est, en effet, la meilleure manière de se distinguer.“, Baudelaire 2002 – 2006, 710. 271   Barthes in ders. 2002, 27 – 31. 272   Vgl. ebda., 28. 273   Vgl. dazu den Aufsatz von Julia Bertschik in Ludewig et al. (Hg.) 2013, 63 – 76. 274   Honoré de Balzac: De la Cravate, considérée en elle-même et dans ses Rapports avec la Société et les Indi­ vidus, in: Œuvres complètes de Balzac, Bd. 22, Paris 1956, 243 – 246, 243 f., zitiert nach Bertschik in Ludewig et al. (Hg.) 2013, 63. 275   „[…] le ‚détail‘ vestimentaire n’est même plus ici un objet concret, si menu soit-il; c’est une manière, souvent subtilement détournée, de briser le vêtement, de le ‘déformer’, […]“, Barthes in ders. 2002, 29. 276   Baudelaire 2002 – 2006, 710. 277   Ebda., 712. 278   Gemäß Daniel Salvatore Schiffer war der Dandyismus „un mode d’être – une manière de se poser“, Salvatore Schiffer 2018 (Abs. 18). 268 269

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fühlte sich der Dandy in großstädtischen Menschenmengen wohl oder gar zuhause – „Être hors de chez soi, et pourtant se sentir partout chez soi“279. Demzufolge zeichneten den baudelaireschen Dandy Weltgewandtheit, gelegentlich auch Stolz, Narzissmus oder Gleichmut aus; daraus zog er seine starke Präsenz.280 Ein weiterer Schlüsselbegriff Baudelaires war in diesem Zusammenhang die dandyhafte „insensibilité“281, welche sinngemäß der „indifférence“282 oder „indolence“283 bei Barbey d’Aurevilly entspricht. Damit gemeint war Empfindungslosigkeit bzw. emotionale Kälte im Widerspruch zu leidenschaftlichen Regungen oder Gefühlen.284 Ein Dandy könne sich schließlich weder durch Leidenschaft noch durch Verve leiten lassen, ohne dabei seine Selbstkontrolle und damit seine Unabhängigkeit zu opfern, argumentierte man bereits in Du Dandysme.285 Der Dandyismus beruhte aber gerade auf Unabhängigkeit, im Speziellen bei Baudelaire, wenn dieser ihn als „institution en dehors des lois“286 sowie als „caste provocante“287 klassifizierte und den Dandy damit gewissermaßen zum Gesetzlosen ernannte. Neuere Publikationen, insbesondere die amerikanischen, deuteten den Dandy des Fin de Siècle deshalb auch als gesellschaftlichen ‚Outsider‘.288 Man darf jedoch nicht außer Acht lassen, dass er bei aller Originalität kein wirklicher Systemgegner und schon gar kein Umstürzler war; im Gegenteil, er befolgte gewisse Regeln, beherzigte die guten Sitten und Manieren, geradeso als bestünde darin seine persönliche Doktrin: „C’est avant tout le besoin ardent de se faire une originalité, contenue dans les limites extérieures des convenances.“289 Auf Basis der Primärtexte haben sich bereits mehrere Schlüsseleigenschaften herauskristallisiert, die für den Dandy à la Baudelaire maßgebend sind: ein aristokratischer Umkreis und Wohlstand (Luxe); Erhabenheit über das Irdische und Natürliche (Supériorité); Distinktion als logische Konsequenz von Individualismus; zurückgehend auf Brummell eine raffinierte Einfachheit der Toilette (Simplicité); ein ausgeprägter Ästhetizismus (Idée du Beau), damit verbunden eine identitätsstiftende Performanz und Selbststilisierung; perfektionierte Manieren; Blasiertheit und Kühle (Froideur) und schließlich eine unabhängige, provokante Existenz.290 Dennoch resultiert aus den genannten, sich teils widersprechenden Merkmalen immer noch eine fabelhafte, irreführende Gestalt, „le plus grand mystificateur“291, der man mit Worten nur unzureichend beikommen konnte. 279   Baudelaire 2002 – 2006, 692. Über den Peintre Constantin Guys schrieb Baudelaire außerdem: „La foule est son domaine, comme l’air est celui de l’oiseau, comme l’eau celui du poisson.“, ebda., 691. 280   Ebda., 691 und 710 f. 281   Ebda., 691. 282   Barbey d’Aurevilly/ Natta 1989, 121. 283   Ebda., 124. 284   Zur ‚Coolness‘ des Dandys vgl. Hiltrud Gnüg: Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1988. 285   Vgl. Barbey d’Aurevilly/Natta 1989, 124. 286   Baudelaire 2002 – 2006, 709. 287   Ebda., 711. 288   Vgl. Garelick 1998, 5. Bezogen auf die strittige Dandy-Rezeption bei Romaine Brooks vgl. auch Lucchesi 2001, 164, der sich auf die Forschung von Bridget Elliott und Jo-Ann Wallace stützte. 289   Baudelaire 2002 – 2006, 710. Vgl. auch Barbey d’Aurevilly/Natta (Hg.) 1989, 108 f. 290   Vgl. Baudelaire 2002 – 2006, 709 – 712. 291   Barbey d’Aurevilly/ Natta 1989, 123.

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Femme Dandy Wie beim Androgyn beruht die Mystik des Dandys auf seiner Doppeldeutigkeit in Geschlechterfragen, sodass auf beide Figuren der literarische Begriff der „hommes-femmes“292 appliziert werden kann. Allerdings gilt dies nur mit folgender Einschränkung: Noch weniger als der Androgyn hat der Dandy mit physischer Zweigeschlechtlichkeit zu tun; stattdessen rührt seine Ambiguität von den oben genannten, dandyhaften Äußerlichkeiten her. Insofern handelt es sich um eine künstlich konstruierte, ja intellektuelle Androgynie,293 um ein Rüstzeug, mit dem sich der Dandy jeder Kategorisierung, auch der geschlechtlichen und sexuellen, entziehen konnte. Dabei trieben den Dandy ursprünglich ganz andere Motive als Homosexualität, nämlich sein individualistisches Bestreben, an, welches jedoch leicht übergangen wurde – nicht zuletzt, weil entsprechende Bemühungen des Dandys ihn in der Tat effeminiert erscheinen ließen.294 Diese Nähe des Dandyismus zur Androgynie warf die Frage nach dem weiblichen Anteil des Dandys und im Weiteren nach der Möglichkeit einer Femme Dandy295 auf. Als ein exklusives, maskulines Phänomen schien der Dandyismus das Weibliche zunächst auszuklammern, gerade gemäß der baudelaireschen Definition. In Mon Cœur mis à nu stellte Baudelaire die Frau geradewegs als Konterpart des Dandys dar – aufgrund ihres vermeintlich naturnahen, vulgären Wesens.296 Schließlich personifiziere sie die Natur, den Instinkt, die Affekte, den Kreis des Lebens und die Endlichkeit  – allesamt Werte, die der Dandy ablehnte oder fürchtete und daher zu überwinden suchte. Allerdings ist diese, dem naturalistischen Geschlechterverständnis entsprungene Misogynie in einem anderen Text Baudelaires, nämlich in Le Peintre de la Vie moderne, viel weniger spürbar: Darin wird La Femme – so die Überschrift dieses Kapitels – genau wie der Dandy als sehr ästhetisch, metaphorisch und enigmatisch beschrieben. Der Akzent wird dabei auf ihre Toilette gelegt, um daran eine Éloge du Maquillage297, also ein Loblied auf das Schminken anzuschließen. Baudelaire erläuterte darin: Tout ce qui orne la femme, tout ce qui sert à illustrer sa beauté, fait partie d’elle-même. […] Quel poète oserait, dans la peinture du plaisir causé par l’apparition d’une beauté, séparer la femme de son costume?298

Gemeinsam mit der Trägerin bildeten das Kleid und der Aufputz, ebenso wie beim Dandy, eine unzertrennliche Einheit, ein harmonisches Ganzes, ein Gesamtkunstwerk.299 Sie sollten dazu dienen, sich über jene wilde, lasterhafte Natur des Menschen zu erheben, die Baudelaire für höchst verabscheuungswürdig hielt.300 Der Akt des Schmin  Barbedette/Carassou 1981, 117.   Bereits in Du Dandysme wurden Dandies im Allgemeinen als „Natures doubles et multiples, d’un sexe intellectuel indécis, […].“ umschrieben, Barbey d’Aurevilly/Natta 1989, 152. 294   Auf diesen Irrtum machte auch schon Maxime Foerster in seinem innovativen Beitrag „De l’androgynie au transgenre“ aufmerksam, vgl. Foerster 2013, 133. 295   Begriff der „femme dandy“ aus Buisson 2012, 111. Im deutschsprachigen Raum vgl. den Aufsatz von Isabell Stauffer in Ludewig et al. (Hg.) 2013, 43 – 62, sowie Gnüg in ebda., 109 – 126. 296   „La femme est naturelle, c’est-à-dire abominable. Aussi est-elle toujours vulgaire, c’est-à-dire le contraire du Dandy.“, zitiert nach Gnüg in Ludewig et al. (Hg.) 2013, 114. 297   Baudelaire 2002 – 2006, XI. Éloge du Maquillage 714 – 718. 298   Ebda., X. La Femme, 713 f., 714. 299   Vgl. ebda. 300   Vgl. ebda., 715. 292 293

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kens sei daher nicht weniger als eine weibliche Pflicht und Tugend.301 Unter Zuhilfenahme aller ihr zur Verfügung stehenden Mittel – „tous les arts et les moyens“302 – trat die sich schminkende Frau in Baudelaires Text als Pendant zum malenden Künstler in Erscheinung; durch „la peinture du visage“303 kreiere sie (sich selbst als) ihr eigenes Kunstwerk. Die Parallelisierung von Frau und Maler, von Schminke und Malerei, war auch später noch durchaus verbreitet. So plädierten Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts weiterhin für eine künstlich herbeigeführte, weibliche Schönheit, fassten diese als Kunstwerk auf und verwendeten einschlägige Begriffe wie „art de coquetterie“304, „toilette-art“305 oder, im deutschsprachigen Raum, „Toilettenkünstlerin“306. Auch ist der ‚Fachliteratur‘ aus jener Zeit zu entnehmen, dass Schminke und Mode für die Frau (noch) ein Muss darstellten, um sich über den verpönten Naturzustand zu erheben – ganz im Gegensatz zum Mann, d. h. zum Dandy, der sich solch künstlicher Hilfsmittel aus freien Stücken bediente. Doch von dieser Diskrepanz einmal abgesehen, sind die Gemeinsamkeiten zwischen beiden evident, namentlich der Goût, die Eitelkeit, der künstliche, da gestaltete Körper, das Geheimnisvolle und Inszenatorische.307 Hier wird daher nochmals an „le plaisir d’étonner“308 erinnert, der schon bei Baudelaire sowohl Dandy als auch Frau – „il faut qu’elle étonne, qu’elle charme“309 – charakterisierte. Ferner kann man auch in dem Jugendkult des Entre deux Guerres eine klare Parallele zum Dandyismus erkennen. Denn da der Dandy mit allen Mitteln versuchte, sich einer Kategorisierung zu entziehen und die Natur zu überwinden, lag es auch in seinem Interesse, Anzeichen des Alters bzw. die natürliche Degeneration zu kaschieren. Es zeigte sich soweit, dass in Le Peintre de la Vie moderne vor allem Subtext und Inter­textualität offenbaren, wie nahe sich Dandy und Frau tatsächlich standen. Barbey d’Aurevilly fand demgegenüber in Du Dandysme klare Worte,310 insbesondere in Un Dandy d’avant les Dandys, einem Nachtrag zu seiner Studie, in dem eine gewisse „Grande Mademoiselle“ (eigentlich Mlle de Montpensier) beschrieben wird: „Toujours les singularités, l’originalité, l’extraordinaire, l‘imprévu pour elle dans sa routine de high life et de princesse ! elle avait deviné le Dandysme moderne, cette femme-là ! car évidemment il est ici …“311 301   „La femme est bien dans son droit, et même elle accomplit une espèce de devoir en s’appliquant à paraître magique et surnaturelle ; il faut qu’elle étonne, qu’elle charme ; idole, elle doit se dorer pour être adorée. Elle doit donc emprunter à tous les arts les moyens de s’élever au-dessus de la nature pour mieux subjuguer les cœurs et frapper les esprits. Il importe fort peu que la ruse et l’artifice soient connus de tous, si le succès en est certain et l’effet toujours irrésistible.“, ebda., 716 f. 302   Ebda., 717. 303   Ebda. Baudelaire verwendete hier ein entsprechendes Vokabular, z. B. nannte er das Gesicht „une unité abstraite dans le grain et la couleur de la peau“ und die Augenpartie „ce cadre noir“. 304   Uzanne 1902, 10. 305  Ebda. 306   Scheffler 1908a, 61. Auch zu beachten ist unter diesem Aspekt: Uzanne 1910, Chapitre III. La Toilette à Paris, 55 – 80, insbes. 57 f. und Chapitre XVII. La Bourgeoise parisienne, 336 – 354, 347. 307   Vgl. dazu auch Lombroso 1929, 63 – 66. 308   Baudelaire 2002 – 2006, 710. 309   Ebda., 717. 310   Er verglich den Dandy mit einer Kurtisane, anschließend mit der Frau bzw. der Gesamtheit aller Frauen, vgl. Barbey d’Aurevilly/Natta 1989, 116 f. und 143: „[…]un Dandy est femme par certains côtés.“ 311   Ebda., 159. Auch zitiert in Foerster 2013, 141.

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Damit gestand Barbey d’Aurevilly auch Frauen die Fähigkeit und das Recht zu, eine dandyhafte Existenz zu führen. Bezogen auf das 19. Jahrhundert bedeutet dies, dass die damaligen Dandy-Konzepte – trotz ihrer chauvinistischen Tendenz – nicht rein misogyn oder exklusiv waren, sondern hier und da eine Hintertür offenließen. Im 20. Jahrhundert, vor allem in den 1920er-Jahren, erweiterte sich das Verständnis vom Dandy dann um den „female performer“312, d. h. den weiblichen Dandy. Unabhängig von der Femme Dandy sah Günter Erbe diesen neuen Typus betont kritisch,313 ordnete ihn als Erscheinung der Mediengesellschaft „zwischen Kunst und Kommerz“314 ein. Ohne Weiteres lässt sich von solch einer abstrakten, namenlosen Celebrity auf eine ­konkrete Femme Dandy wie zum Beispiel Tamara de Lempicka schließen.315 In dieselbe Richtung zielte auch die Forschung von Rhonda K. Garelick über Dandyism, Gender, and Performance in the Fin de Siècle, die sich auf Texte von Barbey d’Aurevilly, Baudelaire und Mallarmé bezog. Ihr zufolge hat das Dandytum den Weg für heutige Pop-Idole geebnet.316 Hier gilt es allerdings zu differenzieren, denn eine Erscheinung wie die Femme à la mode, generiert durch die zahllosen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts kursierenden Modemagazine, knüpfte mitnichten nahtlos an den Dandy alten Stils an, sondern brach mit dessen Tradition, sich selbst zu erhöhen und zu isolieren. Die Femme à la mode war schließlich fester Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft, der Öffentlichkeit und des täglichen Lebens, ganz anders als die Femme Dandy, die tatsächlich eine Nobilitierung ihrer selbst verfolgte. Oftmals war ihr Motiv derselbe Wunsch nach Einzigartigkeit oder Unbestimmtheit, der zuvor den Dandy angetrieben hatte, und anzutreffen war auch sie in intellektuellen, homosozialen Kreisen.317 Dabei trug die Femme Dandy ihren Individualismus zuallererst über den Kleidungsstil nach außen, der jenem des Fin de SiècleDandys nachempfunden war: Schwarze Hosen und ein schwarzer Gehrock, darunter ein weißes Hemd, kombinierbar mit Krawatte oder Halsbinde, das alles gekrönt von einem Zylinder, ein paar Handschuhen, einem Monokel oder Spazierstock. Da ein solches Ensemble einem Reitkostüm – im Französischen bezeichnenderweise „amazone“ – unter Umständen stark ähnelte, rief es automatisch die Amazone in Erinnerung und schürte die Assoziation mit einer mächtigen, unabhängigen Weiblichkeit. Dadurch, dass ein Großteil der Körperformen unter dem dunklen Stoff verschwand, verstärkte sich gleichzeitig der androgyne Eindruck. So gesehen war die Femme Dandy der Garçonne zwar ähnlich, ging aber modisch einen Schritt weiter als Letztgenannte:318 Ihre Garderobe war nicht bloß von der Herren  Vgl. dazu Garelick 1998, insbes. 5.   „Im 20. Jahrhundert tritt an die Stelle des ‚Herkules ohne Aufgaben‘, wie Baudelaire den Dandy nennt, ein neuer Typus: der arbeitende Dandy. Er beherrscht die Spielregeln des Marketings und hat begriffen, dass aufzufallen in einer Demokratie doppelt zählt. Er macht sich zur Marke und erfindet sich ständig neu. Dieser harmlos gewordene Provokateur mit Takt erstrebt den Zutritt zu den Kreisen der von den Massen­ medien promovierten celebrities.“, Erbe in Ludewig et al. (Hg.) 2013, 26. 314  Ebda. 315   Für mehrere vermeintliche Repräsentantinnen eines „dandysme féminin“ aus dem 20. sowie 21. Jahrhundert vgl. Schiffer 2010. 316   Vgl. Garelick 1998, Introduction, 3 – 13, insbes. 3 – 5. 317   Vgl. dazu in erster Linie Taylor 2004. Zur Femme Dandy vgl. außerdem das entsprechende Kapitel im werkbezogenen Teil dieser Arbeit, 198 ff. 318  Zur Mode à la garçonne bzw. zur Mode Chanels und zu deren dandyistischer Komponente vgl. Garelick in Fillin-Yeh (Hg.) 2001, 35 – 58; Stauffer in Ludewig et al. (Hg.) 2013, 43 – 62. 312 313

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mode inspiriert, sondern ihr im Einzelnen direkt entnommen (Zylinder oder Monokel). Dies führte dazu, dass sich die zeitgenössische Kritik entweder umso mehr an der Femme Dandy, konkret deren maskuliner Wirkung, störte oder aber monierte, dass es sich hierbei lediglich um ein Kostüm, eine Travestie handele. In der Tat ‚recycelte‘ die Femme Dandy den Dandy, doch erschöpfte sich dieses Recycling keineswegs in einer äußeren oder passiven Maskerade.319 Vielmehr teilte sie auch innere Werte des Dandys – etwa dessen Bewusstsein für Klasse und soziales Geschlecht – und agierte dementsprechend; z. B. befasste sie sich mit den schönen Künsten, verkehrte in elitären Kreisen und lebte oftmals in finanzieller Unabhängigkeit. In ihrem Falle beschränkte sich die Maskerade also nicht auf eine bestimmte Verkleidung, sondern barg auch ein aktives Moment in sich.320 Im Rückblick lässt sich für die Années folles eine recht homogene Zielgruppe des Dandyismus benennen, nämlich einflussreiche, gebildete Frauen, die entweder selbst Lesbierinnen oder mit solchen bekannt waren. In der Zeit danach allerdings tauchten besagte dandyhafte Eigenschaften nicht mehr so geballt auf, sondern höchstens in Gestalt einzelner Sängerinnen oder Filmstars.321 Hinzu kommt noch, dass die Femme Dandy bedingt durch die Modeentwicklung im 20. Jahrhundert nach und nach an Kontur verlor. Es wurden schließlich mehr und mehr Kleidungsstücke entwickelt, z. B. Jeans und T-Shirt, die für Männer ebenso wie für Frauen geeignet, also annähernd geschlechtslos waren. Wie hier demonstriert wurde, gab es weiblichen Dandyismus keinesfalls erst in der Postmoderne. Bereits die Periode der Années folles wies eine entsprechende Strömung auf; und die Theorie und Fiktion des Dandyismus, teils basierend auf realen Personen, kannte man spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Speziell die Schriften Baudelaires erwiesen sich wiederholt als eine ebenso fruchtbare wie kontroverse Quelle und förderten ein erweitertes, d. h. geschlechterunabhängiges Verständnis des Dandyismus. Dabei mündeten die künstlich herbeigeführte Effemination des Dandys sowie die Übernahme dandyhafter Moden durch die moderne Frau letztlich in die Figur der Femme Dandy.

Sappho In einem Atemzug mit Androgynie wurde ebenfalls die gleichgeschlechtliche Liebe unter Frauen, die sogenannte sapphische Liebe, erwähnt. Für dieses Phänomen, das im 18. und erst recht im 19. Jahrhundert umfassend von Wissenschaftlern sowie Medizinern erforscht worden war,322 kannte man unterschiedliche Paraphrasen: Lesbos, Niemandsland, Sodom und Gomorrha, drittes Geschlecht.323 Dabei schien man von der fraulichen Homosexualität geradezu fasziniert, wie einige belletristische Werke aus der Zeit um die Jahrhundertwende nahelegen – darunter Alphonse Daudets Sapho (1884) oder das fik319   Der Schlüsselbegriff des Recyclings bezeichnet hier die kreative Wiederverwendung des mit dem Dandy verknüpften Images, vgl. dazu auch Elliott/Wallace 1992, 24 und Taylor 2001, 2. 320   Zur Definition und Differenzierung von Maske und Maskerade vgl. Lehnert 1997, 36 – 38. 321   Vgl. hierzu Schiffer 2010. 322   Vgl. dazu Bonnet 1995, La Naissance de l’Homosexuelle, 274 – 306. 323   Vgl. Brassaï 1976, 167 und 171; Drost 2003, 172.

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tive Journal d’une Saphiste von Charles Montfort (1902).324 Derartige Buchtitel ließen die Lesbe zu einer literarischen Kultfigur avancieren und verankerten sie nebenbei im normalen Sprachgebrauch; allerdings haftete ihr, selbst in La Garçonne von Margueritte, ein negativer Beiklang an. War sie im Vorfeld als Frau mit einer die Familie zerstörenden Erotik dargestellt worden, erschien die Lesbe à la Margueritte harmlos und ohne jene destruktive Kraft als „ein einer Krankheit vergleichbares, vorübergehendes Phänomen“325. Beinahe zeitgleich trat 1921 mit Sodome et Gomorrhe326 von Marcel Proust ein literaturhistorisches Novum auf den Plan: die Figur des homosexuellen Mannes. Dazu Barbedette und Carassou: „Cette révolution littéraire […] annonce une période histo­ rique où l’homosexualité passe de la dénégation au demi-aveu, de la réserve à l’affirmation de soi ; […]“327. Nach Proust sollten sich weitere namhafte französische Autoren – Jean Cocteau, Maurice Sachs, Michel du Coglay, François Mauriac, André Gide und René Crevel – in teils stark autobiografisch beeinflussten Werken mit männlicher Homo­ sexualität befassen. Sie trachteten gemeinsam mit Persönlichkeiten aus Malerei und Musik danach, andere Homosexuelle zu ermutigen;328 gleichwohl wurde ihre eigene Neigung noch lange tabuisiert und nur im Verborgenen ausgelebt.329 Unterdessen war weibliche Homosexualität, die in dieser Arbeit vorrangig interessiert, öffentlich präsenter. Nicht nur hatten sich seit Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Frauen der Schriftstellerei gewidmet, sondern sich gleichzeitig auch Sappho zum Vorbild genommen – in persönlicher ebenso wie in literarischer Hinsicht.330 Die antike Dichterin war in jener Epoche eingehender bekannt geworden, begleitet von einer allgemeinen Animosität gegenüber ihrer Sexualität.331 Nur die intellektuellen Kreise tolerierten oder unterstützten das durch sie verkörperte Ideal der persönlichen und sexuellen Freiheit; so machten sich u. a. Renée Vivien und Anna de Noailles für das Œuvre Sapphos sowie für dessen Verbreitung stark.332 Beherrschendes Thema ihrer Bücher bildete der „amour au féminin“333 als alternative Lebensform innerhalb patriarchalischer Gesellschaften. Dabei wurde die Liebe zwischen zwei Frauen stets als unschuldig und rein angesehen oder – wie in George Sands Erzählung Lélia334– sogar mit geschwister­ licher Liebe gleichgesetzt. Ein ähnlich harmloses Bild erzeugte die parallele Kunst,335 wohingegen sie zum Ende des 19. Jahrhunderts auch Darstellungen hervorbrachte, die stärker erotisch gefärbt waren.336   Für eine Übersicht über einschlägige Bucherscheinungen vgl. Bonnet 1995, 266.   Drost 2003, 180. 326   Marcel Proust: Sodome et Gomorrhe, Paris: Gallimard 1921. Zur Relevanz dieses Romans für die Geschichte der Homosexualität vgl. Barbedette/Carassou 1981, 112 – 117. 327   Ebda., 114. 328   „On trouvait un encouragement dans le fait que tant de personnages illustres étaient homosexuels.“, Daniel Guérin, zitiert nach ebda., 51. 329   Vgl. Brassaï 1976, 171. 330   Vgl. Drost 2003, 175. 331   Zur Figur der Sappho vgl. Bonnet 1995, Introduction, 11 – 20. 332   Vgl. Drost 2003, 175. 333   Bonnet 1995, 224. 334   George Sand: Lélia, Paris: Henri Dupuy 1833. 335   Z. B. Gustave Courbet, Les Demoiselles aux Bords de la Seine, 1857, Öl auf Leinwand, Petit Palais, Paris, vgl. Eva und die Zukunft, Ausst.-Kat. 1986, Kat. 181. 336   Z. B. ders., Le Sommeil, 1866, Öl auf Leinwand, Petit Palais, Paris, vgl. ebda., Kat. 182. 324 325

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Wann genau sich damals die ersten Pariserinnen offen zur Homo- oder Bisexualität bekannten, ist bislang nicht eindeutig geklärt; doch ohne Zweifel ging die Verbreitung weiblicher, homosozialer Beziehungen vom Pariser Literaturbetrieb aus.337 Gertrude Stein, Natalie Clifford Barney und Sylvia Beach machten, zusammen mit ihren Gefährtinnen, das einst illegitime Lesbentum mehr und mehr gesellschaftsfähig und instituierten es in der modernen Großstadtkultur.338 Diese „vie culturelle nouvelle“339 beruhte auf dem Dreiergespann aus Sapphismus, Feminismus und Avantgarde, wenngleich sich der Vorstoß von den homo- oder bisexuellen Künstlerinnen noch etwas hinauszögerte. Erst in den zwanziger und dreißiger Jahren entstanden die berühmten, einschlägigen Bildnisse von De Lempicka, Brooks, Chana Orloff oder Louise Janin; zeitgleich schuf Laurencin ihren Sappho-Zyklus, in dem sie Sappho als Muse und Identifikationsfigur verewigte. „[…] ce matin j’espère terminer la dix-huitième gravure de Sapho.“, schrieb Laurencin 1928 an ihre Freundin Natalie Clifford Barney, und ihrem Brief zufolge sollten am Tag darauf „[…] encore quatre gravures pour Sapho“340 folgen. Die anscheinend enge Verbindung zwischen Sappho-Kult und Kunstszene erwähnten außerdem die lesbische Malerin Hélène Azénor und die Autorin Maryse Choisy.341 Anders als in der bürgerlichen Gesellschaft, der solche „ménages de Lesbos“342 eindeutig missfielen,343 seien gerade in den Reihen der Künstlerinnen und Intellektuellen etliche Lesbierinnen anzutreffen.344 Dabei hätte eigentlich auch die breite Pariser Öffentlichkeit mit diesem Thema vertraut sein müssen, war es doch in der Literatur, Kunst und Dramaturgie von damals durchaus präsent, z. B. in dem 1924 in Paris aufgeführten Stück Les Biches, das einen Tribut an den Mythos der Diana und an die dem Sapphismus zugeneigte Demimonde bildete.345 Les Biches brachte dabei vor allem junge Frauen auf die Bühne, als Paare tanzend und ausgestattet mit fantasievollen Tierkostümen aus der Hand Laurencins.346 Weibliche Homosexualität war damit in der Welt der Literatur, der Bildenden und Darstellenden Kunst mindestens geduldet, teils sogar willkommen. Wo aber befand sich im realen Leben das erwähnte „Paris-Lesbos“347? Dieses traf man, wie bereits angedeutet, vor allem in den literarischen Salons an der Rive Gauche an.348 Frauen kamen dort mit   Die Angaben, zu welchem Zeitpunkt homosexuelle Beziehungen publik gemacht wurden, reichen vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu den zwanziger Jahren, vgl. Duby/Perrot 1995, 99; Bard 1997, 84; Drost 2003, 177. 338   Bonnet titulierte es dementsprechend als „[…] une composante constitutive du mouvement culturel des années vingt“, Bonnet 1995, 318; vgl. auch dies. 1998, o. S. 339   Bonnet 1995, 313. 340   Laurencin (18. 07. 1928): Brief an Natalie Clifford Barney, BLJD, Fonds Natalie Clifford Barney, NCB C1236 und NCB C 1237. 341   Vgl. Hélène Azénor im Gespräch mit Gilles Barbedette, zitiert nach Barbedette/Carassou 1981, 71; Choisy in Divoire 1927, 202 f. 342   Rachilde 1928, 57. 343   „Pour le grand public, on était toutes des vicieuses, des dégueulasses ! Seule une certaine élite échappait à cette situation.“, Azénor zitiert nach Barbedette/Carassou 1981, 71. 344   Vgl. Choisy in Divoire 1927, 203. 345   In Auftrag gegeben wurde Les Biches von Diaghilev, die Choreografie stammte von Nijinsky, die Musik von Francis Poulenc, vgl. Bonnet 2000, 208. 346   Vgl. ebda., 208 f. 347   Bard 2001, 125; Van Norman Baer in Jeschke (Hg.) 1997, 44. 348   Vgl. hierzu Morineau 2010, Les femmes et la scène littéraire: Paris Rive gauche, 38. 337

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einer schöngeistigen, gelehrten Gesellschaft zusammen, wodurch ihnen der Einstieg in die Berufswelt erleichtert wurde. Meist betrieben diese Salons wohlhabende Pariserinnen, die sogenannten Salonnières bzw. Salonfrauen.349 Ein beispielhafter Salon war sicherlich der Temple de l’Amitié, veranstaltet von Clifford Barney in ihrem Wohnsitz in der Rue Jacob Nr. 20.350 Wie der Name schon andeutet, pflegte man hier vor allem die abendländische Geselligkeitskultur und platonische Beziehungen.351 Dies gilt es hervorzuheben, da die Salonnière, berüchtigt für ihren offensiven Umgang mit Homosexualität, als „most active and candid lesbian of her day“352 galt. Clifford Barney selbst sprach allerdings von Werten wie Gemeinschaft und Freundschaft, die sie als hohes, unverzichtbares Gut anerkannte.353 Dementsprechend handelte sie zugunsten junger Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und Musikerinnen, wenn sie diese bei sich zuhause empfing oder jahrelang mit ihnen korrespondierte.354 Der Verdacht, dass Clifford Barney, die jahrzehntelang mit Brooks liiert war, mit weiteren Gästen sexuelle Beziehungen unterhielt, ist vielleicht nicht abwegig, doch entbehrt er meist handfester Beweise, wie im Falle von Laurencin, der man u. a. eine Liaison mit Clifford Barney nachsagte.355 Respekt, Hochachtung, Sympathie oder Dankbarkeit, die die meisten homosozialen Beziehungen ausmachten, wurden vermutlich leicht in eine homo­ sexuelle Verbindung uminterpretiert;356 dazu kam noch die Angst der männlichen Zeitgenossen vor einer von Frauen dominierten „cité de femmes“357. Den Salons mit ihren sozialen, gemeinnützigen Absichten standen bald darauf Tanzlokale, Brasserien, Bars und Clubs gegenüber, die man aufgrund ihrer ausschließlich weiblichen Klientel als „boîtes à femmes“358 bezeichnete. Namentlich zu erwähnen sind Nachtclubs wie Chez Suzy Solidor, Le Monocle  – wohl eine Anspielung auf das gleichnamige, damals gefragte Accessoire – oder Le Bœuf sur le Toit.359 Dieses auf dem 349   Laut De Vilmorin gab es für die Vorherrschaft der Frauen in der Salonkultur einen triftigen Grund: „La femme qui signe sur un salon littéraire abolit les distances, comble les espoirs et met l’ombre en présence de la lumière. Elle invite de jolies femmes à applaudir les gloires consacrées, à sourire aux gloires futures et à faire soupirer les unes comme les autres. […] Chacun y trouve son compte et chacun est flatté […]. Seules les femmes ont su faire au génie ces cadeaux-là.“, Vilmorin (1949): Salons littéraires, erschienen in l’Almanach des Lettres (1949). BLJD, Fonds Louise de Vilmorin, Ms 18950. 350  Zum Temple de l’Amitié vgl. Morineau 2010, 38; Müller 2013, 40 – 45, insbes. 40. 351   Vgl. Bonnet 1995, 260 f. 352   Benstock 1986, 8. 353   „L’amitié est peut-être un sentiment d’importation pour lequel la plupart des Français ont peu de goût. Enclins aux jouissances matérielles ou abstraites, il ne leur reste aucune place pour cette extravagance“, Natalie Clifford Barney (30. 7. 1956), BLJD, Fonds Natalie Clifford Barney, NCB C2 2664, 8 f. 354   Zu ihren regelmäßigen Gästen zählten die Schriftstellerin Rachilde, die Tänzerin Ida Rubinstein, die Buchhändlerinnen Sylvia Beach und Adrienne Monnier sowie die Malerinnen Laurencin und Brooks, vgl. Bonnet 1995, 263. Zu weiteren (männlichen) Gästen vgl. Müller 2013, 41. 355   Vgl. Bonnet 2000, 180. Einzelne Passagen in Laurencins Briefen an Barney zeugen zwar von großer Bewunderung, sind dabei aber nie eindeutig sexuell konnotiert, etwa sprach sie Barney als „mon cher guide“ an (Laurencin (o. J.), BLJD, Fonds Natalie Clifford Barney, NCB C 1233) oder versicherte ihr „je suis seulement votre Marie“ (NCB C 1238); vgl. auch NCB C 1243. 356   Vgl. z. B. einen Brief, in dem Rachilde ebenfalls klar als Vorbild oder Mentorin der jüngeren Monnier angesprochen wird, Monnier (13. 12. 1913). 357   Charles Maurras, zitiert nach Drost 2003, 179. 358   Z. B. Brassaï 1976, 162. 359   Vgl. Barbedette/Carassou 1981, 25; Drost 2003, 149 f.

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Montmartre gelegene Lokal frequentierten u. a. Künstler/-innen, Schriftsteller/-innen und Philosoph/-innen, wodurch es ein repräsentativer Treffpunkt der zeittypischen Demi­monde wurde. Im Bœuf sur le Toit erschienen Frauen „en tailleur“360, also im Herrenanzug, neben solchen „couvertes de perles et de diamants“361. So zurechtgemacht erschienen auch die homosexuellen Gäste der öffentlichen Bals musette, die an unterschiedlichen Stellen im Pariser Stadtgebiet veranstaltet wurden,362 und verschleierten damit ihre Geschlechtszugehörigkeit. „Je pense à ces bals où le travesti est prétexte à corriger la nature.“, schrieb dahingehend der Surrealist René Crevel über die Bals musette, „Les femmes apparaissent sans hanche ni poitrine. […] Hommes, femmes? On ne sait plus.“363 Doch bildeten nicht ausschließlich die „boîtes à femmes“ und Bals musette einschlägige Treffpunkte – daneben ergaben und entwickelten sich Bekanntschaften zwischen Frauen im urbanen Raum, in Foyers von Filmpalästen, im Theater, im Varieté, in der Oper.364 Der Sapphismus war in den Années folles, zumal in Paris, nicht länger der sybillinische Mythos, als den ihn die Literatur vormalig zelebriert hatte. Er ging nun in die öffentliche Sphäre über und avancierte, gekoppelt an die neue allgemeine Freizügigkeit, gar zu einer Modeerscheinung. Seinen Exklusivitätsanspruch büßte der Amour au féminin schließlich ein, „[p]arce que c’est la mode.“365, wie eine Protagonistin in der 1925 erschienenen Éloge de la Marquise de Beausemblant von Paul Morand bemerkte. Gerade in der modernen Medienöffentlichkeit wurde der Sapphismus nun auf körperliche Liebe oder Äußerlichkeiten, etwa einen dandyhaften Kleidungsstil, reduziert. Von dem reinen Geist der sapphischen Liebe, wie einst von George Sand in Lélia gepriesen, war hier kaum noch etwas zu spüren.366

Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass nicht bloß der Sapphismus, sondern der Geschlechterbegriff als solcher zwischen Fin de Siècle und Entre deux Guerres einen bedeutenden Wandel erlebte. Relativ abrupt bekamen die in der schöngeistigen Literatur des 19. Jahrhunderts verbreitete Idealisierung des Dandys und der Sappho-Kult eine reale Dimension, welche sie lange Zeit entbehrt hatten. „Pour la première fois dans l’histoire, les femmes s’aiment au grand jour, ou presque.“367, fasste Bard diese neue Realität zusammen. Interessant zu beobachten war dabei, wie Wahrnehmung und Terminologie sich gleichzeitig verschoben: Androgynie, historisch eigentlich auf den effeminierten Mann bezogen, so wie bei Baudelaire und dessen Vorgängern, wurde nun vor allem auf Frauen angewandt, die sich (für bourgeoise Begriffe) unweiblich gerierten. Gleichzeitig   Maurice Sachs: Le Sabbat, Paris: Gallimard 1946, 72, zitiert nach Barbedette/Carassou 1981, 31.  Ebda. 362   Zu den Bals musette vgl. Carco 1927, 47 – 67; Barbedette/Carassou 1981, 21 – 24. 363   Crevel: Mon Corps à moi, Paris: Éditions du Sagittaire 1926, 54. Dieser Passus wurde zuvor bereits zitiert in Barbedette/Carassou 1981, 19. Anschauliche Kostümbeispiele liefert ein Bildteil, ebda., o. S. 364   Vgl. Drost 2003, 152 f. 365   Morand: L’Europe galante, Paris: Grasset 2013 (Originalausgabe 1925), 207 – 220, 215. 366   Die Ausnahme blieb die einschlägige Literatur von einzelnen Frauen wie z. B. der Roman Le Pur et l’Impur (1932) von Colette, vgl. dies. 1991, insbes. 616 f. 367   Bard 1997, 84. 360 361

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Die Garçonne

diskutierte man über potenzielle Mischwesen, Doppelgeschlechtlichkeit und ein drittes Geschlecht, was – auf sprachlicher Ebene – nochmals unterstreicht, wie heftig damals das tradierte Verständnis von maskulin und feminin erschüttert wurde. Die Wortneuschöpfung Femme Dandy begründete nicht zuletzt einen neuen Frauentypus mit einer, wie sich in der historischen Betrachtung herausstellte, eigenen, langjährigen Tradition. Sie reicht gar bis ins 21. Jahrhundert hinein, wenngleich ihr Schwerpunkt eindeutig in den zwanziger bis vierziger Jahren lag. Dank ausgewählter Beispiele aus der Literaturgeschichte, namentlich von Baudelaire, konnte zudem demonstriert werden, dass Dandyismus und Weiblichkeit einander mitnichten ausschlossen, sondern in vielerlei Hinsicht miteinander harmonierten. Das in dieser Beziehung wichtigste Attribut war sicher die dandyhafte Mode. Denn insofern diese maskierend oder, im Extremfall, travestierend wirkte, ging sie über das oberflächliche Moment von Mode hinaus und diente der sexuellen Verfremdung bzw. dem Rollentausch. Dabei blieb sie kein marginales Phänomen, sondern, wie die Historikerin Guyonne Leduc klarstellte, „un lieu commun de l’imaginaire“ 368. Und so fand auch die damalige Porträtmalerei rasch Mittel und Wege, das Phänomen der Travestie aufzugreifen – etwa in Gestalt von berühmten Salonnières oder Femmes Dandy, deren Porträts die Theorie im Weiteren illustrieren und ergänzen werden.

Die Garçonne Wie die vorigen Abschnitte bereits schilderten, war das Entre deux Guerres eine Epoche mit ungewöhnlich vielen Weiblichkeitsvorstellungen. Dabei stand mit der Garçonne eine Erscheinung oder eher eine Identität im Zentrum, die eng mit dem parallelen Aufleben des Sapphismus zusammenhing. Nachdem 1922 der gleichnamige Roman von Victor Margueritte erschienen war, erlebte die Garçonne einen epochalen Triumph, u. a. be­­ feuert durch den publizistischen Skandal, den das Buch in Frankreich auslöste.369 Zur Mode, zur Alltagskultur, zum Stadtbild gehörte die Modefigur fest dazu; selbst auf den Wortschatz nahm La Garçonne erheblichen Einfluss: Während nämlich der Ausdruck „garçonne“ zuvor primär auf das noch androgyne Äußere eines jungen Mädchens bezogen war,370 trug er infolge der Publikation eine tiefergehende Bedeutung, nämlich „Jeune fille ou femme qui revendique ou prend les allures et libertés d’un garçon“371. Derart konnotiert und im allgemeinen Sprachgebrauch verankert, wurde die Garçonne mannigfach nachgeahmt, bevor sie im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte sogar zum Gegenstand der französischen Wissenschaft wurde.372 Autorinnen wie Anne Manson oder Christine Bard betonten die breite Wirkung von Marguerittes Fiktion, die letztlich die   Leduc 2006, 13.   Vgl. Sohn 1972; Drost 2003, Der Roman im Spiegel seiner zeitgenössischen Kritik, 111 – 126. 370   Seit ca. 1880 war der Terminus derart belegt, etwa in den Croquis parisiens oder wenig später dem Bestseller-Roman Là-bas (1891), beide von Joris-Karl Huysmans. Vgl. Lemma Garçonne, in Imbs (Hg.) 1981, Bd. 5, 81. 371  Ebda. 372   Erste kürzere Untersuchungen lieferten Manson 1958, Sohn 1972 und Gontier 1976; gefolgt von Bernier 1990 und Bard 1997. 368 369

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Namensgeberin für einen Kleidungs-, Frisuren- und auch einen Lebensstil à la garçonne war.373 Die bisherigen Erkenntnisse aus Literaturwissenschaft und Romanistik können und sollen dabei gerade auch von der Kunstgeschichte aufgegriffen werden, verfügt diese doch seit je über zahlreiche Beispiele für Weiblichkeitsmythen und eben auch für Garçonnes. Das folgende Kapitel widmet sich daher dem Phänomen der Garçonne in den Medien und der Wirklichkeit und evaluiert ihren gesellschaftsgeschichtlichen Wert in Verbindung mit der Femme Nouvelle. Um La Garçonne dabei korrekt verorten zu können, wird zunächst erklärt, worin die Brisanz dieses Schlüsselwerkes und seine Bedeutung für den französischen Frauenroman bestehen.

Literaturhistorischer Kontext Ein paar der hier als literarische Vorläufer von La Garçonne zitierten Buchtitel fanden im Vorigen bereits Erwähnung, nicht so Paris impur von Charles Vimaire (1889), Adolphine, la Lesbienne von Albert Cims (1891), Le Journal d’une Saphiste von Charles Montfort (1902) sowie Du Mariage (1907) von Léon Blum, worin ebenfalls die Geschichte ­einer „vie de garçon“374 erzählt wird.375 Namentlich Blums Theorien erscheinen in La Garçonne als intertextuelles Zitat,376 während der Roman Les jeunes Filles (1908) von Margueritte selbst mit der Hauptfigur Hélène Nayrtal eine konkrete Vorläuferin der Monique Lherbier alias La Garçonne lieferte.377 Rund ein Jahrzehnt später, zu Beginn des Entre deux Guerres, spitzte sich die Thematisierung des neuen Frauenbildes schließlich zu, etwa als Charles-Étienne mit Notre-Dame de Lesbos378 eine Art Sittenroman vorlegte, der offenbar für den Sapphismus, für die weibliche Emanzipation und gegen die Bigotterie des Bürgertums plädierte.379 Einen weiteren Konkurrenzroman verfasste Marcel Prévost just im selben Jahr wie La Garçonne. Sein Werk Les Don Juanes hatte ebenfalls einen spielerischen Titel, und auch die Art, wie seine Hauptfigur Hilda ihre Sexualität handhabt, erinnert stark an die marguerittsche Heldin. Prévost selbst charakterisierte sie wie folgt: „Hilda est une don Juane: elle a passé outre la morale des sexes, elle s’est satisfaite dans le plaisir aussi ingénument, aussi cyniquement, si vous voulez, qu’on se satisfait à table, à beaucoup de tables. Elle a appelé ça aimer.“380   Im deutschsprachigen Raum brachte man der Garçonne hingegen geringes Interesse entgegen. Erst die Romanistin Julia Drost leistete 2003 mit ihrer Publikation La Garçonne. Wandlungen einer literarischen ­Figur die lange ausstehende, umfängliche Studie (Drost 2003), gefolgt von einem Sonderband aus der Reihe Querelles über Garçonnes in Berlin und Paris, der die literarische Figur in beiden Sprachräumen verstärkt in den Fokus der Genderforschung rückte, vgl. Bung/Zimmermann (Hg.) 2006(=Querelles, 11). 374   Gontier 1976, 79. 375   Für ein kurzes Exposé vgl. Gontier 1976, 26. 376   Vgl. Sohn 1972, 5; Drost 2003, 58 f. 377   Vgl. Drost 2003, 46. 378   Charles-Étienne: Notre-Dame de Lesbos. Roman de Mœurs, Paris: Librairie des Lettres 1919. 379   „Émancipation d’une éducation homophobe, d’une image de femme aliénante et d’une bourgeoisie qui met l’hypocrisie au rang de valeur sociale à défendre. Pour la première fois dans un ‚roman de mœurs‘ lesbien, la révolte gronde contre la bourgeoisie,“ Bonnet 2000, 192 f. Eine entgegengesetzte Interpretation dieses Romans, nämlich als Plädoyer contra den Sapphismus, vertrat Julia Drost, vgl. dies. 2003, 173 und 180. 380   Prévost 1925, 50. 373

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Trotz des immensen Erfolgs von Les Don Juanes blieb La Garçonne auf lange Sicht das verkaufsstärkere der beiden Werke.381 Es war über Jahre so beliebt, dass man bis 1934 drei Neuauflagen herausbrachte und sich allein in Frankreich während der zwanziger Jahre weit über eine Million Exemplare von La Garçonne verkauften.382 Damit sollte dieser Roman in der Tat zu einem Werk werden, „qui marquera de son empreinte la période littéraire actuelle“383, so wie es der verantwortliche Verlag angekündigt hatte. Konkret handelt es sich bei La Garçonne um die junge, aus wohlhabender Familie stammende Monique Lherbier. Ihre wechselvolle Lebensgeschichte wird in drei Teilen erzählt: zunächst Kindheit und Jugend bis zu jenem Moment, als Monique mit ihrem Elternhaus, stellvertretend für bourgeoise Traditionen, bricht.384 Darauf folgt die Schilderung einer von Unabhängigkeit und Ausschweifungen, aber auch von Depressionen geprägten Lebensphase,385 bevor Margueritte seine Protagonistin im dritten und letzten Teil den für sie bestimmten Ehemann heiraten und ins großbürgerliche Milieu zurückkehren lässt.386 Monique Lherbier sahen Autoren als Musterbeispiel für weibliche Intuition, Unabhängigkeit und Freizügigkeit;387 dabei trifft diese Charakterisierung freilich nur auf ihre rebellische Lebensphase zu, denn zu einem späteren Zeitpunkt verkehrt die Garçonne ihr verwegenes Verhalten ins Gegenteil und geht dadurch wieder mit gutbürgerlichen, weiblichen Idealen konform.388 An dieser Stelle seines Romans ist Marguerittes Tonfall äußerst positiv und gravitätisch, seine inhaltliche Aussage damit klar: Moniques Leben à la garçonne sei ein vorübergehender Zustand gewesen, wohingegen sie nun, in ihrer künftigen Rolle als Ehefrau und Mutter, endlich zu sich selbst gefunden habe. In den beiden folgenden Werken Le Compagnon (1923) und Le Couple (1924) spann Margueritte die Lebensgeschichte Moniques in dieser Richtung weiter und rückte sie mehr und mehr von der Garçonne ab. Für den so entstandenen, dreiteiligen Zyklus La Femme en Chemin bildete La Garçonne laut Margueritte lediglich den Auftakt. „La Garçonne n’est qu’une étape dans cette marche inévitable du Féminisme, vers le but magni­ fique qu’il atteindra.“389, informierte er diesbezüglich seine Leser im Vorwort zum ­Roman. Dass man hier auf das Wort „Féminisme“ stößt, erstaunt vor dem Hintergrund des eben Gesagten, und man fragt sich, welchen Beitrag ein Werk wie La Garçonne tatsächlich zum Feminismus leisten konnte.   Zu den Verkaufszahlen beider Romane vgl. Sohn 1972, 8 f.   Vgl. Sohn ebda.; Bard 1997, 79. 383   Zitiert nach Manson 1958, 119. 384   Vgl. Margueritte 1925, 1 – 138. 385   Vgl. ebda., 139 – 265. 386   Vgl. ebda., 266 – 386. Eine Zusammenfassung der Romanhandlung findet sich z. B. bei Bernier 1990, 157 f. 387   Exemplarisch Perrot 1981, 230. 388   „Soubresauts de l’inconscient, où la Monique transitoire, celle qui avait gaspillé son esprit et sa chair, achevait de disparaître, et où la Monique nouvelle, toute semblable à celle qui s’était ouverte avec tant de confiance à la vie, – commençait peureusement à s’épanouir./Elle avait retrouvé son âme de fiancée, avec une ardeur plus grave sous le même primesaut, tendre et gamin. Mais, inconsciemment, dans son allure assagie, dans sa réserve charmante, une apparence plus féminine se manifestait.“, Margueritte 1925, 375.  389   Margueritte 1923, Note de l’auteur, V – VIII, VIII. 381 382

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La Garçonne – Wegbereiterin des Feminismus? Ginge man einzig von ihrer breiten Wirkung aus, ließe sich die Romantrilogie Maguerittes, inklusive La Garçonne, durchaus im Zeichen des Feminismus interpretieren. Schließlich rührte kaum ein anderer Trivialroman im Entre deux Guerres derart vehement an der damals heftig diskutierten Frauenrolle. Zusätzlich spricht auch die persönliche Wahrnehmung des Autors, der sich selbst als Protektor der Frauenbewegung sah,390 für einen feministischen Anspruch des Romans. Indes: Studiert man den Inhalt, erst recht das Finale von La Garçonne, Le Compagnon und Le Couple, dann erscheint es, wie bereits angedeutet, höchst ungewiss, ob Margueritte wirklich gegen eine sexistische Gesellschaftsordnung anschrieb: Schlussendlich kehrt Monique Lherbier in das konventionelle, bürgerliche Leben zurück, dem sie anfangs voller Entschlossenheit entflohen war;391 sie heiratet den für sie vorgesehenen Mann, da sie – so der Eindruck – sich nicht länger gegen den von Gesellschaft und Familie ausgeübten Druck zu verteidigen vermag. Auf diese Weise manövrierte Margueritte seine Identifikationsfigur im Verlauf des Romanzyklus’ gezielt zurück in eine dem Mann unterlegene Position. Margueritte erkennt das Prinzip der Gleichheit zwischen Mann und Frau formal an, läßt den Mann letztendlich jedoch als den Stärkeren, den Retter, den moralisch Überlegenen erscheinen, ohne den die Frau nicht überleben kann. In Entsprechung hierzu wird auch die Liebe zwischen zwei Frauen nicht als ernstzunehmender Lebensentwurf dargestellt, […]392

Dies legt den Verdacht nahe, dass Margueritte alternative Lebenskonzepte und Partnerschaften, wie diejenigen seiner Garçonne, eher kritisch betrachtete. Des Weiteren lässt die Entwicklung Moniques darauf schließen, dass ihr Schöpfer ein ganz eigenes Verständnis von Emanzipation und Feminismus hatte, dass er darunter eine Befreiung von den wechselnden Moden verstand, wozu ja insbesondere die Manier à la garçonne sowie der Sapphismus zählten. Als Teil von La Femme en Chemin lässt La Garçonne sich nur aufgrund formaler Kriterien als (feministisch motivierter) Roman à Thèse betrachten.393 Sein Inhalt birgt hingegen manch einen Widerspruch zum sozialpolitischen Engagement Marguerittes und erscheint partiell sogar eher im Widerspruch zu der zitierten „marche inévitable du Féminisme“394.

  Vgl. ebda. sowie Margueritte 1933, Avant-Propos, V – VIII, V. „On apercevra tôt ou tard combien, jalons de la route parcourue, les six volumes de mes trilogies : La Femme en Chemin et Vers le Bonheur ont servi, en l’orientant, l’émancipation de notre compagne.“ 391   Vgl. z. B. Moniques Standpunkt zur Eheschließung in Magueritte 1925, 338: „Le mariage ! Jamais ! Avec Régis moins encore qu’avec tout autre … Libre elle était, libre elle resterait ! Aussi bien qu’est-ce que cette légalisation, en soi, pouvait désormais lui apporter ?… Qu’ajoutait-elle aux unions heureuses ? Rien ! Et aux autres? La corde au cou …“ 392   Drost 2003, 68. 393   Bard 1997, 85: „La Garçonne, par son caractère lourdement démonstratif, appartient bien à la tradition du roman à thèse féministe […]“ ; an diese literaturhistorische Einordnung knüpfte Drost an, vgl. Drost 2003, z. B. 55. 394   Margueritte 1923, VIII. 390

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L‘Affaire Margueritte Schon während der ersten Monate nach dem Erscheinen war La Garçonne mit über hundert Artikeln in der französischen Presse vertreten; jene spaltete sich dabei in einen affirmativen, linksliberalen Flügel und eine sehr kritische, rechte Fraktion, der auch christlich orientierte Zeitungen wie La Croix angehörten.395 Der pornografische Inhalt und der moderne Geist, die Marguerittes Roman angeblich offenbarte, versetzten die damalige Gesellschaft nicht minder in Aufruhr als zuvor Madame Bovary von Gustave Flaubert. In der Konsequenz wurde ihm die Légion d’Honneur entzogen und La Garçonne durch die katholische Kirche verfemt. Grund hierfür war vermutlich die Angst davor, die Fiktion könnte rasch zur Wirklichkeit werden, sollte sich die Jugend als empfänglich für den Lebensentwurf à la garçonne erweisen. Dies zu verhindern, lag im Interesse sowohl des politisch konservativen als auch des klerikalen Lagers. Aus den entsprechenden Pressekommentaren gewinnt man den Eindruck, die Generation der zwanziger Jahre wäre, ausgelöst durch die Causa Margueritte, in eine „Crise Erotique de Notre Epoque“396 gestürzt worden. Allerdings befanden sich die damaligen Schriftsteller und Intellektuellen in einem Zwiespalt: Teils hielten sie die u. a. in La Garçonne geschilderten Zustände für sehr realitätsnah,397 teils wollten sie darin nichts weiter als die kruden Fantasien des jeweiligen Autors gespiegelt sehen.398 Fest steht, dass in den Medien, aber auch durch die Illustrationen Van Dongens sowie durch bestimmte Adaptionen in Theater und Film, zu jener Zeit eine starke Erotisierung der Garçonne stattfand. Diese machte aus ihr nicht nur ein Vorbild, sondern, wie die Affaire Margueritte zeigte, vorübergehend auch eine Skandalfigur, die damals ihresgleichen suchte.

Die Mode à la garçonne Or chaque époque a, pour ainsi dire, son type de la femme, sa conception de beauté en harmonie avec sa vie. Ce qui ne veut pas dire du tout qu’ainsi la beauté même soit atteinte et réalisée. Par exemple, notre époque a moins le souci des formes plastiques que de l’allure masculine et libre, avec un visage de poupée sur un corps d’adolescent.399

395  Zur Affaire Margueritte vgl. soweit nicht anders vermerkt Sohn 1972; Bernier 1990, 158 – 161; sowie Drost 2003, Der Roman im Spiegel seiner zeitgenössischen Kritik, 111 – 126. 396   Überschrift aus Die Literarische Welt (1930), vgl. Brief des Pariser Korrespondenten der Zeitschrift, Jean R. Kuckenberg, an Rachilde, 13. April 1930, BLJD, Ms 22135. Vgl. dazu auch das Antwortschreiben von Rachilde, 14. April 1930, ebda. 397   Anatole France schrieb diesbezüglich in einem offenen Brief an die Vertreter des Ordre national de la Légion d’Honneur, abgedruckt in Margueritte 1923, IX f., X: „Victor Margueritte a peint, dans ‚La Garçonne‘, la société que la guerre a faite ; […]. A mon sentiment, le peintre est resté, dans ses tableaux, bien en deçà de la réalité.“ 398   Vgl. das Antwortschrieben von Rachilde an Jean R. Kuckenberg, 14. April 1930, BLJD, Ms 22135: „Il n’y a pas de crise érotique à notre époque […]. Vous prenez les récits romanesques pour les documents et les idées des auteurs pour la manière de vivre d’un peuple ou d’une élite.“ Zur Stimmungslage und zu besagter Sittenkrise vgl. auch Barbedette/Carassou 1981, 125 – 128. 399   Jéglot 1931, 26.

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Mit diesen kritischen Tönen über die „allure masculine“ spielte Cécile Jéglot auf die Mode à la garçonne an, die sich während der Zeit des Entre deux Guerres ausgehend von der Haute Couture und einer kleinen Elite weit verbreitet hatte. Sie führte in den zwanziger Jahren gar einen historischen Wandel, eine Metamorphose,400 herbei. Denn nachdem das Korsett erfolgreich verdrängt worden war, entwickelte sich damals ein bewusst gegengeschlechtlicher Kleidungsstil „en rupture totale avec le ‚8‘“401, in Abgrenzung von der zuvor runden, weiblichen Silhouette. Inspiration für diesen Stil lieferte der Hosenanzug, der modegeschichtlich bis zu diesem Zeitpunkt als reines Herrenkostüm galt.402 Nun waren diese Länge und Geradlinigkeit auch bei Damen en vogue, in Form von ­Jacken-, Hemd- und Kittelkleidern (tagsüber) sowie von ärmellosen Hänger- und Trägerkleidern, jeweils mit tiefsitzendem Gürtel und ohne Taille (abends). Zweiteilige Ensem­bles bestanden währenddessen aus Anzughose oder kniekurzem Faltenrock, dazu Bluse und eine Weste oder ein Jumper. Die Mäntel für Damen konnten als Paletots aus Filz oder Wolle, zu abendlichen Anlässen aber auch aus Pelz gefertigt sein; dann trug man sie offen bzw. um den Körper drapiert und hielt sie lediglich mit der Hand zu.403 Zum einen wurde dadurch eine Differenzierung zwischen zweckmäßiger Tageskleidung und eleganter Abendgarderobe vorgenommen, zum anderen ein widersprüchlicher Reiz erzeugt, der für die Mode à la garçonne symptomatisch war: „[…] androgyne le jour, hyperféminine le soir.“404 Dabei konnte die Trägerin ihre Garderobe und das dazugehörige Make-up je nach Tageszeit variieren, ohne auf eine bestimmte Optik, eine Identität festgelegt zu sein.405 Zunächst allerdings wurden gerade die neuen Schmink­ gewohnheiten – „des lèvres rouges, des joues ocrées ou teintées, des cils ourlés de noir et des sourcils rasés, retracés au crayon“406  – negativ aufgenommen und als übertrieben oder anstößig empfunden.407 Auffällig waren auch die zur Mode à la garçonne gehörenden Schmuckstücke: Armreifen à l’Esclave sowie große Broschen und Anstecknadeln oder Ohrringe, die man zusätzlich zu dem beschriebenen Make-up trug, um seine Abendgarderobe wertiger und femininer zu gestalten. Perlenschmuck schien dabei unverzichtbar und sollte, so das Modemagazin Gazette du Bon Ton im Jahr 1925, junge Frauen am Abend in Märchenprinzessinnen verwandeln.408 Dieser Eindruck sollte durch bestimmte maskuline Attribute konterkariert werden, etwa die Geste des Rauchens, der strenge Hut – zuerst die Melone, dann die Cloche –,409 400   „Métarmorphose: „Le mot n’est pas trop fort pour qualifier la mode des années 1920, celle de ‚la garçonne‘.“, Bard 2001, 118. 401   Ebda., 119. 402   Vgl. dazu Loschek 2007, 196 f. 403   Zu den zitierten Kleidungsstücken vgl. Loschek 1994, 85 f.; vgl. auch Bastié/ Pillorget 1997, 288 f. 404   Bard 1998, 42. 405   Am Abend erschien sie beispielsweise mit dunkel geschminkten Lidern, nachgezogenen Augenbrauen, einem Herz-Mund in sattem Rot und lackierten Fingernägeln, vgl. Bard 2001, 119; Bard 2013, 92; Bastié/ Pillorget 1997, 289. 406   Jéglot 1931, 3. 407   Vgl. ebda., z. B. 8. 408   Zum Schmuck der zwanziger Jahre vgl. Bard 1998, 37. Pillorget erwähnte ebenfalls „bracelets et les colliers ‚nègres‘“, Bastié/Pillorget 1997, 289. 409   Vgl. Loewel 2006, 155 f. Im Deutschen ist die Cloche als Glocke, Glockenhut oder auch Topfhut bekannt; es handelt sich um einen aus Filz gefertigten, krempenlosen oder schmalkrempigen Hut in Form einer Glocke, der im Stirnbereich besonders tief sitzt. Zur Erläuterung vgl. Leloir 1951, 104; Loschek 1994, 214.

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oder nicht zuletzt der Kurzhaarschnitt in Herrenfasson, der sogenannte Bubikopf.410 À la garçonne bedeutete in dieser Hinsicht, dass eine Frau glatte, höchstens kinnlange und im Nacken ausrasierte Haare trug; sie färbte sie außerdem in Braun- oder Kupfertönen. Dies war insofern gewagt, da langes, volles Haar symbolisch für Weiblichkeit und weibliche Sexualität stand und bei den Männern entsprechend gern gesehen war.411 Als „[c]oiffure féminine […] comportant une coupe de cheveux strictement masculine.“412 definierte ein französisches Kostümlexikon um 1950 den Garçonne-Schnitt, was zeigt: Die fixe Vorstellung, dass der Bubikopf einem Bruch mit Weiblichkeit gleichkam, hielt sich langfristig, immerhin galt Letzterer als „strictement masculin“. Den Grundstein hierfür legten die Mitte der zwanziger Jahre geführten Debatten, die die Coupe à la Jeanne d’Arc – so ein weiterer Name des Bubikopfes – zu einem Politikum und „une espèce de bonnet phrygien du féminisme“413 erhöhten. Dass dem Bubikopf eine so große, metaphysische Bedeutung beigemessen wurde, geht abermals auf La Garçonne zurück. Denn die einzelnen Lebensabschnitte der Monique Lherbier waren namentlich durch deren verschiedene Haarlängen markiert, wobei der Bubikopf für eine Phase des Aufbruchs, der Unabhängigkeit und Freiheit stand. Fast zeitgleich mit dem Roman wurde in Paris ein Chanson mit dem Titel Elle s’était fait couper les Cheveux414 veröffentlicht. Der Liedtext schilderte die neue Haarmode aus der mokanten Perspektive eines Ehemannes, der im Verlauf des Chansons erstaunt feststellt, dass nicht nur seine Frau, sondern auch seine Schwiegermutter und Großmutter dem Chic des Bubikopfes erlegen sind. Ob die betreffenden Frauen, gleich welchen Alters, damals einfach nur im Trend liegen oder sich tatsächlich auf Augenhöhe mit dem anderen Geschlecht fühlen wollten, ist im Nachhinein schwer zu sagen. Genauso wenig lässt sich feststellen, inwieweit dies über einen simplen Haarschnitt gelang, doch wie der Sozialwissenschaftler Steve Zdatny klarstellte, übersteigt jede Haartracht die rein ästhetische Ebene: „En effet, une coupe de cheveux n’est pas seulement un signe ; elle est également un processus social, un objet de commerce autant que de discours.“415 Mit der Zeit erlosch jedoch der revolutionäre Charakter des Bubikopfes. Ganz so wie bei der Mode à la garçonne diente er, nachdem er reihenweise kopiert worden war, weniger der Distinktion als der Anpassung. Damit büßte auch dieses modische Detail irgendwann seine individualisierende Wirkung ein, obgleich Werbung und Medien den Bubikopf noch bis zum Ende des Jahrzehnts konsumfördernd einsetzten. Ebenfalls ein wichtiges Attribut innerhalb der Mode à la garçonne lieferte das Automobil. Es ersetzte gewissermaßen das Fortbewegungsmittel der Amazone, das Pferd, und verwies so abermals auf den Zukunfts- und Fortschrittsglauben der Garçonne. Obendrein hatte sie dabei selbst das Steuer in der Hand, was ihr sportlich-aktives und autonomes Selbstbild symbolträchtig untermauerte. Zur Ikone wurde in dieser Hinsicht Autoportrait von Tamara de Lempicka, das eine solche, verwegene ‚Selbstfahrerin‘416 in   Zum Bubikopf vgl. Zdatny 1996.   Vgl. Bard 2013. 92. 412   Leloir 1951, 193. 413   Zdatny 1996, 51. 414   René Mercier: Elle s’était fait couper les Cheveux, Paris: Éditions L. Maillochon 1924. 415   Zdatny 1996, 32. 416   Zur Selbstfahrerin vgl. Thormann 1990; vgl. auch Drost 2003, Die Garçonne als Sinnbild der dynamischen, zukunftsorientierten jungen Frau, 257 f. 410 411

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einem türkisen Bugatti zeigt und im Sommer 1929 die Titelseite der Frauenzeitschrift Die Dame zierte.417 Damals hatte Clärone Stinnes gerade erfolgreich eine Weltumrundung per Automobil absolviert und damit ein Stück Frauengeschichte geschrieben. ­Stinnes war dadurch zu einem realen Beispiel für die ‚Selbstfahrerin‘ oder auch ‚Herrenfahrerin‘418 geworden, welche die Modepresse der zwanziger Jahre fleißig zu Propagandazwecken nutzte. Dabei wurden spezifische Eigenschaften des Autos (Mobilität, Dynamik, Geschwindigkeit, Flexibilität, Sportlichkeit) imaginär auf die neue Mode und dementsprechend auch auf die Garçonne hinter dem Steuer übertragen; hinzu trat der progressive Charakter des Automobils als Errungenschaft der Technik. So konnte das Bild der zeitgemäßen Frau Drost zufolge „unmittelbar mit einer neuen Lebens- und Konsumkultur verbunden und mit den Schlagworten Geschwindigkeit und Mobilität assoziiert“419 werden. Eine Folge dieses Trends war auch, dass es zusätzlich zu der gewöhnlichen Autowerbung in Modemagazinen neuartige Cross-Promotions gab, d. h. Kam­ pagnen, in denen die Mode- und Automobilindustrie ihre Produkte im Verbund bewarben.420 Die hierbei heraufbeschworene Trinität (Frau, Mode, Automobil) war während der zwanziger Jahre allgegenwärtig und erwies sich als konstruktives Instrument der Werbeindustrie.

Von der Garçonne zur Nouvelle Femme Blickt man von den Années folles, in denen Selbstfahrerinnen und Hochglanzmagazine vorherrschten, ein gutes Jahrzehnt in die Vergangenheit, trifft man, so die Aussage Warnods, auf die ersten realen Garçonnes der Geschichte: Les premières se sont montrées vers 1912 alors qu’étaient à la mode dans la première Rotonde la coco, l’éther, les jeux de Lesbos et le cubisme. Elles portaient déjà les cheveux ras, des jupes très courtes, déjà elles se donnaient des allures de jeunes garçons.421

Daneben war die eine oder andere historisch verbürgte Garçonne natürlich in der Prominenz auszumachen; doch nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Situation immer unübersichtlicher.422 Denn der publizistische Diskurs und der mediale Transfer entfernten, wie gezeigt wurde, die Garçonne beträchtlich von ihrem literarischen Urbild, um sie in eigener Sache auszudifferenzieren. Ihre anfängliche Bedrohlichkeit schwand mehr und mehr dahin, bis sie sozusagen zu einer Variante der Nouvelle Femme verbürgerlicht war. Dabei kommunizierten Presse und Werbung ein bestimmtes Image, das die zeitgenössische Frau als Kundin ansprach und ihr ein abstraktes Wunschbild nahebrachte, wie es seither wiederholt in der Werbeindustrie zum Einsatz kommt. Schon damals existierten   Vgl. Abb. 38.   Der Begriff „Herrenfahrerin“ wurde 1931 von dem Autor Gustav Grüttefin in Die Dame gebraucht, vgl. Ferber (Hg.) 1980, 230. 419   Drost 2003, 257. 420   Diese produktübergreifenden Kampagnen waren damals noch nicht etabliert, sie wurden vor allem in Vogue und L’Officiel de la Couture abgedruckt, vgl. Stewart 2008, 60 f. 421   Warnod 1925, 166. 422   Dazu Gonnard/Lebovici 2007, Femme moderne, Femme nouvelle, 116 – 127, 118: „La ‚marchandise‘ la plus valorisée après la guerre, diffusée dans les plus vastes proportions, c’est la ‚femme moderne‘ – avec sa variante la ‚garçonne‘, […]“. 417 418

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zwar hier und da Werbeagenturen und wurden Illustrationen zu Werbezwecken angefertigt; aber erst durch die neuen bildgebenden Medien professionalisierte und industrialisierte sich das Marketing allmählich.423 Neuen Auftrieb bekam insbesondere das auf Mode spezialisierte Pressewesen: Magazine wie Vogue oder Les Élégances Parisiennes wurden erst während des Entre deux Guerres weitläufig bekannt,424 wohingegen Frauenzeitschriften mit einem breiter gefächerten Themenangebot, wie Le Journal des Demoiselles oder Fémina, bereits im 19. Jahrhundert kursierten.425 Die Mehrzahl dieser Magazine war in ansprechender Optik gestaltet und warb mit Frauenfiguren, die durch ihre Garderobe, Pose oder ihr Tun der Definition moderner Weiblichkeit vollends gerecht wurden; in ihnen vereinigten sich folgende Tugenden: Unabhängigkeit, Freiheit, Individualität, Attraktivität, Energie, Mobilität und Geselligkeit.426 Die Années folles können somit als das erste Jahrzehnt betrachtet werden, dessen Frauenbild, die Nouvelle Femme, sich aus der visuellen Kultur im Allgemeinen und der Werbung im Speziellen ergab. Dies führt einmal mehr zu der Frage, ob dieses Image auch im Lebensalltag angewandt und in die Tat umgesetzt wurde. Kannte die Gesellschaft damals wirklich einen neuen femininen Typus – eine befreite, gleichberechtigte ‚Neue Frau‘? Glaubt man der Schriftstellerin Maryse Choisy, dann bestand kein Zweifel, dass sie und ihre Zeitgenossinnen kraft der Mode à la garçonne mit den Männern ihrer Generation gleichzogen. Sie schrieb 1927: Nous avons coupé nos chevelures. Nous portons redingote, cravate, feutre, smoking. Nous fumons des cigares. Nous avalons des cocktails. Nous invoquons Cambronne. Car nous sommes devenues comme des hommes.427

Dabei waren neben Kleidung und Toilette auch das Konsumverhalten, die Freizeitgestaltung und die Bildung durch das neue Frauenbild beeinflusst. Doch im Einzelnen fehlte es noch an praktischen Bedingungen, waren die patriarchalischen Strukturen noch zu gefestigt, als dass die damit verbundene Forderung nach freier Entfaltung oder Gleichstellung problemlos im Alltag realisiert werden konnte.428 Weniger schwierig war es hingegen, die Garçonne oder Nouvelle Femme nur nach außen zu verkörpern, und tatsächlich wurde dies schon als kleines Privileg wahrgenommen. Durch die Zusammenstellung ihrer Garderobe, die Wahl ihrer Haarlänge oder Schminke setzte sich die Frau mit der eigenen Person und Identität auseinander; dabei wollte sie nicht mehr nur dem Mann, sondern auch sich selbst gefallen, wollte sich nicht anbiedernd, sondern stark und selbstbewusst inszenieren. So nichtig diese „Toilettenkunst“429 uns heute vielleicht erscheint,   Vgl. Thébaud (Hg.) 1995, 106 f.   Les Élégances Parisiennes (begr. 1916); Vogue (begr. 1917). 425   Le Journal des Demoiselles (begr. 1833); Fémina (begr. 1901). 426   Exemplarische Beispiele von entsprechenden weiblichen Cover-Figuren sind beschrieben in Stewart 2008, 60. 427   Choisy in Divoire (Hg.) 1927, 196. Zu beachten ist, dass Choisy dabei auf einer einzigen Seite fünf Mal die Bezeichnung „comme des hommes“ benutzte. Ähnliche Positionen wie Choisy vertraten die bereits zitier­ten Autoren Lalo (ders. 1922, 20) und Lombroso (dies. 1929, 156). 428   Dazu Anne-Marie Sohn in Thébaud (Hg.) 1995, 111.: „Zwar gibt es in den zwanziger Jahren Anzeichen für eine Emanzipation der Frau […], doch das tägliche Leben der Frauen veränderte sich kaum. Das Ideal der Hausfrau und die damit verbundene Rollenteilung herrschen unumstößlicher denn je.“ 429   Scheffler 1908a, 62. 423 424

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Das Frauenbild nach 1900

gab sie der Frau von damals doch zumindest eine neue Handlungs- und Gestaltungsfreiheit, eine Art Emanzipation en miniature. Der mangelnden Abwechslung, vielleicht auch der Gehaltlosigkeit im Alltag konnte die Frau über diese Beschäftigung – die Arbeit „an ihrem Typus“430 – ein Stück weit entfliehen.431 Nichtsdestoweniger blieb die Durchsetzungskraft des neuen Frauenbildes zumeist auf Details beschränkt; und obgleich sie dank der Werbung eine beachtliche Ausbreitung erfuhr, war die Nouvelle Femme für die Mehrheit der Frauen doch ein von ihrer Lebenswirklichkeit entrücktes Wunschbild.432 Ein weiteres Problem bestand in der Wandelbarkeit, die ein Konstrukt wie die Nouvelle Femme unbeständig und obendrein beliebig einsetzbar machte: Garçonne, Selbstfahrerin, Nachfolgerin der Amazone, Protektorin sapphischer Liebe – ihre Bedeutung ließ sich verschieben, generalisieren und zuspitzen, insbesondere in einem Medienzeitalter wie dem Entre deux Guerres. Von daher sind bedeutungsschwere Titel, die man im Verlauf der Geschichte auf die Garçonne bezog, etwa „modèle social du type littéraire“433, „l’image-guide de sa génération“434 oder „modèle social d’émancipation féminine“435, stets mit Vorsicht zu genießen, da sie drohen, über den teils fiktiven, künstlichen Charakter dieser Figur hinwegzutäuschen.436

  Gombrich/Hochberg et al. 1977, 20.   Dazu Simmel 1995, 23: „Im Allgemeinen zeigt die Geschichte der Frauen […] eine vergleichsweise so große Einheitlichkeit, Nivellement, Gleichmäßigkeit, daß sie wenigstens auf dem Gebiete der Moden, das das der Abwechselungen schlechthin ist, einer lebhafteren Betätigung bedürfen, um sich und ihrem Leben – sowohl für das eigene Gefühl wie für andere – einen Reiz hinzuzufügen.“ 432   Vgl. Chadwick 2013, 278. 433   Sohn 1972, 27. 434   Gontier 1976, 85. 435   Bonnet 1998, o. S. 436   Deshalb sollten verstärkt die Bildwissenschaften die Garçonne in Augenschein nehmen und sich speziell mit der angedeuteten Transformation dieser Kunstfigur innerhalb der visuellen Kultur befassen, vgl. dazu auch den Ansatz in Drost 2003. 430 431

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Im Jahr 1929 veröffentlichte Hermann Deckert im Marburger Jahrbuch der Kunstwissenschaft einen umfänglichen Beitrag Zum Begriff des Porträts. Über Werke dieser Gattung, die zu seinen Lebzeiten entstanden waren, urteilte er darin: In dem Maße, in dem die Bildelemente in einem Porträt Eigenwert gewinnen, wird die Ausschließlichkeit der Repräsentationsbedeutung gemindert. Im extremen Fall hört das Kunstwerk auf, Porträt zu sein (sog. abstrakte Bildnisse). Die Schwäche der modernen Porträtkunst als Porträtkunst hat hierin ihren Grund.1

Was Deckert etwas umständlich „die Ausschließlichkeit der Repräsentationsbedeutung“ nannte, meint die angestammte Kategorie der Porträtähnlichkeit, d. h. die Vergegenwärtigung und Individualisierung einer realen Person kraft des Bildes. Sie war gewiss eine Ursache dafür, dass das Porträt im Vergleich zu anderen Bildgattungen herabgewürdigt wurde; schließlich beschneidet das Primat der Ähnlichkeit von Natur aus die künstlerische Freiheit und rückt den oder die Porträtist/-in, zugespitzt ausgedrückt, in die Nähe eines oder einer Protokollant/-in. Im Detail war ein Porträt seit der Renaissance durch „Lebenswahrheit, Ähnlichkeit, Wahrscheinlichkeit, Lebendigkeit“2 definiert; meist verbunden mit der Intention, damit an eine abwesende oder verstorbene Persönlichkeit zu gemahnen. Vom 18. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein galten in Frankreich und darüber hinaus die Lehren Roger de Piles‘ (Cours de Peinture par Principes, 1708).3 Zwar riet dieser Autor zur Kreation eines möglichst harmonischen und vorteilhaften Gesamteindrucks, doch im Ganzen kam auch er immer wieder auf den zitierten Identifikationsanspruch zurück. Vor dem Hintergrund, dass die Ähnlichkeit eines Porträts unter dem Einfluss von Neoimpressionismus, Fauvismus und Kubismus abnahm, und dass gleichzeitig sein ästhetischer Eigenwert stärker hervortrat, stand 1929 die „Schwäche der modernen Porträtkunst“4 in Rede. Historisch betrachtet wollte man allerdings gerade hierin ihre Stärke erkennen: Man bestaunte an einem modernen Bildnis wie jenem, das Picasso um 1905 von Gertrude Stein anfertigte,5 zuallererst dessen Einfachheit und Expressi­vität, während man dem Modell, ganz gleich wie berühmt es war, weniger Aufmerksamkeit schenkte. Solche Porträts, die eben nicht dem tradierten, eng gefassten Porträtbegriff genügen, gab es im 20. Jahrhundert reichlich; doch der Ursprung jener Zeitenwende lag noch im 19. Jahrhundert, das schließlich in Gestalt der Fotografie eine   Deckert 1929, 282.   Boehm 1985, 11. 3   Vgl. De Piles 1760, Von der Manier Bildnisse zu malen, 205 – 238. 4   Deckert 1929, 282. 5   Pablo Picasso, Gertrude Stein, 1905 – 1906, New York, Metropolitan Museum of Art. 1 2

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ernste Konkurrentin zur Malerei hervorgebracht hatte. Bald stellte die neue Technik denselben Anspruch wie die Porträtmalerei, nämlich ein naturgetreues und wiedererkennbares Bildnis zu kreieren. Dabei sollte sich die Fotografie langfristig als das effektivere Medium herausstellen. Dies lehrt schon ein Blick auf das eigene Passfoto – die wohl radikalste Form eines Bildnisses ex se. Anfänglich jedoch ahmten beide Gattungen einander nach, wobei gerade die Porträtfotografie zu unglücklichen oder zumindest streitbaren Lösungen gelangte.6 Das gemalte Porträt litt allerdings noch weitaus mehr unter dem Gattungsstreit, da es, verglichen mit dem Lichtbild, umständlich, aus der Zeit gefallen und natürlich weniger präzise erschien. Von einem Missstand der Porträtgattung sprach daher der Schweizer Kunsthistoriker Jacob Burckhardt in seinem Vortrag Die Anfänge der neueren Porträtmalerei (1885): Ein ruhmvoller Zweig der Malerei ist gegenwärtig zwar nicht im Absterben begriffen, doch ist seine Ausübung sehr viel seltener geworden: Die malerische Darstellung des Individuums, einzeln oder als Gruppe von mehreren. Bei der Zeitbedrängnis und Eile, in welcher wir leben, wird das Bildnis im ganzen einem mechanischen Verfahren, der Photographie überlassen. Wir stehen der Porträtmalerei im Grunde schon wie einem historisch abgeschlossenen Ganzen gegenüber.7

Burckhardt war indes von dem menschlichen Bedürfnis überzeugt, sich selbst und seine Mitmenschen im Bild verewigt zu wissen; seine Theorien zur neuzeitlichen Porträtkunst lesen sich deshalb wie eine Geschichte der Ähnlichkeit bzw. eine Geschichte des Individuums, ausgehend vom 15. Jahrhundert und der Epoche der Renaissance.8 Der zuletzt auch von Burckhardt vertretene Ansatz, dem Porträt allein die Ikonografie zugrunde zu legen, konnte sich auf Dauer nicht durchsetzen. Denn wie Gottfried Boehm 1985 befand, ist ein Porträt nicht „eine, durch die Zeiten identische, historische Konstante bildkünstlerischer Arbeit“9 – dies wäre schon aufgrund des ureigenen dynamischen Prinzips von Kunst unvorstellbar. Da das Porträt dementsprechend im späten 19. Jahrhundert neue Formen, Techniken und Inhalte erprobte, musste auch der tradierte Porträtbegriff an die neue Zeit angepasst werden. Stumpf und eng wirkte er nämlich und schien den neuen gattungsspezifischen Anforderungen schlicht nicht mehr gewachsen zu sein. „Die Autonomie der Person weicht einer Erscheinungstotalität des Bildes. Der Mensch wird Phänomen, ein anschauliches Ereignis, für welches die Malerei – parallel zur Natur – strengste Äquivalente findet“10, schrieb Gottfried Boehm in Bildnis und Individuum, wobei er namentlich an Paul Cézanne dachte.11 Dessen Porträts entstanden nicht mehr nur ausgehend vom Modell, sondern generierten sich aus den Bildmitteln, aus Farbe und Form. Hiernach verloren die Selbstreferenz und Ähnlichkeit, die seit der Renaissance den traditionellen Porträtbegriff prägten, mehr und mehr an Gewicht – bis hin zu ihrer kompletten Auflösung in der Abstraktion.12 Indes scheint es im Falle der Portraits à la 6   Zur Koexistenz von Fotografie und Porträtmalerei vgl. auch Badea-Păun 2007, La Photographie, Concurrente du Portrait peint ou nouvel Outil?, 104 – 107. 7   Burckhardt 1933, 316. 8   Vgl. Burckhardt 1930; Burckhardt 1933. 9   Boehm 1985, 19. Vgl. dazu auch Beyer 2002, 15. 10   Boehm 1985, 10. 11   Vgl. ebda., 9 – 11. 12   Zu diesem Aspekt vgl. auch Spankes Ausführungen Zu einer Interpretationskategorie ‚Porträt‘, Spanke 2004, 442 – 445.

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mode sinnvoller, den Blickwinkel des Künstlers oder der Künstlerin zu berücksichtigen. Wie z. B. die Frauenporträts Boldinis überzeugend erkennen lassen, bedurfte es nicht gleich einer vollständigen Entgrenzung des Individuums:13 Um einen künstlerisch-­ ästhetischen Anspruch zu bekunden, genügte es, das Bildnis mit der eigenen Fantasie, also mit Fiktion anzureichern und die natürliche Erscheinung des Modells leicht zu verfremden – etwa durch einen spezifischen Duktus oder Farbkontrast. Damit bereits sagte sich der oder die Porträtmaler/-in vom Ähnlichkeitsprimat los und beschritt einen neuen, von der Fotografie abweichenden Weg. Mehr noch: Die Porträtmalerei transzendierte dank ihrer künstlerischen Möglichkeiten die Fotografie. Denn derart, wie sich die Gattung seit Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte und ausdifferenzierte, gereichte ihr die durch die Fotografie entstandene Konkurrenz höchstens oberflächlich zum Nachteil  – die Porträtmalerei verlor weniger an Aufgaben, als dass sie neue hinzugewann, wofür u. a. das Portrait à la mode als Beweis dienen kann. Von „einem historisch abgeschlossenen Ganzen“14 konnte insofern kaum die Rede sein; eher brachte die Moderne einen Richtungswechsel mit sich, oder, noch optimistischer ausgedrückt, einen Befreiungsschlag für die Porträtkunst. Ein naturgetreues Abbild, ein Porträt per definitionem zu liefern, lag nun in der Macht der Fotografie. In der Malerei prägte sich stattdessen das Porträt mit künstlerischem Eigenwert aus; das (autonome) Bildnis machte dem (autonomen) Bild Platz. Matisse beispielsweise rühmte sich zu Lebzeiten damit, keine Frau wiederzugeben, sondern ein Bild zu malen;15 so seine Aussage über das 1905 entstandene Madame Matisse (Bildnis mit grünem Streifen), das als programmatisches Ölgemälde für die Autonomie der Farbe gilt.16 Damals machten Künstler/-innen wie Matisse ihre Invention immer radikaler sichtbar und konsolidierten so das öffentliche Bild von moderner Malerei. Handelte es sich dabei um Werke der Porträtkunst, geriet deren urtümlicher Charakter, die Mimesis, naturgemäß ins Hintertreffen. Trotzdem oder gerade deshalb erblickte man in Bildnissen wie jenem Gertrude Steins das „Gründungsmoment des modernen Porträts“17 und lobte den Kubismus für sein außerordentlich harmonisches Verhältnis zwischen Maler/-in und Modell.18 An solchen Wertungen lässt sich ablesen, wie stark die Kunstgeschichtsschreibung – auch in puncto Porträtmalerei – zeitlich auf den Beginn des 20. Jahrhunderts und personell auf Picasso fixiert war. Dabei ist durchaus diskutabel, ob sich Maler/-in und Modell zu Zeiten des Kubismus wirklich in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander befanden. Auch fällt es schwer, kubistische Werke, deren Figuren kaum mehr intakt sind, noch als Porträts anzuerkennen. Der eingangs zitierte Deckert sprach dem Kubismus sogar jedwede Fähigkeit ab, Bildnisse hervorzubringen.19 Zwar lässt sich diese Aussage u. a. im Folgenden widerlegen, doch trifft im Kern zu, dass der Kunstwerkcharakter eines Figurenbildes immer auch dessen Porträtcharakter  – und somit die Bindung an die Gat13   Boehm benutzte den Ausdruck des „‘entgrenzten‘ Individuums“ bezogen auf Cézannes wegweisende Porträtmalerei, vgl. Boehm 1982, 10. 14   Burckhardt 1933, 316. 15   Matisse in seinen Notizen eines Malers (1908), zitiert nach Beyer 2002, 352. 16   Beyer nannte es dementsprechend „einen sich selbst gefallenden und selbst genügenden Prozeß der Anordnung von Farben und Volumen“, ebda. 17   Ebda., 350. 18   Vgl. ebda., 353. 19   Vgl. Deckert 1929, 266.

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tungstradition – minimiert.20 Dabei gilt zwangsläufig: Je mehr Kunstwerk, desto weniger Porträt. Es lohnt daher, die entscheidende Zeitspanne abseits solcher Extrema, abseits der sogenannten Gründungswerke moderner Kunst, zu beleuchten. Vornehmlich an Portraits à la mode aus Belle Époque und Entre deux Guerres ist schließlich die Kontinuität der Porträttradition abzulesen; durch die Anknüpfung an historische oder teils noch weiter zurückreichende Bildformen schlagen sie einen Bogen vom 19. zum 20. Jahrhundert. Zugleich sind diese Porträts Erzeugnisse der Moderne und als solche von drei Größen bestimmt: Von dem Modell, dem oder der Künstler/-in und, als äußerem Faktor, von der Zeitstimmung. Boehm definierte diese als „die herrschenden, dem Künstler weder als solche erkennbaren, noch beeinflußbaren Bedingungen“, und folgerte daraus: „Der abstrakte Begriff der künstlerischen Absicht reicht als Basis einer Porträtgeschichte kaum zu.“21 Mit der Bezeichnung Portrait à la mode wird nicht zuletzt ebendieser Komponente, nämlich der schwankenden Zeitstimmung zwischen 1890 und 1930, Rechnung getragen. Die vorangestellten Überlegungen zum Porträt sollen als Hintergrund für die nun folgende Bildanalyse dienen, wobei insbesondere die letzte Aussage zu bedenken ist, nämlich dass ein Portrait à la mode stets von Modell, Künstler/-in und Zeitstimmung determiniert wird. Auf eben diese Elemente wird sich die Analyse des Bildkorpus beziehen, sie im Einzelfall herausarbeiten und miteinander in Parallele setzen. Um dem Ganzen eine sinnvolle Struktur zu geben, wurden im Vorhinein Vergleichsreihen nach inhalt­ lichen, motivischen sowie chronologischen Kriterien angelegt. Autorenschaft und Stilzugehörigkeit traten als Auswahlkriterien in den Hintergrund, sind beide doch weniger dazu geeignet, die Originalität aller im Korpus enthaltenen Portraits à la mode aufzuzeigen. Denn will man den Kern dieser Bildnisse herausschälen und das sie einende Element – bzw. die sie einenden Elemente – freilegen, muss vielmehr die Motivik selbst bemüht werden, die sich vereinzelt schon im Bildtitel andeutet. Eine rein stilgeschichtliche Herangehensweise erscheint auch deshalb ungeeignet, da das Kunstschaffen in Paris nach 1900 durch den eingangs beschriebenen Stilpluralismus markiert war und entsprechend labyrinthisch anmutete. Zudem waren einzelne Maler/-innen wie etwa Jean Crotti stilistisch nicht festgelegt, sodass sie kaum nach Stilmerkmalen zu differenzieren sind.22 Nicht zuletzt würde eine solche Zusammenschau manipuliert wirken und – nicht minder als die künstlermonografische Methode – vom Untersuchungsgegenstand insofern wegführen, als sie die in der Porträtmalerei üblichen Querverbindungen, die Vorgriffe und Rekurse im Laufe der Zeit, außer Acht ließe. Doch ebendiese Beziehungen gilt es herauszustellen, einerseits innerhalb der einzelnen Vergleichsreihen, andererseits mit Blick auf die Gesamtheit der Portraits à la mode: Welche Spezifika weisen die Portraits à la mode auf? Welches Frauenbild transportieren sie dabei? Lässt sich für das Portrait à la mode eine starke Kontinuität beobachten oder ist es eher einem ständigen Wandel unterworfen? Und falls dies zu bejahen ist, woher rührt dann ihre Variabilität – aus der Kunstentwicklung, Zeitstimmung oder Gesellschaftsstruktur?   Vgl. ebda., 266 f.   Boehm 1985, 44. 22   Zur Stilvielfalt der École de Paris vgl. das vorangegangene Kapitel Die Wiege des modernen Figurenbildes, 24 ff. 20 21

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Zur Beantwortung dieser übergeordneten Fragen sollen neben dem Bildmaterial auch die aus den vorangegangenen Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse dienen. So stellten etwa die Reflexionen zur École de Paris wertvolles Hintergrundwissen über die Pariser Künstler/-innen bereit, über deren soziokulturelles Umfeld und die lokalen Gegebenheiten genauso wie über ihre zeitgenössische Rezeption. Beides, die Innen- wie auch die Außensicht auf die École de Paris wird die Erklärung ihrer Werke fundieren und voranbringen. Dies gilt umso mehr für die Positionen weiblicher Künstler, deren besondere Situation an der Schwelle zum 20. Jahrhundert weiter oben ebenso nachgezeichnet wurde wie einige der modischen und gesellschaftlichen Tendenzen, von denen die Frauenemanzipation profitierte.

Les Instantanés de la Grâce de la Femme – Das Portrait à la mode in der Belle Époque Im Hinblick auf das Portrait à la mode und das Frauenbild, das darin manifest wird, ist es besonders interessant, die Kunstproduktion um und nach 1900 zu befragen – eine historische Periode, in der sich die Ereignisse in vielen Bereichen überschlugen und die demzufolge mit einer Fülle an spannungsvollen weiblichen Porträts aufwartet. Dabei liegen die Ursprünge der Werke, die hier als Portraits à la mode bezeichnet werden, bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Baudelaire die Schrift Peintre de la Vie moderne23 veröffentlichte und damit den Begriff der Modernité prägte, oder als Édouard Manet, Carolus-Duran, Edgar Degas und Auguste Renoir die moderne französische Frau – La Parisienne – zu ihrem bevorzugten Bildthema machten.24 Jener feminine Ideal­ typus des 19. Jahrhunderts erschien hiernach hundertfach auf Leinwand und Papier – anfangs womöglich noch im Sinne eines weiblichen Gegenstücks zu dem berühmten, ebenfalls von Manet geprägten Typus des Flaneurs.25 Im Detail auf die Pariserin bzw. Flaneurin einzugehen, ist im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht möglich und entspricht auch nicht dem gewünschten Schwerpunkt, dem Frauenporträt des 20. Jahrhunderts. Gleichwohl sollten hier aber Ganzfiguren wie Jeanne Duval (1862) von Manet,26 Portrait de Mme*** (1869) von Carolus-Duran27 oder La Parisienne (1874) von Renoir28 gegen23   Erstmals erschien Le Peintre de la Vie moderne 1863 als Aufsatzsammlung in der Tageszeitung Le Figaro sowie 1869 in L’Art romantique. Zum Inhalt vgl. das Kapitel Der Dandy à la Baudelaire, 106 ff. 24   Vgl. dazu Robiquet 1938, De Manet à nos jours, 191 – 206; Doschka 1996, 17 f. Hans Körner verweist in diesem Zusammenhang auf das Bildnis der Jeanne Duval, Muse und Geliebte Baudelaires, die Manet zwischen 1860 und 1862 in einem Ganzkörperporträt verewigte. Vgl. Körner 1996, 40 f. Zudem lassen sich exem­plarisch La Parisienne (1874) desselben Malers sowie ein Porträt von Renoir mit demselben Titel (1875) anführen. 25   Petra Kreuder widmete sich dieser Hypothese im Rahmen einer groß angelegten kunsthistorischen Studie über Die bewegte Frau, vgl. Kreuder 2008, Kapitel IV. Die Flaneuse und der Schwellenraum, insbes. IV.3.2.f. 26   Édouard Manet, Jeanne Duval, 1862, Szépmûvészeti Múzeum, Budapest. 27  Carolus-Duran, Portrait de Mme*** oder La Dame au Gant, 1869, Öl auf Leinwand, 228 × 164 cm, Musée d’Orsay, Paris. 28   Pierre-Auguste Renoir, La Parisienne, 1874, Öl auf Leinwand, 163,5 × 108,5 cm, National Museum, Cardiff.

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wärtig sein, da sie Gründungswerke des eleganten Damenporträts und zugleich hochkarätige Beispiele dieser Gattung darstellen. Das erwähnte Bildnis von Carolus-Duran, auch bekannt unter La Dame au Gant, wurde von Gabriel Padea-Pâun in dessen Jahrhunderte umspannenden Band Portraits de Société29 als „l‘icône de la Parisienne élégante“30 beschrieben; es habe, so der Autor, gar eine neue Gattung ins Leben gerufen.31 Für die Entwicklung des Portraits à la mode erwiesen sich aber mehr noch die Werke der nächsten Generation als richtungsweisend. Sie variierten im Verlauf des Fin de Siècle das typische Ganzkörperporträt, wie die Impressionisten es umsetzten, sowohl in technischer, koloristischer Hinsicht als auch bei der Inszenierung des Modells. Außerordentliche Bedeutung kam dabei Giovanni Boldini zu, der sich vehement vom Vorbild der Porträtfotografie und von einer zur Statik neigenden Porträtmalerei lossagte. Die weibliche Kundschaft profitierte von Boldinis modernem künstlerischen Ansatz: Sie sah sich verewigt in etlichen, dem Schönheitsideal des Malers entsprechenden, dennoch individualisierten und ausdrucksvollen Bildnissen. Ab Ende des Jahrhunderts wurde der gebürtige Italiener als ein Maler der Frauen und vorbildhafter Pariser gerühmt – ganz so wie sein Zeitgenosse, Paul-César Helleu. Neben der typischen Grazie des französischen Rokoko ließ auch er die Manier der großen Impressionisten Manet und Renoir, darunter diverse Frauenporträts en plein air, in seine Kunst einfließen. Ergänzt um das Hauptwerk ihres gemeinsamen Freundes John Singer Sargent, Madame X (1884), darf das Schaffen Boldinis und Helleus als exemplarisch für die Pariser Porträtkunst der Belle Époque gelten. Worauf genau der Erfolg dieser „peintres mondains“32 basierte und ob im Rückblick vielleicht eine kollektive Handschrift zu identifizieren ist, soll die erste von insgesamt fünf Vergleichsreihen klären. Es ist zu erwarten, dass sich bereits hier wesentliche Komponenten des Portraits à la mode sowie die Schlüsselfunktion Boldinis als „peintre de la Parisienne“33 offenbaren werden.

Bildvergleiche Emiliana Concha de Ossa Als Erstes sollen eine Ganzfigur Boldinis, diejenige von Emiliana Concha de Ossa (Abb. 1), und eine Büste Helleus, die als Portrait d’Annette (Abb. 2) überliefert ist, miteinander in Beziehung gebracht werden. Dies dient zunächst dazu, anschaulich zu machen, wie und mit welchen malerischen Mitteln Boldini und Helleu ihre Modelle jeweils darstellten. In einem nächsten Schritt wird unter Berücksichtigung eines weiteren, ebenfalls ganzfigurigen Porträt von Helleu außerdem die Rolle der Kleidung und – damit verbunden – der porträtierten Frauen selbst untersucht werden. Mit Il Pastello bianco (Emiliana Concha de Ossa) (Abb. 1) fertigte Boldini 1888 ein markantes Porträt von Emiliana Concha de Ossa, einer Nichte der kubanischen Eheleute Subercaseuse, an. Das in Paris entstandene Pastell zog sofort die Aufmerksamkeit der dort lebenden Südamerikaner und weiterer Tourist/-innen auf sich; wohl auch wegen   Badea-Păun 2007.   Ebda., 112. 31   Vgl. ebda. 32   Jean-Louis Vaudoyer: Giovanni Boldini (Préface), in: Boldini 1842 – 1931, Ausst.-Kat. 1931, 9 – 20, 15. 33   Ebda., 14. 29 30

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der augenscheinlichen Keuschheit und Unschuld, die das junge, in Weiß gehüllte Modell darauf ausstrahlt: La grâce juvénile de ce pastel plut à tout le monde. C’est un des plus chastes du peintre ; une symphonie en blanc dans laquelle chante le noir du ruban qui entoure le cou souple, comme pour faire ressortir mieux la grâce délicate d’une figure ravissante.34

Mit diesen Worten beschrieb Emilia Cardona, die Witwe und erste Biografin Boldinis, Il Pastello bianco. Zum allgegenwärtigen, titelgebenden Weiß – mit Ausnahme des braunen Holzfußbodens und der blauen Stuhlpolster ist auch das Interieur komplett in Weißtönen gehalten – gesellt sich, wie von Cardona erwähnt, ein tonaler Akzent in Form des schwarzen Halsbandes hinzu. Zum einen wird dadurch Emilianas Grazilität hervorgehoben, ihr schmaler Hals, der elegant in zierliche Schultern übergeht, dazu die Andeutung des Schlüsselbeins und der Halssehnen als Zeichen eines besonders zarten Knochenbaus. Zum anderen wird so der Blick einmal mehr auf das Antlitz der Porträtierten gelenkt, deren Teint einerseits mit dem Schwarz des Bandes kontrastiert, deren dunkle Augen und Brauen andererseits davon untermalt und in ihrer Wirkung verstärkt werden. Emiliana blickt dem Betrachter unter leicht gesenkten Lidern und aus großen, schwarzen Augen entgegen; gerahmt werden diese von geraden, dichten Brauen, die von der Nasenwurzel bis zu den Schläfen führen. Eine kurze, ebenfalls dunkle Haarlocke fällt ihr mittig in die flache Stirn, wodurch die sonst streng zurückgekämmte Frisur etwas aufgelockert wird. Als Farbklecks des Ganzen ließe sich die Blumengirlande anführen, welche schräg über Emilianas Dekolletee verläuft; doch auch sie besteht aus einem weißen Gewächs, womöglich Schleierkraut, das dem zarten und unschuldigen Gesamteindruck dieses Porträts zugutekommt. Tatsächlich hat die auf Weiß konzentrierte Farbgebung einen festen Platz im frühen Schaffen Boldinis – gleiches gilt für seinen Zeitgenossen Helleu. Denn im selben Jahr, also 1888, ließ dieser sogar seine Räumlichkeiten in einem kühlen, abgetönten Weißton namens Blanc Helleu streichen,35 der im Übrigen auch seine Pastelle und Gemälde domi­ nierte. Zum damaligen Zeitpunkt, als jedermann noch dunkle und plüschige Interieurs besaß, musste dieser neue, von Helleu kreierte Wohnstil à la française enorm wagemutig erscheinen. Über Fotos, Veröffentlichungen in der Presse, nicht zuletzt über Helleus Malerei wurde er jedoch rasch in die Welt getragen. Sogar die zeitgenössische Literatur, konkret der Roman À la Recherche du Temps perdu von Marcel Proust,36 huldigte indirekt dem guten Geschmack des Malers. Proust stattete nämlich nachweislich seine Roman­figur Elstir mit dem Stilgefühl seines Freundes Helleu aus: „C’est encore de Helleu que vient le bon goût d’Elstir, point de référence pour le Narrateur et pour Albertine quant aux questions de mode féminine et de décoration intérieure.“37 Bei Boldini hingegen äußerten sich die Zeitläufte in einer deutlichen Variation seines Kolorits: Während in Il Pastello bianco, worin Emiliana als junges Mädchen auftritt, noch gedämpftes Weiß und Grau vor Schwarz, das nur punktuell zum Einsatz kommt,   Cardona 1931, 77.   Vgl. dazu Xavier Narbaïts: La Vie de Paul-César Helleu, in: Watrigant (Hg.) 2014, 12 – 87, 48 f., 85; BadeaPăun 2007, La Belle Époque, l’Apogée d’un Genre, 132 – 175, 157. 36   Proust 1918 – 1927. 37   Anguissola 2013, 149. 34 35

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rangieren, hat sich diese Gewichtung im Jahr 1901, als Boldini die Südamerikanerin ein weiteres Mal porträtierte (Abb. 3), bereits sichtlich gewandelt: Gerade die Kleidung Emilianas erstrahlt nicht mehr nur in Weiß, sondern wird durch eine schwarze Korsage, ­einen changierenden Pelz und einen schwarzen, geschlossenen Fächer in der linken Hand des Modells farblich variiert. Zudem sind Robe und Bildhintergrund mit einem rosaroten Schimmer überzogen, der in abgeschwächter Form auch schon im Porträt von 1888 begegnete. Mit dem Bildnis der jüngeren Emiliana Concha de Ossa verbindet Helleus Portrait d’Annette portant un Chapeau blanc (Abb. 2) eine erstaunliche Ähnlichkeit. Nicht nur weist dieses signierte und mit einer Widmung an das Modell versehene Brustbild die gleiche Farbkombination auf – die Porträtierte hat darüber hinaus ähnliche Gesichtszüge wie die Südamerikanerin. Ihre markanten Brauen sind dementsprechend sanft geschwungen, ihren äußerst zierlichen und geraden Nasenrücken betont ein dezentes Glanzlicht und ihr Mund ist, passend zum schmalen Oval des Gesichts, eher klein. Im Vergleich zur unteren Gesichtshälfte erscheint die hinter einem dichten Pony verborgene Stirn des Modells auch hier verhältnismäßig kurz. Bei beiden Werken handelt es sich um Pastellbilder, allerdings in sehr unterschiedlicher Ausführung: So ist das Pastello bianco mit den Maßen 225 × 123 cm ein kapitales und vollendetes Ganzfigurenbildnis, wohingegen die kleinformatige Büste der Annette eher skizzenhafter und privater Natur zu sein scheint. Bis ins Detail ausgearbeitet wurden einzig ihr Gesicht und Haar; der breitkrempige Hut hingegen verflüchtigt sich ebenso vor dem unbemalten Hintergrund wie die Schulterpartie. Nebeneinander gesetzte Striche in Weiß, vereinzelt auch in Blau, sollen dabei die Kleidung, solche in Schwarz den Umriss von z. B. Brust und Arm markieren. Der Eindruck von Spontanität, den Helleu hier mit seinem flüchtigen Duktus hervorrief, beruht außerdem auf der Ansicht und Kopfhaltung des Modells. Wie bei ­einer Momentaufnahme dreht Annette ihren Kopf nach links und lächelt den Maler (und Betrachter) über ihre Schulter hinweg an – gerade so, als wäre sie im Gehen inbegriffen – wodurch sich ihr Gesicht anstatt im Profil in einer Dreiviertelansicht präsentiert. Alice Helleu en Robe blanche Mit Alice Helleu en Robe blanche (Abb. 4) ist hier nun eine weitere von Helleus berühmten Momentaufnahmen zu sehen. Jedoch handelt es sich hierbei nicht um eine seiner frühen Radierungen, sondern um ein 1902 entstandenes, 110 cm hohes und 78 cm breites Ganzkörperporträt in Öl, das Alice Helleu in Rückenansicht und in der zeitgenössischen Mode zeigt, die ihr Ehemann beständig ins Bild setzte. Trotz der technischen Unterschiede wirkt dieses Motiv aber gleichermaßen bewegt und flüchtig wie Portrait d’Annette portant un Chapeau blanc. Auch hier beobachtet man – etwas weniger stark ausgeprägt  – den für Helleu typischen, nervösen Pinselstrich und die Auflösung der Zeichnung zum Bildrand hin. Hinzu kommt, dass Alice Helleu vor einer Doppeltür steht, ihre linke Hand bereits am Türgriff, und sich eindeutig zum Gehen wendet; doch auch sie wirft, ganz so wie Annette, einen Blick zurück in Richtung des Betrachters. Um wieder auf den Vergleich mit Boldini bzw. mit dessen erstem Bildnis von Emiliana Concha de Ossa (Abb. 1) zurückzukommen, seien einige inhaltliche Parallelen genannt, etwa das weiße Kleid und die weiß gestrichene Doppelflügeltür. Dabei legte Helleu nicht minder als Boldini Wert darauf, die elegante Robe seines Modells angemessen zu präsentieren: ein bodenlanges, hochgeschlossenes Kleid mit langen, gepufften Är-

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meln und Rüschenrock. Tatsächlich taucht eine solche Robe à Volants in mehreren Bildern Helleus auf38, was die Vermutung nahelegt, dass der Künstler sich speziell für Kleider mit diesem Detail interessierte. Für besagtes Porträt stand ihm allerdings keine Unbekannte, sondern die eigene Ehefrau Modell, sodass die Wahl des Kostüms, wie auch im Falle von Boldinis Pastello bianco, ebenso gut auf die Person bezogen sein konnte. Vor allem durch ihr rötliches Haar entsprach Alice dem Schönheitsideal Helleus, der sie Zeit seines Lebens eifrig in Porträts, Interieurs und Landschaften verewigte. Dadurch wurde ihr Erscheinungsbild rasch bekannt, und sie selbst avancierte dank ihrer natürlichen Schönheit zum Vorbild der Pariserinnen. Doch welches Bild seiner Muse und Ehefrau vermitteln die Porträts Helleus? Wie sah und inszenierte er selbst Alice? Ganz offensichtlich verringerte sich seine Bewunderung für sie kaum; schließlich war ihm noch 16 Jahre nach ihrer Eheschließung viel daran gelegen, Alices jugendliche Unschuld und Schönheit durch das alles beherrschende Weiß und eine elegante, aber züchtige Garderobe zu unterstreichen.39 Nie hätte der bürgerliche Helleu es in Betracht gezogen, seine Frau offenherzig oder nackt zu porträtieren, stellte Xavier Narbaïts in der jüngsten Monografie zu Helleu klar: Helleu, tout amoureux qu’il ait toujours été d’Alice, n’est pas de ces peintres qui tirent fierté de l’anatomie de leur femme au point de l’exposer aux yeux de tiers, et, de surcroît, il appartient à un milieu qui n’accepterait pas de tout façon ce genre de pratique.40

Von Hals, Gesicht und Händen abgesehen zeigt die Porträtierte demzufolge kaum nackte Haut, trägt keinerlei sichtbaren Schmuck und wirkt – verstärkt durch die Rückenansicht und ihre hochgezogene Schulter – regelrecht scheu. Wie anders erscheint demgegenüber die von Boldini porträtierte Emiliana Concha de Ossa (Abb. 1): Ihre Zurückhaltung verbleibt unter der Oberfläche, während sie ihren Körper durchaus vorzeigt und auch schmückt. Da Emiliana als Künstlermodell arbeitete, war sie schließlich dazu angehalten bzw. erwartete man von ihr, sich ihrem Gegenüber anziehender oder verführerischer zu präsentieren, als es z. B. Alice Helleu tat. Die unterschiedliche Ausstrahlung der zwei Frauen lässt sich aber noch besser an Boldinis späterem Werk erläutern, dem bereits erwähnten Emiliana Concha de Ossa (Abb. 3) von 1901. Darauf ist Emiliana ungefähr in demselben Alter abgebildet wie Alice in deren Porträt von 1902. Beide sind, soweit erkennbar, äußerst jung und schlank dargestellt; im Falle der Südamerikanerin erscheinen die Gesichtszüge seit 1888 sogar nahezu unverändert. Allerdings: Mehr als damals geht Emiliana auf diesem Gemälde aus sich heraus, setzt spielerisch Kleider und Accessoires ein und räkelt sich an der Wand, um ihre Figur möglichst gut zur Geltung zu bringen. Von der Reserviertheit des jungen Mädchens auf Il Pastello bianco ist hier nur noch wenig zu erkennen. Ihre Pose wirkt inzwischen viel routinierter, eingespielter, was sich wahrscheinlich durch ihre jahrelange Erfahrung als professionelles Modell erklärt. Alice hingegen strahlt auf keinem ihrer Porträts eine vergleichbare Verruchtheit aus; stattdessen ist Helleus Ehefrau von einer natürlichen Ele  Z. B. Paul César-Helleu, La Robe à Volants, vor 1913, farbige Zeichnung (Dessin aux trois Crayons), 65,5 × 44,5 cm, Privatsammlung, vgl. Watrigant (Hg.) 2014, 175. 39   Paul-César Helleu und Alice Guérin heirateten im Sommer 1886, unmittelbar nach Alices 16. Geburtstag, vgl. Narbaïts in Watrigant (Hg.) 2014, 24 – 26. Das betreffende Werk zeigt Alice demnach im Alter von 32 Jahren. 40   Ebda., 82. 38

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ganz und stillen Intimität umgeben. Wie exemplarisch in Alice Helleu en Robe blanche (Abb. 4) ist sie oftmals in der gemeinsamen Pariser Wohnung des Ehepaares dargestellt, d. h. in vertrauter häuslicher Sphäre, aber auch bei Aufenthalten in Deauville oder auf der Yacht ihres Mannes, der Étoile. Insbesondere dort entstanden idyllische Exterieure und Porträts, die Alice ganz in Weiß, meist mit farblich abgestimmtem Hut und Sonnenschirm, vor einem himmelblauen Fond zeigen. Mal korrespondiert sie farblich mit den weißen Segeln der Boote am Horizont, mal verschmilzt sie nahezu mit dem weiß gestrichenen Deck, wie in Madame Helleu sur son Yacht, l’Étoile41. Den Betrachter blickt sie dabei jedoch nie geradeheraus an, sondern kehrt ihm des Öfteren ihre Rückseite zu. Letztes gilt auch für das ebenfalls unter freiem Himmel entstandene Werk Les Paons (Abb. 5). Hinsichtlich seiner Farben, die kräftiger als diejenigen der genannten, im Freien  gemalten Porträts sind, sowie hinsichtlich des Pfaumotivs bietet sich ein Vergleich von Les Paons mit Boldinis La Marchesa Luisa Casati (Abb. 6) an. Auch die porträtierte Marchesa ist nicht frontal wiedergegeben; stattdessen sitzt sie in einer aufreizenden Pose seitlich zum Betrachter, wobei sie ihr Gesicht, das ebenfalls im Profil erscheint, andeutungsweise in dessen Richtung dreht. Zudem scheint das knappe Kleid, in dem sich Luisa Casati von Boldini porträtieren ließ, nur schemenhaft nachgezeichnet worden zu sein, was den Eindruck ihrer Freizügigkeit noch verstärkt. Ganz anders Alice Helleu: Bäuchlings auf einer Rasenfläche liegend, verbirgt sie komplett ihre Vorderseite und ist außerdem durch ein der zeitgenössischen Mode entsprechendes, langes Kleid vor fremden Blicken geschützt. Eine weibliche Eleganz wird hier höchstens durch Alices schlanke, anmutige Figur oder über den unmittelbaren Vergleich mit dem an ihrer Seite stolzierenden Pfau zum Ausdruck gebracht. Mit diesen zwei – teils so ähnlichen, teils so unterschiedlichen – Portraits à la mode vor Augen stellt sich umso mehr die Frage, inwieweit Alice die Kunst ihres Ehemannes eigentlich mitprägte. Schließlich schien Helleu von Beginn an, ob in Gemälden, Radierungen oder Zeichnungen, auf Alice fixiert zu sein, wohingegen Boldini seine Modelle deutlich mehr variierte. Selbst für zeichnerische Studien, etwa von Händen, dürfte Alice sein Vorbild gewesen sein, da sie sich beständig in seiner Nähe und – wie seine Bilder zeigen – des Öfteren im Atelier des Malers aufhielt.42 Um 1897 taucht sie, vertieft in die Betrachtung mehrerer Papierarbeiten ihres Mannes, in einem Interieur als La Connaisseuse auf.43 Folglich darf spekuliert werden, dass Alice die Kunst Helleus nicht nur ­passiv als sein Lieblingsmodell, sondern auch aktiv, nämlich als Kennerin und private Kritikerin, beeinflusste. Dafür spricht ferner, dass Alice in der ersten, 1913 in Paris erschienenen Monografie Helleu Peintre et Graveur44 in ebendieser Hinsicht überaus positiv beurteilt wurde.45 Doch während sie seinerzeit durch ihren Umkreis große Anerkennung erfuhr, überdauerte Alice in der Kunst ihres Mannes vor allem als markante Schönheit, als Pariserin par excellence und nicht zuletzt als Ehefrau und Mutter. 41   Paul-César Helleu, Madame Helleu sur son Yacht, l’Étoile, 1898, Öl auf Leinwand, 81,3 × 65,1 cm, Privatsammlung, vgl. https://helleu.org/oeuvres-huiles/marines-et-personnages/madame-helleu-sur-son-yachtl%E2%80 %99etoile (zuletzt geprüft am 15. 11. 2021). 42   Vgl. Watrigant (Hg.) 2014, 257. 43   Paul-César Helleu, La Connaisseuse, um 1897, Pastell, 81,3 × 66 cm, vgl. ebda., 251. 44   De Montesquiou 1913. 45   Vgl. Narbaïts in Watrigant (Hg.) 2014, 75.

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Ausgehend von Helleus Freilichtmalerei und seiner Vorliebe für helle Pastellfarben – darunter sein charakteristisches Weiß – soll nun kurz der Blick auf Helleus und Boldinis kunstlandschaftliche Prägung gelenkt werden.46 Beide Künstler waren ohne Zweifel im Impressionismus verankert, kombinierten Landschafts- und Figurenbilder, orientierten sich in ihren Frühwerken an impressionistischen Leitsternen wie Claude Monet oder James Abbott McNeill Whistler; überdies stellte für Helleu die Konfrontation mit einem bestimmten Gemälde, nämlich mit Manets Le Chemin de Fer, eine Art Schlüsselerlebnis dar. Boldini wiederum zitierte in einzelnen Gemälden erkennbar die pittoresken, das Rokoko markierenden Fêtes galantes.47 Den französischen Pleinairisten war er vor allem über seinen Pinselstrich verbunden, der, selbst als seine Palette sich später reduzierte und verdunkelte, nervös bis ekstatisch blieb. Daneben prägten ihn seine italienischen Wurzeln – er entstammte einer Ferrareser Großfamilie und studierte zunächst in Florenz – sowie der Einfluss der niederländischen Porträtkunst des 17. Jahrhunderts, des französischen Rokoko und nicht zuletzt der zu seiner Zeit herrschende Ingrisme. „Les portraits de Frantz Hals, les compositions de Tiepolo, les dessins d’Ingres formaient la trinité de son culte d’artiste.“48, resümierte dahingehend seine Biografin. Als Porträtist bezog sich Boldini also mindestens ebenso auf die Alten Meister wie auf die jüngeren Impressionisten. Madame X Gepaart mit Bezügen zur offiziellen Pariser Kunst führte parallel zu Boldini noch ein weiterer italienischer Maler das Erbe der Alten Meister fort: der in Florenz geborene John Singer Sargent. Um dies zu veranschaulichen, wird dessen wohl bekanntestes Frauen­porträt Madame X (Abb. 7) in diese erste Bilderreihe integriert und in komposi­ torischer Hinsicht mit Emiliana Concha de Ossa (Abb. 3) verglichen. Als Madame X 1884 beim Pariser Salon präsentiert wurde, rief es einen solchen Skandal hervor, dass Sargent daraufhin schließlich das Land verließ. Dabei hielt er sich zu diesem Zeitpunkt gerade erst ein Jahrzehnt in Frankreich auf, hatte zuvor verschiedene Kunstschulen in Kontinentaleuropa besucht und sich dann Mitte der 1870er-Jahre bei dem Pariser Porträtisten Carolus-Duran in die Lehre begeben. Mit Madame X dürfte Sargent auf dessen eingangs erwähntes Hauptwerk, La Dame au Gant von 1869, rekurriert haben, in der Hoffnung, damit dieselbe Anerkennung als Porträtmaler zu erwerben wie zuvor sein Lehrer. Sargents über zwei Meter hohes Ganzkörperporträt zeigt eine aus den USA übergesiedelte Pariser Berühmtheit namens Madame Pierre Gautreau, geborene Virginie Avegno. Dennoch ist das Porträt keine Auftragsarbeit, sondern allein auf Wunsch des Malers entstanden. Dieser beschrieb sie einem Freund gegenüber als seltene Schönheit, wobei er speziell für ihr Markenzeichen, einen unnatürlich blassen Teint, schwärmte.49 Im Kontrast 46   Zu Boldini vgl. Ettore Spalletti: Jeunesse de Boldini et l’Art toscan, in: Giovanni Boldini, Ausst.-Kat. 1991, 13 – 22, 13 f.; Alessandra Borgogelli: Boldini. Une Voie personnelle vers l’Impressionnisme, in ebda., 23 – 42; zu Helleu vgl. Paulette Howard-Johnston: Helleu et ses Modèles, in Watrigant (Hg.) 2014., 269 – 276. 47   Vgl. z. B. Giovanni Boldini, Ausst.-Kat. 1991, Kat. 23. 48   Cardona 1931, 64. 49   Brief von John Singer Sargent an Vernon Lee, 10. Februar 1883, Privatbesitz, zitiert nach Elaine Kil­ murray: Catalogue, 2. Paris and the Salon, in: John Singer Sargent 1998, Ausst.-Kat., 83 – 104, 101. Zur berühmten Blässe des Modells vgl. auch Howard-Johnston in Watrigant (Hg.) 2014, 272.

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mit dem schwarzen Kleid und der dunklen Umgebung kommt die besagte Blässe der Madame Gautreau deutlich zum Vorschein. Gleichermaßen prominent zeichnet sich vor dem graubraunen Hintergrund ihr helles Profil ab. Die samtene Robe ist im Vergleich zur zeitgenössischen Mode außergewöhnlich schlicht, tief dekolletiert und wird von zwei schmalen, goldglänzenden Trägern gehalten, während sie weiter unten bis auf den Boden fällt. Mit der linken Hand, in der das Modell einen schwarzen Fächer hält, schürzt es gleichzeitig den schweren Rock, während die Rechte auf einem filigranen Tisch in klassizistischer Manier, dem einzigen Dekor des Bildes, abgestützt ist. Klassizistisch wirkt außerdem das dezente Diadem in Form einer Mondsichel, das sogleich an jene Rollenporträts denken lässt, die im 18. Jahrhundert z. B. von Sir Joshua Reynolds gemalt wurden. Damals waren diese freilich noch wirkliche Kostümbilder von Schauspielern oder Sängern; im 19. und 20. Jahrhundert, als das Rollenporträt mehr und mehr durch die Fotografie abgelöst wurde, blieb dagegen vor allem der charakteristische Habitus erhalten: So folgerte auch Willibald Sauerländer: Fast alle Bildnisse Sargents haben etwas Schauspielerndes. […] Die ‚Femme Fatale‘ spielt sich als moderne Diana auf, deren aufreizende Entblößung sich mit verächtlicher Kälte paart. Es waren Genie und Erfolg Sargents, daß er auf alle Travestien der gesellschaftlichen Maskerade reagierte.50

Doch worin besteht nun die Ähnlichkeit zur Bildniskunst von Boldini? Zunächst einmal war auch Sargent, dessen Laufbahn als Porträtist namentlich in London begann, vertraut mit der Tradition des Rollenporträts. Was ihn ebenso wie Boldini aber weitaus mehr zu beschäftigen schien, sind die Ansichtigkeit und Dynamik seiner Figuren, zurückgehend auf die Figura Serpentinata oder auch Linea Serpentinata. Aus ihr kreierten einst die Cinquecentisten einen eigenen, musterhaften Stil des Manierismus, speziell der manieristischen Skulptur. Madame X spiegelt dabei sowohl den kühlen Ton des Marmors als auch die dazugehörige Spiralbewegung wider. Überdies wurden ihre Arme und Hände in der typischen Art des Cinquecento extrem muskulös dargestellt. Wie Elaine Kilmurray überzeugend darlegte, dürfte Sargent sich konkret an Vorbildern im Stil des Freskos Bathseba begibt sich zu König David von dem Manieristen Francesco Salviati orientiert haben.51 Darin nämlich entdeckt man ebenso den bewegten Kontrapost, die Geste der Hand und die Wendung des Kopfes – kurz dieselbe Körpersprache. Durch sie entstand im Wesentlichen jene nach oben gerichtete Drehung der Porträtierten, die Sargent mit dem hell akzentuierten Faltenwurf ihres Rockes zusätzlich untermalte. Boldini tat dasselbe, nur verstärkt, indem er die Figura Serpentinata bewusst aus den Kleidern oder Draperien seiner Modelle heraus entwickelte, so wie 1901 im Porträt der Emiliana Concha de Ossa (Abb. 3). Analog zu Madame X hält auch sie in der Linken einen zusammengefalteten, schwarzen Fächer und greift in den Stoff ihres Mantels; allerdings scheint sich dessen Faltenwurf wie von selbst auszuprägen, er wirkt leichter, zarter und dynamischer als der schwere Samt in Sargents Bildnis. Ausgehend vom unteren Bildrand schlingt sich die Draperie um Emilianas Schenkel, Ellenbogen und Schultern und beschreibt dabei eine spiralförmige Bewegung, die schließlich in dem aufgestellten Pelzkragen  – praktisch dem Rahmen ihres Gesichts – mündet. Diese Rotation erwecke, so Cardona, den   Sauerländer 2002, 94 f.   Vgl. Kilmurray in John Singer Sargent, Ausst.-Kat. 1998, 101 f., Abb. 67.

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Eindruck eines Wirbelsturms, der die menschliche Figur förmlich verschluckt  – „des tempêtes de lignes autour de celle essentielle de la forme humaine“52. Boldini führte diesen Kunstgriff noch an weiteren Ganzfiguren durch, namentlich in Ritratto di Madame Eugène Doyen53 (1910) und Ritratto di Rita de Acosta Lydig (The Rothschild Boldini) (1911) (Abb. 8). Wie gezeigt werden konnte, kehrte das Spiralmotiv, dessen sich einerseits die Manieristen, andererseits die späteren Futuristen bedienten, in Boldinis Schaffen immer wieder. Dabei wurde nicht nur das Kostüm im Sinne der Linea Serpentinata drapiert, sondern zunehmend auch die Trägerin. So erblickt man auf den zitierten Porträts selten ein natürlich posierendes oder in sich ruhendes Modell. Vielmehr fungierte Boldini als Regisseur, der seinen Modellen die nötigen Anweisungen erteilte, um ebendie Gestik, Haltung und Energie zu erreichen, die ihm für das jeweilige Bild vorschwebten und die es letzten Endes auch in die Nähe des Rollenporträts rückten. Wenn demnach eine Figur wie Rita Acosta Lydig sich unnatürlich, gleichsam tänzerisch oder theatralisch zu ge­­ bärden scheint, dann weil dies so vom Maler intendiert war. Statt sein Gegenüber nur abzubilden, gestaltete Boldini es aktiv mit und offenbarte sich dadurch als wahrer Inszenierungskünstler. Cléo de Mérode Vor diesem Hintergrund – das Erbe Alter Meister auf der einen Seite, die künstlerische Freiheit auf der anderen – soll nun nach der modernen Prägung Boldinis gefragt werden. Schließlich erweckte sein Arrangement, gepaart mit seiner temperamentvollen Pinselführung, oft den Eindruck von Exaltiertheit. Dem Künstler wurde dies im Nachhinein aber nicht als Modernität, sondern als Oberflächlichkeit ausgelegt. „Confondant mondanité avec modernité, son œuvre dont la qualité première est de se donner en spectacle, ne lui a pas survécu.“54, lautete dahingehend das scharfe Urteil von Olivier Deshayes. Allerdings: Die besagte oberflächliche Wirkung gründete nicht so sehr auf dem Gegenstand Boldinis wie auf dessen Stil; dieser nämlich speiste sich aus Impressionismus sowie – später – Futurismus, entmaterialisierte die Figur und ebnete zugleich den sie umgebenden Raum ein.55 Damit distanzierte sich Boldini ein gutes Stück von der Realität, genauer von der Statik der Porträtfotografie, und bewies entgegen der obigen Kritik durchaus Modernität: Oui, Parisianisme, Modernité, ce sont les deux mots inscrits par le maître ferrarais à chaque feuille de son arbre de science et de grâce. Arbre tentateur de toutes les Ève en mal de portrait, de tous les sphinx de l’atelier, dont l’énigme varie au cours de cent toiles de choix les deux mots pimpants : parisianisme, modernité.56

Diese freundschaftlich gesonnenen Zeilen las man 1901 unter der Überschrift Peintres de la Femme: Boldini in der Zeitschrift Les Modes. Verfasst hatte sie Graf Robert de Montesquiou, der sich in diesem Artikel über Boldinis großes Talent im modernen Porträt   Cardona 1931, 93.   Vgl. Dini/Dini (Hg.) 2006, III, Cat. 996. 54   Deshayes 2009, Boldini: les Belles et la Bête ou l’impossible Rapport à la Femme, 163 – 169, 168. 55   Vgl. Borgogelli in: Giovanni Boldini, Ausst.-Kat. 1991, 23 und 26. 56   De Montesquiou 1901, 8. 52 53

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sowie über dessen außergewöhnliche Beziehung zum (weiblichen) Modell erging.57 Überhaupt schien dieses erste Jahr nach der Jahrhundertwende für den Maler einen Auftakt zu einer neuen Schaffensperiode zu bilden. Dies legt, neben der jüngeren Version von Emiliana Concha di Ossa und der positiven Kritik in Les Modes, insbesondere sein ebenfalls 1901 entstandenes Bildnis Cléo de Mérode (Abb. 9) nahe. Mit dieser schlichten Halbfigur schuf Boldini sein bis dato sinnlichstes und, man kann behaupten, modernstes Frauenporträt. Denn sein Modell, eine weithin bekannte Tänzerin der Pariser Oper, platzierte er in einem stark reduzierten Interieur sowie vor neutralem Hintergrund. Kombiniert mit dem bewährten Farbauftrag erschien diese Komposition wirklichkeitsentrückt und für einen Porträtisten der Belle Époque durchaus gewagt. A cette époque le tempérament de Boldini atteint la liberté absolue de sa puissance. Il est arrivé à ce haut degré de l’Art où les formes pour l’artiste n’ont plus besoin d’être belles, parce qu’il est arrivé à ­s’abstraire, à voir et à sentir la beauté de la ligne.58

Dass in Cléo de Mérode jegliche Raumillusion fehlt, dass Modell und Hintergrund partiell wie verschmolzen wirken, blieb nicht unbemerkt, sondern stieß im Kunstmilieu auf großes Lob. Sogar als einen Begründer der Moderne – einen „initiateur de la peinture moderne“59 soll Gertrude Stein Boldini gerühmt haben; er sei ihr zufolge nämlich die treibende Kraft hinter der neuen Schule gewesen, möglicherweise ein Verweis auf die École de Paris.60 Indessen hielt das bürgerliche Publikum, das sich in seiner Moral gekränkt sah, Boldinis Kunst für unschicklich, und auch seitens der Presse wurde er nach 1900 mehrfach negativ beurteilt.61 Einmal mehr wird hieran deutlich, dass die Meinungen von Fach- und Laienpublikum, zumal in Phasen des Umbruchs, weit auseinanderdriften konnten, und dass die technische Finesse Boldinis  – ein untrügliches Zeichen seiner Modernität  – zunächst einmal verkannt wurde. Einerseits mochte damals die ‚Modernisierung‘ seiner Porträts irritiert haben  – sie folgten nicht mehr streng dem Ähnlichkeitsprimat, reichten aber auch nicht an jene völlig entfremdeten Figurenbilder heran, die der Kubismus hervorbrachte. Andererseits dürfte auch die neue Mode, deren Wiedergabe bekanntlich die große Stärke Boldinis war,62 der Kritik in die Hände gespielt haben. Cléo de Mérode muss diesbezüglich erneut als ein programmatisches Bild genannt werden, führt es doch moderne Maltechniken und die neue Mode zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Daher soll es hier auch Ausgangspunkt sein, um sich dem Stellenwert der Mode in Boldinis Œuvre und überdies seinem Verständnis von weib­ licher Eleganz zuzuwenden. „Il vit le souple corps féminin libéré de ses entraves heureux d’avoir vaincu toutes les gangues des chiffons“63, schrieb Cardona über das Jahr 1900, auf das auch in der Modegeschichte drastische Veränderungen folgten. Jene neue vestimen  De Montesquiou sprach konkret von „Impérieuses affinités entre le sujet et l’objet“, vgl. ebda., 6.   Cardona 1931, 92. 59   Zitiert nach ebda., 94. 60   Vgl. ebda. 61   Vgl. ebda., 95 und 99. 62   Vgl. dazu Elena Di Raddo: Boldini e la Moda, in: Boldini et la belle Époque, Ausst.-Kat. 2011, 69 – 75, insbes. 73 f. 63   Cardona 1931, 92. 57 58

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täre Freizügigkeit lässt exemplarisch der mit einem Kimono vergleichbare Blouson von Cléo de Mérode erkennen: Er liegt keineswegs eng am Körper an, sondern ist derart lässig geschnitten, dass er ihr auf einer Seite über die Schulter gleitet. Der durchgestreckte Rücken, die Geste der rechten Hand, dazu der aufreizende Blick von Cléo de Mérode machen den verführerischen Gesamteindruck dieses Porträts komplett. Dabei war Boldini darum bemüht, weder das Modell noch dessen Beiwerk aufdringlich erscheinen zu lassen; seine Wahl fiel im Gegenteil auf eine Garderobe, die durch Schlichtheit markiert ist und obendrein ohne Mantel, Hut, Schirm, Fächer oder sonstige Accessoires auskommt.64 Als sollte er einen fließenden Seidenstoff imitierten, wurde der Grauton des Blousons stark nuanciert, was – zusammen mit der zarten Goldkette – den Wert und die Klasse des Bildgegenstands umso anschaulicher macht. Denn es war das erklärte Ziel Boldinis, die Mode kraft der Malerei zu verewigen und zu nobilitieren,65 weshalb er all ihren Details größte Aufmerksamkeit schenkte. Charles Oulmont schrieb dahingehend 1934 über Boldini als Modemaler: „Et ces études de costumes féminins ! Comme l’on sent ici que Boldini ne traitait rien à la légère, c’est qu’il avait le souci du détail, non pas dans l’afféterie, mais dans l’exactitude.“66 Dabei kündigte sich Boldinis außerordentliches Interesse für Mode schon während seiner Jugend in Italien an; in England, unter dem Eindruck des Londoner High Life, reifte es weiter heran und konkretisierte sich schlussendlich in Paris, wo der Maler Gelegen­heit hatte, für seine Portraits à la mode auf Kreationen renommierter Modehäuser, z. B. Jacques Doucet oder Jeanne Paquin, zurückzugreifen.67 In Paris wurde seine Kunst sodann immer stärker nachgefragt und auch nachgeahmt, weshalb speziell auf Boldini zutrifft, was Badea-Păun über den Typus des sogenannten Portraitiste à la mode68 schrieb: „Le statut de portraitiste à la mode est très envié, car il apporte une aisance financière et une position sociale non négligeable.“69 Unter Kritikern kursierte bald die Wortneuschöpfung „boldiniser“ – ein Ausdruck, der damals entsprechende Kopien anderer Maler/-innen bezeichnete.70 All das beweist, dass Boldini in seinem Fach damals unerreicht war – sowohl aufgrund des erwähnten Parisianismus, der noch immer aus sämtlichen seiner Bilder spricht, als auch wegen der weiblichen Eleganz, einem „élément circonstanciel“71 seiner Porträtkunst.

  Zu typischen Accessoires des 19. Jahrhunderts vgl. Uzanne 1892; zur Auswahl des Kostüms durch den Maler vgl. Borgogelli in: Giovanni Boldini, Ausst.-Kat. 1991, 39. 65   Vgl. Di Raddo, in: Boldini et la belle Époque, Ausst.-Kat. 2011, 74. 66   Charles Oulmont: Boldini. Exposition chez Jean Charpentier, in: La Revue des Vivants (Mai 1934), 774, Zeitungsausschnitt, Bibliothèque nationale de France, FOL-LN1-232 (2607). 67   1905 porträtierte er Madame Marthe Régnier in einem Kleid von Paquin, 1907 Madame Lanthelme in einer schwarzen Robe von Doucet. Vgl. Di Raddo, in: Boldini et la Belle Époque, Ausst.-Kat. 2011, 74. 68   Zu diesem Begriff vgl. Badea-Păun 2007, 136. 69  Ebda. 70   Vgl. Georges-Michel 1954, 260. 71   Der Begriff stammt aus dem Text Baudelaires, Peintre de la Vie moderne, vgl. Vaudoyer in: Boldini 1842 – 1931, Ausst.-Kat. 1931, 17 f. 64

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Boldinis Femmes à la mode Wie aber ist Boldinis Darstellung der Femmes à la mode72 rückblickend zu werten? Welches Frauenbild drückt sich in seinen Porträts aus? Olivier Deshayes entschied in dieser Frage klar gegen Boldini, indem er dessen einschlägige Bildnisse nicht nur als monoton, sondern überdies als frauenfeindlich titulierte.73 In aller Ausführlichkeit legte er diese beiden Kritikpunkte in seinem Essay Boldini: les Belles et la Bête ou l’impossible Rapport à la Femme dar.74 Boldini opfere seine Modelle durchweg dem eigenen, künstlichen Schönheitsideal, dem „fantasme boldinien“75, während er ihre Eigenart oder Persönlichkeit völlig außer Acht lasse. In dieselbe Richtung zielte die Kritik bereits im Jahr 1931, dem Todesjahr des Künstlers. Auch damals hieß es, allerdings noch ohne vorwurfsvollen ­Tenor, Boldini habe neben dem ästhetischen ein erotisches Interesse verfolgt und die Frau, einer Blume gleich, zum Objekt gemacht: Boldini ne veut et ne sait être qu’un peintre sensualiste. […] Les femmes sont, pour lui, de grandes fleurs vivantes, que le désir respire et cueille. Il apprécie et déguste ces pétales de chair, qui donnent leur tiédeur aux pétales des robes.76

Ob die Beziehung des Malers zu seinem Modell tatsächlich derart einseitig war, ob dieses widrige Bild von Boldinis Persönlichkeit der Wahrheit entspricht, ist schwer nachprüfbar. Höchstens über seinen künstlerischen Nachlass lässt sich heute noch ein Eindruck davon gewinnen, wie der Maler selbst weibliche Schönheit und Eleganz verstand. Zunächst fällt auf, dass Boldini – im Widerspruch zum obigen Zitat – nur selten zur Aktmalerei tendierte, dass anstelle anonymer Pin-up-Girls ihm vielmehr elegante, namhafte Damen, darunter die Schauspielerin Réjane, Prinzessin Marthe Bibesco und die italienische Erbin Luisa Casati, Modell standen. Zugegebenermaßen sind Positur, Gestik und Mimik – manchmal auch die Ausstattung – seines Gegenübers auf die Spitze getrieben und die jeweilige, in all ihren Einzelheiten festgehaltene Mode scheint bei Boldini nicht weniger Protagonistin zu sein als ihre Trägerin. Indes: Niemals setzte er die Mode willkürlich ins Bild, sondern immer in Abstimmung auf die Frau, deren Naturell er derart zu unterstreichen beabsichtigte – so geschehen in Il Pastello bianco, dem Porträt eines noch sehr jungen, unerfahrenen Mädchens, und demgegenüber in Cléo de Mérode, dem Bild einer selbstbewussten, erwachsenen Frau, die es gewohnt war, vor Publikum auf der Bühne zu stehen. Auch der Vorwurf, Boldini habe seine Modelle ihrer persönlichen Züge beraubt,77 kann hier widerlegt werden, da physiognomisch keines seiner Frauenporträts einem anderen gleicht. Was allerdings immer wieder begegnete, ist die Betonung der Büste, ob durch einen tiefen Ausschnitt oder eine aufrechte Haltung. Auch hochgesteckte Haare, eine gezielt platzierte Hand oder eine Halskette vermochten den 72   „Les femmes à la mode se firent peindre par Boldini, moins par penchant individuel que par entraînement collectif. Les grandes dames et les grandes courtisanes, les comédiennes fameuses, les opulentes étrangères, toutes vinrent boulevard Berthier“, Vaudoyer in: Boldini 1842 – 1931, Ausst.-Kat. 1931, 16. 73   Vgl. Deshayes 2009, 163 – 169. 74   „[…]c’est un corps objet que nous sommes invités à contempler, pas à désirer, dans la plénitude d’une représentation factice.“, ebda., 166. 75   Ebda., 167 f. 76   Vaudoyer in: Boldini 1842 – 1931, Ausst.-Kat. 1931, 17. 77   Vgl. Deshayes 2009, 167 f.

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Blick des Betrachters auf das weibliche Dekolletee zu lenken, das für den Porträtmaler offensichtlich einen besonderen, ästhetischen Wert besaß. Wenn dazu noch das Kinn gereckt, die Finger gespreizt oder kunstvolle Drehungen beschrieben wurden, stellte sich – wie vielfach erwähnt – rasch ein Anschein von Exzentrik ein. Insbesondere trifft dies auf die Porträts nach 1900 zu, als Boldini seine Modelle immer ausgefallener und mit gesteigerter Bewegtheit und Leichtigkeit posieren ließ, siehe das Ritratto di Rita de Acosta Lydig (Abb. 8) oder La Marchesa Luisa Casati (Abb. 6). Größer, ausladender und fließender – beinahe tänzerisch – erscheinen ihre Gesten, sodass man sich fragt, ob dies nicht auch ein Ausdruck der neu gewonnenen Bewegungsfreiheit der Frau ist. Nicht zuletzt wurde durch den neuen, linienförmigen Schnitt der Kleidung die Vertikale betont, was Boldini malerisch unterstützte, wenn er z. B. eine abfallende Schulterpartie, einen lang gezogenen Hals oder ein paar langgliedrige Arme und Beine wiedergab. Der Schönheitsbegriff, den Boldini über seine Porträts verbreitete, wandelte sich trotzdem nur bedingt, seine Modelle hatten im Großen und Ganzen stets elegant zu sein, d. h. schlank und zartgliedrig und nach der neuesten Pariser Mode gekleidet. Dennoch muss der letztgenannte Aspekt, nämlich die zunehmende Geschmeidigkeit seiner Figuren nach 1900, hervorgehoben werden, bezeugte sie doch den allgemeinen Wandel, die Beschleunigung am Anfang des 20. Jahrhundert.78 Parallel zur modernen Großstadt, die mit den Jahren immer geschäftiger und vergnügungshungriger wurde, geriet Boldinis Malkunst sichtbar dynamischer, kühner, abstrakter. Ob dies nun eher ein Symbol für die Leichtigkeit und Joie de vivre der Wohlstandsgesellschaft war oder eine Antizipation der sich überschlagenden Ereignisse nach 1914? Beides wäre durchaus denkbar. Mit Gewissheit aber lässt sich an Boldinis Portraits à la mode ablesen, dass deren Maler exakt den Moden und Zeitläuften gehorchte; dazu zählte auch die Entwicklung der Damenmode – und somit die Entwicklung der Frau selbst.

Die Ära Prousts Für Künstler/-innen des modernen Zeitalters war eine solche Vertrautheit mit den Moden und Gepflogenheiten der Haute Bourgeoisie nicht unbedingt selbstverständlich; doch Boldini gehörte, ebenso wie Helleu und Sargent, demselben sozialen Milieu wie seine Auftraggeber an. Auch ohne Adelstitel bewegten sie sich in jenen Pariser Kreisen und Etablissements, die von der Luxusgesellschaft und Demimonde frequentiert wurden, allen voran Boldini. Dabei präzisierte der Kunstkritiker Enrico Piceni: Boldini peintre mondain? Bien sûr, il endossait chaque soir son habit pour aller dans le monde, chez Maxim ou au bal de l’Opéra, mais il cachait dans ses poches crayons et calepin et prenait d’innombrables notes pour ses archives secrètes et impitoyables : […]79

Es scheint also, als hätte der Maler seine gesellschaftliche Integrität auch schöpferisch ausgenutzt, wenn er, wie beschrieben, seine tiefen Einblicke ins Pariser Nachtleben zu78   Noch klarer wird dieser Bezug angesichts mehrerer zusammengehöriger Bilder, in denen Boldini den Tanz studierte – darunter verschiedene Porträts der Spanierin Anita de la Feria sowie einer Tänzerin des Moulin Rouge, vgl. Dini/Dini (Hg.) 2006, Kat. 747, 775 und Kat. 857. 79   Piceni: Histoire des ‚Boldini‘ qu’on ne pourra jamais voir à Paris, in: Boldini (1842 – 1931), Ausst.-Kat. 1963, 18 – 22, 21.

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nächst vor Ort notierte, um sie bei nächster Gelegenheit für seine Malerei fruchtbar zu machen. An anderer Stelle wurde ebenfalls betont, dass Boldini sich nicht einfach einen weltbürgerlichen Lebensstil aneignete, sondern unentwegt Studien und Zeichnungen anfertigte, etwa bei Konzerten, im Theater oder Café.80 Ob Boldini sich nun aus Leidenschaft, zu Studienzwecken oder rein von Berufs wegen in den mondänen Pariser Kreisen umtat81 – seiner Porträtkunst war es in jedem Fall zuträglich. Denn je vertrauter ihm das Milieu seiner Klientel wurde, desto müheloser und spielender brachte er deren Porträts zustande, frei von Scheu oder falscher Zurückhaltung. Folglich tendierte Boldini, geradeso wie nach ihm Van Dongen, zu einer scharfsichtigen, im Ansatz sogar karikaturistischen Malerei – ein Zug, der in jüngster Zeit leider kaum erkannt und angesprochen wurde. Boldinis Zeitgenoss/-innen hingegen wussten diese für einen Peintre mondain ungewöhnliche Schonungslosigkeit zu honorieren. Dazu noch einmal Jean-Louis Vaudoyer: Il existe deux catégories, deux qualités de ‚peintres mondains‘. Les plus nombreux consentent passivement à flatter et à encourager toutes les vanités pharisiennes de leur clientèle. Les autres imposent à cette clientèle une manière de voir autoritairement personnelle ; manière souvent cruellement intransigeante ; au besoin féroce. Les premiers sont des courtisans ; les seconds, s’il en faut, des dompteurs.82

Helleu und Sargent waren ebenfalls vertraut mit dem Savoir-vivre ihrer Kundschaft aus Paris, London, Boston oder New York. Schließlich lebten sie selbst kaum anders, reisten durch Kontinentaleuropa, begaben sich nach England und Übersee oder gingen ihrer Leidenschaft für das Meer und, im Falle Helleus, den Segelsport nach. Im Rahmen dieser sowohl privaten wie auch beruflichen Ausflüge nach Deauville empfing Helleu einerseits Kundinnen und schloss andererseits Freundschaften, z. B. mit Coco Chanel.83 Wenn er sich wiederum in Paris aufhielt, verkehrte er, ebenso wie Boldini, in den „bons salons“84 der Stadt. Beide Künstler waren seit Studienzeiten miteinander – und zudem mit Sargent  – befreundet; abseits der Kunst verband sie das gemeinsame Interesse für Mode und Etikette. Helleu und Sargent arbeiteten zeitweilig sogar zusammen und teilten sich auf dem Boulevard Berthier ein Atelier, das später übrigens von Boldini übernommen ­wurde.85 Der gute Geschmack und vornehme Lebensstil von Boldini, Helleu und Sargent stellte für sie also wichtige, berufliche Weichen: Auf der einen Seite konnten sie dadurch einen zahlungsfähigen Kundenstamm gewinnen bzw. ausbauen, auf der anderen Seite förderte er die vielbeschworene enge Beziehung zwischen Maler/-in und Modell – eine Hauptvoraussetzung für das Portrait à la mode. Zuletzt soll hier noch geklärt werden, worauf eigentlich der Erfolgsgarant, der besagte Goût von Boldini, Helleu und Sargent zurückzuführen ist. Dabei bleibt ein Blick auf ihren biografischen Hintergrund nicht aus: Schnell wird klar, dass alle drei, zeitlich   Vgl. z. B. Cardona 1931, 45, 77.   Vgl. ebda., 77: „Être le peintre des gens riches n’est pas toujours une sinécure : Boldini était obligé de vivre un peu leur vie.“ 82   Vaudoyer in: Boldini 1842 – 1931, Ausst.-Kat. 1931, 15. 83   Vgl. Narbaïts in Watrigant (Hg.) 2014, 78 f. 84   Anguissola 2013, 149. 85   Vgl. hierzu Cardona 1931, 70; Narbaïts in Watrigant (Hg.) 2014, 19. 80 81

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wie auch künstlerisch, in demselben Klima aufwuchsen, nämlich in der Ära vor 1914, die Marcel Proust zum Gegenstand seines literarischen Hauptwerkes À la Recherche du Temps perdu machte. Jeder von ihnen hatte, wie es sich damals ziemte, eine europäische Erziehung genossen, war Kosmopolit, Mann von Welt und stolzer Pariser mit einem Faible für die angelsächsische Kultur. Boldini stach dabei durch das hohe Renommee seiner Auftraggeber/-innen und Modelle hervor, darunter auch der Maler James Abbott McNeill Whistler sowie die schon genannten Cléo de Mérode und Robert de Monte­ squiou. „Avec ses portraits, nous avons une galerie de la haute société mondaine au tournant du siècle qui fournira un cadre à la Recherche“86, so der Eindruck des Autors von Proust et l’Art pictural, Kazuyoshi Yoshikawa. Denn sowohl in Prousts Roman als auch in der Kunst Boldinis begegnet einem dieselbe illustre, mal narzisstische, mal übersättigte Gesellschaft der Belle Époque. Helleu wies sich unterdessen weniger über seine beruf­ lichen, dafür umso mehr über seine privaten Beziehungen als ein Kind seiner Zeit aus. Speziell seine langjährige Freundschaft mit Proust wurde immer wieder zur Sprache gebracht: Überliefert ist sie durch ein von Helleu gemaltes Porträt seines Schriftstellerfreundes auf dem Totenbett,87 sowie durch die von Proust geschaffene, Helleu nachempfundene Romanfigur Elstir aus der Recherche.88 Neben Proust war De Montesquiou eine der schillerndsten Gestalten der Belle Époque und überdies mit allen drei Künstlern eng befreundet. Seine Meinung als Romancier und Essayist, vor allem aber als Ästhet und Kunstsammler wurde in Paris gehört und hoch geschätzt, weshalb die Empfehlungen Montesquious und dessen Kontakte zur Hautevolee für damalige Künstler/-innen umso wertvoller waren.89 Z. B. tat sich erst durch Montesquiou für Helleu eine neue, reiche Kundenschar auf.90 Im Gegenzug kreierten beide Maler markante Profilbildnisse ihres Mäzens  – Ersterer im Kaltnadelverfahren (undatiert, Musée Bonnat, Bayonne) und Letzterer in Öl (Abb. 10). Boldini zeigte Montesquiou im Stil des perfekten, dandyhaften Gentlemans: voller Selbstbeherrschung, Eleganz und Kultiviertheit. Sein Habit weist dementsprechend aristokratische Attribute auf, wie die gebügelten Manschetten, ein Paar weiße Glacéhandschuhe und einen polierten Spazierstock, den der Porträtierte gut sichtbar vor seinem Oberkörper emporhält. Der Eindruck, es handle es sich dabei um eine monarchische Insignie, passt wiederum mit dem zeitspezifischen Selbstverständnis des Dandys als „une espèce nouvelle d’aristocratie“91 zusammen. So sehr, wie diese Aufmachung Montesquious gesellschaftliche Klasse bezeugt, so wenig entbehren seine Pose und sein Gesicht, speziell der filigrane, gewachste Schnurrbart, eines gewissen Narziss­mus  – auch dieser ein Merkmal des zeitgemäßen, modischen Dandys. Es verwundert daher nicht, dass die Öffentlichkeit von diesem Bildnis ebenso begeistert war

  Yoshikawa 2010, XIII. Les Peintres mondains contemporains, 205 – 225, 212.   Helleu habe das Porträt post mortem auf ausdrücklichen Wunsch von Proust unmittelbar nach dessen Tod angefertigt, vgl. Howard-Johnston in Watrigant 2014 (Hg.), 276. 88   Vgl. dazu Anguissola 2013, La Nostalgie du Présent chez Proust, Helleu et Boldini, 145 – 154. Zur Figur des Elstir vgl. Aurore Le Pogan-Laloy: Elstir, in Watrigant (Hg.) 2014, 58 f. und Howard-Johnston: ‚Bonjour M. Elstir‘, in ebda., 281 – 283. Gemäß Yoshikawa soll Proust sogar den Namen seiner Romanfigur aus demjenigen Helleus abgeleitet haben, vgl. Yoshikawa 2010, Les Portraits et les Marines d’Helleu, 206 – 210, 209. 89   Vgl. dazu De Montesquiou 1901; ders. 1913. 90   Vgl. Narbaïts in Watrigant (Hg.) 2014, 33. 91   Baudelaire 2002 – 2006, 711. 86 87

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Portrait à la mode: Vom 19. ins 20. Jahrhundert – eine Zeitenwende

wie Montesquiou selbst, der Boldini als Freund und Porträtisten überschwänglich dafür dankte.92 An Bekanntschaften wie diesen zeigt sich noch einmal, wie eng Boldini, Helleu und Sargent mit der Gesellschaft und auch der Zeit vor 1914, der Ära Prousts, verbunden waren. Es ist daher nur logisch, dass die Zäsur des Ersten Weltkrieges, die den eigent­ lichen Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert markiert, an ihrer Porträtkunst nicht folgenlos vorüberging. So schien die bei allen drei Künstlern beliebte Technik der Pastellmalerei nicht mehr den zukünftigen Publikumsgeschmack zu saturieren; fast schon abrupt kamen Boldini und Helleu aus der Mode, galten als passé, als Gestalten einer anderen, vergangenen Epoche.93 In der Wahrnehmung des Pariser Publikums lag die Belle Époque damals unsäglich weit zurück: „Le Paris de 1900 est, pour les jeunes gens d’à présent, une époque à demi-fabuleuse. La Guerre, pour les opposer, a impitoyablement séparé deux mondes.“94

Fazit Diese erste Vergleichsreihe diente als Auftakt zu jenem breiten Spektrum an Portraits à la mode, das sich am Beginn des 20. Jahrhunderts auftat. Es wurden die wichtigsten Vorläufer des autonomen weiblichen Figurenbildes, etwa Portrait de Madame *** von Carolus-Duran, vorgestellt, um daran anknüpfend den entsprechenden kunsthistorischen Beitrag Boldinis zu evaluieren. Dabei wurde deutlich, dass Boldini die Porträtkunst im Allgemeinen und das Portrait à la mode im Speziellen langfristig bereicherte, und dies zu einer Zeit, als man das gemalte Porträt praktisch für todgeweiht hielt.95 Mehr noch als seine Wegbegleiter Helleu und Sargent vermochte Boldini aus dieser Regression Profit zu schlagen und rückte – mit Kunstgriffen, welche die Gattung bis dato nicht gesehen hatte – seine Porträts entschieden vom Vorbild der Realität bzw. der Fotografie ab (z. B. Abb. 6). Einige Exemplare sind fast futuristisch zu nennen, dank dynamisierender Elemente wie Wirbel, Spiralen oder Zickzack-Linien. Zudem erhielten Boldinis Portraits à la mode durch die Art, wie er seine Modelle posieren ließ, einen unverwechselbaren Charakter. Dass dabei das Ergebnis im Einzelfall geziert oder unnatürlich anmutete, interessierte hier weitaus weniger als der kulturhistorische Hintergrund: Die gesteigerte Bewegungsfreiheit der Frau, der Boldini mit solch dynamischen Porträts wie demjenigen der Rita Acosta de Lydig (Abb. 8) ein bleibendes Denkmal setzte. Darüber hinaus hat der Vergleich mit Gemälden von Helleu und Sargent eine gewisse Kongruenz bzw. Wesensverwandtschaft zwischen diesen drei Positionen ergeben, basierend auf einer bestimmten kulturellen Prägung, auf ähnlichen Werdegängen und nicht zuletzt dem immer gleichen Sujet. Von technischer Seite ist zunächst das auf Weiß und Schwarz konzentrierte Kolorit zu erwähnen; an zweiter Stelle kommt, ausgenommen bei Sargent, der lockere bis wilde Pinselstrich. Dieser trug auch beträchtlich zu der wirkungsvollen Momenthaftigkeit bei, die letztlich ein Hauptkriterium der hier studier  Vgl. Borgogelli in: Giovanni Boldini, Ausst.-Kat. 1991, 36.   Vgl. Narbaïts in Watrigant (Hg.) 2014, 84; Marchesi in Boldini 2011, 139. Zu Boldini vgl. auch GeorgesMichel 1954, 260. 94   Vaudoyer in: Boldini 1842 – 1931, Ausst.-Kat. 1931, 9. 95   Vgl. Burckhardt 1933, 316. 92 93

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Les Instantanés de la Grâce de la Femme – Das Portrait à la mode in der Belle Époque

ten Instantanés de la Grâce de la Femme96 – Momentaufnahmen weiblicher Grazie – bildet. Angesichts dieser Spontanität mag es abwegig klingen, doch tatsächlich stellte sich als weiteres verbindendes Element der Portraits à la mode eine gewisse Theatralik bzw. Heroik heraus. Kunsthistorisch reicht diese zurück auf die Grande Manière des 17. Jahrhunderts bzw. auf das daraus entwickelte Rollenporträt des 18. Jahrhunderts. Im Falle von Sargent und Boldini wurde jene Rückbesinnung auch dadurch ersichtlich, dass beide den Alten Meistern huldigten und ihre Komposition, ergo ihre Figur der Figura Serpentinata annäherten. Dabei bedingte ihr Formwille einen spielerischen, eigenmächtigen Umgang sowohl mit der Draperie als auch mit der Figur an sich: Während der Porträtsitzung sollte diese sich regen, sich um ihre eigene Achse drehen oder sich buchstäblich schlängeln; daneben konnte sie kraft der Malerei umgestaltet, z. B. in die Länge gezogen oder überdehnt werden. Indem Boldini hiervon fortlaufend Gebrauch machte, bezeugte er seine künstlerische Selbstermächtigung und profilierte sich erfolgreich als sogenannter ‚Maler der Frauen‘, denn die Konkurrenz, bestehend aus Porträtfotograf/innen und klassischen Porträtmaler/-innen, war damit ausgestochen. Allerdings: Wie zuvor im Manierismus stellte sich als Folge dieser Inszenierungskunst erneut ein gewisser Grad an Uniformität ein; zudem ist eine semantische Beziehung zwischen Modell und Positur nicht immer spürbar. Hierfür wurde Boldini von feministischen Autor/-innen, etwa dem zitierten Deshayes, scharf kritisiert. Wie jedoch die Analyse von Boldinis Frauenbild zeigte, lag es weder in dessen Absicht, die Porträtierte stark zu verallgemeinern, noch sie maßlos zu erotisieren. Vielmehr war es sein Anliegen, aus der zeitgenössischen Mode – inklusive Kleidung, Haartracht, Schmuck und Accessoires – ein bildwürdiges Thema zu machen. Schon allein dadurch erwies er sich als treibende Kraft des Portrait à la mode. Boldini prägte außerdem eine bestimmte feminine Eleganz, charakterisiert durch Jugend und Schlankheit, Geschmeidigkeit, Fragilität und vornehme Blässe, die bereits zu seinen Lebzeiten als Inkarnation des Pariserischen anerkannt wurde.97 Obgleich auch Helleu damals – nach dem Vorbild seiner jungen Gattin Alice – ein typisch französisches Schönheitsideal stiftete, ist es doch Boldini, der weithin als „peintre de la Parisienne“98 im Gedächtnis blieb.99 Zum einen liegt dies daran, dass er in technischer Sicht mehr Wagemut zeigte, zum anderen dass er mit seinem Sujet, der Frau um 1900, freizügiger und kühner als Helleu verfuhr, freilich ohne dabei in Respektlosigkeit abzudriften. In dieser hohen Kunst besteht ein weiteres Merkmal der Portraits à la mode: Sie gehen einerseits weit über das typische Ganzkörperporträt des 19. Jahrhunderts hinaus, sind aber andererseits nicht wirklich erotische Kunst. Diese Grenze überschritten erst spätere Porträtkünstler/-innen, namentlich De Lempicka und Domergue mit pikanten Halbakten. 96   Entnommen ist dieser Ausdruck einem Zitat von Edmond de Goncourt, der 1895 anlässlich einer Londoner Ausstellung folgende lobende Worte für Helleus Radierungen fand: „Je ne sais pas un autre mot pour les baptiser, ces pointes sèches, que de les appeler les instantanés de la grâce de la femme.“, Goncourt: Vorwort zur Ausstellung in der Galerie Dunthorne, London, zitiert nach Watrigant (Hg.) 2014, 139. Derselbe brachte zwei Jahre später einen Catalogue des pointes-sèches d’Helleu (Paris 1897) heraus. 97   Vgl. dazu De Montesquiou 1901, 8. 98   Vaudoyer: Préface, in: Boldini 1842 – 1931, Ausst.-Kat. 1963, 9 – 14, 14. 99   Badea-Paûn attestierte den Porträts sowohl Boldinis als auch Helleus dementsprechend eine „certaine grâce à la française“ in Anlehnung an das Rokoko, Badea-Paûn 2007, 152.

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Portrait à la mode: Vom 19. ins 20. Jahrhundert – eine Zeitenwende

Insgesamt erschienen die Porträts Boldinis gleich in mehrfacher Hinsicht zukunftsorientiert und insofern repräsentativ für den Übergang ins 20. Jahrhundert: in malerischer Hinsicht, im Hinblick auf die neue Mode, Freizügigkeit und Selbstdarstellung der Frau. Deshalb werden in den Portraits à la mode der nächsten Generation immer wieder Rückbezüge u. a. auf Boldini anzutreffen sein; und auch deshalb bilden seine Femmes à la mode gewiss einen idealen Ausgangspunkt, nun die einschlägige Kunst des 20. Jahrhunderts näher zu beleuchten.

Tableaux éventails – Das Portrait à la mode am Vorabend des Ersten Weltkrieges Die sogenannte neue Kunst – Futurismus, Kubismus, Abstraktion – ging auch an der Gattung des Porträts keinesfalls spurlos vorüber, sondern deformierte sie im Einzelnen so stark, dass anschließend Kritiker der École de Paris über eine neue Hässlichkeit, speziell im weiblichen Figurenbild, klagten.100 Natürlich gab es extreme Lösungen, zu denen auch das eingangs erwähnte kubistische Kahnweiler-Porträt von Picasso zählt, doch daneben schufen bestimmte Künstler/-innen einen Ausgleich zwischen beiden Polen  – zwischen den gattungsspezifischen Anforderungen einerseits und der neuen Lehre andererseits: „[B]eaucoup ont gardé une pratique de la figuration et de la représentation du sujet que proscrivent les avant-gardes, qu’il s’agisse du cubisme ou du futurisme.“101 Wenn die Betroffenen also nach wie vor an der figürlichen Malerei festhielten – die ja eines der wenigen Distinktionsmerkmale der École de Paris darstellt –, sich aber gleichzeitig neuer Ausdrucksmittel bedienten, dann beschritten sie damit stilistisch einen Mittelweg. So gehören z. B. jeweils das Frühwerk von Jean Crotti und Marie Laurencin zum Kanon der Portraits à la mode, auch wenn sie von der Kunsthistoriografie bislang noch nicht ausreichend gewürdigt wurden. Beide lieferten nämlich virtuose Beispiele eines gemäßigten Kubismus bzw. Orphismus, die nur aus der Reflexion und Variation von ­Picassos, Braques oder Delaunays Kunst entstehen konnten. Bei der Schweizerin Alice Bailly drang, obwohl sie ebenfalls den Kubisten nahestand, vor allem der italienische Futurismus durch, speziell in ihrem Kolorit, das deutlich kräftiger und heiterer erscheint als bei Crotti oder Laurencin. Für diese zweite Vergleichsreihe wurden Portraits à la mode der genannten drei Künstler/-innen – Bailly, Crotti und Laurencin – zusammengeführt. Sie alle lassen sich als Tableaux éventails102 auffassen – als Bilder, die entweder eine fächerartige Gesamtstruktur oder aber tatsächlich das Motiv des Fächers aufweisen. Dieser ist an sich ein Utensil mit einer jahrhundertealten, kultur- und kunsthistorischen Tradition; im 19. Jahrhundert war er für das elegante Auftreten einer Dame unverzichtbar, und seine Handhabung wurde – anders als beim Spazierstock und Sonnenschirm, die vor allem im Freien aus praktischen Gründen zum Einsatz kamen – als wahre Kunst verstanden.103   Vgl. Robiquet 1938, De Manet à nos Jours, 191 – 206, insbes. 204 f.   Catherine Grenier in: Modigliani et l’École de Paris, Ausst.-Kat. 2013, 12. 102   Der Begriff wurde ursprünglich eigens für Bildnisse von Crotti geprägt, vgl. Francis M. Nauman: Préface, in: Bertoli (Hg.) 2007, 13 f., 14. 103   Zum Fächer während der Belle Époque vgl. L’Éventail, Ausst.-Kat. 1985. 100 101

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Tableaux éventails – Das Portrait à la mode am Vorabend des Ersten Weltkrieges

Des Weiteren begegnete der Fächer als Attribut der Spanierin bzw. als Symbol von Temperament und spanischer Lebenskultur – ebenso wie die Mantilla, der traditionelle schwarze Spitzenschleier. Der modernen Kunst, die vorübergehend einer Euphorie für Spanien und dem Flamenco unterlag, sind hierfür etliche Beispiele zu entnehmen – ein Großteil davon Porträts sogenannter Danseuses espagnoles, spanischer Tänzerinnen. Gerade diese vermitteln ein Bild starker Weiblichkeit, in deren Tanz sich Stolz und kontrollierte Leidenschaft mischen. In dieser Studie werden die Danseuses espagnoles allerdings nicht berücksichtigt, da sie eine spezielle Unterart des Porträts bzw. des Kostümbildes bilden, das sich nur in Teilen mit dem Portrait à la mode deckt. Unter dem Begriff ­Tableaux éventails sollen hier vielmehr Einzelporträts, insbesondere Büsten, besprochen werden, die auf die Figur fokussiert und malerisch stark zurückgenommen sind. Auch den Fond und die Requisiten arbeiteten die Schöpfer dieser Porträts kaum aus, sondern beließen sie mit Absicht neutral, sodass der Ansatz Boldinis (vgl. z. B. Abb. 9) hier förmlich auf die Spitze getrieben scheint. Die Tableaux éventails werden dementsprechend den künstlerischen Fortschritt am Vorabend des Ersten Weltkrieges sichtbar machen und die spannende Frage aufwerfen: Wie gelang es damals, das Portrait à la mode zu bewahren, während die Kunst sich zunehmend abstrahierte? Welche weiteren Schlüsse ergeben sich daraus in Bezug auf die Essenz eines Portrait à la mode?

Das Fächer-Motiv Bereits auf einer großen Anzahl modischer Frauenporträts aus dem 19. Jahrhundert, z. B. von Manet oder Renoir, erblickt man weibliche Ganzfiguren ausgestattet mit einem Faltfächer.104 Auch Emiliana Concha de Ossa und Madame X wurden mit demselben kostbaren Accessoire porträtiert (vgl. Abb. 3 und 7). Tatsächlich war der Fächer bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein sowohl ein Statussymbol als auch ein modisches Requisit; obendrein benutzten ihn junge Damen gern als Hilfsmittel zur Koketterie. Über bestimmte Gesten konnten in der Fächersprache, die in speziellen Handbüchern überliefert wurde, das eigene Befinden ausgedrückt oder geheime Botschaften gesandt werden. Noch im Jahr 1902 rühmte Uzanne in Les Arts et les Artifices de la Beauté genau diese Eigenschaft des Fächers: Est-il bijou plus coquet que l’éventail, hochet plus charmant, ornement plus expressif, dans les mains d’une femme d’esprit et d’une reine de beauté ? Lorsqu’il est manié dans les coquetteries des réceptions intimes, il devient tour à tour l’interprète des sentiments cachés, la baguette magique des surprises féeriques, l’arme défensive des entreprises amoureuses, le paravent des pudeurs soudaines, le sceptre, en un mot, de la grâce.105

Daher bildete der Fächer für die Frau, so Uzannes Folgerung, „le plus adorable ornement, celui qui met le plus spirituellement en relief ses fines manières, son élégance native, son esprit et ses grâces enchanteresses“106.

104   Beispielhaft: Édouard Manet, Jeanne Duval, 1862; ders., La Dame aux Éventails – Portrait de Nina de Callias, 1873 – 1874; Auguste Renoir, Femme à l’Éventail, 1880. 105   Uzanne 1902, 288. 106   Ebda., 288 f.

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Diesen Aussagen entsprechend boten weibliche Figuren samt Fächer auch in der Kunst nach 1900 weiterhin ein gängiges Bildthema, dem sich Künstler/-innen wie Edgar Degas, Alexej von Jawlensky, Alexander Archipenko oder Picasso auf ganz unterschiedliche Weise näherten. Letzterer integrierte das Fächer-Motiv, wie andere Kubisten auch, wiederholt in seine Stillleben, was wiederum zeigt, dass sich dieses Motiv insbesondere für den kubistischen Stil eignete: Je nachdem wie weit man ihn öffnet, erinnert der Faltfächer schließlich an ein Dreieck oder einen Halbkreis, somit an eine geometrische Form. Ferner harmonierten die typischen Falten des Fächerblatts mit der Formensprache des Kubismus und fügten sich nahtlos in die facettierte Bildoberfläche eines entsprechenden Gemäldes ein.

Bildvergleiche L’Éventail, Jeu d’Éventail/Femme à l’Éventail und Femme à l‘Éventail vert Die klare, geradlinige Beschaffenheit eines Fächers – und damit sein ästhetisches Potential – erkannte als eine der Ersten Marie Laurencin. 1911 legte sie mit L’Éventail (Abb. 11) ein durchaus programmatisches Werk vor, dem weitere Tableaux éventails, darunter ein kleinformatiges Stillleben samt Fächer,107 folgten. Schließlich wurde auch ein poetisches Werk zu Ehren Laurencins – mit Beiträgen von u. a. Jean Moréas, Maurice Chevrier und Max Jacob – analog zu ihrem geliebten Bildmotiv mit L’Éventail108 betitelt. Auf dem erwähnten Gemälde von 1911, um das es nun vorrangig gehen soll, deutete die Künstlerin außer der Halbfigur und deren Faltfächer lediglich das Fragment eines Vorhangs an, sodass kaum etwas von dem titelgebenden Objekt ablenkt. Ihr Frauen­ porträt ist grob und linear ausgeführt; dunkle Striche konturieren die Büste, den Hals und die dichten, zu einem seitlichen Zopf geflochtenen Haare. Mit Grau und Weiß wurden die so entstandenen Flächen gefüllt und teils schattiert. Dabei flachte Laurencin die ursprünglichen Formen ab, insbesondere das Profil der Frau, was ihr Gesicht leicht maskenhaft erscheinen lässt. Auf den ersten Blick erinnert es vielleicht an das kubistische Gemälde Les Demoiselles d’Avignon, doch tatsächlich entstellte und verzerrte Laurencin ihre Figuren weder hier noch in der Folge je so massiv, wie es Picasso tat. Auch schöpfte sie ihre Inspiration nicht allein aus der Kunst ihrer Zeitgenoss/-innen, sondern ließ sich damals stark von griechischer, ägyptischer oder persischer Kunst im Bestand des Pariser Louvre beeinflussen.109 Dennoch wurde sie namentlich durch Apollinaire den Pariser Kubisten, darunter Gleizes, Le Fauconnier und Metzinger, zugeordnet, mit denen sie sich beim Salon des Indépendants 1911 einen Ausstellungssaal teilte.110

 Laurencin, L’Éventail, um 1919, Tate Gallery, London, aus: Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013., Fig. 8.   Erschienen in Paris 1922. Teile davon zitiert in Pierre 1988, 129 – 133. Eine Ausstellung in Japan, realisiert in Kooperation mit dem Musée Marie Laurencin, verschrieb sich 2010 ebendiesem Gedichtband und dem Fächermotiv: The Fan of Marie Laurencin, 26.01.–28. 03. 2010, Kawamura Museum, Sakura, Japan. 109   Vgl. Marchesseau: Une Biche parmi les Fauves, in: Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013, 16 – 137, 62. 110   „[…] les salles 41 et 43 où résident cette année tout l’effort et toute la nouveauté du Salon. Je parlerai de ces salles; qu’il me suffise aujourd’hui de signaler salle 41 les œuvres importantes de Delaunay, de Le Fauconnier, de Marie Laurencin, de Metzinger, de Gleizes, de Léger, de Lehmbruck, de Maroussia, de Vlaminck, de Van Dongen, […].“, Apollinaire: Les Indépendants, in: L’Intransigeant (20. 04. 1911), zitiert nach Apollinaire 1993, 206 – 210, 206 f. 107 108

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Ganz ähnlich sah das selbst gewählte Umfeld von Alice Bailly aus: Seit 1906 in Paris ansässig, schloss sich die gebürtige Schweizerin den Kubisten des Montparnasse und der Pariser Salons an, um schlussendlich weitere Strömungen wie den italienischen Futurismus oder den Orphismus zu absorbieren. Damit war sie, auch ohne engeren Kontakt zu Picasso oder Braque zu pflegen, ein vollwertiges Mitglied der internationalen Avantgarde von Paris.111 1913 wurde auch sie von Apollinaire als eine der fortschrittlichsten Positionen beim Salon des Indépendants gelobt: „Mlle Alice Bailly s’est entièrement renouvelée. Son cubisme nuancé est une des nouveautés de ce salon“112. Der besagte „cubisme nuancé“ Baillys schlug sich dabei vor allem in dem 1913 vollendeten Bildnis Jeu d’Éventail oder Femme à l’Éventail (Abb. 12) nieder, hinter dem sich realiter keine Unbekannte, sondern die Schwester der Malerin, Louisa Bailly, verbirgt. Diese erscheint darauf in schwarzer Robe, geschmückt mit zwei rosa Rosen sowie einem breiten, das Bild beherrschenden, weißen Fächer. Allem Anschein nach interessierte sich Bailly als Künstlerin ebenfalls für die eingangs beschriebenen, formalen Eigenschaften des Fächers. Doch obgleich sich Jeu d’Éventail rückblickend in die zahlreichen kubistischen Umsetzungen des Themas ‚Frau mit Fächer‘ einreihen ließe,113 ist es in erster Instanz doch ein Porträt – noch dazu ein sehr persönliches – und kein Werk des Kubismus im eigentlichen Sinne: Bailly zerlegte die Bildoberfläche ihrer Version zwar in kleine, teils kantige, teils abgerundete Fragmente, jedoch ohne die Figur vollständig darin aufgehen zu lassen. Vielmehr sind Fächer, Figur und Fond optisch voneinander abgegrenzt und als Einzelformen noch gut zu distinguieren. Die übergreifende, dem Futurismus entlehnte Rhythmik lockert das Ganze wiederum etwas auf und nimmt dem Bild jene Schwere, die anderen gleichnamigen Beispielen, darunter Picassos Femme à l’Éventail, innewohnt. Blickt man zurück auf L’Éventail von Laurencin, dann fällt, wiederum im Kontrast zu Picassos Demoiselles, die äußerst schmale, feingliedrige Hand ins Auge, in der Laurencins Modell den weißen Fächer hält. Ob sie sich damit tatsächlich Luft zufächelt, ob sie den Fächer nur dekorativ einsetzt oder damit eine Botschaft aussendet  – darüber kann nur spekuliert werden. Hier interessiert vielmehr, mit welcher Intention der Fächer ins Bild gesetzt wurde. Um die Porträtierte zu nobilitieren? Um Bewegtheit in die Figur zu bringen oder um eine bestimmte Haltung zu forcieren? Mit Sicherheit entstanden zahlreiche Ganzkörperporträts mit Fächer in genau dieser Absicht, partiell wohl auch die Büste Laurencins. Schließlich stellt sich durch die Beigabe des Fächers schon in diesem relativ kleinen Ausschnitt eine bestimmte Körpersprache ein: Der rechte Arm und die rechte Hand sind in Aktion, der Kopf neigt sich in Richtung des Fächers, wobei das Kinn leicht gereckt wird. Diese Haltung drückt, gepaart mit der undurchsichtigen Miene, einen gewissen Hochmut aus. Ebenso verhält es sich in Laurencins Gemälde Femme à l’Éventail114, das etwa zur gleichen Zeit entstand und in zwei Hauptwerken über den   Vgl. Paul-André Jaccard: Paris (1906 – 1914), in: Alice Bailly, Ausst.-Kat. 2005, 15 – 62, insbes. 42 und 45.   Apollinaire: A travers le Salon des Indépendants, in: Montjoie! (18. 03. 1913), zitiert nach Apollinaire 1993, 373 – 383, 382. 113   Beispielhaft: Picasso, Femme à l‘Éventail, 1908, Ermitage, Sankt Petersburg; Jean Metzinger, Femme à l’Éventail, 1912, Solomon R. Guggenheim Museum, New York; Henryk Haydn, Parisienne à l’Éventail, 1912, Musée national d’Art moderne, Centre Georges Pompidou, Paris. 114   Marie Laurencin, Femme à l’Eventail, 1909, Öl auf Leinwand, 65 × 50 cm, Privatsammlung. Vgl. Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 1986, Cat. I. 111 112

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K ­ ubismus, nämlich Du Cubisme115 sowie Méditations esthétiques116, reproduziert wurde. In beiden Fällen rückt die Hand der Dargestellten in die Nähe ihres Gesichts und, zusam­ men mit dem aufgeklappten Fächer, automatisch in den Bildmittelpunkt. Offensichtlich lag dies im Interesse der Künstlerin; denn gerade der Hand räumte Laurencin in ihrer Bildniskunst einen wichtigen Platz ein, sei es durch die Wahl des Ausschnitts, die Gestik oder den zusätzlichen Einsatz von Accessoires. Überdies stilisierte Laurencin die Hand im Einklang mit der übrigen Anatomie ihrer Figuren, sodass auch dieses Körperteil im Bild stets unnatürlich schlank und ebenmäßig erscheint. Die Gepflogenheit, die Hände des Modells zu exponieren, sie auf eine freie, doch wiedererkennbare Art darzustellen, lässt sich gleich bei mehreren Vertreter/-innen des Portrait à la mode beobachten: bei Boldini, der all seine Frauenfiguren mit übertrieben zarten, gespreizten Fingern versah, sowie bei Jean Crotti, dessen Tableaux éventails nun neben denjenigen von Laurencin genauer betrachtet werden sollen. In seiner Serie von Tableaux éventails, durch die sich Crotti als Kenner des Orphischen Kubismus bewies, stilisierte er die Hände der Figuren, meist nur eine Hand pro Bildnis, mindestens ebenso stark wie Laurencin. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert Femme à l’Éventail vert (Abb. 13) aus dem Jahr 1914. Darauf nämlich ist die Hand, von der Anzahl ihrer Finger einmal abgesehen, anatomisch ungenau wiedergegeben und scheint der im Ganzen eher abstrakten Bildstruktur angepasst bzw. eingeschrieben zu sein. Sie hält den im Titel erwähnten, dunkelgrünen Fächer, der mit dem ansonsten blassen Kolorit dieses Porträts bricht und deshalb sogleich ins Auge fällt. Aber auch auf die Porträtierte selbst wird man aufmerksam gemacht: Vom Fächer am linken Bildrand über den Arm und die Schulter bis hin zum gesenkten Blick der jungen Frau zieht sich quer durch die Bildmitte eine Diagonale, der die Augen des Betrachters automatisch folgen.117 Damit dient der Fächer hier abermals nicht als bloße Zierde, sondern erfüllt eine vermittelnde Funktion, die erst in der Konfrontation mit dem Publikum zutage tritt. Hinzu kommt die beschriebene Bedeutung des Fächers, die einerseits im Objekt, andererseits im Erwartungshorizont des Zuschauers angelegt ist. Sind diesem etwa ältere Kunstwerke, die eine Frau mit Fächer zeigen, vertraut, wird er weit mehr gegenständliche Elemente oder ein komplettes, möglichst prachtvolles Interieur erwarten. Diese Erwartungen zu bedienen, lag Crotti jedoch fern, da er, wie er selbst sagte, nach dem Prinzip des „antinaturisme“118, also frei vom Diktat der Natur und Gegenständlichkeit arbeitete. Dadurch, dass er mit dem Fächer einen gleichermaßen geschichtsträchtigen wie profanen Gegenstand in zeitgenössischer, innovativer Manier wiedergab, forderte er sein Publikum bzw. dessen Erwartungsnormen heraus. Dies macht den Fächer auch in rezeptionsästhetischer Hinsicht, und erst recht in modernen Porträts wie den hier gezeigten, zu einem hochinteressanten Bildelement. Im Folgenden soll es um die weiteren Charakteristika von Crottis Tableaux éventails gehen. Dabei wird, nachdem der Fächer nun eingehend behandelt wurde, dessen Trägerin, d. h. die Porträtierte selbst, im Vordergrund der Untersuchung stehen. Sie   Albert Gleizes/Jean Metzinger: Du Cubisme, Paris: Éditions Figuière 1912.   Apollinaire: Méditations Esthétiques. Les Peintres Cubistes, ebda. 1913. 117   Zahlreiche von Crottis Tableaux éventails weisen eine ähnliche Blickführung und Betonung der Diagonalen auf, vgl. z. B. Crotti, Le Corsage rouge, um 1914, Privatsammlung, aus: Bertoli (Hg.) 2007, Cat. 14 – 16. 118   George 1930, o. S. 115 116

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scheint sich hier, anders als auf Porträts aus der Zeit um 1900, weniger durch ihre Kleidung, dafür über ihre Physiognomie und körperliche Gestalt als moderne Frau auszuweisen. Crottis Tableaux éventails Die Tableaux éventails von Crotti zeichnen sich, wie erwähnt, durch ihre spannungsvolle Mischung aus Altbekanntem und Neuem aus. Das überlieferte Zubehör eines Damenporträts – ein Fächer, ein Hut, ein Buch, ein Schoßhündchen oder eine Katze – wirkt dabei jedoch nicht fehl am Platz, sondern fügt sich dem Tableau éventail harmonisch ein. Formal besteht dessen Innovation in parallelen, blaugrauen Farbflächen, die wie breite Bänder über die Leinwand laufen und sowohl das Modell als auch deren Accessoires umspielen. Diese Bänder verjüngen und biegen sich, reichen vom einen zum anderen Bildrand oder enden in der Bildmitte. Auf Anhieb lässt der optische, rhythmisierende Effekt, den vor allem die Parallelität dieser Bänder verursacht, an die Simultankontraste, ein wesentliches Stilmerkmal des Orphismus, denken.119 Tendresse (1914)120 kann dabei gemäß der Kunsthistorikerin Marine de Weck als Kernstück von Crottis Serie begriffen werden, gerade auch wegen der irisierenden Wirkung, die der Maler hier mithilfe eines getupften Farbauftrags erreichte. Der Bildoberfläche verlieh er damit nicht nur Rhythmus, sondern auch Atmosphäre und Poesie.121 Vergleicht man Tendresse und Femme à la Toque rouge (1915)122 miteinander – beides Tableaux éventails, die in diversen Ausstellungen zu sehen waren –, stellt man fest, dass sich die getupften Farbfelder im späteren Beispiel regelrecht auflösen und zu einer changierenden Fläche zusammenfügen. In dem finalen Werk der Serie, Femme parée123 aus dem Jahr 1915, ist die Abstraktion dann schließlich vollkommen; einen Frauenkopf oder eine weibliche Büste, wie man sie aus den Vorgängerwerken kannte, sucht man hier vergebens. „Le processus de stylisation et de schématisation des formes, visages et éventails, aboutit à des expériences précoces et novatrices d’abstraction (Femme parée, 1915)“124, so der Kommentar von Jean-Hubert Martin zu diesem Schlüsselwerk Crottis. Allerdings begann Crotti schon zuvor damit, die Gesichter seiner Figuren auf das Wesentliche zu reduzieren, ganz so wie Laurencin in ihrem Frühwerk. Übrig blieben – siehe Femme à la Toque rouge – Auge und Mund, Braue und Nase, die auch hier wieder durch eine gemeinsame Umrisslinie miteinander verbunden sind. Das Schwarz der angedeuteten Wimpern und Iris kontrastiert – ebenfalls analog zu L’Éventail und weiteren Figuren Laurencins – mit dem weißen Inkarnat; allerdings bildet das recht große, schlitzförmige Auge bei Crotti insofern eine Ausnahme, als er seine Frauengestalten in der Regel mit geschlossenen Augen bzw. mit niedergeschlagenen Lidern versah. Die Kopfform der Femme à la Toque rouge stimmt wiederum exakt 119   Im Orphismus verorteten Crotti auch Francis M. Nauman und Marine de Weck, insbesondere während der Jahre 1914 – 1915, vgl. Nauman: Préface, in Bertoli (Hg.) 2007, 13 – 24, 17 und De Weck: Essai, in ebda., 25 – 57, 29. 120   Jean Crotti, Tendresse, 1914, Öl auf Leinwand, 55 × 46,5 cm, Privatsammlung, vgl. ebda., Cat. 14 – 03. 121   De Weck nannte Crotti daher auch einen „peintre-poète“, vgl. De Weck in ebda., 30. 122   Jean Crotti, Femme à la Toque rouge, 1915, Öl auf Leinwand, 55 × 46 cm, Privatsammlung, vgl. ebda., Cat. 15 – 01. 123   Vgl. ebda., Cat. 15 – 06. 124   Jean-Hubert Martin: Crotti à Contre-courant, in: Jean Crotti, Ausst.-Kat. 2008, 10 – 43, 14.

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mit derjenigen von Laurencins Figuren überein: Jene ist „ogival“125, schrieb einst André Breton, läuft also in Richtung des Kinns spitzbogig zu. Damit entspricht die Kopfform dem Ungleichgewicht, das zwischen den weit auseinanderliegenden Augen und dem eher kleinen Mund – bei Crotti nur durch einen kurzen Strich oder Punkt markiert – besteht. Es ist überliefert, dass Crotti die Schönheit eines Gesichts über dessen einzelne Bestandteile und verstärkt über die Augenpartie wahrnahm;126 trotzdem ist diese in seinen Tableaux éventails vermehrt nur in Strichform wiedergegeben. Welcher Ausdruck, welcher Charakter resultiert aus diesem Detail und aus der beschriebenen Physiognomie insgesamt? Und wird diese Wirkung noch durch andere Bildelemente oder Ausdrucksmittel unterstützt? In weiten Teilen lassen Crottis Frauenköpfe aus den Jahren 1914 bis 1915 einen melancholisch, oder gar traurig, anmutenden Ausdruck erkennen, untermalt durch einen Vorhang oder Schleier, als den man die erwähnten Bänder in seinen Tableaux éventails interpretieren kann. Parallel dazu weisen auch viele Porträts von Laurencin einen Vorhang auf, angefangen bei L’Éventail (Abb. 11) über die 1913 entstandene Halbfigur La Liseuse (Abb. 14) bis zu La Prisonnière127 von 1917, worin die Porträtierte hinter einer diaphanen, mit einem Gitternetz versehenen Gardine erscheint. Insbesondere die ­lesende Figur in La Liseuse strahlt dabei eine starke Ruhe und Melancholie aus: Sie neigt ihr Haupt zur Seite, stützt sich auf den rechten Arm und wendet ihren Blick dem auf­ geschlagenen Buch in ihrem Schoß zu. Was hier so anschaulich durch ihre Körperhaltung und Lektüre vermittelt wird, ist der Zustand geistiger Ferne, das Entrücktsein der Dargestellten vom Betrachter und bisweilen auch von der irdisch-konkreten Welt. Hierzu trägt zum einen die Blickrichtung – bei Laurencin meist aus dem Bild heraus, bei Crotti nach unten – bei, zum anderen die Technik, also die Auswahl und Applikation der Farben. Wenn die Farbe dabei hauchdünn oder auch in mehreren Schichten übereinander appliziert wurde, dann zugunsten eines schwerelosen, diaphanen Bildeindrucks. „[F]ormes quasi inconsistantes mais d’une infinie grâce instructive“ erkannte der Kunstschriftsteller Louis Chéronnet in Laurencins Frauenporträts, sowie „visions vaporeuses que teinte avec raffinement exquis une palette précieuse aux gammes tourangelles.“128 Diese zarte, duftige oder wässrige Note enthob Laurencins Jeunes Filles von der Realität und versetzte sie in eine kulissenhafte Traumwelt – „un décor de conte de fée mis au goût des grandes personnes très averties“129. Laurencin selbst wurde in Anspielung auf ihre Figuren als Märchenfee oder Fee des Kubismus angeredet.130 Interessant ist, dass zeitgenössische Kritiken zu Crotti ganz ähnlich klangen und dass auch er auf das irreale, fantastische Moment seiner Bilder festgelegt wurde, wie z. B. in Georges Essai Jean Crotti et le Démon de la Connaissance: „Il situe le motif pittoresque dans un plan poétique, 125   André Breton: Madame Marie Laurencin, in: Le Carnet Critique 2 – 3 (Dezember 1917–Januar 1918), 28 f., 28. 126   Vgl. De Weck in Bertoli (Hg.) 2007, 45 – 47. 127   Marie Laurencin, La Prisonnière, 1917, Öl auf Karton, 22,9 × 13 cm, Musée Marie Laurencin, Tokyo, vgl. Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013, Cat. 38. 128   Chéronnet 1933, 204. 129   Basler/Kunstler 1929, Les Femmes Peintres, 81 – 83, 82. 130   Vgl. Carco 1924, 151.

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irréa­liste, fictif. […] Dès lors, ses toiles perdent leur sens littéral. Dès lors, la logique perd tout contrôle et tout droit de vue sur les données de son imagination.“131 Um nachzuempfinden, wie es zu derartigen Zuschreibungen gekommen war, sollte man auch das Farbspektrum der Tableaux éventails heranziehen, das im Falle beider Künstler/-innen in eine klare Richtung tendiert: Kühle Pastelltöne und verschiedene Graustufen dominieren sowohl in Femme à l’Éventail vert und Tendresse als auch in La Liseuse und La Prisonnière Darunter mischt sich bei Crotti ein heller Blauton, zu dem das eingestreute Rot in der Kleidung seiner Figuren einen effektvollen Kontrast bildet.132 Auch Laurencin sollte sich im weiteren Verlauf ihrer Karriere auf Blau spezialisieren, ­jedoch unter Auslassung von Zinnoberrot, das sie gegebenenfalls durch Türkischrot ­ersetzte.133 Sprach man gegen 1900, als Helleus charakteristisches, cremiges Weiß bis in die Raumgestaltung vorgedrungen war, von einem Blanc Helleu, so trug wenig später in gleicher Weise ein bestimmter, rauchiger Blauton den Namen Laurencins.134 Dabei war die Farbe Blau damals eindeutig historisch wie kulturell konnotiert; etwa assoziierte man sie seit der Romantik mit einem entsprechenden Gemütszustand – Traum, Sehnsucht, Melancholie – oder kannte sie seit Langem als Nationalfarbe Frankreichs.135 Die eine wie die andere Symbolik gehen zwar auf historische Phänomene des 18. und 19. Jahrhunderts zurück, blieben hiernach jedoch bestehen oder erstarkten sogar. Demnach dürften der im 19. Jahrhundert aufgewachsenen Laurencin, die sich noch dazu für Literatur begeisterte, solche Bedeutungen wohlvertraut gewesen sein. Und auch wenn die verschiedenen Konnotationen mit den Jahrzehnten verblassten oder überholt wurden, schwächt dies keineswegs den Verdacht, dass Künstler/-innen wie Crotti oder Laurencin ihre Palette damals ganz bewusst auf Blautöne konzentrierten, um damit eine entsprechend verträumte oder melancholische Stimmung zu kreieren. Auch ist denkbar, dass Laurencin, die eine ausgewiesene Patriotin war,136 dabei noch dem noblen, nationalen Charakter der Farbe Blau gedachte. Madame André Groult, née Nicole Poiret und Nils von Dardel In Laurencins Arbeiten aus dem Entre deux Guerres kehrt ein aus Blau, Grau und Rosa bestehende Kolorit immer wieder und wurde unweigerlich mit ihren Jeunes Filles asso­   George 1930, o. S.   Vgl. z. B. Crotti, Le Rêve, 1914, aus: Bertoli (Hg.) 2007, Cat. 14 – 08; Le Corsage rouge, 1914, aus: ebda., Cat. 14 – 16; Femme à la Toque rouge, 1915, aus: ebda., Cat. 15 – 01. 133   Im Rückblick auf ihr Lebenswerk schrieb Laurencin in der Zeitschrift Arts: „Le rouge était mon ennemi./ Je n’ai jamais pu employer le vermillon. Et toujours jusqu’à maintenant, la volonté de le faire m’a manqué. Je l’ai remplacé par la laque de garance. A propos de couleurs, avez-vous remarqué comme les savants, les grands travailleurs aiment le bleu ? Cet amour du bleu est sympathique : les gens qui aiment le bleu sont toujours des gens très bien.“, Laurencin 1952, 10. Vgl. dazu auch Laurencin zitiert nach Georges-Michel 1954, 79. 134   Vgl. Bonnet 1995, 316. 135   Vgl. hierzu und im Folgenden Pastoureau 2001, 4. The Favourite Color. The Eighteenth to the Twentieth Century, 123 – 178, insbes. 134 – 143. Weitere, gängige Assoziationen sind Blau als Farbe Mariens, als royale oder weibliche Farbe, vgl. ebda., insbes. 160 – 169. 136   Louise Faure-Favier schrieb über Laurencin: „Elle a traduit son amour de Paris, cet amour exclusif et fort, […]“, Faure-Favier 1913, 249. Und die Künstlerin selbst erklärte in ihren Memoiren, überaus stolz auf ihre Pariser Herkunft zu sein, vgl. Laurencin 1956, z. B. 21. 131 132

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ziiert.137 Tatsächlich war Laurencins melancholischer Farbklang aber bereits in ihren Einzelporträts aus der Zeit um 1914 angelegt und fand sich sogar schon in La Pianiste138 von 1912 und schließlich in Madame André Groult, née Nicole Poiret (Abb. 15) von 1913 wieder. Über jene Werke schrieb Daniel Marchesseau: Si sa production d’avant-guerre […] n’est pas aussi abondante que celle de ses camarades il n’en reste pas moins qu’elle évolue avec constance et détermination et que l’on peut parler de sa période délicatement ‚cubiste‘.139

Beide genannten Bildnisse stellen feminine Ganzkörperporträts dar, wobei das ein Jahr ältere La Pianiste aber noch auf Karton und in deutlich kleinerem Format ausgeführt wurde als das meterhohe, ovale Bildnis von Nicole Groult, geborene Poiret.140 Der Kontakt von André und Nicole Groult zu Laurencin kam zustande, als das junge Paar 1911 eines von Laurencins Bildern erwarb. Zwar sind einzelne Autoren der festen Überzeugung, dass sich aus dieser Bekanntschaft bald eine heimliche Liebschaft zwischen der Malerin und Nicole Groult entwickelte;141 in dem erhaltenen Briefwechsel ist aber lediglich von inniger Freundschaft die Rede.142 Auf dem von ihrem Ehemann in Auftrag gegebenen Porträt erscheint die damals 25-jährige Nicole Groult im Damensitz auf einem fantastischen Reittier  – „sur une ­‚biche‘ de fantaisie, croisement aussi charmant qu’improbable entre une attirante vigogne et un fougueux cervidé“143. Solche Tiergestalten, die mal an Rehe, mal an Kamele, mal an Pferde erinnern, bevölkerten von Anfang an die Kompositionen der Künstlerin und ernteten gerade deshalb so viel Aufmerksamkeit, weil sie häufig dieselben Züge wie Laurencins menschliche Gestalten trugen.144 In diesem Fall scheinen die Rehaugen der Porträtierten mit denen der aparten Hirschkuh identisch zu sein. Ferner bilden sie erneut den Fixpunkt, während die Kontur der Nase förmlich verschwindet. Äußerlich scheint dieses Porträt zunächst nicht individualisiert, denn die Physiognomie und Statur Nicole Groults unterscheiden sich nur wenig von anderen Porträts Laurencins. Desglei137   Vgl. z. B. Warnod 1925, 228: „[…]le bleu, le rose, le gris qui colorent si délicieusement les adolescentes au charme aigu, peintes par elle.“ Vgl. dazu auch Salmon 1922, 8; George 1929, 166; Chéronnet 1933, 204. 138   Marie Laurencin, La Pianiste, 1912, Öl auf Karton, 35 × 30 cm, Musée Marie Laurencin, Tokyo, vgl. ­Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013, Cat. 28. 139   Marchesseau in ebda., 92. 140   Nicole Poiret war die Schwester Paul Poirets und ebenso wie ihr Bruder in der Pariser Modeszene tätig, vgl. dazu Paul Poiret et Nicole Groult. Maître de mode Art déco, Ausst.-Kat., Paris: Musée de la Mode et du Costume 1986. Sie lebte mit André Groult, einem erfolgreichen Innenarchitekten des Art déco, zusammen. Das Paar hatte zwei Töchter, Benoîte und Flora Groult, die in ihrer Rolle als feministische Schriftstellerinnen u. a. an Marie Laurencin erinnerten, Letztgenannte sogar mit einer Biografie, deren deutsche Fassung unter dem Titel Marie Laurencin. Ein Leben für die Kunst (München 1992) erschien. Vgl. auch Benoîte Groult: À propos de Marie Laurencin …, in: Dufresne/Messac (Hg.) 1988, 28 f.; Flora Groult: Marie Laurencin, in: L’Œil 457 (Dezember 1993), 48 – 53. 141   Vgl. Bonnet 2000, 180; Meyer-Stabley 2011, 132; Marchesseau in: Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013, 96, 104. Marchesseau sprach nicht eindeutig von einer Liebesbeziehung, sondern einer „amitié amoureuse entre les deux femmes“, ebda., 98. 142   Vgl. Meyer-Stabley 2011, 135 – 139. 143   Marchesseau in: Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013, 96 und 98. 144   Laurencin „[…] change en biche une demoiselle, en demoiselle une biche“, schrieb dazu Fleuret 1929, 545.

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chen entsprechen der in die Ferne gerichtete Blick sowie die gestikulierenden Hände ganz den bisherigen Darstellungsmodi der Malerin. Individuell abgestimmt könnten hingegen die Frisur, das Kostüm und das Reittier sein, mit denen Laurencin womöglich beabsichtigte, ihre Freundin Nicole Groult betont amazonenhaft erscheinen zu lassen. Bevor weiter auf die figürlichen und vestimentären Eigenarten von Laurencins Model­len eingegangen wird, sei hier noch kurz ein Hauptwerk von Bailly erwähnt, das Madame André Groult, née Nicole Poiret – zumindest im Detail – nicht unähnlich ist. Es handelt sich um Fantaisie équestre de la Dame rose145, ebenfalls aus dem Jahr 1913.146 In dieser verwunschen anmutenden Mischung aus Exterieur und Figurenbild erkennt man die bekannte Rhythmisierung und Nivellierung aus Jeu d’Éventail wieder, sowie Baillys favorisiertes, auf rötliche Nuancen konzentriertes Farbspektrum.147 Ganz in Rosa gehüllt und mit Hut geschmückt sitzt die titelgebende weibliche Figur en amazone, also im Damen­sitz, auf dem Rücken eines Schimmels, umringt von sieben weiteren, ihr zugewandten Reiterinnen. Während Landschaftselemente wie Bäume, Erdboden, Grünflächen und Himmel die Örtlichkeit, nämlich einen Wald, markieren, geben ein paar Hunde dem Betrachter zu verstehen, dass es sich hierbei um eine Jagdgesellschaft, angeführt durch besagte Dame in Rosa, handelt. Thematisch ist dieses Bild also durchaus mit Madame André Groult, née Nicole Poiret verwandt, auch wenn es hier natürlich in eine Narration eingebettet und darüber hinaus stärker abstrahiert worden ist. Im Endeffekt porträtierten aber beide Künstlerinnen Amazonen – Laurencin eine gesellschaftlich anerkannte Persönlichkeit, Bailly dagegen eine anonyme Reiterin – und sprachen sich damit für eine starke Weiblichkeit aus. Dabei kann Madame André Groult, auch wenn es ein konkretes Gesellschaftsporträt ist, in einem erweiterten Zusammenhang gelesen werden, nämlich analog zu Fantaisie équestre de la Dame rose als „une représentation métaphorique de l’accueil triomphal que l’artiste voudrait voir réservé à la femme“148. Gekleidet in ein graublaues Ensemble mit Revers und rosafarbenem Schal, der ­locker um ihre Schultern geschlungen ist, kommt Nicole Groult aber vor allem dem Porträt von Nils von Dardel (Abb. 16) sehr nahe, das Laurencin ebenfalls im Jahr 1913 anfertigte. Dieses zeigt den schwedischen Maler und Bühnenbildner als Kniestück in Frontalansicht; ein Bein hat er vor das andere gesetzt, den linken Arm locker angewinkelt, ohne ihn dabei wirklich in die Hüfte zu stemmen. Vielmehr streift seine linke Hand nur die Hüfte, während der rechte Arm gerade herunterhängt. Infolge dieser leichten Torsion ist sein Kopf minimal aus der Mittelachse nach rechts verschoben, sodass seine Figur eine dezente Bewegtheit vermittelt. Nicht zuletzt tragen hierzu der besagte Schal sowie das mindestens hüftlange und an einen Gehrock erinnernde Jackett bei. Als sollte es die Form der Arme nachzeichnen, schmiegt sich der rosafarbene Schal um die Schulterpartie des männlichen Modells: Von der rechten Schulter fließt der Stoff in kleinen Wellen senkrecht hinab bis zum unteren Bildrand, wohingegen er sich links wie ein   Alice Bailly, Fantaisie équestre de la Dame rose, 1913, Öl auf Leinwand, 129 × 149 cm, Collection Banque cantonale vaudoise, Vaud, vgl. Alice Bailly, Ausst.-Kat. 2005, Cat. 58 und Fig. 56. 146   Dazu Jaccard: Paris (1906 – 1914), in: Alice Bailly, Ausst.-Kat. 2005, 15 – 62, 49: „[D]ans cette adaptation totalement libre du futurisme […] Alice Bailly peut exprimer, sans spéculer, son imagination, sa fantaisie, son exubérance.“, 147   Vgl. dazu z. B. Apollinaire: Vernissage aux Indépendants, in: L’Intransigeant (25. 03. 1912), zitiert nach Apollinaire 1993, 291 f. Er sprach dort konkret von einer „coloration lie-de-vin“. 148   Jaccard in: Alice Bailly, Ausst.-Kat. 2005, 51. 145

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­ ächer verbreitert und bereits auf Höhe des Ellenbogens endet. Das Jackett ist wiederum F derart figurnah geschnitten, dass es Taille und Hüften des Porträtierten besonders zur Geltung bringt. Komplettiert durch das darunterliegende, tief ausgeschnittene weiße Hemd und den weiten Kragen ist dieser Aufzug beispielhaft für die dandyhafte Mode. Dabei ist das Erscheinungs- bzw. Körperbild Nils von Dardels – wie der Vergleich mit Madame André Groult zeigte – nicht frei von Feminität, sondern ganz im Gegenteil den weiblichen Figuren Laurencins sehr ähnlich. Wenn mit Nicole Groult tatsächlich die Amazone und mit Nils von Dardel der Dandy verbildlicht wurden, dann dokumentiert dies vor allem die Kompatibilität des Figurenideals, das Laurencin zu jener Zeit, nämlich im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, etablierte. Ähnlich wie in den zitierten Grandes Dames Boldinis149 verschmilzt in Laurencins Jeunes Filles betonte Schlankheit mit Geschmeidigkeit und Zartheit. Sie sind sichtlich junge, feminine Gestalten von hoch gewachsener Statur mit verhaltener, graziler Gestik. Da ihre geschlechtliche Identität nicht eindeutig ist, kann man sie tatsächlich als androgyn, gewissen Autor/-innen zufolge auch als hermaphroditisch bezeichnen.150 Ihren Gesichtern ist noch kein explizit weiblicher Zug abzulesen, sondern, bedingt  – durch den breiten Nasenrücken und die flache Stirn – manchmal eine herbe Note. Dass es sich trotzdem um Frauenköpfe handelt, implizieren höchstens die an Mascara erinnernde, schwarze Umrandung der mandelförmig geschwungenen Augen sowie der Verzicht auf die Darstellung von Augenbrauen, die Laurencin in ihren wenigen Männerporträts wiederum klar artikulierte.151 Wie auch Jean Crotti gab sich die Malerin fasziniert dem Studium von Gesichtern hin, wobei sie eine spezielle Vorliebe für weiche, feminine Gesichtszüge hegte: „Très jeune le visage féminin m’est apparu, si merveilleux, si plein de douceur.“152, so sie selbst in persönlichen Notizen. Es erscheint daher nur logisch, dass Laurencin die Physiognomien ihrer Jeunes Filles später in Richtung einer lieblichen, puppenhaften Optik weiterentwickelte. Ihr Körperbild dagegen blieb beständig schlank, jugendlich und androgyn. D. h. Laurencin entschied sich bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges für ein Figurenideal, dem sie während ihrer lebenslangen Tätigkeit als Porträtistin treu bleiben würde: der Jeune Fille. Und selbst wenn die Garçonne damals namentlich noch nicht existierte, griffen ihre Figuren doch dem dazugehörigen Körperbild vor. Laurencins Jeunes Filles versprühen – auch bedingt durch die erwähnten animalischen Züge – jenen Reiz des Ungewissen, der zunächst dem Androgyn und in dessen Nachfolge der Garçonne zugeschrieben wurde: Sie zu fassen und zu definieren, ist kein Leichtes und ihr Bezug zur Realität steht permanent in Frage.

149   Vgl. dazu Cardona 1931, 72; Vaudoyer in: Boldini 1842 – 1931, Ausst.-Kat. 1931, 16; Georges-Michel 1954, 260. 150   Vgl. Mornand/Thomé 1950, 155: „Il y a une grâce d’hermaphrodite chez les fillettes de Marie Laurencin […].“ 151   Vgl. neben Nils von Dardels Porträt auch Laurencin, Jean Cocteau, 1921, Collection Fondation Pierre Bergé – Yves Saint Laurent, Dauerleihgabe an die Maison Jean Cocteau, Milly-la-Forêt, aus: Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013, Cat. 44. 152   Laurencin, Marie (o. J.): Conferencia. BLJD, Fonds Marie Laurencin, Ms 24724, [36]. Vgl. auch Laurencin 1952, 1: „J’aimais regarder les visages par-dessus tout, je recherchais la douceur du sourire, de la voix.“ Der hier zitierte Aufsatz diente vermutlich für einen Artikel, Mes Confidences sur les Portraits, der am 15. August 1934 in der Zeitschrift Conferencia publiziert wurde.

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La Partie de Thé Natürlich stellt sich hiernach die Frage, ob die Tendenz zu diesem Figurenbild, der Garçonne, auch schon in Crottis Tableaux éventails kenntlich wird; immerhin ergab die bisherige Analyse zahlreiche Parallelen zwischen den beiden Künstler/-innen. Über das Körperbild Crottis ein Urteil zu fällen, ist allerdings kaum möglich, da dieser über Jahre hinweg nur Frauenköpfe oder Büsten abbildete.153 Mit Ausnahme eines Arms oder einer Hand geben seine Tableaux éventails nichts vom Körper des Modells preis. Um zu bestätigen, dass Crotti tatsächlich demselben Trend wie Laurencin folgte, muss man deshalb nach anderen Indikatoren suchen. Eine wahre Fundgrube bietet in dieser Hinsicht das Gruppenbildnis La Partie de Thé (Abb. 17) aus dem Jahr 1914. Darin führte Crotti auf einem Querformat – jeweils als Brustbild oder Halbfigur – vier weibliche, einander sehr ähnliche Gestalten zusammen. Anlass für ihre Zusammenkunft ist dem Titel und der Requisite nach zu urteilen eine Teestunde, wobei aber keine der anwesenden Personen wirklich im Moment des Teetrinkens festgehalten wurde. Besonders deutlich zeigt sich dies im Vergleich mit einem thematisch identischen Gemälde Baillys: Le Thé154 aus dem Stichjahr 1914. Dieses illustriert, anders als die Version Crottis, tatsächlich das ­Ritual des Teetrinkens. Zwei weibliche Figuren halten Teetassen in den Händen oder führen sie zum Mund, wobei sich im Ganzen aber deutlich mehr als nur zwei Paar Hände und zwei Teetassen über die Bildfläche verteilen. Auch dies ist ein Effekt von Baillys persönlicher Malweise, geprägt durch Kubismus und vor allem Futurismus: Schrittweise zeichnen die zahlreichen Hände in Le Thé die Bewegungen der Teetrinkenden nach; ­zugleich ist die Bildoberfläche derart facettiert, dass die Mehrzahl der Hände aus dem körperlichen Zusammenhang herausgerissen erscheint. In La Partie de Thé von Crotti liegt der Schwerpunkt hingegen auf dem Paar in der rechten Bildhälfte, das gerade in einer von Vertrautheit und Zuneigung zeugenden Geste die Köpfe aneinanderschmiegt. Physiognomisch gleicht dieses Quartett den anderen erwähnten Frauenfiguren aus jener Periode; nur tragen die Figuren aus La Partie de Thé anstelle von Cloche und Turban ­einen strengen Kurzhaarschnitt, der selbst einer helmartigen Kopfbedeckung entspricht. Dabei reicht ihnen das pechschwarze, zu einem Pony geschnittene Haar bis in die Stirn und akzentuiert so ihren weißen Hautton. In Kombination mit den schmalen, geschlossenen Augen mutet ihr Äußeres dadurch beinahe asiatisch an. Weiter hinten und leicht erhöht ist eine offensichtlich rauchende Figur positioniert; sie scheint sich am ehesten von der Gruppe zu separieren oder nimmt zumindest nur eine passive, beobachtende Rolle ein. Als weiteres Accessoire fällt, neben der Zigarette, erneut ein Faltfächer, hier in Weiß, ins Auge, welchen die Figur ganz rechts ausgefaltet vor ihre Brust hält. Der Fächer verstärkt zwar den augenscheinlich fernöstlichen Akzent dieser Teezeremonie – bezüglich des Trends zur Androgynie sind aber andere Bildelemente sehr viel aussagekräftiger, namentlich die Kurzhaarfrisur, die Geste des Rauchens oder auch die zwei einander umarmenden Frauen. All diese Details lassen an den bereits zitierten französischen Schlager Elle s’était fait couper les Cheveux denken, worin es weiter heißt: „Car les femm’s tout

  Vgl. seine Serie der Femmes aux longs Cous ab 1921, Bertoli (Hg.) 2007, 126 – 146.   Alice Bailly, Le Thé, 1914, Öl auf Leinwand, 49 × 65 cm, Aargauer Kunsthaus, Aargau, vgl. http://sammlung-online.aargauerkunsthaus.ch/eMP/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=180853&viewType=detailView (zuletzt geprüft am 29. 11. 2021). 153 154

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comm’ les messieurs/Pour suivre la mode/Commode […] Ell’s se font tout’s couper les ch’veux.“155 Vorerst lässt sich also festhalten, dass beide Künstler/-innen, Laurencin wie Crotti, bereits um 1914 ein Gespür für den bevorstehenden Wandel des Frauenbilds bzw. der Damenmode besaßen.156 Dies äußerte sich in unterschiedlicher Manier, bei Laurencin primär über die Figur, bei Crotti vermehrt über modisches Beiwerk – jedoch mit demselben androgynisierenden Effekt: Unweigerlich erkennt man in den Mädchen- und Frauengestalten von Laurencin und Crotti jene „allures de jeunes garçons157“, von denen einst Warnod sprach, und somit Prototypen der Garçonne.

Fazit Mit diesem Kapitel zu den Tableaux éventails wurde versucht, die Möglichkeiten des Portrait à la mode zu einer Zeit aufzuzeigen, als sich die Malkunst revolutionierte. Für das radikal moderne Porträt, das sich am Anfang des 20. Jahrhunderts vom autonomen Bildnis zum autonomen Bild entwickelte, sind als Gründungs- oder Hauptwerke sicher andere Beispiele als die hier gezeigten anzuführen. Der künstlerischen Absicht untergeordnet, tendierte deren Porträt-Charakter dabei allerdings gegen Null. Dagegen blieb das Porträt bei Künstler/-innen wie Laurencin, Crotti oder Bailly noch als solches erkennbar, da sie die neue Kunst – namentlich Kubismus, Orphismus und Futurismus – nur maßvoll einsetzten. Aus der einen oder anderen Strömung griffen sie sich bestimmte Versatzstücke heraus, um diese in ihren Personalstil einfließen zu lassen, und besetzten damit quasi eine Nische zwischen Figuration und Abstraktion, zwischen alter und neuer Kunst. Ihre Malerei lehrt exemplarisch, dass sich in der Kunst und Epoche der École de Paris Tradition und Moderne auf unterschiedlichste Art und Weise miteinander verbanden: Il est un peu simplet de partager la peinture de ce demi-siècle en deux camps opposés : d’un côté l’Art Abstrait, de l’autre l’Art Figuratif. Si l’on veut bien exclure les associations d’intérêts qui tentent d’imposer au public une peinture plutôt qu’une autre, on peut se persuader qu’il n’y a pas d’art figuratif ou non-figuratif, mais des expressions plastiques différentes nées d’une curiosité ardente, s’interpénétrant là, fusionnant ailleurs, s’essayant dans des recherches successives.158

Besonders gut ließ sich dieser fließende Übergang von figürlicher zu nicht-figürlicher Kunst an der Bilderserie Crottis nachvollziehen, die 1915 in der gegenstandslosen Femme parée kulminierte. Dabei wiesen sämtliche Tableaux éventails dasselbe Markenzeichen, nämlich eine fächerartige Struktur, auf, die hier ganz bewusst herausgestellt wurde: Zunächst wurde der Fächer per se behandelt, anschließend – ausgehend von entsprechenden Bildtiteln – seine Einbindung ins moderne Porträt. Dabei tat sich Laurencin, gefolgt von Crotti, mit mehreren einschlägigen Bildbeispielen hervor. Die Erwähnung Baillys im Kontext der Tableaux éventails lag unterdessen eher im rhythmischen, fächerartigen   Vgl. z. B. Doux Succès du Temps de La Garçonne, Paris: BNF Collection 2014, Titel 04.   Erst nach dem Ersten Weltkrieg bzw. im folgenden Jahrzehnt kann von der Garçonne-Mode als einer ganzheitlich neuen Mode die Rede sein. Die Zeit davor gilt, modegeschichtlich, als Zeit des Übergangs (in der sowohl Kleider mit als auch ohne Korsett gefertigt und getragen wurden), vgl. dazu Steele 1985, 228 – 230 sowie das Kapitel Der Dualismus des Entre deux Guerres … in der Mode, 77 ff. 157   Warnod 1925, 166. 158   Nacenta 1956, o. S. 155 156

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Mon Portrait – Selbstbildnisse und Selbstbilder von Künstlerinnen

Aufbau, also in den formalen Qualitäten ihrer Bilder, begründet. Insgesamt ließen sie alle erkennen, dass die Beigabe eines Fächers, wie schon in der Vorzeit, sowohl einem inhaltlichen als auch einem formalen Zweck diente: Seine Trägerin wies der Fächer als gut situierte Dame aus und lenkte zugleich das Augenmerk auf ihr Gesicht und ihre Hand. In den Tableaux éventails, die meist nur aus einem Ausschnitt der Figur – Büste oder Halbfigur – bestehen, wurde durch die Beigabe des Fächers die Konzentration auf Kopf und Hände nochmals verstärkt, erst recht im Unterschied zu den Ganzkörperporträts aus der Belle Époque. Das Kolorit dieser Werke präsentierte sich kühl und pastellig – sowohl in Crottis Serie der Tableaux éventails, wo man ohnehin keine große Variation erwartet hätte, als auch in den parallelen Werken von Laurencin. Ein fast weißes Inkarnat, dazu Akzente in Schwarz und Schattierungen in Grau zeichnen sie ebenso aus wie der großflächige Einsatz gedämpfter Blautöne. Gerade in Abgrenzung zu Rosa, das neben Laurencin und Bailly noch viele weitere Künstlerinnen bevorzugten, wäre es interessant, die Symbolik der Farbe Blau, zumal in Geschlechterfragen, tiefergehend zu behandeln. Hier konnte erst einmal festgestellt werden, dass mit diesem Ton eine melancholische, traumverlorene Atmosphäre einherging, die auch die jeweilige Figur über Gestik und Mimik widerspiegelte. Sie erschien weltentrückt und, vor allem bei Laurencin, elfenhaft bzw. ätherisch.159 Um dem ausgefallenen laurencinschen Figurentypus, der Jeune Fille, weiter auf den Grund zu gehen, wurden mit den Porträts von Nicole Groult und Nils von Dardel bewusst zwei Ganzfiguren herangezogen. Ihre Betrachtung ergab, dass Laurencin ihr Körperbild sowie die Garderobe ihrer Modelle, gleich ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, nur minimal variierte. Die Hypothese, dass Laurencins Jeunes Filles derzeit die Garçonne vorverkörperten, bestätigte sich anhand von Crottis Schlüsselwerk La Partie de Thé, das bereits Anzeichen für den Trend zur Androgynie alias Mode à la garçonne enthält. Jedes einzelne Tableaux éventail besitzt dabei eine für das Portrait à la mode neu­ artige Vielschichtigkeit. Und so unauflösbar in diesen Porträts verschiedene Stile ineinandergreifen, so komplex ist auch ihr Gehalt. Ob sie von einer Märchenwelt, einer verheißungsvollen Zukunft oder einem realen Zustand erzählen, bleibt noch im Dunkeln. Gewiss ist aber, dass sie damals dem weiblichen Geschlecht bzw. dessen Schönheit huldigten und von einem neuen Frauenbild kündeten, das sich in Wirklichkeit gerade erst herausbildete.

Mon Portrait – Selbstbildnisse und Selbstbilder von Künstlerinnen Noch heute ist es der männliche Blick, der auf die Frau fällt. Bei den bildlichen Darstellungen, die es ermöglichen, die Geschichte der Frauen zu vertiefen, handelt es sich in Wirklichkeit fast ausschließlich um Bilder, die Männer sich von der Weiblichkeit gemacht haben.160

  Vgl. zu diesem Aspekt auch Grenauer 1937, 10.   Duby/Perrot 1995, 17.

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Für die ältere Kunstgeschichte gilt dieses Diktum zweifellos; und selbst jüngere Werke stellten – wie gerade gesehen – Weiblichkeit vor allem aus männlicher Sicht dar, auch wenn natürlich angenommen werden darf, dass sich die Pariser Damenwelt auf ihren Porträts durchaus angemessen repräsentiert fand. Nichtsdestotrotz ist es für eine tiefere Einsicht in die Geschichte der Frauen, und speziell der Künstlerinnen, unverzichtbar, auch deren Selbstporträts zu befragen. Sie besitzen, einhergehend mit der Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts, nur vereinzelt veristische Züge und schildern insofern weniger das realistische Aussehen als das Selbstbild der Frau. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Künstlerinnen dabei nur ein bestimmtes Schönheitsideal verfolgten; über das Selbstporträt ergründeten sie vielmehr ihren eigenen Wert, ob im Beruflichen oder Privaten.161 Doch nicht selten gestaltete sich dieses Unterfangen schwierig, Tür und Tor standen schließlich nicht jeder kunstschaffenden und zur Selbstdarstellung neigenden Frau offen. Sowohl Jacqueline Marval als auch Émilie Charmy gelten zwar als Vorzeigekünstlerinnen, die sich – obwohl in Partnerschaft lebend – eine gewisse Unabhängigkeit erkämpften und sich emanzipierten, was im Einzelnen auch in ihren Selbstbildnissen zum Tragen kommt. Doch in der Regel porträtierten sich die Pariser Künstlerinnen vor allem deshalb selbst, da ihnen von offizieller Seite kein ungehinderter Zugang zu professionellen Modellen gewährt wurde – im klaren Unterschied zu männlichen Künstlern oder Kunststudenten. Die viel zitierte weibliche Neigung zum Selbstporträt war also auch eine Folge der damaligen, ungerechten Ausbildungssituation und höchstens teilwiese auf einen freien Willen zurückzuführen.162 Dessen ungeachtet sollte das weibliche Selbstporträt während der Années folles hoch im Kurs stehen, wofür exemplarisch die Arbeiten De Lempickas angeführt werden können. Sie pointierte u. a. in ihrem Selbstporträt im grünen Bugatti163 (1929) die neuen Freiheiten des weiblichen Geschlechts, allerdings ohne dabei jemals auf den beruflichen Status der Künstlerin anzuspielen. Bailly und Laurencin – und neben ihnen noch andere – hatten dies zuvor sehr wohl getan und sich damit in eine jahrhundertealte, kunsthistorische Tradition eingeschrieben; ihre Werke kreisten dementsprechend immer ­wieder um Themen wie „Ausbildung, Rückhalt, Anspruch auf einen Platz in der künstlerischen Tradition, musikalische Begabung, Mutterschaft, Liebreiz und Attraktivität“164. Sicherlich kann man das weibliche Selbstporträt ob seiner langen Historie als eigenständiges Genre betrachten;165 nur darf man dabei weder den radikalen – formalen wie inhaltlichen – Wandel unterschlagen, der mit dem 20. Jahrhundert erfolgte, noch die erwähnte Mode, derentwegen sich immer mehr Künstlerinnen zur Darstellung ihrer selbst animiert fühlten. Ihre Werke lassen sich somit als Unterkategorie des Portrait à la mode begreifen, das sich zur damaligen Zeit immer mehr diversifizierte.

161   „Elles prennent conscience de leur identité personnelle et souhaitent sortir des carcans qu’on leur soumet. C’est en partant à la recherche de leur image qu’elles vont pouvoir se libérer. Par l’autoportrait, elles font valoir ce qu’elles sont.“, Gossmann 2006, 300. 162   Vgl. Eva und die Zukunft, Ausst.-Kat. 1986, 304. 163   Der Bildtitel lautet Autoportrait oder Mon Portrait, vgl. Abb. 38. 164   Borzello 1998, 35. 165   So das Anliegen Borzellos mit ihrer Monografie zur Geschichte des weiblichen Selbstporträts, vgl. Borzello 1998.

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Mon Portrait – Selbstbildnisse und Selbstbilder von Künstlerinnen

Im folgenden Kapitel werden bewusst Künstlerinnenporträts zusammengeführt, die aus dem Ersten Weltkrieg stammen, also noch nicht in die Ära der Années folles fallen. Teils repräsentieren sie traditionsgemäß den Versuch der Frau, ihre Professionalität glaubwürdig darzulegen, teils verweisen sie auf das zunehmende Interesse an weiblicher Selbsterfahrung, das sich noch deutlicher aber erst in den verruchten Frauenakten der zwanziger Jahre entfalten sollte. Hintergründig erzählen die Künstlerinnenporträts vom Leben der Pariser Malerinnen in einer noch weitestgehend maskulinen Welt. Einige von ihnen waren damals mit einem Maler oder Bildhauer liiert und somit Teil eines Künstlerpaares. Wie erlebten diese Frauen das Zusammensein mit einem Künstler – als Bereicherung oder doch als Belastung? Und bestand die Absicht ihrer Selbstbildnisse wirklich stets darin, sich als Frau zu behaupten, wie es des Öfteren hieß,166 oder gab es vielleicht noch andere, biografische und insofern individuell unterschiedliche Beweggründe?

Bildvergleiche Mon Portrait und La Femme-Cheval Diesen beiden Werken ist gemeinsam, dass sie Künstlerinnen bei der Arbeit zeigen, entweder mit einer Palette oder einem Pinsel in der Hand. Dabei stellt Mon Portrait (Abb. 18) ein farbintensives Dreiviertelporträt der gerade behandelten Künstlerin Alice Bailly dar, die darauf vor einer hellen Leinwand oder aber einem Fenster in ihrem Atelier posiert. Farben, die an den Fauvismus erinnern, wurden hier von Bailly mit kühlen Grau- und Weißtönen kombiniert; gleichzeitig mischte sie die Formensprache des italienischen Futurismus mit Anleihen aus dem Dadaismus, etwa wenn sie ihr Gesicht lediglich zur Hälfte ausarbeitete. So entstand diese hochgradig avantgardistische Variante ­eines traditionellen Künstlerinnen-Selbstporträts. Darüber hinaus setzte sich Bailly in Mon Portrait als selbstbewusste, aufmerksame Malerin in Szene. Ihr Blick kann als wach oder sogar herausfordernd beschrieben werden, ihre Gesichtszüge sind klar und scharf, sodass Baillys fortgeschrittenes Alter – als dieses Bildnis entstand, war sie bereits Mitte Vierzig – kaum zu erahnen ist. Ein junges Mädchen zeigt Mon Portrait allerdings nicht, sondern eine gereifte, teils sehr weiblich gezeichnete Frau: Zum einen ist in dieser Beziehung das Paar schlanker, geschmeidiger Hände nennenswert – ganz so wie auf den Frauenporträts Laurencins oder Boldinis  –, zum anderen die in naiver Manier nach­ gezeichneten Rundungen des Busens. Zusammen mit wiederum kantigen Formen, wie dem aufgestellten Kragen der Bluse oder der Kurzhaarfrisur, ergibt sich daraus ein spannungsvoller Kontrast, zumal mit Blick auf den Geschlechterbegriff: Die Künstlerin vereinte hier feminine mit maskulinen Körper- und Kleiderzeichen und stattete sich womöglich bewusst mit Details aus, die traditionell (männliche) Stärke und Intelligenz symbolisierten. So lassen sich mit einiger Imagination ein Monokel vor ihrem linken Auge und, als Kopfschmuck, eine geschwungene, krapprote Feder erkennen, wie sie in der Vergangenheit oft an Hüten, beispielsweise von Musketieren, getragen wurde. Ebenso gut ließe sich der Kopfschmuck aber auch als Referenz an ein ikonisches Werk 166   Borzello erkannte in dem weiblichen Selbstporträt eine Verteidigungsmaßnahme, ein Manifest, vgl. ebda., 32; vgl. auch Nicoïdski 1996, 193.

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der Porträtgeschichte interpretieren, nämlich an das Selbstporträt mit Strohhut167 (1783) von Élisabeth Louise Vigée-Lebrun. Letztgenannte posierte damals voller Stolz mit Malutensilien und Hut, verziert mit Blüten und der erwähnten Straußenfeder.168 Das wichtigste Attribut fügte Bailly ihrem Porträt aber in Gestalt der Palette hinzu – ein ebenso raumfüllendes wie farbenfrohes Utensil, das sie anscheinend mit Leichtigkeit in ihrer rechten Hand hält, während die linke einen langen, schmalen Malpinsel führt. Erneut zeichnet sich die Darstellungsweise Baillys hier durch Widersprüchlichkeit aus: Einerseits scheint die Palette ihr steter Begleiter oder gar ein Teil von ihr zu sein, und die Hand der Künstlerin verschmilzt geradezu damit, andererseits wirkt aber die Art und Weise, wie Palette und Pinsel gehalten werden, unnatürlich, wenn nicht gar geziert. Beim Farbenmischen würde ein Künstler seine Palette kaum hochkant halten und dabei den kleinen Finger abspreizen, so wie es Bailly hier tut. Weshalb also diese Darstellungsweise? Zunächst war es gewiss die Intention Baillys, sich als Berufskünstlerin auszuweisen, weshalb die Insignien ihrer Zunft auf keinen Fall übersehen werden durften. Dann trug sicherlich auch der Kubismus, dem die Malerin ja einen Großteil ihrer Bildsprache entlehnte, zu dieser künstlich anmutenden Darstellung bei. So erscheint die Palette, die sich eigentlich waagerecht oder leicht schräg in ihrer rechten Hand befinden müsste, vertikal hochgeklappt – wie eine Tischplatte auf frühen kubistischen Stillleben. Es fehlt somit, abseits der Figur, jede Raumillusion. Mit Mon Portrait gelang Bailly nicht nur ein Amalgam unterschiedlichster Kunststile, weshalb es in jedem Fall von kunsthistorischer Bedeutung ist, sondern sie krönte damit auch ihre eigene Porträtmalerei. Erst 1913, nachdem sie lange Zeit die mensch­ liche Figur, zumal den Akt, gemieden hatte, wagte sich Bailly an diese Gattung heran (vgl. Jeu d’Éventail oder Femme à l’Éventail, Abb. 12). Diese späte Hinwendung rührte womöglich daher, dass Bailly, wie alle Schweizer Kunstschülerinnen zur damaligen Zeit, von der Aktmalerei ausgeschlossen und folglich in der Wiedergabe des menschlichen Körpers nicht so versiert war wie etwa im Stillleben oder in der Landschaft.169 Auch in Paris, das später zu ihrer Heimat wurde, war die Ausbildungssituation im 19. Jahrhundert nicht weniger diskriminierend als in den Nachbarländern. Doch taten sich dort mit den freien Akademien, namentlich der Académie Julian und der Académie Colarossi, zumindest neue Chancen auf, als Frau das Malen und Zeichnen zu studieren – und dies sogar vor dem lebenden Modell.170 Bevor es aber soweit war – teils auch noch danach – mussten sich angehende Künstlerinnen, so Renate Berger, „[…] einzeln durch ein Gestrüpp von Institutionen und Regularien schlagen, das ihnen nur randständige Teilhabe nebst einer Unsumme von Ausnahmen, halbherzigen Zugeständnissen und finanziellen Opfern ermöglichte.“171 Auch vor diesem Hintergrund erscheint es nur logisch, dass 167   Élisabeth Vigée-Lebrun, Self Portrait in a Straw Hat, nach 1782, Öl auf Leinwand, 97,8 × 70,5 cm, National Gallery, London, vgl. https://www.nationalgallery.org.uk/paintings/elisabeth-louise-vigee-le-brun-selfportrait-in-a-straw-hat (zuletzt geprüft am 15. 11. 2021). 168   Dass Bailly sich selbst in der Nachfolge Vigée-Lebruns sah, erscheint umso plausibler, da Letztere für Künstlerinnen der Moderne eines der größten Vorbilder bot. Vgl. Thormann 1993, 28 f.; Barker in Perry (Hg.) 1999, 127. 169   Vgl. Jaccard in: Alice Bailly, Ausst.-Kat. 2005, 37 und 42. 170   Vgl. hierzu auch das Kapitel Staatliche versus private Ausbildung, 89 ff. 171   Clara Siewert, Ausst.-Kat. 2008, 40.

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Mon Portrait – Selbstbildnisse und Selbstbilder von Künstlerinnen

Bailly sich mit ihrem Porträt ein eigenes Denkmal als fähige und arrivierte Künstlerin setzte. Nur ein Jahr nach Mon Portrait (Abb. 18) vollendete Laurencin mit La Femme-­ Cheval (Abb. 19) – die Pferdefrau – ein ebenfalls sehr persönliches Künstlerinnenporträt. Der bizarre Titel, aber auch das Bild an sich, lassen bereits auf den ersten Blick erkennen, dass hier weniger die Profession, dafür umso mehr die Persönlichkeit Laurencins ausgedrückt wird. Bereits in den Jahren zuvor hatte die junge Malerin sich wiederholt selbst porträtiert, sei es in impressionistischer Manier,172 mit expressionistischen oder kubistischen Anklängen.173 Jedoch stellt nach bisheriger Kenntnis La Femme-Cheval Laurencins einziges „portrait en peintre“174, also ihr einziges Porträt als Malerin, dar. Laut Daniel Marchesseau, der ihr Œuvre über Jahrzehnte erforschte und es genauestens kennt, repräsentiert dieses Selbstbildnis nicht nur beruflichen Stolz, sondern darüber hinaus eine Art Glaubensbekenntnis.175 Aus Laurencins Selbstzeugnissen erfährt man, dass sie – im Unterschied zu männlichen Kollegen und Konkurrenten – ein betont entspanntes Verhältnis zur Kunst pflegte.176 Ihr missfiel demzufolge das geistige Moment in der Kunst ebenso wie die zeitgenössische Gepflogenheit, sein eigenes künstlerisches Schaffen öffentlich zu kommentieren.177 Auch gegenüber ihren Freund/-innen zeigte sich Laurencin diesbezüglich äußerst verschwiegen, wie die Tochter Nicole Groults, Benoîte Groult, später berichtete: Elle parlait très peu de sa carrière ou de ses théories sur l’art, ce qui fait que longtemps, je ne l’ai pas prise au sérieux. Peinture, comme elle aimait à dire, apparaissait comme une personne mystérieuse qui partageait sa vie, capricieuse, autoritaire, susceptible et dont il convenait de préserver l’intimité.178

Wenn Laurencin sich also gar nicht vordergründig in der Rolle der Künstlerin präsen­ tieren wollte, welches Selbstbild verfolgte sie dann mit La Femme-Cheval? Schon beim ­ersten Hinsehen fällt  – passend zum kuriosen Titel, der ein Mischwesen heraufbeschwört – das exotische Äußere Laurencins ins Auge: Stark gekrauste, dichte Locken, die seitlich abstehen und sich auf dem Kopf zu einer Dreiecksform aufrichten,179 dazu ein insgesamt eher flaches Gesicht mit unnatürlich dunklen Augen, Lippen und einer leicht vorstehenden Mund- und Kinnpartie. Offenkundig sind diese Details aus Laurencins vorigen Selbstporträts übernommen, die selbst schon eine Überzeichnung ihrer realen 172  Laurencin, Autoportrait, 1905, Musée de Peinture et de Sculpture, Grenoble, aus: Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013, Cat. 5. Dieses Selbstporträt der Künstlerin zählt zu ihren bekanntesten und wurde u. a. in Deutschland gezeigt, zuletzt im Rahmen der Frankfurter Ausstellung Esprit Montmartre, vgl. Esprit Montmartre, Ausst.-Kat. 2014, 276. 173  Laurencin, Autoportrait, 1908, Musée Marie Laurencin, Tokyo, aus: Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013, Cat. 8; dies., Autoportrait, 1912, Musée Marie Laurencin, Tokyo, aus: ebda., Cat. 23. 174   „Mon portrait en peintre avec la main qui tient un pinceau“, Laurencin zitiert nach Marchesseau in ebda., 110. 175   Vgl. ebda. 176   „Quand un poète écrit[,] il dit si bien ce que je voudrais dire que tranquillisée je me tais, pour la peinture c’est exactement pareil et les grands peintres aussi bien mes contemporains ont travaillé à ma place.“, Laurencin (o. J.), BLJD, Fonds Laurencin, Ms 24771, [6]. Vgl. auch Laurencin 1952, 1 und 10. 177   Vgl. Laurencin (o. J.)., BLJD, Fonds Laurencin, Ms 24771, [4] und [29]. 178   Groult in Dufresne/Messac (Hg.) 1988, 28. 179   Dieselbe Figur oder Kopfform trifft man auch in Le Zèbre (1917) und La Barque (um 1920) an, vgl. Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013, Fig. 7 und Cat. 43.

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Züge und folglich eine Tendenz ins Exotische aufweisen. In La Femme-Cheval kommt noch ein extravaganter Kopfschmuck aus grauen und weißen Dreiecken sowie mehreren breiten Bändern hinzu, von denen ihr eines wie ein Schleier erst über die rechte Schulter, dann durch die Finger ihrer rechten Hand gleitet. Vor ihrer Brust kreuzt sich dieses Band mit einer weiteren weißen Stoffbahn. Da Laurencin außerdem noch einen grauen Schal um ihre Schultern drapiert hat, lässt sich kaum bestimmen, wo welches Kleidungsstück ansetzt oder endet. Als typisches Merkmal von Laurencins Kunst sind die Übergänge stattdessen fließend; weder die einzelnen Stofflagen untereinander noch Gewand und Figur wurden malerisch klar voneinander getrennt. Der Künstlerin exotische Aura wird, neben ihrer eigenen Optik, außerdem durch eine Entourage aus stark vereinfachten Tieren befördert: Zwei taubenähnliche, blaue Vögel und ein beinahe schwarzer Hund, der sich vom linken, unteren Bildrand ins zentrale Geschehen schiebt. Interpretieren kann man diese Tiere als Symbol für Laurencins künstlerische Eingebung, für ihre idea180, denn immerhin sind sie in Richtung von deren Blick bzw. Geist orientiert und führen sogar ihre linke Hand, in der sie einen Pinsel hält. Wenn man allerdings ihren prominenten, auf sich selbst weisenden Zeigefinger sowie ihren forschenden, zugleich nach innen gekehrten Blick beachtet, dann könnte hier genauso gut die Künstlerin selbst als Quell ihrer Inspiration verbildlicht sein. Überhaupt ist das Œuvre Laurencins reich an Bildern, dabei nicht nur Selbstporträts, die sie eindeutig nach ihrem eigenen Vorbild gestaltete. Die zeitgenössische Kunsthistoriografie lag also nicht ganz falsch, wenn sie behauptete, dass Laurencin nicht nur für die Dichtkunst und deren berühmte Vertreter als Muse fungierte,181 sondern immer auch ihre eigene Kunst inspirierte: Elle n’eut guère d’autre sujet qu’elle-même, ni d’autre curiosité que de se mieux connaître. N’ayant d’inclination que pour les objets ou les formes de la nature qui lui ressemblent, n’aimant la plante ou l’animal sinon pour les allusions secrètes à son corps à elle, à son propre visage, qu’elle y sait découvrir, […]182

Die ganze Natur, so Roger Allard in der ersten Monografie über Laurencin (1921), sei für  sie ein Spiegelkabinett.183 Dies war mitnichten der Standpunkt eines Einzelnen, ­sondern wurde von mehreren Menschen aus Laurencins Umfeld vertreten, die in ihren Jeunes Filles ebenfalls ein Entsprechung der Künstlerin erkannten.184 Dazu passt das ­folgende Bekenntnis von Laurencin: „Il me semble que le visage humain peut se regarder à l’infini et s’interpréter.“185 Aus historischer Sicht bildet das Studium des eigenen ­Gesichts freilich keine Seltenheit und auch die Projektion der eigenen Züge auf das Modell trat in der Kunstgeschichte nicht nur einmal zutage.186 Doch wenn Laurencin ihren 180   Zu diesem kunsttheoretischen Begriff vgl. Erwin Panofsky: ‚Idea‘. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin/Leipzig: B.G. Teubner 1924. 181   Den Ausgangspunkt hierfür lieferten zwei Versionen von Henri Rousseaus Gemälde La Muse inspirant le Poète (1908 und 1909) – ein Doppelporträt, das Laurencin und Apollinaire zeigt und das ebenfalls unter dem Titel La Muse d’Apollinaire figurierte. 182   Allard 1921, 7. 183   Vgl. ebda. 184   Vgl. Salmon 1912, 115; Faure-Favier 1913, 250; Salmon Mai-Dezember 1920, 65. 185   Laurencin (o. J.), BLJD, Fonds Laurencin, Ms 24771, [2]. 186   Vgl. dazu Gombrich et al. 1977, 51 – 53.

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Figuren darüber hinaus den eigenen (jugendlichen) Körperbau und Habitus lieh,187 ging sie damit noch einen Schritt weiter als die Künstler/-innen der Vorgängergeneration. Nach dem Gesagten drängt sich nun umso mehr die anfangs gestellte Frage auf: Welches Frauenbild evoziert ein Bild wie La Femme-Cheval bzw. die verantwortliche Künstlerin? Die Kunsthistorikerin Ellen Thormann nannte es ein „spielerisch anmutiges und zartes, in sich ruhendes und verschlossenes Frauenbild“188, was auf La Femme-­ Cheval genau zuzutreffen scheint: Der düstere Blick, das in weiten Teilen verschattete Gesicht, die offenkundige Beschäftigung mit sich selbst und die, wie üblich, schmale ­Statur einer Jeune Fille  – all das untermauert den von Thormann beschriebenen Eindruck. Demzufolge stünde Laurencin, derart wie sie sich 1918 in La Femme-Cheval gibt, im Kontrast zu ihrer Rivalin Bailly und deren Selbstbild. Dieses wiederum deutete schließlich auf eine starke, unabhängige Frau hin, auf eine erfahrene Malerin, einen ­offenen, wachen Geist, und ließ sogar einzelne androgyne Züge erkennen. Bei näherer Betrachtung allerdings verhält es sich bei Laurencin gar nicht viel anders: Ihr aparter, eckiger Kopfschmuck, erst recht ihr hochgeschlossener, weißer Hemdkragen, der anscheinend von einer rosafarbenen Halsbinde zusammengehalten wird, wirken weder weich noch besonders feminin. Erst in ihren späteren Selbstporträts sollte Laurencin die eigene Weiblichkeit mehr betonen, etwa ein Jahrzehnt später in Autoportrait au Chapeau189. Man könnte mutmaßen, dass sie dadurch ihr öffentliches Bild den gesellschaftlichen Idealen anzupassen versuchte, dass sie sich vielleicht sogar verpflichtet fühlte, ihre weibliche Natur stärker nach außen zu tragen. War dieser Drang womöglich eine Folge von Laurencins künstlerischen Ambitionen, die im Falle einer Frau immer noch für Aufsehen und Häme sorgten? Oder entstanden ihre zahlreichen Selbstporträts aus purer Eitelkeit und modischem Bewusstsein? In diesem Zusammenhang sei nochmals daran erinnert, wie damals über Frauen geurteilt wurde, die mit einem besonderen, künstlerischen oder schriftstellerischen Talent gesegnet waren: „[…] il n’y a pas de femmes de génie, et lorsqu’elles manifestent du génie, c’est par une supercherie de la nature, en sens qu’elles sont des hommes.“190 Es wäre deshalb nicht weiter verwunderlich, wenn Frauen wie Laurencin fürchteten, als Mannweib zu gelten, und u. a. mittels ihrer Selbstporträts versuchten, einem solchen Image zu entgehen. Gleichzeitig betrieb Laurencin damit aber auch Werbung, sowohl für sich selbst als auch für ihre Kunst, was ihr – zusammen mit ihren Memoiren – ermöglichte, der Nachwelt ein von ihr selbst autorisiertes Bild zu hinterlassen. Auch in diesem Punkt glich sie ihrem großen Vorbild, der bereits erwähnten Vigée-Lebrun, die durch ihren Erfolg am königlichen Hof in Versailles genauso den Gepflogenheiten ihres Zeitalters widersprochen hatte wie später Laurencin. Um (trotzdem) auch als Frau anerkannt zu werden, kehrte Vigée-Lebrun der feministischen Kunstwissenschaft zufolge   „[…]. Ce sont bien les gestes de ses mains étroites. C’est bien toute son expression si complexe, unique.“, Faure-Favier 1913, 250. 188   Thormann 1990, 42. 189  Laurencin, Autoportrait au Chapeau, um 1927, Musée Marie Laurencin, Tokyo, aus: Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013, Cat. 62. 190   Uzanne 1910, XI. Femmes artistes et Bas-bleus, 257 – 296, 262; vgl. auch ebda., 276. Zur Exklusion der Frauen im weiteren geschichtlichen Verlauf vgl. z. B. Déonna 1928. 187

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bewusst ihre eigene, feminine Schönheit heraus.191 Ihre Identität als Künstlerin geriet dabei notgedrungen ins Hintertreffen, insbesondere, wenn sie sich, gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter, als Allegorie mütterlicher Liebe verewigte. Nun hatte die junge Laurencin Porträts dieser Art reichlich studiert und kopiert;192 zudem wurde auch ihre Kunst nach genau denselben geschlechtsspezifischen Kriterien bewertet wie Vigée-Lebruns Œuvre.193 So galt Laurencin seit Apollinaires Salonbesprechung von 1908 als „la femme peintre“194, die ihre Weiblichkeit zu bewahren wusste.195 Hinzu kam Laurencins eigenes Bekenntnis zum Weiblichen, das in verschiedenen Kontexten veröffentlicht wurde und ihr auch posthum wie ein Stigma anhaftet: „Mais si le génie de l’Homme m’intimide, je me sens parfaitement à l’aise avec tout ce qui est féminin“196 gab sie selbst zu Lebzeiten zu. Somit dürfte höchstens teilweise der Druck von außen Laurencins betont feminine Selbstdarstellung bedingt haben; vielmehr entstanden ihre Porträts, darunter auch die mit ihren eigenen Zügen, ex se.197 Ihrer eigenen Linie sei sie dabei stets treu geblieben, erklärte Laurencin im Gespräch mit Georges-Michel, und empfand sich selbst demnach als „femme libre“198. In beiden Porträts – Mon Portrait von Bailly sowie La Femme-Cheval von Laurencin – zeigt sich jeweils eine moderne und selbstbewusste Malerin, die das Dilemma ihrer Zeit persönlich erfahren hatte: Auf der einen Seite die Diskriminierung durch das offizielle Bildungssystem, auf der anderen Seite die gesellschaftliche Rüge, wenn eine Künstlerin sich  – für damalige Begriffe  – ihrem Geschlecht unangemessen verhielt. Beide Frauen versuchten, diesen Konflikt zu lösen, indem sie eine sehr persönliche Malerei abseits der gängigen Stilbezeichnungen verfolgten. Zudem siedelte Bailly extra nach ­Paris über, wo sie sich als Künstlerin weiterentwickelte und dabei jeder klischeehaften Vorstellung von Weiblichkeit trotzte.199 Laurencin wiederum bejahte den Art féminin, den Apollinaire vor dem Ersten Weltkrieg proklamiert hatte, und sprach sich u. a. mit dem hier besprochenen Porträt für eine intuitive Kunst aus, deren treibende Kraft innere Eingebung und Selbstreflexion waren. Autoportrait (Jeanne Hébuterne) Die neuen Moden und Möglichkeiten der Frau, sich selbst zu inszenieren, lassen sich noch anhand weiterer Beispiele exemplifizieren – konkret an den Werken zweier Künstlerinnen, die noch weitgehend unbekannt sind: Jeanne Hébuterne und Émilie Charmy.   Vgl. Parker/Pollock 1995, 196. Vgl. auch Barker in Perry (Hg.) 1999, 114.   „[…]nous copions inlassablement au crayon et au fusain le portrait de Mme Vigée-Lebrun et sa fille.“, Laurencin 1952, 10. 193   Zum vermeintlichen Widerhall des 18. Jahrhunderts im Œuvre moderner Künstlerinnen vgl. Pilon 1927; Dayot 1899, V. Dix-huitième Siècle, 177 – 288, 240: „L’art léger, rapide, superficiel, très prime-sautier, très féminin, de Mme Vigée-Lebrun convenait surtout à la peinture de l’élégance et de la grâce de la féminine.“ 194   Courthion 1927, 146. 195   Vgl. Apollinaire, Le Salon des Indépendants, in: La Revue des Lettres et des Arts (01. 05. 1908), zitiert nach Apollinaire 1993, 63 – 70, 67. 196   Laurencin 1952, 1; Laurencin 1956, 17. Vgl. auch Laurencin (o. J.), BLJD, Fonds Laurencin, Ms 24771, [10]. 197   Zum Begriff des Bildnisses ex se vgl. auch Thalhofer 2010 (Bezug nehmend auf Boehm), 175 f., sowie die Einleitung zu diesem Großkapitel, 127 ff.. 198   Laurencin, zitiert nach Georges-Michel 1954, 79. 199   Vgl. Jaccard in: Alice Bailly, Ausst.-Kat. 2005, 51. 191 192

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Hébuterne ist weder im französischen noch im deutschen Künstlerlexikon mit einem eigenen Eintrag vertreten.200 Und ihr Aussehen ist primär durch die Porträtmalerei Modi­glianis sowie einzelne, oft leider unscharfe Schwarz-Weiß-Fotografien überliefert. Unglücklicherweise wurde Hébuternes Kunst  – darunter zwei Selbstporträts in Öl  – durch ihr eng mit dem Leben Modiglianis verwobenes Schicksal in den Hintergrund gedrängt.201 Im 20. Jahrhundert wurden etliche Geschichten um das Genie Modigliani und seine sich aufopfernde Muse gesponnen.202 Auch deshalb erscheint es umso wichtiger, die Bilder Hébuternes einmal für sich allein – ohne den fast schon obligaten Vergleich mit Modigliani – sprechen zu lassen.203 An erster Stelle soll mit dem um 1916 gefertigten Autoportrait (Abb. 20) ein Hauptwerk der jungen Künstlerin betrachtet werden. Von ­ihren Selbstbildnissen ist diesem Dreiviertelporträt sehr viel Reife und Sicherheit abzulesen – stilistisch genauso wie inhaltlich. Dem Betrachter zeigt sich nämlich eine erstaunlich elegante Frau, zumal wenn man bedenkt, dass Hébuterne sich hier als achtzehnjähriges Mädchen porträtierte. Reif und feminin wirken insbesondere die am Hinterkopf hochgesteckten Haare sowie das Perlencollier, das Hébuterne farblich offenbar auf ihre Bluse abgestimmt hatte. Mit Bedacht ausgewählt erscheint außerdem das Make-up: Hébuterne konturierte ihre schräg stehenden Augen mit schwarzem Kajal, trug ein zartes Rouge und einen rostroten Lippenstift auf. Wollte sie damit womöglich ihren sehr hellen Teint und ihr rotbraunes Haar betonen? Für beides wurde die junge Frau schließlich von Zeitgenoss/-innen gerühmt.204 Hatte sie vielleicht sogar ihren Kopf zur Seite gedreht und ein Auge und die Nase unvollendet gelassen, um so möglichst viel von ihrer blassen Haut zu zeigen? Nichts Genaues ist über dieses Selbstbildnis bekannt; man stellt lediglich fest, dass es, ganz so wie dasjenige Laurencins, eine klare Introspektion, einen Blick der Künstlerin auf das eigene Bewusstsein, darstellt. Wahrscheinlich präsentierte sich auch Hébuterne, die Laurencin bekanntlich bewunderte,205 gern als Exotin – dafür spräche jedenfalls ihre Vorliebe, sich modisch und gelegentlich im orientalischen Stil, etwa mit einem Turban, zu kleiden. Vor 1919 sah man Hébuterne außerdem meist mit zwei langen, schweren Zöpfen und einem Stirnband, die sie regelrecht indianisch erscheinen ließen.206 Was die Abwandlung der Natur anbelangt, stand Hébuterne ihrer Kollegin Laurencin offenbar sehr nahe: Ihr Haar dürfte kaum so dunkelrot und ihre Haut kaum derart 200   Sie wird höchstens im Zusammenhang mit Amedeo Modigliani bzw. der Tochter des Paares Jeanne Modigliani (1918 – 1984) erwähnt, vgl. Bénézit 1999, Tome 9, 689 ff., insbes. 691 und 693. 201   Ihre tragische Liebesbeziehung zu Modigliani ging als „Le cas Hébuterne“ (zitiert nach Chaplin 1990, 21) in die Geschichte ein und blieb in weiten Teilen ungeklärt. 202   Der 1958 veröffentlichte, französisch-italienische Film Montparnasse 19 (ou Les Amants de Montparnasse) unter der Regie von Jacques Becker behandelt das Leben des Künstlerpaares und basiert z. B. auf dem Roman Georges-Michels Les Montparnos (1929), vgl. dazu auch Chaplin 1990, 10 und 13. 203   Einige Ansätze lieferte in dieser Hinsicht bereits die Monografie von Marc Restellini (ders. 2008), die auch einen Catalogue raisonné umfasst. Wie jedoch der Untertitel Modigliani – Hébuterne 1916 – 1919 verrät, wurde auch hier das Künstlerpaar ins Zentrum gestellt. 204   Zu Hébuternes äußerem Erscheinungsbild und den Reaktionen darauf vgl. Chaplin 1990, 39, 54, 58. 205   Vgl. Chaplin 1990, 39; Restellini 2008, 77 und 98 f.; Stephan in: Von Renoir bis Picasso, Ausst.-Kat. 2011, 130. 206   Zu sehen in einem weiteren, selten erwähnten Selbstbildnis, nämlich: Jeanne Hébuterne, Autoportrait, 1917 (?), Öl auf Karton, aufgezogen auf Leinwand, 58 × 42 cm, Privatsammlung, vgl. Buisson 2012, 91.

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weiß gewesen sein wie in ihrem Selbstporträt dargestellt.207 Stärker als Laurencin zeichnete Hébuterne ihr Gesicht indes nach rechts gewandt, sodass sie den Betrachter geradezu schräg ansieht; überdies ist ihr linkes Auge extrem schmal dargestellt, was ihren Blick nicht minder rätselhaft wirken lässt als die großen, schwarzen Augen der FemmeCheval (Abb. 19). Angesichts der exponierten Halspartie in Autoportrait fühlt man sich ebenfalls an das Figurenideal aus vorherigen Gemälden, ob von Boldini, Crotti oder eben Laurencin, erinnert. Hier jedoch verweist die überlange Darstellung auf ein individuelles Merkmal Hébuternes, nämlich ihren ‚Schwanenhals‘, der zusammen mit ihrer Blässe und ihrem Haar die Attraktivität der jungen Frau ausmachte.208 Zu guter Letzt gibt es auch zu den Hintergrundmotiven – eine Mischung aus dekorativen Blüten und spitzwinkligen Dreiecken – eine Entsprechung in Laurencins Selbstbildnis: die weiße Zacken auf dem Haupt der Femme-Cheval, denen in Gestalt des Hundes und der Vögel ebenfalls Motive aus der Natur zur Seite gestellt wurden. Hier wie dort ergibt sich daraus ein formales Gleichgewicht zwischen harten und weichen, zwischen geraden und kurvigen bzw. geometrischen und organischen Linien. Durch die Torsion der Figur tritt außerdem erneut die viel beschworene serpentine Linie, ein Markenzeichen Laurencins sowie – Apollinaire zufolge – des gesamten Art féminin zutage.209 Zwar mag Hébuternes Kolorit in diesem Selbstbildnis an Laurencin erinnern – ihre malerischen Vorbilder waren aber vor allem Cézanne und die Nabis mit ihrer typisch kräftigen, warmen Farbpalette.210 Daneben ähnelte ihr Œuvre demjenigen Modiglianis, was hier keineswegs unterschlagen werden soll, da sich u. a. darin die Zugehörigkeit Hébu­ternes zur École de Paris widerspiegelt.211 Nur sollte man dabei eben nicht die Originalität von Werken wie Autoportrait oder auch Femme au Chapeau Cloche212 (1919) außer Acht lassen. Denn wie exemplarisch die Perlenkette und die Behandlung des Fonds in Autoportrait zeigen, grenzte sich die junge Hébuterne durch ihre starke Tendenz zur dekorativen Kunst und ihr Interesse für modische Details nicht nur stilistisch von ihrem Lebensgefährten Modigliani ab. Trotz punktueller Bezüge wahrte sie vor ebenso wie nach ihrer Begegnung mit Modigliani ihre eigene künstlerische Identität.213 Eventuell wollte Hébuterne sich mit Femme au Chapeau Cloche sogar gegen den vierzehn Jahre älteren, erfahreneren Modigliani behaupten: „Y a-t-il chez Jeanne une volonté de s’affirmer en s’opposant à lui sur le plan artistique pour marquer son indépendance et   Ihr Haar wurde überwiegend als hellbraun beschrieben, ihr Spitzname lautete dementsprechend Noix de Coco, vgl. Chaplin 1990, 39 und 58. Allerdings ist eine Haarlocke der Künstlerin erhalten, die deutlich mehr zu dem in Autoportrait gezeigten Farbton passt als zu den Zeitzeugenberichten, vgl. dazu Restellini 2008, 13. 208   Vgl. z. B. die reproduzierten Fotografien in Chaplin 1990, o. S.; vgl. auch Restellini 2008, 180. 209   In seinem berühmten Beitrag von 1912 überlieferte Apollinaire, dass Auguste Rodin in Laurencins Schaffen einst die „danse serpentine“ von Loïe Fuller wiedererkannte. Der Autor verallgemeinerte dies folgendermaßen: „C’est cela même, la peinture féminine est serpentine […].“, Apollinaire in: Le Petit Bleu (05. 04. 1912), zitiert nach Apollinaire 1993, 302 – 307, 302. 210   Vgl. Restellini 2008, 77 – 79. 211   Zur künstlerischen Verwandtschaft von Hébuterne und Modigliani vgl. Chaplin 1990, 53. 212   Jeanne Hébuterne, Femme au Chapeau Cloche, 1919, Öl auf Leinwand, 92 × 65,2 cm, Privatsammlung, vgl. Restellini 2008, 151. Streng betrachtet kann es sich bei dem abgebildeten Kopfschmuck auch um eine Toque handeln, so wie auf einer Papierarbeit Hébuternes mit ähnlichem Motiv: Femme à la Toque, o. J. (1917), Bleistift auf Papier, 43,1 × 25,8 cm, Privatsammlung, vgl. ebda., 110. 213   In dem Werk Modigliani et Jeanne Hébuterne à Nice (1919) stattete sie ihre Figuren z. B. mit demselben ‚blinden‘ Blick aus, der für Modiglianis Porträts typisch ist, vgl. ebda., 189. 207

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lui prouver qu’elle est une artiste à part entière ?“214, spekulierte dahingehend Marc Restellini. Im Privaten schien sich Hébuterne dagegen regelrecht für Modigliani aufzu­opfern.215 Nicht nur habe sie dessen Laster – Untreue, Alkoholsucht, Drogenkonsum – hingenommen, sondern selbst auch auf vieles verzichtet, z. B. auf ihre Freundschaft mit Germaine Labaye oder auf ein harmonisches Verhältnis zu ihren Eltern.216 So kam es, dass man Hébuternes depressives Gemüt später in einen engen, kausalen Zusammenhang mit ­ihrem entbehrungsreichen Dasein an der Seite Modiglianis stellte.217 Dabei regt der in der Tat missliche Verlauf sowohl ihrer Karriere als auch ihres Lebens zu der Frage an: Welchen Einfluss hatte eine solche Konstellation – d. h. wenn man als Teil eines Künstlerpaares lebte und arbeitete  – auf die betroffene Frau? War sie automatisch nur „die zweite Stimme im Orchester“218? War sie am Ende immer die Leidtragende?

Künstlerpaare Diese Fragen beantwortete keine der einschlägigen, französischen Autorinnen mit ­einem klaren Ja.219 Denn bekanntermaßen überdauerte antifeministisches Gedankengut in Paris sowohl die Jahrhundertwende als auch den Ersten Weltkrieg.220 Und daraus folgte, dass Frauen der Zugang zu Künstlerkreisen meist nur über männliche Insider gelang oder ihnen durch diese privaten Kontakte zumindest erleichtert wurde.221 Wollte man als Frau an aktuellen Debatten, am semiöffentlichen Leben, an der literarischen Cafészene teilhaben oder von der Presse beachtet werden, tat man also gut daran, sich mit einem, nach Möglichkeit erfahrenen, männlichen Künstler zu verbünden, zumal dies außerdem das eigene Schaffen befruchten konnte. So geschehen bei Laurencin, die über Apollinaire in den Kreis der Poeten und Intellektuellen aufgenommen wurde, oder auch bei Hébuterne: Als Tochter aus bürgerlichem Haus fiel es ihr anfänglich schwer, sich in dem multikulturellen Umfeld von Montparnasse zu integrieren; erst durch ihre Bekanntschaft mit Modigliani war Hébuterne unter den Montparnos und in der örtlichen Cafészene ein respektiertes Mitglied.222 Mit einem Künstler verheiratet zu sein, so Bonnet, „était au XXe siècle ce que l’Académie royale avait été au XVIIIe siècle : un cadre de légitimation du talent féminin.“223 Vollumfänglich galt dies für die Zeit zwischen den Weltkriegen, als die Künstlerpaare in der französischen Hauptstadt immer zahlreicher   Ebda. 150.   Vgl. Chaplin 1990, 58, 95. 216   Vgl. ebda., 86 f., 95. 217   Zwar gibt es Hinweise darauf, dass Hébuterne ohnehin einen stillen bis melancholischen Charakter besaß (vgl. Chaplin 1990, 18 und 54), doch klare Anzeichen für Depressionen, verbunden mit Todessehnsucht, erkannte die Forschung erst in Werken, die während ihrer Beziehung mit Modigliani entstanden. Vgl. dazu Restellini 2008, 112 – 114, sowie die 1919 gefertigte Bilderserie Le Testament de Jeanne, Acte I – IV (ebda. 187 – 193), in der die junge Mutter ihren eigenen Tod visualisierte. 218   Hildebrandt 1928, 109. 219   Vgl. insbes. zu diesem Thema Gonnard/Lebovici 2007, Produire à deux: le Partage des Genres, 128 – 138. 220   Dies wurde bereits ausführlich in dem Kapitel, Das Frauenbild nach 1900, 69 ff., insbes. 85 ff., dargelegt. 221   „Le couple facilite bien souvent pour ces femmes une participation à la vie des avant-gardes.“, Debray in: Elles@centrepompidou, Ausst.-Kat. 2009, 26. Vgl. auch Perry 1995, 49, 143. 222   Vgl. Chaplin 1990. 41 f., 58. 223   Bonnet 2004, 77. 214 215

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wurden. Hébuterne und Modigliani, Sonia und Robert Delaunay, Sophie Taeuber-Arp und Jean Arp, Alice Halicka und Marcoussis oder Hermine David und Jules Flandrin – schon die Zahl der geläufigen Künstlernamen, die – oft nur für kurze Zeit, selten ein ­Leben lang  – innerhalb der École de Paris ein Paar formten, beläuft sich auf mehrere Dutzende.224 Tatsächlich war das Künstlerpaar – kunsthistoriografisch – ein Phänomen der Moderne, des 20. Jahrhunderts,225 insofern Kunstschaffende zuvor doch stets als Einzel­ wesen, als Genie, Einsiedler und dergleichen, zelebriert wurden. Dieser Geniekult bedingte auch, dass die Geschichtsschreibung den Frauen lange Zeit zu wenig Raum beimaß, und so ist die Thematisierung und Historisierung des Künstlerpaares erst einmal als Fortschritt zu sehen. Doch bei näherer Betrachtung – nicht retrospektiv, sondern aus Sicht der Zeitgenossen/-innen – offenbart sich eben auch dessen Kehrseite: Marevna, die von Russland in die Pariser Künstlerkolonie La Ruche gezogen war und dort Unterricht an der Académie Russe genommen hatte, führte von 1915 bis 1921 eine lose Beziehung mit Diego de Rivera.226 Das gemeinsame Kind zog Marevna ebenso groß, wie sie den Lebensunterhalt für die Familie bestritt, was sich auf ihre künstlerische Karriere häufig negativ auswirkte – sie selbst bekundete dies in ihrer Autobiografie mit dem sprechenden Titel Life in two Worlds.227 Des Weiteren berichtete Marevna, dass Rivera ihre Tätigkeit im Atelier zu boykottieren versuchte, wobei ihr selbst aber auch die Courage fehlte, sich ihm zu widersetzen.228 Erst Jahre später, als sie längst von Rivera getrennt war, nahm Marevna ihre avantgardistische Kunst, von der sie aus ökonomischen Gründen abgerückt war, schließlich wieder auf. Parallel zu Marevna schwor auch die Malerin Alice Halicka dem Kubismus ab und betätigte sich stattdessen in figurativer, mitunter dekorativer, Kunst.229 Auch in ihrem Fall dürfte der Auslöser ihr Ehemann, der Kubist Louis Marcoussis, gewesen sein, der damals womöglich um seine eigene Stellung auf dem Pariser Kunstmarkt bangte.230 So wurden während des nächsten Jahrzehnts Collagen aus Papier, Textilien und Nippes zu Halickas Markenzeichen; man nannte diese kleinformatigen, plastischen Figurenbilder Romances capitonnées, d. h. gepolsterte Roman­ zen. Bei der Lancierung ihrer Kunst half Prinzessin Lucien Murat, eine angesehene Pariserin:   Zu den einzelnen Künstlernamen vgl. Bonnet 2006, 50; sowie Débray in: Elles@centrepompidou, Ausst.Kat. 2009, 26. 225   Zum modernen Künstlerpaar vgl. Renate Berger (Hg.) 2000. 226   Zu Marevna, eigentl. Maria Bronislawowna Worobjowa-Stebelskaja, vgl. Berger (Hg.) 1987, Marevna (* 1892), 291 – 297; Perry 1995, Living in ‚two Worlds‘: professional and personal Conflicts, 71 – 80, und ebda., Appendix 3, 166 – 174; Nicoïdski 1996, 206 – 210. 227   „If I am asked why I held aloof from the circle of contemporary artists who have all achieved universal recognition, my answer is that my exhibitions were always followed by long blanks, because I had to fight fearfully hard to bring up my child, devote so much time to commercial art and to decorative art, and give up exhibiting for lack of money. By force of circumstances, then, I exhibited very seldom.“, Marevna 1962, zitiert nach Perry 1995, 74. Vgl. auch die ins Deutsche übertragenen Auszüge aus Marevna: Life with the Painters of La Ruche (1974), zitiert nach Berger (Hg.) 1987, 295 f. 228   Vgl. Berger (Hg.) 1987, 300 f. 229   Zu Alice Halicka vgl. Perry 1995, In the Shadow of the Bateau Lavoir: Women Artists and the Cubists, 59 – 70, und ebda., Appendix 1, 152 f.; Paula J. Birnbaum in Nicholas Mirzoeff (Hg.) 2000. 230   Zu diesem Punkt vgl. Perry 1995, 66; Buisson 2002, o. S. 224

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Connaissez-vous Madame Halicka, le peintre des tableaux capitonnés ? […] Ce ne sont […] ni des marionnettes, ni des hommes, mais des pantins faits chair, sorte d’humanité spontanée qui correspond à notre goût du poncif populaire, à la mode du symbolisme forain.231

Durch ihren verträumten und  – wie Murat in diesem Beitrag in L’Art vivant deutlich machte – puppenhaften Charakter spielten Halickas Romances capitonnées natürlich gerade den Kritikern in die Hände, die dem Art féminin von Vornerein wenig zutrauten, auf deutscher Seite namentlich Hans Hildebrandt. Dieser vermerkte in Die Frau als Künstlerin (1928), wie gewaltig doch die Kluft zwischen Halickas und der Kunst Marcoussis’ sei: Schwerlich würde jemand vor den mit viel Feinheit des Empfindens im Sinne neurealistischer Malerei aufgebauten Bildern Alice Halickas, die so gern von ihrer nächsten Umgebung erzählen, die Tatsache vermuten, daß die Künstlerin Gattin des hervorragenden Kubisten Marcoussis ist.232

So positiv es damals schien, dass ihr hiermit ein von ihrem Ehemann gänzlich unabhängiges Talent attestiert wurde,233 so negativ wirkte sich dieses Lob doch auf Halickas Rezep­tion aus. Denn obgleich auch sie ursprünglich aus dem Kubismus herkam, war sie als „peintre des tableaux capitonnés“234 der Avantgardekunst plötzlich nicht mehr zugehörig. Außerdem könnte die für sie unvorteilhafte Kontrastierung mit ihrem Mann durchaus bedingt haben, dass Halicka von der jüngeren Kunstgeschichtsschreibung  – wenn überhaupt – nur sporadisch behandelt wurde. Ähnliches lässt sich über die Malerin Lucie Valore sagen, die es sich, obwohl nebenberuflich Künstlerin, zur Mission machte, Wohl und Erfolg ihres Ehemannes, des Malers Maurice Utrillo, sicherzustellen.235 Marevna, Halicka und schließlich Valore-Utrillo wurden hier lediglich als exemplarische Künstlergattinnen zitiert. Ob sich Hébuterne mit ähnlichen Problemen konfrontiert sah wie sie, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Zumindest übernahm aber auch Hébuterne die Aufgabe, für die Familie und das gemeinsame Kind zu sorgen, worunter ihre künstlerische Produktivität, ihre Ausstellungsaktivität und ihr Renommee litten.236 D. h. die Vereinbarung eines ausgefüllten Familienlebens mit einer Karriere als ernstzunehmende Künstlerin – obendrein im avantgardistischen Milieu – war kaum praktikabel. Während die Heirat der Frau anfangs vielleicht noch einen Weg darstellte, sich künstlerisch zu etablieren und gleichzeitig sozial wertgeschätzt zu werden, kam sie in Wahrheit und langfristig doch vor allem dem Mann, in diesem Falle Modigliani, zugute.   Princesse Murat: Sélections. Romances capitonnées, in: L’Art vivant (1926), 3.   Hildebrandt 1928, 123. Vgl. auf französischer Seite z. B. Raynal 1927, 187. 233   Bei Murat hieß es gleich zu Beginn: „[…] elle a conquis toute seule sa célébrité, en marge de son mari […] Marcoussis.“, Murat 1926, 3. 234  Ebda. 235   „Elle joue à la maman plus qu’à l’infimière. Elle a réglé la vie d’homme de son mari et sa vie de bête de travail. Elle achète ses cravates, tient ses livres de comptabilité et veille à la légende autant qu’à la bourse du peintre.“, Georges-Michel 1954, 287. 1963 gründete Valore schließlich die Association Maurice Utrillo, heute unter dem Vorsitz von Jean Fabris, vgl. http://www.utrillo.com (zuletzt geprüft am 15. 11. 2021). 236   Z. B. ist durchaus denkbar, dass Hébuterne gerade während ihrer Beziehung mit Modigliani bei dessen Mäzenen, den Zborowskis, in Ungnade fiel. Verglichen mit ihm war sie schließlich noch eine Debütantin, und aus Sicht der Kunsthändler stand sie seinem Durchbruch womöglich im Wege, vgl. Chaplin 1990, 73 f., 119 – 123. 231 232

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Er behielt in der Regel die führende Rolle und war gesellschaftlich höher angesehen als sie, selbst noch posthum.237

Weitere Bildvergleiche Autoportrait (Émilie Charmy) Wohl auch aufgrund des eben beschriebenen Hintergrundes stehen Jacqueline Marval und Émilie Charmy in dem Ruf, historische Anomalien zu sein:238 Ihrer beider Erfolg blieb zu Lebzeiten von jenem ihrer Partner ungetrübt – Marval lebte mit Jules Flandrin, Charmy erst mit Camoin, später mit Georges Bouche zusammen.239 Dabei übte Charmy ihren Beruf auch nach Ausbruch des Krieges und nach der Geburt ihres Sohnes, den sie in Pflege gab, weiterhin ohne große Beschränkungen aus.240 Da die die dominanten innenpolitischen Themen damals Mutterschaft und Familie waren, stieß das Verhalten Charmys bei vielen Mitmenschen auf Unwillen; allerdings schien sie sich ohnehin sozial zu separieren und sich stark auf sich selbst zu besinnen.241 Mittlerweile wird sie, in Analogie zu ihrer Freundin und langjährigen Galeristin Berthe Weill, als Beispiel der starken, modernen Frau gefeiert – zum einen aufgrund ihres Lebenswandels, zum anderen aufgrund ihrer provozierenden Aktmalerei, wofür sie sich am liebsten selbst Modell stand. Dabei braucht es gar nicht so explizite Bildtitel wie Autoportrait en Peignoir ­ouvert242, um jene Kraft und Selbstsicherheit, die von Charmys Kunst ausgehen, begreiflich zu machen. Denn schon ihr Autoportrait (Abb. 21), das man kleidungstechnisch gar züchtig nennen und den Frauenbildnissen Helleus zur Seite stellen könnte, kündet von Charmys Selbstverständnis als Frau. Selbst das langärmelige, hochgeschlossene schwarze Kleid, das mit Ausnahme von Kopf, Hals und Händen kein Stück ihres Körpers unbedeckt lässt, vermag nicht über den insgesamt aufreizenden Eindruck dieses Porträts hinwegzutäuschen. Nonchalant wirkt hier die Körperhaltung Charmys: ein lässiger Kontrapost, unterstrichen durch einen in die Hüfte gestemmten Arm und ein Paar entspannte, 237   Modigliani wurde 1920 unter großer Anteilnahme auf dem ehrwürdigen Pariser Friedhof Père Lachaise beigesetzt; Hébuterne unterdessen in dem Vorort Bagneux. Zu den Umständen ihres Todes vgl. z. B. Von Renoir bis Picasso, Ausst.-Kat. 2011, 130. 238   „As a female painter in France in the early twentieth century, Charmy was an anomaly, one of only a handful of successful woman artists.“, Rita Felski: Charmy. A Challenge to Art History, in: Émilie Charmy, Ausst.-Kat. 2013, 59 – 65, 59. 239   Charmy sowie Marval begannen ihre künstlerische Laufbahn jeweils in den Reihen der Fauves, doch rezipierte man sie aufgrund ihres späteren Schaffens primär als Malerinnen der Weiblichkeit und zählte sie innerhalb der École de Paris eher zu den Traditionalisten, vgl. Perry 1995, 4 f., 10; dies. in Gaze (Hg.) 1997, 379 und 931; Perry (Hg.) 1999, 216. 240  Zur Biografie Charmys vgl. Patrick Seale: Émilie Charmy. Une Artiste renaît, in: Émilie Charmy, 1878 – 1974, Ausst.-Kat. 2008, 29 – 44, insbes. 37 – 39; sowie Matthew Affron: Charmy. The Artist in her Time, in: Émilie Charmy, Ausst.-Kat. 2013, 15 – 38, insbes. 24. 241   Vgl. Louis Léon-Martin: E. Charmy. La Délectation de la Solitude, in: Paris-Soir (19. 02. 1939), aus: Bibliothèque nationale de France, FOL-LN1-232 (4680); vgl. auch Perry 1995, 84; Corinne Charles: Émilie Charmy. Une Expressionniste française?, in: Émilie Charmy, 1878 – 1974, Ausst.-Kat. 2008, 19 – 28, 19; Seale in ebda., 43; Affron in: Émilie Charmy, Ausst.-Kat. 2013, 31. 242  Charmy, Autoportrait en Peignoir ouvert, 1916 – 1918, Öl auf Leinwand, 91,76 × 73,34 cm, Schenkung von Pamela K. und William A. Royall, Jr., The Fralin Museum of Art at the University of Virginia, Charlottesville, Virginia, vgl. Émilie Charmy, Ausst.-Kat. 2013, 92.

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abfallende Schultern. Ihr Gesicht tritt dabei minimal aus der vertikalen Körperachse, wirkt leicht erhoben und knüpft durch sein Mienenspiel – einen etwas schief lächelnden Mund sowie halb geschlossene, dunkle Augen – nahtlos an die beschriebene Körpersprache an. Man liest hierin eine Spur Arroganz sowie Trotz, derer Charmy wahrscheinlich bedurfte, um die öffentliche Kritik an ihrer Person zu verkraften. Damit aber wich sie sichtbar von dem Auftreten einer Pariserin des 19. Jahrhunderts ab und erschien stattdessen als moderne Pariserin, die Uzanne um 1910 wie folgt beschrieb: La Parisienne d’aujourd’hui se présente avec un type absolument distinct ; elle apporte, dans la vie agissante, une expression d’art, une sensation de nervosité, un frottis de cosmopolitisme, une allure de crânerie garçonnière, un chic pseudo-anglais qu’on ne lui avait point vus jusqu’alors.243

Tatsächlich ist dieses Werk deshalb so geeignet, Charmy als Künstlerin zu repräsentieren, da es im Hinblick auf ihr Gesamtwerk quasi einen Mittelwert darstellt. Es reiht sich zwischen Autoportrait à l’Album244 und Nu tenant son Sein (Abb. 22) ein, das wesentlich später, nämlich erst Anfang der 1920er-Jahre, entstand. Charmys Wandlung von dem einen zum anderen Beispiel ist frappierend und führt dabei nachvollziehbar über das vorgestellte Autoportrait: Das erste Autoportrait à l’Album zeigt noch eine sich aufrecht und gerade haltende Charmy; ihre Augen blicken weit geöffnet geradeaus, während ihr Mund, ohne merklich zu lächeln, geschlossen ist. Auch ihre Frisur und Garderobe, in diesem Fall ein marineblaues Hemdblusenkleid, sind zwar nicht züchtig, aber schlicht und dezent. Ihre Brust, die sich eigentlich sowohl über dem tiefen Dekolletee als auch unter dem Kleiderstoff abzeichnen müsste, wurde z. B. gar nicht herausgearbeitet. Anders verhält es sich in Charmys Selbstporträt aus der Sammlung Bouche, wo die fragliche Partie zumindest mit breiten dunklen Pinselstrichen umrissen wurde. Auch ist hier die auffallend weiße Farbe aus Charmys Gesicht gewichen, die zuvor – gemeinsam mit den schwarzen Augen und dem blutroten Mund – das theatralische Moment ihrer Figuren ausmachte. Im Einklang mit ihrer lockeren Körperhaltung erinnert der Gesichtsausdruck Charmys nun nicht mehr an eine Maske, sondern wirkt viel lebendiger. Nochmals gesteigert wurde diese Expressivität in Nu tenant son Sein (Abb. 22), einem Schlüsselwerk und – womöglich – weiteren Selbstporträt der Künstlerin.245 Leuchtend hell tritt hier der nackte Leib aus dem unverändert neutralen Dunkel heraus, und obwohl das Modell bzw. die Künstlerin für dieses Bild eine sitzende Position einnahm, zeugt es dennoch von mehr dynamischer Kraft als seine Vorgänger. Technisch lässt sich dies auf den expressiven und facettenreichen Farbauftrag, inhaltlich auf die Gestik der Porträtierten zurückführen. Ihren rechten Arm hat diese frontal angewinkelt, um sich unverblümt an ihre linke Brust zu greifen. Was aber für den aktuellen Vergleich noch relevanter ist: Ihr Kinn ist gereckt, so als werfe sie ihren Kopf in den Nacken, wodurch sie von oben auf den Betrachter herabschaut. Die dunkel geschminkten Augen sind dem Anschein nach   Uzanne 1910, Chapitre I. La Parisienne contemporaine, 17 – 44, 26 f.  Émilie Charmy, Autoportrait à l’Album/Self-Portrait with Album, ca. 1907 – 1912, Öl auf Leinwand, 116,2 × 89,1 cm, Schenkung von Pamela K. und William A. Royall, Jr., The Fralin Museum of Art at the University of Virginia, Charlottesville, Virginia, vgl. Émilie Charmy, Ausst.-Kat. 2013, 88. 245   Ihr Enkelsohn, der Galerist Bernard Bouche, war überzeugt, dass es sich hierbei um ein Selbstporträt Charmys handele; Seale hingegen identifizierte in dem Akt eine mit der Künstlerin befreundete Schauspielerin, vgl. Seale, in: Émilie Charmy, 1878 – 1974, Ausst.-Kat. 2008, 32. 243 244

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fast geschlossen, der Mund dafür so weit geöffnet, dass die obere Zahnreihe entblößt wird. Ein hochgezogener oder zuckender Mundwinkel, dazu eine Haarsträhne, die ihr ungebändigt ins Gesicht fällt, komplettieren den Eindruck, dass die Dargestellte sich hier frei von jeder Scham gebärdet. Darin ist bei genauerem Hinsehen eine Steigerung des Autoportrait (Abb. 21) zu erkennen, oder anders ausgedrückt: Die extrem verruchten  Züge des späteren Akts sind in Autoportrait bereits angelegt  – von der Haltung der Arme über den geneigten Kopf bis hin zu Details wie der breiten Nase, dem schiefen  Lächeln oder den gesenkten Lidern. Zwischen Charmys Autoportrait à l’Album und Nu tenant son Sein scheinen wiederum Welten zu liegen, worin sich nochmals offenbart, inwie­weit sich ihr persönliches bzw. das damalige Frauen- und Selbstbild wandelten, erst recht, wenn sich hinter dem letzten Werk wirklich ein Selbstporträt verbergen sollte. Mit Autoportrait zeichnete Charmy das Bild einer erfahrenen, selbstsicheren Frau, ohne sich dabei zeitgenössischen Schönheitsvorstellungen zu beugen. Keine hochgewachsene, ranke Gestalt präsentierte sie dem Betrachter, sondern einen kräftig gebauten, kurvenreichen Frauenkörper, wie er der Realität entsprochen haben dürfte.246 Alles Zarte und Fragile, was idealerweise einer Jeune Fille aneignete, sucht man hier vergebens. Wollte Charmy sich demzufolge ein betont reifes und frauliches Image verleihen? Oder führte sie einfach bloß ein Selbstporträt nach der Natur aus? Da Charmy seit jeher ein unabhängiger, ja rebellischer Charakter nachgesagt wurde,247 ist durchaus denkbar, dass sie mit diesen Selbstporträts bewusst auf einen Bruch mit dem allgegenwärtigen Idealbild abzielte. Andererseits war sie für die zeitgenössische Kleidermode sehr empfänglich und zeitweise sogar in dem renommierten Modeatelier von Jenny tätig.248 Dem­ nach ist davon auszugehen, dass Charmy ihre Garderobe mit Bedacht und Finesse zusammenstellte, auch im Falle des schlichten schwarzen Kleides in Autoportrait, dessen einziger Akzent ein enger Kragen mit Krawatte ist. Dieses Accessoire, die Krawatte bzw. Halsbinde, fiel bereits in Laurencins La Femme-Cheval (Abb. 19) ins Auge. Es galt innerhalb der Mode à la garçonne als exzentrisches Element, analog zu Monokel und Zigarettenspitze. Dass Laurencin und Charmy mit dem Tragen einer Krawatte auch eine entsprechende, feministische Aussage bezweckten, ist stark zu bezweifeln. Denn beiden Frauen standen ausdrücklich zu ihrer Weiblichkeit, genossen deren Vorzüge, indem sie sich à la mode kleideten und schminkten, und führten ein im weitesten Sinne bürger­ liches Leben.249 Genau darin  – in der Kombination von femininen und maskulinen Eigen­schaften  – sahen Autoren ein Paradoxon: „Émilie Charmy, semble-t-il, voit en femme et peint en homme; elle a pris ici cette force, là cette grâce, et c’est ce qui fait d’elle

246   Zeitgenössische Fotografien belegen die eher gedrungene Statur und individuellen Gesichtszüge der Künstlerin, z. B. Charmy in her Studio in Saint-Cloud, ca. 1906, Privatsammlung, aus: Émilie Charmy, Ausst.Kat. 2013, Frontispiz. 247   Vgl. Colette zitiert nach Buisson 2002, o. S.; Seale in: Émilie Charmy, 1878 – 1974, Ausst.-Kat. 2008, 32 und 35. 248   Vgl. Seale in: ebda., 30. 249   Vgl. ebda., 30 und 42. Der Autor spricht an anderer Stelle zwar noch von einer „vie d’artiste“ (ebda., 39.), in Bezug auf Charmys sexuelle Freizügigkeit; aber deren Verbindungen zur gehobenen Gesellschaft, ihre Porträtaufträge sowie ihre Aufnahme in die Ehrenlegion bezeugen, dass Charmy zwischen den beiden Weltkriegen vielmehr in Abgrenzung zu anderen Künstler/-innen lebte.

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ce peintre étrange et puissant qui séduit et retient.“250, hieß es beispielsweise schon im Jahr 1921 in Reaktion auf Charmys Einzelausstellung in der Pariser Galerie d’Œuvres d’Art. Dieser einen Rezension ließen sich etliche weitere hinzufügen, aus denen, auch im positiven Sinne, Skepsis oder Irritation ob dieses außergewöhnlichen, künstlerischen Talents sprechen.251 Hier und da wurde Charmy sogar als „le peintre“ bezeichnet, etwa bei dem eben zitierten Léon-Louis Martin: „Charmy est le peintre incomparable de la femme“ oder auch „[…] le peintre inoubliable du charme, le maître qui retient la grâce et fixe la beauté“.252 Einerseits bedeutete dies natürlich eine Auszeichnung, wurden die meisten ihrer Weggefährtinnen doch schlicht Femme-peintre oder Peintresse genannt; andererseits sprach Martin im selben Atemzug von Charme, Grazie oder Schönheit – von Kategorien also, die traditionell allein auf die Kunst von Frauen angewandt wurden. Trotz dieser Auszeichnung gab es gleichzeitig Autoren, die Charmy – wohl aufgrund deren ambiger Kunst – in ihren Überblickswerken aussparten, wie z. B. Vauxcelles in seiner 1922 erschienenen Histoire générale.253 Daran zeigt sich einmal mehr, mit welcher Willkür oder Subjektivität frühere Chronisten ans Werk gingen und was es für die Betroffenen bedeutete, wenn sie in den Augen der Kritik weder wie eine Frau noch wie ein Mann malten.254 Es dürfte daher kaum Charmys Intention gewesen sein, sich in Porträts wie diesem optisch zu androgynisieren, sich männlicher oder viriler zu geben, als sie in Wirklichkeit war. Vielmehr werden ihr dunkles Hemdkleid und ihre Krawatte einem allgemeinen modischen Interesse oder schlicht künstlerischen Überlegungen zu Farb­ gebung, Kontrast etc. geschuldet sein.255 Darüber hinaus trugen Charmy und deren ­Modelle auf späteren Ganzkörperporträts durchaus Schnitte und Farben, die sie betont zart und, nach damaligen Begriffen, weiblich erscheinen ließen.256 Was in Charmys Selbstbildnissen konsequent hervorsticht, aber bisher nicht näher untersucht wurde, ist ihr Make-up, das gemeinsam mit ihrer Kleidung à la mode, auf das  Trendbewusstsein sowie die Modernität dieser Künstlerin verweist. Schwarz geschminkte Brauen und Lider, betonte Mandelaugen, kräftige Lippenfarben, ein heller Teint – all dies diente einer weiblichen Optik, die Frauen mithilfe neuer Präparate selbst bestimmen konnten. Diese Chance, sich selbst zu gestalten, ergriffen auch Charmy und ihre Wegbegleiterinnen. Derart konnten sie sich vom 19. Jahrhundert lossagen, das Weiblichkeit noch mit Natürlichkeit gleichgesetzt hatte und für ihr Empfinden längst 250   Léon-Louis Martin in: Charmy, Ausst.-Kat. 1921, o. S.; vgl. auch Seale in: Émilie Charmy, 1878 – 1974, Ausst.-Kat. 2008, 30: „Émilie Charmy avait ceci de paradoxal que son remarquable talent d’artiste était enfermé dans la coquille d’une bourgeoisie parisienne, […]“. 251   Z. B. Roland Dorgelès in: Charmy, Ausst.-Kat. 1921, o. S.; Mac Orlan in ebda., o. S.; Chéronnet 1933, 205. 252   Martin in: Charmy, Ausst.-Kat. 1921, o. S. 253   Berthe Weill, Charmys Kunsthändlerin, bemerkte dazu in ihren Memoiren: „[…]. L’histoire de la peinture des femmes est faite selon ce que l’auteur aime ou admet comme valable ; les artistes qui ne lui plaisent pas doivent être rayées de l’histoire de l’art.“, Weill 2009, 161. 254   Neben Charmy waren auch Valadon sowie, episodenhaft, Laurencin und Marval dieser Form von Kritik ausgesetzt. 255   Womöglich wollte sie ihr Gesicht ins Zentrum rücken; auch tendierte sie, genauso wie Laurencin, zu ­einer unnatürlich hellen Hautfarbe, der die Nachbarschaft von dunklen Tönen wie Marineblau, Schwarz oder Braun zu besonderer Strahlkraft verhalf. 256   Vgl. Charmy, Self-Portrait. Woman in Pink, um 1921, Privatsammlung, aus: Perry 1995, Tafel 26; dies., Portrait, 1921, Pamela K. and William A. Royall, Jr., aus: Émilie Charmy, Ausst.-Kat. 2013, 98.

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passé war. Sowohl für die Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts als auch für die Künstlerinnen selbst besaß ihre eigene Schönheit nun einen gesteigerten Wert.

Fazit Ziel dieses Kapitels war es zunächst, das weibliche Selbstbildnis als eine spezielle Form des Portrait à la mode zu behandeln. Denn es zeigte sich durch die Bildanalyse, dass sich alle berücksichtigten Malerinnen der zeitgemäßen Mode entsprechend porträtierten bzw. der Mode ihrer Zeit sogar voraus waren. Kurzhaarfrisuren, dazu enge, mit Krawatte oder Halsbinde betonte Hemdkragen und eine gewisse Exotik bzw. Extravaganz sind Elemente, die genau den Zeitgeschmack jener Periode trafen. Was dabei allerdings stutzig machte, war die hin und wieder männliche Konnotation dieser Selbstporträts – anders ausgedrückt die womöglich bewusste Tarnung weiblicher Merkmale. Unter Berücksichtigung des kostüm- und zeitgeschichtlichen Kontextes waren darin rasch Anklänge an den Stil à la garçonne auszumachen. Und dank biografischer Kenntnisse oder einzelner Selbstzeugnisse der Künstlerinnen konnte schließlich bestätigt werden, was schon deren Selbstporträts suggerierten: dass sich die verantwortlichen Künstlerinnen jeweils als moderne Frau, dabei explizit als Frau, begriffen, dass sie, auch im künstlerischen Sinne, über Willensstärke und eine eigene, starke Persönlichkeit verfügten. Als Sonderform des Künstlerinnenbildnisses ist dabei der Selbstakt zu betrachten: „Selbstdarstellungen von Künstlerinnen im Modus der Entkleidung“, wie jene von Charmy, „haben eine Vorgeschichte und sind vor dem Hintergrund des ihnen versagten Zugangs zu Kunstakademien (speziell zum Aktstudium) […] zu bewerten.“257, schrieb dahingehend Renate Berger. In der Tat verlangte das diskriminierende System der Kunstausbildung den betroffenen Frauen viel ab; außerdem zeigten die Lebensläufe von Hébuterne und Charmy, dass die eigene berufliche Selbstverwirklichung nicht selten durch das Zusammenleben mit einem Künstler erschwert wurde. Es wurde danach gefragt, ob einer Frau, die sich dafür entschieden hatte, Teil eines Künstlerpaares zu sein, immer ein beruflicher Nachteil entstand; denn so wird es unter Verweis auf Hébuternes Schicksal vielfach dargestellt. Dabei wussten Frauen das Netzwerk ihrer Liebhaber oder Partner anfangs durchaus zu ihren Gunsten zu nutzen, etwa um sich innerhalb der École de Paris zu etablieren. Problematisch wurde eine Paarkonstellation meist erst dann, wenn der männliche Part zu viel Dominanz oder Eifersucht an den Tag legte, oder aber, wenn ein Kind im Spiel war. Für die Frau war es dann fast unmöglich, gleichzeitig erfolgreiche Künstlerin, Mutter und eventuell auch noch die Ernährerin der Familie zu sein. Im retrograden Klima der späten zwanziger und dreißiger Jahre legte die Kunstkritik Frauen zudem auf die eher belanglose Rolle der „Gehilfin und Kameradin“258 fest. Auch deshalb sind wohl bis heute hauptsächlich männliche Mitglieder der École de Paris bekannt, und weniger deren Lebensgefährtinnen. In der Ausstellungssituation der Pariser Museen spiegelt sich dieses Missverhältnis allzu deutlich wider.259

  Berger 2013, 22.   Hildebrandt 1928, 157. 259   Bereits Perry wies auf dieses Ungleichgewicht hin, das im Speziellen die Pariser Sammlungen betrifft, vgl. Perry 1995, 4. 257 258

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Die beschriebene Rollenverteilung entsprach nicht immer der Wirklichkeit, geschweige denn dem Selbstverständnis der meisten Pariser Künstlerinnen. Diese verewigten sich selbst entweder als autonome, professionelle Malerinnen, die ihre Inspiration aus sich selbst schöpften (Bailly, Laurencin), oder doch zumindest als Frauen, die mit sich selbst im Einklang waren und ihre Schönheit selbstbewusst nach außen trugen (Hébu­terne, Charmy). Auf Leinwand bannten diese Frauen dieselbe Botschaft, die Künstlerinnen vor ihnen, etwa Marie Vassilieff und Vally Wygodzinski, zuvor in Tagebüchern oder Briefen festgehalten hatten, nämlich, dass Künstlertum, Stolz und Weiblichkeit einander mitnichten ausschlossen. So reklamierten sie ihre Eigenständigkeit auf vielschichtige Weise, ohne dabei ihr Frausein zu verleugnen oder in klischeehafte Maskeraden à la Jeanne d’Arc abzudriften.

La Femme libérée des Années folles – Freikörperkultur im Portrait à la mode Schon bald nach Kriegsende läutete man in Paris, und anderswo, die glorreichen zwanziger Jahre ein, die sich durch eine „boulimie de plaisir“260, eine übergreifende Vergnügungssucht, auszeichneten. Neben der Stadt selbst wurden auch die in Paris wirkenden Ikonen der ‚neuen‘ Weiblichkeit zelebriert: Schauspielerinnen, Sängerinnen, Tänzerinnen. Hervorgegangen aus der modernen, breit gefächerten Unterhaltungskultur agierten sie als Ideenlieferant neuer Moden und profitierten dabei von dem Personenkult in den Medien, der zur selben Zeit begann: Les modèles féminins sont moins les dames du grand monde que les étoiles de la chanson, les actrices et les nouvelles stars nées avec le cinéma, des femmes libres, sensuelles, joyeuses, courtisées, qui font voir la vie autrement et séduisent un nouveau public, un public de classe moyenne en pleine ascen­ sion.261

Sowohl in der Mode als auch in den Umgangsformen gab sich diese junge, aufstrebende Generation bewusst zwanglos. Der Star des künstlerischen Paris war Alice Prin alias Kiki de Montparnasse, die sich zunächst als Sängerin und Modell, insbesondere für Aktmalerei, betätigte, bevor sie schließlich selbst Künstlerin wurde. Beinahe jedem namhaften Vertreter der École de Paris stand die gebürtige Rumänin Modell, so auch dem Fotografen Brassaï. „En fait, d’âme et de corps Kiki était toujours nue, […]“262, kommentierte Brassaï später ihre Schamlosigkeit, die, so sein Eindruck, über das Körperliche weit hinausging. Nudität schien für Kiki de Montparnasse beinahe charakteristisch zu sein, und auch den Portraits à la mode aus der ersten Hälfte der Années folles kann zumindest eine partielle Blöße attestiert werden: Mal lugt eine nackte Schulter, mal eine Brust hervor, oder es tritt ein nur minimal verhüllter Körper in Erscheinung. Ohne hier eigens auf den weiblichen Akt eingehen zu wollen, soll dieses Zeitphänomen anhand repräsentativer Beispiele aus der Malerei beleuchtet werden, darunter Kiki de Montparnasse als exemp  Badea-Păun 2007, 179.   Denuelle 2011, 169. Zur Entwicklung der Medienbranche und deren Konsequenzen für die Mode vgl. Loscheks Ausführungen in Loschek 2007, 187 – 197, insbes. 190. 262   Brassaï 1976, 136. 260 261

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larisches Modell sowie – auf Seiten der Künstler/-innen – Jacqueline Marval. Der Porträtkunst Marvals prägte sich nämlich die Verruchtheit der Années folles in so markanter Weise ein, dass sie sogar den orientalisch und erotisch anmutenden Bildern von Matisse oder Van Dongen in nichts nachstand. Mitunter ging diesen freizügigen Portraits à la mode ein bestimmtes, altüberliefertes Sujet voraus: das Bad bzw. die Badenden, bei denen es sich traditionsgemäß um eine Zusammenkunft nackter Frauen in meist unverfälschter Natur handelte. Nun wurde die Figur der Badenden in einen weitaus urbaneren Kontext, nämlich das Seebad, trans­ poniert und dadurch neu erfunden. Eine moderne Bademode und Freizeitgestaltung hatten sich entwickelt, die es der Frau gestatteten, sich freizügiger als zuvor zu gebärden und trotzdem à la mode aufzutreten.263 Beispielhaft ist in dieser Hinsicht Marvals La Baigneuse, porträtiert am Strand von Biarritz, wohin es – neben vielen anderen Sommergästen – auch regelmäßig die Pariser Malerin zog. Als eine Mitbegründerin der besagten, sportiven Mode ist selbstverständlich Coco Chanel zu erwähnen, die hier in Gestalt eines berühmten Kniestücks von Laurencin aus dem Musée de l’Orangerie264 vertreten ist. Dieses 1923 vollendete Werk ist bezeichnenderweise kaum älter als der Erfolgsroman La Garçonne, dem die Mode à la garçonne sicher einen Großteil ihrer Breitenwirkung verdankte. Auch sie wird in einzelnen, modischen Details, z. B. der Cloche oder einem glamourösen Make-up, im folgenden Abschnitt wiederbegegnen. Die Darstellungen der Femme libérée knüpfen nicht nur zeitlich, sondern auch thematisch an die Künstlerinnenporträts aus dem vorigen Kapitel an, sind sie doch genauso ein Ausdruck der neuen Sichtbarkeit der Frau bzw. einer gesteigerten Sichtbarkeit der Frau. Schließlich war nun eine zunehmende Partizipation der Frau am öffentlich-gesellschaftlichen Leben zu beobachten,265 und die Produktion eines weiblichen Images fiel – zusätzlich zur Malerei – nunmehr neuen bildgebenden Medien zu. Neben dem Einfluss von Modepresse und Reklame interessiert im Folgenden vor allem die Frage: Wie nah kamen die Portraits à la mode dem Frauenakt? Ist es überhaupt möglich, in dieser Ära eine klare Grenze zwischen Akt- und Porträtmalerei zu ziehen? Schließlich muss – bei aller Freizügigkeit – hinterfragt werden, ob die Frauen vor ebenso wie auf der Leinwand wirklich nur ihrem eigenen Drang und nicht auch dem herrschenden Trend folgten, d. h. dem Druck der Öffentlichkeit teils nachgaben.

Bildvergleiche Kiki de Montparnasse Die Wichtigkeit der Pariser Cafékultur wurde eingangs, als es um die Wiege der École de Paris ging, bereits ausführlich behandelt. In den Cafés oder Kneipen von Montparnasse fand das Künstlertum seinen dringend benötigten Ausstellungsraum und ein kunstinteressiertes Laufpublikum; dazu gab es ein reges, inspirierendes Ambiente, und nicht zuletzt hielten sich dort auch die Modelle der École de Paris auf. Unter ihnen waren Unter  Vgl. dazu z. B. Vigarello 2004, La Beauté et la Vie ‚au-dehors‘, 197 – 199.   Der Titel dieses Bildes lautet Portrait de Mademoiselle Chanel, vgl. Abb. 25. 265   Zu dieser Entwicklung vgl. Francis Ribemont: Introduction. Les Femmes dans la Vie sociale. Un Sujet neuf, in: Ribemont (Hg.) 2007, 16 – 20. 263 264

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haltungskünstlerinnen wie Kiki de Montparnasse266, die den Erfolg bestimmter Porträtist/-innen durchaus beflügelten.267 Der Ruf- und Künstlername von Kiki de Montparnasse, deren bürgerlicher Name Alice Prin lautete, machte sie buchstäblich zur Königin von Montparnasse. Selbst die Amerikaner blickten, neben Pariser Berühmtheiten wie Warnod oder Brassaï, bewundernd zu ihr auf. Kiki de Montparnasse könnte man insofern als Markenbotschafterin sehen, die als Verbündete der École de Paris indirekt für diese warb und gleichzeitig einen bestimmten, durch Unabhängigkeit, Nonkonformismus und Exzentrik markierten Stil à la française in die Welt hinaustrug. Tatsächlich arbeitete das berühmte Modell zuerst mit dem polnisch-jüdischen Maler Maurice Mendjizky zusammen, der 1921 das Ganzfigurenbildnis Kiki de Montparnasse (Abb. 23) anfertigte. Obgleich wenig bekannt und von geringer Größe, ist dies ein eindrucksvolles, ja bedeutungsschweres Bild. Es zeigt die junge Alice Prin, noch bevor sie an der Seite von Man Ray bzw. in dessen künstlerischen Fotografien figurierte; denn damals lebte sie noch mit dem genannten Mendjizky zusammen.268 Wie inszenierte er diese Frau, von der es später hieß, sie habe die Années folles wie keine zweite geprägt? Was verrät das äußere Erscheinungsbild von Kiki de Montparnasse über ihren vermeintlich offenherzigen Charakter? Erst wenn diese Fragen beantwortet wurden, soll mit Mme Jasmy Alvin (Abb. 24), porträtiert von Van Dongen, eine weitere Femme libérée zum Vergleich herangezogen werden. Bei Kiki de Montparnasse handelt es sich um ein schmales Hochformat, auf dem das sitzende und frontal dargestellte Modell die gesamte Höhe einnimmt. Der Holzstuhl und der umgebende Raum – ein grauer Fußboden und eine beige, im unteren Teil eventuell vertäfelte Wand – wirken karg; lediglich am oberen rechten Rand ist im Anschnitt ein gerahmtes Bild zu erkennen. Alice Prin trägt ein blaugrünes Hemdkleid mit sehr losem Sitz, dazu eine farblich passende Cloche sowie schwarze Strümpfe. Schuhe scheint sie keine zu tragen. Da sie den linken Arm in die Seite stemmt, gleitet ihr das Kleid über die linke Schulter und klafft vorn etwas auf, wodurch ein Streifen ihres weißen Unterkleids zum Vorschein kommt. Die rechte Hand liegt unterdessen entspannt in ihrem Schoß und hält eine gelbrote Frucht, die ebenso sehr leuchtet wie der hellrote Mund der Porträtierten in deren blassem Gesicht. Dazu nochmal eine Personenbeschreibung Brassaïs: […]; le visage encadré de cheveux noirs, plaqués à la garçonne et retombant en une frange basse sur le front ; sous les sourcils bien arqués, des cils longs et épais ombrageaient les yeux expressifs et écartés, couleur d’ambre ; une petite bouche en forme de cœur, aux lèvres charnues à la Yvette Guilbert, […]269

Wiederzuerkennen sind bei Mendjizky die kurzen, schwarzen Haare, die gebogenen Brauen, großen Augen und schließlich der kleine, herzförmige Mund von Alice Prin. Der erwähnte Pony jedoch bleibt unter der Cloche verborgen, desgleichen ihre Augenfarbe hinter dem milchig trüben Blick, der diesem Porträt seinen besonderen Reiz gibt. Die daraus resultierende Unnahbarkeit erstaunt oder verwirrt vielleicht, da sie weder mit 266   Zur Person Kiki de Montparnasse vgl. im Folgenden, sofern nicht anders vermerkt, Warnod 1955a, 282 f; Brassaï 1976, 136 – 139; Franck 2011, 390 und 395 f. 267   Zur Rolle der Modelle vgl. z. B. Gonnard/Lebovici 2007, 39 f. 268   Zu Maurice Mendjizky vgl. die Biografie des Künstlers auf den Seiten des Musée Mendjizky: http://www. fmep.fr/maurice_mendjizky.php (zuletzt geprüft am 15. 11. 2021). 269   Brassaï 1933/1979, 136.

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den erotischen Signalen – den roten Lippen, dem Unterkleid, den schwarzen Strümpfen – noch mit den offenen Gebärden zu harmonieren scheint. Eine typische, verführerische Geste ist die Entblößung der Schulter, die schon in Cléo de Mérode von Boldini (Abb. 9) auftauchte, dort allerdings schlüssiger kombiniert mit einem verführerischen Augenaufschlag. Wie anders erscheint dagegen die Haltung von Kiki de Montparnasse: Im Unterschied zu Cléo de Mérode streckt sie weder den Rücken durch, noch reckt sie den Hals oder spreizt die Finger, um ihre Figur in günstiges Licht zu rücken. Kaum etwas an ihr zeugt von bemühter Eleganz oder auch nur von Körperspannung; sie hält sich im Gegenteil gebeugt und ist leicht in sich zusammengesunken, wie u. a. der Faltenwurf ­ihres Kleides verrät. Die Beine schlägt Alice zwar damenhaft übereinander, allerdings ohne dabei merklich die Füße zu strecken. Dieser Habitus vermittelt im Ganzen Lässigkeit, Langeweile, wenn nicht gar Trotz, und könnte damit möglicherweise Missmut beim Betrachter hervorrufen. Denn die Gesten der Figur sind zwar verlockend, aber verunsichern auch, da Kikis Ausdruck dabei unbeteiligt bzw. kühl bleibt. Angesichts dieses Spannungsverhältnisses kann man sich fragen, ob Mendjizky sein Modell unterschwellig vielleicht als Femme fatale charakterisierte. Wollte er mit diesem Portrait à la mode, in Anspielung auf die Sünde, eine Eva der Moderne zeigen? Interpretiert man die ins Auge springende und vor der Scham des Modells platzierte Frucht als einen Apfel, dann erscheint dies durchaus möglich. Aus welchem anderen Grund hätte Mendjizky die betreffende Frucht derart prominent ins Bild setzen sollen? Hinzu kommt, dass sich der Bauch unter dem Kleiderstoff sichtlich wölbt, was an das Körperbild Evas in mittelalterlichen Darstellungen erinnert. Wenn dem so ist, wenn Kiki de Montparnasse hier tatsächlich eine Eva in modernem Gewand verkörpert, dann wurde sie dabei auch entsprechend konnotiert – mit Weiblichkeit, mit den Sinnen und der Sünde. Im speziellen Falle Kikis dürften Hinweise wie diese nicht ohne Grund vorhanden sein: Dank ihrer Beziehungen zu wechselnden Künstlern der École de Paris – von Mendjizky über Foujita, Van Dongen und Kisling zu Man Ray – festigten sich nämlich Kikis Status und Bekanntheitsgrad. Doch mit ihrer Schönheit Geld zu verdienen und Anerkennung zu ernten, war Kiki de Montparnasse nicht genug, weshalb sie sich bald als Künstlerin selbständig machte. Malend, zeichnend und auch schreibend löste sie sich aus jener Passivität, die das Dasein eines Modells naturgemäß mit sich brachte. Leider jedoch droht dieser Aspekt ihrer Biografie – die Selbstverwirklichung als Garçonne, auch in beruflicher Hinsicht – durch das in Gemälden, Fotografien und Hommagen überlieferte Bild von Kiki de Montparnasse verdrängt zu werden. Mme Jasmy Alvin Eine „femme libérée des Années Folles“270 stellt zweifelsohne auch Mme Jasmy Alvin (Abb. 24) dar, ein Ganzkörperporträt von Van Dongen aus dem Jahr 1920. Noch im selben Jahr tauchte Jasmy in einem weiteren, allerdings kleineren Brustbild des Malers auf.271 Van Dongen und Jasmy, die eigentlich Léa Alvin hieß, waren – so wie Mendjizky und Kiki de Montparnasse – zu jener Zeit ein Paar. Dabei nahm Jasmy wesentlichen Einfluss auf die Karriere des früheren Montmartrois; z. B. multiplizierten sich dank ihr die   Buisson 2002, o. S. (vollständiges Zitat im Folgenden unter La Bohémienne).   Kees van Dongen, Jasmy, um 1920, Öl auf Leinwand, 73 × 54 cm, Art Point Gallery, Tokyo, vgl. Van Dongen. Le Peintre. 1877 – 1968, Ausst.-Kat. 1990, 176.

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gesellschaftlichen Kontakte und damit die potenziellen Auftraggeber Van Dongens. Jasmy war eine Größe der damals aufstrebenden Modeindustrie und namentlich für die Pariser Marke Jenny tätig, deren Aushängeschild eine betont junge, tragbare Damenmode war und die in engem Kontakt zur Modepresse stand.272 Dass Van Dongen nur wenig später, nämlich 1923, die Inhaberin Jeanne Adèle Bernard alias Jenny porträtierte, lässt erahnen, für welche Zielgruppe er während der zwanziger Jahre arbeitete: für „die ganz große Pariser Welt“273. Dazu gesellten sich, wie einleitend erwähnt, junge Stars des Kinos und des Jazz, Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Journalismus.274 Neben dem Amüsement, das die damalige Wohlstandsgesellschaft auszeichnete, zeigte Van Dongen immer auch deren Ennui auf – einen Zug, den vor ihm schon Mendjizky in Kiki de Montparnasse eingefangen hatte und den auch Van Dongen vornehmlich über die Blicke seiner Figuren transportierte. Zunächst aber soll hier das äußere Erscheinungsbild Jasmys behandelt werden: Sie ist in einem weißen Cocktailkleid mit Paillettenbesatz abgebildet; dazu trägt sie einen mit Pelz umsäumten Umhang, der innen weiß und außen schwarz ist, sowie extra­ vagante, hohe Sandaletten im römischen Stil. Diese waren, ebenso wie Seidenstrümpfe, die Boten der neuen Schuhmode, die wiederum eine Folge der neuerdings exponierten Füße und Knöchel bzw. Unterschenkel darstellte. Dadurch gewann der Damenschuh binnen kurzer Zeit an erotischer Symbolik und Anziehungskraft.275 Besondere Be­­ achtung verdient außerdem die Haltung Jasmys: Halb sitzt, halb lehnt sie auf einer Art Hocker, der unter ihrem Überwurf komplett verschwindet. Ihr rundherum kurz geschnittenes Haar sowie die großzügig aufgetragene Schminke weisen Jasmy zudem als Anhängerin der Mode à la garçonne aus, wenngleich mit feinen Unterschieden zur eben betrachteten Kiki de Montparnasse: Zwar tragen beide Frauen ein den Körper locker umspielendes Kleid und zeigen gleichermaßen keck ihre linke, entblößte Schulter, doch ­Jasmys Ausstrahlung korrespondiert in keiner Weise mit der leicht labil wirkenden Kiki de Montparnasse. Sie hält sich aufrecht, erhebt sichtlich stolz ihr Haupt und spannt ihren Körper an – eine Pose, die Stärke und Dominanz ausdrückt. Im Dreiviertelprofil blickt Mme Jasmy Alvin den Betrachter von oben herab an. Ihre Augen scheinen, auch durch die Schattierung ihrer Lider, nur leicht geöffnet, sodass ihr Blick hinter dichten, schwarz getuschten Wimpern schräg nach unten gleitet. Ähnlich wie schon bei Kiki de Mont­ parnasse entsteht so zusammen mit ihrem Mienenspiel ein abwesender und blasierter Ausdruck. Hierin besteht ein dezisiver Unterschied zu Van Dongens früheren Frauenporträts, etwa Fernande Olivier (1907) oder Nini la Parisienne (1909). Auch dort war die  Augenpartie zwar schon in ähnlicher Weise betont, aber dem Betrachter noch en face zugewandt; sie erstrahlte damals in wärmeren Farben mit einer komplett schwarzen  Iris, um so laut Jean-Michel Bouhours „[…] un regard incandescent, animal, ­trouble“276 zu erzeugen. Dagegen sind die Blicke bzw. Gesichter aus der Zeit der Années   Zu den Pariser Modeschöpfern und Modehäusern vgl. z. B. Grands Couturiers Parisiens, Ausst.-Kat. 1966. 273   Doschka 1996, 38. 274   Warnod berichtete z. B. über die Zusammenkunft des Tout-Paris bei den Soiréen in der Rue JulietteLambert, wo Van Dongen gemeinsam mit Jasmy wohnte, vgl. Warnod 1955a, Les Réceptions de Van Dongen, 265 – 268, insbes. 266. 275   Vgl. dazu Loschek 2007, ebda., 71. 276  Jean-Michel Bouhours: Lutteuses, Baigneuses et Demoiselles, in: Van Dongen, Ausst.-Kat. 2008, 272

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folles kühl und von einer maskenhaften Blässe, was teilweise sicher an dem veränderten Kolorit des Künstlers lag: Auch ohne dass Van Dongen seine Figuren je wirklich naturalistisch kolorierte, entsprach seine Farbpalette in den betreffenden Jahren eher dem Fauvis­mus. Vor allem aber scheint dieser Wandel mit dem Sujet – erfolgreichen Frauen der zwanziger Jahre – zusammenzuhängen, genauer mit der Dekadenz und Eitelkeit, die Van Dongen ihnen angedeihen ließ: „Il avait fait le portrait des femmes les plus soucieuses de leur beauté et de celles aussi qui étaient le plus richement couvertes de bijoux. Toutes, elles s’étaient soumises à son caprice.“277 Hierfür reizte der Maler das Strahlen und Glitzern von Kleidern und Schmuckstücken aus, so auch bei der über und über mit Pailletten bestückten Robe Jasmys. Durch eine differenzierte Wiedergabe der verschiedensten Materialien und Texturen – hier Metall, Seide und Pelz, in anderen Fällen Perlmutt, Samt oder Federn – unterstrich Van Dongen den entstandenen, sinnlichen Bildeindruck. Wenn seinen Figuren also von jeher ein „sentiment de plaisir“278 aneignet, dann nicht unbedingt aufgrund ihrer Blöße, sondern vielmehr aufgrund ihrer Bekleidung und sonstigen Staffage.279 Seine malerischen Ausdrucksmittel waren dabei zwar nicht mit denen Boldinis identisch; ihr Effekt aber blieb annähernd derselbe: Als Betrachter kommt man nicht umhin, der Mode die größte Beachtung zu schenken, da sie den Gesamteindruck mindestens genauso ausmacht wie die dargestellte Persönlichkeit. Als Peintre à la mode löste Van Dongen seinen Vorgänger Boldini insofern nicht bloß ab, sondern überbot ihn gar mit seiner eigenen Interpretation des Portrait à la mode. Die Kunst des Niederländers beruhte dabei auf dem Prinzip der Déformation280, also der gewollten Verformung des Frauenkörpers. Natürlich ging damit immer auch ein künstlerischer Machtanspruch einher, wie z. B. der einschlägige Beitrag im Petit Vocabulaire de la Féminité représentée deutlich macht: Déformation. – Il aime former, déformer la femme. Il aime à jouer les Pygmalions. Lui, l’homme. Il se veut professeur, conseilleur, sculpteur, dictateur de la vie publique et privée de celle qu’il prétend aimer. Il transforme. Il modèle.281

Bei Van Dongen äußerte sich die besagte Deformation, ganz so wie bei Boldini, zunächst in gewundenen, tänzerischen Posen, gefolgt von extrem schlanken, in die Länge gezogenen Silhouetten. Dadurch wirkten die Auftraggeberinnen Van Dongens, obschon es sich um erwachsene Frauen handelte, so groß, dünn und schlaksig wie Jugendliche, allerdings ohne jeden Anflug von Ungeschicklichkeit. Die Deformation verstärkte vielmehr ihre elegante Erscheinung und brachte außerdem ihren kostbaren Schmuck optimal zur

149 – 164, 150. 277   Warnod 1955a, Les Réceptions de Van Dongen, 267. 278   Aruna d’Souza: Déformation et Séduction. Les Images de Femme de Van Dongen, in: Van Dongen, Ausst.-Kat. 2008, 179 – 184, 180; Van Dongen, Ausst.-Kat. 2011, 171. 279   In seinem Buch Le Nu dans la Peinture behandelte Carco Van Dongen dementsprechend nur indirekt als Aktmaler, vgl. Carco 1924, 74 – 76. 280   Erstmals in Bezug auf Van Dongen wurde „déformation“ 1908 in einem Vorwort von Marius-Ary Leblond verwendet, vgl. Bouhours in: Van Dongen, Ausst.-Kat. 2008, 181 sowie insbes. D’Souza in ebda., 179 – 184. 281   Lascault 2008, 40.

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Geltung. Denn je zarter und feiner die Glieder waren, desto opulenter wirkten Perlen und andere Geschmeide, die daran getragen wurden.282 In den Augen des Künstlers kam seine Manipulation somit einer Nobilitierung gleich: „La peinture la plus vraie, la plus réaliste, éloigne la réalité. Une femme peinte a plus de charme que le modèle qui a posé pour le peintre, la réalité est comme ennoblie par l’art.“283 In Mme Jasmy Alvin fällt die charakteristische Deformation Van Dongens allerdings schwächer aus als in anderen Beispielen, etwa in Le Lévrier Bleu284 oder im Porträt der Maria Ricotti285, die beide deutlich auf seine Garçonne-Illustrationen von 1925 vorausweisen.286 Mit seiner manierierten und eigenmächtigen Darstellung der Figur drang der Porträtist auf das anspruchsvolle Gebiet der Karikatur vor; doch seine Mokerie galt nicht etwa einer einzelnen der zitierten „femmes les plus soucieuses de leur beauté“287, sondern bezog sich auf die Gesell­schaft als Ganzes bzw. auf die herrschende Zeitstimmung. Carco und Salmon, beide Zeitgenossen des Malers, ordneten ihn dementsprechend in der Nachfolge des Karikatu­risten Henri de Toulouse-Lautrec ein,288 und auch Doschka lobte später jene scharfe, unmittelbare und spöttische Beobachtung, die ihn dazu qualifizierte, „ein vielsagendes Bild der eigentümlich überreizten, unruhigen Atmosphäre der Pariser Jahrhundertwende bis hin zu den ‚verrückten Zwanziger Jahren‘“289 zu zeichnen. Dass Van Dongen einen Hang zu gesellschaftskritischen Untertönen hatte, legt zudem sein sozial engagiertes Frühwerk nahe, worin er die Pariser Demimonde erkundete. Am Ende war es wohl die Kombination aus ‚seinem‘ Frauentypus und seiner typischen Malweise, die Van Dongen zu einem Peintre mondain der besonderen Art werden ließen: Ebenso wie vor ihm Boldini ist auch Van Dongen zu den Dompteuren unter den Peintres mondains zu zählen.290 Einen weiteren Grund, den Niederländer in eine Reihe mit den Porträtist/-innen der École de Paris zu stellen, liefert dessen Kolorit, das sich in Mme Jasmy Alvin, Le Lévrier bleu und Maria Ricotti dans l’Enjoleuse durchweg aus kühlen, silbrigen Tönen speist. So verhielt es sich auch schon bei Helleu und Boldini bzw. bei Crotti und Laurencin. Ebenfalls vertraut ist der Schwarz-Weiß-Kontrast, der im Œuvre Van Dongens belebend, an mancher Stelle fast dramatisch wirkt, erinnert er doch an das theatralische Helldunkel einer Bühnenbeleuchtung.291 So sind auf Mme Jasmy Alvin (Abb. 24) z. B. gleich mehrere Lichtquellen gerichtet, erkennbar an den scharfen Schlagschatten, die 282   Van Dongen selbst schrieb über diese Art der systematischen Verschönerung: „La règle essentielle, c’est d’allonger les femmes et surtout de les amincir. Après cela, il ne reste plus qu’à grossir leurs bijoux. Et elles sont ravies.“, zitiert nach Van Dongen, Ausst.-Kat. 1990, 24. 283   Van Dongen 1927, 137. 284   Kees van Dongen, Le Lévrier bleu, 1919, Öl auf Leinwand, 195,2 × 97 cm, Privatsammlung. 285   Kees van Dongen, Maria Ricotti dans l’Enjoleuse, 1921, Öl auf Leinwand, k.A., Musée d’Art moderne de la Ville de Paris, Paris. 286  Vgl. dazu Drost 2003, Die gezeichnete Frau. Die Garçonne-Illustrationen von Kees van Dongen, 200 – 229. 287   Warnod 1955a, 267 (vollständiges Zitat weiter oben). 288   Vgl. Salmon 1920, 98 f.; Carco 1924, 74. 289   Doschka 1996, 35. 290   Vgl. Vaudoyer in: Boldini 1833 – 1931, Ausst.-Kat. 1931, 15. Vgl. das entsprechende Zitat, 144. 291   Als erklärter Liebhaber des Theaters (vgl. Van Dongen 1927, 119 f.) lernte er bald auch den Film zu schätzen, und übernahm aus diesem Medium womöglich den einen oder anderen grellen Farbton – siehe z. B. das neonfarbige Gelb im späteren Portrait de la Commodore Drouilly (1926, Petit Palais, Genf).

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von ihrer Schulter und Fußspitze ausgehen und den Boden darunter in völliges Dunkel tauchen. Hat Van Dongen diese dramatische Farbigkeit eigens auf die divenhafte, verführerische Persönlichkeit seines Modells abgestimmt? Schließlich mimt auch Jasmy eine Femme fatale – im Gegensatz zu Kiki de Montparnasse allerdings mit einer gewissen Strenge und Androgynie. Bevor weitere, entsprechend freizügige Portraits à la mode besprochen werden, auch solche weiblicher Künstler, geht es hier nochmals um ein Detail der gerade behandelten Frauenfiguren, nämlich um die spezielle Armhaltung und die dadurch entblößte oder akzentuierte Schulter des Modells. Als Erstes verbirgt sich hinter dieser Geste – eingestützter Arm, leicht nach vorn geschobene Schulter – eine bekannte Pose von Modellen, die dazu dient, den Oberkörper optisch zu schmälern. Um 1920, zumal in Auftragsporträts, war dieses Posieren allerdings längst nicht so verbreitet wie in der zweiten Jahrhunderthälfte. Insofern ging Van Dongen, als er die Pariser Prominenz wie Mannequins agieren und sich von Modegrafik und Presse inspirieren ließ, eindeutig über die gesetzten Grenzen des offiziellen Porträts hinaus.292 Des Weiteren ist diese Geste Bestandteil seines charakteristischen „élément de séduction“293, das, wie gesehen, zwei Jahrzehnte früher unter Boldini aufgekommen war. Schon er zeigte Frauen wie Cléo de Mérode (Abb. 9) als verführerische, freigebige Wesen und legte gleichermaßen Wert auf eine Stimulierung sowohl des Seh- als auch des Tastsinns, weshalb er die Materialität, hier den seidenen Kimono der Tänzerin, möglichst haptisch wiederzugeben versuchte. Schnitte, die so locker, und Stoffe, die so fließend waren, dass sie ihren Trägerinnen über die Schulter glitten, dazu bloße Arme, freie Dekolletees und nackte Hälse zeigen allesamt, dass Freizügigkeit in den zwanziger Jahren endgültig modisch anerkannt und populär war. Kein einziges Detail in diesen Porträts gemahnt noch an die hochgeschlossene Korsettmode der Jahrhundertwende, an die Stehkragen und Rüschen, mit denen frühere Tageskleider gesäumt waren. Portrait de Mademoiselle Chanel Die folgenden drei Bildnisse wurden ausgewählt, um jeweils zu dokumentieren, wie Künstler/-innen die erwähnte, modische Freizügigkeit stufenweise variierten und auf die Spitze zu trieben. Am Ende dieser Vergleichsreihe werden dann zwei Ganzkörperporträts herangezogen, die das im Titel anklingende Phänomen der neuen Bademode und damit die (Frei-)Körperkultur exemplifizieren. Zunächst aber geht es um das Auftragswerk Portrait de Mademoiselle Chanel (Abb. 25) von Laurencin und, in Gestalt der entblößten Schulter, erneut um eine, allenfalls, teilweise Nacktheit der Frau. In diesem Kniestück, dessen Stil und Komposition beispielhaft für Laurencins Auftragsmalerei der zwanziger Jahre sind,294 bedeckt das asymmetrisch geschnittene Kleid Coco Chanels augenscheinlich nur deren linke Brust. 292   Dazu Geneviève Nevejan: Van Dongen, Peintre de la Mode à la Mode, in: Van Dongen, Ausst.-Kat. 2008, 299 – 308, 301: „Van Dongen ne payait pas qu’un tribut à la mode en ne peignant que l’aspect extérieur de son modèle, il donnait une vie nouvelle au portrait officiel dont la tradition, sous son pinceau, cédait à l’esprit de réclame.“ 293   D’Souza in ebda., 180. 294   Besonders verwandt mit diesem Porträt ist das Portrait de la Baronne Gourgaud à la Mantille noire, 1923, Musée national d’Art moderne, Centre Georges Pompidou, Paris; außerdem Madame Domenica Paul Guillaume, 1928, Musée de l’Orangerie, Paris.

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Demgegenüber bleiben ihr rechter Arm, ihre rechte Schulter und Brust unverhüllt – es sei denn, man stellt sich an den betreffenden Stellen einen zarten, weißen Stoff vor, der sich über das unnatürlich blasse Inkarnat legt, optisch aber kaum von diesem zu unterscheiden ist. Denselben Schnitt, dieselbe scheinbare Nacktheit findet man noch in anderen Gruppenbildnissen Laurencins sowie in dem parallel entstandenen Porträt Jeannot Salmon – Madame André Salmon295. Auch ihr Gewand scheint unterhalb ihrer linken Brust zu verlaufen. Beide Male führte Laurencin die Anatomie des weiblichen Torsos, die Kontur der Brust oder die Brustwarze, plastisch praktisch gar nicht aus – speziell die Figur Coco Chanels verbleibt eher im Zweidimensionalen. Laurencin ließ die Grenze zwischen Gewand und Figur hier wahrscheinlich bewusst undefiniert, obgleich sie keine erklärte Vertreterin des Aktes war: „Mme Laurencin peint pas le nu“, schrieb Carco 1924, ergänzte allerdings: „Cependant, les bras, les torses, les jambes se jouent, s’échappent des caresses de l’étoffe. Formes immatérielles, visages mystérieux et paisibles.“296 Was die optische Nähe zum Modell anging, entschied Laurencin auch bei Chanel zugunsten ihres eigenen, stilbildenden Figurentypus. „Je ne suis pas un peintre de portraits. Et ce que je fais n’est pas très ressemblant.“297, soll sie selbst gestanden haben. Dies brachte ihr einige Ressentiments ein, aus naheliegenden Gründen: Zum einen war Chanel dafür bekannt, dass sie Elemente der maskulinen Garderobe – sowohl Schnitte als auch Details wie den Kragen oder die Krawatte – in die feminine Mode integrierte (Laurencin selbst trug solche Accessoires in La Femme-Cheval (Abb. 19) zur Schau). Zum anderen galt die Modeschöpferin lebenslang als ein „modèle vivant“298, das die eigenen Kreationen und den damit verbundenen Lebensstil öffentlich vorführte. Kleidung stellte für Chanel primär eine auf Klarheit und Funktion bedachte Kunstform dar. Daher muss eine Drapierung, wie sie Laurencin hier einsetzte, um das Figur-Gewand-Verhältnis willentlich zu verunklären, Chanels Modebegriff genauso widerstrebt haben wie die von ihrer Porträtistin verwendeten, dekorativen Tiergestalten und Pastellfarben. Auch mit dem Gestus des aufgestützten und zur Seite geneigten Kopfes, der dem Bildnis eine melan­cholisch-labile Wirkung verleiht, dürfte sich diese selbstbewusste, moderne Frau kaum identifiziert haben. Kurzum: Portrait de Mademoiselle Chanel weist  – neben Schlankheit, Blässe und Kurzhaarschnitt  – tatsächlich nur wenige Berührungspunkte mit der Garçonne auf. Mit der Modeikone assoziierte man schließlich die Farbe Schwarz, eine klare Linie sowie extravagante Accessoires wie Hut, Stola oder Perlenschmuck. Ebendiese schlichte Eleganz findet sich eher, und exemplarisch, in Van Dongens zuvor erwähntem Brustbild Jasmy ebenso wie in dessen Illustration des Erfolgsromans La Garçonne. Wenn man nun bedenkt, dass Margueritte mit diesem Buch just zur gleichen Zeit reüssierte wie Laurencin mit ihren Portraits à la mode, fragt man sich umso mehr: Weshalb bannte die Künstlerin damals keine einzige Garçonne, wie sie im Buche stand, auf Leinwand? Abermals kann eine Antwort hierauf nur der Laurencin‘sche Personalstil liefern, zu dem die Jeune Fille – die zwar physisch, nicht aber modisch mit der Garçonne   Marie Laurencin, Jeannot Salmon – Madame André Salmon, 1923, Öl auf Leinwand, 93 × 72 cm, Musée d’Art moderne de la Ville de Paris, Paris. 296   Carco 1924, 151. 297   Laurencin zitiert nach Pierre 1988, 92. 298   Dufresne/Messac (Hg.) 1988, 44. 295

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übereinstimmt – ebenso dazugehört wie ein helles Kolorit und eine gewisse Verspieltheit. Insgesamt zeichnete sich Laurencins Frauenbild durch deutlich mehr Lieblichkeit aus als dasjenige anderer Malerinnen ihrer Zeit.299 So galten ihre „peintures très personnelles“ immer auch als „fémininement belles“300. Einerseits machte diese vermeintlich weibliche Qualität Laurencins Kunst unverkennbar; andererseits brachte sie ihr großen Zuspruch vonseiten der Pariser Hautevolee ein.301 So darf gemutmaßt werden, dass die Entscheidung der Künstlerin, sich nach ihrem Durchbruch praktisch nicht mehr von diesem Stil und der Jeune Fille als Figurentypus zu lösen, letztlich auch eine taktische Überlegung war. Ihre Nähe zur École de Paris, etwa zu Van Dongen, Modigliani und Soutine, deren Figuren ähnlich rank und schlank sind, darf in diesem Kontext natürlich nicht unerwähnt bleiben. Doch mehr noch als ihre männlichen Kollegen bietet sich zum Vergleich mit Laurencin bzw. deren Jeunes Filles eine Frau an: Jacqueline Marval302. In der älteren Kunsthistoriografie taucht Marval mehrmals im Verbund oder in direkter Nachbarschaft zu Laurencin auf,303 und nicht selten wurde ihr dieselbe positive Kritik zuteil: „Marval […] n’imite jamais ses confrères masculins. Elle conserve intact cet art de caprice et de primesaut.“304, schrieb etwa die Revue mensuelle d’Art moderne 1913. Diesem Zitat ließen sich weitere, sprechende Vergleiche mit Berthe Morisot oder einschlägige Personifizierungen Marvals und Bildbeschreibungen anfügen, die wie ein Echo der Rezeption Laurencins klingen.305 Als Markenzeichen Marvals werden dabei ebenfalls Charme, Delikatesse, Grazie, Koketterie und Goût angeführt, sicherlich angeregt durch Apollinaires wegweisenden Artikel Les Peintresses vom 5. April 1912, in dem geschrieben stand: „La grâce, c’est la qualité artistique bien française que des femmes comme Mme Marval et Mlle Marie Laurencin ont su conserver à l’art, […].“306 Dabei ist zu hinterfragen, ob die beiden Künstlerinnen tatsächlich einen gemeinsamen Frauen- oder Mädchentypus konstruierten und repräsentierten. Und ob sie sich gestalterisch wirklich so nahestanden, wie die zeitgenössische Berichterstattung nahelegt. La Danseuse de Nôtre-Dame Diese Fragen sollen bei der Betrachtung eines von Marvals Hauptwerken alias La Danseuse de Nôtre-Dame (Abb. 26) sowie bei dessen Vergleich mit Mademoiselle Chanel berück­sichtigt werden. Das 1921 entstandene Gemälde La Danseuse de Nôtre-Dame307 stellt das persönliche Lieblingsbild Marvals dar, wie sie im Rahmen eines Interviews in   Vgl. beispielhaft die weiter unten behandelten Künstlerinnen Romaine Brooks oder Tamara de Lem­ picka. 300   Uhde 1928, 95. 301   Vgl. Chéronnet 1933, 204. 302   Geboren wurde Marval (ihr späterer Künstlername) als Marie-Joséphine Vallet. 303   Vgl. Salmon 1920, Depuis Renoir et après Berthe Morisot, 273 – 293; Coquiot 1920, Les Fantaisistes, 112 f. 304   Jean-Louis Vaudoyer : Le Théâtre des Champs-Elysées, in: Art et décoration. Revue mensuelle d’art moderne, Tome XXXIII (Januar–Juni 1913), 113 – 130, 124. 305   Z. B. Alexandre 1912, 3: „Ainsi, chez cette sensualiste, je trouve une originalité aussi grande que jadis, chez la pure et murmurante, mais merveilleusement limpide Berthe Morisot.“; vgl. auch Roussier 1987, 34. 306   Apollinaire: Les Peintresses, in: Le Petit Bleu (05. 04. 1912), zitiert nach Apollinaire 1993, 306. 307   La Danseuse de Nôtre-Dame wurde 1921 bei der Ausstellung La Danse in der Pariser Galerie Devambez öffentlich gezeigt, vgl. Roussier 2008, Catalogue des Expositions, 383 – 407, 391. 299

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Le Petit Journal zugab.308 Außerdem ging sie mit diesem Werk in puncto Freizügigkeit noch deutlich weiter als Laurencin mit ihrer Auftragsarbeit Portrait de Mademoiselle Chanel: Trotz einzelner figürlicher Parallelen ist der Oberkörper der Tänzerin, im Gegensatz zu Mademoiselle Chanel, anscheinend komplett nackt und ihr Busen deutlich erkennbar. In der leicht geneigten Haltung und den im Schoß gekreuzten Armen erkennt man eine ähnliche Melancholie wie in Laurencins Porträt, unterstützt durch die ebenfalls gedämpfte und pastellene Tonigkeit. Dass die beschriebene, grazile Pose dem Ballett entnommen ist, legt nicht zuletzt der Bildtitel La Danseuse de Nôtre-Dame nahe. Dasselbe lässt sich über die Garderobe – ein schier uferloser Rock sowie ein breitkrempiger, über schulterbreiter Hut – sagen, denn auch sie scheinen eher für die Bühne als für den Alltag geschaffen. Da die Hutkrempe dem Modell bis tief in die Stirn reicht, sind dessen Augen nicht zu sehen, dafür ein Paar gerötete Wangen, eine Nase, ein wie zum Gesang geöffneter Mund und schließlich kinnlanges, blondes Haar. Ihr Rock, der bei genauerem Hinsehen aus herumwirbelnden Stoffbändern zu bestehen scheint, füllt gut die Hälfte des Bildes aus und verbirgt beinahe die gesamte untere Körperhälfte der Danseuse. Auffällig sind dabei die bunten Blumenranken, die das ausladende Beinkleid hinaufzuwachsen scheinen und – gemäß einigen Blumenstillleben der Malerin309 – sicherlich Rosen darstellen. Beide Motive, das Streifenmuster und die Rosenblüten, durchzogen damals wie Leitmotive die Kunst Marvals.310 Dem hier gezeigten Porträt geben sie, geradeso wie die Bänder und Tiere bei Laurencin, einen verwunschenen Charakter bzw. wecken die Assoziation mit romantischen Märchen, wie z. B. Dornröschen. Doch auch wenn das ausgeprägte Faible Marvals für Blumen einerseits in deren zahllosen Blumengemälden, andererseits durch befreundete Weggefährten wie Henri Marquet überliefert ist,311 wäre es falsch, sie nur als Malerin dekorativer „filles-fleurs“312 zu charakterisieren. Wie aber zeitgenössische Kommentare von Carco, Coquiot oder René-Jean zeigen, wurde Marval – neben anderen Künstlerinnen – genauso wahrgenommen und rezipiert, und ihre Figuren wurden mitunter als bloße Dekoration abgetan: Ah ! Oui ! Ah ! Oui ! Comme j’envie Mme Marval, archi-duchesse des Rubans et des Fleurs, et des Poupées, et des Cousettes et des Frivoles, et de tout ce qui est le joli Printemps ! Ah ! être peint par elle, et se voir tout petit, la figure toute rose, des fleurs plein les mains, des rubans plein les cheveux bouclés ; et être baptisé de ce titre léger, mutin, délicieux : Mignon ou Mignonne ! Quel bonheur !313

Wie kam es zu dieser einseitigen Kritik? War das Verständnis für den manchmal doch

  Zitiert nach ebda., 248.   Z. B. Vase de Rose, Entwurf für einen Schal, 1921 (?), Privatsammlung, Paris, aus: Roussier 2008, 247. 310   Vgl. z. B. Bouquet de Lilas, 1921, Privatsammlung, Paris, aus: ebda., 236; La Femme au Chapeau rose, September 1921, Privatsammlung, Paris, aus: ebda., 250; La Figurante, 1923, Privatsammlung Paris, aus: ebda., 262. Auch früher begegnen entsprechende, blau-weiße Streifen, etwa in Les Sœurs couseuses, 1912, oder als eigenes Bildthema in Bouquet à l’Étoffe rayée, ca. 1916, beide aus: ebda., 129 und 176. 311   Vgl. Marquet 1951, 49. 312   Z. B. Carco 1924, 149 f. 313   Coquiot 1920, 112 f. Vgl. auch Carco 1924, 150: „On ne garde des ‚filles-fleurs‘ qu’un aimable souvenir décoratif ; c’est l’art féminin selon la conception des misogynes, il n’en reste qu’une trace brillante.“; RenéJean 1930, 3: „Certes, il ne faut pas demander aux tableaux de Mme Marval une aide pour méditer sur les graves problèmes de la destinée humaine.“ 308 309

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recht negativen Beiklang in Marvals Figurenbildern zum damaligen Zeitpunkt vielleicht noch nicht ausgeprägt? Dabei spricht aus Titeln wie Les Endormies (1910 – 1911) Les Sœurs couseuses (1912), Les Tricoteuses (1915) oder Les Bavardes (1916) durchaus eine gewisse Kritik an der Situation der Frau.314 Doch anstatt darin einen Bezug zur Realität zu suchen, empfand man ihr Gesamtwerk als ein Paradies, einen Traum, dem Marval, alias „Créatrice de joie“315, bildlichen Ausdruck verlieh. La Bohémienne Auch wenn in der Kunstliteratur höchstens vereinzelt auf die Nacktheit von Marvals Frauenfiguren eingegangen wurde,316 hatte sich die Künstlerin doch schon früh dem femi­ninen Akt verschrieben. Mit La Bohémienne (Abb. 27) kehrte sie dann zu ihren Anfängen im Kreis der Fauvisten zurück. Dieses Porträt bietet nicht nur den Anblick eines Halbaktes wie La Danseuse de Nôtre-Dame, sondern einer gänzlich unbekleideten Frau. Bäuchlings hat sich die Bohémienne in einem ebenso ungeordneten wie farbenfrohen Interieur auf ein Lager aus großen Kissen gebettet. Mit entspannt übereinandergeschlagenen Schenkeln und aufgestützten Ellenbogen hebt sie ihren Brustkorb an, um sich dem Betrachter zuzuwenden. Ihre Vorderseite bleibt Letzterem aber weitgehend verborgen, da sein Blick seitlich und von einem leicht erhöhten Standpunkt auf die liegende Figur fällt. Vor ihr liegt neben einer eingerollten schwarzen Katze ein zartgrüner Federfächer, und auch ihr Haupt wird von einer großen, weißen Feder – wahrscheinlich, der zeitgenössischen Mode entsprechend, einer Straußenfeder – geschmückt, die unter ein schwarzes Bandeau gesteckt wurde. Durch seine Atmosphäre und mehrere Details lässt sich dieses kapitale, querformatige Ölbild mit einigen Porträtfotografien in Verbindung bringen, auf denen die Malerin persönlich, allerdings bekleidet, in ihrer Atelierwohnung zu sehen ist.317 Das besagte Kissenlager und die aufgestützten Unterarme finden sich auf den Fotografien ebenso wieder wie der zeitgemäße Kopfschmuck, das schwarze Stirnband. Zudem drücken sich in dieser Inszenierung sowohl weibliches Selbstbewusstsein als auch ein Hang zur Exzentrik aus – zwei Eigenschaften, die Marval nachgesagt wurden und ihr später die Bezeichnung Femme libérée einbrachten: Dès le début du siècle, Marval incarne la femme adulée par la vie parisienne, exubérante, excentrique et élégante préfigurant la femme libérée des Années Folles et s’imposant comme une artiste à part ­entière.318

314   Sämtliche genannten Werke zeigen eine Versammlung von jungen Mädchen und/oder Frauen bei einer traditionellen, gemütlich-stillen Betätigung wie dem Stricken, Nähen oder der Plauderei. Ihr Habitus bekundet dabei Trägheit und Langeweile. Marval, die in Grenoble selbst als Näherin gearbeitet hatte, aber hohe, intellektuelle Ansprüche besaß, spielte mit diesen Schilderungen vermutlich auf die von ihr empfundene, chronische Unterforderung ihres Geschlechts an. 315   René-Jean 1930, 3. 316   Namentlich Carco 1924, 149. 317   Anonymer Fotograf, Marval allongée Quai Saint-Michel, Privatarchiv, La Tronche, vgl. Roussier 2008, 248, Fig. 1 und 2. 318   Buisson 2002, o. S.; vgl. dazu auch Roussier 2008, 21 – 23.

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Als berühmtes Vergleichswerk bietet sich hier La Chambre bleue319 von Suzanne Valadon320 aus dem Jahr 1923 an, zeigt es doch ebenfalls eine moderne Version der Odaliske – bekleidet, lässig und offenbar selbstbestimmt –, die weit mehr ausdrückt als erotische bzw. sexuelle Erwartungen. Ende 1921 wurde Marvals Bohémienne im Salon d’Automne ausgestellt,321 und je nachdem, welche Verbreitung die genannten Fotografien von ihr selbst damals erfuhren, dürften sie die Pikanterie dieses Ausstellungsbeitrages nochmals gesteigert haben. Auf einer der Fotografien taucht überdies im Fond ein weiteres Bild Marvals auf: Les Odalisques (Abb. 28), das die erste großformatige Arbeit sowie eines der am häufigsten reproduzierten Werke der Künstlerin darstellt.322 Es zeigt ein fünfköpfiges weibliches Ensemble, augenscheinlich eine Haremsszene, also ein Thema aus der Kunsttradition des letzten Jahrhunderts, das Marval in den Jahren 1902 und 1903 neu interpretierte. Mit einschlägigen Meisterwerken wie dem Sardanapal von Delacroix (1826 – 1829, Musée du Louvre, Paris) oder dem türkischen Bad von Ingres (1862, Musée du Louvre, Paris), verbindet Les Odalisques allein sein orientalisches Dekor, während von der übertriebenen Dramatik und Voluptas jener älteren, vielfigurigen Szenen in Marvals Neuinterpretation nichts mehr zu spüren ist. Reduziert auf fünf Haremsdamen atmet das Gemälde vielmehr Intimität, Stille und Eleganz. Aber auch der Umstand, dass kein einziger Leib den Blicken des Betrachters komplett ausgesetzt ist, dass die Haut in einem kühlen, pudrigen Weiß und die Frauen in anmutigen Posen dargestellt wurden, trägt entscheidend zu dieser, salopp gesagt, ‚coolen‘ Bildwirkung bei. Wenn überhaupt, ließen sich Marvals Odalisken daher am ehesten in der Nachfolge von Ingres‘ La grande Odalisque (1814, Musée du Louvre, Paris) verorten. Mit Blick auf den Bildaufbau, im Speziellen die Anordnung des Personals, scheint überdies ein Vergleich mit späteren Werken angebracht: Ob Matisse in Luxe, Calme et Volupté (1904, Musée d’Orsay, Paris) oder Picasso in Les Demoiselles d’Avignon (1907, Museum of Modern Art, New York) – beide ließen ihre Figuren teils in derselben Manier wie Les Odalisques, teils spiegelverkehrt posieren und sich gruppieren.323 Ohne hier einen entsprechenden Einfluss Marvals auf die anderen Künstler beschwören zu wollen, können solche Ausblicke durchaus dazu dienen, die Modernität ihres ersten großen Ölgemäldes aufzuzeigen – ein Schlüsselwerk, das auch Apollinaire hoch lobte: Dans sa grande toile des Odalisques, Mme Marval a donné la mesure de son talent et a réalisé une œuvre importante pour la peinture moderne. Cette œuvre forte et sensuelle, peinte avec liberté, d’une composition, d’un dessin, d’un coloris personnels, mérite de rester.324

  Suzanne Valadon, La Chambre bleue, 1923, Öl auf Leinwand, 90 × 116 cm, Centre Georges Pompidou, Paris. 320  Zu Valadon vgl. z. B. Basler 1929; Suzanne Valadon, Jacqueline Marval, Émilie Charmy, Georgette Agutte. Les Femmes Peintres de l’Avant-garde, 1900 – 1930, Ausst.-Kat. 2006. 321   Vgl. Roussier 2008, Catalogue des Expositions, 391. 322   Abgedruckt wurde es u. a. in Alexandres Artikel über den Art féminin, vgl. Alexandre 1912, 3. 323   Dieser Hinweis stammt aus einem persönlichen Gespräch mit dem Galeristen, Kunstexperten, Sammler – und inzwischen Präsidenten des Comité Jacqueline Marval – Raphaël Roux dit Buisson, vgl. ders. 2015. Matisse sollte sich erst ab 1916 dem Odaliskenthema zuwenden. Bezüglich Matisse vgl. auch Perry 1995, 35, sowie Perry in dies. (Hg.) 1999, 205. 324   Zitiert nach Apollinaire 1993, 305. 319

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Tatsächlich sollten Les Odalisques, wie Apollinaire es sich erhoffte, insofern überdauern, als Marval und andere Künstler/-innen sich später erneut dem Orientalischen zuwandten. Dabei widmeten sich namentlich die ihr nahestehenden Matisse und Van Dongen der Odalisken-Gestalt, die als beliebte Spielart des weiblichen Aktes ebenso wie Grazien, Nymphen und Badende zum festen Repertoire der Fauvisten gehörte.325 Für diesen in den zwanziger Jahren stattfindenden Rückbezug bzw. für diese Wiederbelebung ist das erwähnte ‚Bild im Bild‘, das Gemälde in der Fotografie, lediglich ein Symbol. Direkte, anschauliche Zeugnisse hierfür liefern vor allem die zahlreichen Versionen einer Odaliske mit Federschmuck,326 La petite Cléopâtre (Abb. 29) oder eben La Bohémienne. Sowohl durch ihre frühen als auch späteren Figurenbilder – und durch ihre Porträtfotografien – lässt Marval sich der berühmteren Valadon zur Seite stellen, da auch sie die Porträtgeschichte um eine Neuinterpretation der traditionellen Venus, Odaliske oder Olympia bereicherte.327

Die neue Badende Neben der Odaliske erfuhr nach 1920 auch die Badende so etwas wie eine Renaissance. Dies lag einerseits an den angesagten Erholungsgebieten der Pariser, allen voran Deauville und Biarritz mit ihren einladenden Seebädern;328 andererseits bot die neue Mode, eigens kreiert für die Trendsportart Schwimmen, einen hervorragenden Anlass, um besonders reizvolle und freizügige Portraits à la mode zu schaffen. Einen der genannten mondänen Schauplätze erblickt man auf Baigneuse à Deauville von Van Dongen (Abb. 30), wohingegen Marvals La Baigneuse (Abb. 31) eher die besagte Bademode ins Zentrum rückt. Beide Gemälde bilden Neuauflagen der Badenden und sollen im Hinblick auf dieses zeittypische Phänomen und Lebensgefühl analysiert werden: Was unterscheidet sie von der ursprünglichen Version der Badenden oder, anders gefragt, worin manifestiert sich ihre Mondänität? Am Ende wird, auch bezogen auf Odaliske und Bohémienne, zu diskutieren sein, ob diese Badenden überhaupt noch als Akte oder als Porträts zu kategorisieren sind. Baigneuse à Deauville Mit seiner Badenden von 1920 (Abb. 30) stellte Van Dongen viel mehr dar als nur eine traditionelle Badeszene im Freien, die bis zum damaligen Zeitpunkt meist durch komplett nackte Figuren und eine unberührte, wilde Natur charakterisiert war. Hier bleibt schon der Ort keineswegs anonym, sondern wird im Bildtitel konkret benannt: Es han325   Z. B. Matisse, Odaliske mit Magnolien, 1923, Privatsammlung; ders., Odalisque, 1926, Museum of Modern Art, New York; Van Dongen, Thé dans mon Atelier, 1922 – 1923, Sammlung Nahmad, Monaco. Besondere Ähnlichkeit besteht dabei zwischen Marvals La petite Cléopâtre (Abb. 29) und Odaliske mit Magnolien. 326   Marval produzierte eine ganze Serie solcher Odalisken, darunter Odalisque à la Plume blanche (um 1921, Privatsammlung, Enghien-les-Bains), aus: Roussier 2008, 238. 327   Lange wurde diese Leistung allein Valadon zugesprochen, vgl. z. B. Eva und die Zukunft, Ausst.-Kat. 1986, 145: „Es blieb Suzanne Valadon vorbehalten, die Venus-, Odalisken-, Maja- oder Olympia-Gestalten aufzugreifen, um das Kurtisanen-Motiv in das einer selbstbewußten, sich keineswegs aber körperlich preisgebenden Frau umzuwandeln.“ 328   Eine historisch-anthropologische Studie zum Badetourismus legte Jean-Didier Urbain mit Sur la Plage. Mœurs et Coutumes balnéaires vor (Paris: Payot 1994).

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delt sich demnach um den eleganten, normannischen Badeort Deauville. Von einer Pferderennbahn über ein Casino bis zu neugebauten Grandhotels erfüllte Deauville sämtliche Voraussetzungen für einen luxuriösen Strandurlaub. Zu seinen regelmäßigen Sommergästen zählten neben Aristokraten auch Intellektuelle und Kreative wie Maurice Chevalier, Coco Chanel oder eben Van Dongen. Dessen Frauengestalt trägt einen Badeanzug in einem eleganten, schillernden Grau, dazu einen mehrreihigen Armreif am rechten Handgelenk sowie einen Ring an der linken Hand. Sie ist keineswegs so natürlich dargestellt wie ihre Vorgängerinnen, etwa Marvals Les Deux Baigneuses (Abb. 32). Der dort von Natur aus rosig getönten Haut steht hier z. B. ein kühles, an manchen Stellen grünlich schimmerndes Inkarnat gegenüber – einzig Füße, Knie, Finger und Gesicht der Badenden versah Van Dongen punktuell mit einem warmen Rotton. Anstatt gebückt dem Wasser zu entsteigen oder sich abzutrocknen, wie es zuvor so oft gezeigt wurde, thront diese Baigneuse lässig-elegant hinter einer weißen Reling, die horizontal und ­etwas oberhalb der Bildmitte verläuft. Um sich mit dem linken Unterarm und dem rechten Ellenbogen darauf abzustützen, beugt sie sich leicht nach vorne. Dabei lastet ihr Gewicht auf dem linken Bein, während das rechte, frei bewegliche Knie leicht angezogen und einwärtsgedreht ist. Obwohl ihr Kinn auf dem Handrücken ihrer Rechten ruht, hält sie ihre zierlichen Hände entspannt. Durch die voluminöse, modisch kurze Fönfrisur wirkt der Kopf dieser Badenden unnatürlich groß. Auch darin besteht ein wichtiger Unterschied zu den Naturschönheiten aus früheren Zeiten, deren Haar entweder unfrisiert oder bloß zweckmäßig zu einem lockeren Dutt zusammengenommen war. Ergänzend ist noch das markante Make-up zu erwähnen, das, gleich wie der opulente Schmuck, zuvor sicherlich vollkommen fehl am Platz gewirkt hätte. In einer Badeszene aus den Années folles jedoch hat beides seine Berechtigung, da es nun nicht mehr allein um das physische Erleben oder die Naturerfahrung, sondern auch und vor allem um das Drumherum, das ‚Sehen und gesehen werden‘, ging. In einem so hoch frequentierten Seebad wie Deauville mussten die Stille und Intimität, die man ursprünglich mit einem Bad in der Natur verband, notgedrungen geopfert werden. Van Dongens Baigneuse à Deauville schildert diese Entwicklung gleich in mehrfacher Hinsicht: Zum einen deutet ihre Art, am Geländer zu posieren, darauf hin, dass sie den Blicken anderer ausgesetzt und sich dessen durchaus bewusst ist; zum anderen verfolgt auch sie selbst, ihrer Blickrichtung nach zu urteilen, das außerhalb des Bildes befindliche Treiben an Land. Die eigentliche Attraktion vor Ort, nämlich das Meer in ihrem Rücken, scheint sie hingegen nicht zu fesseln. Durch die Entfernung stark verkleinert, kreuzen auf dem Wasser ein paar Boote mit weißen Segeln – auch sie ein Zeichen der neuen Freizeitkultur. Eines davon ist mit zwei Personen besetzt, die beide elegant und mit Hut bekleidet sind. Ganz anders als Marvals frühere, einer Staffagefigur gleichende Baigneuse329 (1909 – 1910) beherrscht die Protagonistin bei Van Dongen klar die Bildfläche und wurde derart in Szene gesetzt, dass sie bereits auf die spätere Modefotografie verweist. Das offene Meer mit den Segelbooten diente hier primär als gefälliger Hintergrund bzw. zur Situierung der Badenden. Porträts wie dieses verraten, dass ihr Maler, Van Dongen, mit den beliebten Destinationen des Pariser Jetsets wohl vertraut war; auch deshalb nannte ihn GeorgesMichel einen „[…] superparisien de tous les Deauville, Longchamp, Biarritz, le Caire et   Jacqueline Marval, Baigneuse, 1909 – 1910, Öl auf Leinwand, 127 × 98 cm, Privatsammlung, Moskau, vgl. www.jacqueline-marval.com/oeuvres (zuletzt geprüft am 15. 11. 2021), sowie Roussier 2008, 100.

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Cannes“330. In all diesen Städten bewies Van Dongen sich als gewiefter Porträtist. Er doku­mentierte mit seiner Baigneuse à Deauville eine weitere Facette des zeitgenössischen, elitären Lebensstils, allerdings nicht, ohne dem Betrachter zu ermöglichen oder ihn gar dazu einzuladen, eben daran Kritik zu üben. La Baigneuse Auch Jacqueline Marval bearbeitete das Thema des Bades auf eine neue, zeitgemäße Weise, etwa in La Baigneuse (Abb. 31) aus den Jahren 1920 – 1923. Die Betonung legte sie dabei auf die zum Luxussport passende Mode, nämlich auf den schwarzen Badeanzug ihres weiblichen Modells. Im Gegensatz zu Van Dongen gab Marval die Baigneuse sitzend und im Querformat wieder; das Figur-Grund-Verhältnis allerdings ist dasselbe: Den Vordergrund dominiert auch hier eine elegant drapierte Dame, während der Hintergrund und die dortigen Personen drastisch verkleinert bzw. stark reduziert dargestellt wurden. Dabei soll sich die gezeigte Strandszene an der Grande Plage von Biarritz, einer Stadt im äußersten Südwesten Frankreichs, abspielen. Zunächst eine unbedeutende Gemeinde, war Biarritz durch Sommergäste wie Kaiserin Eugénie oder Kaiserin Elisabeth von Österreich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem mondänen Treffpunkt avanciert. Noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg fanden sich hier regelmäßig zur Badesaison die europäischen Granden ein, um von dem Sandstrand, der Promenade und der Landzunge samt Leuchtturm zu profitieren. Zudem lockte Biarritz in den zwanziger Jahren Künstler/-innen wie Marval an, wenn auch nicht nur zu Erholungszwecken: Die Sommeraufenthalte Marvals dienten vorrangig ihrem künstlerischen Schaffen und erstreckten sich teils über Monate, wie einer Postkarte der Malerin vom 14. August 1923 zu entnehmen ist: […] Je suis ici [à Biarritz (N.D.A.)] depuis le 17 et je n’ai pas encore commencé à peindre. Mes couleurs ne sont arrivées qu’hier, puis il a plu jusqu’à hier aussi. Alors j’ai gratté mes ongles !!! Mais depuis cet après-midi, j’ai aligné des toiles dans ma chambre nue et blanche et je me dis : Il faut que ces toiles cessent d’être une forme blanche et propre. […]331

Insgesamt sind ihrem Biarritz-Aufenthalt von 1923 rund zehn Leinwände zuzuordnen, darunter als Höhepunkt ein knapp zwei mal vier Meter messendes Panorama namens Biarritz332, das die örtlichen Attraktionen, die Strandpromenade, die Grande Plage und, in der Ferne, den Leuchtturm, in sich vereint. Vieles ließe sich anhand dieser Bilderserie diskutieren: von dem speziellen, nicht immer naturalistischen Kolorit,333 über den Sonnenschirm als (autonomes) Bildmotiv,334 bis hin zu Marvals Vorliebe für Kinderdarstellungen.335 Diese Studie dreht sich nun aber um das Gesellschaftsporträt, das immer auch das Porträt einer Gesellschaft ist; und erneut muss diesbezüglich die vielsagende Titel  Georges-Michel 1954, 64.   Postkarte von Jacqueline Marval an René-Jean vom 14. August 1923, zitiert nach Roussier 2008, 270. 332  Marval, Biarritz, 1923, Öl auf Leinwand, 197 × 375 cm, Musée des Beaux-Arts de Nantes, vgl. www.jacqueline-marval.com/oeuvres (zuletzt geprüft am 15. 11. 2021), sowie Roussier 2008, 278 f. 333   Z. B. Marval, Plage rose, la Côte des Basques, o. J., Collection particulière, Grenoble, aus: ebda., 272. 334  Marval, Baigneuse à l’Ombrelle, ca. 1924, Collection Larock-Granoff, Paris, aus: ebda., 289; Les Para­ pluies, Biarritz, ca. 1924, Collection particulière, Corenc, aus: ebda., 291. 335   Im Vordergrund von Biarritz (1923) platzierte Marval z. B. acht Kinder in Badekleidung und mit Spielzeug wie Schaufel und Eimer; ein Jahr später zeigte sie in Les Pêcheurs de Crabes ausschließlich eine Gruppe von vier Kindern am Strand, vgl. ebda., 293. 330 331

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wahl Marvals beachtet werden: Ihre skizzenhaften Strandpanoramen taufte sie, wahrscheinlich in Anspielung auf das dort herrschende, schwarz-weiße Durcheinander, Les Pingouins bzw. La Foule, was ihrerseits nicht unbedingt bissig, aber wohl mit einem Augen­zwinkern gemeint war. Denn da Marval selbst eine treue Besucherin von Biarritz war, konnte sie den alljährlichen Aufmarsch der Pariser Gesellschaft dort aus unmittelbarer Nähe beobachten und diese Gepflogenheit wohl durchaus belächeln. Auch in ­ihrem Fall stellte sich so – wie bei den Peintres mondains – die eigene Zugehörigkeit zum Bildgegenstand als besonderes Privileg heraus. Das Bildnis La Baigneuse kann man sich ohne Weiteres als Ausschnitt aus einem der genannten, an ‚Wimmelbilder‘ erinnernden Panoramen vorstellen, als eine Szene, die Marval sich herausgegriffen und dann von Nahem betrachtet hat: Die junge Frau im Badeanzug sitzt auf einem blau-weiß-gestreiften Strandlaken; dahinter sind im Anschnitt ein Zelt in derselben Farbkombination, allerdings blasser, sowie ein paar weitere, zeltartige Sonnenschirme in hellem Rot und Beige zu erkennen. Erst unweit des oberen Bildrandes geht der gleichfalls beige, nach rechts leicht abfallende Sandstrand in das Hellblau des Wassers und Himmels über, durchsetzt von ein paar lichten, schmalen Wolken. Unterhalb dieser Horizontlinie tummeln sich rechts und links Hintergrundfiguren en miniature, um zu demonstrieren, dass sich die Badende an der Grande Plage natürlich nicht ohne Gesellschaft aufhält. Dieser Umstand lässt sich allerdings auch schon aus ­ihrer bloßen Erscheinung ableiten, denn die ist zwar nicht so glamourös wie im Falle der Baigneuse à Deauville, aber dennoch modern und elegant: Konkret besteht ihre Garderobe aus einer Badehose mit kurzem Bein und hohem Sitz, dazu ein weit ausgeschnittenes Trägertop, das nur knapp über dem Hosensaum in der Taille abschließt. Hier bleibt, wie für einen Bikini charakteristisch, ein Streifen nackter Haut zu sehen. Für eine Sommerurlauberin scheint auch diese Badende (noch) recht blass, insbesondere da der schwarze Stoff ihres Badeanzugs und ihr signalrot geschminkter Kussmund mit ihrer nackten Haut einen starken Hell-Dunkel-Kontrast bilden. Insgesamt wurden Physio­gnomie und Körper in diesem Bild weniger präzise formuliert bzw. konturiert als in dem Gegenstück Van Dongens; z. B. wirken die Augen von Marvals Baigneuse, obschon sie betont wurden, wie verschwommen. Abermals werden die Aufmerksamkeit und der Blick der Dame nach rechts, even­ tuell zu einem der anderen Strandgäste jenseits des Bildausschnitts, gelenkt. Umgekehrt ist auch sie sich den potenziellen Blicken ihrer Mitmenschen gewahr, wie ihre aufgerichtete, dabei äußerst damenhafte Pose vermuten lässt: Halb liegt, halb sitzt die Badende auf ­ihrer rechten Körperseite, wobei ihre Beine leicht angewinkelt übereinanderliegen und ihr Oberkörper komplett aufgerichtet ist. Da sie sich mit dem rechten Arm vom Boden abstützt, beschreibt ihr Brustkorb eine leichte Torsion nach links; der linke Arm verschwindet währenddessen hinter ihrem Rücken. Was im Vergleich mit der Baigneuse à Deauville sogleich auffällt, ist die sportliche Physis dieser Badenden  – ein kräftiger Rumpf, ein flacher Busen und breite Schultern deuten ebenso wie die weiße Badekappe auf ihrem Kopf darauf hin, dass sie tatsächlich eine aktive Schwimmerin war. Historisch betrachtet war die gesteigerte sportliche Aktivität unter Frauen – vereinzelt sogar auf professionellem Niveau – dem neuen Körperbewusstsein sicher zuträglich, analog zu den bereits geschilderten Entwicklungen im Bereich des Tanzes oder der Mode.336 Hans Hildebrandt schrieb z. B., die „neue Frau“ habe:   Vgl. die Kapitel Der Dualismus des Entre deux Guerres … im Tanz, 75 ff., bzw. …in der Mode, 77 ff.

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[…] eine ehrliche, naturhafte Freude an ihrem Körper gewonnen, der nicht mehr nur verschleierter Reizgegenstand für den Mann ist, […], sie stählt ihre Glieder durch den Sport und eine vernunftgemäße Lebensweise, liebt die Frische, die Geschmeidigkeit ihres Leibes, den sie mit allen Mitteln jung erhält. Das höchst willkommene Ergebnis: Ein neues Geschlecht von fast unwahrscheinlicher Schönheit der körperlichen Bildung, schlank, biegsam, mutig und gewandt.337

Dabei war die hier zitierte Mühe der Frau, jenem Körperbild zu entsprechen, immer auch ein Zeugnis für den durch Mode und Medien ausgeübten Zwang und nicht allein auf den intrinsischen Wunsch der Frau zurückzuführen. Dies darf, unabhängig davon wie stark Figuren wie La Baigneuse wirken, nicht in Vergessenheit geraten. Dazu kommen noch die partielle Nacktheit und Exponiertheit der Neuen Frau – hier am Strand, dort auf der Promenade –, die ebenfalls nicht nur als Zeichen weiblichen Selbstbewusstseins gewertet werden sollten. Denn genauso lassen sich die ‚neuen‘ Badenden ihrer Form nach als Objekte wahrnehmen, wobei das Strandlaken bzw., bei Van Dongen, die Reling der Promenade gewissermaßen als Präsentierteller fungieren. Auch vom ikonografischen Standpunkt aus spricht Einiges dafür, in diesen Frauen ein Abbild der Femmeobjet zu erkennen, insbesondere der Blick, den beide Badende vom Betrachter abwenden.338 Stimmt es folglich, dass nackte Haut in femininen Porträts des 20. Jahrhunderts unweigerlich mit einer „Warenlogik“339 verknüpft wurde? Oder im weiteren Sinne: Wurde die Frau tatsächlich (unfreiwillig) zu einem Anschauungsobjekt gemacht und ist folgerichtig als ein Produkt der bildgebenden Medien anzusehen? Ohne Zweifel fiel es Zeitgenossinnen schwer, der genannten Verbildlichung und Idealisierung ihres Geschlechts nicht anheimzufallen. Denn als immer mehr Modezeitschriften und Illustrierte mit Sport treibenden, spärlich bekleideten, jungen Damen warben, konnten sie sich diesen Bildern kaum entziehen. Und so setzten auch sie ihren Körper dem anderen, fremden Blick aus. Dass Frauen dies aber nicht gänzlich ungewollt taten, scheinen insbesondere die zwei letzten Werke zu demonstrieren. Sowohl die Baigneuse à Deauville als auch La Baigneuse wirken selbstbewusst und scheinen die Blicke bereitwillig auf sich zu lenken bzw. die Aufmerksamkeit eher zu genießen als sie lediglich zu ertragen. Außerdem lassen sie umgekehrt auch den eigenen Blick umherschweifen – getreu dem Prinzip ‚Sehen und gesehen werden‘, das im Kururlaub am Meer nicht weniger galt als auf der Galopprennbahn Longchamp oder bei Tanzabenden in Paris. Ohne sichtbare Scheu oder Scham nehmen diese Frauen, die wohlgemerkt ohne männliche Begleitung am Strand zu verweilen scheinen, die Schar der anderen Badegäste ins Visier.

Fazit Diese Reihe von Frauenporträts wurde etwas provozierend mit La Femme libérée des Années folles überschrieben, da sie ganz im Zeichen der damals neuen Freizügigkeit stand. Anhand verschiedenster Motive konnte demonstriert werden, dass sich jene Frei  Hildebrandt 1928, 107 f.   Vgl. dazu Ribemont 2007, 29 f. 339   Dazu Berger 2013, 16: „Ganz wird Nacktheit sich auch in der Kunst nie von der Warenlogik befreien können. Bilder rufen Wirklichkeit auf, ohne mit ihr identisch zu sein, und sind ebenso vielschichtig wie deren Rezeption. Ein nackter Mensch ist kein Akt, kann aber dazu gemacht werden. Akte sind keine Menschen. Weibliche Akte sind keine Frauen.“ 337 338

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zügigkeit sowohl im Kleidungsstil und Figurenideal als auch in gesellschaftlichen Sitten äußerte. Ihre befreiende Wirkung bleibt aber dennoch disputabel: Zunächst einmal übte die freizügige Mode, namentlich die Mode à la garçonne, unverändert Druck auf das weibliche Körperempfinden bzw. Verhalten aus. Gepriesen wurde die damit verbundene, schlanke Linie u. a. in mehreren Ganzkörperporträts Van Dongens, angefangen bei Le Levrier bleu von 1919. Übertrieben langgliedrige Leiber, die das Resultat seiner charakteristischen Déformation waren, dazu opulenter Perlenschmuck zählten über viele Jahre zu Van Dongens Markenzeichen. Der neuen Mode entsprechend erschienen die Extremitäten seiner Auftraggeberinnen so entblößt wie nie zuvor. Gleichzeitig waren in seinen Porträts aber auch bestimmte Parallelen zu dem älteren Boldini vorhanden, etwa jene kritischen Untertöne, die offensichtlich beide Peintres mondains ausmachten und die deshalb dazu aufrufen, den Titel eines Gesellschafts- bzw. Modemalers neu zu bewerten. Nicht zu bestreiten ist dabei, dass auch Van Dongen den individuellen Charakter seiner Modelle bisweilen stark vernachlässigte, um einen bestimmten, zeittypischen Gesamt­eindruck  – ein „vielsagendes Bild der eigentümlich überreizten, unruhigen Atmo­sphäre“340 jener Ära – zu vermitteln. Während Van Dongen im Weiteren für die Illustration von La Garçonne verantwortlich zeichnete, orientierten sich auch andere zeitgenössische Künstler/-innen an dieser Modefigur. Dass sie dabei ihren künstlerischen Spielraum durchaus nutzten, zeigte exemplarisch Mademoiselle Chanel (1923) von Laurencin, die damit, zum Unwillen ihrer Kundin, eben keine Garçonne par excellence porträtierte. Ausgehend von dem freizügigen Bildnis Coco Chanels wurde der weibliche Akt bzw. Halbakt thematisiert. Wie anhand von Laurencins und Marvals einschlägigen Werken deutlich wurde, entstand der Eindruck von Nacktheit oftmals allein durch das unklare bzw. verunklärte Verhältnis von Gewand und Figur. Marval erwies sich dabei allerdings als klare Anhängerin des femininen Aktes, sowohl während ihrer frühen, fauvistischen Periode als auch zu Beginn der zwanziger Jahre, als sie das geschichtsträchtige Odalisken-Motiv erneut aufgriff und abwandelte. Ihre Bohémienne von 1921 liefert hierfür ein aussagekräftiges Beispiel und konnte noch dazu mit einem authentischen Selbstporträt der Künstlerin in Verbindung gebracht werden. Zuletzt wurde die ‚neue‘ Badende vorgestellt, die – ebenso wie die Odaliske – als Motiv der Pariser Künstler/-innen damals (wieder) stark gefragt war. Wie anhand von Deauville und Biarritz dargelegt werden konnte, hatten sich im Vergleich zu früheren Darstellungen des Themas vor allem der Kontext der Badenden  – vom unberührten Natur­idyll zum belebten Stadtstrand – und damit das Auftreten der Frau gewandelt: Jetzt zeigte sie sich urbaner, artifizieller und manchmal nicht weniger vornehm als zu feier­ lichen Anlässen. Eine Neuheit bildete vor allem die Sport- bzw. Bademode, die der weiblichen Bewegungsfreiheit, Freizügigkeit und schließlich auch der weiblichen Sichtbarkeit zugutekam: An öffentlichen sowie halb-öffentlichen Plätzen sah man nun unausweichlich ‚mehr‘ von der Frau. Darüber hinaus ergab die Analyse dieser Werkgruppe, dass jene Maler/-innen, die während der zwanziger Jahre tätig waren, wieder stärker an das Portrait à la mode aus dem Zeitraum um oder nach 1900 anknüpften. Mit Verve verschrieben sie sich wieder dem eleganten Ganzkörperporträt, wobei namentlich Van Dongen einen ganz ähnlichen   Doschka 1996, 35.

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Weg einschlug wie vor ihm Boldini als Peintre mondain. Die jüngere Generation porträtierte allerdings nicht mehr nur Damen der Oberschicht, des sogenannten „grand monde“341, sondern allseits bekannte Pariserinnen, Künstlerinnen und Bühnenstars. Jene Frauen verband, dass sie – teils sogar wirtschaftlich – eigenständig lebten und einen gehobenen Wert auf ihre Freiheit legten. Im Porträt verwies ein entsprechender Habitus oder Blick – meist selbstbewusst, stolz oder gar selbstgefällig – auf diesen Wesenszug der Femme libérée.

Von der Garçonne zur Femme Dandy – Das Portrait à la mode unter dem Eindruck von Cross-Dressing Der literarische Bestseller von Margueritte, La Garçonne, ist bereits ausführlich besprochen worden, als es weiter oben um die gleichnamige Mode ging. Daher sei hier lediglich daran erinnert, dass Transformationen dieses Buches, wie die dazugehörige Illustration (1925) oder das Theaterstück (1926), die marguerittsche Garçonne über den Status einer Romanfigur weit hinaushoben und ihr ferner ein großes mediales Aufsehen bescherten. Im Gemälde, auf der Bühne sowie auf der Kinoleinwand erfuhr die Garçonne eine zunehmende Visualisierung und Inszenierung. Dabei äußerte sich ihre dem anderen Geschlecht ähnelnde Lebensart (Cross-Gender) am stärksten in ihrer vestimentären Erscheinung (Cross-Dressing): Der Anzug, gekennzeichnet durch eine strenge und schlichte Form, wurde dem Repertoire männlicher Kleidung entlehnt und auf den weiblichen Körper zugeschnitten. Naturgemäß erfolgte damit eine Konzentration auf die Farben Schwarz und Weiß, was sich schließlich auch in den zeitgenössischen Portraits à la mode niederschlug. Während sich Vorzeichen für die Mode à la garçonne, wie gesehen, bereits in Werken aus den 1910er-Jahren identifizieren ließen  – so z. B. in Partie de Thé von Crotti oder in La Femme-Cheval von Laurencin  –, tauchte diese neue Anzugmode in ­aller Deutlichkeit, zumal im Kontext weiblicher Homosexualität, erst nach 1920 auf. ­Damals waren Frauen nämlich, so der Standpunkt Chadwicks, „aus der asexuellen Rolle der romantischen Frauenfreundschaft“ herausgetreten, „durch die die Frauen des 19. Jahrhunderts ihre Beziehungen zueinander kundgetan hatten“ 342. In den zwanziger Jahren beherrschte eine Cross-Gender-Gestalt, nämlich die Femme Dandy die Kunst von Romaine Brooks, von der hier eine Bildergruppe aus den Jahren 1923 – 1924 besprochen werden soll, sowie von Tamara de Lempicka. Dabei gilt es zwar auch die Erotik, aber mehr noch die über Kleidung und Accessoires erreichte Androgynie – das Vexierspiel zwischen männlich und weiblich – in diesen Porträts zu analysieren, um das erwähnte Frauenbild der Femme Dandy konturieren und von der Garçonne abgrenzen zu können. Wie auch im vorigen Kapitel, das namentlich die Rolle von Kiki de Montparnasse hervorhob, wird im Folgenden eine exemplarische Frauenfigur der Zeit im Mittelpunkt stehen, die allerdings, da es sich hierbei um De Lempicka handelt, mit der Künstlerin identisch ist. Ihre Selbstpräsentation im Medium der Malerei und darüber hinaus signalisiert schließlich, wie sich der Personenkult um gewisse Berühmtheiten der Années folles   Denuelle 2011, 169.   Chadwick 2013, 300.

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immer weiter steigerte – bis hin zu einem bleibenden, kulturgesellschaftlichen Phänomen.

Bildvergleiche Auf Garçonnes und Femmes Dandy musste der Dandy des 19. Jahrhunderts zwar geradezu antiquiert gewirkt haben – der Popularität seines Kostüms und Lebensstils tat dieser Anachronismus jedoch keinerlei Abbruch. Robert de Montesquiou galt beispielsweise nach wie vor als Dandy ersten Ranges, verewigt in Porträts von u. a. Whistler, Helleu und Boldini. Nachdem das Bildnis des Comte (Abb. 10) hier schon im Kontext der Belle Époque zitiert wurde, dient es nun erneut, um eine Brücke von dem vormals männlichen Dandy der 1890er-Jahre zum modernen, weiblichen Dandy alias Femme Dandy zu schlagen. Self-Portrait Romaine Brooks war eine ausdrückliche Bewunderin des älteren Boldinis und stand in der Avant Guerre sicher auch in einem Konkurrenzverhältnis zu diesem erfolgreichen Porträtisten.343 Außerdem war Brooks ebenfalls dem Comte de Montesquiou zugetan, der ihr als Freund, Impresario und auch als Kritiker zu Erfolg verhalf. Er rühmte z. B. Brooks’ Fähigkeit, das Innerste einer Person zu sehen und abzubilden, indem er sie öffent­lich als Seelen-Knackerin („Cambrioleur d’Âmes“344) betitelte. Es ist durchaus denkbar, dass Brooks Bilder wie ihr Self-Portrait von 1923 (Abb. 33) im Gedenken an dandyhafte Zeitgenossen und Freunde wie Robert de Montesquiou oder Jean Cocteau schuf. Das Erscheinungsbild dieser beiden Dandys könnte, wie später zu sehen sein wird, ihr Selbstporträt sogar bis ins Detail beeinflusst haben. Mit dem hochformatigen Hüftbild entschied sich die Künstlerin für eine Darstellungsform mit langer, akademischer Tradition. Hinter der Protagonistin tauchen andeutungsweise ein grauer Himmel, eine ruhige See sowie eine trostlose, ruinöse Stadtlandschaft auf, die ebenfalls an ältere, romantische Darstellungen denken lassen. Bedingt durch diese hintergründige Einöde liegt der Fokus von Brooks’ Komposition ganz auf der stehenden Figur im Vordergrund: Sie begegnet dem Betrachter en face; ihr Körper ist dabei nur minimal nach links gewandt, sodass sich eine Dreiviertelansicht ergibt. Die linke Hand hängt zwar herab, wirkt zugleich jedoch wie zur Faust geballt, während der rechte Arm angewinkelt und nah am Körper gehalten wird. Auffällig ist hierbei die Art, wie Brooks seitlich in ihren offenen Mantel hineingreift: Mit dieser Geste, dem losen Unterhaken des Daumens, scheint Brooks den Porträtisten Franz Xaver Winterhalter, eines ihrer bekannten künstlerischen Vorbilder, zu kopieren. Betrachtet man nämlich dessen Gemälde Kaiser Napoleon III. aus der Mitte des 19. Jahrhunderts,345 wird schnell ersichtlich, dass das schlichte, zivile Habit sowie die winzige, hellrote Rosette der Ehrenlegion, die der gealterte Kaiser am 343   Etwa fertigte Brooks ebenso wie Boldini ein Porträt derselben Auftraggeberin, nämlich der Marchesa Luisa Casati (1920, Privatbesitz), an. 344   So der Titel eines Artikels von Robert de Montesquiou, der im 1910 in Le Figaro erschien, vgl. Lucchesi 2001, 178, Anm. 20. 345   Franz Xaver Winterhalter und Werkstatt, Kaiser Napoleon III., um 1857, Öl auf Leinwand, 140 × 110 cm, oval, Palais de Compiègne, Compiègne. Aus: Franz Xaver Winterhalter, Ausst.-Kat. 2015, Kat. 57.

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Revers trägt, die entsprechenden Elemente aus Self-Portrait bereits vorwegnehmen. Doch vor allem ist es die besagte, selbstsichere und stolze Art, mit der Napoleon III. seinen rechten Daumen in den Uhrenring einhakt, die sich in leicht abgewandelter Form in Brooks’ späterem Selbstbildnis wiederfindet. Hinsichtlich des erwähnten roten Details könnte die Künstlerin sich ebenso gut auf ein eigenes Werk, nämlich Jean Cocteau à l’Époque de la grande Roue346 von 1912, bezogen haben, auf dem der Porträtierte ebenfalls eine rote Rose am Kragen trägt. Brooks’ schwarzes Kostüm und ein langer, schmaler Mantel mit Knopfleiste und Revers lassen sie ähnlich hochgewachsen, schlank und schmal erscheinen wie einst Cocteau. Gesteigert wird dieser Eindruck noch durch ihren flachen Zylinder,347 durch dessen Beigabe ihre Figur betont steif wirkt. Die dunkle, breitkrempige Kopfbedeckung kontrastiert dabei mit Brooks’ bleichem, maskenhaftem Gesicht, dem hier wohl die meiste Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. Es scheint, als suchten ihre großen, verschatteten Augen den Blick des Betrachters,348 der ebenfalls durch die feinen Gesichtszüge, das wenn auch kurze, so doch weich fallende Haar, die betonten Wangen und geschwungenen, rosa Lippen der Porträtierten angezogen wird. All diese Details zeugen von einer weiblichen Erotik; Brooks gibt sich hier also klar als Frau zu erkennen. Gleichzeitig aber lassen Accessoires wie Manschetten, Handschuhe und der weiße, zum Teil hochgeschlagene Kragen keinen Zweifel daran, dass dieses Bildnis auch im Zeichen der exklusiven, dandyhaften Mode entstanden ist.349 Wie also sind Kleiderzeichen dieser Art zu interpretieren? Eine Möglichkeit besteht darin, sie als Mittel zur Selbstbehauptung zu deuten, insbesondere, wenn man die hier vorliegende Untergattung des Porträts, das feminine Selbstporträt, berücksichtigt. Brooks könnte sich demnach sowohl über ihre Garderobe als auch mittels der schlichten, klaren Gesamtkomposition bewusst gegen klischeehafte Notionen von Weiblichkeit zur Wehr gesetzt haben.350 Auch dass sie sich auf männliche Vorbilder wie Wilde, Whistler und Boldini berief, würde zu diesem Deutungsansatz passen. Erwiesen und nachvollziehbar ist in jedem Fall, dass Brooks hier, ebenso wie in späteren Porträts, ein Spiel mit genderspezifischen Assoziationen und Inkohärenzen betrieb. Denn zunächst erwecken die Kleiderzeichen in Self-Portrait einen Anschein von Männlichkeit, der dann jedoch durch die besagten Weiblichkeitssymbole teils revidiert bzw. abgemildert wird. Seit Langem schon mutmaßt die Genderforschung, dass damit nicht einfach ein Vexierspiel be  Romaine Brooks, Jean Cocteau à l‘Époque de la grande Roue, 1912, Öl auf Leinwand, 251 × 135 cm, ­Musée franco-américain du Château de Blérancourt, Blérancourt. 347   Es handelt sich weder um einen klassischen Damen- noch Herrenhut, da dieses Exemplar etwas breiter ausfällt und zudem mit Bändern verziert ist, vgl. Lehnert 1997, Die Porträts der Romaine Brooks, 147 – 156, 148. 348   Der durch die Hutkrempe evozierte, starke Schatten ist umso auffallender, da er künstlich herbeigeführt wurde, wie ein Blick auf die allgemeine Lichtsituation zeigt, vgl. Lehnert 1997, 148. 349   Lehnert klassifizierte die beschriebene Kleidung wiederum als sportiv, locker, „fast unordentlich“ und schlussfolgerte, dass die Porträtierte mehr Wert „auf Bequemlichkeit als auf Repräsentativität oder Eleganz“ legte, vgl. Lehnert 1997, 148 und 150. Dabei wird noch deutlich werden, dass die Künstlerin – entsprechend dem Dandyismus – durchaus auf Repräsentation und Klasse bedacht war. 350   Der Umstand, dass Hintergrund und Kostüm äußerst düster gehalten wurden, könnte eine Seelenlandschaft andeuten und folglich auf einen einsamen oder morbiden Charakter schließen lassen. Feministische Autorinnen wie Susan Gubar oder Shari Benstock gingen sogar so weit, der Künstlerin ob deren Homo­ sexualität ein zweigeteiltes, gepeinigtes Wesen zu attestieren – als Folge ihrer „psychic castratation“, Benstock 1986, Visual Disjunctions: The Portraits of Romaine Brooks, 204 – 306, 305; Gubar 1981, 386 – 389. 346

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trieben, sondern eine neue, lesbische Identität formuliert werden sollte.351 Allerdings steht dabei infrage, inwieweit Brooks’ Absicht schon zu ihren Lebzeiten als solche erkannt wurde. Waren ihre Maskerade bzw. die Maskeraden ihrer Modelle für das Pariser Publikum nicht einfach nur ein Ausdruck der für die Oberschicht typischen Exzentrik? Immerhin waren damals etliche Kleider und Hüte streng und kantig geschnitten, erst recht in der Haute Couture.352 Vermochten zeitgenössische Betrachter optisch überhaupt zwischen einer Garçonne, die zumeist heterosexuell war und daher als weniger anrüchig galt, und einer tatsächlichen Lesbierin zu unterscheiden? Sicher gelang dies nicht jedem, bedurfte es dazu doch einer gewissen Informiertheit – einem ‚Insiderwissen‘ – über vestimentäre Codes.353 Für dieses konkrete Beispiel lässt sich zunächst festhalten, dass Brooks hier eine Neuerfindung des Dandys der 1890er Jahre inszenierte. Ob ihr Selbstporträt darüber hinaus auch ein Zeugnis für die Instrumentalisierung des Dandys ist und dem Ziel diente, weibliche Homosexualität für andere sichtbar zu machen, ist hingegen noch zu klären. Peter (A Young English Girl) und Una, Lady Troubridge Um die Intention des (wiederbelebten) Dandyismus genauer zu beleuchten, sollen nun zwei weitere, ebenfalls von Brooks stammende Paradebeispiele für Cross-Dressing angeführt werden. Insgesamt bildet sich so, wie eingangs erwähnt, eine Bildergruppe – einerseits bedingt durch die zeitliche Nähe, andererseits aufgrund des Sujets der drei Gemälde: Stets handelt es sich um eine gut beleumundete Frau aus dem großstädtischen, literarisch-künstlerischen Milieu. Peter (A Young English Girl) (Abb. 34) malte Brooks im Laufe einer England-Reise, lediglich ein paar Monate nach ihrem Selbstbildnis von 1923. Das Modell, das sich hier allerdings nicht frontal, sondern im Profil darbietet, ist Hannah Gluckstein (1895 – 1978)354, eine junge Malerin aus reichem Londoner Hause. Gluckstein zeigte sich in der Öffentlichkeit bevorzugt in Herrenfasson gekleidet und rauchend; nach 1918 ließ sie sich nur noch – ohne jede Anspielung auf ihr Geschlecht – mit dem Pseudonym Gluck anreden. Entsprechend wenig weiblich, dafür eher steif und schmucklos, mutet ihr Kostüm auf diesem Gemälde an. Z. B. signalisieren keinerlei Zugaben wie Zylinder oder Handschuhe den Wohlstand und Rang der Porträtierten. Ihr einziges Accessoire, eine schwarze Krawatte, lässt hinter diesem Habit gar einen klassischen Traueranzug vermuten. Auch dadurch steht Glucks Porträt demjenigen des Comte Robert de Montesquiou sehr nahe, ebenso wie durch den gewählten Bildausschnitt und die Pose des Modells. Somit wird Glucks Identität nur bedingt über ihre Kleidung kundgetan; aussagekräftiger wirkt dahingehend ihre Physiognomie  – ein markantes Profil, das Brooks mit einer schwarzen Umrisslinie hervorhob. Der Blick des Betrachters bleibt so automatisch am Gesicht des Modells haften, an dem aus der Stirn gestrichenen, kurzen Haar, der sanft gebogenen Nase und dem ernsten Mienenspiel. Man kommt nicht umhin, hierin ein privates, intimes und stilles Porträt zu vermuten, exakt zugeschnitten auf den feinsinnigen jungen Mann, der Brooks damals Modell gestanden haben muss. 351   Vgl. Elliott/Wallace 1992, insbes. 22 f.; Lehnert 1997, 156; Chadwick: Amazons and Heroes: Romaine Brooks and her World, in: Amazons in the Drawing Room, Ausst.-Kat. 2000, 10 – 39, insbes. 32: „[…] the image of the lesbian ‚new woman‘ of the early twentieth century […]“. 352   Vgl. exemplarisch Thayat, Une Cape de Madeleine Vionnet, aus: Gazette du Bon Ton 10 (1922), Tafel 76. 353   Zu den Bekleidungsgewohnheiten gut situierter Pariserinnen und Lesbierinnen vgl. Rolley 1990. 354   Zu Gluckstein vgl. Diana Souhami: Gluck. Her Biography, London: Pandora 1988.

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Erst unter Berücksichtigung des kompletten Bildtitels, in dem von einer jungen Engländerin die Rede ist, wird sich der Betrachter seines vorschnellen Urteils bewusst und zu genauerem Hinsehen gezwungen. Und schließlich erkennt er, dass dieses Werk de facto zwischen zwei geschlechtlichen Identitäten oszilliert – beinahe so wie ein Linsenrasterbild: Both impressions [Peter the young Englishman and Peter the young English girl] are there, forcefully articulated by the stark black and white contrasts. Yet they do not appear simultaneously. The images seem superimposed, slipping in and out of focus like an optical illusion – the figure is neither one nor the other and both.355

Diese zwei Identitäten, die der Kunstspezialist Joe Lucchesi erwähnte, werden auf sprachlicher Ebene, also in dem Titel Peter (A Young English Girl), durch ein Paradoxon aufgegriffen. Auf der Bildebene unterstreicht diese Zweiteilung  – männliches versus weibliches Geschlecht – eine von oben rechts nach unten links verlaufende Diagonale, die das Bild in einen dunklen und einen hellen Part zerlegt. Demzufolge ist die TextBild-Beziehung in diesem Beispiel sehr viel ausgeprägter als in Self-Portrait, das einen geschlechtsneutralen Titel trägt und eher werkimmanent mit Symbolen von Geschlechtlichkeit operiert. Nochmals schärfer grenzt sich Glucksteins Porträt in dieser Hinsicht von der etwas später entstandenen Arbeit Una, Lady Troubridge (Abb. 35) ab. Die erwähnte Dame ­posiert darauf in einem Innenraum, begleitet von zwei Dackeln. Eigentlich ein Kniestück, zeigt dieses Porträt die Oberschenkel von Lady Troubridge nur teilweise, da diese halbfrontal hinter einem mit weißem Stoff überzogenen Möbel, eventuell einem Bett, posiert. Darauf wiederum befinden sich besagte zwei Hunde, deren dunkles Fell mit dem tiefschwarzen Gehrock ihrer Herrin, einem sogenannten Cutaway,356 förmlich zu verschmelzen scheint. Die Garderobe der Lady Troubridge besteht ferner aus einem Beinkleid mit feinen, schwarz-weißen Längsstreifen sowie einem weißen Hemd. An eleganten Details springen eine verdeckte Knopfleiste, Manschetten und ein hochgeschlagener, mit einer Halsbinde umwickelter Hemdkragen ins Auge, obendrein trägt die Aristo­kratin vor dem rechten Auge ein extravagantes Monokel. Ihr dunkelblondes Haar ist modisch kurz und der Pony akkurat in Form geschnitten. Er schließt oberhalb der Brauen ab, die ihrerseits dramatisch geschwungen sind und an der Nasenwurzel in einer kleinen Hautfalte enden. Darin, ebenso wie in den Augen selbst, kommt eine feste Entschlossenheit mit einer Spur Spott zum Ausdruck, wobei der Blick durch den Vergrößerungseffekt des Monokels nochmals intensiver wirkt. Die übrigen Gesichtszüge der Dargestellten  – ihre zusammengepressten Lippen, ihr markanter Kiefer sowie ihr spitz zulaufendes Kinn – zeugen von Angespanntheit und Härte. Fortgesetzt wird dieser Eindruck auch in ihrer Körperhaltung: Betrachtet man den geraden, kantigen Torso oder den energischen Griff um das Halsband des einen Hundes, dann ist man geneigt, Lady Troubridge als eine äußerst willensstarke und autoritäre Persönlichkeit einzuschätzen. Dabei versah Brooks auch diese Figur, analog zu Self-Portrait, mit ambivalenten und womöglich Verwirrung stiftenden Attributen  – z. B. geschminkten Lippen und einem   Lucchesi 2001, 168.   Eine Variante des Gehrocks, der vorne abgerundet geschnitten ist; als solcher identifiziert von Lehnert 1997, 152. 355 356

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Perlohrring –, die zu jener Zeit noch in klarer Opposition zu Maßanzug und Monokel standen. Bei genauerem Hinsehen irritiert außerdem die mutmaßliche Nadelstreifenhose der Porträtierten, denn es ist kaum auszumachen, ob sie unterhalb der Hüfte in zwei Hosenbeine oder doch in einen Rock mündet. Gut möglich, dass die Künstlerin das Arrangement aus Möbelstück und Hunden sogar gezielt dazu nutzte, diesen Aspekt verborgen zu halten. Dennoch ist hier ohne Zweifel eine weibliche Person dargestellt – davon zeugt, neben so klaren Signalen wie dem Bildtitel, nicht zuletzt das vorliegende Genre: Ein Interieur, in dem die Auftraggeberin, die sogar namentlich im Titel auftaucht, gemeinsam mit Schoßhund posiert, bildet schließlich seit jeher eine der beliebtesten Varianten des weiblichen Gesellschaftsporträts.357 Unter den behandelten drei Damenporträts – von Self-Portrait über Peter (A Young English Girl) zu Una, Lady Troubridge – erscheint Letzteres besonders detailreich, glamourös und dandyhaft. Hinzu kommt, dass sich hier nicht nur der äußeren bzw. vestimentären Merkmale des Dandyismus bedient wurde, sondern dass auch die mit dem Dandy assoziierte, innere Einstellung wider die Norm – „the passionate pursuit of an original selfhood […]“358  – sowie seine subversive Energie und performative Qualität auf das neue, weibliche Modell transferiert wurden.359 In diesem Punkt ähneln sich zwar sämtliche weibliche Dandys aus der Hand Brooks’, einschließlich ihres Selbstporträts, doch speziell Una, Lady Troubridge, im Einzelnen deren Pose und Blick, sind der zum Dandyismus gehörende Stolz oder gar Trotz deutlich anzumerken. Auch deshalb wurde des Öfteren spekuliert, ob die Künstlerin den Topos des Dandys hier wirklich nur wiederverwendete oder ihn nicht sogar parodierte.360 Die Forschung berief sich dabei vor allem auf die homosexuelle Natur der Frau, die sich selbst als Femme Dandy porträtierte bzw. porträtieren ließ. Ihr Vorbild sei namentlich der Dandy des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der sich gemäß Baudelaires Definition durch weiblich anmutende Geziertheit oder eben durch Homosexualität distinguierte, wie z. B. Oscar Wilde, Robert de Montesquiou, Max Beerbohm oder James Abbott McNeill Whistler. Historisch betrachtet, bestand eine derart enge Verknüpfung zwischen Dandyismus und Homosexualität allerdings frühestens seit Ende des 19. Jahrhunderts – im Zuge der Anklage Wildes wegen unzüchtigen Verhaltens (1895). Wurde der Dandy zuvor noch schlicht als kultivierter Gentleman angesehen, so galt sein Dresscode anschließend meist als Manifest der eigenen Homosexualität. Damit war der Dandy innerhalb der Gesellschaft des Fin de Siècle fassbarer denn je. 357   Eine entgegengesetzte Interpretation bot Joe Lucchesi an: Er mutmaßte, dass die Anwesenheit der beiden Dackel einen Rückbezug auf Porträts (männlicher) Adliger oder Mitglieder des Herrscherhauses bedeutete, in denen traditionell Jagdhunde figurierten. Sie standen stellvertretend für den (von Männern praktizierten) Jagdsport sowie für den territorialen und finanziellen Reichtum ihres Herrn. Vgl. Lucchesi 2001, 180, Anm. 42. Jedoch erscheint hier eine Verwendung der Dackel zu dekorativen Zwecken (siehe die nietenbesetzten Halsbänder) oder aus kompositorischen Gründen (zur Kaschierung des Beinkleids) wahrscheinlicher. 358   Susan Fillin-Yeh: Introduction: New Strategies for a Theory of Dandies, in: Fillin-Yeh (Hg.) 2001, 1 – 34, 2. 359   Vgl. ebda., 1 – 3. 360   Eine parodistische oder karikaturistische Tendenz wurde zwar nicht durchweg befürwortet, wohl aber in den wichtigsten Beiträgen zu diesem Porträt zur Sprache gebracht, vgl., auch im Folgenden, Lehnert 1997, 150 und 152; Lucchesi 2001, 167 f. und Taylor 2004, 12.

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Mag sein, dass unter Lesbierinnen wie Brooks oder Barney ein so klares Distink­ tionsmerkmal erwünscht war; doch dass sie sich selbst auch als Nachfolgerinnen Wildes, somit als Aussätzige ansahen,361 ist stark zu bezweifeln. Zumindest in den zwanziger Jahren war ein derart abgesondertes Dasein von Lesbierinnen eher die Ausnahme, denn sie lebten nun immer weniger zurückgezogen und waren nicht selten gesellschaftlich arriviert.362 Hinzu kommt, dass Brooks erklärte Dandys wie Whistler, Boldini und Monte­ squiou sehr schätzte oder sogar eng mit ihnen befreundet war, was die fragliche Persi­ flage der Künstlerin auf die Figur des Dandys umso unwahrscheinlicher macht. Genauso wenig darf man wiederum erwarten, dass Brooks mit ihrer Maskerade die treue Wiedergabe des alten Topos bezweckte. Denn: „Maskerade bringt etwas Neues hervor, das gerade nicht auf ein Konzept von Authentizität angewiesen ist.“363 Diese Aussage Lehnerts zur Geschlechtermaskerade beruht auf dem Wissen, dass, sobald Geschlechtlichkeit nicht mehr nur ein Ergebnis der Natur, sondern gesellschaftlich und kulturell definiert ist, Kategorien wie Original und Kopie außer Kraft gesetzt sind.364 Hier soll aber trotzdem nicht unterschlagen werden, dass die Porträts Brooks’ jeweils eine Mimin des historischen Dandys zeigen, und dass sie sich dabei durchaus um Nähe zum maskulinen Original bemühte. Die erste Porträtierte trägt z. B. einen Zylinder, der ihr eine Spur zu groß ist (Abb. 33) und die nächste wendet sich geheimnisvoll vom Betrachter ab (Abb. 34). In keinem einzigen der drei Werke wird nackte Haut entblößt oder eine weibliche Silhouette suggeriert. Und anders als in einer Karikatur üblich, wurde – ausgenommen vielleicht das Monokel im Porträt der Lady Troubridge – keines der Attribute hervorgehoben oder überzeichnet. Auch in der Wahl und Gestaltung des Bildtypus‘ orientierte sich Brooks an Gesellschaftsporträts der Vergangenheit. Ihre gesamte Porträtserie ist in sich harmonisch, von den Abmessungen über den Ausschnitt bis hin zu dem kühlen, auf Schwarz, Weiß und Grau konzentrierten Kolorit. Derart gestaltet, zielen Brooks’ Werke auf keine schrille, sondern auf eine verhaltene bis feierliche Atmosphäre ab. Formal und ästhetisch sind sie ganz auf den Dandy zugeschnitten und spiegeln dessen meist hohen gesellschaftlichen Status sowie sein eigenes, eigentlich anachronistisches Dasein wider. Angesichts dieser Schlüsse dürfte einleuchten, dass die brookschen Femmes Dandy ebenso wenig als getreue Kopien wie als Karikaturen des Dandys anzusehen sind. Dass Brooks sich selbst mit dem Dandy identifizierte, zeigte sich dabei nicht nur in einschlägigen Selbstporträts, sondern auch darüber hinaus. So gestaltete die Künstlerin ihre Garderobe und ihr Apartment in derselben zurückhaltend-eleganten Manier wie ihre Gemälde, d. h. in Nuancen von Schwarz, Weiß und Grau.365 Hinzu kommt, dass Brooks reich geerbt hatte, dass sie finanzielle Unabhängigkeit und soziale Privilegien genoss, dass sie – dies ist eine weitere Parallele zum Dandy – ein starkes Klassenbewusstsein hegte und politisch eher konservativ eingestellt war. In Brooks’ (weiblichem) Umfeld wurde ein ähnlicher Lebensstil gepflegt, wobei man aber dennoch sehr offenherzig mit weiblicher Homosexualität umging. Klassenzugehörigkeit und betonte Andersartig  Vgl. hierzu Lucchesi 2001, 163 f., unter Berufung auf Elliott und Wallace.   Vgl. dazu das Kapitel Sappho, 112 ff. 363   Lehnert 1997, 37. 364   Vgl. ebda. sowie 153: „So ist die Verkleidung Frau und Mann, beides zugleich und doch keines von beiden.“ 365   Vgl. Chadwick 2013, 296 f., 301. 361 362

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keit schienen sich, wie in Brooks’ einschlägiger Kunst, in der damaligen Lebenspraxis nicht auszuschließen, sondern vielmehr Hand in Hand zu gehen. Bis hierhin wurde bereits erörtert, ob Brooks’ Porträts aus den Jahren 1923 und 1924 eher eine Identifikation mit der Figur des Dandys, also eine Hommage an ihn bzw. an einzelne Vertreter des Dandyismus darstellten, oder ob sie womöglich parodistisch gedacht waren. Letzteres erschien aufgrund der genannten Parallelen zwischen Femme Dandy und deren männlichem Vorbild nur wenig plausibel. Denn offensichtlich bewunderten Brooks und andere Lesbierinnen den Dandy für dessen elitäre und performative Qualitäten, die sie in der Konsequenz für sich selbst beanspruchten und über ein wiedererkennbares Kostüm nach außen trugen. Insofern setzte Brooks mit ihrer Porträtreihe nicht nur ein Zeichen pro weibliche Homosexualität, sondern lieferte auch ein Dokument für ein zeittypisches, gesellschaftliches Phänomen. Erkennbar verortete sie damit weibliche Homosexualität in der höheren Gesellschaft, und die Femme Dandy  – eine sowohl um Konformität als auch Provokation bemühte Figur – fand so schließlich Eingang in das Portrait à la mode. Portrait de la Duchesse de la Salle Unter diesen Themenkomplex – Dandyismus und lesbische Liebe – fallen ebenfalls Porträts aus der Hand der polnischen Malerin Tamara de Lempicka. In deren lebensgroßem Portrait de la Duchesse de la Salle (Abb. 36), das nun eingehender betrachtet werden wird, weisen die Kleiderzeichen eindeutig auf den Dandy zurück. Für einen Vergleich eignet sich dieses 1925 entstandene Porträt außerdem wegen seiner zeitlichen Nähe zu Brooks’ Trilogie. Bei komplett anderer Machart zeigt das Portrait de la Duchesse de la Salle ein fast identisches Sujet: eine zwar noch junge, aber gestandene, selbstsichere Frau in der Montur einer Reiterin, die augenscheinlich über Prestige und Nonchalance verfügt. Prestige vermitteln dabei sowohl der im Titel erwähnte Status als auch die Um­­ gebung der Herzogin, durchsetzt mit Herrschaftsinsignien, die – obschon nur in Teilen wiedergegeben – dennoch klar als solche zu identifizieren sind: Eine Säule am linken Bildrand, eine mit rotem Teppich bezogene Treppe sowie ein Vorhang, der die Porträtierte fürstlich hinterfängt. Ähnlich wie Brooks in ihrem Selbstporträt variierte De Lempicka hier eine kunsthistorische Tradition, die zu ihren Lebzeiten eigentlich längst überholt war – das Herrscherbildnis. Das zweite Merkmal der Herzogin, ihre Nonchalance äußert sich in ihrer aparten Pose: Ihr linkes Bein ist angewinkelt und auswärtsgedreht, ihren linken Fuß hebt sie auf die erste Stufe der Treppe, sodass sie äußerst breitbeinig dasteht. Auch ihre Arme sind angewinkelt, wobei ihre rechte Hand in der Hosentasche steckt, während ihr linker Arm auf einem verhüllten Objekt – womöglich einem Podest – abgestützt ist. Hüfte und Kopf lässt die Dargestellte jeweils lässig zur Seite des Standbeins sinken; dem Betrachter schenkt sie folglich einen leicht schrägen Blick. Den urban anmutenden Hintergrund kennzeichnet eine kubistische Formensprache: Würfelartig sind die kleinen Häuser übereinandergestapelt, und der Himmel setzt sich aus mehreren ineinandergreifenden, blaugrauen Dreiecken zusammen. Die so konstruierte Stadt nimmt man aus einer leichten Obersicht wahr; sie liegt der – im Vergleich übergroßen – Frauenfigur förmlich zu Füßen. Schon aus diesen ersten Impressionen wird der brisante Gehalt des Portrait de la Duchesse de la Salle ersichtlich, nämlich die Verquickung des weiblichen Dandys mit einer modernen Stadtlandschaft. Dieser, in den Worten Ellen Thormanns, „Bildtypus der

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isolierten, monumentalisierten Frau vor der Großstadtkulisse“366 erlaubte es De Lem­ picka, ihr Modell über die Stadt zu erheben und sie als deren Beherrscherin zu inszenieren. So gesehen verlieh die Künstlerin hier dem historischen Gedanken einer Stadt der Frauen367 bildliche Gestalt. Vor allem muss jedoch danach gefragt werden, wie die Künstlerin ihre Frauengestalt charakterisierte. Denn die Kulisse im Portrait de la Duchesse de la Salle ist zwar einem traditionellen Bildtypus nachempfunden und im Œuvre De Lempickas mehrmals zu finden, doch einen Gehrock, wie ihn hier die Herzogin trägt, erblickt man in ihren Porträts eher selten. Dafür befindet sich unter Laurencins Porträts aus den zwanziger Jahren ein entsprechendes Werk, nämlich Femme en Noir assise368, das, wie der Titel schon besagt, eine sitzende weibliche Figur in Schwarz zeigt. Ihr Kleidungsstück scheint dabei ganz ähnlich geschnitten zu sein – gerade, schlicht und in der Front offen – wie der Gehrock der Duchesse de la Salle. Gleichzeitig geht aus der Gegenüberstellung dieser beiden ­motivisch, kompositorisch und koloristisch verwandten Bilder deutlich hervor, dass De Lempicka damals ein gänzlich neues Frauenbild schilderte, das demjenigen Laurencins quasi diametral entgegengesetzt ist.369 Auf die gleichermaßen unkonventionelle Körperhaltung wurde bereits hingewiesen; zusammen mit dem Gehrock entsteht daraus eine mindestens ebenso widersprüchliche Mischung aus Koketterie und Dominanz wie in Self-Portrait oder Una, Lady Troubridge von Brooks. Anders als deren Hüftbilder oder Kniestücke gewährt dieses Ganzkörperporträt aber auch einen Blick auf die Beine und Füße der Herzogin, genauer auf ein Paar weite, schwarze Hosen und Reitstiefel. An sich sind dies zwar keine femininen oder figur­betonten Kleidungsstücke, doch der linke Schenkel wurde derart positioniert und modelliert, dass er – unterstützt durch den Fingerzeig des Modells – direkt ins Auge fällt. Rechts hingegen umspielt der Hosenstoff das Bein und kaschiert eher dessen Form als sie zu betonen. Verglichen mit den zierlichen Femmes Dandy aus Brooks’ Hand ist die Gesamt­ erscheinung der Duchesse de la Salle breit und kräftig, insbesondere im Hüftbereich, wo der Rockschoß auseinandergeschoben wird. Ohnehin wurde diese mit Sexualität verknüpfte Körperpartie durch ihre zentrale Platzierung im Bild schon exponiert. Ferner greift das Modell weiter in den Raum hinein als die schmalen, vertikal ausgerichteten Figuren von Brooks, wodurch auch im Bereich des Oberkörpers Breite und Größe evoziert werden. Dagegen präsentiert sich die Vorderansicht der Herzogin gleichermaßen flächig – ohne die Andeutung weiblicher Rundungen bzw. ohne einen entsprechenden Faltenwurf des Hemdstoffes.370 Die schwarzen, violett schimmernden Haare der   Thormann 1990, 39.   Um 1405 verfasste Christine de Pizan Le Livre de la Cité des Dames zu Ehren alter und jüngerer historischer Frauen; es stellt eines der ersten Bücher mit feministischem Anspruch dar. Vgl. Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen, aus dem Französischen von Margarete Zimmermann, Berlin: Orlanda Frauenverlag 1986. 368   Marie Laurencin, Femme en Noir assise, 1920, Öl auf Leinwand, 74 × 65 cm, Hokkaido Museum of ­Modern Art, Sapporo, Japan. 369   „Das Porträt de Lempickas ist […] im Sinne einer Antwort auf das Frauenbild von Marie Laurencin zu verstehen; […]“, Thormann 1993, S. 135 f. 370   Den Hemdkragen trägt die Duchesse zwar sehr offenherzig; zum Vorschein kommt darunter aber, anstatt des zu erwartenden Brustansatzes, ein Stück hautfarbener Unterbekleidung mit engem Halsausschnitt. 366 367

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­ uchesse sind kurz geschnitten, in der Mitte gescheitelt und helmartig frisiert. Auf eine D Kopfbedeckung, etwa einen Zylinder, verzichtete diese Femme Dandy ebenso wie auf weiße Handschuhe, einen Binder, Manschetten oder Ohrringe. Ihr einziger Schmuck besteht aus dem Make-up, namentlich den karmesinrot geschminkten Lippen, oberhalb derer ein dunkler Schönheitsfleck prunkt. Wie gezeigt wurde, ist die beschriebene, dandyhafte Aufmachung der Duchesse de  la Salle weder exaltiert noch überladen, sondern auf das Wesentliche beschränkt. Dennoch liegt sie, ebenso wie die exzentrische Lady Troubridge, ganz im Trend ihrer Zeit – zum einen durch ihr männlich und streng anmutendes Habit, zum anderen durch ihr provokantes Gebaren: Ihrem unverhohlenen Blick ist abzulesen, dass sie sehr selbstsicher, aber ihrem Betrachter gegenüber auch skeptisch ist. Augen und Gesten der Herzogin haben eine ambivalente Wirkung, erscheinen sowohl lasziv als auch beherrscht. Zahlreichen der überwiegend weiblichen Porträts von De Lempicka wohnen diese Marken­zeichen der Künstlerin inne: ein Blick aus dem Augenwinkel sowie eine „Ambivalenz aus Zuwendung und Ablehnung“371. Derart klar treten sie aber nur in Portrait de la Duchesse de la Salle hervor, dank der stark reduzierten Garderobe und Farbpalette. Um das künstlerische Spiel mit Widersprüchen an einer Art Gegenbeispiel zu illustrieren, wird nun noch ein wesentlich älteres Porträt, gemalt von dem Italiener Francesco Salviati,372 hinzugezogen. Dessen Portrait of a Florentine Nobleman (Abb. 37) stammt aus der Mitte des 16. Jahrhunderts und ist beispielhaft für die Epoche des Manierismus. Trotz ihres großen zeitlichen Abstandes stehen sich dieses Bild und das Portrait de la Duchesse de la Salle insofern sehr nahe, als beide eine Spielart des Dandys zum Gegenstand haben: Auf der einen Seite die erst im 20. Jahrhundert aufkommende Femme Dandy als späte Ausprägung des klassischen Typus‘, auf der anderen Seite der Höfling als Vorgänger des Dandys.373 Bereits zu Beginn des Cinquecento hatte Baldassare Castiglione in seinem Libro del Cortegiano374 diesen Idealtypus entwickelt. Wie nachhaltig dieses literarische Hauptwerk der Renaissance als Referenz wirkte, belegt die Verbreitung der darin enthaltenen Schlüsselbegriffe, z. B. Sprezzatura. Die so bezeichnete, elegante Lässigkeit wurde jahrhundertelang erst am Hofe, dann auch in bürgerlichen Schichten kultiviert und war selbst noch bei dem modernen (weiblichen) Dandy anzutreffen, wobei man im 20. Jahrhundert eher von Gelassenheit, Tranquillität oder salopp von ‚Coolness‘ sprach. Wie genau die Sprezzatura ursprünglich zur Schau getragen wurde, lässt sich anhand von Salviatis Jünglingsbild nachvollziehen: Sein Modell steht betont aufrecht vor einer grünen Draperie, den Kopf leicht nach rechts gewandt, den rechten Arm in die Hüfte gestützt und soweit verrenkt, dass der Ärmel seines edlen, schwarzen Kostüms auseinanderklafft.375 Obwohl diese Haltung des Höflings äußerst unbequem anmutet, hält er dennoch  – offenbar mühelos  – ein paar elegante Lederhandschuhe in der   Eva und die Zukunft, Ausst.-Kat. 1986, 159.   Salviatis Kunst ist schon einmal zum Vergleich, nämlich mit Madame X, vgl. 138, herangezogen worden. 373   Schon D’Aurevilly machte auf die Verbindung des Courtisan zum Dandyismus aufmerksam, vgl. Barbey d’Aurevilly/Natta 1989, 112. 374   Baldassare Castiglione: Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance. Aus dem Italienischen von Albert Wesselski. Mit einem Vorwort von Andreas Beyer, Berlin: Wagenbach 1999. 375   Eine detaillierte Beschreibung der Armhaltung findet sich im Katalogtext von Susanne Pollack, in Maniera, Ausst.-Kat. 2016, 230, Kat. 100. 371 372

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Linken, ganz in der Manier eines jungen Fräuleins, das seinen Fächer zückt. Den zarten, gespreizten und mit einem Goldring geschmückten Fingern, dem hellen Inkarnat sowie dem bartlosen Gesicht eignet kaum etwas Viriles an, was ebenso wie das Paar teurer Handschuhe darauf schließen lässt, dass der dargestellte Jüngling keineswegs zu körperlicher Arbeit bestimmt war. Vielmehr könnte er einer privilegierten, standesbewussten Schicht angehört haben, die bereits die Grundzüge des Dandytums aufwies. Aufgrund des eben beschriebenen Habitus bildet das Portrait of a Florentine Nobleman ein Pendant zum Portrait de la Duchesse de la Salle. Während nämlich auf dem ­einen Porträt ein offenkundig männliches Modell eine – nach historischem Empfinden – feminine Pose einnimmt, figuriert in dem anderen eine bekanntermaßen weibliche Per­ son in maskuliner Fasson. Diese gestische Hintertreibung des Geschlechts wird in beiden Fällen durch den jeweiligen Blick untermalt: Mit vornehmer Reserviertheit wendet der Knabe seinen Blick zur Seite, d. h. vom Zuschauer ab, wohingegen die Herzogin dem Blick des Betrachters direkt und ohne jede Scham begegnet. Hier wie dort resultiert daraus eine dandyhaft-androgyne Wirkung. Zusätzlich lässt sich, wiederum im Einklang mit dem Dandy per definitionem, eine inhaltliche Übereinstimmung feststellen. So sind etwa die der Duchesse de la Salle attribuierten Herrschaftsinsignien mit den Statussymbolen des jungen Hofmannes  – dem Paar lederner Handschuhe, dem Ring und Gewand  – gleichzusetzen. Zudem ließen sich beide Personen bildbeherrschend und mit ausgreifender Armhaltung vor einem Vorhang verewigen. Dabei ist die Draperie in Salviatis Werk dekorativ geknotet und fließt in üppigen, hellgrünen Bahnen hinter dem Protagonisten herab; Materialität und Schwere des Stoffes wurden hier authentisch wiedergegeben. Dabei übernimmt der Vorhang zweierlei Funktionen, indem er einerseits den Jüngling einrahmt und andererseits zu einem landschaftlichen Hintergrund überleitet, der – genau wie im jüngeren Beispiel – eine Fantasielandschaft zeigt. Mithilfe der darin platzierten Allegorien wies Salviati sein namenloses Modell unmissverständlich als Florentiner aus. Ein weiteres Indiz für eine Beziehung zum Hofe der Medici bildet die formale Anlehnung des Bildnisses an die von Michelangelo skulptierte Grabfigur des Lorenzo de‘ Medici.376 Nicht minder sinnbildhaft als diese italienische Landschaft im Abendsonnenlicht mutet die Großstadtkulisse hinter der Duchesse de la Salle an: Dicht an dicht drängen sich die mehrstöckigen, würfelartigen Häuser, deren Fassaden von hell erleuchteten Fenstern durchzogen sind. Ohne den Namen dieser nächtlichen Stadt zu kennen, begreift man doch rasch, dass sie eng mit der im Vordergrund abgebildeten Frau verbunden ist. Denn solche Zentren neuer Techniken und Moden  – etwa Paris, Berlin oder New York – waren gleichzeitig die Wiege bzw. Heimat der Femmes Dandy. Folglich wird in beiden gezeigten Kunstwerken hintergründig auf die städtische Entwicklung angespielt; das eine Mal geht es dabei um eine konkrete Stadt, nämlich die toskanische Hauptstadt Florenz, die damals unter dem Einfluss der Medici florierte; das andere Mal wird eine anonyme, moderne Großstadt bei Nacht evoziert. Dadurch erklärt sich auch das auf den ersten Blick zusammenhanglose Verhältnis von Vorder- und Hintergrund, von Interieur und Exterieur. Wird mittels der erwähnten, prominenten Beigaben noch auf die soziale Identität des bzw. der Dargestellten hingewiesen, dann drängt sich erst recht der 376  Michelangelo, Grabmal des Lorenzo de‘ Medici, um 1521 – 1534, San Lorenzo, Sagrestia Nuova, Florenz, vgl. dazu ebda., 230, Abb. 82.

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Vergleich mit dem Dandy oder, genauer gesagt, mit dessen Klassenbewusstsein auf. Schließlich repräsentierten der Florentiner Höfling wie auch die Duchesse de la Salle eine zeitgemäße „espèce nouvelle d’aristocratie“377 – gemäß der baudelairschen Definition des Dandys. Zusammenfassend ist zu sagen, dass sich beide Figurenbilder thematisch wie auch kompositorisch weitaus näher sind, als man  – bedingt durch ihren zeitlichen Unterschied – zunächst vermuten könnte. Tatsächlich fungierte die Epoche des Manierismus hier sogar als verbindendes Element, da De Lempicka ihren Frauenkörpern eine ähn­ liche Verformung bzw. Manieriertheit angedeihen ließ wie klassizistische oder eben manie­ristische Künstler/-innen. Dementsprechend sollte der Leib langgezogen, aber dennoch kräftig und voluminös sein, die Haut glatt, kühl und marmorn, so wie in den bekannten, femininen Akten von Ingres. Dabei sind die von De Lempicka gemalten Gesichter meist von einer klassischen Schönheit, akzentuiert mit künstlichen Mitteln. Auch sind in etlichen ihrer Porträts prächtige Handschuhe, wie sie es zu Zeiten Salviatis gab, vertreten, ganz so, als handle es sich dabei um einen persönlichen Fetisch der Künstlerin.378 Gleich mehrmals findet sich darüber hinaus eine spiralige Dynamik in ihrem Œuvre wieder, angelehnt an die von den Cinquecentisten favorisierte Figura Serpentinata.379 In dieser Hinsicht verfuhr De Lempicka also wie ihre Zeitgenossen Singer Sargent und Boldini. Dabei ist das verbindende Element all dieser Künstler/-innen bzw. ihr gemeinsamer Ausgangspunkt das Figurenideal der Manieristen, die Figura Serpentinata, derentwegen auch Salviatis Portrait of a Florentine Nobleman als „quintessence du portrait maniériste“380 gerühmt wurde. Autoportrait Autoportrait (Abb. 38) von De Lempicka hätte auch schon weiter oben  – neben den Selbstbildnissen von Laurencin, Charmy und Bailly – besprochen werden können, doch da dieses Werk weit mehr als eine individuelle Repräsentation der Künstlerin darstellt, kommt es erst in diesem Zusammenhang zur Sprache. Autoportrait wurde und wird noch immer als ikonisches Porträt einer modernen Weiblichkeit, eines Lebensstils und sogar einer Ära gefeiert.381 Gemäß der Tochter der Künstlerin, Kizette de Lempicka-Foxhall, soll es zudem repräsentativ für das „Leben der Gesten“382 stehen, womit sie auf die andauernde, aktive Selbstdarstellung ihrer Mutter anspielte. Insofern liefert dieses Bildnis einen guten Ausgangspunkt, sich u. a. den künstlerischen Vermarktungsstrategien und dem Starkult zuzuwenden  – beides Entwicklungen, die maßgeblich während der Années folles stattfanden. Autoportrait, auch bekannt unter Tamara im grünen Bugatti, war ursprünglich eine Auftragsarbeit für das deutsche Frauenmagazin Die Dame. Sowohl das eher zufällige Zustandekommen dieser deutsch-französischen Kooperation als auch De Lempickas eigene pragmatische Reaktion darauf sind schriftlich überliefert:   Baudelaire 2002 – 2006, 711.   Zum Aspekt des Fetischismus im Œuvre De Lempickas vgl. Laughlin 1998, insbes. 99 – 103. 379   Beispielhaft sind Dame mit grünem Handschuh (1928) und Nana de Herrera (1928 – 1929), beide in Privatbesitz, zu nennen. 380   Philippe Costamagna in Francesco Salviati, Ausst.-Kat. 1998, 240, Cat. 92. 381   Vgl. De Lempicka-Foxhall/Phillips 1987, 76 f. 382   Zu diesem Schlüsselbegriff vgl. ebda., Kapitel 7. Das Leben der Gesten (Paris. 1927 – 1930), 75 – 105, insbes. 75 f. 377 378

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Ich bin eine junge Malerin. Ich bin nicht reich. Ich überlege schnell und sage ‚ja‘ und nochmal ‚ja‘, denn für diese Arbeit werde ich doppelt bezahlt, zunächst von der Zeitschrift und dann für das Bild selbst. Und genau das habe ich dann auch getan. So begann meine Zusammenarbeit mit dieser Zeitschrift. Ich habe viele Titelseiten für sie gemacht.383

Im Juli 1929 erschien das im Original nur 35 × 27 cm große Selbstporträt schließlich auf dem Cover der erwähnten Illustrierten,384 die die D×amenwelt im wöchentlichen Rhythmus über Mode, Stil und gesellschaftliches Leben informierte. Dabei stand Die Dame weniger für ein konservatives Rollenbild, sondern propagierte über entsprechende Bildund Textbeiträge sogar ein vergleichsweise modernes Frauenbild.385 Dazu passte das modern wirkende Autoportrait De Lempickas: Schön, kühl und smart erscheint die am Steuer sitzende junge Frau, die ihren lasziven Blick unter halbgeschlossenen Lidern und aus den Augenwinkeln in Richtung des Betrachters gleiten lässt. Ausschnitt und Per­ spektive wurden derart gewählt, dass man von dem türkisgrünen Gefährt lediglich ein Stück der Kühlerhaube erblickt, die sogleich in Windschutzscheibe und Fahrertür übergeht. Die Ansicht der Porträtierten beschränkt sich dementsprechend auf Kopf, Halspartie und linken Unterarm. Ein graues Kleidungsstück, eventuell ein Schal oder Umhang, weht ihr in dynamischen Falten um den Hals. Außerdem trägt sie an der Linken, mit der sie einhändig den Wagen zu lenken scheint, einen langen, hellbraunen Handschuh und auf dem Kopf einen grau schimmernden, enganliegenden Helm – all diese Accessoires weisen De Lempicka hier klar als eine hochmoderne Selbstfahrerin aus.386 Schon diese knappe Bestandsaufnahme zeigt: In Autoportrait wurden zwei zeitgemäße Themen, nämlich die moderne Frau und die moderne Technik – konkret das neue, Mobilität bringende Kraftfahrzeug – miteinander verschmolzen, und zwar in ganz ähnlicher Weise, wie die Duchesse de la Salle mit der modernen Stadt kombiniert wurde. Dass die Selbstfahrerin sich in ihrem Sitz zurücklehnt, mit links steuert und dabei einen Seitenblick riskiert, signalisiert außerdem, mit welcher Souveränität sie diese neue Frauen­rolle erfüllt. Dabei ist ihr Habitus insofern mit demjenigen der Duchesse de la Salle vergleichbar, als auch ihre Haltung damals eher männlich als weiblich konnotiert war. Allerdings: Details wie die unter dem Helm hervorblitzenden, goldenen Haar­ locken, der leuchtend rote Mund, die dunkel konturierten Augenlider und -brauen gehören unmissverständlich zu einem femininen, obendrein sehr verführerischen Subjekt. Hier kommt wieder die bekannte „Ambivalenz aus Zuwendung und Ablehnung“387 als Merkmal der Femme Dandy zum Vorschein. Besonders effektvoll ist auch die Verbin383   Zitiert nach ebda., 76. Ein weiteres Titelblatt bildete z. B. noch im selben Jahr das Gemälde St. Moritz (1929). Generell ist Aussagen wie dieser mit Skepsis zu begegnen, da De Lempicka als Erzählerin oftmals zu Ausschmückungen oder Übertreibungen neigte. Ihr Selbstbildnis im Rennwagen bzw. der Auftrag dazu könnte so auch durch ein konkretes historisches Ereignis bedingt gewesen sein, nämlich die Umrundung der Welt in einem Automobil durch die Deutsche Clärone Stinnes im Sommer des Jahres 1929. Auf diesen Zusammenhang wurde bereits im Kapitel Die Mode à la garçonne, 124, hingewiesen, sowie bei Thormann 1995, 77. 384   Zu der Zeitschrift Die Dame vgl., auch im Folgenden, Ferber (Hg.) 1980, insbes. 8 und 12. 385   Schon der Wechsel des Titels, von Illustrierte Frauen-Zeitung zu Die Dame lässt die Wandlung erahnen. Zu den beitragenden Schriftsteller/-innen zählten u. a. Stefan Zweig, Robert Walser, Bert Brecht sowie ­Colette. 386   Zur Illustration vgl. den bebilderten Beitrag von Gustav Grüttefin: Hundert nützliche Dinge für den Damenwagen, in: Die Dame (Februar 1931), Nachdruck in: Ferber (Hg.) 1980, 228 – 232. 387   Eva und die Zukunft, Ausst.-Kat. 1986, 159.

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dung der menschlichen Figur mit dem Automobil, genauer gesagt mit dessen Karosserie: Nicht anders als das Metall weisen Haut und Kleidung der Fahrerin einen kalten, harten Glanz auf, während Anzeichen von Belebtheit, Menschlichkeit oder Weichheit komplett fehlen. Offensichtlich nahm De Lempicka hier keinerlei malerische Differenzierung vor, gleich ob es eine unbelebte Maschine oder einen menschlichen Körper darzustellen galt. Ihre Figuren wurden daher auch mit Gliederpuppen verglichen oder als „mechanische Frauen“388 bezeichnet. Teils lässt sich diese Darstellungsweise sicherlich mit ihrem bevorzugten Kunststil, dem Art déco, und mit dessen uniformer Bildsprache erklären.389 Doch hinsichtlich des Portraits à la mode und des damit verbundenen Frauen­bildes bedarf es auch einer Deutung jenseits solcher Stilfragen. Das Konzept des Fetischs, das man zunächst nur auf Einzelheiten wie ein Paar Handschuhe bezog – die im Übrigen auch in diesem Beispiel figurieren – lässt sich im Endeffekt nicht nur auf ­bestimmte Körperteile, sondern auf die gesamte weibliche Figur übertragen.390 Denn indem De Lempicka ihre Frauengestalten, sich selbst eingeschlossen, ausnahmslos künstlich, kühl oder gar metallisch erscheinen ließ, fetischisierte sie diese nicht minder als z. B. den grünen Bugatti aus ihrem berühmten Selbstporträt. Dahinter stand eine große Bewunderung für den weiblichen Körper im Sinne eines ästhetischen Ideals sowie, mutmaßlich, „une volonté presque militante de faire de la réclame pour l’Éros féminin ­libre“391. Gleichzeitig konnte die Malerin mittels ihrer Porträts ein beliebiges Image von sich selbst erzeugen und damit gegebenenfalls ihre wahre Identität verschleiern: Das Bild des polnischen Mädchens aus gutem Hause, der kindlichen Braut, der Emigrantenfrau, der jungen Mutter verschwand hinter ihren Gemälden, als wären sie Wandschirme in der Garderobe eines Stars, und auf der anderen Seite tauchte das Bild der bezaubernden, weltmännischen – wenn nicht deka­denten – modernen Schönheit des berühmten Selbstporträts auf, […].392

Selbstinszenierung von Künstlerinnen Das geschilderte Verhalten De Lempickas kann durchaus im Sinne eines Starkults verstanden werden, den die Künstlerin seit Beginn ihrer Karriere ganz bewusst und sukzessive vorantrieb. Dabei diente ihr insbesondere das Gesellschaftsporträt als Eintrittskarte in vornehme Pariser Kreise,393 wobei sie aber gleichzeitig Verbindungen zum Künstler388   Tag Gronberg: ‚Le peintre installé par la femme‘ – Künstlerinnen und Feminität, in: Tamara de Lempicka, Ausst.-Kat. 2004, 46 – 59, 55. 389   „Art déco trug auf der einen Seite kalte, harte Gefüge und Farben zur Schau und bediente sich auf der anderen Seite einer luxuriösen, sinnlichen, dekadenten Bildersprache, die sich gleichzeitig auf Metall und Fleisch, auf das Automobil und den nackten Körper anwenden ließ.“, De Lempicka-Foxhall/Phillips 1987, 45 und 47. 390   Dazu Laughlin 1998, 103: „Given the variety of Lempicka’s women, her fetish is best described as the female body as an ideal, phantasmic whole.“ 391   Bonnet 2001, 201. Die Annahme, dass hinter solchen Arbeiten ein erotisches Interesse steckte, forcierte die Künstlerin zum großen Teil selbst, sowohl mit ihren Porträts von zwei oder mehreren (nackter) Frauen als auch durch ihr eigenes, Aufsehen erregendes Liebesleben. 392   De Lempicka-Foxhall/Phillips 1987, 43. Mit Selbstporträt ist das hier besprochene Autoportrait gemeint. 393   „Die Malerei bzw. das Gesellschaftsporträt scheint für de Lempicka bis zur Mitte der 20er Jahre das Mittel zur Eingliederung und Selbstbehauptung in der Pariser Gesellschaft gewesen zu sein.“, Thormann 1995, 75.

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tum der École de Paris unterhielt.394 De Lempicka balancierte also – wie andere Port­ rätist/-innen auch  – während ihrer Pariser Jahre zwischen zwei ungleichen sozialen ­Milieus. Abstrakte oder dekonstruktive Tendenzen lehnte sie als Künstlerin vehement ab,395 pochte stattdessen auf die ästhetischen Werte der Avant Guerre, wie Eleganz, Grazie und Stil, sowie auf die von ihr verloren geglaubte Sauberkeit und Präzision in der Malerei.396 Unerschütterlich trugen ihre Figuren, ein Großteil davon Aristokraten oder Emigranten, aber auch sie selbst diese Werte nach außen; infolgedessen waren das Leben und das Umfeld De Lempickas bestens in der Presse dokumentiert, von ihren Leinwänden über ihre Kleider bis zu ihrem Mobiliar.397 Einen besonderen Stellenwert haben diesbezüglich ihre selbstdarstellerischen Porträtfotografien, wovon die ersten um 1929, also zeitgleich mit Autoportrait entstanden. Das Gesicht ins Profil gedreht und hell ausgeleuchtet, begegnet die Künstlerin auf solchen Fotografien als stolze, klassische Schönheit in Roben namhafter Designer.398 Eine entblößte Schulter oder ein Pelzkragen sowie – auch hier wieder – halbgeschlossene Augen verleihen ihr zudem eine divenhafte, verruchte Aura. De Lempicka mystifizierte bzw. inszenierte sich auf diese Weise gekonnt als Filmstar.399 Und so verwundert es auch nicht, dass wieder und wieder der Vergleich mit glamourösen Aktricen wie z. B. Greta Garbo, Marlene Dietrich oder Gloria Swanson gezogen wurde.400 Es war sogar die Intention der Künstlerin, sich – unter Zuhilfenahme ihrer Kunst – über die eigene Schönheit zu definieren, wozu ihr neben dem Selbstporträt eine Vielzahl an Portraits à la mode diente. Auch in solchen, anonymen Porträts klingt, in stilisierter Form, De Lempickas eigene Physiognomie an.401 Folgt hieraus, dass die Porträts, die sie von sich selbst anfertigte respektive anfertigen ließ, zu Marketingzwecken gedacht waren – um den Namen, die Persönlichkeit und die ‚Marke‘ De Lempicka zu bewerben? Einer Antwort hierauf kommt man eventuell näher, wenn man sich im Umfeld der Künstlerin, in der École de Paris, umsieht. Zur ­selben Zeit wie De Lempicka tendierten damals nämlich auch andere Porträtmalerinnen, etwa Laurencin, Marval und Charmy, zur Selbstinszenierung. Bildnisse von sich selbst schufen sie alle – ob eher lieblich, wie jene Laurencins oder provokant, wie die erwähnten Aktbilder Charmys  – und lancierten damit ein entsprechendes Image ihrer   Vgl. Badea-Păun 2007, 194.   „‚Zu Beginn meiner Karriere‘, sagte Tamara später von ihrer Malkunst, ‚sah ich mich um und erblickte nichts als totale Zerstörung in der Malerei. Ich fühlte mich abgestoßen von der Banalität, in die die Kunst abgeglitten war. Für mich war es Picasso, der diese neue Zerstörung verkörperte. […]‘“, zitiert nach De Lempicka-Foxhall/Phillips 1987, 52 f. 396   Vgl. ebda., 53 sowie Gonnard/Lebovici 2007, 123. 397   Vgl. De Lempicka-Foxhall/Phillips 1987, 82 – 84, 96. Noch stärker und professioneller als in Paris verfolgte sie diese Selbstinszenierung allerdings während ihrer Zeit in den USA, vgl. ebda., 131. 398   Z. B. Madame D’Ora, Tamara de Lempicka wearing a Coat by Lucien Lelong and a Hat by Rose Descat, 1933, Fotografie, Alain and Michèle Blondel Collection, vgl. Tamara de Lempicka, Ausst.-Kat. 2015, Cat. 114. Für Reproduktionen weiterer Fotografien siehe ebda., 207 ff. 399   Vgl. Thormann 1993, insbes. Kapitel III.4. Die Strategien der Tamara de Lempicka: Selbstbehauptung und Durchsetzung durch Selbstinszenierung und Provokation, 148 – 152, sowie dies. 1995. 400   Vgl. z. B. De Lempicka-Foxhall/Phillips 1987, 84, 137; Thormann 1995, 78; Nicoïdski 1996, 233. Inzwischen ist das Œuvre De Lempickas zwar seriös aufgearbeitet, namentlich durch Alain Blondel; jedoch zeigen Ausstellungstitel wie Tamara de Lempicka: La Reine de l’Art déco (Paris, 2013), dass das Image der Diva noch immer die ernstzunehmende Künstlerin zu überdecken droht. 401   Vgl. dazu Thormann 1995, 72; Tamara de Lempicka, Ausst.-Kat. 2006, 87. 394 395

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Person. Exemplarisch kann hier Laurencins Lithographie Autoportrait402 genannt werden, die sie anstelle einer Fotografie in mehreren Veröffentlichungen abdrucken ließ – womöglich da sie sich auf ihrem eigenen Werk als besonders schön oder jugendlich aussehend empfand. Für all diese Künstlerinnen besaß, neben der Malerei, die Mode einen hohen Stellenwert, meist auch in professioneller Hinsicht, etwa wenn sie mit Modehäusern oder mit dem Theater kollaborierten und für sie Kleidung, Kostüme oder Stoffe entwarfen. „Modiste“403, im Deutschen Modistin bzw. Hutmacherin, lautete die entsprechende, leicht abwertende Bezeichnung. Dabei bildeten Kleider, Möbel, Tapeten und Stoffe mögliche Mittel zur Eigenwerbung und zur Propagierung eines exquisiten Geschmacks. Dies bezeugen auch zeitgenössische Zeitungsartikel, für die z. B. De Lempicka und Laurencin die Presse in ihrer Privatwohnung bzw. ihrem Atelier empfingen, und die sich am ehesten als ‚Homestory‘ beschreiben lassen.404 Insgesamt konnten eine auf die Künstlerin bezogene Porträtkunst sowie eine starke öffentliche Präsenz und nicht zuletzt eine gezielte Berichterstattung durchaus karrierefördernd sein, da sie Gesicht und Stil der Künstlerin weithin bekannt machten. Sowohl der Fall von Laurencin als auch von De Lempicka haben dies eindrücklich bewiesen. Jedoch förderte ihre massive Selbstinszenierung auch unausweichlich eine Personalisierung ihrer Kunst. Und so verschmolzen – in den Augen des Publikums – die Kunst, das äußere Erscheinungsbild und private Umfeld dieser Künstlerinnen zu einem fest verbunden Ganzen. Infolgedessen geriet vor allem die Identität De Lempickas als professionelle Malerin immer mehr ins Hintertreffen, galt sie doch zunächst als Dame der Pariser Gesellschaft bzw. später, in den USA, als Favoritin der dortigen Filmstars.405 Man kann hier durchaus von einer Boulevardisierung ihres Lebens und Wirkens sprechen, beeinflusst durch das amerikanische „Starsystem“, in dem, so De Lempicka-Foxhall, „[…] sich der Schauspieler eine publikumswirksame Identität zulegen mußte, ein Image, das eigens für die Öffent­lichkeit inszeniert wurde, mit allem, was dazugehört – Garderobe, Frisur, Auftreten, Stil.“406 Fasst man Hollywood als Amerikas Antwort auf die europäische Aristokratie auf, lässt sich außerdem eine Parallele mit dem Dandytum alias „une espèce nouvelle d’aristocratie“407 ausmachen. In dem mediengesteuerten Milieu galten damals schließlich genauso bestimmte Regeln, Prinzipien, Vorrechte, wenn auch in zunehmender Unabhängigkeit vom Geschlecht – davon zeugt der Erfolg De Lempickas sowie von weiteren weiblichen Dandys und Hollywoodstars im 20. Jahrhundert. 402  Laurencin, Autoportrait, o. J., Chicago, Art Institute, reproduziert u. a. in Salmon Mai-Dezember 1920, 64 f.; sodann in dessen Vorwort zu Adolf von Hatzfeld/Marie Laurencin: Sommer. 4 Lithographien zu Gedichten von Adolf von Hatzfeld, Düsseldorf 1920(=Ausgaben der Galerie Flechtheim; 6), o. S.; und schließlich als Titelseite sowie Frontispiz in Allard 1921. 403   Courthion 1927, 149. Flament, Albert: Arabesques sur Marie Laurencin, in: La Renaissance (September 1924), 477 – 483, 477. 404   De Lempicka ließ ab 1929 mehrfach über ihre von Mallet-Stevens im Stile des Art déco ausgestattete Wohnung in der Rue Méchain berichten, vgl. De Lempicka-Foxhall/Phillips 1987, 96. Zu Laurencin vgl. Françoise: Chez Marie Laurencin, in: L’Art vivant 3 (01. 02. 1925), 9 f. 405   Vgl. hier und im Folgenden De Lempicka-Foxhall/Phillips 1987, Kapitel 9. Die Baronin (Hollywood und New-York, 1940 – 1963), 131 – 151, insbes. 131. 406   Ebda., 131. 407   Baudelaire 2002 – 2006, 711.

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Auch wenn der Starkult um diese Künstlerin erst in Hollywood seinen Höhepunkt erreichte und dort extreme Formen annahm, begann er doch bereits während der Années folles in Paris. Hierin übertraf De Lempicka, wie eingangs vermutet, andere Pariser Porträt- und Gesellschaftsmalerinnen mit ihrem sehr regen Social Life, sie machte bewusst von sich reden und schockierte absichtlich die Öffentlichkeit. Natürlich zog dieses Verhalten eine recht eindimensionale Rezeption nach sich, die von Anfang an um das Image der Grande Dame, des Stars oder Vamps kreiste. Dennoch darf darüber nicht in Vergessenheit geraten, dass der Ursprung all dessen De Lempickas beruflicher und sozialer Ehrgeiz sowie ihr fester Wille war, sich als junge Debütantin, Emigrantin und ­Mutter in Paris eine Existenz aufzubauen.408 So nutzte sie etwa den Kontakt zu Gabriele d’Annunzio in erster Linie dazu, ein Bildnis dieser Berühmtheit zu realisieren und damit ihren Ruf als Porträtmalerin zu stärken.409 Es wäre sogar denkbar, dass sie dabei nach dem Vorbild Brooks’ – und gleichzeitig in Konkurrenz zu ihr – handelte, war Letztere doch ebenfalls eine Liaison mit d‘Annunzio eingegangen, durch die sie beruflich und gesellschaftlich profitiert hatte.410 Als De Lempicka – motiviert durch Geldnot – auf dem Pariser Kunstmarkt debütierte, bewies sie unbestreitbar ein hohes Maß an Fleiß und Geschäftstüchtigkeit.411 Die bekannten, einseitigen Etiketten, mit denen man De Lempicka bislang versah, wären daher mindestens um den Titel einer Self-Made Woman zu erweitern.

Fazit Wie schon angekündigt lag bei dieser Bilderreihe das Interesse schwerpunktmäßig auf der dandyhaften Erscheinung der Porträtierten: Ein schlichtes, auch koloristisch reduziertes Kostüm, dazu Manschetten, Handschuhe sowie ein Zylinder oder Monokel waren aus der damaligen Herrenmode wohl bekannt, wurden nun aber neuartig kombiniert. Das genaue Studium der Porträtierten Brooks, Lady Troubridge und der Duchesse de la Salle ergab, dass diese trotz Cross-Dressing nicht darauf aus waren, gänzlich maskulin zu wirken. Stellenweise hinterließen ihre Frisur, ihr Make-up und ihr Schmuck  – ebenso wie ihr Blick – sogar einen sehr femininen Eindruck. Dagegen schien das in der Literatur erwähnte, lesbische Begehren von Brooks und De Lempicka nicht offensichtlich, selbst wenn diese zwei Künstlerinnen tatsächlich homo- bzw. bisexuell orientiert waren. Cross-Dressing diente damals nämlich auch schlicht dazu, ein beliebiges, aktuelles Image – dasjenige der Neuen Frau oder Garçonne – zu erzeugen, ohne dabei notgedrungen die eigene Geschlechtsidentität neu zu definieren. Am wichtigsten ist wohl, dass Garçonne und Femme Dandy, die in diesem Kapitel gleich mehrmals erschienen, von der weiblichen Identitätssuche innerhalb einer wachsenden, modernen Stadt- und Gesellschaftsstruktur erzählen. Dabei illustrierten insbesondere die letzten Porträts De Lempickas eine Frage, die bis in die heutige Zeit immer wieder aufkeimte, nämlich „wie Frauen zu einer autonomen Persönlichkeit kommen,   Vgl. dazu De Lempicka-Foxhall/Phillips 1987, Kapitel 4. Der Hunger (Paris, 1918 – 1923), 35 – 43, sowie Kapitel 5. Ein perverser Ingres (Paris, 1923 – 1925), 45 – 61. 409   Über den Verlauf der Zusammenkunft von De Lempicka und D’Annunzio vgl. ebda., 66 – 72. 410   Vgl. Chadwick in: Amazons in the Drawing Room, Ausst.-Kat. 2000, 12 f. Vgl. außerdem Thormann 1995, 75 und 77. 411   Vgl. dazu nochmals De Lempicka-Foxhall/Phillips 1987, Kapitel 4., insbes. 38 – 40. 408

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durch Queerness und Travestie  – oder durch die mutwillige, freiwillige Identifikation mit den Phantasmen der Männer“412. Wenn die eine oder andere Auftraggeberin sich kleidungstechnisch am Dandy orientierte und wenn eine Künstlerin formal auf das Repräsentationsbildnis zurückgriff, dann um ihren eigenen, meist starken Geltungsdrang, ihren sozialen Ehrgeiz und ihr Klassenbewusstsein zu saturieren. Diese Frauen traten als Dame der Gesellschaft, manchmal auch als Salonnière auf; sie führten kein abgesondertes Dasein, sondern ein Leben innerhalb der Gesellschaft und Öffentlichkeit. So schufen diese Femmes Dandy schließlich ein Gegengewicht zur bisher vorherrschenden Homosozialität der Männer.413 Der Fall De Lempickas zeigte, dass ein aktives Gesellschaftsleben als Künstler/-in bisweilen theatralische oder skandalöse Züge annehmen konnte. Denn um sich selbst sowie ihre Kunst wirkungsvoll zu vermarkten, gab sich die Malerin ausgesprochen fotogen und medienpräsent. Der Dandyismus, zunehmend verknüpft mit Imagepflege und Publicity, ging so schließlich in den Starkult über: Das Ergebnis war eine Welt der Gesten, ein Leben, in dem sie [die Künstler/-innen, Anm. d. Verf.] die Formen ‚spielten‘, ihren Einsatz erhöhten mit jeder Geste, jedem Kleidungsstück, das sie kauften, jeder Party, die sie gaben, jedem Buch, das sie schrieben, jedem Porträt, das sie malten.414

Es steht außer Frage, dass sich die betreffenden Künstlerinnen persönlich zu einer homophilen Kultur bekannten. Auch die Mission ihrer Porträts ist kaum von der Hand zu weisen: das Selbstbewusstsein und die Homosozialität unter Frauen zu stärken, und dies unter Zuhilfenahme von überlieferten, vestimentären sowie ästhetischen Codes. Blickt man noch einmal auf die bisher betrachteten Darstellungen von Weiblichkeit, etwa die Badenden, zurück, dann fällt zum einen auf, dass die Femmes Dandy nun wieder stärker im Zeichen der älteren Porträttradition stehen, und zum anderen, dass der Elitegedanke hier nochmals klarer artikuliert wurde.

Portrait à la mode: Genre und Zeitdokument Mit dem vorgestellten Bildkorpus wurde versucht, das modische Damenporträt in der Zeit zwischen 1890 und 1930, genannt Portrait à la mode, in all seiner Vielfältigkeit abzubilden. Dazu sind 45 Bildbeispiele – das älteste von 1884, das jüngste von 1929 – gezeigt, analysiert und kontextualisiert worden. Der betrachtete, auf das Second Empire folgende Zeitraum umspannte mehrere Jahrzehnte, auf die mit Fin de Siècle und Entre deux Guerres zwei, historisch ebenso wie künstlerisch, bewegte Perioden entfallen. Dass trotz des relativ großen Umfangs der Studie selektiv verfahren wurde und somit kein Anspruch auf Vollständigkeit besteht, ist selbstverständlich und klang bereits im Verlauf der Untersuchung an. Beispielsweise konnten der Akt, das Rollenporträt, das Doppelbildnis und das Gruppenporträt hier nicht oder nur am Rande berücksichtigt werden. Dennoch gelang es, wesentliche Aspekte des Portrait à la mode aufzuzeigen und sie an   Marie Schmidt: Die fleißigen Königinnen, in: Die Zeit 39 (18. 09. 2014), 49 f., 50.   Der Begriff „masculine homosociality“, zurückgehend auf Sedgwick und Koestenbaum, wurde u. a. aufgegriffen in Elliott/Wallace 1992, 22. 414   De Lempicka-Foxhall/Phillips 1987, 76. 412 413

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einschlägigen Bildbeispielen zu exemplifizieren: Zunächst stand dabei die deutliche Prägung des Portrait à la mode durch das 19. Jahrhundert und die Figur der Parisienne im Vordergrund, gefolgt von den stilistischen Wandlungen, die es im 20. Jahrhundert sowie im Zuge der neuen Kunst, speziell des Kubismus, erfuhr. Ein besonderer Akzent wurde außerdem auf die Selbstreflexion des weiblichen Modells gesetzt und in Form verschiedener Künstlerinnen-Selbstporträts studiert. Daran anschließend wurde die Periode des Entre deux Guerres im Hinblick auf zwei Entwicklungstendenzen sondiert: erstens die gesteigerte Freizügigkeit der Frau und zweitens die Auflösung etablierter Kleiderzeichen. Dabei konzentrierte sich die Betrachtung auf die zwei vorherrschenden Frauenbilder aus dieser Ära, nämlich Garçonne und Femme Dandy. Eine entscheidende Gemeinsamkeit aller Portraits à la mode bildete ihr Entstehungsort, die französische Hauptstadt Paris. Hier lagen im 19. Jahrhundert die Wurzeln dieses Genres; hier wirkten die Wegbereiter/-innen des Portrait à la mode; hier entstanden wichtige Vorgängerwerke wie das erwähnte, ikonische Gemälde von Carolus-­Duran, La Dame au Gant von 1869. Später prägten sich, ebenfalls in Paris, neuartige Formen des Mode- und Gesellschaftsporträts aus, die das klassische Ganzkörperporträt variierten oder avantgardistische Tendenzen miteinbezogen. Für derartige Experimente erwies sich insbesondere das Zusammenwirken internationaler Künstler/-innen, von denen nun immer mehr in die „Capitale des Arts“415 übersiedelten, als Grundvoraussetzung. Überhaupt nahm die Revolutionierung der Kunst – und auch der Mode – ihren Ausgang in Paris, sodass das ohnehin hohe Renommee dieser Stadt im 20. Jahrhundert nochmals anstieg. Zunächst der Montmartre, dann der Montparnasse – und natürlich die dort ansässige École de Paris – bildeten das Aushängeschild einer Weltmetropole und garantierten bis in die zwanziger Jahre eine stete Nachfrage an Porträts „Made in Paris“416. Schon die Tatsache, dass sich einige der Pariser Künstler/-innen auf dieses Genre, das Portrait à la mode, spezialisierten, verrät dessen hohen Stellenwert im damaligen Paris. Es ist deshalb anzunehmen, dass Porträtist/-innen wie z. B. Boldini in einem anderen Umfeld kaum derart erfolgreich gewesen wären wie in Paris.

Mode(n) Bereits im Vorfeld der Bildbetrachtungen klang an, dass sich die Portraits à la mode im Wesentlichen an drei verschiedenen Größen orientierten, die sich wiederum wechselseitig beeinflussten: die Mode, das Modell und schließlich der oder die Künstler/in. Von besonderem Einfluss war dabei die Mode bzw. der Zeitgeist, das Bild der Frau dementsprechend „un étincelant miroir, où se reflètent l’esprit des époques, les caractères des races, l’esthétique des écoles, l’idéal des artistes.“417, so die Worte von Armand Dayot in dem kunsthistorischen Opus L’Image de la Femme (1899). Dass das weibliche Porträt in erster Linie durch die Mode geprägt war, hat einen einfachen und logischen Grund: Damals bestimmte seit Jahrhunderten die Mode das Körperbild und somit auch das Figurenbild, insbesondere das Ganzkörperporträt. Sie beschränkte sich dabei zu keinem Zeitpunkt auf die Kleidermode, sondern besaß einen höchst universellen Charakter: „So   George/Guillaume 1929, 181.   Silver in École de Paris, Ausst.-Kat. 2000, 41. 417   Dayot 1899, 1. 415 416

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kann die Mode scheinbar und in abstracto freilich jeden beliebigen Inhalt in sich aufnehmen“, schrieb Simmel im Jahr 1905, „jede beliebige gegebene Form der Kleidung, der Kunst, des Benehmens, der Meinungen kann Mode werden.“418 Es wurde gezeigt, inwieweit Moden aller Art – gesellschaftliche, kulturelle oder technische  – in das Portrait à la mode einflossen. Dabei wechselten gerade innerhalb des hier untersuchten Zeitraums die Moden ungewöhnlich rasch und stark. Zuallererst war dies an der im Bild wiedergegebenen Damenmode abzulesen: Dort reichte die Entwicklung von bodenlangen Tageskleidern, wie sie während der Belle Époque getragen wurden, über lockere Gewänder und dekolletierte Abendroben bis zur neuen Bademode. Letztere bot, nachdem der weibliche Körper  – angefangen bei Füßen und Beinen  – stückweise entblößt worden war, (vorerst) ein Höchstmaß an Freizügigkeit. Die Voraussetzung hierfür war nicht zuletzt der Schwund von „le frou frou des lingeries compliqués“419, also von Rüschenverzierungen, ausladenden Unterkleidern, steifen Korsetts oder Schnürmiedern. Indem man derartige Konstrukte abschaffte, konnten Volumen und Gewicht der Kleidung erheblich reduziert werden. Einerseits sollte die Mode des neuen Jahrhunderts Funktionalität und Bewegungsfreiheit schaffen, wofür die neue Bademode ein hervorragendes Beispiel lieferte; andererseits war man um mehr Sinnlichkeit bemüht. Immer öfter bedienten sich Modeschöpfer deshalb dünner, flexibler Stoffe, wie z. B. Jersey, die den weiblichen Körper und dessen Bewegungen nicht länger verbargen, sondern durch das Material durchscheinen ließen. Diese neue fließende und transparente Qualität von Kleidung hoben vor allem die Porträts Laurencins hervor, indem sie das Figur-Gewand-Verhältnis ausreizten bzw. nahezu unkenntlich machten. Darüber hinaus trug auch die Verarbeitung von sensuell erfahrbaren Materialien wie Seide, Pelz, Pailletten oder Perlen zu der erwähnten erotischen Wirkung von Mode bei. Je nachdem, was für ein Effekt dadurch entstand, z. B. ein kühler Glanz oder ein goldener Schimmer, übertrug sich dieser Anschein von Kühle, Sinnlichkeit, Pracht oder Luxus auch auf das Portrait à la mode. Das freizügige Bildnis von Cléo de Mérode (Abb. 9) visualisierte dabei als eines der ersten die Trendwende in der Mode des 20. Jahrhunderts. Ihr goldglänzendes Oberteil legt sich in weiten Falten um ihren Oberkörper und rutscht ihr sogar verführerisch über die Schulter. Auch in anderen Portraits à la mode (z. B. Abb. 6 und 25 sowie in dem erwähnten Jeannot Salmon – Madame André Salmon) ließ sich die – gewollt oder ungewollt – entblößte Schulter beobachten: ein emblematisches Bildelement und klares Zeichen von mehr Freizügigkeit in der Damenmode. Wenig später sollte sich das Cross-Dressing durchsetzen, also der Trend, als Frau Gehrock bzw. Tailleur, Hemdbluse, Binder und gegebenenfalls weitere der Herrenmode entnommene Accessoires zu tragen. Zurückgehend auf den historischen Dandyismus, wie auch auf die Mode à la garçonne, erlebte diese neue, schlichte Anzugmode während der Années folles einen Höhepunkt. Erste Anzeichen für die extrem androgyne Mode wiesen demnach bereits die Jeunes Filles Laurencins sowie einige Selbstporträts von Künstlerinnen auf – darunter ein Revers, Binder oder Hosenanzug, wie ihn exemplarisch Nicole Groult auf ihrem Porträt von 1913 trug (Abb. 15). Im Rückblick ließen sich derartige, fast geschlechtsneutrale Ensembles oder Attribute bereits als Vorboten der   Simmel 1995, 35.   Warnod 1955, 54. Zum Ausdruck „Frou Frou“ vgl. außerdem Loschek 1994, 194.

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Unisex-Mode deuten, zumal im Vergleich mit korrespondierenden Herrenporträts wie jenem von Nils von Dardel (Abb. 16). Es erfolgte damals, ausgehend von beiden Seiten, insbesondere aber von der femininen, eine Annäherung an den Dresscode des anderen Geschlechts oder  – anders ausgedrückt  – eine Tendenz zur Auflösung etablierter, geschlechtsspezifischer Kleiderzeichen, die mit Beginn der dreißiger Jahre jedoch (vorerst) ein Ende nahm. Ferner zeigte die Beobachtung insgesamt, dass die dandyhafte Mode wieder zurückverwies auf eine in Schwarz und Weiß gehaltene Garderobe, dass sie insofern den Bogen zum Farbschema der Parisienne des 19. Jahrhunderts schlug. Auch was den verhüllenden Charakter ihres Dresscodes anbelangte, stand die Femme Dandy der Parisienne in nichts nach: Ihr Zweiteiler ließ schließlich genauso wenig Haut unbedeckt wie ein boden­langes Tageskleid aus der Zeit um die Jahrhundertwende (vgl. Abb. 4 und 5). Im Zusammenspiel mit der Kleidermode wandelte sich naturgemäß auch das modische Zubehör, insbesondere das Schuhwerk und der Schmuck. Durch hohe Absätze geriet etwa der weibliche Fuß, der dank neuer Rocklängen nun so exponiert war wie nie zuvor, zu einem erotischen Blickfang, und auch die neuerdings nackten Arme und Handgelenke wurden durch ausgefallene Armreifen akzentuiert. Einige schlichte Exemplare im Stil „esclave“ schworen dabei eine gewisse Exotik herauf (vgl. Jeannot Salmon – Madame André Salmon), während andere, von Schmucksteinen übersäte Reifen auf Pracht und Luxus abzielten (vgl. Abb. 30). Eine besondere Rolle unter den Schmuckstücken spielte das Perlencollier: Es nobilitierte seine Trägerin und ließ sie weiblicher bzw. mädchenhafter erscheinen  – ein Effekt, der in Ergänzung zur eher schlichten, andro­ gynen Kleidermode durchaus gewollt war. In der Darstellung von Schmuck besonders versiert war Van Dongen, wobei er den Kontrast zwischen filigranen Gliedmaßen und schweren Colliers gerne übertrieben wiedergab. Neben opulenten Ketten und Armreifen gab es in Form von Ohrhängern und Ohrclips noch einen weiteren, neuen Schmucktrend innerhalb der Mode à la garçonne. Auslöser hierfür war der Bubikopf, der, wie man auf den Porträts von Jasmy sehen kann, die Ohren bzw. Ohrläppchen und den Hals seiner Trägerin frei ließ. Mit passendem Schmuck galt es nun auch diese Körperpartie zu akzentuieren. Ein weiteres Accessoire, das ohne die Mode und Frisur à la garçonne kaum denkbar gewesen wäre, ist der Glockenhut, im Französischen Cloche genannt (Abb. 23). Charakteristisch für die Cloche waren eine betont schmale Passform und keine bzw. nur eine schmale Krempe, sodass dieser Hut sichtbar mit der neuen, auf Schlankheit ausgerichteten Kleidermode korrespondierte. Insofern stand die Cloche, gemeinsam mit ihren Verwandten, dem Topfhut alias Toque und dem Stirnband (Abb. 27 und 29), in klarem Widerspruch zur Belle Époque, in der eine breitkrempige und ausladende Hutmode vorherrschte. Wie gleich mehrere der hier gezeigten Portraits à la mode erkennen ließen, wurden als Alternative bzw. in Ergänzung zum Hut auch Tücher, Schals oder Stolen getragen (vgl. Abb. 15, 16, 19, 24 und 25). Da sie meist aus leichten, seidenen Stoffen bestanden, betonten sie die Hals- oder Schulterpartie, ohne dabei den lockeren Fall der Oberbekleidung zu stören; sie verstärkten vielmehr den fließenden Eindruck des Ensembles. Von den klassischen Accessoires der Parisenne des 19. Jahrhunderts420 blieb ein Teil besonders lang in Gebrauch: der Fächer. Dies zeigten verschiedene moderne Interpreta420

  Vgl. dazu Uzanne 1892.

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Portrait à la mode: Genre und Zeitdokument

tionen der Femme à l’Éventail (Abb. 11, 12 und 13). Hingegen hatten der Spazierstock oder der Sonnenschirm, zumindest im Stadtbild des 20. Jahrhunderts, nahezu ausgedient. Als früheres Attribut von Flaneur bzw. Flaneuse traf man den Schirm nun nicht mehr im urbanen Kontext, sondern vor allem am Badestrand (Abb. 31) an. Zu jener Zeit bildete, wie einzelne Portraits à la mode überdeutlich zeigten, die Kosmetik eine der wichtigsten „armes artificielles de la femme“421. Eine intensive Körperpflege und ein auffälliges Make-up waren für Garçonne und Femme libérée obligatorisch. Sie gaben ihnen schließlich die Möglichkeit, das eigene Ich künstlich zu verschönern, zu verfremden, zu inszenieren. Dass dabei die Schminkgewohnheiten der modernen Frau hier und da ins Extreme tendierten, verrieten z. B. die Porträts von Charmy (Abb. 21), Jasmy (Abb. 24) oder der Baigneuses (Abb. 30 und 31), deren beider Gesichter darauf maskenhaft blass und teilweise wie angemalt wirkten. Natürlich war die Gepflogenheit, den eigenen Körper zu zieren – ob durch Accessoires oder Schminke – per se kein Phänomen des 20. Jahrhunderts, sondern stammt aus prähistorischer Zeit; doch erst in dem genannten Kontext war der Kult um weibliche Schönheit virulent und die Auswahl an ästhetischer Kosmetik so groß wie nie zuvor. Erst jetzt gewann auch Schmuck an modischer Bedeutung hinzu und brachte, wie gesehen, neue, auf die zeitgenössische Mode zugeschnittene Varianten hervor. Was soeben über Accessoires, Schmuck und Make-up ausgesagt wurde, traf genauso auf das Körperbild sowie auf dessen Entwicklung vom 19. zum 20. Jahrhundert zu. Auch hier kam es, verbunden mit der Mode à la garçonne und der dazugehörigen Formalisierung des weiblichen Körpers, zu einem drastischen Wechsel: War das der Antike entlehnte Schönheitsideal bis weit ins 19. Jahrhundert noch nahezu gleichgeblieben – ein schlanker, anmutiger, dabei erkennbar weiblicher Körper, „le plus souvent la moyenne entre une maigreur charnue et un embonpoint svelte“422 –, so waren anschließend jedwedes „embonpoint“ und weibliche Rundungen äußerst ungern gesehen. Stattdessen sollte die Frau im Entre deux Guerres hochgewachsen und zart gebaut sein und eine flache Silhouette haben, sodass sie in physischer Hinsicht einem jungen Mädchen, einer Jeune Fille, glich. Pickt man aus beiden Zeiten jeweils ein repräsentatives Kleidungsstück heraus, zeigt sich umso deutlicher, wie stark das Körperbild der Frau betroffen war: Das Korsett der Belle Époque stellte ein starres, plastisches Gebilde mit extremer Taillierung dar, wohingegen das moderne Hängerkleid aus fließendem Material und annähernd zweidimensional war. Sein ausgesprochen loser und geradliniger Schnitt bedingte, dass das Hauptaugenmerk nun nicht mehr nur auf der Taille bzw. Körpermitte lag, sondern sich nach außen verlagerte. Als erotische Zonen nahmen folglich die Extremitäten, d. h. Arme und Beine, den Platz von Hüfte und Busen ein. Da sich im Zuge der Mode à la garçonne – neben Rock- und Ärmellänge – auch die Haarlänge reduzierte, wurden der Hals und die Ohren stärker wahrgenommen und, wie bereits erklärt, mit entsprechendem Schmuck behangen. Diejenigen Körperteile bzw. Gliedmaßen, die im Zuge neumodischer Schnitte hervortraten, hatten sowohl rank und schlank als auch geschmeidig und flexibel zu sein. In den Portraits à la mode manifestierte sich die gewünschte Beweglichkeit u. a. in der   Vgl. Uzanne 1902, 278 f.   Ebda., 94. Vgl. auch ebda.: „C’est principalement sur la taille que se sont portés leurs efforts et la femme antique, là comme partout ailleurs, montra la voie à la femme moderne.“

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Figura Serpentinata, der serpentinen Linie. Als Stilmittel mit langer kunsthistorischer Tradition diente sie nun dazu, den weiblichen Körper in all seiner Schlankheit und Wendig­keit darzustellen, und ist insofern auch als Signal für die gesteigerte Bewegungsfreiheit des weiblichen Körpers aufzufassen. Daneben waren exzentrische Posen und gertenschlanke Figuren aber auch das Resultat der für Boldini und Van Dongen charakteristischen Technik der Déformation. Sowohl der oder die Künstler/-in als auch das Subjekt, die moderne Frau, entfernten sich damals dezidiert vom Naturalismus des 19. Jahrhunderts und – damit verbunden – von einem natürlichen Körperbild. Zugunsten eines Antinaturisme begann die Frau ihren Leib zu pflegen, zu modellieren und zu trimmen – durch sportliche Aktivität und Schlankheitskuren ebenso wie durch die Anwendung ästhetischer Kosmetik. Daraus entstand eine künstliche bzw. künstlich unterstützte Schönheit, die – betont durch Mode und Haartracht à la garçonne – eine neue, nuancierte Spielart von Weiblichkeit konstruierte. In erster Linie wurde dieses ungewohnte Körperbild damals mit Androgynie asso­ ziiert, und es fehlte auch nicht an Prominenten, die sich kritisch über den herrschenden, unnatürlichen Schönheitsbegriff äußerten. In Entsprechung zu den Schmähschriften von Rachilde oder Colette schufen etwa Marval und Charmy Figurenbilder mit betont weiblichen Formen sowie mit einer ausgeprägten Erotik  – und dies in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Garçonne. Insgesamt jedoch erwies sich die im Entre deux Guerres aufkommende Tendenz zu einer extrem schlanken Linie als dominant; sie dauerte noch jahrelang an und bildete im Rückblick tatsächlich den Auftakt zu einem „XXe siècle lipo­phobe“423.

Modell Zusammen mit der Mode bildete das Modell den wichtigsten Akteur des Portrait à la mode. Dabei war sein Erscheinungsbild über lange Zeit durch den Parisianismus beeinflusst, der sich hier sogar als ein immer wiederkehrendes Charakteristikum des Modells herauskristallisierte. Ihm schließlich verdankte die Pariser Damenwelt ihr internationales Prestige: „Parisianisme, quelque chose comme l’État dans l’État de l’Élégance ; quelque chose de plus parisien que Paris, […].“424 Die starke örtliche Gebundenheit, die aus dem Zitat des Comte de Montesquiou spricht, fand ihren Widerhall namentlich in der Figur der Parisienne – dem dominanten Sujet der Pariser Porträtkünstler/-innen. Sie galt als Inbegriff weiblicher Schönheit, Klasse, Anmut und Modernität, als Repräsentantin einer gesellschaftlichen Elite. Da es noch im 20. Jahrhundert hieß: „La Parisienne […] forme une aristocratie parmi les femmes du globe. D’où qu’elle sorte, elle ne paraît presque jamais être issue entièrement du peuple.“425, musste der Parisienne offenbar ein ähnlich gehobener Status aneignen wie dem Dandy. Was lässt sich also über ihre Herkunft oder ihre Identität sagen? Mit Sicherheit war die Parisienne nicht unbedingt eine gebürtige Pariserin – dies traf in der Realität höchstens auf ein Drittel zu –,426 sondern konnte auch eine Weltbürgerin oder Emigrantin sein, der Paris für eine beliebige Zeitspanne als   Bard 2001, 119.   De Montesquiou 1901, 8. 425   Uzanne 1910, 20. 426   „Les femmes de Paris ne sont pas pour un tiers Parisiennes par droit de naissance.“, Uzanne 1910, 17. 423 424

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Wahlheimat diente. Die Parisienne der Belle Époque entstammte in der Regel dem so­ genannten Grand Monde, bestehend aus Aristokratinnen, Ehefrauen und Töchtern aus gutem Hause, so wie Emiliana Concha de Ossa. Im Anschluss allerdings erweiterte sich der Kreis um nicht-adlige Parisiennes, um lokale Berühmtheiten, Bühnenstars, Designerinnen, Künstlerinnen und anonyme Modelle; von nun an kamen die Kandidatinnen für das Portrait à la mode aus unterschiedlichen, gesellschaftlichen Milieus. Es scheint demnach, dass Popularität und Erfolg mit der Zeit schwerer wogen als die zuvor obligatorische adlige Herkunft – ein Trend, den Porträts von so populären Self-Made-Women wie Kiki de Montparnasse oder Jasmy anschaulich schilderten. Ferner zeugt die Tatsache, dass nun auch Modelle ohne Titel im Portrait à la mode figurieren, von einer weiteren interessanten Entwicklungstendenz, nämlich der Demokratisierung der Mode. Im 20. Jahrhundert war Mode nicht mehr nur handgefertigt und einer reichen Elite vorbehalten, sondern entstand zusätzlich in Serienproduktion und konnte dank Modepresse und Warenhäusern auf immer breiterer Ebene konsumiert werden. So verflüchtigte sich allmählich der exklusive Anspruch von Couture;427 stattdessen war Mode auf dem besten Wege, eine Handelsware zu werden. Auch die Schnelllebigkeit der Moden ging keineswegs spurlos an der Parisienne vor­ über, denn ihr Erscheinungsbild unterlag schließlich dem sich wandelnden Schönheitsbegriff: „La beauté certes est de tous les temps, mais elle est aussi de son temps.“428, lässt sich mit Blick auf die Geschichte des weiblichen Porträts konstatieren. Diese Zeitgebundenheit konnte anhand der Portraits à la mode direkt nachvollzogen werden: Von Jeune Fille und Garçonne über Femme fatale und Femme nouvelle bis zur Femme Dandy – die Parisienne des 19. Jahrhunderts, wie sie Manet oder Carolus-Duran musterhaft überliefert hatten, erfuhr im 20. Jahrhundert eine Differenzierung in unterschiedliche Mode­ figuren, oftmals mit Bezug zur zeitgenössischen französischen bzw. europäischen Lite­ ratur. Im Einzelnen brachte die Bildanalyse interessante Querverbindungen zwischen diesen Figuren hervor – Präfigurationen, Prototypen, Imitationen und Reminiszenzen. So antizipierte die Jeune Fille beispielsweise die Garçonne; die Odaliske und Badende wurden nach dem modernen Zeitgeschmack uminterpretiert, und im Gedenken an den Dandy à la Baudelaire bildete sich die Femme Dandy aus. Es lässt sich somit festhalten, dass die Parisienne – bezeichnenderweise auch als „femme-caméléon“429 tituliert – in der Porträtkunst des 20. Jahrhunderts nicht nur ein monotones Gesicht, sondern viele verschiedene Facetten zeigte. Wie außerdem deutlich wurde, waren die Parisienne bzw. deren Nachfolgerinnen mitnichten bloße Imagination.430 Sondern sie wurden im Portrait à la mode von meist realen, historischen Personen verkörpert, die im Idealfall die entsprechenden Merkmale in sich vereinten. Emiliana Concha de Ossa (Abb. 1), aber auch andere Modelle Boldinis, erschienen in dieser Hinsicht als Paradebeispiele der viel zitierten Pariser Grazie, womit u. a. die hohe Kunst gemeint war, eine Robe elegant und leicht geziert zu präsentieren.   Zum etymologischen, sprachlichen Hintergrund vgl. Loschek 2007, 159 f.   Henri de Régnier: Préface, in Robiquet 1938, 5 – 12, 12. 429   Jean-Gabriel Domergue, zitiert nach Soyer 1984, 16. 430   Dies behauptete z. B. Louise de Vilmorin, vgl. Vilmorin (20. 01. 1958): ‚La Parisienne est imaginaire. Imaginaire elle fait rêver […]‘. Dédicace pour Les Parisiennes. Manuscrit autographe, BLJD, Fonds Louise de Vilmorin, Ms 28665, o. S. 427 428

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Nach der Jahrhundertwende wechselten jedoch die Attitüden der Femmes à la mode, die nun immer mehr weibliches Selbstbewusstsein und Stolz ausstrahlten. Ergänzend zu formalen Kriterien, z. B. die Inanspruchnahme der Bildfläche, legten auch inhaltliche Aspekte wie Gestik, Mimik, Haltung oder Blickführung diesen Schluss nahe: Garçonnes, Badende, nicht zuletzt Femmes Dandy ließen weder Unschuld noch Scheu erahnen und wirkten im Kontrast zu den zarten, mädchenhaften Erscheinungen des Fin de Siècle ­ungleich erwachsen und resolut. Parallel hierzu ließ sich außerdem eine Variation des räumlichen Umfelds der Porträtierten beobachten – ein weiteres Zeichen für deren veränderte Position innerhalb der Gesellschaft: War sie zunächst auf einen häuslichen Rahmen festgelegt, etwa das Domizil oder die private Yacht ihres Mannes, so trat die Frau – in der Kunst ebenso wie im wahren Leben – bald hinaus in die öffentliche Sphäre, wo sie eine neue, gesteigerte Sichtbarkeit erfuhr und diese, wie gesehen, auch genoss. Hiervon kündeten neben den Vitae einzelner Modelle gerade auch die Porträts der neuen Badenden (Abb. 30 und 31) sowie der Duchesse de la Salle (Abb. 36), die sich darauf wahlweise als Blickfang am Strand oder als Herrscherin über die moderne Großstadt präsentierten. Gegen Ende der Années folles wurde die neu gewonnene weibliche Freizügigkeit schließlich auch vermehrt mit Mobilität assoziiert – konkreten Ausdruck fand sie in der programmatischen Figur der Selbstfahrerin (Abb. 38). Die schrittweise Modifikation der Parisienne, wie sie sich in den Portraits à la mode darstellte, wurde hier nochmals skizziert; sie war sowohl indirekt als auch direkt nachzuvollziehen: einerseits anhand der Ausstrahlung des Modells, andererseits an dessen Erscheinungsbild und konkretem, modischem Beiwerk. Dabei lässt sich die unter dem Eindruck der Geschichte, des Zeitgeistes sowie der Mode stehende Entwicklung der Parisienne im Sinne einer Identitätssuche der modernen Frau auffassen – einer Suche nach mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, nach mehr Freiheit, Selbstbestimmung und, wie zuletzt deutlich wurde, nach einem geeigneten Platz im urbanen Gefüge.

Künstler/-in Bis hierhin wurde zunächst das Sujet der Portraits à la mode charakterisiert, d. h. die Mode sowie das Modell und, damit verbunden, die herrschenden Körper- sowie Frauenbilder der Zeit. Im Weiteren soll daher noch rekapituliert werden, welche Schlüsse sich in Bezug auf den oder die Künstler/-in, alias Portraitiste à la mode, ergaben. Vordergründig erfüllten diese, auch Peintres mondains genannten, in Paris tätigen Künstler/-innen die Rolle von Modemaler/-innen. Schließlich waren ihre Modelle entweder hochrangige Persönlichkeiten der Gesellschaft oder aber sehr populäre Charaktere – heute würde man von ‚Celebrities‘ sprechen –, und das Hauptaugenmerk der Portraitistes à la mode galt stets der aktuellen Mode. Allerdings begnügten sie sich nicht damit, ihr Sujet einfach nur wiederzugeben, sondern inszenierten und theatralisierten sowohl die Figur als auch deren Gewand. Dieser Kunstgriff gelang aber nur, wenn man sich dabei vom Primat der Ähnlichkeit löste und sich selbst die künstlerische Freiheit zugestand, seinen Bildgegenstand nach eigenem Ermessen zu stilisieren, zu abstrahieren, zu verzerren. So reicherte z. B. Boldini seine Porträts mit spannungsvollen, dynamisierenden Elementen an, die nicht nur auf den Impressionismus, sondern bereits auf den Futurismus verwiesen. Unterdessen präsentierten Crotti, Laurencin und Bailly Figurenbilder, deren Formen im Sinne des Kubismus unterschiedlich stark geometrisiert oder

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Portrait à la mode: Genre und Zeitdokument

fragmentiert wurden  – allerdings ohne den Gegenstand komplett der Abstraktion zu opfern, wie es die Kubisten Picasso und Braque taten. Ohne einer neuen, künstlerischen Strömung zu folgen, vermochten die Portraitistes à la mode ihr Sujet zu manipulieren: So wandte etwa Van Dongen, neben Boldini, die wirkungsvolle Methode der Déformation an, mit der er die schlanke Figur und bisweilen auch die Physiognomie seiner Femmes à la mode überzeichnete. Ähnliches lässt sich über Laurencin und die für sie typische Figur der Jeune Fille aussagen. Als Künstlerin schwebte auch ihr ein bestimmtes, von der Natur abweichendes Ideal vor, das zugleich der zeitgenössischen Mode à la garçonne entsprach und deshalb bei vielen Pariserinnen Anklang fand. Woher aber rührte diese eigenmächtige Darstellungsweise der Portraitistes à la mode? Wie ist zu erklären, dass sie ihre Modelle, erst recht ihre Auftraggeberschaft, derart eigenmächtig umgestalten konnten, ohne hierfür in Ungnade zu fallen? Zum Teil lag dies sicher daran, dass die Portraitistes à la mode meist ähnlich gut situiert waren wie ihre Kundschaft, dass sie in denselben Pariser Salons ein- und ausgingen bzw. dieselben mondänen Ferienorte wie sie frequentierten. Dieser Wohlstand mochte entweder auf ein betuchtes Elternhaus, ein reiches Erbe, wie im Falle Brooks’, oder aber auf das eigene, rentable Schaffen zurückgehen. Als vielfältig erwies sich ebenfalls der Lebensstil, der aus diesem gehobenen Lebensstandard resultierte. Ob der oder die Porträtist/-in im Einzelnen nun mondän erschien, wie die behandelten Peintres mondains, ob er oder sie eher bürgerlich geprägt war, wie Laurencin und Charmy, oder sogar ins Frivole tendierte, wie De Lempicka, spielte dabei höchstens eine untergeordnete Rolle. Vielmehr zählte, dass die Portraitistes à la mode ihrer Klientel  – zumindest in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht  – deutlich näherstanden als anderen Künstlern aus der École de Paris. Oft lavier­ten sie also zwischen zwei gesellschaftlichen Kreisen, zwischen dem unkonventionellen Künstlermilieu und den reichen Eliten bzw. dem Bürgertum. Dabei konnte ein oder eine Portraitiste à la mode namhafte Mäzene wie den Comte de Montesquiou hinter sich wissen, der die Karrieren sowohl von Helleu als auch Boldini und später von Brooks stark vorantrieb. Ein weiterer, erheblicher Vorteil der Gesellschaftsfähigkeit und des akti­ven Social Life bestand in dem Insiderwissen, das sich die Porträtist/-innen auf ihren Streifzügen durch das beschriebene soziale Umfeld en passant aneigneten. Dort galten sie als unbescholten – schließlich verkehrte man in denselben Kreisen – und so bot sich ihnen die Gelegenheit, ihr Sujet sowie dessen Milieu ungestört zu studieren. Bisweilen führte diese Beobachtung aus nächster Nähe zu scharfsinnigen, pointierten Kunstwerken, die sich speziell im Falle Van Dongens rückblickend als eine Art Milieustudie mit der Tendenz zur Karikatur erweisen. An den Bildnissen u. a. dieses Künstlers wurde deutlich: Um in ihrem Metier zu reüssieren, brauchten die Portraitistes à la mode ihrer Kundschaft nicht immer zu schmeicheln. Vielmehr durfte man, wie schon erwähnt, deren äußere und innere Charakteristika wirklichkeitsgetreu festhalten oder sie sogar überzeichnen; eine besonders rücksichtsvolle Herangehensweise wurde offenbar nicht verlangt. Daraus folgt schließlich, dass die Portraitistes à la mode durch ihr Tun nicht nur mit Modemaler/-innen, sondern auch mit Autor/-innen oder Chronist/-innen vergleichbar sind, die die – überwiegend ephemeren – Moden und Sitten ihrer Epoche für die Zukunft fest- und lebendig halten. Trotz des oben Gesagten gehören diese Porträtist/-innen aus kunsthistorischer Perspektive mit Fug und Recht zur École de Paris, hatten sie doch vielfach dieselbe künstlerische Herkunft oder dieselben Lehrer wie diese. Allein durch ihre Studienjahre waren

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Portrait à la mode: Vom 19. ins 20. Jahrhundert – eine Zeitenwende

sie imstande, jeweils einen eigenen Stil auszubilden, der ebenfalls ein Merkmal der École de Paris darstellt. In ihrer Porträtkunst flossen die unterschiedlichsten Traditionen zusammen – Renaissance, Manierismus, die Grande Manière des 17. und das Rokoko des 18. Jahrhunderts –, sodass darin teils altbekannte Darstellungsmodi wiederkehrten: Bei Sargent, Boldini und Laurencin begegnete etwa die Figura Serpentinata, während Brooks in ihrem bekannten Selbstbildnis das englische Adelsporträt neu interpretierte (vgl. Abb. 33) und De Lempicka sich der Ikonografie des Herrscherbildes bediente (vgl. Abb. 36). Einen kontinuierlichen Einfluss auf die Portraitistes à la mode, von Boldini über Marval bis zu De Lempicka, schien  – posthum  – der französische Maler Jean-­ Auguste-Dominique Ingres auszuüben. Seine spezifische Handhabung der weiblichen Figur fand gleich in mehreren Portraits à la mode einen Widerhall. Damit wurde die Bindung der Portraitistes à la mode an die abendländische, zumal französische, Kunsttradition evident. Sie markiert, zusammen mit dem modernen Zeitgeist, den besonderen Reiz und Wert der Portraits à la mode. Zudem offenbarte die Bilderauswahl, dass die Rolle der Portraitistes à la mode im Verlauf der Jahre von immer mehr Frauen bekleidet wurde, wobei diese oftmals in einer Doppelfunktion – als Künstlerin und Modell gleichermaßen – tätig waren. Denn neben Auftragsarbeiten für Damen der Pariser Gesellschaft produzierten sie immer wieder auch Bildnisse von sich selbst – eine Tendenz, die unter den männlichen Kollegen von Laurencin, Charmy oder De Lempicka weitaus weniger vorherrschte. Interessant zu ­sehen war dabei, dass die Frauenbilder in den Selbstporträts, folglich die Selbstwahrnehmung der Künstlerinnen, im Einzelnen ganz unterschiedlich ausfielen: von betont exotisch (vgl. Abb. 20) über bourgeois (vgl. Abb. 21) bis zu stark und unabhängig (vgl. Abb. 36 und 38). Darüber hinaus machten manche Porträtistinnen die eigene Person zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion, etwa wenn sie aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnahmen oder sich gezielt in den Medien platzierten. Diese Verflechtung von Kunst und Leben, von beruflichen und privaten Belangen blieb, wie gezeigt wurde, nicht ohne Auswirkung auf ihre Rezeption.431

  Im Verlauf des Fazits sowie im Kontext des Art féminin wird dieser Punkt nochmals vertieft angesprochen werden.

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Les Instantanés de la Grâce de la Femme – Das Portrait à la mode in der Belle Époque

1  Giovanni Boldini, Il Pastello bianco (Emiliana Concha de Ossa), Pastell auf Leinwand, 225 × 123 cm, 1888, Mailand, Pinacoteca di Brera.

Farbtafeln

2  Paul-César Helleu, Portrait d’Annette au C ­ hapeau blanc, Pastell auf Leinwand, 58,4 × 68,5 cm, o. J., Paris, Les Amis de Paul-César Helleu.

3  Giovanni Boldini, Emiliana ­ oncha de Ossa, C Pastell auf Leinwand, 1901, Privat­sammlung.

Les Instantanés de la Grâce de la Femme – Das Portrait à la mode in der Belle Époque

4  Paul-César Helleu, Alice Helleu en Robe blanche, Huile sur Toile, 110,3 × 78 cm, vers 1902, Numéro d’Inventaire : inv. 2010.1.40, Bayonne, musée Bonnat-Helleu.

Farbtafeln

5  Paul-César Helleu, Les Paons, Pastell, 62 × 77 cm, 1891, Frankreich, Privatsammlung.

6  Giovanni Boldini, La Marchesa Luisa Casati, 186 × 136 cm, zwischen 1911 und 1913, Rome, National Gallery of Modern and Contemporary Art.

Les Instantanés de la Grâce de la Femme – Das Portrait à la mode in der Belle Époque

7  John Singer Sargent, Madame X (Madame Pierre Gautreau), Öl auf Leinwand, 208,6 × 109,9 cm, 1883 – 1884, New York, Metro­politan Museum of Art. Beim Pariser Salon von 1884 eingereicht ­unter dem Titel Portrait de Mme ***, vgl. John Singer ­Sargent, Ausst.-Kat. 1998, S. 101.

8  Giovanni Boldini, Ritratto di Rita de Acosta Lydig (The Rothschild Boldini), Öl auf Leinwand, 180,4 × 109,9 cm, 1911, Privatsammlung.

Farbtafeln

9  Giovanni Boldini, Cléo de Mérode, Öl auf Leinwand, 1901, Privatsammlung. Die Maßangaben variieren ­zwischen 98 × 56 cm (Dini/Dini (Hg.) 2006, III, Cat. 763) und 98 × 81,5 cm (Giovanni Boldini, Ausst.-Kat. 1991, Cat. 50.).

10  Giovanni Boldini, Le Comte Robert de Monte­squiou, Öl auf Leinwand, 116 × 82,5 cm, 1897, Paris, Musée d’Orsay, Schenkung von Henri Pinard im Auftrag Comte Robert de Montesquiou, 1922 (RF 1977 56).

Tableaux éventails – Das Portrait à la mode am Vorabend des Ersten Weltkrieges

11  Marie Laurencin, L’Éventail, Öl auf Karton auf Holz, 59,5 × 47,1 cm, um 1911, Tokyo, M ­ usée Marie Laurencin.

12  Alice Bailly (Genève, 1872 – Lausanne, 1938), Jeu d’Éventail ou Femme à l’Éventail (Portrait de Louisa Bailly, Sœur de l’Artiste), Huile sur Toile, 92 × 73 cm, 1913, Lausanne, Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne. Acquisition, 1997. Inv. 1997-093.

Farbtafeln

13  Jean Crotti, Femme à l‘Éventail vert, Öl auf ­Leinwand, 65,3 × 54,2 cm, 1914, Privatsammlung.

15  Marie Laurencin, Madame André Groult, née ­Nicole Poiret, Öl auf Leinwand, 110 × 70 cm, um 1913, Tokyo, Musée Marie Laurencin.

14  Marie Laurencin, La Liseuse, Öl auf Leinwand, 91,5 × 72 cm, 1913, Tokyo, Musée Marie Laurencin.

16  Marie Laurencin, Nils von Dardel, Öl auf Leinwand, 92,5 × 73 cm, 1913, Tokyo, Musée Marie Laurencin.

Tableaux éventails – Das Portrait à la mode am Vorabend des Ersten Weltkrieges

17  Jean Crotti, La Partie de Thé, Öl auf Leinwand, 81 × 100 cm, 1914, Paris, Musée d’Art moderne de la Ville de Paris.

Mon Portrait – Selbstbildnisse und Selbstbilder von Künstlerinnen

18  Alice Bailly, Self-Portrait (Mon Portrait), Oil on Canvas, 32 × 23 1/1 in. (81,3 × 59,7 cm), 1917, Washington, D.C., National Museum of Women in the Arts, Gift of Wallace and Wilhelmina Holladay.

Mon Portrait – Selbstbildnisse und Selbstbilder von Künstlerinnen

19  Marie Laurencin, La Femme-Cheval, Öl auf Leinwand, 61,5 × 46,8 cm, um 1918, Tokyo, ­Musée Marie Laurencin.

20  Jeanne Hébuterne, Autoportrait, Öl auf ­Karton, 50 × 33 cm, 1916, Genf, Petit Palais. In Buisson 2012 wird das Werk ebenfalls auf 1916 datiert (S. 93), in Restellini 2008 auf 1916 – 1917 (S. 181). Die leicht unterschiedlichen Datierungen sind dadurch zu erklären, dass die meisten Werke Hébuternes nicht durch die Künstlerin selbst, sondern erst im Nachhinein auf Grundlage recht vager Anhaltspunkte datiert wurden, vgl. dazu Erik Stephan: Jeanne Hébuterne, in: Von Renoir bis Picasso, Ausst.Kat. 2011, S. 130 f.

Farbtafeln

21  Émilie Charmy, Autoportrait, Öl auf Leinwand, 92 × 61 cm, 1907 – 1909, Paris, Coll. Bouche.

22  Émilie Charmy, Nu tenant son Sein, Öl auf Leinwand, 93 x 73 cm, um 1920 – 1925, Collection Patrick Seale.

La Femme libérée des Années folles – Freikörperkultur im Portrait à la mode

23  Maurice Mendjizky, Kiki de Montparnasse, Öl auf Leinwand, 61,5 × 30 cm, 1921, Paris, ­Collection Fonds de Dotation Mendjisky-Ecoles de Paris.

Farbtafeln

24  Kees van Dongen, Mme Jasmy Alvin, Öl auf Leinwand, 195 × 131,5 cm, vor 1920, Paris, Musée national d’Art moderne, Centre Georges Pompidou.

La Femme libérée des Années folles – Freikörperkultur im Portrait à la mode

25  Marie Laurencin, Portrait de Mademoiselle Chanel, Öl auf Leinwand, 92 × 73 cm, 1923, Paris, Musée de l’Orangerie.

26  Jacqueline Marval, La Danseuse de ­Nôtre-Dame, Öl auf Leinwand, 100 × 81 cm, 1921, Paris, Privatsammlung, Comité Jacqueline Marval.

Farbtafeln

27  Jacqueline Marval, La Bohémienne, Öl auf Leinwand, 130 × 200 cm, 1921, London, Privatsammlung.

28  Jacqueline Marval, Les Odalisques, Huile sur Toile, 196,5 × 230,7 cm, 1902 – 1903, Grenoble, Musée de Grenoble, Don de Mme Pascal, Sœur de l’Artiste, en 1933 – n° inv. : MG 2680.

La Femme libérée des Années folles – Freikörperkultur im Portrait à la mode

29  Jacqueline Marval, La petite Cléopâtre, Oil on Canvas, 97,1 × 137,7 cm, 1919, Kurashiki, Ohara Museum of Art.

Farbtafeln

30  Kees van Dongen, Baigneuse à Deauville, Öl auf Leinwand, 1920, Privatsammlung.

La Femme libérée des Années folles – Freikörperkultur im Portrait à la mode

31  Jacqueline Marval, La Baigneuse, Öl auf Leinwand, 98 × 123 cm, ca. 1920 – 1923, ancienne collection Charles Paquement, Paris, Privatsammlung, Comité Jacqueline Marval.

32  Jacqueline Marval, Les Deux Baigneuses, Öl auf Leinwand, 55 × 46 cm, um 1905, Paris, Privatsammlung.

Von der Garçonne zur Femme Dandy – Das Portrait à la mode unter dem Eindruck von Cross-Dressing

34  Romaine Brooks, Peter (A Young English Girl), Öl auf Leinwand, 91,9 × 62,3 cm, 1923–1924, Washington D. C., Smithsonian American Art ­Museum, Gift of the Artist, 1970. 33  Romaine Brooks, Self-Portrait, Öl auf Leinwand, 117,5 × 68,3 cm, 1923, Washington D.C., Smith­ sonian American Art Museum, Gift of the Artist, 1966.

Von der Garçonne zur Femme Dandy – Das Portrait à la mode unter dem Eindruck von Cross-Dressing

35  Romaine Brooks, Una, Lady Troubridge, Öl auf Leinwand, 127,3 × 76,4 cm, 1924, Washington D. C., Smithsonian American Art Museum, Gift of the Artist, 1966.

Farbtafeln

36  Tamara de Lempicka, Portrait de la D ­ uchesse de la Salle, Öl auf Leinwand, 162 × 97 cm, 1925, Sammlung Wolfgang Joop.

Von der Garçonne zur Femme Dandy – Das Portrait à la mode unter dem Eindruck von Cross-Dressing

37  Francesco Salviati, Portrait of a Florentine ­Nobleman, Öl auf Holz, 102,2 × 82,6 cm, 1546–1548, St. Louis, Saint Louis Art M ­ useum, Museum ­Purchase 415:1943.

Farbtafeln

38  Tamara de Lempicka, Autoportrait oder Mon Portrait, Öl auf Holz, 35 × 27 cm, 1929, Privatsammlung.

Schluss

Fazit Das eben gezogene Resümee zum werkorientierten Teil dieser Arbeit untermauerte ein­ mal mehr, was einleitend schon im Methodenkapitel gesagt wurde: dass ein Porträt un­ möglich isoliert zu betrachten und zu dechiffrieren ist, dass es vielmehr des Vergleichs mit anderen, ihm verwandten Werken sowie einer profunden Kontextualisierung be­ darf. Mit Letztgenannter begann diese Forschungsarbeit. Es wurden zunächst der kunst­ historische sowie kunstgeografische Hintergrund des Portrait à la mode beleuchtet – die École de Paris und der Standort Paris. Wenn dabei auch keine klare, endgültige Defini­ tion der École de Paris glückte, war die schrittweise Annäherung an diese Künstlerge­ meinschaft dennoch nicht ergebnislos: Unter Berücksichtigung alter wie neuer Defini­ tions­versuche konnte umrissen werden, was und wer die École de Paris auszeichnete. Im Speziellen das Studium früher Publikationen ließ dabei den genuinen Charakter der École de Paris in den Vordergrund treten: Chaque école a son caractère propre. Un des titres de gloire de l’Ecole de Paris sera peut-être justement de s’être développée dans la bataille, en gardant toute son indépendance, toute sa liberté.1

Demnach ist die École de Paris, ihrem Ursprung entsprechend, als unabhängiger Art ­vivant abseits der offiziellen Kunst und deren Institutionen zu verstehen. Weitere, davon abweichende Konnotationen wurden erst durch spätere Diskurse wachgerufen, bevor, insbesondere nach der Libération, nur noch eine Handvoll Künstler/-innen unter dem Label École de Paris firmierte. Die Konzentration auf wenige, dafür große Namen war vor allem in Ausstellungspraxis und Kunstgeschichtsschreibung zu beobachten  – bis ­hinein in die Gegenwart. In diesem Zusammenhang wurde auch der diffizile Begriff der Kunstschule kritisch reflektiert, mit dem Ergebnis, dass er sich – bezogen auf die École de Paris, auf deren ethnische und stilistische Vielfalt – als zu eng erwies. Im damaligen Paris lebte und arbeitete man äußerst liberal und freizügig; den Nährboden dafür lieferte die über Jahrhunderte gewachsene Hauptstadt der Kunst mit ihrer beispiellosen Infra­ struktur. Wie genau sich das „Pariser Kunstleben“2, so der Ausdruck von Ernst Guhl im 19. Jahrhundert, darstellte, wurde u. a. in zeitgenössischen Quellen bzw. Memoiren re­ cherchiert und in mehreren Unterkapiteln anschaulich geschildert: Anfangs agglome­ rierte sich die Kunstszene auf der Butte Montmartre, später dann in Montparnasse. Dort formten Händler und Galeristen, Cafés und Brasserien, Künstlersiedlungen und   Warnod 1925, 11.   Guhl 1858, 247.

1 2

225

Schluss

Académies libres ein durchlässiges, soziales Netzwerk – ein Pendant zum festen, akade­ mischen Gefüge der École nationale des Beaux-Arts. Montparnasse bot ein künstleri­ sches Zentrum, in dem frei von hierarchischen Strukturen und Dogmen gelehrt, kreiert, ausgestellt und gehandelt werden konnte. Zeitgenoss/-innen und Verbündete der École de Paris, wie André Warnod, Georges-Michel oder Berthe Weill, berichteten unisono, dass in Künstlerkreisen große Dialogbereitschaft und Offenheit herrschten, ebenso wie Hilfsbereitschaft und Solidarität. Dies äußerte sich nicht zuletzt in dem wirksamen Schulterschluss zwischen Pariser Künstler/-innen, Gastwirt/-innen und Literat/-innen: Durch deren Zutun – auf der einen Seite Ausstellungen und Verkäufe in gastronomi­ schen Betrieben, auf der anderen Seite Meldungen und Kritiken in der Presse – drang der Art vivant schließlich an die Öffentlichkeit, einige seiner Vertreter konnten ein höhe­ res gesellschaftliches Ansehen und wirtschaftlichen Erfolg genießen. Der Blick auf die Rezeptionsgeschichte der École de Paris offenbarte, in welchem Maße diese Künstler/-innen zu polarisieren vermochten. Denn je nach Zeitstimmung erhoben sich teils laute Gegenstimmen oder wurden plötzlich neuartige Konnotationen aufgerufen, die sich von der ursprünglichen Bedeutung gemäß Warnod drastisch unter­ schieden. Dies ist umso kritischer zu sehen, da solche Debatten jahrzehntelang nach­ wirkten und entscheidend auf unser heutiges Verständnis von der École de Paris ein­ gewirkt haben. So wurden beispielsweise ausgewählte und während der Occupation verfemte Namen, wie Picasso und Matisse, im Anschluss an diese historische Zäsur (wieder) ins französische Kulturerbe eingegliedert. Vor allem international präsen­ tierte man diese, als entartete Kunst etikettierten Positionen eifrig in Ausstellungen. Im 21. Jahrhundert rückten außerdem die vormals scharf verurteilten ‚ostjüdischen‘ Künst­ ler/-innen, allen voran Chagall, verstärkt ins Interesse der Forschung.3 So erfreulich diese grenzübergreifende Honorierung zunächst scheint, so fatal war sie für das Gros der École de Paris: All jene Künstler/-innen nämlich, die weder bahnbrechende Novi ein­ geführt noch einen besonders progressiven oder abstrakten Stil verfolgt hatten, traten hinter einer Riege ausgewählter, zumeist männlicher Initiatoren zurück.4 Zudem er­ weckten gewisse, in der Literatur eingeführte Notionen wie z. B. „bande à Picasso“ den irreführenden Eindruck, es habe innerhalb der École de Paris ein Oberhaupt, d. h. eine Rangfolge gegeben, obwohl dies laut Zeitzeugen niemals der Fall war.5 Dass dieser Ge­ niekult speziell der Gruppe weiblicher Künstler auf Dauer zum Verhängnis wurde, leuchtet ein. Viele Künstlerinnen sahen sich dementsprechend zu Lebzeiten oder erst posthum in die berüchtigte zweite Reihe befördert. Wie diese Studie darlegte, gab es neben dem Geniekult noch eine ganze Palette an historischen Gründen, warum der Art féminin gerade im 20. Jahrhundert nur unzurei­ chend rezipiert wurde. Die dazugehörige Ursachenforschung lieferte das zweite Groß­ kapitel – ein kulturhistorischer Exkurs – betitelt mit „Das Frauenbild nach 1900“. Ziel war es, die sich wandelnde, geschlechtliche und soziale Identität der Frau im Entre deux Guerres nachzuzeichnen. Denn erst in diesem breiteren Zusammenhang, unter Berück­ sichtigung der sozialpolitischen Entwicklung, der Mode- und Literaturgeschichte,   Vgl. z. B. Nieszawer 2000; Das Recht des Bildes, Ausst.-Kat. 2003; Szapiro 2003.   Die Rolle Boldinis als „initiateur de la peinture moderne“ (Gertrude Stein, zitiert nach Cardona 1931, 94) ging z. B., vermutlich im Zuge der Avantgarde, in der späteren Kunstgeschichtsschreibung nahezu unter. 5   Vgl. Adéma 1952, 78 (in Bezug auf Apollinaires Rolle). 3 4

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Fazit

konnte das Portrait à la mode ganzheitlich erfasst werden. Dabei zeigte sich, dass das zuvor eher statische Frauenbild an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert allmählich überging in ein dynamisches, wandelbares Frauenbild. Der weiblichen Bevölkerung standen nun mehr politische Rechte und Freiheiten zu, und auch auf institutioneller Ebene gab es gebietsweise Verbesserungen. Nichtsdestoweniger bewahrten gewisse kon­ servative Definitionen von Schönheit und Weiblichkeit ihre Gültigkeit. Einerseits waren diese auf die im 19. Jahrhundert verbreitete biologistische Weltanschauung bzw. auf ver­ altete, medizinische Lehren zurückzuführen; andererseits war das veränderte Frauenbild auch im 20. Jahrhundert noch heftig umstritten und stieß selbst bei gebildeten Frauen auf Ablehnung. Diese doch überraschende Erkenntnis ergab sich aus der Lektüre zeit­ genössischer Autorinnen wie Gina Lombroso oder Cécile Jéglot, die eine erstaunlich antifeministische Meinung vertraten. Widersprüchliche, dualistische Tendenzen wie diese – Fortschritt auf der einen Seite, Rückkehr zur Ordnung auf der anderen – waren während des Entre deux Guerres allgegenwärtig, und zwar in sämtlichen Lebensberei­ chen. So verwundert es auch nicht, dass die Impulse für das neue Frauenbild aus ganz unterschiedlichen Richtungen kamen: Im Tanz führten Loïe Fuller und Isadora Duncan einen neuartigen Bewegungsstil ein, der sehr organisch und körperbetont war; kurze Zeit später ebneten, unter der Ägide von Serge Diaghilev und Vaslav Nijinsky, die Ballets Russes dem Orientalismus den Weg in die Mode. Frei bewegliche, geschmeidige Leiber sowie luftige Kostüme standen dabei im Zeichen der serpentinen Linie und im krassen Gegensatz zur Körperästhetik des klassischen Balletts. Von der Bühne drang diese ‚Ent­ fesselung‘ des weiblichen Körpers schließlich in die Haute Couture vor, wo sich Paul ­Poiret und bald darauf Coco Chanel als Schöpfer einer neuen modischen Linie hervor­ taten. Doch war diese neue Mode nicht nur zum Vorteil der Frauen beschaffen. Auch sie konnte die körperlichen Zwänge, die ihnen das Korsett zuvor auferlegt hatte, nicht ganz aus der Welt schaffen. Zwar führte die Mode à la garçonne eine noch nie da gewesene Freiheit in der Damenmode ein und lieferte mit dem korsettlosen, einteiligen Kleid eine höchst bequeme Alternative zu den vormaligen „Körperattrappen“6. Frauen konnten sich fortan freier bewegen und ungenierter zeigen, da sie zum einen schlicht weniger Stoff und zum anderen neue, leichtere Materialien am Körper trugen. Umgekehrt wurde aber der weibliche Körper – spätestens mit dem Aufkommen des Freizeitsports – neuen Zwänge unterworfen. Jetzt sah sich die Frau mit einem schlanken, sportiven und juveni­ len Idealtypus konfrontiert, dem sie mittels körperlicher Betätigung, Diät und Kosme­ tika nacheiferte. Diese Entwicklung missbilligten, wie bereits erwähnt, auch französi­ sche Schriftstellerinnen, unter ihnen Colette und Rachilde. Zudem machte sich in konservativen Kreisen die Angst vor einer Tendenz zur Sexualisierung breit, besaß doch nicht bloß das Gewand, sondern auch der Körper per se modische Relevanz: Die Auf­ gabe, ihn zu formen und zu verschönern, oblag nun, anstatt der Mode, in erster Instanz der Frau selbst. Diese Nebenwirkung der modernen Mode  – ein innerer Zwang zu Schönheit und Schlankheit – darf auch insofern nicht unterschätzt werden, als sie für das gesamte 20. Jahrhundert, und darüber hinaus, paradigmatisch wurde. Bezogen auf das Frauenbild im weiteren, gesellschaftlichen Sinne erwies sich das Entre deux Guerres insgesamt als eine von konservativen Tendenzen durchdrungene   Loschek 2007, 24.

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Schluss

Zeit. So konnten Forderungen der Frauenemanzipation, wie etwa die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und sozialem Leben, damals nur bedingt in die Tat umgesetzt werden. Insbesondere die späten zwanziger sowie die dreißiger Jahre standen klar unter dem Eindruck des Retour à l’Ordre, der sich in einer rückwärtsgewandten Polemik und In­ nenpolitik äußerte. In puncto Kunststudium und Kunstausübung bot das frühe 20. Jahr­ hundert wiederum positive Veränderungen für Frauen: Seit 1897 war es ihnen erlaubt, an der staatlichen École nationale des Beaux-Arts zu studieren, vor allem aber profitier­ ten sie von der wachsenden Zahl an privaten Ateliers und Kunstschulen, die Frauen end­ lich die lange entbehrte, professionelle und umfassende Ausbildung ermöglichten. Wenn Hildebrandt deshalb behauptete, erst das 20. Jahrhundert habe den „Typus der schaffen­ den Frau“7 hervorgebracht, dann entsprach er damit vermutlich der öffentlichen Wahr­ nehmung; doch tatsächlich ist das weibliche Kunstschaffen ein viel älteres, historisches Phänomen, das bis dato bloß kaum in der Öffentlichkeit, sondern eher im Privaten zu beobachten war. Dies lag – neben den institutionellen Bedingungen – an spezifischen Denkmustern, die der Rezeption des Art féminin eine klare Richtung diktierten, und zwar bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Dazu konnten hier einige aussagestarke Schlüs­ selbegriffe sowie Gegensatzpaare identifiziert werden: auf weiblicher Seite die Arts ­mineurs, die Femme à Foyer, die Muse, Imitatorin oder Dilettantin; auf männlicher Seite der so­ genannte Grand Art, das Genie, der Schöpfer und Lehrer. Ganz allgemein festigten der­ artige Begrifflichkeiten die Geschlechterdisparität; gleichzeitig wurde damit speziell die Frau als Künstlerin marginalisiert und aus der Sphäre der Hochkunst ausgeschlossen. Dass sie in Wirklichkeit durchaus am zeitgenössischen Kunstschaffen teilhatte, dass Frauen sich ebenso wie ihre männlichen Kollegen professionell ausbilden ließen, wurde mithilfe der genannten Rezeptionsmuster gezielt verschleiert bzw. kleingeredet. Um weitere Facetten des Frauenbildes aufzuzeigen, wurde anschließend eine kurze, kritische Typologie der Avant Guerre und Entre deux Guerres aufgestellt. Als dominante Kultfiguren jener Zeit stellten sich der Dandy, die Garçonne und Femme Dandy heraus. Dabei ergab ihre Charakterisierung, dass die gemeinsamen Grundzüge  – Autonomie, Androgynie und Travestie – jeweils aus der Figur des Androgyn bzw. der antiken Sappho herrühren, wenngleich ihre konkreten Vorbilder vor allem aus jüngerer Zeit stammen: Im 19. Jahrhundert hatten Barbey d’Aurevilly und Baudelaire den Typus des Dandys – und in der Konsequenz auch denjenigen der Femme Dandy – definiert, wohingegen die Garçonne erst 1922 durch den gleichnamigen Roman von Victor Margueritte ein eigenes Gepräge erhielt. Alle drei Figuren genossen damals einen zwielichtigen Ruf, bedingt durch die ihnen nachgesagte, widernatürliche Zweigeschlechtlichkeit. Der Garçonne warf man außerdem den Hang zur Libertinage und Homosexualität vor, was einerseits zu einem öffentlichen Skandal um die Romanfigur führte, was ihrer Verbreitung ande­ rerseits aber keinen Abbruch tat. Im Gegenteil, die Garçonne erlebte einen wahren Triumph­zug und wurde über die gleichnamige Mode mit einer neuen, modernen Le­ benskultur verknüpft. Schon allein die Kurzhaarfrisur à la garçonne, den Bubikopf, meist kombiniert mit der Cloche, interpretierte man als Bruch mit dem traditionell Weib­ lichen. Und das Automobil, ein Symbol für Mobilität und Dynamik, kündete von dem Aufbruch in ein neues, unabhängiges Leben der Frau. Laufend wurde in den Medien über die Affaire Margueritte berichtet und in der Modepresse die genannte Symbolik der   Hildebrandt 1928, 7.

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Fazit

Mode à la garçonne verbreitet; demnach kann man schon für diese Zeit von einer extrem starken Medienwirkung sprechen. In der kritischen Auseinandersetzung mit Primärliteratur, Rezeption und Transfer der Garçonne zeigte sich, dass sie eines der großen Vorbilder, lange Zeit sogar das größte Vorbild der Frauen im Entre deux Guerres darstellte. Ohne ihre Bedeutung als Ikone hier schmälern zu wollen, ist die Garçonne dennoch zuallererst ein literarischer Typus, näm­ lich eine Figur der französischen Romanliteratur, oder – berücksichtigt man ihre diver­ sen Metamorphosen – eine Kultfigur. Gerade diese fiktive Natur der Garçonne macht es schwierig, sie als Sozialcharakter zu betrachten. Wie gesagt, führten schließlich nicht viele Frauen ein derart ungebundenes und freizügiges Leben wie La Garçonne. Die Mehrheit gab sich mit Äußerlichkeiten zufrieden, etwa der entsprechenden Kleider­ mode à la garçonne, die sie zum Zeichen ihrer Modernität übernahm. Gewiss spielte dabei auch die zunehmend einflussreiche Bildkultur eine wichtige Rolle, die – oft insta­ bile  – Wunschbilder wie die Nouvelle Femme in Umlauf brachte. Weil die Nouvelle Femme im Vergleich zur Garçonne deutlich angepasster und bürgerlicher war, barg die­ ses Frauenbild weniger gesellschaftlichen Konfliktstoff, sprach somit ein breiteres Publi­ kum an und wurde zum idealen Leitbild in Werbung und Medien. Nachdem im ersten Part der kunsthistorische Hintergrund des Portrait à la mode und im zweiten Teil dessen Sujet, die Frau des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, näher beleuchtet wurden, stand im dritten Teil dieser Studie das gesammelte Bildmate­ rial im Fokus. Eingeleitet wurde die Werkanalyse durch eine Vorbemerkung zur Situa­ tion des Porträts um die Jahrhundertwende. Damals schufen ein überholter, bald unzu­ reichender Porträtbegriff und eine starke Konkurrenz – einerseits durch das noch junge Medium der Fotografie, andererseits durch neue, nicht-figürliche Kunstrichtungen  – eine schwierige Ausgangslage für das Porträt. Ohne sich weiterzuentwickeln und sich künstlerisch neu zu erfinden, wäre diese Gattung damals wohl tatsächlich zu einem Phä­ nomen der Vergangenheit erstarrt. Dass diese u. a. von Jacob Burckhardt geäußerte Be­ fürchtung dann aber doch nicht eintrat, ist Porträtkünstler/-innen zu verdanken, die namentlich in Paris – als Teil oder unter dem Einfluss der École de Paris – aktiv waren. Aus ihren Werken setzte sich das 45 Beispiele umfassende Bildkorpus dieser Arbeit zusammen. Untergliedert in fünf thematische Vergleichsreihen, rückte die Analyse be­ wusst das Sujet bzw. Motiv sowie den zeitlichen Aspekt in den Vordergrund, um zum einen die Entwicklung des Portrait à la mode, zum anderen dessen Kontinuität aufzu­ zeigen. Womöglich lässt es den einen oder anderen Betrachter staunen, über welche Variations­breite das Portrait à la mode verfügt – nicht nur im zeitlichen Verlauf, sondern auch innerhalb der einzelnen Gruppen –, während der Gegenstand und die Gegenständ­ lichkeit dieses Genres doch quasi gleichblieben. Von Starre oder Leblosigkeit war den Portraits à la mode dabei nichts anzumerken; vielmehr wies jedes einzelne einen engen Bezug zur Gegenwart auf, zeugte von der Vitalität einer Bildgattung, die man zu Unrecht als anachronistisch einschätzte. Um diesen so entscheidenden Zeitbezug jeweils richtig erkennen und deuten zu können, war es unverzichtbar, sich auch Disziplinen abseits der Kunstgeschichte – vor allem der Mode-, Kultur- und Frauengeschichte – zuzuwenden und die entsprechenden Schlüsse auf den Untersuchungsgegenstand, das Portrait à la mode, anzuwenden. Ein Gemälde steht schließlich, solange es nicht rein abstrakt oder im Zeichen des L’Art pour l’Art entstanden ist, niemals für sich allein, sondern hat erzähleri­ sche, ja dokumentarische Qualitäten. Speziell die Bilder von Frauen, so auch die Über­

229

Schluss

zeugung von Georges Duby, vermögen uns dabei „ebensoviel, wenn nicht mehr […] als […] so manche[n] Schriften“8 zu verraten. Das Portrait à la mode erwies sich insofern als ein Dokument, das seinem Betrachter die Historie, den Wandel der Moden und nicht zuletzt des Frauenbildes nahebringt: von den bildgewordenen Instantanés de la Grâce de la Femme aus der Zeit um 1900, über die Frau bzw. Künstlerin im Selbstporträt und die Femme libérée, bis zur Garçonne und schließlich Femme Dandy der zwanziger Jahre. Schon in den Überschriften der Unterkapitel klingt an, dass der Begriff des Weiblichen – trotz seiner Kontinuität – seit jeher eine variable Größe ist: „Das ‚ewig Weibliche‘ wird immer wieder neu konstituiert als ein Bild, dem je nach Mode Unterschiedliches ein­ geschrieben werden kann.“9, so die Modeforschung im 21. Jahrhundert. Sie bestätigt da­ mit, was Dayot bereits gut ein Jahrhundert zuvor äußerte: „[…] l’image de la femme n’y apparaît que comme un étincelant miroir, où se reflètent l’esprit des époques, les carac­ tères des races, l’esthétique des écoles, l’idéal des artistes.“10 In kaum einer Bildgattung tritt dieser Zusammenhang so deutlich zutage wie im Portrait à la mode, das jene Tradi­ tionsbrüche und Novi vor Augen führt, denen sein Sujet naturgemäß unterworfen war. Mitunter griff man als Künstler/-in auf literarische Figuren zurück, etwa Parisienne und Garçonne; doch das Gros der Bildnisse, zumal die Auftragsarbeiten, hatten histori­ sche, namentlich bekannte Personen zum Gegenstand. Zu keiner Zeit stellte das Portrait à la mode ein reines Fantasiegebilde der Gesellschaft oder nur die idea, den geistigen Entwurf des Künstlers oder der Künstlerin, dar, sondern ließ immer auch einen realen, zeitgeschichtlichen Bezug erkennen – sei es durch die im Bild dargestellte Person, Klei­ dermode oder über eine bestimmte Hintergrundinformation, etwa eine moderne Stadt­ kulisse. Im Einzelnen waren außerdem Parallelen zur zeitgenössischen Porträtfotografie und Modegrafik sowie zu nicht-fiktiven Schriften, z. B. Memoiren, auszumachen. Auch werktranszendent ist der besagte Zeit- und Realitätsbezug insofern gegeben. Primär fand die Moderne, wie sich herausstellte, über den Inhalt, und nicht über die Form, Eingang ins Portrait à la mode  – einzige Ausnahme bilden die vergleichsweise abstrakten Tableaux éventails. Der künstlerische Wert sowie die kunstgeschichtliche Be­ deutung des Portrait à la mode sind deshalb aber keineswegs zu unterschlagen; schließ­ lich hatte sich mit ihm eine eigene Bildgattung, ein eigenes Genre, ausgebildet, das so­ wohl dem modernen Zeitgeschmack als auch der traditionellen Form huldigte. Eine jahrhundertealte künstlerische Tradition ging dem Gegenstand des Portrait à la mode, dem Bild der Frau, voraus. Dementsprechend lauten die einleitenden Worte zu La Femme dans la Peinture française. Du XVe au XXe Siècle: La femme a laissé son image dans le miroir du temps. Cette image, ou plutôt ces images, les Poètes, les Peintres, les Sculpteurs se sont efforcés, par la plume, le pinceau et le ciseau, de fixer ce qu’elles ont à la fois de changeant et d’éternel, car, dans la Femme, il y a toujours les femmes et dans toutes les femmes il y a la Femme, et c’est en son honneur que les arts ont créé quelques-uns de leurs plus incontestables chefs-d’œuvre. De ces arts, c’est peut-être celui de la Peinture qui a le plus contribué à nous rendre sen­ sibles les beautés et les grâces féminines.11

  Duby/Perrot 1995, 8.   Lehnert in Antoni-Komar (Hg.) 2001, 137. 10   Vgl. Dayot 1899, 1, bereits weiter oben unter Mode(n) zitiert. 11   Régnier in Robiquet 1938, 5. 8 9

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Ausblick

Der Verfasser dieser Zeilen war gewiss mit den Portraits à la mode vertraut, wenn ihn nicht sogar diese Kunstwerke dazu animierten, die herausragende Rolle der Malerei zu betonen. Fakt ist, dass bis ins späte 19. Jahrhundert vorwiegend französische Künstler/innen im Porträtfach brillierten, dass ein Porträt à la française unweigerlich mit Quali­ täten wie weiblicher Schönheit, Grazie und Eleganz  – eben „les beautés et les grâces fémi­nines“12 – assoziiert wurde. Als sich gegen Ende des Jahrhunderts ein immer größe­ res, internationales Publikum in Paris versammelte, kam indes ein weiterer, neuer Cha­ rakterzug hinzu: die Internationalität des Portrait à la mode. Oft waren nämlich der oder die Künstler/-in und das Modell von unterschiedlicher nationaler Herkunft, und anstatt von Geburt an in Frankreich beheimatet zu sein, waren sie dorthin emigriert oder be­ fanden sich auf der Durchreise. Dazu kamen, wie gesehen, noch die Einflüsse ausländi­ scher Schulen – Zitate aus der Kunstgeschichte Englands, Spaniens oder Italiens – die eine harmonische Verbindung mit der französischen Couleur eingingen. Einer rein ‚natio­nalen Kunst‘, wie sie u. a. Waldemar George definieren und verteidigen wollte, lässt sich das Portrait à la mode also nicht zuordnen. Deutlich mehr als der französischen Nation waren die Portraits à la mode der französischen Hauptstadt Paris verpflichtet – sowohl durch die ausführenden Künstler/-innen der École de Paris als auch durch das Pariser Publikum, bei dem sie zu jener Zeit hoch im Kurs standen. Kunsthistorisch betrachtet zählt das Portrait à la mode zum Art vivant, der außer­ halb des Art officiel und des Akademismus anzusiedeln war und durch ein unabhängi­ ges, gesamteuropäisches Künstlertum lanciert wurde. Diese Zugehörigkeit zeigte sich sowohl anhand einzelner Bildbeispiele als auch an den Porträtmaler/-innen bzw. an ­deren künstlerischer sowie persönlicher Gesinnung: Im Professionellen wie im Privaten schätzte es ein oder eine Portraitiste à la mode, frei und selbstbestimmt wirken zu kön­ nen, losgelöst vom Akademismus des 19. Jahrhunderts. So entwickelten sie letztendlich einen jeweils eigenen Stil und folglich auch einen eigenen Figurentypus – teils mit sehr hohem Wiedererkennungswert. Wie hier deutlich wurde, handelte es sich dabei keines­ wegs um oberflächliche, angepasste Kunst – im Einzelnen wurde sogar eine bewusste Distanzierung vorgenommen, sei es vom lebenden Modell, wie bei Nicole Groult (Abb. 15), oder vom herrschenden Figurenideal (vgl. Abb. 27 und 29). Obschon es sicher zu weit ginge, das Portrait à la mode avantgardistisch zu nennen, ließen sich doch be­ stimmte Bildelemente und Techniken innerhalb dieses Genres der Avantgardekunst zu­ ordnen. In Anbetracht der hier gezeigten Portraits à la mode und deren stilistischer Viel­ falt verbietet es sich, Porträtkunst pauschal als altes, ‚unmodernes‘ Genre abzustempeln. Ihre Relevanz – historisch und künstlerisch, als Dokument und als Genre – sollte außer Frage stehen und künftig durch weitere entsprechende Buch- sowie Ausstellungsprojekte legitimiert werden.

Ausblick Im Laufe der Untersuchung der Portraits à la mode ergaben sich verschiedene weiter­ führende Fragen; etwa, ob bei der Betrachtung – und Bewertung – von Kunst Kategorien wie ‚Avantgarde‘ oder ‚Innovation‘ überhaupt als Maßstab dienen sollten. Bemisst sich  Ebda.

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Schluss

die Qualität eines Werkes ausschließlich an dessen Novität, und ist für den kunsthistori­ schen Rang eines Künstlers oder einer Künstlerin nur ausschlaggebend, ob diese auf der Höhe der Zeit bzw. ihrer Zeit voraus waren? Diesbezüglich ist Werner Schmalenbach zuzustimmen, der einmal schrieb, dass „kein Künstler dem Gebot zu folgen hat, mit der Geschichte Schritt zu halten“13. Wenn demnach Maler/-innen wie Boldini, Laurencin oder Brooks von den bekannten Hauptwegen der Moderne – den ‚Ismen‘ – abwichen, um (weiterhin) eine figürliche Kunst zu betreiben, sollten sie deshalb nicht automatisch von anderen Künstler/-innen isoliert oder geringer geschätzt werden. Dasselbe lässt sich über die kategorische Unterteilung der Kunst in ‚intellektuell‘ und ‚kommerziell‘ oder in ‚hoch‘ und ‚niedrig‘ sagen. Bewertungskriterien und Hierarchien wie diese bestimmten und bestimmen leider noch immer den kunsthistorischen Diskurs; sie führten außer­ dem dazu, dass man die Wandlungsfähigkeit und Innovationskraft, die dem Porträt im 20. Jahrhundert innewohnten, allzu leicht übersah. Hiervon besonders betroffen ist der Art féminin, speziell die Porträtkunst von Frauen. Dabei muss man sich fragen, ob die erwähnte, kategorische Trennung überhaupt noch zeitgemäß ist, d. h. ob sie noch unserem heutigen Verständnis von Kunst entspricht. Sind nicht die Grenzen zwischen Hochkunst und Massenmedium im 21. Jahrhundert nahezu aufgehoben? Zumindest wenn man die aktuelle Ausstellungssituation berück­ sichtigt, liegt dieser Schluss nahe: Figürliche Kunst, künstlerische Fotografie und Mode­ fotografie bildeten während der letzten Jahre einen beliebten Gegenstand groß ange­ legter Museumsschauen.14 Die heutige Kunstwissenschaft ist daher aufgefordert, das Œuvre der Portraitistes à la mode ebenso wie die Wege ihrer Rezeption einer genauen Prüfung zu unterziehen. Es bedarf eines zeitgemäßen und neutralen Standpunktes, um die etablierten, teils falschen Urteile der Vergangenheit zu revidieren. Hierzu wurde mit der vorliegenden Arbeit bereits ein Teil beigetragen – durch Quellenkritik, Sichtung der wissenschaftlichen, aber auch der nicht wissenschaftlichen, biografischen Literatur, nicht zuletzt durch die Einordnung der Portraits à la mode in die französische Kunstent­ wicklung. Bei Weitem konnten hier natürlich nicht alle Künstler/-innen ‚aus der zweiten Reihe‘ behandelt werden; so gibt es neben Marval, Charmy oder Mendjizky noch etliche wei­ tere Persönlichkeiten im Umfeld der École de Paris zu entdecken und Œuvres zu heben. Genannt seien hier nur Georgette Agutte, Chériane (später Madame Léon-Paul Fargue), Lucie Cousturier, die bereits erwähnte Marevna, Lucie Valore-Utrillo sowie Valentine Prax. Der teils ungeklärte Verbleib der Werke dieser Künstlerinnen, ob im Familienbe­ sitz, bei privaten Sammlern oder in Galerien, hat gewiss seinen Teil dazu beigetragen, dass sie dauerhaft in Vergessenheit gerieten – ebenso wie die mangelnde bzw. eindimen­ 13   Werner Schmalenbach: Der Bildhauer. Köpfe und Karyatiden, in: Amedeo Modigliani. Ausst.-Kat. 1991, 10 – 24, 14. 14   Exemplarisch seien hier genannt: High Society, Reichsmuseum, Amsterdam 2018; Irving Penn. Centen­ nial – Der Jahrhundertfotograf, C/O Berlin 2018; Axel Hütte. Night and Day, Museum Kunstpalast, Düssel­ dorf 2017; Mit anderen Augen. Das Porträt in der zeitgenössischen Fotografie, Kunstmuseum Bonn 2016; Ego Update. Die Zukunft der digitalen Identität, NRW Forum, Düsseldorf 2015 – 2016; 4 Real and True 2. Wim Wenders. Landschaften. Photographien, Museum Kunstpalast, Düsseldorf 2015; Dürer – Cranach – Holbein. Das deutsche Porträt um 1500, HypoKunsthalle, München 2012; Gesichter der Renaissance, BodeMuseum, Berlin 2011.

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Ausblick

sionale Rezeption. Auf Seiten der Künstler ist Jean-Gabriel Domergue,15 ein hoch pro­ duktiver Porträtist des Entre deux Guerres, hervorzuheben. Er studierte unter Jules-­ Joseph Lefevbre und Fernand Humbert, war Preisträger des Grand Prix de Rome, Mitglied der Académie des Beaux-Arts und schließlich Direktor des Musée JacquemartAndré in Paris. In seinen Bildern erscheinen aufreizende Parisiennes in Bars, auf der Galopp­rennbahn oder in Theaterlogen. Sie liefern ein ebenso heiteres wie spöttisches Porträt von der Nachkriegsgesellschaft, von weiblicher Schönheit und Mode.16 Auch wenn Domergue stärker als Boldini und Van Dongen zur Aktmalerei tendierte, lässt er sich geradewegs in der Nachfolge dieser renommierten Pariser Porträtmaler/-innen ver­ orten. Als er 1962 verstarb, hieß es dementsprechend in seinem Nachruf: Il devient rapidement le témoin le plus célèbre de la vie parisienne et surtout de la Parisienne ellemême, et son œuvre est, depuis plus de trente ans déjà, connu dans le monde entier : œuvre faite de grâce, de charme, de légèreté, qui n’exclut pas un style original et résolument moderne.17

Wie so oft bremsten allerdings der hier zitierte Charme und die Leichtigkeit von Domer­ gues Bildern – „On ne peut rester morose devant un Domergue!“18 – eine seriöse Aus­ einander­setzung mit dessen künstlerischem Schaffen.19 Dabei würde es sich lohnen, die Figuren Domergues einer genaueren Betrachtung zu unterziehen und sie z. B. jenen Bol­ dinis, Van Dongens oder Laurencins gegenüberzustellen. Umgekehrt müsste man auch das einschlägige Kunstschaffen in jüngerer Zeit sondieren, um nachzuvollziehen, inwie­ weit Domergue für spätere Künstler/-innen oder auch für die Pin-up-Art eine Vorreiter­ rolle spielte. Ein weiteres Desiderat besteht in der Betrachtung bzw. dem Vergleich von Marie Laurencin und Jacqueline Marval, die hier beide mit mehreren Porträts vertreten waren. Immerhin wurde die Kunst dieser beiden Malerinnen zu deren Lebzeiten als Inbegriff des Art féminin wahrgenommen und immer wieder parallelisiert, namentlich von Apol­ linaire.20 Heute wird eine differenziertere Sichtweise verlangt, und es lässt sich durch­ aus eine Trennlinie zwischen Marval und Laurencin ziehen, Experten zufolge zugunsten der stilistisch abwechslungsreicheren Marval.21 Es wäre deshalb angebracht, dass sich die Kunstwissenschaft unvoreingenommen dem Schaffen Marvals und Laurencins wid­ met und dieses nach den besagten Analogien, aber auch nach Unterschieden befragt. Nur so wird sich nachweisen lassen, ob diese zwei Künstlerinnen zu Unrecht über einen Kamm geschoren wurden. Gesondert zu betrachten wäre im Weiteren das Bildmotiv der Deux Amies, das in der Regel zwei Mädchen oder Frauen in einer Umarmung zeigt. Manchmal auch als

  Zu Domergue vgl. u. a. Soyer 1984.   Anschauliches, nach Themen sortiertes Bildmaterial findet sich ebda., z. B. Les Fêtes, 58 – 65; Les Cafés et les Restaurants, 90 – 95; Les Spectacles, 104 – 108. 17   M. le Comte Doria 1962, 2. 18   Soyer 1984, 14. 19   Eine Auswahl seiner rund 3000 Porträts befindet sich im Besitz der Galerie de Souzy, Place Beauvau, 98 Rue du Faubourg Saint-Honoré, 75008 Paris. Pierre de Souzy hat sich als Sammler und Kunstexperte auf Domergue spezialisiert, vgl. http://www.domergue-paintings.com/ (zuletzt geprüft am 15. 11. 2021). 20   Vgl. Apollinaire: Les Peintresses, in: Le Petit Bleu (05. 04. 1912), zitiert nach Apollinaire 1993, 306. 21   Vgl. Roussier 2015; Roux dit Buisson 2015. 15 16

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Schluss

Schwestern tituliert,22 tauchen diese weiblichen Paarungen im Werk mehrerer Pariser Künstler/-innen auf, darunter Pascin, Foujita, Marval, Laurencin und De Lempicka. Ins­ besondere Letztgenannte rückte dabei die körperliche Beziehung der Deux Amies in den Vordergrund,23 formulierte damit ein klares Bekenntnis zur gleichgeschlechtlichen Liebe. Während von französischer Seite bereits einschlägige Forschungsarbeit geleistet wurde,24 scheint die deutsche Kunstwissenschaft bislang einen Bogen um das Motiv der Deux Amies bzw. „Zwei Freundinnen“25 zu machen. Dabei mangelt es, gerade in der Kunst und Literatur der Goldenen Zwanziger, nicht an entsprechenden Bildbeispielen. Es wäre deshalb ein Versäumnis, würde man die wertvollen Recherchen von Bonnet oder Bard unbeachtet lassen anstatt – auf ihrer Grundlage – diesen Zeitraum näher zu studieren. Zwar passten die Deux Amies aus formalen Gründen nicht in das hier unter­ suchte Bildkorpus; doch die Vermutung liegt nahe, dass auch sie damals einen gewissen Status à la mode genossen – nicht nur im sogenannten „Paris-Lesbos“26, sondern auch in Berlin, Wien und anderswo. Bis hierhin wurden vor allem inhaltliche Punkte aufgezählt, deren wissenschaftliche Aufarbeitung noch aussteht. Doch auch methodisch besteht rund um das Portrait à la mode weiterer Handlungsbedarf. Beispielsweise sollte, wie bereits angedeutet, die wech­ selseitige Beziehung zwischen Malerei, Grafik und Werbung stärker in den Fokus ge­ nommen werden, um zu klären, ob bzw. in welchem Kontext so populäre Figuren­typen wie die Garçonne realer oder fiktionaler Natur waren.27 Gleiches gilt für die enge Verbin­ dung von Bildender Kunst und Mode, die vor allem kurz nach 1900, im Zuge von Orien­ talismus und Kubismus, eintrat. „Les deux valeurs“, erläuterte dazu Gérard-Louis Soyer, „sont tellement imbriquées que nous ne savons plus si c’est: L’Art et la Mode/La Mode et l’Art/La Mode dans l’Art ou/L’Art dans la Mode.“28 Zudem waren diverse Künstler/-innen, auch hier zitierte, neben ihrer Tätigkeit im eigenen Atelier für Modehäuser, Theater oder für die Oper tätig, oder sie arbeiteten selbstständig im Bereich der Kleidermode. Um diese Interdependenzen stichhaltig nachzuweisen, ist ein umfangreiches Studium von Grafiken und Illustrationen aus der Modepresse, von Entwurfszeichnungen und, nicht zuletzt, von originalen, plastischen Modellen vonnöten – gegebenenfalls auch unter Hinzunahme fotografischer Belege. All diese Materialien lagern in zugänglichen Archiven, etwa im Musée Galliera in Paris so­ wie in der Bibliothèque du musée des arts décoratifs. Sie vor Ort zu begutachten, auszule­ sen und zielorientiert auszuwerten sollte als eine Gemeinschaftsleistung von Kunst-, Bild- und Medienwissenschaftler/-innen angestrebt werden.

  Z. B. Laurencin, Les Deux Sœurs au Violoncelle, 1913 – 1914, Musée Marie Laurencin, Tokyo.   Vgl. z. B. De Lempicka, Perspective (Les Deux Amies), 1923, Petit Palais, Genf. 24   Bonnet 2000; dies. 2001; Bard 2001; dies. 2013. 25   Christian Schad, Zwei Freundinnen, 1928, Privatbesitz. 26   Bard 2001, 125. 27  Darauf hingewiesen wurde bereits in dem entsprechenden Kapitel, Von der Garçonne zur Nouvelle Femme, 124 ff. 28   Soyer 1984, 132. 22 23

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Danksagung

Eine Dissertation kann nie das Werk einer Einzelperson sein. Deshalb möchte ich mich bei jenen Menschen und Institutionen bedanken, die mich während dieser arbeitsinten­ siven, aber auch bereichernden Phase begleitet haben. An erster Stelle gilt mein Dank meiner Doktormutter, Frau Professor Andrea von Hülsen-Esch, für ihr Vertrauen in mein Forschungsprojekt sowie für ihre wissenschaftliche und methodische Unterstüt­ zung bei dessen Realisierung. Ebenso danke ich meinem Zweitgutachter, Herrn Pro­ fessor Hans Körner, dessen Rat und Zuspruch mich bis zuletzt in meinem Vorhaben bestärkt haben. Allen Teilnehmer/-innen der von Dr. Corinna Kaiser ins Leben gerufe­ nen, fächerübergreifenden Schreibgruppe danke ich für unseren allwöchentlichen Aus­ tausch; er hat mir über Jahre geholfen, diese Arbeit realistisch zu planen und umzuset­ zen. Im Rahmen des Herbstkurses, organisiert vom Deutschen Forum für Kunstge­ schichte Paris, konnte ich im Vorfeld meiner Dissertation bereits die Forschungspraxis in Frankreich kennen lernen, was mir den späteren Einstieg in die Recherche vor Ort sehr erleichterte. Neben dem DFK möchte ich auch den Pariser Institutionen danken, die mir Zugang zu wichtigem Archivmaterial gewährt haben, wie die Bibliotheque nationale de France, das Institut national de l’histoire de l’art, die Bibliothèque du musée des arts décoratifs, die Bibliothèque Sainte-Geneviève und die Bibliothèque littéraire Jacques Doucet. Da einige der im Folgenden behandelten künstlerischen Positionen erst wenig auf­ gearbeitet sind, war eine Recherche auch abseits der institutionellen Kunstgeschichte zwingend erforderlich. Zu besonderem Dank bin ich in dieser Hinsicht Raphaël Roux dit Buisson sowie Camille Roux dit Buisson verpflichtet, die vor Kurzem das Comité Jacqueline Marval in Paris eröffnet haben. Der persönliche Dialog, ihre Expertise und Kooperationsbereitschaft waren für die Evaluierung des Portrait à la mode von unschätz­ barem Wert. Auch Les Amis de Paul-César Helleu und den Archives Émilie Charmy ver­ danke ich wertvolle Auskünfte und Anregungen. Dafür, dass diese im Jahr 2019 eingereichte Dissertation nun als Buch erscheint, möchte ich den Verlagen De Gruyter und düsseldorf university press danken, ebenso wie der drupa (Messe Düsseldorf GmbH) als bedeutende Preisstifterin. Meiner Familie, insbesondere meinem Vater, und meinen Freund/-innen danke ich für die Durchsicht und Korrektur dieser Arbeit ebenso wie für ihre langjährige Unter­ stützung und Geduld.

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Übersetzungen aus dem Französischen Der Anhang dieser Arbeit enthält Übersetzungen von Texten bzw. Textstellen, die für das zeitgenössische Verständnis von der École de Paris tonangebend waren. Sie wurden ausgewählt, um verschiedene Auffassungen und Definitionen aufzuzeigen, um die teils krassen Gegensätze in der Rezeption der École de Paris exemplarisch zu veranschau­ lichen. Der jeweilige Ausgangstext wurde dabei in Pariser Archiven recherchiert, mög­ lichst nah am Wortlaut des Originals ins Deutsche übertragen und, wo nötig, mit kurzen Erklärungen versehen. Den Anfang machen zwei grundlegende Publikationen von André Warnod, L’État et l’art vivant sowie L’École de Paris, beide aus dem Jahr 1925, worin der Autor klar Partei für den unabhängigen Art vivant und gegen die Ausrichtung des Art officiel ergreift. Während Warnod im ersten der beiden Artikel auf die Versäumnisse des französischen

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Übersetzungen aus dem Französischen

Staates sowie dessen Kunstinstitutionen aufmerksam macht, widmet er sich im zweiten Beitrag vor allem der internationalen Zusammensetzung und dem einzigartigen Cha­ rakter der École de Paris. Dieser Text, der auch den Auftakt zu Warnods Monografie Les Berceaux de la jeune Peinture bildet, liest sich wie ein Bekenntnis zur École de Paris, u. a. weil deren Name hier erstmals großgeschrieben erscheint. Als Nächstes folgt ein gleichnamiger Essay von Charles Fegdal, erschienen 1927 im Rahmen der Essais critiques sur l’Art moderne. Fegdals – teils schwärmerische – Äuße­ rungen präsentieren sich als Bestätigung des zuvor Gesagten: Ebenso wie Warnod be­ tont er den positiven, inspirierenden Einfluss der Stadt Paris; er untermauert die Exis­ tenz und Eigentümlichkeit der École de Paris, die nun nicht nur durch Großschreibung, sondern auch durch Kursivschreibung hervorgehoben wird, und listet zahlreiche ihrer Mitglieder auf. Im Widerspruch zu diesen frühen, positiven Bewertungen stehen die Texte von Waldemar George aus dem Jahr 1931. Dessen zwei Artikel mit der Überschrift École française ou École de Paris? sind als Verteidigung einer nationalen, d. h. rein franzö­ sischen Kunst zu verstehen. Durch die École de Paris – nach Georges Ansicht ein ephe­ meres, künstliches und anarchistisches Gebilde – werde die Kontinuität der École française ernsthaft bedroht. Auch auf sprachlicher Ebene wird anhand dieser Textbeispiele deutlich, dass der Autor in Kunstfragen und darüber hinaus eine konservative, patrio­ tische und ausländerfeindliche Haltung einnimmt.

Der Staat und der art vivant Jede Epoche hat ihre Mäzene. Heutzutage sind diese entweder Kunstliebhaber oder Kunsthändler, bisweilen das eine wie das andere. Es dürfte interessant sein zu untersu­ chen, worin ihre Liebe zu Künstlern und den Schönen Künsten besteht. Zudem gibt es den Staat, von ihm soll zuerst die Rede sein. Die Position, die der Staat den heutigen Malern gegenüber einnimmt, ist recht eigen­artig. Eigentlich ist es seine Aufgabe, die offizielle Kunst zu fördern, die Kunst des Instituts29 und der Ecole des Beaux-Arts, doch es bedürfte einer dreifachen Augen­ binde, um das völlige Scheitern jener Kunst nicht zu bemerken. Ein paar Namen genügen, um diese Wahrheit offen zutage treten zu lassen. In den letzten 50 Jahren kann die offizielle, staatlich anerkannte Kunst höchstens jemanden wie Cabanel oder Cormon den unabhängigen Malern entgegensetzen, den verdammten, den [vom Salon] zurückgewiesenen Malern, als da wären Manet, Renoir, Cézanne, Sisley, Guillaumin, allen Impressionisten, Rodin, Gauguin, Lautrec, Rouault, Bonnard und noch vielen mehr. In jüngerer Vergangenheit haben die letzten Generationen von Rompreisträgern Maler hervorgebracht, die sich zur Villa Medici aufmachten, doch wohl nie von dort zurückkehrten, denn man hörte nie wieder von ihnen. Diese Rompreisträger gehörten aber nun derselben Generation an wie Dunoyer de Segonzac, Derain, Raoul Dufy, Du­ fresne, Vlaminck, L.-A. Moreau, um nur einige der französischen Maler zu nennen, die das Ansehen unserer nationalen Kunst sicherstellen. 29   Gemeint ist, hier und im Folgenden, das Institut de France, dem neben anderen Abteilungen auch die Académie des Beaux-Arts angehört.

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Anhang

Man sollte sich nicht täuschen. Niemand fällt mehr darauf herein. Im Ausland tri­ umphiert die französische Kunst dank der bedeutenden unabhängigen Maler, von denen gerade die Rede war, und deren Werke in sämtlichen Museen der Welt einen Ehrenplatz einnehmen … außer in Frankreich. Das junge Volk, das nach Paris kommt, der unbestrittenen Hauptstadt der Kunst von heute, sucht nicht etwa bei den Malern und Bildhauern des Instituts Rat, sondern bei Matisse, Charles Guérin, Othon Friesz, Bourdelle. Wer könnte es diesen jungen Aus­ ländern verübeln, wenn sie in Frankreich eher das Land von Renoir oder Cézanne sehen als dasjenige von Bouguereau, Bonnat oder Detaille. Indes erweisen sich die Auswirkungen der offiziellen, dem öffentlichen Interesse verpflichteten Kunst als sehr gefährlich und verhängnisvoll. Nicht nur dass sie Künst­ lern, die es verdienten, moralische und materielle Fördermittel entzieht, noch dazu ver­ mittelt sie den Menschen, die ihr Wissen nicht aus zuverlässiger Quelle beziehen kön­ nen, eine falsche Vorstellung von zeitgenössischer Kunst. Was bieten beispielsweise Museen in der Provinz an Bildungsmöglichkeiten? Man würde nicht anders verfahren, hätte man die feste Absicht aufzuzeigen, dass die französische Kunst tot ist, dass sie nicht mehr existiert und dass es Maler im eigentlichen Sinne nur in den vergangenen Jahrhun­ derten gab. Von einigen Ausnahmen abgesehen, trifft man in fast allen Museen der Pro­ vinz auf alte Steine und archäologische Relikte aus der Region, dazu auch auf Samm­ lungen von Schmetterlingen und ausgestopften Tieren, auf Schenkungen irgendwelcher lokaler Honoratioren, die gemeinsam mit diesen Schätzen auch ihren Namen der Nach­ welt hinterlassen, und daneben ein paar interessante Gemälde aus dem 17. und 18. Jahr­ hundert, viele davon ‚zugeschrieben‘ und ‚aus der Schule‘ alter Meister. Die Zusammenstellung ist in der Regel durchaus erfreulich und dazu geeignet, eine zugegeben unvollständige, dabei aber völlig falsche Vorstellung von der Kunst vergange­ ner Zeiten zu vermitteln. Das Kaiserreich und die Romantik sind noch einigermaßen vertreten, doch danach wird es kritisch. Sobald ein Raum mit ‚Moderne‘ beschildert ist, wird es absolut trostlos. Darin sind dann Werke von früheren Rompreisträgern, von Mitgliedern des Instituts, von Medaillenträgern der Artistes Français vereint, die vom Staat aufgekauft wurden. Und damit dieses schöne Gesamtbild keinen Schaden nimmt, haben ein paar örtliche Maler, vielleicht Schullehrer, riesige Schinken gestiftet, die das perfekte Gegenbeispiel zu allem [Kunstschaffen] darstellen. Das also repräsentiert ganz offiziell die moderne Kunst in Frankreich. Kein Wunder, wenn sich die Menschen beim Anblick dieser Scheußlichkeiten dem Vergangenen hin­ geben, der Lust am Morbiden, die unser 19. Jahrhundert auszeichnet! Sobald ein Ge­ mälde in ein Museum eingegangen ist, hat es Heiligenstatus; die Besucher meinen, es sei zu Recht dort, also müsse es interessant sein. Sieht man die Gefahr? Was für Bildungsmöglichkeiten und was für Beispiele findet der Besucher selbst im Musée du Luxembourg vor, das doch lebenden Künstlern vorbehalten sein sollte? Sicher, es gibt einen Raum für Caillebotte, aber darüber hinaus? Man hat ein paar erfreuliche Veränderungen vorgenommen, einige Maler, die es verdienten, bekamen ihren Platz; doch immer noch triumphiert die akademische Kunst, die eintönige, erstarrte Kunst samt ihrer mit Ehrenzeichen und Orden behängten Maler, deren Schaffen so unbedeutend ist, ­ eilen. dass man nicht weiß, ob sie schon tot sind oder noch unter den Lebenden w Dieser Widersinn dauert schon zu viele Jahre an; wir erlauben uns daher die Frage: Wird dieser Zustand noch lange anhalten?

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Übersetzungen aus dem Französischen

Und wir stellen weitere Fragen … An der Spitze der für Kunst zuständigen Stellen stehen viele sehr kompetente, mit Weitblick gesegnete Persönlichkeiten, die zudem genau wissen, wo die wahre Kunst zu  finden ist. Was hindert sie also daran, ihren Vorlieben entsprechend zu handeln? Wer  zwingt sie, Aufträge an schlechte Maler zu vergeben und schlechte Bilder zu erwer­ ben? In Grenoble, Straßburg, Nantes, etc. ist es inzwischen einigen jungen Kustoden ge­ lungen, Werke zusammenzuführen, die für die Kunst der Gegenwart charakteristisch sind. Wurden sie dazu ermutigt, hat man sie gebührend belohnt? Ist es nicht sonderbar, dass M. Ajalbert, um Arbeiten von Raoul Dufy und Paul Véra in Auftrag zu geben, ein Umfrageergebnis geltend machen musste als Beweis für seinen guten Kunstgeschmack? Welch verborgene Macht verleiht der akademischen Kunst den Vorrang  – einer Kunst, die in keiner Weise mehr das heutige Kunstschaffen repräsentiert, die all dem ent­ gegensteht, was das Lebendige der französischen Kunst ausmacht, all dem, was die école de Paris auch weiterhin zur Führenden in der Welt macht. Dafür müssten allerdings präzise Maßnahmen getroffen werden. Die Exposition des Arts décoratifs steht vor der Tür, klägliche Postwertzeichen kün­ deten sie an – und jetzt auf einmal, nach seinem anmaßenden Wunsch, den Grand Palais in Beschlag zu nehmen, sucht der Salon der Artistes Français nun eine Örtlichkeit am Eingang zur Ausstellung; er möchte sich so der Illusion hingeben, er vertrete 1925 offi­ ziell die französische Malerei. Wir hegen die Erwartung, dass dieser Skandal vermieden werden kann. In der Tat macht es Sinn, dass die Malerei in der Ausstellung zugegen ist, doch müs­ sen dann alle Salons vertreten sein, sowohl der Salon des Indépendants, der Herbstsalon wie auch der Salon des Tuileries. Diese Gegenüberstellung wäre hervorragend; dabei würde jeder einzelne [Salon] gerecht beurteilt werden. Wenn man den Salon des Tuileries allerdings ausschließlich den ‚Artistes Français‘ überlässt, wenn nur sie am Eingang zur Ausstellung die französische Malerei repräsen­ tieren, dann wäre das nach unserem Dafürhalten skandalöser Widersinn. Der Staat als Mäzen muss den Mut aufbringen, sich seiner Verantwortung zu stellen. Es kann nicht sein, dass von sämtlichen offiziellen Begünstigungen weiterhin nur die­ jenigen profitieren, deren Werk einen unerträglichen Hemmschuh bildet, und dies zum Nachteil der Künstler, die durch ihre Arbeit den Ruhm der französischen Kunst im hells­ ten Lichte erstrahlen lassen. Es ist Aufgabe des Staates, die offizielle Kunst zu fördern, einverstanden. Jedoch möge man dann die offizielle Kunst mit Leben erfüllen.30

Die École de Paris Es gibt sie tatsächlich, die École de Paris. Besser als wir werden später Historiker ihren Charakter bestimmen und die Aspekte, die sie ausmachen, untersuchen können, doch zumindest können wir schon die Tatsache ihrer Existenz und die Anziehungskraft beto­ nen, die Künstler aus der ganzen Welt zu uns kommen lässt. Sehr viele Gründe, die nichts mit den Schönen Künsten zu tun haben, bewirken, dass Montparnasse von Män­   Warnod: L’État et l’art vivant, in: Comœdia 19 (4396) (04. 01. 1925), 1.

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nern und Frauen aller Nationalitäten bevölkert wird, diejenigen nicht mitgerechnet, die sich über ihre Motivation nicht unbedingt im Klaren sind. Doch mehr als alles andere hat die Liebe zur Kunst diese Leute nach Paris streben lassen. Es ist durchaus sinnvoll, genauer auf diesen Punkt einzugehen, um den griesgrämi­ gen Geistern kontra zu geben, die in Montparnasse nur eher unsympathische, streitsüch­ tige, vermessene Leute sehen, die mit Ramsch handeln und in allen denkbaren Dialekten palavern, die dort, wo sie ihren Milchkaffee trinken, ein Ghetto, ein Viertel von Dieben und Bettlern entstehen lassen. Kann man den Künstler, für den Paris das Gelobte Land, das gesegnete Land der Maler und Bildhauer darstellt, als unerwünscht betrachten? Es sind stichhaltige Gründe, die sie hierherlocken. Unsere Museen sind zu Recht be­ rühmt, aber mehr noch als unsere Reichtümer in der Kunst wollen diese Künstler das Land kennen lernen, in dem unsere großen Maler gelebt haben, [wollen sie] die Luft ­atmen, die diese geatmet haben, wollen auch sie sich von den Perspektiven, der Schön­ heit und Regelmäßigkeit ergreifen lassen, das milde Klima, das Licht in sich aufnehmen, letztlich das Glück des Daseins erfahren und jene Freiheit genießen, ohne die die Kunst sich nicht zu entfalten vermag. Darf man ihnen zum Vorwurf machen, kaum etwas anderes im Gepäck mit sich zu führen als den Willen, ihre Kunst durch das zu bereichern, was sie hier bei uns vorfin­ den? Wenn schon nichts anderes, so erzeugen sie auf jeden Fall eine fruchtbare Unrast. Man darf sich nie auf seinen Lorbeeren ausruhen. Zudem finden sich unter ihnen große Künstler, schöpferische Künstler, die mehr geben als sie nehmen. Sie bezahlen für die anderen, die Mitläufer, die Nachahmer, die Trödler, während andere bescheiden bleiben, sich mit dem Studium der Schönen Künste in Frankreich begnügen und dann wieder in ihre Heimat zurückkehren, um dort die eben erworbenen Fertigkeiten nutzbringend an­ zuwenden. Auf diese redliche Weise fördern sie die herausragende Rolle der französi­ schen Kunst in der Welt. Es ist im Übrigen sehr schwierig zu präzisieren, was die Ausländer von uns und wir von ihnen übernehmen. Fest steht jedenfalls, dass Paris derzeit ein äußerst geschäftiges Zentrum der Kunst bildet, und dass in diesem Zusammenhang die Franzosen vergange­ ner Zeiten und auch der Gegenwart am besten platziert sind. Die heutige französische Kunst ist von erstaunlichem Reichtum. Welchen moralischen und selbst materiellen Nutzen würde Frankreich aus dieser Vormachtstellung ziehen, würde es ganz offiziell über die Kunst in allen Ländern dieser Erde herrschen! Leider gilt die weltweite An­ erkennung denen, die der Staat mit Argwohn beobachtet. Die Trennung von Staat und Kirche ist eine Tatsache. Im Institut herrscht Leere, der Unterricht in der École des Be­ aux-Arts lässt keine Hoffnung aufkeimen, während anderswo lebhafte Aktivität herrscht. Die Kirchen sind menschenleer, aber der Gottesdienst wird in der freien Natur und des­ halb nicht weniger würdig zelebriert. Wie bewunderungswürdig sind die Hirten, die den Gläubigen den Weg zur Wahr­ heit weisen! Auf die Generation der Impressionisten, Monet, Sisley, Guillaumin, Renoir und Cézanne, und Manet, und Degas, und Gauguin, und Lautrec, und Rodin, all derer letzten Endes, die an die Tradition unserer großen alten Meister von einst angeknüpft haben, folgte eine andere, die gleichsam erfolgreich wirkte. Die meisten dieser Maler be­ gegneten sich in einer Werkstatt der École31, dem Atelier von Gustave Moreau. Dort   Gemeint ist die École des Beaux-Arts, an der Moreau 1891 – 1898 eine Professur für Malerei innehatte.

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Übersetzungen aus dem Französischen

fanden sich Marquet, Charles Guérin, Rouault, Matisse, Desvallières, Maurice Denis, Manguin, Flandrin ein. Ihnen sind Signac, Laprade, Bonnard, Bourdelle, Maillol, De­ spiau, Dufrenoy, Othon Friesz, Roussel, Vallotton, Vuillard, d’Espagnat und auch Forain hinzuzufügen, auf die Gefahr hin, dass ihm das missfällt. Diese Generation brachte die Lehrer hervor, deren Ratschläge bei jungen Künstlern in allen Ländern Gehör fanden. Matisse, Bourdelle, Charles Guérin können stolz sein: Ihnen ist es zu verdanken, dass die französische Kunst auf der ganzen Welt geliebt wird. Doch darf man nicht annehmen, dass das Wirken unserer Lehrmeister einzig und allein Schülern aus fremden Ländern zugutekäme. Im Atelier von Othon Friesz beispielsweise treffen sich junge Einheimische, mit denen zu rechnen ist und die fernab der Rue Bona­ parte den zukünftigen Weg bereiten. Und dies sind nun die Künstler an vorderster Front, mitten in ihrem Werdegang, Künstler, die den aktuellsten Stand der Kunst repräsentieren, jemand wie Segonzac, ­Derain, Dufy, Luc-Albert Moreau, Utrillo, Vlaminck, Dufresne, Asselin, André Lhote, Braque, Metzinger, La Fresnaye, Boussingault, Lotiron, Marchand, Daragnès, Léopold Lévy, Kayser, Vergé-Sarrat, Gus Bofa, Chas Laborde, Laboureur, Grommaire, Favory, Heuzé, Mainssieux, Fraye, Puy, Bouche. Wir führen [nur] einige von vielen Namen an, die alle ihre Persönlichkeit und ihre Eigenart zu bewahren wissen; man müsste wohl noch viele andere anführen. Doch neben diesen französischen Künstlern finden sich Ausländer, die im selben Sinne schöpferisch tätig sind, [die] ihre künstlerische Ausbildung in Frankreich erhiel­ ten und so ganz eindeutig die Existenz der École de Paris bestätigen, neben denen, die nur kurzzeitig, allein aus einer Gefühlslage heraus, präsent sind. Man kennt sehr wohl den Anteil, der in der zeitgenössischen Kunst einem Picasso zukommt. So sehen wir die École de Paris, deren Künstlern eine erstaunliche Vitalität gemein ist. Könnte man alle von uns angeführten Künstler in einer Lehranstalt versammeln, so wäre dies sicherlich kein dem Spott ausgesetztes Institut mehr, und seine Urteile wären von eben solcher Bedeutung wie jene der ehemaligen Königlichen Akademie für Male­ rei32. Was solls! Jede Schule hat ihren eigenen Charakter. Ein Ruhmesblatt der École de Paris beruht vielleicht gerade auf der Tatsache, dass sie sich im Kampf entwickelt und dabei ihre absolute Unabhängigkeit, ihre absolute Freiheit bewahrt hat. Diese geballte Vitalität, die der École de Paris, dem zeitgenössischen ‚art vivant‘ ihre Bedeutung verleiht, tritt zu Beginn dieses Jahrhunderts an die Öffentlichkeit. Zwei Örtlichkeiten in Paris waren die Zentren, von denen alle Energie ausstrahlte: Montmartre und Montparnasse. Dort steht die Wiege der jungen Malerei. Daher werden wir, wenn wir nun von den prägnantesten Malern unserer Zeit sprechen, das Umfeld wachrufen, in dem sich ihre Kunst entwickelte.33

  Gemeint ist die Académie royale de Peinture et de Sculpture.   Warnod: L’École de Paris, in: Comœdia 19 (4419) (27. 01. 1925), 1. Ebenfalls erschienen in ders.: Les Ber­ ceaux de la jeune Peinture, Avant-Propos, 7 – 11. 32 33

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Anhang

Die Ecole de Paris Schon seit einer Weile, und derzeit immer mehr, bezeichnet man mit Ecole de Paris die unabhängigen Künstler, die aus aller Welt hierhergekommen sind, um die französische Kunst zu studieren. Sie bringen ihre Eigentümlichkeiten zu uns, ihre mehr oder minder neuartigen Vor­ stellungen, ihre kühnen technischen und ästhetischen Mittel, ihre zaghaften oder exzes­ siven Geister. Nach und nach übt die Stadt ihren großen, unabwendbaren und wundervollen Ein­ fluss auf sie aus. Die leichten Gefilde und die zarte Atmosphäre, der von klarer Schönheit markierte Aufbau der Pariser Landschaft, die edle Grazie und die gefällige Pracht der Denkmäler, die dezente Eleganz und das flüchtige Lächeln der Frauen, zwischen den Menschen herrscht eine Freundlichkeit ohne Schmeichelei, eine scherzhafte Heiterkeit ohne Boshaftigkeit  – all das, gleich was sie davon haben, dringt unwillkürlich in den Geist und das Herz derer ein, die unter uns weilen. Sie sind kaum angekommen, da wollen sie dieses ‚Zentrum der Welt‘, diesen Mont­ parnasse erkunden, über den man in ihren entfernten Landstrichen so viel spricht; sie wollen an den Diskussionen teilhaben, die Theorien hören, sich unter das Künstlervolk mischen, die unzähligen Ausstellungen besichtigen, vor den Reichtümern des Louvre sinnieren … Bald schon sind die Begabtesten von der harmonischen Ausgewogenheit gerührt, die in allen Teilen der Stadt herrscht. Sie werden gewahr, welchen köstlichen Rhythmus, welches musikalische Maß wir unseren Worten, unseren Gedanken, unserem Urteil, unserer Kunst zugrunde legen. Diese französische Kunst, der sie aus freien Stücken ihren Eifer und ihren fieberhaften Glauben darbringen, wirkt ausgleichend, sie korrigiert, elimi­niert, glättet; – sie erschafft am Ende diese ausländischen Künstler, die bei uns die Freunde ihrer Wahl, Gleichgesinnte mit einem freien Willen fanden, und die gemein­ sam, ohne sich je darauf geeinigt zu haben, die Ecole de Paris bildeten. Von Tag zu Tag wird der Einfluss der Ecole de Paris größer; und jenen, die die ‚Stars‘ von gestern oder heute sind, bewundernswerte Größen unseres Landes, [denen] bringt jeder Tag, der vergeht, die sichere Nachricht ihrer Einbürgerung. Philippe de Champaigne war in Brüssel geboren. Sisley war Engländer und Mary Cassatt Amerikanerin. Pissarro ist auf den dänischen Antillen geboren worden, als Sohn einer Kreolin und eines israelitischen Portugiesen. Félicien Rops war Belgier, Félix Val­ lotton war Schweizer … Picasso, einer der ersten Kubisten, stammt aus Spanien; Van Dongen, der mit zyni­ schem Blick die großen Frauen mit kleiner Moral malt, stammt aus Holland; der aus Asien stammende Foujita gestaltet die französische malerische Stimmung nach japani­ scher Art, beziehungsweise französiert seine analytische japanische Sinnlichkeit … Die Liste wäre lang. Heute zählt die Ecole de Paris zahlreiche angesehene Persönlich­ keiten. Russen, wie die Bildhauer Chana Orloff und Zadkine, wie die Maler Soutine, ­Kikoïne, Krémègne, Chagall, wie den Holzschneider Lebedeff. Polen, wie den berühm­ ten Kisling, wie den geschätzten Kubisten Marcoussis, wie Mme Lewitska, Mela Muter, Mme Halicka und Mondzain. In Montparnasse bilden die amerikanischen Künstler mit Friesecke, Thorndike und Nutting eine wichtige Gruppe, aus welcher der subtile und sinnliche Pascin herausragt. Da wären die Skandinavier, die auf Jorgensen, Isaac Grüne­

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Übersetzungen aus dem Französischen

wald, Ekegardh und Per Krogh stolz sein können. Da wären die Schweizer mit Bosshard, Grimmi, Fornerod, Darel. Die Belgier mit Allard l’Olivier, Gilsoul, Cosyns, Kvapil, Van Guidertael, Van Rysselberghe et Frans Masereel … Die Spanier mit den Bildhauern ­Mateo Hernandez, Gargallo und José Clara, mit den Malern Sert, Juan Gris, Ortiz de Zarate, Zubiaurre, Beltran y Mases. Die Italiener mit Chrico … Die Portugiesen mit Francis Smith … Die Ungarn mit dem Zeichner Vertès … Die Mexikaner mit Angel Zarraga … Da wären die Holländer, die Tschechoslowaken, die Deutschen, die Rumä­ nen, die Japaner, gewiss noch andere Vertreter der unterschiedlichsten Nationalitäten. Tatsächlich gibt es die Ecole de Paris seit langer Zeit, ohne dass sie namentlich exis­ tiert hätte. Sie wurde gegründet, benannt, klassifiziert. Ihre ‚Stars‘ dienen zweifelsohne dem Ruhm ihres jeweiligen Heimatlandes, in Frankreich, ….; und Paris kann sie schließ­ lich als die Seinen beanspruchen. Die Maler der Ecole de Paris sind des Öfteren wahre Kunstschaffende, sie haben eine eigene Persönlichkeit und Originalität. Wenn sie nicht abstreiten, von unserem Land beein­flusst worden zu sein, – von David bis Degas, über Delacroix, Courbet, Corot, die Impressionisten, von Cézanne bis Segonzac, über Matisse, Bonnard, Vuillard und Mar­ quet, über Gleizes, Lhote und Gromaire, über Derain, Luc-Albert Moreau, Waroquier, Vlaminck, Alix und Favory – beweisen sie damit, dass diese Einflüsse, sobald sie durch jeden Einzelnen von ihnen ‚gemäß der Rasse, des ethnischen Erbes‘ angeglichen und ab­ gewandelt wurden, der Kunst von heute ihren Reiz und ihr neues Gepräge geben, ihre jugendliche Kühnheit und ihr glühendes Leben.34

École française oder École de Paris I? Die École de Paris ist ein Neologismus, ein neues Zugeständnis. Dieser Begriff, der auf dem weltweiten Kunstmarkt triumphiert, lässt bewusst und vorsätzlich den Begriff: École Française verschwinden. Er setzt eine Erweiterung und eine Bereicherung auf dem nationalen Gebiet der französischen Malerei voraus. Er bezieht den Beitrag des Auslands nicht bloß mit ein, sondern er bekräftigt ihn, er spricht ihm eine entscheidende Rolle zu. Das ist letztendlich ein subtiler und recht scheinheiliger Beleg für die frankophobe Ge­ sinnung. Unter École de Paris versteht man die künstlerische Bewegung, die die in Paris ansässigen Ausländer genauso einschließt wie die gebürtigen, einheimischen Franzosen. Diese Bewegung, deren vorrangiges Ziel es ist, die Grenzen der École Française zu er­ weitern, indem sie einfach jedem beliebigen Künstler zugesteht, aus seiner selbst be­ stimmten französischen Staatszugehörigkeit Profit zu schlagen, [diese Bewegung] ist geschichtlich zweifellos ein Einzelfall. Es gibt keinerlei legitime Abkunft. Sie beruft sich auf die französische Tradition. Doch in Wirklichkeit macht sie reinen Tisch mit ihr. (Ihre Vorkämpfer glaubten daran, dass eine Bluttransfusion für die französische Malerei von Vorteil wäre). Die École de Paris ist ein Repertoire, für jedermann leicht zugänglich und übertragbar. Es handelt sich nicht um einen Schmelztiegel, der eine lebendige und orga­ nische Sprache ausbildet. Es ist eine Sprache, die von A bis Z, z. B. aus dem Volapuk oder dem Esperanto, künstlich zusammengesetzt wurde. Die École de Paris verfügt weder über eine Staatszugehörigkeit noch über Ausweispapiere. Sie entwickelt sich der Reihe 34   Fegdal: Essais critiques sur l’Art moderne. Sur la Peinture, sur d’autres Arts, Critiques d’Art, Ensembles d’Art. Paris: Stock 1927, 63 – 68.

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nach, aus Van Gogh, Gauguin, Lautrec und Modigliani. Noch höher hinaus oder weiter kann sie nicht gehen. Sie drückt einen allgemeinen Nervenzustand aus und kreiert einen Trend. Sie ist außer Stande, Gradmesser einer Kultur zu sein. Sie repräsentiert ein Zeit­ phänomen ohne Substanz, ohne historische Tragweite. Macht die zentrifugale Bewegung der École de Paris Propaganda für Frankreich? Im Gegenteil, es scheint, dass sie von ihrem Mittelpunkt wegstrebt, dass sie geneigt ist, ihren Gravitationspunkt zu verlieren. Frankreich verbreitet eine Kunst, über die es keine Kon­ trolle ausübt. Der Erfolg dieser Kunst strahlt zurück auf Frankreich, das der ganzen Welt als ein einflussreiches und glanzvolles Zentrum erscheint. Aber ist Frankreich nicht um seiner selbst willen dazu verpflichtet, diejenigen Werke, die seinem Genie widerstreben, abzulehnen? „Ein kartellpolitisches Kabinett“, hieß es, „ist nicht ein Kabinett, dessen Minister Kartellmitglieder sind. Es ist ein Kabinett, das Kartellpolitik betreibt.“ Schreiben wir diese schlaue Formulierung um. Die École Française ist nicht eine Schule, die ausschließ­ lich aus Franzosen besteht (sie sollte es vorzugsweise sein). Sie ist eine Schule, die franzö­ sische Malerei betreibt. […] Überspringen wir die Epochen. Der Impressionismus, die Verherrlichung der Sin­ neseindrücke, ist keine Schule, die in allen Aspekten der Tradition der französischen Kunst entspricht. Schließlich machten Pissarro, der aus Dänisch-Westindien stammt, und der Englän­ der Alfred Sisley aus dem impressionistischen Stil, diesem Importgut aus Flandern, ­einen Gallizismus und verwandelten ihn, gleicherweise wie der Normanne Monet, in eine eigene französische Bildsprache, eine optimistische Sichtweise, eine Poesie der Landschaft. Im 20. Jahrhundert verfälschten Franzosen vom alten Schlag die Kunst Frankreichs. Die Ursachen für diesen Umstand sind sehr komplex. Frankreich ist nicht einfach nur eine Nation, ein Staat, eine ethnische und politische Zustimmung. Frankreich ist ein Geisteszustand. Es repräsentiert eine bestehende geis­ tige und intellektuelle Ordnung. Die französische Kunst heißt jeden willkommen und nimmt jeden auf, der sich an seine Sinnesart anpasst. Ähnlich wie die katholische Kir­ che, bewahrt sie die Einheit in der Vielfalt. Aber dieser Umstand lässt Frankreich seine Botschaft nur dann erfüllen, wenn es sich selbst treu bleibt, wenn es die neuen Anhänger, die aus seinen Quellen schöpfen, adoptiert, einbürgert, um seine Originalität und sein Gepräge nicht preiszugeben. Frankreich wird der Welt weiterhin ein großes Vorbild sein, unter der Bedingung, dass es das Gesetz seiner Kontinuität mit allen Mitteln verteidigt. […] Bis hierher hat Frankreich die Gefahren der Ansteckung, der Kreuzung immer er­ duldet. Ist es denn notwendig, dass es dieses unterdrückerische System weiterführt? Wenn das im Zerfallen begriffene Kaiserreich nicht weiterleben kann, ohne sein Zent­ rum zu versetzen, dann ist es die französische Malerei nicht wert. Es ist an der Zeit, dass Frankreich sich prüft, zu seinem Ursprung zurückkehrt, und in seinem nationalen Erbe das erste Mittel zu seiner Rettung erkennt. Die École de Paris ist ein Kartenhaus, errichtet in Montparnasse. Es ist eine frucht­ lose Bewegung. Die École de Paris, dieses formlose Gemisch, wird verklärt. Sie zeigt keinerlei Entwicklung. Sie wird von der Idee des Fortschritts beherrscht. Sie lässt das Evolutionsgesetz, das das Leben der Völker und der Menschen bestimmt, ganz außer

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Übersetzungen aus dem Französischen

Acht. Wenn die École de Paris der Machtlosigkeit anheimfällt, dann weil sie keine feste Abstammung und keine Stabilität, keine Disziplin und keine Prinzipien in sich trägt. Der Internationalismus der École de Paris kann Schule machen. Das ist keine Frage der Universalität. Die Ideologie der École de Paris richtet sich gegen die École de France, die nach dem dynastischen Prinzip von der Einheit im Verlauf der Zeit waltet. Die École Française hat die Dynamik der Kunstentwicklung, der Kulturgeschichte niemals verkannt. Doch sie misstraut wohl der Idee des Fortschreitens. Aber ist dieses Misstrauen für ein Land, in dem seit jeher die Perfektion keimt, nicht natürlich? Der Begriff der französischen Malerei muss breiter gefasst werden. Emile Mâle hat die Idee einer französischen Gotik begründet. Die Geschichte der französischen Malerei wartet noch auf ihren Mâle. Man muss die Ideen, auf denen die Untersuchung der französischen Malerei grün­ det, noch einmal sichten, sie prüfen und überarbeiten. In der gewaltigen Mehrheit der Fälle führt diese Untersuchung nur zu Missverständnissen.35

École française oder École de Paris II? Seien wir ehrlich. Die große französische Kunst ist nicht nach dem Geschmack unserer Zeitgenossen, die meinen, in ihrer Entwicklung eine Abfolge von Langeweile und Frivo­ lität zu erkennen. Sie ist nicht populär. Die Kunstliebhaber verlangen von Paul Cézanne, von Gauguin, von Lautrec keine Lektion über den französischen Esprit. Die Kunst des XVII. Jahrhunderts steht in dem Ruf, eine rationalistische, vom Akademismus gefärbte, Kunst zu sein. Die Kunst des XVIII. Jahrhunderts ist für die Allgemeinheit ein Symbol der Grazie, des anzüglichen und pikanten Humors, der Verlockung und der franzö­ sischen Sittenlosigkeit. Nun sind diese beiden Auffassungen gleichermaßen falsch, glei­ chermaßen absurd. Sie stimmen genauso wenig mit der Realität überein, wie der Glaube, dass Frankreich der exakte Schnittpunkt wäre, an dem der Norden und der Süden, die Flämische Schule und die Italienische Schule zusammenlaufen. […] Wenn ich die École de Paris der École de France, dieser großen französischen Kons­ tante, gegenüberstelle, dann nicht mit der Absicht, das Anliegen der modernen Kunst bloßzustellen. Es gibt keinen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kontinu­ ierlichen Weg. Ein Mensch mit Kultur muss das Prinzip ihrer Einheit verstehen und an­ erkennen. Aber schlicht und einfach zur Vergangenheit zurückzukehren, oder wenigs­ tens zu einer der Vergangenheit entsprechenden Form, ist auf dem Gebiet der Kunst genauso unmöglich wie auf dem Gebiet der Literatur. Derartige Versuche sind stets ge­ scheitert. Die Manier des Altertums zu imitieren, ist wider die Natur des Menschen. Wir halten nicht Gericht über die aktuelle Kunst, die Kunst von heute, sondern über die mo­ derne Idee und Gesinnung, welche insofern antifranzösisch sind, da sie der unabänder­ lichen französischen Kunst und Ordnung widersprechen. Die École de Paris mit ihrem langen Gefolge aus primitiven Vorurteilen, Bräuchen, Konfessionen und Aberglaube, mit ihrer legendenhaften unabhängigen Kunst[,] mit ­ihrer Tradition einer verlebten Boheme, einer fingierten Anarchie, eines Non-Konfor­   George: École française ou École de Paris I, in: Formes 16 (Juni 1931), 92 f.

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mismus, eines falschen Heldentums und einer ständigen Revolution, entfernt sich, trotz des gefälligen Scheins, von den Hauptwegen des französischen Geistes. Lasst uns dem künstlichen Aufschwung der École de Paris, dieser Eintagsfliege, die­ ser Sternschnuppe, ein Ende setzen, und auf diesen Vorrechten die École de France wie­ deraufbauen, das Symbol für Beständigkeit!36

Bildnachweise 1 © Pinacoteca di Brera, Milano; 2 © Les Amis de Paul-César Helleu; 3 © Private Col­ lection/Bridgeman Images; 4 © Bayonne, musée Bonnat-Helleu / cliché: A. Vaquero; 5 © Les Amis de Paul-César Helleu; 6 © Rome, National Gallery of Modern and Con­ temporary Art. By permission of Ministero dei Beni delle Attività Culturali e del Tu­ rismo; 7 © bpk / The Metropolitan Museum of Art; 8 Photo courtesy of M. S. Rau, New Orleans; 9 © Fine Art Images / Heritage Images; 10 © bpk / RMN  – Grand Palais; 11 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; aus: Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013, Cat. 20; 12 © Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne, Photo : Musée cantonal des BeauxArts de Lausanne / Nora Rupp; 13 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; aus: Bertoli (Hg.) 2007, Cat. 14 – 05; 14 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; aus: Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013, Cat. 1; 15 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; aus: ebda., Cat. 30; 16 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; aus: ebda., Cat. 21; 17 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; aus: Bertoli (Hg.) 2007, Cat. 14 – 11; 18 National Museum of Women in the Arts; Photo by Lee Stalsworth; 19 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; aus: Marie Laurencin, Ausst.-Kat. 2013, Cat. 40; 20 © Fine Art Images / Heritage Images; 21 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; Photo : @stu­ diogibert; 22 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; aus: Émilie Charmy, 1878 – 1974, Ausst.-Kat. 2008, Cat. 69; 23 und Cover (Ausschnitt) Collection Fonds de Dotation Mendjisky-Eco­ les de Paris; 24 © Musée National d’Art Moderne, Centre Pompidou, Paris, France / Brid­ geman Images; VG Bild-Kunst, Bonn 2022; 25 © bpk / RMN – Grand Palais / Hervé Le­ wandowski; VG Bild-Kunst, Bonn 2022; 26 Courtesy Comité Jacqueline Marval, Paris; 27 Courtesy Crane Kalman, London; 28 Crédits photogra­phiques: Ville de Greno­ ble / Musée de Grenoble – J. L. Lacroix; 29 © Ohara Museum of Art, Kurashiki; 30 © akgimages /André Held; VG Bild-Kunst, Bonn 2022; 31 – 32 ­Courtesy Comité Jacqueline Marval, Paris; 33 – 35 Smithsonian American Art Museum, Washing­ton D. C.; 36 © akgimages; VG Bild-Kunst, Bonn 2022; 37 © Saint Louis Art Museum; 38 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; aus: Tamara de Lempicka, Ausst.-Kat. 2006, S. 141.

  Ders.: École française ou École de Paris II, in: Formes 17 (September 1931), 110 f.

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Personenregister Die durch Fettdruck hervorgehobenen Seitenzahlen verweisen jeweils auf die Bespre­ chung eines der im Buch gezeigten Werke.

A

Alvin, Jasmy  181, 182 ff., 187, 218 f., 221, Abb. 24 Apollinaire, Guillaume  9, 25, 39, 47, 96, 150 f., 168, 170 f., 188, 191 f., 233 Azénor, Hélène  114

B

Bailly, Alice  27, 148, 151, 157, 159 ff., 163 ff., 167 f., 179, 209, 222, Abb. 12, Abb. 18 Bailly, Louisa  151, Abb. 12 Bakst, Léon  77 Barnes, Albert C.  68 Baudelaire, Charles  8, 12, 25, 99, 103, 106 ff., 116 f., 131, 203, 209, 221, 228 Boldini, Giovanni  129, 132 ff., 139 ff., 145 f., 152, 158, 163, 170, 182, 184 ff., 197 ff., 204, 209, 216, 220 ff., 232 f., Abb. 1, Abb. 3, Abb. 6, Abb. 8, Abb. 9, Abb. 10 Bonheur, Rosa  72, 90, 93 f., 97, 102 Bonnard, Pierre  24, 41, 79, 261, 265, 267 Brancusi, Constantin  24, 38, 45 Braque, George  24, 30, 41, 49, 61, 148, 151, 223, 265 Brassaï, geb. Gyula Halász  52, 104, 179, 181 Brooks, Romaine  72, 105, 114 f., 198, 199 f., 201 ff., 214, 223 f., 232, Abb. 33, Abb. 34, Abb. 35

C

Carolus-Duran, geb. Charles-Auguste-Émile Du­ rand  131 f., 137, 146, 216, 221 Casati, Luisa  136, 142 f., Abb. 6 Cézanne, Paul  27 f., 34, 41 f., 61, 128, 170, 261 f., 264, 267, 269 Chagall, Marc  9, 20, 24, 29, 31, 34, 41, 45, 49, 57, 61, 64, 226, 266 Chanel, Gabrielle  78, 81, 105, 144, 180, 186 ff., 193, 197, 227, Abb. 25 Charmy, Émilie  15, 51, 162, 168, 174 ff., 209, 212, 219 f., 223 f., 232, Abb. 21, Abb. 22 Clifford Barney, Natalie  72, 99, 114 f., 204 Cocteau, Jean  25, 113, 199 f., Concha de Ossa, Emiliana  132 ff., 137 f., 140, 149, 221, Abb. 1, Abb. 3

Crotti, Jean  27, 130, 148, 152 ff., 158, 159 ff., 170, 185, 198, 222, Abb. 13, Abb. 17

D

De Acosta Lydig, Rita  139, 143, 146, Abb. 8 De Chirico, Giorgio  24, 49 Degas, Edgar  27, 38, 101, 131, 150, 264, 267 De la Salle, Herzogin, eigentl. Marika de la Salle de Rochemaure  205 ff., 214, 222, Abb. 36 Delaunay, Robert  24, 47, 64, 148, 172 Delaunay, Sonia  24, 172 De Lempicka, Tamara  9, 27, 99, 111, 114, 123, 147, 198, 205 ff., 209 ff., 223 f., 234, Abb. 36, Abb. 38 De Mérode, Cléo  139 ff., 145, 182, 186, 217, Abb. 9 De Montesquiou, Robert  139, 145 f., 199, 201, 203 f., 220, 223, Abb. 10 De Montparnasse, Kiki, geb. Alice Prin  46, 53, 179, 180 ff., 186, 198, 221, Abb. 23, Einband­ abbildung De Segonzac, Dunoyer  20, 261, 265, 267 De Toulouse-Lautrec, Henri  27, 38, 185, 261, 264, 268 f. De Vilmorin, Louise  74 Diaghilew, Serge  77, 227 Domergue, Jean-Gabriel  83 f., 147, 233 Duncan, Isadora  75 ff., 227

F

Foujita, Léonard Tsuguharu  24, 182, 234, 266 Fuller, Loïe  75 ff., 227

G

Gauguin, Paul  27, 42, 261, 264, 268 f. Gautreau, Madame Pierre, geb. Virginie Avegno   137 f., Abb. 7 Gleizes, Albert  47, 150, 267 Gluckstein, Hannah  201 f., Abb. 34 Gris, Juan  24, 38, 41, 49 f., 267 Groult, Madame André, geb. Nicole P ­ oiret  155 ff., 161, 165, 217, 231, Abb. 15 Guillaume, Paul  49, 59

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Anhang

H

Halicka, Alice  15, 51, 172 f. Hébuterne, Jeanne  168 ff., 178 f., Abb. 20 Helleu, Alice, geb. Guérin  134 ff., 147, Abb. 4 Helleu, Paul-César  132 ff., 143 ff., 155, 174, 185, 199, 232, Abb. 2, Abb. 4, Abb. 5

I

Ingres, Jean-Auguste-Dominique  27, 137, 209, 224

J

Jéglot, Cécile  14, 83, 122, 227

K

Kahnweiler, Daniel-Henry  25, 39, 41, 48 f., 148 Kandinsky, Wassily  26, 64 Kisling, Moïse  24, 46, 55, 182, 266

L

Laurencin, Marie  9, 27, 51, 59, 99 f., 114 f., 148, 150 ff., 155 ff., 163 ff., 176, 179 f., 185, 186 ff., 197 f., 206, 209, 212 f., 217, 222 ff., 232 ff., Abb. 11, Abb. 14, Abb. 15, Abb. 16, Abb. 19, Abb. 25 Léger, Fernand  24, 30, 41, 49, 61, 64 Lhote, André  20, 265, 267 Lipchitz, Jacques  31, 45, 49 Lombroso, Gina  73 f., 86, 227

M

Manet, Éduard  12 f., 38, 131 f., 137, 149, 221, 261, 264 Man Ray, geb. Emmanuel R ­ adnitzky  181 f. Marevna, geb. Maria Vorobieff S­ tebelska  15, 91, 172 f., 232 Margueritte, Victor  8, 113, 117 ff., 187, 198, 228 Marval, Jacqueline, geb. Marie-Joséphine Val­ let  15, 51, 162, 174, 180, 188 f., 190 ff., 194 f., 197, 212, 220, 224, 232 ff., Abb. 26, Abb. 27, Abb. 28, Abb. 29, Abb. 31, Abb. 32 Matisse, Henri  9, 12, 24, 27 f., 30, 44, 50, 59, 61, 129, 180, 191 f., 226, 262, 265, 267 Mendjizky, Maurice  180 ff., 232, Abb. 23, Ein­ bandabbildung Metzinger, Jean  47, 50, 150, 265 Modigliani, Amedeo  12, 20, 24, 31 f., 39, 46, 49 ff., 57, 59, 61, 169 ff., 188, 268 Monet, Claude  27, 38, 47, 137, 264, 268 Moreau, Gustave  27, 264 Moreau, Luc-Albert  20, 261, 265, 267

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N

Netter, Yvonne  73, 87 Nijinsky, Vaslav  77 f., 104 f., 227

O

Orloff, Chana  114, 266

P

Pascin, Jules  20, 46, 57, 234, 266 Picasso, Pablo  9, 12, 20, 24 ff., 28 f., 38 f., 41, 49 f., 55, 59, 61, 64, 127, 129, 148, 150 f., 191, 232, 226, 265 f. Pissarro, Camille  38, 55, 266, 268 Poiret, Paul  78, 81, 227 Proust, Marcel  113, 133, 143, 145 f.

R

Renoir, Auguste  27 f., 38, 47, 59, 61, 131 f., 149, 261 f., 264 Ricotti, Maria  185 Rosenberg, Léonce  48 f. Rouault, George  27, 41, 261, 265 Rubinstein, Ida  77 f.

S

Sagot, Clovis  40, 50 Salmon, Madame André  187, 217 f. Salviati, Francesco  138, 207 ff., Abb. 37 Sargent, John Singer  132, 137 f., 143 f., 146 f., 209, 224, Abb. 7 Sisley, Alfred  27, 55, 261, 264, 266, 268 Soutine, Chaïm  24, 31, 45 f., 48, 57, 59, 91, 188, 266 Stein, Gertrude  24, 41, 50, 72, 114, 127, 129, 140

T

Troubridge, Una  201 ff., 206 f., 214, Abb. 35

U

Uhde, Wilhelm  28, 47, 57, 61 Utrillo, Maurice  36, 40, 173, 265

V

Valadon, Suzanne  51, 192 Valore-Utrillo, Lucie  173, 232 Van Dongen, Kees  20, 24, 91, 121, 144, 180 f., 182 ff., 192 ff., 218, 220, 232, 233, 266, Abb. 24, Abb. 30 Van Gogh, Vincent  34, 38, 42, 55, 268 Vassilieff, Marie  91, 179 Vigée-Lebrun, Élisabeth  99 f., 164, 167 f. Vollard, Ambroise  40 f., 50

Personenregister

Von Dardel, Nils  157 f., 161, 218, Abb. 16 Vuillard, Éduard  24, 265, 267

W

Warnod, André  17, 19 ff., 27, 35, 37 f., 40, 45 f., 48 f., 51 f., 56 ff., 65, 68, 124, 160, 181, 226, 260 f. Weill, Berthe  41, 50 f., 174, 226

Whistler, James Abbott McNeill  137, 145, 199 f., 203 f. Winterhalter, Franz Xaver  199 Wygodzinski, Vally  91, 97, 179

Z

Zborowski, Léopold  32, 48 ff.

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