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German Pages 435 [439] Year 2022
Giuseppe Craparo, Francesca Ortu, Onno van der Hart (Hg.) Pierre Janet wiederentdecken
Forum Psychosozial
Giuseppe Craparo, Francesca Ortu, Onno van der Hart (Hg.)
Pierre Janet wiederentdecken Trauma, Dissoziation und ein Brückenschlag zur Psychoanalyse Aus dem Englischen von Elisabeth Vorspohl Mit einem Nachwort zur Rezeption und Wirkung Pierre Janets von Gerhard Heim Mit Beiträgen von Cécile Barral, Vanessa Beavan, Paul Brown, Karl-Ernst Bühler, Gabriele Cassullo, Giuseppe Craparo, Barbara Friedman, Gerhard Heim, Vittorio Lingiardi, Giovanni Liotti, Marianna Liotti, Russell Meares, Andrew Moskowitz, Clara Mucci, Ellert R. S. Nijenhuis, Pat Ogden, Francesca Ortu, Peter L. Rudnytsky, Isabelle Saillot, Kathy Steele, Onno van der Hart, Bessel A. van der Kolk und Caterina Vezzoli
Psychosozial-Verlag
Titel der englischen Originalausgabe: Rediscovering Pierre Janet. Trauma, Dissociation, and a New Context for Psychoanalysis © 2019 selection and editorial matter, Giuseppe Craparo, Francesca Ortu, and Onno van der Hart; individual chapters, the contributors All Rights Reserved.
Veröffentlicht mit finanzieller Unterstützung der Pierre-Janet-Gesellschaft e. V. (Berlin) und der Dr. Margrit-Egnér-Stiftung (Zürich) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Deutsche Erstausgabe Authorised translation from the English language edition published by Routledge, a member of the Taylor & Francis Group © 2022 Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG, Gießen [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Pierre Janet fotografiert von Paul François Arnold Cardon a. k. a. Dornac Umschlaggestaltung und Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig, Wetzlar ISBN 978-3-8379-3128-0 (Print) ISBN 978-3-8379-7861-2 (E-Book-PDF)
Inhalt
Vorwort
9
Peter L. Rudnytsky
Einleitung
15
Giuseppe Craparo, Francesca Ortu & Onno van der Hart
1
Kurze Einführung in das Werk Pierre Janets Ein vernachlässigtes intellektuelles Vermächtnis
19
Onno van der Hart & Barbara Friedman
2
Vom Bewusstsein zum Unterbewusstsein Eine Janet’sche Perspektive
55
Francesca Ortu & Giuseppe Craparo
Teil I: Janets Einfluss auf die Psychoanalyse 3
Janet und Freud – ewige Rivalen
73
Gabriele Cassullo
4
Janet und Jung – eine anregende Beziehung
87
Caterina Vezzoli
5
Janets Einfluss auf die Objektbeziehungstheorien
105
Gabriele Cassullo
6
Dissoziation: Von Janet über Ferenczi zu Bromberg
117
Clara Mucci, Giuseppe Craparo & Vittorio Lingiardi
5
Inhalt
Teil II: Janets Einfluss auf die moderne Psychotraumatologie 7
Überlegungen zu einigen Beiträgen der modernen Psychotraumatologie im Licht von Janets Kritik an Freuds Theorien
143
Giovanni Liotti & Marianna Liotti
8
Das holistische Projekt Pierre Janets
159
Teil I: Desintegration oder désagrégation Russell Meares & Cécile Barral
9
Das holistische Projekt Pierre Janets
173
Teil II: Oszillieren und Werden: Von der Desintegration zur Integration Cécile Barral & Russell Meares
10 Pierre Janet über Halluzinationen, Paranoia und Schizophrenie
191
Andrew Moskowitz, Gerhard Heim, Isabelle Saillot & Vanessa Beavan
Teil III: Janets Einfluss auf die moderne Psychotherapie 11 Die hypnotherapeutische Beziehung zu traumatisierten Patienten
213
Kathy Steele & Onno van der Hart
12 Pierre Janets Behandlung der posttraumatischen Psychopathologie
241
Onno van der Hart, Paul Brown & Bessel A. van der Kolk
13 Pierre Janets Verständnis der Ätiologie, Pathogenese und Therapie dissoziativer Störungen Gerhard Heim & Karl-Ernst Bühler
6
261
Inhalt
14 Triumphhandlungen Eine Interpretation Pierre Janets und der Rolle des Körpers in der Traumatherapie
291
Pat Ogden
Epilog Dissoziation im DSM-5: Ihre Meinung dazu, s’il vous plaît, Docteur Janet?
307
Ellert R. S. Nijenhuis
Literatur
319
Nachwort zur deutschen Ausgabe Zur Rezeption und Wirkung von Pierre Janet
349
Gerhard Heim Literatur zum Nachwort
404
Die HerausgeberInnen und AutorInnen
429
7
Vorwort Peter L. Rudnytsky
Die Geschichte der Psychoanalyse wird häufig und zu Recht als eine Geschichte der Spaltungen erzählt, eine Geschichte der Brüche, Exkommunikationen und persönlichen Konflikte, an denen Freud wiederholt beteiligt war und die er nutzte, um sich die Oberhoheit über seine Disziplin zu sichern, indem er definierte, was nicht Psychoanalyse war. Die Namen der Verstoßenen sind Legion. Breuer, Fließ, Adler, Stekel, Jung, Rank, am Ende sogar Ferenczi – sie alle spielen ihren Part in dem Narrativ, das von Freud selbst begründet und später von Jones in seiner autorisierten Biografie kanonisiert wurde. Unter dem orthodoxen Blickwinkel betrachtet, wurde die weitere professionelle Entwicklung der Renegaten infolge dieser Brüche dem Vergessen überantwortet. Ihre Schriften waren des Studiums nach der Trennung von Freud nicht länger wert. Dieser tat C. G. Jungs Arbeit in der Neuen Folge seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse mit den Worten ab: »Das mag eine Schule der Weisheit sein, ist aber keine Analyse mehr« (Freud, 1933a, S. 154). Doch wenn zumindest die Namen dieser Häretiker im kollektiven psychoanalytischen Gedächtnis bewahrt blieben, kann man dies von Pierre Janet, dessen Werk das vorliegende Buch gewidmet ist, nicht sagen. Janet (1859–1947) ist aus unserer Geschichte nahezu verschwunden, weil sich die Phase, in der Freud ihn wohlwollend beurteilte, auf die Jahre seiner Zusammenarbeit mit Breuer beschränkte, das heißt auf die Zeit der Entstehung der Studien über Hysterie (Breuer & Freud, 1895) und somit auf die voranalytische Ära. Weil Janet nie Teil der Bewegung geworden ist, musste er auch nicht exkommuniziert werden. Man nahm lediglich keine Notiz von ihm oder behandelte ihn als eifersüchtigen Rivalen, der den Zug verpasst hatte, als es an der Zeit gewesen wäre, sich Freuds revolutionären Entdeckungen über die Sexualität und das Unbewusste anzuschließen. Der Tenor der überlieferten Kritik an Janet lässt sich nirgendwo deutlicher ver9
Peter L. Rudnytsky
nehmen als in der zweiten der Clark-Vorlesungen, in der Freud zunächst einräumt, zusammen mit Breuer Janets Beispiel gefolgt zu sein, »als wir die seelische Spaltung und den Zerfall der Persönlichkeit in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit rückten«. Unmittelbar darauf aber macht er sich über Janet lustig: »Janets Hysterische erinnert an eine schwache Frau, die ausgegangen ist, um Einkäufe zu machen, und nun mit einer Menge von Schachteln und Paketen beladen zurückkommt. Sie kann den ganzen Haufen mit ihren zwei Armen und zehn Fingern nicht bewältigen, und so entfällt ihr zuerst ein Stück. Bückt sie sich, um dieses aufzuheben, so macht sich dafür ein anderes los usw.« (Freud, 1910a [1909], S. 18f.).
Auch wenn Freud Janet herabzusetzen versuchte, besteht kein Zweifel, dass der Franzose ihm innerlich ebenso wie all die übrigen verbannten Renegaten hartnäckig zusetzte, denn er griff nicht nur 1914 in seiner Abhandlung »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung« (Freud, 1914d) erneut zum Prügel, sondern auch in seiner 1924 verfassten Selbstdarstellung. Hier behauptete er, »daß die Psychoanalyse von den Janetschen Funden in historischer Hinsicht völlig unabhängig ist, wie sie auch inhaltlich von ihnen abweicht und weit über sie hinausgreift« (Freud, 1925d [1924], S. 56). Warum also sollten wir Janet, wenn er doch auf dem Müllhaufen der Geschichte endete, heute wieder zum Leben erwecken? Die Antwort lautet, wie ich ausführlicher an anderer Stelle dargelegt habe (Rudnytsky, 2019, 5. Kapitel), dass die Rückkehr zur Traumatheorie in der Psychoanalyse, die untrennbar mit der Rehabilitation Ferenczis als eines wegweisenden Vorläufers des modernen relationalen und interpersonalen Denkens zusammenhängt, mit einem Verständnis der Psyche einhergeht, das eben nicht, wie Freud annahm, auf der Verdrängung endogener Triebimpulse beruht, sondern auf der Dissoziation und den multiplen Selbst-Zuständen, die aus Missbrauchserfahrungen und Vernachlässigung in der Kindheit resultieren. Will man Ursprünge dieses alternativen Modells der Psyche verstehen, sollte man die Leuchttürme in den Blick nehmen, die den Weg hin zu unserem heutigen Theoretisieren erhellt haben. Außer Ferenczi zählen zu den wesentlichen Meilensteinen der Vergangenheit Breuer, Fairbairn und Sullivan, und nun haben die Schriften Donnel B. Sterns und Philip Brombergs, beide vom William Alanson White Institute in New York City, den Paradigmenwechsel besiegelt. 10
Vorwort
Diese auch unter Psychoanalytikern zunehmend verbreitete Anerkennung der maßgeblichen Verbindung zwischen Traumatheorie und Dissoziationstheorie lenkt unsere Schritte zwangsläufig zurück zu Janet, für dessen Lebenswerk sie zu einem Eckpfeiler wurde. So schrieb Henry F. Ellenberger in seinem unschätzbar wertvollen Kapitel »Pierre Janet und die psychologische Analyse« seines Buches Die Entdeckung des Unbewußten: »Janet behauptete, bestimmte hysterische Symptome ließen sich in Beziehung setzen zur Existenz abgespaltener Persönlichkeitsteile (›unterbewußter fixer Ideen‹), die ein autonomes Leben und eine selbständige Entwicklung haben. Er wies auf ihren Ursprung in traumatischen Ereignissen der Vergangenheit hin, sowie auf die Möglichkeit der Heilung hysterischer Symptome durch das Auffinden und die darauffolgende Auflösung dieser ›unterbewußten‹ psychischen Systeme« (Ellenberger, 1996 [1974], S. 492).
Ellenberger führt aus, dass der Prozess, durch den »unterbewußte fixe Ideen« durch Symptome ersetzt werden, laut Janet mit einer »Verengung des Bewußtseinsfeldes« zusammenhängt, die bewirkt, dass die fixen Ideen »zugleich Ursache und Folge von Geistesschwäche« (ebd., S. 508) sind. Hier kommen wir zum Kern der Konzeption, über die Freud sich mit seiner Metapher der »schwachen Frau« lustig machte, sowie der Theorie der »hypnoiden Zustände«, die Breuer in den Studien über Hysterie (Breuer & Freud, 1895) darlegte. Obwohl Janets Konzeption durch Freuds »Abwehrtheorie« angeblich diskreditiert wurde, rechtfertigt sie eine Neubetrachtung im Lichte unserer heutigen Sicht, dass der traumabedingte psychische Tod und die Zerstückelung des Selbstgefühls basalere Symptome schwergestörter Patienten sind als die leichter erkennbaren Konflikte und Abwehrmanöver, die lediglich aus ihnen resultieren. Wenn wir Ellenbergers Hinweise hinzunehmen, »daß das Wort ›unterbewußt‹ von Janet geprägt worden ist« (Ellenberger, 1996 [1974], S. 555) und dass das Konzept der »Komplexe«, das Freud von Jung erhielt, der 1902 bis1903 in Paris Janets Vorlesungen besucht hatte, laut Jung »der ›unterbewußten fixen Idee‹ Janets« (ebd., S. 556) entspricht, sehen wir, wie bahnbrechend Janets Beiträge tatsächlich gewesen sind. Statt den Begriff »unterbewusst« aus unserem Lexikon zu tilgen, wie es in der Psychoanalyse rigoros geschah, nachdem Freud ihn als »inkorrekt und irreführend« verworfen und erklärt hatte, dass die »bekannten 11
Peter L. Rudnytsky
Fälle von ›double conscience‹ (Bewußtseinsspaltung) […] nichts gegen unsere Auffassung [beweisen]« (Freud, 1915e, S. 269), sollte er rehabilitiert werden, zumal er mit Donnel B. Sterns Definition des Unbewussten als »unformulierte Erfahrung« (Stern, 1997) übereinstimmt. Und Janet selbst schrieb 1893 im Zusammenhang mit der »Einengung des Bewusstseinsfeldes«, die er als charakteristische Eigenschaft der Hysterie betrachtete: »Die hysterische Persönlichkeit kann nicht alle Phänomene wahrnehmen; sie opfert ganz entschieden einige von ihnen. Es ist eine Art Selbstteilung1, und die aufgegebenen Phänomene entwickeln sich selbständig, ohne daß der Betroffene sich dessen bewußt ist« (zit. nach Ellenberger, 1996 [1974], S. 512). Wenn wir diese Überlegung logisch zu Ende denken, können wir sogar die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Janets Vortrag, den er 1913 auf dem Internationalen Kongress für Medizin in London hielt, wo er laut Ellenberger »die Priorität bei der Entdeckung der kathartischen Heilung von Neurosen, bewirkt durch die Aufklärung traumatischer Ursprünge, [beanspruchte]«, aber zugleich »scharfe Kritik an Freuds Methode der symbolischen Traumdeutung und an seiner Theorie vom sexuellen Ursprung der Neurose [übte]« (ebd., S. 467), zumindest ein Körnchen Wahrheit enthält, insofern nämlich die Freud’sche Schule Janet nicht etwa abgelöst hat, sondern als eine der fruchtbaren Weiterungen betrachtet werden sollte, die dem breiten Fluss der »psychologischen Analyse« entspringen. Freud trat dieser Sichtweise mit aller Entschiedenheit entgegen und unterstellte Janet die Überzeugung, »daß alles, was gut an der Psychoanalyse sei, mit geringen Abänderungen die Janetschen Ansichten wiederhole, alles darüber hinaus aber […] von Übel [sei]« (Freud, 1914d, S. 72). Ellenberger berichtet, dass Janet mit Freud das Schicksal teilte, der erstgeborene Sohn in der zweiten Ehe eines Mannes zu sein, der mehr als doppelt so alt war wie seine Frau (Ellenberger, 1996 [1974], S. 452). Janets Mutter starb allerdings schon mit 49 Jahren, während Amalia Freud 95 Jahre alt wurde. Darüber hinaus wäre es schwierig, unterschiedlichere Männer zu finden als den Pariser, der zunächst Philosophie studiert hatte, bevor aus ihm der umsichtige Empiriker »Dr. Bleistift« wurde, der im Laufe seiner beruflichen Karriere Notizen über rund 5.000 Patienten anfer1 Eine treffendere Übersetzung von »une sorte d’autotomie« wäre der drastischere Begriff »Selbstverstümmelung« (»Ce rejet de tout un groupe d’éléments psychiquues gênant constituerait une sorte d’autotomie psychologique spontanée« (Janet, 1893e, S. 9).
12
Vorwort
tigte, und dem Wiener Neurologen, der seine Beiträge als Forscher in den Laboratorien von Claus und Brücke leistete, bevor aus ihm der spekulationsfreudige Konquistador wurde, der »Dora« und den »Wolfsmann« in Behandlung nahm. Wäre es für uns vorstellbar, dass Freud die Vorlesungen eines ehemaligen Schülers besucht hätte, so wie Janet es tat, der im Alter von 83 Jahren für ein gesamtes Studienjahr regelmäßig die Vorlesungen Professor Delays hörte (ebd., S. 471)? Als er 1937 nach Wien reiste, um Julius Wagner-Jauregg zu besuchen, lehnte Freud es ab, ihn zu empfangen (ebd., S. 470), so wie er schon Ferenczi bei dessen Abschied in Wien 1932 den Handschlag verweigert hatte (Fromm, 1995 [1959], S. 77), den alten Breuer, der ihm mit ausgebreiteten Armen auf der Straße entgegenkam, geflissentlich übersah (Breger, 2000, S. 125) und Stekels Versöhnungsangebote sowohl 1923, als er sich wegen des Krebses in der Mundhöhle einer Operation unterziehen musste, als auch 1938 bei seiner Ankunft als Flüchtling in England brüsk zurückwies (Rudnytsky, 2011, S. 38f.). Janet hingegen verteidigte Freud, als dieser auf einer Konferenz der Société de Psychothérapie 1914 heftig angegriffen wurde, obwohl er ein Jahr zuvor auf dem Londoner Kongress selbst Kritik an ihm geübt hatte (Ellenberger, 1996 [1974], S. 468). Im Alter von 24 Jahren hielt Janet in Le Havre, wo er Philosophie am Gymnasium unterrichtete, einen Vortrag, in dem er als »das wahre Ziel der Philosophie« hervorhob, »den Menschen zu lehren, sich vor seinen eigenen vorgefaßten Meinungen in acht zu nehmen und die Meinungen seiner Mitmenschen zu respektieren« (ebd., S. 459). Dieser vortreffliche Rat steht im Einklang damit, dass Janet, wenn er von psychologischer Analyse sprach, nie behauptete, »sie sei seine eigene Methode« (ebd., S. 510f.). Er hielt sie vielmehr für das Gemeingut aller, die das Gebiet erforschten. Janet hat niemals »zu einer Gruppe oder einem Team gehört. Er hatte keine Schüler und keine Schule; jede Art von Proselytenmacherei war ihm absolut fremd« (ebd., S. 558). So gesehen, ist er ohne Frage das Gegenteil von Freud, gegen dessen Hermeneutik des Verdachts er sich entschieden abgrenzte. An der Salpêtrière, wo er 1889 erstmals forschte und dann von 1893 bis 1902 kontinuierlich arbeitete, erläuterte er einem Besucher seinen Ansatz einmal mit den Worten: »Sehen Sie, diese Leute werden von etwas verfolgt, und Sie müssen sorgfältig untersuchen, um an die Wurzel zu kommen« (zit. ebd., S. 478). Janet trat für ein integratives psychologisches Behandlungsverfahren ein. In seinen letzten Lebensjahren begrüßte er sowohl die Elektroschocktherapie für depressive Patienten als auch die 13
Peter L. Rudnytsky
Verabreichung von Medikamenten in Ergänzung seiner Version einer »Experimentalpsychologie«, die, wie er selbst sagte, vor allem darin bestand, »daß man seinen Patienten gut kennenlernt […] und daß man überzeugt ist, man kenne ihn niemals genau genug« (zit. ebd., S. 497). Der fleißige Leser englischsprachiger Fachliteratur zur Traumabehandlung findet zweifellos Hinweise über Hinweise auf Janet und sein Werk, zum Beispiel in Bessel van der Kolks Verkörperter Schrecken: Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann (2015 [2014]), in Elizabeth F. Howells The Dissociative Mind (2005) sowie in Onno van der Harts, Ellert Nijenhuis’ und Kathy Steeles Das verfolgte Selbst. Strukturelle Dissoziation und die Behandlung chronischer Traumatisierung (2008 [2006]). Der vorliegende Band aber, verfasst von international renommierten Autoren, enthält die erste umfassende Neubewertung Janets und seiner originären Theorie sowie seiner komplizierten Beziehung zur Psychoanalyse. Die Herausgeber von Pierre Janet wiederentdecken sind zu ihrer Planung und Realisierung eines höchst zeitgemäßen Buches zu beglückwünschen, und es wäre großartig, ihm einen Pierre Janet Reader mit den wichtigsten Texten Janets, die seinen Lesern im 21. Jahrhundert nur schwer oder gar nicht zugänglich sind, folgen zu lassen. Ellenberger beschließt sein Kapitel über Janet, indem er dessen Werk »mit einer großen Stadt« vergleicht, »die wie Pompeji unter Asche begraben liegt« (Ellenberger, 1996 [1974], S. 560). Auch wenn der Vergleich unglücklich gewählt ist, weil er von Freud benutzt wurde, um die Verdrängung zu beschreiben – sodass er Janets Unverwechselbarkeit paradoxerweise im Akt ihrer Huldigung negiert –, deutet er auf die Aufhebung der historischen Amnesie, ja Selbstverstümmelung, von Janets Erbe durch die psychoanalytische Tradition voraus, die Giuseppe Craparo, Francesca Ortu und Onno van der Hart hier geglückt ist.
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Einleitung Giuseppe Craparo, Francesca Ortu & Onno van der Hart
Henri F. Ellenbergers 1970 erstmals veröffentlichtes Opus magnum The Discovery of the Unconscious: The History and Evolution of Modern Psychiatry (dt.: Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, 1996) enthält ein hervorragendes, erhellendes Kapitel über Pierre Janet, das mittlerweile Generationen von Klinikern dazu angeregt hat, die bahnbrechenden Untersuchungen wiederzuentdecken. Janets Einsichten und Therapiemethoden bleiben insbesondere mit Blick auf die Psychotraumatologie bis heute enorm aufschlussreich und für die moderne Theorie und Praxis hochrelevant. Das vorliegende Buch, Pierre Janet wiederentdecken, veröffentlicht mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ellenbergers Werk, bezeugt, dass Janets Erbe die Theorie und die klinische Praxis von heute verändern kann. Die Verfasser, alle mit unterschiedlichem professionellem und geografischem Hintergrund, haben Janets Schriften studiert und zeigen vielseitige integrative Perspektiven auf sein Originalwerk auf, die unser Verständnis der Psychotraumatologie und ihrer Behandlungsweise bereichern. Darüber hinaus lädt das Buch interessierte Leser dazu ein, sich mit den nach wie vor unerforschten Aspekten seines Œeuvres zu beschäftigen, die es zu erhellen und unter einem modernen Blickwinkel zu verstehen gilt. Zwei einführende Kapitel leiten die nachfolgenden drei Teile des Buches ein: Janets Einfluss auf die Psychoanalyse, Janets Einfluss auf die moderne Psychotraumatologie und Janets Einfluss auf die moderne Psychotherapie. Ein Epilog beschließt den Band. Im 1. Kapitel, »Kurze Einführung in das Werk Pierre Janets. Ein vernachlässigtes intellektuelles Vermächtnis«, fassen Onno van der Hart und Barbara Friedman Janets zentrale, für Hysterie und Neurosen relevante Konzepte (Dissoziation, fixe Ideen, intensive Emotionen, psychische Schwäche, Realitätsfunktion) zusammen, die er 15
Giuseppe Craparo, Francesca Ortu & Onno van der Hart
in seinen Hauptwerken formuliert hat. Im 2. Kapitel, »Vom Bewusstsein zum Unterbewusstsein. Eine Janet’sche Perspektive«, beleuchten Francesca Ortu und Giuseppe Craparo Janets Konzipierung des Unterbewussten, die mit seiner Dissoziationstheorie zusammenhängt. Im Unterschied zum Freud’schen Konzept des Unbewussten postuliert Janet statt eines verdrängten Unbewussten ein dissoziiertes Unterbewusstes, das durch die fixen Ideen entsteht, die mit der als Reaktion auf traumatische Erfahrungen erfolgenden Persönlichkeitsspaltung zusammenhängen. Teil I des Buches enthält drei Kapitel. Im 3. Kapitel, »Janet und Freud – ewige Rivalen«, analysiert Gabriele Cassullo die Rolle, die Janets Theorie der Psyche für die Freud’sche Metapsychologie gespielt hat. Die Beziehung zwischen den beiden Giganten der Psychologie lässt sich nicht auf einen Konflikt wegen eines vermeintlichen Diebstahls geistigen Eigentums reduzieren. Cassullo gelangt zu dem Schluss: »Es wäre von großem Nutzen, die Spuren aufzudecken, die Janet in Freuds Schriften hinterlassen hat. Aufgrund des Konflikts der beiden Männer ist es wenig hilfreich, im Freud’schen Werk nach Janets Namen zu suchen. Zu suchen wäre vielmehr nach den Konzepten. Dabei wäre zweifellos Freuds allmähliche Formulierung des Konzepts der – eng mit dem Verlust der fonction du réel zusammenhängenden – Verleugnung von Belang, die er mit dem Beitrag ›Die Ichspaltung im Abwehrvorgang‹ (1940e) abschloss.«
Im 4. Kapitel, »Janet und Jung – eine anregende Beziehung«, vertritt Caterina Vezzoli die Ansicht, Jung habe »[v]on Beginn an und im Gesamtverlauf der Entwicklung seiner Psychologie […] die Validität der Arbeit Janets und der französischen Schule anerkannt«. Janets Werk übte Vezzoli zufolge Einfluss auf Jungs Theorien über psychische Dissoziation, Selbst, psychische Komplexe, psychologische Typen, Individuation, Träume und Synchronizität aus. Nach ihrer Ansicht, die sie mit anderen jungianischen Autoren (z. B. Shani Shamdasani) teilt, steht Jungs Theorie der Psyche Janets Denken näher als der Freud’schen Metapsychologie. Im 5. Kapitel, »Janets Einfluss auf die Objektbeziehungstheorien«, beschreibt Gabriele Cassullo Sándor Ferenczis Versuch einer Synthese der Theorien Janets und Freuds. Aus dieser Integration gingen psychoanalytische Konzepte hervor, die sowohl mit Fairbairns – auf Dissoziationsmechanismen fokussierende – Entwicklungstheorie zusammenhängen (Cassullo erinnert daran, dass Fairbairn statt von Dissoziation von Spaltung sprach) als auch mit Mela16
Einleitung
nie Kleins Theorie der »paranoid-schizoiden Position«. Im 6. Kapitel, »Dissoziation: Von Janet über Ferenczi zu Bromberg«, beschreiben Clara Mucci, Giuseppe Craparo und Vittorio Lingiardi aktuelle psychoanalytische Entwicklungen der Traumatheorie und -behandlung, die in Richtung eines relationalen, intersubjektiven Verständnisses weisen, für das sowohl reale traumatische Erfahrungen als auch die Dissoziation (im Sinne der Janet’schen Dissoziationstheorie) eine vorrangige Rolle spielen. Als Beispiel dienen Brombergs theoretische und klinische Untersuchungen. Teil II, »Janets Einfluss auf die moderne Psychotraumatologie«, beginnt mit dem 7. Kapitel, »Überlegungen zu einigen Beiträgen der modernen Psychotraumatologie im Licht von Janets Kritik an Freuds Theorien«, von Giovanni und Marianna Liotti. Sie stellen eine Janet’sche Interpretation der pathologischen Reaktion auf ein psychisches Trauma als passive Auswirkung emotionaler Erschütterungen auf höhere geistig-psychische Funktionen vor. Im 8. Kapitel, »Das holistische Projekt Pierre Janets. Teil I: Desintegration oder désagrégation«, und im 9. Kapitel, »Das holistische Projekt Pierre Janets. Teil II: Oszillieren und Werden: Von der Desintegration zur Integration«, betonen Russell Meares und Cécile Barral, dass es wichtig ist, zwischen désagrégation (einem anormalen psychischen Zustand, der zur Persönlichkeitsspaltung führt) und Dissoziation zu unterscheiden. Andrew Moskowitz, Gerhard Heim, Isabelle Saillot und Vanessa Beavan zeigen im 10. Kapitel, »Pierre Janet über Halluzinationen, Paranoia und Schizophrenie«, den Zusammenhang mit einer Schwächung der psychischen Kraft auf, die »die Betroffenen anfälliger für bestimmte psychische Leiden« macht. Dieser mit Halluzinationen, Paranoia und Schizophrenie einhergehende Mangel an psychischer Kraft kann Handlungen Vorschub leisten, die der Situation nicht angemessen sind. Teil III, »Janets Einfluss auf die moderne Psychotherapie«, enthält vier Kapitel. Im 11. Kapitel, »Die hypnotherapeutische Beziehung zu traumatisierten Patienten. Pierre Janets Beiträge zur heutigen Behandlung«, fassen Kathy Steele und Onno van der Hart Janets klinische Untersuchungen der therapeutischen Beziehung (rapport) mit traumatisierten Patienten zusammen und betonen insbesondere seinem Umgang mit dem somnambulen Einfluss und der somnambulen Leidenschaft. Diese Untersuchungen geben dem Kliniker Aufschluss über die bedeutsame Rolle der (Auto-)Hypnose in der Therapie. Im 12. Kapitel, »Pierre Janets Behandlung der posttraumatischen Psychopathologie«, beschreiben Onno van der Hart, Paul Brown und Bessel A. van der Kolk Janets phasenorientierte Behandlung von Pa17
Giuseppe Craparo, Francesca Ortu & Onno van der Hart
tienten mit traumainduzierten Störungen als einen Vorläufer moderner Therapieverfahren, der für die heutige klinische Praxis nach wie vor wertvoll ist. Im 13. Kapitel, »Pierre Janets Sicht der Ätiologie, Pathogenese und Therapie dissoziativer Störungen«, stellen Gerhard Heim und Karl-Ernst Bühler eine eingehende Untersuchung dieser wichtigen klinischen Phänomene vor. Die Autoren vergleichen den dissoziativen Charakter der Hysterie mit der Psychasthenie, der zweiten großen Kategorie psychischer Störungen, zwischen denen Janet unterschied. Letztere ist für unser klinisches Verständnis wie auch für die Praxis ausgesprochen relevant. Im 14. Kapitel, »Triumphhandlungen. Eine Interpretation Pierre Janets und der Rolle des Körpers in der Traumatherapie«, zeigt Pat Ogden, dass Janet nachdrücklicher als jeder andere betonte, wie wichtig es ist, Handlungen vollständig, korrekt und mit Freude auszuführen – als Triumphhandlungen, wie Janet selbst sie nannte. Die Sensumotorische Psychotherapie misst diesem Prinzip besonders große Bedeutung bei. Abschließend lässt Ellert R. S. Nijenhuis im »Epilog« Pierre Janet persönlich zu Wort kommen: »Dissoziation im DSM-5: Ihre Meinung dazu, s’il vous plaît, Docteur Janet?« Nijenhuis’ Janet hält mit seiner Kritik an den Widersprüchen nicht hinterm Berg, die das DSM-5 bezüglich der Konzipierung und Definition von »Dissoziation«, »negativen« bzw. »positiven«, dissoziativen Symptomen, »dissoziativen Störungen« sowie »Konversion« und »Konversionsstörungen« aufweist. Formuliert wird auch eine wohldurchdachte Empfehlung, Janets Postulat einer Gruppe traumabedingter Störungen, deren Haupteigenschaft eine mehr oder weniger tiefe und umfassende Dissoziation der Persönlichkeit ist, einer Neubetrachtung zu unterziehen. Dieses abschließende Kapitel illustriert, dass das Studium der Texte Pierre Janets keine nostalgische Flucht in die Geschichte darstellt, sondern eine Reise hin zu konzeptueller Klarheit und klinischer Weisheit.
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Kurze Einführung in das Werk Pierre Janets Ein vernachlässigtes intellektuelles Vermächtnis Onno van der Hart & Barbara Friedman
Vor 100 Jahren wurde Pierre Janet (1859–1947) zu Frankreichs wichtigstem Forscher auf dem Gebiet der Dissoziation und der Hysterie. Damals bezeichnete der Begriff Hysterie eine große Bandbreite an Störungen, die das DSM-5 (APA, 2013) heute als dissoziative, Somatisierungs-, Konversions-, Borderline-Persönlichkeits- und posttraumatische Belastungsstörung aufführt. Darüber hinaus beschreibt die ICD-10 (WHO, 1992) die Konversionsstörungen zu Recht als dissoziative Bewegungs- und Empfindungsstörungen. Auf der Grundlage umfangreicher Studien, Beobachtungen und Experimente im Rahmen seiner Hypnosebehandlung der Hysterie deckte Janet die Dissoziation als den Prozess auf, der jeder dieser Störungen zugrunde lag. Bedauerlicherweise verwarf man seine Sichtweise der Bedeutung, die der Dissoziation für die Hysterie und ihre Behandlung zukommt, als die Hypnose Ende des 19. Jahrhunderts in Misskredit geriet. Diese Distanzierung von der Hypnose fiel zeitlich mit der Veröffentlichung der frühen psychoanalytischen Studien Freuds zusammen. Nach und nach wurde Janets imposantes Œuvre durch die rasch an Popularität und Anerkennung gewinnenden psychoanalytischen Konzepte und Theorien Freuds in den Hintergrund gedrängt. Heute verlangt das wiedererwachte klinische und wissenschaftliche Interesse an der Dissoziation und an dissoziativen Störungen eine neuerliche Auseinandersetzung mit den experimentellen, klinischen und theoretischen Beobachtungen der Psychiatrie des vergangenen Jahrhunderts. Während sich das historische Interesse zahlreicher psychoanalytisch orientierter Kliniker auf das Studium Breuers und Freuds beschränkt (Breuer & Freud, 1895), haben sich andere den eigentlichen Quellen in der französischen Psychiatrie und insbesondere der Arbeit Janets zugewandt. Ihre Initiativen waren mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass die französischen Originalveröffent19
Onno van der Hart & Barbara Friedman
lichungen nicht ohne Weiteres aufzufinden waren und englischsprachige Übersetzungen dieser Schriften in nur bescheidener Anzahl vorlagen. Während der 1970er Jahre begann sich in Sachen Janet etwas zu verändern. In Frankreich druckte die Société Pierre Janet seine Bücher seit 1973 nach, und in der Folgezeit besorgte der französische Verlag L’Harmattan Neuausgaben der meisten seiner Werke. 1973 veröffentlichte Claude Prévost (1973b) ein wichtiges Buch über Janets Psycho-Philosophie, dem zahlreiche Aufsätze in französischer Sprache folgten. In der anglophonen Welt hatte eine kleine Gruppe von Anhängern den Wert des Beitrags, den Janet zur Psychopathologie und Psychologie geleistet hat, seit Langem gewürdigt. Mit dem Nachdruck von Major Symptoms of Hysteria 1965 und der Veröffentlichung von Ellenbergers The Discovery of the Unconscious im Jahr 1970 (erweiterte Ausg. 1974; dt.: Die Entdeckung des Unbewußten, 1985; 1996) verbreitete sich das Wissen um die Bedeutung seines Beitrags zur Erforschung der Dissoziation und verwandter Phänomene in der englischsprachigen Welt (vgl. Decker, 1986; Haule, 1986; Nemiah, 1979; 1980; Perry, 1984; Perry & Laurence, 1984). Gleichwohl befassen sich Janets Beiträge über die Hysterie und die Dissoziation hinaus mit vielfältigen weiteren Themen, wie Ellenberger (1996 [1974]) und etliche weitere englischsprachige Autoren zeigten (vgl. Horton, 1924; Bailey, 1928; Mayo, 1948; Havens, 1966; Ey, 1968; Hart, 1983; Haule, 1984b; Pitman, 1984; 1987; Pope, Hudson & Mialet 1985). Im Dezember 1989 widmete John C. Nemiah als Herausgeber des American Journal of Psychiatry sein Editorial der 100. Wiederkehr des Erscheinungsjahres von Janets wichtigstem Buch, L’Automatisme Psychologique: Essai de Psychologie Experimentale sur les Formes Inférieures de L’Acitivité Humaine. Unter dem Titel: »Janet redivivus: the centenary of L’Automatisme Psychologique« schrieb er: »Die Feiern zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution haben das Gedenken an ein anderes Ereignis der französischen Geschichte überschattet, das zumindest unter dem Blickwinkel der Wissenschaft gleichermaßen bedeutsam ist – die Veröffentlichung von Pierre Janets L’Automatisme Psychologique im Jahr 1889« (Nemiah, 1989, S. 1527).
Nemiah beschloss seine Hommage mit den Worten: »Wir können von Janet vieles lernen. Er war zuallererst Psychologe und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die experimentelle Seite des menschli-
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1 Kurze Einführung in das Werk Pierre Janets
chen Lebens. Besonders am Herzen lagen ihm die Schicksale derer, die unter psychischen Erkrankungen litten. ›Es ist keineswegs falsch‹, schrieb er im Einführungskapitel von L’Automatisme Psychologique, ›dass die Psychologie die mannigfaltigen Details psychischer Aberrationen erforscht, statt sich mit vagen Verallgemeinerungen aufzuhalten, die allzu abstrakt sind, als dass sie praktischen Nutzen haben könnten. Die experimentelle Psychologie muss, wie auch immer man sie betrachtet, eine Psychologie der Pathologie sein. […] Die Methode, die ich hier anzuwenden versucht habe, […] ist die der Naturwissenschaften. Ohne mit einer vorgefassten Idee an das Problem heranzugehen, habe ich lediglich Fakten gesammelt und die Konsequenzen dieser Hypothesen, wann immer möglich, experimentell verifiziert.‹ Janets wissenschaftliche Methode und Vision wurden in den 100 Jahren, seit er dies geschrieben hat, auch durch die Fortschritte des psychiatrischen Wissens nicht übertroffen« (ebd., S. 1529).
Im selben Jahr organisierten die Société Médico-Psychologique und die Société Pierre Janet in Paris eine Jubiläumsfeier. Darüber hinaus erschienen mehrere Artikel über Janets Werk – so auch der vorliegende Beitrag – in internationalen Fachzeitschriften. Seither ist das Interesse an seiner Arbeit stetig gewachsen. Wir betrachten in diesem Kapitel Janets Bücher über Hysterie und Dissoziation und fassen die jeweiligen zentralen Konzepte zusammen. Eine kurze Beschreibung seines beruflichen Werdegangs ermöglicht es dem Leser, diese Studien historisch einzuordnen. Für eine ausführlichere Biografie verweisen wir auf Ellenbergers enzyklopädisches Werk Die Entdeckung des Unbewussten (1996 [1974]).
Pierre Janet Pierre Janet wurde am 30. Mai 1859 in Paris geboren. Seine Familie gehörte der oberen Mittelschicht an, und so besuchte der herausragende Schüler, der sich gleichermaßen für die Naturwissenschaften wie für die Philosophie interessierte, die besten französischen Schulen. Als er im Alter von 22 Jahren in Le Havre seine erste Stelle antrat, und zwar als Philosophielehrer, stand er unter dem tiefen Einfluss zweier besonderer Ereignisse. Dabei handelte es sich erstens um die Internationale Elektrizitätsausstellung 1881 in Paris, die keinen Zweifel daran ließ, dass die Zukunft im Zeichen der 21
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Naturwissenschaften, der Technik und der Elektrizität stehen würde. Das zweite Ereignis war Charcots Vortrag »Sur les divers état nerveux déterminés par l’hypnotisation chez les hystériques« und dessen anschließende Veröffentlichung (Charcot, 1882), die die Hypnose als Wissenschaft rehabilitierte (Ellenberger, 1996 [1974], S. 455). In Le Havre widmete Janet seine Freizeit der ehrenamtlichen Arbeit mit Klinikpatienten und der psychiatrischen Forschung. Auf der Suche nach einem Thema für seine Dissertation lernte er die 45-jährige Léonie kennen und fand heraus, dass er die Frau sowohl direkt als auch aus der Ferne hypnotisieren konnte. In einem Vortrag, den er 1885 in einer von Charcot geleiteten Sitzung der Société de Psychologie Physiologique in Paris hielt, schilderte er seine Experimente ( Janet, 1885; 1886a). Sie machten ihn augenblicklich berühmt, doch er erkannte schon bald, dass viele Berichte seine Arbeit unzutreffend wiedergaben. Er begann, die parapsychologische Forschung mit Misstrauen zu betrachten, und zog ihr die systematische Untersuchung der hysterischen Phänomene vor. Unter dem Einfluss der Arbeiten Ribots und Charcots begann er, modifizierte Bewusstseinszustände Léonies und anderer hysterischer Patientinnen in der psychiatrischen Klinik Le Havres zu erforschen ( Janet, 1886b; 1887; 1888). Spaßeshalber bezeichnete er seine kleine Station gemäß der beliebten französischen Tradition, Krankenhausabteilungen nach katholischen Heiligen zu benennen, als »Salle Saint-Charcot« (Ellenberger, 1996, [1974]). Janet las sämtliche Veröffentlichungen über die Hypnose, deren er habhaft werden konnte, und entdeckte bei Alexandre Jacques, François Bertrand, Joseph Philippe François Deleuze und Antoine Despine, den alten Meistern des Magnetismus, eine Fülle bedeutsamer klinischer Beschreibungen. Ihm wurde auch klar, dass frühe Forscher wie Main de Biran, Moreau de Tours und Taine bereits wichtige theoretische Konzepte entwickelt hatten. In einer Arbeit von Moreau de Tours stieß Janet auf die aus dem Jahr 1845 stammende Formulierung des Dissoziationskonzepts. Ein mehr oder weniger gleichbedeutender Begriff, nämlich »psychischer Zerfall« (»désagrégation psychologique«), im selben Jahr ebenfalls von Moreau de Tours eingeführt, wurde gleichermaßen positiv aufgenommen. Janets außerordentlich exakte und luzide Beschreibungen experimenteller und klinischer Beobachtungen dieser Konzepte (vgl. Binet, 1890) und sein theoretisches System werden in der modernen Literatur nach wie vor gerühmt (vgl. Pope, Hudson & Mialet 1985; Pitman, 1987; van der Kolk & van der Hart, 1989). 22
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1889 erhielt Janet von Charcot eine Einladung an die Salpêtrière, das berühmte psychiatrische Lehrkrankenhaus in Paris. Hier übernahm er die Leitung eines psychologischen Labors. Gleichzeitig kam er seinen Verpflichtungen als Professor der Philosophie weiterhin nach und veröffentlichte ein Lehrbuch ( Janet, 1894a). Er nahm ein Medizinstudium auf, schloss es 1893 mit einer Dissertation ab ( Janet, 1893a) und veröffentlichte zwischenzeitlich eine Reihe von Aufsätzen, in denen er seine innovativen Verfahren zur Behandlung der Hysterie beschrieb. Sein Anspruch auf die Priorität bei der Entdeckung der später so genannten kathartischen Methode wäre, so Ellenberger (1996 [1974], S. 1019), von niemandem infrage gestellt worden, wenn er die Fallgeschichten von Lucie, Marie, Marcelle, Madame D. und anderen Patientinnen, die er damals erfolgreich behandelte, veröffentlicht hätte. Van der Hart und van der Velden (1987) haben allerdings gezeigt, dass der holländische Arzt Andries Hoek (1868) die erste Fallstudie über eine kathartische Hypnotherapie veröffentlicht hat. Janets klinische Forschung an der Salpêtrière wurde zur Grundlage seiner Dissoziationstheorie der Hysterie, die er in seiner medizinischen Dissertation darlegte. Seine Ergebnisse fanden nicht nur in Frankreich, sondern auch international große Anerkennung. Nach seiner Promotion zum Doktor der Medizin 1893 schien Janet eine brillante Karriere vor sich zu haben, als mit Charcots plötzlichem Tod eine neue Ära der Psychiatrie begann. Viele Ideen Charcots über die vermeintlich körperliche Natur der Hypnose wurden nun zugunsten der Ansichten, für die sich die Schule von Nancy unter Hippolyte Bernheim einsetzte, fallen gelassen. Die These, dass es sich bei der Hypnose um ein psychisches, allein auf Suggestion beruhendes Phänomen handele, setzte sich durch, und die Hypnose selbst geriet gerade aufgrund ihres psychischen Charakters in Misskredit. Schon bald war Janet der einzige Arzt an der Salpêtrière, der die Hypnose weiterhin zu Forschungs- und Behandlungszwecken einsetzte. Er publizierte zahlreiche Studien über die Hysterie (vgl. Janet, 1898a; 1898b; Raymond & Janet, 1898) und widmete seine Aufmerksamkeit sodann einer breiteren Kategorie der Neurosen, die er als Psychasthenien bezeichnete und der er die Zwangsneurosen, die Phobien, Tics usw. zurechnete. Er dokumentierte diese Studien 1903 in zwei Bänden unter dem Titel Les Obsessions et la Psychasthénie (vgl. Pitman, 1984; 1987). Mittlerweile hatte sich die Stimmung an der Salpêtrière gegen Janet 23
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gewendet. Babinski, zuvor treuer Anhänger Charcots, auch wenn er sich ausschließlich für den neurologischen Teil der Lehre seines Mentors interessierte, begann, die Hysterie als Ergebnis einer Suggestion, ja sogar als eine Form der Simulation zu betrachten, einer Störung, die sich, so Babinski (1901; 1909), »durch Gegensuggestion (die er ›persuasion‹ nannte)« (Ellenberger; 1996 [1974], S. 1048) vollständig beseitigen lasse. Déjerine hielt die Hypnose für moralisch verwerflich (vgl. Janet, 1919; Ellenberger, 1996 [1974]). Als er 1910 Direktor der Salpêtrière wurde, musste Janet, der Meister der Hysterie und der Hypnose, gehen. In Nord- und Südamerika, wo er seit 1904 auf Vortragsreisen unterwegs war, empfing man ihn mit offenen Armen. Anlässlich der 300-Jahr-Feier der Harvard University wurde ihm 1936 die Ehrendoktorwürde verliehen. Seine Harvard-Vorlesungen, 1906 unter dem Titel The Major Symptoms of Hysteria ( Janet, 1907b) erschienen, finden heute mehr und mehr Aufmerksamkeit. Ein Jahrzehnt zuvor, 1896, war Janet am Collège de France, einer berühmten Pariser Hochschule, zum Professor der Psychologie ernannt worden. Diesen Lehrstuhl hatte er, zuerst als Ribots Stellvertreter, dann als sein Nachfolger, bis 1934 inne. Zahlreiche seiner Seminare wurden vollständig oder in Zusammenfassung veröffentlicht (vgl. Janet, 1919; 1920; 1925; 1926b; 1927a; 1929a; 1932a; 1932b; 1936a; Horton, 1924; Bailey, 1928). Da er verpflichtet war, alljährlich ein neues Thema zu behandeln, nutzte er die Seminare als Möglichkeit, seine psychopathologischen Beobachtungen und die normale Psychologie zu einem einheitlichen System zu kombinieren. Dieses Projekt beginnt sich bereits in L’Automatisme Psychologique von 1889 abzuzeichnen, wo es heißt, dass derjenige, der mit der psychischen Erkrankung vertraut sei, auch keine Schwierigkeiten haben werde, die normale Psychologie zu erforschen. Janet besaß ein bemerkenswertes Talent, ganz unterschiedlich geartetes Material zu einem harmonischen Ganzen zu integrieren (Delay, 1960). Auf diese Weise gelangte er zur Formulierung seiner Verhaltenspsychologie (psychologie de la conduite), einer Synthese mannigfaltiger Verhaltensbeobachtungen unter einem evolutionsphilosophischen Blickwinkel. In seinem Buch Les Stades de l’Évolution Psychologique (1926b) präsentierte er eine hierarchisch geordnete Klassifizierung menschlicher Aktivitäten, angefangen bei den einfachsten bis hin zu den komplexesten Verhaltensweisen. Zwar hat man seine Dissoziationstheorie wiederentdeckt, doch von den Schätzen, die sich in seinem späteren Werk über 24
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die Verhaltenspsychologie und in seinen psychopathologischen Studien – zum Beispiel den Untersuchungen über paranoide Schizophrenie – verbergen, noch kaum Notiz genommen ( Janet, 1932c; 1932d; 1932e; 1936a; 1937a; 1945; 1947a). Sein letztes, unvollendet gebliebenes Werk über die Psychologie des religiösen Glaubens blieb1 unveröffentlicht ( Janet, 1947b). Man vermutet, dass sich die veröffentlichten Arbeiten dieses bedeutenden Mannes, dem das Ausruhen laut seiner Tochter fremd war (Pichon-Janet, 1950), auf mindestens 17.000 Druckseiten belaufen (Prévost, 1973b, S. 10). Da es Janet vorrangig darum zu tun war, seine Schüler zu eigenständigem Denken auf der Basis empirischer Fakten anzuregen, hat er keine Schule oder ideologische Bewegung begründet. Vielmehr entdecken aufgeschlossene Forscher und Kliniker ein ums andere Mal, dass Janet dieselben Beobachtungen anstellte wie sie selbst und dass seine theoretischen Erklärungen nach wie vor als hilfreiche Inspirationsquellen dienen. Dies gilt keineswegs nur für das Gebiet der Dissoziation. Im nächsten Abschnitt stellen wir die Bücher, die Janet über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren publiziert hat, in chronologischer Reihenfolge vor. Den Anfang unserer Übersicht bildet L’Automatisme Psychologique (1889), vor mehr als 130 Jahren erschienen, den Abschluss machen Les Médications Psychologiques (1919). (Auf die Bücher einzugehen, die Janet nach 1919 veröffentlicht hat, würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen.) Die Lektüre eines spezifischen Strangs dieser Schriften lässt keinen Zweifel daran, dass Janet ein begabter Klassifikator war (was sich auch in seiner Leidenschaft für die Botanik widerspiegelte). Ausgehend von diesen Studien, in denen er die unterschiedlichen Manifestationen der Hysterie kategorisierte, formulierte er seine Hypothesen über Ursprünge, Wesen und Beziehungen dieser Phänomene, die schließlich zusammen mit seinen Beobachtungen seine Dissoziationstheorie konstituierten. Ein weiterer Strang seiner Studien besteht aus eingehenden psychologischen Analysen von Fallbeschreibungen. Das letzte hier diskutierte Buch ist Janets Versuch einer systematischen Darlegung der unterschiedlichen Formen der Psychotherapie, die ihm in der Literatur begegneten, und der dynamischen Psychotherapie, die er selbst als Psychotherapeut, der aus verschiedensten Quellen schöpfte, praktizierte. 1 Vor Kurzem posthum unter dem Titel »Les formes de la croyance« herausgegeben (Janet, 2021).
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L’Automatisme Psychologique Janets erstes psychologisches Fachbuch, L’Automatisme Psychologique – »Der psychische Automatismus« –, lag bis vor relativ kurzer Zeit lediglich in französischer Sprache vor. Eine erste Übersetzung, und zwar ins Italienische, ist 2013 erschienen.2 Der Autor stellt seine Dissoziationstheorie sowie sein Modell der funktionellen und strukturellen psychischen Elemente vor und beschreibt psychische Phänomene, die in der Hysterie, Hypnose und Suggestion, in Besessenheitszuständen und im Spiritismus beobachtet werden können ( Janet, 1889), geht aber weit über diese Themen hinaus. Wie der Untertitel des Buches – »Experimentalpsychologischer Essay über die niedrigen Formen menschlicher Aktivität« – nahelegt, ließ Janet die Studie mit der menschlichen Aktivität in ihrer einfachsten, rudimentärsten Form anheben. Sein Ziel war es, diese elementare Aktivität als psychischen Automatismus nachzuweisen: Sie ist automatisch, weil sie regelmäßig und prädeterminiert ist, und psychisch, weil sie mit Sensibilität und Bewusstsein einhergeht (vgl. van der Hart & Horst, 1989). In seinem Modell der Psyche unterscheidet Janet zwischen zwei unterschiedlichen Formen der geistigen Funktionen: Aktivitäten, die die Vergangenheit konservieren und reproduzieren, und Aktivitäten, die auf Synthese und Hervorbringung (d. h. auf Integration) zielen. Das normale Denken kommt durch eine Kombination der beiden Aktivitäten zustande, die wechselseitig voneinander abhängig sind und sich gegenseitig regulieren. Integrative Aktivität »führt mehr oder weniger zahlreiche Phänomene zu einem neuen Phänomen zusammen, das sich von seinen Bestandteilen unterscheidet. In jedem Augenblick des Lebens bringt diese Aktivität neue Kombinationen hervor, die notwendig sind, um den Organismus auf die Veränderungen seiner Umwelt abzustimmen« ( Janet, 1889, S. 483).
Kurzum, diese Funktion organisiert die Gegenwart. Bei reproduktiven, also automatischen Aktivitäten handelt es sich ausschließlich um Integrationen, die bereits in der Vergangenheit hergestellt wurden. 2 2022 erschien die englische Übersetzung dieses Werkes in zwei Bänden (Janet, 2022a; 2022b).
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Janet zufolge lässt sich der psychische Automatismus am klarsten an Personen beobachten, die ihn in extremer Ausprägung zeigen, das heißt an psychiatrischen Hysterie-Patientinnen. In ihrem Fall ist die integrative Aktivität signifikant beeinträchtigt, sodass sich Symptome entwickeln, welche die zur Erhaltung und Reproduktion der Vergangenheit bestimmte Aktivität gewissermaßen in Vergrößerung abbilden. Janet entdeckte, dass diese Patientinnen mehrheitlich an unbewältigten und daher dissoziierten traumatischen Erinnerungen litten. In dieser Population erforschte er Katalepsie, Paralyse, Anästhesie, Kontrakturen, monoideischen und polyideischen Somnambulismus sowie aufeinanderfolgende multiple Persönlichkeiten. Seine Analyse war eine Abkehr von der klassischen Psychologie, die zwischen Intellekt, Affekt und Willen streng unterschieden hatte. Janet zog den Schluss, dass selbst auf der niedrigsten Ebene des psychischen Lebens, auf der Gefühle oder Empfindungen existieren, auch Bewegung existiert. Mithin gibt es kein Bewusstsein ohne Aktivität; selbst einer Idee liegt die natürliche Tendenz inne, sich zu einem Verhaltensakt zu entwickeln. Janets strukturelle Auffassung des Geistes stand mit der Sichtweise früherer französischer Autoren wie Maine de Brian, Moreau de Tours, Ribot und Taine im Einklang. Sie alle gingen davon aus, dass jede menschliche Aktivität eine bewusste Komponente besitzt. Janet setzte dies mit den inneren Regulationsaktivitäten der Psyche, den von Sherrington (1906) sogenannten propriozeptiven Funktionen, in eins. Seine Vorgänger wie auch seine Zeitgenossen nahmen grundsätzlich an, dass der psychische Automatismus aus unbewusst und infolgedessen mechanisch ausgeführten Handlungen bestehe (vgl. Despine, 1880). Janet glaubte, dass die von ihm beobachteten Verhaltensmuster durch bewusste Faktoren determiniert seien, auch wenn sie fehlangepasst waren und von den üblichen Reaktionsmustern der Persönlichkeit abwichen. Der Begriff »automatisch«, der die griechischen Wörter autos (Selbst) und maiomai (nach etwas streben, sich für etwas anstrengen) miteinander verbindet, schloss also eine Selbstbewusstheit keineswegs aus (van der Hart & Horst, 1989). Janet vertrat die Ansicht, dass das Bewusstsein im Fall des psychischen Automatismus nicht Teil des personalen Bewusstseins sei, dass es nicht mit der personalen Wahrnehmung verbunden sei und dass es eines Selbstgefühls der Persönlichkeit (idée du moi) entbehre. Stattdessen existiert dieses Bewusstsein auf einer unterbewussten Ebene. Ellenberger (1996 [1974], S. 555; vgl. 2. Kapitel) betont, dass heute nur wenige Menschen wissen, dass der Begriff »unterbewusst« von Janet gemünzt wurde. Dieser beschrieb also unterschiedliche 27
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Bewusstseinsebenen. Weil die Erforschung elementarer Formen der Aktivität eine Erforschung basaler Formen des Empfindens und des Bewusstseins war, betonte er gleichzeitig auch die Einheit von Körper und Geist. Der psychische Automatismus tritt sowohl als vollständiger wie auch als partieller Automatismus auf. Im Falle des vollständigen Automatismus, zum Beispiel in somnambulen Zuständen und hysterischen Krisen, wird die gesamte Psyche von der Reproduktion einer früheren Erfahrung beherrscht. Ein partieller Automatismus liegt vor, wenn lediglich ein Teil der Psyche betroffen ist. Dies ist zum Beispiel bei einer systemischen Anästhesie der Fall, bei der die Berührung eines Gegenstandes vom personalen Bewusstsein nicht wahrgenommen wird, wohl aber von einem zweiten Bewusstsein, einem verborgenen Beobachter, wie Hilgard (1977) es fast 100 Jahre später ausdrückte. Sowohl der vollständige als auch der partielle Automatismus gehen mit unterbewussten psychischen Phänomenen einher: mit Systemen aus fixen Ideen und aus Funktionen, die sich der personalen Kontrolle und Wahrnehmung entziehen. Diese dissoziierten Systeme sind vom personalen Bewusstsein abgetrennt. Einige von ihnen bleiben in rudimentärer Form mit einem rudimentären Selbstgefühl bestehen, beispielsweise in kataleptischen Zuständen, in denen die Psyche von nur einem einzigen Gedanken und einer einzigen automatischen Handlung beherrscht wird. Weniger primitiv ist die hysterische Krise, eine dissoziative, mit Amnesie einhergehende Episode, in der unter Umständen ein traumatisches Erlebnis reinszeniert wird. Janet stellte dieses Krankheitsbild in seinem Fallbericht über Marie vor, den Ellenberger (1996 [1974], S. 492–496) vollständig zitiert. Die Patientin litt unter Krisen, in denen sie das traumatische Erleben ihrer ersten, im Alter von 13 Jahren eingetretenen Menstruation wiederholte. Zudem war sie infolge eines noch früheren Kindheitstraumas auf dem linken Auge dauerhaft erblindet. Janets Behandlung demonstrierte, dass die Korrektur ihrer kognitiven Verzerrung der Menarche und die Modifizierung des Inhalts ihrer dissoziierten Zustände, in denen sie das im Alter von sechs Jahren erlittene Trauma aufs Neue durchlebte, zum Verschwinden dieser Zustände und der damit einhergehenden Symptome führten. Für gewöhnlich verbindet sich eine Vielzahl dissoziierter Elemente und Systeme zu komplexeren Existenzen. Bestimmte Träume, bestimmte fixe Ideen, die mehr oder weniger unterbewusst sein können, werden zu Zentren, um die herum sich zahlreiche psychische Phänomene zu einer distinkten Existenz oder Persönlichkeit anlagern, die über ein eigenes 28
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Selbstgefühl sowie über eine eigene Lebensgeschichte verfügt. Diese aufeinanderfolgenden Existenzen oder alternierenden Persönlichkeiten können mit der äußeren Realität interagieren und sich weiterentwickeln, indem sie neue Eindrücke dauerhaft in sich aufnehmen. Janet drückte sich diesbezüglich nicht ganz eindeutig aus, zeigte aber anhand seiner Beispiele, dass diese Existenzen auch höhere psychische Funktionen wie autonomen Willen und kritische Urteilskraft erwerben können. Binet (1890) hat auf diese spezielle Vagheit in Janets Werk hingewiesen, die unserer Meinung nach mit einem Paradoxon zusammenhängt, mit dem sich Janet konfrontiert sah. Eigentlich hatte er untersuchen wollen, wie sich menschliche Aktivität in ihrer einfachsten Form bei Hysterikern manifestiert. Er stellte jedoch fest, dass bestimmte dieser dissoziierten elementaren Aktivitätsformen tatsächlich hochentwickelt waren, einschließlich der Fähigkeit zu denken, zu urteilen, Erinnerungen zu speichern usw. Entgegen seinen Erwartungen waren integrative und kreative Aktivitäten auf der Ebene der Persönlichkeit (mitsamt einem Selbstgefühl) präsent, gelangten aber im normalen Wachzustand nicht ins personale Gewahrsein. Das heißt, Janet wollte einfachste Phänomene untersuchen, entdeckte aber hochkomplexe, und ebendiese Unstimmigkeit lässt die erste Darstellung seiner Beobachtungen so verwirrend erscheinen. Mithin führten Janets Beobachtungen von der Hypothese des Fehlens kreativer Synthesefunktionen in der Persönlichkeit zur Anerkennung ebendieser Funktion in einer vom bewussten Gewahrsein dissoziierten Existenz. Weil diese Funktion (die häufig zur Charakterisierung der Persönlichkeit herangezogen wird) im Wachzustand nicht verfügbar, aber im Hypnosezustand zugänglich war, entdeckte Janet zuerst die dissoziierte Existenz und erkannte dann die Notwendigkeit, eine Theorie der Dissoziation zu formulieren. Janet brachte die Entstehung unterbewusster Phänomene bei hysterischen Patientinnen mit der Einengung ihres Bewusstseinsfeldes in Verbindung. Dieses Konzept beschreibt die Reduzierung der Anzahl psychischer Phänomene, die in ein und demselben Bewusstsein gleichzeitig vereint oder integriert werden können. Manche Phänomene werden bewusst wahrgenommen, andere in einen unterbewussten Bereich verwiesen – vergleichbar im Grunde mit der Art und Weise, wie zentrale und periphere Gegenstände im Gesichtsfeld bemerkt werden. Janet verstand die Verengung des Bewusstseinsfeldes als eine der beiden grundlegenden Eigenschaften der Hysterie. Die zweite typische Eigenschaft ist die Dissoziation. 29
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Dissoziation und geistiger Zerfall (désagrégation) – Begriffe, die ursprünglich von Moreau de Tours (1845) eingeführt worden waren – bezeichnen die Art und Weise, wie diese Einengung des Bewusstseinsfeldes bei hysterischen Patienten vonstattengeht. Die Dissoziation ist die Form, in der sich diese Auflösung äußert. Allerdings benutzte Janet beide Begriffe in all seinen Schriften austauschbar. Eine Dissoziation erfolgt, wenn diese oder jene Faktoren die Integrationsfähigkeit beeinträchtigen. Diese Beeinträchtigung führt zur Teilung oder Verdoppelung (dédoublement), Abtrennung und Isolation bestimmter psychischer Regulationsaktivitäten. Die Komplexität dieser dissoziierten Aktivitätssysteme variiert von einem einfachen Bild, einem Gedanken oder einer Aussage und den damit verbundenen Gefühlen oder körperlichen Manifestationen bis zu den »Persönlichkeitszuständen« von Patienten mit dissoziativer Identitätsstörung (DIS; APA, 2013). Diese Persönlichkeitszustände haben ihre je eigene Identität, eine eigene Lebensgeschichte und überdauernde Muster, ihre Umwelt wahrzunehmen, über sie nachzudenken und mit ihr in Beziehung zu treten (van der Hart & Horst, 1989) – kurzum, sie besitzen eine eigene Perspektive der ersten Person (Nijenhuis & van der Hart, 2011). Die dissoziierten Aktivitätscluster oder Existenzen wechseln sich, was die Kontrolle des Körpers betrifft, entweder mit dem personalen Bewusstsein ab oder bestehen neben ihm. In später verfassten Arbeiten erklärte Janet (1909a; 1910b) sogar, dass bei bestimmten Patienten eine dissoziative, in der Hypnose aktivierbare Persönlichkeit ein gesunderer Bewusstseinszustand sei als die Persönlichkeit des sogenannten Wachzustandes. Während Kliniker wie Bernheim und Babinski die Hypersuggestibilität als basales Charakteristikum hysterischer Patienten betrachteten, führte Janet sie auf die Einengung des Bewusstseinsfeldes und die erhöhte Dissoziationsneigung zurück. Der Patient ist suggestibel, weil dissoziierte Anteile der Psyche nicht über die höheren geistigen Funktionen der kritischen Urteilskraft verfügen. Durch Zerstreuung des Patienten kann der Hypnotiseur unmittelbar mit diesen Anteilen kommunizieren. Ironischerweise traf Janet aber auch auf dissoziierte Existenzen, die keineswegs suggestibel waren, sondern eine starke eigene Willens- und Urteilskraft bekundeten. Janet führte das Konzept der psychischen Schwäche zur Bezeichnung des mentalen Status von Patienten mit verengtem Bewusstseinsfeld ein, deren Integrationskräfte so stark beeinträchtigt waren, dass es zu Dissoziationsphänomenen kam. In späteren Schriften stellte er diese psychische Schwäche in den breiteren Rahmen des für alle Menschen üblichen Oszil30
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lierens der psychischen Funktionsebene ( Janet, 1905; 1919; 1920; 1921; 1925; 1934; vgl. Sjövall, 1967). Körperliche Krankheit, Erschöpfung und intensive, mit traumatischen Erlebnissen einhergehende Emotionen wie extreme Furcht und Wut sind Hauptursachen der psychischen Schwäche. Charakteristisch für diesen Zustand ist eine gravierende Reduzierung der psychischen Integrationskraft und – bei hysterischen Patienten – eine Zunahme der Dissoziationsphänomene. In L’Automatisme Psychologique (1889) wie auch in einem früheren Beitrag (1886a) zeigte Janet, dass solche intensiven emotionalen Erfahrungen dissoziiert werden können (und einer Amnesie unterliegen), um dann in hysterischen Krisen wiederaufzutauchen. Sie werden zu unterbewussten Zentren, um die herum sich – wie bei »Marie« und »Lucie« – andere psychische Phänomene arrangieren. Eine kurze Zusammenfassung kann dem Reichtum der psychologischen Beobachtungen und Überlegungen, die Janet in L’Automatisme Psychologique ausbreitet, nicht Genüge tun. Das Buch enthält zahlreiche Funde, die zu weiteren Untersuchungen anregen. Ein faszinierendes Beispiel betrifft die unterschiedliche Sinneswahrnehmung in somnambulen Zuständen. Janet beobachtete, dass Patienten etwa im Wachzustand vorwiegend visuell wahrnehmen können, akustisch in einem somnambulen Zustand und kinästhetisch in einem anderen. Möglich ist sogar ein Zustand des »perfekten Somnambulismus« mit ausgewogener Integration sämtlicher Sinne. Dass dieses Buch nie übersetzt wurde, ist fürwahr bedauerlich. Mehr als 120 Jahre nach seiner französischen Originalveröffentlichung und fast zehn Jahre nach der italienischen Ausgabe wurde es für eine englische – und wäre es für eine deutsche – Übersetzung höchste Zeit.
L’État Mental des Hystériques Dieses Buch wurde ursprünglich in zwei Bänden gleichen Titels (L’État Mental des Hystériques) veröffentlicht, der erste mit dem Untertitel Les Stigmates Mentaux (1893a; dt.: Der Geisteszustand der Hysterischen, 1894). Beim zweiten Band mit dem Untertitel Les Accidents Mentaux (1894b) handelte es sich um die Buchhandelsausgabe von Janets medizinischer Dissertation, Contribution à l’Étude des Accidents Mentaux chez les Hystériques ( Janet, 1893b). Beide Werke, in englischer Übersetzung 1901 erschienen, sind sorgfältige deskriptive Studien, die Janet auf die Beobachtungen 31
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stützte, die er an 120 eigenen Patienten und Patientinnen sowie an 20 weiteren seiner Kollegen anstellte, darunter auch Despines Patientin Estelle (Despine, 1840). Vor etlichen Jahren haben Fine et al. über diesen Fall berichtet (Fine, 1988; McKeown & Fine, 2008). Was seine eigenen Beobachtungen betraf, so erläuterte Janet (1930a), dass er alles, was seine Patientinnen sagten und taten, schriftlich festzuhalten pflege – eine Gewohnheit, die ihm den Spitznamen »Doktor Schreibstift« einbrachte. Seine Analysen dieser systematisierten Beobachtungen ergänzte er um tentative theoretische Interpretationen, die sich auf dieselben Elemente wie seine Dissoziationstheorie reduzieren lassen. Diese Interpretationen wurden zudem an einer kleinen Anzahl von Patienten überprüft. Die Symptome der Hysterie bezeichnete Janet mit den Begriffen »Stigmata« und »akzidentelle Symptome«. Seiner Unterscheidung lag ein bewährtes Klassifikationssystem zugrunde, das in der medizinischen Tradition seiner Zeit wurzelte. Hysterische »Stigmata« sind die wesentlichen, konstitutiven Symptome der Erkrankung, die ebenso ausdauernd, persistent und permanent sind wie diese selbst. Der Patient, der sich unter Umständen geschwächt fühlt, aber nicht in der Lage ist, seine Symptome korrekt zu spezifizieren, zeigt sich gegenüber seiner Symptomatik relativ indifferent. Deshalb vertrat Janet die Ansicht, dass der Kliniker die Initiative ergreifen und diese chronischen Stigmata identifizieren müsse, weil die Patienten selbst sie in der Regel nicht zur Sprache bringen. »Akzidentelle Symptome« sind die akuten, vorübergehenden, paroxysmalen Erscheinungen, die intermittierend auftreten. Sie werden von den Patienten als schmerzhaft erlebt und können als Repräsentationen eines psychischen Traumas verstanden werden (vgl. Meares, Hamshire, Gordon & Kraiuhin 1985). Demnach ist die hysterische Anästhesie ein Stigma, ein hysterischer Anfall (akute Episode) hingegen ein akzidentelles Symptom. In einer späteren Arbeit nahm Janet von dieser medizinisch basierten Position Abstand und rückte das Konzept der Persönlichkeit ins Zentrum seiner Erklärung: »Die Persönlichkeit ist ein menschliches Konstrukt, erzeugt mit allen Mitteln, die den Menschen zur Verfügung stehen […]. Die Persönlichkeit ist ein Kunstwerk, von Menschen erschaffen, im Guten wie im Bösen, unvollständig und unvollkommen« ( Janet, 1929a, S. 502f.). Im ersten Teil von Der Geisteszustand der Hysterischen, »Die psychischen Stigmata«, behandelt Janet Anästhesien, Amnesien, Abulien, Negativsymptome von Bewegungsstörungen und charakterliche Verän32
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derungen, die er allesamt als psychische Stigmata betrachtete. Detailliert beschrieb er die unterschiedlichen Formen und Manifestationen dieser Negativsymptome (Stigmata). So beschrieb er systemische, lokalisierte und generalisierte Anästhesien. Er verstand die hysterische Anästhesie als eine starke und kontinuierliche Zerstreutheit, die den Patienten aufgrund der Verengung des Bewusstseinsfeldes die Fähigkeit raubt, bestimmte Empfindungen mit ihrer Persönlichkeit in Verbindung zu bringen. Infolgedessen existieren diese Empfindungen unterbewusst. Eine entsprechende Analyse erfolgte mit Blick auf die Amnesien. Anhand zahlreicher Beispiele zeigte Janet, dass sich eine hysterische Amnesie häufig im Gefolge intensiver, im Kontext traumatischer Erfahrungen ausgelöster und dissoziierter Gefühle entwickelt. Bei der Abulie, einem Konzept, dem die heutige Psychiatrie und Psychologie wenig Aufmerksamkeit zollen, handelt es sich um eine Willensschwäche, die sich in einer Tendenz zur Indolenz, Zögerlichkeit, Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit und in der Unfähigkeit zu gedanklicher Konzentration äußert. Die Abulie ist nicht auf die Hysterie beschränkt, zeigt sich in dieser Störungskategorie aber typischerweise im Erhalt unterbewusster Handlungen und im Verlust der personalen Wahrnehmung von Handlungen in der gegenwärtigen Realität. Als wesentlicher Teil zahlreicher Störungen spielt dieses Stigma mit zunehmender Verschlechterung des psychischen Zustands eine immer größere Rolle. Die Tendenz zum Tagträumen, zur Apathie oder Anhedonie sowie die Neigung zu Gefühlsausbrüchen nehmen signifikant zu. Diese Erschöpfung der Vitalität und Intensivierung der Abulie, die Janet an seinen hysterischen Patientinnen und Patienten beobachtete, begegnet heutigen Klinikern regelmäßig, vor allem wenn sie Menschen mit chronischer posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) behandeln (vgl. van der Hart, Nijenhuis & Steele 2006; van der Kolk, Brown & van der Hart 1989). Titchener (1986) spricht von einem posttraumatischen Verfall, für den Apathie, eine Tendenz, sich aus normalen Interaktionen mit der Umwelt zurückzuziehen, und eine hypochondrische Präokkupiertheit mit dem eigenen Körper charakteristisch sind. Janets Beschreibung der mit der Hysterie einhergehenden charakterlichen Veränderungen seiner Patienten lässt tatsächlich an Phänomene denken, die wir heute der Rubrik des posttraumatischen Verfalls zuordnen: wiederkehrendes Träumen vom traumatisierenden Erlebnis einschließlich Tagträumen; eingeklemmter Affekt oder Alexithymie bei gleichzeitiger 33
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extremer Erregbarkeit mit Tendenz zu Gefühlsausbrüchen. Es ist wichtig, die Abulie nicht als spezifisches Stigma allein der Hysterie zu betrachten. Dieses Muster der (1) Schwächung des personalen Willens, der Entscheidungskraft und der Fähigkeit der Patienten, Aktivität zu initiieren, der (2) Zunahme des Tagträumens und der Apathie sowie (3) übersteigerter emotionaler Reaktionen liegt mehreren derzeit identifizierten Störungen zugrunde. Gegen Ende des ersten Teils charakterisiert Janet die Hysterie als einen »Mangel der geistigen Einheit, […] Einschränkung der seelischen Verknüpfungsfähigkeit und […] Erhaltenbleiben der automatischen Vorgänge, die in übertriebener Entwicklung hervortreten« ( Janet, 1894 [1893a], S. 197). Im zweiten Teil versucht Janet zunächst, die gemeinsamen psychischen Aspekte der höchst unterschiedlichen hysterischen akzidentellen Symptome herauszuarbeiten: Suggestion, unterbewusste Handlungen und fixe Ideen. Er war der Ansicht, dass die vollständige und automatische Entwicklung von Ideen außerhalb des Willens und der personalen Wahrnehmung der Patienten erfolge: »Mit ihrer automatischen und unabhängigen Entwicklung sind Suggestionen die eigentlichen Parasiten des Geistes« ( Janet, 1901, S. 267). Handlungen, die aus Suggestionen resultieren, werden abgetrennt, das heißt isoliert, von der Persönlichkeit ausgeführt. Aus ebendiesem Grund bezeichnete Janet sie als unterbewusste Handlungen. Patienten, die an einer Hysterie in Janets Sinn leiden, sind in der Regel hochgradig suggestibel. Bestätigt wird dies durch Studien über Patienten mit dissoziativen Störungen und posttraumatischer Belastungsstörung (Bliss, 1986; Spiegel, Hunt & Dondershine 1988). Janet analysierte Zustände, in denen seine Patienten weniger suggestibel waren. Zwei der häufigsten Zustände mit verminderter Suggestibilität fand er bei Patientinnen, die mit einer eigenen fixen Idee präokkupiert waren und geheilt wurden. Als Zeichen der Heilung betrachtete er eine stark reduzierte Tendenz zu dissoziieren und eine zunehmend integrierte Persönlichkeit. Weil in einer integrierten Persönlichkeit per definitionem keine komplex entwickelten dissoziierten Anteile (Selbste) vorhanden sind, können solche Anteile auch nicht aktiviert werden. Ein künstlicher Somnambulismus – im engen Sinn einer tiefen Hypnose – lässt sich kaum herbeiführen. Ein eher leichter Trancezustand hingegen, in dem die Kontinuität des Selbstgefühls erhalten bleibt, ist möglich. Obwohl Janet auf mehrere Ausnahmen von seiner Regel traf, gab er seine Position (die heute nicht einhellig anerkannt ist) 34
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nicht auf. Gegen Ende ihrer Behandlung berichtete zum Beispiel Marcelle, eine seiner Patientinnen, unter Hypnose und mittels des automatischen Schreibens, dass sie endgültig geheilt sei. Da sie aber weiterhin die dissoziativen Phänomene der tiefen Hypnose und des automatischen Schreibens aufwies, beurteilte Janet (1891; 1898a) ihre Prognose pessimistisch. Während Suggestionen gewöhnlich von anderen Menschen ausgehen, entwickeln sich fixe Ideen in der Regel infolge zufälliger Ereignisse, zum Beispiel traumatischer Erlebnisse und hysterischer Episoden, um die Psyche fortan in Träumen und somnambulen Zuständen vollständig zu beherrschen und darüber hinaus auch im Wachzustand ins normale Bewusstsein einzudringen. Janet berichtet zum Beispiel von einer Frau, die eine Straße entlanglief und im Kontext kurzer dissoziativer Episoden merkwürdige Sprungbewegungen vollführte. Er hypnotisierte sie und entdeckte, dass sie ihren Suizidversuch reinszenierte: einen Sprung in die Seine. Ein Seemann wiederum, der beim Gehen ständig eine nach vorn gebeugte Haltung einnahm, reinszenierte ein traumatisches Erlebnis, bei dem ihm ein schwerer Balken auf den Brustkorb gefallen war – ein Beispiel für eine Kontraktur. Janet führt zahlreiche Fälle an, um zu illustrieren, dass fixe Ideen psychischen Zufallssymptomen wie Dysästhesien, Hyperästhesien, Tics und chorischen Bewegungen, Paralysen und Kontrakturen zugrunde liegen. Die meisten dieser Patienten sind sich dieser fixen Ideen, die auch die Stigmata (Grundsymptomatik) beeinflussen, indem sie das personale Wahrnehmungsvermögen beeinträchtigen, nicht bewusst. Hysterische Anfälle sind intensive, vorübergehende und periodisch wiederkehrende Ereignisse, in deren Verlauf das normale Bewusstsein der Patienten gewöhnlich verschwindet. Janet kategorisierte mehrere Typen dieser emotionalen Anfälle: Anfälle von Tics und Clownismus, Anfälle von fixen Ideen und Ekstasen sowie vollständige Anfälle. Die zugrunde liegenden fixen Ideen werden während der Anfälle gewöhnlich in lebhafte Halluzinationen und Körperbewegungen transformiert. Janet war der Ansicht, dass die Anorexia nervosa in den meisten Fällen hysterischer Natur sei. Ein Beispiel für den Anfall einer fixen Idee wären die inneren Kommandos, die ein anorektischer Patient hört, sobald er zu essen versucht: »Iss das nicht. Du hast kein Bedürfnis zu essen.« Janet beschrieb die verschiedenen Formen des Somnambulismus als abnorme Bewusstseinszustände, die häufig mit spezifischen eigenen Erinnerungen einhergehen und an die sich der Patient nicht mehr erinnert, sobald er in seinen normalen Zustand zurückgekehrt ist. Diese Amnesie ist darauf 35
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zurückzuführen, dass sich die gesamte Organisation der psychischen Phänomene im somnambulen Zustand auf bestimmte Empfindungen oder fixe Ideen konzentriert, die von der habituellen Persönlichkeit nicht wahrgenommen werden. Ist der Patient geheilt, so Janet in Anlehnung an Despine (1840), verschwinden diese Zustände, das heißt, sie verschmelzen zu einem einzigen Zustand. Abschließend beschrieb er die hysterische Psychose und führte sie auf die Dominanz der Abulie (Verfall des psychischen Funktionsniveaus) und die wachsende geistige Verwirrtheit zurück. Patienten mit dieser Störung pflegen ihre Wachträume mit normalen Wahrnehmungen sowie mit normalen wie auch traumatischen Erinnerungen zu verwechseln. An ihren besonders lebhaften Halluzinationen sind oft sämtliche Sinne beteiligt (vgl. van der Hart, Witztum & Friedman, 1993b). Janet beschloss seine psychologische Analyse der Hysterie mit der vorläufigen Definition, der zufolge sie eine Form der psychischen Auflösung darstellt, die durch eine Tendenz zu permanenter und vollständiger Spaltung (dédoublement) der Persönlichkeit charakterisiert ist. Auch wenn die Unterscheidung zwischen psychischen Stigmata und psychischen Zufallssymptomen nicht immer klar ist, gibt es bis heute für Kliniker keine bessere Orientierungshilfe, um die zahlreichen Manifestationen, die Janets eigene Dissoziationstheorie am besten erklärt, zu erkennen. Sie ist auch eine exzellente Referenzquelle, die demonstriert, wie viel man in der psychiatrischen Welt schon vor mehr als einem Jahrhundert über die Dissoziation wusste. Die englische Ausgabe wurde 1977 nachgedruckt.
Névroses et Ideés Fixes Während und nach der Arbeit an Der Geisteszustand der Hysterischen veröffentlichte Janet zahlreiche Artikel mit detaillierteren Beschreibungen, Krankengeschichten und Analysen seiner Patienten. Diese Arbeiten erschienen gesammelt im ersten Band von Névroses et Ideés Fixes: Études Expérimentales sur les Trouble de la Volonté, de l’Attention, de la Mémoire; sur les Émotions, les Idées Obsédantes et leur Traitement (1898a). Ellenberger (1996 [1974]) geht auf einige dieser ungemein interessanten Fälle ausführlich ein. Als fixe Ideen werden Gedanken oder geistige Bilder bezeichnet, die un36
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verhältnismäßig große Bedeutung gewinnen, emotional hochbesetzt sind und bei Patienten mit Hysterie von der habituellen Persönlichkeit oder dem personalen Bewusstsein isoliert werden ( Janet, 1894a; 1898a). Wenn sie das Bewusstsein beherrschen, bestimmen sie auch das Verhalten. Diese Ideen manifestieren sich, modern ausgedrückt, auch in Flashbacks oder intrusiven Gedanken. Janet betrachtete sie als dissoziative Phänomene und als Bestandteile unterbewusster fixer Ideen. Fixe Ideen können isoliert bleiben oder Verbindungen mit neuen Eindrücken oder auch anderen fixen Ideen eingehen. Wahrgenommen werden sie in Träumen, dissoziativen Episoden wie hysterischen Anfällen sowie in zahlreichen der Kommunikationsmodi, die während der Hypnose – dem Medium der Wahl zur Aufdeckung und Erforschung fixer Ideen – zum Einsatz kommen. Janet traf eine wichtige Unterscheidung zwischen primären und sekundären fixen Ideen. Eine primäre fixe Idee ist das Gesamtsystem oder der Gesamtkomplex von Eindrücken (visuellen, auditiven, kinästhetischen usw.) eines bestimmten traumatisierenden Ereignisses mitsamt den entsprechenden Emotionen und Verhaltensweisen – und, so würden wir hinzufügen, einem spezifischen Selbstgefühl. Sekundäre fixe Ideen haben die gleichen Eigenschaften wie die primären und treten nach dem (durch Behandlung erreichten) Verschwinden der zentralen fixen Idee auf. Janet teilte sie in drei Gruppen ein: (1) Abgeleitete fixe Ideen gehen aus einer Assoziation mit der Hauptidee hervor. Wenn die primäre fixe Idee der Tod ist, könnte die abgeleitete zum Beispiel Angst vor Friedhöfen oder Sargschmuck sein. (2) Geschichtete fixe Ideen resultieren aus traumatischen Erlebnissen des Patienten, die dem Ereignis, das die vollentwickelte hysterische oder dissoziative Störung auslöste, zeitlich vorausgingen. In der Behandlung erleben wir in solchen Fällen, dass die Auflösung der primären fixen Idee das Problem des Patienten nicht etwa zum Verschwinden bringt, sondern dass eine weitere fixe Idee an die Stelle der aufgelösten tritt. Das Konzept der geschichteten fixen Ideen entspricht der heutigen Konzipierung traumatischer Schichten. Janet empfahl, diese fixen Ideen der Reihe nach aufzulösen, wobei mit der jüngsten begonnen wird und die Behandlung bis zu den ältesten zurückgeht. (3) Akzidentelle fixe Ideen sind völlig neu und werden durch ein Ereignis im Alltagsleben hervorgerufen. Bei unverzüglicher Behandlung können sie leicht ausgelöscht werden. Ihre bloße Existenz beweist allerdings, dass sich der Patient in einem hypersensiblen Zustand befindet. Heute würden wir eine akzidentelle fixe Idee als konditionierte oder 37
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stressbedingte Reaktion auf einen Trigger bezeichnen. Sie begegnet uns bei Patienten, die auf scheinbar neutrale Stimuli in ihrer aktuellen Umwelt überreagieren oder verzerrte Reaktionen zeigen. Bei dissoziativen Störungen produzieren akzidentelle fixe Ideen je nach Art der Störung mannigfaltige dissoziative Reaktionen. Im Falle der dissoziativen Identitätsstörung wird häufig das Wechseln zu einem anderen dissoziativen Persönlichkeitsteil beobachtet (Friedman, 1988). Wenn man in der Therapie die primäre fixe Idee aufdeckt, kann man den Kern des traumatischen Problems behandeln. Die Gruppe der sekundären Probleme und Symptome aber erfordert eine eigene Behandlung. Sekundäre fixe Ideen können Verhaltensweisen hervorrufen, die Reaktionen auf frühere Traumata oder auf die primäre fixe Idee darstellen. Wenn lediglich diese Verhaltensweisen in der Behandlung getilgt oder korrigiert werden, bleibt der Kern des Problems gleichwohl bestehen. Offenkundig muss eine gewissenhafte Behandlung sowohl die primäre fixe Idee als auch die sekundären berücksichtigen, damit ein Rückfall oder eine lediglich partielle Heilung vermieden werden. Ein aussagekräftiges Beispiel für die Behandlung beider Ebenen ist der Fall Justines, einer 40-jährigen Patienten, die ambulant an der Salpêtrière behandelt wurde. Janet (1894b) widmete ihr einen 55 Seiten umfassenden Bericht. Justine hatte im Anschluss an eine schwere Infektion, die sie als Sechsjährige durchgemacht hatte, und eine darauffolgende Typhus-Erkrankung gravierende dissoziative Symptome entwickelt. Aus einem freundlichen, liebevollen Mädchen war eine störrische Göre mit einer Schneckenund Würmerphobie geworden. Der Hausarzt, der sie als Neunjährige behandelte, setzte ihr eine fette Schnecke an den Hals. Justine fiel rücklings um, verlor das Bewusstsein und erlitt bei dem Sturz mehrere Knochenbrüche. Als sie wieder zu sich kam, war sie von der Erinnerung an die Schnecke auf ihrem Hals besessen. Als ihre Katze wegen einer schlimmen Verletzung eingeschläfert werden musste, reagierte Justine mit einem hysterischen Anfall und bekam einen Hautausschlag. Im Laufe der Zeit wiederholten sich die mit Hautausschlägen einhergehenden Anfälle. Zudem wurde Justine extrem dick. Ihre Mutter war Krankenschwester und wachte gelegentlich bei sterbenden Patienten. Justine begleitete sie gelegentlich und entwickelt eine morbide Angst vor Krankheit und Tod. Im Alter von 17 Jahren erblickte sie dann die nackten Leichname zweier Patienten, die an Cholera gestorben waren. Daraufhin überkam sie panische Angst vor der Cholera. Das Bild verfolgte 38
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sie noch mehr als zehn Jahre später während ihrer hysterischen Anfälle. Mehrmals täglich wurde sie blass, schwitzte und rief wiederholt: »Cholera … sie holt mich!« mit dem Wort »Cholera« war eine permanente schwere Phobie verbunden. In diesem Fall beobachtete Janet die fixen Ideen detailliert und stellte fest, dass er zwischen primären und sekundären unterscheiden konnte. Eine seiner Techniken bestand darin, das Bild der primären fixen Idee unter Hypnose zu aktivieren und dann zu modifizieren. Janet versetzte Justine in einen künstlichen somnambulen Zustand und deckte auf, was während der hysterischen Krise in ihr vorging. Sie sah das Bild der beiden nackten Leichen, roch den Verwesungsgestank, hörte eine Glocke erklingen und das Weinen der Cholerakranken. Sie nahm die Schreie der Opfer wahr, das Erbrechen, den Durchfall und die Krämpfe. Dieses traumatisierende Erlebnis okkupierte ihre gesamte Sinneswahrnehmung und wurde zu einer fixen Idee, einem psychischen System, das ihr Bewusstsein, sobald es aktiviert wurde, vollständig unter seine Kontrolle brachte und für andere Gedanken oder Handlungen keinerlei Raum ließ. Janet stellte fest, dass die einzige Möglichkeit, Justine zu erreichen, darin bestand, sich als Teilnehmer in ihr privates Drama einzuschalten. Während sie die Szene in Hypnose erneut durchlebte, bediente Janet sich seiner Substitutionstechnik und führte ein Gespräch mit ihr, um die Inhalte zu modifizieren (vgl. 11., 12. und 13. Kapitel). Nach und nach konnte er Justine Transformationen des Bildes suggerieren: Die Leichen waren nun angekleidet, und eine von ihnen erhielt die Identität eines chinesischen Generals, den Justine auf der Weltausstellung gesehen hatte. Als sie in der Lage war, den General auf komische Weise marschieren zu sehen, tauchten die Bilder des traumatisierenden Erlebnisses nur noch in ihren Träumen, nicht aber während der hysterischen Anfälle auf. Die Traumbilder behandelte Janet, indem er harmlose Träume suggerierte. Das Trauma verschwand auch aus den Träumen. Dieser Erfolg wurde nach einjähriger Behandlung erzielt. Trotz der Transformation der propriozeptiven primären fixen Idee blieb Justines Phobie vor dem Wort »Cholera« bestehen, und zwar auf bewusster wie auch auf unterbewusster Ebene. So beobachtete Janet, dass Justine das Wort flüsterte, während sie einer anderen Tätigkeit nachging. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das Wort selbst und suggerierte der Patienten, dass es der – dreisilbige – Familienname des chinesischen Generals sei: Cho-le-ra. Sodann ließ er sie zu der ersten Silbe im automatischen Schreiben andere Endungen assoziieren, zum Beispiel »cho-colate«. 39
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Nun veränderte er die Aussprache der ersten Silbe zu »co« und fügte ihr unterschiedliche Endungen an: comme, colon, cororiko usw., bis Justine sie nicht länger mit dem Wort »Cholera« assoziierte und sich nicht einmal mehr an das Wort, das sie gequält hatte, erinnerte. Auch ein erneuter Choleraausbruch ließ sie unbeeindruckt. Diese Behandlungsphase erstreckte sich über zehn Monate. Janet beabsichtigte, Justine von ihren anderen Halluzinationen zu befreien, als diese spontan verschwanden. Dennoch war die Patientin nicht geheilt. Nach dem Verschwinden der primären fixen Idee begannen sich sekundäre zu entwickeln. An die Stelle der Angst vor Tod und Krankheit trat eine morbide Furcht vor Särgen und Friedhöfen: abgeleitete fixe Ideen. Justine weigerte sich, Obst oder Gemüse zu essen: eine abgeleitete fixe Idee in Reaktion auf die Angst vor Cholera. Zudem litt sie unter mannigfaltigen akzidentellen fixen Ideen. Wir dürfen annehmen, dass Janet sie unverzüglich behandelte, indem er die Verbindung zwischen dem Stimulus (Trigger) und seiner automatischen Assoziation zu einem Trauma trennte. Sein genereller Ansatz, Justines Lern- und Integrationsfähigkeiten anzuregen, half der Patientin, die Entwicklung dieser akzidentellen fixen Ideen selbst zu verhindern. Janet konzentrierte sich in Justines Fall beinahe ausschließlich auf ihre traumatischen Erinnerungen an die Choleratoten und auf damit zusammenhängende sekundäre fixe Ideen. Er nahm an, dass die geschichteten fixen Ideen in diesem Fall keine wichtige Rolle spielten. Allerdings wusste er, dass Justine als Kind wiederholt beängstigenden Ereignissen und emotionalen Schockerlebnissen (traumatischen Erfahrungen) ausgesetzt war, über deren Inhalt er nichts mitteilt. Heute würden wir der Untersuchung der Kindheitstraumata vermutlich größere Aufmerksamkeit widmen. Zum Beispiel würden wir klären wollen, ob Justines Kindheitsphobie vor Würmern und Schnecken mit sexuellen Missbrauchserfahrungen zusammenhing. Ein weiterer wichtiger Beitrag, den Janet (1897) in Névroses et Ideés Fixes leistet, ist seine Beschreibung der intensiven Beziehung, die der Patient zum Therapeuten entwickelt, von den Magnetiseuren als rapport magnétique bezeichnet (vgl. 11. Kapitel). Janet erkannte, dass diese intensive Beziehung ein hochkomplexes Phänomen darstellt. Die erotischen Elemente, die im Rapport aktiviert wurden, standen in der Behandlung nicht im Zentrum. Er betrachtete die Beziehung eher unter dem Blickwinkel einer Bindungstheorie, in der das Bedürfnis nach Lenkung die ausschlagge40
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bende Rolle spielt. In der Behandlung übernimmt zunächst der Therapeut die Anleitung des Patienten und reduziert diese Funktion dann nach und nach auf ein Minimum. Dieses Vorgehen entspricht modernen Verfahren, in denen der Therapeut die Initiative ergreift, damit der Patient Ich-Stärken und Ressourcen aufbauen kann, und dessen Entscheidungsprozesse lenkt. Sobald er die bislang fehlenden Fähigkeiten erwirbt und funktional einzusetzen vermag, zieht der Therapeut sich nach und nach aus dem Prozess zurück. Janet ging davon aus, dass Therapeuten ihre Patienten zunächst dazu anhalten sollten, ihre Autorität und Anleitung zu akzeptieren; danach sollten sie ihre Dominanz systematisch zurückzunehmen und es den Patienten schließlich ermöglichen, selbstständig zurechtzukommen. Wenn Therapeuten diesen Punkt vernachlässigen, so Janet, bleibt die Heilung nur vorläufig. Erschwert wird dieser Prozess unter Umständen durch die passion somnambulique, das überwältigende Bedürfnis des Patienten, vom Therapeuten hypnotisiert zu werden. Dieses leidenschaftliche Bedürfnis kann zu einer Sucht und genauso gefährlich werden (vgl. 11. Kapitel; Haule, 1986). Janet zog den Schluss, dass eine hohe Suggestibilität auf eine ausgeprägte psychische Schwäche schließen lasse. Diese bewirke, dass der Patient nicht nur danach verlange, hypnotisiert zu werden, sondern auch ständig das Bedürfnis habe, »sich dem Psychiater […] anzuvertrauen und von ihm gescholten und gelenkt zu werden« (Ellenberger, 1996 [1974], S. 503). Janet begriff, dass dieser Drang, vom Therapeuten hypnotisiert und geführt zu werden, ein Problem darstellte. Gleichzeitig erachtete er den somnambulen Einfluss als unverzichtbar für die Behandlung. In diesem Dilemma erkannte er einerseits den Wert der anfänglichen Bindung an den Therapeuten, sah andererseits aber auch, dass sich das Symbiosebedürfnis des Patienten nicht über die Grenzen im therapeutischen Bündnis hinwegsetzen darf. Janet löste das Dilemma, indem er sich in beiden Bereichen um die Aufrechterhaltung eines heiklen Gleichgewichts bemühte. Therapeuten sollten die hohe Hypnotisierbarkeit des Patienten nutzen, ohne jedoch der passion somnambulique Gelegenheit zu geben, sich so weit zu entwickeln, dass sie eine Behandlung unmöglich machte. In der gleichen Weise, wie sich Therapeuten nach und nach aus dem Lenkungsprozess zurückziehen und die Führung dem Patienten überlassen, können sie den hypnotischen Zustand als Behandlungstechnik einsetzen, ohne zu erlauben, dass sie selbst oder der veränderte Zustand die gesamte Aufmerksamkeit des Patienten beanspruchen. Heute wissen wir, dass es in der Behandlung von Patienten mit 41
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dissoziativen Störungen oft zu einem Punkt kommt, an dem es angemessen ist, ihnen diese Dissoziationssucht zu erklären. Wir können sie lehren, die ersten Regungen des Verlangens, zu dissoziieren, wahrzunehmen, und wir können ihnen Coping-Skills vermitteln, die es ihnen erleichtern, das Dissoziationsbedürfnis zu reduzieren oder den Trancezustand durch eine andere Aktivität zu ersetzen. Janet (1894c) diskutierte diese Komplikation im Zusammenhang mit Justine. Im Laufe ihrer Behandlung reduzierte er ihre Sitzungen: War sie anfangs mehrmals pro Woche zu ihm gekommen, so sah er sie im dritten Jahr nur noch einmal im Monat. Zu diesem Zeitpunkt hatte Justine häufig Visionen von Janet, in denen sie seine Stimme hörte, die ihr gute Ratschläge gab. Diese waren keine Wiederholung dessen, was Janet in den Sitzungen tatsächlich gesagt hatte, sondern stammten von Justine selbst und waren neu und wirklich klug. Quelle dieser Ratschläge war zwar Justines Beziehung zu Janet, aber dennoch schienen sie eher Ausdruck einer Introjektion denn eines Abhängigkeitszustands zu sein. Janet zögerte nicht, darauf hinzuweisen, dass allein die Reduzierung der Sitzungen weder an der Abhängigkeit noch an dem fast suchtartigen Bedürfnis nach Somnambulismus etwas änderte. Er schildert den Fall einer stationären Patientin Morels, die als geheilt aus der Klinik entlassen worden war. Nicht lange, und sie begann, ihn wieder aufzusuchen – nicht oft, aber doch regelmäßig. Als Morel starb, erlitt sie einen Rückfall und verbrachte den Rest ihres Lebens in der Klinik. »Wir wollen hoffen«, so Janet, »dass dieses Unglück unseren Patienten nicht allzu bald widerfährt« ( Janet, 1894c; 1898a, S. 212). Dieses an relevantem Material so reichhaltige Buch ist nie ins Englische und Deutsche übersetzt worden. Eine französische Neuauflage erschien erst 1989, als dieser Artikel erstmals veröffentlicht wurde. Ein Reprint wurde 2007 publiziert. Den zweiten Band von Névroses et Idées Fixes (Fragments des leçons cliniques de mardi sur les névroses, les maladies produites par les émotions, les idées obsédantes et leur traitement) verfasste Janet zusammen mit Raymond, Charcots Nachfolger an der Salpêtrière (Raymond & Janet, 1898). Er enthält 152 Fallberichte über Patienten, die während der berühmten »Dienstagsvorlesungen« in der Klinik vorgestellt wurden. Die erste Hälfte des Buches behandelt psychische Störungen wie Abulien, somnambule Zustände, Fugue-Zustände, Zwangserkrankungen und Impulshandlungen. Zwänge und verwandte Phänomene wurden in diesen Jahren zum zentra42
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len Gegenstand von Janets Studien, aus denen schließlich die Monografie Les Obessions et la Psychasthénie hervorging ( Janet, 1903). Die zweite Hälfte ist psychosomatischen Störungen wie Empfindungsstörungen, Tics, Paralysen, Sprachstörungen und viszeralen Spasmen gewidmet. In vielen dieser präzise beschriebenen Fälle zeigen die Autoren, dass sich eine Störung im Anschluss an ein traumatisierendes Erlebnis entwickelte, auf das die Patienten sehr emotional reagiert hatten. Dieser Band ist eine Fundgrube an frühen und manchmal tatsächlich allerersten Dokumentationen von Behandlungsmethoden, die eine so große Ähnlichkeit mit den in der heutigen Literatur beschriebenen aufweisen, dass man glauben könnte, sie seien erst vor Kurzem entwickelt worden (vgl. van der Hart, 1988, S. VII).
The Major Symptoms of Hysteria Dieses Buch, 1907 auf Englisch erschienen, versammelt die 15 Vorlesungen, die Janet 1906 an der Harvard Medical School hielt. Die gut lesbare Einführung in die Phänomenologie der Hysterie und bündige Zusammenfassung seiner umfangreichen Studien illustriert zugleich seine ausgezeichneten didaktischen Fähigkeiten. In einer Vorlesung über den Somnambulismus beweist er sein Faible für Paradoxien: »Die Dinge passieren, als ob eine Idee, ein partielles Gedankensystem, sich emanzipiert habe, unabhängig geworden sei und sich eigenständig weiterentwickelt habe. Das Ergebnis ist einerseits, dass es sich zu weit entwickelt, und andererseits, dass es nicht länger vom Bewusstsein kontrolliert wird« ( Janet, 1907, S. 42).
Janet empfahl seinen Studenten, sich über diese kryptische Erläuterung nicht zu wundern: »Nachdem Sie sie wortwörtlich immer wieder auf tausend ganz unterschiedliche Phänomene bezogen haben, werden Sie sie mühelos verstehen« (ebd., S. 43). Er half dem Verständnis der Studenten enorm auf die Sprünge, indem er sich in den meisten Vorlesungen nicht auf Stigmata, sondern auf hysterische akzidentelle Symptome konzentrierte. Die Vorlesungen enthielten Beschreibungen und Vergleiche der unterschiedlichen Formen des Somnambulismus. Im generischen Sinn verstanden, bezeichnet der Begriff den psychischen Zustand, in dem Menschen in ihr inneres Erleben so tief versunken sind, dass ihr Kontakt zur äußeren 43
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Realität verloren geht. Wenn sie überhaupt auf einen Aspekt der Außenwelt reagieren, nehmen sie ihn so wahr, als spiele er im Bereich ihres inneren Erlebens eine Rolle. Die einfachste Form des Somnambulismus ist die monoideische, das heißt ein Geisteszustand, in dem eine einzelne fixe Idee (häufig eine traumatische Erinnerung) den abnormen Zustand völlig beherrscht. Im komplexen Somnambulismus, etwa in Fugue-Zuständen und bei dissoziativer Identitätsstörung, wird die Realität weniger stark verzerrt erlebt. In einer Fugue haben Patienten gewöhnlich zahlreiche Erinnerungen und zeigen ein angemessenes Sozialverhalten, um die Ausflüge unternehmen zu können, die für Fugues charakteristisch sind. Patienten mit DIS können in der Gesellschaft adäquat funktionieren und gleichzeitig halluzinieren – von Janet (1894b) als hémisomnambulisme bezeichnet. Sie können beispielsweise davon überzeugt sein, ein Kleid zu tragen, obwohl sie in Wirklichkeit Pullover und Hose tragen; oder sie nehmen sich als Angehörige des anderen Geschlechts wahr, benutzen aber die für ihr tatsächliches biologisches Geschlecht vorgesehene öffentliche Toilette. Wie schon zuvor ( Janet, 1894a) klassifizierte Janet die dissoziativen Teile der Persönlichkeit nach Maßgabe ihrer intellektuellen Fähigkeiten und ihres Erinnerungsvermögens. Er verwies auf die augenfälligen Unterschiede der intellektuellen Fähigkeit erwachsener Alter-Persönlichkeiten, die einer Erwerbstätigkeit nachgingen, und denen der traumatisierten kindlichen Anteile. Was die Erinnerung betrifft, so beschrieb er bestimmte Alter-Persönlichkeiten, die auf Erinnerungen der anderen Anteile zugreifen können. Unter den dissoziativen Anteilen sind, so Janet, sämtliche Kombinationen des intellektuellen Funktionierens und Erinnerungsvermögens möglich – eine Erkenntnis, die unseren einschlägigen Entdeckungen um fast 100 Jahre vorausging. Kernstück des Hysteriekonzepts Janets war, wie schon erwähnt, die Unterscheidung zwischen zwei Symptomschichten: kontingenten oder akzidentellen Symptomen einerseits und basalen, permanenten Symptomen, Stigmata, andererseits. Die Stigmata wiederum teilen sich in zwei Typen: (1) Stigmata im eigentlichen Sinn, die ausschließlich in der Hysterie auftreten, und (2) gewöhnliche, die in der Hysterie, aber auch bei anderen psychischen Störungen vorkommen, insbesondere bei psychasthenischen Neurosen. Zu den Stigmata im eigentlichen Sinn zählen die Einengung des Bewusstseinsfeldes, die Existenz unterbewusster Phänomene, Suggestibilität, Anästhesie und Amnesie. Als gewöhnliche Stigmata klassifizierte Janet 44
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Gefühle der Unvollständigkeit, ein Absinken des geistigen Funktionsniveaus, emotionale Störungen, Beeinträchtigungen der Willenskraft sowie die Unfähigkeit, Aktivitäten in Angriff zu nehmen bzw. zu beenden. Das Absinken des geistigen Niveaus, das Janet erstmals in Obsessions and Psychasthenie (1903) beschrieb, ist ein Schlüsselkonzept seiner Arbeit. In L’Automatisme Psychologique (1889) erläuterte er im Zusammenhang mit der geistigen Schwäche die wichtige Rolle, die der Zusammenbruch höherer geistiger Funktion bei der Entwicklung psychischer Störungen spielt. Im letzten Kapitel des Buches The Major Symptoms of Hysteria integrierte Janet (1907b) diese Überlegungen in seine Hysterietheorie, indem er die Hysterie als eine Form der geistigen Erschöpfung (eines herabgesetzten geistigen Funktionsniveaus) definierte, die durch die Verengung und Emanzipation des Bewusstseinsfeldes und eine verstärkte Tendenz zur Dissoziation der für die Persönlichkeit konstitutiven Ideen- und Funktionssysteme charakterisiert ist. Und schließlich untersuchte Janet in diesem Buch auch kurz die Faktoren, die dieses Absinken des mentalen Funktionsniveaus verursachen können. Er führte unter anderem emotionale Störungen auf, etwa als Reaktionen auf ein Trauma, sowie schwere körperliche Erkrankungen. Diese Beobachtungen über körperliche Erkrankungen als Mitverursacher der Hysterie waren dermaßen bedeutsam, dass Henri Baruk, ein führender französischer Psychiater, auf dem Festakt zu Janets 100. Geburtstag dessen Verdienst feierte, die klinische Basis für die Entwicklung der modernen Psychophysiologie gelegt zu haben (Baruk, 1960). Er prophezeite, dass Janets Werk der Neurophysiologie den Weg zu künftigen Entdeckungen weisen werde. Dank dieser Betonung des Einflusses schwerer körperlicher Erkrankungen auf die Entwicklung einer Psychopathologie werden Kliniker, die mit dissoziativen Störungen arbeiten, diesen Faktor bei der Anamneseerhebung heutzutage eher berücksichtigen. In seinem Vorwort zu der 1920 erschienenen Ausgabe dieses Buches brachte Janet die Entwicklung der Hysterie mit seinen aktuelleren Studien über »das Oszillieren des geistigen Niveaus« und mit der Rolle des »Zurückdrängens« oder des Verdrängungsmechanismus, den er in Les Médications Psychologiques (1919; englische Ausgabe: Psychological Healing, 1925) detaillierter untersucht hatte, in Verbindung, vertrat aber die Ansicht, dass dieser Mechanismus »die hysterische Neurose nicht vollständig erklären kann«. Wenn es so etwas wie die Verdrängung gibt, dann kommt sie bei der Psychasthenie häufiger vor als bei der Hysterie. Janet hielt die Verdrängung für ein Resultat der Erschöpfung und eines gravierenden Absinkens 45
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des mentalen Funktionsniveaus – nicht für die Ursache, sondern für die Folge der psychasthenischen Depression. Die 1920 publizierte Ausgabe von The Major Symptoms of Hysteria wurde 1965 neuaufgelegt und ist nach wie vor verfügbar. Wir betrachten sie als ein unverzichtbares Einführungswerk, und zwar nicht nur für Studierende, die sich mit Psychotraumata und dissoziativen Störungen beschäftigen, sondern für alle Studierende der Psychiatrie, klinischen Psychologie und Neurologie.
Les Névroses Quasi als Ableger der Major Symptoms of Hysteria erschien 1909 das entzückende Buch Les Névroses ( Janet, 1909a), das man als Janets konzentrierteste Arbeit überhaupt bezeichnet hat (Ey, 1968). 2008 erschien ein Reprint, Übersetzungen aber stehen weiterhin aus. In diesem Buch nimmt Janet systematische Vergleiche und Gegenüberstellungen der Symptome der Hysterie und der Psychasthenie vor – Letztere eine weitere Grundlage einer Vielfalt psychischer Störungen wie der Zwangsstörung und der Phobien (vgl. Janet, 1903; Pitman, 1984; 1987). Er stellte die (z. B. den Somnambulismus begleitenden) hysterischen fixen Ideen den psychasthenischen Zwangsvorstellungen gegenüber; den hysterischen Amnesien die psychasthenischen Zweifel; den Paralysen die Phobien usw. Während die unterbewusste fixe Idee eines Hysterischen sich vollständig außerhalb der personalen Wahrnehmung und Erinnerung des Individuums entwickelt, wird der Zwang eines Psychasthenikers von der Gesamtpersönlichkeit mitgetragen. Darüber hinaus entwickelt er sich im Vergleich zu einer fixen Idee weniger vollständig. Stattdessen hegt der Psychastheniker unentwegt Zweifel an seiner Idee. Janet definierte die Psychasthenie als eine Form der psychischen Depression, die durch eine Reduzierung psychischer Spannung, durch die Schwächung der Fähigkeit, die Realität wahrzunehmen und auf sie einzuwirken, ihre Ersetzung durch inferiore und übertriebene Operationen in Form von Zweifeln, Agitationen, Ängsten und durch die Zwangsideen charakterisiert ist, die diese Störungen zum Ausdruck bringen ( Janet, 1909a, S. 367). Die häufig missverstandenen Konzepte der psychischen Kraft und psychischen Spannung haben für viele psychopathologische Studien Janets 46
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eine wesentliche Rolle gespielt (vgl. Janet, 1919; 1921; 1925; 1932a; vgl. 9., 11., 12. und 13. Kapitel). Um sie zu erörtern, kehren wir noch einmal zu Les Obsessions et la Psychasthénie (1903) zurück. Psychische Kraft ist die Quantität an basaler psychischer Energie, über die ein Individuum verfügt. Sie existiert in zwei Formen: latent und manifest. Die Mobilisierung der Energie bedeutet, dass man latente psychische Kraft in manifeste transformiert. Beobachten können wir die psychische Kraft eines Menschen an der Anzahl, Dauer und Geschwindigkeit seiner Handlungen. Das Konzept beschreibt die basale psychische Funktionsfähigkeit. Psychische Spannung wiederum ist die Fähigkeit, die eigene psychische Energie zu nutzen. Je höher das geistige Funktionsniveau – das heißt, je mehr Operationen man synthetisieren kann, desto höher ist die psychische Spannung. (Es ist offenkundig, dass sich Janets Verständnis der Spannung oder Spannkraft [Hoffmann, 1998] vom heutigen Wortgebrauch klar unterscheidet.) Dass die verfügbaren Quellen an psychischer Kraft und psychischer Spannung von Patient zu Patient variieren, hat wichtige therapeutische Implikationen (vgl. Janet, 1919; 1925; Ellenberger, 1996 [1974]; Sjövall, 1967; 8., 9., 11., 12. und 13. Kapitel). Janets ursprüngliches theoretisches Modell der Psyche, das er in L’Automatisme Psychologique vorstellte, sah lediglich zwei Ebenen psychischer Funktionen vor, die sich der psychischen Energie bedienen: die Synthesefunktonen und die automatische Funktion. Im Laufe der Zeit veranlassten ihn seine Erfahrungen, dieses konzeptuelle Modell zu erweitern. Er entwickelte die Konzepte der psychischen Kraft und psychischen Spannung und erweiterte die Hierarchie der psychischen Funktionen auf insgesamt fünf mit jeweils einem Realitätskoeffizienten (1903). Die höchste Ebene der psychischen Aktivität ist demnach die Realitätsfunktion ( fonction du réel). Sie ermöglicht uns, die maximale Realität einer Situation zu erfassen. An ihr beteiligt sind die Fokussierung der Aufmerksamkeit und des Wahrnehmungsvermögens sowohl auf die äußere Realität als auch auf die eigenen Ideen und Gedanken. Heute würden wir sagen, dass wir »ganz im Moment sind«. Dieser Akt setzt eine Synthese (présentification) voraus, nämlich die Bildung des gegenwärtigen Moments in der Psyche. »Der Geist hat die natürliche Neigung, durch die Vergangenheit und in die Zukunft zu schweifen; es erfordert eine gewisse Anstrengung, die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart gerichtet zu halten, noch schwerer ist es, sie auf das gegenwärtige Handeln zu konzentrieren« (Ellenberger, 1996 [1974], S. 513). 47
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»Die reale Gegenwart ist für uns ein Akt von einer gewissen Komplexität, den wir trotz dieser Komplexität als einen einzigen Bewußtseinszustand erfassen, auch ohne Rücksicht auf seine reale Dauer, die mehr oder weniger ausgedehnt sein kann […]. Die présentification besteht darin, sich einen Geisteszustand und eine Gruppe von Phänomenen zu vergegenwärtigen« ( Janet, 1903, S. 491; zit. nach Ellenberger, 1996 [1974], S. 513).
Die fünf Ebenen der von Janet beschriebenen Hierarchie geistiger Funktionen, an denen sich eine Untersuchung der geistigen Gesundheit orientieren kann, sind in absteigender Reihenfolge: (1) Realitätsfunktion, (2) interesselose Handlungen (gewohnheitsmäßige, leidenschaftslose und automatische Handlungen), (3) Funktionen der Imagination (abstraktes Denken, Phantasie, Tagträumen und Vorstellungserinnerung), (4) emotionale Reaktionen und schließlich (5) motorische Entladungen. Janet betrachtete die Funktionen der ersten drei Ebenen als die höheren, die der beiden unteren Ebenen als niedere Funktionen. In absteigender Reihenfolge setzt jede Gruppe ein geringeres Maß an Berücksichtigung der Realität voraus. Je höher die Funktion, desto stärker der Realitätsbezug. Als »Reduzierung der psychischen Spannung« (ein Absinken der psychischen Niveaus) bezeichnete Janet das Nachlassen der Fähigkeit, die psychische Energie auf einer höheren Ebene der Wahrnehmungs- und Integrationsfunktionen zu nutzen. Spezifischer formuliert, geht es um die beeinträchtigte Fähigkeit des Individuums, die Details der gegenwärtigen Realität zum einen umfassend wahrzunehmen und sich gleichzeitig der eigenen Gefühle und Ideen bewusst zu sein und zum anderen unmittelbar und intentional auf diese Realität einzuwirken. Statt sich auf maximal integrative Weise mit der Realität auseinanderzusetzen, verrichten Menschen mit psychasthenischer Depression niedrige geistige Operationen in Form von Zweifeln, Unruhe-Erscheinungen, Ängsten und Zwangsvorstellungen. Die Dominanz einer jeden niederen operationalen Funktion in Reaktion auf die Realität charakterisiert einen je spezifischen Störungstypus oder, wie Shapiro (1965) es nannte, den neurotischen Stil. Wie schon erwähnt, ist die Reduzierung der psychischen Spannung bei der Hysterie durch die Verengung des Bewusstseinsfeldes, durch eine verstärkte Tendenz zu dissoziieren und durch die Emanzipation der Ideen- und Funktionssysteme charakterisiert, deren Integration die Persönlichkeit konstituiert ( Janet, 1909a, S. 345). Im letzten Kapitel von Les Névroses versuchte sich Janet an einer allgemeinen Definition der Neurosen. Er betrachtete sie als Krankheiten, die 48
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die verschiedenen Funktionen des Organismus beeinträchtigen, und zwar vor allem durch Schwächung der oberen Funktionsebenen. Sie werden in ihrer Evolution gehemmt, in ihrer Anpassung an den gegenwärtigen Augenblick, an die gegenwärtige Beschaffenheit der Außenwelt und an den gegenwärtigen intrapsychischen Zustand des Individuums. Die niedrigen Bereiche der Funktionen bleiben unbeeinträchtigt. Kurzum, Neurosen sind Störungen der verschiedenen Funktionen des Organismus, gekennzeichnet durch eine gehemmte Entwicklung der Funktion ohne eine Verschlechterung der Funktion an sich (ebd., S. 392).
L’État Mental des Hystériques 1911 erschien eine zweite, erweiterte Ausgabe von L’État Mental des Hystériques. Der erste Teil bestand aus den Kapiteln »Die psychischen Stigmata« und »Die psychischen Zufälle«, der zweite aus mehreren Artikeln Janets, die er zwischen 1898 und 1910 publiziert hatte. Eine interessante Arbeit handelt von der Analyse und Behandlung seiner Patientin Marcelline, die Janet als einen Prototypus der Doppelpersönlichkeit betrachtete ( Janet, 1910b). Ein hochinteressanter Artikel aus dem Jahr 1904 mit dem Titel »L’Amnésie et la dissociation des souvenirs par l’émotion« – »Amnesie und Dissoziation von Erinnerungen durch die Emotion« – betraf die Patientin Irène, die Janet in seinem späteren Werk häufig erwähnt hat (1919; 1925; 1928a; vgl. van der Kolk & van der Hart, 1991). Irène war eine 20-jährige Frau, die ihre Mutter auf dem Sterbebett gepflegt hatte und deren Dahinscheiden sie als ungemein traumatisch erlebte. Schon bald danach entschwand dieser Tod ebenso aus ihrer Erinnerung wie die drei Monate, die ihm vorausgegangen waren. Irène war arbeitsunfähig, entwickelte eine schwere Abulie und verlor jegliches Interesse an ihren Mitmenschen. Immer wieder traten delirante Krisen auf, in denen sie die kritischen Szenen aus den letzten Stunden ihrer Mutter und deren Tod erneut und auf außerordentlich dramatische Weise durchlebte. Irène war unfähig, sich von dem traumatisierenden Geschehen zu lösen und sich an ein Leben ohne ihre Mutter anzupassen. Ihr Verhalten war das Resultat einer »NichtRealisation«, wie Janet (1935b) es nannte. Janets schwieriges, aber erfolgreiches Behandlungsverfahren bestand darin, Irène zu helfen, ihre Erinnerungen zu aktivieren – zunächst in Hypnose und dann im Wachzustand. Sie musste ihre traumatischen Erinnerun49
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gen in ein Narrativ transformieren, das heißt in eine personale Schilderung des Ereignisses und der Art und Weise, wie es ihre Persönlichkeit beeinflusst hatte. Als ihr dies nach intensiver harter Arbeit gelang und sie den Tod ihrer Mutter wirklich realisiert hatte und imstande war, das Geschehen aus ihrer personalen Sicht zu beschreiben, fiel Janet auf, dass ihre übrigen Symptome, etwa die schwere Abulie, verschwunden waren. Irènes psychisches Funktionsniveau verbesserte sich und sie war wieder in der Lage, adaptive Handlungen auszuführen. Der dritte Teil dieses Buches besteht aus »der schönsten und originellsten systematischen Untersuchung, die gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts über die Behandlung der Hysterie verfasst wurde« (Faure, 1983). In diesem Teil, »Le traitement psychologique de l’hystérie« (1898b; »Die psychologische Behandlung der Hysterie«) hob Janet fünf Hypnosetechniken besonders hervor: (1) die ausgedehnte Hypnose, (2) die Nutzung des temporären Verschwindens von Symptomen in Hypnose (indem man beispielsweise anorektische Patientinnen essen und trinken lässt), (3) symptomorientierte Suggestionen, (4) die Identifizierung fixer Ideen und (5) die Behandlung fixer Ideen. Die beiden letztgenannten Vorgehensweisen sind Janets wichtigste und originärste Techniken (vgl. 11. Kapitel). Janet entdeckte, dass bei bestimmten Patienten der Akt, ihre fixen Ideen zu schildern (sowohl im Hypnose- als auch im Wachzustand), wie eine erfolgreiche »Beichte« wirkte, die es ihnen erlaubte, ihre Bindung an die fixe Idee aufzulösen. Er beobachtete darüber hinaus, dass dies bei schwerer gestörten Patienten häufig nicht ausreichte, um sie von ihren fixen Ideen wirklich zu befreien. In diesen Fällen versuchte er, das gesamte Vorstellungs-, Gefühls- und Handlungssystem der fixen Idee nach und nach zu demontieren und die traumatischen Phänomene systematisch durch emotional neutralen oder positiven Inhalt zu ersetzen. Janet betrachtete die Auflösung der fixen Ideen als eine unabdingbare Voraussetzung für die Heilung, die aber für sich allein genommen nicht ausreichte. In seinen frühen Schriften deutete er an, dass die Patienten auf Unterstützung angewiesen seien, um höhere Ebenen der Persönlichkeitsorganisation, das heißt eine höhere psychische Spannung, entwickeln zu können. Wenn sie auf niedriger Ebene verharrten, drohten die Gefahr einer Überwältigung durch neue Emotionen und in deren Gefolge das Auftauchen neuer fixer Ideen und Dissoziationen. Janet beschrieb zahlreiche Hypnose- und andere Techniken, die auf eine Anhebung des psychischen Niveaus zielen. Er zog darüber hinaus den Schluss, dass hysterische Patienten 50
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zumeist eine Langzeitbehandlung benötigen, um zu einem angemessenen Funktionsniveau zurückkehren zu können. In seinen Behandlungsstunden ließ er die Patienten häufig Aufgaben des alltäglichen Lebens verrichten, die abgestufte Grade an Syntheseaktivität erforderten und den Patienten auf diese Weise Erfolgserlebnisse vermittelten oder, wie Janet selbst es ausdrückte, als »Triumphhandlungen« erlebt wurden (vgl. 13. Kapitel). Beispiele für solche Aktivitäten sind etwa Malen, Musikhören, ja sogar das Übersetzen von Gedichten und die Bildhauerei – im Grunde also eine Kunst- und Ergotherapie. Gleichzeitig riet Janet oft zur Vereinfachung des häuslichen Lebens und des zwischenmenschlichen Umgangs seiner Patienten – das heißt, er empfahl eine Stressreduktion. Seine Ratschläge, konkreten Suggestionen und Begründungen für die Energieanreicherung und die Verringerung des Energieaufwandes, die er in Les Médications Psychologiques weiterentwickelte, bildeten das Fundament eines umfassenden Behandlungsverfahrens für schwer traumatisierte oder hoch-dissoziative Patienten (vgl. 11. und 12. Kapitel).
Les Médications Psychologiques Zum Abschluss dieser Übersicht stellen wir Les Médications Psychologiques von 1919 vor. Psychological Healing, so der Titel der englischsprachigen Ausgabe (1925), nimmt in Janets Werk einen besonderen Rang ein. Die zweibändige, 1.265 Seiten starke englische Ausgabe ist eine hochinteressante Geschichte der Psychotherapie, die vor allem die Rolle der Hypnose betont und eine wunderbare Übersicht der multidimensionalen Behandlungsmethoden Janets bietet. Hier finden wir die praktische Relevanz seiner Konzepte der psychischen Kraft und Spannung für die Konzipierung individualisierter Behandlungsstrategien. Mit Blick auf die Dissoziation legte Janet ein ungemein wertvolles Kapitel über die Untersuchung und Behandlung traumatischer Erinnerungen vor und warf einen sehr kritischen Blick auf freudianische Konzepte. Mit folgenden Worten fasste er sein eigenes Verfahren zusammen: »Streng genommen, kann man also von jemandem, der mit einem Ereignis nachträglich eine fixe Idee in Verbindung bringt, nicht behaupten, dass er eine ›Erinnerung‹ an das Geschehen habe. Häufig ist derjenige gar nicht imstande, das Ereignis in einer Schilderung, die wir als Erinnerung bezeich-
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nen, wiederzugeben; er bleibt aber dennoch mit einer schwierigen Situation konfrontiert, in der er keine zufriedenstellende Rolle zu spielen und an die er sich nur unvollkommen anzupassen vermochte, sodass er sich weiterhin um Anpassung bemüht. Die Wiederholung dieser Situation, diese ständigen Bemühungen, ermüden ihn und führen zu einer Erschöpfung, die seine Emotionen maßgeblich beeinflusst« ( Janet, 1925, S. 663).
Psychological Healing ist eine wichtige Inspirations- und Informationsquelle für die Erforschung und Behandlung einer breiten Vielfalt psychischer Störungen, insbesondere der dissoziativen Störungen und der posttraumatischen Belastungsstörung (vgl. auch 13. und 14. Kapitel).
Schluss Janets bedeutender, wiewohl weitgehend vernachlässigter Beitrag zur Psychiatrie ist seine Formulierung der dynamischen Prinzipien, die seine Theorie der Dissoziation konstituieren: (1) die Beschaffenheit der strukturellen Elemente und Funktionen der Persönlichkeit; (2) die Beschaffenheit der Realitätswahrnehmung und ihrer Störung in der Hysterie durch die Einengung des Bewusstseinsfeldes; (3) die Beschaffenheit der bewussten Aktivität, insbesondere des partiellen Automatismus, bei dem ein Teil der Persönlichkeit vom Selbstgewahrsein ausgeschlossen bleibt und einer autonomen unterbewussten Entwicklung folgt; (4) die hierarchische Klassifizierung der Fähigkeit, psychische Energie zu nutzen; und (5) die klaren und detaillierten Fallberichte, die seine Konzepte und die Behandlungsstrategien für dissoziative Phänomene bei einer großen Bandbreite an Störungen umfänglich demonstrieren. Moderne Kliniker haben unser Verständnis der Rolle, welche die Dissoziation bei der Entwicklung schwerer dissoziativer Störungen – zum Beispiel der Dissoziativen Identitätsstörung gemäß Definition des DSM-5 (APA, 2015 [2013]) – spielt, erheblich vertieft (siehe z. B. Bliss, 1986; Braun, 1986a; 1986b; Dell & O’Neil, 2009; Kluft, 1985; Kluft & Fine, 1993; Nijenhuis, 2015; Putnam, 1989a; 1997; Ross, 1989; 1997; Steele, Boon & van der Hart 2017; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2008 [2006]). Dieses Verständnis ermöglichte maßgebliche Fortschritte in der Behandlung betroffener Patienten. Dennoch ist klar, dass die Dissoziation auch für eine substanzielle Gruppe psychischer Störungen charakteristisch 52
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ist, bei denen sie weitgehend unerkannt bleibt oder mit anderen psychischen Phänomenen verwechselt wird. Pierre Janet hat uns allein sein Werk hinterlassen. Er hatte keine Schüler, gründete keine Schule, keine Gruppe, machte keine Proselyten. Und dennoch kann man »Janets Werk mit einer großen Stadt vergleichen, die wie Pompeji unter Asche begraben liegt. […] es kann sein, daß sie auf immer begraben bleibt; es kann sein, daß sie verborgen bleibt, aber von Marodeuren geplündert wird. Vielleicht wird sie aber auch eines Tages wieder ausgegraben und zu neuem Leben erweckt« (Ellenberger, 1996 [1974], S. 560).
Jedem, der sich speziell für die Dissoziation interessiert, wird sich die Grabung als lohnend erweisen.
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Vom Bewusstsein zum Unterbewusstsein Eine Janet’sche Perspektive Francesca Ortu & Giuseppe Craparo
Schon in seinen allerersten Versuchen, seine Theorien – auch unter Verweis auf Charles Richet, Theodore Ribot und Maine de Biran (der als Vorläufer der Experimentalpsychologie gilt) – zu formulieren, betonte Janet, dass Geist und Körper nicht als getrennte Entitäten betrachtet werden dürfen und dass die »menschliche Aktivität in ihrer rudimentärsten Form« ( Janet, 1889, S. 19) mit den Methoden der Naturwissenschaften zu untersuchen sei. Indem er L’Automatisme Psychologique als einen Essay über objektive Psychologie bezeichnete, bezog er bereits die Perspektive, die es ihm schließlich ermöglichen sollte, den Zusammenhang zwischen psychischen Prozessen und Verhaltensweisen zu untersuchen. Janet war überzeugt, dass man beim Studium der Psychopathologie niemals vergessen dürfe, dass »der Patient sich per definitionem von uns unterscheidet und wir seine Gedanken einzig durch seine sichtbaren Handlungen und nicht durch unsere eigenen Gedanken begreifen können« (ebd., S. 481): »Jede Bewegung der Gliedmaßen, […] wie einfach sie auch sein mag, geht mit einem Phänomen des Bewusstseins einher. Ob es die Position der Glieder ist, eine Beugung, Krämpfe, deren das auf den Zustand eines Automaten reduzierte Subjekt sich nicht bewusst ist, oder ob es sich um eine unwillkürliche Bewegung handelt […]. Wir können das Vorliegen von Bewusstseinsphänomenen, die ebenso lange andauern wie die Bewegung selbst, immer annehmen und manchmal erfolgreich demonstrieren […]. In der Psyche findet immer eine Modifizierung statt, und sie entspricht der Modifizierung der Bewegung selbst. […] Kurzum, in keinem Bereich gibt es, ganz gleich, unter welchem Blickwinkel Sie beobachten, zwei getrennte Fakultäten, eine des Denkens und eine des Handelns; es gibt immer nur ein identisches Phänomen, das sich einfach auf zweierlei unterschiedliche Weise manifestiert« (ebd., S. 481f.; Hervorhebung ergänzt).
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Unter diesem Blickwinkel betrachtet, erweist sich die äußere, sichtbare Aktion als das fundamentale Phänomen, während der innere Gedanke nicht mehr ist als die Reproduktion des äußeren Handelns in reduzierter und spezifischer Form ( Janet, 1889). Diese Annahme ermöglicht es Janet, in ähnlicher Weise vorgehen zu können wie die wissenschaftliche Beobachtung der Tierpsychologie, allerdings unter Berücksichtigung eines »inneren Lebens«. Auf diese Weise entwickelte er eine Methode, die der Komplexität des menschlichen psychischen Funktionierens Rechnung trägt: »Das bedeutet nicht, das Bewusstsein zu annullieren, sondern so darüber zu sprechen, als ob es ein bestimmtes Verhalten wäre, eine Komplikation, die sich mit dem basalen Verhalten überschneidet« ( Janet, 1926a, S. 204). Ebendiese Orientierung bezeichnete Janet als Psychologie des Verhaltens. Ist es möglich, so fragt er, eine ähnliche Art der Psychologie auf den Menschen anzuwenden? »Genau darum habe ich mich mehr als dreißig Jahre lang in meiner Lehre bemüht« (ebd., S. 204). Janets Konstruktion seiner komplexen psychologischen und psychopathologischen Theorie erfolgte in zwei Phasen: Die erste Phase, von 1886 bis 1916, umfasst die Psychologie der Dissoziation, die zweite, von 1916 bis 1947, die Psychologie des Verhaltens (»Psychologie de la conduite«).
Phase 1: 1886–1916 – Die Psychologie der Dissoziation Zwischen 1886 und 1888 veröffentlichte Janet in der Revue Philosophique drei Artikel über »automatische Phänomene« (Veränderungen der Wahrnehmung, des Gedächtnisses und des Bewusstseins, die gleichermaßen häufig bei Hysterie und Katalepsie auftreten), die später nahezu vollständig in L’Automatisme Psychologique aufgenommen wurden und sich auf zwei grundlegende Konzepte konzentrieren, nämlich die Persönlichkeit und das Bewusstsein. Janet vertrat die Ansicht, dass die »automatischen Bewegungen«, die man an kataleptischen Patienten beobachtet – Bewegungen, die induziert oder, wie im Fall der Hysterie, spontan sein können –, »der Person nicht bekannt sind, weil sie durch Sensationen und nicht durch Wahrnehmungen bestimmt sind […]. Diese auf den Zustand einer Art psychischen Staubes reduzierten, abgelösten Sensationen werden nicht in die Persönlichkeit synthetisiert und können deshalb als zwar bewusste, aber nicht personale Sensationen definiert werden« (Janet, 1889, S. 315; Hervorhebung ergänzt).
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2 Vom Bewusstsein zum Unterbewusstsein
Die Manifestationen des Automatismus sind demnach für den äußeren Beobachter von anderen durch und durch sinnvoll erscheinenden Handlungen nicht zu unterscheiden, während der Patient, der sie durchführt, sie als Manifestationen erlebt, die seiner Persönlichkeit vollständig äußerlich sind. Diese Phänomene werden nicht in die Persönlichkeit integriert; sie weisen sämtliche Eigenschaften einer bewussten Handlung auf, sind aber dem Patienten, der sie durchführt, nicht bekannt ( Janet, 1889). Bei seiner Arbeit mit Somnambulen beobachtete Janet, dass deren Erinnerung an Suggestionen, die sie in der hypnotischen Trance erhalten hatten, von der Methode abhängig waren, die er benutzte, um sie zu wecken. Selbst wenn die Patienten erklärten, »nichts« von der Suggestion zu wissen, zeigte die posthypnotische Ausführung eines erhaltenen Befehls, dass die Erinnerung an die Suggestion »außerhalb des Bewusstseins erhalten geblieben war« ( Janet, 1886a, S. 586). Janet fragte, ob es sinnvoll sei, automatische Manifestationen als unbewusste Handlungen und Gedanken zu klassifizieren, und vermutete, dass sie mit der Hypothese einer »Bewusstseinsspaltung« (dédoublement de la conscience) präziser zu erklären seien (ebd., S. 588). Er beobachtete, dass Somnambule »die Tage und Stunden zählen konnten, die sie von der Ausführung einer in Trance suggerierten Handlung trennten, ohne sich aber an die Suggestion erinnern zu können. Wie war das möglich? Wir wissen es nicht, aber außerhalb des Bewusstseins existiert ein dauerhaftes Gedächtnis, eine stets wache Aufmerksamkeit und ein Urteilsvermögen, das komplexe Operationen durchzuführen vermag« ( Janet, 1889, S. 263).
Doch welchen Sinn, so fragt Janet, macht es, von einem »unbewussten Urteil« zu sprechen, wenn man mit einem Fall wie dem seiner Patientin Lucie konfrontiert ist? Lucie erklärte zwar, nichts von all dem zu wissen, was mit ihr geschehen war, während sie schlafwandelte, konnte aber nach dem Aufwachen automatisch eine Reihe von Rechenaufgaben lösen, die ihr im somnambulen Zustand gestellt worden waren. »Wenn das Wort für uns ein Zeichen für das Bewusstsein von etwas anderem ist, warum ist dann nicht auch das Schreiben ein solch charakteristisches Zeichen?«, fragte Janet (2013a [1886], S. 139). Statt von einem abwesenden Bewusstsein sollten wir folglich von einer Spaltung des Bewusstseins sprechen: »Sämtliche Suggestionen müssen von einem gewissen Grad an Nichtbewusstheit begleitet sein, allgemeiner gesprochen: von einer gewissen 57
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Spaltung des Bewusstseins« (ebd., S. 144). In L’Automatisme Psychologique (1889) führte er Lucies automatische Handlungen auf die Aktivität einer besonderen Form des Bewusstseins zurück, das er unterhalb des normalen Bewusstseins lokalisierte, und beschrieb sie als »unterbewusste Fakten, die mit einem Bewusstsein ausgestattet sind, das sich unterhalb des normalen Bewusstseins befindet« (ebd., S. 265). Janet (1889) verstand die automatischen Phänomene, die sich mit einfachen psychologischen Gesetzen erklären lassen, in einem größeren Bezugsrahmen, der bereits die grundlegenden Prinzipien der hierarchischen Theorie erkennen lässt, die er später entwickelte ( Janet, 1926a; siehe 1. Kapitel). Er führte diese automatischen Phänomene auf eine gestörte Balance zwischen den beiden basalen psychischen Aktivitäten zurück, die für das normale Funktionieren charakteristisch sind: kreative Aktivitäten, die fortwährend Phänomene synthetisieren und dem personalen Bewusstsein des Individuums Leben verleihen, sowie repetitive Aktivitäten, die alte Synthesen, die in der Vergangenheit einen Zweck erfüllt haben, reaktivieren. Janet betrachtete die psychische Synthese als das Hauptcharakteristikum des Bewusstseins. Gemäß dieser Interpretation hängt die automatische Aktivität mit einer Beeinträchtigung der psychischen Synthese infolge einer »Einengung des Bewusstseinsfeldes« zusammen. Janet verstand die Hysterie als eine Persönlichkeitsstörung, die mit einer Schwierigkeit einhergeht, die eigene Persönlichkeit mit bestimmten psychischen Phänomenen (z. B. Sensationen, Ideen, Gefühlen, Bewegungsbildern und Erinnerungsbildern) zu verbinden. Letztlich führt er die zahlreichen und mannigfaltigen Störungen hysterischer und kataleptischer Patienten auf deren mangelnde Fähigkeit zurück, jene »Fakten« in ihre Persönlichkeit zu integrieren, die für den äußeren Beobachter völlig einleuchtend sind, von den Patienten aber als etwas erlebt werden, das ihrer Persönlichkeit völlig äußerlich ist. Charakteristisch für diese Psychopathologien sind laut Janet Störungen des »reflexiven Bewusstseins«, hervorgerufen durch dissoziative Zustände, präziser formuliert: Die grundlegende Störung des »hysterischen Patienten« sind eine Beeinträchtigung der Tendenz zur Synthese und zur Persönlichkeitsentwicklung, die den allgemeinen Charakter der »psychologischen Phänomene« konstituiert, sowie der Verlust des Gleichgewichts zwischen den beiden fundamentalen Aktivitäten – automatischen Aktivitäten und Syntheseaktivitäten –, das »die Gesundheit des Körpers und die Harmonie des Geistes gewährleistet«. Janet verstand die »Syntheseaktivität« als eine genuin kreative Aktivität, 58
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die die mehr oder weniger zahlreichen Phänomene mit den »neuen Phänomenen« wiedervereint, »die sich von ihren Einzelbestandteilen unterscheiden« ( Janet, 1889, S. 483). Die Abnahme dieser Syntheseaktivität führt zu einer übertriebenen Entwicklung des Automatismus, das heißt zum Erhalt alter Synthesen, die »bei einem normalen Individuum« bereits durch andere, komplexere Phänomene ersetzt wurden. Mithin bleibt der Patient in alten Synthesen stecken. Beim Auftauchen dieser automatischen Aktivität spielen Emotionen eine maßgebliche Rolle. Sie wirken »auflösend auf den Geist«, verringern dessen Syntheseaktivität und führen augenblicklich zu seiner Schwächung, indem sie den Keim einer fixen Idee in ihn hineinlegen, die sich nach einer Inkubationszeit entwickeln und fortbestehen wird. In L’Automatisme Psychologique postulierte Janet ein Modell der psychischen Aktivität, das die Existenz unterschiedlicher, einander abwechselnder Bewusstseinsebenen annimmt. Er verstand das Auftauchen unterbewusster Aktivität als Ausdruck einer Fragmentierung, einer Störung, die durch fehlende Kohärenz der Persönlichkeit, genauer: des personalen Bewusstseins charakterisiert ist. Infolgedessen ist der Patient unfähig, psychische Phänomene bewusst wahrzunehmen und als seine eigenen zu erkennen. »Unter einem unbewussten Akt versteht man eine Handlung, die sämtliche Merkmale eines psychologischen Ereignisses besitzt – mit einer Ausnahme, denn sie bleibt der eigenen ausführenden Person in dem Moment, in dem sie sie ausführt, unbekannt« ( Janet, 1889, S. 225). Diese als »unbewusst« oder »unterbewusst« bezeichnete Handlung hat die paradoxe Eigenschaft, auf den äußeren Beobachter völlig einleuchtend zu wirken, während sie von der Person, die sie ausgeführt hat, als ganz und gar äußerlich (oder zumindest als ihr unbekannt) gesehen wird. In den Schriften, die Janet in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts verfasste, konzentrierte er sich zunehmend auf das Konzept des Unterbewussten in Verbindung mit der Persönlichkeitsspaltung. In diesen Arbeiten ging es ihm zweifellos darum, die Existenz abgetrennter Bewusstseinselemente (fixer Ideen) in der Psyche hysterischer Patienten – einen geistigen Zerfall (désagrégation mentale) – nachzuweisen. Diese unterbewussten Ideen resultieren aus traumatischen Erfahrungen. Das Konzept des Unterbewussten ist also nicht mit dem kartesianischen Cogito oder mit einem Ich in Freud’schem Sinn zu verwechseln. Janet konnte die engen Verbindungen zwischen den automatischen Handlungen und der Persönlichkeit demonstrieren: 59
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»Wir halten es für möglich, gleichzeitig sowohl Automatismus als auch Bewusstsein anzuerkennen und auf diese Weise sowohl diejenigen zufrieden zu stellen, die im Menschen eine Art elementarer Aktivität finden, die vollständig automatisch ist wie die eines Automaten, als auch jene, die im Menschen, selbst in seinen einfachsten Handlungen, Bewusstsein und Wahrnehmung erhalten möchten. Mit anderen Worten, wir glauben nicht, dass die Aktivität eines Lebewesens, die sich äußerlich durch Bewegung manifestiert, von einer bestimmten Art der Intelligenz und des Bewusstseins getrennt werden kann, die sie innerlich begleitet; unsere Aufgabe ist es, nicht nur nachzuweisen, dass es eine menschliche Aktivität gibt, die als automatisch bezeichnet zu werden verdient, sondern dass es auch legitim ist, sie als einen psychischen Automatismus zu bezeichnen« ( Janet, 1889, S. 2f.; Hervorhebung i. O.).
»Automatische Handlungen«, so schrieb Janet in Névroses et Idées Fixes (1898a), »sind vollständig mit unserer Persönlichkeit verbunden, und obwohl sie nicht vollständig unbewusst sind, weil sie häufig von einer gewissen Sensibilität und Intelligenz zeugen, fehlt ihnen das personale Bewusstsein, das uns ermöglicht, psychische Phänomene wahrzunehmen und sie mit uns selbst in Verbindung zu bringen. Mit anderen Worten, sie sind mehr oder weniger unbewusst« (ebd., S. 39).
In einer Reihe von Untersuchungen über die Konzepte unterbewusster fixer Ideen und psychischer Inhalte konzentrierte sich Janet auf die Struktur und die Modi des Denkens. In L’Automatisme Psychologique stützte er seine Erklärung bestimmter psychischer Erscheinungen (z. B. Somnambulismus, automatisches Schreiben, Katalepsie usw.) auf ein Modell der psychischen Aktivität, das ein aus basalen Emotionen und Instinkten bestehendes unterbewusstes Leben unterhalb des bewussten menschlichen Lebens postuliert. Er führte die Manifestationen des psychischen Automatismus, die Licht auf die Fragmentierung des Bewusstseins – eine Beeinträchtigung der Kohärenz der menschlichen Persönlichkeit – werfen, auf abrupte Wechsel zwischen diesen beiden Ebenen des Bewusstseins zurück. Die Grundlagen der Hysterie hängen mit der Einengung des Bewusstseinsfeldes zusammen: »Die hysterische Persönlichkeit ist unfähig, sämtliche Phänomene wahrzunehmen, deshalb werden einige von ihnen endgültig geopfert. Es handelt sich um eine Art Autotomie, eine Selbstver60
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stümmelung, wobei sich die aufgegebenen Phänomene weiterentwickeln, ohne dass ihre Aktivität dem Subjekt bewusst wäre« ( Janet, 1889, S. 314). Der auf eine Degeneration des Nervensystems zurückgehende Mangel an psychischer Kraft bedingt eine Verengung des Bewusstseinsfeldes, die das grundlegende Phänomen der Hysterie darstellt. Sie ermöglicht es, dass die Vielzahl hysterischer Symptome sich zu einer morbiden Entität verbinden. Auf diese Weise ist es möglich, sämtliche Phänomene des Automatismus auf ihre wesentliche Voraussetzung, nämlich das Auftauchen eines Zustandes der Anästhesie und der Zerstreutheit, zurückzuführen. »Dieser Zustand hängt mit der Verengung des Bewusstseinsfeldes zusammen, und für diese Verengung sind die Schwäche der Synthesefähigkeit und der Zerfall des Geistes in mehrere Gruppen verantwortlich, die kleiner sind, als es normalerweise der Fall sein sollte« ( Janet, 1911, S. 16). Die Dissoziation der Persönlichkeit resultiert also unmittelbar aus der Schwäche der Synthesefunktion. Laut Janet können wir die Phänomene des Schlafwandelns und andere unterbewusste Handlungen als sekundäre Gruppen beschreiben, als untergeordnete Systematisierungen dieser vernachlässigten psychischen Phänomene (ebd., S. 278f.). Anders als im Fall der Hysterie ist die Schwächung des Bewusstseins für die Symptome der Psychasthenie verantwortlich, welche auf die spezifischen Schwierigkeiten verweisen, die es den Betroffenen bereitet, bestimmte Phänomene mit der eigenen Persönlichkeit in Verbindung zu bringen. Während andere Menschen solche Phänomene mühelos als Teil ihrer Persönlichkeit betrachten, verhält sich der psychasthenische Patient so, als habe er keinen Zugang zu ihnen: »Die Sprache dieser psychasthenischen Patienten wirkt bizarr oder sogar widersprüchlich: Tatsächlich ist ihre Persönlichkeitsstörung keineswegs allumfassend. Sie zeigt sich zweifellos in manchen Operationen, die wir als ›höhere‹ bezeichnen könnten, z. B. in ihrer Fähigkeit des Wiedererkennens, die es normalerweise ermöglichen würde, neuen Inhalt mit älterem psychischem Inhalt zu verbinden, in ihrer reflexiven Sprache und in ihren willkürlichen Handlungen. Aber ihre mentalen Operationen scheinen intakt zu sein; und ein Bewusstsein, dieser Akt, durch den verschiedene Zustände zu einer Einheit zusammengeführt werden, ist offenbar vorhanden. Es trifft zu, dass der Patient behauptet, dass nicht er selbst es sei, der bestimmte Handlungen ausführt, einen bestimmten Baum sieht, aber er kann sich eindeutig daran erinnern, und er sieht den Baum auch weiterhin. Oder zumindest ist uns
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klar, dass er den Baum weiterhin sieht, denn er beschreibt, wie dieser sich verändert. Er sagt: ›Der Baum ist grün, seine Blätter bewegen sich, aber ich bin nicht derjenige, der all dies sieht‹« ( Janet, 1910a, S. 67).
Somit wirft die Schwächung des Bewusstseins Licht auf die Charakteristika der verschiedenen Symptome dieser beiden Neurosen. In seinen Überlegungen zur psychischen Kraft des Individuums berücksichtigt Janet nicht allein die Quantität der psychischen Energie, sondern auch die psychische Spannung, das heißt die Fähigkeit des Individuums, Energie auf eine bestimmte Ebene der Funktionshierarchie zu heben.1 Psychische Kraft, definiert als das Ausmaß an elementarer Energie oder, anders ausgedrückt, als die Fähigkeit, verschiedenartige sowohl ausdauernde als auch kurzzeitige psychische Akte auszuführen, liegt in zwei Formen vor: als latente und als manifeste Energie, und diese Energie kann mobilisiert werden. Psychische Spannung entsteht durch den Akt der Konzentration und Zusammenführung psychischer Phänomene zu einer neuen Synthese. Sie schwankt je nach Anzahl der psychischen Phänomene, die sie synthetisiert. Janet behauptet zudem, dass es zum Verständnis neurotischer Phänomene unabdingbar sei, die Realitätsfunktion zu berücksichtigen. Diese setzt Aufmerksamkeit voraus, das heißt die Wahrnehmung sowohl der äußeren Realität als auch der eigenen Gedanken und Vorstellungen. Das offensichtlichste Charakteristikum der Aufmerksamkeit ist ihre Fähigkeit, auf äußere Objekte einzuwirken und die Realität zu verändern. Die Kombination aus zielgerichteter Aufmerksamkeit und Willen ermöglicht die innere Vergegenwärtigung [présentification], die intrapsychische Abbildung des gegenwärtigen Augenblicks.2 Durch Berücksichtigung dieser Fähigkeit sowie der Kraft, die zu ihrer Ausübung notwendig ist, wird es Janet zufolge möglich, eine Art Realitätskoeffizienten zu konstruieren, der einen Schlüssel zum Verständnis psychasthenischer Phänomene darstellt. Durch Berücksichtigung der psychischen Kraft, der psychischen Spannung und ihrer wechselseitigen Beziehung wird es möglich, die geeignete Behandlung für jede der verschiedenen neurotischen Störungen zu bestimmen. In Les Obsessions et la Psychasthénie (1903) hatte Janet auf sein ursprüngliches dualistisches System (die kreative Syntheseaktivität des Denkens und 1 Laut Janet ist das psychische Funktionieren durch unterschiedliche Ebenen des Bewusstseins charakterisiert (von elementaren bis zu komplexen Aktivitäten). 2 »Présentification« bedeutet laut Janet, »sich einen psychischen Zustand oder eine Gruppe von Phänomenen zu vergegenwärtigen« (Janet, 1903, S. 491).
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die repetitive automatische Aktivität des Handelns) bereits zugunsten einer hierarchischen Konzipierung psychischer Ebenen verzichtet. Die kreative, synthetisierende Funktion des Denkens wurde um die allgemeinere Aufgabe einer produktiven Integration erweitert, die für das progressive Verschwinden der verschiedenen geistigen Evolutionsstadien verantwortlich ist. Indem er diese genetische Perspektive bezog, favorisierte Janet die Evaluierung auf der Ebene der Sprache und der Denkfähigkeit statt anhand inhaltlicher Komplexität. Diese grundlegende Entwicklung von einer Perspektive zu einer anderen war auch eine methodische Veränderung mit bedeutsamen Implikationen für Janets Theorien. Sein Verzicht auf das statische, hierarchische Modell seiner frühen Forschung zugunsten einer dynamischen Konzipierung der Psyche ging mit einer größeren Offenheit für historisch-evolutionäres Denken einher. Psychopathologische Studien warfen Licht auf die Evolutionsgeschichte der Spezies und wurden ihrerseits erhellt durch diese Geschichte, die mehr auf eine Erklärung des Menschseins hinauslief als auf eine Geschichte der Entwicklung von Funktionen. Um nicht Gefahr zu laufen, automatische Phänomene rein physiologisch zu erklären, also auf Reflexe zu reduzieren und ihnen dadurch jeden Sinn abzusprechen, hielt Janet es für erforderlich, nach einer Zwischeninstanz zwischen Bewusstsein und »Unbewusstem« zu suchen und die normale Zerstreutheit zu erforschen – »die lange Abfolge innerer Wörter und Gedanken, die sich fast ohne unser Wissen abspult« ( Janet, 1903, S. 510). Diese Theorien wiederholt er in einem Vortrag mit dem Titel »Les oscillations du niveau mentale«, den er 1905 auf der 5. Internationalen Konferenz für Psychologie in Rom hielt. Hier stellte er erneut die Grundlagen seiner Theorie der Psychopathologie vor, nun aber in einem evolutionären und entwicklungspsychologischen Kontext. Er brachte die bei Hysterischen und Psychasthenischen beobachteten Symptome mit Schwankungen der »Kraft, Größe und Perfektion« in Verbindung. Diese Schwankungen werden »sichtbar« bei den »verschiedenartigen psychischen Erkrankungen«, insbesondere bei der Hysterie und der Psychasthenie. Sie treten auch unter normalen Umständen auf, zum Beispiel bei Müdigkeit oder in hochemotionalen Zuständen: »Es lässt sich leicht zeigen, dass die Symptome bei der Hysterie […] auf einer gravierenden Schwäche des psychischen Lebens beruhen […]. Sie entwickeln sich aufgrund eines Mechanismus, der Ähnlichkeit mit der Suggestion
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hat. […] Es handelt sich um psychische Symptome, die sich vollständig isoliert vom Willen und häufig auch vom personalen Bewusstsein des Patienten entwickeln« ( Janet, 1905; Hervorhebung ergänzt).
Die hysterischen Symptome geben laut Janet »eine Einengung des Geistes zu erkennen, die wir für eine Einengung des Bewusstseinsfeldes halten: der Geist scheint keine Vereinheitlichung mehr herstellen zu können, kein Verbinden all der peripheren Eindrücke, die […] in einer normalen Psyche gleichzeitig zusammengeführt werden. […] Offenbar kann die geistige und nervöse Aktivität, die allzu eingeschränkt ist, eine gewisse Aktivität unter der Bedingung mobilisieren, dass eine andere Aktivität verlorengeht. […] Der Patient ist sich dieser Unfähigkeit mehr oder weniger bewusst und nimmt in diesem Zusammenhang abnorme Gefühle wahr (zum Beispiel Depersonalisationsgefühle)« (ebd., S. 730).
Janet vertrat die Ansicht, dass bei diesen beiden Neurosen (aber auch in depressiven Zuständen) isolierte psychische oder physiologische Phänomene in übersteigerter Form konserviert werden. Diese Phänomene sind oft kaum bewusst oder unterbewusst und nur dürftig mit der psychischen Synthese, die unsere Persönlichkeit konstituiert, verbunden. Es handelt sich um alte Phänomene, die erhalten geblieben sind, Reproduktionen psychischer Systeme, die in der Vergangenheit organisiert wurden. Klar ist, dass ihre Organisation nicht mit Blick auf die gegenwärtige Situation erfolgte. Vielmehr bleibt keine Spur von den komplexen Phänomenen übrig, die sich aus einem harmonischen Funktionieren des Gesamtsystems herleiten. Die psychische Synthese ist eingeschränkt, das Bewusstseinsfeld verengt. Die Einschränkung des Bewusstseins und der Persönlichkeit lassen sich insbesondere für die Fähigkeit nachweisen, die Gegenwart und die gegenwärtige Situation sowie »das, was in ihr neu ist«, zu berücksichtigen und entsprechende Anpassungen vorzunehmen. In »A symposium on the subconscious«, veröffentlicht 1907 im Journal of Abnormal Psychology, unterstreicht Janet noch einmal, dass er dem Betriff »unterbewusst« eine ausschließlich klinische Bedeutung beilegt ( Janet, 1907c; 2013c, S. 177–187). Der Terminus bezeichnet die spezifischen Störungen der Persönlichkeit, die sich bei Patientinnen mit Hysterie oder Psychasthenie beobachten lassen. Diese Störungen beeinträchtigen die Fähigkeit der Patientin, ihre Wahrnehmungen in ihre Persönlichkeit 64
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zu integrieren und sich selbst als Urheberin ihrer Handlungen zu erkennen. Um die Diskussion nicht auf eine metaphysische Ebene geraten zu lassen, vermied Janet Spekulationen und erklärte, dass es sich um psychische Phänomene handele, die die äußere Welt betreffen oder sich um die Vorstellung, die das Individuum von sich selbst hat, gruppieren. Sowohl bei der Psychoasthenie als auch bei der Hysterie lässt sich das Vorliegen gravierender Beeinträchtigungen der personalen Wahrnehmung und der Persönlichkeit demonstrieren. Trotz ihrer offenkundigen Unterschiede kann man sagen, dass »alle hysterischen Anfälle nach demselben Modell ablaufen. Sie ähneln den Depersonalisierungen der Psychasthenischen. […] Ich habe versucht, sie unter dem Begriff ›unterbewusst‹ zusammenzufassen, was meiner Ansicht nach diese neue Form der Erkrankung der Persönlichkeit gut bezeichnet« ( Janet, 2013c, S. 182). Resümierend erklärt Janet, dass das Wort »unterbewusst« bestimmte psychische Zustände bezeichne, für die eine durch fixe Ideen verursachte Dissoziation von Bewusstsein charakteristisch sei. Janet benutzt »unterbewusst« aufgrund der Verbindung des Begriffs mit der psychischen Dissoziation: »Der Einfluss dieser Ideen beruht auf ihrer Isolation. Normalerweise haben Menschen zahlreiche und widersprüchliche Ideen, weil diese Teil ein und desselben Bewusstseins sind. Bei hysterischen Patienten aber verhält es sich anders, und zwar, wie Charcot sagte, ›weil aufgrund der leichten Dissoziierbarkeit ihrer psychischen Einheit verschiedene einzelne Zentren der personalen Einheit aktiv werden können, ohne dass die übrigen Bereiche des psychischen Organs davon Kenntnis haben und an dem Prozess teilnehmen‹. Diese Ideen werden immer stärker, bemächtigen sich der Psyche wie ein Parasit und sind in ihrer Entwicklung durch keine Bemühungen des Individuums aufzuhalten, weil sie unbewusst und vom Ideensystem in einem zweiten Bewusstsein abgetrennt sind« ( Janet, 1923a, zit. nach Bühler & Heim, 2009, S. 195).
Auch auf dem 6. Internationalen Kongress für Psychologie in Genf (1909) thematisierte Janet in seinem Vortrag das Unterbewusste. Insbesondere betonte er die Notwendigkeit einer klaren Definition, um das Konzept deutlich vom Unbewussten zu unterscheiden – einem Begriff, mit dem er fortan Spekulationen metaphysischer Art bezeichnete: »An dieser Stelle erscheint es mir hilfreich, an die ursprüngliche Bedeutung zu erinnern, um nicht der sterilen Forschung zu verfallen, unter der
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die ersten Studien litten, und die realen Probleme des Unterbewussten zu verstehen, dessen Untersuchung sich als vorteilhaft erweisen würde. Ich sage diesbezüglich nur, dass manche Patienten Schwierigkeiten haben, bestimmte Phänomene mit ihrer Persönlichkeit in Verbindung zu bringen, während andere Menschen nicht zögern, sie als vollkommen persönlich zu betrachten« ( Janet, 1909a, S. 3f.).
Das Konzept des Unterbewussten nahm ungeachtet seiner philosophischen Ursprünge in psychiatrischen Kliniken Gestalt an, und dort sollte es nach Meinung Janets auch verbleiben. Eine fast identische theoretische Darlegung und Erklärung erschien in einem Artikel, den er 1910 in der Zeitschrift Scientia veröffentlichte. Hier erklärt er eingangs die unterschiedlichen Bedeutungen, in denen man die Begriffe »unbewusst« und »unterbewusst« damals verwendete: »Die Studien über das Unbewusste sind sehr alt: es sind metaphysische Studien über die Möglichkeit einer Intelligenz, die sich von der menschlichen Intelligenz unterscheidet, die unabhängig ist vom Bewusstsein und seinem Verhalten, wie wir es in uns selbst beobachten. Die Untersuchungen über das Unterbewusste sind ungleich neueren Datums: Es handelt sich um klinische und psychologische Studien in Reaktion auf die Schwierigkeiten, die bei der Interpretation einiger sehr spezifischer psychischer Störungen auftreten« ( Janet, 1910a, S. 64; s. a. Janet, 2013c, S. 177).
Die angesprochenen Schwierigkeiten betreffen im Grunde die Störungen der Persönlichkeit. Bei psychasthenischen Patienten ist diese Störung partiell, die personale Wahrnehmung scheint nicht tiefgreifend beeinträchtigt zu sein. Die geistigen Operationen der Persönlichkeit haben sich offenbar erhalten; das Bewusstsein, dieser Akt, durch den eine Vielzahl unterschiedlicher Zustände zu einer Einheit zusammengefasst werden, scheint weiterhin vorhanden zu sein. Bei Hysterikern manifestiert sich die Störung der Persönlichkeit auf andere Weise. Die Patientin »handelt, als nähme sie das, was soeben geschehen ist, überhaupt nicht wahr. Sie zweifelt nicht an ihren eigenen Erinnerungen, sie behauptet nicht, dass sie nicht zu ihr gehörten. Sie spricht einfach nicht darüber, sondern ignoriert sie völlig. […] Wenn wir statt der Erinnerungen die Bewegungen dieser Menschen untersuchen, sehen wir, dass Hysteriker sehr häufig kom-
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plexe Bewegungen vollführen, die uns intelligent erscheinen – Bewegungen, die wir bei einem normalen Menschen mit klarem Denken in Verbindung brächten –, von denen diese Patienten jedoch behaupten, dass sie sich durch keinen Gedanken, keine Idee erklären lassen« ( Janet, 1910a, S. 69f.). »Einerseits bestätigen diese Patienten, sich nicht erinnern zu können, andererseits aber berichten sie, dass sie die Fähigkeit besitzen, sich ›sehr gut erinnern und bewegen und sehr gut hören‹ zu können. […] Ich habe den singulären Charakter dieser Phänomene, die wir bei hysterischen Patienten beobachten, das Verhalten dieser Patienten – ganz gleich, ob es einleuchtend erscheint oder nicht –, in der Vergangenheit mit den Begriffen ›unterbewusst‹, ›Einengung des Bewusstseinsfeldes‹, ›Dissoziation der Persönlichkeit‹ zusammenzufassen versucht« (ebd., S. 78).
Dieselbe Position vertrat Janet 1913 in London. Hier unterzog er die freudianische Theorie einer entschiedenen, generellen methodologischen Kritik und wandte sich insbesondere gegen ihren Begriff des Unbewussten und den Verdrängungsmechanismus. Ausgesprochen polemisch und durchaus sarkastisch wiederholte er hier die Notwendigkeit, an der Ebene der klinischen Beobachtung festzuhalten, unzulässige Verallgemeinerungen zu vermeiden und den organizistischen Gefahren, die über dem Konzept des Unbewussten hängen, auszuweichen. So befindet sich speziell die fixe Idee (als Grundlage der hysterischen Symptome) unterhalb der Bewusstseinsschwelle, ist ihrer Natur nach aber identisch mit den Ideen im Bewusstsein.
Phase II: 1917–1947 Als Janet sich einer evolutionären Perspektive zuwandte, erfuhr sein theoretischer Bezugsrahmen partielle Modifizierungen, auch wenn er seine Interpretation der zentralen Rolle des Unterbewussten für Hysterie und Psychasthenie sowie seine Hypothese bezüglich der Schwächung des Bewusstseins weiterhin verteidigte. Er erklärt die Existenz des Unterbewussten mit funktionellen Erwägungen. Die Überlegung, dass das Bewusstsein sämtliche psychischen Operationen gleichzeitig enthalte, erschien ihm absurd. Vielmehr betrachtete er das Bewusstsein als ein relatives Phänomen im Sinne eines Bewusstmachens (mise en conscience), das sich mit anderen Tendenzen und Handlungen überschneidet. 67
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In dieser Phase formulierte Janet seine Theorie der Beziehung zwischen unterbewussten und bewussten Verhaltensweisen, was allerdings zu einer partiellen Modifizierung der Bedeutung des Begriffs »unterbewusst« führte. Fortan charakterisierte »unterbewusst« Handlungen niederer Ordnung: »Psychische Handlungen hängen miteinander zusammen. Eine erste Ebene habe ich als reflexartig bezeichnet, eine zweite als suspensiv, eine dritte als die Ebene des totalisierenden Reflexes inklusive sozio-personaler Handlungen, bei denen all die psychischen Aktivitäten ins Spiel kommen. Eine Aktion kann alle drei Ebenen einbeziehen. Allgemein formuliert, würden wir sagen: Ein Phänomen ist unterbewusst, wenn es auf einer psychischen Ebene bleibt, die niedriger ist als die übrigen Phänomene desselben Organismus« ( Janet, 1926b, S. 96).
Ebenfalls in Les Stades de l’Évolution Psychologique (1926b) schrieb Janet, dass »die Handlungen, die niedrig bleiben, als unterbewusste Handlungen bezeichnet werden können […]. In der heutigen Welt werden Fakten in Büchern verzeichnet, und wir könnten sagen, dass unsere gesamte derzeitige Evolution daraus besteht, die in der Welt existierenden Phänomene in Bücher zu transformieren. Freilich gibt es Phänomene, über die in Bücher noch nichts geschrieben wurde, auf jeder Ebene gibt es Phänomene, die sich nicht selbst transformieren; das bedeutet, dass niedrige Handlungen in höheren Handlungen überdauern. Sie existieren in zwei Formen, als Elemente niedriger Handlungen und als entwickelte Phänomene, die noch nicht transformiert worden sind« (ebd., S. 96).
In De l’Angoisse à l’Extase betonte Janet (1928a) die Kontinuität dieses neuen theoretischen Bezugsrahmens – in dem der Handlung eine zentrale Position zukommt – und des psychischen Automatismus. Er unterstrich seine Überzeugung, dass die kartesianische Perspektive, die mit dem Denken anhebt und Handlungen als Folge oder als sekundären Ausdruck des Denkens begreift, einer Perspektive weichen müsse, die die sichtbare Handlung als grundlegendes Phänomen betrachtet. Das Denken ist demnach lediglich eine Art »innere Reproduktion« oder, präziser, eine Kombination aus Handlungen in reduzierter Gestalt. Janet hielt es für notwendig, die höchsten psychischen Phänomene, die für Menschen am charakteristischen sind, in Bezug auf 68
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Handlungen zu beschreiben. Während das Studium des bewussten Denkens uns veranlasst, eine ganze Reihe von Phänomenen aus der psychologischen Forschung auszuschließen, »hat die reine Verhaltenspsychologie sich für die Erforschung des Menschen als unzulänglich erwiesen« ( Janet, 1928a, S. 203).3 Von einer Psychologie des menschlichen Handelns ausgehend, ist es nach Janet möglich, nicht nur die Verbindungen zu identifizieren, die verschiedene Beobachtungen miteinander verknüpfen, und diese zu klassifizieren, sondern die Phänomene des Bewusstseins auch als spezifische Handlungen zu beschreiben, die mit den elementaren Handlungen zusammenhängen. Bewusstsein und verbale Konstruktion – für Janet impliziert das Bewusstsein von Anfang an die verbale Ausdrucksfähigkeit – ermöglichen es, dass die Gesamtheit des Unterbewussten, Gegenwart und Vergangenheit, in ihm fortdauern: »Es gibt Dinge in unserem Innern, die sich mit Worten nicht beschreiben lassen. Wir haben sie als vage Gefühle, Intuitionen, bezeichnet, aber es handelt sich um Phänomene, die nicht in die höhere Ebene transformiert wurden […]. (Janet, 1926b, S. 130). Oft haben wir festgestellt, dass all die Reaktionen der niederen Ebene in Handlungen auf der höheren Ebene transformiert werden. Ein mehr oder weniger großer Teil dieser Reaktionen besteht in der niedrigen Form fort und veranlasst Handlungen, die unter der Bezeichnung unterbewusste Handlungen Anlass zu lebhaften Diskussionen gegeben haben. Wir wissen, dass der Mensch all seine Handlungen in Sprache zu transformieren versucht, doch eine gewisse Anzahl dieser Aktionen bleibt ohne jeden verbalen Ausdruck, und in manchen Fällen ist es sogar unmöglich, sie in Worte zu fassen. Eine unterbewusste Handlung ist einfach eine Aktion, die ihre niedrige Form inmitten anderer Aktionen auf einer höheren Ebene erhalten hat« (Janet, 1935a, S. 40; Hervorhebung i. O.).
Schluss Zitieren wir noch einmal Janet: »Der Begriff ›unterbewusst‹ […] fasst lediglich den singulären Charakter einiger der Persönlichkeitsstörungen 3 Deshalb nennt Janet (1938) seine Konzeption »Psychologie de la conduite« bzw. »Psychologie des menschlichen Handelns« (Janet, 2013d, S. 268–290).
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zusammen, die sich in einer spezifischen Neurose, der Hysterie, manifestieren« ( Janet, 1910a, S. 64). Und er fährt fort: »Seit ich den Begriff ›Unterbewusstsein‹ zum ersten Male in diesem rein klinischen – und wie ich erkannt habe, auch etwas schlichten – Sinne benutzte, haben andere Autoren begonnen, ihn in einem ungleich komplexeren Sinn zu verwenden. Der Begriff wurde gewählt, um außergewöhnliche Aktivitäten zu bezeichnen, die anscheinend in uns existieren, ohne dass wir ihre Existenz auch nur erahnen; der Begriff wurde benutzt, um den Enthusiasmus und die Eingebungen des Genies zu bezeichnen. Dies erinnert an das humorvolle Wort Hartmanns: ›Es muss uns nicht betrüben, dass wir einen so praktischen und einfachen, so unpoetischen und unreligiösen Verstand haben; im tiefen Innern eines jeden von uns gibt es ein wunderbares Unbewusstes, das träumt und betet, während wir arbeiten, um unser täglich Brot zu verdienen.‹ Ich verzichte hier darauf, eine solch tröstliche und vielleicht sogar wahre Theorie zu erörtern, und erinnere lediglich daran, dass ich mich mit ganz anderen Dingen beschäftigt habe. Die armen Patienten, die ich studiert habe, besaßen kein Genie; die Phänomene, die bei ihnen zu unterbewussten geworden sind, waren überaus einfache Phänomene, die bei anderen Menschen Teil des Bewusstseins wären und keinerlei Bewunderung weckten. Diese Patienten hatten die Entscheidungsfreiheit und die Kenntnis von sich selbst verloren; sie hatten eine Persönlichkeitsstörung. So einfach ist es« (ebd., S. 75; s. a. Janet, 2013c, S. 182).
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Teil I Janets Einfluss auf die Psychoanalyse
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»Ein intimer Freund und ein gehaßter Feind waren mir immer notwendige Erfordernisse meines Gefühlslebens; ich wußte beide mir immer von neuem zu verschaffen, und nicht selten stellte sich das Kindheitsideal so weit her, daß Freund und Feind in dieselbe Person zusammenfielen, natürlich nicht mehr gleichzeitig oder in mehrfach wiederholter Abwechslung, wie es in den ersten Kinderjahren der Fall gewesen sein mag« (Freud, 1900a, S. 387).
Eingehend erörtert wurde die wechselseitige Beeinflussung zwischen Pierre Janet und Sigmund Freud tatsächlich erst 1970 mit der Publikation von Henry F. Ellenbergers The Discovery of the Unconscious. Im Folgenden werde ich versuchen, Freuds subjektiven Blick auf Janet sowie dessen subjektiven Blick auf Freud darzulegen. Ich halte dies für wichtig, um mögliche Vereinbarkeiten oder Unvereinbarkeiten ihrer theoretischen Konstrukte verstehen zu können. Allerdings sollten wir dabei an die Worte denken, mit denen Janet seine »Psychologische Autobiographie« ausklingen ließ: »Der interessanteste Teil meines Werkes werden aber, wie ich denke, die zahlreichen Beobachtungen sein, die ich bezüglich des normalen und des kranken Menschen sammeln konnte. Ich hätte sie weder sammeln noch klassifizieren können, wäre ich nicht von den auf immer unabdingbaren philosophischen Vorstellungen geleitet gewesen, wie sie William James so ausdrückte: ›Man sieht nur das, was zu sehen man vorbereitet ist‹« ( Janet, 2013e [1946], S. 299).
Freud schrieb 1924 in seiner »Selbstdarstellung« über Janet: »Nach der Meinung Janets war die Hysterika eine arme Person, die infolge einer konstitutionellen Schwäche ihre seelischen Akte nicht zu-
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sammenhalten konnte. Darum verfiel sie der seelischen Spaltung und der Einengung des Bewußtseins. Nach den Ergebnissen der psychoanalytischen Untersuchungen waren diese Phänomene aber Erfolg dynamischer Faktoren, des seelischen Konflikts und der vollzogenen Verdrängung. Ich meine, dieser Unterschied ist weittragend genug und sollte dem immer wiederholten Gerede ein Ende machen, was an der Psychoanalyse wertvoll sei, schränke sich auf eine Entlehnung Janetscher Gedanken ein. Meine Darstellung muß dem Leser gezeigt haben, daß die Psychoanalyse von den Janetschen Funden in historischer Hinsicht völlig unabhängig ist, wie sie auch inhaltlich von ihnen abweicht und weit über sie hinausgreift. Niemals wären auch von den Arbeiten Janets die Folgerungen ausgegangen, welche die Psychoanalyse so wichtig für die Geisteswissenschaften gemacht und ihr das allgemeinste Interesse zugewendet haben. Janet selbst habe ich immer respektvoll behandelt, weil seine Entdeckungen ein ganzes Stück weit mit denen Breuers zusammentrafen, die früher gemacht und später veröffentlicht worden waren. Aber als die Psychoanalyse Gegenstand der Diskussion auch in Frankreich wurde, hat Janet sich schlecht benommen, geringe Sachkenntnis gezeigt und unschöne Argumente gebraucht. Endlich hat er sich in meinen Augen bloßgestellt und sein Werk selbst entwertet, indem er verkündete, wenn er von ›unbewußten‹ seelischen Akten gesprochen, so habe er nichts damit gemeint, es sei bloß ›une manière de parler‹ gewesen« (Freud, 1925d [1924], S. 56).
Janet hatte seine Gedanken und Gefühle gegenüber Freud, die er zuvor schon mehrmals in Worte gefasst hatte, nur ein Jahr zuvor, 1923, abermals wiederholt: »Ein Arzt aus dem Ausland, Dr. S. Freud aus Wien, kam an die Salpêtrière und interessierte sich für diese aktuellen Untersuchungen [ Janets Hypnoseexperimente]. Er überprüfte die Fakten und publizierte neue Beobachtungen derselben Art. Dabei modifizierte er im Wesentlichen die Begriffe, die ich benutzt hatte: Er nannte Psychoanalyse, was ich als psychologische Analyse bezeichnet hatte, er nannte Komplex, was ich als psychisches System bezeichnet hatte […], er verstand als Verdrängung, was ich auf eine Einengung des Bewusstseins zurückgeführt hatte, und er benutzte den Begriff Katharsis für das, was ich als psychische Dissoziation oder moralische Desinfektion bezeichnet hatte« ( Janet, 1923a, S. 41).
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Am Hofe Charcots Alles begann in Paris an der Salpêtrière, wo der 29-jährige Freud im Oktober 1885 seine Studien bei Jean-Martin Charcot aufnahm. Er hatte Ernst Brückes Labor im Physiologischen Institut verlassen, weil die Arbeit dort es ihm nicht ermöglicht hätte, eine Familie zu ernähren. So erinnert er sich: »Die Wendung kam 1882, als mein über alles verehrter Lehrer den großmütigen Leichtsinn meines Vaters korrigierte, indem er mich mit Rücksicht auf meine schlechte materielle Lage dringend mahnte, die theoretische Laufbahn aufzugeben« (Freud, 1925d [1924], S. 35). In Brückes Labor hatte Freud auch den 65-jährigen Allgemeinmediziner Josef Breuer kennengelernt, einen der »angesehensten Ärzte Wiens, der Adlige und andere Mitglieder der höchsten Kreise zu seinen Patienten zählte« (Makari, 2008, S. 39). Breuer unterstützte ihn nicht nur emotional, sondern half ihm auch finanziell wiederholt aus der Klemme. Charcot wiederum verkörperte den Zugang zu einem unbekannten wissenschaftlichen Universum, in dem sich Freuds intellektuelle Ambitionen mit seinen emotionalen Interessen verbanden (Breger, 2000). Doch schon im November 1885, einen Monat nach Freuds Ankunft in Paris, stellte Paul Janet, Professor der Philosophie an der Sorbonne, unter dem Vorsitz Charcots in der Société de Psychologie Physiologique die ersten Hypnoseexperimente seines Neffen Pierre, eines 26-jährigen Gymnasiallehrers für Philosophie, vor. Wir wissen nicht, ob Pierre Janet und Freud einander in Paris begegnet sind, es ist aber nur schwer vorstellbar, dass Janets Arbeit Freud, wie dieser später erklärte (Freud, 1925d [1924], S. 37), nicht zu Gehör kam. Von 1885 bis 1889 führte Janet seine Forschungen durch und publizierte sie in der Revue Philosophique. Im August 1889, zwei Monate nach Abschluss seines Philosophiestudiums an der Sorbonne, hielt er in Paris einen Vortrag auf einem internationalen psychologischen Kongress, den auch Freud besuchte, und im Jahr 1900 sprach er auf dem Internationalen Kongress für Medizin, der aus Anlass der Weltausstellung ebenfalls in Paris stattfand (Ellenberger, 1996 [1974], S. 1039f.). Seine Dissertation unter dem Titel L’Automatisme Psychologique: Essai de psychologie expérimentale sur les formes inférieures de l’activité humaine war 1889 erschienen; ein Jahr später wurde er kurz nach Aufnahme seines Medizinstudiums von Charcot zum Leiter des Laboratoire de Psychologie Expérimentale an der Salpêtrière ernannt. 75
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Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass Freud, so er in Charcot seinen idealen Mentor sah, in Janet schon bald seinen idealen Rivalen fand, konkurrierte er doch als Außenseiter mit einem Insider um wichtige Beziehungen in akademischen Kreisen. Janet wiederum sah in Freud einen illegitimen Bruder, der nach Paris gekommen war, um dem Meister und ihm selbst die Arbeit zu stehlen. 1885 aber besaß Janet schon mehr Erfahrung mit der Behandlung hysterischer Patienten als Freud. Er war »ein feiner Kopf«, wie Freud selbst Jung gegenüber am 14.6.1907 einräumte (Freud/Jung, 1974, S. 72), ein scharfsinniger und sensibler Kliniker (Ellenberger, 1996 [1974], S. 477; Breger, 2009; S. 9; Frust, 2008), und konnte, um die Hysterie zu erforschen, mit den Patienten und Patientinnen der berühmtesten Klinik Europas arbeiten. Aus zahlreichen Gründen fühlte sich Freud – nicht zu Unrecht – zurückgesetzt. Doch er konnte sich auf Breuer verlassen. Im Gegensatz zu dem kühlen Empfang, den ihm seine Professoren bereiteten, als er 1886 aus Paris nach Wien zurückkehrte, begann Breuer, ihn zu unterstützen und ihm Patienten zu überweisen (Breger, 2000, S. 99). Und schon vor seiner Abreise nach Paris hatte er ihn mit dem rätselhaften Fall einer jungen Frau, Bertha Pappenheim alias Anna O., bekannt gemacht, die er zwischen 1880 und 1882 intensiv behandelt hatte, und zwar mittels einer »talking cure«, wie die Patientin selbst das Verfahren nannte. Freud und Breuer hatten sich oft über sie ausgetauscht, und Freud hatte in Paris sogar, wiewohl erfolglos, versucht, Charcot für den Fall zu interessieren (Makari, 2008, S. 40). Breuers bahnbrechende Behandlung der Anna O. in den Jahren 1880 bis 1882, die Einsichten, zu denen er und Freud in ihren Diskussionen gelangten, und die neuen Kenntnisse, die Freud nicht nur aus Paris mitbrachte, sondern auch aus Nancy, wo er Hippolyte Bernheim aufgesucht hatte, bildeten die Grundlage, auf der Freud später seine Methode der Analyse des Seelenlebens erarbeitete, die mit Janets sich rasch entwickelnder »psychologischen Analyse« konkurrieren konnte. Auf dem International Congress of Experimental Psychology in London stellte Janet 1892 sogar ein neues Verfahren, das automatische Sprechen, vor, welches darin bestand, »daß er die Patientin […] aufs Geratewohl laut sprechen ließ« (Ellenberger, 1996 [1974], S. 500). 1893 veröffentlichten Breuer und Freud in ihrem Artikel »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene« die theoretischen Grundlagen ihrer Studien über Hysterie (Breuer & Freud, 1895). Janet 76
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begrüßte den Beitrag als eine der wichtigsten zeitgenössischen Arbeiten überhaupt und pflichtete der Auffassung der Autoren bei, dass die in hysterischen Krisen und hypnoiden Zuständen auftauchenden Emotionen von Belang sind ( Janet, 1893d, S. 432). Er merkte jedoch auch an, dass der Zusammenhang zwischen hypnoiden Zuständen und hysterischen Phänomenen bereits von mehreren Autoren, einschließlich seiner selbst ( Janet, 1893e, S. 19), beschrieben worden war; in Breuers und Freuds Beobachtung, dass die Hysterischen im Wachzustand vernünftig seien und ihrer normalen Persönlichkeit in ihrem traumähnlichen hypnoiden Zuständen entfremdet, sah er eine willkommene Bestätigung der von ihm 1885 beschriebenen désagrégation mentale, des psychischen Zerfalls, und der dédoublement de la personnalité, der Persönlichkeits- oder Bewusstseinsspaltung ( Janet, 1893e, S. 25f.). Auf der Grundlage seiner klinischen Erfahrung behauptete er zudem, er glaube nicht daran, »dass die Heilung auf solch einfach Weise erfolge und dass es hinreiche, den Patienten seine fixen Ideen aussprechen zu lassen, um sie zum Verschwinden zu bringen – tatsächlich ist die Behandlung ungleich heikler« ( Janet, 1893a, S. 352). Freuds Antwort auf diese vernünftigen Einwände bestand darin, seine Theorie von Janets Ansatz zu emanzipieren, und deshalb sagte er sich von Breuer los (Breger. 2009). So entstand die Triebtheorie mit ihrer starken Gewichtung der Sexualität, die zu den nachfolgenden Brüchen mit Bleuler, Adler, Jung usw. führen sollte. Der erste Punkt aber, in dem Freud von Janet abwich, war dessen Degenerationstheorie (Freud, 1894a, S. 65, Fn. 3).
Die Degenerationstheorie Die biologische Degeneration war ein beliebtes Konzept der Neurologie und Psychiatrie des 19. Jahrhunderts. So schreibt George Makari: »Nach 1879 wurde das biologische Erbe weithin als Ursache der psychischen Funktionen und als entscheidende Voraussetzung eines psychischen Zusammenbruchs infolge akzidenteller Ereignisse anerkannt. […] Indem Charcot von seinem Schüler Charles Féré das Konzept einer ›neuropathischen Familie‹ übernahm und Ahnentafeln studierte, brachte er eine Reihe von Krankheiten miteinander in Verbindung und führte sie alle auf denselben ererbten Defekt zurück. Charcot zeichnete Stammbäume, auf denen Hysterie, Alkoholismus, Suizid, progressive Paralyse, Apoplexie sowie rheu-
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matische und arthritische Erkrankungen erblühten. Stellte jemand die gemeinsame Erbanlage all dieser Krankheiten infrage, verwies er auf die neuropathische Konstellation, die sich unter ›Israeliten‹ fände« (Makari, 2008, S. 34f.).
In seinem umfangreichen Buch Faces of Degeneration vertritt Daniel Pick die Ansicht, dass die Degenerationstheorie »als ein komplexer Prozess der Konzeptualisierung einer gefühlten historischen Krise« zu verstehen sei, die »just in dem Moment einsetzte, als der liberale Fortschrittsglaube schwer erschüttert wurde« (Pick, 1989, S. 54). Diagnosen, die sich auf eine Degeneration stützten, waren »eine beliebte Methode, um die allerorten wahrgenommene und kritisierte Unfähigkeit der Psychiatrie, einen Großteil ihrer Patienten zu ›heilen‹, wegzuerklären. Unheilbarkeit […] wurde nun auf ein unumgehbares Faktum der Natur zurückgeführt. Die Funktion des Asyls wurde neudefiniert, nämlich nicht als ›Heilung‹, sondern als humane Ausgrenzung der Degenerierten und Gefährlichen« (ebd., S. 55).
Indem Charcot demonstrierte, dass es möglich war, hysterischen Patienten Glauben zu schenken und etwas für sie zu tun, prägte er an der Salpêtrière eine neue Kultur, mit der die Zukunft der Psychiatrie begann. Gleichwohl behauptete auch er weiterhin, dass eine organische dégénérescence eine unabdingbare Voraussetzung psychischer Erkrankungen sei und dass Umwelttraumata mit »akzidentellen Auslösefaktoren« zusammenwirkten (Goetz, Bonduelle & Gelfand 1995, S. 262). Janet hob Charcots Theorien von der hirnorganischen auf die geistig-psychische Ebene, indem er die »organische dégénérescence« durch »psychische désagrégation« ersetzte ( Janet, 1893a, S. 497). Sodann ging er einen weiteren Schritt über seinen Mentor hinaus und beschrieb eine höhere psychische Komplexität des Zusammenwirkens von Prädisposition und Trauma (Ellenberger, 1996 [1974]). Freud tat das Gleiche, aber auf andere Weise. Er entwickelte das Konzept der Nachträglichkeit – der nachträglichen Wirkung des infantilen sexuellen Traumas –, um die Degenerationstheorie zu ersetzen (Freud, 1896b, S. 384, Fn. 1, 397, 403). Nicht zufällig ist daher die infantile Sexualität der ausschlaggebende strittige Punkt zwischen Janet und Freud, der in seinem oben zitierten Brief an Jung schrieb: »Janet ist ein feiner Kopf, aber er ist ohne die Sexualität ausgegangen und kann jetzt nicht weiter« 78
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(Freud/Jung, 1974, S. 72). Selbstredend konnte Janet die Richtung, die Freud für die Psychoanalyse vorschwebte, nicht weiterverfolgen. Dass Freud auf das Problem der Degeneration empfindlich reagierte, hängt vielleicht mit seiner bescheidenen Herkunft aus einer jüdischen Familie zusammen (Rolnik, 2012, S. 7; Spiegel, 1986). Möglicherweise war Janets genetische Erklärung der Hysterie mit Schwäche, faiblesse, und psychischem Zerfall, désagrégation psychologique, für seine Ohren aus diesem Grund inakzeptabel. Doch auch wenn man die Degenerationstheorie unschwer mit dem Bild der »einfachen« Menschen, die Einrichtungen wie die Salpêtrière füllten, in Verbindung bringen konnte, ließ sie sich auf die hochgebildeten Patientinnen und Patienten aus der Oberschicht, die Breuer und Freud aufsuchten, nicht anwenden. 1887 eröffnete Freud seine erste eigene Praxis, und schon 1888 legte er Wert darauf zu betonen: »Auch die volle Klarheit des Geistes und die Befähigung selbst zu außergewöhnlichen Leistungen bleibt bei der langwierigsten Hysterie erhalten« (Freud, 1888, S. 85). Die These wurde in der Behandlung der Emmy von N. (Baroness Fanny Moser, eine der wohlhabendsten Witwen Europas), weiterentwickelt. Diese Behandlung war für die Entstehung der Freud’schen Theorie wegweisend (Bromberg, 1996). Im Zusammenhang mit seiner Beschreibung der Persönlichkeit Emmys griff Freud Janet zum ersten Mal heftig an: »[…] so hatten wir an Frau Emmy v. N. … ein Beispiel dafür, daß die Hysterie auch tadellose Charakterentwicklung und zielbewußte Lebensführung nicht ausschließt. Es war eine ausgezeichnete Frau, die wir kennen gelernt hatten, deren sittlicher Ernst in der Auffassung ihrer Pflichten, deren geradezu männliche Intelligenz und Energie, deren hohe Bildung und Wahrheitsliebe uns beiden imponierte, während ihre gütige Fürsorge für alle ihr unterstehenden Personen, ihre innere Bescheidenheit und die Feinheit ihrer Umgangsformen sie auch als Dame achtenswert erscheinen ließ. Eine solche Frau eine ›Degenerierte‹ zu nennen, heißt die Bedeutung dieses Wortes bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Man tut gut daran, die ›disponierten‹ Menschen von den ›degenerierten‹ begrifflich zu sondern, sonst wird man sich zum Zugeständnisse gezwungen sehen, daß die Menschheit einen guten Teil ihrer großen Errungenschaften den Anstrengungen ›degenerierter‹ Individuen zu verdanken hat. Ich gestehe auch, ich kann in der Geschichte der Frau v. N. … nichts von der ›psychischen Minderleistung‹ finden, auf welche P. Janet die Entstehung der Hysterie zurückführt. Die hysterische
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Gabriele Cassullo
Disposition bestünde nach ihm in einer abnormen Enge des Bewußtseinsfeldes (infolge hereditärer Degeneration), welche zur Vernachlässigung ganzer Reihen von Wahrnehmungen, in weiterer Folge zum Zerfall des Ich und zur Organisierung sekundärer Persönlichkeiten Anlaß gibt. Demnach müßte auch der Rest des Ich, nach Abzug der hysterisch organisierten psychischen Gruppen, minder leistungsfähig sein als das normale Ich, und in der Tat ist nach Janet dieses Ich bei den Hysterischen mit psychischen Stigmaten belastet, zum Monoideismus verurteilt und der gewöhnlichen Willensleistungen des Lebens unfähig. Ich meine, Janet hat hier Folgezustände der hysterischen Bewußtseinsveränderung mit Unrecht zu dem Range von primären Bedingungen der Hysterie erhoben. Das Thema ist einer eingehenderen Behandlung an anderer Stelle wert; bei Frau v. N. … aber war von solcher Minderleistung nichts zu bemerken. Während der Periode ihrer schwersten Zustände war und blieb sie fähig, ihren Anteil an der Leitung eines großen industriellen Unternehmens zu besorgen, die Erziehung ihrer Kinder niemals aus den Augen zu verlieren, ihren Briefverkehr mit geistig hervorragenden Personen fortzusetzen, kurz allen ihren Pflichten soweit nachzukommen, daß ihr Kranksein verborgen bleiben konnte« (Breuer & Freud, 1895, S. 160f.).
Bedauerlicherweise erfuhr Freud Jahre später (Tögel, 1999), dass Emmys Persönlichkeit »gespalten« war. Das heißt, Freud hatte den Persönlichkeitsanteil kennengelernt, der sich auf der Grundlage einer Identifizierung mit dem Angreifer entwickelt hatte. Dies hatte zur Folge, dass die Patientin sich auf einer Seite der Spaltung gehorsam gegenüber den Ärzten verhielt, die ihr zu helfen versuchten. Auf der anderen Seite der Spaltung aber fühlte sie sich getrieben, sie abzulehnen und die Beziehung abzubrechen, sobald sich ein »gefährlicher« affektiver Kontakt abzuzeichnen begann (Breuer & Freud, 1895, S. 162, Fn. 1; Zusatz aus dem Jahr 1924).
Eine lebenslange Rivalität Im Laufe der Jahre kam Freud häufig auf Janet zu sprechen. In zwei Texten, die er 1905 veröffentlichte (»Bruchstück einer Hysterie-Analyse« und »Über Psychotherapie«) erkannte er die Ähnlichkeit zwischen der französischen Schule und der Psychoanalyse an, erklärte aber, dass Janets Konzeption der fixen Ideen im Vergleich zu seinem eigenen Verständnis der unbewussten Phantasien allzu schematisch sei. Janets Interesse galt der 80
3 Janet und Freud – ewige Rivalen
pathologischen Einengung des Bewusstseinsfeldes, Freud interessierte die Unendlichkeit des Unbewussten. 1906 griff Freud das Problem der Degeneration ein weiteres Mal auf und erwähnte in diesem Zusammenhang auch den Namen Janets. Der Vortrag »Der Dichter und das Phantasieren«, 1908 veröffentlicht, hängt eng mit der vorangegangenen Arbeit zusammen, lässt Janet jedoch unerwähnt. Freud spricht hier von Phänomenen, die sich einzig mit dem Dissoziationskonzept erklären lassen: »[I]n der Technik der Überwindung jener Abstoßung, die gewiß mit den Schranken zu tun hat, welche sich zwischen jedem einzelnen Ich und den anderen erheben, liegt die eigentliche Ars poetica« (Freud, 1908e, S. 223). Was sonst sollten diese »Schranken« sein, wenn nicht dissoziative clivages? Nicht zufällig werden diese Seiten Freuds über »einzelne« Ichs von Bromberg (2006, S. 58f.) zitiert. In jenen Jahren waren Persönliches, Politisches und Wissenschaftliches besonders eng miteinander verflochten. So schrieb Freud am 14. April 1907 an Jung: »Geehrter und lieber Herr Kollege Sehen Sie, die Welt im allgemeinen denkt ebenso wie ich über unser Verhältnis. Das Referat in Amsterdam war mir kurz vor Ihrer Ankunft hier angetragen worden, und ich lehnte es eiligst ab in der Angst, ich würde es mit Ihnen besprechen und mich dann von Ihnen zur Annahme bestimmen lassen. Dann trat das Ding gegen Wichtigeres in unseren Gesprächen zurück. Nun freut es mich sehr, daß man Sie erwählt hat. Zu meiner Zeit war aber nicht Aschaffenburg der andere Referent, sondern es waren zwei genannt, Janet […] und ein Eingeborener. Es war offenbar auf ein Duell zwischen Janet und mir abgesehen, aber ich hasse Gladiatorenkämpfe vor dem edeln Pöbel, kann mich schwer entschließen, eine indifferente Menge über meine Erfahrungen abstimmen zu lassen […], vor allem aber will ich einige Monate lang von Wissenschaft nichts wissen und dem arg malträtierten Instrument Erholung in allerlei fernab liegenden Genüssen verschaffen. Nun werden Sie den Waffengang mit Aschaffenburg zu bestehen haben. ich plädiere für Schonungslosigkeit, rechnen Sie auf die harte Haut der gegnerischen Pachydermen« (Freud/Jung, 1974, S. 35f.).
Im Folgenden Jungs Bericht über den »Ersten Internationalen Kongress für Psychiatrie und Neurologie«, der vom 2. bis 7. September 1907 in Amsterdam tagte: 81
Gabriele Cassullo
»Hochverehrter Herr Professor! Nur in Eile zwei Worte, um etwas abzureagieren. Ich habe heute morgen gesprochen, leider konnte ich meinen Vortrag nicht ganz beendigen, da ich den Termin von einer halben Stunde hätte überschreiten müssen, was mir nicht gestattet wurde. […] Hier ist eine schlimme Mördergrube. Es handelt sich tatsächlich um Affektwiderstände. Aschaffenburg hat in seinem Vortrag zwei Versprechungen gemacht (statt ›keine Tatsachen‹ ›Tatsachen‹), welche darauf schließen lassen, daß er unbewußt schon stark infiziert ist. Darum auch sein wütender Angriff. In der Unterhaltung sucht er bezeichnenderweise nie Belehrung, sondern strengt sich an, mir zu beweisen, wie unglaublich groß unser Irrtum ist. Unsere Gründe verlangt er aber weiter nicht zu hören. Für seine Gegenaffekte habe ich eine ganze Reihe hübscher Beobachtungen gesammelt. Von den andern hängt jeder feige an den Rockschößen des schwereren Vordermannes. Diskussion soll erst morgen stattfinden. Ich werde möglichst nichts sagen, denn jedes Wort, das man diesen Widerständen opfert, ist Verlust. Es ist eine entsetzliche Bande, stinkend vor Eitelkeit. Janet leider Gottes oben an« (Freud/Jung, 1974, S. 92).
Ende 1908 wurde Freud von Professor Stanley Hall eingeladen, zum 20-jährigen Stiftungsfest der Clark University in Worcester, Massachusetts, mehrere Vorträge zu halten. Janet war einer Einladung an die Clark University schon zuvor nachgekommen und hatte mit seinen Vorträgen wesentlich dazu beigetragen, »die Aufmerksamkeit unserer führenden und insbesondere unserer jüngeren Erforscher der abnormalen Psychologie von einer exklusiv somatischen und neurologischen Basis auf eine in höherem Maß psychologische Grundlage zu lenken«, wie Hall in seinem Schreiben an Freud erwähnte (Makari, 2008, S. 234). Freud lehnte zunächst mit der Begründung ab, sich die Reise finanziell nicht leisten zu können, doch über seinem Schreiben an Jung vom 30. Dezember 1908 dräut unverkennbar der Schatten des Rivalen: »Janet, auf dessen Vorbild sie sich berufen […], ist wahrscheinlich reicher oder ehrgeiziger oder versäumt nichts in der Praxis. Es tut mir aber leid, daß es daran scheitert, denn es wäre sehr heiter gewesen« (Freud/Jung, 1974, S. 213f.). Letztendlich entschloss sich Freud dann doch zu der Reise. Zum allerersten Mal sollte er vor einem Publikum mit internationalem Renommee sprechen, und er war nervös. Er begann, über die Reaktionen seiner Zuhörer zu phantasieren. Würden sie seine Partei ergreifen oder sich auf 82
3 Janet und Freud – ewige Rivalen
Janets Seite stellen? Über den einflussreichen amerikanischen Psychologen Morton Prince schrieb er am 22. Februar 1909 an Ernest Jones: »Sie schreiben, Prince sei ein biederer, sympathischer Mann, unseren Theorien sehr zugeneigt, und es scheint, dass Sie ihm näher gekommen sind. Nun hat man mir in Salzburg berichtet, er verkünde, meine Ansichten stammten weitgehend von Janet und seien mit seinen Auffassungen tatsächlich identisch. Ich habe von Brill und auch von Abraham erfahren, dass er Artikel, die ihm auf seinen Wunsch geschickt wurden, mit der Begründung abgelehnt hat, sie enthielten zu viel Sexuelles – Sie sagen, er sei nicht prüde, aber er hat Abraham geschrieben, dass er den Begriff ›homosexuell‹ nicht akzeptieren könne, weil so viele seiner Leser Laien (oder vielleicht Ladies) seien – seine Auslegung meiner Bemerkungen über das Unbewusste zeugen von groben Missverständnissen, die mich vermuten lassen, dass er das Buch nie gelesen, sondern nur einen Blick auf das einschlägige Thema geworfen hat. Wie bringt man die Worte und die Taten dieses Mannes zusammen, das Urteil, zu dem ich zwangsläufig gelangen muss, und der Eindruck, den Sie gewonnen haben? Vielleicht wäre es geraten, sich von ihm fernzuhalten und davon auszugehen, dass sich hinter seinen freundlichen Worten schlechte Absichten verbergen« (Freud/Jones, 1993, S. 19).1
Zu Beginn seiner ersten Vorlesung an der Clark University erinnerte Freud an Breuer und dessen Verdienst, die Psychoanalyse ins Leben gerufen zu haben. In seiner zweiten Vorlesung kam er auf das schwierige Thema seiner Einstellung zu Janets Theorien zu sprechen: »Wenn Sie mir ein banales, aber deutliches Gleichnis gestatten, Janets Hysterische erinnert an eine schwache Frau, die ausgegangen ist, um Einkäufe zu machen, und nun mit einer Menge von Schachteln und Paketen beladen zurückkommt. Sie kann den ganzen Haufen mit ihren zwei Armen und zehn Fingern nicht bewältigen, und so entfällt ihr zuerst ein Stück. Bückt sie sich, um dieses aufzuheben, so macht sich dafür ein anderes los usw. Es stimmt nicht gut zu dieser angenommenen seelischen Schwäche der Hysterischen, daß man bei ihnen außer den Erscheinungen verminderter Leistung auch Beispiele von teilweiser Steigerung der Leistungsfähigkeit, wie zur Entschädigung, beobachten kann. […] Als ich es später unternahm, die von Breuer 1 Freud schrieb diesen Brief auf Englisch. Übersetzung: E. Vorspohl.
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begonnenen Untersuchungen auf eigene Faust fortzusetzen, gelangte ich bald zu einer anderen Ansicht über die Entstehung der hysterischen Dissoziation (Bewußtseinsspaltung). Eine solche, für alles weitere entscheidende Divergenz mußte sich notwendigerweise ergeben, da ich nicht wie Janet von Laboratoriumsversuchen, sondern von therapeutischen Bemühungen ausging« (Freud, 1910a [1909], S. 18).
Diese Vignette illustriert das klassische Freud’sche Verständnis der Janet’schen Dissoziationstheorie, das leider bis auf den heutigen Tag überdauert. Ich bin jedoch überzeugt, dass Freuds Janet-Bild komplexer war und er seinen inneren Dialog mit Janet fortsetzte, auch wenn er dies in seinen Schriften kaum eingestand. 1911 berief er sich beispielsweise auf Janets Konzept der fonction du réel (Realitätsfunktion), um seine Theorie des psychischen Apparates zu formulieren. Da Janet das Konzept 1909 in seinem Werk Les Nevroses beschrieben hatte, scheint Freud seine Veröffentlichungen weiterhin zur Kenntnis genommen und sich mit seinem Denken auseinandergesetzt zu haben. In derselben Arbeit von 1911 unterscheidet er zwischen einem Lust-Ich und einem Real-Ich. 1914 beschreibt er im Zusammenhang mit dem Narzissmus die Ich-Instanz der Selbstbeobachtung und nimmt dabei erneut auf Janets fonction du réel Bezug. In den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916–17a) bezeichnet er die Funktion der Selbstbeobachtung als Zensor. 1922 ist das Geburtsjahr des Über-Ichs. Doch woher stammen all diese Ichs oder Partial-Ichs oder somatischen Ich-Vorläufer? Passen sie in Freuds Verdrängungs- oder in Janets Dissoziationsmodell? Oder sind sie Teil eines hybriden Modells, dessen Existenz Freud nie zweifelsfrei anerkannt hat, obwohl er es benutzte? 1910 erklärte Freud kategorisch, dass »wir den jeweilig anders zusammengesetzten Sammelbegriff des ›Ichs‹ verwenden« (Freud, 1910i, S. 97). Ist das Freud’sche Ich eine zusammengesetzte Entität, ein Kompositum? Dies würde erklären, dass manche Persönlichkeitsstörungen, die mit instabiler Identität, regressiven oder Borderline-Zuständen einhergehen und nicht dem klassischen Trieb-Abwehr-Muster entsprechen, gleichwohl psychoanalytisch behandelt werden, weil die Psychoanalyse Janets Dissoziationsmodell stillschweigend integriert hat. Dass dies stillschweigend geschah, hing mit dem offenen Ausbruch des Konflikts zwischen Freud und Janet zusammen. 1913 trug der französische Psychologe auf dem International Congress of Medicine in London unter dem Titel »Die Psychoanalyse« eine detaillierte Kritik an Freud vor. Freud 84
3 Janet und Freud – ewige Rivalen
antwortete darauf ein Jahr später mit seiner hochpolitischen Abhandlung »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung«. 1923–24 brach der Konflikt ein weiteres Mal aus.
Schlussbetrachtung Es wäre von großem Nutzen, die Spuren aufzudecken, die Janet in Freuds Schriften hinterlassen hat. Aufgrund des Konflikts der beiden Männer ist es wenig hilfreich, im Freud’schen Werk nach Janets Namen zu suchen. Zu suchen wäre vielmehr nach den Konzepten. Dabei wäre zweifellos Freuds allmähliche Formulierung des Konzepts der – eng mit dem Verlust der fonction du réel zusammenhängenden – Verleugnung von Belang, die er mit dem Beitrag »Die Ichspaltung im Abwehrvorgang« (1940e) abschloss. Auch Freuds Konzipierung des Todestriebs, der als ein Drängen in Richtung Dissoziation verstanden werden kann, wäre zu berücksichtigen. Erneut hätten wir es mit einem hybriden Janet’schen/Freud’schen Modell zu tun, wenn wir die Dissoziation, in diesem Sinn verstanden, nicht auf eine passive Fragmentierung, sondern auf eine aktiv desintegrierende Kraft (Trieb) zurückführen.
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Janet und Jung – eine anregende Beziehung Caterina Vezzoli
Wer über Jung und Janet forschen möchte, muss zu einer Reise ins späte 19. und frühe 20. Jahrhundert aufbrechen. Wir starten in Genf, wo Théodore Flournoy 1892 von der Schweizer Regierung mit dem ersten Lehrstuhl für Psychologie betraut wurde. Für die Psychologen jener Zeit gab es nichts Wichtigeres als die Anerkennung ihrer Disziplin als Wissenschaft. Unsere nächste Reiseetappe ist Paris. Pierre Janet wurde hier 1902 offiziell zum Nachfolger Théodule Ribots am Collège de France ernannt und stellte seine Forschung über psychischen Automatismus und Träume vor. Wenn wir uns die Beziehung zwischen Jung und Janet ansehen, zeigt sich, dass Jung seit seinen Anfangsjahren als Psychiater und Psychologe ein Freigeist war. Als die moderne Psychologie entstand (Shamdasani, 2003), experimentierte er mit unterschiedlichen Verfahren, um zu seiner eigenen Methode zu finden. Die französische Schule mit Binet, Ribot und Janet war für seine Studien zweifellos von Bedeutung – ebenso wie seine Verbindung zu Flournoy in Genf und die Beschäftigung mit okkulten Phänomenen, die in Jungs frühen Jahren eine maßgebliche Rolle spielte. Das französische Erbe blieb zeit seines Lebens eine Konstante seiner Psychologie. So betonte er 1934 ausdrücklich, dass er »keineswegs ausschließlich von Freud herstamme. Ich hatte meine wissenschaftliche Stellung und die Komplexlehre, bevor ich mit Freud zusammentraf. Die Lehrer, die mich in allererster Linie beeinflussten, sind Bleuler, Pierre Janet und Théodore Flournoy« ( Jung, 1995 [1934], S. 583). In Experimentelle Untersuchungen ( Jung, 1979), dem zweiten Band der Gesammelten Werke Jungs, finden sich zahlreiche Verweise auf Janet. Tatsächlich belegen die Untersuchungen über die am Burghölzli unter Jungs Leitung durchgeführten Assoziationsexperimente dessen Beitrag zum Verständnis der Komplexe und der Dissoziation. Jung hat die theoretischen und klinischen Verdienste Janets während seiner gesamten Laufbahn stets 87
Caterina Vezzoli
anerkannt und gewürdigt. Dass er im Laufe der Jahre seine eigenen Theorien über Komplexe, Dissoziation, Träume, Archetypen, Gegenübertragung und Individuation, über das Pychoide, über psychologische Typen, über das Selbst und über Synchronizität entwickelte, hat an seiner Bewunderung für Janet und die französische Schule nichts geändert.
Experimentelle Forschung 1902 ging Jung nach Paris, um Janets Vorlesungen am Collège de France zu besuchen. Über den Einfluss, den Janet auf ihn ausübte, schreibt Ellenberger: »C. G. Jung nimmt mehrmals Bezug auf Janet; er hatte im Wintersemester 1902/1903 die Vorlesungen Janets in Paris besucht. Der Einfluss von L’Automatisme psychologique ist daran zu erkennen, daß Jung annimmt, die Seele des Menschen umfasse eine Reihe von ›Unter-Persönlichkeiten‹ ( Janets ›gleichzeitige psychische Existenzen‹). Bei der Definition des Wortes ›Komplex‹ erwähnte Jung, es entspreche der ›unterbewußten fixen Idee‹ Janets« (Ellenberger, 1996 [1974], S. 555f.).
Bei seiner ersten Begegnung mit Janet, 1902, stand Jung am Beginn seiner Laufbahn als Psychiater am Zürcher Burghölzli, einem der besten psychiatrischen Hospitäler ganz Europas. Er war entschlossen, einen weiterführenden Beitrag zur Theoriebildung der, wie es damals hieß, »modernen Psychologie« zu leisten. Sein Ansatz war wissenschaftlich, allerdings nicht im streng positivistischen Sinn, denn er versuchte, die beste wissenschaftliche Methode seiner Zeit mit klinischer Beobachtung zu verbinden. Er untersuchte die Assoziation bei »Normalen« ( Jung, 1979), indem er seinen Wortassoziationstest zur Erforschung der Subjektivität anwandte. In den Experimenten wies er nach, dass das Assoziieren keineswegs frei ist, sondern von den affektiven Erfahrungen und den Trieben gesteuert wird. Statt von »Trieben« sprach Jung lieber von »Instinkten« und einer »Psychologie der Instinkte«, die er später mit den Archetypen in Verbindung brachte. Jung hat den Wortassoziationstest zu Beginn des 20. Jahrhunderts anders benutzt, als Wundt es tat, denn er ist nie ein Anhänger des Assoziationismus an sich gewesen. Vielmehr sah er in der Assoziationsforschung 88
4 Janet und Jung – eine anregende Beziehung
eine Möglichkeit, die Struktur der Psyche und das Wesen der traumatischen Erfahrungen als Ursache der Dissoziation zu untersuchen. Wohlwissend, dass Binet Wundts Assoziationsmethode kritisch beurteilte, und in der Überzeugung, dass die französische Schule die beste Psychiatrie seiner Zeit verkörperte, versuchte Jung, die Methode durch einen experimentellen Apparat zu verbessern, der eine psychologische Interpretation der Ergebnisse ermöglichte. Zu Beginn galt sein Interesse der experimentellen Untersuchung der Differenzialdiagnose, doch diese Forschung erwies sich als unergiebig. Fortan konzentrierten sich seine Studien auf experimentelle Methoden zur Messung der Reaktionszeiten und der Wortassoziationen seiner Probanden. Die französische Psychologie des Unbewussten war der konstante Bezugspunkt dieser frühen Forschung, und tatsächlich bestätigten die Assoziationsexperimente Janets Konzept der unterbewussten fixen Ideen.
Dementia praecox Wie Jung Janets psychologische Theorien integrierte und weiterentwickelte, zeigt sich besonders deutlich in Band 3 seiner Gesammelten Werke, Psychogenese der Geisteskrankheiten (1968), wo er folgende Bücher Janets zitiert: L’Automatisme Psychologique (1889), Névroses et Idées Fixes (1898a) und Les Obsessions et la Psychasthénie (1903). Vor allem in dem Essay »Über die Psychologie der Dementia praecox. Ein Versuch« von 1907 finden Janets Konzepte Erwähnung. Die in Psychogenese der Geisteskrankheiten enthaltenen Schriften erschienen in den Jahren zwischen 1906 und 1956, und in all diesen Dekaden nahm Jung immer wieder auf Janet Bezug. Geht man dieser Fährte nach, so zeigt sich, wie Jung seine frühe JanetRezeption in die eigene Theorie integrierte. Von Beginn an und im Gesamtverlauf der Entwicklung seiner Psychologie hat er die Validität der Arbeit Janets und der französischen Schule anerkannt. So erläuterte er 1907 in seinem Vorwort zur ersten Auflage der Psychologie der Dementia praecox: »Die Gerechtigkeit gegenüber Freud bedeutet nicht, wie viele fürchten, eine bedingungslose Unterwerfung unter ein Dogma; man kann dabei sehr wohl ein unabhängiges Urteil sich bewahren. Wenn ich zum Beispiel Komplexmechanismen des Traumes und der Hysterie anerkenne, so will das noch lange
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Caterina Vezzoli
nicht heißen, dass ich dem sexuellen Jugendtrauma die ausschließliche Bedeutung zuerkenne, wie Freud es anscheinend tut; ebensowenig, daß ich die Sexualität so überwiegend in den Vordergrund stelle […]. Was die Freudsche Therapie anbelangt, so ist sie im besten Falle eine unter den möglichen und bietet vielleicht nicht immer, was man theoretisch davon voraussetzt. […] Wer Freud gegenüber gerecht sein will, der muß nach dem Worte des Erasmus handeln: Unumquemque move lapidem, omnia experiri, nihil intentatum relinque1« ( Jung, 1907, S. IV).
Eine editorische Anmerkung zum Text enthält die aufschlussreiche Information, dass diese Arbeit nicht nur den Höhepunkt von Jungs früher Forschung am Burghölzli bildet, sondern dass sie es war, die Freuds Interesse an Jung weckte, während sie zugleich die Elemente ihrer späteren theoretischen Differenzen in sich trug. Im ersten Kapitel der Psychologie der Dementia praecox, überschrieben »Kritische Darstellung theoretischer Ansichten über die Psychologie der Dementia praecox«, analysiert Jung die zeitgenössische einschlägige Literatur einschließlich der experimentellen Assoziationsforschung und gelangt zu dem Schluss, dass Janets Konzept des abaissement du niveau mental die eingeschränkte Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit, die zahlreiche Autoren mit dem Auftauchen unerwarteter unbewusster Assoziation in Verbindung bringen, erklären könne. Im selben Kapitel erwähnt er Janet im Zusammenhang mit der Dissoziation. Auf ähnliche Weise erklärt Jung seine »autonomen Komplexe«, indem er auf Janets L’Automatisme Psychologique (1889) verweist. Ausgehend von den autonomen Komplexen beschreibt er das Dissoziationspotenzial der Psyche in normalen und anomalen Zuständen und definiert die autonomen Aspekte des Komplexes als Persönlichkeitsfragmente oder »Teilpersönlichkeiten«. Die Autonomie der gefühlsbetonten Komplexe definiert Jung als Resultat der Dissoziation, die eine Bewusstseinsspaltung oder abgespaltene Persönlichkeit erzeugen kann ( Jung, 1907, II. Kapitel). Wichtig in dieser Arbeit ist auch Jungs Hinweis auf Frédéric Paulhans Buch L’Activité Mentale et les Élements de l’Esprit (1889), das Binet als definitive Antwort auf die sterile Lehre des Assoziationismus betrachtete (Haule, 1984b). Dieser Verweis klärt auch Jungs Einstellung zum Wundt’schen Assoziationismus. 1 »Bewege jeden Stein, versuche alles, lasse nichts unversucht.«
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4 Janet und Jung – eine anregende Beziehung
Auf der Grundlage seiner eigenen Forschung und seiner klinischen Arbeit am Burghölzli teilte Jung das Dissoziationsverständnis der französischen Schule. Interessanterweise enthält dasselbe Kapitel die Diskussion eines von Breuer und Freud (1895) analysierten Falls, und Jungs Erläuterungen vermitteln den Eindruck, dass er eine Kontinuität zwischen Freuds Sichtweise sowie Janet und der französischen Schule sieht. Die wichtigste Annahme, von der Jung bei seinen experimentellen Studien ausging, besagt, dass Erfahrungen, Ideen und Bilder sich miteinander zu Komplexen verbinden, welche die Bausteine der individuellen Persönlichkeit bilden. Eine Dissoziation kann dieser Theorie zufolge in der Experimentalsituation durch die Wortassoziationen diagnostiziert werden. Darüber hinaus nahm Jung in den frühen Tests eine galvanometrische Widerstandsmessung der Haut vor, die er später durch Messungen der Reaktionszeiten ersetzte. Die traumatischen Inhalte können im Experiment aus dem Unbewussten auftauchen und erzeugen eine Dissoziation in der »dominanten Persönlichkeit«, sodass Teilpersönlichkeiten entstehen. Natürlich geschieht dies nicht nur in der Experimentalsituation, sondern auch in der klinischen Behandlung. Die wissenschaftliche Welt jener Zeit interessierte sich ganz besonders für die Manifestation multipler Persönlichkeiten. Schon die Repräsentanten der alten, von Mesmer und anderen geprägten therapeutischen Tradition hatten sich mit diesen Phänomenen beschäftigt, doch der Dissoziationismus versuchte, die Pathologie solcher Zustände »wissenschaftlich« zu erklären (Haule, 1984b). Jungs Assoziationstest, der in der analytischen Psychologie nach wie vor sowohl in der Lehre als auch in der klinischen Praxis angewandt wird, kam ursprünglich zum Einsatz, um Dissoziationsvorgänge aufzudecken und die anschließende Regression auf archaische Formen der Persönlichkeit zu beobachten. Heutzutage benutzt man den Test vorwiegend in der Lehre, um Studierenden zu demonstrieren, wie sich Lebensereignisse zu Komplexen verbinden und/oder wie sie Probanden veranlassen können, zu dissoziieren. Zu Therapie- und Diagnosezwecken wird er auch in klinischen Settings benutzt. Wie wichtig der Assoziationstest für das Verständnis der Dissoziation tatsächlich war, zeigt folgende Aussage Jungs: »›Zerfällt‹ das Bewußtsein (abaissement du niveau mental, apperzeptive Schwäche), so sind zugleich auch die neben dem Bewußtsein existierenden Komplexe von jeder Hemmung befreit und können in das Ichbewußtsein einbrechen« ( Jung, 1907, S. 32). 91
Caterina Vezzoli
Abaissement du niveau mental und apperzeptive Schwäche sind klare Bezugnahmen auf Janet. Im zweiten Kapitel der Psychologie der Dementia praecox, »Der gefühlsbetonte Komplex und seine allgemeinen Wirkungen auf die Psyche«, kehrt Jung zur Dissoziation zurück, die er zuvor bereits unter Verweis auf Janet und die französische Schule als eine Schwächung des Bewusstseins durch Abspaltung »eine[r] bis mehrere[r] Vorstellungsreihen« (ebd., S. 29) definiert hatte. Janet betrachtete die Dissoziation als Ergebnis eines abaissement du niveau mental, der, wie Jung betont, die Entstehung von Automatismen begünstigt. Die Ereignisse und Fakten unseres Lebens werden von Geburt an gespeichert und verbinden sich zu gefühlsbetonten Komplexen, die unserer psychischen Struktur als Gerüst dienen. Wir können das Dissoziationspotenzial als ein Charakteristikum der Psyche betrachten, aber natürlich können Kindheitstraumata zu extremen Dissoziationen führen, die die Entstehung abgespaltener, schwer zu integrierender Persönlichkeiten nach sich ziehen. In der Jung’schen Theorie sind Komplexe teils bewusst und teils unbewusst; sie verfügen über eigene Wahrnehmungen und Gefühle, über eigenen Willen und eigene Intention. Der Ichkomplex ist einer von ihnen; das Bewusstsein unterliegt deshalb dem Einfluss der Emotion, die zu anderen Komplexen, etwa dem Mutter-Komplex, dem Vater-Komplex, der Persona, dem Schatten usw., gehört (Kast, 1992). Die Emotion, die Gefühlstönung, verbindet Erfahrungen und Erinnerungen zu bewussten und unbewussten Gruppen, die vom psychischen Funktionieren und vom Ichkomplex dissoziiert werden können (Knox, 2003). Komplexe sind nicht zwangsläufig pathologisch. Nach Meinung Jungs können Komplexe und Dissoziation auch als normale Phänomene auftreten. In aktuelleren, an der Universität Mailand durchgeführten Experimenten mit einer modernen Version des Assoziationstests haben wir das Auftreten von Dissoziationen bei nicht-psychotischen Probanden nachgewiesen (Vezzoli et al., 2007). Im Assoziationstest kann ein Wortstimulus Antworten auslösen, die das Auftauchen von Gefühlen oder Emotionen zu erkennen geben, denen für den Probanden eine besondere Bedeutung zukommt. Im Experiment wird die Assoziationskette der Probanden unterbrochen, wenn eine verstörende »Gefühlstönung« auftaucht. Die Episode oder die Gefühlstönung, die den autonomen Komplexanteil konstituiert, kann nicht psychisch repräsentiert oder symbolisiert werden. Das Gefühl bleibt an einem Pol des Komplexes blockiert, und die Episode oder die Gefühls92
4 Janet und Jung – eine anregende Beziehung
tönung wird dissoziiert. Es dauert lange, bis die Probanden sich erholen und auf den Stimulus reagieren können. Im Anschluss an das Experiment kann unter Umständen eine Klärung der Dissoziationsursache erfolgen, die gegebenenfalls für eine Behandlung genutzt werden kann. Freilich bleibt das Gegenübertragungsgefühl des Analytikers für die Behandlung der Dissoziation von grundlegender Bedeutung. Es versteht sich von selbst, dass die Behandlung der Dissoziation und die Integration der abgesprengten Persönlichkeiten zu Jungs endgültiger Trennung von Freud und zur Entwicklung seiner eigenen Vorstellung des Unbewussten führen mussten. Erst nach dieser Trennung und der anschließenden Ausarbeitung der Struktur des Systems Bewusstsein-Unbewusstes und seiner unterschiedlichen, kontinuierlich interagierenden Schichten wurde die Behandlung der Dissoziation möglich. Die Dissoziation kann eine Regression auf andere Selbstanteile darstellen, die in der Persönlichkeit existieren, und ist nicht unbedingt nur ein Abwehrprozess. In seiner frühen Theorie stützte sich Jung auf seine Erfahrung am Burghölzli und auf Janet.
Kritische Fragen und Weiterentwicklungen Die Jahre von 1907 bis 1913 waren für Jung eine wichtige Zeit des Übergangs. Auf dem Amsterdamer Kongress von 1907 erkannte er Janets Beitrag zum aufblühenden Feld der Psychopathologie offen an. 1913 brachte Janet auf dem Internationalen Kongress für Medizin in London Jungs Assoziationstest zur Sprache und bewertete ihn negativ mit der Begründung, dass die Probanden Jung oder anderen Testern bekannt seien und das Experiment daher keinen diagnostischen Wert besitze. Mittlerweile aber versuchte Jung bereits, William James’ Theorie der persönlichen Gleichung in sein psychologisches System zu integrieren. Seine Beziehung zu Freud war Vergangenheit, und er schickte sich an, mit seinem nach eigener Ansicht wichtigsten Experiment zu beginnen, dem Roten Buch. 1905 übten auch Binet und William Stern Kritik an Jungs Methode. Ihre Einwände veranlassten ihn, seine Forschungsprotokolle zu sichten, und ihm wurde klar, dass die erzielten Ergebnisse nicht tragfähig sein konnten, weil der Einfluss des Experimentators auf das Experiment ein »unkalkulierbarer Faktor der Variation« war. Die positivistische Wissenschaft jener Zeit hielt für den Umgang mit der Variablen Experimentator 93
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keine Lösung bereit. Daher berief sich Jung auf James’ Konzept der persönlichen Gleichung. Das Beobachterproblem sollte Jungs Interesse viele Jahre lang fesseln und ihn veranlassen, sich mit der Quantenphysik zu beschäftigen. Die Kritik am Assoziationstest bewog ihn, diese Studien vorerst abzubrechen, auch wenn er für Theorien, die dem Beobachter Rechnung trugen, offen blieb.
Persönliche Gleichung Jung übernahm James’ Definition der persönlichen Gleichung, die sowohl die theoretischen Vorannahmen des Psychologen als auch dessen persönliche Vertrautheit mit den Probanden und seinen »Willen zu glauben« berücksichtigt. 1909 hatte James ausführlich über seine Beschäftigung mit der Literatur über das amerikanische Medium Leonora Piper berichtet und in diesem Zusammenhang auch seine theoretischen Vorannahmen – den Willen zu glauben – thematisiert. Die Subjektivität des Psychologen war ein heikles Thema, wie ihm schon im Rahmen seiner experimentellen Forschungen bewusst geworden war. Unter dem Einfluss der Kritik Binets, Janets und Sterns entschloss er sich, die persönliche Gleichung in seine Forschung einzubeziehen. James und Jung lernten sich 1909 an der Clark University persönlich kennen, wo Jung den Assoziationstest vorstellte. Théodore Flournoy, der den Schweizer Kollegen hochschätzte, hatte die Begegnung arrangiert. Diese Details gehören zum Hintergrund der Debatte, die für die frühe Entwicklung der »neuen Psychologie« zentrale Bedeutung erlangte. Zahlreiche Teilnehmer sollten im Laufe der Zeit zu führenden Persönlichkeiten der Disziplin avancieren. James beschrieb Freud in einem Brief an Flournoy als jemanden, der »auf mich persönlich den Eindruck eines von fixen Ideen besessenen Mannes machte« ( James, 1909, S. 326). Jungs Untersuchungen über die Einbeziehung des Experimentators weckten sein Interesse an der neuen Physik. Die frühen Begegnungen mit Einstein und viele Jahre später mit Pauli sowie die Einführung des Komplementärprinzips in die Quantenphysik regten ihn zur Erforschung eines neuen Bereichs der Psyche und der Materie an, die erst heute größere Beachtung findet (Atmansprachen & Fuchs, 2014). 94
4 Janet und Jung – eine anregende Beziehung
Wandlungen und Symbole der Libido und der Ursprung der Neurose 1912 wurde Jung zum zweiten Mal an die Fordham University eingeladen, eine Universität der Jesuiten in New York City. Diesmal erwartete man ihn ohne Freud, dem er noch vor seiner Abreise ein Exemplar seines soeben erschienenen Buches Wandlungen und Symbole der Libido schickte, auf der ersten Seite versehen mit der Widmung: »zu Füßen gelegt einem Meister von einem ungehorsamen, aber dankbaren Schüler« (Shamdasani, 2012). In diesem Text behauptet Jung, dass die Neurose durch eine angeborene Sensibilität oder Schwäche verursacht werde. Man könnte also durchaus sagen, dass er in gewisser Weise zu Janet zurückkehrte. Während das Buch als Jungs Hauptwerk über seine Neurosentheorie zu betrachten ist, erinnert es auch an Janets Theorie der psychischen Erschöpfung (Jung, 1991 [1912]). Jung erklärt unmissverständlich, dass das sexuelle Paradigma nicht als einzige Ursache der Entwicklung einer Neurose angesehen werden könne. In Wandlungen und Symbole der Libido stellte Jung die Sichtweise, die er in abgemilderter Form schon 1906 im Vorwort zur Psychologie der Dementia praecox geäußert hatte, klar strukturiert dar. Er lehnt Freuds Verständnis des sexuellen Charakters der Libido unmissverständlich ab, ohne die Sexualität gänzlich auszuschließen, und erläutert ausführlich das Wesen des Unbewussten. In seinen Augen ist das Unbewusste kein »Kessel« verdrängter inzestuöser Begierden, sondern eine Quelle sowohl der Kreativität als auch der Destruktivität. Jung geht von der Koexistenz unterschiedlicher Ebenen des Bewusstseins und des Unbewussten aus, die ständig miteinander interagieren. Diese Ansicht hat er schon mehr als zehn Jahre zuvor, zu Beginn seiner Erforschung der Komplexe, vertreten. Er versucht zudem, die Stabilität des Bewusstseins zu erläutern. Ein Resultat der modernen neurowissenschaftlichen Forschung ist die Darstellung der Struktur des Bewusstseins und des Unbewussten sowie der verschiedenen Ebenen der Psyche. Was Jung als Psyche bezeichnete, nennen wir heute Gehirn-Geist-System. Hobson, der den Schlaf und das Träumen erforscht hat, beschreibt Gehirn und Geist als ein einziges System, dessen Komponenten dynamisch interagieren und auf diese Weise Zustände erzeugen, die in ständiger Veränderung begriffen sind (Hobson, Pace-Schott & Stickgold 2003). Diese Erkenntnis ist für das Verständnis der dissoziativen Dynamik von grundlegender Bedeutung. 95
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Die Struktur des Bewusstseins wurde zur Grundlage von Jungs Erforschung der psychologischen Typen.
Entstehung psychischer Erkrankungen In seiner Arbeit »Der Inhalt der Psychose« (1979 [1908]) stellte Jung das zeitgenössische wissenschaftliche Paradigma, das geistige oder psychische Erkrankungen mit Erkrankungen des Gehirns gleichsetzte, infrage. Anhand einer Statistik der in den vorangegangenen vier Jahren am Burghölzli behandelten Patienten zeigte er eingangs, dass lediglich neun Prozent dieser Population Anomalien des Gehirns aufwiesen. Zu dieser Gruppe zählten – in der Terminologie jener Zeit – »Schwachsinnige« mit zerebralen Auffälligkeiten und Missbildungen bestimmter Hirnregionen. Jung zog den Schluss, dass der anatomische Ansatz kein Verständnis psychischer Erkrankungen ermögliche. Den Weg zum psychiatrischen Verständnis der Zukunft konnte seiner Meinung nach nur die Psychologie weisen. Jung hatte seit jeher großes Interesse an der Hirnforschung gezeigt und zu Beginn seiner Studien am Burhölzli im Anatomielabor der Klinik Gehirne seziert. Daher sind seine Verweise auf die Hirnpathologie korrekt. In »Geisteskrankheit und Seele« (1968 [1928]) zitiert er Janet als den französischen Psychopathologen, der die Frage nach der organischen Grundlage der Neurose beantwortet habe.
Das Rote Buch Zwischen 1913 und 1917 galt Jungs ganze Aufmerksamkeit seinem, wie er selbst schrieb, wichtigsten Experiment, dem Roten Buch, in dem er seinen Träumen und unbewussten Phantasien auf den Grund ging und seine auf Wort und Bild beruhende Methode der »aktiven Imagination« entwickelte ( Jung, 2009). 1914 legte er zu Beginn des Ersten Weltkriegs eine einjährige Pause ein und nahm eine Korrespondenz mit Hans SchmidGuisan über Introversion und Extraversion auf ( Jung & Schmid-Guisan, 2013). Diese erst vor wenigen Jahren veröffentlichte Korrespondenz zeigt, dass Jung seine Hypothese in der Auseinandersetzung mit jemandem, den er für extravertiert hielt, das heißt als Gegenpol zu seinem eigenen introvertierten Persönlichkeitstyp betrachtete, verifizieren wollte. 96
4 Janet und Jung – eine anregende Beziehung
Herausgegeben und übersetzt von Constance Long, erschienen 1917 Jungs Collected Papers on Analytical Psychology (1917a). Teile dieses Buches wurden später in die Collected Works übernommen. Es ist hochinteressant, die alte Ausgabe nach der Veröffentlichung des Roten Buchs zu lesen. Jungs Weg zur Entdeckung seiner persönlichen Gleichung und seines persönlichen Mythos war eine von der Kreativität des Unbewussten geleitete Erfahrung, die das Bewusstsein transformierte. Jung ging aus ihr verändert hervor und modifizierte seine Theorien. Die erste Ausgabe der Collected Papers bezeugt seine Bemühungen, seine neuen Überlegungen, die in den nachfolgenden Jahren zu theoretischer Reife gelangen sollten, zu formulieren. In Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten (1995 [1928])2 erläutert Jung seine Konzepte eines Kollektivgeistes, der kollektives Denken repräsentiert, einer Kollektivseele, die kollektive Gefühle repräsentiert, und einer Kollektivpsyche, welche die allgemeinen kollektiven psychischen Funktionen repräsentiert. Um diese neuen Begriffe zu erklären, beruft er sich auf Janets L’Automatisme Psychologique: Essai de Psychologie Expérimentale sur les Formes Inférieures de l’Activité Humaine (1889): »Um mit P. Janet zu reden, umfaßt die Kollektivpsyche die ›parties inférieures‹ der psychischen Funktionen, den festgegründeten, sozusagen automatisch ablaufenden, anererbten und überall vorhandenen, also überpersönlichen oder unpersönlichen Anteil der individuellen Psyche. Das Bewußtsein und das persönliche Unbewußte umfassen die ›parties supérieures‹ der psychischen Funktionen, also den Anteil, der ontogenetisch erworben und entwickelt worden ist« (Jung, 1995 [1928], S. 155).
Bewusstsein und Unbewusstes Das große Thema, welches das Interesse der Psychologen in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts fesselte, waren die ererbten Erinnerungen. Zahlreiche Autoren hatten über das ererbte Unbewusste geschrieben, und 2 Hervorgegangen aus einem Vortrag, den Jung unter dem Titel »La Structure de l’Inconscient« 1916 in den Archives de Psychologie (Bd. XVI) und 1917 unter dem Titel »The Conception of the Unconscious« in seinen Collected Papers on Analytical Psychology publiziert hat (Anm. d. Ü.).
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auch wenn diese Arbeiten oft als unwissenschaftlich abgetan worden sind, haben sie einen Beitrag zur Debatte über das Unbewusste geleistet. In seiner Schrift »Über die Psychologie des Unbewußten« (1983 [1917]) blickt Jung anerkennend auf die bedeutenden Schriften Janets und Ribots über das Unbewusste zurück. Einer der wesentlichen Aspekte ist dabei die Unterscheidung zwischen dem persönlichen und dem überpersönlichen oder kollektiven Unbewussten. Ribot hatte zwischen drei Ebenen des Unbewussten unterschieden, nämlich einem ersten, hereditären oder ererbten Unbewussten, einem zweiten, persönlichen, aus der Zönästhesie hervorgehenden Unbewussten und einem dritten, dem persönlichen Unbewussten, das residuale Affektzustände und Lebensereignisse enthält. Ribot führte die Wirkung der Übertragung auf unbewusstes Material der dritten Ebene des persönlichen Unbewussten zurück. An der Zürcher Universität und am Burhölzli wurden seine Konzepte von Auguste Forel eingeführt (Shamdasani, 2003). In »Über die Psychologie des Unbewußten« berief sich Jung auf Janet und Ribot, um Freuds einseitiges Verständnis des Unbewussten zu kritisieren. Er ergänzte deren Einwände um seine eigenen Beobachtungen über die kompensatorische Funktion des Unbewussten und über die Symbolisierung. Im Zusammenhang mit der Frage, wann ein Bild ein Symbol ist, stellt er den Patienten und nicht den Inhalt ins Zentrum der Interpretation – ganz in der Tradition Janets und zahlreicher anderer Psychologen der französischen Schule. Er argumentiert, dass die aus dem Unbewussten auftauchenden Bilder nicht an sich symbolisch seien. Die bewusste Einstellung des Analytikers sollte geprägt sein von der Bereitschaft, Trauminhalte und Bilder gemäß der augenblicklichen Situation des Patienten zu beurteilen; erst nach dieser Reflexion können Trauminhalte als symbolisch bzw. nicht-symbolisch gelten. Die unbewusste Symbolisierungsfunktion ist paradoxerweise eine doppelte, denn sie kann den Trauminhalt sowohl offenbaren als auch verbergen. Die Aufmerksamkeit für die Traumproduktionen und die Symbole des Patienten hängt mit Jungs Behandlungen psychotischer Patienten zusammen, deren Symbolisierungsfunktion beeinträchtigt war. In der analytischen Beziehung muss das Material des Patienten im Kontext seiner Situation analysiert werden. Freilich hat Jung seine Konzepte des archaischen Unbewussten, der Archetypen und der psychoiden Ebene der Psyche weiterentwickelt. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, von wo er ausging. In The Master and his Emissary zitiert McGilchrist (2009) Jung im Zusammenhang mit der Struktur des Gehirns mit den Worten: 98
4 Janet und Jung – eine anregende Beziehung
»Wie der menschliche Körper ein ganzes Museum von Organen darstellt, von denen jedes eine lange Entwicklungsgeschichte hinter sich hat, so können wir auch erwarten, dass unser Geist in ähnlicher Weise organisiert ist« (Jung et al., 2009, S. 67).
McGilchrist fährt fort: »Zusammen mit unserem Körper erhalten wir ein hochdifferenziertes Gehirn, das seine ganze Geschichte in sich enthält, und wenn es kreativ wird, dann schöpft es aus seiner Geschichte – aus der Geschichte der Menschheit […] dieser uralten Naturgeschichte, die in lebendiger Form seit ferner Zeit überliefert wird, nämlich aus der Geschichte der Hirnstruktur« (McGilchrist, 2009, S. 8).
Mithilfe neurowissenschaftlicher Untersuchungen über die Struktur und die Interaktion der beiden Hirnhemisphären möchte McGilchrist nachweisen, dass das Gehirn die Geschichte der menschlichen Evolution widerspiegelt. Er möchte zeigen, dass die höheren Funktionen aus der zugrunde liegenden subkortikalen Struktur hervorgehen, die für die biologische Regulation auf unbewusster Ebene zuständig sind. Ich habe Jung in diesem Kontext nicht zitiert, um eine Überlegenheit, verglichen mit wem auch immer, zu postulieren, sondern um zu illustrieren, dass diese generellen Annahmen im Umkreis der französischen Schule allgemein geteilt wurden und Janet und Ribot sich dieser Geschichte vollauf bewusst waren. Jung schrieb den Gegenübertragungsgefühlen des Analytikers große Bedeutung zu. In seiner Praxis betrachtete er die Wirkung der persönlichen Gleichung auf die analytische Beziehung ebenso wie die analytische Haltung, die das Lesen der Trauminhalte ermöglicht, als Ausdruck der Bedürfnisse und der Pathologie des Patienten.
Träume Jung hatte Freuds Traumdeutung im Jahr 1900 gelesen. Im Januar 1901 legte er in seinem [unveröffentlichten] Aufsatz »On dreams« seine Einwände gegen die Theorie des Wiener Analytikers dar: Träume seien nicht in jedem Fall Wunscherfüllungen; sie seien häufig nicht entstellt, und ihr 99
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Inhalt hänge mit dem Zustand des Bewusstseins zusammen. 1912 kehrte er in Wandlungen und Symbole der Libido zu den Meinungsverschiedenheiten mit Freud zurück, ohne seine theoretischen Ansichten zu verändern. In nach wie vor unveröffentlichten Schriften setzte sich Jung mit der Literatur über Träume auseinander, um eine Geschichte der Träume und ihrer Auslegung von der Antike bis in die Gegenwart zu verfassen (Shamdasani, 2003). Es war Janet, der 1919 scharfe Kritik an Freud übte, weil dieser seiner Ansicht nach nicht berücksichtigte, dass Erinnerungsstörungen die Erinnerung an Träume sowie die Traumerzählung beim Aufwachen beeinflussen. Janets harscher Kritik zufolge basierten Freuds Theorien auf Teilwahrheiten. Jungs erste Veröffentlichung, Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene. Eine psychiatrische Studie, erschien 1902 und konzentrierte sich auf Flournoys Werk Des Indes à la planète Mars. Étude sur un cas de somnambulisme avec glossolalie (1963 [1900]). In den Passagen über Träume erklärte Jung, dass Trauminhalte seiner Ansicht nach nicht zensiert seien, und lenkte die Aufmerksamkeit auf Janets und Binets Betonung der Beziehung zwischen den Träumen und der Dissoziationsebene (Shamdasani, 2003). Auf Janet nahm er speziellen Bezug im Zusammenhang mit der hysterischen Vergesslichkeit als signifikantem Faktor der Entstehung der Träume. In Über die Psychologie der Dementia praecox (1907) schreibt Jung: »Der Traum ist ebenfalls eine apperzeptive Schwäche par excellence, was sich besonders deutlich in seiner allgemein zuerkannten Neigung zum Symbol zeigt« ( Jung, 1907, S. 27). Der Bezug zu Janet ist unverkennbar. Was die Arbeit über okkulte Phänomene betrifft, so dürfen wir nicht vergessen, dass zu Jungs Zeit Psychologie und Spiritualismus Teil des neuen Interesses am Verständnis der geheimnisvollen Vorgänge der Psyche waren. 1898 hatte zum Beispiel Janet bereits Studien über parapsychologische Phänomene im Zusammenhang mit der Dissoziation durchgeführt. Darüber hinaus schrieb Jung im Rahmen seiner Erörterung der Übertragung in Über psychische Energetik und das Wesen der Träume (1948), dass »eine ›Übertragung‹ vom Analytiker mit einer ›Gegenübertragung‹ beantwortet wird, wenn die Übertragung einen Inhalt projiziert, der dem Arzt selber unbewußt, aber trotzdem bei ihm vorhanden ist. Die Gegenübertragung ist dann insofern ebenso zweckmäßig und sinnvoll oder hinderlich wie die Übertragung des Patienten, als sie jenen bessern Rapport herzustellen strebt, der für die Realisierung gewisser unbewußter Inhalte unerläßlich ist. Die Gegenübertragung ist wie die Übertragung etwas Zwanghaftes, eine Un-
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4 Janet und Jung – eine anregende Beziehung
freiheit, weil sie eine ›mystische‹, d. h. unbewußte Identität mit dem Objekt bedeutet« ( Jung, 1948, S. 212).
In dieser erstmals 1916 veröffentlichten und 1948 abschließend überarbeiteten Fassung ist Jung sich der Gefahren vollauf bewusst, die durch die Dynamik der in der analytischen Beziehung aktivierten unbewusster Projektionen drohen. Ausführlich erläutert er die unbewussten Widerstände sowie die Art und Weise, wie der Analytiker vorgehen muss, um das, was in ihm selbst und im Anderen unbewusst ist, bewusst zu machen. Sein Verweis auf den Zwangscharakter und die mystische Bindung ans Objekt erinnert an die Konzipierung des Unbewussten, die er ursprünglich nach dem Vorbild Janets und Ribots formuliert hatte. Das Konzept der Gegenübertragung wurde im Laufe vieler Jahre weiter ausgearbeitet, wobei Jung auch auf die Bilder des alchemistischen Textes Rosarium Philosophorum rekurrierte ( Jung, 1958 [1946]) sowie auf die Formulierung des kollektiven Unbewussten und die Quantenphysik. All diese Theorien enthielten dieselbe ursprüngliche Erkenntnis, dass der Experimentator Teil des Experiments ist. Übertragung und Gegenübertragung sind untrennbare Aspekte der analytischen Beziehung.
Psychologische Typen und Bewusstsein Jung stellte seine Gedanken über psychologische Typen erstmals 1913 auf dem Internationalen Psychoanalytischen Kongress in München vor. Im Anschluss daran sagte er, dass er versucht habe, eine Position zu entwickeln, die sich von derjenigen Freuds und Adlers unterschied. Ein Jahr später aber analysierte er den Extremfall von Introversion und Extraversion bei Schizophrenie und Hysterie und fragte, ob es so etwas wie einen »normalen menschlichen Typus« überhaupt gebe (Shamdasani, 2003). In einem 1915 veröffentlichten »Nachtrag« zu der Arbeit »Der Inhalt der Psychose« von 1908, betitelt: »Über das psychologische Verständnis pathologischer Vorträge«, führt er aus: »Die Terminologie – Introversion und Extraversion – hängt mit meiner energetischen Betrachtungsweise seelischer Phänomene zusammen. Ich nehme ein hypothetisches Grundstreben an, das ich als Libido bezeichne. Dem klassi-
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schen Gebrauch des Wortes entsprechend, hat ›Libido‹ nicht eine ausschließlich sexuelle Bedeutung […]. Libido soll ein energetischer Ausdruck sein für psychologische Werte. […] Der Introversionstypus ist dadurch charakterisiert, dass seine Libido sich gewissermaßen in die Persönlichkeit selber wendet […]. Der Extraversionstypus dagegen wendet seine Libido gewissermaßen auswärts […]. Der Introvertierende betrachtet alles unter dem Gesichtswinkel des Wertes seiner eigenen Persönlichkeit, der Extravertierende dagegen hängt ab vom Wert seines Objekts« (Jung, 1979 [1915], S. 211f.).
Jung fügt hinzu, dass Freud die Extraversion und Adler die Introversion favorisiere und dass dieser Gegensatz erkläre, weshalb die beiden einander nicht verstünden. Im Laufe der Jahre ergänzte er den introvertierten und extravertierten psychologischen Typus um die vier Funktionen und erläuterte die dominante und die inferiore Funktion sowie die Kombination der Funktionen mit Introversion und Extraversion. 1921 veröffentlichte er Psychologische Typen. In diesem Text nimmt er auf Janet und die Automatismen, die zur Dissoziation führen, Bezug, und zwar im Zusammenhang mit der Definition der Phantasie als Eruption unbewusster Inhalte. Tatsächlich versteht man die Jung’sche Typenlehre besser, wenn man sie als eine Selbsterfahrung im Prozess der Erforschung unterschiedlicher Schichten des Bewusstseins, die auch das Unbewusste einschließen, betrachtet. Das System der aus unterschiedlichen Schichten bestehenden Komplexe hängt mit der Überlegung zusammen, dass Bilder, Träume und aktive Imagination nicht als Ich-Erfahrungen zu verstehen seien, das heißt als Erfahrung des Umgangs mit der Welt, sondern als Selbsterfahrung. Daher ist die Typologie eine Erfahrung des Bewusstseins, die die unbewussten Schichten einschließt. Die Psyche besteht aus vielen unterschiedlichen Schichten, und das Bewusstsein geht aus unterschiedlichen Funktionen und unterschiedlichen Kombinationen von Funktionen und Introversions- und Extraversionstypen hervor. Bewusstsein geht also aus Komplexität hervor.
Schluss Ich schließe mit einem letzten Zitat von Jung selbst, in dem er die Entwicklung des Komplexkonzeptes zusammenfassend darstellt. 1957 schreibt er in 102
4 Janet und Jung – eine anregende Beziehung
seinem »Vorwort« zu Jolande Jacobis Buch Komplex, Archetypus, Symbol in der Psychologie Jungs ( Jacobi, 1957): »Schon dieser Umstand, daß es wohlcharakterisierte und -erkennbare Typen von Komplexen gibt, weist darauf hin, daß sie auf entsprechend typischen Grundlagen beruhen, d. h. auf emotionalen Bereitschaften bzw. Instinkten. Diese äußern sich beim Menschen in unreflektierten, unwillkürlichen Phantasiebildern, Haltungen und Handlungen, welche einerseits miteinander in innerer Übereinstimmung stehen und anderseits mit den spezifischen Instinktreaktionen der species homo sapiens identisch sind. Instinkte haben einen dynamischen und einen formalen Aspekt. Letzterer drückt sich u. a. in Phantasiebildern aus, welche in überraschender Ähnlichkeit sozusagen allerorts und zu allen Zeiten nachgewiesen werden können, wie zu erwarten stand. Gleich wie den Trieben, so kommt auch diesen Vorstellungen ein relativ autonomer Charakter zu, d. h. sie sind numinos und können deshalb am allermeisten im Gebiete numinoser, d. h. religiöser Vorstellungen aufgefunden werden« ( Jung in Jacobi, 1957, S. X).
Im Laufe von über 50 Jahren waren die experimentellen Forschungen weit über ihren Nukleus hinausgewachsen. Diese kurze Passage erfasst den Kern eines der dichten Konzepte aus der Geschichte der Jung’schen Psychologie – des Komplexes und seiner Abkömmlinge. Der relativ autonome Charakter der Bilder und ihre Ähnlichkeit mit den Instinkten verrät, dass die frühen Vorstellungen der Evolutionsgeschichte in unserem menschlichen Körper und in unserem Geist weiterentwickelt worden sind. Die Instinkte und das Numinose religiöser Vorstellungen sprechen von der psychoiden Schicht der Psyche, in der Materie und Psyche einander begegnen. Dies ist das neue Feld synchronistischer Phänomene, das parallel zur Quantenphysik erforscht wird.
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Janets Einfluss auf die Objektbeziehungstheorien Gabriele Cassullo
Schon 1981 setzte sich Emanuel Berman, der seine Dissertation über multiple Persönlichkeitsstörungen geschrieben und das derzeit wiedererwachte Interesse an Janet damit vorweggenommen hatte, mit dem generellen Misstrauen auseinander, das Psychoanalytiker Janets Dissoziationskonzept entgegenbringen. Berman zeigte, dass das Konzept ungeachtet der Tatsache, dass Freud durch seine »Anti-Janet-Haltung« (Berman, 1981, S. 285) alle auf »Dissoziation« beruhenden Theorien in Acht und Bann getan hatte, immer wieder, wiewohl oft in verdeckter Form, auftauchte und im Laufe der Zeit in zahlreiche psychoanalytische Theorien integriert wurde. Einige Jahre später wurde Janet zum »Gründungsvater« einer neuen theoretischen Richtung, deren Vertreter multiple Persönlichkeiten und posttraumatische Belastungsstörungen erforschten und erneut die zentrale Bedeutung psychischer Dissoziationsprozesse hervorhoben (siehe 1. Kapitel; Nemiah, 1984; Putnam, 1989b; van der Kolk & van der Hart, 1989). Diesmal blieben Freuds Beiträge unberücksichtigt (Gullenstad, 2005). In denselben Jahren räumte der Psychoanalytiker Jules Bemporad ein: »Wir haben Janet womöglich übereilt zu Grabe getragen, und heute taucht sein Geist in sehr merkwürdigen Verkleidungen ein ums andere Mal wieder auf« (Bemporad, 1989, S. 635). 1995 knüpfte Philip Bromberg an Bemporads Metapher an: »Wenn man die heutige psychoanalytische Literatur als Schauerroman in Fortsetzungen lesen wollte, könnte man sich unschwer den Geist Pierre Janets vorstellen, der vor einem Jahrhundert von Sigmund Freud aus der Burg verbannt wurde, keine Ruhe fand und Freuds Nachkommen nun als Spuk heimsucht. Es ist geradezu unheimlich zu sehen, dass die meisten bedeutenden Schulen des analytischen Denkens dem Phänomen der Dissoziation zu Recht mit größerer Aufgeschlossenheit begegnen und – jede auf ihre
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Art – versuchen, es aktiv in ihr Modell der Psyche und ihr Verständnis des klinischen Prozesses zu integrieren« (Bromberg, 1995, S. 189).
Freilich war die wechselseitige Beeinflussung Janets und Freuds bereits von Ellenberger in Die Entdeckung des Unbewussten (1996 [1974]) ausführlich dargelegt worden. Ellenberger hatte zudem gezeigt, dass Janets Schatten nicht nur über Breuers Konzipierung der hypnoiden Zustände schwebte (Breuer & Freud, 1895, S. 288ff.), sondern auch über Bleulers und Jungs Beschreibung von Schizophrenie und Introversion (McGuire, 1974, S. 160; Falzeder, 2004, S. 86) sowie über Adlers »Minderwertigkeitskomplex«, einer »Erweiterung« von Janets sentiment d’incomplétude (Adler, 1972 [1912]). Wenige Jahre nach Erscheinen von Ellenbergers Untersuchung führte Claude Prévost eine der sorgfältigsten Analysen der querelle zwischen Janet und Freud durch. Er vertrat die Ansicht, dass das Bild, das einer vom anderen hatte, weitgehend auf einer »Verkennung«, auf »partieller und falsch verstandener Wahrnehmung«, beruhte (Prévost, 1973a, S. 65). Prévost führte dieses Missverständnis auf persönliche Rivalität zurück, deren Ursache nicht etwa theoretische Unvereinbarkeit gewesen sei, sondern der Wunsch beider Männer, als Erben Charcots zu gelten (Pérez-Rincón, 2012).
Sándor Ferenczi Ferenczi hatte sich für Janets Werk schon interessiert, bevor er Freud persönlich kennenlernte (Cassullo, 2018), und rezipierte dessen Veröffentlichungen auch weiterhin. In psychoanalytischen Fachzeitschriften aber wird der Einfluss, den Janet auf ihn ausübte, kaum je diskutiert. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass etliche Arbeiten, in denen Ferenczi Janet zitiert, nicht ins Englische übersetzt wurden. Sie sind aber in der italienischen Ausgabe seiner Werke enthalten, die aus dem ungarischen bzw. deutschen Original übersetzt wurden. Im Index finden sich unter Janets Namen, der im Register der englischen Ausgabe gar nicht auftaucht und im Text weniger als fünf Mal vorkommt, 25 Stellenangaben. Wie dem auch sei – Ferenczi hat Janets Bedeutung sogar in den Jahren, in denen er selbst als »Standartenträger« der Freud’schen Psychoanalyse galt, in seinem Artikel »Zur Erkenntnis des Unbewussten« anerkannt: 106
5 Janets Einfluss auf die Objektbeziehungstheorien
»Die Forschungen von Charcot, Möbius und Janet machten es offenbar, […] daß die menschliche Psyche durchaus nicht jenes einheitliche und unteilbare Etwas ist, wie es das Wort ›Individuum‹ ahnen läßt, vielmehr ein Bau von höchst komplizierter Struktur, von dem uns das Bewußtsein sozusagen nur die Außenfläche, die Fassade zeigt, während die wahren motorischen Kräfte und Kraftmechanismen in einer dritten Dimension: in den Seelentiefen hinter dem Bewußtsein zu suchen sind. Allerdings […] glaubten [diese Forscher] noch, daß die Teilbarkeit und der Zerfall des Bewußtseins nur im krankhaft entarteten seelischen Organismus möglich ist, der zum Zusammenhalten der seelischen Kräfte, zur Synthese, schon ab ovo zu schwach ist. Sie bemerkten nicht, daß die Hysterie nur vergrößert und verzerrt dasselbe zeigt, was in jedem Menschen, wenn auch nicht auffällig, vor sich geht« (Ferenczi, 1989 [1911], S. 179).
Hier lesen wir zweifellos die Freud’sche Version der Geschichte. Gleichwohl gehörte Ferenczi zu den wenigen Freudianern, die Janets Arbeit als ein Sine qua non der Psychoanalyse betrachteten: »Erst als Charcot und Janet und später Breuer […] das psychologische Verfahren auf die Erforschung der Hysterie anwandten, wurden diese Entwicklungen, die aus Freuds Forschungen hervorgingen, möglich« (1913, S. 2). In späteren Jahren betonte Ferenczi immer häufiger die Relevanz des »exogenen Einflusses« oder »exogenen Momentes« für die Ätiologie der Psychopathologie und verglich seine Sichtweise mit Janets Auffassung (Ferenczi, 1914, S. 318). Insbesondere die psychische Fragmentierung infolge eines traumatisierenden Erlebnisses mit anschließender »Einengung des Bewusstseinsfeldes« ( Janet; Ferenczi, 1989 [1919], S. 31) und Reorganisation der posttraumatischen Psyche in einer variablen Topografie, in der »tote Zonen« (z. B. verbunden mit körperlich-emotionalen Zuständen) durch »übergebaute Bereiche« (z. B. intellektuelle Überlebensstrategien) ersetzt werden.1 Gleichzeitig folgte Ferenczi Freud, indem er der Sexual1 Van der Hart (unveröff.) erwähnt, dass »Janet (1919) zwar betonte, dass die mit traumatischen Erfahrungen einhergehenden emotionalen Erschütterungen ihre desintegrierende Wirkung im Verhältnis zu ihrer Intensität, Dauer und Häufigkeit entfalten, Ferenczi […] diese Erkenntnis aber noch klarer als traumatisch generierte Dissoziation der Persönlichkeit beschrieb«. So stellte Ferenczi fest: »Häufen sich im Leben des heranwachsenden Menschen die Erschütterungen, so wächst die Zahl und die Varietät der Abspaltungen, und bald wird es einem recht schwer gemacht, den Kontakt mit den Fragmenten, die sich alle wie gesonderte Persönlichkeiten betragen, einander aber meist gar nicht kennen, ohne
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entwicklung sowie der Art der frühen Abhängigkeit von den Bezugspersonen (heute würden wir von Bindungsbeziehung sprechen) eine strukturierende Funktion für die Persönlichkeit zuschrieb, weil sie die Entwicklung einer Persönlichkeit begünstigen, die entweder mit Dissoziation oder aber resilient auf belastende und traumatisierende Lebenserfahrungen reagiert (siehe Dimitrijevic, Cassullo & Frankel 2018). In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass Janet das Dissoziationskonzept im Wesentlichen von dem Psychiater Jacques-Joseph Moreau de Tours übernahm ( Janet, 1889, S. 461), den er mit den Worten zitiert, dass »die Erklärung des Wahnsinns eine Exzitation als primäres Faktum voraussetze, das die wahnhaften Phänomene und den molekularen Zerfall hervorruft« (ebd.). Janet zweifelte an der Notwendigkeit dieser »Exzitation« und sprach stattdessen von »Depression und Schwäche«, einem Absinken des psychischen Niveaus bzw. der Integrationsfähigkeit des Individuums. Gegen Schluss seines Buches L’Automatisme Psychologique greift er diesen Punkt erneut auf und fragt: »Wie konnte ein Psychologe vom Rang Moreaus (de Tours) jemals den verblüffenden Satz niederschreiben: ›Ein zum Idioten werdendes Subjekt macht einen psycho-zerebralen Zustand durch, der es, entwickelte er sich weiter fort, in ein Genie verwandeln würde‹? Wie konnte er glauben, dass Erkrankungen des Nervensystems, ja dass der Wahnsinn an sich die Entwicklung der Intelligenz vorantreiben könnten? Wahrscheinlich liegt es an einem solchen Begriff wie ›Exzitation‹, den Moreau (de Tours) ein ums andere Mal zur Beschreibung des Wahnsinns benutzt. Nein, ganz gleich, welche Analogien die äußeren Umstände aufweisen mögen – Wahnsinn und Genie sind zwei extreme und gegensätzliche Umstände der gesamten psychischen Entwicklung« (ebd., S. 477f.).
Damit kommen wir zu der tiefen Kluft zwischen Janet und Freud. Für Janet bilden der niedrigste und der höchster Ausdruck der menschlichen Psyche Konfusion aufrechtzuerhalten. Schließlich mag es zu einem Zustande kommen, den man, das Bild von der Fragmentierung fortsetzend, getrost Atomisierung nennen kann, und es gehört recht viel Optimismus dazu, den Mut auch diesem Zustandsbilde gegenüber nicht sinken zu lassen; doch ich hoffe, daß sich auch noch hier Wege des Zusammenhanges finden werden« (Ferenczi, 1933, S. 13f.). Für weitere Vergleiche zwischen Janet und Ferenczi siehe van der Hart, Nijenjuis & Steele (2006); Howell (2005); Howell & Itzkowitz (2016).
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5 Janets Einfluss auf die Objektbeziehungstheorien
krasse Gegensätze; für Freud und sein Modell des psychischen Apparates hingegen sind geistige Schwäche und Genie keineswegs unvereinbar. Dies zeigen unter anderem seine Studien über Leonardo und andere Genies. Es ist kein Zufall, dass Freud, ohne Moreau zu erwähnen, von demselben Punkt ausging, den dieser betonte und den Janet verwarf, nämlich von einer primären traumatischen neuralen Exzitation (in früher Kindheit). So gelangte er zu seinen Theorien der infantilen Sexualität, der Triebe, der Urszene usw., in denen sich sein Modell von dem Janet’schen unterscheidet. Ferenczi fügte beide zusammen, indem er »das Aufblühen neuer Fähigkeiten nach Erschütterung« beschrieb und es als »traumatische[] […] Progression oder Frühreife« bezeichnete (Ferenczi, 1933, S. 13). Diese geht zu Lasten der Integration der Persönlichkeit und der Fähigkeit des Ichs, weitere Erschütterungen zu tolerieren, ohne zu zerfallen (Dissoziation). Indem Ferenczi diese Dissoziation als Ergebnis einer Schwäche des Ichs, Erregungen aus körperlichen und/oder äußeren Quellen zu regulieren ( Janet), konzipierte, bahnte er Fairbairns Objektbeziehungstheorie den Weg.
W. R. D. Fairbairn Der schottische Psychoanalytiker Ronald Fairbairn wurde bekannt, weil er Freuds Libidotheorie als eine »Theorie der Entwicklung« neuformulierte, »die im wesentlichen auf Objektbeziehungen beruht« (Fairbairn, 2007 [1941], S. 60). Sein Motto lautete, »daß die Libido nicht primär nach Lustgewinn, sondern nach Objektbeziehung strebt« (ebd., 2007 [1946], S. 171). Damit schuf er die Grundlage für spätere objektbeziehungstheoretische Orientierungen, die allesamt von der Annahme ausgehen, dass das Streben des Individuums nach »einfache[r] Spannungsreduzierung eine Beeinträchtigung von Objektbeziehungen« (ebd., S. 173) impliziert. Dennoch war Fairbairn auch einer der ersten bedeutenden Theoretiker der Psychoanalyse, die den Bann gegen Janet aufhoben und für eine systematische Integration von Janets und Freuds Modellen der Psyche eintraten (Davies, 1998). Fairbairns Interesse an Janet lässt sich bis zu seiner medizinischen Doktorarbeit zurückverfolgen, die er 1929 unter dem Titel »Dissociation and Regression« vorlegte. In den folgenden zehn Jahren stellte er Janet hintan, um sich ganz in die Freud’sche Libidotheorie zu vertiefen. Erst 1940 erwachte Fairbairns frühes Interesse an Janets Untersuchun109
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gen über dissoziative Prozesse erneut, und zwar weil Ferenczis ursprüngliche Zusammenführung von Freud und Janet mit dem Werk des Psychiaters Ian Suttie nach Schottland gelangt war (Cassullo, 2010; 2014). Wie Clarke (2011) zeigen konnte, übte Suttie auf Fairbairn seit den 1940er Jahren einen direkten Einfluss aus. Sutties (an Ferenczi erinnernde) Überzeugung, dass die Dissoziation psychischer Zustände, die mit den traumatischen Aspekten der infantilen Abhängigkeit zusammenhängen – besser: in Verbindung gebracht werden sollten –, als maßgebliche Disposition für Psychopathologie und soziale Fehlanpassung zu betrachten sei, diente Fairbairn als Grundlage seiner einflussreichen Untersuchung über schizoide Phänomene (Fairbairn, 2007 [1940]), die in seine Theorie der auf Objektbeziehungen beruhenden Entwicklung einmündete. Eine Schwierigkeit, Janets Einfluss auf die Objektbeziehungstheorie zu erkennen, ergab sich, weil Fairbairn statt von Dissoziation [dissociation] von Spaltung [splitting] sprach. Freilich traf er hier offenbar keinen Unterschied: »Eine Persönlichkeitstheorie, die auf dem Konzept der Spaltung beruht, wäre grundlegender als eine auf Freuds Theorie der Triebverdrängung durch ein nicht gespaltenes Ich beruhende. Die Theorie, die mir nun vorschwebt, soll natürlich solche extremen Manifestationen erklären, wie sie in Fällen von multipler Persönlichkeit zu beobachten sind; aber wie Janet erwähnte, sind diese extremen Manifestationen lediglich übersteigerte Beispiel der für die Hysterie charakteristischen Dissoziationsphänomene« (Fairbairn, 1994 [1949], S. 159). »Bekanntermaßen wurde das spezifische Konzept der Persönlichkeitsspaltung ursprünglich von Bleuler zur Erklärung schizophrener Phänomene entwickelt. Meiner Ansicht nach besteht aber kein grundlegender Unterschied zwischen dem Prozeß der hysterischen Dissoziation, auf den Janet die Aufmerksamkeit lenkte, und der Spaltung des Ichs, die mittlerweile als charakteristisches Merkmal der schizoiden Zustände gilt« (ebd., 2007 [1954], S. 207).
Tatsächlich hat Janets Dissoziationskonzept Bleulers klassische Konzipierung der Spaltung in der Schizophrenie unmittelbar beeinflusst (vgl. 9. Kapitel; Moskowitz & Heim, 2011). Fairbairn wiederum benutzte das Wort »Spaltung« anstelle von »Dissoziation«, weil er dieselbe psychopa110
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thologische Entität erforschte, die Bleuler mit seiner Definition der Schizophrenie identifiziert hatte. Fairbairn erklärte sie dynamisch mit seinen Konzepten der »schizoiden Mechanismen« sowie der »schizoiden Position«. Auf ebendiese Konzepte stützte sich Melanie Klein, als sie ihre einflussreiche Theorie der »paranoid-schizoiden Position« formulierte: »Fairbairn bezeichnete die erste Phase als ›schizoide Position‹: Er behauptete, daß sie Teil der normalen Entwicklung sei und die Grundlage schizoider und schizophrener Erkrankungen im Erwachsenenalter bilde. Ich stimme dieser Auffassung zu, halte seine Beschreibung schizoider Entwicklungsphänomene für wesentlich und aufschlussreich und messe ihnen großen Wert für unser Verständnis des schizoiden Verhaltens und der Schizophrenie bei« (Klein, 2000 [1946], S. 10). »Als dieser Vortrag im Jahre 1946 erstmals veröffentlicht wurde, benutzte ich den Begriff ›paranoide Position‹ in der gleichen Bedeutung, die W. R. D. Fairbairn seinem Terminus ›schizoide Position‹ beilegt. Nach gründlicher Überlegung habe ich beschlossen, Fairbairns Begriff mit meinem eigenen zu kombinieren, so daß ich in diesem Buch […] konsequent den Ausdruck ›paranoid-schizoide Position‹ verwende« (ebd., S. 9, Fn. 4).
Später entwickelten Klein und Fairbairn je eigene Modelle des psychischen Apparates: Klein ein eher trieborientiertes, Fairbairn ein objektbeziehungsorientiertes Modell. Janet und seine Untersuchungen über Dissoziationsprozesse spielen gleichwohl für beide Entwürfe eine grundlegende Rolle. Eine beeindruckende Zusammenfassung seiner Überlegungen veröffentlichte Fairbairn 1954 unter dem Titel »Observations on the nature of hysterical states« (dt.: »Über den Charakter hysterischer Zustände«, 2007). Hier resümiert er seine Sichtweise des Einflusses, den Janet und Freud auf die Objektbeziehungstheorie ausübten. Er zollt Janet Anerkennung, und zwar nicht nur für dessen Identifizierung der Hysterie als eines »charakteristischen klinischen Zustandes« (Fairbairn, 2007 [1954], S. 205), sondern vor allem für seinen Versuch, die Genese der Phänomene, die er bei seinen hysterischen Patienten beobachtete, zu erklären, indem er das Konzept der »Dissoziation« formulierte. Dieses Konzept führt den hysterischen Zustand im Wesentlichen auf eine Unfähigkeit des Ichs zurück, all die Funktionen der Persönlichkeit zusammenzuhalten. Dissoziiert von der übrigen Persönlichkeit, gehen dieser 111
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manche Funktionen verloren und operieren eigenständig, sobald sie dem Bewusstsein und der Kontrolle des Ichs entzogen sind. Janet beschrieb ein stark variierendes Ausmaß solcher dissoziierten Elemente. So kann eine einzelne Funktion, etwa der Gebrauch eines Armes oder Beines, isoliert sein, oder auch ein einzelner oder mehrere große Bereiche der Psyche (wie im Fall der doppelten oder multiplen Persönlichkeit). Solche Dissoziationen wurden auf eine Schwäche des Ichs zurückgeführt, die teils ererbt ist und teils durch Umstände wie Krankheit, Traumatisierung oder Situationen, welche die Anpassungsfähigkeit des Individuums überfordern, hervorgerufen wird (vgl. ebd., S. 205). Sodann formulierte Fairbairn die mittlerweile klassische Unterscheidung zwischen Dissoziation und Verdrängung, die er bereits 1929 in seiner Dissertation thematisiert hatte. Mit Janet beschreibt er die Dissoziation »als einen grundlegend passiven Prozeß – als Desintegrationsvorgang, der durch das Scheitern der normalerweise vom Ich erfüllten Kohärenzfunktion ausgelöst wird« (ebd., S. 205). Freuds Verdrängung hingegen ist »ein aktiver Prozeß« (ebd., S. 206).2 Warum? Weil Freud während seines Aufenthalts bei Charcot in Paris ein besonderes Interesse an den Phänomenen des »hysterischen Gegenwillens« entwickelte, das heißt an Verhaltensweisen, die den bewussten Motiven des Patienten selbst zuwiderlaufen. Mit anderen Worten: Als Freud aus Paris zurückkehrte, hatte er eine rudimentäre Theorie über Widerstand, Verdrängung, unbewussten Konflikt zwischen Trieb und Abwehr und sogar über die Mechanismen des Traumes bereits in Arbeit. Diese Theorie stützte sich zweifellos auf Charcots Werk, aber auch auf Janets Studien (dass Freud dies abstritt, erscheint heute wenig glaubwürdig), ging aber darüber hinaus: »Ob es wohl zufällig ist, daß die Anfälle der jungen Leute, deren gute Erziehung und Manieren Charcot rühmt, in Toben und Schimpfen bestanden? Ich glaube ebensowenig wie die bekannte Tatsache, daß die hysterischen Delirien der Nonnen in Gotteslästerungen und erotischen Bildern schwelgen. 2 Dies macht Janet zu einem Gründungsvater der »Defizittheorien«, Freud zum Gründungsvater der »Konflikttheorien«. Allerdings folgt diese Unterscheidung in höherem Maß unserem Wunsch nach eindeutigen Definitionen (und dem Streben, klar zwischen der Janet’schen und der Freud’schen Tradition zu trennen) als den realen Verhältnissen. Fairbairns Theorie zufolge »stellen Verdrängung und Ich-Spaltung […] lediglich zwei Aspekte ein und desselben grundlegenden Vorgangs dar« (ebd., S. 207).
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5 Janets Einfluss auf die Objektbeziehungstheorien
Man kann hier einen Zusammenhang vermuten, der einen tiefen Einblick in den Mechanismus hysterischer Zustände gestattet. In die hysterischen Delirien gerät jenes Material von Vorstellungen und Handlungsantrieben, welches die gesunde Person verworfen und gehemmt, oft mit großer psychischer Anstrengung gehemmt hat. Ähnliches gilt für manche Träume, die Assoziationen fortspinnen, welche tagsüber verworfen oder abgebrochen worden waren. Ich habe darauf die Theorie vom ›hysterischen Gegenwillen‹ gegründet, welche eine gute Anzahl hysterischer Symptome zusammenfaßt« (Freud, 1892–94, S. 159f.).
Wenn der Gegenwille laut Freud »großer psychischer Anstrengung« bedarf, muss er »ein aktiver Prozeß« (Fairbairn, 2007 [1954], S. 206) sein. Später bezeichnete er die dabei wirkende Kraft, die sich seinen Bemühungen widersetzte, Patienten zu hypnotisieren und zu heilen, als Widerstand. Fairbairn betrachtete ebendies als Freuds Beitrag zum Theoriegebäude Janets: Ganz gleich, wie traumatisiert, geschwächt, depressiv das Ich des Patienten erscheinen mag, kämpft ein Teil dieses Ichs mit erheblicher Energie gegen die Therapie und den Therapeuten selbst an (ebd., S. 206).3 Fairbairn bezeichnete diesen Ich-Anteil als »inneren Saboteur« (vgl. ebd., S. 210, Fn. 5), entstanden aus der Introjektion der traumatisierenden – übererregenden oder allzu ablehnenden – Aspekte der Realität. »Wie dem auch sei«, so Fairbairn, »[…] um den Widerstand zu erklären, postulierte Freud den Verdrängungsvorgang; und da der Widerstand ein aktiver Prozeß ist, beschrieb Freud 3 Ferenczi sprach von einer »Identifizierung, sagen wir Introjektion des Angreifers« (Ferenczi, 1933, S. 11). Seine Untersuchung der Introjektionsmechanismen – die bis zu seinem ersten psychoanalytischen Artikel aus dem Jahr 1909 zurückreichte – machte ihn zu einem Vorläufer der Objektbeziehungstheorien und des Fairbairn’schen Verständnisses der »Introjektion des bösen Objekts« (Clarke, 2014), das heißt der unbefriedigenden oder sogar schädigenden Aspekte des Objekts. In seinem letzten, bedeutendsten Aufsatz, »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind« (1933), schrieb Ferenczi: »Durch die Identifizierung, sagen wir Introjektion des Angreifers, verschwindet dieser als äußere Realität und wird intrapsychisch, statt extra; das Intrapsychische aber unterliegt in einem traumhaften Zustande, wie die traumatische Trance einer ist, dem Primärvorgang, d. h. es kann, entsprechend dem Lustprinzip, gemodelt, positiv- und negativhalluzinatorisch verwandelt werden. Jedenfalls hört der Angriff als starre äußere Realität zu existieren auf, und in der traumatischen Trance gelingt es dem Kinde, die frühere Zärtlichkeitssituation aufrechtzuerhalten« (ebd., S. 11).
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auch die Verdrängung als einen an sich aktiven Prozeß. Vor allem aus diesem Grund hat das Konzept der Verdrängung das Dissoziationskonzept ersetzt. Denn als dynamisches Konzept schafft es im Gegensatz zum Dissoziationskonzept die Basis für eine umfassende Erforschung der Persönlichkeitsdynamik – ja, es bildet sogar den Grundstein, auf dem das gesamte Erklärungssystem der psychoanalytischen Theorie errichtet wurde. Indes hat sich der Verzicht auf das Dissoziationskonzept zugunsten des Verdrängungskonzept keineswegs als reiner Segen erwiesen. Janet betrachtete den für die Hysterie charakteristischen Dissoziationsprozeß, wie bereits erwähnt, als Manifestation einer Ich-Schwäche. Und obwohl Freud sehr rasch erkannte, dass hysterische Symptome das Ergebnis einer aus der Schwäche des Ichs resultierenden Abwehr darstellten, ist eine solche Beeinträchtigung des Ichs dem Verdrängungskonzept selbst nicht inhärent« (ebd., S. 206).
Anders ausgedrückt: Je schwächer das Ich, desto härter muss es kämpfen, um seine Schwäche zu schützen. Und dies erreicht es laut Fairbairn durch eine spezifische Spaltung der Persönlichkeit, bezeichnet als Verdrängung. Freud ist auf diese Aspekte sehr wohl eingegangen, zum Beispiel in seiner Narzissmustheorie und später mit seiner Entwicklung einer Ich-Theorie innerhalb des durch die Strukturtheorie vorgegebenen Rahmens (vgl. Fairbairn, 2007 [1954], S. 207). Dass er eine solche Theorie aber nie mit dem ursprünglichen Trieb-Abwehr-Modell zusammenführte, ist meines Erachtens vorwiegend darauf zurückzuführen, dass Freud Janets Beitrag zur Dissoziation nicht anerkannte, weil er sein eigenes Modell unmissverständlich gegen dessen Theorie abgrenzen wollte. Gleichwohl konnte er nicht vermeiden, wiederholt auf das Problem von Trauma und Dissoziation zurückzukommen. So schrieb er noch in seinen letzten Lebensjahren: »Die Ätiologie aller neurotischen Störungen ist ja eine gemischte; es handelt sich entweder um überstarke, also gegen die Bändigung durch das Ich widerspenstige Triebe, oder um die Wirkung von frühzeitigen, d. h. vorzeitigen Traumen, deren ein unreifes Ich nicht Herr werden konnte« (Freud, 1937c, S. 64). »Alle diese Traumen […] beziehen sich auf Eindrücke sexueller und aggressiver Natur, gewiß auch auf frühzeitige Schädigungen des Ichs (narzisstische Kränkungen)« (Freud, 1939a, S. 179).
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»All diese Phänomene [traumatischen Ursprungs] haben Zwangscharakter, d. h. bei großer psychischer Intensität zeigen sie eine weitgehende Unabhängigkeit von der Organisation der anderen seelischen Vorgänge, die den Forderungen der realen Außenwelt angepaßt sind, den Gesetzen des logischen Denkens gehorchen. Sie werden durch die äußere Realität nicht oder nicht genug beeinflußt, kümmern sich nicht um sie und um ihre psychische Vertretung, so daß sie leicht in aktiven Widerspruch zu beiden geraten. Sie sind gleichsam ein Staat im Staat, eine unzugängliche, zur Zusammenarbeit unbrauchbare Partei, der es aber gelingen kann, das andere, sog. Normale zu überwinden und in ihren Dienst zu zwingen. Geschieht dies, so ist damit die Herrschaft einer inneren psychischen Realität über die Realität der Außenwelt erreicht, der Weg zur Psychose eröffnet« (ebd., S. 181).
Ein »Staat im Staat«, eine »unzugängliche […] Partei« – all dies Metaphern, die zweifelsfrei auf eine dissoziative Persönlichkeitsstruktur verweisen und nicht auf eine gehemmte/verdrängende. Viele Psychoanalytiker haben Dissoziationsphänomene in ihrer täglichen Arbeit beobachtet, und einige von ihnen, beispielsweise Ferenczi und Fairbairn, wollten sie anerkennen, indem sie sie in ihre psychoanalytische Theorie integrierten. Ich habe zu zeigen versucht, dass die Objektbeziehungstheorie aus diesen Bemühungen hervorgegangen ist.
Schluss Ich habe die querelle zwischen Janet und Freud thematisiert, um zu demonstrieren, dass ihre Rivalität klinischen und theoretischen Weiterentwicklungen zugutekam, wenn die Ideen des jeweils Anderen in den eigenen Bezugsrahmen aufgenommen wurden, während deren Ausschluss »Entwicklungsarretierungen« des Feldes nach sich zog. Ich habe die Ansicht vertreten, dass Ferenczi trotz Freuds »Anti-JanetHaltung« (Berman, 1981, S. 285) als erster Psychoanalytiker überhaupt versucht hat, eine theoretische Synthese des Freud’schen und des Janet’schen Modells zu erarbeiten. Sein Ansatz wurde von Suttie (1935) weiterentwickelt und führte zur Begründung einer effektiveren theoretischen Systematisierung durch Fairbairn, die wir heute als Objektbeziehungstheorie bezeichnen. 115
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Dissoziation: Von Janet über Ferenczi zu Bromberg Clara Mucci, Giuseppe Craparo & Vittorio Lingiardi
Pierre Janets Werk ist, wie Henry Ellenberger (1996 [1974] schrieb, einer großen, unter Asche begrabenen Stadt vergleichbar, einem Ort, der ähnlich wie Pompeji eines Tages womöglich wiederentdeckt und zu neuem Leben erweckt werden wird. In mehrfacher Hinsicht war ebendies Janets Schicksal: Sein Werk stand für eine fruchtbare Vermittlung von Ideen und Entdeckungen, die den zeitgenössischen Diskurs über schwere Pathologien, insbesondere über die Dissoziation, beeinflusst haben. Ein vergleichbares Schicksal war Sándor Ferenczi beschieden, der nach Jahrzehnten der Vergessenheit moderne psychoanalytische Trauma- und Dissoziationstheorien beeinflusst und geprägt hat, und zwar nicht zuletzt durch sein Konzept der Identifizierung des Gewaltopfers mit dem Angreifer und durch seine klinische Arbeit, wie er sie in seinem klinischen Tagebuch von 1932 beschrieben hat (Ferenczi, 1999 [1985]). In den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat Janet dem Verständnis einer durch schwere Traumatisierung ausgelösten psychischen Störung, die wir heute als Dissoziation bezeichnen, den Weg gebahnt. Die Werke Freuds, Janets und Ferenczis sind gleichermaßen Fundgruben an Trauma-, Verdrängungs- und Dissoziationstheorien, die einander ergänzen, wenngleich ihre Integration erst vor wenigen Jahren eingesetzt hat. Klärungsbedürftig ist nach wie vor, weshalb Freud die in den Studien über Hysterie (Breuer & Freud, 1895) als Wurzel der Psychopathologie beschriebene Dissoziation später ignorierte und stattdessen die Verdrängung als Ursache psychischer Erkrankungen postulierte. Und was die Schriften Janets und Ferenczis betrifft, so haben diese ihre größte Bedeutung auf dem Gebiet der Traumatheorie und der therapeutischen Praxis erlangt, also in einem Bereich, in dem tragische Ereignisse wie Kriege, Völkermorde, Kindesmissbrauch, Kindesmisshandlung und -vernachlässigung etc. weitergehende Untersuchungen veranlasst haben. 117
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Dieses Kapitel schließt sich der Neubewertung zweier großer Pioniere des psychologischen und psychoanalytischen Denkens und Praktizierens an. Janet und Ferenczi haben es der modernen Psychoanalyse ermöglicht, die dissoziativen Elemente, die in jeder psychischen Struktur vorhanden sind, wiederaufzugreifen und die Notwendigkeit, mit diesen Anteilen in einem wechselseitigen Regulationsprozess therapeutisch zu arbeiten, hervorzuheben. Philip Bromberg (1998; 2006) hat diese Entwicklung, die auch durch moderne neurowissenschaftliche Entdeckungen untermauert wird, beschrieben (Schore, 2012; Schumpf et al., 2014). Das Psychodynamic Diagnostic Manual (PDM-2), ein internationales, auf psychodynamischen Behandlungsverfahren und Theorien gestütztes Handbuch, das explizit auf Fallformulierung und Behandlungsplanung fokussiert, erkennt die Relevanz der Beiträge Janets und Ferenczis vorbehaltlos an (Lingiardi & McWilliams, 2015; 2017). Dem PDM-2 zufolge haben »Kliniker und Forscher die Untersuchung von Trauma und Dissoziation, die durch das freudianische Konzept der Verdrängung weitgehend ausgeblendet worden war, wiederaufgenommen« (Lingiardi & McWilliams, 2017, S. 182). »Janet wurde ›wiederentdeckt‹« (ebd., S. 200), und »psychodynamisch orientierte Autoren untersuchen die dissoziative Psychopathologie unter zahlreichen unterschiedlichen Blickwinkeln« (ebd.). Tatsächlich sind heutige Psychoanalytiker »zur Lehre Janets und Ferenczis zurückgekehrt, und zwar aufgrund der Prävalenz von traumabedingtem Distress sowie von Entwicklungseinflüssen und Psychopathologie bei einer großen Bandbreite traumatisierter Populationen einschließlich Kriegsveteranen, bei Überlebenden von Konzentrationslagern und ihren Nachkommen, Opfern von sexuellem und emotionalem Missbrauch im Kindesalter und Kindesvernachlässigung, bei Opfern von Terror, Folter, Vertreibung, Flucht und Menschenhandel« (ebd., S. 182).
An der Wende zum 20. Jahrhundert standen Janet und Ferenczi außerhalb des Mainstreams sowohl der Psychoanalyse als auch der Psychiatrie, und wir beginnen erst jetzt, ihre Beiträge voll und ganz zu würdigen. Janets Hauptschriften wurden erst vor wenigen Jahren im Original wiederaufgelegt und erschienen dann auch in englischen und italienischen Übersetzungen. Ferenczis Ohne Sympathie keine Heilung. Das klinische Tagebuch, verfasst 1932, das seine aufschlussreichsten Überlegungen zu Trauma, »Fragmentierung« (seine Bezeichnung der Dissoziation) und Behandlung 118
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enthält, erschien nach bewegtem Schicksal auf Französisch und Englisch erst Mitte bzw. Ende der 1980er Jahre (Bonomi, 2017). Janets Konzept der désagrégation psychologique ( Janet, 1889) infolge einer erschütternden Erfahrung beruht auf einem Verständnis der schweren psychischen Erkrankung, das heutigen Sichtweisen sowohl des Traumas als auch der Dissoziation nahesteht (vgl. Khan, 1963, über kumulatives Trauma; van der Kolk, 1996; van der Kolk & van der Hart, 1989; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2008 [2006]; Bromberg, 1998; 2006). Indem Ferenczi den Einfluss der frühen Beziehungen und traumatischen Aspekte von Erziehung und familiärer Umwelt auf die Kinderentwicklung betonte, verwies er auch auf die destruktiven, zur »Fragmentierung« führenden Folgen einer Traumatisierung der unreifen Psyche und auf die unter Umständen daran anschließende Identifizierung mit dem Angreifer, die »Spaltungen« der Persönlichkeit nach sich zieht. Nicht zufällig werden frühe Beziehungstraumata wie etwa die Fehlanpassung zwischen Kind und Bindungsperson und erst recht Kindesmissbrauch und -vernachlässigung (auf einem Kontinuum des Schweregrades) heute als ätiologische Faktoren künftiger psychischer und organischer Pathologie betrachtet (Schore, 1994; 2007 [2003]; Cozolino, 2002; Fonagy & Target, 2006 [2003]; Liotti & Farina, 2011; Lyons-Ruth & Jakobvitz, 2008). Frühe Traumatisierung und Missbrauch in Familienbeziehungen hinterlassen eine Vulnerabilität, die nicht nur die Entwicklung von dissoziativen Störungen, Borderline-Pathologien, posttraumatischen Belastungsstörungen, somatoformen Störungen, Substanzmissbrauch und Alkoholismus begünstigt, sondern auch organische Erkrankungen, zum Beispiel Erkrankungen der Herzkranzgefäße, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Leber- und immunologische Erkrankungen. Dies belegen epidemiologische Studien, die seit den 1990er Jahren in den USA über ACE (Adverse Childhood Experiences) durchgeführt wurden (siehe Felitti & Anda, 1997; 2010).
Verdrängung versus Dissoziation: Freud und Ferenczi Vor mehr als 100 Jahren schrieb Freud: »Wir haben aus der Psychoanalyse erfahren, das Wesen des Prozesses der Verdrängung bestehe nicht darin, eine den Trieb repräsentierende Vorstellung aufzuheben, zu vernichten, sondern sie vom Bewußtwerden abzuhal-
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ten. Wir sagen dann, sie befinde sich im Zustande des ›Unbewußten‹, und haben gute Beweise dafür vorzubringen, daß sie auch unbewußt Wirkungen äußern kann, auch solche, die endlich das Bewußtsein erreichen. Alles Verdrängte muß unbewußt bleiben, aber wir wollen gleich eingangs feststellen, daß das Verdrängte nicht alles Unbewußte deckt. Das Unbewußte hat den weiteren Umfang; das Verdrängte ist ein Teil des Unbewußten« (Freud, 1915e, S. 264; Hervorhebung ergänzt).
In dieser Passage lässt Freud keinen Zweifel daran, dass das Verdrängte und das Unbewusste nicht ein und dasselbe sind: Das Verdrängte ist lediglich ein Teil des Unbewussten (es ist das, was einer Verdrängung unterlag). Als Unbewusstes, das heißt als Nicht-Bewusstes, ist ein größerer Bereich zu definieren, der seine Wirkungen im Verhalten und in den Einstellungen der Menschen entfaltet und retrospektiv rekonstruiert oder, wie Freud es nennt, ins Bewusstsein zurückübersetzt werden kann. Dies hilft uns vielleicht zu verstehen, dass ein Teil des Unbewussten nicht verdrängt und dennoch unbewusst ist, wie Mauro Mancia (2006) vor 15 Jahren erläuterte, als er das »nicht verdrängte Unbewusste« mit dem von der modernen Neurowissenschaft sogenannten impliziten Gedächtnis in Verbindung brachte. Dennoch bleibt die Frage unbeantwortet, was den Teil des Unbewussten (Ubw) konstituiert, der, obwohl nicht verdrängt, die Eigenschaften des Ubw besitzt. Gehört dieser Teil zu dem, was »dissoziiert« wurde? Besteht er aus dem, was nicht intentional verdrängt, aber dennoch vom Bewusstsein abgespalten bleibt, weil es als unerträglich empfunden wird? Die Verdrängung hängt laut Freud mit einem aktiven Entzug der libidinösen Besetzung von Material oder Inhalten zusammen, die dem Verdrängungsprozess eines reiferen Subjekts unterliegen, einer Abwehr, die, so Freud, intentional zustande kommt und dann vergessen wird, sodass das »Wesen« der Verdrängung »nur in der Abweisung und Fernhaltung vom Bewußten besteht« (Freud, 1915d, S. 260). In den Studien über Hysterie (Breuer & Freud, 1895) wird die Dissoziation wiederholt postuliert und beschrieben. Erst in späteren Schriften widerrief Freud sein Verständnis der Dissoziation als frühe Reaktion eines überwältigten jungen Subjekts (eine Reaktion, die wir heute als im impliziten Gedächtnis encodierte verstehen1) zugunsten einer willkürlichen Form der 1 Das implizite Gedächtnis, ein Konzept, das erst seit gut 30 Jahren geläufig ist, bildet die psychobiologische Grundlage des Unbewussten, in seiner umfassenden Bedeutung
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Verdrängung durch ein älteres, reiferes Subjekt (die in unserer heutigen Sprache durch das explizite Gedächtnis encodiert und sodann abgelehnt würde). In dem unmittelbar vor den Studien über Hysterie, nämlich 1892, verfassten Text »Zur Theorie des hysterischen Anfalls« argumentiert Freud unter Punkt 3, dass »die Erinnerung, welche den Inhalt des hysterischen Anfalles bildet, […] eine unbewusste [ist], korrekter gesprochen: sie gehört dem zweiten, bei jeder Hysterie mehr oder minder hoch organisierten Bewusstseinszustande an« (Freud, 1940d, S. 11). Diese Erinnerung fehlt dem Gedächtnis des Patienten, doch wenn es ihm gelingt, sie »ins normale Bewusstsein zu ziehen, hört deren Wirksamkeit zur Erzeugung von Anfällen auf« (ebd., S. 11). Unter Punkt 4 fügt er hinzu, dass die Frage nach dem Ursprung des Erinnerungsinhaltes hysterischer Anfälle mit der Frage zusammenfällt, welche Bedingungen dafür maßgebend sind, dass ein Erlebnis »ins zweite Bewusstsein aufgenommen wird« (ebd., S. 12). Wird das Erlebnis mit Absicht vergessen, so kommt »die Erinnerung […] als hysterischer Anfall wieder« (ebd., S. 12). In »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Vorläufige Mitteilung« (Freud & Breuer, 1893a [1892]) lesen wir: »Wir fanden nämlich, anfangs zu unserer größten Überraschung, daß die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab« (ebd., S. 85).
Der Aspekt der Absichtlichkeit des Vergessens wird damit erklärt, dass es sich um Dinge handelt, »die der Kranke vergessen wollte, die er darum absichtlich aus seinem bewußten Denken verdrängte, hemmte und unterdrückte« (ebd., S. 89). Und weiter heißt es: »Die zweite Reihe von Bedingungen wird nicht durch den Inhalt der Erinnerungen, sondern durch die psychischen Zustände bestimmt, mit welchen die entsprechenden Erlebnisse beim Kranken zusammengetroffen haben« (ebd., S. 89). Von einer »Spaltung des Bewusstseins«, und zwar einer »gewollte[n], absichtliche[n]«, spricht Freud ausdrücklich im Fallbericht über Lucy R.: verstanden als »das, was nicht bewusst ist«. Es beeinflusst wesentliche Aspekte unseres Lebens und ist an unseren Motivationsprozessen und Affekten beteiligt.
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»Der eigentlich traumatische Moment ist demnach jener, in dem der Widerspruch sich dem Ich aufdrängt und dieses die Verweisung der widersprechenden Vorstellung beschließt. Durch solche Verweisung wird letztere nicht zunichte gemacht, sondern bloß ins Unbewußte gedrängt; findet dieser Vorgang zum ersten Male statt, so ist hiemit ein Kern- und Kristallisationsmittelpunkt für die Bildung einer vom Ich getrennten psychischen Gruppe gegeben, um den sich in weiterer Folge alles sammelt, was die Annahme der widerstreitenden Vorstellung zur Voraussetzung hätte. Die Spaltung des Bewußtseins in diesen Fällen akquirierter Hysterie ist somit eine gewollte, absichtliche, oft wenigstens durch einen Willkürakt eingeleitete. Eigentlich geschieht etwas anderes, als das Individuum beabsichtigt; es möchte eine Vorstellung aufheben, als ob sie gar nie angelangt wäre, es gelingt ihm aber nur, sie psychisch zu isolieren« (Freud & Breuer, 1895d [1893–95], S. 182; Hervorhebung ergänzt).
Hier verweist Freud auf die »Spaltung des Bewußtseins« als Reaktion auf ein Trauma, postuliert aber auch ein entsprechendes Bedürfnis, die verstörende Vorstellung auszulöschen, die verdrängt wurde und dann ein Symptom erzeugt hat. An die Stelle der verdrängten Erinnerung ist ein in den Körper eingebettetes Symptom getreten. Dies ist offenbar der Punkt, an dem die »Spaltung des Bewußtseins« und die »Verdrängung« als Traumakonzepte in eins fallen mit der Symptombildung einer Hysterikerin. Offensichtlich führte Freud die Bewusstseinsspaltung nicht auf die Überwältigung einer unreifen Psyche zurück. Es ist wichtig festzuhalten, dass der Unterschied zwischen einem Zustand, in dem das (reife) Subjekt eine Vorstellung oder einen ideellen Inhalt absichtlich verdrängt, und einem Zustand, in dem es den traumatischen Prozess durchmacht, der aufgrund von Unreife und Fragilität zu Symptombildungen anstelle von Erinnerungen führt, hier bereits getroffen wurde: Freud hat die beiden Möglichkeiten, auf ein traumatisierendes Erlebnis zu reagieren – Verdrängung als Willkürakt des Subjekts und Dissoziation als überwältigende körperliche Reaktion (mit Encodierung im impliziten Gedächtnis) –, gesehen, in seiner weiteren Theoretisierung des Traumas aber nicht berücksichtigt. Historisch betrachtet wäre der Weg der Spaltung – präziser: der Dissoziation oder Fragmentierung – die von Janet beschriebene pathologische Reaktion auf den traumatischen Schock, der die von Ferenczi erläuterte Fragmentierung der Persönlichkeit entspricht. Hier der berühmte Eintrag vom 21. Februar 1932 aus dem Klinischen Tagebuch: 122
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»Kind wird von überwältigender Aggression betroffen, Folge ›Aufgeben des Geistes‹, mit der vollen Überzeugung, daß dieses Selbstaufgeben (Ohnmacht) den Tod bedeutet. Doch grade die durch das Selbstaufgeben eintretende volle Relaxation mag günstigere Verhältnisse für das Ertragenkönnen der Gewalt schaffen. […] Der den Geist aufgegeben Habende überlebt also körperlich den ›Tod‹ und beginnt mit einem Teile seiner Energie wieder zu leben; es gelingt sogar die Einheit mit der vortraumatischen Persönlichkeit, allerdings meistens mit Erinnerungsausfall, retroaktiver Amnäsie von verschiedener Zeitlänge, herzustellen. Doch gerade dieses [anamnestische] Stück ist eigentlich ein Stück der Person, die immer noch ›gestorben‹ ist oder sich dauernd in der Agonie der Angst befindet. Aufgabe der Analyse ist, diese Spaltung aufzuheben […]« (Ferenczi, 1999 [1985], S. 81f.).
Diese außerordentlich präzise Beschreibung der dissoziativen traumatischen Reaktion, die bis zur Ohnmacht, einer Erstarrungsreaktion, reichen kann, wurde durch neurophysiologische Beschreibungen zum Beispiel der vasovagalen, zu Schwindelgefühl, Verwirrung und Bewusstlosigkeit führenden Reaktion (vergleichbar mit der von Janet beschriebenen »Einengung des Bewusstseinsfeldes«) bestätigt ( Janet, 1907b; Porges, 2011). Das von der Neurophysiologie des Traumas beschriebene Scheitern der Integration mentaler und psychischer Ressourcen in Reaktion auf die äußere, überwältigende Erfahrung reicht über eine intrapsychische Abwehr, zumal eine absichtliche oder partiell absichtliche, deutlich hinaus (Liotti, 2006; van der Hart, Nijenhuis & Steele 2006). In einer weiteren aufschlussreichen Passage beschreibt Ferenczi die bleibenden Spuren, die das überwältigende Erlebnis hinterlässt, und die daraus resultierende Spaltung der Persönlichkeit, die schließlich auch eine Veränderung des Verhaltens des Opfers nach sich zieht: »[V]om Moment an, als man durch bittere Erfahrung belehrt, das Vertrauen zur Benevolence der Umwelt verlor, erfolgt eine dauernde Spaltung der Persönlichkeit […]. Das eigentliche Trauma der Kinder wird erlebt in Situationen, wo für die unmittelbare Remedur nicht gesorgt wird und eine Adaptation, d. h. Änderung des eigenen Gehabes, erzwungen wird; der erste Schritt zur Schaffung der Differenz zwischen Innen- und Außenwelt, Subjekt und Objekt. Weder subjektive noch objektive Erfahrung allein ist seither vollkommene Gefühlseinheit, ausgenommen im Schlafe und im Orgasmus« (Ferenczi, 1999 [1985], S. 115; Hervorhebung ergänzt).
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Weil das Kind sein Verhalten infolge des Traumas an die Umgebung anpasst, kommt es zu einer dauernden kognitiven Verzerrung und Spaltung der Persönlichkeit. Das Trauma trägt laut Ferenczi auch die Spuren einer äußeren, überwältigenden interpersonalen Erfahrung, die internalisiert wurde, aber als intrapsychischer Faktor weiterhin einen interpersonalen Einfluss auf die Beziehungen zur Außenwelt ausübt – eine Art inneres Arbeitsmodell, um mit Bowlby (1969) zu sprechen, oder eine Repräsentation, ein mit den von Bucci (1997) beschriebenen symbolischen oder subsymbolischen Kommunikationen vergleichbares System. Darüber hinaus betonte Ferenczi in seiner Traumatheorie und deren klinischen Anwendungen, dass das Kind die Aggressivität sowie das dissoziierte Schuldgefühl des Täters (extrem wichtige Elemente der künftigen Pathologie) mit hoher Wahrscheinlichkeit internalisieren wird. Janet nahm Ferenczis Trauma- und Dissoziationsmodell vorweg, als er betonte, dass der pathologischen Hysterie eine désagrégation psychologique oder eine Dissoziation der Persönlichkeit zugrunde liege, die das Gegenteil der synthetischen und integrativen höheren Funktion darstelle, die höhere Bewusstseinsgrade ermögliche ( Janet, 1889; 1907b).2 Janet nahm an, dass ein Umwelttrauma, bei dem es sich nicht unbedingt um ein sexuelles Trauma handeln müsse, die kognitive und affektive Entwicklung hemme und zu jener »Einengung des Bewusstseinsfeldes« führe, die für die Folgen der Traumatisierung typisch ist. In mehreren seiner Studien betont er die Bedeutsamkeit der Umweltbedingungen – heute sprechen wir von primären Beziehungen. So hob Giovanni Liotti in seiner Untersuchung der Janet’schen Kritik an Freuds Annahmen Folgendes hervor: »Janets Überlegung, dass die vulnerabilitätsbedingte pathologische Reaktion auf ein psychisches Trauma […] die passive Konsequenz von Gefühlen ist, die die höheren Bewusstseinskräfte überwältigen (dass es sich also um ein durch die traumatische Erinnerung hervorgerufenes funktionales Defizit handelt), steht der Freud’schen Überlegung, derzufolge die Pathologie auf einer aktiven Abwehr seitens eines Ichs beruht, das unheimliche Emo-
2 Sowohl Janet als auch Ferenczi betonten die körperliche Reaktion sowie das Fehlen eines personalen Bewusstseins und der Subjektivität in traumatischen Zuständen, die bewirken, dass sich das traumatisierte Individuum seiner selbst entfremdet fühlt.
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tionen und Vorstellungen aus dem Bewusstsein auszuschließen bestrebt ist, diametral entgegen« (Liotti, 2014a, S. 32).
Indem Freud die willkürliche, intentionale Abwehr einer Vorstellung (und einer Erinnerung) durch Verdrängung hervorhob, die dann zur Entwicklung eines in der Kompromissbildung zwischen der verdrängten Vorstellung und ihrer Unlust bereitenden Unannehmbarkeit für das Bewusstsein wurzelnden Symptoms führt, bahnte er einer Psychoanalyse (in Abgrenzung zu der »psychologischen Analyse« Janets) den Weg, die statt des Zusammenbruchs eines dissoziierten und gespaltenen Körpers die reifere intrapsychische Reaktion betont. Freuds Theorie misst dem Libidosystem und den Trieben größere Bedeutung bei als dem intersubjektiven, umweltdeterminierten Charakter des Leib-Seele-Systems – den Elementen, aus denen, wie spätere interdisziplinäre Untersuchungen der Säuglingsforscher, Bindungsforscher sowie die interpersonaler Neurobiologie und die Affektregulationstheorie es belegen, das Subjekt hervorgeht. Indem Freud ein theoretisches System beschrieb, das die Art und Weise hervorhebt, in der das Ich mit Abwehrstrategien reagiert, um sich selbst zu schützen, entwarf er ein Top-down-Modell, das die modernen Neurowissenschaften durch ein Bottom-up-Modell ersetzt haben: Die Reaktion verläuft von niedrigen Hirnregionen, vom Hirnstamm, zum Kortex, dessen Reaktion eher dysfunktional ist (Liotti, 2014a, S. 35; Porges, 2011). Infolge dieser Sichtweise war die Pathologie, die Freud untersuchte und behandelte, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine neurotische und weniger schwere als die Pathologie der Patientinnen und Patienten, die Janet und Ferenczi zu behandeln bereit waren. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb die Dissoziationstheorie der Pathologie den heutigen schweren Borderline-Pathologien eher gerecht wird. So schreibt Allan Schore: »[Die] neurobiologische Konzeptualisierung legt nahe, dass Freuds Vorstellungen zum Trauma neu beurteilt […] und dass das Konzept der Dissoziation in den theoretischen und klinischen Rahmen der Psychoanalyse wieder inkorporiert werden sollte. Man weiß heute, dass die Dissoziation die primitivste Abwehr gegen traumatische Affektzustände repräsentiert und dass dies bei der Behandlung schwerer Psychopathologien nicht vergessen werden darf« (Schore, 2007 [2003], S. 276f.).
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Der Beitrag Pierre Janets In L’Automatisme Psychologique postulierte Janet (1889) eine désagrégation psychologique als Grundlage der hysterischen Pathologie und der Phänomene, die er als »Automatismen« bezeichnete und von der synthetischen oder integrativen Funktion unterschied, die die psychische Gesundheit charakterisiert. Janet war überzeugt, manche hysterischen Symptome auf die autonome Existenz von Subsystemen der Persönlichkeit zurückführen zu können, die vom personalen Bewusstsein dissoziiert sind, eigenständig funktionieren und ihren Ursprung in der Vergangenheit und speziell in traumatisierenden Ereignissen haben. Umgebungstraumata sind laut Janet von zentraler Bedeutung, und zwar vor allem dann, wenn sie sich in kritischen Momenten der affektiven und kognitiven Entwicklung ereignen. Das Trauma muss nicht unbedingt, wie es in Freuds frühen Schriften der Fall ist, sexueller Natur sein, führt aber zur Dissoziation und Desorganisation der Persönlichkeit. Infolgedessen kann das überwältigende Erlebnis nicht encodiert werden, sodass sich stattdessen »fixe Ideen« entwickeln, die häufig »eingefrorenen Emotionen« entsprechen. Sie sind auf plötzlichen Schock zurückzuführen und werden rigoros aus dem personalen Bewusstsein verbannt. Wenn diese traumatischen Erinnerungen besonders intensiv sind oder das Ereignis sich im Laufe der Entwicklung wiederholt, kann die Erinnerung aus dem Strom des personalen Bewusstseins ausgeschlossen werden und unter Umständen sekundäre, dissoziierte Persönlichkeiten entstehen lassen. Diese psychischen Gruppierungen treten im Allgemeinen plötzlich und mit hoher Intensität zutage. Ein weiteres Merkmal der hysterischen Symptome ist tatsächlich die automatische, intrusive Reaktivierung der traumatischen Erinnerungen, die zur Bildung der Symptome an sich beigetragen haben ( Janet, 1928a). Die »psychologische Analyse« (im Unterschied zur freudianischen »Psychoanalyse«), zum Beispiel die Methode, die Janet zur Behandlung der automatischen Phänomene hysterischer Patienten entwickelte, deckt das traumatisierende Erlebnis auf, das den unterbewussten fixen Ideen und den Symptomen zugrunde liegt. Diese unterbewussten fixen Ideen sind Ursache und zugleich Wirkung einer psychischen Schwäche oder »psychischen Verarmung« und verändern sich nur sehr langsam. Hysterische Krisen sind quasi »maskierte Darstellungen« solcher unterbewussten Ideen. Diese Störungen scheinen die Betroffenen in »lebende Statuen« zu 126
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verwandeln. Um die durch das Trauma hervorgerufene psychische Störung zu heilen, reicht es nicht aus, die unterbewussten Ideen ins Bewusstsein zurückzuholen. Eine ähnliche Auffassung, denen die modernen relationalen Schulen mehr und mehr Relevanz beimessen, vertrat auch Ferenczi (Ellenberger, 1996 [1974]). Janet betrachtete die »Einengung des Bewusstseinsfeldes« als eines der beiden grundlegenden Merkmale dieser Patienten, das sie von psychisch gesunden Menschen unterscheidet, deren kreative Bewusstseinsaktivität mit der aktiven »Synthese« von Erinnerungen und Empfindungen einhergeht und mit dem Erleben von Selbstheit und infolgedessen mit einer integrierten Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung zusammenhängt. In einer späteren Studie, L’Ètat Mental des Hysterériques (1903a; 1894b), vertrat Janet abermals die Ansicht, dass die Hysterie als eine psychische Störung zu verstehen sei, die im Wesentlichen auf der fehlenden bzw. gestörten Synthesefunktion der Psyche beruhe. Einen noch deutlicheren Ausdruck findet diese fehlende oder beeinträchtigte Synthese in jenen Symptomen, die er nun als »dissoziativ« charakterisiert, sodass die daraus resultierende Dysfunktion auf solche umweltbedingten Beeinträchtigungen des Entwicklungsprozesses zurückgeführt werden können. In L’Évolution Psychologique de la Personnalité (1929a) erörterte Janet später die extremen Konsequenzen und vertrat die Theorie, dass das Fehlen der Synthese und der Kohärenz der Persönlichkeit seine Ursache in den primären Beziehungen des Kindes habe, die den Entwicklungsverlauf seines Individualitätsgefühls beeinflussen. Wiederholt betont Janet in dieser Arbeit die Relevanz der sozialen Komponente. Alle höheren psychischen Funktionen – Denken, Wille oder Erinnerung – entwickeln sich in Reaktion auf die sozialen Einflüsse, die auf das Individuum einwirken. In weiteren Studien bezieht Janet (1898a; 1903; 1909a), über das Feld der klassischen Hysterie hinausgehend, auch Fallbeispiele von ambulant behandelten Patienten mit ein. Hier unterscheidet er die Hysterie von einer anderen Störungskategorie, nämlich der Psychasthenie, zu der er zahlreiche neurotische Störungen, beispielsweise Zwangserkrankungen und Phobien, zählt. Im Gegensatz zur Hysterie können fixe Ideen in solchen Fällen auch bewusst sein (Ellenberger, 1996 [1974]). Diese Arbeiten zeugen von der bedeutsamen Weiterentwicklung, die Janets Denken seit der Veröffentlichung von L’Automatisme Psychologique genommen hat, wo er von lediglich zwei Bewusstseinsebenen ausging, nämlich der Synthesefunktion und der automatischen Funktion. Seiner Erklärung der Psychasthenie hingegen 127
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legt Janet ein breiteres theoretisches System zugrunde, in dem das Bewusstsein an der Spitze der Integrationsfunktion steht. Zusätzlich zum Synthesekonzept führt er das Konzept der présentification ein – einer aktiven psychischen Fähigkeit, sich auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren, ohne ihn mit Erinnerungen aus der Vergangenheit zu verwechseln ( Janet, 1928b) – sowie die sogenannte fonction du réel, also die Fähigkeit der Psyche, auf äußere Objekte und auf die Realität einzuwirken, um sie entsprechend den Zielen des Subjekts zu verändern.
Janets Aktualität Der Primat, den Janet der kreativen Aktivität und den Integrationsfunktionen des Bewusstseins zuschrieb, weist bedeutsame Zusammenhänge mit einigen modernen Modellen auf, insbesondere mit Entwicklungen in der Traumatheorie und mit Dissoziationsmodellen. So impliziert die Beschreibung der fonction du réel nicht nur eine Beziehung zur sozialen Umwelt, sondern auch eine bewusste, aufmerksame Wahrnehmung innerer Zustände und eigener sowie fremder Überzeugungen; diese Funktion ist zudem Ausdruck der Fähigkeit zur Selbstbestimmtheit und trägt zur Entwicklung der Persönlichkeit bei (van der Hart et al., 2006). Das Konzept weist Analogien auf zur Funktion des Mentalisierens, das heißt der Fähigkeit, interpersonales Verhalten auf innere Zustände zurückzuführen. Erworben wird diese Fähigkeit in den primären Bindungsbeziehungen (Fonagy & Target, 2006 [2003]). Die Mentalisierungsfähigkeit enthält sowohl eine selbstreflexive als auch eine interpersonale Komponente und spielt für die Organisation des Selbst und für die Affektregulation eine fundamentale Rolle (s. a. Liotti & Farina, 2011). Schwierigkeiten in primären Beziehungen können eine desorganisierte Entwicklung nach sich ziehen, sodass im Extremfall psychische Anteile als »fremd« oder als dem Selbst nicht zugehörig empfunden werden (Fonagy & Bateman, 2005). Die Entwicklung eines fremden Selbst kann die Kontinuität des Subjekts zerstören, wenn spätere traumatische Erfahrungen in der Familie oder während kritischer Entwicklungsphasen einer gesunden Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstreflexion zuwiderlaufen. Dieser Prozess wird zum pathologischen Kern bestimmter Eigenschaften der Borderline-Persönlichkeiten (Bateman & Fonagy, 2015; Fonagy et al., 2014; Liotti, 2014b; Liotti & Gilbert, 2011). 128
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Aus dem breiten Korpus an Bindungstheorien und entsprechenden Untersuchungen erörtern wir im Folgenden insbesondere die Hypothesen, die Giovanni Liotti (2006; Liotti & Farina, 2011) über Traumatisierung und dissoziative Entwicklung formuliert hat. Offenbar besteht ein Zusammenhang zwischen der desorganisierten Bindungsbeziehung des Kindes und der Entwicklung einer Vulnerabilität für spätere Störungen, wenn schützende oder korrigierende Faktoren ausbleiben. Charakteristisch für die desorganisierte Bindung ist der Zusammenbruch von Verhaltensstrategien infolge des unbewältigten Konflikts zwischen widersprüchlichen Sichtweisen, die das Kind sowohl von seiner Bindungsperson (als Quelle von Schutz und zugleich Gefahr) als auch von sich selbst hat (Main & Hesse, 1990). Insbesondere dank der Studien von Karlen Lyons-Ruth hat die desorganisierte Bindung besondere Aufmerksamkeit gefunden (LyonsRuth, Repacholi, McLeod & Silva 1991; Lyons-Ruth, Bronfman & Parsons 1999; Lyons-Ruth & Jacobvitz, 2008). Diese Bindungskategorie findet sich vor allem bei Kindern, deren Bindungsperson unter einem unbewältigten Trauma und/oder einer Persönlichkeitsstörung leidet, trauert, depressiv oder substanzabhängig ist (Carlson & Sroufe, 1995; Main, 1995; Main & Morgan, 1996). Liotti (2006) beschreibt Trauma, Dissoziation und Desorganisation in Bindungsbeziehungen als drei Aspekte eines spezifischen psychopathologischen Prozesses. Wichtig ist hier der Hinweis auf die von Bowlby (1969) beschriebenen inneren Arbeitsmodelle. Hierbei handelt es sich um Erinnerungs- und Erwartungsmuster, die sich auf der Grundlage der Einstellungen, mit denen die Bindungspersonen auf die Bedürfnisse des Kindes reagieren, entwickeln. Anders formuliert: Gegen Ende des ersten Lebensjahres entstehen, ausgehend von den Interaktionen zwischen Kind und Bezugsperson, innere Arbeitsmodelle, die zuerst in den Schaltkreisen des impliziten Gedächtnisses gespeichert und später zu semantischen expliziten und erzählbaren Erinnerungen organisiert werden. Besonders wichtig ist das Arbeitsmodell der desorganisierten Bindung, eines Musters, das sich in enger Verbindung mit Dissoziationsreaktionen auf traumatisierende Erlebnisse herausbildet (Cassidy & Mohr, 2001; Liotti & Farina, 2011). Die Entwicklung des Arbeitsmodells der desorganisierten Bindung geht mit mannigfaltigen inkohärenten und nicht integrierten (dissoziierten) Wahrnehmungen des Selbst und wichtiger Anderer einher und hängt mit der gleichzeitigen (widersprüchlichen) Aktivierung sowohl des Motivationssystems der Bindung als auch des Abwehrsystems zusammen. Diese 129
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Widersprüchlichkeit macht es dem Kind unmöglich, kohärente Verhaltensstrategien einzusetzen. Die Ähnlichkeit mit Janets Beschreibung des Zusammenbruchs der für die Dissoziationsphänomene charakteristischen Integrationsfunktionen des Bewusstseins ist unübersehbar. Liotti ist der Ansicht, dass wir der relationalen Dynamik des einzelnen Vorgangs besondere Aufmerksamkeit widmen müssen, weil sowohl die Bedeutung des Traumas als auch sein Zusammenhang mit einer Bindungsperson (sowie die Häufigkeit und Intensität) die Integration des Erlebnisses in die bewusste Struktur verhindern können, sodass es zu dissoziativen Reaktionen kommt. Anders formuliert: Wenn das Trauma mit Bindungspersonen zusammenhängt, muss das Kind diese Realität aus seinem Bewusstsein verbannen, sie dissoziieren (»Das passiert nicht, es passiert nicht mir, Mama/Papa würden so etwas nie tun.«). Eindringlich beschrieben wird eine solche Reaktion von Edward St. Aubyn im ersten Band seiner fünf autobiografischen Romane über Patrick Melrose, der mit einem sadistischen Vater, der ihn sexuell missbrauchte, und einer masochistischen, alkoholkranken Mutter eine verheerende Kindheit durchlebte. Patrick flüchtet sich in Dissoziationsepisoden – »ein Entkommen, das kein Entkommen ist« (Putnam, 1992, S. 104) –, indem er der Gewalttat »von oben« zusieht oder sich in die Eidechse nahe dem Fenster verwandelt, die hinter der Wand verschwindet und entkommt: »Je mehr er sich zusammennahm, desto härter wurde er geschlagen. Zu gern hätte er sich bewegt, doch er wagte es nicht, und die unbegreifliche Gewalt zerriss ihn. Kalter Schrecken griff nach ihm und zermalmte seinen Körper wie die Kiefer eines Hundes. Nach der Prügel ließ ihn sein Vater wie ein lebloses Ding aufs Bett fallen. […] Er wusste nicht, wer dieser Mann war, das konnte nicht sein Vater sein, der ihn so zerquetschte. Von der Vorhangstange, wenn er nur zur Vorhangstange hinaufkäme, hätte er die ganze Szene von oben betrachten können, so wie sein Vater jetzt auf ihn herabsah. Einen Augenblick lang hatte Patrick das Gefühl, da oben zu sein und mit einigem Abstand die Bestrafung eines kleinen Jungen durch einen Fremden zu betrachten. Patrick konzentrierte sich so gut er konnte auf die Vorhangstange, und diesmal klappte es länger, er saß dort oben mit verschränkten Armen und lehnte sich an die Wand. Dann war er wieder auf dem Bett, spürte eine Art Leere und die Last, nicht zu wissen, wie ihm geschah. Er hörte seinen Vater keuchen und das
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Kopfteil des Bettes gegen die Wand schlagen. Hinter dem Vorhang mit den grünen Vögeln kam eine Eidechse hervor und hing reglos an der Wand neben der offenen Glastür. Patrick warf sich in ihre Richtung. Er ballte die Fäuste und konzentrierte sich, bis seine Konzentration sich wie ein Telegrafendraht zwischen ihnen spannte, und Patrick verschwand im Körper der Eidechse. Die Eidechse begriff, denn im selben Augenblick huschte sie um die Fensterecke und hinaus auf die Außenwand. Unter sich sah er die Wand bis zur Terrasse abfallen, darauf die Blätter des wilden Weins, rot, grün und gelb, und dort oben, dicht an der Wand, konnte er sich mit seinen Saugnäpfen an den Füßen sicher festhalten und kopfüber unterm Dachvorsprung hängen. Dann huschte er weiter auf die alten Dachziegel, die von grauen und rostroten Flechten bedeckt waren, hinauf bis zum First. Ganz schnell lief er auf der anderen Seite wieder hinunter und war weit weg, und niemand würde ihn je wieder finden, weil sie nicht wussten, wo sie suchen sollten, weil sie nicht wissen konnten, dass er sich im Körper einer Eidechse verborgen hatte« (St. Aubyn, 2007 [1992], S. 99f.).
Laut Bromberg (1998; 2011) erfüllt die Dissoziation die paradoxe Funktion, ein Gefühl der inneren Kontinuität aufrechtzuerhalten und den traumatischen Zerfall des Selbst- und Identitätsgefühls zu verhindern. Seiner Ansicht nach ist sie als ein Kontinuum zu verstehen, das von der gesunden Fähigkeit, zwischen multiplen Selbstanteilen zu fluktuieren, ohne das Gefühl der Einheitlichkeit zu verlieren, bis zur Dissoziation als einer rigiden Abwehr intensiver und kumulativer traumatischer Beziehungserfahrungen reicht, die Fluidität und Kohärenz zerstören. »Gesundheit ist die Fähigkeit, sich zwischen Realitäten zu verorten, ohne eine von ihnen zu verlieren« (Bromberg, 2011, S. 51). Und weiter: »Meiner Ansicht nach entspricht dies der Fähigkeit, sich als einheitliches Selbst zu fühlen und viele zu sein« (ebd., 1996, S. 10). In Übereinstimmung mit Russel Meares (2012a, S. 10) hält auch Bromberg den rigiden Einsatz der Dissoziation zur Abwehr überwältigender, mit der traumatischen Erfahrung zusammenhängender Affekte für das Hauptcharakteristikum von Persönlichkeitsstörungen: »Die defensive Dissoziation gibt sich durch die Abtrennung der Psyche von ihrer eigenen Fähigkeit zu erkennen, das wahrzunehmen, was der Selbstheit unerträglich erscheint. Sie reduziert das, was jeder sehen kann, auf ein
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schmales Band der Wahrnehmungsrealität, das für das Selbst, das sie erlebt, keine persönliche emotionale Relevanz besitzt (»Was gerade passiert, passiert nicht mir«)« (Bromberg, 2011, S. 50).
Spaltung und Fragmentierung der Persönlichkeit bei interpersonalem Trauma Mit seiner Traumatheorie leistete Ferenczi einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis dissoziativer Phänomene. Auf Freud erwiderte er: »Der naheliegende Einwand, es handle sich um Sexualphantasien des Kindes selbst, also um hysterische Lügen, wird leider entkräftet durch die Unzahl von Bekenntnissen dieser Art, von Sichvergehen an Kindern, seitens Patienten, die sich in Analyse befinden« (Ferenczi, 1933, S. 10).
Der ungarische Analytiker war überzeugt, dass die meisten Missbrauchsfälle nicht anerkannt werden oder dass ihre Realität in der Beziehung zur Bindungsperson verleugnet wird. Dies zieht als wichtigste Konsequenz die »Identifizierung mit dem Angreifer« nach sich, durch die das Kind nicht nur die Aggressivität des Täters verinnerlicht, sondern auch dessen abgespaltene Schuldgefühle (Ferenczi, 1933; 1999 [1985]). Anders als im Fall psychischer Traumatisierungen durch Naturkatastrophen, zum Beispiel Erdbeben, für die Menschen keine Verantwortung tragen (van der Kolk, 2014), besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Dissoziation und interpersonalen Traumata wie sexuellem Missbrauch, schwerer Vernachlässigung, Inzest oder Misshandlung. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Kind durch seine wichtigsten Bezugspersonen traumatisiert wird. Die Verleugnung der Realität des Traumas (Misshandlung, Inzest) ist ein Angriff auf das Selbstgefühl, der zu Fragmentierung und Leere und in manchen Fällen zu einer Identifizierung mit dem Täter führt. Die Entwicklung des Kindes ist fortan durch dissoziative Prozesse charakterisiert, sodass abgespaltene Persönlichkeiten oder Fragmente sein Selbst konstituieren. Das Kind kann nur überleben und den traumatischen Schmerz ertragen, indem es sich »durch Bewußtlosigkeit, kompensierende Glücksphantasien, Persönlichkeitsspaltung« zu schützen versucht (Ferenczi, 1999 [1985], S. 127). In einem Eintrag mit der Überschrift »Über die Dauerwirkung aufgezwungener ›obligatorischer‹ 132
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aktiver und passiver Genitalanforderungen an kleine Kinder« schrieb Ferenczi: »[…] das Mädchen fühlt sich beschmutzt, unartig behandelt, möchte der Mutter klagen, wird aber daran vom Manne verhindert (Ängstigung, Ableugnung). Das Kind ist hilflos und konfus, sollte sich gegen den Willen der Erwachsenenautorität, gegen den Unglauben der Mutter etc. durchkämpfen. Kann es natürlich nicht, wird vor die Wahl gestellt, ist die ganze Welt schlecht, oder bin ich im Irrtum? und wählt das letztere« (ebd., S. 127f.).
Die Unterscheidung zwischen Intrapsychischem und Interpersonalem wird, wie wir in dem berühmten Zitat über das »Aufgeben des Geistes« (s. o., S. 123) gesehen haben, durch die Identifizierung des Kindes mit dem Angreifer und seine Anpassung an die Erwartungen (und Verzerrungen) der Umwelt zunichte gemacht. Diese erstaunliche Passage weist voraus auf Erkenntnisse der Neurowissenschaften über die Deaktivierung des parasympathischen Systems durch traumainduzierte Dissoziation, wie sie von Allan Schore (1994; 2001; 2009; 2011; 2012) beschrieben und von Stephen Porges (2011) im Zusammenhang mit der vagalen Reaktion auf ein Trauma erläutert wurde. Aktuelle neurowissenschaftliche Bildgebungsstudien, insbesondere mit der funktionellen Magnetresonanztomografie (f MRT), belegen einen Zusammenhang zwischen traumainduzierter Dissoziation und Veränderungen der rechten Hirnhälfte (Meares, Schore & Melkonian 2011; Schore, 2009). McGilchrist (2009) beschrieb die Dissoziation als »eine relative Unterfunktion der rechten Hirnhemisphäre. Die Dissoziation ist darüber hinaus die Fragmentierung dessen, was normalerweise als ein Ganzes erlebt würde – die psychische Abtrennung von Erfahrungskomponenten, die normalerweise zusammen verarbeitet würden. Auch dies verweist auf ein rechtshemisphärisches Problem« (S. 235f.). Lanius et al. (2005) haben mittels fMRT beobachtet, dass Dissoziationsprozesse bei traumatisierten Patienten vor allem die rechte Hirnhälfte betreffen. Laut Schore (2011) »spiegelt die Dissoziation neurobiologisch die Unfähigkeit des rechtshemisphärischen kortikal-subkortikalen Selbstsystems wider, die Wahrnehmung der äußeren Stimuli zu erkennen und zu prozessieren« und sie »von einem Moment zum anderen« (S. XXIII) mit inneren Stimuli zu integrieren. Das Scheitern der Integration 133
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»der höheren rechten Hemisphäre mit dem tieferen rechten Gehirn und die Abtrennung des zentralen Nervensystems vom autonomen Nervensystem führt zu einem sofortigen Zusammenbruch sowohl der Subjektivität als auch der Intersubjektivität. Stressreiche Affekte, insbesondere solche, die mit emotionalem Schmerz zusammenhängen, werden folglich nicht im Bewusstsein wahrgenommen (Brombergs ›Nicht-ich‹-Selbstzustände)« (ebd.).
Wir wissen allerdings auch, dass dieser neurowissenschaftliche Ansatz umstritten ist. So schreiben etwa Mark Solms und Oliver Turnbull: »Sämtliche Versuche, die basalen geistigen Funktionen der linken und rechten Hirnhälfte zu dichotomisieren, mündeten in eine Sackgasse. Wahrscheinlich wird sich eines Tages herausstellen, dass die unterschiedlichen Funktionen der beiden Hirnhälften nicht auf einen einzelnen fundamentalen Faktor zurückzuführen sind« (Solms & Turnbull, 2004 [2002], S. 256). Unstrittig ist aber, dass die Affektregulation in der Dyade sowie die kindliche Fähigkeit zur Selbstregulation Schaden nehmen, wenn die Bezugsperson nicht hinreichend auf das Kind abgestimmt oder emotional nicht in der Lage ist, die kindlichen Affektzustände zu regulieren. Diese Beobachtungen helfen uns, den Paradigmenwechsel in modernen psychoanalytischen Modellen der Psychopathogenese von der ödipalen Verdrängung zur präödipalen Dissoziation zu verstehen (Schore, 2012, S. 126). Ein letztes Zitat aus Ferenczis klinischem Tagebuch unterstreicht die Bedeutsamkeit der aus Missbrauch und Misshandlung resultierenden Anpassung an die Umwelt: »[V]om Moment an, als man durch bittere Erfahrung belehrt, das Vertrauen zur Benevolence der Umwelt verlor, erfolgt eine dauernde Spaltung der Persönlichkeit […]. Damit ist die Spaltung der früher einheitlich suggestiven Welt, in ein subjektives und objektives psychisches System [sic!] und jedes bekommt sein eigenes Erinnerungssystem, von denen eigentlich nur das objektive voll bewußt ist. […] Nur im Schlafe gelingt es uns, durch gewisse äußerliche Veranstaltungen […] diese Wache zurückzuziehen […]. Das eigentliche Trauma der Kinder wird erlebt in Situationen, wo für die unmittelbare Remedur nicht gesorgt wird und eine Adaptation, d. h. Änderung des eigenen Gehabes, erzwungen wird; der erste Schritt zur Schaffung der Differenz zwischen Innen- und Außenwelt, Subjekt und Objekt. Weder subjektive noch objektive Erfahrung allein ist seither vollkommene Gefühlsein-
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heit, ausgenommen im Schlafe und im Orgasmus« (Ferenczi, 1999 [1985], S. 115).
Moderne Sichtweisen der Dissoziation und der traumatischen Erinnerungen Gegen Ende der 1970er Jahre führten Untersuchungen über Vietnam-Veteranen, gründlichere Kenntnisse der aus Kindesmissbrauch resultierenden Probleme sowie ein neues Verständnis anderer traumatisch wirkender Erfahrungen zur Formulierung der diagnostischen Kategorie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die 1990 ins DSM-III aufgenommen wurde (APA, 1980). Erinnerungsstörungen (in Form von sowohl Amnesien als auch Flashbacks) zählen zu den quälendsten Symptomen der posttraumatischen Pathologie, und so ergab sich mit der Beschreibung der PTBS eine Diskussion über die Möglichkeit, Missbrauchserinnerungen selbst nach geraumer Zeit noch abzurufen (Harvey & Herman, 1994; Herman & Schatzow, 1987; Mucci, 2008; Sandler & Fonagy, 2011; van der Kolk & van der Hart, 1991). Mittlerweile zeigen Studien, dass traumatische Erinnerungen an frühe Misshandlung, Missbrauch und andere frühe Beziehungstraumata auf andere Weise encodiert werden als nicht-traumatische Erinnerungen (Tulving & Thomson, 1973). Erinnerungen an traumatische Erlebnisse können auch als Erinnerungen konzipiert werden, die im »nicht-verdrängten Unbewussten«, wie Mancia (2006) es nennt, gespeichert sind, das heißt als frühe, im Körper und im limbischen System encodierte Erinnerungen. Sie hängen mit den präverbalen Selbstrepräsentationen zusammen und dienen den inneren Arbeitsmodellen des Subjekts, seinem Verhalten und seinem Selbstwertgefühl als Orientierung, obgleich sie weder bewusst noch verdrängt sind (Craparo & Mucci, 2016; Craparo, 2017a; 2018). Dies steht im Einklang mit Freuds Überzeugung: »[…] nicht alles Ubw ist auch verdrängt« (Freud, 1923b, S. 244). Laut Janet (1889; 1909b) können Erinnerungen an die der Amnesie unterliegenden Erlebnisse nur in einem psychischen Zustand abgerufen werden, der dem Zustand während jener Erfahrung ähnelt. Die moderne Neurobiologie bestätigt, dass es einfacher ist, eine im impliziten Gedächtnis encodierte Erinnerung in Hyperarousal- oder Angstzuständen abzurufen, die dem Moment ähneln, in dem sie abgespeichert wurde (van der 135
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Kolk, 2014). Dies könnte erklären, weshalb der therapeutische Kontext, selbst wenn er ein geschütztes und sicheres Umfeld bereitstellt, in manchen Fällen implizite Erinnerungen an emotionale Situationen reaktivieren kann, mit deren Hilfe dann bestimmte Inhalte und Episoden, die in der Vergangenheit unverständlich erschienen oder nicht erinnerbar waren, geklärt werden können (Boeker et al., 2013; Fonagy, 1999; Lingiardi & De Bei, 2011). Dies ist der paradoxe Bereich des traumatischen »Wissens und Nicht-Wissens«, wie ihn Dori Laub (1992, S. 184) beschrieben hat – das zentrale Gebiet der psychotherapeutischen Arbeit mit frühtraumatisierten Patienten. Im sogenannten »nicht-verdrängten Unbewussten« werden Erinnerungen encodiert und dem Körper-Seele-System eingeschrieben, bevor sie verbalisiert und mit spezifischen Bedeutungen besetzt werden können (Brooks-Brenneis, 1996; Liotti, 2007; Rothschild, 2000; Solomon & Siegel, 2003). Infolge sehr früher Traumatisierungen in primären Beziehungen oder anderer Erfahrungen, die das unreife Kind überwältigen, kommt es während des traumatischen Erlebnisses zu einer primitiven, schweren Dissoziation (peritraumatische Dissoziation; siehe Putnam, 1989b), sehr häufig einhergehend mit Depersonalisierung und Derealisierung (van Buren & Alhanati, 2010; van der Kolk & van der Hart, 1989). Die unterschiedliche Art und Weise der Abspeicherung von Erinnerungen beeinflusst ihren Abruf und ihre Ausarbeitung. Laut Meares (2009) werden traumatische Erlebnisse zumindest im Falle von Kindern und Heranwachsenden nicht im episodischen Gedächtnissystem gespeichert, sondern in einem früheren und primitiveren. Die Reaktivierung solcher Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung ist eine Konsequenz ihrer Encodierung im impliziten Gedächtnis, die zur Folge hat, dass Traumata nicht als singuläre Ereignisse erinnert werden, sondern als eine Form des Negativwissens über sich selbst. In der Behandlung von Missbrauchs- und Misshandlungsopfern erfordern die innere Identifizierung mit der Aggressivität des Täters und die Internalisierung seiner abgespaltenen Schuldgefühle eine vielschichtige Bearbeitung sowohl der mit dem Opfer als auch der mit dem Angreifer identifizierten Selbstanteile. Die Identifizierung mit dem Angreifer erklärt auch, weshalb die Aggression sich gegen das Selbst und den eigenen Körper richtet. Erst wenn beide Identifizierungen durchgearbeitet, aufgelöst und schließlich überwunden wurden, können das Trauma bewältigt und die traumatisierte Person wiedergeboren und geheilt werden (Mucci, 2013; 2018). 136
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Trauma und Dissoziation in modernen relationalen Schulen: der Beitrag Philip Brombergs Philip Bromberg (1998; 2006; 2011) hat auf der Grundlage eines relationalen Modells, in dessen Zentrum die Dissoziation steht, eine klinische Theorie formuliert. Weil die Psyche seiner Hypothese zufolge nicht als singuläre Einheit geboren wird, sondern aus mannigfaltigen diskontinuierlichen, diskreten Zuständen entsteht, »sind Selbstzustände das, woraus sich die Psyche aufbaut. Dissoziation ist das, was die Psyche tut« (Bromberg, 2006, S. 2). Darüber hinaus postuliert Bromberg eine normale Dissoziation, charakterisiert durch flexible Beziehungen zwischen Selbstzuständen, die es uns erlaubt, auf die in ständiger Veränderung begriffenen Erfordernissen des Lebens kreativ und spontan zu reagieren. Die pathologische Dissoziation wird aktiviert, um das Individuum vor traumatischer Auflösung zu bewahren, wenn widersprüchliche Affekte und Wahrnehmungen, die es nicht verstehen kann, und widersprüchliche, unerträgliche Erfahrungen es gefährlich erscheinen lassen, die Illusion der Kontinuität aufrechtzuerhalten. Ebenso wie Janet ist Bromberg überzeugt, dass frühe relationale Traumata die Integrationsfunktionen der Psyche gravierend schädigen. Im Einklang mit Studien aus der Traumaforschung postuliert er, dass frühe Traumatisierungen in Bindungsbeziehungen eine retroaktive Amnesie aktivieren können. In diesem Zustand sind somatische, nicht-symbolisierte Erinnerungen nicht in bewusster und expliziter Form repräsentierbar. Bromberg bezeichnet sie als »den Schatten des Tsunami« (Bromberg, 2011, S. 165). Dissoziierte Erfahrungen können, so Brombergs klinische Theorie, nicht verbal kommuniziert werden, lassen sich aber als Verhaltensmuster in interpersonalen Beziehungen einschließlich der psychotherapeutischen beobachten (Lingiardi, 2008). Besondere Aufmerksamkeit sollte der Kliniker jenen Zuständen des dissoziierten Selbst widmen, die in Form von Enactments zutage treten (Craparo, 2017b). Unter Enactments werden hier Situationen der therapeutischen Dyade bezeichnet, in denen beide Beteiligte durch einen dissoziierten Beziehungsmodus, in dem sich beide in einem Nicht-Ich-Zustand befinden, miteinander verbunden sind (Bromberg, 2011, S. 151). Insofern Enactments auf Aktion beruhen (Gabbard, 1995, S. 478), können sie dynamisches Geschehen und unbewusste Elemente aus der Ver137
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gangenheit denk-bar machen. Das Handeln ist eine implizite und affektive Repräsentation des Ereignisses, ein erster Schritt zur sprachlichen Repräsentierung durch beide Beteiligte (Bromberg, 2011; Schore, 2012). Der Therapeut muss laut Bromberg bereit sein, in seiner Gegenübertragung die traumatischen Zustände des Patienten zu erleben, um als emotionaler Regulator und integrativer Mitakteur fungieren zu können. Zeigt er eine ablehnende Haltung oder Angst oder distanziert er sich von diesen dissoziierten Zuständen, unterlässt er nicht nur einen grundlegenden Schritt zur therapeutisch bedeutsamen Veränderung, sondern riskiert auch eine Retraumatisierung des Patienten. Diese Enactments können zum Beispiel eine pathologische Objektbeziehung wiederholen, indem sie die fehlregulierten Affektzustände intensivieren (Levy & Lemma, 2004; Schore, 2012; van der Kolk, 1989). Dies steht in perfektem Einklang mit Ferenczis therapeutischer Haltung, die durch »Mutualität« und Reziprozität seiner Technik charakterisiert ist. Die Haltung des Analytikers als »wohlwollend[er] und hilfsbereit[er]« Zeuge des Leidens seiner Patienten ist laut Ferenczi das Element, das es ihnen ermöglicht, über die bloße »Abreaktion« der traumatischen Vergangenheit hinauszugehen (Ferenczi, 1999 [1985], S. 65). Dank der gemeinsamen Arbeit des psychoanalytischen Paares und der Nutzung der dissoziativen Anteile beider Beteiligter ermöglicht sie die Encodierung einer neuen Erfahrung. Als Wiederholung der Vergangenheit in der Gegenwart der therapeutischen Beziehung ermöglichen Enactments die Wiederverknüpfung emotionaler und affektiver Aspekte von Erinnerungen sowie die Inschrift neuer Beziehungserfahrungen zumindest auf impliziten Ebenen – eine Art »Wiederholung mit einem Unterschied« (Fineman, 1988). Nach Meinung Ferenczis ist es die reale Beteiligung des »wohlwollend[en] und hilfsbereit[en]« Analytikers, die einer Rekonstruktion der fehlenden Verknüpfungen in der Geschichte des Patienten den Weg bahnt. Diese emotionale Teilnahme macht den Körper zu einem fühlenden Körper und stellt Einheit wieder her, wo zuvor Fragmentierung herrschte. »Der Analytiker vermag zum erstenmal mit jenem Urereignis Gefühle zu verknüpfen und damit dem Ereignis das Gefühl eines realen Erlebnisses zu verleihen. Zu gleicher Zeit gelingt es Patientin, viel eindringlicher als bisher, [Einsicht] in die Realität jener intellektuell so oft wiederholten Ereignisse zu gewinnen« (Ferenczi, 1999 [1985], S. 53).
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6 Dissoziation: Von Janet über Ferenczi zu Bromberg
Ein rein intellektueller Zugang zu diesen Phänomenen würde die Kontrolle über den affektiven Selbstanteil noch weiter lockern und die Dissoziation verstärken (Bromberg, 2006). In dieser Phase kann es schwierig werden, zwischen dem Wiedererleben von Ereignissen, so als geschähen sie in der Gegenwart, und dem Durcharbeiten der Vergangenheit zu unterscheiden, um sie unter einem anderen Blickwinkel betrachten zu können. Zudem wird ein Erlebnis, das bislang intrapsychisch war (und als die spezifische Linse diente, durch die der Patient die Realität betrachtet), auf diese Weise interpersonal. Mithin wird neues implizites Beziehungswissen zwischen dem (bewussten) Ich und dem (unbewussten) Nicht-Ich geschaffen (Bromberg, 2011). Innerhalb der nicht-linearen Dynamik des therapeutischen Prozesses ist Sprache ein vereinheitlichendes und synthetisierendes, wenngleich nicht hinreichendes Element. Erfahrung wird durch Worte nicht nur symbolisiert, sondern erhält durch die verschiedenen Kontexte des relationalen Austauschs, der Kommunikation, auch Bedeutung. Anders ausgedrückt: Bedeutung wird durch Sprache nicht nur vermittelt, sondern durch einen relationalen Prozess allererst erzeugt (Boston Change Process Study Group, 2007; 2008; Bromberg, 1998; Levine, Reed & Scarfone 2013; Stern et al., 1998). Ausgehend von Ferenczi und der mutuellen Analyse – die auf Anerkennung statt auf Deutung fokussiert und auf dem analytischen Prozess als gemeinsamer Hervorbringung von Geschichte und Bedeutung beruht – sowie auf der Grundlage der Konzepte Fairbairns, Sullivans, Winnicotts und Balints besteht das fundamentale Charakteristikum dieser Methode darin, die Zusammenführung der in den verschiedenen Selbstzuständen enthaltenen multiplen Realitäten zu ermöglichen (Bromberg, 1998). Sie können sich dank der Präsenz der mannigfaltigen Bewusstseinszustände des Therapeuten – seiner Zeugenschaft – miteinander verbinden. Mit Janet (1889) formuliert: Bewusstsein geht aus der ständigen Spannung zwischen der natürlichen Synthesetendenz des Organismus und einer Realität hervor, die ihn laufend desorganisiert und seiner Dissoziation Vorschub leistet. Eine gute analytische Beziehung ermöglicht es dem Patienten laut Bromberg, seine dissoziative Abwehr in metareflexive Eigenschaften zu transformieren, die die Einbeziehung und Integration von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ermöglichen. Auch wenn keine Therapie imstande ist, das affektive Gedächtnis radikal zu verändern, scheint die 139
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therapeutische Beziehung – das spezifische Klima des für Intersubjektivität charakteristischen Verstehens und der Introspektion – in der Lage zu sein, neue emotionale Erinnerungen, Narrative und Möglichkeiten zu schaffen, die im Laufe der Zeit die automatische Wiederholung dysfunktionaler Verhaltens- sowie emotionaler und kognitiver Schemata hemmen. Die therapeutische Beziehung stellt auch das gesunde Funktionieren, das zuvor durch die Dissoziation verhindert wurde, wieder her. Es gibt eine Form der Erinnerung, die mit Emotion und mit Bedeutung besetzt ist, ohne verbalisiert werden zu können. Viele unserer Patienten werden von impliziten, traumatischen emotionalen Erinnerungen gequält, für die sie keine Worte finden – nicht weil es keine Worte dafür gibt, sondern weil sie noch nicht ausgesprochen wurden. Als Kliniker haben wir die Aufgabe zu lernen, wie wir diese Worte »zum erstenmal« gemeinsam mit unseren Patienten aussprechen können. Gelingen kann dies dank der Struktur, die zuerst Janet und Ferenczi und später Bromberg mit den Fäden gewebt haben, die sie beim frühen Freud fanden.
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Teil II Janets Einfluss auf die moderne Psychotraumatologie
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Überlegungen zu einigen Beiträgen der modernen Psychotraumatologie im Licht von Janets Kritik an Freuds Theorien Giovanni Liotti & Marianna Liotti
In diesem Kapitel vergleichen wir Pierre Janets Sichtweise der dissoziativen Reaktionen auf psychische Traumata mit den Auffassungen, die unter dem Einfluss der psychoanalytischen Theorie der Abwehrmechanismen formuliert wurden, und untersuchen, inwieweit Janets Konzepte mit den Funden moderner psychotraumatologischer Studien übereinstimmen. Wir teilen Russell Meares’ Ansicht, dass sowohl die Psychoanalyse als auch Janets psychologische Analyse häufig mit klinischen Beobachtungen und mit Funden der heutigen Neurowissenschaften im Einklang stehen (Meares, 2012a, S. 27). Deshalb geht es uns hier nicht darum, für eine dieser Theorien und gegen die andere zu argumentieren. Vielmehr möchten wir die Relevanz von Janets Überlegungen für die moderne Psychotraumatologie beleuchten, ohne zu implizieren, dass die psychoanalytischen Konzepte weniger relevant oder relevanter seien. Wir beginnen mit Janets eigener zusammenfassender Darlegung der wesentlichen Aspekte, in denen sich seine Theorie und die Psychoanalyse voneinander unterscheiden, bevor wir unsere Überlegungen zu den divergierenden Interpretationen einiger moderner psychotraumatologischer Studien formulieren.
Wie Janet die wesentlichen Unterschiede zwischen seiner eigenen und Freuds Theorie zusammenfasste In dem Vortrag, den Janet 1913 auf dem XVII. Internationalen Medizinischen Kongress in London hielt, sowie in einem zehn Jahre später veröffentlichten Buch fasste Janet die Hauptunterschiede, die er zwischen seiner eigenen, von ihm als »psychologische Analyse« bezeichneten Theorie und der Psychoanalyse Sigmund Freuds identifizierte, in drei Punkten zusammen: 143 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Giovanni Liotti & Marianna Liotti
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Das Konzept eines eingeengten Bewusstseinsfeldes, einer direkten, passiven Auswirkung der emotionalen Erschütterung durch ein traumatisches Erlebnis, unterscheidet sich von Freuds Konzipierung eines aktiven psychischen Abwehrmechanismus, der inakzeptablen psychischen Inhalt aus dem Bewusstsein verbannt. Janets Verständnis des Unterbewussten (le subconscient) als Ausdruck einer komplexen Hierarchie psychischer Funktionen – deren niedrige Ebene der automatischen Operationen (automatisme psychologique) keinerlei Bewusstsein impliziert, während die höheren Ebenen ihre Krönung im ausgereiften reflexiven Bewusstsein finden – unterscheidet sich deutlich von Freuds Konzept des dynamischen Unbewussten als Produkt der Abwehrmechanismen. Janet postulierte, dass menschliches Verhalten durch eine Vielzahl psychobiologischer Systeme (action tendencies) angetrieben wird, die sowohl aus Evolutionsprozessen als auch aus der individuellen Entwicklung resultieren, und lehnte damit die von ihm sogenannte »Pansexualität« Freuds als unzulässige Verallgemeinerung ab.
Aus dieser Zusammenfassung der Unterschiede zwischen Janets psychologischer Analyse und Freuds Psychoanalyse ergeben sich drei Fragen. Die erste betrifft das Wesen der Reaktion auf ein psychisches Trauma: Handelt es sich um eine passive Verengung des Bewusstseinsfeldes oder um eine aktive Abwehr seitens des Ichs, die sich gegen schmerzhafte traumatische Erinnerungen richtet? Die zweite Frage lautet, welche allgemeine Theorie den eingeschränkten bewussten Zugang zu traumatischen Erinnerungen (und damit zusammenhängenden psychischen Inhalten) besser zu erklären vermag: eine Theorie des Bewusstseins als eines vielschichtigen Prozesses, dessen höhere Operationsebenen durch widrige Erfahrungen beeinträchtigt werden, oder das Konzept eines immensen Reservoirs an unbewussten psychischen Inhalten und Prozessen, die durch die Ich-Abwehr erzeugt wurden? Die dritte Frage betrifft die basalen Motivationen psychischer Prozesse und beobachtbarer Verhaltensweisen (einschließlich jener, die an den Reaktionen auf ein Trauma beteiligt sind): Sind sie als eine Vielzahl von Motivationssystemen mit unterschiedlichen angeborenen Grundlagen zu verstehen oder als zwei antithetische Triebe (Eros und Thanatos)? Ausgehend von diesen Fragen werden wir im Folgenden Forschungsergebnisse im Licht der modernen Psychotraumatologie betrachten, um die andauernde Relevanz von Janets Hypothesen zu illustrieren. 144 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
7 Überlegungen zu einigen Beiträgen der modernen Psychotraumatologie …
Einengung des Bewusstseinsfeldes oder Abwehr psychischen Leidens? Es ist unklar, ob Janet annahm, dass ein vorab existierendes, ererbtes Defizit der höheren geistigen Funktionen eine notwendige Bedingung dafür sei, dass die mit traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen verbundenen starken Emotionen zu einer Einengung des Bewusstseinsfeldes führen, also ein pathologisches Absinken der psychisch-geistigen Funktionen (abaissement du niveau mentale) bewirken. In der Einengung des Bewusstseinsfeldes sah Janet den Ursprung der posttraumatischen Dissoziation, welche die Störungen charakterisierte, die man vor gut einem Jahrhundert als Hysterie bezeichnete. Heute sprechen wir von Borderline-Störungen (Meares, 2012a) oder von somatoformen und dissoziativen Störungen. Janets Arbeit und die mittlerweile verfügbaren Untersuchungen über seine Theorie legen nahe, dass er die posttraumatische Dissoziation mit einer Vielzahl prädisponierender Faktoren in Verbindung brachte (siehe z. B. Ellenberger, 1996 [1974]; Heim & Bühler, 2006; Meares, 2012a; Ortu, 2013; van der Hart & Horst, 1989; van der Hart, Nijenhuis & Steele 2006; van der Kolk & van der Hart, 1989). Janet war überzeugt, die Prädisposition für die Dissoziation auf ein Amalgam aus angeborenen Temperamentseigenschaften (die, wie wir heute wissen, genetisch determiniert sind) und frühen Erfahrungen zurückführen zu können. Beide Faktoren üben auf die Persönlichkeitsentwicklung maßgeblichen Einfluss aus. Dieser Sichtweise entsprechen Erkenntnisse der modernen Forschung, die einen engen Zusammenhang zwischen einer desorganisierten Bindungsbeziehung in der frühen Kindheit – die ebenfalls durch genetische Faktoren und Temperamentseigenschaften beeinflusst wird (Gervai, 2009; Luijk et al., 2011) – und der Dissoziation belegen. Mit Fug und Recht dürfen wir daher sagen: Janets Theorien über die Vulnerabilität für posttraumatische Dissoziationsprozesse antizipierte die zeitgenössische Debatte über die Interdependenz von relationalen und genetischen/temperamentsbezogenen Variablen in der Genese der frühen Bindungsmuster (Gervai, 2009; Luijk et al., 2011) und den Einfluss dieser Muster auf die Entwicklung der höheren psychischen Funktionen, die durch Dissoziationsvorgänge vermutlich Schaden nehmen, zum Beispiel die Mentalisierungsfähigkeit (Enskin et al., 2017; Fonagy & Target, 2006 [2003]). Für diese Hypothese spricht auch Janets Interesse an den Studien amerikanischer Wissenschaftler über die Bedeutung sozialer Faktoren für 145 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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die Persönlichkeitsentwicklung (z. B. Cooley, 1902). Seine Theorie, dass bei Vorliegen der oben erwähnten Vulnerabilität die pathologische Reaktion auf eine psychische Traumatisierung in einem durch intensive Emotionen herbeigeführten Zerfall höherer psychisch-geistiger Funktionen bestehe, unterscheidet sich eindeutig von Freuds Verständnis der Pathologie als Ergebnis einer aktiven Abwehrtätigkeit des Ichs, die überwältigende Emotionen und Vorstellungen aus dem Bewusstsein verbannen soll. Bei der Diskussion seiner ersten klinischen Beobachtungen schrieb Janet hierzu: »Die traumatische Erinnerung stellte sich auf merkwürdige Weise ein: Sie konnte im Wachzustand nicht ausgedrückt werden, sondern tauchte lediglich unter besonderen Umständen, in einem anderen psychischen Zustand, auf […], einer merkwürdigen Veränderung des Bewusstseins, das ich […] als durch Desintegration zustande gekommenes Unterbewusstsein zu beschreiben versucht habe. Diese Dissoziation […] schien mit einem Erschöpfungszustand zusammenzuhängen, dem verschiedene Ursachen und insbesondere Emotionen zugrunde lagen« ( Janet, 1923a, S. 37).
Janet fasst den Unterschied zwischen dieser Sichtweise und Freuds Theorie wie folgt zusammen: »Dr. S. Freud betrachtete als Verdrängung, was ich für eine Einengung des Bewusstseinsfeldes hielt. Vor allem aber verwandelte er klinische Beobachtungen und eine therapeutische Methode mit spezifischen und begrenzten Indikationen in ein kolossales System philosophischer Medizin« (ebd., S. 38). Mit anderen Worten: Janet betrachtete die Dissoziation infolge traumatisierender Erlebnisse und Erinnerungen als eine passive »psychische Erschöpfung«, als pathologische Einengung des Bewusstseinsfeldes (le rétrécissement de la conscience) von Individuen, die durch Temperament sowie frühe widrige Erfahrungen entsprechend prädisponiert sind. Diese Sichtweise unterscheidet sich deutlich von der Überlegung, dass die posttraumatische Dissoziation eine aktive, motivierte psychische Aktivität darstellt, einen »Willensakt«, wie Freud behauptete: »Bei der ersteren dieser Formen gelang es mir wiederholt, zu zeigen, daß die Spaltung des Bewußtseinsinhaltes die Folge eines Willensaktes des Kranken ist, d. h. durch eine Willensanstrengung eingeleitet wird, deren Motiv man angeben kann« (Freud, 1894a, S. 61). Die Theorie, dass die posttraumatische Dissoziation eine Abwehr psychischen Leidens darstelle, also einen motivierten, wenn auch unbewussten 146 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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psychischen Mechanismus, spielte und spielt nicht nur in der psychoanalytischen Literatur, sondern im gesamten Feld der Psychotraumatologie eine wichtige Rolle (siehe z. B. Dell, 2009). Gleichwohl haben auch psychoanalytische Autoren auf der Basis von klinischen Beobachtungen und Forschungsergebnissen diesbezüglich Vorbehalte geäußert, und zwar sowohl indirekt (Lyons-Ruth, 2003) als auch direkt (Howell, 2011, S. 35f.; Meares, 2012a, S. 139–147). Eine wachsende Zahl von Psychoanalytikern hält es für möglich, dass eine wichtige Facette der Reaktion auf traumatisierende Erlebnisse nicht aktiv defensiver, sondern automatischer und physiologischer Natur ist, wie Janet annahm. Sie postulieren die Existenz eines anderen, eigenständigen Aspekts neben dem defensiven, auch wenn beide an dissoziativen Prozessen beteiligt sein können (siehe z. B. Craparo, 2013; 2017a; 2017b). Die neuerliche Anerkennung von Janets Dissoziationstheorie findet Ausdruck in den häufig zitierten Worten des Psychoanalytikers Bromberg: »Wollte man die moderne psychoanalytische Literatur als einen Schauerroman in Fortsetzungen lesen, könnte man sich unschwer den ruhelosen Geist Pierre Janets vorstellen, der von Sigmund Freud vor 100 Jahren aus der Burg verbannt wurde und seine Nachkommen heute als Spuk verfolgt« (Bromberg, 1998, S. 189).
Außerhalb des psychoanalytischen Feldes berufen sich theoretische und klinische Schulen in wachsender Zahl seltener auf Freud als vielmehr auf Janet (Liotti & Farina, 2011; Ogden, Minton & Pain, 2006; Ogden & Fisher, 2015; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Auch die Ergebnisse der psychologischen und neurowissenschaftlichen Studien können Janets These stützen, dass die Einengung des Bewusstseinsfeldes in Reaktion auf ein psychisches Trauma nicht in erster Linie eine Ich-Abwehr oder die Folge eines defensiven »Willensaktes«, wie ihn Freud beschrieben hat, darstellt. Ein Beispiel dafür berichten Horowitz und Telch (2007), deren Probanden in einem dissoziativen, durch audiophone Stimulation induzierten Zustand in Reaktion auf einen standardisierten Kältetest stärkeren Schmerz zu Protokoll gaben als die Angehörigen der Kontrollgruppe, deren Bewusstseinszustand nicht verändert worden war. Veränderte Bewusstseinszustände ähnlich der von Janet beobachteten Einengung des Bewusstseinsfeldes erfüllen bei Schmerzerleben also nicht immer eine Selbstschutzfunktion. Wenn die posttraumatische Dissoziation 147 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Giovanni Liotti & Marianna Liotti
mit einem veränderten Bewusstseinszustand einhergeht, muss dieser nicht zwangsläufig der Schmerzabwehr dienen. Andere experimentelle Daten zeigen jedoch tatsächlich einen Zusammenhang zwischen veränderten Bewusstseinszuständen und der Analgesie. Die Polyvagaltheorie (Porges, 2007; 2011) kann empirische Belege der Annahme, dass veränderte Bewusstseinszustände die Intensität wahrgenommenen Schmerzes reduzieren können, mit Forschungsergebnissen in Einklang bringen, die auf das Gegenteil verweisen. Demnach wechselt das für die Verarbeitung äußerer Bedrohungen und traumatischer Erfahrungen zuständige Hirnsystem zwischen einer autonomen Hyperaktivierung (vermittelt durch das orthosympathische System), die – wie in dem von Horowitz und Telch (2007) durchgeführten Experiment – Schmerz und Furcht verstärken kann, und einer autonomen Hypoaktivierung (ein durch den Vagusnerv vermitteltes niedriges Arousal), die mit Betäubung und Schmerzunempfindlichkeit einhergeht (Porges, 2011). Dieses psychobiologische System, das die Frequenz Erstarren, Kampf, Flucht, Ohnmacht determiniert, ist Teil des Hirnstamms (Panksepp & Biven, 2012) und bedarf keiner bewussten Entscheidung (keines »Willensaktes«, um Freuds Ausdruck zu benutzen), um Schmerzwahrnehmung und Bewusstsein zu beeinflussen. Daten aus Bildgebungsstudien scheinen mit Janets Überlegung, dass in Reaktion auf die Aktivierung traumatischer Erinnerungen ein direktes und passives Absinken des psychischen Funktionsniveaus erfolgt – und nicht etwa eine aktive intrapsychische Abwehr – zumindest vereinbar zu sein (für eine Übersieht dieser Untersuchungen siehe Liotti & Farina, 2013). Diese Studien belegen eine reduzierte metabolische Aktivität in jenen neokortikalen Arealen, die mit höheren bewussten Funktionen assoziiert und daher vermutlich auch an jeder »Willensanstrengung« des Ichs (Freud, 1894a, S. 61) beteilig sind. Die posttraumatische Reduzierung der metabolischen Aktivität in neokortikalen Regionen scheint Janets Konzept einer Verengung des Bewusstseinsfeldes (eines Absinkens des psychisch-geistigen Funktionsniveaus) unmittelbarer zu spiegeln als Freuds Theorie eines vorsätzlichen, aber unbewussten Willensaktes (Liotti & Farina, 2013). Es ist durchaus unwahrscheinlich, dass eine Willensanstrengung mit einer reduzierten metabolischen Aktivität in ebenjenen Regionen des Kortex assoziiert sein sollte, deren Aktivität bei willkürlichen Vorgängen man erwarten würde. Eine intuitive Bestätigung von Janets Theorie liefern auch neurowissen148 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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schaftliche Studien über die Auswirkung einer chronischen Traumatisierung auf das Dendritenwachstum im präfrontalen Kortex (PFK). Mehrere Studien über Ratten wiesen nach, dass eine kumulative Traumatisierung zum Verlust der Dendriten im PFK führt (Ansell et al., 2012). Chronischer Stress verstärkt hingegen das Dendritenwachstum in der Amygdala und akzentuiert damit die Unausgewogenheit zwischen amygdaler und PFK-Aktivität. Ein Verlust an grauer Substanz im PFK infolge chronischer Traumatisierung wurde auch bei Menschen beobachtet. Mittels struktureller Bildgebung konnte gezeigt werden, dass die Anzahl an widrigen Erfahrungen, denen ein Proband ausgesetzt war, mit einem geringeren Volumen der grauen Substanz im PFK korreliert. Die Verfasser eines Forschungsberichts über all diese replizierten Studien gelangten zu dem Schluss, dass die Exposition an kumulativen traumatischen Stress die Exekutivfunktionen des PFK deutlich beeinträchtigt und gleichzeitig die emotionalen Reaktionen der Amygdala verstärkt (Ansell et al., 2012; Arnsten et al., 2015). Dieses Resümee bestätigt eher Janets Dissoziationstheorie als Freuds Hypothese, dass die Spaltung das Resultat eines Willensaktes sei, denn Entscheidung und Willensanstrengung setzen effiziente exekutive Funktionen voraus. Auch Studien über die bioelektrische Aktivität des Gehirns in pathologischen, mit posttraumatischer Dissoziation assoziierten psychischen Zuständen sprechen tendenziell für Janets Dissoziationstheorie. Die Analyse von ereigniskorrelierten Potenzialen (EKP) bei Probanden mit posttraumatischen Syndromen wies ein Defizit in der Synthese zweier Hauptkomponenten der P300-Welle nach. Diese Synthese repräsentiert einen Aspekt der Aufmerksamkeitsfunktionen. Man könnte sie als Manifestation einer Koordinierung zwischen Hirnarealen, integrierendem Stimulus und Reaktion betrachten (Meares, 2012a, S. 58). Dank dieser Synthese zeigt sich P300 gewöhnlich als monophasische Welle. Bei posttraumatischen Syndromen hingegen bleibt sie in ihre zwei Hauptkomponenten, P3a und P3b gespalten, wobei P3a vorwiegend durch Aktivität in den präfrontalen Arealen, P3b vorwiegend durch parietale Aktivität erzeugt wird und beide Wellen unterschiedliche Peaks aufweisen. Es sieht demnach so aus, als seien posttraumatische Syndrome durch eine reduzierte Koordination zwischen der Aktivität von Hirnregionen charakterisiert, die normalerweise zusammen funktionieren – eine Interpretation, die Janets Überlegung bestätigt, dass sich die Einengung des Bewusstseinsfeldes in Reaktion auf traumatische Erlebnisse und Erinnerungen als ein Scheitern der psychischen Synthese der personalen Identität (synthèse personelle; Janet, 1889; 1907b) 149 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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manifestiert. Eine andere Studie über die bioelektrische Hirnaktivität, die statt evozierter Potenziale die EEG-Kohärenz untersuchte, wies bei komplexer posttraumatischer Belastungsstörung ein Defizit in der kortikalen Konnektivität nach (Farina et al., 2013), das eine Einengung des Bewusstseinsfeldes widerspiegeln könnte.
Unterschiedliche Hierarchieebenen der psychisch-geistigen Aktivität oder ein durch die Ich-Abwehr erzeugtes Unbewusstes? Janets zweite Hauptkritik an Freuds Theorie betrifft die Beziehung zwischen bewussten und nicht-bewussten psychischen Prozessen und Inhalten. In der Sprache der modernen Neurowissenschaften formuliert, könnte man sagen, dass Freud auf Top-down- und Janet auf Bottom-up-Prozesse des Gehirns fokussiert. Diese beiden Prozesse konstituieren die rekursive Interaktion zwischen niedrigen und höheren Hirnfunktionen. In seinen Bemühungen, die Genese der posttraumatischen Dissoziation zu verstehen, konzipierte Janet einen Bottom-up-Mechanismus, der auf den niedrigen Geist-Gehirn-Ebenen entspringt und zu den höheren projiziert (starke Emotionen, die die Funktion des Bewusstseins beeinträchtigen). Freuds Theorie der Entstehung des dynamischen Unbewussten fokussiert jedoch auf psychische Aktivitäten (die Abwehrmechanismen des Ichs), die in entgegengesetzte Richtung, nämlich von den höheren zu den niedrigeren Ebenen, verlaufen (Liotti & Farina, 2013). Laut Freud wird die defensive Ausschließung verstörender Emotionen und anderer psychischer Elemente aus dem Bewusstsein durch höhere mentale Funktionen ermöglicht, die mit Ich-Mechanismen zusammenhängen. Janet wiederum war überzeugt, dass die durch Willens- und Entscheidungsfähigkeit charakterisierten höheren Ebenen des menschlichen Bewusstseins (d. h. die nicht-automatische Aktivität) die Spitze eines Gehirn-Geist-Systems bilden, dessen niedrigere Ebenen im Wesentlichen automatisch funktionieren (psychischer Automatismus; Janet, 1898). Das volle Bewusstsein setzt eine psychische Spannung (tension psychologique; Janet, 1920) höheren Grades voraus, die bei sehr starker Aktivierung der automatischen, niedrigen Ebenen des Geist-Hirn-Systems kollabiert. Der so entstehende psychisch-geistige Zustand ist bar jeden reflexiven Gewahrseins, das heißt, er ist unbewusst und geht mit der Manifestation des psy150 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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chischen Automatismus einher, der sowohl Träume als auch dissoziative Zustände im Wachsein – einschließlich posttraumatischer Dissoziationssymptome – charakterisiert. Janet kritisierte Freuds Theorie vorwiegend auf der Basis dieser Überlegungen. Er betrachtete die Theorie als eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung der klinischen Beobachtungen über unterbewusste Phänomene, die er selbst auf traumatische Erinnerungen und den anschließenden Zerfall oder die Dissoziation des Bewusstseins beschränkte. Freuds Verallgemeinerung lief laut Janet auf ein »kolossales System philosophischer Medizin« ( Janet, 1923a, S. 38) hinaus, in dem praktisch sämtliche psychischen Prozesse, selbst diejenigen, die keine Verbindung mit traumatischen Erinnerungen aufwiesen, auf die Abwehrmechanismen des Ichs zurückgeführt werden. Mithin hielt Freud es nicht für möglich, dass in solchen Prozessen psychische Automatismen Ausdruck finden, die gewöhnlich in die Funktionen eines unveränderten Bewusstseins eingebettet sind und verborgen bleiben. Janet (1907b) bezeichnete solche Funktionen als synthèse personelle (personale Synthese, entspricht der Selbstbewusstheit), als fonction du réel (Realitätsfunktion, starke Ähnlichkeit mit dem modernen Konzept des Arbeitsgedächtnisses) und als présentification (Fähigkeit, zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen Phantasie und Realität zu unterscheiden). Auf die Gefahr einer allzu vereinfachenden Zusammenfassung hin könnten wir sagen, dass die Bewusstseinsfunktionen laut Janets Theorie in einem hierarchischen System organisiert sind, in dem Realitätsfunktion und présentification die höchsten Ebenen bilden, die personale Synthese die mittlere Ebene konstituiert und der gesamte Bereich der unterbewussten Automatismen die niedrige Ebene. Ein hoher Grad an psychischer Spannung auf den niedrigen Ebenen, verursacht durch die intensiven Emotionen traumatischer Erinnerungen, lässt die psychische Spannung auf den höheren Ebenen absinken. Das Ergebnis ist die Manifestation psychischer Automatismen im Kontext eines veränderten Bewusstseinszustands. Diese Zusammenfassung illustriert, dass Janets Theorie der Genese posttraumatischer Symptome vorrangig auf Bottom-up-Prozesse abhebt. Freud konzentrierte sich hingegen auf die Ich-Funktionen (höhere psychischgeistige Prozesse), um die Verbannung von Trieben und Emotionen aus dem Bewusstsein zu erklären, und auf die Erzeugung des dynamischen Unbewussten durch Verdrängung. Damit schrieb Freud den Top-down-Prozessen eine primäre Bedeutung für die Entstehung pathologischer Symptome zu, und zwar sowohl solcher, die mit traumatischen Erinnerungen 151 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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zusammenhängen, als auch solcher, die mit inneren Konflikten zwischen Es und Über-Ich einhergehen. Wir haben die neurowissenschaftlichen Studien erläutert (Ansell et al., 2012; Arnsten et al., 2015), die die Überlegung bestätigen, dass eine kumulative Traumatisierung die Aktivität in niedrigen Hirnregionen (z. B. in der Amygdala) intensiviert, die höheren Funktionen des präfrontalen Kortex aber beeinträchtigt. Die Ergebnisse dieser Studien stehen mit den Bottomup-Aspekten von Janets Theorie der Genese posttraumatischer Dissoziation im Einklang. Im Folgenden untersuchen wir detaillierter, wie die Polyvagaltheorie den Bottom-up-Einfluss des Traumas erklärt (Porges, 2011). Der Polyvagaltheorie zufolge werden die Reaktionen des Menschen auf traumatisierende Ereignisse von einem vorwiegend im Hirnstamm lokalisierten Überlebensmechanismus kontrolliert, den alle Wirbeltierarten gemeinsam haben. Dieses System operiert über die Strukturen und Vernetzungen des autonomen Nervensystems, das heißt des als »retikuläres Aktivierungssystem« bezeichneten neuralen Netzwerks, das die Aktivierung des sympathischen Systems und den Nukleus des Vagusnervs (parasympathisches System) kontrolliert. Der Nukleus des Vagusnervs besteht aus drei Teilen (Nucleus ventralis, Nucleus dorsalis und Nucleus ambiguus), die bei Exposition an Umweltstressoren jeweils unterschiedliche Funktionen erfüllen – daher der Betriff »Polyvagal«. Während eines traumatisierenden Erlebnisses und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch während des automatischen Abrufs der Erinnerung an ein Trauma übt das dem Überleben dienende Abwehrsystem einen Bottom-up-Einfluss auf die höheren Hirnfunktionen aus, der sehr viel schneller und intensiver wirkt als jeder Top-down-Einfluss, den der Frontalkortex auf den Hirnstamm ausüben könnte. Die Bottom-up-Beeinflussung des Neokortex durch das Überlebenssystem könnte zur Erklärung der beeinträchtigten kortikalen Funktionen während des Abrufs traumatischer Erinnerungen beitragen, zur Reduzierung des Dendritenwachstums im präfrontalen Kortex infolge kumulativer Traumatisierung und zu der oben erläuterten defizitären kortikalen Konnektivität. In der klinischen Praxis könnte eine Berücksichtigung dieser Bottomup-Einflüsse auf die höheren psychischen Funktionen die starken emotionalen Reaktionen erklären, die in Gesprächen mit Trauma-Überlebenden das Wiederauftauchen traumatischer Erinnerungen begleiten. Man kann diese Reaktionen als Manifestationen der gescheiterten Emotionsregulierung verstehen, die auf die Bottom-up-Beeinflussung des präfrontalen 152 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
7 Überlegungen zu einigen Beiträgen der modernen Psychotraumatologie …
Kortex zurückzuführen ist. Die Aktivierung des Überlebenssystems könnte auch die Dissoziationssymptome erklären, die für Überlebende chronischer Kindheitstraumata so typisch sind – ohne jede Bezugnahme auf eine Auffassung der Dissoziation als einer gegen psychischen Schmerz gerichteten (Top-down-)Abwehr des Ichs. Dissoziationserfahrungen und -symptome könnten also Ausdruck von traumabedingten Dysfunktionen des Bewusstseins sein und dem Absinken des psychischen Niveaus (abaissement du niveau mentale) ähneln, das ursprünglich von Janet postuliert wurde.
Multiplizität psychobiologischer Systeme oder Konflikt zwischen Eros und Thanatos? Janet (1926b) war der Ansicht, dass die motivationale Dynamik der menschlichen Psyche nicht auf einen einzelnen Trieb (Libido, Eros) zurückzuführen sei oder auf zwei antithetische Triebe (Eros und Thanatos), sondern aus einer Vielzahl von Handlungstendenzen resultiere. Festzuhalten ist, dass jede Aktionstendenz nicht nur beobachtbare Verhaltensweisen, sondern auch Affekte und Gedanken reguliert (zu Janets Theorie der Aktion siehe van der Hart, Nijenhuis & Steele 2006). In Übereinstimmung mit Darwins Theorie vertrat Janet die These, dass evolutionäre Zwänge multiple Aktionstendenzen selektierten, um die adaptive Bewältigung unterschiedlicher Umweltherausforderungen zu ermöglichen. Jede Aktionstendenz ist auf ein spezifisches Ziel gerichtet und findet Ausdruck in einer Abfolge von Phasen (Latenz, Vorbereitung, Aktivierung, Durchführung und Beendigung). Dieser geordneten Sequenz unterschiedlicher Phasen wird das von Freud formulierte energetische Konzept der Triebabfuhr nicht gerecht. Sie stellt vielmehr ein organisiertes System dar (van der Hart, Nijenhuis & Steele 2006). Janets Konzept des Aktionssystems ähnelt dem von Bowlby (1969) formulierten Konzept des Verhaltenskontrollsystems insofern, als Letzteres keinen Triebabfuhrmechanismus impliziert, sondern ein nach kybernetischen Prinzipien zielkorrigiertes System beschreibt. Das Konzept des Aktionssystems ist auch mit den von Lichtenberg (1989) beschriebenen Motivationssystemen vereinbar. Im Großen und Ganzen repräsentieren die modernen Beiträge zur Motivationsforschung eine multimotivationale Perspektive und sind daher mit Janets Theorie der Multiplizität von Ak153 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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tionssystemen besser vereinbar als mit Freuds Theorie zweier antithetischer Triebe (Eros und Thanatos) (vgl. Bowlby, 1969; Cortina & Liotti, 2014; Gilbert, 1989; Lichtenberg, 1989; Liotti, 2016; Panksepp & Biven, 2012). Diesen Studien zufolge sind Motivationsprozesse Ausdruck psychobiologischer Systeme, die psychisch-geistige Aktivitäten und beobachtbares Verhalten im Dienst eines spezifischen, evolutionär wertvollen Zieles organisieren und kontrollieren. Anders ausgedrückt: Diese Systeme bilden Adaptionen, die Wirbeltiere im Einklang mit Darwin’schen Prinzipien im Laufe der zum Homo sapiens führenden Evolution ausgebildet haben. Auf dem Gebiet der zeitgenössischen Psychotraumatologie hat die evolutionär orientierte Erforschung der Motivationssysteme die Untersuchung der desorganisierten frühen Bindungsbeziehung als Vorläufer von Dissoziationsprozessen und als Risikofaktor für posttraumatische Dissoziation beeinflusst (Liotti, 1992; 2004; 2009; 2014b; 2016; Liotti & Farina, 2011; Lyons-Ruth, 2003; Schore, 2009). Langzeit- und prospektive Studien sowie die übereinstimmenden Resultate zahlreicher Querschnittsstudien belegen zweifelsfrei den Zusammenhang zwischen einer desorganisierten frühen Bindung sowohl mit Dissoziationstendenzen im späteren Leben als auch mit einem erhöhten Risiko für posttraumatische Dissoziation (Cassidy & Mohr, 2001; Dozier, Stovall-McClough & Albus 2008; Dutra et al., 2009; Lyons-Ruth & Jacobvitz, 2008; Ogawa et al., 1997). Auch die Vorläufer der desorganisierten frühen Bindungsbeziehung wurden in zahlreichen kontrollierten Studien erforscht (siehe Lyons-Ruth & Jacobvitz, 2008), deren Resultate übereinstimmend auf zwei bedeutende Risikofaktoren verweisen: 1. die häufige Unterbrechung der Versorgung des Kindes durch Angst und/oder Aggression der Bindungsperson und 2. die Desorganisation des Fürsorgesystems der Bindungsperson, die Ausdruck in deren Hilflosigkeit findet (Solomon & George, 2011). Genetische und temperamentsbezogene Faktoren spielen eine modulierende, aber keine kausale Rolle für die Desorganisation des Bindungssystems im Kleinkindalter (Gervai, 2009). In der multimotivationalen evolutionären Perspektive lässt sich die desorganisierte frühe Bindung als Ergebnis der gleichzeitigen Aktivierung zweier gegenläufiger, angeborener Motivationssysteme beschreiben, nämlich des Bindungssystems und des Überlebens-Abwehr-Systems (KampfFlucht-System). Das Bindungssystem motiviert das Kind, die schützende Nähe seiner Bezugsperson zu suchen, um Hilfe und Trost zu finden. Das Lebensrettungssystem wiederum veranlasst es, vor der Bindungsperson zu fliehen und/oder zu versuchen, sie zu bekämpfen (Liotti, 2014b; 2016; 154 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Liotti & Farina, 2011). Die gleichzeitige Aktivierung der beiden gegenläufigen Systeme erklärt das paradoxe Verhalten des desorganisiert gebundenen Kleinkindes (z. B. sein Erstarren, ein für das Kampf-Flucht-System typisches Verhalten, während der durch das Bindungssystem motivierten Annäherung an die Bindungsperson) und spiegelt sich in der Erfahrung wider, die als Furcht ohne Auflösung [fear without solution] bezeichnet wurde (Cassidy & Mohr, 2001). Man könnte die für die desorganisierte Bindung charakteristische konfligierende gleichzeitige Aktivierung zweier Motivationssysteme gemäß der klassischen psychoanalytischen Theorie als einen Konflikt zwischen Lebenstrieb (Eros) und Todestrieb (Thanatos) beschreiben – Ersterer manifestiert sich in der Suche nach Nähe zur Mutter, Letzterer in der gegen die Mutter gerichteten destruktiven Aggression. Diese psychoanalytische Deutung der Desorganisation der frühen Bindung kann aber die Ergebnisse kontrollierter Studien über die durch die desorganisierte frühe Bindung gebahnten Entwicklungswege nicht gleichermaßen elegant erklären wie die multimotivationale Theorie. Zwischen dem dritten und dem sechsten Lebensjahr entwickeln die Kinder, deren Bindung in den ersten 18 Monaten ihres Lebens desorganisiert war, charakteristische Kontrollstrategien in der Interaktion mit der Bindungsperson (Lyons-Ruth & Jacobvitz, 2008). Die erste dieser Strategien wird als kontrollierend-fürsorglich bezeichnet. Sie ist charakterisiert durch die Umkehrung der normalen Richtung der Suche nach Fürsorge seitens des Kindes und des Fürsorgeverhaltens seiner Bindungsperson. Kinder, die diese Strategie einsetzen, verhalten sich, als seien sie in höherem Maß motiviert, die Bindungsperson zu umsorgen, als deren Fürsorge zu suchen. Die zweite Beziehungsstrategie der Kinder mit desorganisierter früher Bindung wird als kontrollierend-bestrafend bezeichnet und ist charakterisiert durch Verhaltensweisen, die auf die Kontrolle der Bezugsperson in Situationen abzielen, in denen man normalerweise ein Sicherheit und Trost suchendes Bindungsverhalten erwarten würde. Der psychoanalytischen Theorie der beiden Grundtriebe entsprechend könnte man die kontrollierend-fürsorgliche Strategie als Lösung des Konflikts zwischen Eros und Thanatos durch überwiegende Abfuhr des libidinösen Triebs interpretieren und die kontrollierend-bestrafende Strategie als überwiegende Abfuhr des Destruktionstriebs zum Zweck der Konfliktlösung verstehen. Diese klassische psychoanalytische Interpretation erklärt allerdings nicht, weshalb die Richtung von Fürsorgeverhalten und Suche nach Sicherheit und Fürsorge in der kontrollierend-fürsorglichen Strategie 155 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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umgekehrt wird. Warum nimmt Eros nicht einfach die Form verstärkter Sicherheitssuche an, statt sich als paradoxer Versuch des Kindes auszudrücken, für seine Bindungsperson zu sorgen? Eine multimotivationale Erklärung der kontrollierenden Strategien, die Janets Konzept der multiplen Aktionssysteme nähersteht, wirft diese Schwierigkeit gar nicht erst auf. Den multimotivationalen Theorien zufolge gibt es gute Gründe für den Wechsel von einer auf der desorganisierten Bindung beruhenden Motivation zu einem anderen angeborenen Motivationssystem, wann immer der interpersonale Kontext dies zulässt. Das subjektive Erleben der desorganisierten Bindung und der damit einhergehenden unauflösbaren Angst und Fragmentierung des Selbst (Dissoziation) ist ungemein schmerzvoll, sodass es nach Möglichkeit vermieden wird. Im Falle der kontrollierendfürsorglichen Strategie wird daher die Motivation der Suche nach Fürsorge (Bindung) durch die Motivation der Fürsorglichkeit ersetzt, bei kontrollierend-bestrafender Strategie hingegen durch das Streben nach Dominanz.1 Diese Erklärung der Genese der kontrollierend-bestrafenden Strategie im vermeintlich widersprüchlichen Muster der desorganisierten Bindung kommt der Beobachtung jener Art aggressiven Verhaltens näher als eine Erklärung, die sich auf destruktive Aggression (Thanatos) stützt. Die kontrollierend-bestrafende Strategie enthält die relativ gutartige, in der Ethologie als »ritualisiert« bezeichnete Aggression, die für das Motivationssystem charakteristisch ist, das dem Dominanzstreben zugrunde liegt, und nicht die destruktive Aggression, die das Kampf-Flucht-Motivationssystem charakterisiert und eher an den Todestrieb erinnert.
Schluss Janets Kritik an Freuds Theorie ist nicht nur mit den Ergebnissen einiger moderner psychotraumatologischer Studien vereinbar, sondern übt auch Einfluss auf die Entwicklung neuer Behandlungsstrategien in der Psychotherapie von Traumaüberlebenden aus. Ein Beispiel ist in der klinischen Praxis als »Stabilisierung« bekannt. Darunter versteht man die Vorbereitung des Feldes auf die Erforschung traumatischer Erinnerungen 1 Zu den von der evolutionären Theorie identifizierten multimotivationalen Systemen – Bindung, Fürsorge, Sexualität, Dominanzstreben, Kooperation – siehe Cortina & Liotti (2014).
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durch psychologische Interventionen, die darauf zielen, die Einengung des Bewusstseinsfeldes des Patienten unmittelbar (d. h. unter Verzicht auf vorausgehende Abwehrdeutungen) zu bearbeiten. So empfiehlt das sensomotorische Verfahren zur Psychotherapie traumabedingter Störungen, die Einengung des Bewusstseinsfeldes von Beginn der Behandlung an zu bearbeiten. Es führt diese Einengung auf die Instabilität des autonomen Systems zurück, die unmittelbar durch traumatische Erinnerungen verursacht wird, also keine Nebenwirkung der vom Ich aktivierten Abwehr psychischen Schmerzes darstellt. Sensomotorische Interventionen fokussieren in erster Linie auf das verstörende Körpererleben der Patienten und nicht auf die mit dem Trauma zusammenhängenden Emotionen und Gedanken. Letztere werden erst bearbeitet, nachdem eine gewisse autonome Stabilisierung hergestellt werden konnte. Mithin scheinen sensomotorische Interventionen über Bottom-up-Prozesse der Hirn- und psychischen Aktivität zu operieren (vgl. 13. Kapitel; Ogden, Minton & Pain 2006; Ogden & Fisher, 2015). Die Nützlichkeit einer die therapeutische Bearbeitung traumatischer Erinnerungen vorbereitenden Stabilisierung ist durch empirische Studien belegt (Cloitre et al., 2012). Umstritten ist nach wie vor, ob eine solche Stabilisierung für die Mehrheit chronisch und schwer traumatisierter Patienten Priorität haben sollte (Cloitre, 2016; de Jongh et al., 2016). Es ist ein bedeutendes Verdienst dieser Theoretiker und Kliniker (die zum Teil auch in diesem Buch vertreten sind), Janets Theorie nach fast einem Jahrhundert aus dem Vergessen befreit zu haben und der Lebendigkeit von Theorien größere Bedeutung beizumessen als ihren persönlichen Überzeugungen – ob diese Freuds Beiträgen nahestehen oder nicht.
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Das holistische Projekt Pierre Janets Teil I: Desintegration oder désagrégation Russell Meares & Cécile Barral
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts profilierten sich zwei Männer als führende Persönlichkeiten innerhalb eines speziellen Sektors der kulturellen Revolution, die damals stattfand. Beide Männer malten eine menschliche Erfahrungswelt, die auf beunruhigende Weise anders war als das, was das bloße Auge sah. Obgleich die Ideen, die dem Werk dieser beiden Männer zugrunde lagen, einander in gewissem Umfang ergänzten, bildeten sie doch auch Gegensätze. Einer der beiden Maler arbeitete an einer holistischen oder synthetischen Sicht der Realität, an Harmonie, der andere hingegen ging analytisch vor und zerlegte die Welt der äußeren Erscheinung in ihre Bestandteile. Seine Arbeiten waren durchdrungen von Gewalt und primitiver Sexualität – Themen, die für den anderen zweitrangig waren. Die Persönlichkeiten der beiden Männer waren ebenso gegensätzlich wie ihr Blick auf die Realität. Derjenige, der nach Kohärenz strebte, gab sich eine reservierte, höfliche, scheinbar konventionelle Fassade. Seine Kritiker nannten ihn einen »Bourgeois«. Der andere gab gern den Ton an, und er war derjenige, den das fortschreitende Jahrhundert als die Personifizierung dieser neuen Sicht auf den Menschen betrachtete, bis seine Dominanz schließlich schwand und die Bedeutsamkeit des anderen Mannes erneut Anerkennung und Würdigung erfuhr. Trotz ihrer Unterschiede galten diese beiden Männer als zentrale Gestalten in der großen Bewegung jener Zeit, die eine radikale Veränderung des abendländischen Bewusstseins widerzuspiegeln schien. Als ihre Werke zusammen mit denen weiterer Kollegen in London erstmals ausgestellt wurden, verkündete Virginia Woolf (1950, S. 91) in der für sie typischen Manier, der Charakter des Menschen habe sich im oder um den Dezember 1910 verändert. Natürlich handelte es sich bei den beiden Männern um Henri Matisse und Pablo Picasso. Es ist verblüffend zu sehen, wie sehr sich in ihrer Ri159 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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valität das Konkurrenzverhältnis von Pierre Janet und Sigmund Freud widerspiegelte, deren synthetisierender bzw. analysierender Ansatz komplementäre und gleichzeitig gegensätzliche Bilder des psychischen Lebens hervorbrachte. Janets und Freuds Beobachtungen und Theorien haben die Vorstellung vom menschlichen Bewusstsein auf eine Weise verändert, die Parallelen zu der für die neue Kunst charakteristischen Sicht der menschlichen Realität aufwies. Ohne es zu wissen, sprachen sie als Stimmen eines gewandelten europäischen Zeitgeistes [im Original deutsch]. In ihrer Plötzlichkeit und Wirkung kam diese Veränderung einem Erdbeben gleich. Dass sie sich nicht exakt datieren lässt, wie Woolf es halb im Scherz behauptete, versteht sich von selbst, doch sie zeigte sich am deutlichsten in den Jahren 1905 bis 1913. Zu Beginn dieses Zeitraums, 1905, veröffentlichte Einstein seine spezielle Relativitätstheorie. Alte Unterscheidungen zwischen Raum und Zeit, Energie und Materie erschienen nun zweifelhaft. Die wissenschaftlichen Implikationen waren faszinierend und unheilschwanger zugleich. Kandinsky, der offenbar über eine außerordentlich geschärfte Sensibilität verfügte, beschrieb den tiefen Schock, der ihn überkam, als er, ebenfalls in diesen Jahren, zum ersten Mal von Rutherfords Theorie hörte, dass das Atom zerfallen könne. Er war erschüttert und der Panik nahe, weil er den Eindruck hatte, als werde der Realitätsvorstellung komplett der Boden entzogen – plötzlich schien nichts mehr stabil zu sein. Die neue Kunst verlieh dieser Stimmung Ausdruck und verstärkte sie. 1905 wurden die Bilder der Gruppe, als deren führender Kopf Matisse galt, ausgestellt. Die Öffentlichkeit reagierte empört. Ein Kritiker bezeichnete die Maler als »les fauves«, als wilde Tiere. 1907 malte Picasso seine Vision »Les Demoiselles d’Avignon«, ein Bild, das in seinem Werk von zentraler Bedeutung ist. Die Augen und Gesichter der Prostituierten blicken furchterregend und verängstigt zugleich, Antlitze eines Traumas – ein Thema, dem sich auch Janet und Freud widmeten, deren Theorien in ebendieser Zeit internationale Anerkennung fanden. Janet wurde 1906 zu Vorlesungen an der Harvard University eingeladen, Freud 1909 zu Vorlesungen an der Clark University in Massachusetts. Die Überlegung, dass wir dem tiefen Einfluss von Kräften unterliegen, deren wir nicht gewahr sind, weil sie »unbewusst« sind, hatte die Welt aufgerüttelt. Wenn man von Janet spricht, kommt man schwerlich umhin, Freud zu erwähnen, da beide als Begründer der modernen psychodynamischen Theorie so häufig in einem Atemzug genannt werden (siehe z. B. Jung, 1948, S. 477; Ellenberger, 1996 [1974]). Unser Thema aber ist Janet, und 160 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
8 Das holistische Projekt Pierre Janets · Teil I
deshalb können wir auf Freuds Werk hier nur am Rande eingehen. Präziser ausgedrückt: Es geht um die Relevanz von Janets Überlegungen für das Verständnis der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und ihre Behandlung. Wir gehen von der Annahme aus, dass sich die BPS infolge einer traumabedingten Desintegration entwickelt (Meares, 2012a). Die Behandlung folgt dem von Robert Hobson konzipierten »Conversational Model« (Hobson, 1985; Meares, 2004; Meares et al., 2012). Der erste Teil unseres Beitrags, verfasst von R. M., ist der Desintegration gewidmet, die Janet mit seinem Konzept der désagrégation beschrieben hat, der zweite, verfasst von C. B., behandelt das, was zerfällt, nämlich das kontinuierliche Selbsterleben, das Janet als eine dynamische, oszillierende Hierarchie konzipiert hat, in der sich das personale Sein entwickelt (9. Kapitel).
Janets Projekt Janet und Freud erreichten den Gipfel ihres Ruhms auf ganz unterschiedlichen Wegen. Freud hatte den Pfad der Neurologie eingeschlagen, während Janet ursprünglich Philosoph war, bevor er Psychiater und Psychologe wurde, weil er die Natur des menschlichen Bewusstseins, das Gefühl des normalen Existierens, das wir als »Selbst« bezeichnen, besser verstehen wollte. Wir haben unsere kurze Zusammenfassung mit einer visuellen Analogie eingeleitet, um ein Bild von dem, was Janet im Gegensatz zu Freud im Sinn hatte, zu vermitteln, denn mitunter ist solch ein Bild klarer als das, was Worte sagen können. Der Gegensatz zwischen den Systemen Janets und Freuds ähnelt zum Beispiel dem Gegensatz zwischen Matisse’ »Harmonie in Rot« (La Desserte), gemalt 1908, und Picassos erstem kubistischen Gemälde, das ein Jahr später entstand und in dem eine Theorie die Erfahrungsdaten organisiert und beherrscht. Bei aller Ähnlichkeit zwischen den beiden rivalisierenden Paaren gibt es aber dennoch Unterschiede. Die Maler entwickelten eine vorsichtige Freundschaft, führten einen kreativen Dialog und erkannten die Komplementarität ihres Schaffens an (Spurling, 1998; 2005). Janet und Freud hingegen vermochten eine Komplementarität, um es milde auszudrücken, nicht zu sehen. Sowohl Janet als auch Matisse waren hochbelesen und entstammten einem intellektuellen Milieu, in dem der Philosoph Henri Bergson den Ton angab. Janet war ein Schulkamerad und Freund Bergsons, dessen »Intuitionstheorie eine besonders auffallende Parallele zu Matisses Überlegungen 161 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Russell Meares & Cécile Barral
zur Malerei aufwies« (Flam, 2015, S. 33). Als »Intuition« bezeichnete Bergson, was wir heute »Empathie« nennen, das heißt die Fähigkeit, sich in ein Objekt hineinzuversetzen, um seine essenzielle Qualität erspüren zu können (Bergson, 1913). Auf ebendiese Weise versuchte Matisse, die zentralen Eigenschaften dessen, was er beobachtete, zu erfassen, um die unmittelbare sensorische Wahrnehmung dann nicht als Kopie, sondern quasi vergrößert wiederzugeben. Matisses Ansatz ähnelt dem des Therapeuten, der sich bei der Arbeit am Conversational Model orientiert (Hobson, 1985; Meares & Hobson, 1977; Meares, 2000; 2004; 2005) und versucht, das Auftauchen des Selbst von Patienten zu unterstützen, denen diese Erfahrung durch wiederholte Traumatisierung verwehrt geblieben ist. Die Methode des Conversational Model steht nach unserer Ansicht mit Janets späteren Schriften im Einklang und wurde zu einem gewissen Grad in ihnen sogar schon antizipiert. In diesem und im folgenden Kapitel wollen wir zeigen, wie sich Janets Denken entwickelt hat – angefangen von seiner Fokussierung auf Desintegrationszustände (désagrégation) bis zu seinen späteren Schriften, die den Versuch widerspiegelten, ein für das Verständnis psychischer Erkrankungen sowie für eine auf Integration oder Synthese zielende Behandlung notwendiges Bild der Psyche zu konstruieren. Unser Weg durch das riesige Terrain seines Werkes soll zeigen, welche Relevanz es für das moderne Verständnis und die Behandlung des Traumas und insbesondere der durch das Trauma beeinträchtigten Persönlichkeitsentwicklung besitzt.
Das frühe Werk: Hysterie Janets Erforschung des Selbst veranlasste ihn, sich in die persönliche Realität von Menschen mit gestörter Selbstwahrnehmung – schwerkranken Menschen, die unter der damals sogenannten »Hysterie« litten« – zu vertiefen. Heute würde man bei der Mehrzahl der Betroffenen eine »Borderline-Persönlichkeitsstörung« (BPS) diagnostizieren (Meares, 2012b). Das Selbstgefühl ist unterentwickelt, deformiert oder gänzlich verloren gegangen (Meares, 2012a). Trotz des flüchtigen, kaum fassbaren Charakters eines solchen Selbst ahnte Janet, dass der Weg dorthin bei dem, was »Nicht-Selbst« ist, beginnt und dass sich das »Sein« durch seine Abwesenheit zu erkennen gibt. Vor Janet war die Störung, die rätselhafte Hysterie, der er sich nun wis162 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
8 Das holistische Projekt Pierre Janets · Teil I
senschaftlich näherte, nur vage definiert gewesen. Janet machte es sich zur Aufgabe, die Phänomene gewissenhaft zu beobachten, um »strenge Gesetze« aufzudecken, die den »Oberflächenphänomenen« ( Janet, 1901, S. 484) zugrunde lagen. Er stützte seine Erkenntnisse über die Hysterie auf eine Studie an 120 Patientinnen und Patienten – eine außerordentlich tragfähige Datengrundlage. Das Störungsbild, das sich dabei abzeichnete, ähnelt der heutigen BPS-Diagnose. Es handelte sich um das vielgestaltige Syndrom einer schweren Persönlichkeitsstörung in Verbindung mit zahlreichen körperlichen Beeinträchtigungen. Entgegen der heutigen Orthodoxie betonte Janet allerdings, dass die Vielfalt der Symptome nicht bedeutete, dass die Hysterie keine spezifische Störung sei. Unter den zahlreichen Störungssymptomen betrachtete er eine Gruppe als pathognomonisch und bezeichnete sie als »Stigmata« – Merkmale, die für die Erkrankung charakteristisch waren. Dabei handelte es sich im Wesentlichen um den Verlust von Funktionen, insbesondere der motorischen, des Empfindungsvermögens und der Erinnerungsfähigkeit. Interessanterweise zählen diese Symptome zu den typischen Aspekten der BPS. Das neunte diagnostische BPS-Kriterium im DSM-IV (APA, 1994) – dissoziative Symptome und paranoide Vorstellungen – weist eine »herausragende Spezifität auf, da es in anderen diagnostischen Gruppen praktisch nicht auftaucht« (Skodol et al., 2002, S. 937). Freuds Ablehnung des Stigmatakonzepts hat die Diagnose der »Hysterie« im 20. Jahrhundert beeinflusst, und zwar mit verheerenden Folgen (siehe z. B. Slater, 1965). Andererseits konnte mit einer auf Janets Stigmata beruhenden Diagnosemethode eine diskrete, diagnostisch stabile Störung isoliert werden (Meares & Horvath, 1972).
La Désagrégation und Dissoziation Die große Bedeutung von Janets Werk hängt mit dem »Gesetz« zusammen, das er aus seinen Beobachtungen herleitete. Es bildet die Grundlage seines Verständnisses der psychischen Stigmata und der »akzidentellen Symptome«. Von zentralem Stellenwert in seinem Werk ist das Phänomen der désagrégation mental. Janet hatte festgestellt, dass seine Patienten unter »mangelnder psychischer Einheit« ( Janet, 1901, S. 222) litten, das heißt unter einem Unvermögen, die verschiedenartigen Phänomene des psychischen 163 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Russell Meares & Cécile Barral
Lebens zu einem kohärenten Ganzen zusammenzuführen. 1887 formulierte er seine Theorie der »Verminderung der persönlichen Synthese« (ebd., S. 246), auf die er 1889 in seinem einflussreichen Werk L’Automatisme Psychologique erneut zurückkam – eine Arbeit, die, wie Ellenberger schreibt, »von Anfang an als ein Klassiker der psychologischen Wissenschaften begrüßt« wurde (Ellenberger, 1996 [1974]), S. 491). Der desintegrierte Zustand ermöglicht es, dass ein Teil des psychischen Systems sich vom Rest abtrennt oder dissoziiert wird. Janet beschreibt dies wie folgt: »All die im Gehirn produzierten psychischen Phänomene werden nicht in ein und derselben personalen Wahrnehmung miteinander verbunden; ein Teil bleibt in Form von Sensationen oder elementaren Bildern abgetrennt oder wird mehr oder weniger vollständig zusammengruppiert, um unter Umständen ein neues System zu bilden« ( Janet, 1901, S. 492).
Diese zweite, vom normalen Bewusstsein abgetrennte Bildergruppe bildet den Fokus der von Janet beschriebenen »unterbewussten fixen Idee«. Es handelt sich um ein System traumatischer Erinnerungen, welches das traumatisierende Erlebnis wie eine Art Skript aufzeichnet und sich dabei in einem Zustand befindet, der in höherem Maß desintegriert ist als das übrige Bewusstsein. Sobald das »Skript« durch äußere Umstände, die denen der Traumatisierung ähneln, oder durch einen inneren Faktor getriggert wird, ist es aktiviert und wird inszeniert – häufig nur fragmentarisch und nicht als kohärente Geschichte. Janet betrachtete diese Fragmente als »psychische Zufälle« oder »psychische Akzidenzien«, die für die Diagnose nebensächlich seien. Sie wirken wie direkte sensorische Eindrücke von Aspekten des Traumas auf das Psyche-Körper-Hirn-System ein. Besonders auffällig sind die Manifestationen auf der Haut, die wie Quetschungen oder auch wie Ausschläge aussehen. Es scheint, als habe das Gehirn die Hautgefäße zu einem präzisen Muster des traumatischen Insults organisiert, zum Beispiel wenn scheinbar unerklärliche parallele, lineare Male auf den Beinen einer Frau auftreten, die, wie sich später herausstellt, als Kind brutal mit einem Rohrstock verprügelt wurde. Solche verblüffenden Symptome, über die sich in der Literatur nur wenig findet, können als ein Aspekt der »Dysautonomie« verstanden werden (Meares, 2012c). Phänomene dieser Art veranlassten Janet, die Hysterie als ein »Ensemble von Erkrankungen der Vorstellungsfähigkeit« zu charakterisieren ( Janet, 1901, S. 488). Unter bestimmten Umständen dringt die »unterbewusste fixe Idee« 164 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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in das verbliebene Bewusstseinssystem ein und überwältigt es. Doch selbst wenn es latent bleibt, zeitigt es Folgen. Janet zitiert die Überlegung des Physiologen Herzen (1887), »dass eine aus dem Bewusstsein entfallene Vorstellung, aus diesem Grunde nicht aufhört zu bestehen und dass sie ihre Wirkung im latenten Zustand, gleichsam unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegend, fortsetzen kann, […] dass sie ferner in diesem Zustande Reflexe hervorrufen, und die andern Vorstellungen beeinflussen kann« ( Janet, 1894 [1893a], S. 42).
Janet nahm also, wie das Zitat zeigt, für sich selbst keineswegs die Rolle des Entdeckers des Unterbewussten in Anspruch, die Rolle eines »Konquistadors in ganz und gar unbekanntem Gelände«, in der sich Freud später sah (van der Kolk & van der Hart, 1991, S. 433). Vielmehr erkannte er an, dass andere vor ihm nicht nur über unbewusste Aspekte des Seelenlebens geschrieben hatten, sondern auch über die pathogene Signifikanz des Traumas. Er wies darauf hin, dass Charcot den »Schock«, das heißt das Trauma, als Grundlage psychogener Paralysen identifiziert hatte ( Janet, 1901, S. 227). Eine Studie über 591 Behandlungsfälle Janets kam zu dem Ergebnis, dass 257 von ihnen Traumatisierungen dokumentieren (Crocq & de Verbizier, 1989). Janet erweiterte das Traumakonzept jedoch über einen einzelnen, singulären Vorgang hinaus, um auch kumulative Traumata miteinzubeziehen – eine sehr moderne Konzipierung. In späteren Jahren schrieb er, dass die »Symptome und fixen Ideen, die Betroffene in diesen Fällen aufweisen«, unter Umständen »auf eine Reihe vergessener Schocks« zurückzuführen seien, »eine graduelle Erschöpfung infolge einer ganzen Anzahl leichter, wiederholter Fatigues oder sogar leichter Emotionen, die an sich jeweils unbedeutend waren und keine klaren oder gefährlichen Erinnerungen hinterlassen haben« ( Janet, 1924, S. 275). Diese Überlegung wurde in den vergangenen Jahren durch Studien zum Beispiel von Giovanni Liotti (1999; 2000; 2004; 2006; 2009) bestätigt. Janet hatte eine Theorie entwickelt, die er als »eine Theorie des Unterbewussten durch Desintegration« betrachtete. »Diese Dissoziation, diese Anhäufung bestimmter psychischer Phänomene zu einer spezifischen Gruppe, hing meinem Eindruck zufolge mit der Erschöpfung infolge verschiedener Ursachen, insbesondere emotionaler, zusammen« ( Janet, 1924, S. 40). Festzuhalten ist, dass sich die Desintegration, la désagrégation, von der »Dissoziation« der spezifischen Gruppe unterscheidet, was häufig 165 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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übersehen wird. Van der Hart und Dorahy (2006) haben erläutert, dass Janet beide Begriffe benutzte, »Dissoziation« jedoch nicht mit »Desintegration« identisch ist.
Die Hierarchie des Bewusstseins Janets Theorie impliziert eine durch den Integrationszustand vorgegebene Hierarchie. Hohe Integrationsgrade sind mit dem Selbsterleben assoziiert, das heißt mit dem höheren Bewusstsein. Man könnte tatsächlich sagen: Integration ist Selbst. Andererseits sind steigende Grade an Desintegration mit entsprechenden Zuständen des Unterbewusstseins assoziiert, das heißt mit Zuständen eines abgesunkenen psychischen Funktionsniveaus – l’abaissement du niveau mental. C. G. Jung, der in den Jahren 1902 bis 1903 bei Janet studiert hatte, fand diese Überlegung ausgesprochen hilfreich und nahm wiederholt auf sie Bezug. Das Absinken in der Hierarchie ist eine Konsequenz der »Erschöpfung«. L’abaissement du niveau mental leitet zu dem zweiten Hauptmerkmal über, das Janet als Folge einer traumabedingten Erschöpfung identifizierte. Mit der »Verminderung der personalen Synthese« geht eine Verengung des Bewusstseins einher, sodass die Anzahl der psychischen Phänomene, die »in ein und derselben personalen Wahrnehmung zusammengeführt werden können«, beschränkt ist ( Janet, 1901, S. 492). Janet schilderte zahlreiche Beispiele für die gleichzeitige Desintegration und Einengung des psychischen Lebens seiner Patienten: Er berichtete von einer Frau, die nicht gleichzeitig tanzen und die Kleidung der anderen Tänzer betrachten konnte (ebd., S. 148), oder von Patientinnen mit »mobilem und widersprüchlichem Charakter. Die Patientin verharrt nicht lange im selben psychischen Zustand. Sie wechselt binnen Sekunden von Zärtlichkeit zu Gleichgültigkeit, von Freude zu Traurigkeit, von Hoffnung zu Verzweiflung« (ebd., S. 222). In diesem Zustand sind Aufmerksamkeit, Erinnerungsvermögen, Willensanstrengung und das Zeiterleben beeinträchtigt. Von zentraler Bedeutung ist die verminderte Aufmerksamkeit. Die Betroffenen sind zu konzentrierter Aufmerksamkeit nicht in der Lage (ebd., S. 22). Das Defizit lässt sich auch elektrophysiologisch nachweisen. Patienten mit »Hysterie«, wie Janet sie definierte, die aber zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht dissoziiert sind, können an bedeutungslose und irrelevante Stimuli nicht habituieren (Meares & Horvath, 1972; Horvath, Friedman & Meares 1980). Die Auto166 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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ren erklären dies als Ergebnis eines relativen Defizits der höheren inhibitorischen Kontrolle, eines Aspekts des »Release-Phänomens« (siehe unten). Es spiegelt eine Unfähigkeit wider, redundante Stimuli auszublenden. Mit Ausnahme einiger Formen der Schizophrenie findet sich das Phänomen bei keiner anderen psychischen Erkrankung (Horvath & Meares, 1979). Mit dem Aufmerksamkeitsdefizit geht eine Erinnerungsstörung einher. »Was haben Sie gefragt?«, ist eine typische Frage solcher Patienten, ebenso wie: »Worüber habe ich gesprochen?« ( Janet, 1901, S. 89). Auf diesem niedrigen Niveau des psychischen Lebens operiert eine Gedächtnisform, die man mit Tulvings Terminologie als »semantisch« bezeichnen kann – ein Faktengedächtnis. Es kann sogar noch primitiver sein und Bewegungsrepertoires oder einfache, atomisierte Wahrnehmungsrepräsentationen enthalten (Tulving, 1983; 1985; Tulving & Schacter, 1990). Auf dem niedrigen Niveau sind die Fähigkeit zu willkürlichen Handlungen, die Entscheidungsfähigkeit und die Willenskraft reduziert. Diesen Zustand bezeichnete Janet als »Abulie«, eine Art psychisch-geistiger »Trägheit« ( Janet, 1901, S. 77). Handlungen sind automatisch und manifestieren sich im Extremfall als Umherwandern in Fugue-Zuständen sowie in geringerem Maße im tagtäglichen Erzählen ein und derselben Geschichte (ebd., S. 201), da die Betroffenen zur Weiterentwicklung nicht fähig sind. Die Störung des Zeitgefühls scheint an sämtlichen oben aufgeführten Defiziten beteiligt zu sein. Im normalen Bewusstseinszustand besteht die Möglichkeit, sich zu gewissem Grad von der Gegenwart frei zu machen und sich – bildlich gesprochen – an Orte der eigenen Vergangenheit zu begeben oder sogar an Orte, die nie existiert haben und in der Zukunft liegen. Janets Patienten haben keine Zukunft. Die Zeit ist statisch und repetitiv: »Wie sonderbar«, sagt sie, »zwei Nächte in Folge! Gerade eben war es Nacht, und nun beginnt schon eine weitere Nacht« (ebd., S. 89f.). Diese Patienten leben, wie Janet es ausdrückt, »von Tag zu Tag ohne Bilder von der Zukunft oder Erinnerungen an die Vergangenheit« (ebd., S. 77).
Ein Jackson’scher Hintergrund? Janets Theorie ähnelt der des bedeutenden englischen Neurologen John Hughlings Jackson (1835–1911), der ebenfalls eine Hierarchie des Bewusstseins postulierte. Diese wird durch eine im Laufe der Evolution entstandene Organisation des Gehirns vorgegeben. 167 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Jackson formulierte ein dreistufiges »theoretisches« System – »theoretisch«, weil das Gehirn, wie er schrieb, nicht in Stufen operiert, man aber Begriffe braucht, um über etwas so Komplexes, verbal nicht ohne Weiteres Fassbares zu sprechen. Er unterscheidet zwischen einer reflexiven, einer semantischen und einer sensomotorischen »Ebene«. Diese entsprechen der von Tulving (1983; 1985) konzipierten Einteilung des Gedächtnisses in verschiedene Ebenen. Die höchste Ebene ist die des »Selbst«, ein Begriff, den Jackson in die englischsprachige medizinische Literatur eingeführt zu haben glaubte. »Selbst« wird mit der Reflexionsfähigkeit identifiziert, der Fähigkeit, sich innerer Vorgänge bewusst zu sein, ist aber nicht dasselbe ( Jackson, 1958b [1887]). Jackson war der Ansicht, dass die Hierarchie sich nicht etwa infolge einer dem Nervensystem auf jeder »Ebene« zuwachsenden Verbindung mit neuen Gewebearten entwickelt. Vielmehr betrachtete er sie als Ergebnis einer zunehmend engeren Koordination zwischen den Grundelementen der neuralen Funktionen, die er nicht als einzelne Neuronen verstand, sondern als sensomotorische Einheiten. Das »Selbst« ist demnach die Manifestation der höchsten Ebene der Koordination zwischen Hirnsystemen – oder wie sein französischer Schüler Théodule Ribot es formulierte: »Le moi est un coordination« ( Jackson, 1958a, S. 82). Der Prozess der Koordination oder Integration entspricht aufsteigenden Differenzierungsebenen oder einer wachsenden Spezialisierung der Funktionen. Voraussetzung ist allerdings die Entwicklung einer höheren inhibitorischen Funktion. Charles Scott Sherrington (1932) betonte ebendiesen Aspekt der Jackson’schen Theorie in seiner Dankesrede zur Verleihung des Nobelpreises, in der er Jacksons »Phänomen der Freisetzung niedriger Funktionen« als Ausgangspunkt seiner Darlegung der »Inhibition als Koordinationsfaktor« nutzte. Dieses »Release-Phänomen«, die Aufhebung einer Hemmung, kommt ins Spiel, wenn das System durch einen Insult beeinträchtigt wird, der zu einer Auflösung (»dissolution«), einer Richtungsumkehr, der Hierarchie führt. Unter diesen Umständen kommt es zu einer funktionellen Desintegration und zu einer abnehmenden Komplexität und Differenzierung der Funktionen sowie zu einer Rückkehr in Zustände, die sich dem Automatismus annähern, weil die willkürliche Kontrolle eingeschränkt ist. Die Funktionen, die sich als letzte entwickelt haben, gehen als erste verloren. Niedrige Funktionen, die zuvor der höheren inhibitorischen Kontrolle unterlagen, werden enthemmt und manifestieren sich in übersteigerter Form. 168 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Jackson stützte seine Theorie auf die detaillierte Beobachtung sogenannter »kleiner Anfälle« (petit-mal) und vermutete, dass auf die Hyperaktivität des Nervengewebes während des Anfalls eine »Erschöpfung« dieser Gewebe folge. Die Symptomatik, zu der auch Automatismen zählen können, resultiert aus dieser Erschöpfung. Eine kurze Betrachtung seiner Theorie kann dazu beitragen, Janets Sichtweise zu präzisieren und zu klären (Meares, 1999; Meares, Stevenson & Gordon 1999). Es ist kaum vorstellbar, dass Janet durch Jacksons Theorie nicht indirekt beeinflusst wurde. Seine beiden Lehrer waren, wie er seinen Zuhörern in Harvard berichtete, Charcot und Ribot ( Janet, 1907b, S. 3). Ribot hatte Jacksons Überlegungen in Frankreich eingeführt (Ellenberger, 1996 [1974], S. 551), und Janet übernahm sogar englischsprachige Begriffe aus dessen Theorie, zum Beispiel »Erschöpfung« (exhaustion) – ein Terminus, den er nicht im metaphysischen, sondern ebenso wie Jackson selbst im elektrochemischen Sinn benutzte (Horton, 1924, S. 21). Er erweiterte Jackson Liste der Faktoren, die zur Erschöpfung führen können – Giftstoffe, körperliche Angriffe, epileptische Anfälle usw. –, um das psychische Trauma. Janet ergänzte das neurologische Gerüst Jacksons um die emotionalen und menschlichen Elemente der »Auflösung« (»dissolution«). Zum Beispiel wird die Komplexitätseinbuße bei Absinken des psychischen Funktionsniveaus – abaissement du niveau mental – von ihm in Bezug auf Gefühle erläutert. Was »rasch verlorengeht«, so schreibt er, sind »altruistische Emotionen, vielleicht weil sie von allen die komplexesten sind« ( Janet, 1901, S. 208). Übrig bleiben »nicht sehr komplizierte« (ebd., S. 211) Gefühle, vorwiegend »Traurigkeit und Niedergeschlagenheit« (ebd., S. 213). Jacksons Release-Phänomen erklärt unter diesen Umständen Janet zufolge die »Übersteigerung« oder »Vergrößerung« der Emotionen (ebd., S. 210).
Primäre, sekundäre und tertiäre Dissoziation Janets Theorien wurden im 20. Jahrhundert durch die beiden Schwergewichte Behaviorismus und Psychoanalyse beiseitegedrängt. Infolgedessen bleibt der Begriff »Dissoziation« trotz gründlicher Erforschung des Phänomens an sich »weiterhin vage, verwirrend und sogar umstritten« (Dell, 2009, S. 225). Janets grundlegende Unterscheidung zwischen »la désagrégation« und »Dissoziation« geriet weitgehend in Vergessenheit, 169 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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sodass die Termini zumindest im englischsprachigen Bereich praktisch als synonym verstanden werden (Nehmiah, 1989). Freud ist daran nicht ganz unschuldig. »Im vollen Gegensatz« (Breuer & Freud, 1895, S. 292) zu Janets Theorie einer originären Schwäche der Patienten, das heißt einer mangelnden personalen Synthese, vertraten Freud und Breuer folgende Ansicht: »Die Spaltung des Bewußtseins tritt nicht ein, weil die Kranken schwachsinnig sind, sondern die Kranken erscheinen schwachsinnig, weil ihre psychische Tätigkeit geteilt ist« (ebd., S. 290f.). Freud ist von diesem Standpunkt nie abgerückt, und so wurde er zu einem »offiziellen« Teil seiner Lehre. Der renommierte Psychoanalytiker Charles Rycroft schrieb dazu: »Janet betrachtete das Selbst nicht als eine ursprüngliche Einheit, sondern als eine durch Integration erzeugte Entität. […] Die moderne Psychoanalyse und Psychiatrie vertreten tendenziell die gegenteilige Auffassung: Das Selbst ist eine ursprüngliche Einheit, setzt aber Abwehrmechanismen, insbesondere die Verdrängung, ein, und ist sich deshalb eines Großteils seiner Gesamtaktivität nicht bewusst« (Rycroft, 2004, S. 254).
Die hier beschriebene psychoanalytische Sichtweise lässt eine Fülle an Forschungsdaten unberücksichtigt, die darauf verweisen, dass die Entwicklung auf parallelen Integrations- und Differenzierungsprozessen beruht. Auch neurophysiologische Erkenntnisse bestätigen die désagrégation als eine Vulnerabilität, die der Dissoziation, der Spaltung, Vorschub leisten kann. Zum Beispiel operieren Hirnsysteme, die normalerweise zusammenwirken und ein vereinheitlichtes, koordiniertes Ergebnis produzieren, bei BorderlinePatienten nicht mehr gemeinsam (Meares et al., 2005; Meares, 2012a). Es ist nicht einfach zu erklären, weshalb die freudianische Sichtweise akzeptiert wurde, während Janets Erklärung des traumainduzierten Syndroms kaum mehr bekannt ist. Hatte Janet detaillierte und umfangreiche Beobachtungen an mindestens 120 Patientinnen und Patienten beschrieben, so beschränkten sich Freud und Breuer in ihren Studien über Hysterie auf lediglich fünf Fälle, die gleichwohl zur »fons et origo« der Psychoanalyse wurden, wie Brill (1937) in seiner Einleitung zu der von ihm übersetzten englischen Ausgabe schrieb. Breuers und Freuds fünf Patientinnen bildeten eine heterogene Gruppe, da Freud Janets Betonung der diagnostischen Signifikanz der »Stigmata« nicht teilte, sondern die Hysterie als eine vielgestaltige Störung betrachtete. 170 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Fräulein Katharina litt beispielsweise unter Panikattacken, die offenbar mit sexuellen Übergriffen seitens ihres Onkels zusammenhingen. Katharina war keine Patientin im eigentlichen Sinn. Freud lernte sie kennen, weil sie seinen Tisch während seiner Ferien in einem Hotel in den Alpen bediente, und hat sie nach dieser kurzen Begegnung nie wiedergesehen. Gegenwärtig wird das Dissoziationskonzept im Allgemeinen mit Freuds Konzept einer aktiven Spaltung des Bewusstseins, einer Kompartimentierung (Holmes et al., 2005), in eins gesetzt, deren neurophysiologische Grundlage durch zahlreiche Studien belegt ist (siehe z. B. Lanius et al., 2002). Einige Autoren, die dieses Verständnis teilen, betrachten den normalen Prozess der selektiven Unaufmerksamkeit als Dissoziation. Dieser Mechanismus kann, wie Sullivan (1953) vor langer Zeit erläuterte, defensiv eingesetzt werden, ist aber keine Dissoziation. Abgespalten werden bei der selektiven Unaufmerksamkeit vielmehr jene Aspekte des normalen Bewusstseins, die für die augenblicklich anstehende Aufgabe nicht relevant sind. Das dissoziierte Bewusstsein, wie Janet es verstand, ist nicht normal. Es ist desintegriert. Ellenbergers Studie (1996 [1974]) sowie van der Kolks und van der Harts 1989 und später publizierte Schriften haben das Interesse an Janet wiederbelebt. Abgesehen von der Kompartimentierung hat man inzwischen eine weitere Form der Dissoziation identifiziert, die von Holmes et al. (2005) als »detachment« – Loslösung, Distanzierung – bezeichnet wird. Diese Beobachtung steht im Einklang mit Bremners Vermutung, dass es zwei verschiedene Subtypen der Reaktion auf ein Trauma gebe, nämlich eine dissoziative und eine Hyperarousal-Reaktion (Bremner, 1999). Lanius et al. (2002) haben diese Hypothese geprüft, indem sie den Einfluss traumatischer skriptgesteuerter bildlicher Darstellungen auf Patienten mit PTBS untersuchten. Sie stellten fest, dass 70 Prozent der Probanden mit beschleunigtem Herzschlag reagierten, während 30 Prozent eine »dissoziative« Reaktion zeigten, typischerweise in Verbindung mit emotionaler Taubheit (»numbing out«). Zu den in diesem Zustand aktivierten Hirnregionen gehörte auch der mediale frontale Kortex (BA9), der nachweislich laut »mehreren Studien inhibitorische Einflüsse auf das emotionale limbische System« ausübt (Lanius et al., 2006, S. 714). Das Hyperarousal beruht auf Jacksons Release-Phänomen, das man als »primäre Dissoziation« bezeichnen könnte. Auffällig ist, dass die Betroffenen sich in dieser Phase zumeist gar nicht in einem Zustand relativer Erregung zu befinden scheinen. Offenbar besteht zwischen dem Arousal-System und dem Ausdruckssystem keine Verbindung (Meares, 2912a). 171 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Als »sekundäre Dissoziation« wird das Phänomen bezeichnet, dass ein Teil des psychischen Lebens, der vom Bewusstsein getrennt oder abgespalten wurde, unterschiedliche, nämlich eine passive ( Janet) und eine aktive Form (Freud) annehmen kann. Wichtige Daten von Felmingham et al. (2008) lassen vermuten, dass die aktive Form, die mit ventrofrontaler Aktivierung einhergeht, wahrscheinlich mit bewusster Gefahrenwahrnehmung assoziiert ist, während die passive Form eine Reaktion auf unbewusst wahrgenommen Gefahr darstellt. Letztere ist mit einer Aktivierung der Amygdala assoziiert (für weitere Details siehe Meares, 2012a, S. 144). Eine tertiäre Form der Dissoziation wurde von Janet beschrieben. Es handelt sich um einen relativ fixen Zustand, in dem eine Spaltung besteht »zwischen zwei Gruppen von Phänomenen, einer, die die normale Persönlichkeit konstituiert, und einer zweiten, die – anfällig für weitere Spaltungen – eine anomale Persönlichkeit bildet, die sich von der ersten unterscheidet und ihr völlig unbekannt ist« ( Janet, 1901, S. 494). Diese Psychopathologie wurde auch von C. S. Myers beobachtet, als er Veteranen des Ersten Weltkriegs behandelte, die unter Kriegsneurosen litten (Myers, 1915; 1940). Myers sprach von einer »scheinbar normalen Persönlichkeit« und einer »emotionalen Persönlichkeit«, die gewöhnlich verborgen war. Mit einem anderen Verständnis der Dissoziationsebenen haben Onno van der Hart et al. (2006) die Signifikanz und Komplexität dieses Dissoziationssystems bei traumatischen Zuständen weiter ausgearbeitet (s. a.11. Kapitel). Wir nehmen an, dass die auf Janets Schriften beruhende Unterscheidung zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Dissoziation (van der Kolk, van der Hart & Marmar 1996, S. 306f.; Meares, 2012d) dazu beitragen kann, Klarheit in die aktuelle Diskussion über das Konzept der Dissoziation zu bringen.
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Das holistische Projekt Pierre Janets Teil II: Oszillieren und Werden: Von der Desintegration zur Integration Cécile Barral & Russell Meares
Eine Gruppe weißer Menschen durchstreift den australischen Busch mit Uncle M., einem älteren Aboriginal. Irgendwann bleibt Uncle M. stehen, lässt sich auf einem Felsbrocken aus Sandstein nieder, denkt nach und sagt dann nach einigen Minuten: »Ihr, ihr weiße Bande, habt es ganz falsch verstanden. Ist euch das klar? Ihr glaubt, eure Vorfahren seien in der Vergangenheit, irgendwie hinter euch. Falsch. Sie sind vor euch … sie sind diejenigen, die euch den Weg zeigen.« Uncle M.s Worte hallen in mir nach, während ich Janet lese, um mir ein klareres Bild von diesem Vorfahren meines Psychotherapeuten-Selbst zu machen. Ja, zu seiner Zeit war Janet ein Pionier. Hat er vielleicht auch uns den Weg gewiesen, das Selbst und insbesondere die Borderline-Störungen zu verstehen und zu heilen? Als in Australien lebende französische Muttersprachlerin habe ich (C. B.) das Glück, auch Janets spätere Schriften, die nicht ins Englische übersetzt worden sind, lesen zu können. Seine früheren Schriften über Hysterie, Neurose und Zwangsstörungen liegen auf Englisch vor. Nachdem er zunächst versucht hatte, die Hysterie und die traumabedingte Desintegration des Selbst zu verstehen, widmete er seine Aufmerksamkeit zwischen 1909 und 1932 (dem Jahr, in dem La Force et la Faiblesse Psychologiques erschien) der Vertiefung seines Verständnisses des Selbst und der Ausdifferenzierung seiner Hierarchie der psychischen Funktionen zu einer Hierarchie von Selbst-Zuständen, die ständig oszillieren zwischen der Desintegriertheit auf den unteren und der Integration/Synthese auf den höheren Ebenen der Hierarchie. Im Anschluss an diese lange Phase erforschte Janet 1935/1936 die »natürliche« psychische Entwicklung, um sein Verständnis der Bedingungen zu vertiefen, auf die das Selbst angewiesen ist, um auf natürliche Weise höhere Funktionen erwerben und seine Entwicklung auch nach einer traumainduzierten Desintegration wiederaufnehmen zu können. 173 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Störungen des Selbst Während seiner Arbeit an der Salpêtrière, wo Janet sich in erster Linie um Patienten mit schwerer Hysterie (aliénés) kümmerte, praktizierte er auch privat und behandelte ambulante »non-aliénés« Patienten, die über Gefühle der Leere (sentiments du vide) und der Unvollständigkeit (sentiments d’incomplétude) klagten, über das Schwinden des Lebens (rétrécissement de la vie), Derealisation (agir en rêve), Schwierigkeiten, zu einer bedeutsamen, sinnvollen Lebensweise zu finden, über das Gefühl der Verlorenheit, des Nicht-in-derWelt-Seins, das Gefühl, ein Hochstapler zu sein (de jouer la comédie), über die Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen oder Handlungen zu beginnen bzw. zu beenden, über Selbstzweifel, Erregtheit, Angst und Zwänge, über die Tendenz zur Gefügigkeit, Süchte usw. Janet (1903; 1909a; 1932a) bezeichnete diese Symptome als Psychasthenien. Tatsächlich beschrieb er hier typische Symptome der Persönlichkeitsstörungen, chronische, leere Depression und Dysphorien, die wir heute als Störungen des Selbst verstehen. Er charakterisierte sie aber nicht als Erkrankungen (maladies), sondern als psychische Zustände (états mentaux), die sich nach und nach oder dramatisch verbessern oder verschlechtern können (oscillations) (Janet, 1909a).
Hierarchie der psychischen Funktionen Janet, Philosoph und im Grunde genommen Psychologe mit der Mission, die menschliche Psyche zu verstehen, hielt es für notwendig, seine umfassende klinische Erfahrung zu synthetisieren. Folglich verbrachte er 25 Jahre, von 1905 bis 1937, mit der Ausarbeitung seines zentralen Konzepts einer Hierarchie der psychischen Funktionen. 1930 hatte er seine dreistufige Hierarchie ausgearbeitet (siehe Anhang, Tab. 1), die an Paul MacLeans (1990) dreiteiliges Gehirn erinnert und sich aus neun Funktionsebenen aufbaut. Am unteren Ende der Hierarchie finden wir reflexartige pathologische Verhaltensweisen, die durch Reaktivität und Einengung des Bewusstseinsfeldes, rigide Überzeugungen (croyances asséritives), Schwarz-Weiß-Denken (tout ou rien) ( Janet, 1935a, S. 25), Übervereinfachung, emotionale Instabilität, Verwirrung, fehlende Kohärenz, Initiativlosigkeit, mangelnde Ausdauer usw. charakterisiert sind. An der Spitze der Hierarchie platzierte Janet progressive Verhaltensweisen, charakterisiert durch 174 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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personale Synthese (1932a, S. 19) und Individualismus sowie durch soziales Gewissen, Altruismus, Effektivität, ausdauernde Aufmerksamkeit, Willenskraft und durch die Fähigkeit, die Gegenwart realistisch einzuschätzen, »Zeitreisen« unternehmen zu können, sich kohärent zu fühlen und zum Wohle der Allgemeinheit zu handeln. Dieser psychisch-geistige Zustand ist raum- und zeitübergreifend. Er bedeutet, dass »eine Handlung umso raumübergreifender und zeitloser ist, je elementarer, kleiner und höherrangig sie ist« (ebd., S. 31). Wenn wir uns Janets Hierarchie ansehen, erkennen wir, dass er sich sowohl auf William James’ Theorie des Selbst als auch auf Hughlings Jacksons Prinzip der Dissolution stützte und eine fortschrittliche Psychologie des Selbst, verstanden als komplexe und dynamische Bewusstseinszustände, formulierte. Interessanterweise lokalisierte Janet die Reflexionsfähigkeit, die von den meisten modernen Therapiemethoden als eines der verlässlichsten Merkmale psychischer Reife und Gesundheit betrachtet wird, auf den mittleren Ebenen seiner Hierarchie. Dies gibt künftigen Weiterentwicklungen der Selbst-Psychologien eine Richtung vor.
Oszillationen Auf der Grundlage seiner reichen klinischen Beobachtungen zog Janet den Schluss, dass »es keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem Verhalten einer gesunden Person und dem Verhalten eines kranken Menschen« gebe (Janet, 1932a, S. 295), da jeder Mensch auf einem dynamischen Kontinuum der psychisch-geistigen Funktionen operiere und je nach Umständen oszilliere. Dass das Funktionsniveau absinke, könne »jeder Psyche« passieren (cela peut arriver à tous les esprits), schrieb Janet (ebd., S. 25). Er plädierte für einen Paradigmenwechsel von der Vorstellung der Symptome und Krankheiten als klar umgrenzte kategorische Pathologien zu einem neuen Verständnis der Syndrome als komplexe, ständig schwankende Selbstzustände. Damit betonte er die Vorstellung der Psyche/des Selbst als Struktur und Prozess zugleich.
Von Verhaltensweisen zu Tendenzen Im Laufe der Zeit wurde sich Janet der Grenzen seiner Hierarchie der Verhaltensweisen bewusst und schrieb, dass »viele der höheren psychischen 175 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Phänomene einen inneren spirituellen und moralischen Aspekt besitzen und sich von sogenannten Aktionen grundlegend unterscheiden« ( Janet, 1930a, S. 6). Er hielt es für notwendig, Bewusstsein, Glauben, Erinnerung, Denken und vor allem die Gefühle in seine Hierarchie des Selbst einzubeziehen: »Gefühle haben den Psychologen seit jeher Unbehagen bereitet, vor allem jenen, die in erster Linie an Aktionen und Verhaltensweisen interessiert sind: Tatsächlich gründet das Bewusstsein in erster Linie auf dem Phänomen der Gefühle. Bewusstsein ist ein Ensemble von Gefühlen, die aufeinander aufbauen [quis s’ajoutent les uns aux autres], und der Gefühlsverlust ist der Beginn des Bewusstseinsverlustes« ( Janet, 1932a, S. 111).
William James erläutert, dass Janet eine für seine Zeit neue Sprache entwickelte, »um gänzlich andere Formen des Denkens zu beschreiben: Oszillationen auf der Ebene der geistigen Energie, Spannungsunterschiede, Bewusstseinsspaltungen, Unzulänglichkeits- und Unwirklichkeitsgefühle, Substitutionen, Agitiertheit und Ängste, Depersonalisationsempfindungen […]. Die Eindrücke, die der Blick auf das gesamte Leben seines Patienten diesem klinischen Beobachter vermittelte, [haben] nichts mit den üblichen Laborkategorien zu tun« ( James, 1907, S. 322).
Das Jahr 1930 markierte somit einen bedeutsamen Wechsel von Janets ursprünglicher Hierarchie der Verhaltensweisen zu einer neuen Hierarchie der Tendenzen, wobei er unter einer Tendenz die Disposition eines lebendigen Organismus verstand, eine bestimmte Aktion auszuführen ( Janet, 1926a, S. 31). Eine wesentliche Implikation der auf Tendenzen statt auf Verhaltensweisen beruhenden Hierarchie bestand darin, dass sie »Individuen zu unterscheiden half« ( Janet, 1932a, S. 324) und es ermöglichte, eine »dynamische Bilanz« (bilan dynamique) der Person zu erstellen, das heißt ein Bild der ständig nach Gleichgewicht strebenden oszillierenden Selbstzustände (ebd., S. 315). Isabelle Saillot (2005), die für Janets Wiederentdeckung eine entscheidende Rolle gespielt hat, schreibt, dass diese Hierarchie »eine gute Beschreibung der Persönlichkeit [des Selbst]« erlaube. Sie hofft, dass Behandler sich dadurch ermutigt fühlen werden, statt einer kategorialen 176 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Diagnose eine dynamische »biographische Hierarchie« des individuellen Patienten zu erstellen.
La force psychologique: ein neuer Parameter Janet hatte auch die Unzulänglichkeiten seiner ursprünglichen, 1909 formulierten Hierarchie, die auf dem Konzept der tension psychologique ( Janet, 1932a, S. 76) beruhte, erkannt. Tension und ihr Gegenteil, détente, hatten zu Janets Zeit eine andere Bedeutung als heute, da die Begriffe eher ungesunden Stress und Angst sowie ihr Gegenteil, nämlich Entspannung, bezeichnen. Janet verstand unter tension die Fähigkeit, Komplexität zu ertragen und Ordnung und Synthese herzustellen, während détente mit dem Verlust dieser Fähigkeit zusammenhängt. Doch auch wenn die psychische Spannung, tension psychologique, für das Funktionieren auf der höheren Hierarchieebene unabdingbar ist, reicht sie allein nicht aus. »Einer Aktion inhäriert eine Qualität, die ich Kraft nenne«, schrieb Janet (ebd., S. 113). Er charakterisierte diese Kraft als eine generelle Stärke (une puissance générale, S. 311), laut Ellenberger »die Quantität der elementaren psychischen Energie, d. h. die Fähigkeit, zahlreiche, lange andauernde und rasche geistig-seelische Handlungen zu vollziehen« (Ellenberger, 1996 [1974], S. 515). So hielt Janet es für erforderlich, seine Hierarchie um einen zweiten Parameter zu ergänzen, eine force psychologique, verstanden als das »Maß der Anstrengung, zu der jemand in der Lage ist« ( Janet, 1932a, S. 309). Janet beobachtete, dass manche Menschen, zum Beispiel Alkoholiker, durchaus auf einem höheren Funktionsniveau operieren können: Sie können über den Schaden nachdenken, den sie sich durch den Alkoholkonsum zufügen, und recht vernünftig erläutern, warum und wie sie mit dem Trinken aufzuhören gedenken. Sie sind aber nicht in der Lage, ihre Entscheidung in konkretes, gesünderes, produktives Verhalten umzusetzen, weil es ihnen an Entschlossenheit mangelt. Spannung setzt die Kraft voraus, Denken in Handeln zu übersetzen, während Kraft ohne Spannung sich in die pathologische Abfuhr unbrauchbarer Energie übersetzt. Beispiele wären etwa Tics oder Agieren (ebd., S. 315). Psychische Kraft bewirkt, dass der Mensch weniger suggestibel ist und eine stärkere Persönlichkeit entwickeln kann (ebd., S. 309). Sie zeigt sich in der Fähigkeit, leidenschaftlich zu diskutieren und sich durch das Denken 177 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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anderer bereichern zu lassen, während faiblesse, psychisch-geistige Schwäche, das Individuum veranlasst, die Meinungen anderer zu übernehmen (ebd., S. 79–81). Diese Fähigkeit, sich mit dem Denken anderer Menschen auseinanderzusetzen, ist eines der Ziele bestimmter Psychotherapieverfahren, etwa des Conversational Model von Robert Hobson (1995) und Russell Meares. Hier versucht der Therapeut, einen Resonanzraum für den psychischen Zustand des Patienten bereitzustellen, um nach und nach ein gewinnbringendes Gespräch zu ermöglichen. Janet hatte jedoch Schwierigkeiten, die force psychologique zu erklären, und schrieb, dass sein Konzept »eher ein Problem denn eine Lösung darstelle« ( Janet, 1932a, S. 309). Er hielt diese Kraft für eine »extrem merkwürdige Mischung« (un mélange extrêment curieux), ein psycho-physiologisches Phänomen, das »Muskelkraft« (Körper) mit »moralischer Kraft« (Geist/Psyche) kombiniere (ebd., S. 89). Er unterschied zwischen »zwei Formen des Denkens und Handelns: der motorischen und der verbalen« (ebd., S. 70). Seiner Zeit weit voraus, wollte Janet das Selbst als »Körpergeistpsyche«-System ergründen, ein Problem, dem sich sehr viel später Antonio Damasio widmete (1994; 2010).
La force psychologique: eine Form der Energie Das Energiekonzept war zu Janets Zeit nicht mehr neu. Auch William James und Freud arbeiteten damit. Ebenso wenig neu war die psychischgeistige Erschöpfung, wenngleich Janet die frühere Arbeit von George Beard über Neurasthenie als körperliche und seelische Erschöpfung offenbar nicht kannte (Ellenberger, 1996 [1974], S. 344f.). In den psychologischen Laboren jener Zeit aber war von einer »psychischen Energie« oder Kraft nicht die Rede ( James, 1907, S. 2), und Janet hatte Mühe, sie als Konzept durchzusetzen. Er erläuterte, dass psychische Stärke oder geistige Energie »keine mysteriöse Kraft« sei und »nichts Mystisches an sich« habe. In allen anderen Wissenschaftsbereichen sei die Energie ein anerkanntes Konzept. Warum also nicht in der Psychologie ( Janet, 1932a, S. 310, 318)? Janet erklärte, dass Energie nie identisch sei mit der physiologischen Kraft ( force vitale), die bewirkt, dass der Embryo wächst, ohne dass es einer psychischen Kraft bedarf. Ebenso wenig stellt sie lediglich ein Phänomen des Stoffwechsels, des Gehirns und des Nervensystems (ebd., S. 309–320) dar. Vielmehr han178 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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delt es sich um eine hochkomplexe Angelegenheit, da multiple Funktionen zusammenwirken müssen, um psychische Energie aufzubauen (ebd., S. 323). Janet sah voraus, dass die Quantifizierung psychischer Energie ein Gegenstand der künftigen Forschung sein würde (ebd., S. 324). Er begrüßte und unterstützte Experimente auf dem Gebiet der »Psychophysik«. Doch erst in der heutigen Zeit sollten seine Wünsche dank der Entwicklung der Neurowissenschaften in Erfüllung gehen. Die meisten angesehenen modernen Theoretiker wie Damasio (2011 [2010]), Meares (2016), Porges (2016), Schore (2007 [1994]), Siegel (1999), Stern (2007 [1985]), Tronick (2016) sowie van der Hart, Nijenhuis und Steele (2006) scheinen Janets Energieverständnis wieder aufgegriffen zu haben. Die Fortschritte der Neuropsychologie bestätigen, dass die elektrischen Prozesse im Gehirn einen Aspekt des Bewusstseins, des Gehirn-Geist-Systems, bilden. Auch im Zuge der Aufmerksamkeit, die das autonome Nervensystem, seine Entstehung und seine Regulation im Zusammenhang mit dem Auftauchen des Selbstgefühls in den letzten Jahrzehnten auf sich gezogen haben, wurde das Energiekonzept wiederbelebt (Schore, 1994). Janet stützte sein Verständnis der force psychologique auf seine klinischen Beobachtungen (ein heute anerkannter wissenschaftlicher Ansatz): »[…] wenngleich nicht konkret oder messbar, ist sie qualitativ und zeigt sich in beobachtbaren dynamischen psychischen Phänomenen« ( Janet, 1932a, S. 117f.). Unterschiedliche Energieebenen waren eine Erfahrung, die seine Patienten alltagssprachlich in Worte fassten, wenn sie berichteten, sich antriebslos, erschöpft oder energiegeladen zu fühlen, nicht zu wissen, wohin mit ihrer Energie, oder wenn sie schilderten, zu keinem vernünftigen Gedanken in der Lage zu sein bzw. klar zu denken usw. So konzipierte Janet »psychasthenische Zustände« als Symptome von Erschöpfung und Kraftlosigkeit (maladies d’épuisement) und als einen »Verlust der Lebenssäfte« (ebd., S. 125), der die natürliche Entwicklung des Selbst verhindere.
Werden und menschliche Umwelt Ausgehend von seiner Beobachtung, dass »die Aktivität des Geistes unter bestimmten Umständen auf ein niederes Niveau absinken kann« und die fragilen höheren Bewusstseinszustände nur unter »günstigen Bedingungen« auf179 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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rechterhalten werden können, stellte Janet (1932a) folgende Fragen: Woher stammt die psychische Kraft? Was vermehrt oder vermindert die Kraft des Individuums? Wie entwickelt sich das Selbstgefühl? Und wie kann man jenen helfen, die auf ein niederes Niveau abgesunken oder dort fixiert sind? Da Janet Kraft und faiblesse als körperliche und zugleich geistig-psychische Eigenschaften betrachtete, hielt er Ruhe für einen wichtigen Teil der Behandlung – Ausdruck seiner Bereitschaft, der individuell spezifischen »dynamischen Bilanz« (bilan dynamique; ebd., S. 315) seiner Patienten durch eine breite Vielfalt von Behandlungsformen gerecht zu werden. Janet hatte – und dies ist außerordentlich wichtig – beobachtet, dass Tendenzen latent bleiben, sofern sie nicht in dem Milieu, in dem das Selbst sich entwickelt, aktiviert werden (ebd., S. 314). Dieses Milieu besteht aus reziproken Beziehungen – man könnte sagen: aus laufenden »Gesprächen«, in denen jeder Beteiligte im Guten wie im Bösen zur Transformation seines Gegenübers beiträgt (Hobson, 1985; Meares, 2005). Janet beobachtete, dass »diejenigen Tiere, die die geringste Intelligenz aufweisen, jene sind, die in Isolation leben«, dass »es für einen Menschen, der sein ganzes Leben in Isolation verbrächte, kein Denken gäbe« ( Janet, 1935a, S. 54) und dass ein Kind aktiver spielt, »wenn es mit Freunden zusammen ist« (ebd., S. 46). Kurzum, Menschen sind soziale Wesen, und »das soziale Leben vermehrt ihre Kraft und bereichert den Geist« (ebd., 1932a, S. 166). Janet erläuterte auch die Bedeutsamkeit des »Temperaments der Eltern: ruhige, nicht überaus emotionale Eltern scheinen Kraft in ihren Kindern zu erzeugen«, während »Feindseligkeiten zwischen Vater und Mutter […] Kinder krank machen« (ebd., S. 177). Er verstand, dass Wertschätzung wichtig ist – ein Punkt, der in der Philosophie und Psychologie häufig übersehen wurde. Er erkannte die Folgen einer ständigen Entwertung in depressiven Erkrankungen, die durch einen Interessensverlust (à quoi bon? »Wozu das Ganze?«) sowie durch Gefühle der Nichtexistenz und der Unwirklichkeit oder durch ein »obsessives Bedürfnis, geliebt zu werden«, charakterisiert sind (ebd., S. 38, 45). Janet erkannte auch, dass »Triumpherfahrungen« uns ermöglichen, unsere Energie auf höheren Ebenen der Hierarchie einzusetzen ( Janet, 1935a, S. 65). Wenn wir »Erfolg haben und Triumphe feiern, kommt dies all unseren Funktionen zugute […] eine sehr gute Sache« (ebd., S. 36). Die von Janet beschriebenen »Triumphe« haben nichts mit Grandiosität zu tun, sondern sind Siege über Widerstände – der Student, der seine Blo180 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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ckade überwindet und es schafft, seine Hausarbeit zu schreiben. Sie bedürfen der Anstrengung und wecken ein Gefühl des Stolzes, eine Art der Freude, die Schamgefühle lindert (ebd., S. 64f.). Kurzum, Janet verstand, dass sich das Selbst im positiven affektiven Austausch mit anderen und in einer Intimität entwickelt, die er als »emotionales Verhalten« (»a conduct of feeling«) ( Janet, 1932a, S. 170) bezeichnete. Angeregt durch Durkheims Theorien über den sozialen Ursprung zahlreicher psychisch-geistiger Operationen postulierte Janet unter Erweiterung von der Familie auf die Gesellschaft, dass »unsere Ideen, Urteile, Klassifizierungen und Vernunftprinzipien« durch unsere komplexe, aber lebensnotwendige Beziehung zur Gesellschaft beeinflusst werden ( Janet, 1935a, S. 38). Die Beziehung zu unserem »Socius« ( Janet übernahm James Mark Baldwins Begriff ) ist kompliziert, aber unverzichtbar (ebd., S. 41). Wir brauchen unseren Mitmenschen, um uns unserer selbst bewusst zu werden. Wir modifizieren unser Verhalten, um es seinen Handlungen anzupassen, und lernen auf diese Weise, zu kooperieren, den anderen wahrzunehmen, seine Gedanken und Gefühle zu »lesen« und unsere eigenen zu repräsentieren (ebd., S. 46). Janet ging sogar noch weiter und fasste eine ähnliche wechselseitige Beziehung des Selbst zur Kultur, in der es lebt, in den Blick (ebd., S. 50) – mitsamt den Zeremonien und Ritualen, die Menschen in einer freudespendenden Erfahrung zusammenbringen – »ein gutes Heilmittel gegen Depression« (ebd., S. 57f.). Auch diese Sicht auf das Selbst war visionär und wurde später von Wygotsky (van der Veer & Valsiner, 1988), von Trevarthen (2014) und von Meares (2016) übernommen.
Entwicklungshemmung und Entwicklungstrauma Janet bezog in die Ausarbeitung seiner Entwicklungstheorie auch Entwicklungstraumata und Entwicklungshemmungen ein: »Pathologien infolge von Entwicklungshemmungen und Regressionen treten in allen Formen und auf allen Ebenen der psychischen Reifung auf« ( Janet, 1926–1928, zit. nach Saillot, 2008, S. 3). Eine Hauptursache des Absinkens in der Hierarchie des Funktionsniveaus sind die »erschütternden«, das heißt traumatischen, Emotionen ( Janet, 1932a, S. 158). »Emotionen sind ein bedeutender Kraftaufwand« (une grande dépense) (ebd., S. 162): 181 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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»Konfrontiert mit einem hochgradig traumatisierenden (émotionnant) Erlebnis, täten Sie zweifellos gut daran, Ihre Muskeln anzuspannen, Ihre Energie zu versammeln und zu überlegen, wie Sie auf diese bedrohlichen Umstände reagieren und sie abwehren können; zweifellos wäre es noch besser, wenn Sie in solchen Momenten hohe Intelligenz bewiesen. Dann wäre der gewaltige Aufwand an nervöser Energie unproblematisch. Aber es ist sehr schwierig, angesichts von Überraschungen und gefährlichen Umständen, sich in Momenten, in denen man keinen Ausweg sieht, intelligent zu verhalten« (ebd., S. 315).
Über unbewältigte Traumata (dettes) schreibt Janet: »Vorgänge, die eine starke Emotion ausgelöst und das psychische System zerstört und Spuren hinterlassen haben, […] kosten sehr viel Kraft und tragen zur fortdauernden Schwächung bei« ( Janet, 1930a, S. 4). Janet setzte seine Ideen in die Tat um. Er lehnte die zu seiner Zeit übliche Haltung des Therapeuten als »leere Leinwand« ab und empfahl eine positive Einstellung zu den Patienten, um den Aufbau ihres Selbst zu unterstützen. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass dies eine Voraussetzung für die Bewältigung von Traumata war. Damit antizipierte er einen zentralen Aspekt des Conversational Model, demzufolge ein Gefühl der »Verbundenheit« zwischen Patient und Therapeut die Voraussetzung für das Auftauchen des Selbst darstellt. Dieses Verbundenheitsgefühl beruht auf mehr als lediglich Freundlichkeit. Der Therapeut muss sich der von Moment zu Moment schwankenden psychischen Zustände seines Patienten bewusst sein. Janet erläuterte, dass sich der Behandler auf der Funktionsebene seiner Patienten in deren Welt hineinbegibt, ihnen intensiv zuhört, ihnen glaubt und ihre Erfahrungen validiert. Er machte die Erfahrung, dass Argumentieren und Erklären oft nicht helfen, und distanzierte sich damit radikal von den Phantasietheorien Freuds und dessen Deutungsstil ( Janet, 1932a, S. 18). Verbundenheit wird auch dadurch gefördert, dass der Behandler den »minuziösen Details« des Gesprächs (Hobson, 1985) und dem, »was als nächstes passiert« (Meares, 2000), Aufmerksamkeit widmet, das heißt jeder gefühlten Veränderung im Oszillieren der Patienten auf der Hierarchie. Er beobachtet, was ihnen guttut (Anzeichen einer Belebung) oder dazu führt, dass sie sich schlechter fühlen, achtet auf die Intrusion traumatischer Erinnerungen (émotions soudaines) und erforscht die Ursachen sol182 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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cher Veränderungen: »Eine Beobachtung, die in unserer klinischen Praxis allzu häufig unterlassen wird« ( Janet, 1932a, S. 204). In diesem Sinn verstanden, können psychotherapeutische Supervisionsmodelle, die mit Videoaufzeichnungen oder mit weniger intrusiven Tonaufnahmen arbeiten, die Aufmerksamkeit für Details schärfen.
Janets Entwicklungsverständnis Janet erkannte, dass er die normale psychische Entwicklung verstehen musste, um ihre Pathologie verstehen zu können. Damit verwies er auf die Notwendigkeit, Theorien der Entwicklungspsychologie und des Traumas zu kombinieren, um effektive Psychotherapiemodelle konzipieren zu können. Im Rahmen dieses Projekts arbeitete er auch mit dem jungen Jean Piaget zusammen, der ihn lebenslang »mein Lehrer« nannte (Bringuier, 1989, S. 3). Auch Freud hatte die Notwendigkeit erkannt, die normale Entwicklung zu verstehen. Doch während er sich auf die psychosexuelle Entwicklung konzentrierte, galt Janets Interesse der Entwicklung der »Intelligenz«, wie die Titel seiner beiden letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Bücher zeigen (1934; 1935a). Das Wort »Intelligenz« kann leicht missverstanden werden. Janet (1935a) bezeichnete damit die Fähigkeit, das Verhalten an »besonders komplexe Umstände« anzupassen (présentification). Sie setzt voraus, mehrere Objekte, Ideen inbegriffen, in einer Synthese zusammenzuführen, die eine »höhere Effizienz« ermöglicht, zum Beispiel eine wissenschaftliche Entdeckung, dank deren »Menschen besser und länger leben können«. Diese Fähigkeit, neue Verbindungen (rapports) herzustellen, beginnt mit dem Körpererleben des Säuglings und der Entwicklung von Körperschemata in seinen Interaktionen mit Objekten – zuerst mit konkreten Objekten, die er in der physikalischen/äußeren Welt manipuliert, und später mit abstrakten, konzeptuellen Objekten (Gedanken und Sprache). Janet untersuchte beispielsweise die Entwicklung der Fähigkeit zur wechselseitigen Interaktion. Auf einer primitiven Ebene entdeckt das Kleinkind Reziprozität zuerst, indem es sich Objekten annähert oder sie zu sich heranzieht, durch Kommen und Gehen – Aktionen, die sich schon bald zu der von Janet so bezeichneten »Verhaltensweise mit dem Korb« (l’acte du panier) ( Janet, 1934, S. 13) weiterentwickeln, dem Sammeln zahl183 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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reicher Gegenstände in einem Behälter, der dann wieder ausgeleert wird. Dieses Verhalten markiert den Beginn der Synthesefähigkeit. Es entwickelt sich später zum Zusammensetzen von Wörtern zu ganzen Sätzen und noch später (im Alter von ca. drei Jahren) zu der Erkenntnis des Kindes: »Wenn ich, Paul, einen Bruder, Peter, habe, dann hat Peter auch einen Bruder, nämlich Paul.« Die nächste Stufe in der Entwicklung der Fähigkeit zur Reziprozität erfolgt mit dem Verständnis der Zeit, einer gegenüber dem Raumverständnis weiter fortgeschrittenen Fähigkeit ( Janet, 1935a). Es ist die Fähigkeit zu komplexen und abstrakten reziproken Verhaltensweisen, zum Beispiel einen Neuanfang zu machen, Wiedergutmachung zu leisten oder Reue zu empfinden. Das frühe Verhalten mit dem Korb entwickelt sich schließlich zur Erfahrung eines einheitlichen Selbst, bestehend aus mannigfaltigen, in einem ständigen Prozess wechselseitiger Konstruktion befindlichen Selbsten ( Janet, 1934). Diese Illustration der Entwicklungslinie von der Verhaltensweise mit dem Korb zu einem einheitlichen Selbst ist eines von zahlreichen Beispielen für Janets Konzipierung von Hierarchien innerhalb von Hierarchien, die auch mehrere zeitgenössische Theoretiker inspiriert hat. So haben etwa Graham und van Biene (2007) eine Hierarchie des Engagements und Meares (2016) eine Hierarchie der Gefühle ausgearbeitet. Janet betonte, dass das integrierte Selbst nicht absolut sei, sondern lebenslang fragil bleibe. Zum Beispiel erleben wir unweigerlich Phasen des Zögerns oder Zweifelns, in denen »das Bewusstsein geteilt ist […]. Selbst geringfügige psychische Schwierigkeiten verändern und unterdrücken das Gefühl der Einheit des Selbst. […] Die Einheit des Selbst ist ein Ideal […], das der Mensch anstrebt. […] Wenn sie existiert, ist unsere Einheit/Integration das Ergebnis einer Synthesearbeit, die stets unvollständig bleibt und zumindest temporär leicht verlorengeht« ( Janet, 1934, S. 58, 61).
Entwicklung: Von der Nachahmung zur Analogie Janets Erforschung der Kinderentwicklung, die als Basis der Therapie dienen könnte, gipfelte in seiner hochinteressanten und anregenden Formulierung einer Progression von Verhaltensweisen. Diese beginnt mit der primitiven Nachahmung (l’acte d’imitation) ( Janet, 1935, S. 41) und steigt 184 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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auf bis zum »Verhalten des Bildes« (conduite du portrait) ( Janet, 1934, S. 28). Diese Progression beginnt in den ersten Lebenswochen, in denen das Baby zum Beispiel die Mutter imitiert, wenn diese die Zungenspitze herausstreckt. Meltzoffs und Moores (1977) Replikationsstudie über dieses Nachahmungsverhalten ist mittlerweile berühmt. Es erfolgt beim Baby unbewusst und automatisch und wurde von Janet als Manifestation »einer gewissen Konfusion zwischen dem Selbst und anderen« verstanden (Piaget, 1959, S. 28). Ein im engeren Sinn nachahmendes Verhalten taucht gegen Ende des ersten Lebensjahres auf, wenn das Kind zum Beispiel die Gestik und die Körperhaltung seiner Bezugspersonen imitiert. Es ist eine »Doppelaktion«: Das Kind bekundet die erste Form des Doppelbewusstseins, eines Hauptcharakteristikums der Selbstheit. Es ist zwei Personen, zwei Zustände, zwei Dinge gleichzeitig: es selbst und jemand anderer. Der nächste Schritt ist für die Errungenschaften der Menschheit von entscheidender Bedeutung, denn es ist der Schritt von der einfachen Nachahmung oder Imitation, die einem »Trompe-l’oeil« in der bildenden Kunst entspricht, wie Janet (1935a, S. 27) schrieb, zur Ähnlichkeit (ebd., S. 23ff.) – der erste Schritt zur Kreativität. Etwas, das etwas anderem ähnelt, ohne dessen Kopie zu sein, ist eine Analogie. Eine Analogie ist die auf Ähnlichkeit beruhende Repräsentation der Gestalt oder Essenz von etwas anderem. Das »anähnelnde« Verhalten des Kindes zeigt sich in dem von Piaget so genannten symbolischen Spiel, das im dritten Lebensjahr bereits gut entwickelt ist. In diesem scheinbar einsamen Spiel wählt das Kind Objekte aus seiner Umgebung aus, die den Elementen der Geschichte, die es sich selbst, tief versunken, erzählt, ähneln. Diese Objekte haben eine ähnliche »Gestalt« wie das, was sie repräsentieren. Der Stock als Mann oder das große Blatt als Boot sind Ausdruck des analogischen kindlichen Denkens. Die Analogie ist, so könnte man behaupten, der Ursprung des Symbols (Meares, 2016). Auch wenn Analogie und Symbol leicht zu verwechseln sind, ist es im Zusammenhang mit der Entwicklung von Geist und Psyche wichtig, den entscheidenden Unterschied zwischen ihnen nicht zu verwischen. Eine analoge Ähnlichkeit besteht zwischen Dingen in der äußeren Welt. Ein Symbol hingegen dient dazu, Realitäten, die man nicht sehen oder anfassen kann, vor allem Gefühle, zu repräsentieren. Das Paradebeispiel für ein Symbol sind die Metaphern. Während primitivere Gefühle wie Wut, Traurigkeit, Scham usw. mimischen Ausdruck finden, trifft dies auf die »kleinen Emotionen« (ebd.), die komplexen, subtilen, schwie185 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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rigen, »unaussprechlichen« ( Janet, 1935a, S. 27) Gefühle, gewöhnlich nicht zu. Dennoch sind sie für das höhere Bewusstsein von zentraler Bedeutung. Sie können einzig durch ihre sprachliche Repräsentation »realisiert« werden, durch Worte, die als Bilder dienen, zum Beispiel mithilfe von Symbolen. Diese Symbole »porträtieren« zentrale Elemente eines inneren Lebens. Symbolisierende Sprache taucht etwa im Alter von vier Jahren zusammen mit dem Erwerb des Konzepts der »Innerlichkeit« auf (Meares & Orlay, 1988), mit der Entdeckung des »Aktes der Geheimhaltung«, wie Janet es nannte ( Janet, 1935a, S. 54). Er schreibt dem »Akt der Geheimhaltung […] allergrößte Bedeutung zu, weil er das Denken in seiner ultimativen Form konstituiert« (ebd.). Mit dem Erreichen dieses Meilensteins hat sich die Bewusstseinsspaltung um einen Schritt weiterentwickelt. Das Kind lebt nun in zwei Welten, einer inneren und einer äußeren, einer öffentlichen und einer privaten. Es kann sich zwei Realitätsmodelle gleichzeitig vergegenwärtigen, nämlich das eigene und das anderer Menschen. In jüngerer Zeit wurde dies durch Wimmers und Perners (1983) Experimente mit »falschen Überzeugungen« nachgewiesen: Das Durchschauen falscher Überzeugungen wird zur Grundlage einer »Theory of Mind«, einer kindlichen Theorie des Geistes. Die Symbolisierung überschreitet die Grenze zwischen Innen und Außen. Aspekte der äußeren Welt werden benutzt, um Inneres zu repräsentieren. Ebendieser Prozess konstituiert das »Verhalten des Bildes«. Der symbolische Akt, so Janet, ist im Wesentlichen ein relationaler Akt ( Janet, 1934, S. 58). Er geht verloren, wenn das geistige Funktionsniveau auf einen Zustand absinkt, in dem die fundamentalen Dualitäten nicht existieren. Das Gespräch, in dem »das Porträt« gemalt wird, findet zunächst zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson statt. Sie ist der Künstler, der mit seinem »Verhalten ein Porträt der Gefühle malt« (ebd., S. 57), und zwar mithilfe von Symbolen. Ein solches Porträt hat große Ähnlichkeit mit der von Hobson (1985) beschrieben »Gefühlsform«, die für das Conversational Model eine zentrale Rolle spielt. Dies bringt uns zurück zu dem künstlerischen Vorgehen von Henri Matisse. Das Porträt ist, anders als die Fotografie, keine Kopie, sondern eine Abstraktion und Reduktion der Wirklichkeit auf das, was erforderlich ist, um das Unsagbare auszudrücken. Ein Beispiel ist Matisse’ Porträt der Yvonne Landsberg. Ihr Bruder sah zu, wie Matisse eine Version dieses Bildes nach der anderen anfertigte, und fand es beeindruckend, »dass das 186 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Gemälde ihre Persönlichkeit, d. h. ihr innerstes Wesen, umso besser vermittelt, je weniger es ihr äußerlich ähnelte« (Flam, 2003, S. 100). Sobald das Kind das Konzept der »Innerlichkeit« erworben hat, beginnt es, seine eigenen »Bilder« anzufertigen. Es kann nun an einem Wechselspiel teilnehmen, das unter bestimmten Umständen zu einem »Akt der Intimität« führt, nämlich dem Teilen von »Bildern« innerer Zustände durch symbolische Sprache. Dieses Verhalten steht im Einklang mit Janets Annahme, dass eine neue Form des Verhaltens, die sich in einem höherrangigen Bewusstseinszustand der Hierarchie manifestiert, nicht infolge einer mutmaßlichen Veränderung des Gehirns zustande komme, sondern durch die »Internalisierung« einer vorausgegangenen Form der ihr ähnelnden sozialen Interaktion. In dieser Phase seiner Entwicklung erfährt das psychische Leben des Kindes eine weitere wesentliche Bereicherung durch die Erinnerungs- und die Narrationsfähigkeit. Etwa im Alter von vier Jahren laufen zwei maßgebliche Entwicklungslinien, die den logischen und analogischen Prozessen zugrunde liegen, zusammen. Das logische und syntaktische Denken wird zum Medium einer anderen Denkweise, nämlich der analogen und symbolischen (Meares, 1993; 2005). Diese Koordination ermöglicht die Konstruktion einer Erzählung (le récit), einer intelligenten Repräsentationsform ( Janet, 1934, S. 129). Eine solche Geschichte, ein Akt des narrativen Selbst, kann Ähnlichkeit mit einem individuellen Leben aufweisen und es »porträtieren«. Sie ist Ausdruck unseres »Rechts auf eine eigene Geschichte, ähnlich unserem Recht auf einen eigenen Namen (un nome propre)«, fügt Janet hinzu. »Diese persönliche Biographie wird zum Ausgangspunkt dessen, was wir als Identität des Selbst bezeichnen« (ebd., S. 134). Festzuhalten ist jedoch, dass Janet in seiner Schrift nicht ausdrücklich erläutert, dass dieses Narrativ keine reine Chronik ist, keine Wiedergabe einer Abfolge von Ereignissen (Meares, 1998), sondern eine Erzählung in Form eines persönlichen Mythos (Meares, 2016). An anderer Stelle klärt Janet diesen Punkt im Zusammenhang mit einer weiteren Narrativform, die heute als episodisches Gedächtnis bezeichnet wird (Tulving, 1983). Janet nahm an, dass die episodischen Erinnerungen für den Menschen charakteristisch seien – Geschichten, die nicht »real« sind, sondern eine Rekonstruktion darstellen. Auch die Erinnerung ist eine Art Porträt, ein Abbild. Sie geht mit der Realisierung der Zeit einher, doch dieses Thema würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen. Ein extrem wichtiger Aspekt von Janets Porträt- oder Bildverständ187 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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nis sind seine relationalen und generativen Implikationen. So erläutert er den Eindruck eines »gelungenen« Porträts ( Janet, 1935a, S. 35) mit den Worten, dass es »eine spezielle Art der Freude« ( Janet, 1934, S. 160) bereite, die der Maler und der Betrachter miteinander teilen, weil ihnen die subtile Erfahrung und die Gewissheit vermittelt werden, verstanden worden zu sein. Wir erkennen diese Freude in den transformativen Momenten der Therapie wieder, in denen Patient und Therapeut eine höhere Ebene der Hierarchie erreichen, weil der Patient sich erkannt, verstanden und anerkannt fühlt. Es ist die Freude der Synthese (ebd., S. 27) oder die Freude des sich integrierenden Selbst (Meares, 2016). Dieses Gefühl kann zum Ursprung des positiven Gefühls als Kern einer gesunden Selbstheit werden, die James als »Wärme und Intimität« charakterisierte. Sie fehlt Menschen, die wiederholt traumatisiert wurden und unter einem qualvoll dysphorischen Zustand leiden.
Schluss Uncle M. hatte Recht: Janets Denken war seiner Zeit unglaublich weit voraus, und wir können von ihm lernen. Er selbst verglich sein Werk mit der »Erkundung der Terrae incognitae des menschlichen Geistes«: »Man folgt zunächst einem kleinen Fluss durch unbekanntes Gelände und gelangt nach und nach zum großen Strom« ( Janet, 1935a, S. 17). Janets persönliche Reise ist ein Beispiel für seine Hierarchie, für die Art und Weise, wie er seine eigenen mannigfaltigen Tendenzen in einer einzigartigen Synthese zusammenführte: den Philosophen, den Psychologen, den Wissenschaftler, den Botaniker, den Mystiker, den Familienmenschen, um nur die bedeutsamsten seiner Tendenzen zu nennen ( Janet, 1932a, S. 1). Er überwand seine persönlichen Traumata – die Depression im Alter von 15 Jahren, als er seinen Glauben verlor, drei Kriege und die Weltwirtschaftskrise – und fand die Kraft, die höheren Ebenen seiner Hierarchie dauerhaft zu erreichen: ein Mann, dessen Denken Raum und Zeit überspannte und der sich gleichermaßen bescheiden wie unermüdlich seiner Arbeit zur Verbesserung der Conditio humana widmete. Die Frage liegt nahe, wie es ihm gelang, so viele Jahre mit der Ausdifferenzierung seiner Hierarchie der psychischen Funktionen zu verbringen. Wenn wir aber begreifen, dass er einer ganz und gar neuen Psychologie des Selbst – seiner gesunden und seiner pathologischen Entwicklung – den 188 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Weg bahnte, können wir die Großartigkeit seines Projekts und den Mut und die Hingabe würdigen, die ihn diese Arbeit in einer Zeit, in der klassische Psychoanalyse und Verhaltenspsychologie den Ton angaben, gekostet haben muss. Janets späteres Werk (1930–1936) wird, auch wenn es vermutlich unvollendet geblieben ist, zu gegebener Zeit womöglich dieselbe Würdigung erfahren wie seine früheren, bereits bekannteren Texte. Es ist an der Zeit, Janets Relevanz für das heutige Denken vorbehaltlos anzuerkennen, da sein Werk neue Theorien untermauert und heutige Theoretiker ermutigen kann, die zu ähnlichen Reisen aufgebrochen sind wie er selbst und vielleicht Schwierigkeiten haben, sich mit Theorien Gehör zu verschaffen, die aktuelle wissenschaftliche Forschung und ein philosophisches Verständnis des Selbst und seiner Pathologien miteinander verbinden, Theorien, die Entwicklungspsychologie, Traumaforschung und reiche empirische Erfahrung zusammenführen und entsprechende Schlussfolgerungen postulieren, Theorien, die es ihnen ermöglichen, die Kunst und die Wissenschaft der Psychotherapie in ihrer klinischen Praxis zu integrieren. Janets Werk weist bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit den Hauptmerkmalen des Conversational Model auf, einer Form der generativen Therapie, die das Auftauchen des Selbst unterstützt. Um diese Ähnlichkeiten zu illustrieren, haben wir hier wesentliche Elemente seiner Beschreibungen miteinander verwoben.
Anhang Tab. 1: Janets Hierarchie der Handlungstendenzen Janets Hierarchie der Handlungstendenzen von 1930 conduites progressives progressive Verhaltensweisen
conduites expermentales
experimentelle Verhaltensweisen
stade rationnel ergétique
rational-ergetisches Stadium
croyance réfléchie
reflexive Überzeugungen
implizieren eine Synthese von Funktionen und Individualität (Selbstgefühl); Vordringen in Raum und Zeit (Janet, 1930b, S. 75) beruhen auf Erfahren und Fakten; Integrieren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft rationales und aktionsbasiertes Stadium, mit der Fähigkeit zu ausdauernder Arbeit (ergon = Aktivität)
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assertive Überzeugungen
croyance assértive
actes intellectuels élémentaires
conduites sociales
conduites perceptives conduites reflexes
nicht auf Fakten, sondern auf Gefühlen beruhende Überzeugungen (z. B. wovor man sich fürchtet). Neigung zu Suggestibilität (Janet, 1930b, S. 76) elementare intellektuelle Akte vorsprachliche Intelligenz und Beginn der Sprache (Ellenberger, 1996 [1974], S. 532) soziale Verhaltensweisen Individuum passt sein Handeln den Handlungen des Socius an (ebd., S. 530) perzeptives Verhalten instinktiv (Janet, 1930b, S. 74) automatisches/reflexhaftes muskuläre Entladung/keine Verhalten Regulation
Janets Hierarchie von 1934 tendances à des actes réflexes tendances à des actes perceptifs ou suspensifs
reflexartige Tendenzen perzeptiv-suspensive Tendenzen
tendances à des actes sociaux tendances à des actes intellectuels élémentaires tendances à des actes du plan verbal, actes assértifs tendances à des actes réfléchis tendances à des actes rationnels tendances à des actes expérimentaux
sozio-personale Tendenzen elementare intellektuelle Tendenzen Sprechakte und assertive Handlungen reflektierte Aktionen rationale Tendenzen experimentelle Tendenzen
tendances à des actes progressifs
progressive Tendenzen
setzen eine »Stimulierung in zwei Stufen« mit einer Phase des Wartens dazwischen voraus (Ellenberger, 1996 [1974], S. 529)
Unterscheidung zwischen verbaler und körperlicher Aktion
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10 Pierre Janet über Halluzinationen, Paranoia und Schizophrenie1 Andrew Moskowitz, Gerhard Heim, Isabelle Saillot & Vanessa Beavan
Pierre Janet ist als »Vater« der Dissoziationstheorie und der von ihm entwickelten Methoden zur Behandlung hysterischer und psychasthenischer (zwangneurotischer) Störungen bekannt geworden (Pitman, 1987; s. a. 1. Kapitel). In seiner Praxis hat er nur wenige psychotische Patienten gesehen, und wahrscheinlich hat er auch die Schriften Bleulers und Kraepelins nicht gelesen, zumindest nicht auf Deutsch, aber er hat sich stets für psychotische Symptome interessiert. Von Beginn seiner beruflichen Laufbahn bis zum Schluss faszinierten ihn Halluzinationen. Als er sich Anfang der 1880er Jahre mit Psychiatriepatienten zu beschäftigen begann, wollte er Menschen mit Halluzinationen untersuchen (Ellenberger, 1996 [1974]), und in seinem letzten, postum veröffentlichten Artikel griff er das Thema erneut auf ( Janet, 1947a). In der Zwischenzeit und vor allem in seinen späteren Jahren veröffentlichte er annähernd 20 Beiträge über psychotische Symptome und das Konzept der Schizophrenie. Diese Schriften machen zwar nur einen kleinen Teil seines umfangreichen Œuvres aus, enthalten aber Schätze, die ihre Bedeutung bis heute nicht eingebüßt haben. Da es unmöglich ist, Janets wichtige Überlegungen zur Psychose im Rahmen dieses Kapitels ausführlich vorzustellen, konzentrieren wir uns auf seinen aus zwei Teilen bestehenden, 1932 veröffentlichten Beitrag »L’Hallucination dans le délire de la persécution«2 [»Halluzinationen bei Verfolgungs1 Erstveröffentlicht in Psychosis, Trauma and Dissoziation: Emerging Perspectives on Severe Psychopathology, hg. von A. Moskowitz, I. Schafer & M. J. Dorahy. New York (Wiley) 2008, S. 91–103. 2 In einer Fußnote zum Titel des Beitrags weist Janet (1932c, S. 61) darauf hin, dass es sich um »ein Kapitel eines in Vorbereitung begriffenen Buches mit dem Titel Les Délires d’Influence et les Sentiments Sociaux [Einflusswahn und soziale Emotionen]« handelt. Dem Buch, so der Fußnotentext, lagen zwei Reihen von Vorlesungen zugrunde, die Janet Mitte der 1920er und Anfang der 1930er Jahre am Collège de France gehalten hatte. Aus nicht
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wahn«] sowie auf drei kürzere Artikel über Halluzinationen bzw. Schizophrenie, die zwischen 1927 und 1947 erschienen sind.
Historische Übersicht Schon in Le Havre, einer Kleinstadt in der Normandie, in der Janet seine erste Stelle als Philosophielehrer antrat, brachte er sein Interesse an der Untersuchung psychiatrischer Patienten zum Ausdruck. Ihn interessierten Halluzinationen, die er »in Verbindung mit dem Wahrnehmungsmechanismus« erforschen wollte, um eine Dissertation über das Thema zu schreiben ( Janet, 1930a). Woher dieses spezielle Interesse rührte, wissen wir nicht, doch ist anzunehmen, dass Janet die Debatten über das Wesen der Halluzinationen, die 30 Jahre zuvor in Paris einen Höhepunkt erreicht hatten, kannte (Berrios & Denning, 1996). Als er sich aber an Dr. Gibert, einen prominenten, in Le Havre niedergelassenen Arzt, wandte, machte ihn dieser auf eine Frau, »Léonie« genannt, aufmerksam, die angeblich über bemerkenswerte psychische Fähigkeiten verfügte. Janets intensive Arbeit mit Leonie und mit anderen Patienten in Le Havre wurde zur Grundlage seiner Dissertation und seiner ersten Buchveröffentlichung, L’Automatisme Psychologique (1889; engl. Übers. 2022a; 2022b). Während Janet das Thema Halluzinationen in den drei Jahrzenten nach Erscheinen von L’Automatisme Psychologique, in denen er seine Theorien über Hysterie und Psychasthenie entwickelte, in mehreren Publikationen lediglich streifte, erwachte sein Interesse an Halluzinationen und Wahnvorstellungen Ende der 1920er Jahre aufs Neue. Möglicherweise hing dies mit einem Besuch in Zürich zusammen, wo er sich 1926 auf Einladung Eugen Bleulers3 aufhielt, oder mit seiner Lektüre von Eugene Minkowskis 1927 erschienenem Werkes La Schizophrénie (Minkowski, 1927a). Über den Zürich-Besuch wissen wir nicht viel mehr, als dass Janet Bleuler ein mit bekannten Gründen wurde das Werk nie veröffentlicht. Die Tatsache aber, dass Janet es plante und vorbereitete, beweist, dass seine sich entwickelnden Überlegungen zu Wahnvorstellungen und Halluzinationen für ihn von beträchtlicher Bedeutung waren. Der zweite Teil des Beitrags (Janet, 1932d) wurde unter der Überschrift »Les croyances et les hallucinations« [»Überzeugungen und Halluzinationen«] in derselben Ausgabe der Revue Philosophique publiziert. 3 Janets Antwortschreiben wird im Bleuler Archiv der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (Burghölzli) aufbewahrt.
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10 Pierre Janet über Halluzinationen, Paranoia und Schizophrenie
persönlicher Widmung versehenes Exemplar des ersten Teils seines zweibändigen Buches De L’Angoisse à L’Extase (Von Angst zur Ekstase) ( Janet, 1926a) schenkte. Ein Jahr später veröffentlichte er einen Beitrag mit dem Titel (»À propos de la schizophrénie«) (»Über Schizophrenie«), in dem er mit Blick auf Bleulers Schizophrenie-Konzept und das Konzept der Dissoziation Fallberichte analysierte. 1932 veröffentlichte er den wichtigen Artikel »L’Hallucination dans le délire de la persécution« (»Halluzination bei Verfolgungswahn«) ( Janet, 1932c), der für die vorliegende Diskussion von zentralem Stellenwert ist, sowie etliche weitere Texte, die er offenbar ebenfalls für das von ihm geplante Buch verfasst hatte. Danach beschäftigte er sich in seinen Schriften nur noch selten mit Halluzinationen. Erst mit seinem bedeutenden letzten, postum im Jahr 1947 veröffentlichten Beitrag kehrte er zum Thema Halluzinationen und paranoide Psychose zurück. Vielleicht hatte ihn ein weiterer Besuch in Zürich zu der Arbeit angeregt – 1946 hatten ihn C. G. Jung und Manfred Bleuler, der Direktor des Burghölzli (Ellenberger, 1996 [1974], S. 892), eingeladen. Laut Ellenberger war Janet mit dessen Vater Eugen Bleuler »gut bekannt gewesen« (ebd., S. 472).
Wichtige Janet’sche Konzepte Janets Schriften über Schizophrenie, Paranoia und Halluzinationen entstanden im Kontext seiner allgemeinen Psychologie des Handelns (la psychologie de la conduite; vgl. Janet 1926a; 2013d [1938]), die er in seiner Zeit als Professor für vergleichende und experimentelle Psychologie am Collège de France konzipierte und der er auch die Erfahrungen zugrunde legte, die er in seiner psychotherapeutischen Praxis sammelte. Janet wandte die »pathologische Methode« von Claude Bernard und Théodule Ribot an (Brooks III, 1998; Nicolas, 2002), die nach seinen Worten »alle verfügbaren Informationen aus der [normalen] Psychologie zur Klassifizierung und Interpretation psychopathologischer Fakten nutzt, und umgekehrt in den morbiden Veränderungen der Psyche nach Beobachtungen und natürlichen Erfahrungen sucht, um das [normale] menschliche Denken zu analysieren« ( Janet, 1903, S. vii). Um also Janets Überlegungen zu Halluzinationen, Paranoia und Schizophrenie verstehen zu können, müssen wir zuerst einige der psychologischen Grundannahmen seiner allgemeinen Psychologie des Handelns verstehen. 193 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Relevant für unsere Diskussion sind die Konzepte der psychischen Kraft und der psychischen Spannung, seine Hierarchien der Tendenzen und der Realitätsebenen sowie das Konzept der Gefühle als Handlungsregulatoren und dessen Beziehung zur Strukturierung zwischenmenschlicher Erfahrung (division sociale4).
Psychische »Kraft« und psychische »Spannung« Aus Janets ein wenig metaphorischer Terminologie spricht der Zeitgeist des 19. Jahrhunderts, in dem die Elektrizität sowie die in der Physik erzielten Fortschritte, zum Beispiel die »Entdeckung« der Gesetze der »Thermodynamik«, maßgeblichen Einfluss auf die Medizin und die Psychologie ausübten (Rabinbach, 1990). Ebenso wie Freud nahm auch Janet eine Art geistiger oder psychischer Energie an, die in mancherlei Hinsicht der physikalischen Energie ähnelte und deren Perturbationen eng mit der Psychopathologie zusammenhingen. Sein Modell enthielt mehrere Schlüsselkonzepte ( Janet, 1923b). Als psychische Kraft bezeichnete er die psychischen Ressourcen, die vom Individuum mobilisiert werden können. Janet glaubte, dass das Maß der dem Menschen verfügbaren psychischen Energie nicht nur von Natur aus individuell variiere, sondern darüber hinaus auch in Abhängigkeit von den jeweiligen Umständen schwanke. Zum Beispiel beeinträchtigen körperliche Erkrankungen oder außergewöhnliche Belastungen auch die psychische Kraft und machen die Betroffenen anfälliger 4 Anm. d. Hrsg.: Eine wörtliche Übersetzung von »division sociale« wäre im Deutschen unverständlich. Janet bezieht sich hier auf die ausschließliche Entwicklung des individuellen Selbst aus der Erfahrung des Individuums in sozialen Interaktionen. Er führt dabei strukturierende Operationen – »division sociale« (Aufteilung) bzw. »repartition« (Zuteilung) – an, die zwischen dem Subjekt und dem Anderen unterscheiden. Seine Ideen einer »psychologie de la conduite« (Janet, 1928a; 1937a), die auf Gabriel Tarde, Josiah Royce, William James und James Mark Baldwin (vgl. Valsiner & Van der Veer, 2000) verweisen, wendet er hier auf die Psychopathologie der Psychosen an: »l’évolution de la personnalité humaine […] est […] une construction qui tend vers l’unité, mais qui n’est pas certaine d’y arriver« (Janet, 1933, S. 40), ausführlicher beschrieben in seinen Arbeiten über paranoide Entwicklung (z. B. Janet, 1937b). Christian Scharfetter bezeichnet in seinem Buch zur Phänomenologie der Schizophrenie (1986) das Ergebnis solcher Operationen mit »Ich-Demarkation«; der normalsprachliche Ausdruck »Abgrenzung von anderen« würde den theoretischen Hintergrund bei Janet verdecken.
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für bestimmte psychische Leiden. Da die psychische Kraft in spezifischen Situationen angemessen eingesetzt werden muss, postulierte Janet einen weiteren Mechanismus, nämlich die psychische Spannung, die ebendies bewirkt. Angemessene psychische Spannung ermöglicht dem Individuum, seine psychischen Ressourcen (Kraft) optimal zu nutzen, sich für die bestmöglichen Handlungen zu entscheiden und weder zu wenig noch zu viel Kraft aufzuwenden. Van der Hart, Nijenhuis und Steele (2006) sprechen aufgrund ebendieser Eigenschaft von mentaler Effizienz statt von psychischer Spannung. Im Gegensatz dazu ist die Psychopathologie durch unzureichende Kraft sowie durch inadäquate Spannung oder durch eine Unausgewogenheit zwischen Kraft und Spannung charakterisiert. Diese Situation begünstigt häufig Handlungen, die der Situation nicht angemessen sind, das heißt Handlungen, die auf einer entweder allzu hohen oder allzu niedrigen Ebene in Janets Hierarchie der Tendenzen ausgeführt werden (siehe unten). So kann ein Überschuss an psychischer Kraft in Verbindung mit reduzierter Spannung zu bestimmten Zwangsstörungen führen, etwa zu Ticks oder Manierismen. In der klinischen Praxis pflegte Janet die psychische Kraft und Spannung seiner Patienten zu beurteilen, um dann individuelle Lösungen vorzuschlagen.
Die Hierarchie der (Handlungs-)Tendenzen Janet (1926b; 2013d [1938]) war überzeugt, das gesamte menschliche Verhalten auf einer Skala der Tendenzen konzipieren zu können. Er benutzte den Begriff »Tendenzen«, um zu betonen, dass man gewöhnlich nicht alles, was er auf der Skala beschrieb, als Handlungen betrachten würde, das heißt als körperlich ausgedrückte Verhaltensweisen gegenüber anderen Personen oder Gegenständen. Beispielsweise konzipiert Janet zahlreiche oder sogar sämtliche geistigen oder psychischen Aktivitäten als – wiewohl aufgeschobene – Handlungen. In diesem Sinn verstanden, sind Gedanken, Erinnerungen, Erwägungen usw. aufgrund ihrer ursprünglichen sozialen Konzipierung und Relevanz als Handlungen zu verstehen. Demgemäß sind zum Beispiel Erinnerungen als Geschichten über unser Leben zu verstehen, die wir konstruieren, um sie anderen Menschen oder uns selbst, so als wären wir eine andere Person, zu erzählen. Das Denken verstand Janet als ein internalisiertes Sprechen. Er nahm sogar an, dass eine so basale 195 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Funktion wie die »Wahrnehmung« eine »motorische Reaktion« sei, und betonte, dass das Erkennen eines Objekts immer auch ein potenzielles Handeln ihm gegenüber – eine »Reaktion« – impliziere ( Janet, 1935a). Eine solche Position erklärt die ganz unterschiedlich umfassenden Vokabulare, über die verschiedene Kulturen verfügen, um Dinge zu bezeichnen. Zum Beispiel stehen den kanadischen Inuit ungleich mehr Wörter zur Beschreibung von Schnee zur Verfügung als den Europäern, denn für die Inuit besitzen verhältnismäßig subtile Unterschiede in der Beschaffenheit des Schnees wichtige Implikationen für die Art und Weise, wie sie sich gegenüber dem Schnee verhalten. Für die Europäer hingegen sind diese Implikationen irrelevant. Wir können die Hierarchie der Tendenzen hier nicht detailliert erörtern (für umfassende Übersichten siehe Heim & Bühler, 2006; Saillot, 2005; van der Hart, Nijenhuis & Steele 2006). Festzuhalten sind die für unsere Diskussion zentralen Punkte. Erstens geht Pathologie häufig mit der ersatzweisen Entäußerung von Tendenzen einher, die wir eher auf den niedrigen Ebenen der Hierarchie verorten, und zweitens sind geistige und psychische Aktivitäten als Handlungen zu konzipieren.
Ebenen der Realitätsfunktion Janet vertrat auch die Ansicht, dass Menschen inneren und äußeren Vorgängen Realitätsebenen zuschreiben, die hierarchisch konzipiert werden können. Als konstitutiv für diese Hierarchie beschrieb er verschiedene Konzepte, zum Beispiel Imagination, Handlungen sowie unterschiedliche Zustände der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ( Janet, 1928b; vgl. van der Hart, Nijenhuis & Steele 2006). Der höchsten Ebene der Realitätsfunktion wies er die Funktion der Vergegenwärtigung (présentification) zu, das heißt die Fähigkeit, fokussiert und sinnvoll in der Gegenwart zu handeln und eigene Erfahrungen aus der Vergangenheit und Pläne für die Zukunft zu integrieren. Ein Großteil der Psychopathologie, so Janet, könne als Mischung verschiedener Realitätsebenen konzipiert werden. So verhält es sich beispielsweise, wenn Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung Geschehnisse aus der fernen Vergangenheit so erleben, als ereigneten sie sich in der Gegenwart. Diese Hierarchie kann aber auch zur Erklärung von Phänomenen wie dem Stimmenhören benutzt werden. In diesem Fall werden innere, psychische Vorgänge auf einer unangemessenen 196 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
10 Pierre Janet über Halluzinationen, Paranoia und Schizophrenie
Realitätsebene wahrgenommen: »Der wahnhafte Patient ist jemand, der sein eigenes Sprechen unzulänglich auf der Hierarchie der Realitätsgrade lokalisiert« ( Janet, 1932a, S. 25).
Handlungsregulierende Gefühle – Strukturierung zwischenmenschlicher Erfahrung Janet (1928b) legte in seiner Theorie besonderen Wert auf die Bedeutung einer großen Bandbreite an inneren Zuständen, von ihm sentiments genannt, für die Handlungsregulation. Die Vokabel »Gefühle« umfasst dabei auch körpernahe Gefühle wie Ermüdung ( fatigue) und Anstrengung (effort), Zustände also, die wir heute als propriozeptives Feedback bezeichnen würden. Darüber hinaus vertrat er die Ansicht, dass Gefühle mit der Strukturierung zwischenmenschlicher Erfahrung [division sociale] interagieren und diese modifizieren, das heißt, die Prozesse, durch die wir anderen Menschen Handlungen zuschreiben (»soziale Objektifikation«) oder uns selbst (»soziale Subjektifikation«) – eine Unterscheidung, die nicht naturgegeben ist, sondern gelernt werden muss. »Das gesamte Sozialverhalten erfordert komplexe, simultane Repräsentationen sowohl unseres eigenen Handelns als auch des Handelns anderer Menschen. Dieses Verhalten setzt immer eine Operation des Aufteilens voraus, sodass wir einige dieser komplexen Repräsentationen uns selbst und einige den Anderen zuschreiben. Diese heikle und fehleranfällige Operation beruht weitgehend auf unseren Gefühlen« ( Janet, 1936b, S. 385).
Janet behauptete insbesondere, dass die Zuschreibung von Handlungen an uns selbst – soziale Subjektifikation – eng mit den Gefühlen von Anstrengung und Ermüdung zusammenhänge, die wir nach Ausführung der Handlung empfinden. Die soziale Objektifikation hingegen steht zumeist im Zeichen der weniger basalen Gefühle des Versagens und Triumphierens sowie der damit einhergehenden Gefühle der Traurigkeit und Freude. Zum Beispiel haben wir das Gefühl zu versagen, wenn es entgegen unserer Bemühungen zu einer Handlung kommt (oder nicht kommt) und es den Anschein hat, als sei diese Handlung unabhängig von uns selbst erfolgt. Das Hindernis wird im Objekt lokalisiert; Widerstand wird anderen Menschen zugeschrieben. Die Handlung wird objektifiziert und wird dadurch Teil des 197 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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sozialen Bereichs. Das Gleiche geschieht bei einer Triumphreaktion. Wir triumphieren über äußeren Widerstand, doch die Handlung, die unsere Triumphgefühle begleitet, ist mit dem sozialen Bereich verbunden. Zu einer fehlerhaften sozialen Zuschreibung kommt es, wenn starke Gefühle, die normalerweise mit Anstrengung, Ermüdung, Versagen oder Triumph assoziiert sind, in deren Abwesenheit auftauchen. Janet legte insbesondere dar, dass die Melancholie, die sich per definitionem in Abwesenheit genuinen sozialen Versagens entwickelt, die soziale Zuschreibung beeinträchtigen kann, sodass der Betroffene seine Gedanken irrtümlich dem sozialen Bereich zuschreibt.
Schizophrenie Bleulers Theorie der Schizophrenie wird in Janets Schriften anders als dessen Arbeiten zu Halluzinationen (siehe unten) nur gelegentlich thematisiert. Die wichtigste Ausnahme ist der Beitrag »À propos de la schizophrenie« [»Über Schizophrenie«] von 1927 ( Janet, 1927b). Tatsächlich benutzte Janet, wenn er psychotische Diagnosen, abgesehen von der Paranoia, überhaupt einmal erörterte, auch nach seinem Besuch bei Eugen Bleuler 1926 weiterhin häufiger Kraepelins Bezeichnung »Dementia praecox« als Bleulers »Schizophrenie«.5 Zu den möglichen Gründen siehe unten. Janet hat die Schizophrenie offenbar als eine schwere Form der psychischen Asthenie, einer Schwäche der psychischen Kraft, verstanden, die an die Psychasthenie – von ihm stets als eine Form der Neurose betrachtet ( Janet, 1930a) – grenzt, aber nicht mit ihr identisch ist. Er sah die Genese der Schizophrenie eindeutig im sozialen Bereich. Laut Ellenberger (1996 [1974], S. 518) pflegte Janet zu sagen: »Dementia praecox ist ein soziales Irresein« (»la démence précoce est une démence sociale«). Zu seinem Artikel von 1927 ließ sich Janet durch einen Vortrag anregen, den Eugène Minkowski in der Pariser Société de Psychologie hielt. Minkowski, ein gebürtiger Russe, war Psychiater, hatte im Ersten Weltkrieg eng mit Bleuler zusammengearbeitet und sich danach in Paris niedergelassen. Laut Janet (1927b) behandelte sein Vortrag »die Theorien Monsieur Bleu5 Janet hat auch immer eine psychotische Form der Hysterie anerkannt (vgl. van der Hart, Witztum & Friedman 1993).
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lers über psychische Dissoziation bei Schizophrenie«. Er wies darauf hin, dass er selbst einen Beitrag über seine eigene Interpretation dieser Dissoziation zu verfassen plane. Minkowskis Vortrag ist nicht erhalten geblieben, aber er hat im Jahr 1927 auch ein Buch über Schizophrenie veröffentlicht, das man als einen Versuch bezeichnet hat, die Ideen Eugen Bleulers und Henri Bergsons miteinander zu verbinden (Cutting & Shepherd, 1987).6 In diesem Buch konzentriert sich Minkowski (1927b) auf den »Verlust des lebendigen Kontakts zur Realität« in der Schizophrenie, wobei er Bleulers Konzept des »Autismus« stärker betonte als die »assoziative Lockerung«, die dieser selbst für das zentrale Merkmal der Störung hielt (Minkowski, 1927b; Cutting & Shepherd, 1987, S. 191). Einen Großteil des Beitrags machen die beiden Fallberichte über Sonia und Claudine aus, deren Krankheitsbild nach Meinung Janets, der sich dabei auf Minkowski beruft, dem von Bleuler als »schizophren« bezeichneten entspricht. Beide Patientinnen zeigten sozialen Rückzug und eine auffällige Gleichgültigkeit in Bezug auf Beschäftigungen, die ihnen zuvor Freude bereitet hatten (intellektuelle Interessen im Falle Sonias und organisatorische und familiäre Angelegenheiten im Falle Claudines). In vielerlei anderer Hinsicht gab es jedoch auch Unterschiede zwischen den Patientinnen. Sonia überließ sich über lange Phasen Tagträumereien – von Janet als »Reverien« bezeichnet – grandioser und erotomanischer Natur; zum Beispiel hielt sie sich für die Verfasserin berühmter literarischer Werke, für die Mutter von Kindern, die ihr auf der Straße begegneten, oder für die Ehefrau eines Mannes von Rang). Sie berichtete aber keine sonderlich intensiven Gefühle der Leere oder Unwirklichkeit. Ihre »Reverien« wirkten in mancherlei Hinsicht wahnhaft, auch wenn ihr phantasmatischer Charakter Sonia selbst gelegentlich einsichtig war. Zum Beispiel bat sie Janet einmal, über ihre »Geschichten« nicht mit ihren Eltern zu sprechen, weil sie sich nicht vor ihnen »lächerlich« machen wollte. Claudine hingegen, deren Verfall mit starker körperlicher Erschöpfung und Melancholie einherging, war zu solchen phantasievollen Höhenflügen nicht in der Lage, sondern schilderte intensive Gefühle der Leere und Unwirklichkeit, die wir heute wahrscheinlich als »Depersonalisation« und »Derealisation« bezeichnen würden. Unter Verweis auf Bleulers Schizophrenie-Theorie hinterfragte Janet auch die Angemessenheit des Begriffs »Dissoziation«. Implizit gab er 6 Bergson, ein Jugendfreund Janets, hat dessen Denken in vielerlei Hinsicht maßgeblich beeinflusst (Ellenberger, 1996 [1974]).
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zu verstehen, dass Minkowski Bleulers »assoziative Lockerung« als eine Art Dissoziation betrachtete, und zitierte das (offenbar von Minkowski stammende) Beispiel der Patienten, die Fragen nur vage und ungenau und dem sozialen Kontext nicht angemessen beantworten. Laut Janet sollte man dies nicht als »Dissoziation« betrachten, weil solche Patienten nämlich lediglich »Schwierigkeiten haben, neue Assoziationen herzustellen, d. h. eine neue Synthese zu bilden. Weil aber die alten Assoziationen nicht zerstört werden, liegt keine Dissoziation vor« ( Janet, 1927b, S. 487). Deshalb sprach er sich dafür aus, den Begriff »Dissoziation« in diesem Kontext für »das Zerbrechen von Assoziationen zu reservieren, die in der Vergangenheit bereits gebildet wurden, für das Zerbrechen der Assoziation zwischen einem Wort und seiner Bedeutung, zwischen den aufeinanderfolgenden Bewegungen einer Handlung, für die Zerstörung einer primären Tendenz« (ebd., S. 487). Offenbar benutzte Janet Bleulers Konzept der »Assoziation« gleichbedeutend mit seinem eigenen Synthesebegriff. Er betonte, dass sich solche Rupturen, die Bleuler seiner Ansicht nach vermutlich als »schizophren« diagnostiziert hätte, in keinem einzigen der von ihm selbst berichteten Fälle beobachten ließen, und nahm anscheinend an, dass seine Position mit Bleulers Ansicht übereinstimmte, der zufolge bei der Schizophrenie »keine Zerstörung einer psychischen Funktion im eigentlichen Sinn […] (Wahrnehmung, Sprache, Gedächtnis usw.)« vorliegt (ebd., S. 487). Hier setzte Janet offenkundig die »primäre Tendenz« mit »psychischer Funktion« gleich. Darüber hinaus behauptete er, dass Patienten, die gefühllos zu sein behaupten, aber durch Stimulation zur Äußerung intensiver Emotionen veranlasst werden können, nicht dissoziiert seien, denn die schmerzvolle Emotion an sich sei nicht »dissoziiert«, sondern enthalte »dieselben und auf dieselbe Weise gruppierten Elemente«. Er zog den Schluss, dass man nicht von Dissoziation sprechen sollte, wenn »die Integrität der primären Tendenzen und sämtliche psychischen Systeme« erhalten seien (ebd., S. 487).7 7 Janet benutzte den Terminus »Dissoziation« in diesem Beitrag zweifellos in einem engen Sinn, und zwar als Gegenteil der »Assoziation«. Dieser Wortgebrauch findet sich in seinen übrigen Schriften nur selten. Für gewöhnlich beschrieb er mit »Dissoziation« eine pathologische Abtrennung von Subsystemen der Persönlichkeit (Janet, 1889). Dass er den Begriff hier in einer engen Bedeutung verwandte, hängt wahrscheinlich mit Minkowskis Fokussierung auf Assoziationen und der bei Minkowski fehlenden Betonung
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Janets Widerstreben, der Dissoziation eine Rolle in der Schizophrenietheorie einzuräumen, hilft vielleicht zu erklären, weshalb er den Begriff »Dementia praecox« konsequent dem der »Schizophrenie« vorzog. Er war durchaus der Ansicht, dass die »Demenz« für diese gestörten Zustände von zentraler Bedeutung war, betrachtete die Störung aber – anders als in diesen beiden klinischen Vignetten beschrieben – als ein in erster Linie soziales und nicht als geistiges oder psychisches Phänomen. Das Konzept der »sozialen Demenz« kommt Bleulers »Autismus«-Konzept sehr nahe, das Minkowski (1927b) als den Versuch einer Abwehr oder eines Schutzes vor geistigem Verfall verstand. Janet stimmte dem zu und legte in La Force et la Faiblesse Psychologique (1932a) dar, dass diese Patienten ihre Gefühle und Aktivitäten auf ein Minimum reduzieren und durch den autistischen Rückzug in innere Tagträume – Reverien – ein Gleichgewicht auf »niederer« Ebene herstellen. Diese Sichtweise formulierte Janet erstmals im letzten Satz des Beitrags »À propos de la schizophrénie« (1927b), in dem er die Schizophrenie als eine Form der »psychischen Asthenie« bezeichnete, in der »ein neues Gleichgewicht der Kräfte« hergestellt wird, indem sich die Patienten »mit ihrer Krankheit arrangieren« (ebd., S. 492).
Paranoia Im Gegensatz zum heutigen Schizophrenieverständnis definierte Bleulers Theorie Wahnbildungen und Halluzinationen keineswegs als zentrale Merkmale der Erkrankung. Die Störung, bei der diese Phänomene in Abwesenheit geistigen Verfalls eine auffällige Rolle spielen, war laut Bleuler die Paranoia. Den Titel von Janets Aufsatz »L’Hallucination dans le délire de persécution« (1932c) wird man am genauesten übersetzen als »Die Halluzination beim Verfolgungswahn«, obgleich man heute Halluzination und Wahn als unterschiedliche psychopathologische Phänomene betrachtet (die nichtsdestoweniger eng aufeinander bezogen sind). Janets letzter Text der Spaltung zusammen. Die Spaltung ist nicht nur ein für Bleulers Schizophrenietheorie zentraler Begriff, sondern bildet die Rechtfertigung der Bezeichnung »Schizophrenie« (siehe 3. Kapitel) und wird in französischsprachigen Beiträgen über Bleulers Werk häufig mit »dissociation« übersetzt (siehe z. B. Garrabé, 1997). Janet war sich Bleulers Betonung der »Spaltung« in der Schizophrenie möglicherweise nicht bewusst.
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Andrew Moskowitz, Gerhard Heim, Isabelle Saillot & Vanessa Beavan
(1947a), dessen Themenbereich sich weitgehend mit seinem früheren Text deckt, trägt den Titel »Caractères de l’hallucination du persécuté«, den wir als »Merkmale der Halluzination des paranoiden Patienten« übersetzen würden. In diesen Texten scheint Janet das Wesen von Halluzinationen bei der Paranoia zu untersuchen, wobei abermals zu bedenken ist, dass der Begriff Anfang des 20. Jahrhunderts anders verstanden wurde als heute. Damals betrachteten sowohl Kraepelin als auch Bleuler die Paranoia als eine psychotische Störung, die sie von der Schizophrenie unterschieden, weil sie nicht den für letztere charakteristischen Grad an Demenz oder Verfall aufwies, vielmehr durch Wahnvorstellungen (nicht nur persekutorische oder paranoide, sondern auch grandiose und andere »nicht-bizarre« Wahnbildungen) und auch durch Halluzinationen charakterisiert ist. Da Janet zweifellos auf persekutorische und grandiose Wahnbildungen in dieser Gruppe Bezug nimmt, dachte er wahrscheinlich an eine Gruppe von Personen, die Kraepelin und Bleuler als paranoid und nicht als schizophren im Sinne der Dementia praecox diagnostiziert hätten.8 Heute würden wir von einer anhaltenden wahnhaften Störung sprechen, auch wenn Halluzinationen in solchen Fällen eher ungewöhnlich sind (APA, 2015 [2013]). Offenbar hat auch Janet erkannt, dass diese Wahnvorstellungen »psychogener« Natur sein konnten. Dies illustriert die folgende, von dem amerikanischen Psychologen Ernest Harms verfasste Vignette: »Als ich Janet fragte, welches therapeutische Konzept er verfolge, gab er mir diese merkwürdige Antwort: ›Ich glaube diesen Menschen, solang mir nicht bewiesen wird, dass sie die Unwahrheit sagen.‹ Mir war gerade ein junger Mann begegnet, der es vermied, auf irgendeinen Schatten zu treten, weil in jedem Schatten Napoleon lauerte, der ihn zur Armee einziehen wollte. Neben ihm stand eine Frau von über 70, die sich vom Bürgermeister von Paris verfolgt fühlte, der mit ihr Geschlechtsverkehr haben wollte. Mir fiel es schwer, auch nur ein Körnchen Wahrheit in solchen fixen Ideen zu entdecken. Janet hatte bemerkt, wie sehr mich seine rätselhaften Worte verblüfften. Er wandte sich mir zu: »Wissen Sie, diese Menschen werden von etwas verfolgt, und Sie müssen sie sehr aufmerksam untersuchen, um die Ursache aufdecken zu können‹« (Harms, 1959, S. 1036f.). 8 »Es gibt Verfolgte, die Störungen der Intelligenz aufweisen, die zur Demenz führen. Dies sind die persekutorischen Wahnbildungen der praecox-dementen [déments précoces] […] aber Dreiviertel der Verfolgten sind nicht dement« (Janet, 1932a, S. 237).
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10 Pierre Janet über Halluzinationen, Paranoia und Schizophrenie
Wir erläutern Janets Überlegungen zur Genese der Wahlvorstellungen im folgenden Abschnitt, da die Mechanismen (u. a. die Strukturierung zwischenmenschlicher Erfahrung und die Realitätsfunktion) denen ähneln, die er für die Halluzinationen postulierte. Darüber hinaus würden wir einige der von ihm als Halluzinationen bezeichneten Phänomene heute als Wahnvorstellungen beschreiben.
Halluzinationen Janets lebenslanges Interesse an Halluzinationen mag damit zusammenhängen, dass man die Analyse des Symptoms als eine ideale Brücke zwischen Philosophie und Psychopathologie begreifen kann. Seine umfassendste Abhandlung über das Thema, ein 90 Druckseiten umfassender Essay mit dem Titel »L’hallucination dans le délire de persécution« wurde in zwei Teilen in einer wichtigen französischen philosophischen Fachzeitschrift, der Revue Philosophique de France et de l’Étranger, veröffentlicht ( Janet, 1932c; 1932d). In dieser Schrift analysierte Janet das Wesen der Halluzinationen, indem er sie von normalen Wahrnehmungen sowie von den, wie er es nannte, Illusionen, das heißt verzerrten Wahrnehmungen, unterschied. Er widersprach dem damals seit Langem für gültig erachteten, auf Esquirol (1832) zurückgehenden Lehrsatz, dass Halluzinationen als Wahrnehmungen zu verstehen seien, denen ein (äußeres) Objekt fehle. Verschiedenartige Phänomene, so schreibt er einleitend, seien als »Halluzinationen« bezeichnet worden. Aus diesem Grund schlägt er vor, Unterscheidungen zu treffen zwischen (a) Wahrnehmungsverzerrungen oder Illusionen, die vorwiegend unter Alkohol- oder toxischen Einflüssen erlebt werden; (b) Erinnerungsstörungen, wie sie bei traumatischen Flashbacks, von ihm als halluzinatorische Reminiszenzen bezeichnet, auftreten9; sowie (c) akustischen und, in geringerem Umfang, visuellen Halluzinationen, von denen Personen mit paranoiden Wahnbildungen oder Größenwahn berichten. Janets Verständnis der Halluzinationen lagen mehrere Voraussetzungen zugrunde: (1) Halluzinationen hängen nicht mit der Wahrnehmung zu9 Wahrscheinlich hätte Janet zu dieser Gruppe keine Personen gezählt, denen ihre akustische Halluzinationen einsichtig sind, also Personen, die die Stimmen nicht auf wahnhafte Weise zu erklären versuchen, sondern erkennen, dass sie in ihnen selbst lokalisiert sind (»Pseudohalluzinationen«, vgl. Berrios & Denning, 1996).
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sammen, sondern mit einer Art wahnhafter Überzeugungen, die es von Illusionen, welche auf eine verzerrte Wahrnehmung zurückzuführen sind, zu unterscheiden gilt; (2) von zentraler Bedeutung für das Erleben von Halluzinationen ist das Gefühl oder die wahnhafte Einbildung, beeinflusst zu werden; und (3) solche Gefühle der Beeinflussung oder Aufzwingung hängen typischerweise mit melancholischen Gefühlen zusammen und führen zur Verzerrung der sozialen Wahrnehmung, sodass die Betroffenen zum Beispiel ihre inneren Erfahrungen anderen Menschen zuschreiben. Alternativ könnte man auch sagen, dass Menschen, die halluzinieren, inneren Erfahrungen (z. B. kritischen Gedanken) einen Grad an Realität zubilligen, der weit über dem liegt, der ihnen angemessen wäre ( Janet, 1932a). In diesem Beitrag stellt Janet wiederholt die Halluzinationen, die bei toxischen Psychosen erlebt werden, nämlich häufig visuelle, den Halluzinationen gegenüber, die mit wahnhaften Störungen einhergehen, nämlich mehrheitlich akustischen. Er erkennt an, dass der visuelle Typus als eine verzerrte Form der Wahrnehmung (Illusionen) zu verstehen ist, erklärt aber auch, dass dies auf die akustischen Halluzinationen nicht zutrifft (wenngleich er einräumt, dass die von ihm sogenannten Illusionen von anderen Autoren als Halluzinationen im eigentlichen Sinn bezeichnet werden). Janet fragt sogar, ob die Stimmen, die Patienten mit wahnhaften Störungen hören, tatsächlich »gehört« werden oder ob ihnen lediglich die falsche Realitätsebene zugeschrieben wird – die Ebene anderer Personen und ihrer Handlungen statt der Ebene innerer, persönlicher Überzeugungen. Im Gegensatz zu Illusionen, die Janet eindeutig dem Wahrnehmungsbereich zuordnet, sind die »falschen Repräsentationen«, die er als Halluzinationen bezeichnet, komplexer. Sie hängen in erster Linie mit Erinnern und Glauben zusammen. Janet beginnt seine Analyse mit einer Erörterung traumatischer Flashbacks. Betroffene sehen und hören häufig komplexe Stimuli aus einer traumatisierenden Erfahrung, die sie dann erneut, so als geschähe sie in der Gegenwart, durchleben. Hierbei handelt es sich zweifelsfrei um eine Aberration der Realitätsfunktion, da etwas, das der Vergangenheit angehört, erlebt (und behandelt) wird, als passierte es gegenwärtig. Janet (1932c) wies aber darauf hin, dass Flashbacks nicht ohne Weiteres als verzerrte Wahrnehmungen zu betrachten seien, da ihnen Wahrnehmungseigenschaften wie zum Beispiel die »Eruptivität« fehlen (genuine Wahrnehmungen hingegen »dringen in unser Bewusstsein ein und verändern zumindest vorübergehend unser Verhalten«, ebd., S. 86). Offenbar denkt Janet hier nicht nur an den intrusiven Charakter neuer Wahrnehmungen, 204 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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sondern nimmt auch an, dass sie im Kontext eines stabilen, relativ unveränderlichen Hintergrundes erfolgen. Dies, so behauptet er, unterscheidet sie vom erneuten Durchleben traumatischer Erfahrungen, bei dem der eigentliche Gegenwartskontext verlorengeht und stattdessen der Kontext der Vergangenheit wiedererlebt wird. In einer wichtigen Vorausdeutung auf das Konzept der peri-traumatischen Dissoziation vertritt Janet die Ansicht, dass diese halluzinatorischen Reminiszenzen »auf ein Problem zum Zeitpunkt des ursprünglichen Ereignisses hinweisen, das die Konstruktion der Geschichte gemäß den Gesetzen des Erinnerns unmöglich gemacht hat, sodass die Situation unabgeschlossen, unerledigt geblieben ist. Deshalb ist es notwendig, sie ein ums andere Mal zu wiederholen« ( Janet, 1932d, S. 290).
Janet stellt diesen halluzinatorischen Reminiszenzen, die er als Erinnerungsstörungen und Illusionen versteht, die Halluzinationen gegenüber, die von Patienten mit Beeinflussungswahn, das heißt Paranoia, erlebt werden. Er erläutert, dass bei Paranoiden, deren Halluzinationen in den gegenwärtigen Kontext eingebettet sind, im Unterschied zu den ersten beiden Gruppen keine Einengung des Bewusstseins und keine Verwirrtheit vorliegen. Sein Vergleich der Halluzinationen bei Paranoia mit gewöhnlichen Wahrnehmungen veranlasst ihn zu dem Schluss, dass sie gewisse Eigenschaften gemeinsam haben, nämlich Unmittelbarkeit, Gewissheit und Äußerlichkeit. Er erkennt jedoch auch an, dass manche Patienten die Stimmen, die sie hören, in ihrem eigenen Körper, also nicht in der Außenwelt, lokalisieren. Janets Konzipierung der Halluzinationen schließt zahlreiche Phänomene ein, die wir heute als Wahnvorstellungen oder Wahnbildungen betrachten würden; tatsächlich bezeichnet er sie sogar gelegentlich als »halluzinatorische Wahnvorstellungen«. Dies zeigt sich am deutlichsten in seiner Erörterung visueller Halluzinationen, zu denen er auch das Phänomen der »wahnhaften Misidentifikation« zählt, das heißt das FregoliSyndrom, bei dem Fremde für Freunde oder Familienangehörige gehalten werden, und das Capgras-Syndrom, bei dem Betroffene glauben, dass ihnen nahestehende Menschen durch einen feindseligen Doppelgänger ersetzt worden seien. Ebenso wie heutige Psychopathologen (Christodoulou, 1986) nahm Janet an, dass solche Überzeugungen für gewöhnlich nicht mit Wahrnehmungsverzerrungen einhergehen – das heißt, im Falle des 205 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Fregoli-Syndroms behaupten die Betroffenen nur in seltenen Fällen, dass die Gesichtszüge von Fremden mit denen der ihnen nahestehenden Personen, mit denen sie sie verwechseln, identisch seien. Vielmehr sind sie aufgrund eines Gefühls davon überzeugt, dass es sich trotz des äußeren Anscheins um dieselbe Person handelt. Genauso verhält es sich, wenn Nahestehende als Doppelgänger erlebt werden – ihre Gesichtszüge haben sich nicht verändert, sehr wohl aber die mit ihnen assoziierten Gefühle. Darüber hinaus betrachtete Janet auch die gewalttätigen und aggressiven Angriffe – zum Beispiel Augen-Auskratzen oder Ohren-Abreißen usw. –, denen sich die Patienten laut eigener Aussage in der jüngsten Vergangenheit, aber nie in der Gegenwart, ausgesetzt sahen, als Halluzinationen. Er hielt es sogar für möglich, dass diese Datierung in die Vergangenheit eine zentrale Eigenschaft paranoider Halluzinationen sei, und berichtete, noch nie einem Patienten begegnet zu sein, der diese Erfahrung unmittelbar während seiner eigenen Anwesenheit machte und direkt davon berichtete (z. B. mit den Worten: »Sie [die Feinde] kratzen mir jetzt, in dieser Sekunde, die Augen aus!«). Janet vertrat die Auffassung, dass Erfahrungen, die nicht mit den in der gegenwärtigen Umwelt vorhandenen Stimuli interferieren, nicht als Wahrnehmungen betrachtet werden können, und zog den Schluss, dass die Halluzinationen von (paranoiden oder größenwahnsinnigen) Patienten mit Beeinflussungswahn weit mehr mit Überzeugungen10 und Verzerrungen der Realitätsfunktion und der Strukturierung der interpersonalen Erfahrung (division sociale) zu tun hätten als mit Wahrnehmung. Die Halluzinationen paranoider Patienten sind, so Janet, in erster Linie darauf zurückzuführen, dass diese ihren Gedanken und Vorstellungen eine unangemessen hohe Realitätsebene beilegen, indem sie sie anderen Personen oder Objekten zuschreiben. Er hielt es für möglich, dass dieser Fehler der sozialen Zuschreibung ursächlich mit der Melancholie zusammenhängt.11 10 Janet benutzt hier das Wort »croyance«, engl. übersetzt mit »belief«. Im Deutschen ist »Überzeugung« treffender, denn eine Übersetzung als »Glaubensinhalte« betonte lediglich den semantischen Aspekt, hier aber geht es um den Handlungs- (also pragmatischen) Aspekt. 11 »Diese Form der Überzeugung ist auf die spezifischen, bereits anormalen Gefühle zurückzuführen, die ihr vorausgingen, das Gefühl nämlich, beeinflusst zu werden. Solche Gefühle lassen das Handeln so wirken, als sei es erfolglos oder peinlich und machen den Handelnden zum Sklaven. […] Die paranoide Patientin hört die Wörter ›Kuh, Schwein, Schlampe‹ nicht mit elementaren auditiven Reaktionen, so wie Sie
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Janets 1932 formuliertes, eng gefasstes Konzept der Halluzinationen, das einen Großteil dessen abdeckt, was wir heute als »Wahnwahrnehmungen« bezeichnen (z. B. die Überzeugung, dass einem die Augen ausgekratzt wurden), postulierte, dass das Stimmenhören in paranoiden Zuständen auf eine Verwechslung der Realitätsebenen zurückzuführen sei und keine Ähnlichkeit mit den (von ihm als Illusionen bezeichneten) verzerrten Wahrnehmungen aufweise. Mithin betrachtete Janet die Stimmen in diesen Artikeln nicht als »Sprecher« unterschiedlicher Persönlichkeitsanteile, wie es bei der Hysterie oder bei dissoziativen Störungen der Fall ist (Moskowitz & Corstens, 2007). Ebendiese Position aber vertrat er interessanterweise in seinem letzten Beitrag ( Janet, 1947a), wenngleich er betonte, dass sich dieser mit seiner ursprünglichen, fast 60 Jahre zuvor in L’Automatisme Psychologique formulierten Position decke. Er beschrieb die »objektivierten Halluzinationen« des Verfolgungswahns als eine »Fragmentierung der bewussten Persönlichkeit«, ähnlich den »Spaltungen der Persönlichkeit und den unterbewussten Phänomenen«, die mit hysterischen Neurosen einhergehen (ebd., S. 251f.). Es ist jedoch wichtig, diese »Fragmentierung der Persönlichkeit« nicht als ein rein psychisches Phänomen zu betrachten, da Janets Fokus stets auch den sozialen Bereich miterfasste. So schrieb er in diesem letzten Beitrag: »Halluzinationen sind mit der gesamten Persönlichkeitsorganisation assoziiert, in gleichem Maße mit der Persönlichkeit des sozialen Bereichs wie mit der Persönlichkeit des Subjekts« (ebd., S. 252). Hier klingt eine Bemerkung über die Bedeutsamkeit der sozialen Position für Wahnvorstellungen wie auch für Halluzinationen aus seinem früheren Artikel (1932d) wieder an. Damals hatte Janet die Halluzinationen von Illusionen mit dem Hinweis abgegrenzt, dass erstere immer »böse Absichten oder gute Absichten« anderer Menschen beinhalten, weil sie die Sorgen des Patienten um seinen Platz in der sozialen Hierarchie repräsentieren, während Illusionen »diesbezüglich völlig neutral« sein können ( Janet, 1932d, S. 299). oder ich sie hören würden. Sie fühlt sie auf vage Art in ihren Gedanken, empfindet aber gleichzeitig die regulatorischen Gefühle, die normalerweise mit äußeren akustischen Stimuli einhergehen. Die Hinzufügung dieser Regulation zu ihren Gedanken ist bereits anormal und bahnt den Wahnvorstellungen den Weg« (Janet, 1932d, S. 330).
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Beurteilung und Implikationen Janets Erörterung der Angemessenheit des Begriffs Dissoziation in Bezug auf die Schizophrenie ist wichtig, denn er trifft hier maßgebliche Unterscheidungen zwischen den psychischen Prozessen, die der Hysterie (dissoziativen Störungen), und solchen, die der Schizophrenie zugrunde liegen. Indem er die Schizophrenie als eine Form psychischer Asthenien beschreibt, einer Beeinträchtigung der psychischen Kraft, versteht er sie ähnlich wie eine andere bedeutsame Störung, nämlich die Psychasthenie. Ebenso wie Bleuler sah er Ähnlichkeiten zwischen dem Konzept der Psychasthenie und dem der Schizophrenie. Die klinischen Implikationen der eingeschränkten Dissoziationsfähigkeiten von Patienten mit der Diagnose Schizophrenie wurden an anderer Stelle untersucht (Moskowitz, BarkerCollo & Ellson 2005; Moskowitz et al., 2009). Janets Theorie der Halluzinationen ist im Wesentlichen deskriptiv und hat sowohl Stärken als auch Schwächen. Sie weist Parallelen zu vielen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Theorien auf, die davon ausgehen, dass die Patienten Stimmen hören, wenn sie kritische Gedanken für Wahrnehmungen halten; einige Autoren haben ebenso wie Janet anerkannt, dass bei manchen Menschen, die Stimmen hören, minimale Bewegungen der Stimmbänder erfolgen, die sie selbst nicht wahrnehmen, die aber messbar sind und als Subvokalisationen bezeichnet werden. Dies steht im Einklang mit der Auffassung, dass Stimmen auf einem Kontinuum mit intrusiven Gedanken liegen und aus der psychischen Abwehr unannehmbarer Gedanken und der Distanzierung von ihnen resultieren (Morrison, Haddock & Tarrier 1995). Darüber hinaus stimmt Janets Betonung der Gefühle von Aufzwingung und Beeinflussung, die dem Erleben von Halluzinationen vorausgehen, mit den Schneider’schen »gemachten« Gefühlen und Gedanken überein, die zuvor als pathognomonisch für die Schizophrenie betrachtet wurden, mittlerweile aber häufig im Kontext dissoziativer Störungen beobachtet werden, wo sie die Intrusion eines Persönlichkeitsanteils in einen anderen repräsentieren. Solche Gefühle helfen zu erklären, weshalb die eigenen Gedanken oder Vorstellungen so erlebt werden können, als stammten sie nicht von einem selbst, sondern von einem »Anderen«. Janets Betonung, dass es wichtig sei, den eigenen Körper als ein Objekt wahrnehmen zu können, und seine Auffassung, dass die kontinuierliche Wahrnehmung körperlicher Empfindungen uns hilft, zwischen »Anderen« (soziale Objektifikation) und uns »selbst« (soziale 208 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Subjektifikation) zu unterscheiden, ist hier ebenfalls von entscheidender Bedeutung. Dies hilft auch, den häufigen Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch, bei dem der eigene Körper per definitionem in erster Linie oder ausschließlich als eine Erweiterung der Bedürfnisse einer anderen Person erlebt wird, und akustischen Halluzinationen zu erklären (Read & Argyle, 1999; Ross, Anderson & Clark1994), und legt die Vermutung nahe, dass die soziale Objektifikation unter diesen Umständen zusammenbricht. Nicht recht klar wird zumindest in diesen Artikeln, weshalb nicht alle Depressiven Stimmen hören, wenn die Melancholie tatsächlich, wie Janet vermutete, eine Ursache der fehlerhaften Strukturierung zwischenmenschlicher Erfahrungen ist, die dazu führt, dass eigene Gedanken anderen Personen zugeschrieben werden.12 Offen bleibt auch, ob manche »psychotischen« Patienten Stimmen tatsächlich »hören« oder sie lediglich zu hören »glauben«. Anders als von Janets Modell vorgesehen, berichten zahlreiche schwer psychotische Patienten, in Anwesenheit ihrer Behandler Stimmen zu hören (wiewohl man einige dieser Patienten, vielleicht die Mehrzahl, als dissoziativ und nicht als psychotisch diagnostizieren könnte). Gleichwohl darf man die Bedeutsamkeit verzerrter Überzeugungen in Bezug auf Halluzinationen und Wahnbildungen nicht unterschätzen. Seit etlichen Jahrzehnten bilden Aufdeckung und Bearbeitung solcher Überzeugungen den zentralen Fokus psychotherapeutischer Behandlungen (vgl. z. B. Chadwick, Birchwood & Trower 1996). Abschließend ist daran zu erinnern, dass Janet ebenso wie Bleuler Wahnvorstellungen und Halluzinationen nicht mit der Schizophrenie in eins setzte. So vertrat er, wie oben erläutert, die Ansicht, dass die Dissoziation für die Halluzinationen bei Paranoia ebenso relevant seien wie Halluzinationen bei Hysterie, ohne hier einen Widerspruch zu seinem Schizophrenieverständnis zu sehen. Wenn sich heutige Forscher und Klinker zunehmend von der Gleichsetzung positiver psychotischer Symptome mit Schizophrenie distanzieren, tritt die Weisheit der von Janet – und Bleuler – vertretenen Position umso klarer zutage. 12 Man könnte die Ansicht vertreten, dass die verzerrten, kritischen Überzeugungen (s. o., Fn. 10), die für die Depression so typisch sind – und die damit einhergehenden Schuldund Versagensgefühle – möglicherweise auf einem Kontinuum mit Stimmen liegen. Da Janet die Halluzinationen in diesen Fällen zweifellos als eine Art Überzeugungen betrachtete, sähe er hier wahrscheinlich keine Schwierigkeit.
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Teil III Janets Einfluss auf die moderne Psychotherapie
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11 Die hypnotherapeutische Beziehung zu traumatisierten Patienten Kathy Steele & Onno van der Hart
Pierre Janets Beiträge zur heutigen Behandlung 1897 veröffentlichte Pierre Janet seinen wichtigen Beitrag über die Beziehung des Traumapatienten zum Therapeuten im Kontext der Hypnotherapie.1 Er hatte beobachtet, dass die Patienten intensive Gefühle gegenüber dem Therapeuten entwickelten, die er als la passion somnambulique bezeichnete. In dieser Phase der passion fühlten sich die Patienten vom Therapeuten völlig abhängig. Damals gab es noch keine Bindungstheorie, und man wusste nicht, wie die Abhängigkeit mit der Bindung zusammenhängt und wie sie sich von ihr unterscheidet. Wir werden Janets Sicht der hypnotherapeutischen Beziehung kritisch erläutern und sie mit einem aktualisierten Verständnis von Bindung und Abhängigkeit in der phasenorientierten Traumabehandlung zusammenführen. Zur Illustration dienen Fallbeispiele von Janet selbst sowie Behandlungen aus heutiger Zeit. Es ist wichtig festzuhalten, dass sich Janets Verwendung bestimmter Begriffe erheblich von der Art und Weise unterscheidet, wie wir sie heute benutzen. Mit Janets akribisch aufgezeichneten klinischen und experimentellen Beobachtungen steht uns eine umfangreiche Sammlung von Daten über die Art und den Verlauf der therapeutischen Beziehung mit traumatisierten Patienten zur Verfügung. Diese Aufzeichnungen dokumentieren seine Arbeit mit Patienten in den psychiatrischen Hospitälern von Le Havre und in der Pariser Salpêtrière. Sie gewähren faszinierende Einblicke, was die Übertragung, die Bindung und die Abhängigkeit im Zusammenhang mit Trauma, Hypnose und Dissoziation sowie die Manifestationen der Sugges1 Leser, die mit der Terminologie nicht vertraut sind, finden kurze Definitionen der Begriffe im Anhang. Im Text sind sie kursiv gedruckt.
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tibilität betrifft – allesamt bedeutsame Aspekte in der heutigen Behandlung traumatisierter Menschen. Andere Autoren, vor allem Haule (1986) und Brown (1994), haben Janets Beobachtungen über die hypnotherapeutische Beziehung und die frühen Übertragungsphänomene, die er in »L’influence somnambulique et la besoin de direction« [»Der somnambule Einfluss und das Bedürfnis nach Lenkung«] ( Janet, 1897; 1898a) beschreibt, bereits erläutert. Freilich ist festzuhalten, dass die Hypnotherapie lediglich eines von zahlreichen Verfahren zur Behandlung traumatisierter Patienten ist, die gegenwärtig praktiziert werden. Obgleich Janet die therapeutische Beziehung in erster Linie im Kontext der Hypnotherapie erörterte – einer Behandlungstechnik, die zu seiner Zeit in Le Havre und an der Salpêtrière sehr häufig benutzt wurde –, sind einige seiner Beobachtungen für sämtliche Methoden zur Behandlung traumatisierter Patienten relevant. Wir werden im Folgenden erläutern, dass la passion somnambulique wahrscheinlich kein Ausdruck der Hypnose an sich ist, sondern eine Manifestation der unsicheren Bindung, die durch Hypnose verstärkt werden kann. Janets Patientinnen in der Salpêtrière litten unter schweren Symptomen und waren den einfachsten Anforderungen nicht gewachsen. Die Frauen waren gewöhnlich recht jung und ungebildet. Sie stammten aus ärmlichsten Verhältnissen und waren schwer und chronisch traumatisiert; viele waren als Kinder von ihren Müttern verlassen worden, von Pflegestelle zu Pflegestelle gewandert oder in strengsten religiösen Einrichtungen aufgewachsen. Sie waren aufs Schlimmste ausgebeutet worden und hatten praktisch nichts, worauf sie sich im Leben freuen konnten (Walusinski, 2014). Die patriarchale Ausbeutung dieser Patientinnen in der Salpêtrière ist in jüngerer Zeit kritisiert worden, doch besteht kein Zweifel daran, dass Kliniker wie Janet sich mitfühlend darum bemühten, das Los dieser Frauen, die von der Gesellschaft im Grunde verstoßen worden waren, zu verbessern. Heute mögen einige seiner Techniken unorthodox erscheinen, doch wir müssen sie im zeithistorischen Kontext verstehen und sollten uns davor hüten, sie eins zu eins mit heutigen Behandlungen zu vergleichen. Während wir also heute vieles anders verstehen und in mancherlei Hinsicht anders vorgehen als Janet, können wir gleichwohl vieles von ihm lernen. So ist sein Konzept des rapport beispielsweise ein Vorläufer des Übertragungsverständnisses, wie Freud es formuliert hat. Janet und nach ihm weitere Autoren haben erläutert, dass viele Traumapatienten das Alleinsein unerträglich finden und diese Intoleranz eine 214 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
11 Die hypnotherapeutische Beziehung zu traumatisierten Patienten
Krisenatmosphäre und exzessive Abhängigkeitsbedürfnisse gegenüber dem Therapeuten erzeugt (Adler & Buie, 1979; Bornstein, 1995; 1998; Gunderson, 1996; Janet, 1897; 1898a; Linehan, 1993; 2014; Modell, 1963; Steele, van der Hart & Nijenhuis 2001; Steele, Boon & van der Hart, 2017). Janet betonte, dass der Charakter des Bündnisses sich im Laufe der Behandlungsphasen auf spezifische Weise entwickeln sollte: (1) Symptomreduktion und Stabilisierung, (2) Behandlung der traumatischen Erinnerung sowie (3) Integration und Rehabilitation (siehe 11. Kapitel; Janet, 1898b; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006; van der Hart et al., 1993a). Er erklärte, dass der Therapeut in der Frühphase der Therapie recht aktiv vorgehen und der Patientin insbesondere helfen müsse, Gefühle des Alleinseins und der Abhängigkeit zu verstehen und zu regulieren. Diese Aktivität solle er im Laufe der Zeit zurücknehmen. Die Unfähigkeit, Alleinsein und Abhängigkeit zu ertragen, wird schließlich überwunden, sodass die Patientin aktiver und eigenständiger an der Behandlung wie auch am Leben teilnimmt. Natürlich sehen wir in der Praxis, dass sich die Behandlung chronisch traumatisierter Patienten keineswegs rasch oder geradlinig entwickelt. Deshalb müssen der Grad der therapeutischen Aktivität und insbesondere die Art und Weise, wie der Therapeut aktiv wird, unbedingt aufmerksam kontrolliert werden. Während wir unsere Deutungen der therapeutischen Beziehung in der Regel unter dem Blickwinkel dieser oder jener Theorie – zum Beispiel der Bindungstheorie oder der psychodynamischen Theorie – formulieren, bestand Janets Ziel darin, das subjektive Erleben seiner Patienten und Patientinnen präzise zu beobachten, ohne es grundsätzlich zu deuten (Haule, 1986; Schwartz, 1951). Das Übertragungskonzept wurde damals gerade erst entwickelt (Kravis, 1992; Makari, 1992), auch wenn der hypnotische Rapport schon seit geraumer Zeit Interesse fand und dem Übertragungskonzept tatsächlich als Grundlage diente. Janet, Breuer, Freud und später auch Ferenczi waren für die differenzierte Konzeptualisierung der Übertragung und der Bündnisprobleme wegweisend. In dieser Phase war man sich noch nicht darüber im Klaren, dass im Zusammenhang mit frühen traumatischen Konflikten mit negativen Übertragungen zu rechnen ist (Bokanowski, 1996). Stattdessen richtete sich das Augenmerk auf die positive idealisierte Übertragung und die Abhängigkeit vom Therapeuten. Dieser eingeschränkte Blickwinkel war vermutlich durch die Kultur jener Zeit beeinflusst, in der es als selbstverständlich galt, dass Frauen auf die Anleitung durch männliche Autoritätspersonen angewiesen seien und sie zu schätzen 215 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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wüssten. Janet aber ermutigte seine Patientinnen bekanntermaßen, ihren eigenen Willen zu entwickeln und selbstständig zu handeln. Janet leitet sein Kapitel »L’influence somnambulique« (1897/1898a, S. 423) mit dem Hinweis ein, dass im Hypnoseprozess anomale Gefühle auftauchen. Er verstand die hypnotische Beziehung als eine Bindungsbeziehung (im damaligen Sinn) und betrachtete übersteigerte Elemente der naturgemäßen Abhängigkeit des Menschen als einen normalen Bestandteil dieser Beziehung. Abhängigkeit und ihr größerer, durch Bindung und Kooperation konstituierter Kontext sind in der heutigen Konzeptualisierung von Trauma und Dissoziation bedeutsame Themen (Barach, 1991; Bokanowski, 1996; Brown & Elliott, 2016; Davies & Frawley, 1994; Deitz, 1992; Hill, Gold & Bornstein, 2000; Liotti, 1992; 1999; Olio & Cornell, 1993; Steele, van der Hart & Nijenhuis 2001; Steele, Boon & van der Hart, 2017; van der Kolk & Fisler, 1994; van Sweden, 1994; Walant, 1995).
Magnetischer Rapport Die frühen Magnetiseure, etwa Puységur, Bertrand, Dupotet, Charpignon, Noizet und Despine, haben die speziellen Eigenschaften der hypnotischen Beziehung erläutert (Crabtree, 1993). Ihre Beschreibungen dienten Janet als Grundlage für seine Beobachtungen des rapport magnétique (1897; 1898a; 1919; 1925). Diese Beziehung weist drei typische Eigenschaften auf: (1) Die hypnotisierte Person toleriert Berührungen ausschließlich vom Magnetiseur und leidet, wenn jemand anderer sie anfasst; (2) sie folgt allein den Suggestionen des Hypnotiseurs, und (3) nimmt in extremen Fällen lediglich den Magnetiseur wahr und halluziniert alle anderen Anwesenden negativ, als seien sie nicht existent ( Janet, 1897; 1898a, S. 424). Janet erklärte, dass die posttraumatische Dissoziation der Persönlichkeit, die Hilflosigkeitsgefühle, eine gravierend eingeschränkte Aufmerksamkeitsfähigkeit und die ausschließliche Bindung (absorption) an den Therapeuten diese negativ-halluzinatorischen Erfahrungen erzeugten und für die Unfähigkeit verantwortlich seien, mit anderen Hypnotiseuren zu arbeiten (siehe 12. Kapitel). Er beschrieb dieses Absorbiertsein als einen »Akt der Adoption«, der die Patienten glauben mache, dass ihre Therapeuten die einzigen Menschen seien, die sie wirklich verstehen könnten ( Janet, 1919; 1925, S. 1154). Die Manifestationen des rapport beruhten auf den Suggestionen durch den Magnetiseur sowie auf den Erfahrungen 216 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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des Patienten. Das heißt, was der Patient in die Therapie mitbringt, wird unweigerlich mit den therapeutischen Interventionen interagieren. Die Gefühle, die er äußert, verschwinden beim Erwachen aus der trance. Der rapport, so Janet, resultierte aus der Häufigkeit und Dauer der Hypnose. Infolgedessen dauerten die Sitzungen lang und wurden häufig anberaumt.
L’influence somnambulique und la passion somnambulique Janet beobachtete eine vorhersagbare Abfolge der psychischen Zustände im Anschluss an Hypnosesitzungen mit allmählich eintretenden signifikanten Symptomlinderungen. Beispiele für diese Zustände sind Fatigue, somnambuler Einfluss und somnambule Leidenschaft. Im Laufe von wenigen Tagen oder Wochen der insgesamt wesentlich längeren phasenorientierten Behandlung des Traumas kommt es zu Mikrowiederholungen der Symptomreduzierung und Stabilisierung, der Behandlung der traumatischen Erinnerung sowie der Integration und Rehabilitation (siehe 12. Kapitel; van der Hart et al., 1993a; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Die unmittelbare posthypnotische Phase ist durch ausgeprägte Lethargie und Fatigue charakterisiert und dauert gewöhnlich nur wenige Minuten bis zu ein oder zwei Stunden an. Diese Lethargie hängt offenbar nicht mit dem Phänomen des somnambulen Einflusses zusammen, sondern ist lediglich ein Zeichen dafür, dass der Patient in eine sehr tiefe Trance eingetreten und hochgradig hypnotisierbar ist. Dieser lethargischen Episode schließt sich eine Phase des Wohlbefindens und relativer Gesundheit – l’influence somnambulique – von variabler Dauer an. Für gewöhnlich erstreckt sie sich über mehrere Stunden oder auch Monate, sehr selten sogar über mehrere Jahre wie im Fall Léonies, deren Heilung 30 Jahre lang Bestand hatte ( Janet, 1897/1898a, S. 441; 1925 [1919]). Diese anfängliche und temporäre Symptomlinderung ist das Ergebnis der in der ersten Behandlungsphase durchgeführten Maßnahmen zur Linderung der Symptome und zur Stabilisierung des Patienten. Janets Patientin Gu beispielsweise, die an einer hysterischen Kontraktur des Armes litt, konnte den Arm nach einer Sitzung jeweils zwei Tage lang normal bewegen ( Janet, 1897; 1898a ], S. 426). Lz, die spontan in ausgedehnte somnambule Zustände verfiel, schlief nach der Behandlung acht Tage lang tagsüber nicht ein (ebd., S. 426). Marguerite, die täglich einen oder zwei hysterische Anfälle erlitt, blieb im Anschluss an eine Hypnose217 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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sitzung acht bis zwölf Tage symptomfrei (ebd., S. 426). Eine weitere Patientin, M., die unter chronischem Erbrechen litt (vermutlich Bulimie), konnte nach den Hypnosesitzungen bis zu drei Wochen normal essen, ohne anschließend zu erbrechen. Janets Patientin Justine dachte tagelang nicht mehr an die Cholera, auf die sie zuvor fixiert gewesen war, und entwickelte auch keine mit der Cholera zusammenhängenden sekundären fixen Ideen (idées fixes) ( Janet, 1898a [1894c]; 1898a [1897], S. 427). Diese Besserung ist auf einen Zustand des somnambulen Einflusses zurückzuführen. Während dieser Zeit nähert sich die Patientin einem normalen Zustand an, und die fixen Ideen verschwinden. Erinnerung, Aufmerksamkeit, Motivation, Willenskraft und intellektuelles Funktionieren verbessern sich. Die Patientin scheint an weiteren Hypnosesitzungen nicht interessiert zu sein, und auch wenn sie an den Therapeuten denkt, erlebt sie diese Gedanken ohne intensive Emotionen. Diese Besserungen sind aber nur vorübergehend. Die Symptome kehren zurück. Gleichwohl entstehen zwischen diesen Phasen der verbesserten Integrationsfähigkeit nach und nach Verbindungen, sodass ihre zeitliche Dauer sich, so wie wir es auch heutzutage in den Behandlungen beobachten, verlängert. Nach einem belastenden Erlebnis oder nach emotionaler Aufregung verfielen Janets Patienten und Patientinnen abermals in einen voll ausgebildeten hysterischen Zustand, in dem auch die ursprünglichen (primären) fixen Ideen zusammen mit weiteren, sekundären, wiederauftauchten. Dieser Zustand der Hilflosigkeit und Verzweiflung ging mit einer sehr niedrigen Integrationsfähigkeit einher (Brown, 1994). An diesem Punkt können traumatische Erinnerungen aufgrund des extrem niedrigen geistigen Funktionsniveaus der Patienten nicht integriert werden. Deshalb müssen sie vorläufig unter Kontrolle gehalten werden. Das ungemilderte Wiederauftauchen der Symptome brachte ein intensives Verlangen mit sich, den Hypnotiseur zu sehen und hypnotisiert zu werden. Janet verglich die Dringlichkeit dieses Bedürfnisses sogar mit einer »Morphinomanie«, einer Morphiumabhängigkeit, und beschrieb das Verlangen nach Hypnose und Hypnotiseur als Sucht ( Janet, 1898a [1897], S. 429). Wir können das Wiederauftauchen der Symptome auch als einen verzweifelten Hilferuf verstehen, als bindungssuchendes Verhalten, das bei unsicher gebundenen Traumaüberlebenden häufig auftritt. Die Abhängigkeit der Patienten ist aktiviert worden. Unserer Ansicht nach handelt es sich nicht um eine Sucht, sondern um den verzweifelten Versuch, die Nähe und die Aufmerksamkeit des Therapeuten zu finden. 218 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
11 Die hypnotherapeutische Beziehung zu traumatisierten Patienten
Dieses intensive Verlangen nach dem Therapeuten, die somnambule Leidenschaft, folgt auf Rapport und somnambulen Einfluss. Das Verlangen nach Nähe zum Therapeuten und die Beziehung zu ihm erhalten herausragende Bedeutung. Vielleicht können wir Janets Beschreibungen der somnambulen Leidenschaft als Grundlage von Freuds Konzept der Übertragungsneurose betrachten. Diese intensive Abhängigkeit ist also keine bloße Aberration. Janet hob sie als eine kritische und natürliche Komponente des Prozesses hervor und betonte, dass sie trotz der sie begleitenden Verschlimmerung der Symptome eine Voraussetzung für die volle Genesung ist. Er hat offenbar einen Zusammenhang verstanden, den wir heute wissenschaftlich belegen können: Die frühe Bindungslosigkeit muss in die therapeutische Beziehung eingebracht werden, um erfolgreich bearbeitet werden zu können. Das Verständnis des Therapeuten und sein effektiver Umgang mit der somnambulen Leidenschaft sind von ausschlaggebender Bedeutung. Janet war überzeugt, dass die Leidenschaft nicht lediglich ein Symptom sei, sondern darüber hinaus die Genesung ermögliche (siehe 12. Kapitel). Er betonte, dass der Therapeut nicht die Rolle einer Ersatzmutter übernehmen dürfe, sondern dass es seine Aufgabe sei, Veränderung zu ermöglichen und dabei die Unausweichlichkeit und Notwendigkeit der Leidenschaft anzuerkennen ( Janet, 1925 [1919], S. 1112; siehe 12. Kapitel). Janet identifizierte zwei gleichzeitige und widersprüchliche Aktivitäten, denen der Therapeut im Sinne einer ausgewogenen Therapie Raum geben muss. Der Patient lernt, sich der kooperativen Führung durch den Therapeuten anzuvertrauen, und dieser muss seine Kontrolle über den Patienten kontinuierlich zurücknehmen (Haule, 1986; Janet, 1898a [1897]; siehe 12. Kapitel). Jede Handlung des Therapeuten muss darauf zielen, die Abhängigkeit des Patienten als Vehikel für dessen wachsende Kontrolle über sein eigenes Leben zu nutzen. Dies ist kein einfaches Unterfangen, sondern eine anspruchsvolle Herausforderung. Exzessives Vertrauen auf die Verfügbarkeit des Therapeuten kann einer regressiven (fehlangepassten) Abhängigkeit Vorschub leisten und zu lediglich temporären Besserungen, mitunter auch zu einer Dekompensation und zur Vereitelung der Genesung führen (siehe 1. Kapitel; Gunderson, 1996; Modell, 1963; Modestin, 1987; Steele, van der Hart & Nijenhuis, 2001; Steele, Boon & van der Hart, 2017; siehe 12. Kapitel; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Die intensiven Gefühle der Patienten bedeuten nicht, dass sie in der Therapie zwangsläufig agiert werden müssen. Vielmehr geht es darum, sie in einer sicheren Bindungsbeziehung zu modulieren. 219 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Kathy Steele & Onno van der Hart
Janet beschrieb eine Patientin, die eine derart intensive somnambule Leidenschaft entwickelte, dass sie im Therapeuten ein übermenschliches Wesen sah. Nichts vermochte diese extreme Idealisierung zu relativieren: »Die Patientin wartet voller Qual auf meine Ankunft, zittert, wenn über mich gesprochen wird, stellt sich vor, dass ich [ihr Zimmer] betrete, beginnt, mir einen Brief zu schreiben, um mir Details aus ihrem Leben zu offenbaren, nach denen ich sie nicht gefragt habe« ( Janet, 1898a [1897], S. 431).
In die Ehrfurcht dieser Patienten mischt sich mitunter auch Angst vor dem so viel mächtigeren Wesen. Wenn sie jedoch nicht hypnotisiert sind, vergessen sie den Hypnotiseur allmählich und fallen im Grunde in den Zustand vor der Behandlung zurück. Manchen Patienten geht es dann ein wenig schlechter, anderen etwas besser. Die ursprüngliche Symptombesserung, die in der Phase des somnambulen Einflusses zu beobachten war, bleibt ohne das Auftauchen und Überwinden der somnambulen Leidenschaft lediglich temporär. Viele, wenn nicht gar die meisten Patienten entwickeln weder diese intensive Obsession mit dem Hypnotiseur noch das Verlangen, hypnotisiert zu werden, aber wir dürfen nicht vergessen, dass die von Janet behandelten Patienten mehrheitlich ein sehr niedriges Funktionsniveau aufwiesen. Sie waren wahrscheinlich unsicher gebunden und empfanden ein starkes Bedürfnis nach Unterstützung und Anleitung. Janet erläuterte auch die Amnesie zwischen dem somnambulen (hypnotischen) Zustand und dem Erwachen. Um die Heilung zu ermöglichen, muss diese Amnesie für den somnambulen Zustand aufgehoben werden ( Janet, 1889, S. 344). Dies steht in Einklang mit Janets phasenorientierter Traumabehandlung, in der die Amnesie für das Trauma als Teil des Integrationsprozesses rückgängig gemacht werden muss (siehe 1. Kapitel; van der Hart et al., 1993a; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Bei Janets (in förmlicher Weise oder spontan) hypnotisierten Patienten tauchte die somnambule Leidenschaft mal allmählich, mal plötzlich und unvermittelt auf. Während sich die Leidenschaft entwickelte, kam es gelegentlich zu ernsten Rückfällen und extremer psychischer Verwirrung der Patienten. Wir vertreten die These, dass dies ein Zeichen für eine Aktivierung des dorsalen Vagus war, die in Reaktion auf überwältigende Gefühle erfolgte und möglicherweise mit einem Zusammenbruch der für die desorganisierte Bindung typischen Bindungsstrategie einherging. Die Patienten vermochten diese starken Gefühle nicht zu ertragen 220 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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und waren außerstande, sich selbst zu regulieren und über ihr Erleben nachzudenken. Weil diese Verwirrtheitszustände temporärer Art waren, hielt Janet sie für eine extreme Form der somnambulen Leidenschaft und nicht für eine gravierendere psychische Störung. Unverkennbar zeigt sich diese Leidenschaft im folgenden aktuellen Beispiel. Die Patientin war hochgradig hypnotisierbar und hatte eine überaus starke Bindung an ihren Therapeuten entwickelt. Weil es nicht gelang, die Intensität ihrer Gefühle zu lindern, überwies er sie an einen der Autoren. Vier Monate lang sprach die Patientin über nichts anderes als den früheren Therapeuten. Später beschrieb sie die psychische Verfassung, in der sie sich während dieser Zeit befand, mit den Worten: »[…] umhüllt von grauem Nebel […]. Ich konnte nicht denken, nichts sehen, nichts fühlen, nichts tun […]. Ich habe meinen eigenen Ehemann nicht erkannt, hatte vergessen, wie man autofährt […]. Es war, als hätte ich alle geistigen Fähigkeiten verloren […]. Selbst die einfachste Aufgabe stürzte mich in komplette Verwirrung« (unveröffentlicht).
Laut Janet ist auch die Dauer des Einflusses (die von seiner Intensität zu unterscheiden ist) von Bedeutung. Von der Dauer hängt es nämlich ab, wie oft die Patienten hypnotisiert werden sollten. In manchen Fällen hielt der Einfluss nur sehr kurz vor, sodass nach seiner Ansicht tägliche Sitzungen erforderlich waren. 1850/1851 behandelte Dr. Andries Hoek zum Beispiel eine Traumapatientin, Rika van B., die unter dissoziativer Amnesie, Depression, Suizidgedanken, Pseudokrampfanfällen und Manie litt. Dr. Hoek führte elf Monate lang tägliche Hypnosesitzungen durch, bis sich ihre Symptome schließlich besserten (van der Hart & van der Velden, 1987). Janet erläuterte auch die frustrierende Erfahrung, allmorgendlich mehrere Stunden intensiv mit seiner Patientin T. zu arbeiten, deren Symptome gleichwohl bis zum nächsten Tag ungelindert wiederauftraten ( Janet, 1898a [1897], S. 439). Heute wissen wir, dass die Symptome von Patienten mit sehr geringer Integrationsfähigkeit oft chronisch und andauernd sind und eine zeitaufwändige Therapie erfordern. Solche Rückschläge können als Symptom der phobischen Vermeidung einer Einsicht verstanden werden, die der Patient (noch) nicht tolerieren kann (Steele, Boon & van der Hart, 2017; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). In solchen Fällen 221 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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können sich Geduld und Neugier bezüglich des »Widerstandes« als hilfreich erweisen. Der Therapeut versucht, den Zeitraum zwischen dem Wiederaufflackern der Symptome nach und nach zu verlängern, um die Frequenz seiner Interventionen zu reduzieren. Heute erforschen wir die Widerstände der Patienten, um ihnen dabei zu helfen, sie zu überwinden, bevor wir mit der Bearbeitung hartnäckiger Symptome fortfahren. Außerdem helfen wir den Patienten, besser angepasste relationale Skills zu erwerben und ihre Regulationsfähigkeit zu verbessern. Wir wissen heute, dass Patienten mit somnambuler Leidenschaft tatsächlich auf eine sichere Bindung angewiesen sind, das heißt weniger auf eine konstante Bindung als auf gefühlte Sicherheit (vgl. z. B. Ainsworth, 1989; Bowlby, 1988; Steele, van der Hart & Nijenhuis, 2001). Den früheren Therapeuten war die Bedeutsamkeit der Bindungsbeziehung für traumatisierte Patienten noch unbekannt, sodass sie auch die Implikationen des verstärkten Kontakts zum Therapeuten und den potenziellen positiven und negativen Einfluss dieses Kontakts auf eine sichere Bindung nicht verstanden. Andererseits müssen wir uns an den furchtbaren Zustand erinnern, in dem diese Patienten und Patientinnen in die Salpêtrière eingewiesen wurden. So wird verständlich, dass sie auf außergewöhnlich intensive Behandlungen angewiesen waren. Im Folgenden erörtern wir einige wichtige Komponenten des von Janet beschriebenen somnambulen Einflusses und der somnambulen Leidenschaft, nämlich den Einfluss der Suggestion, das ständige Denken an den Hypnotiseur, das Bedürfnis, gelenkt zu werden, und die Krankheit der Isolation.
Der Einfluss der Suggestion Janet nahm an, dass die Hypnose und die Intensität der Beeinflussung von neurophysiologischen Modifizierungen abhängig seien. Damit widersprach er der Schule von Nancy, deren Vertreter die Hypnose als ein rein psychologisches, mit der Suggestion zusammenhängendes Phänomen betrachteten (siehe 1. Kapitel; Ellenberger, 1996 [1974]). Er war überzeugt, dass der Somnambulismus mit »zerebralen Modifizierungen« einhergehe und dass einige dieser Modifizierungen auch nach dem Erwachen noch erhalten blieben. Das bedeutete, dass der Beendigung der Phase des Einflusses, der somnambulen Leidenschaft und dem Bedürfnis, geführt zu werden, 222 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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nicht nur psychologische, sondern auch physiologische Faktoren zugrunde liegen mussten. Diese Überzeugung steht im Einklang mit unserem wachsenden Verständnis der physiologischen Grundlagen der Bindung (Bowlby, 1969; 1973; Deitz, 1992; Holmes, 1993; Reite & Fields, 1985; van der Kolk, 1987; 1996). Janet beobachtete, dass Suggestion und Einfluss gleichzeitig auftauchen und verschwinden. Sie hängen insofern eng miteinander zusammen, als die Suggestion auf Genesung drängt. Die Dauer der posthypnotischen Suggestion variiert jedoch und ist nicht absehbar. Ein prolongierter Einfluss stellt sich bei sehr leicht hypnotisierbaren Personen ein, ist aber nicht die Regel. Solange der Einfluss jedoch anhält, betrifft die Genesung den gesamten Charakter einschließlich solcher Verhaltensweisen, die in der Hypnose gar kein Thema waren. Mithin erfolgt die Symptomreduzierung auch in Bereichen, die von Hypnose und Einfluss unberührt bleiben. Sie hängen möglicherweise mit einer Autosuggestion zusammen. Umgekehrt ist die Dauer der Suggestionen begrenzt, deshalb müssen sie ein ums andere Mal wiederholt werden, und manchmal bleibt die Genesung dennoch aus. Janet führte dies in den meisten Fällen nicht auf Fehler des Therapeuten zurück, sondern auf eine unzulängliche Beeinflussung. Heute verstehen wir es als Widerstand, als ein phobisches Vermeiden unerträglicher Gefühle, das wir bei Patienten mit sehr geringer Integrationsfähigkeit beobachten. Häufig erwartet der Therapeut vom Patienten mehr, als dieser, zumindest vorerst, zu leisten vermag (Steele, Boon & van der Hart, 2017). Manche Patienten sind für den Einfluss des Hypnotiseurs offen, nicht aber für eine Beeinflussung durch andere Personen. Der Einfluss ist also selektiv und therapeutenabhängig. Wenn mehrere Hypnotiseure nacheinander in Aktion treten, entwickelt der Patient zu keinem von ihnen eine Bindung und zeigt sich immun gegenüber der Suggestion. Janet war überzeugt, den hysterischen Somnambulismus (d. h. dissoziierte Zustände) mit der Hypnose in eins setzen zu können, und erklärte, dass »der Hypnosezustand nie eine Eigenschaft aufweist, die sich nicht auch im natürlichen hysterischen Somnambulismus findet« (1907b, S. 114). Er wies aber auch darauf hin, dass zwischen Suggestion und Hypnose keine einfache Beziehung bestehe. Die Suggestion trete auch ohne Hypnose auf, und die Hypnose mache nicht immer suggestibel. Er zog den Schluss: »Das Phänomen der Suggestion ist vom Hypnosezustand unabhängig; eine Suggestibilität in vollem Sinn kann außerhalb eines künstlichen Somnambulismus vorkommen, und die Suggestibilität kann selbst bei Personen, die sich in 223 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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einem Zustand des vollständigen Somnambulismus befinden, ausbleiben« ( Janet, 1889, S. 171).
Das ständige Denken an den Therapeuten Janet beobachtete eine natürliche Neigung seiner Patienten, infolge der Beeinflussung durch den Therapeuten positive Gefühle gegenüber dem Hypnotiseur zu entwickeln. Wir dürfen hinzufügen, dass die traumatische Vorgeschichte und die Gesamtbiografie der Patientin sowohl einer positiven als auch einer negativen Übertragung Vorschub leisten. Janet erkannte an, dass manche dieser Gefühle intensiv oder auch negativ sein können – ganz so, wie wir es heute von schwer traumatisierten Personen kennen. Manche Patienten denken sich den Therapeuten als Elternteil, andere als ein Geschwisterkind, manche denken ihn als einen Freund, manche empfinden lediglich hohen Respekt. Janet schrieb, dass der somnambule Einfluss in Verbindung mit all diesen unterschiedlichen Gefühlen eine »Genesung« bewirke. Er hielt es für entscheidend, dass der Therapeut die Nuancen dieser Gefühle und die Bedeutungen, die sie für die Patientin besitzen, versteht. Wenn eine Patientin an einen anderen Hypnotiseur überwiesen werden muss, muss auch der Gedanke an den ehemaligen Hypnotiseur auf den neuen Therapeuten übertragen werden. Die meisten Patientinnen empfinden starke Zuneigung, doch andere reagieren mit Panik oder Angst; manche fühlen sich kontrolliert und deshalb gedemütigt, und wieder andere erotisieren dieses Gefühl. Wir beobachten hier, dass die traumatische Übertragung für interpersonal traumatisierte Patienten endemisch ist, die den Therapeuten als den Täter aus ihrer Vergangenheit erleben. Die positiven und negativen Aspekte der Beziehung können sich mischen: Furcht, Ehrfurcht, Liebe, Hass, Bewunderung, Neid, Demütigung und Dankbarkeit erzeugen hochkomplizierte Gefühle gegenüber dem Therapeuten, die wir heute als das komplexe Übertragungsmuster traumatisierter Patientinnen und Patienten charakterisieren (siehe z. B. Dalenberg, 2000; Loewenstein, 1993; Steele, Boon & van der Hart, 2017). Unter Umständen haben die Patienten Träume, in denen der Therapeut sie kritisch beobachtet und über sie urteilt. Häufig halluzinieren sie, den Therapeuten zu sehen und mit ihm zu sprechen. Solche Halluzinationen tauchen spontan auf, ohne Suggestion seitens des Behandlers. Janet beschrieb mehrere Patienten, die davon überzeugt waren, dass er ihnen den 224 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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ganzen Tag über nahe sei (was nicht der Fall war), und sprachen leise zu ihm. Sie glaubten, dass er ihnen antwortete, auch wenn sie seine Stimme nicht deutlich hören konnten ( Janet, 1898a [1897], S. 448). Diese autosuggestiven Halluzinationen treten bei manchen Patienten in Form persekutorischer Wahnvorstellungen auf, die sie glauben machen, dass der Therapeut ihnen schaden will. Die unterbewusste fixe Idee hängt unter Umständen mit dem Trauma und der traumatischen Übertragung zusammen. Das intensive, ständige Denken an den Therapeuten bestimmt auch das Verhalten der Patienten. Im Anschluss an erste obsessive Gedanken dieser Art zeigen sich weitere Symptome. Wenn die Phase des Einflusses endet, werden aus den positiven Gefühlen negative. Der Hypnotiseur, der in den Gedanken, Träumen und Halluzinationen der Patienten allgegenwärtig war, verschwindet. Die Patientin fühlt sich alleingelassen, vernachlässigt und einsam. Dieses Oszillieren ist Ausdruck der Schwankungen zwischen dem Bedürfnis nach Bindung und der Angst vor Bindungsverlust. Der Gedanke an den Hypnotiseur ist nicht länger heilsam, sondern wird als quälend empfunden. Sobald dieser Gefühlsumschwung stattgefunden hat, kehren sämtliche negativen Symptome zurück, bis der Therapeut abermals interveniert. Wir glauben, dass sich diese negativen Gefühle nicht im Anschluss an die positiven entwickeln, sondern dass sie zuvor von der positiven Übertragung verdeckt wurden. Diese Patienten haben massive Bindungsabbrüche und -verluste erlebt, sodass das Alleingelassen-Werden für sie ein bedeutendes Thema ist.
Das Bedürfnis nach Lenkung Janet erläuterte, dass die Gefühle bezüglich des Hypnotiseurs sowohl den adaptiven als auch den fehlangepassten Gefühlen in anderen Beziehungen analog seien und die Gefühle in der Therapie sich lediglich rascher und mit höherer Intensität entwickelten. Weder Somnambulismus noch Suggestion sind für das Bedürfnis nach Bestätigung und für die Angst vor dem Alleinsein verantwortlich: Diese Bindungsthemen finden sich bei allen Menschen. Janet stellte fest, dass die somnambule Leidenschaft an Intensität und Verlangen der Verliebtheit ähnelt und sich auch ganz ähnlich äußert. Ein Element der somnambulen Leidenschaft ist das starke Bedürfnis nach dem Therapeuten, das den Gefühlen, die nicht hypnotisierte Patienten gegenüber ihren Therapeuten entwickeln, nicht unähnlich ist. Das Bedürf225 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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nis, beim Therapeuten Trost und Heilung zu finden, ist von herausragender Bedeutung. Ohne den Therapeuten, von dem sie sich abhängig fühlen, können Patienten mitunter vollständig regredieren. Janet schrieb über Patienten, die eine solche Abhängigkeit entwickelten: »Sie verhalten sich außerordentlich anspruchsvoll; der Arzt soll für sie alles sein und mit niemandem außer ihnen Umgang haben. Er soll ununterbrochen nach ihnen sehen, lange bei ihnen verweilen und sich alle ihre Sorgen, und seien sie noch so belanglos, zu Herzen nehmen« ( Janet, 1898a [1897], S. 447).
Janet erläuterte auch, dass die Abhängigkeit von der Hospitalisierung ein damit zusammenhängendes Phänomen ist – eine Schwierigkeit auch für heutige Therapeuten, die mit schwerkranken Borderline- und anderen extrem abhängigen Patienten arbeiten. Er berichtet von seiner Patientin Am, die sich in der Klinik weitgehend normal verhielt, aber »absurden und wahnhaften Aktivitäten« nachging, sobald sie ein oder zwei Tage entlassen war. Sie hatte das Bedürfnis, erneut eingewiesen zu werden, und lebte infolgedessen 30 Jahre lang in der Salpêtrière. Sie berichtete, dass sie unbedingt »ein Gesetz, eine Herrschaft«, brauche, die ihr Verhalten kontrolliere (ebd., S. 460). Heutige Therapeuten würden dieser Patientin vermutlich helfen, ihr Bedürfnis nach stationärem Aufenthalt zu erforschen, ihr gleichzeitig angemessene Grenzen setzen und sie dabei unterstützen, effektivere Skills zur Emotionsregulation zu erwerben.
Die Krankheit der Isolation Bemerkenswert an dem von Janet beschriebenen Bedürfnis, geführt zu werden, sind die Intensität und die Hartnäckigkeit der Abhängigkeit. In einem der von ihm geschilderten Fälle bestand ein 45-jähriger Mann darauf, bei buchstäblich jedem Schritt, selbst wenn er zur Toilette ging, von seiner Frau begleitet zu werden. Außer ihr war niemand imstande, ihn zu beruhigen, und nur von ihr ließ er sich führen. Das Bedürfnis nach jemandem, der Fürsorge und Liebe spendet, ist unübersehbar; auffällig ist die Unfähigkeit, das Alleinsein zu ertragen (Gunderson, 1996). Janet bezeichnete dies als »die Krankheit der Isolation«. Die psychischen Symptome hingen mit einem verzweifelten Bedürfnis zusammen, nicht allein 226 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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zu sein und einen anderen Menschen in der Nähe zu wissen ( Janet, 1898a [1897], S. 462). Diese Unfähigkeit, das Alleinsein zu ertragen, wurde als eines der Hauptmerkmale der Borderline-Persönlichkeitsstörung identifiziert (Gunderson, 1996) und ist bei schwer traumatisierten Menschen häufig zu beobachten (Steele, Boon & van der Hart, 2017). Es ist ein Vorläufer zahlreicher therapeutischer Krisen, zum Beispiel selbstverletzender Verhaltensweisen, Suizidalität, ungesunder oder gefährlicher Beziehungen, Substanzmissbrauch usw. Eine von Janets Patientinnen, Zy, fand eine treffende Erklärung ihres promiskuitiven Verhaltens: »Ich brauche jemanden, der für mich sorgt, sich für mich interessiert, ganz gleich, wie …« ( Janet, 1898a [1897], S. 463). Eine andere Patientin, Qe, beschrieb ihr unerträgliches Alleinsein und die damit einhergehende Derealisation mit den Worten: »Wenn ich allein bin, fühle ich mich wie eine große Leere, so als sei die Welt nicht vorhanden. Ich habe nur ein automatisches Leben, ich träume, während ich hellwach bin« (ebd., S. 465). Auch hier hebt Janet hervor, dass die Abhängigkeit (das Bedürfnis, geführt zu werden) und die Unfähigkeit, allein zu sein (die Krankheit der Isolation) kein Ergebnis der Hypnose oder Suggestion sind, sondern getrennt davon als universale psychische Dynamik bestimmter Menschen existieren, die hypnotisierbar sein können, aber nicht müssen. Heute führen wir diese Eigenschaften auf Bindungsstörungen zurück. Sie manifestieren sich in spezifischen Symptomkonstellationen, die häufig mit schweren Entwicklungstraumata zusammenhängen. Hypnose und Suggestion verleihen dieser Dynamik allerdings eine besondere Intensität und können in vielen Fällen in den Dienst der Behandlung gestellt werden. Um die Abhängigkeit therapeutisch handhaben und lenken zu können, muss der Therapeut, so Janet, zunächst als äußerer Einfluss fungieren, der den psychischen Prozess der Patientin steuert, weil sie selbst nicht dazu in der Lage ist. Die Patientin hat ein halluzinatorisches oder imaginatives Bild vom Therapeuten, das sie drängt, sie unterstützt, ihr droht oder sie ermutigt. Das Bild des Therapeuten kann als sichere Bindungsbasis dienen und die Unerträglichkeit des Alleinseins ein wenig lindern. Über lange Phasen hinweg aber bleibt diese beginnende Internalisierung instabil und unzuverlässig; unter Umständen weckt sie sogar eine unerträgliche Sehnsucht. Deshalb sind diese Patienten auf Hilfe anderer Art angewiesen. Der Therapeut kann zum Beispiel untersuchen, wie und wann eine psychische Repräsentation seiner selbst (oder anderer Menschen) für den Patienten zugänglich ist und ob der Patient sie als hilfreich erlebt oder nicht (Steele, 227 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Boon & van der Hart, 2017). Der Therapeut kann auch ein hypnotisches Bild einer idealen Gestalt einführen, die dem Patienten als Unterstützung dient (Brown & Elliott, 2016; Steele, Boon & van der Hart, 2017). Janet war überzeugt, dass starke Emotionen die therapeutische Arbeit zunichtemachen oder erschweren. Diese Emotionen fördern, vor allem wenn sie traumatischer Natur sind, Desorganisation und Dissoziation und wirken somit der Synthese entgegen ( Janet, 1889; 1907b; 1909b; vgl. van der Kolk & van der Hart, 1989; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Willenskraft und Aufmerksamkeit hingegen erzeugen Synthese, eine neue Konstruktion komplexer Systeme, konstituiert durch Elemente der Gedanken, Gefühle, Empfindungen und Bilder. Aus diesen Systemen bauen sich Überzeugungen, Wahrnehmungen und Urteile sowie Erinnerungen und personales Bewusstsein auf. Durch angemessene Führung kann der Therapeut die Synthese unterstützen. Er hilft, Lösungen, Überzeugungen und Emotionen kooperativ zu organisieren, und unterstützt die Integration des Patienten, wenn dieser dissoziiert ist. Diese Arbeit setzt zwangsläufig die Bewältigung traumatischer Erinnerungen voraus. Janet schrieb, dass im Anschluss an die Persönlichkeitsintegration – einschließlich der Traumabewältigung – sämtliche Symptome der Hysterie verschwinden, einschließlich der Suggestibilität und der Fähigkeit, sich in tiefe hypnotische Trance mit Amnesie versetzen zu lassen. Das bedeutet möglicherweise, dass die somnambule Leidenschaft – ein Hypnosephänomen – sich zusammen mit den Symptomen der traumatischen Erinnerungen auflöst und dass die mittlere und die abschließende Behandlungsphase für eine endgültige Genesung von der Leidenschaft unverzichtbar sind. Zusammenfassend können wir festhalten, dass Janets Konzipierung der Arbeit mit traumatisierten Patienten den Keim zahlreicher Elemente der heutigen Behandlung enthält. Janet war überzeugt, dass Hypnose, Suggestion und psychische Behandlung bei chronischer Traumatisierung praktisch immer von langer Dauer sind, weil sie präzise und methodisch auf die zahlreichen therapeutischen Herausforderungen fokussieren müssen. Im Laufe der Behandlung müssen Therapeuten auf zwei scheinbar widersprüchliche Ziele hinarbeiten: (1) Der Therapeut muss bereit sind, aktiver als üblich zu arbeiten und dem Patienten zu helfen, angemessen mit seiner Abhängigkeit umzugehen und den Input seitens des Therapeuten zumindest teilweise zu akzeptieren; (2) gleichzeitig muss er nach und nach seine aktive Haltung zurücknehmen und die Kompetenz 228 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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des Patienten, sein tägliches Leben in die eigene Hand zu nehmen, unterstützen. Wenn in der Frühphase der Behandlung Symptomreduzierung und Stabilisierung im Vordergrund stehen und die Leidenschaft sich intensiviert hat, muss sich der Therapeut besonders aktiv verhalten und dem Patienten zum Beispiel dabei helfen, sich auf das, was wichtig ist, zu konzentrieren und Erfahrungen, die er gern meidet, vorsichtig auszuprobieren. Janet ließ keinen Zweifel daran, dass der Therapeut nicht versuchen sollte, dem Patienten Vater oder Mutter zu ersetzen; vielmehr betrachtete er es als seine Aufgabe, die Veränderungsfähigkeit des Patienten zu unterstützen und ihm eine stabile Beziehung anzubieten. Der Therapeut muss das Tempo der Therapie an die wachsende Ich-Stärke (psychische Spannung) des Patienten und sein Kompetenzgefühl anpassen und ständig einschätzen, wann Interventionen notwendig sind und wann es gilt, den Patienten in seiner Autonomie zu bestärken. Er sollte laufend die Synthese der Emotionen und des Denkens fördern und vom Patienten zunehmende Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit erwarten. Um diese Fähigkeiten zu fördern, muss er ihm helfen, sein Leben zumindest vorübergehend zu vereinfachen, damit ihn die Anpassung nicht überfordert und die psychische Spannung, die er braucht, um zu genesen, wachsen kann. Falls und wenn der Patient ein angemessenes Maß an psychischer Spannung und Stabilisierung erreicht hat, kann die zweite Behandlungsphase beginnen, die sich auf die Linderung der traumatischen dissoziierten Erinnerung konzentriert. Der Patient kann nun den langen Prozess der Realisierung und Integration in Angriff nehmen, damit seine Symptome nicht nur vorübergehend verschwinden, sondern eine vollständige Heilung erreicht werden kann.
Diskussion Weil traumatisierte Patienten im Allgemeinen hochhypnotisierbar sind, entwickeln sich im Hypnoseumfeld [hypnotic surround] mit und ohne formale Hypnose Übertragungen (und Gegenübertragungen) (Diamond, 1984; Loewenstein, 1991; Peebles-Kleiger, 1989; Spiegel, 1990). Bei Janets Hysteriepatientinnen beobachten wir das Oszillieren oder eine Koexistenz zwischen einem scheinbar normalen Persönlichkeitsanteil (NP), der sich der Alltagsbewältigung widmet, und einem emotionalen Teil der Persönlichkeit (EP), der im Trauma fixiert ist und sich folglich in einem 229 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Zustand der Autohypnose befindet. Janet (1894b; 1910a; vgl. 1. Kapitel) bezeichnete die Koexistenz eines dissoziierten Persönlichkeitsanteils, der gegenwartsorientiert ist, und eines Persönlichkeitsanteils im Zustand der Autohypnose als hémisomnambulisme. Wir haben diese dissoziative Organisation als primäre (strukturelle) Dissoziation der Persönlichkeit bezeichnet (van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Dieses Oszillieren oder Koexistieren besteht zwischen einem normalen Persönlichkeitsanteil und einem oder mehreren emotionalen Persönlichkeitsanteilen, die wir als sekundäre Dissoziation der Persönlichkeit bezeichnen. In komplexeren Fällen findet ein Oszillieren zwischen zwei oder mehr normalen Persönlichkeitsanteilen und zwei oder mehr emotionalen Persönlichkeitsanteilen statt, die sich abwechseln und koexistieren; wir bezeichnen dies als tertiäre Dissoziation der Persönlichkeit. Mit anderen Worten: Diese Muster finden sich im Kontext der Persönlichkeitsdissoziation und der hohen Hypnotisierbarkeit (Myers, 1940; Nijenhuis & van der Hart, 1999; Nijenhuis, van der Hart & Steele, 2002; 2004; Steele, van der Hart & Nijenhuis, 2001; 2017; van der Hart, van der Kolk & Boon, 1998; van der Hart, van Dijke, van Son & Steele, 2000; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Mithin entwickelte sich die Beziehung Janets zu seinen Patientinnen in einem hochgradig hypnotischen Kontext. Die hypnotischen Eigenschaften der Therapie von Traumapatienten dürfen nicht unterschätzt oder gar vernachlässigt werden. Sie spielen für den Übertragungs-Gegenübertragungsprozess eine wichtige Rolle. Je komplexer die Dissoziation der Persönlichkeit, desto komplizierter gestalten sich unter Umständen auch die hypnotische Übertragung und die Gegenübertragung. Es ist klar, dass Janets Schriften eine Fülle an Beobachtungen enthalten, die zeigen, dass die Hypnose den Übertragungsprozess intensiviert und die Übertragungsregression fördert, auch wenn Janet ( Janet, 1898a [1897]; 1925 [1919]) für diese Entwicklungen andere Worte findet. Seine Beobachtungen stimmen mit den Fallberichten von Therapeuten aus dem 20. Jahrhundert überein (Brown & Fromm, 1986; Gill & Brenman, 1959; Kubie & Margolin, 1944; Smith, 1984). Hypnotische Einflüsse auf die Übertragung können eine primärprozesshafte Welt entstehen lassen, in der die Patientin ungehindert mit halluzinatorischen und imaginativen Wahrnehmungen des Therapeuten interagiert. In diesem Zustand der psychischen Äquivalenz unterscheidet sie nur begrenzt zwischen innerer und äußerer Realität, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Denken und Handeln. Sie nimmt Gespräche mit dem Therapeuten wahr, 230 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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die nie stattgefunden haben, agiert gemäß diesen imaginären Gesprächen und konstruiert in deren Kontext ganze Glaubenssysteme. Die Patientin eines der Autoren behauptete beispielsweise, am Vorabend ein Telefongespräch mit ihm geführt zu haben. Er habe ihr befohlen, ihre Eltern nicht zu besuchen. Tatsächlich hatte der Therapeut keineswegs mit der Patientin telefoniert und ihr auch nie nahegelegt, ihre Besuche bei den Eltern einzustellen. Die Patientin konnte ihrem eigenen inneren Konflikt bezüglich ihrer Eltern ausweichen, indem sie eine »Lösung« auf den Therapeuten projizierte. Sie entwickelte die felsenfeste Überzeugung, dass der Therapeut sie »schützte«, indem er ihr die Elternbesuche untersagte, und ging fortan monatelang jedem Kontakt zu den Eltern aus dem Weg – alles basierend auf einem imaginierten Telefongespräch. Janets Beobachtungen solcher Phänomene zeigen, dass er wusste, dass diese Halluzinationen nicht aus einer Suggestion des Therapeuten resultieren, sondern gänzlich aus den unbewältigten Konflikten der Patientin und ihren unerfüllten Wünschen hervorgehen. Unter Umständen kann der Therapeut als therapeutische Intervention imaginative Erfahrungen anregen. Er kann die Patientin zum Beispiel bitten, sich vorzustellen, was er oder eine imaginierte ideale Gestalt über eine Schwierigkeit, mit der sich die Patientin konfrontiert sieht, sagen würde. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass der Einsatz intensiver Vorstellungen bei hochhypnotisierbaren Patienten deren Trance zusätzlich vertiefen und aktive Achtsamkeit und das Präsentsein in der Gegenwart erschweren kann. Wie schon erwähnt, befand sich das Übertragungskonzept zu Janets Zeiten noch in einer frühen Entwicklungsphase. Gleichwohl betraf ein Großteil seiner Beobachtungen die auf den Therapeuten gerichteten Gefühle, Gedanken und Erlebensweisen der Patientinnen. Janets Überlegungen zum rapport magnétique weisen Parallelen auf zu der basalen vertrauensvollen, »unanstößigen« Übertragung, der Freud zwar wenig Beachtung schenkte, die aber später als »ursprüngliche Übertragung« (Greenacre, 1954), »basale Übertragung« (Stone, 1967), »narzisstische Übertragung« (Kohut, 1966) und »Hintergrundübertragung« (Modell, 1990) erforscht wurde. Für den Therapeuten besteht die dialektische Spannung darin, das Ich des Patienten bei Bedarf zu stützen, ohne jedoch einer alles beherrschenden Abhängigkeit Vorschub zu leisten. Janet wies darauf hin, als er anmerkte, dass der Therapeut »seinen Einfluss auf ein Minimum reduzieren und die Patientin lehren müsse, nach und nach ohne ihn aus231 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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zukommen« ( Janet, 1898a [1897], S. 478). Er ließ keinen Zweifel an der Notwendigkeit dieser Balance. Interessanterweise stellte Janet fest, dass Symptomverschlimmerungen gleichzeitig mit der Veränderung von einer ursprünglichen Idealisierung des Therapeuten zu dem Gefühl der Patientin, von ihm im Stich gelassen und vernachlässigt zu werden, erfolgten. Es ist möglich, dass gerade die Bindung an den Therapeuten den ungelinderten Schmerz einer traumatischen (oder in der Vergangenheit verlorenen) Bindung triggert und die Symptome sich dadurch verschlimmern. Die Patientin nimmt bewusst wahr, dass sie den Therapeuten vermisst, und hat das Gefühl, dass er sie womöglich vernachlässigt. Eine klassische Übertragung von Traumapatienten ist dadurch charakterisiert, dass die eigene Bedürftigkeit Schamgefühle sowie Abscheu und Furcht hervorruft, und diese Gefühle werden anschließend auf den Therapeuten übertragen. Darüber hinaus werden häufig frühe Szenen des Verlassenseins inszeniert. Wir können nicht deutlich genug betonen, dass der Therapeut sein Augenmerk nicht nur auf die Symptome und ihre Linderung richten sollte, sondern unbedingt auch auf den Bindungsprozess (einschließlich Übertragung und Gegenübertragung), der gleichzeitig stattfindet (Olio & Cornell, 1993; vgl. Davies & Frawley, 1994). Ihm muss bewusst sein, dass viele Symptome und Symptomverschlechterungen einen Beziehungskontext haben. Vielleicht hätten Janets Patientinnen stärker profitieren können, wenn er ihr Bedürfnis nach seiner Nähe als Teil des therapeutischen Prozesses in der Behandlung ihrer Symptome gründlich bearbeitet hätte. Einige seiner Patientinnen waren jedoch so dysfunktional und erschöpft, dass Symptomlinderung und Stabilisierung vielleicht die einzige realistische Option waren. Eine heutige Patientin beschrieb die Jahre der Symptomremission mit den Worten: »Meine Symptome waren real, ich habe wirklich nicht simuliert oder sie vorgetäuscht, um Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Aber ich weiß heute, dass sie die Brücke zu Ihnen waren, eine Brücke, die ich auf andere Weise nicht finden konnte. Ich war von jeder menschlichen Beziehung so weit entfernt, dass sie das einzige waren, das mich an Sie binden konnte.«
Der Therapeut muss eine Beziehung anbieten, die, während sie sich entwickelt, verbal bearbeitet und bedeutungshaltig in den Kontext der Behandlung eingeordnet werden kann. 232 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Janet war sich bewusst, dass die Arbeit mit Abhängigkeit therapeutische Sicherheitsmaßnahmen erfordert, damit maligne Regressionen verhindert werden können. Er empfahl bestimmte Maßnahmen wie die Minimierung von Suggestionen und die aufmerksame Kontrolle des Intervalls zwischen den Sitzungen und deren Länge. Auch gilt es seiner Ansicht nach, die Patienten dazu anzuregen, den Grad ihrer psychischen Spannung zu steigern ( Janet, 1898a [1897], S. 478). Darüber hinaus erwähnte er Techniken, die Parallelen zur Verbesserung der Achtsamkeit aufweisen, einer bedeutsamen Fertigkeit, die zur Entwicklung von Affektregulation und Distresstoleranz erforderlich ist ( Janet, 1898a [1897]; Linehan, 1993; 2014; Steele, Boon & van der Hart, 2017; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Der Therapeut muss klar unterscheiden zwischen einer Gratifizierung der Wünsche seiner Patienten und einer mitfühlenden Untersuchung ihrer Bedürfnisse sowie der Trauer darüber, dass sie in der Vergangenheit nicht hinreichend befriedigt wurden. Gleichwohl deutet manches darauf hin, dass eine flexible Befriedigung solcher Bedürfnisse zu einem gewissen Grad und innerhalb festgelegter Grenzen in manchen Fällen hilfreich sein kann – zum Beispiel in Form gelegentlicher Extrasitzungen und des Angebotes verlässlicher (jedoch nicht ständiger) Verfügbarkeit (Bornstein & Bowen, 1995; Gunderson, 1996; Laub & Auerhahn, 1989; Linehan, 1993; Steele, van der Hart & Nijenhuis, 2001; van Sweden, 1994; Walant, 1995). Es versteht sich von selbst, dass jede Abweichung vom üblichen therapeutischen Rahmen ein komplexer und heikler Prozess sein kann, der gründlich durchdacht und theoretisch fundiert sein muss. Therapeuten tun gut daran, ohne vorherige Beratung keine Veränderungen des therapeutischen Rahmens vorzunehmen. Unsere Integration von Janets Schriften in moderne Behandlungsverfahren hat gezeigt, dass der starken Abhängigkeit von Traumapatienten vier verschiedene Probleme zugrunde liegen können. Jedem dieser Probleme ist mit spezifischen therapeutischen Interventionen zu begegnen: 1. Die Patientin weist genuine Ich-Defizite und dissoziative Lücken bezüglich des kritischen Denkens, der Interpretation von Wahrnehmungen, der Affekttoleranz, der Fähigkeit, allein zu sein, sowie der Impulskontrolle, der inneren Integration psychischer Inhalte und der allgemeinen Coping-Skills auf. Der Therapeut hat die Aufgabe, zu Beginn der Therapie die Affektregulation und die kognitive Arbeit zu unterstützen und weitere ich-stärkende Techniken einzusetzen (vgl. z. B. Linehan, 1993; 2014; McCann & Pearlman, 1990). Der Therapeut sollte in 233 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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der frühen Phase der Therapie aktiv Coping-Skills einführen und gelegentlich als »Hilfs-Ich« für die Patientin fungieren. Emotionale und physische Bedürfnisse verbinden sich bei Vernachlässigung und Trauma intrapsychisch mit dem Überleben an sich, sodass »Wünsche« mit »biologischem Bedürfnis« verwechselt und beide als Angelegenheit von Leben und Tod erlebt werden (Cohen, 1985; Krystal, 1988; Laub & Auerhahn, 1989). Janet (1898a [1897]) erklärte, dass das Bedürfnis nach dem Therapeuten für die Genesung von herausragender Bedeutung sei. Deshalb müsse der Therapeut die Patientin führen und sich engagiert verhalten. Die Gratifikation dieses Bedürfnisses wird gleichbedeutend mit einer sicheren Bindung; wird sie vom Therapeuten versagt, erlebt die Patientin dies als Verlassenwerden und Vernichtung (Cohen & Sherwood, 1991). Nach und nach muss der Therapeut ihr aber auch helfen, zwischen Bedürfnissen und Wünschen sowie zwischen unerträglichen Affekten und Bedürfnissen zu unterscheiden. Er muss zu einem konstanten Objekt (Bindungsperson) werden und als sichere Basis der Exploration dienen, Struktur anbieten und es ertragen, zum Objekt intensiver Affekte zu werden, ohne die therapeutischen Grenzen zu verletzen (ebd.; Farber, Lippert & Nevas, 1995). Gleichzeitig muss der Therapeut der Patientin, die von Abhängigkeitswünschen überwältigt wird, dabei helfen, diese im Rahmen ihrer Fähigkeiten unter Kontrolle zu halten und zu verarbeiten. Die Patientin hat die chronische Tendenz, Hilflosigkeit, Verwirrtheit und Chaos des Traumas, in dem ihr die Synthese- und Organisationsfähigkeiten (psychische Spannung) abhandenkommen, zu reinszenieren. Zudem ist unter Umständen zum Zeitpunkt des Traumas eine Entwicklungsarretierung oder signifikante -beeinträchtigung erfolgt. Janet erläuterte, dass dissoziierte traumatische Erinnerungen als unterbewusste fixe Ideen bestehen bleiben und mitunter in Form von Verhaltensweisen, Gedanken, Gefühlen und Impulsen zutage treten, die Wiederholungen des früheren Traumas darstellen und mit der Gegenwart nichts zu tun haben (siehe 1. & 11. Kapitel; van der Hart et al., 1993a; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Er beobachtete auch, dass Traumapatienten unfähig sind, neue Erfahrungen zu assimilieren. Vielmehr hat es den Anschein, »als ob ihre Persönlichkeit, die an einem bestimmten Punkt zum Stillstand gekommen ist, durch Hinzufügung oder Assimilation neuer Elemente nicht mehr
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erweitert werden könne« ( Janet, 1925 [1919], S. 660). Ein vollständiges Durcharbeiten des Traumas, das indes erst in der mittleren Behandlungsphase erfolgen kann, ist zwingend notwendig, um solche Enactments auszuschließen. Bevor diese schwierige Arbeit in Angriff genommen werden kann, muss der Therapeut den Reenactments konsequent entgegenwirken, indem er durchgängig kritisches Denken, Impulskontrolle, Stabilität, Beständigkeit, Berechenbarkeit, Grenzen und Containment betont. Das Wiederauftauchen der traumatischen Deprivations- und Schmerzerfahrungen aktiviert einen starken Widerstand gegen die schmerzliche Trauer darüber, dass die Vergangenheit durch Gratifikation in der Gegenwart nicht ungeschehen gemacht werden kann. Janet beschrieb die Angst der Patientin und das Vermeiden des Traumas als eine Phobie vor der traumatischen Erinnerung ( Janet, 1904). Seine Formulierung bringt die Intensität der Angst vor dem Verlustschmerz zum Ausdruck. Die Anerkennung des Verlustes ist aber für die Genesung unabdingbar. Wir haben an anderer Stelle geschrieben, dass »Integration und Realisierung die Anerkennung des immensen Verlustes voraussetzen. […] Die Patientin muss lernen, tief zu trauern […], die Einsamkeit und den Schmerz weiterhin zu ertragen. […] Aber die Trauer […] ermöglicht den Überlebenden, auf unrealistische Erwartungen zu verzichten […] und infolgedessen zielgerichtet und mit neuer Klarheit in der Gegenwart anzukommen« (van der Hart et al., 1993a, S. 172).
In der frühen Phase der Behandlung muss der Therapeut intensive vorbereitende Arbeit leisten. In der mittleren Therapiephase bewirken das Nachlassen der Dissoziation und der anschließende Realisierungsprozess, dass die Patientin sich der Trauerarbeit Schritt für Schritt annähern kann. Weil starker Widerstand auf die Vermeidung der Trauer drängt, muss die Patientin sich nach und nach mit der Tatsache abfinden, dass der Therapeut (wie auch jeder andere Mensch) ihre Bedürfnisse nicht jederzeit befriedigen kann, möchte und sollte. Die Verluste müssen anerkannt und betrauert werden (Stark, 1994). Die von Janet beschriebene Krankheit der Isolation – wir sprechen heute von der Unfähigkeit, allein zu sein (Gunderson, 1996) – ist ein integraler, mit der Abhängigkeit zusammenhängender Bestandteil der unsicheren Bindung. Traumatisierte Patienten sind vollkommen unfähig, ihre eigenen 235 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Bedürfnisse selbst zu befriedigen, und nehmen das Fehlen eigener, innerer Ich-Ressourcen aufs schmerzlichste wahr (auch wenn sie dies gewöhnlich nicht in Worte fassen können). Sie haben häufig panische Angst vor dem für sie rätselhaften inneren Geschehen, an dem hochtraumatisches Material, unkontrollierbare Affekte und furchterregende Impulse und Bedürfnisse beteiligt sind. Darüber hinaus fehlen ihnen sowohl die Beständigkeit eines beruhigenden äußeren Objekts als auch ein beruhigendes Introjekt, sodass sie, wenn sie allein sind, menschlichen Kontakt nicht erinnern können und deshalb nicht in der Lage sind, sich selbst zu trösten oder zu beruhigen. Eine Patientin beschrieb ihre Erfahrung, sich mutterseelenallein zu fühlen, als »absolute Gewissheit, dass ich der letzte Mensch auf Erden bin und Sie [die Therapeutin] mit der gesamten übrigen menschlichen Weltbevölkerung in dem tiefen Abgrund verschwunden sind. Ich bin sicher, dass die Straßen leer sein werden, wenn ich aus dem Haus gehe, so wie in einem SciencefictionRoman, aber nun ist es real. Ich gehe hinaus und die Straßen sind gar nicht leer, doch sobald ich wieder im Haus bin und die Tür hinter mir schließe, fängt es von vorne an.«
Es ist verständlich, dass Patienten, die mit solch immensen Schwierigkeiten ringen, sich abhängig fühlen und entsprechend verhalten. Für den Therapeuten besteht die Aufgabe darin, dieses Abhängigkeitsbedürfnis anzuerkennen und dem Agieren der Abhängigkeit gleichzeitig klare Grenzen zu setzen. Auf diese Weise hilft er der Patientin, die nötige Ich-Stärke zu entwickeln, um den Prozess verbalisieren und meistern zu können. Gunderson (1996) vertrat die Ansicht, dass der Therapeut die zugrunde liegenden Bindungsschwierigkeiten des Patienten verstehen und für ihn konstant, aber »nicht-intensiv« verfügbar sein müsse. Dies steht mit der Überlegung im Einklang, eine Sitzungsfrequenz zu vereinbaren und den Kontakt zwischen den Sitzungen zu begrenzen, so wie wir es heute handhaben. Wenn es zu einem außerordentlichen Kontakt kommt, gilt es, die Gründe in der nächsten Sitzung zu untersuchen. Gunderson vertrat auch den Standpunkt, dass jeder außerordentliche Kontakt sowie die Nutzung von Übergangsobjekten vom Patienten und nicht vom Therapeuten initiiert werden sollten, dass die Verringerung der Kontakthäufigkeit ein Anzeichen für Besserung sei und dass sämtliche Reaktionen des Patienten auf Abwesenheiten oder Nicht-Verfügbarkeit des Therapeuten durchgearbeitet werden müssen (ebd., S. 757). 236 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Schluss Janet befürwortete eine beständige, aktive und unterstützende Beziehung zum Patienten, in der dieser Gelegenheit finden sollte, eine Bindung (wieder-)herzustellen, sich von seinen Symptomen zu befreien, die innere Fähigkeit zu entwickeln, Impulse und Affekte zu beruhigen, zu modulieren und zu kontrollieren, traumatische Erinnerungen zu lindern und sich bewusst zu machen und wachsende Autonomie sowie selbstinitiierte Aktivitäten zu erkunden. Da er in einem Hospital arbeitete, als er diese Studie verfasste, waren ihm die therapeutischen Fallstricke der Abhängigkeit möglicherweise bewusst. Gleichermaßen klar sah er aber auch die Notwendigkeit, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Abhängigkeit des Patienten vom Therapeuten und der kontinuierlichen Aktivierung seiner Selbsturheberschaft herzustellen. Von seinem meisterlichen Gebrauch des hypnotischen Rapports können alle Behandler, die mit schwierigsten Traumapatienten arbeiten, vieles lernen.
Anhang: Definitionen Idées fixes: »Fixe Ideen« sind Gedanken oder Vorstellungsbilder, die übertriebene Aufmerksamkeit beanspruchen, emotional hochbesetzt sind und bei hysterischen Patienten von der habituellen Persönlichkeit oder dem personalen Bewusstsein isoliert werden. Wenn sie das Bewusstsein beherrschen, dienen sie als Grundlage des Verhaltens (siehe 1. Kapitel). Eine primäre fixe Idee ist »das Gesamtsystem oder der Gesamtkomplex von Eindrücken […] eines bestimmten traumatisierenden Ereignisses mitsamt den entsprechenden Emotionen und Verhaltensweisen« (1. Kapitel, S. 37). Sekundäre fixe Ideen weisen ähnliche Eigenschaften auf wie die primären, tauchen aber erst nach deren erfolgreicher Behandlung auf. Sie können sich vom ursprünglichen Trauma herleiten (abgeleitete fixe Ideen), mit einem früheren oder anderen Trauma zusammenhängen (geschichtete fixe Ideen) oder auch völlig neu sein und eine Verbindung zum gegenwärtigen Alltagsleben aufweisen (akzidentelle fixe Ideen) (1. Kapitel, S. 37). La passion somnambulique: »[D]as überwältigende Bedürfnis des Patienten, von seinem eigenen Therapeuten hypnotisiert zu werden« (1. Kapitel, S. 41). Der Patient ist von Gedanken an den Hypnoti237 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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seur besessen und halluziniert unter Umständen Suggestionen oder Gespräche mit ihm; die Obsession kann zu einer gefährlichen Sucht werden, analog der »Morphinomanie« oder Morphiumabhängigkeit (Haule, 1986). Psychische (geistige) Spannung: »[D]ie Fähigkeit des Individuums, seine psychische Energie auf einer mehr oder weniger hohen Ebene der ›Hierarchie der Tendenzen‹ [d. h. der von einfachen, automatischen bis zu sehr komplizierten und kreativen Handlungen – oder entsprechenden Handlungstendenzen – reichenden Hierarchie] (wie von Janet beschrieben) einzusetzen. Je größer die Anzahl der synthetisierten Operationen, je neuartiger die Synthese, desto höher ist die entsprechende psychische Spannung« (Ellenberger, 1996 [1974], S. 516). Janet betonte, dass man ein bestimmtes Verhältnis zwischen der psychischen Kraft und der Spannung aufrechterhalten müsse, um ruhig handeln zu können ( Janet, 1903; 1925 [1919]). Rapport magnétique: »Das Hypnosephänomen, dass die Person nur auf Suggestionen des Hypnotiseurs und keiner anderen Person reagiert, es sei denn, der Hypnotiseur gibt eine entsprechende Anweisung« (Udolf, 1987, S. 361). Gefühle [sentiments] (im Gegensatz zu Emotionen): »Gefühle sind vor allem Handlungsregulationen, und zwar dahingehend, welche Aktion auf je unterschiedliche Weise verstärkt, verringert, modifiziert oder gehemmt werden kann« ( Janet, 1937a, S. 67). Emotion hingegen ist die Verausgabung überschüssiger Energie. Handlungen werden durch Gefühle (sentiments) reguliert und zu gewissem Grad auch aktiviert ( Janet, 1937a). Somnambulismus: »Das Phänomen, dass zwei oder mehr Bewusstseinszustände, dissoziiert durch eine amnestische Spaltung, scheinbar unabhängig voneinander operieren« (Haule, 1986, S. 88). Der Begriff bezeichnet eine große Bandbreite an Prozessen einschließlich der Hysterie, der Hypnose (artifizieller Somnambulismus), der multiplen Persönlichkeit und des Spiritismus. In der engeren, heute gebräuchlichen Definition bezeichnet er das Schlafwandeln (siehe 1. Kapitel). Suggestion: »Die vollständige und automatische Entwicklung einer Idee, die sich außerhalb des Willens und der personalen Wahrnehmung des Subjekts vollzieht« ( Janet, 1893a, S. 251). In diesem Sinn verstanden, ist die Suggestion ein psychischer Prozess, der nicht mit an238 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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deren Formen der Beeinflussung, etwa der Überredung, verwechselt werden darf. Wille: »Die Fähigkeit, vorausschauend Entscheidungen zu treffen, die zu (zielgerichteten) Handlungen führen« ( Janet, 1891; 1898a, S. 11). Die Fähigkeit, adaptiv auf der Grundlage der sich verändernden Umstände Entscheidungen zu treffen.
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12 Pierre Janets Behandlung der posttraumatischen Psychopathologie Onno van der Hart, Paul Brown & Bessel A. van der Kolk
Pierre Janet war vermutlich der erste Psychologe, der ein systematisches therapeutisches Verfahren zur Behandlung der posttraumatischen Psychopathologie formulierte und erkannte, dass die Behandlung an die verschiedenen Phasen der Evolution posttraumatischer Stressreaktionen angepasst werden muss. Seit den frühen 1880er Jahren entwickelte er eine eklektische Behandlungsmethode, die sich auf seine klinische Erfahrung mit zahlreichen schwer traumatisierten Patienten mit entweder hysterischen (dissoziativen) oder psychasthenischen (obsessiv-zwanghaften) posttraumatischen Symptomen stützte. Unsere Übersicht seiner Psychotherapie der posttraumatischen Symptome betrifft Publikationen, die im Laufe von 50 Jahren entstanden sind ( Janet, 1888; 1889; 1898a; 1898b; 1903; 1904; 1911; 1919; 1923a; 1932a; 1935b). In diesem Kapitel aber werden wir vorwiegend auf sein Opus magnum eingehen, Les Médications Psychologique (1919), das unter dem Titel Psychological Healing im Jahr 1925 in englischer Übersetzung erschienen ist.
Die Phasen der posttraumatischen Anpassung Janet betrachtete die Unfähigkeit, traumatische Erinnerungen zu integrieren, als Kernproblem der posttraumatischen Syndrome: Die Behandlung des psychischen Traumas ging grundsätzlich mit dem Versuch einher, die Erinnerungen an das Trauma zu reaktivieren und in die Gesamtheit der personalen Identität zu integrieren. Janet hat nie eine Nosologie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) formuliert, aber den fundamentalen biphasischen Charakter der Traumareaktion klar erkannt und sämtliche DSM-5-Kriterien der PTBS sowohl in seinen Fallgeschichten als auch in seinen theoretischen Schriften ausgesprochen detailliert beschrieben 241 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Onno van der Hart, Paul Brown & Bessel A. van der Kolk
(siehe van der Kolk, Brown & van der Hart, 1989; van der Hart, Nijenhuis & Steele [2006]). Janet unterschied drei Phasen der Traumareaktion. Typisch für die erste ist eine auf ein traumatisches Erlebnis folgende Mischung aus dissoziativen (hysterischen) Reaktionen, zwanghaftem Ruminieren und generalisierter Agitiertheit. Die zweite Phase der verzögerten posttraumatischen Symptomatik besteht aus einer Mischung aus Angst und hysterischen und zwanghaften Symptomen, wobei sich die traumatische Ätiologie oft nicht ohne Weiteres zu erkennen gibt. Die dritte und letzte Phase ist durch den von modernen Autoren so genannten posttraumatischen Verfall (Titchener, 1986) charakterisiert und beinhaltet Somatisierungsstörungen, Depersonalisation und Melancholie. Sie mündet schließlich in Apathie und sozialen Rückzug. Ebenso wie heutige Autoren erkannte Janet, dass eine vollständige Genesung in chronischen Fällen selbst dann selten ist, wenn die Patientinnen das Trauma detailliert schildern können.
Therapeutischer Rapport und moralische Führung Janet war sich der Notwendigkeit, vor der Bearbeitung traumatischer Erinnerungen eine spezifische, sichere Patient-Therapeut-Beziehung herzustellen, aufs Deutlichste bewusst. Er hielt den »Rapport« zwischen Patient und Therapeut mit Blick auf die erfolgreiche Behandlung des Traumas für unverzichtbar, räumte aber ein, dass schwer traumatisierte Patienten zu Idealisierungen neigen, die sich zu einer starken »somnambulen Leidenschaft« entwickeln können ( Janet, 1897; 1935b; vgl. 11. Kapitel). Als »Rapport« bezeichnete er nicht nur das heute sogenannte therapeutische Bündnis, sondern auch eine spezifische Methode zur Reduzierung der Symptome und Mehrung der psychischen Energie. Getreu seiner Zeit betrachtete er die moralische Lenkung als ein wesentliches Element der Beziehung zwischen Arzt und Patient, und zwar in sämtlichen Behandlungsphasen ( Janet, 1925, S. 1112). Diese Sichtweise beruhte auf der von den Hypnotiseuren des späten 18. Jahrhunderts, den Magnetiseuren, entwickelten Vorstellung eines rapport magnétique und war auch ein Vorläufer des psychoanalytischen Übertragungskonzepts. Ebenso wie Freud (1911b), der später erklärte, dass die Übertragung ein »Widerstand« sei, betrachtete Janet den rapport ebenso sowohl als eigenständiges Krankheitssymptom wie auch als Medium der Heilung ( Janet, 1897; Haule, 1986). 242 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
12 Pierre Janets Behandlung der posttraumatischen Psychopathologie
Im hypnotischen Rapport neigten seine traumatisierten Patientinnen zur Entwicklung einer pathologischen Fixierung auf den Therapeuten, die er als »somnambulen Einfluss« bezeichnete ( Janet, 1897). Er war der Ansicht, dass »diese sonderbare Illusion« ( Janet, 1925, S. 1156) mit einer posttraumatischen Dissoziation, einer Verengung des Bewusstseinsfeldes und mit Gefühlen der Hilflosigkeit zusammenhing. Die Intensität dieses somnambulen Einflusses stand in keiner erkennbaren Beziehung zur Kompetenz des Therapeuten. Das pathologische Bedürfnis, geführt zu werden, baute sich zwischen den Behandlungssitzungen auf und erreichte seinen Höhepunkt – die somnambule Leidenschaft – in einer frühen Therapiephase. Janet behauptete, dass das Phänomen gewöhnlich vorübergehender Natur sei und nach und nach verschwinde, wenn die Patientinnen sich der Intensität ihrer Abhängigkeit zu schämen beginnen. Die reale Motivation, sich der Therapie zu unterziehen, hängt laut Janet mit der Verzweiflung der Patientinnen und ihrer Hoffnung auf Besserung zusammen. Er bezeichnete ihre Entscheidung, ernsthaft über die Schwierigkeiten und Ängste zu sprechen, als den »Akt der Adoption [des Therapeuten durch die Patientin]« ( Janet, 1925, S. 1154; 1929a). Auch Persönlichkeitseigenschaften des Therapeuten spielen laut Janet für die Art der therapeutischen Beziehung eine wichtige Rolle. Er begab sich nicht in die Rolle eines Ersatzelternteils oder allmächtigen Beschützers, sondern verstand sich als kompetenten Vermittler therapeutischer Veränderung ( Janet, 1925, S. 1112). Janet empfahl dem Therapeuten zwei scheinbar widersprüchliche Haltungen: Einerseits erwartet er vom Patienten, dass dieser seine Autorität anerkennt und sich von ihm führen lässt; andererseits muss er seine Kontrolle über den Patienten nach Möglichkeit minimieren ( Janet, 1897; vgl. Haule, 1986). Wenn sich der Patient nämlich in übertriebenem Maß auf die Autorität des Arztes verlässt, sind lediglich temporäre Genesungen die Folge. In ebendiesem Sinn warnte Freud (1914d) später vor der Gefahr der »Übertragungsheilungen«. Wenn der Therapeut die Notwendigkeit nicht berücksichtigt, den Patienten die grundsätzliche Kontrolle über ihr eigenes Leben zu überlassen, entwickelt sich ein exzessiver »somnambuler Einfluss« (heute würden wir von einer Übertragungspsychose sprechen), der die Behandlung unmöglich macht. Ebenso wie zahlreiche Therapeuten seiner Zeit musste Janet am eigenen Leib erfahren, was geschieht, wenn man die Dimension der Kontrolle vernachlässigt und die Leidenschaft sich ungezügelt entwickeln kann. In mehreren Fallberichten versuchte er zu demonstrieren, wie der »Rapport« 243 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Onno van der Hart, Paul Brown & Bessel A. van der Kolk
selbst bei schwergestörten Patienten genutzt werden konnte, um ihr eigenständiges Handeln zu unterstützen, statt einer übermäßigen Abhängigkeit und fehlgerichteten Leidenschaft Vorschub zu leisten.
»Psychische Kraft« und »psychische Spannung« Während sich die meisten Konzepte Janets mühelos in unsere heutige Fachterminologie übersetzen lassen, bereiten psychische Kraft und psychische Spannung diesbezüglich Schwierigkeiten (siehe 1., 8. und 12. Kapitel). Als psychische Kraft bezeichnete Janet den Gesamtbetrag an verfügbarer psychischer Energie und als psychische Spannung die Organisationsebene dieser Energie sowie die Fähigkeit zu kompetentem, kreativem und reflektiertem Handeln. Er nahm an, dass es vor allem von der psychischen Spannung abhängt, ob jemand potenziell traumatisierende Erfahrungen bewältigen kann oder nicht. Im Falle einer Traumatisierung übt die verbliebene psychische Spannung auch Einfluss auf den Schweregrad der Beeinträchtigung aus und gibt vor, welche Art der Behandlung erfolgversprechend ist. Es gilt, die psychischen Ressourcen des Patienten gründlich zu prüfen; bei akuten, einfachen posttraumatischen Reaktionen sind gewöhnlich genügend psychische Energiereserven vorhanden, um die traumatischen Erinnerungen erfolgreich integrieren zu können. Eine chronische und komplexe Traumatisierung aber verringert die psychische Spannung und bewirkt, dass psychische Energie in zwanghaften Wiederholungen, psychosomatischen Symptomen, Agitationszuständen, Krisen sowie impulsiven, zweckfreien Handlungen verschwendet wird. Das Ergebnis sind psychische Erschöpfung und Desorganisation: »[…] das Subjekt ist nicht in der Lage, den Hergang der Ereignisse zu schildern, bleibt aber mit einer schmerzvollen Situation aus der Vergangenheit konfrontiert, in der es unfähig war, eine zufriedenstellende Rolle zu spielen und sich erfolgreich anzupassen. Die Mühen, die es kostet, diese Situation ein ums andere Mal zu wiederholen, führen zu einer Müdigkeit und Erschöpfung, die seine Emotionen erheblich beeinflussen« ( Janet, 1925, S. 663).
Janet organisierte die Behandlung dieser psychischen Erschöpfung gemäß drei ökonomischen Prinzipien: Erhöhung der psychischen Einnahmen 244 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
12 Pierre Janets Behandlung der posttraumatischen Psychopathologie
durch Diät und verbesserten Schlaf; Reduzierung der Ausgaben durch Behandlung gleichzeitiger medizinischer Beeinträchtigungen und die Linderung von Krisen und Agitierheit; Schuldentilgung durch Bewältigung der traumatischen Erinnerungen. Janet empfahl zwei Strategien zur Behandlung der psychischen Desorganisation, nämlich die konstruktive Kanalisierung der Energien, die andernfalls durch Agitationen verschwendet werden, und die Stimulierung des Niveaus der psychischen Energie durch Methoden wie die Erledigung von Aufgaben mit nach und nach steigendem Schwierigkeitsgrad (Ellenberger, 1950; Schwartz, 1951).
Janets phasenorientiertes Modell zur Behandlung von posttraumatischem Stress Janets psychotherapeutisches Verfahren bestand aus drei Phasen: 1. Stabilisierung, symptomorientierte Behandlung und Vorbereitung der Liquidation traumatischer Erinnerungen 2. Identifizierung, Erforschung und Modifizierung traumatischer Erinnerungen 3. Rückfallprävention, Behandlung der Residualsymptomatik, Reintegration der Persönlichkeit und Rehabilitation In allen Phasen ist laut Janet ein gewisses Maß an Abruf, Exploration und Modifizierung der traumatischen Erinnerungen angezeigt. Auch die Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben muss im Rahmen der individuellen Fähigkeiten in allen Phasen unterstützt werden. Janets phasenorientiertes Modell weist große Ähnlichkeit auf mit modernen Modellen zur Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und der dissoziativen Störungen (Braun, 1986a; 1986b; Brende, 1984; Brown & Fromm, 1986; Brown, Scheflin & Hammond, 1998; Chu, 2011; Courtois, 1999; Herman, 1992; ISSTD, 2011; Parson, 1984; Kluft, 1987; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006; Steele, Boon & van der Hart, 2017). Brown und Fromm (1986) haben fünf Phasen identifiziert: (1) Stabilisierung, (2) Integration mit den Subphasen (a) kontrolliertes Aufdecken, (b) Integration der Introjekte und neuen Persönlichkeitszustände, (3) Entwicklung des Selbst, (4) Triebintegration und (5) Bemeisterung der andauernden biologischen Sensibilität. Jede dieser Phasen erfordert unterschiedliche therapeutische Techniken. In ähnlicher Weise haben 245 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Sachs et al. (1988) für die multiple Persönlichkeitsstörung (MPD), heute als dissoziative Identitätsstörung (DIS) bezeichnet – eine Störung, deren Zusammenhang mit Kindheitstraumata belegt ist –, fünf Phasen identifiziert: (1) Erstellen und Besprechen der Diagnose, (2) Identifizierung der verschiedenen Persönlichkeitszustände und Verstehen ihres Zwecks und ihrer Funktion, (3) Besprechung der mit jedem Persönlichkeitszustand assoziierten spezifischen Traumata mit dem Therapeuten und mit anderen Persönlichkeitszuständen, (4) Integration der verschiedenen Persönlichkeitszustände zu einem einzigen Persönlichkeitszustand und (5) Erlernen neuer Coping-Mechanismen, die ein adaptives Funktionieren der vereinheitlichten Persönlichkeit ermöglichen und künftige Spaltungen verhindern. Seither aber unterscheiden die meisten phasenorientierten Therapiemodelle im Einklang mit Janet drei verschiedene Behandlungsphasen. Phasenorientierte Behandlungsmodelle dieser Art können lediglich als allgemeine therapeutische Leitlinien dienen. Sie müssen dem je individuellen Fall angepasst und entsprechend modifiziert werden. Janet variierte die Sequenz und die Methoden gemäß dem Stadium der Störung und dem Status der psychischen Ökonomie des Patienten. Bestimmte Aufgaben, etwa das Durcharbeiten der traumatischen Erinnerungen, stehen im Laufe der Behandlung immer wieder an. Janet war sich bewusst, dass systematisierte Behandlungsverfahren ohne solide wissenschaftliche Verifizierung gravierende Grenzen aufweisen ( Janet, 1925, S. 1210). Deshalb verstand er sein phasenorientiertes Behandlungsmodell lediglich als einen heuristischen Ansatz.
Phase 1: Stabilisierung und Symptomreduzierung Menschen mit akuten posttraumatischen Reaktionen oder mit Verschlimmerung einer chronischen Pathologie waren zuallererst auf eine Stabilisierung der Symptome angewiesen. Diese erfolgte zumeist durch Ruhe (einschließlich Hospitalisierung), Vereinfachung der Lebensweise und Entwicklung einer therapeutischen Beziehung. In unkomplizierten – zumeist akuten – Fällen reichten diese Maßnahmen gewöhnlich aus, sodass die traumatischen Erinnerungen abgerufen und integriert (aufgelöst) werden konnten. Aufgrund ihres niedrigen psychischen Spannungsniveaus erforderten chronische und komplexe Fälle zuerst eine psychische Stimulierung sowie Reedukationsmaßnahmen zur Vorbereitung der 246 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Patienten auf die Integration (Auflösung) ihrer traumatischen Erinnerungen. Ruhe, Isolierung und Vereinfachung des Lebensstils
Durch Ruhe sollten Janets Patienten Energien zurückgewinnen und Reserven aufbauen, vor allem, wenn sie durch wiederholte gescheiterte Versuche, die Folgen des Traumas zu überwinden, überaus erschöpft waren ( Janet, 1925, S. 466). Diese traumatisierten Menschen hatten oft erhebliche Schwierigkeiten, ein Mindestmaß an Ruhe zu finden. Viele Akutpatienten waren delirös und chronische Patienten mitunter so agitiert, dass sie nicht einmal liegen konnten. In Sedativa wie zum Beispiel Brom setzte Janet kein großes Vertrauen (ebd., S. 693). Daher empfahl er selbst bei Erschöpfung und für diese energieverschwendenden Zustände aktivere Behandlungsmethoden. In vielen Fällen war eine Vereinfachung der Lebensweise notwendig, um die Behandlung auf den Weg bringen zu können (ebd., S. 473). Janet hielt es für hilfreich, seine Patienten vor ihren sozialen Verpflichtungen und familiären Zwängen zu schützen. Deshalb nahm er sie in aller Regel stationär auf und bezeichnete dies als »Isolierung« (ebd., S. 485). Zu Anfang richtete er an die Patienten keinerlei Erwartungen, die über automatische (im Gegensatz zu komplexen) Aktivitäten hinausgingen. Der Therapeut traf sämtliche Entscheidungen, löste die Probleme und nahm die erforderlichen Veränderungen im Umfeld vor. Die Hospitalisierung diente als Gelegenheit, Modifizierungen der Familienorganisation umzusetzen (ebd., S. 587). Janet war der Ansicht, dass vor allem jüngere Patienten mit nicht lange zurückliegender Traumatisierung von der stationären Behandlung profitierten, doch auch für eher chronische Fälle war sie oft hilfreich. Er erkannte auch die gravierenden Nachteile der Hospitalisierung an, hatte aber den Eindruck, dass bei allzu großer Unruhe im Alltagsleben der Patienten eine kurzzeitige stationäre Aufnahme der fokussierten Behandlung des psychischen Traumas zugutekomme (ebd., S. 581). Seine Patientin Irène unternahm zwei Suizidversuche, und ihr Zustand verschlechterte sich kontinuierlich, bis sie schließlich in der Salpêtrière aufgenommen wurde ( Janet, 1904). In manchen Fällen kam es zu wiederholten Einweisungen. Irène beispielsweise kehrte drei Monate nach ihrer Entlassung zurück, nachdem ihr Vater gestorben war (ebd.; vgl. van der Kolk & van der Hart, 1991). 247 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Stimulierung und Reedukation
Für Patienten mit geringer psychischer Energie verschrieb Janet die Stimulierung, um die Behandlung in Gang zu bringen ( Janet, 1925, S. 942). Diese sah auch Psychoedukation vor, um Patienten mit posttraumatischen Reaktionen elementare alltägliche Funktionen wie Essen und Schlafen sowie soziale Kontakte zu erleichtern. Die Kontaktfähigkeit war insbesondere für die Arzt-Patient-Beziehung und mit Blick auf die Bearbeitung des Traumas von Belang. Diese Methoden, die unten ausführlicher beschrieben werden (»Phase 3«), reichten von einfacher fokussierter Selbstauskunft (ebd., S. 969) bis zu Aufgaben zur Schärfung der Wahrnehmung (ebd., S. 972). Den Risiken dieser Behandlungen einschließlich Agitiertheit und Fatigue konnte Janet durch Abwandlungen der Aufgaben (ebd., S. 982ff.) oder durch den vollständigen Verzicht auf sie entgegenwirken. Hypnose für die Stabilisierungsphase
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Hypnose zur Symptomlinderung regelmäßig eingesetzt. Janet nutzte sie in der Stabilisierungsphase, um Entspannung herbeizuführen, Symptome zu modifizieren und lebensbedrohliche Zustände zu bessern ( Janet, 1898b; vgl. 11. Kapitel). Bei manchen posttraumatischen Psychasthenien konnten das Energieniveau der Patienten durch Hypnose angehoben und der therapeutische Rapport intensiviert werden. Manchmal arbeitete Janet tage- oder wochenlang mit erweiterter Hypnose, ohne spezifische Suggestionen zu geben (Wetterstrand, 1892). Die Hypnose versprach Besserung bei Schlaflosigkeit, Konversionsreaktionen und amnestischen Zuständen; therapieresistente motorische Paralysen oder lebensbedrohliche Anorexie sprachen direkt auf die Hypnose an; die Patienten konnten ihre Gliedmaßen bewegen bzw. essen und trinken, wovon ihr körperliches Wohlergehen profitierte ( Janet, 1925, S. 457). Behandlungserfolge in dieser Phase verbesserten den Rapport und erleichterten den späteren Abruf traumatischer Erinnerungen unter Hypnose (Barrucand, 1967). Auf symptomorientierte Suggestionen sprechen in dieser Phase leichte Symptome an, zum Beispiel Kopfschmerzen, aber auch schwere Beeinträchtigungen wie epileptische Pseudoanfälle. Janet wusste aber auch um die Grenzen des Verfahrens. Einige Patienten konnten Suggestionen, die 248 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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mit dem Trauma nichts zu tun hatten, annehmen, während traumarelevantes Material massiven Widerstand weckte. Mitunter verschlimmerten sich dadurch Symptome, oder es tauchten neue Beschwerden auf. Janet führte dies auf emotionale Zustände zurück, die mit unterbewussten, mit dem Trauma assoziierten fixen Ideen zusammenhingen. Daher mussten zunächst die traumatischen Erinnerungen liquidiert und erfolgreich integriert werden (van der Hart & Horst, 1989; van der Kolk & Ducey, 1989).
Phase 2: Die Modifizierung der traumatischen Erinnerungen Janet maß der Liquidierung traumatischer Erinnerungen ausschlaggebende Bedeutung für die Bewältigung des posttraumatischen Stress bei. Dissoziierte traumatische Erinnerungen bleiben als unterbewusste fixe Ideen bestehen und tauchen außerhalb der personalen und bewussten Kontrolle regelmäßig als Verhaltensweisen, Gefühlszustände, somatische Sensationen und Träume auf – ohne Bezug zum Erleben in der Gegenwart, aber dem ursprünglichen Trauma angemessen ( Janet, 1893c). Die mangelnde Integration der traumatischen Erinnerungen hemmt die Weiterentwicklung der Persönlichkeit: »[U]nfähig, die traumatischen Erinnerungen zu integrieren, scheinen [die Patienten] auch ihre Fähigkeit eingebüßt zu haben, neue Erfahrungen zu assimilieren. Es scheint, […] als ob ihre Persönlichkeit, deren Entwicklung an einem bestimmten Punkt zum Stillstand gelangte, durch Hinzufügen oder Assimilieren neuer Elemente nicht mehr wachsen könne: die Weiterentwicklung des Lebens aller [traumatisierten] Patienten scheint gebremst; sie sind an ein unüberwindbares Hindernis gefesselt« ( Janet, 1925, S. 660).
In unkomplizierten Fällen waren die traumatischen Erinnerungen und die damit assoziierte psychische Besetzung »oberflächennah« und für Interventionen außerhalb der Trance zugänglich. Die Erinnerungen konnten bewältigt werden, indem die Patienten mit dem Therapeuten über ihre Erfahrungen sprachen und ihn manchmal auch an einem Tagebuch teilhaben ließen. Bei posttraumatischen Patienten gestaltete sich die Situation zumeist schwieriger, sodass zur Tranceeinleitung sowie zum Aufdecken der Erinnerungen und ihrer Transformation technische Modifizierungen erforderlich waren. Die kontrollierte emotionale Äußerung traumatischer 249 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Erinnerungen wurden später von Breuer und Freud (1895) als kathartische Methode eingesetzt. Aufdecken traumatischer Erinnerungen
Janet hat dem Einsatz der Hypnose und des automatischen Schreibens in der Behandlung posttraumatischer Patienten, die vorwiegend unter dissoziativen Symptomen litten, den Weg gebahnt ( Janet, 1888; 1889; 1898a; 1898b; 1904). Er war überzeugt, dass sich Erinnerungen selbst in schwierigsten und chronischen Fällen bis zu dem ersten signifikanten traumatischen Erlebnis zurückverfolgen ließen. Häufig äußerten sich seine Patienten überrascht und erleichtert, wenn sie entdeckten, dass ihre Symptome nicht physischer Natur waren, sondern in einem psychischen Trauma wurzelten. Bei vielen Patienten erwies sich die Induktion der Trance als erstes Hindernis; mitunter dauerte es Wochen oder Monate, bevor sie erfolgreich in einen Hypnosezustand versetzt werden konnten. Janet nahm an, dass diese Patienten häufig versuchten, traumatische Geheimnisse zu hüten. Moderne Erklärungen dieses Widerstandes gegen die Tranceinduktion würden auch eine Furcht oder Phobie vor dem Wiedererleben traumarelevanter Emotionen in Betracht ziehen (Brown & Fromm, 1986; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Janet setzte mannigfaltige visuelle Vorstellungstechniken ein, um traumatische Erinnerungen aufzudecken – angefangen von direkten hypnotischen Suggestionen bis zum automatischen Schreiben und zur Phantasieund Traumproduktion. Bei Patienten mit florider Symptomatik oder mit starkem Widerstand unterstützte die Suggestion durch Zerstreuung die aufdeckenden Techniken. Sobald traumatische Erinnerungen aufgedeckt werden konnten, setzte Janet drei Behandlungsmethoden ein: (1) die direkte Reduzierung mithilfe einer Technik, die er als Neutralisierung bezeichnete; (2) die Substitutionsmethode, durch die traumatische Erinnerungen durch neutrale oder sogar positive Bilder und Vorstellungen ersetzt wurden; und (3) das therapeutische Reframing. Häufig benutzte Janet lediglich hypnotische Suggestionen, um traumatische Erinnerungen zu verändern. Ein Beispiel dafür ist Zy, eine Frau, die wegen Depressionen, Schlaflosigkeit und Pavor nocturnus in die Salpêtrière eingeliefert wurde ( Janet, 1897). Die Tranceinduktion ergab, dass ihre Träume mit dem Tod ihres Sohnes, der drei Jahre zuvor gestorben war, sowie mit dem 250 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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noch länger zurückliegenden Tod ihres Vaters und ihres Bruders zusammenhingen. Durch hypnotische Suggestion transformierte Janet zuerst die Trauminhalte, bevor er sie anschließend vollständig eliminierte. In einem ähnlichen Fall deckte die Suggestion, »laut« zu träumen, traumatische Erinnerungen seiner Patientin Co auf ( Janet, 1895), einer 33-jährigen Frau, die vier Jahre zuvor erkrankt war. Sie hatte eine Reihe seelischer Schocks erlitten. Unter anderem hatte sie den wirtschaftlichen Ruin ihres Vaters miterlebt und zusehen müssen, wie ein Mann von einer Straßenbahn zerquetscht wurde. Auch den Todeskampf einer engen Freundin hatte sie mitangesehen. Co litt unter Schlaflosigkeit und konnte sich an die Traumata nicht bewusst erinnern. Nach ihrer Einweisung in die Salpêtrière versetzte Janet sie in hypnotischen Schlaf und wies sie an, laut zu träumen. Auf diese Weise konnten die traumatischen Träume von der Beerdigung ihrer Freundin aufgedeckt werden. Lucies traumatische Erinnerungen deckte Janet mithilfe des automatischen Schreibens auf ( Janet, 1888; 1889). Lucie war eine seiner ersten Patientinnen mit dissoziativer Identitätsstörung. Sie hatte halluzinatorische Episoden, in denen sie sich von furchterregenden Männern, die sich in der Nähe versteckt hielten, bedroht fühlte. Lucie konnte sich an frühere Erfahrungen im Zusammenhang mit diesem Phänomen weder im Wachzustand noch unter Hypnose erinnern. Nachdem Janet sie zum automatischen Schreiben unter Hypnose ermutigt hatte, berichtete ihre Alter-Persönlichkeit Adrienne, dass zwei Männer ihr im Alter von sieben Jahren, als sie im Haus ihrer Großmutter spielte, Angst eingejagt hatten. In diesem Fall war die posttraumatische Dissoziation für die Entwicklung einer verborgenen dissoziativen Identität oder eines dissoziativen Persönlichkeitsanteils verantwortlich, dem die primäre fixe Idee zugrunde lag. Ein moderner Autor, Summit (1987), hat solche Anteile als »Phänomen des verborgenen Kindes« bezeichnet. In Anlehnung an Myers (1940) sprechen andere Autoren von »emotionalen Persönlichkeitsanteilen (EPs)« (van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Neutralisierung traumatischer Erinnerungen
Janets direkteste und kühnste Behandlungsmethode war die Liquidation traumatischer Erinnerungen unter Hypnose ( Janet, 1925, S. 670). Sie bestand aus einem allmählichen Prozess des Wiedererlebens und Erzählens 251 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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traumatischer Erinnerungen. Er begann mit den Erinnerungen, die für die Patienten am wenigsten bedrohlich waren, um sich dann Schritt für Schritt zu den am stärksten traumatisierenden Ereignissen vorzuarbeiten. Für viele Patienten aber war es zu schmerzvoll und schwierig, das Trauma erneut zu durchleben und in Worte zu fassen. Sie schafften es nicht, das traumatisierende Ereignis in ein neutrales Narrativ zu transformieren. Wenn Janet Druck auf sie ausübte, konnte dies den Widerstand verstärken und zu weiteren Intrusionen traumatischer Erinnerungen führen. Dieses Verfahren war also eindeutig nicht ohne Risiken. Wenn es aber bei angemessenen vorbereiteten Patienten mit gebotener Vorsicht angewandt wurde, konnten traumatische Erinnerungen oft erfolgreich assimiliert werden. Janets berühmtestes Beispiel dafür war seine Patientin Irène ( Janet, 1904). Irène, eine 20-jährige Pariserin, hatte eine von starker Abhängigkeit geprägte Beziehung zu ihrer Mutter gehabt, die vor ihren Augen nach langer, auch für Irène strapaziöser Krankheit tot vom Bett gefallen war. Irène verfiel in einen Fugue-Zustand und war amnestisch für den Verlust. Zu ihren posttraumatischen Symptomen zählten somnambule Krisen, die mehrmals pro Woche auftraten. Während dieser Episoden reinszenierte Irène den Tod und die anschließende Beerdigung ihrer Mutter. Janet hypnotisierte die Patientin, um ihre traumatischen Erinnerungen aufzudecken und zu liquidieren. Zunächst weckten seine Versuche, eine Hypnose zu induzieren, Irènes Widerstand. Trancezustände führten häufig zu delirösen Krisen, in denen die Patientin den Tod ihrer Mutter nachahmte. Im Laufe mehrerer Monate fanden ihre Erinnerungen nach und nach den Weg ins Bewusstsein: »Nach intensiver Arbeit«, so berichtet Janet (1925, S. 681), »konnte ich eine verbale Erinnerung an den Tod ihrer Mutter formulieren. Von dem Moment an […] war das assimilierte Erlebnis nicht länger traumatisch« (vgl. van der Kolk & van der Hart, 1991). Die Substitutionsmethode
Für viele Patienten erwiesen sich symptomorientierte Hypnoseverfahren als zu oberflächlich und die Neutralisierung als potenziell traumatisierend. Manchmal substituierte Janet die traumatischen Erinnerungen durch neutrale oder sogar positive Vorstellungsbilder ( Janet, 1889; 1894c; 1895; 1898a; 1898b). Er veränderte entweder die kognitive Interpretation der traumatisierenden Erlebnisse oder die emotionalen Reaktionen der Pa252 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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tienten. Die inhaltliche Veränderung der Vorstellungsbilder half Janets Patientin Cam, die Erinnerungen an den Tod ihrer beiden Kinder zu integrieren. Janet ersetzte die halluzinierten traumatischen Bilder durch das Bild blühender Blumen (Raymond & Janet, 1898). Ein anderes Beispiel für die Veränderung traumatischer Erinnerungen ist Marie, eine der ersten Patientinnen Janets (1889). Marie litt während der Menstruation unter schweren Angstanfällen, epileptischen Anfällen und Spasmen. Unter Hypnose erinnerte sie sich an ihre Menarche: Sie war völlig unvorbereitet gewesen und zutiefst schockiert. Um den Blutfluss zu stoppen, setzte sie sich in eiskaltes Wasser. Danach wurde sie krank und menstruierte fünf Jahre lang nicht mehr. Später wiederholte sich das ursprüngliche Drama, an das sie aber keinerlei Erinnerung hatte, mit jeder Monatsblutung. Janets anfängliche Versuche, Maries traumatische Erinnerungen zu beeinflussen, blieben erfolglos. Durch hypnotische Altersregression auf die Zeit vor der Menarche konnten die monatlichen Krisen aber durch die Suggestion normaler Regelblutungen beendet werden. Maries Angstattacken blieben jedoch bestehen, bis deren Verbindung mit einem anderen Trauma aufgedeckt wurde. Im Alter von 16 Jahren hatte Marie gesehen, wie eine alte Frau auf einer Treppe stürzte und starb. Seither triggerte das Wort »Blut«, sobald sie es hörte, die mit diesem traumatisierenden Erlebnis assoziierten somatischen Sensationen. Die Angstattacken verschwanden, als Janet suggerierte, die Frau sei lediglich gestolpert und nicht gestorben. Marie litt unter einem weiteren hysterischen Symptom: Sie war auf dem linken Auge blind. Anfangs lehnte sie die Erforschung dieser Blindheit ab und behauptete, damit geboren worden zu sein. Unter hypnotischer Altersregression stellte sich heraus, dass sie als Fünfjährige auf beiden Augen gesehen hatte. Mit sechs Jahren hatte man sie dann gezwungen, das Bett mit einem Kind zu teilen, das auf der linken Gesichtshälfte einen sehr unansehnlichen Ausschlag hatte. Durch die hypnotische Suggestion, dass dieses Kind keine Hauterkrankung gehabt habe und überhaupt sehr lieb gewesen sei, verschwand Maries Blindheit. Die Besserungen dauerten auch nach fünf Monaten noch an, und Janet glaubte, dass auch Maries äußere Erscheinung profitiert hatte. Während Janet seine Technik der hypnotischen Substitution bei vorwiegend hysterischen Patientinnen, das heißt bei Patientinnen mit dissoziativer posttraumatischer Symptomatik, recht erfolgreich einsetzte, nötigten ihn Patientinnen mit vorwiegend psychasthenischen Symptomen 253 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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zu technischen Modifizierungen. Diese Patientinnen versuchten, ihre traumatischen Erinnerungen mit skrupulöser Gewissenhaftigkeit und mit Zwängen zu bekämpfen ( Janet, 1903). Sie litten unter Schuldgefühlen und fragten sich unentwegt, wie sie sich hätten anders verhalten können. Janet verstand diese »psychische Perfektionsmanie« als Versuch, die prätraumatische Harmonie wiederherzustellen ( Janet, 1935b). Unter diesen Umständen fokussierte Janet ausschließlich auf die verbalen Erinnerungen statt auf traumatische Vorstellungsbilder und bemühte sich, Worte und Formulierungen zu wählen, die für die Patientin annehmbar waren. Statt unter Hypnose Vorstellungsbilder zu suggerieren, beruhigte er sie und baute sie moralisch wieder auf. Ein Beispiel ist die Behandlung Nicoles, einer 37-jährigen Frau, deren posttraumatische psychasthenische Erkrankung sich über einen Zeitraum von 12 Jahren entwickelt hatte (ebd.). Nicole war besessen von der für sie traumatischen Beendigung einer Liebesaffäre, die sich mehrere Jahre vor ihrer Heirat ereignet hatte. Im Anschluss an jene Zurückweisung wurde sie depressiv, wann immer sie an den ehemaligen Geliebten dachte, und empfand furchtbare Angst, Verlassenheits- und Schuldgefühle. Auch als sie sich erholte, war unverkennbar, dass sie ihr psychisches Trauma nicht bewältigt hatte. Sie schwieg über die Affäre, litt aber unter einer Agoraphobie und war besessen von der Angst, zu sterben oder sich aus dem Fenster zu stürzen. Sie heiratete sechs Jahre später und dachte nie darüber nach, ob sie ihrem Mann von der Affäre erzählen sollte. Nach der Geburt ihres dritten Kindes, die zeitlich mit einer Jahrestagreaktion zusammenfiel, trat eine radikale Veränderung ein: Die posttraumatische psychasthenische Reaktion wiederholte sich mit all den Erinnerungen an die Affäre und ihr Ende. Nicole gestand sie ihrem Mann und überschüttete ihn mit endlosen und nicht zu beantwortenden Fragen: »Warum habe ich mich nicht gewehrt? Warum habe ich keine Scham empfunden, keine Reue, nachdem er mich hinausgeworfen hat? Habe ich es überhaupt verdient, zu leben? Kann ich das Vergangene je wiedergutmachen? Kann ich weiterhin so tun, als sei nichts passiert?« Janet war der Ansicht, dass Nicole während dieser zweiten Krise auf einem höheren psychischen Niveau funktionierte als während der ersten. Sie konnte die Geschichte ihres Unglücks besser in Worte fassen, doch die moralischen Fragen, über die sie grübelte, bereiteten ihr nach wie vor erhebliche Schwierigkeiten. Er half Nicole, ihr früheres Verhalten umzudeuten und es nicht als unmoralisch, sondern als pathologisch zu verstehen. Auf diese Weise war es für sie zwar weiterhin nur schwer zu akzeptieren, 254 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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aber sie konnte sich nun als Patientin statt als Kriminelle sehen. Heute würden wir sagen, dass Janet einen »therapeutischen Mythos« (Frank, 1973; van der Hart, 1988) durch Nicoles »Patientenmythos« ersetzte, der das traumatisierende Geschehen akzeptabel machte und seine Integration erleichterte.
Phase 3: Reintegration der Persönlichkeit und Rehabilierung Die Integration traumatischer fixer Ideen war eine notwendige, wenngleich nicht hinreichende Voraussetzung für die Befreiung vom posttraumatischen Stress. Drei weitere Aufgaben galt es zu erledigen, nämlich Rückfallprävention, Reintegration der Persönlichkeit und Behandlung der Residualsymptome der posttraumatischen »Panneurose«1. Alle drei Störungen hingen mit psychischer Instabilität und verminderter psychischer Spannung zusammen. Janet beschrieb, dass der fortgesetzte Einsatz der Dissoziation in Reaktion auf wahrgenommene Gefahren diese Patienten anfällig für wiederholte Rückfälle machte. Er wollte das Problem lösen, indem er die Patienten zu stabilisieren und die Fortschritte, die sie in den ersten beiden Behandlungsphasen erzielt hatten, zu konsolidieren versuchte ( Janet, 1893c). Das psychische Trauma hatte häufig nicht nur zu einer Arretierung der Fähigkeit geführt, neue Erfahrungen zu integrieren ( Janet, 1904), sondern mitunter auch eine Regression auf frühere Entwicklungsphasen ausgelöst ( Janet, 1893c). Spezifische posttraumatische Persönlichkeitsdefekte betrafen Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Suggestibilität, die Unfähigkeit, Handlungen zu initiieren, vollständig durchzuführen und abzuschließen, einen eingeklemmten Affekt und Hypochondrie. Jeder dieser Persönlichkeitsdefekte konnte mit Residualsymptomen der posttraumatischen Panneurose einhergehen. Dazu zählten funktionelle somatische Beschwerden, Muskelkontrakturen, psychasthenische Zweifel, Rumination und Skrupulosität. Alle Patienten erlebten mit hoher Wahrscheinlichkeit Residu1 Der Begriff »Panneurose« wurde von Janet nicht verwendet, sondern von Hoch & Polatin (1949) als »pseudoneurotische Form der Schizophrenie« vorgeschlagen. Der Begriff meint dort wie im vorliegenden Text das Auftreten zahlreicher neurotischer Symptome im Sinne einer psychasthenischen Syndromatik (Anm. G. Heim).
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alapathie, Langeweile und Depression. Janet fokussierte die Therapie auf diese Symptome der Panneurose. Die Behandlung der Störungen – Rückfallprävention, Symptombesserung sowie Reintegration der Persönlichkeit und Rehabilitation – beinhaltete Edukation, Stimulation und moralische Anleitung. Janet versuchte, diese verschiedenen therapeutischen Methoden miteinander zu verbinden, um die psychische Energie der Patienten zu stärken und es ihnen zu ermöglichen, verlorene Funktionen wiederzuerlangen und neue Fertigkeiten zu erwerben. Psychoedukation
Janets edukativer Ansatz beruhte auf einem Lernmodell und zielte auf Symptomreduzierung und Wiederherstellung der Persönlichkeitsfunktionen (Janet, 1898b; 1903; 1925, S. 710). Posttraumatische Patienten mit residualen psychasthenischen (zwanghaften) Symptomen erlernten zum Beispiel Techniken, die Ähnlichkeit mit heutigen Skills wie dem Gedankenstopp und der Reaktionsverhinderung aufweisen (Janet, 1903). Er nutzte die Psychoedukation, um Aufmerksamkeit und Konzentration, motorische Funktionen und Realitätskontakt wiederherzustellen. Die Ästhesiogenie war eine spezifische Technik zur Wiederherstellung der Wahrnehmung körperlicher Empfindungen (Janet, 1893c; 1898b; 1926, S. 788). Janet beschrieb auch behaviorale Methoden für kompliziertere zielgerichtete Handlungen. Die Behandlungssequenz begann mit der Ausführung einfacher Aktionen, die der Therapeut zuerst demonstrierte, bevor die Patientin sie dann selbst ausführte. Einfache Aufgaben wurden wiederholt, bis sie auf natürliche Weise abliefen, und schließlich hielt Janet die Patientin dazu an, eigenständig und ohne den Therapeuten spontanen Aktivitäten nachzugehen. Er schrieb, dass dies nicht immer leicht zu erreichen sei. Häufig traf er auf Widerstand, ganz gleich, ob er der Patientin eindringlich zuredete oder sie sanft ermunterte (Janet, 1925, S. 741). Behandlungsfehlschläge konnten zum Wiederauftreten alter Symptome oder zur Bildung von Ersatzsymptomen führen (ebd., S. 743, 745). Stimulierung
Wenngleich edukative Maßnahmen, Hypnose und psychologische Behandlung psychisch anregend wirken sollten, waren die meisten posttrau256 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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matischen Patienten auf weitere therapeutische Anregung angewiesen, die ihren positiven Emotionen, ihrer Motivation und ihrem Gefühl der Bemeisterung zuträglich waren ( Janet, 1925, S. 858). Zu den stimulierenden Aktivitäten zählten beispielsweise Wahrnehmungsübungen (ebd., S. 972) und die schrittweise Durchführung vertrauter, aber vernachlässigter Aktivitäten (ebd., S. 967). Janet ermutigte seine Patienten, ihre Sozialphobien ebenso zu bearbeiten wie ihre noch verbliebenen inneren und äußeren Konflikte, die Prokrastination und weitere ungelöste Probleme. Janet nahm an, dass wiederholte Sequenzen dieser edukativen Behandlung einen kumulativen Effekt erzielten (ebd., S. 1022). Stets zu berücksichtigen waren das Risiko der Fatigue oder Erschöpfung und die Notwendigkeit, Agitiertheit in kreative Aktivität zu kanalisieren. Janet ermutigte die Patienten, stolz auf ihre Erfolge zu sein, und riet ihnen dazu, über Misserfolge hinwegzusehen (ebd., S. 986). Dem Behandler aber empfahl er auch, Patienten, die um ein Feedback bezüglich ihrer Fortschritte bitten, offen und ehrlich zu antworten. Medikamentöse Behandlung
Janet betrachtete Sedativa wie Bromid und Stimulantien als ein notwendiges Übel ( Janet, 1925, S. 1030). Scharfsinnig erkannte er, dass psychische Symptome für Patienten mit schlechtem allgemeinem Gesundheitszustand häufig weniger belastend waren (ebd., S. 1064). Gleichwohl nutzte er pharmakologische Mittel wie Tee, Kaffee, Alkohol, Opium und Strychnin, um die psychische Spannung zu erhöhen. Darüber hinaus setzte er auch Physiotherapie, Hydrotherapie und Elektrostimulation ein. Er experimentierte zudem mit Gaben der neu entdeckten Hormone, etwa Adrenalin, Hypophysenextrakt und Thyroxin ( Janet, 1904). Beendigung
Janet nutzte den hypnotischen Rapport in der zweiten Behandlungsphase, um die traumatischen Erinnerungen zu »liquidieren«, das heißt zu integrieren, und in der dritten Phase, um eine Weiterentwicklung anzuregen und die Rehabilitation zu unterstützen. Die allmähliche Zurücknahme des therapeutischen Einflusses signalisierte den Beginn der Beendigung ( Janet, 257 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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1925, S. 1194; vgl. 11. Kapitel). Die Patienten verhielten sich insgesamt ruhiger und waren offener für positive Einflüsse. Rückfälle waren von kürzerer Dauer und weniger schwer. Janet betrachtete die Undankbarkeit als bestes Zeichen der Genesung. Wenn der Patient Sitzungstermine zu vergessen begann, war er auf dem Weg zur Heilung (ebd., S. 1198f.). In dieser Phase verlängerte Janet die Zeit zwischen den Sitzungen; bei schweren und komplizierten Fällen sorgten gelegentliche Sitzungen dafür, dass der therapeutische Einfluss erhalten blieb. Mit seiner Patientin Irène blieb Janet beispielsweise 16 Jahre lang in Kontakt (ebd., S. 1202).
Diskussion Janets Behandlungsmodell nahm moderne Verfahren der therapeutischen Integration vorweg. Janet wusste sehr wohl, dass sich die Psychotherapie noch in einer vorwissenschaftlichen Phase befand und weniger spezifisch war als die medikamentöse Behandlung in der Medizin ( Janet, 1925, S. 1208, 1210). Aber sein eigenes Material zeigte ihm, dass seine Patienten und Patientinnen von der Psychotherapie in höherem Maße profitierten, als es sich durch den Zufall oder durch spontane Remission erklären ließ (ebd., S. 340ff., 1211). Er hielt es für notwendig, spezifische Behandlungstechniken für spezifische Störungsbilder zu definieren (ebd., S. 146), und warnte wiederholt vor dem Glauben an vermeintliche Patentrezepte (z. B. ebd., S. 132, 464, 490). Janets psychotherapeutisches Verfahren war ein theoretisch fundierter Eklektizismus, den er sowohl auf traditionelle nosologische Kategorien als auch auf sein originäres Modell der psychischen Ökonomie anwandte. Es war insofern genuin präskriptiv, als die Merkmale der Störung, ihre Phasen und die Schicksale der psychischen Ökonomie die Behandlung vorgaben und nicht umgekehrt. Janet nutzte sowohl traditionelle Methoden als auch seine eigenen Neuerungen, bettete die Behandlung aber immer in den Rahmen des therapeutischen Bündnisses ein. Janet war ein flexibler Kliniker und ging davon aus, dass die verschiedenen Phasen der posttraumatischen Syndrome einander ständig abwechseln und wiederkehren, sodass je nach den Umständen unterschiedliche Behandlungsverfahren zum Einsatz kommen mussten. Mitunter musste zuerst die Funktionsfähigkeit der Persönlichkeit wiederhergestellt werden, bevor sämtliche traumatischen Erinnerungen inte258 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
12 Pierre Janets Behandlung der posttraumatischen Psychopathologie
griert werden konnten. In anderen Fällen konnte die Erinnerung an das traumatische Erlebnis den psychischen Zustand des Patienten stabilisieren ( Janet, 1894c; 1895). Bei Patienten mit dissoziativen Störungen betonte Janet die Integration der traumatischen Erinnerungen stärker als die Integration der verschiedenen dissoziativen Persönlichkeitsanteile. Ihn beeindruckte, dass die »Liquidation« traumatischer Erinnerungen eine Persönlichkeitsintegration bewirken konnte, und er beobachtete häufig, dass sich diese beiden Prozesse gleichzeitig vollzogen ( Janet, 1893c). Moderne Autoren sprechen sich entschiedener dafür aus, eine spezifische Behandlungsphase der Integration dissoziativer Persönlichkeitsanteile vorzubehalten, selbst wenn es oft erforderlich ist, zu früheren Behandlungsphasen zurückzukehren. Traumatische Erinnerungen waren häufig nur schwierig zu integrieren, weil sie aus zahlreichen Schichten bestanden: In dem Moment, in dem der Therapeut den Eindruck hatte, dass all diese Erinnerungen untersucht worden waren, tauchte eine weitere Schicht auf ( Janet, 1894c). Janet führte die Unmöglichkeit, manchen seiner pathologisch abhängigen Patientinnen zu helfen, darauf zurück, dass ihm traumatische Erinnerungen unzugänglich blieben. Tatsächlich berichtete er nur relativ wenige Fälle, in denen traumatische Erinnerungen aus den ersten sechs Lebensjahren aufgedeckt werden konnten. Heutige Studien über Patientinnen mit DIS belegen in manchen Fällen schweren körperlichen und sexuellen Missbrauch im frühen und frühesten Kindesalter (Boon & Draijer, 1993; Coons & Milstein, 1986; Putnam et al., 1986; Kluft, 1987; Lewis et al., 1997; s. a. den Forschungsbericht von Brand & Frewen, 2017). Die Substitutionstechnik ist einer der originärsten Beiträge Janets zur Psychotherapie. Dieselbe Technik tauchte später in den Schriften von Breukink (1923), Erickson (Erickson & Rossi, 1979) sowie in den 1980er Jahren bei Eichelman (1985), Lamb (1982; 1985), Miller (1986) und Waxman (1982) auf. Janet und Erickson beschreiben den Therapeuten als denjenigen, der den Prozess lenkt, während heutige Kliniker ihre Patienten ermutigen, ihre eigenen Revisionen des ursprünglichen traumatisierenden Ereignisses selbstständig zu konstruieren und zu inszenieren. Die Frage, ob solche Verfahren zu einer weiteren Dissoziation traumatischer Erinnerungen – wie Janet annahm – führen oder zu ihrer impliziten Integration, bleibt nach wie vor unbeantwortet. Zeitgenössische Autoren weisen warnend darauf hin, dass Patienten, die in der Kindheit Inzestopfer wurden und denen die Anerkennung des Traumas aufgrund der Drohungen des 259 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Onno van der Hart, Paul Brown & Bessel A. van der Kolk
Täters verwehrt blieb, die Substitutionstechnik leicht als Erweiterung dieses Verleugnungsprozesses verstehen könnten. Eines der bahnbrechenden Konzepte Janets, das in Vergessenheit geraten ist und in der heutigen Psychiatrie keine Anwendung mehr findet, ist sein Modell der psychischen Ökonomie (vgl. 8. und 12. Kapitel; Ellenberger, 1996 [1974]; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Dieses Modell sah vor, dass die Traumatisierung zu einer Instabilität der psychischen Energielevel führt und die psychische Spannung, die Fähigkeit, Energie in fokussiertes und kreatives Handeln zu kanalisieren, beeinträchtigt. Neuere Studien bestätigen die Validität dieser Konzepte. Van der Kolk und Ducey (1989) haben auf der Grundlage ihrer Analyse der Rorschachtests von Menschen mit PTBS erklärt, dass die fehlende Integration der traumatischen Erfahrung eine extreme Reaktivität auf Umweltstimuli erzeugt: Das ursprünglich überwältigende äußere Ereignis wird, weil es unassimiliert bleibt, innerlich ständig aufs Neue durchlebt und beeinträchtigt die psychische Organisation. Diese Studie kam zu dem Schluss, dass der Versuch, Erinnerungen an das Trauma zu unterdrücken, die Sublimierungs- und Phantasiefähigkeit beeinträchtigt und so das Denken als Probehandeln unmöglich macht. Dies geht zulasten der Fähigkeit, zu trauern, gewöhnliche Alltagskonflikte durchzuarbeiten und restitutive, befriedigende Erfahrungen zu sammeln. Den Betroffenen fehlen also ebenjene psychischen Mechanismen, die es Menschen ermöglichen, mit den Unbilden und Härten des täglichen Lebens fertigzuwerden. Janet trug dieser unfokussierten und ineffektiven psychischen Energie mit seinem psychotherapeutischen System Rechnung, das den Erhalt der psychischen Energie fördert (psychische Restitution) und Methoden vorsah, die der Ökonomie im Sinne der psychischen Weiterentwicklung zugutekamen. Ellenberger ließ seine Anerkennung des beeindruckend weiten Horizonts der Janet’schen Vision mit den Worten ausklingen, dass diese Psychotherapie keine partielle und exklusive Methode darstelle: »Sie schließt andere Methoden nicht nur nicht aus, sondern ermöglicht es uns oft, sie besser zu verstehen und ihren Anwendungsbereich zu spezifizieren. Es handelt sich weniger um eine spezielle Therapie als vielmehr um eine allgemeine Ökonomie der Psychotherapie« (Ellenberger, 1950, S. 482).
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13 Pierre Janets Verständnis der Ätiologie, Pathogenese und Therapie dissoziativer Störungen1 Gerhard Heim & Karl-Ernst Bühler
In den vergangenen Jahrzehnten stand die Theoriebildung bezüglich dissoziativer Störungen vorwiegend im Zeichen des freudianischen Denkens oder seiner Abkömmlinge, während Pierre Janets Schriften in Vergessenheit gerieten (obwohl Janet seine wissenschaftliche Karriere – als Philosoph, Psychologe und Psychotherapeut – früher als Freud begann und länger als dieser arbeiten konnte). Diese Entwicklung hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass Janets wissenschaftliche Arbeiten keine größere Bewegung begründeten – ein Schicksal, das sie mit wissenschaftlichen Theorien generell teilen. Seine Arbeiten waren weniger spekulativ als Freuds Schriften, eignen sich aber heute gerade deshalb als Basis für eine Neuformulierung der wissenschaftlichen Erklärung und der Behandlung dissoziativer Störungen (Bühler & Heim, 2001; Fitzgerald, 2017).
Janets intellektueller Hintergrund und sein Platz in der französischen Psychiatrie und medizinischen Psychologie Prägend für Janets intellektuellen Hintergrund war – erstens – seine Ausbildung in der Tradition der französischen spiritualistischen Philosophie. Diese Schule war im Frankreich des 19. Jahrhunderts ungemein einflussreich und hat insbesondere die Wissenschaftspolitik geprägt. Ihr wichtigster Vertreter war Maine de Biran (1766–1824), der in seiner »subjektiven« Konzipierung der Psychologie emotionale und volitionale Aspekte 1 Überarbeitete Version von K. E. Bühler und G. Heim (2011), Etiology, pathogenesis, and therapy according to Pierre Janet concerning dissociative disorders. American Journal of Psychotherapy, 65, 190–200. Die Autoren danken Andrew Moskowitz für seine Kommentare zum Manuskript.
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Gerhard Heim & Karl-Ernst Bühler
des psychischen Lebens hervorhob und sich damit von zeitgenössischen sensualistischen Konzipierungen dieser Wissenschaft unterschied (Carroy, Ohayon & Plas, 2006; Sjövall, 1967). Ein zweiter maßgeblicher Einfluss auf Janets Praxis der »objektiven Psychologie« ging von Philosophen wie Hippolyte Taine und Théodule Ribot aus. Vor allem Ribots Beiträge, seine Abhandlungen über die britische Psychologie von 1879, die deutsche Psychologie zwischen 1874 und 1879 sowie seine Monografien über Störungen des Gedächtnisses, der Willenskraft, der Persönlichkeit und der Aufmerksamkeit, veröffentlicht in den 1890er Jahren, schufen die Grundlage für die neue französische Psychologie und stärkten deren »pathopsychologische« Orientierung (Nicolas & Gounden, 2017; Nicolas & Makowski, 2017). Ribot betrachtete Claude Bernards Zugang zur Erforschung der Pathophysiologie als Modell dieser objektiven Psychologie. Darüber hinaus machte Ribot G. H. Spencers Evolutionsphilosophie in Frankreich bekannt (Brooks III, 1998). Drittens gehörte Janet der medizinisch-psychologischen Denkschule, der Schule der Salpêtrière, an, deren deskriptiver psychopathologischer Ansatz seit Esquirol in der Psychiatrie führend war. Allerdings schloss diese Schule psychologische Themen spiritualistischer Provenienz, die von den Gelehrten der subjektiven Philosophie diskutiert wurden, nicht aus. Fast bis Mitte des 20. Jahrhunderts konnten renommierte französische Psychiater häufig, ebenso wie Janet, eine doppelte Qualifikation als Philosophen und Ärzte vorweisen und wurden entsprechend als médecin-philosophes bezeichnet (Bogousslavsky, 2011; Pichot, 1996; Postel & Quetel, 2004). Janets philosophische Dissertation von 1889, veröffentlicht unter dem Titel L’Automatisme Psychologique, bestand aus einer Reihe pathopsychologischer Untersuchungen von Patienten, die stationär in psychiatrischen Kliniken behandelt wurden. Mit diesen berühmten Studien, durchgeführt zwischen 1885 und 1900, wurde Janet zu einem führenden Vertreter der objektiven Psychologie. Unterstützt wurde er von seinem Onkel Paul Janet, einem der einflussreichsten spiritualistischen Philosophen, von Charles Richet, dem später der Nobelpreis für Medizin oder Physiologie verliehen wurde, von Théodule Ribot, Professor für pathologische Psychologie am angesehenen Collège de France, und vor allem von Jean-Martin Charcot, dem berühmten Neurologen, der mit einer wenig angesehenen Methode, nämlich der Hypnose, hysterische Patientinnen behandelte, denen damals in der Öffentlichkeit Verachtung zuteilwurde. Janet, mittlerweile Student der Medizin, wurde von Charcot zum Leiter des psychologischen Labo262 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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ratoriums der Salpêtrière ernannt. Er hatte diese Stelle inne, bis er 1902 Ribot auf dem Lehrstuhl für Psychologie am Collège de France nachfolgte (Brooks III, 1993; Ellenberger, 1974 [1972]; vgl. 1. Kapitel).
Ätiologie der dissoziativen Störungen: Grundstörungen und fixierte Ideen Janet formulierte ein Diathese-Stress-Modell der dissoziativen Störungen, als deren Ursachen er (1) basale Störungen – »Stigmata« – annahm, deren Symptome eine fundamentale Vulnerabilität zu erkennen geben, und (2) akzidentelle Störungen wie »fixe Ideen« als Folgen traumatischer Erfahrungen. Heim und Bühler (2006) haben versucht, Janets frühere Überlegungen zur Dissoziation mit seiner späteren dynamischen Psychologie der psychischen Spannung und des Verhaltens in Verbindung zu bringen, die sich schon in seinem Fallbericht über Irène abzeichnet ( Janet, 1904; vgl. auch 1. und 11. Kapitel). Die fixen Ideen sind hochvariabel und hängen von den jeweiligen Umständen einschließlich der Biografie der Pateinten ab; anders verhält es sich bei den basalen Störungen, Stigmata oder dispositionellen Störungen. Fixe Ideen sind als psychische Zustände und Prozesse definiert, die sich autonom und auf natürliche Weise in der Psyche entwickeln. Sie entziehen sich dem Willen und dem persönlichen Bewusstsein der Patienten, können aber experimentell unter Hypnose aktiviert werden. Diese désagrégation oder Loslösung der Ideen aus ihrem breiteren Kontext ist bei psychischer Gesundheit höchst ungewöhnlich. Häufig sind fixe Ideen eine Folge einer psychischen Traumatisierung. Zu einem gewissen Grad können sie dem Subjekt sogar bekannt sein, doch oft sind sie derart strikt von allen übrigen Gedanken und Vorstellungen isoliert, dass man sie als unterbewusst bezeichnen muss. Anders als normale Ideen entwickeln sich fixe Ideen ungehindert, was Janet auf ihre Ablösung von dem System, das eine Kontrollfunktion erfüllt, zurückführte. Janet verstand die Entwicklung fixer Ideen wie folgt: Die traumainduzierte Emotion ist ein pathologisches Phänomen, das eine Schwächung und Erschöpfung der psychischen Energien oder der mentalen Spannung und Kraft des Individuums nach sich zieht. Diese Schwächung beeinträchtigt die psychische Synthese und erleichtert dadurch die Entstehung fixer Ideen. Bei entsprechender Disposition wird die traumatische Erfahrung oft zum Trigger und führt zur Schwächung der psychischen Energie. Fixe 263 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Ideen tauchen nur auf, wenn sie isoliert von anderen Gedanken bleiben oder, anders formuliert, wenn die Synthese geschwächt ist. Dieser Vorgang wird als désagrégation oder Dissoziation bezeichnet. Im einfachsten Fall sind fixe Ideen, also das Wiedererleben eines Lebensereignisses durch das Individuum, das klinische Symptom, das in engem Zusammenhang mit einem eindeutig belastenden Ereignis steht. Sehr oft aber ist die Kausalität komplizierter, weil das klinische Symptom oder die fixe Idee keinen erkennbaren Zusammenhang mit einem belastenden Erlebnis, das man als ihre Ursache betrachten könnte, aufweist. In diesem Fall verursacht das Erlebnis nicht die fixe Idee, sondern schwächt die psychische Spannung und Kraft, sodass eine früher entstandene fixe Idee wiederauftauchen kann. Auch der umgekehrte Fall ist möglich, wenn nämlich die ursprüngliche Erfahrung eine Erinnerung ohne traumatische Qualität hinterlassen hat. Diese Erinnerung erhält ihren traumatischen Charakter durch eine spätere Erfahrung, die zu der erwähnten Erschöpfung führt. Janet (1898b, S. 149) bezeichnete solcherart entstandene fixe Ideen als sekundäre, weil sie nur ein Symptom der psychischen Schwächung darstellen, das anders behandelt werden muss als eine auf einer traumatischen Erinnerung beruhende (primäre) fixe Idee. Diese komplexeren Konstellationen sind häufig zu beobachten und könnten das vermeintliche Missverhältnis zwischen dem Triggererlebnis und dem beobachteten Symptom erklären. Weil basale Störungen (Stigmata) als Symptome dispositioneller Störungen und fixe Ideen unterschiedliche Faktoren des kausalen Netzwerkes dissoziativer Störungen darstellen, werden Beginn und Entwicklung der Erkrankung unter Umständen entweder durch Erstere oder durch Letztere bestimmt. Wenn basale Störungen überwiegen, ist eine »Schwächung der psychischen Konstitution« für den Beginn und die Entwicklung der Erkrankung maßgebend (siehe Abb. 1). Verglichen mit normalen Individuen neigen Personen mit basalen Störungen zu kognitiver oder psychischer Dissoziation. Dies führt gewöhnlich zur Schwächung der psychischen Synthesefähigkeit, zur Verengung des personalen Bewusstseinsfeldes, zu Geistesabwesenheit, Aufmerksamkeitsstörungen, kognitiver oder psychischer Instabilität, Suggestibilität und verminderter Sensibilität. Auch ein stärkerer Einfluss kognitiver oder psychischer Faktoren auf körperliche Prozesse kann die Folge sein, sodass sich »somatoforme« dissoziative Symptome entwickeln, die es von der »psychoformen« Dissoziation zu unterscheiden gilt (Nijenhuis, 2004; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2008 [2006]; vgl. »Epilog«). 264 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Abb. 1: Pathogenese der Neurose
Die wichtigste oder grundlegende Störung unter den dissoziativen Störungen ist eine Schwächung der Synthesefähigkeit. Sie ist die Ursache für das verengte Bewusstseinsfeld und für die Beeinträchtigung des personalen Bewusstseins. Die betroffenen Patienten können in einem einzigen personalen Bewusstsein lediglich einen kleinen Teil ihrer psychischen Zustände synthetisieren oder verarbeiten. So erklärte Janet 1907 in seinen HarvardVorlesungen über Hysterie: »[D]as Konzept der Einengung des Bewusstseinsfeldes fasst die vorangegangenen Stigmata zusammen, und wir dürfen behaupten, dass ihr fundamentaler psychischer Zustand durch eine spezifische moralische Schwäche des Individuums charakterisiert ist, eine fehlende Kraft, seine psychischen Phänomene zusammenzufassen, zu komprimieren und in seine Persönlichkeit zu integrieren« ( Janet, 1929b [1907], S. 311).
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Diese Beeinträchtigung des personalen Bewusstseins erklärt nicht nur die dissoziative Amnesie, sondern auch die dissoziative Fugue, den dissoziativen Stupor, die dissoziative Trance, dissoziative Identitäts- oder Depersonalisationsstörungen sowie die Beeinträchtigung sensumotorischer Funktionen. Die Zweitexistenz (oder mehrere Existenzen) bei dissoziativer Fugue, dissoziativer Trance und dissoziativen Identitäts- oder Depersonalisationsstörungen ist lediglich eine rudimentäre Form, die nur eine begrenzte Anzahl von Empfindungen und Ideen umfasst und sich deshalb weniger gut kontrollieren kann. Aus ebendiesem Grund können sich fixe Ideen im rudimentären Bewusstsein uneingeschränkt entwickeln und noch stärker ausbilden als im normalen Bewusstsein. Die Beeinträchtigung des personalen Bewusstseins ist auch die Ursache der dissoziativen Anästhesie. Hierbei handelt es sich um keine Anästhesie – Empfindungslosigkeit – im eigentlichen Sinn, sondern um eine Dissoziation psychischer Phänomene. Die Empfindungen, die das normale personale Bewusstsein verlassen haben, existieren als Teil bzw. Teile eines anderen Bewusstseins oder mehrerer und können darin wiederentdeckt werden. Janet erklärt dies folgendermaßen: »Die systematisierte oder sogar allgemeine Anästhesie ähnelt einer Läsion, einer Schwächung nicht nur der Empfindung, sondern der Fähigkeit, die Empfindungen in einer personalen Wahrnehmung zu synthetisieren; diese Schwächung führt zu einer realen Dissoziation psychischer Phänomene« ( Janet, 1889, S. 314). An anderer Stelle schreibt er: »Weil die psychischen Phänomene in der Hysterie unter Umständen nicht vollständig vereint sind, separieren sie sich und bilden mehr oder weniger unabhängig existierende Gruppen« ( Janet, 1911, S. 443). Er fährt fort: »Die hysterische Persönlichkeit kann nicht alle Phänomene wahrnehmen; sie opfert ganz entschieden einige von ihnen. Es ist eine Art Selbstteilung2, und die aufgegebenen Phänomene entwickeln sich selbständig, ohne daß der Betroffene sich dessen bewußt ist« ( Janet, zit. nach Ellenberger, 1996 [1974], S. 512). Infolge ihres eingeengten Bewusstseinsfeldes sind die Patienten nicht in der Lage, sämtliche Empfindungen in ein und derselben personalen Wahrnehmung zusammenzufassen. Um überhaupt wahrnehmen zu können, 2 Eine treffendere Übersetzung von »une sorte d’autotomie« wäre der drastischere Begriff »Selbstverstümmelung« (»Ce rejet de tout un groupe d’éléments psychiquues gênant constituerait une sorte d’autotomie psychologique spontanée«; Janet, 1893e, S. 9).
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müssen sie auswählen, und sie wählen diesen oder jenen Bewusstseinsinhalt. Dies ist die Ursache der instabilen personalen Wahrnehmung. In seinen Fallberichten über Lucie hat Janet (2013a [1886]; 2013b [1887]) dissoziative Prozesse als Manifestationen in einer zweiten Persönlichkeit beschrieben. Außer Empfindungsstörungen werden auch Störungen der willkürlichen motorischen Funktionen durch die Einengung des Bewusstseinsfeldes hervorgerufen. Die Patienten verhalten sich, als seien sie lediglich in den willkürlichen, bewussten und mit Aufmerksamkeit ausgeführten Bewegungen beeinträchtigt, nicht jedoch in habituellen und automatischen Bewegungen. Offenbar sind die psychischen Automatismen noch stärker ausgeprägt. Im Allgemeinen handelt es sich dabei um langsamere und gröbere Bewegungen, die nicht als Reflex auftreten. Die Patienten selbst nehmen die basalen Störungen, die negativ als Dämpfung oder sogar Unterdrückung von Empfindungen, Erinnerungen und Bewegungen charakterisiert sind, nicht bewusst wahr. Janet sah in ihnen den Beweis einer Schwächung und Erschöpfung der Funktionen des zentralen Nervensystems. Streng genommen sollte man diese Phänomene weder negativ noch positiv bewerten, sondern gemäß den Umständen. Wenn sich eine Dissoziation unkontrolliert entwickelt, ist sie verstörend und infolgedessen als negativ zu beurteilen. Den basalen Störungen liegen erbliche Dispositionen oder eine erworbene biologische Vulnerabilität zugrunde.
Präsentation der Persönlichkeit bei dissoziativen Störungen Persönlichkeiten mit dissoziativer Störung sind, in der heutigen Terminologie formuliert, affektiert, theatralisch oder histrionisch oder dramatisierend. Die Patienten steigern sich in Affekte und Emotionen hinein oder geben sich ihnen vollständig hin. Janet brachte diese Eigenschaften mit den basalen Störungen, insbesondere der Schwächung der psychischen Synthesefähigkeit und der Einengung des Bewusstseinsfeldes, in Verbindung und schrieb: »Ihre flüchtige Begeisterung, ihre übertriebene und so leicht zu beruhigende Verzweiflung, ihre unvernünftigen Überzeugungen, ihre Impulsivität, ihre Launen, kurz, ihr exzessiver und instabiler Charakter scheint von Grund auf damit zusammenzuhängen, dass sie sich einer augenblicklichen Idee voll-
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ständig überlassen – ohne jede Nuance, ohne jeden Vorbehalt und ohne die Zurückhaltung, die den Gedanken einen gemäßigten, ausgewogenen Charakter und Veränderbarkeit verleihen könnten« ( Janet, 1909a, S. 339).
Darüber hinaus beschrieb Janet weitere Persönlichkeitseigenschaften, die mit dissoziativen Störungen einhergehen, sich aber zum Teil mit denen der psychasthenischen Störungen überschneiden (siehe Janet, 1903). Eine entsprechende Auflistung enthält Tabelle 1 (Benhima, 2010, S. 86ff.). Sie sind für keine der beiden Störungsgruppen pathognomonisch. Manche Merkmale treten in Verbindung mit mehreren verschiedenen Störungen auf und sind somit charakteristisch für eine psychisch vulnerable Persönlichkeit. Ursprünglich nahm Janet an, dass histrionische Persönlichkeitsmerkmale einerseits und dissoziative Störungen andererseits kausal nur bei Patienten miteinander zusammenhingen, deren Eigenschaften so kompliziert, komplex und mehrdeutig waren, dass sie diese polymorphen Störungen erklären konnten. Tatsächlich ist die psychische Belastung durch die spezifische Persönlichkeit an sich die Verbindung zwischen Persönlichkeit einerseits und Störung andererseits. Bei den von Janet erwähnten Persönlichkeitseigenschaften handelt es sich um Faktoren einer psychischen Vulnerabilität, weil sie dem Prinzip der psychischen Ökonomie zuwiderlaufen, das heißt »psychische Energie« (Spannung oder Kraft) in hohem Maß verschwenden. Tab. 1: Vergleich zwischen hysterischen und psychasthenischen Persönlichkeitseigenschaften Hysterische Persönlichkeit
Psychasthenische Persönlichkeit
Apathie – Gleichgültigkeit, Neigung zu Langeweile Asthenie – Willensschwäche, Trägheit, Mangel an Durchhaltevermögen, gleichförmiges Verhalten • Suggestibilität, Abhängigkeit, Gefügigkeit • Hörigkeit, Bedürfnis nach Lenkung • Minderwertigkeit • Unvollständigkeit, Hilflosigkeit • Unruhe • Eigensinnigkeit, Sturheit • Zerstreutheit, Unaufmerksamkeit • Unstetigkeit, Bedürfnis nach Veränderungen • übertriebene, gegensätzliche und instabile Emotionalität • theatralisch-dramatisierendes und affektiertes Wesen, ungezügelter Enthusiasmus
• Unentschiedenheit, Angst vor Entscheidungen • Unterwürfigkeit • Minderwertigkeit, Versagensgefühle • Unvollständigkeit, Hilflosigkeit • Geschäftigkeit • Erregbarkeit, Gereiztheit • Anhedonie, Niedergeschlagenheit • Gefühl der inneren Leere • Unzufriedenheit, Missmut • Genussunfähigkeit • Selbstverachtung • Unsicherheit
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• ungezügelte Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung • Übertriebenes, unangemessenes und unerwartetes Verhalten • Widersprüchlichkeit des Charakters • Verlust der sozialen Gefühle und der sozialen Kompetenz • Egoismus • Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuwendung sowie nach psychisch-moralischer Unterstützung • Unehrlichkeit, Verschlagenheit • Eifersucht
• Pessimismus • Katastrophendenken • Besorgtheit, Kummer • moralische Selbstabwertung • Schuldgefühle • Selbstbeschuldigung • Perfektionismus • Geiz • sozialer Rückzug • Introversion
Die metaphorischen Konzepte »Kraft« und »Spannung« entstammen der Terminologie der Elektrizität oder sogar der Mechanik und sind, auf die Psychologie übertragen, erklärungsbedürftig. Unserer Ansicht nach sollte »Kraft« als Grad und Ausmaß der Aktivierung »latenter Energie« verstanden werden (mithin als Gegenpart einer durch die Aktivierung »latenter Energie« getriggerten Reaktion) und »Spannung« als potenzielle oder latente Energie (im Gegensatz zu manifester). Janet nahm an, dass »psychische Kraft« und »psychische Spannung« bei dissoziativen Störungen auf andere Weise beeinträchtigt seien als bei psychasthenischen. Bei der Psychasthenie kann die »psychische Spannung« ausreichend sein, nicht aber die »psychische Kraft«, das heißt die Aktivierung »latenter Energie« oder Spannung. Dies erklärt die schnelle Erschöpfung der Betroffenen. Gefühle der Unvollständigkeit, Zweifel, Entscheidungsunfähigkeit und andere Symptome resultieren aus diesem Ungleichgewicht zwischen »psychischer Spannung« und »psychischer Kraft« ( Janet, 1903, S. 675, S. 784). Bei dissoziativen Störungen ist das Verhältnis zwischen »psychischer Spannung« und »psychischer Kraft« genau umgekehrt: »Psychische Kraft«, das heißt potenzieller Grad und Ausmaß der Aktivierung »latenter Energie« ist ausreichend, aber die »psychische Spannung«, das heißt potenzielle oder latente Energie, ist unzureichend. Aus ebendiesem Grund kommt es zur Einengung des Bewusstseinsfeldes und seiner Begrenzung auf nur wenige psychische Zustände und Prozesse. Die Metaphern »psychische Spannung« und »psychische Kraft« müssen durch neurophysiologische und neurochemische Faktoren, die dann vielleicht auch die Spezifität der Störungen begründen können, weitergehend geklärt werden. 269 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Traumata Charcot und später Janet zogen neben organischen und hereditären Prädispositionen weitere Ursachen psychischer Störungen in Erwägung, nämlich psychische Traumata im Sinne besonders eindrücklicher psychischer Erfahrungen. In den Vorlesungen, die Charcot 1884 und 1885 hielt, konnte er überzeugend den Einfluss dieser traumatisierenden Ereignisse auf Genese und Entwicklung »hysterischer« Anfälle und Symptome belegen. Psychische Traumata werden als Lebensereignisse verstanden, die überwältigende Affekte auslösen. So schrieb Janet: »Die Erinnerung ist nur aufgrund einer beeinträchtigten Reaktion auf das Geschehen traumatisch geworden. Das Individuum war entweder infolge einer bereits durch andere Ursachen induzierten Schwäche oder infolge einer Depression, die damals und dort durch die geweckte Emotion ausgelöst wurde, nicht imstande, die Assimilation herzustellen, die der inneren Anpassung der Person an das Ereignis entspricht, oder hat sie nur teilweise leisten können« ( Janet, 1925, S. 678).
Zusätzlich verstärkt die chronische Schwäche die Folgen psychischer Traumata, weil diese laut Janet pathologische Phänomene sind, das heißt Fehlanpassungen des Verhaltens an spezifische Situationen. Affekte sind mithin unabdingbarer Bestandteil psychischer Traumata. Charcot zeigte, dass in manchen Fällen »hysterischer«, durch Unfälle verursachter Lähmungen die unmittelbar durch das Ereignis geweckte Emotion nicht die einzige Störungsursache war. Die Erinnerungen, Ideen und Bilder, die mit dem Unfall zusammenhingen, verknüpft mit den ihn betreffenden Emotionen und Befürchtungen, beeinflussen die Störung in gleichem Maß wie der Unfall selbst. Die Ursachen der Lähmung sind demnach indirekter und nicht direkter Art ( Janet, 1923a, S. 23, 39). Janet war, was die Diagnose traumainduzierter Störungen betrifft, ein ausgesprochen zurückhaltender Wissenschaftler. Er zog es vor, die Genese der Symptome nicht in erster Linie mit unfallbedingten schmerzvollen Erinnerungen zu erklären, sondern mit ihrer Konformität mit Naturgesetzen. So schrieb er: »In Bezug sowohl auf die Erklärung als auch die Behandlung bestimmter Neurosen muss jeder Versuch unternommen werden, solche Erin-
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nerungen, sofern vorhanden, aufzudecken. Da wir aber sehen, dass in anderen neurotischen Fällen keine traumatischen Erinnerungen vorliegen (sodass diese Fälle anders erklärt und behandelt werden müssen), ist sorgfältig darauf zu achten, die Aufdeckung traumatischer Erinnerungen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, zu vermeiden« ( Janet, 1925, S. 593).
Symptome sollten nur dann auf biografische, mit einem Unfall zusammenhängende Ereignisse zurückgeführt werden, wenn andere Möglichkeiten nicht infrage kommen. Dabei ist immer auch der klinische Kontext zu berücksichtigen. Janet warnte Psychiater davor, sich in spekulativen Überlegungen zu ergehen. Stattdessen gelte es, sorgfältig zu prüfen, ob die Störungen in Verbindung mit dem spezifischen Ereignis stünden, ob ein Zusammenhang zwischen Störungen und Erinnerungen bestehe und ob beide Bedingungen der Kausalbeziehung tatsächlich miteinander verknüpft seien, sodass man die eine durch Veränderung der anderen modifizieren könne. Um eine kausale Beziehung zwischen einem Ereignis und einer Störung nachzuweisen, muss der Einfluss in der Gegenwart aktiv sein. Es reicht nicht, dass ein Ereignis in der Vergangenheit Einfluss ausgeübt hat. All diese Vorsichtsmaßnahmen hielten Janet nicht davon ab, sich die Biografie seiner Patienten eingehend anzusehen, wenn sich die Störungen nicht mit den aktuellen Beobachtungen erklären ließen. Traumatische Erinnerungen sind jedoch nur dann in Betracht zu ziehen, wenn sie in der Vergangenheit wiederauftauchen und eindeutig so belastend wirken, dass sie zu einer Erschöpfung führen. Als Verbindung zwischen Traumata und Störung nahm Janet eine Neigung oder Disposition, das heißt Diathese für überwältigende Affekte an. Die psychischen Traumata machen die Prädisposition manifest und ziehen den progressiven Verlust psychischer Energie nach sich.
Pathogenese dissoziativer Störungen: fixe Ideen Basale Störungen und psychische Traumata tragen zur Entstehung dissoziativer Störungen lediglich partiell bei. Eine weitere Ursache ist die fixe Idee, das Resultat eines andauernden Verlustes an psychischer Energie (Kraft oder Spannung) infolge traumatischer Affekte. Janet hat seine 271 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Theorie der psychischen Traumata mit seiner allgemeinen Nosologie dissoziativer Störungen in Verbindung gebracht. Dieser hybriden Theorie zufolge können die Patienten eine unangenehme, schmerzvolle, mit einem Lebensereignis verbundene Erfahrung nicht erfolgreich in ihr gegenwärtiges Leben integrieren. Stattdessen bleiben die Erinnerung an das Ereignis und die Bemühungen, es zu assimilieren, fortwährend erhalten, weil die betreffenden Probleme nicht gelöst wurden. Das Triumphgefühl, das sich normalerweise nach der Überwindung von Schwierigkeiten einstellt, ist ausgeblieben ( Janet, 1919, S. 280; 1925, S. 669). Die Wiederholung der spezifischen Situation oder ihr Wiedererleben durch intrusive traumatische Erinnerungen und ihr Reenactment sowie die unaufhörlichen Bemühungen, sie ins Leben zu integrieren oder zu assimilieren, führen zu verminderter psychischer Energie (Kraft oder Spannung), Ermüdung, Erschöpfung und zur Entwicklung von Krankheitssymptomen mit entsprechenden Folgen. Patienten mit fixen Ideen erinnern sich nicht an das Ereignis, mit dem sie zusammenhängen. Janet bezeichnete dies als »traumatische Erinnerung« nicht-assimilierter Lebensereignisse. Häufig können die Patienten über das Geschehen nicht sprechen; vielmehr muss die traumatische Erinnerung durch eine psychologische Analyse anhand von Hinweisen erschlossen werden. Die fixe Idee bezieht sich auf etwas Unerledigtes, etwas Unabgeschlossenes, das Viktor von Gebsattel als »Vergegenwärtigung der Vergangenheit« oder »Hemmung des Werdens« bezeichnet hat (siehe Bühler & Rother, 1999). Daher überrascht es nicht, dass fixe Ideen kognitiven Einflüssen nicht zugänglich sind und sich nicht verändern – was Freud als »Widerstand« bezeichnete. Dieser Widerstand übt Einfluss darauf aus, wie man die Welt, sich selbst und die Bildung interpersonaler Beziehungen sieht – von Freud als »Übertragung« verstanden ( Janet, 1897; Haule, 1986; siehe 11. Kapitel). Starke Affekte spielen bei der Genese und Herausbildung fixer Ideen eine ungemein wichtige Rolle. Sie zerschlagen die Gesamtstruktur der Ideen und schwächen auf diese Weise die Kontrolle über sie. Normalerweise existieren Ideen nicht isoliert voneinander; vielmehr werden sie durch Synthese zu Komplexen miteinander verbunden. Bei Menschen mit gesunder psychischer Konstitution lassen diese Komplexe gemeinsam ein übergeordnetes System entstehen. Das heißt, sie werden zu dem System des Gesamtbewusstseins. Traumatische Erinnerungen, die zu fixen Ideen 272 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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geworden sind, entwickeln sich aber weitgehend isoliert von anderen psychischen Zuständen oder Prozessen und ohne das Wissen, die Kontrolle und den Willen der Person ( Janet, 1893a; 1907c). Aus diesem Grund kann man sie als unterbewusst bezeichnen (Bühler & Heim, 2009). Charcot und Janet haben solche fixen Ideen mit Parasiten verglichen. Heutzutage könnte man sie mit Computerprogrammen oder Computerviren vergleichen.
Vulnerabilität Psychische Traumata sind nicht die einzige unmittelbare Ursache für die Entwicklung fixer Ideen. Häufig entstehen Traumata durch eine hereditäre Prädisposition oder eine erworbene Schwäche der psychischen Konstitution. Ein äußeres traumatisches Ereignis oder mehrere solcher Erlebnisse schwächen die ohnehin fragile psychische Konstitution, die an sich bereits eine Quelle allzu starker Affekte darstellt. Auf diese Weise bleiben die fixen Ideen erhalten. Die psychische Konstitution wird weiter geschwächt, und es entwickelt sich ein Teufelskreis aus Affekten und fixen Ideen, aus dem schließlich die psychische Störung hervorgeht. Janet hat diesen Teufelskreis wie folgt beschrieben: »Die Depression bahnt einer verstärkten Emotionalität den Weg, die durch jede neue Emotion natürlich weiter verstärkt wird, sodass die nervösen und psychischen Schwierigkeiten der Depression sich lawinenartig verschlimmern« ( Janet, 1921, S. 221). Janet stellte sein Diathese-Stress-Modell auf folgende Grundlage: Wenn das initiale Lebensereignis sehr belastend gewesen ist, hat es starke Emotionen ausgelöst. In diesem Fall ist die fixe Idee emotionalen Ursprungs für die Genese und Entwicklung der Störung sehr wichtig. In anderen Fällen findet sich zu Beginn der Störung nur eine geringfügige emotionale Reaktion. Hier ist die psychische Schwäche ( faiblesse psychologique) von größter Bedeutung. Sie verursacht ein instabiles psychisches Gleichgewicht, einen Verlust der psychischen Synthesefähigkeit und eine Lähmung der Assoziationszentren; zudem zieht sie die sensorischen Zentren in Mitleidenschaft ( Janet, 1911, S. 636). Janet hat psychische Störungen gelegentlich mit Infektionskrankheiten verglichen, deren Symptome zum Teil bestehen bleiben, nachdem der Infektionserreger bereits verschwunden ist. Eine Desinfektion übt dann keinerlei 273 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Einfluss mehr auf das Fortschreiben von Krankheit oder Heilung aus. In ähnlicher Weise verschwinden auch psychische Störungen nicht, wenn eine traumainduzierte fixe Idee aufgelöst wurde. Eine Neigung zu psychischen Traumata bleibt bestehen und begünstigt zahlreiche Rückfälle. Diese Neigung oder Vulnerabilität kann der Grund sein, weshalb neue oder sekundäre fixe Ideen, die Janet nach mehreren unterschiedlichen Typen einteilte ( Janet, 1894c, S. 133), auftauchen können, an Einfluss gewinnen und ein neues Störungsbild hervorrufen. Laut Janet lassen sich die kausalen Prozesse psychischer Traumata wie folgt zusammenfassen. Im Fall einer vorliegenden Schwäche der psychischen Konstitution weckt ein Trauma ausgeprägte Affekte. Aufgrund der fehlangepassten Reaktionsmuster sind die Betroffenen mit der schwierigen Situation überfordert. Sie setzen ihre Bewältigungsversuche fort, und diese wiederholten Anstrengungen führen zu einer Erschöpfung der psychischen Energie (Spannung oder Kraft). Die Folge sind verschiedenartige psychische Störungen. Im Fall hinreichender Spannung, aber ungenügender Kraft werden die Ideen nicht unterbewusst, sondern rufen Störungen hervor, die Janet als »Psychasthenie« bezeichnete. Im Fall ungenügender Spannung, aber hinreichender Kraft schwächen die Ideen die psychische Synthese und auf diese Weise die Kohärenz des Bewusstseins. Die Ideen werden fixiert und unterbewusst, das Bewusstseinsfeld ist eingeengt und die Suggestibilität erhöht. Janet bezeichnete die aus diesem Prozess resultierenden Störungen als »Hysterie«. Diese energetischen Konzipierungen der Ätiologie psychischer Störungen lassen die Möglichkeit zu, dass die summierten kausalen Wirkungen ähnlicher, aber auch unterschiedlicher Traumata als Ursachen fungieren.
Behandlung von Konversionsstörungen und dissoziativen Störungen Charcot erläuterte, dass der Erfolg einer Behandlung zu beträchtlichem Maß auf der psychischen Hygiene beruhe und die Therapie unter anderem darauf ziele, pathogene Gedanken, Bilder oder Vorstellungen zu eliminieren. In ebendiesem Sinn entwickelte Janet zahlreiche therapeutische Verfahren, die wir im Folgenden, vom Spezifischen zum Allgemeinen fortschreitend, beschreiben. 274 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
13 Pierre Janets Verständnis der Ätiologie, Pathogenese und Therapie dissoziativer Störungen
Aufdeckung und Beeinflussung fixer Ideen durch psychologische Analyse
Die Methode der »psychologischen Analyse« ( Janet, 1930b) eignet sich, allgemein formuliert, nicht nur zur Behandlung dissoziativer Störungen, sondern auch zur Therapie der Psychasthenie, weil beide Anpassungsstörungen zu einer Schwächung der psychischen Konstitution führen (d. h. zu einer Schwächung von Kraft und Spannung, wie Janet es ausdrückte). Es gilt, diese psychische Konstitution durch Liquidation unbewältigter Erfahrungen zu stärken. Wenn die Ursachen einer Störung nicht im gegenwärtigen Leben des Patienten zu finden sind, ist die Suche in der Vergangenheit gerechtfertigt. Dies geschieht durch die Analyse der tieferen Bewusstseinsschichten. Janet erörterte diese Art der Behandlung traumatischer Störungen in seinem Buch Les Médications Psychologique (1919, S. 204–307, 589–698) unter der Überschrift »Behandlung durch psychische Liquidation«. Er postulierte eine interessante Form der »Katharsis«, nämlich eine Abreaktion (décharge), bei der die Kraft einer starken emotionalen Reaktion genutzt wird, um nach dysfunktionalen Anpassungsreaktionen auf traumatische Erfahrungen höhere psychische Funktionsebenen wiederherzustellen. Die psychologische Analyse, wie Janet sie verstand, eignet sich zur Aufdeckung traumatischer unterbewusster Erinnerungen. In der Behandlung wird eine unterbewusste, psychische Energie (Kraft oder Spannung) verschwendende fixe Idee in das personale Gesamtbewusstsein reintegriert, sodass der Verlust an psychischer Energie reduziert wird. Die Reduzierung dieser Verluste durch die »Liquidation« fixer Ideen erklärt den Erfolg der psychologischen Analyse. Janet erläuterte, dass »die Psyche im Anschluss an diese Liquidation, die mitunter schmerzhaft und teuer ist, ihre zuvor endlos wiederholten Anpassungsbemühungen einstellt« ( Janet, 1924, S. 196). In zahlreichen Fällen empfiehlt er Hypnose und automatisches Schreiben als geeignete Methoden der psychologischen Analyse, weil die Aktivierung latenter Tendenzen den Abruf von Erinnerungen ermöglichen kann. Zu diesem Zweck eignen sich laut Janet auch Träume. Sie können Hinweise auf traumatische Erfahrungen enthalten, die in direktem Zusammenhang mit psychischen Störungen stehen, weil sie mit latenten (d. h. unterbewussten) Tendenzen verknüpft sind. Diese latenten Tendenzen können Träume triggern, die nach Erwachen ganz oder teilweise 275 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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erinnert werden. In solchen Fällen manifestierten sich die traumatischen Erfahrungen in Träumen. Die Verzerrungen der Trauminhalte sind darauf zurückzuführen, dass sich das Traumbewusstsein vom wachen Bewusstsein unterscheidet ( Janet, 1909a, S. 31). Ein Traum, so Janet, hat keine andere Bedeutung als seinen manifesten Inhalt. Er lehnte jede symbolische Traumdeutung ab. Die Traumanalyse hat sich folglich auf das Erkennen der automatischen und wiederkehrenden Prozesse des Träumens zu beschränken. Wir empfehlen folgendes Verfahren: Automatische und wiederkehrende Prozesse in Träumen sind unter Umständen leichter zu erkennen, wenn man abstraktere Beschreibungskategorien anwendet, die es ermöglichen, den Trauminhalt optimal zu erfassen und wiederkehrende Prozesse umfänglicher aufzudecken. Die Anwendung abstrakterer Beschreibungskategorien ist jedoch keine Traumdeutung im Freud’schen Sinn, das heißt, sie stellt keine Erweiterung, sondern eine Reduzierung der mannigfaltigen Trauminhalte dar. Ein Beispiel für offensichtlich ähnliche Traumthemen kann diese Empfehlung veranschaulichen. Die Themen sind lediglich Teil der komplexeren Behandlung einer Patientin mit langjähriger Depression, die Janet als »Neurasthenie« bezeichnet hätte. Die Patientin träumte wiederholt, ihr Elternhaus zu suchen, ohne es zu finden. Oder sie suchte ihren Klassenraum – ebenfalls vergeblich. Oder sie lief durch eine Stadt, suchte ein Hotel, ohne eines zu finden. Oder sie suchte nach einem Schlafplatz, der unauffindbar blieb. Oder sie suchte an einem Tagungsort vergeblich nach ihrem Raum. Dies sind nur die auffälligsten Träume einer komplexeren Sequenz. Auf dem Weg der Abstrahierung könnte man als sogenannten gemeinsamen Nenner all dieser Träume die Unfähigkeit der Patientin identifizieren, ihren Platz im Leben zu finden. Infolgedessen wäre ihr zu empfehlen, ihren Platz nicht im realen, sondern im spirituellen Leben zu suchen. Diese Empfehlung machte lediglich einen partiellen, aber entscheidenden Aspekt der gesamten, erfolgreichen Behandlung der Patientin aus. Die geschilderten Themen verschwanden nach und nach vollständig aus ihren Träumen. In einigen Fällen konnte Janet zeigen, dass die Aufdeckung unterbewusster fixer Ideen und ihre Bewusstmachung ausreichen, um Krankheitssymptome zum Verschwinden zu bringen oder eine vollständige Heilung zu erzielen. Der Heilungsprozess beruht auf der Schwächung einer fixen Idee, die durch andere bewusste Ideen bewusst gemacht wurde. Das heißt, die psychische Konstitution wurde gestärkt, indem die Verluste an psychi276 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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scher Energie (Kraft oder Spannung) reduziert wurden. Die Aufdeckung unterbewusster traumatischer Erinnerungen durch psychologische Analyse ist – von seltenen Ausnahmen abgesehen – nur ein erster Schritt zur Heilung, weil nicht alle psychischen Störungen verschwinden, indem man unterbewusste fixe Ideen bewusst macht. In manchen Fällen muss eine pathogene fixe Idee entfernt und durch eine andere, nicht-pathogene Idee ersetzt werden. Janet bezeichnete diese quasi-chirurgischen Interventionen als »Extraktion«, »Substitution«, »Isolierung« oder »Dissoziation«. Neben anderen Techniken, etwa Überzeugung oder Erklärung, sind hier auch hypnotische Suggestionen hilfreich. Die Patienten erhalten sie in einem unterbewussten Zustand, der entweder durch Suggestionen induziert wird oder spontan aufritt. Beim Erwachen haben sie keinerlei Erinnerung an das Geschehen. Eine weitere Möglichkeit, eine fixe Idee zu neutralisieren, ist die Abmilderung ihrer pathogenen Eigenschaft durch Aufzeigen positiver Aspekte. Beeinflussung fixer Ideen durch Suggestion
Weil die natürliche Suggestibilität von Patienten mit dissoziativen Störungen beeinträchtigt ist, kommt der Behandlung durch Suggestion eine ganz besondere Bedeutung zu. Die eingeschränkte Fähigkeit zur psychischen Synthese, das verengte Bewusstseinsfeld und die daraus resultierende verstärkte Dissoziation sind die Ursachen dieser natürlichen Suggestibilität. Janet sah eine Ähnlichkeit zwischen (hypnotischen oder artifiziellen) Suggestionen und fixen Ideen: »Die Kenntnis dieser artifiziell erzeugten Suggestionen ist eine notwendige Vorbereitung der Erforschung fixer Ideen, die sich auf natürliche Weise entwickelt haben« ( Janet, 1893a, S. 5). Er fuhr fort: »Die typischen Fälle von Suggestion sind nach unserer Ansicht jene vollständigen und automatischen Entwicklungen einer Idee, die außerhalb des Willens und der personalen Wahrnehmung des Subjekts stattfinden« (ebd., S. 30). Die übersteigerte Entwicklung einer Idee erfolgt, wenn die Idee von anderen psychischen Zuständen und Vorgängen isoliert ist. Suggestionen sind also auf die Aktivierung einer einzelnen Tendenz zurückzuführen, die durch andere Tendenzen nicht korrigiert oder vervollständigt wird. Suggestible Personen behalten selten mehr als eine einzelne Idee in ihrem eingeengten Bewusstseinsfeld und sind deshalb nicht in der Lage, mehrere 277 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Ideen in einem einzigen personalen Bewusstsein miteinander zu verbinden. Janet erklärte: »Kurzum, mit einer sogenannten Suggestion entwickelt sich eine Idee vollständig bis zu ihrer Transformation in eine Handlung, eine Wahrnehmung und eine Emotion, aber sie scheint sich allein und isoliert zu entwickeln, ohne Beteiligung des Willens oder des personalen Bewusstseins des Subjekts« ( Janet, 1909a, S. 302).
Die suggerierte Idee entwickelt sich auf die beschriebene Weise, weil sie isoliert ist und nicht auf andere Ideen im Bewusstseinsfeld trifft, die ihr widersprechen oder sie modifizieren könnten. Die Akzeptanz der Suggestion erfolgt augenblicklich und unwillkürlich, ohne Reflexion, ohne rationales Abwägen. Sie geschieht impulsartig. Janet schrieb dazu: »Das Auslösen eines Impulses, das wesentliche Merkmal der Suggestion, ist nicht mehr als die Aktivierung einer Tendenz in einer niedrigeren Form und mit einem geringeren Grad an Perfektion anstelle einer höheren Form der Aktivierung« ( Janet, 1924, S. 138). Eine Suggestion setzt die automatische Assoziation psychischer Elemente voraus, aber die tatsächliche Synthese dieser Elemente ist verändert und eingeschränkt. Eine bereits bestehende Erkrankung ist Voraussetzung für eine solche Veränderung der psychischen Synthese, weil psychisch gesunde Personen über die Synthesefähigkeit verfügen. Janet versuchte, fixe Ideen durch Suggestionen zu beeinflussen. Wenn ein solcher Einfluss nicht unmittelbar möglich ist, sollte eine fixe Idee durch Suggestionen ersetzt und in eine harmlosere Idee transformiert oder aber in ihre Bestandteile zerlegt werden, die es dann der Reihe nach aufzulösen gilt. Janet selbst hat dieses Vorgehen wie folgt beschrieben: »Wir halten die fixe Idee für eine Konstruktion, für eine Synthese einer größeren Anzahl von Bildern; statt sie als Ganzes anzugreifen, sollte man versuchen, sie in Einzelteile zu zerlegen und ihre Elemente dann zu zerstören oder zu transformieren; wahrscheinlich wird danach auch das Ganze nicht länger fortbestehen« ( Janet, 1894d, S. 128).
Die Behandlung durch klare, einfache Suggestion wird durch die Hypnose ergänzt, indem automatische statt höherer kognitiver Tendenzen aktiviert werden. Diese Ergänzung ist sehr hilfreich, weil die natürliche Suggestibilität von Patienten mit dissoziativen Störungen im hypnotischen Zustand 278 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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erhöht ist. Durch diese Verfahren werden niedrigere Tendenzen der Kontrolle durch höhere entzogen; das Ergebnis ist eine unmittelbare (asséritif ) Zustimmung statt einer reflektierten (réfléchi). Janets Konzept der Hypnose hängt mit seinem psychologischen Gesamtverständnis der psychischen Tendenzen zusammen (siehe Heim & Bühler, 2006). Die niedrige Ebene der mittleren Verhaltenstendenzen oder -muster (conduites moyennes), das heißt die pithiatische oder assertive Stufe (automatische Zustimmung oder Affirmation) mit ihrer suggestiblen Nachahmung oder unreflektierten Zustimmung, ist für die Behandlung durch Suggestion sehr wichtig. Freilich liegen die Unzulänglichkeiten dieser Stufe auf der Hand: Bestimmte Schritte, die zu reflektierten Überzeugungen (croyances réfléchies) führen könnten, werden übersprungen, und die Substitutionen der Überzeugungen des Patienten bleiben ungeprüft. Janet nahm an, dass das Phänomen der Suggestibilität und der Suggestion ohne eine gründliche Kenntnis des pithiatischen Bewusstseinszustandes nicht verstanden werden könne. Die Behandlung durch Suggestion und insbesondere durch hypnotische Suggestionen hat indes Grenzen. Erstens würde man ein psychisches Krankheitsbild völlig missverstehen, wollte man die Ursache solcher Störungen auf eine einzelne fixe Idee eingrenzen und annehmen, dass es ausreiche, diese durch Suggestionen zu entfernen. Zweitens dürfen fixe Ideen nicht übersehen werden, denn dies würde bedeuten, wesentliche Elemente solcher Störungen und psychischen Krankheitsbilder falsch zu verstehen. Zweitens ist die Umstandslosigkeit, mit der die Suggestionen das Leiden eines Patienten erleichtern können, gleichzeitig ein Symptom einer tieferen Dissoziation der Persönlichkeit. Je einfacher die Besserung erreicht wird, desto tiefer gründet die psychische Erkrankung. Folgerichtig betrachtete Janet die Behandlung dissoziativer Störungen durch Suggestionen, zumal durch hypnotische Suggestionen, als problematisch, weil diese Verfahren »ein Unheil durch ein anderes ersetzen«. Wenn ein bestimmtes Symptom durch Suggestionen beseitigt wird, kann ein anderes auftauchen. Die grundliegenden Störungen von Patienten mit dissoziativen Störungen (ihre erhöhte Suggestibilität) werden durch Suggestionen oder hypnotische Suggestionen nicht gebessert, sondern verschlimmert. Abgesehen von diesen Überlegungen ist es nicht sicher, ob die basale fixe Idee durch die suggestive Elimination von Symptomen tatsächlich entfernt wird. Diese Einwände bedeuten jedoch nicht, dass die Behandlung durch Suggestionen oder hypnotische Suggestionen in Einzelfällen nicht erfolgreich ist (auch wenn sie in vielen anderen versagt). Deshalb ist eine 279 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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probeweise Behandlung durch Suggestionen oder hypnotische Suggestionen immer angezeigt. Wie jede andere Medikation sind auch Suggestionen Janet zufolge in manchen Fällen hilfreich und in anderen schädlich. Sie tragen dazu bei, unterbewusste Ideen zu schwächen oder zu unterdrücken, die das Individuum nicht beeinflussen kann, und helfen den Patienten auf diese Weise, sich vom Verlust psychischer Energie (Kraft und Spannung) zu erholen. Abgesehen von diesen Fällen betrachtete Janet die Behandlung durch Suggestionen oder hypnotische Suggestionen als schädlich, weil sie die psychische Dissoziation, die Ursache sämtlicher dissoziativer Symptome, verstärkt. So schrieb er: »Von dem Moment an, in dem es möglich ist, ein Subjekt durch Suggestion zu heilen, ist es nach wie vor krank. Abgesehen von sehr seltenen Fällen ist es meiner Ansicht nach nicht möglich, psychisches Elend, das eine wesentliche Voraussetzung für die Wirkung von Suggestionen ist, durch Suggestion zu heilen« ( Janet, 1889, S. 456).
Janet hat das Verlangen, hypnotisiert zu werden, sogar mit der Morphiumsucht verglichen und es für einen Teil der Störungen dieser Patienten verantwortlich gemacht: »Diese Rückfälle werden oft verkompliziert durch ein sehr starkes Verlangen der Patientin, von der Person, die sie zuvor geheilt hat, hypnotisiert zu werden und Führung und Suggestion zu bekommen. Dieses Verlangen, das ich untersucht und mit dem Ausdruck ›somnambule Leidenschaft‹ bezeichnet habe, ist in vielerlei Hinsicht mit der Morphinabhängigkeit zu vergleichen« ( Janet, 1911, S. 664; siehe Janet, 1897; siehe 11. Kapitel).
Alles in allem ist die Behandlung durch Suggestion eine Symptomtherapie mit vielen Grenzen, zum Beispiel in Form des Widerstandes gegen Suggestionen, transienter Besserung oder der Erzeugung zusätzlicher Symptome einschließlich Abhängigkeit oder sogar Sucht. Darüber hinaus ist eine unmittelbare Beeinflussung fixer Ideen durch Suggestionen oder hypnotische Suggestionen kaum möglich, wenn fixe Ideen interpersonale Beziehungen beeinflussen (oder durch sie getriggert werden). Eine mittelbare Einwirkung ist möglich, und zwar durch implizites Beeinflussen interpersonaler Beziehungen oder deren explizite Neuinterpretation. 280 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Beeinflussung fixer Ideen durch rationale Behandlungen
Antagonistische Ideen, die den pathologischen fixen Ideen zuwiderlaufen, wecken tiefe Emotionen oder Affekte, sodass sich im System des Gesamtbewusstseins ein neues Gleichgewicht herstellt. Janets Empfehlungen waren ganz konkret: Beratung, ermutigende Worte, Anregungen und spezialisierte Übungen zur Verbesserung der kognitiven Funktionen. Er fasste die zu seiner Zeit gebräuchlichen Verfahren zur Behandlung traumatischer Störungen wie folgt zusammen: »Die besten Methoden sind diejenigen, die zur Assimilation der erregenden Emotion führen und das Subjekt veranlassen, sie durch Reflexion zu begreifen, eine angemessene Gegenreaktion zu entwickeln und sich mit ihr zu arrangieren« ( Janet, 1924, S. 196). Janet war allerdings der Ansicht, dass diese Methoden aufgrund ihrer Unzulänglichkeiten in Form hoher Rückfallraten, schneller Habituierung, hoher Variabilität bezüglich Personen und Situationen sowie geringer Übertragbarkeit auf andere Fälle nur begrenzt anwendbar seien. Darüber hinaus werden fixe Ideen durch die Vorgehensweisen nicht grundlegend verändert, weil sie nicht dem Willen der Patienten und ihrer rationalen Empfänglichkeit gehorchen. Janet, kognitive Therapie und andere heutige Verhaltenstherapien
Die Psychotherapie hat viele »Eltern«, und deshalb geht es uns nicht darum zu zeigen, dass viele Ideen der modernen Psychotherapie von Janet bereits antizipiert wurden. Gleichwohl kann er als ein Vorläufer der Verhaltens- und der kognitiven Therapien bezeichnet werden. Sein holistischer Zugang einschließlich seines Modells der Persönlichkeit ist insofern paradigmatisch, als es durch umfangreiche, sorgfältige klinische Beschreibungen und mit nur einigen wenigen vorsichtigen theoretischen »Topdown«-Hypothesen sowie »Bottom-up«-Hypothesen auskommt, die durch empirische Forschung modifiziert werden konnten. Die Relevanz, die dem »Selbstwirksamkeitsmodell« von Bandura (1977) oder dem »Selbstmanagementmodell« von Kanfer (1991) für die kognitiven Verhaltenstherapien zukommt, sowie die aktuellere Hinwendung zu strukturalistischen und dynamischen Konzipierungen (»dritte Welle«) der kognitiven Therapien machen die Aktualität von Janets Konzipierung der Psyche augenfällig. 281 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Janets Methoden ähneln im Großen und Ganzen heutigen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Verfahren zur Behandlung dysfunktionaler und affektiv gefärbter Gedanken und kognitiver Komplexe. Seine Methoden stimmen mit den Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapien überein, wonach ein therapeutisch strukturiertes Wiedererleben von Traumata zur Neutralisierung phobischen Verhaltens fixen Ideen entgegenarbeitet, die traumatische Erfahrung integriert und auf diese Weise eine angemessene Neubeurteilung des Traumas ermöglicht. Zum Beispiel beruht die kognitiv-verhaltenstherapeutische »narrative« Methode zur Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) implizit auf Janets Konzipierung des Unterbewusstseins ( Janet, 1907c; Bühler & Heim, 2009; Fiedler, 2008). Sie zielt darauf, dissoziierte emotionale Erinnerungen an Traumata, die als vorübergehend unzusammenhängende, kontextfreie Elemente betrachtet werden, aber durch trauma-assoziierte Stimuli reaktiviert werden können, in einen chronologischen autobiografischen Kontext zu reintegrieren. Die meisten modernen Ansätze (siehe Kennerley, 1996) stimmen mit Janets Sicht überein, dass die »psychische Stärke« während traumatischer Erfahrungen reduziert ist, das heißt, dass pathogene assoziative Lernprozesse die synthetische Verarbeitung des Traumas verhindern. Traumatische Erinnerungen kehren wieder, weil es sich bei ihnen um dissoziierte (oder desintegrierte) fixe Ideen handelt, die durch entsprechende Stimulierung aktiviert werden. Später unterschied Janet (1928b, S. 214) ausdrücklich zwischen Erinnerungen (souvenirs) und Reminiszenzen (réminiscences). Letztere sind automatische Reaktionen auf Stimuli, die die Umstände der traumatisierenden Erlebnisse repräsentieren (etwa ein Bett, das während des traumatischen Geschehens eine zentrale Rolle gespielt hat). Janet verwies auf seinen wichtigen Fallbericht über Irène, in dem er mehrere Modifizierungen des personalen Bewusstseins und Verhaltens während des traumatischen Erlebnisses erörterte, einschließlich der Rolle der peritraumatischen Stimulation: »Die Vorgänge, die an der Modifizierung beteiligt waren, sind jene, die eine intensive Emotion geweckt haben, jene, die sich durch Assoziation daran geheftet haben, oder jene, die ihr zeitlich unmittelbar vorausgingen« ( Janet, 1904, S. 440). Mit anderen Worten: Unzulängliche inhibitorische Prozesse (und nicht der willkürliche Abruf ) autobiografischer Erinnerungen führen zum unwillkürlichen Wiedererleben (Reminiszenz) des Ereignisses. Schon Janet empfahl zur Behandlung der PTBS eine dreiphasige therapeutische Strategie: Stabilisierung der Patientin, Synthese der Erinne282 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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rung einschließlich der gezielten Steigerung psychischer Spannung sowie die Integration ins Alltagsleben (siehe 12. Kapitel). Janets Ansatz ähnelt dem Neo-Behaviorismus aufgrund seines Verweises sowohl auf verdeckte Prozesse als auch auf beobachtbares Verhalten. Man könnte sein Konzept als ein dynamisches Modell der Ressourcenzuteilung bezeichnen, das ein funktionales Modell psychischer Störungen impliziert, und sein Schema einer soziogenetischen Hierarchie von »Verhaltenstendenzen« als anregende Ausdifferenzierung des Verhaltenskonzepts betrachten. Janet (1919; 1923a) hat darüber hinaus psychotherapeutische Interventionen systematisch beschrieben, die ähnliche differenzial-therapeutische Ziele verfolgen wie heutige Verfahren zur Integration empirisch basierter Therapien in einen allgemeinen psychologischen Rahmen (Grawe, 2002). Heute gibt es eine Vielzahl neuer kognitiv-verhaltenstherapeutischer (oder davon abgeleiteter verwandter) Methoden, die auf Konzepte wie »Schema«, »Achtsamkeit« oder »Emotionsregulation und -verarbeitung« fokussieren. Sie arbeiten mit Narrativen, Bildvorstellung und körperbezogenen Verfahren, um Assimilationsprozesse in der Behandlung traumainduzierter Störungen zu unterstützen. Offenbar bestätigen sie Janets Prophezeiung aus dem Jahr 1907, in der er seine Erkenntnisse über psychologische Analyse und die Kritik an psychotherapeutischen Methoden am Collège des France zusammenfasste: »Die Schulung der Aufmerksamkeit, die Behandlung der Emotionalität und der verschiedenen Exzitationen, die die mentale Ebene steigern soll, sind Methoden, die per Zufall bereits hier und da Anwendung finden, aber eine zunehmend wichtige Rolle in der Schulung und Behandlung der Psyche finden werden« ( Janet, 1907d, S. 710).
Solche plausiblen Verbindungen zu heutigen kognitiven Verhaltenstherapien gibt es für die Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), der Zwangsstörungen und der Depression sowie ganz allgemein zur Verhaltenstherapie (siehe Heim & Bühler, 2003; 2006). Verfasser von Manualen der kognitiven Verhaltenstherapie pflegen Janet zumeist nicht zu erwähnen. Eine Ausnahme ist Hoffmann (1998), der ein Behandlungsprogramm für Zwangsstörungen entwickelt hat, das auf Janets Schlüsselkonzept des »Gefühls der Unvollständigkeit« beruht. Dieses Programm wurde von Ecker und Gönner (2008) weiterentwickelt. Greenbergs (2004) »emotionsfokussierte Therapie« versteht Emotionen 283 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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oder Gefühle ganz ähnlich wie Janet, nämlich als sekundäre Aktionen, die primäre regulieren. Mit Janet formuliert, hilft Angst, gefährliche Unternehmungen zu meiden, und kommt Schädigungen auf diese Weise zuvor; Müdigkeit hilft, endlose Bemühungen abzubrechen, verhindert also Erschöpfung; Anstrengungen helfen, ein Ziel zu erreichen, und Freude ist an der Vollendung einer Aktion beteiligt. All diese Gefühle gehen mit körperlichen Empfindungen einher, die dem Handeln in konkreten Situationen, die dann Teil einer autobiografischen Erzählung werden, Bedeutung zuschreiben. Laut Janet (1929b [1907]) verleihen sie der Persönlichkeitsentwicklung ein wesentliches Momentum. Greenbergs »dialektischkonstruktivistisches« Konzept betrachtet solche Bottom-up-Prozesse als maßgeblich für die Veränderung automatischer emotionaler Reaktionen. Seine Methode (einschließlich Verbesserung der Wahrnehmung von Emotionen, ihrer Regulation und Transformation) ist ein Paradigma von Janets oben erwähnter Vision der »Behandlung der Emotionalität«, die als wichtiges Element der modernen Psychotherapie gilt. Zu erwähnen ist auch, dass Janets bahnbrechende Rolle für die körperorientierten Therapien von Boadella (1997) anerkannt wurde und Ogden, Minton und Pain (2006) veranlasste, eine sensumotorische Psychotherapie für traumainduzierte Störungen zu entwickeln (s. a. Ogden & Fisher, 2015; 14. Kapitel). In der Tradition kognitiver und hypnotherapeutischer Methoden hat eine Gruppe niederländischer und amerikanischer Forscher und Therapeuten ein umfassendes multimodales Verfahren zur Behandlung chronischer schwerer traumatischer Störungen entworfen (van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Die Autoren nehmen ausdrücklich Bezug auf Janets Modell einer dynamischen Persönlichkeit mit den Schlüsselkonzepten Aktion und adaptive Regulation durch Gefühle. Sie verstehen die Dissoziation der Persönlichkeit als Ausdruck eines gestörten Zusammenspiels adaptiver Handlungssysteme (d. h. einer Störung der Beziehung zwischen Handlungen, die auf die täglichen Bedürfnisse gerichtet sind, und den Handlungssystemen, die für außergewöhnliche Situationen, z. B. den Schutz vor Gefahren, notwendig sind). Ihr umfänglicher multimodaler Behandlungsansatz fördert die Harmonie zwischen dem anscheinend normalen Teil der Persönlichkeit (ANP) und dem emotionalen Persönlichkeitsteil (EP), die voneinander isoliert sind, was wiederum zu sekundären Dissoziationen in den Abwehrsystemen der EP und zu tertiären Dissoziationen in den Handlungssystem der ANP führt. Eine andere Intervention zur kognitiven Umstrukturierung ist die klini284 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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sche Logagogik (Bühler, 2003; 2015). Es handelt sich um eine anspruchsvolle psycho-philosophische Intervention, die auf die spirituelle Sphäre, auf Einsicht und Vernunft zielt, um Emotionen und Affekte durch verbale Interventionen und Dialog zu beeinflussen. Sie umfasst auch schriftliche Instruktionen in Form von Aphorismen, Epigramme, Sprichwörter oder Redewendungen. Die klinische Logagogik fokussiert auf die Lebensführung und die Prävention aussichtslos scheinender Lebenskrisen oder unlösbar scheinender Konflikte sowie auf die Anleitung und Unterstützung in solchen Krisen. Sie eignet sich für nachdenkliche Menschen, die für Edukation und Kultur aufgeschlossen und bereit sind, ihre spezifische Situation zu verstehen und zu versuchen, die Probleme und Konflikte zu entschärfen, indem sie sie in allgemeine Betrachtungen einordnen. Janet hat der »philosophischen Psychotherapie« in seinem Lehrbuch der Psychotherapie ein Kapitel gewidmet ( Janet, 1919, S. 54–97). Er betrachtete solche Interventionen allerdings skeptisch, weil er den Eindruck hatte, dass sie in allzu hohem Maße durch den jeweiligen Therapeuten beeinflusst würden und eine generalisierte Ausbildung nicht möglich sei. Wir teilen seine Skepsis nicht, auch wenn wir die Grenzen der Logagogik anerkennen. Zusätzliche Interventionen
Gemäß Janets Diathese-Stress-Modell der dissoziativen Störungen ist die Behandlung fixer Ideen wichtiger als die Behandlung der basalen Störungen oder Stigmata. Im Falle einer hohen Vulnerabilität aber sind prinzipiell beide Symptome zu behandeln. Behandlung dissoziativer Stigmata (basaler Störungen)
Im Falle einer gravierend gestörten psychischen Konstitution ist die erfolgreiche Behandlung fixer Ideen nicht immer von Dauer. Zusätzlich zur Therapie fixer Ideen müssen auch basale Störungen oder Stigmata behandelt werden, weil die allgemeine psychische Konstitution eine kollaterale Ursache der Suggestibilität und der fixen Ideen an sich ist. Die Behandlung sollte deshalb auf die basalen Störungen zielen und zum Beispiel auf die psychische Synthese fokussieren. Sämtliche allgemeinen Behandlungsverfahren unterstützen die 285 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Gerhard Heim & Karl-Ernst Bühler
psychische Konstitution, indem sie unnötige Aufwendungen an Kraft und Spannung verhindern oder einschränken. Physikalische oder psychophysikalische Therapien
Janet empfahl allgemeine Behandlungsverfahren wie Physiotherapie, Hydrotherapie, Bäderkuren und medizinische Behandlung zum Beispiel in Form einer Diät, um die psychische Konstitution zu stärken. Laut Janet sind physikalische oder psychophysikalische sowie diätetische Methoden sehr hilfreich, weil sie die allgemeine Gesundheit und das Nervensystem sowie insbesondere die psychische Synthesefähigkeit kräftigen. Sie verhindern Rückfälle nach einer Behandlung durch psychologische Analyse oder durch Suggestion. Psychoedukation
Zusätzlich zu den anderen Methoden empfahl Janet (1911; 1919; 1925) auch eine Psychoedukation. Um die Auswirkungen einer erfolglosen Anpassung bewältigen zu können, müssen Patienten neue Copingstrategien finden, die ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen und mit dem Unvermeidlichen leben zu lernen, verbessern. Psychoedukative Methoden beginnen mit der unkomplizierten Methode des »Energiesparens« durch Ruhe oder Isolation sowie durch Stärkung der Resilienz. Besonders zu erwähnen ist die Schulung der Aufmerksamkeit (l’éducation de l’attention). Vergleichbar mit der Pädagogik ist sie eine Art mentaler Gymnastik zur Verbesserung der psychischen Synthesefähigkeit durch Übungen. Die verbesserte Fähigkeit zur psychischen Synthese beugt dann der Suggestibilität und fixen Ideen vor. Janet hat die Schulung der Aufmerksamkeit beschrieben als »eine Behandlungsmethode, die darin besteht, sie [die Hysterischen] wie Kinder in der Schule zu regelmäßiger geistiger Arbeit anzuhalten« ( Janet, 1911, S. 675). Hier sind auch kognitive und hypnotherapeutische Verfahren zur Behandlung histrionischer Persönlichkeitsstörungen zu erwähnen. Ein Kernkonzept ist in diesem Zusammenhang der »Ich-Zustand«. Watkins und Watkins (1997) definieren ihn beispielsweise als ein organisiertes System von Erfahrungen und Verhaltensweisen, die durch ein gemeinsames Prinzip miteinander zusammenhängen und durch eine nicht völlig undurchlässige 286 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
13 Pierre Janets Verständnis der Ätiologie, Pathogenese und Therapie dissoziativer Störungen
Grenze von anderen »Ich-Zuständen« getrennt sind. Die Autoren empfehlen als psychotherapeutisches Verfahren zur Behandlung histrionischer Persönlichkeitsstörungen eine Beschreibung von Situationen auf mehreren Ebenen (einschließlich Gedanken, Emotionen und Affekten, Körpersensationen, Verhaltenstendenzen und Feedbackinformationen der sozialen Umwelt), um widersprüchliche »Ich-Zustände« zu aktivieren ( Janet, 1904, S. 431). Dieser Ansatz kann mit einer kognitiven Therapie, die auf Verhaltensmodifizierung zielt, kombiniert werden. Die Patienten lernen, ihre »Ich-Zustände« durch die Analyse kognitiver Erfahrungen und Verhaltensweisen bewusst wahrzunehmen und voneinander zu unterscheiden. Dadurch fällt es ihnen leichter, den Folgen dieser widersprüchlichen »IchZustände« vorzubeugen, sie zu mildern oder adaptiv zu verändern. Janet empfahl auch eine Arbeitstherapie (eine Form der heute so genannten Ergotherapie). Die Grundidee einer solchen Therapie ist die, höhere Tendenzen zu trainieren, das Bewusstseinsfeld zu erweitern und es ihm zu ermöglichen, mehrere Ideen gleichzeitig aufzunehmen und zu synthetisieren oder einander gegenüberzustellen. Automatische Aktivitäten, die mit wenig Aufmerksamkeit durchgeführt werden, sind deshalb nach Möglichkeit zu vermeiden. Stattdessen sollten die empfohlenen Aktivitäten gemäß der erforderten Aufmerksamkeit und der Anzahl der zu synthetisierenden Elemente eingestuft werden, das heißt ihrer Komplexität entsprechend. Die Aufgaben dürfen weder unterfordernd noch allzu anspruchsvoll sein. Die Parallelen zur Morita-Therapie (Reynolds, 1976) und zur sensumotorischen Psychotherapie (Ogden et al., 2006; Ogden & Fisher, 2015) sind offensichtlich.
Behandlung durch Ruhe Als allgemeinere Verfahren zur Stärkung der psychischen Konstitution empfahl Janet die Behandlung durch Ruhe, Isolation und Hypnoseschlaf. Die Behandlung durch Ruhe und Isolation bedarf keiner Erklärung und keiner genaueren Beschreibung. Laut Janet besteht sie »lediglich darin, die Patienten aus ihren Familien, ihrem täglichen sozialen Umfeld, herauszunehmen und sie unverzüglich an einem ihnen völlig unbekannten Ort unterzubringen« (Janet, 1911, S. 642). Entscheidend ist dabei, die Patienten aus ihrem pathologischen Milieu herauszunehmen. Die Isolation soll der Erschöpfung, die durch Einflüsse seitens des sozialen Umfeldes verursacht wurde, entgegenwirken. Janet erläuterte: 287 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Gerhard Heim & Karl-Ernst Bühler
»Der Ursprung ihrer fixen Ideen findet sich in ihrer Familie, in der Anwesenheit bestimmter Personen, in Gesprächen. Diese fixen Ideen werden durch das Alltagsgeschehen laufend aktiviert und bestätigt, sodass sie in dem Milieu, in dem sie entstanden sind, immer stärker werden« (ebd., S. 643)
Um den Patienten aus seiner belastenden Umgebung herauszunehmen, findet die Behandlung durch Ruhe und Isolation in einem Sanatorium statt – eine weitere Parallele zur Morita-Therapie (Reynolds, 1976). Die Patienten leben während der Behandlung aber nicht allein, sondern in einem therapeutischen Milieu. Natürlich bringen sie ihre fixen Ideen auch in diese neue Umgebung mit, denken aber nicht mehr so häufig an sie. Deshalb werden die fixen Ideen nicht unaufhörlich durch Assoziationen aktiviert, sodass sie im besten Fall sogar in Vergessenheit geraten. Darüber hinaus sorgt die Isolation der Patienten für eine Vereinfachung ihres Lebens. Dies ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil für Patienten, deren Fähigkeit zur psychischen Synthese beeinträchtigt ist. Last, but not least empfahl Janet auch den Hypnoseschlaf als eine Form der Behandlung durch Ruhe. Er erklärte: »Der hypnotische Schlaf soll das Subjekt im Wesentlichen veranlassen, hartnäckige Emotionen auszudrücken, ihre Ursprünge aufzuzeigen und die notwendige Anstrengung der Willenskraft und der Aufmerksamkeit zu unternehmen, um das zerebrale Gleichgewicht zu modifizieren« (Janet, 1911, S. 651). Die Behandlung durch Ruhe und Isolation ist lediglich ein erster Schritt, dem sich ein weiterer anschließen muss. Einfachheit des Lebens
Janet empfahl ein einfaches Leben (simplicité de la vie) als allgemeines, grundlegendes Ziel der Behandlung dissoziativer Störungen. Allerdings ist die durch unspezifische therapeutische Verfahren zu erreichende Vereinfachung des Lebens nicht nur im Falle dissoziativer Störungen angemessen, sondern generell bei psychischen Störungen, zum Beispiel Depression, Schizophrenie, Angststörungen oder auch einigen Persönlichkeitsstörungen. Methoden, die das Leben vereinfachen können, sind sogar wichtiger als die übliche Behandlung durch Ruhe und Isolation, weil eine ungesunde Lebensführung vor allem bei psychischen, psychosomatischen und sogar somatischen Störungen eine unübersehbare Rolle spielt. Janet schreibt dazu: 288 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
13 Pierre Janets Verständnis der Ätiologie, Pathogenese und Therapie dissoziativer Störungen
»Ich fasse zusammen: In einem einfachen Leben werden sämtliche Schwierigkeiten mit Familie, Liebe, Religion, Geschick und Glück auf ein Minimum reduziert. Der tägliche Lebenskampf, die Sorgen um die Zukunft sowie alle anderen Komplikationen und Wirren des Lebens werden ausgeschaltet« ( Janet, 1911, S. 677).
Weil Patienten sich häufig in scheinbar aussichtslosen Situationen verfangen (acrochés), lautet das Grundprinzip der Lebensvereinfachung, unnötigen Stress und Belastungen zu reduzieren. Die Patienten müssen aus ihren scheinbar hoffnungslosen Situationen befreit werden, indem möglichst viele ihrer schwierigsten Probleme gelöst werden. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, ist die Organisation und Strukturierung des Lebens. Diese Art der Behandlung erfolgt durch psychagogische oder psychotherapeutische Beratung und das Erlernen von Strategien zur Problemlösung. Manchmal erweist sich ein solcher therapeutischer Ansatz als ausgesprochen schwierig oder sogar unmöglich, weil Therapeuten die Probleme ihrer Patienten gewöhnlich nicht lösen, sondern lediglich Ratschläge zu Problemlösungsstrategien geben.
Schluss Janets beeindruckende Empfehlungen für eine multimodale Behandlung dissoziativer Störungen, die in seinen pathopsychologischen Konzepten und seiner späteren Theorie des menschlichen Verhaltens eine solide Grundlage haben, können als frühe Ansätze einer evidenzbasierten Psychotherapie gelten. Darüber hinaus repräsentiert seine Methode, die er insbesondere in seinem dreibändigen Werk Les Médications Psychologiques (1919; englische Übersetzung: Psychological Healing, 1925) und in der kürzeren Fassung La Médecine Psychologique (1923a; englische Übersetzung: Principles of Psychotherapy, 1924) dargelegt hat, einen profunden ersten Gegenentwurf zur Psychoanalyse. Man hat dies jahrzehntelang nicht wirklich wahrgenommen, und zwar aufgrund Janets eigener vorsichtiger, seiner methodologischen Orientierung und seiner skeptischen Einstellung entsprechenden Theoriebildung, vor allem aber aufgrund des starken Einflusses, den die psychoanalytische Bewegung auf die Medizin und die Gesellschaft insgesamt ausgeübt hat. Einhergehend mit dem Durchbruch und Fortschritt 289 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Gerhard Heim & Karl-Ernst Bühler
psychologisch basierter Psychotherapien in den vergangenen 50 Jahren hat man auch erkannt, dass seine frühen Konzepte wie Dissoziation und fixe Ideen oder sein späteres Ressourcenmodell des menschlichen Handelns sowie seine Konzepte der Tendenzen, der Kraft und Spannung etc. mit modernen psychologischen Theorien durchaus vereinbar sind. Auch Janets Erörterungen von Interventionen mit Blick auf seine Empfehlung einer Differenzialtherapie für psychologische Störungen unterstreichen die Modernität und Nützlichkeit seines Denkens für die psychotherapeutische Forschung und Praxis.
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14 Triumphhandlungen Eine Interpretation Pierre Janets und der Rolle des Körpers in der Traumatherapie Pat Ogden
»Psychotherapie ist die Gesamtheit therapeutischer Verfahren jeder Art, sowohl körperlicher als auch moralischer, die auf körperliche und geistige Störungen gleichermaßen angewandt werden können, Verfahren, die durch Berücksichtigung der psychischen Phänomene vorgegeben werden, die in der Vergangenheit erforscht wurden, und insbesondere durch Berücksichtigung der Gesetze, welche die Entwicklung dieser psychischen Phänomene sowie ihre Verbindung miteinander oder mit physiologischen Phänomenen determinieren« ( Janet, 1925, S. 1208).
In all seinen Schriften vertrat Pierre Janet die Ansicht, dass die Einbeziehung körperlicher Aktivität in die Behandlung nicht nur dazu beitragen könne, Bewegungsstörungen und Körpersensationen zu lindern, sondern dass sie auch die Funktionsfähigkeit der Psyche positiv beeinflusse. Als aufmerksamer und scharfsichtiger Beobachter des menschlichen Verhaltens trat Janet dafür ein, die Psychologie des Menschen wissenschaftlich, mit »Neugier und Unabhängigkeit« statt auf der Basis von »Autorität und Tradition« zu erforschen (Ellenberger, 1996 [1974]). Dank solcher Beobachtungen entdeckte er, dass die Schwerfälligkeit und die Unregelmäßigkeiten der Bewegungsmuster seiner Patienten mit ihren psychischen Schwierigkeiten zusammenhingen. Er stellte die folgende, für die klinische Erforschung somatischer Ansätze bis zum heutigen Tag relevante Frage: »Ist es nicht durchaus wahrscheinlich, dass eine Transformation der Bewegungen durch einen Prozess der Psychoedukation Auswirkungen auf die Gesamtheit der Aktivitäten des Patienten haben und sich auf diese Weise als fähig erweisen kann, die psychischen Schwierigkeiten zu verhindern oder aufzulösen?« ( Janet, 1925, S. 725)
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Um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzte man bereits mannigfaltige körperorientierte Verfahren zu therapeutischen Zwecken ein. Dazu zählten die Verbesserung der Körperhaltung und der Ausrichtung der Wirbelsäule, rhythmische Bewegungen inklusive Massage und passiver Bewegung, um den Patienten zu helfen, ihre Wahrnehmung von Körpersensationen zurückzuerlangen, sowie die Anleitung, »ihre Bewegungen in die einzelnen Bestandteile zu zerlegen« (ebd., S. 726). Ellenberger schrieb: »Janet steht an der Schwelle der gesamten modernen dynamischen Psychiatrie. Seine Gedanken sind so weitverbreitet, daß ihr Ursprung oft nicht erkannt und auf andere zurückgeführt wird« (Ellenberger, 1996 [1974], S. 555). Gleiches gilt für Janets Beiträge zur somatischen Psychologie. Sein Verständnis der somatischen Interventionen zur Behandlung von Traumata ist ein Vorläufer der körperorientierten Psychotherapien, die im Laufe des gesamten 20. Jahrhunderts und bis heute konzeptualisiert und praktiziert wurden. Von David Boadella (2011) wurde Janet als der Großvater der Körperpsychotherapie bezeichnet, weil er überzeugt war, dass die Fähigkeit, im Hier und Jetzt präsent zu sein, im Embodiment, von Janet selbst als »Korporalität« bezeichnet, gründe. Janet definierte seine Arbeit als »psychologische Analyse«, im Grunde eine Art der psycho-physischen Analyse, die Verhalten und Bewegung einbezog. Dieses Kapitel erläutert und vergleicht die von Janet beschriebenen somatischen Behandlungsverfahren mit denen der sensumotorischen Psychotherapie. Besonderes Augenmerk gilt den körperlichen »Triumphhandlungen« und der Freude über abgeschlossene Handlungen (Ogden & Fisher, 2015; Ogden, Minton & Pain, 2009 [2006]).
Triumphhandlungen Unsere instinktiven Abwehrhandlungen, die eine adaptive Reaktion auf Gefahr darstellen, sind häufig ineffektiv oder werden abgebrochen und nur unvollständig ausgeführt. Die Überlebende eines sexuellen Missbrauchs hat möglicherweise versucht, sich gegen den Angreifer zu wehren, wurde aber überwältigt und konnte den Täter weder erfolgreich abwehren noch die Flucht ergreifen. Bestandteile solcher instinktiven Abwehrbewegungen bleiben, wenn sie ineffektiv waren, oft in verzerrter, vergrößerter Form erhalten (Herman, 1992). Beispielsweise bleiben Muskeln chronisch angespannt oder die Betroffenen sind leicht zu triggern und tendieren dazu, 292 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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sich plötzlich aggressiv zu verhalten oder zu fliehen; auch ein chronischer Tonusmangel oder Empfindungslosigkeit in einer bestimmten Muskelgruppe ist möglich (Ogden, Minton & Pain, 2009 [2006]). Janet bemerkte, dass traumatisierte Patienten »die Handlung oder vielmehr den Handlungsversuch fortsetzen, den sie zu Beginn des Geschehens gestartet haben; sie beginnen stets aufs Neue, bis zur Erschöpfung« ( Janet, 1925, S. 663). Eine Person, die als Kind geschlagen wurde, reagiert vielleicht mit unkontrollierter Aggression gegenüber den eigenen Kindern, wenn sie sich bedroht fühlt; eine Kriegsveteranin empfindet den Drang, wegzulaufen oder sich zurückzuziehen, wann immer sie die geringste Angst verspürt. Janet beschrieb auch extremere Beispiele für diese fortgesetzte Abwehr: »Bestimmte Patientinnen zeigen offene Wut; sie schlagen, kratzen, beißen, und ihre Schreie sind bedrohlich […]. Die Abwehrbewegungen der nach vorn ausgestreckten Arme bei gleichzeitigem Zurücknehmen des Oberkörpers sind charakteristisch« ( Janet, 1907b, S. 102f.). Andere Patientinnen reagieren »mit Kontraktion der Abduktorenmuskeln (der Hüter der Jungfräulichkeit) auf die Erinnerung an eine Vergewaltigung oder auf die Erinnerung an eine ihnen aufgezwungene sexuelle Beziehung« ( Janet, 1925, S. 592). Die adaptive Ausführung einer Abfolge defensiver Handlungen wird abgebrochen, bleibt unvollständig und ist für die Betroffenen unbefriedigend. Auch wenn die Patientinnen möglicherweise erkennen, dass diese Reaktionen Überreste aus der Vergangenheit darstellen, steht es nicht in ihrer Macht, sie durch kognitive Top-down-Prozesse zu modifizieren. Janet erkannte, dass spontan ein Gefühl des Behagens und der Freude auftaucht, sobald eine Handlung vollständig durchgeführt werden konnte. Wenn Abwehrhandlungen effektiv sind und die Gefahr abgewendet werden kann, stellen sich Gefühle der Bemeisterung ein, das Gefühl, über die Gefahr triumphiert zu haben, und ein Gefühl der Erleichterung. Diese »Triumphhandlungen« werden durch Flucht oder erfolgreiche Gegenwehr erzielt, doch wir haben gesehen, dass diese Handlungen unter Umständen nicht abgeschlossen werden können. Janet beklagte, dass diejenigen, »die unter einer traumatischen Erinnerung leiden, die für die Phase des Triumphs charakteristische Aktion nicht haben durchführen können« ( Janet, 1925, S. 669). Der Impuls zu diesen Abwehrreaktionen bleibt aber im Körper lebendig, und die Vervollständigung dieser Handlungen kann zu einem Fokus der Therapie werden. Die vollständige Durchführung der körperlichen Handlungen, die zum Zeitpunkt des ursprünglichen Traumas initiiert wurden, bewirkt oft, dass sie als adaptive Reaktionen in der gegen293 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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wärtigen Realität besser verfügbar werden. Ohne Behandlung mit dem Ziel, die Abwehrreaktionen zu vervollständigen, besteht die Gefahr, dass diese Tendenzen die Fähigkeit zu adaptiven Reaktionen in der Gegenwart auf ewig beeinträchtigen (Ogden & Fisher, 2015; Ogden, Minton & Pain, 2009 [2006]).
Triumphhandlungen ermöglichen Janets Ansatz steht im Einklang mit der Philosophie der sensumotorischen Psychotherapie, einer körperorientierten Gesprächstherapie, die von der Autorin in den 1980er Jahren zur Behandlung von Traumatisierungen und Bindungsstörungen entwickelt wurde. Ein Fokus dieser Methode liegt auf der Vervollständigung unvollständiger Handlungen, und zwar durch die direkte Arbeit mit den Empfindungen und der Bewegung des Körpers selbst. Um dies zu illustrieren, beschreibe ich die Behandlung Tinas. Als Kind war Tina von ihrem Vater sexuell missbraucht worden. Sie hatte die Taten widerstandslos über sich ergehen lassen. In der Behandlung bei mir entdeckte sie den vergessenen, schlummernden Impuls, den Vater von sich wegzustoßen, fortzulaufen und sich in Sicherheit zu bringen. Als sie sich daran erinnerte, dass sie ihrem Vater, wenn er sie missbrauchte, keinen Widerstand geleistet hatte, sondern erstarrt war, wurden ihr die Anspannung in ihren Armen und ein Kraftgefühl in den Beinen bewusst – Hinweise darauf, dass ihr Körper sowohl hatte kämpfen als auch flüchten wollen. Diese körperlichen Impulse, denen sie zum Tatzeitpunkt nicht hatte nachgeben können, tauchten spontan auf, als ich ihr half, ihre körperlichen Empfindungen und Aktionsimpulse aufmerksam wahrzunehmen, während sie sich an den Missbrauch erinnerte. Janet verfügte über eine tiefe Einsicht in die Komplexität von Handlungen und erklärte, dass diese »sich nicht auf die einfache physische oder mentale Aktion an sich beschränken, sondern zudem die Überzeugungen, Gedanken und Erfahrungen der Person in sich aufnehmen und zum Ausdruck bringen« ( Janet, 1930a, S. 7). Tatsächlich hatten sich Tinas vergessene Impulse, sich zu wehren, nicht nur in eine Praxis der Unterwerfung übersetzt, sondern waren auch als eine Überzeugung encodiert worden: »Ich habe es nicht verdient, mich zu schützen.« Im Laufe der Therapie lernte Tina, ihren Körper – ihre Bewegungen, Empfindungen, Impulse, ihre Haltung und ihre Gestik – zu beobachten und seine Handlungsim294 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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pulse vollständig zuzulassen. Sie lernte beispielsweise, die Spannung in ihren Armen zu nutzen, indem sie mit Händen und Armen ein Kissen kraftvoll von sich wegzuschieben versuchte, das von der Therapeutin, die ihr Widerstand bot, gehalten wurde. Diese Vervollständigung von zuvor unvollständig ausgeführten Abwehrreaktionen fördern das von Janet beschriebene Bemeisterungs- und Triumphgefühl.
Sequenzielle Schritte zur Ermöglichung von Triumphhandlungen Mit der Vermittlung neuer körperlicher Handlungen verfolgt die Therapeutin zwei Ziele ( Janet, 1925). Zum einen muss die spezifische Handlung die Integrationsfähigkeit des Patienten herausfordern. Zweitens darf sie den Patienten nicht erschöpfen oder ihn seiner Ressourcen berauben. Diese beiden Ziele können nur erreicht werden, indem sich die Therapeutin durchgängig sensibel auf den Patienten abstimmt und ihn innerhalb der Grenzen seines Toleranzfensters »hält« (Siegel, 1999), um seine Integrationsfähigkeit zu verbessern und neue Bewegungen zu katalysieren. Das Einüben neuer, zunehmend komplexer Handlungen ist für den Erfolg der Therapie ausschlaggebend, denn wenn der Patient mit der Aufgabe überfordert ist, wird er vermutlich scheitern. Fähigkeiten und Selbstvertrauen müssen daher nach und nach dank erfolgreich gemeisterter Aufgaben entwickelt werden. Indem die Therapeutin die Durchführung der Handlung langsam und ruhig anleitet, hilft sie dem Patienten, »korrekte und automatische Reaktionen durchzuführen, die ihm den Verlust, den das Scheitern herbeiführen würde, und die Kosten der Agitiertheit und Emotion ersparen« ( Janet, 1925, S. 737). Janet fährt fort: »Jedes Lebewesen […] erwirbt […] durch die Methode des Versuchs und Irrtums neue Tendenzen, die es durch zahlreiche Wiederholungen verfestigt. Zuerst wird es durch eine schützende Erregung zu allen erdenklichen Bewegungen, guten, schlechten und indifferenten, veranlasst. Schrittchen für Schrittchen lernt es, auf die erfolglosen Bewegungen zu verzichten und lediglich die erfolgreichen zu wiederholen« (ebd., S. 783f.).
Die Therapeutin muss beurteilen, welche Handlungen der Patient zum jeweiligen Zeitpunkt erfolgreich, das heißt vollständig, durchführen kann. 295 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Im Laufe der Zeit wird sie den Schwierigkeitsgrad der zu bewältigenden Aufgaben dann steigern. Tina bereiteten die Bewegungen, die ihrer Selbstverteidigung dienen sollten, zunächst großes Unbehagen, weil sie sich »merkwürdig« und »fremd« anfühlten. Als sie versuchte, das Kissen, das ihr die Therapeutin entgegenhielt, mit den Händen von sich wegzuschieben, hatte sie das Gefühl, »nicht da« zu sein. Halsmuskulatur und Wirbelsäule »erstarrten« und ließen Bewegungen nur in begrenztem Umfang zu. Tinas Arme sanken leblos nieder, und sie sagte, dass sie »aufgeben« wolle. Ich wies sie nun an, zu experimentieren und die Knie ein wenig zu beugen. Diese Aufgabe gelang ihr vollständig, und daraufhin fühlte sie sich besser geerdet. Nun fiel es ihr leichter, im Hier und Jetzt präsent zu bleiben. Sie übte diese einfache Bewegung mehrere Wochen lang, und als sie ihr vertraut war, gab ich ihr eine etwas schwierigere Aufgabe: Ich wies sie an, ihre Beine zu bewegen, so als würde sie rennen – eine symbolisierte »Flucht«Reaktion. Schließlich bat ich sie, mit Drehbewegungen und Orientierung der Wirbelsäule zu experimentieren, um die »erstarrte« Bewegung aufzuweichen. Tina fühlte sich nun mehr und mehr präsent, war aber dennoch erst nach mehreren Therapiesitzungen in der Lage, die Handlungen des Wegstoßens mit Händen und Armen erfolgreich auszuführen, ohne gleichzeitig ihre dissoziativen Tendenzen zu verstärken. Mittlerweile hatte sie viele der »mentalen Handlungen«, die mit den vorangegangenen Bewegungen der physischen Erdung, des Rennens und der Orientierung zusammenhingen, vollständig ausgeführt. Sie nahm die Unterstützung durch Unterkörper und Wirbelsäule nun bewusst wahr. Ihre Kampf-, Flucht- und unterwürfigen Anteile waren besser integriert und verhielten sich weniger autonom. Damit einhergehend spürte sie, dass sie ihre reaktiven Anteile besser zu regulieren vermochte.
Bewegungsökonomie Gegenläufige Bewegungen wie Wegstoßen und gleichzeitiges Zurückweichen sind Merkmale desorganisierter/desorientierter Bindungsmuster. Wenn eine Bindungsperson auch eine Gefahrenquelle verkörpert, werden gleichzeitig oder hintereinander zwei Verhaltens- oder Aktionssysteme aktiviert: das Abwehrsystem und das Bindungssystem. Die Aktivierung beider Systeme spiegelt sich in Körperbewegungen wider, die nicht synchron oder aufeinander abgestimmt in eine Richtung zielen. Dies belegen 296 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Studien mit dem Paradigma der »fremden Situation« (Main & Solomon, 1986; 1990). Im Zusammenhang mit dem Konzept der »Ökonomie« der Bewegung zur Beschreibung ineffizienter oder unharmonischer körperlicher Handlungen zitiert Janet seinen Kollegen Cabot: »Woran liegt es, dass wir all unsere Muskeln kontrahieren, wenn es notwendig wäre, einige wenige zu kontrahieren und die übrigen entspannt zu lassen? Wie kommt es, dass wir, wenn wir uns hinsetzen, um einen Brief zu schreiben, nicht mit den Fingern einer Hand schreiben, sondern mit all den Muskeln des rechten Arms und der Schulter und nicht selten mit dem Gesicht, mit der Zunge und mit unseren Beinen?« ( Janet, 1925, S. 726)
Meine Patientin Kelley, eine 26-jährige Überlebende, die als Kind vom eigenen Vater misshandelt und sexuell missbraucht worden war, schob zum ersten Mal das ihr von der Therapeutin entgegengehaltene Kissen von sich weg. Ihre Bewegungen waren widersprüchlich, denn ihr Oberkörper wich zurück, während die Arme sich nach vorn bewegten; die Wirbelsäule kollabierte, sie ließ den Kopf hängen und wandte den Blick ab. Sie berichtete, das Wegstoßen würde bedeuten, allein zu sein. Diese Aussage spiegelte den Konflikt wider, den sie als Kind in der Beziehung zum Vater, der sie missbrauchte, erlebt hatte. Ihr Körper demonstrierte diesen Konflikt durch die Kontraktion von Muskeln, die für das Wegstoßen und -schieben gar nicht gebraucht wurden. Kelleys Muskeln arbeiteten gegeneinander, sodass die Patientin zurückwich und gleichzeitig das Kissen von sich wegschob. Wenn Patienten zum ersten Mal versuchen, eine konfliktbesetzte, ineffektive, eingeschränkte oder vereitelte Aktion aus der Vergangenheit durchzuführen, sind ihre Bewegungen zumeist unökonomisch. Sie setzen ihren Körper nicht effektiv ein und bewegen sich häufig geradezu entgegen ihrer bewussten Absicht. Solche ineffizienten und unökonomischen Bewegungen lassen sich je nach den individuellen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit verschiedenen Gesten und Handlungen beobachten. Eine Patientin, die Intimität vermeidet, bricht zusammen, wenn sie die Nähe und Aufmerksamkeit ihrer Therapeutin sucht; eine Patientin mit unsicherer Bindungsgeschichte kann nicht loslassen, ohne irgendwo in ihrem Körper festzuhalten; eine Frau mit geringem Selbstwertgefühl kann die Brust nicht heben und tief atmen, ohne dass sich dabei ihr Rücken verspannt. Laut Janet »müssen wir lernen, unsere motorischen Energien intelligent 297 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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zu lenken, um diese schlechten Angewohnheiten zu korrigieren« ( Janet, 1925, S. 726). Als Kelley die Ausführung einer integrierten Bewegung untersuchte, um das Kissen, das ich ihr, Widerstand leistend, entgegenhielt, mit den Armen von sich wegzuschieben, ermutigte ich sie, die Wirbelsäule zu längen, das Kinn anzuheben und Blickkontakt aufzunehmen, während sie mit den Armen gegen das Kissen drückte. Ich half ihr, nicht nur die Arme einzusetzen, sondern auch ihren Rücken und die Beine, sodass der gesamte Körper eine einzige fokussierte, koordinierte Aktion ausführte. Nachdem diese Bewegung mehrmals wiederholt worden war und daraufhin mit wachsender Integration und Effizienz ausgeführt werden konnte, wurde Kelley bewusst, dass ihr die ökonomische Abwehraktion ganz unvertraut war. Diese Bewegung sei, so sagte sie, »völlig neu – ich frage mich, was die ganze Zeit mit mir los war«. Sie erkannte, dass ihr Körper »ja« und »nein« gleichzeitig gesagt hatte, während sie »nein« sagte – ein Relikt des Missbrauchs, den sie als Kind erlitten hatte, und des Konflikts zwischen Bindungsbedürfnis und Abwehr, den sie in ihrer Beziehung zum Vater erlebt hatte. Nachdem sie diese integrierte Bewegung des Wegschiebens eingeübt und gleichzeitig die kognitiven Verzerrungen – »Ich werde für immer allein sein, wenn ich jemanden wegstoße« – bearbeitet hatte, spürte Kelley, dass sie sich klarer gegen andere Menschen abgrenzen konnte. Die Spaltung der Persönlichkeit wurde von Janet (1901) eingehend untersucht. Über das Wechseln der beiden »psychischen Existenzen« schrieb er: »In einer [dieser Existenzen] verfügt er über Empfindungen, Erinnerungen, Bewegungen, die er in der anderen nicht hat, und infolgedessen präsentiert er mehr oder weniger deutlich […] zwei Charaktere und in gewisser Weise zwei Persönlichkeiten« (ebd., S. 491). In Kelleys Therapie wurden einhergehend mit dem Erforschen neuer integrierter Handlungen auch jene Anteile des Selbst erforscht und integriert, die die alten und die neuen Handlungen widerspiegelten. Ohne die Erforschung der mit bestimmten Handlungstendenzen verbundenen Anteile läuft die Therapeutin Gefahr, Selbstanteile außer Acht zu lassen, statt sie zu integrieren.
Die wichtige Rolle der Lust und Freude Wenn zuvor unvollständige Handlungen vollumfänglich ausgeführt und somit abgeschlossen werden können, hat der Patient die »Phase des Tri298 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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umphs« erreicht ( Janet, 1925, S. 669). Diese vollständigen Handlungen wecken ein Gefühl der Bemeisterung und Freude und gehen mit Veränderungen kognitiver Verzerrungen einher. Die häufig in einem Missbrauchskontext erworbene Überzeugung: »Ich habe kein Recht, mich zu schützen«, kann transformiert werden zu: »Ich habe das Recht, mich zu schützen.« Dazu Janet: »Wenn eine Handlung wieder ausgeführt werden kann und sich Verbesserungen einstellen, erleben wir fast immer einen bestimmten Moment der Zufriedenheit in dieser oder jener Form, eine Art Freude, die das Interesse an der Handlung weckt und an die Stelle des Gefühls der Sinnlosigkeit, Absurdität und Vergeblichkeit rückt, das den Patienten im Zusammenhang mit der Handlung zuvor geplagt hat« (ebd., S. 988f.).
Kelley war erleichtert und überglücklich, als sie die körperlichen Abwehrbewegungen schließlich ausführen konnte, die sie als Kind während des sexuellen Missbrauchs nicht hatte zum Abschluss bringen können. Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit wichen dem Gefühl der Stärke und Bemeisterung. Dies zeigte nicht nur ihre Freude in den Therapiesitzungen, sondern auch ihre verbesserte Fähigkeit, an sozialen Interaktionen teilzunehmen und das Zusammensein mit anderen Menschen zu genießen. Sie lächelte spontan und lachte mitunter laut auf, wenn sie ihre Fähigkeit schilderte, angemessene Grenzen zu setzen. Janet schrieb: »Um die Handlung abzuschließen, müssen wir all die Bewegungen, die mit ihr zusammenhängen, zu Ende bringen. Wenn die vollständige Ausführung endgültig sein soll, müssen wir die Kräfte, die an der Handlung teilhatten, demobilisieren, verteilen [disperse]. Ebendiese Verteilung der erholten Energien ruft die vorübergehende erregte Freude hervor […] und all die Triumphgefühle. […] Diese Freude und dieser Triumph stellen sich […] nach jeder vollständig ausgeführten Aktion ein« (ebd., S. 666).
Zufriedenheit und Freude über die vollständig ausgeführte Aktion sind auch zu beobachten, wenn sich die körperliche Empfindungsfähigkeit wieder erholt. Janet erläutert Paul Solliers Berichte (Sollier war Arzt und Psychologe und ein Zeitgenosse Janets, der durch seine Arbeit über das Gedächtnis bekannt geworden war): 299 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Pat Ogden
»Wenn die Wiederherstellung der Sensitivität abgeschlossen und der Patient wiedererwacht ist, äußert er gewöhnlich Erstaunen und Freude, etwa mit den Worten […]: ›Es ist sonderbar, wie groß hier alles ist. Die Möbel und die übrigen Gegenstände im Zimmer wirken heller, ich spüre mein Herz schlagen.‹ Dieses Wohlbefinden veranlasst ihn zu lachen und bewirkt, dass er Fröhlichkeit und Gesundheit ausstrahlt« ( Janet, 1925, S. 808).
In ähnlicher Weise wird die Phase des Triumphes auch in der sensumotorischen Psychotherapie erlebt, wenn die Klienten Körpersensationen und die oben beschriebene Vervollständigung ihrer Handlungen in einer Atmosphäre der Sicherheit wahrnehmen können. Ganz ähnlich wie in Solliers Beschreibung schildern sie häufig Gefühle der Lebendigkeit, körperliches Wohlbehagen und Zufriedenheit, wenn sie mit ihren Körpersensationen wieder in Verbindung kommen. Diese Phase des Triumphes und das damit einhergehende Wohlbefinden bedeutet möglicherweise mehr als lediglich ein »gutes Gefühl«. So schreibt Panksepp: »Eine allgemeine wissenschaftliche Definition jenes schwer greifbaren Begriffs ›Lust‹ kann bei der Annahme ansetzen, dass lustvolle Empfindungen auf einen biologischen Nutzen verweisen. […] Nützliche Stimuli sind jene, die das Gehirn über ihr Potenzial informieren, das homöostatische Gleichgewicht des Körpers wiederherzustellen, wenn er von seinem biologisch vorgegebenen ›Sollwert‹ abgewichen ist« (Panksepp, 1998, S. 182).
Lehre, Praxis und Achtsamkeit Die komplexe Aufgabe der Therapeutin, Triumphhandlungen zu ermöglichen, bedeutet, dass sie »präzise herausfinden muss, welche Aktion fehlt, […] und [die Patientin] lehren muss, genau diese Aktion korrekt auszuführen« ( Janet, 1925, S. 739). Die Patientin selbst ist gewöhnlich nicht in der Lage zu beurteilen, welche Handlungen unangemessen oder unvollständig sind, denn Bewegungsgewohnheiten entwickeln sich im Laufe jahrelanger Ausführung in Reaktion auf innere und äußere Stimuli. Solche Aktions- oder Handlungstendenzen entstehen adaptiv in Reaktion auf die Anforderungen des Lebenskontextes: 300 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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»Jedes Lebewesen, das in eine neue Umwelt versetzt wird, passt sich an, zuerst durch die Ausbildung neuer Bewegungskombinationen, die angemessen auf die neuartigen Umwelteinflüsse reagieren, und dann durch die Fixierung dieser Bewegungskombinationen und den Aufbau entsprechender Tendenzen, d. h. Dispositionen, die eine solche Reaktion korrekt, rasch und reibungslos auf automatische Weise hervorbringen« ( Janet, 1923a, S. 208).
Diese Bewegungen werden zu automatischen Anpassungen an die Umwelt, und wenn Patienten sie zu verändern versuchen und neue, ihnen nicht vertraute Bewegungen ausführen, fühlen sie sich nicht selten unbehaglich. Die Bewegungen sind ihnen nicht vertraut, wecken Erinnerungen und Gefühle und werden sogar als »falsch« empfunden. Dem Patienten erscheinen seine vertrauten, habituellen Bewegungen »richtig«, selbst wenn sich die gegenwärtige Umwelt von derjenigen, in der sich die Handlungstendenz einst herausgebildet hat, unterscheidet. So schrieb Janet, dass Patienten »eine Aktion nicht verändern, eine Aktion nicht abbrechen können, sobald sie begonnen hat, selbst wenn die Umstände, die zu ihrer Entstehung geführt haben, sich komplett verändert haben« ( Janet, 1925, S. 680). Auch wenn Patienten versuchen, neue Handlungen eigenständig auszuführen, bleiben ihre Bemühungen gewöhnlich erfolglos. Janet erläutert den Grund dafür: »Der Patient […] ist mit dem Mechanismus der Aktion, die er zu erlernen versucht, nicht vertraut. Er weiß nicht, wie er sie in ihre Elemente zerlegen kann, er ist nicht imstande, die nützlichen Elemente der Bewegung der Reihe nach auszuführen oder die unnützen Elemente zu eliminieren« (ebd., S. 738).
Um dies zu ändern, empfahl Janet, dass der Patient neue Handlungen unter präziser Anleitung durch einen Therapeuten einübt, der »die zu erlernende Handlung im Detail demonstriert« (ebd., S. 739). In Kelleys gesamter Behandlung habe ich ihr wiederholt gezeigt, wie ich meine Wirbelsäule strecke, wie ich Blickkontakt herstelle, entspannt, aber effektiv etwas von mir wegschiebe usw., damit Kelley mir beim Ausführen einer integrierten Handlung zusehen konnte. Laut Janet muss der Patient die bewusste Wahrnehmung des Körpers und seiner Funktionen mithilfe der therapeutischen Beziehung aufs Neue 301 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Pat Ogden
erlernen: »Wir müssen ihn daran gewöhnen, sich die Funktion, über die er die Kontrolle verloren hat, wiederanzueignen; wir müssen ihn in die Lage versetzen, erneut eine Kenntnis seiner Gliedmaßen und ihrer Bewegungen zu erwerben« (ebd., S. 756). Neue körperliche Aktivitäten, zum Beispiel das Wegschieben eines Objekts oder ein Versuch der Kontaktaufnahme, können Erinnerungen wecken, die mit körperlichen Empfindungen oder schmerzvollen Emotionen einhergehen. Diese hängen mit den Zeiten zusammen, in denen ein Gegenüber auf dieselbe Handlung mit Missbrauch oder Ablehnung reagiert hat. Der Therapeut muss dem Patienten helfen, die Vergangenheit von der Gegenwart zu trennen, und die mit der Vergangenheit verbundenen Reaktionen zu identifizieren, zu klären und zu prozessieren. Diese Arbeit erfordert wache psychische Aufmerksamkeit und eine Beharrlichkeit, die der Patient ohne Hilfe nicht aufzubringen vermag ( Janet, 1925). Um neue Bewegungsfähigkeiten einzuüben, damit sie sich automatisieren, ist Wiederholung notwendig. Die Patienten müssen die Handlungen über einen langen Zeitraum immer wieder praktizieren und sind dabei auf die Rückmeldung des Therapeuten angewiesen. So erklärt Janet: »Zuerst verlangen diese Operationen eine starke bewusste Anstrengung, durch Wiederholung aber werden sie dank des Gewöhnungsmechanismus mit zunehmender Leichtigkeit und Schnelligkeit ausgeführt, sodass der Patient sie schließlich korrekt ausführen kann, ohne ihnen Aufmerksamkeit zu widmen und fast ohne sie bewusst wahrzunehmen. Die Edukation besteht also in der Hervorbringung und Wiederholung einer neuen Handlung, die in Anwesenheit eines kompetenten Beobachters eingeübt wird, der sie beaufsichtigt und korrigiert und sie so lange wiederholen lässt, bis die Handlung nicht nur korrekt, sondern automatisch ausgeführt wird« (ebd., S. 736).
Auch wenn Breuer und Freud (1895) erklärten, dass neue Aktivitäten psychische Aktivitäten sein sollten (deshalb die Entstehung der »Redekur«), könnte sich das psychische Geschehen ohne die Fähigkeit, entsprechende körperliche Handlungen auszuführen, als ineffektiv erweisen. Sam berichtete beispielsweise, dass er sich größere Nähe zu seiner Frau wünsche und in der Beziehung auch seine Vulnerabilität zulassen wolle. Die Spannung in seinem Körper hinderte ihn jedoch daran, Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen, und verwehrte ihm jede Intimität. 302 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
14 Triumphhandlungen
Wenn in der Therapie neue Handlungen vermittelt und eingeübt werden, lernen Patienten nach und nach deren Funktionsweise kennen, setzen sich mit den unbehaglichen Empfindungen auseinander und trennen die Vergangenheit von der Gegenwart. Die Therapeutin gibt ihnen Hausaufgaben auf, denn sie sollen lernen, die Handlung in ihrer eigenen Umgebung zu üben und auszuführen. Sam praktizierte die simple physische Aktivität der Kontaktaufnahme zunächst als rein körperliche Übung, bis er die Bewegung auf entspannte, ökonomische Weise ausführen konnte. Seine Therapeutin beobachtete ihn dabei und half ihm, die Handlung effizient und ohne übergebührliche Anspannung auszuführen. Sobald ihm dies keine Schwierigkeiten mehr bereitete, forderte sie ihn auf, sich während der Handlung vorzustellen, dass seine Frau vor ihm stehe. Sie wies ihn an, die Worte, die er sich selbst zurechtgelegt hatte, auszusprechen: »Ich muss mit dir reden.« Als es ihm schließlich gelang, auf seine Frau zuzugehen und seine Gefühle besser in Worte zu fassen, tauchte die Aktion der Kontaktaufnahme in seinem Leben auch spontan auf. Nach mehrmonatiger Therapie berichtete Sam, er habe den Ort besucht, an dem er seine Kindheit verbracht hatte, um Kontakt zu seinem besten Freund von damals aufzunehmen. Er hatte allerdings nicht gewusst, dass dieser Freund mittlerweile Alkoholiker war. Doch statt »dicht zu machen« und aggressiv zu werden, war er auf ihn zugegangen, hatte mit ihm und seiner Frau gesprochen und zusammen mit ihr sogar ein wenig geweint. Sam führte seine neue Fähigkeit, auf andere zuzugehen, um Unterstützung zu suchen, auf das Üben in der Therapie zurück. Er erklärte, dass er früher zwar über seine Schwierigkeit, seine Bedürfnisse anzuerkennen und um Hilfe zu bitten, gesprochen habe; an seinem Verhalten habe sich dadurch aber nichts geändert. Das sei erst durch die Vervollständigung der Kontaktaufnahme in der Therapie geschehen.
Schluss Janet glaubte, dass Gesundheit nicht allein durch somatische Bottom-upMethoden wiederhergestellt werden könne, sondern dass die Genesung eine Verbindung somatischer Methoden mit Top-down-Interventionen voraussetze: »So wie wir [bei der somatischen Edukation] Symptome auflösen, indem wir dem Betroffenen helfen, die von der jeweiligen Situation erforderten, nach außen gerichteten Handlungen auszuführen, müssen wir 303 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Pat Ogden
ihm nun helfen, innere Aktivitäten durchzuführen, welche Geschehnisse aus der Vergangenheit betreffen« ( Janet, 1925, S. 679). Janet war überzeugt, dass die entscheidende Wirkung somatischer Methoden »durch die Edukation des Patienten erreicht« werde: »Der Patient muss gezwungen werden, sich das, was getan wird, anzusehen, die Bewegungen zu spüren und mitzumachen, soweit er dazu in der Lage ist« (ebd., S. 757). Um dem Patienten in der sensumotorischen psychotherapeutischen Behandlung helfen zu können, diese neuen inneren Handlungen auszuführen, ist es notwendig, dass er sich in Achtsamkeit übt, denn sie ist ausschlaggebend dafür, dass er ein bewusstes Gewahrsein seiner inneren und seiner körperlichen Handlungsmuster entwickeln und seine Integrationsfähigkeit verbessern kann (Ogden & Fisher, 2015; Ogden, Minton & Pain, 2009 [2006]). Durch die achtsame Wahrnehmung des inneren Erlebens wird die Top-down-Richtung kognitiver Vorgänge genutzt, um innere Prozesse, insbesondere Körpersensationen und -impulse, bewusst zu erleben. Die Therapeutin lehrt den Patienten, auf Körperempfindungen, Impulse, Emotionen, Erinnerungen und Gedanken, die spontan während der Ausführung der Bewegung auftauchen, zu achten. So empfiehlt Janet: »Wir müssen nicht [nur] die Bewegungen des Körpers korrigieren, sondern auch die Bewegungen des Geistes. Wir sollten den Geist an sich üben, um die Entwicklung der Fähigkeiten anzuregen, die dem Patienten zu fehlen scheinen, der Fähigkeiten, die es ihm ermöglichen werden, Genesungsfortschritte zu machen« ( Janet, 1925, S. 728).
Durch die Integration von Top-down- und Bottom-up-Methoden lernt der Patient nach und nach, sein inneres Erleben achtsam wahrzunehmen. Infolgedessen kann er effizienter sowohl zwischen inneren als auch zwischen äußeren Handlungsoptionen auswählen. Janet betrachtete die Arbeit mit dem Körper als einen integralen Bestandteil der Psychotherapie. Er verstand, dass wer wir sind, was wir fühlen und was wir denken aufs Engste mit unserem Körper zusammenhängt. Er erkannte, dass die Bewegungsmuster, die Körperhaltung und die Körpersensationen Schwierigkeiten der Patienten spiegelten und aufrechterhielten, und dass hilfreiche therapeutische Interventionen deshalb außer auf Emotionen und kognitive Verzerrungen auch auf den Körper an sich zielen müssen. So schrieb er mit Blick auf die Zukunft: 304 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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»Eines Tages werden wir hoffentlich lernen, die Symptome, bei denen somatische Edukation sinnvoll ist, ebenso eindeutig zu identifizieren wie die Patienten, denen sie von Nutzen sein kann, und klar zu bestimmen, welchen Platz diese besondere Behandlungsform in der Behandlung insgesamt einnehmen sollte. Dann wird man feststellen, dass die edukative Behandlung allein nicht ausreicht, aber eine wichtige Rolle spielen kann« (ebd., S. 787).
Heutige Therapeuten könnten Janets Rat folgen und die Arbeit mit dem Körper in ihre klinische Praxis integrieren, um ihren Patienten effektiver zu helfen, von den in der Vergangenheit erlittenen Verletzungen zu genesen, intensiver in der Gegenwart zu leben und sich eine reiche und erfüllende Zukunft vorzustellen.
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Epilog Dissoziation im DSM-5: Ihre Meinung dazu, s’il vous plaît, Docteur Janet?1 Ellert R. S. Nijenhuis
Amsterdam hat in diesem Sommer eine Hitzewelle erlebt. Deshalb schien es das Beste zu sein, Zeit an den nahegelegenen Stränden zu verbringen, doch Tag für Tag reihten sich vor dem Van-Gogh-Museum Menschen zu langen Warteschlangen. Weil sie Vincents Bilder bewundern wollten, deren Schönheit und Bedeutsamkeit seinen Zeitgenossen vollständig entgangen war, ertrugen sie sogar die stechende Mittagssonne. Genies leben ihrer Zeit voraus. Stellen wir uns einmal vor, sie könnten die Jahre besuchen, die sie antizipiert haben. Wie wäre es für Vincent zu sehen, dass er nach seinem Tod die Herzen von Millionen eroberte? Wie würde sein eigenes Künstlerherz darauf reagieren? Und wie erginge es anderen bedeutenden Geistern, könnten sie die glücklichen und die weniger glücklichen Schicksale ihrer harten Arbeit in Augenschein nehmen? Ich stelle mir vor, wie Pierre Janet das DSM-5 lesen würde (APA, 2013; 2015). Ob es ihm wohl zusagte? Oder wäre er skeptisch, vielleicht gar enttäuscht? Was hätte er den Verfassern des Abschnitts über die dissoziativen Störungen und über die anderen in diesem einflussreichen Klassifikationssystem enthaltenen Verweise auf die Dissoziation zu sagen? »Mesdames, Messieurs«, beginnt der brillante Franzose, »bitte nehmen Sie meine Glückwünsche zur neuen Ausgabe des DSM-5 und insbesondere zum Abschnitt über dissoziative Störungen entgegen. Ich habe gehört, dass manche collègues tatsächlich im Sinn gehabt haben, diese Diagnosen ein für alle Mal abzuschaffen. Dieser unseligen Bewegung haben Sie erfolgreich die Stirn geboten! Als ich 1930 auf mein Lebenswerk zurückblickte, schrieb ich, dass 1 Erstveröffentlicht 2014 in Journal of Trauma & Dissociation, 15, 245–253. Ich danke Onno van der Hart für seine hilfreichen Anmerkungen zu einer früheren Textfassung.
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Ellert R. S. Nijenhuis
hysterische Patienten nach Charcots Tod offenbar verschwanden, da man sie nun anders nannte ( Janet, 1930a, S. 127). Es hieß, dass ihre Tendenz zu Dissimulationen und Suggestibilität die Untersuchung riskant und Interpretationen fragwürdig mache. Ich war und bin überzeugt, dass eine solche Kritik völlig überzogen war und auf Vorurteil und Unverständnis beruhte. Ich habe an der Illusion festgehalten, dass meine frühen Arbeiten nicht umsonst waren, sondern einige gültige Ideen enthielten, und Ihre Arbeit beweist, dass meine Hoffnung sich erfüllt hat. Bien, der Begriff Hysterie ist zwar verschwunden, nicht jedoch die Störungen, die er bezeichnete. Sie erinnern sich vielleicht daran, dass der generische Begriff Hysterie im gesamten 19. Jahrhundert eine größere Zahl psychischer Störungen erfasste als Ihre heutige Klassifikation der dissoziativen Störungen. Deshalb war ich besonders neugierig darauf zu sehen, ob die Formen der Hysterie, die im DSM-IV als Konversionsstörung und als akute (ABS) und posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) beschrieben werden, weiterhin getrennt von den dissoziativen Störungen klassifiziert werden. Oui, Mesdames et Messieurs, unserer Ansicht nach handelt es sich bei diesen Störungen um Formen der Hysterie, und ich habe zu zeigen versucht, dass ihnen eine Dissoziation der Persönlichkeit als vollständiges System in zwei oder mehr Subsysteme gemeinsam ist.« Mit besorgter Miene fährt Janet fort: »Bitte erlauben Sie mir, meinen gemischten Gefühlen bezüglich der Konversionssymptome und -störungen Ausdruck zu geben. Die Anerkennung und Klassifizierung der einschlägigen Symptome und Zustände sind zweifellos nach wie vor wichtig. Als ich mit meinen klinischen Studien begann, pflegte man sensomotorische Symptome wie Hyperästhesien, Anästhesien, Analgesie und Paralysen als Hauptsymptome der Hysterie zu betrachten. Vielleicht werfen Sie einmal einen Blick in Briquets damals schon altes Buch über die Hysterie von 1859. Phänomene wie hysterische Amnesien und psychische Intrusionssymptome, etwa Reenactments traumatischer Erinnerungen, wurden ursprünglich nicht eindeutig einbezogen. Tatsächlich hatten mes collègues et moi zu kämpfen, bis die psychischen Symptome der Hysterie Anerkennung fanden! Deshalb frage ich mich, weshalb Sie 308 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Epilog
ebenso wie die Autoren des DSM-IV die Konversionssymptome und -störungen nicht als dissoziative Symptome und -störungen betrachten. Warum kann der Erinnerungsverlust ein dissoziatives Symptom sein, nicht aber der Verlust von Körperempfindungen? Und warum können Intrusionen wie das Hören von Stimmen dissoziativ sein, nicht aber Intrusionen von Körperempfindungen oder Körperbewegungen? Ich bin überzeugt, dass Ihre Unterscheidung nicht stichhaltig ist, und sei es allein aus Gründen der konzeptuellen Logik. Alors, je suis confus. Darüber hinaus gibt es nämlich überzeugende empirische Gründe, sensomotorische dissoziative Symptome anzuerkennen. Zu meiner Zeit, also vor langer Zeit, standen uns Ihre exquisiten Methoden der empirischen Forschung und statistischen Analysen natürlich noch nicht zur Verfügung. Wenn ich mir die heutige Forschung ansehe, fällt mir auf, dass sich die klassischen sensomotorischen hysterischen Symptome als exzellente Prädiktoren der komplexen dissoziativen Störungen erweisen, und das steht im Einklang mit unseren klinischen Beobachtungen. Sie sind tatsächlich ebenso verlässliche Indikatoren für diese Störungen wie die psychischen oder kognitiv-emotionalen dissoziativen Symptome, die Sie detailliert beschrieben haben (z. B. Müller-Pfeiffer et al., 2013). Nebenbei bemerkt, scheint mir die Depersonalisationsstörung diesbezüglich eine Ausnahme zu sein, denn schließlich umfasst die Persönlichkeit der meisten Individuen mit dieser Störung nicht zwei oder mehr unterschiedliche und selbstbewusste Subsysteme. In Anbetracht der Tatsache, dass Konversionssymptome das Charakteristikum der komplexen dissoziativen Störungen sind, die das DSM-5 aufführt, scheint es mir sehr wahrscheinlich zu sein, dass es sich bei diesen Symptomen tatsächlich um dissoziative Symptome handelt, n’est-ce pas?« Einer Frage vorgreifend, erläutert Janet: »Man könnte dem entgegenhalten, dass es im Abschnitt über dissoziative Störungen des DSM-5 auf Seite 397 gleich im ersten Satz unmissverständlich heißt, dissoziative Störungen gingen einher mit der Beeinträchtigung und/oder Diskontinuität der normalen Integration von Körperrepräsentation, motorischer Kontrolle und Verhalten. Bien sûr, diese Aussage ist gewiss eine Verbesserung gegenüber der ersten Zeile des Abschnitts über dissoziative Störungen im DSM-IV. Jenes System 309 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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ging auf Körperfunktionen überhaupt nicht ein, so als hätte die gesamte Arbeit über hysterische sensomotorische Symptome und Störungen, die meine Kollegen aus dem 19. Jahrhundert und ich selbst geleistet haben, keinerlei Bedeutung mehr. Daher ist die neue Formulierung eine begrüßenswerte Korrektur. Mir ist auch aufgefallen, dass das Kriterium ›A‹ der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) Bezug nimmt auf eine deutliche Diskontinuität des Bewusstseins des eigenen Selbst und des eigenen Handelns, die mit Veränderungen der sensorisch-motorischen Funktionen einhergeht. Im Einzelnen wird aufgeführt, dass Personen mit dieser Störung ihren Körper als nicht zu ihnen gehörig und/oder als ihrer Kontrolle nicht unterliegend erleben. Wenn ich dies lese, muss ich zugeben, dass ich gehofft hatte, Sie würden die im DSM-IV aufgeführten Konversionssymptome und -störungen als – s’il vous me permettez l’expression – hysterische Symptome klassifizieren. Diese Integration hätte für größere Übereinstimmung zwischen DSM und ICD gesorgt. Ihnen ist selbstverständlich bewusst, dass die ICD-10 (WHO, 1992) dissoziative Bewegungsund Empfindungsstörungen aufführt. Ich war aber doch ein wenig enttäuscht und verblüfft, als ich auf Seite 435 des DSM-5 die Bezeichnung ›Konversionsstörung (Störung mit funktionellen neurologischen Symptomen)‹ las. Diese Bezeichnung wirft gleich mehrere Probleme auf. Worin unterscheiden sich zum Beispiel sensomotorische dissoziative Symptome von Konversionssymptomen? Wäre es ein rein terminologischer Unterschied, so hätten Sie darauf hingewiesen, oder nicht? Offensichtlich sind Sie der Ansicht, dass es reale Unterschiede zwischen den beiden Diagnosen gibt, denn andernfalls ist Ihre Aussage, dass dissoziative Symptome häufig bei Personen mit einer Konversionsstörung auftreten (S. 437), eindeutig tautologisch. Ein weiterer Grund, weshalb es mir nicht ganz leichtfällt, Ihrer Logik bezüglich Dissoziation und Konversion zu folgen, hat damit zu tun, dass Sie die Konzepte der Konversion und der funktionellen neurologischen Symptome nicht definiert haben. Ich frage mich auch, weshalb zwar eine körperliche Anästhesie, nicht aber ein Erinnerungsverlust mit einem funktionellen neurologischen Symptom verbunden sein kann. Kognitiv-emotionale dissoziative Symptome haben eine spezifische funktionelle neurologische Beschreibung. Was 310 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Epilog
das angeht, so fasziniert mich die hochinteressante Arbeit von Monsieur le professeur Markowitsch (2003). In der alten Zeit habe auch ich eingeräumt, dass jedes psychische Problem (letztlich) eine spezifische neurophysiologische Beschreibung haben wird – selbst wenn diese Beschreibung das Phänomen nie vollständig wird erklären können. Die Kenntnis neurophysiologischer Aktivitätsmuster ist nicht viel wert, solange man nicht weiß, was eine Person zu erreichen versucht und welche Bedeutung ihre Handlung für sie besitzt. Dies haben le philosophe Arthur Schopenhauer2 schon vor mir und le philosophe et biologiste Francisco Varela (1996) nach mir erklärt. Schopenhauer betonte: ›Es ist eben so wahr, daß das Erkennende ein Produkt der Materie sei, als daß die Materie eine bloße Vorstellung des Erkennenden sei: aber es ist auch eben so einseitig. Denn der Materialismus ist die Philosophie des bei seiner Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts‹ (Schopenhauer, 1859, S. 15). Im Einklang mit Schopenhauer heben die Phänomenologen hervor, dass »objektive Wissenschaft« in der Perspektive der dritten Person die Erste-Person-Perspektive voraussetzt. Philosophische Materialisten übersehen oder ignorieren diese wichtige Tatsache. In ebendiesem Sinn betont Varela (1996, S. 334), dass ›der phänomenologische Ansatz die nicht hintergehbare Natur der bewussten Erfahrung‹ zur Voraussetzung hat. ›Wir nehmen unseren Anfang von gelebter Erfahrung, und daran müssen wir uns zurückbinden wie an eine Art Leitfaden.‹ Ein ganz ähnliches Problem ist folgendes. Eine Philosophie, die Geist und Körper voneinander trennt, also Geist und Körper als unterschiedliche Substanzen betrachtet, wirft die Frage auf, wie beide miteinander kommunizieren können. Weder Descartes noch sonst jemand hat dieses Rätsel gelöst. Le problème est insoluble! Pas de dualisme! 2 Janet hatte zunächst Philosophie studiert und im Alter von 22 Jahren in Le Havre eine Stelle als Philosophielehrer angetreten. Deshalb vermute ich, dass er die Hauptschriften Schopenhauers kannte. Zweifellos vertraut war er mit Spinozas Philosophie (z. B. mit der Ethik von 1677). Sein Onkel Paul Janet, der großen Einfluss auf seinen Neffen ausübte (Ellenberger, 1996 [1974]), schrieb eine Einführung zu Spinozas Schriften und übersetzte eines seiner Bücher. Möglicherweise kannte Pierre Janet auch die Arbeiten der Phänomenologen oder zumindest die ihres Gründungsvaters, Edmund Husserl, der von 1859 bis 1938 lebte (siehe Husserl, 1970 [1936]). Zweifellos vertraut war er mit dem Werk Henri Bergsons, eines ehemaligen Klassenkameraden, der auf Phänomenologen wie Maurice Merleau-Ponty großen Einfluss ausgeübt hat.
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Warum folgen wir dann nicht Spinoza und seiner Philosophie, die Geist und Materia als zwei unterschiedliche Attribute einer einzigen Substanz betrachtet? Diese Substanz – Spinoza bezeichnete sie als Dieu ou la nature – hat wahrscheinlich noch viel mehr Eigenschaften, die wir kennen und kennen können. Wenn wir seinen philosophischen Monismus akzeptieren, dann hätten jedes Symptom und jede Störung, die das DSM-5 oder irgendein anderes Klassifikationssystem psychischer Störungen aufführt, eine psychische (psychologische/ psychosoziale) und eine funktionelle neurologische Beschreibung (selbst wenn keine der beiden ein umfassendes Verständnis ermöglicht). Deshalb frage ich, ob der Text über Dissoziation und Konversion nicht vielleicht im Sinne des schwer greifbaren philosophischen Dualismus gelesen werden sollte. Falls es sich so verhält – wie stehen wir dann zu den philosophischen Bedenken, die diese Überzeugung weckt, und falls es sich nicht so verhält – wie könnte ich dann Ihre sonderbare Unterscheidung zwischen Psychologie und Neurologie verstehen? Und wenn Sie an der Konversion festhalten wollen: Was wird in was konvertiert?« Auf Janets Miene spiegeln sich seine Bedenken hinsichtlich der Konversion, aber auch intrusive Erinnerungen an seine Auseinandersetzungen mit Freud. Seine Augen leuchten auf, als er das Thema wechselt: »Mesdames, Messieurs, lassen Sie mich in meiner kleinen Kritik innehalten, um Eigenschaften des DSM-5 in den Blick zu nehmen, die à mon avis einen Schritt nach vorn bedeuten und mir vielversprechend erscheinen. Mir geht es um zwei Dinge. Da wäre erstens folgende Aussage auf Seite 397: ›Im DSM-5 sind die dissoziativen Störungen direkt neben, aber nicht als Teil der Trauma- und belastungsbezogenen Störungen platziert, was der engen Beziehung zwischen diesen diagnostischen Gruppen entspricht. Sowohl die Akute Belastungsstörung als auch die Posttraumatische Belastungsstörung enthalten dissoziative Symptome wie Amnesie, Flashbacks, affektive Abstumpfung und Depersonalisation/Derealisation.‹ Meine Vorbehalte bezüglich der mutmaßlichen dissoziativen Natur von Depersonalisation und Derealisation einmal hintangestellt – der Text unterlässt es, die ›enge Beziehung‹ klar zu beschreiben. Ich denke, sie ist eine doppelte. 312 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Epilog
Eine dieser Beziehungen besteht darin, dass sowohl Belastungsstörungen als auch dissoziative Störungen kausal mit aversiven oder anderweitig belastenden Ereignissen zusammenhängen (es gibt aber auch andere kausale Faktoren). Interessanterweise bestätigt die heutige Forschung meine umfangreichen klinischen Beobachtungen, dass es eine Beziehung zwischen dem Schweregrad der Hysterie und dem Schweregrad, der Dauer und der Wiederholung aversiver/belastender Ereignisse gibt und dass solche Ereignisse eine kausale Rolle spielen können. Ich war nicht der Erste, der diesen Zusammenhang dokumentiert hat. In seiner empirischen Studie über die Hysterie hat Monsieur Briquet (1859) zahlreiche Fälle untersucht, und er gelangte übereinstimmend mit den klinischen Beobachtungen etlicher Vorgänger wie beispielsweise Messieurs Sydenham, Whytt, Cheyne und anderen zu dem Schluss, dass die Hysterie in den meisten Fällen kausal mit les passions de l’âme, et surtout les passions tristes zusammenhängt (Briquet, 1859, S. 196). Diese Emotionen waren in erster Linie auf Misshandlungen von Kindern durch ihre Eltern sowie auf Misshandlungen von Ehefrauen durch ihre Männer zurückzuführen. Sie konnten auch mit Beziehungsschwierigkeiten oder anderen belastenden Lebenserfahrungen zusammenhängen. Briquet stellte zudem nicht allein das bloße Vorkommen solcher Widrigkeiten und Belastungsfaktoren fest, sondern auch prädisponierende Faktoren wie ein sensibles Nervensystem, das weibliche Geschlecht und hereditäre Einflüsse. Als Autoren des DSM-5 schreiben Sie klipp und klar auf Seite 397: ›Die dissoziativen Störungen treten häufig in der Nachwirkung traumatischer Erlebnisse auf. Viele der Symptome, einschließlich Gefühle der Beschämung und Verwirrtheit über das Auftreten der Symptome oder dem Wunsch, sie zu verbergen, werden durch die Nähe zum Trauma beeinflusst.‹ Ihre ausdrückliche Anerkennung, dass die Hysterie kausal mit Widrigkeiten und Stressfaktoren (im Kontext weiterer kausaler Faktoren) zusammenhängt, ist eine glückliche Entwicklung. Sie wird für die Behandler hilfreich sein und von Patienten dankbar begrüßt werden. Eine weitere Beziehung zwischen Belastungsstörungen und dissoziativen Störungen, die das DSM-5 eindeutig anerkennt, ist das Vorliegen dissoziativer Symptome bei beiden Störungen. Diesbezüglich freue ich mich zu sehen, dass Sie die Existenz von, wie Sie es ausdrücken, ›positiven‹ und ›negativen‹ dissoziativen Symptomen anerkennen. Auf 313 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Seite 397 beschreiben Sie als positive Symptome ›unerwünschte Störungen des Bewusstseins‹, während die negativen Symptome eine ›Unfähigkeit‹ betreffen, ›Information abzurufen oder psychische Funktionen zu kontrollieren, welche normalerweise leicht zugänglich oder kontrolliert werden können‹. Wenn ich mich nicht täusche, kehren Sie damit zu meiner Unterscheidung zwischen den psychischen Stigmata der Hysterie (Verlusten oder negativen dissoziativen Symptomen) und psychischen Akzidenzien (Intrusionen oder positiven dissoziativen Symptomen) zurück. Es wundert mich aber, dass Sie Depersonalisation und Derealisation als positive Symptome betrachten. Gehen sie denn nicht mit Verlusten einher? Etwas, das vorhanden sein sollte, nämlich die Handlungen der Personifizierung und die Außenwahrnehmung, ist nicht mehr da! Positive dissoziative Symptome setzen Handlungen und Inhalte voraus, die nicht vorhanden sein sollten. Beispiele dafür sind intrusive Stimmen, Hyperästhesie und Körperbewegungen.« Janet hält es für notwendig, seiner Kritik ein wohlverdientes Lob zur Seite zu stellen: »Ich möchte noch einmal auf das Thema zurückkommen, dass sowohl Belastungsstörungen als auch dissoziative Störungen mit dissoziativen Symptomen einhergehen. Ich denke, Sie haben mit Ihrer Erklärung, dass sowohl die posttraumatische Belastungsstörung als auch die akute Belastungsstörung dissoziative Symptome aufweisen, den Nagel auf den Kopf getroffen. Doch dann verwirren Sie mich. Ein Problem ist Ihre Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Intrusionen (S. 369 u. 371). Kriterium B1 betrifft Intrusionssymptome im Sinne von ›wiederkehrende[n], unwillkürlich sich aufdrängende[n] belastende[n] Erinnerungen an das oder die traumatischen Ereignisse‹, während unter B2 ›[w]iederkehrende, belastende Träume‹ aufgeführt sind, ›deren Inhalte und/oder Affekte sich auf das oder die traumatischen Ereignisse beziehen‹. Und unter B3 führen Sie auf: ›Dissoziative Reaktionen (z. B. Flashbacks), bei denen die Person fühlt oder handelt, als ob sich das oder die traumatischen Ereignisse wieder ereignen würden‹. Naturellement, Reenactments traumatischer Erlebnisse und Ereignisse sind positive dissoziative Symptome. Aber warum sollen dann die Phänomene der Kriterien B1 und B2 nicht auch dissoziativ sein?« 314 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Epilog
Janet beharrt auf seinem Standpunkt: »Ich sage, B1, 2 und 3 beschreiben dissoziative Intrusionen, nämlich psychische Vorgänge und Handlungen und Inhalte, die das Individuum nicht integrieren konnte oder wollte. Die Unterschiede zwischen B1, 2 und 3 sind lediglich gradueller Art. Es geht um partielle und vollständigere Intrusionen, nicht um unterschiedliche Arten der Intrusion. Überdies sind traumatische Erinnerungen und Albträume die Erinnerungen und Träume einer Person. Sie existieren nicht in einem unpersönlichen Vakuum, sondern hängen mit dem, was ich als ›dissoziative Subsysteme der Ideen und Funktionen‹ bezeichnet habe, zusammen. In der Mehrzahl der Fälle mit akuter Belastungsstörung und posttraumatischer Belastungsstörung liegen zwei dissoziative Subsysteme der Ideen und Funktionen vor. Ein Subsystem, so rudimentär es sein mag, ist in der traumatischen Erinnerung oder den traumatischen Erinnerungen fixiert, und ein anderes, ungleich weiter entwickeltes Subsystem hat das traumafixierte Subsystem oder die traumafixierten Subsysteme nicht integriert. Jedes von ihnen verfügt über ein mehr oder weniger entwickeltes Selbst- und Urheberschaftsgefühl. Um zu genesen, müssen Menschen mit akuter Belastungsstörung, posttraumatischer Belastungsstörung und dissoziativen Störungen gemäß DSM-5 diese unterschiedlichen Subsysteme synthetisieren, personifizieren und repräsentieren. Gleiches gilt für ihre traumatischen Erinnerungen. Wenn sie dazu nicht imstande sind oder allzu große Angst davor haben, bleibt ihre Störung mitsamt allen Symptomen bestehen. Deshalb weiß ich Ihren Hinweis auf Seite 397, dass die positiven dissoziativen Symptome, die Intrusionen, mit Verlusten einhergehen, zu schätzen. Wenn ein traumafixiertes Subsystem auf diese oder jene Weise erfolgreich ein traumavermeidendes Subsystem intrudiert, tauchen in diesen Selbstanteilen psychische Akzidenzien oder positive dissoziative Symptome auf, zum Beispiel traumatische Erinnerungen; die traumavermeidenden Anteile hören die Stimme des sich aufdrängenden Subsystems, empfinden dessen Gefühle und körperliche Sensationen und fühlen sich von seinen Bewegungen kontrolliert. Das traumavermeidende dissoziative Subsystem versucht typischerweise, die Intrusionen zu meiden oder zu begrenzen, vor allem wenn sie mit belastenden, schwierigen Gefühlen, Gedanken 315 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Ellert R. S. Nijenhuis
und Handlungen zusammenhängen. Diese Vermeidung äußert sich in Verlusten, das heißt in psychischen Stigmata oder negativen dissoziativen Symptomen wie emotionaler und körperlicher Erstarrung. In extremen Fällen verliert das intrudierte Subsystem das Bewusstsein oder deaktiviert sich selbst, sodass das sich aufdrängende dissoziative Subsystem seine exekutive Kontrolle ungehindert ausüben kann. In diesem Kontext sind positive und negative Symptome dissoziativ: Eine Handlung oder eine Gruppe von Handlungen und implizierten Inhalten werden nicht mit einer anderen Gruppe von Handlungen und deren implizierten Inhalten integriert. Und ist nicht ebendies der Grund, weshalb Sie auf Seite 397 schreiben, dass Intrusionen mit Verlusten einhergehen? Damit hängt folgender Punkt zusammen, der mich ein wenig verwirrt: Warum wenden Sie die Unterscheidung zwischen negativen und positiven dissoziativen Symptomen nicht an, um die Symptome zu spezifizieren, die mit der akuten Belastungsstörung und der PTBS einhergehen? Was ist der Grund für diese Inkonsequenz? Haben Sie sich vielleicht von dem Wunsch leiten lassen, einen ›dissoziativen Subtypus der PTBS‹ zu spezifizieren? In dieser Formulierung begrenzen Sie das Konzept der Dissoziation auf zwei negative Symptome, die à mon avis unter Umständen nicht einmal dissoziativ sind, nämlich Depersonalisation und Derealisation. Dies würde bedeuten, dass es auch ›nicht-dissoziative‹ Subtypen der PTBS gibt. Aber das funktioniert nicht, weil Sie ja positive dissoziative Symptome anerkennen, zum Beispiel in Kriterium B3, und in Anbetracht meiner Erläuterungen zu B1 und B2. Weil Intrusionen nicht-integrierter traumabezogener Handlungen und Inhalt per definitionem dissoziativ sind, ist auch jeder Subtypus der PTBS dissoziativ. Vor dem Hintergrund meiner Kommentare zur Dissoziation, wie sie das DSM-5 versteht, schlage ich vor, zu einer einzigen Kategorie trauma- oder belastungsbezogener Störungen zurückzukehren. Jeder dieser Störungen ist eine Dissoziation der Persönlichkeit inhärent, die mal komplexer, mal weniger komplex ausfällt. Es gibt daher zahlreiche Zwischenformen der einfachen posttraumatischen Belastungsstörung und der dissoziativen Identitätsstörung als komplexestem Typus. Diese Zwischenformen haben größere Aufmerksamkeit verdient, weil, j’insiste, die einfache PTBS und die komplexe DIS Extreme auf einer Komplexitätsdimension bilden. Jede dissoziative 316 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Epilog
Störung ist durch einen spezifischen Grad an positiven wie auch negativen dissoziativen Symptomen charakterisiert. Sie alle implizieren dissoziative Subsysteme von Ideen und Funktionen, und jedes dieser Subsysteme entwickelt sein eigenes Ich-Gefühl, seine eigenen IchDu- und Ich-Objekt-Beziehungen. Wenn wir darin übereinstimmen, dass Konversionssymptome sensomotorische Äußerungen einer vorliegenden Dissoziation der Persönlichkeit des Patienten sind, dann fügt sich auch die Konversionsstörung in diese singuläre Kategorie ein. Mittlerweile haben Sie selbstverständlich schon begriffen, dass mein Vorschlag uns zur Hysterie zurückführt, das heißt zu der im 19. Jahrhundert beschriebenen Gruppe trauma- und belastungsbezogener Störungen, zu der auch die Konstrukte der akuten Belastungsstörung, der posttraumatischen Belastungsstörung, der Konversionsstörung und der dissoziativen Störungen des 21. Jahrhunderts gehören. Ainsi, chers amis, ich freue mich schon sehr auf das Treffen der Autoren des DSM-6. Wenn ihnen meine Überlegungen nur ein wenig nützlich erscheinen, könnte die Wiedergeburt der Hysterie, wenn auch unter einem anderen Namen, bevorstehen. Je vous remerci pour votre attention! Au revoir!«
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Nachwort zur deutschen Ausgabe Zur Rezeption und Wirkung von Pierre Janet Gerhard Heim
Im vorliegenden Band werden Brennpunkte einer neuen Lektüre des Janet’schen Werks behandelt und damit sowohl die Frage, was die moderne Psychoanalyse gewinnen kann, wenn sie Janet’sche Erkenntnisse berücksichtigt, als auch ob und wie diese auch sonst für die Entwicklung von Psychotherapie und Psychologie fruchtbar sein können. »Janet-Studenten« aus verschiedenen Ländern (Italien, Frankreich, Niederlande, Schweiz, USA, Australien und Deutschland) haben sich hier versammelt, um die Aktualität des Janet’schen Œuvres aufzuzeigen. Nach der englischen Originalausgabe von 2019 und den italienischen (2020) und französischen (2021) Übersetzungen liegt nun auch die deutschsprachige Ausgabe des Buches vor. Aleida Assmann schreibt: »Janets Vergessensgeschichte ist längst unterbrochen, aber noch nicht abgebrochen – auch wenn seine Rückholung in vollem Gang ist« (Assmann, 2021, S. 21). Mit Blick auf dieses Buch und weitere Publikationen kann man behaupten, sein Werk wird aus dem Archiv geholt, weil vieles in seiner Psychologie noch aktuell ist, wie kürzlich zum Beispiel Céline Surprenant (2021) im Times Literary Supplement oder Lucien Oulahbib (2020) in den Annales Médico-Psychologiques dargelegt haben. Im Jahre 1900 rief Hermann Ebbinghaus (1850–1909) auf dem 4. internationalen Kongress für Psychologie in Paris1 »das Jahrhundert der Psychologie« aus: »[M]it ihrer Ausbildung als Sonderwissenschaft hat die Psychologie in der Hauptsache die nationalen Beschränktheiten abgestreift, sie ist, wie die anderen Wissenschaften auch, international geworden« (Ebbinghaus, 1901, S. 60). Diese nun »moderne« Psychologie hat 1 Théodule Ribot war Präsident, Pierre Janet Generalsekretär und Herausgeber des Tagungsbandes.
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Gerhard Heim
sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet und kann als späte Verwirklichung von Kants Ideen zu einer empirischen Psychologie2, ausgeführt in seinen Vorlesungen über die »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« von 1798 gesehen werden (vgl. Fahrenberg, 2015, S. 154f.). Der Neukantianer Wilhelm Windelband (1848–1915) schrieb um 1900: »Eine charakteristische Veränderung in den allgemeinen wissenschaftlichen Verhältnissen während des 19. Jahrhunderts ist die stetig fortschreitende und jetzt als prinzipiell vollendet anzusehende Ablösung der Psychologie von der Philosophie« (Windelband, 1950 [1900], S. 547; Kursivierung i. O. gesperrt gedruckt). Auch in der französischen Wissenschaftsphilosophie des 19. Jahrhunderts hatte Kants Philosophie entscheidenden Einfluss (vgl. Benrubi, 1928; Fabiani, 2010). Schon vor 1900 existierten psychologische Zeitschriften, die sich im Titel noch der Philosophie zurechneten: 1876 begründete Théodule Ribot (1839–1916) die Revue philosophique de la France et de l’étranger, 1876 in Großbritannien wurden Mind. A quarterly review of Psychology and Philosophy und 1881 in Deutschland von Wilhelm Wundt (1832–1920) die Philosophischen Studien gegründet (vgl. Gundlach, 2004, S. 4).3 2 Kant im Abschnitt zur transzendentalen Methodenlehre, »Architektonik der reinen Vernunft«, am Ende der Kritik der reinen Vernunft »Wo bleibt denn die empirische Psychologie […]? Ich antworte: sie kommt dahin, wo die eigentliche (empirische) Naturlehre hingestellt werden muß, nämlich auf die Seite der angewandten Philosophie, zu welcher die reine Philosophie die Prinzipien a priori enthält, die also mit jener zwar verbunden, aber nicht vermischt werden muß. Also muss die empirische Psychologie aus der Metaphysik gänzlich verbannet sein, und ist schon durch die Idee derselben davon gänzlich ausgeschlossen« (Kant, 1977 [1781], S. 707). Vertreter der französischen Kant-Rezeption (Charles Renouvier, Émile Boutroux, Alfred Fouillée, Paul Janet, Henri Poincaré) im Fin de Siècle hatten einen grundlegenden Einfluss auf Janets L’automatisme psychologique und seinen Begriff der »Synthese« (Fedi, 2007a; Terzi, 2020, S. 8–15). 3 An der internationalen und interdisziplinären Ausrichtung der Psychologie hat sich Janet beteiligt: am Journal of Abnormal Psychology (ab 1907), an der Zeitschrift für Pathopsychologie (1914, 1915; Hrsg. Wilhelm Specht), die als Mitwirkende neben Janet namhafte Psychologen, Psychiater, Neurologen und Philosophen wie Narziß Ach, Henri Bergson, Gerardus Heymans, Felix Krueger, Oswald Külpe, Hugo Liepmann, Ernst Meumann, Georg Elias Müller, Hugo Münsterberg, Arnold Pick, Robert Sommer, Gustav Störring aufführt und offenbar wegen des Weltkriegs nach zwei Jahrgängen eingestellt wurde. Auch an der Zeitschrift Charakter. Eine Vierteljahresschrift für psychodiagnostische Studien und verwandte Gebiete, die auch auf englisch als Personality. A Quarterly for Psychodiagnostic Studies and Affiliated Sciences 1932 herauskommen sollte (Hrsg. Robert Saudek), ist Janet als Mitwirkender
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Nachwort zur deutschen Ausgabe
Etwa hundert Jahre später kann von einem »Jahrhundert der Psychologisierung« gesprochen werden, um den wachsenden Einfluss der Psychologie (inkl. Psychotherapie) in den modernen Gesellschaften zu charakterisieren. Lisa Malich und David Keller (2020) empfehlen mit ihrem Programm der »Psychological Humanities« in der gegenwärtigen Psychologie bisher eher vernachlässigte geschichts-, geistes- und kulturwissenschaftliche Zugänge, um dieses soziologische Phänomen (z. B. Ehrenberg, 2004 [1998]; Illouz, 2009) zu reflektieren.4 Eine wichtige Rolle dürften dabei die »kognitive Wende« in der Psychologie zwischen 1960 und 1970 und die gleichzeitige Expansion nicht-psychoanalytischer Psychotherapien (»psychoboom«) gespielt haben (z. B. Tändler, 2016; Malich & Balz, 2020). Diese Veränderungen hat Janet mit seiner avant la lettre »kognitiv-behavioural« orientierten »Psychologie de la conduite« (z. B. Janet, 1920b; 2013 [1938])5, neben Alfred Adler, Gordon W. Allport, Manfred Bleuler, Charlotte Bühler, Oswald Bumke, Max Dessoir, Max I. Friedländer, Hildegard Hetzer, C. G. Jung, Ernst Kretschmer, Johannes Lange, Lucien Levy-Bruhl, Otto Lipmann, A. R. Luria, William Mc Dougall, Abraham A. Roback, J. S. Rosenthal, Otmar von Verschuer und Leo S. Vygotski aufgeführt. 1933 wurde dieses internationale Forum zwischen USA, Europa und der UdSSR geschlossen. 4 Alain Ehrenberg (2004 [1998]) kommt in seinem Buch über die moderne Depression und ihre Epidemie auf die unterschiedlichen »Modelle« Janets (Defizit) und Freuds (Konflikt) zu sprechen: »Die Kontroverse zwischen Janet und Freud wiederholt sich hundert Jahre später in einem völlig anderen normativen und psychiatrischen Kontext« (ebd., S. 229). Er resümiert »Daher ist die Unzulänglichkeit für die heutige Person das, was der Konflikt für die Person der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Bei der Entwicklung von der Neurose zur Depression sind wir Zeugen einer posthumen Revanche Janets an Freud« (ebd., S. 261). 5 Bereits in seiner Monografie Les obsessions et la psychasthénie (1903) hat Janet das Handeln (action) in den Mittelpunkt gestellt, in Verbindung mit einer funktionalistischen Auffassung von Bewusstsein, wie sie von James R. Angell (1869–1949) vertreten wird: »the psychology of the how and why of consciousness as distinguished from the psychology of the what of consciousness« (Angell, 1907, S. 85). Auf dem 1st European Meeting on the Experimental Analysis of Behavior in Liège 1983 sagt Jean-Francois Le Ny: »Historically, the most interesting substitute for the notion of ›behaviour‹ was presumably the notion of ›conduct‹ developed by Pierre Janet. […] [B]ehaviourism typically led to segmentation into small units. Instead, the notion of ›conduct‹ as used by Janet and several French psychologists after him involved a large segmentation. This was directly related to their assumption of ›plans‹, a notion that was later introduced into American psychology by the successful book of Miller, Galanter and Pribram (1960)« (Le Ny, 1985, S. 16). Albert Bandura hat, obwohl Janet nicht zitierend, aber ganz in dessem Sinn eine »Psychology of Human Agency« entworfen (Bandura, 2006).
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Gerhard Heim
Grundlage seiner ressourcenorientierten6, eklektischen Psychotherapeutik und seinem Plädoyer für die Psychotherapieforschung ( Janet, 1919; 1924; s. Fischer-Homberger, 2021, S. 41–74) als alternatives Metamodell zur Psychoanalyse vorweggenommen. Noch zu seinen Lebzeiten hat das der amerikanische Neuropsychiater Percival Bailey (1892–1973; Bailey, 1928) seinem Fachpublikum bekannt gemacht.7 Inzwischen ist man auch in der französischen klinischen Psychologie dabei, Wert und Nutzen der Janet’schen Psychologie für die Psychotherapie anzuerkennen, seit 2016 gibt es ein Centre Pierre-Janet an der Université de Lorraine (Metz), das sich in die Tradition von Janet stellt.8 Die beschriebene, seit ein paar Jahrzehnten mitunter krisenhaft zum Ausdruck kommende, die Identität der Psychologie verändernde Situation kommt einer neuen Rezeption entgegen (s. a. Heim, 2013, S. 368–370, 377–380). Im Folgenden werden einige Themenkreise der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Janet’schen Œuvres aufgeführt. Etwas ausführlicher werden das Verhältnis zur Psychoanalyse und mitunter weniger bekannte Themen behandelt. Es wurde versucht, auch auf die relativ wenigen, zumeist älteren deutschsprachigen Rezeptionen hinzuweisen.
6 »En réalité, il y a une administration des forces de l’esprit, il y a une administration de la puissance psychologique comme il y a une administration de la fortune. Il y a des individus qui ne savent pas administrer leur budget. Or, il y a un budget de l’esprit […] La psychothérapie de l’avenir ne sera que l’administration des forces de l’esprit« (Janet, 1926, S. 375f.). [»In Wirklichkeit gibt es eine Verwaltung der seelischen Kräfte, es gibt eine Verwaltung der psychischen Kraft, wie es auch eine Vermögensverwaltung gibt. Es gibt Menschen, die nicht wissen, wie sie ihr Budget verwalten sollen. Die Psychotherapie der Zukunft wird nichts anderes sein als die Verwaltung der seelischen Kräfte«.] 7 Bailey war zu einem Studienaufenthalt in Paris und hörte im Wintersemester 1925/26 Janets 25 Vorlesungen am Collège de France über »Notions générales sur les stades de l’évolution psychologique« und »Le rôle de la force et de la faiblesse dans le fonctionnement de l’esprit – Le problème de l’ásthénie psychologique« (Janet, 1926). Bailey gehörte aufgrund seiner Arbeiten zur Neurochirurgie zu jenen einflussreichen Neuropsychiatern der 1950er Jahre, die den szientistischen Ansatz, dem er Janet zurechnet, gegen die damals dominierende Psychoanalyse in Psychiatrie und Psychotherapie durchsetzen wollten (Bailey, 1956). Joseph Wolpe (1963) griff das einige Jahre später in seiner programmatischen Schrift zur Verhaltenstherapie auf. 8 Vgl. Tarquinio & Bouchard (2019, S. 186): »Le Centre s’incrit dans une totale filiation à Janet«.
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Nachwort zur deutschen Ausgabe
Gelehrtenrepublik Karriere9
Janet konnte sich seit seiner Agrégation de Philosophie 1882 an der École normale supérieure (ENS) zur intellektuellen Elite zählen10, seine akademische Karriere begann er einerseits in einer für die Gruppe der Hochschulprofessoren und Gymnasiallehrer11 politisch günstigen Periode, andererseits kam es aufgrund von politischen Krisen in der Dritten Republik zu einem politischen Umschwung zu Beginn der 1890er Jahre, nämlich zu einer Polarisierung der meinungsbildenden intellektuellen Gruppierungen in rechts (nationalistisch, antisemitisch) und links (anarchistisch, sozialistisch; vgl. Charle, 1997, S. 180–189). Nach Stationen in Châteauroux und Le Havre als gymnasialer Philosophielehrer untersuchte er an der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses Le Havre Patientinnen mit Hysterie. Diese Forschungen konnte er, obwohl (noch) kein Arzt, durchführen, weil sein Vorhaben sowohl vom ärztlichen Leiter Joseph Gibert (1829–1899) als auch vom Chefarzt der Psychiatrie Léon-Jean Powilewicz (1852–1932) befürwortet und unterstützt wurde. Seine Untersuchungen am Medium Léonie Leboulanger und an weiteren psychiatrischen Patientinnen machten Janet in der Fachszene in Paris, nicht nur bei Jean-Martin Charcot (1825–1893) in der Salpetrière bekannt, besonders seine philosophische Dissertation L’automatisme psychologique ( Janet, 1889a), die er Dr. Gibert und Dr. Powilewicz gewidmet hat. Wieder in Paris studierte Janet Medizin, promovierte als Charcots letzter Doktorand über die Psychopathologie der Hysterie ( Janet, 1893a) und leitete das psychologische Labor der Salpetrière bis 1910 (Carbonel, 2006; siehe den Abschnitt »Pathopsychologie«. Er gehörte wie Georges Dumas, Henri Wallon, Charles Blondel, Daniel Lagache oder in Deutschland Karl Jaspers zu den médecin-philosophes (Heim, 1999). 9
Grundlage ist zum Teil das Buch von Henri F. Ellenberger (1973 [1970]), insbesondere das sechste Kapitel über Janet (S. 449–560). Viele neue Details über Janets Gelehrtenleben und Werk finden sich in der Einleitung und im Nachwort zu Les formes de croyance (Gumpper & Serina, 2021, S. 11–116; Serina & Gumpper, 2021, S. 571–605). 10 Später berühmte Kommilitonen seines Jahrgangs waren Émile Durkheim (1858–1917), Henri Bergson und Jean Jaurès (1859–1914) (vgl. Ellenberger, 2005, S. 455). 11 Mit der Laizisierung des Unterrichtswesens begann 1882 »das goldene Zeitalter der Philosophielehrer« in der Dritten Republik (vgl. Brooks III, 1998, S. 136).
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Gerhard Heim
Der entscheidende Karriereschritt war seine Berufung auf den Lehrstuhl für Experimentelle und Vergleichende Psychologie am Collège de France ab 1901. Théodule Ribot (1839–1916), der den Lehrstuhl von 1888 bis 1901 besetzte, favorisierte ihn als Nachfolger, nachdem Janet ihn dort schon von 1895 bis 1897 vertreten hatte und Lehrbeauftragter für Psychologie an der Sorbonne (1898–1902) gewesen war (Brooks III, 1993). Janet wurde von Henri Bergson (1859–1941), bereits Lehrstuhlinhaber für griechische Philosophie (später moderne Philosophie) am Collège de France, bei seiner Bewerbung unterstützt und setzte sich gegen Alfred Binet (1857–1911)12 durch. Dort entwickelte er in den Vorlesungen bis 1934 seine »Psychologie de la conduite« ( Janet, 2004)13. Die Vorlesungsreihen von 1926 bis 1932 wurden von Miron Epstein (1907–1997) mitstenografiert und als Bücher veröffentlicht (vgl. Nicolas & Ferrand, 2000)14. Er hatte zahlreiche, auch prominente Hörer, darunter Psychoanalytiker, Schriftsteller, Theologen und Künstler15, zwischen 1926 und 1931 wurden seine Vorlesungen im Radio übertragen. Bereits 1917 wurde er von seinem Kollegen an der Yale University James R. Angell (1869–1949) in dem 12 Zur Entwicklung der Beziehung zwischen Binet und Janet ist wenig bekannt (vgl. Ellenberger, 1973 [1970], S. 483f.). Ein Vergleich von Binets Les altérations de la personnalité (1892) mit Janets Studien zu Automatismus und Hysterie wäre aufschlussreich. Zu Binet vgl. Foschi & Cicciola (2006). 13 Zur Ausrichtung der Psychologie am Collège de France von Théodule Ribot, über Pierre Janet, Henri Piéron bis zum heutigen Lehrstuhlinhaber Stanislas Dehaene vgl. Carroy et al. (2015). 14 Miron Epstein (1907–1997) hat Janet überzeugt, seine Vorlesungen zu veröffentlichen und hat deren Herausgabe bei den Verlagen Chahine und Maloine supervidiert. Auch für die Herausgabe des unvollendeten Manuskripts von Janets »Les formes de croyance«, das erstmals 1973 Claude Prévost zugänglich war und in der Société Pierre Janet in den 1980er Jahren diskutiert wurde, hat sich Epstein eingesetzt, was dann aber erst einige Jahrzehnte später, 2021, realisiert werden konnte (vgl. Gumpper & Serina, 2021, S. 505f.). 15 Unter anderem Eugénie Sokolnicka, Charles Blondel, Jacques Rivière, Alain-Fournier, Charles Péguy, Henri Franck, Paul Masson-Oursel, Hélène Antipoff, John Collier, Céline Arnauld (Carolina Goldstein), Natalie Sarraute, Paul Dermée, Charles Baudouin, Agostino Gemelli, Jessie Murray, May Sinclair, André Druelle, Léon Bopp, Valéria Dienes, Marcel Jousse, Ernst Harms, Jean Cavaillès, Juliette Favez-Boutonier, Benjamin Subercaseaux, Rodolphe Mathieu, Eugène Minkowski, Fracoise Minkowska-Brokman, Mary Colum, Hans Bender, Dusan Matic, Walter M. Horton, Jean Delay, Julian de Ajuriaguerra, C. G. Jung, Percival Bailey, Jean Piaget, Ignace Meyerson, Miron Epstein, Wladimir Drabovitch und Harry Kozol (vgl. Gumpper & Serina, 2021, S. 27f., S. 611, Anm. 77).
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Buch Science and Learning in France als »giant among scientists, who of contemporary French psychologists is by far the best known to American students« (Angell, 1917, S. 308) beschrieben. Janet führte eine psychotherapeutische Privatpraxis in der Rue Varenne 54 und arbeitete auch im Maison de Santé in Vanves, nach seiner Emeritierung hospitierte er in der Klinik St. Anne (siehe den Abschnitt »Foucault«). Henri Piéron (1881– 1964), später ebenfalls Lehrstuhlinhaber für physiologische Psychologie am Collège de France hat das lange Gelehrtenleben Janets anlässlich von dessen 100. Geburtstag 1959 beschrieben (Piéron, 1960). Janet hatte internationale Kontakte, in erster Linie zu amerikanischen Wissenschaftlern (z. B. William James, James Mark Baldwin, James Jackson Putnam, Morton Prince, Hugo Münsterberg, Adolf Meyer, Joseph Jastrow). Höhepunkte seiner Reputation in den USA waren seine HarvardVorlesungen über Hysterie von 1905 ( Janet, 1907) und die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Harvard-Universität 1936 (vgl. Ellenberger, 1978, Trochu, 2008) mit einem Vortrag über »Psychological strength and weakness« ( Janet, 1937a), der zusammen mit seinem Enzyklopädie-Artikel »Psychologie de la Conduite« ( Janet, 1938) den Stand seiner Psychologie zusammenfasst. Die Aufnahme in die Académie Française (»die Unsterblichen«) auf den Stuhl des 1941 verstorbenen Henri Bergson scheiterte im April 1945 (vgl. Gumpper & Serina, 2021, S. 86, S. 628, Anm. 327).16 Politische Orientierung17
Es sind kaum politisch relevante Äußerungen Janets bekannt. Als junger Philosophielehrer hat er in Châteauroux im Jahr 1883 einen engagierten, proudhonistisch orientierten Vortrag über das Eigentumsrecht in der laizistisch-republikanischen Ligue française de l’enseignement18 gehalten ( Janet 1883; Laffey, 1983, S. 275), der eine »sozialliberale« Prägung vielleicht auch durch seinen Onkel Paul Janet nahelegt. In diesem allerersten veröffentlichten Text, nicht mehr erhältlich, äußerte Janet Ansichten, die er, wie Prévost (1973b, S. 329) anmerkt, auch im späteren Alter noch pflegte. 16 Gewählt wurde der Philosoph und Mathematiker Édouard Le Roy (1870–1954). 17 S.a. Prévost (1973b, S. 319–335): Kapitel 6.3 »Janetisme et politique«. 18 1866 gegründeter republikanischer laizistischer Verband zur Förderung der Volksbildung, zuerst auf lokaler Ebene, ab 1881 national.
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Er schrieb: »Die wahre Quelle des Eigentums bei den Menschen und die wahre Grundlage ihres Rechts ist die Arbeit«19 (zit. nach Prévost, 1973b, S. 327). Vermögen, das aufgrund von Erbschaften, zufälligen Funden oder anderen glücklichen Zufällen besteht, sei damit nicht gleichrangig. Damit sich eine Demokratie halten könne und nicht in Bürgerkrieg oder Diktatur münde, müsse der Kampf zwischen Arm und Reich durch gerechtere Verteilung des Eigentums verhindert werden. Unter anderen propagierte er dabei einen evolutionären Weg: Gleichheit werde tendenziell durch Bildung erreicht. Er resümierte: »Das goldene Zeitalter, wenn es jemals existieren sollte, liegt vorne, nicht hinten«20 (zit. nach Prévost, 1973b, S. 329). Im Anschluss an seine kurze Zeit in Châteauroux hatte er in Le Havre offenbar Kontakte mit republikanisch-liberalen Kreisen um den Bürgermeister Jules Siegfried21, denen auch Dr. Gibert angehörte. Janets erste Probandin, Léonie Leboulanger, deren telepathische Fähigkeiten er in Le Havre 1885 mit Hypnose untersuchte, sollte zehn Jahre später in der Dreyfus-Affäre eine Rolle spielen. Janets ärztlicher Förderer in Le Havre, Dr. Gibert, war ein Anhänger der parapsychologischen Forschung und Dreyfusard der ersten Stunde. Er stellte 1895 einen Kontakt zwischen Léonie, inzwischen als Hellseherin bekannt, und Alfred Dreyfus’ Bruder Mathieu her, nachdem er von ihr auf spiritistischem Weg von Unregelmäßigkeiten im Gerichtsverfahren erfahren hatte, die er dann vom Staatspräsidenten Félix Faure, mit dem er befreundet war, im vertraulichen Gespräch bestätigt fand. Diese Information konnte aber nicht offiziell verwendet werden (vgl. Carroy, 2002). Als dann die Dreyfus-Affäre eskalierte, bekannten sich renommierte Professoren als »Dreyfusard-militants« (z. B. Émile Durkheim, Charles Richet, Hippolyte Bernheim, Émile Duclaux) – der politisch engagierte Intellektuelle wurde geboren ( Jurt, 2012). Janet hat wohl als »Dreyfusard-modéré« 1899 eine Petition für eine Revision des Prozesses (»Appel á L’Union«) unterzeichnet (vgl. Carroy et al., 2006, S. 92). Im Vorwort zu dem Buch Fragilité de la liberté et séduction des dictatures (Drabovitch, 1934) des Pavlov-Schülers Wladimir Drabovitch (1885– 19 »La vraie source de la propriété chez les hommes et le vrai fondement de leur droit, c’est le travail.« 20 »L’âge d’oor, s’il doit exister jamais, est en avant, non en arrière.« 21 Zum einflussreichen protestantischen Unternehmer und Politiker Jules Siegfried vgl. Elwitt (1975, S. 208f.). Seine Ehefrau Julie war eine bekannte Frauenrechtlerin.
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1943) reagierte Janet (1934) zurückhaltend auf die vom Autor angesichts der durch die Diktaturen bedrohten Demokratien vorgeschlagene Anwendung der Psychologie und Sozialpsychologie (mit Bezug auf Janet, Iwan Pawlow, Gabriel Tarde) bei der Etablierung einer »autoritären Demokratie«, die Parteien und extremistische Medien verbieten sollte. Janet verwies auf die Relevanz des Studiums des Verfolgungs- und Beeinflussungswahns ( Janet, 1934, S. 17), mit dem er sich seit einigen Jahren beschäftigte ( Janet, 1932a; 1932b) und weiter beschäftigt hat ( Janet, 1937b). Drabovitch kam schon etliche Jahre vor 1917 aus Russland nach Frankreich, war seither als Publizist tätig und engagierte sich gegen Sympathisanten des Bolschewismus und gegen französische Pazifisten (um den Philosophen Alain), schlug sich aber wohl nicht auf die Seite rechter antidemokratischer Gruppierungen (vgl. Ohayon, 2012). Beachtenswert ist, dass unter renommierten Psychologieprofessoren wie Henri Piéron oder Henri Wallon, mit denen Janet verkehrte, Sympathisanten der Kommunisten waren. Andererseits war sein Schwiegersohn, der Kinderarzt Édouard Pichon (1890–1940) mit der nationalistischen und antisemitischen Action Française verbunden, gleichzeitig aber Psychoanalytiker und Linguist (siehe den Abschnitt »Psychoanalyse«). Philosophie
Janets philosophische Ausbildung war der Spiritualismus, die im 19. Jahrhundert in Frankreich das Bildungswesen bestimmende Philosophie. Diese war eine Antwort auf den Materialismus des 18. Jahrhunderts. Die philosophische »subjektive« Psychologie von Maine de Biran (1766–1824) und seiner Nachfolger (s. Brooks III, 1998) hatte ein großes Gewicht. Die Auseinandersetzung der spiritualistischen Richtungen mit dem aufkommenden Positivismus, den antimetaphysischen Naturwissenschaften und dem vermittelnden Neukantianismus trug maßgeblich zur Entstehung der französischen Soziologie (Émile Durkheim) und Psychologie (Théodule Ribot) wie auch zum Erfolg des amerikanischen Pragmatismus in Frankreich bei (vgl. Fabiani, 2010, S. 192f.). Zur damaligen französischen Philosophie sei verwiesen auf das gut lesbare, ausführliche, auf Deutsch geschriebene Buch von Isaak Benrubi (1928), auf Jean-Luc Fabiani (2010), die Sonderausgabe des British Journal for the History of Philosophy (Sinclair & Antoine-Mahut, 2020) und speziell zum spiritualistischen Hintergrund 357 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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von Ribot, Janet und Durkheim auf das aufschlussreiche Buch von John Brooks III (1998). Laurent Fedi (2007a) erkennt in Janets Methodologie in L’automatisme psychologique den neukantianisch geprägten Konventionalismus (begründet durch Henri Poincaré und Pierre Duhem), vermittelt durch einen seiner Lehrer an der ENS und Vorsitzenden der Prüfungskommission seines Doktorats, Émile Boutroux (1845–1921).22 Überragende Bedeutung für die Einführung einer akademisch eigenständigen wissenschaftlichen Psychologie in Frankreich und damit auf die philosophisch-wissenschaftliche (»experimentelle«23) Ausrichtung von Pierre Janet hatte sein Onkel Paul Janet (1823–1899). Hierzu gibt es neuere Arbeiten von Denise Vincenti (2019) und (zur Korrespondenz zwischen Onkel und Neffen) von Florent Serina (2020a). Abgesehen von den Abhandlungen Théodule Ribots dürfte auch das Werk Psychologie in Umrissen auf der Grundlage der Erfahrung des dänischen Philosophen und Theologen Harald Höffding (1843–1931; Höffding, 1887), das häufig neu aufgelegt wurde und zu dessen französischer Übersetzung Janet das Vorwort schrieb ( Janet, 1900), Janets wissenschaftstheoretische Auffassungen zur Psychologie wiedergeben. Bisher offenbar nicht diskutiert wird Pierre Janets lateinische These ( Janet, 1889b) über Francis Bacon (1561–1626), dem frühneuzeitlichen »Programmatiker« einer empiristischen Verhaltenspsychologie (vgl. MacDonald, 2007). Von Bedeutung dürfte auch sein, dass Janet (1886e) eine Neuauflage von Nicolas Malebranches’ (1638– 1715) De la recherche de la vérité. Livre II mit seiner Einleitung herausgegeben hat. Der vollständige Titel weist es als methodologisches Werk aus, in dem die Anwendung des menschlichen Geistes behandelt wird, um in den Wissenschaften den Irrtum zu vermeiden. Weniger diskutiert wird auch, abgesehen von dem Buch über die »Psychophilosophie von Pierre Janet« (Prévost, 1973b), die intellektuelle Verbindung zu Janets Kommilitonen, Kollegen und lebenslangem Freund Henri Bergson (s. »Zwei Briefe von Bergson« in Janet, 2013, S. 323f.). Bergson, Nobelpreisträger 1927 und Vollender der spiritualistischen Philosophie (Engel, 2009), hat philosophisch-psychologische Themen in seinem Werk behandelt (Zeit, Gedächtnis, Energie, Kreativität), seine Philosophie 22 Zum philosophischen Hintergrund von Janet siehe zusammenfassend Fischer-Homberger & Heim (2021). 23 Zum besonderen Verständnis der experimentellen Psychologie an ihrem Beginn bei Ribot, Binet, Janet und anderen vgl. Carroy & Plas (1996).
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gilt als Höhepunkt und Abschluss des französischen Spiritualismus (ebd.). Hironobu Matsuura (2008) stellt die Auffassungen Charcots, Janets und Bergsons zur Aphasie einander gegenüber, Nicolas Cornibert (2012) vergleicht Janets Psychasthenie in Les obsessions et la psychasthènie von 1903 mit der »Inattention à la vie« in Bergsons Matière et mémoire von 1896, Giuseppe Bianco (2020) beleuchtet Bergsons Interesse an Medizin und Psychologie.24 Das Philosophie- und Psychologiestudium zweier französischer Philosophen, Jean Paul Sartre (1905–1980) und Michel Foucault (1926–1984), ist auch von der Lehre Janets geprägt worden (eine eingehende Würdigung dieser Autoren und ihrer Bezüge zum Werk Janets kann in diesem Nachwort nicht erfolgen). Sartre, ENS-Absolvent (1924–1928), lehrte nach der Agrégation in den Jahren 1931 bis 1935 Philosophie in Le Havre. Das Unterrichtsprogramm in Philosophie für die Lyzeen (»Syllabus«) umfasste seit 1832 Psychologie, ebenso die Revisionen von 1874, 1880 und 1902 (Brooks III, 1998, S. 249–256; Goldstein, 2013). Janet war Autor des Manuel de Baccalauréat ( Janet, 1904; vgl. Heim, 2006), das zwischen 1894 und 1930 insgesamt 14 Auflagen erlebte. In den 1930er Jahren verfasste Sartre einige Arbeiten zur phänomenologischen Psychologie, Vorarbeiten zu seinem Roman La Nausée von 1938 und Vorläufer seines philosophischen Hauptwerks L’être et le néant von 1943: Auf Janet beziehen sich insbesondere der »Entwurf einer Theorie der Emotion« (Sartre, 1964 [1939]; vgl. Fell III, 1965; Tarantino, 2007; Taylor, 1995; Vanello, 2020) und Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft (Sartre, 1971 [1940]; vgl. Stawarska, 2005). Foucault hat Anfang der 1950er Jahre Diplome in Psychopathologie und experimenteller Psychologie erworben und war 1952 in der Klinik St. Anne in Paris bei Jean Delay beschäftigt. In seinem ersten Buch, Maladie mentale et personnalité (Erstauflage von 1954 ist vergriffen), geht er 24 Hingewiesen sei auf den phänomenologischen Philosophen Michel Henry (1922–2002), der in seinem kulturkritischen Buch Die Barbarei (Technik als »Selbstzerstörung« des Lebens) auf Janets psychologisches Modell in De l’angoisse à l’extase eingeht (Henry, 1994 [1987]). Henry gehört zu einer Tradition der »französischen Reflektions- und Geistesphilosophie«, die sich wie der Spiritualismus auch auf Maine de Biran bezieht (Kühn, 1993). Sebastian Knöpker (2017) schlägt vor diesem Hintergrund eine Weiterentwicklung der Psychopathologie und Persönlichkeitspsychologie von Janet zu einer »Glückstherapie« vor.
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auf Janet ein und referiert auf einigen Seiten dessen Psychasthenie-Konzept (dt. Foucault, 1968, S. 12, 39–45), sowie die Freud’sche Psychologie. Janets vorangegangene Arbeiten zum Automatismus, zur Dissoziation bzw. Hysterie werden von Foucault nicht erwähnt, sondern er bezieht sich, wie er in einem anderen Text aus jenen Jahren (s. Foucault, 2001 [1957], S. 182, Anm.) anführt, auf Les Obsessions et la psychasthénie (1903), Les Névroses (1909), De l’angoisse à l’extase. Études sur les croyances et les sentiments (1926) und Les débuts de l’intelligence (1935a). Auch in einer weiteren frühen Studie (Foucault, 2001 [1957]) sowie seinen späteren bekannten Monografien geht Foucault mitunter auf die Psychologie Janets ein (vgl. Prevost, 1973b, S. 313–319; Novella, 2008; Joranger, 2016; Brückner et al., 2017). Auch Pierre Janet hospitierte in den 1940er Jahren in der Klinik St. Anne und hatte dabei persönlichen Kontakt mit prominenten Psychiatern wie Jean Delay (1907–1987; Delay, 1963), Henri Baruk (1897–1999; Baruk, 1987), Eugène Minkowski (1885–1972; Minkowski, 1939), Henri Ey (1900–1977; Ey, 1968), Persönlichkeiten, von denen Foucault, wenn er auch nicht allen begegnet sein mag, dort sehr wahrscheinlich gehört hat. Für diese Psychiater war insbesondere Janets Psychasthenie-Theorie von Interesse (vgl. Pichot, 1996, S. 127f., 141; Fedi, 2007a). Besonders der bis in die 1960er Jahre weltweit renommierte Ey (s. Kisker, 1967) versuchte Janets Psychologie der hierarchisch gegliederten Tendenzen, wie dieser sie insbesondere seit seinem Psychasthenie-Buch entwickelt hat, mit seiner von Hughlings Jackson (vgl. Meares, 1999) abgeleiteten evolutionären, neurobiologisch fundierten »organo-dynamischen« Psychiatrie (Ey, 1999 [1939]; 1952; s. aber Chazaud, 2004) zu vereinbaren.
Literatur und Kultur Marie Guthmüller befasst sich in ihrer Monografie Der Kampf um den Autor (2007) mit der »Entthronung« des literarischen Autors im Frankreich der Belle Epoque durch die experimentelle physiologische, das heißt naturwissenschaftliche Psychologie, einer »Psychologie sans âme« (Ribot). Literatur sowie Literaturkritik und die neue Psychologie hätten sich hier durchdrungen und zugleich abgegrenzt. Während das psychiatrische Interesse einen den Autor pathologisierenden Degenerationsdiskurs hervorgerufen habe, habe sich die (spiritualistische) Philosophie mit dessen Genialität beschäftigt. Die neue psychologische Perspektive wiede360 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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rum habe den Schaffensprozess, die Arbeitsweise des Autors thematisiert. Janet und sein L’automatisme psychologique von 1889 werden in dieser umfangreichen Arbeit eher am Rande erwähnt, weil die maßgeblichen Figuren für die Einführung dieser Psychologie Hippolyte Taine (1828–1893; De L’intelligence von 1870) und Theodule Ribot (1839–1916; Monografien über die englische von 1870 und die deutsche Psychologie von 1879) eine Generation älter sind als Janet. Marc Micale hebt in seinem Sammelwerk The Mind of Modernism. Medicine, Psychology, and the Cultural Arts in Europe and America, 1880– 1940 hervor: »[P]sychoanalysis was only one of many emerging models of mind […] that contributed to the constitution of the modern psychological self« (Micale, 2004, S. 7). Er fährt fort: »[I]t would be a mistake to exclude from historical consideration theories and practices that the medical sciences of our own day judge to be wrong, silly, unscientific« (ebd., S. 10). Gleichwohl habe es zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ressentiment und Widerstand gegen den modernen Psychologismus gegeben, besonders scharf sei der Antagonismus zwischen Philosophie (z. B. bei Edmund Husserl, Gilbert E. Moore, Gottlob Frege) und Psychologie gewesen. Fernand Vial geht in seinem posthum erschienenen Buch The Unconscious in philosophy, French and European literature. 19th and 20th century (2009 [1986]) auf Janets L’automatisme psychologique (1889a) ein, in dem dieser unbewusste bzw. unterbewusste Phänomene untersucht habe, die dann in der zeitgenössischen Literatur auf großes Interesse gestoßen seien: dissoziative Phänomene, sukzessive und simultane Verdoppelung des Ich, das Auftauchen neuer Ideen, unterschwellige Wahrnehmungen, mystische Erfahrungen, die nur graduelle Unterscheidung zwischen normalem und abnormem seelischen Leben. Mit der damaligen experimentellen Psychologie des Unbewussten verbindet Vial neben Janet auch die Beiträge von Ribot, Binet, Bernheim, F. W. H. Myers und Prince. Obwohl der direkte Einfluss experimenteller Psychologen auf die Literatur wahrscheinlich weniger entscheidend gewesen sei als der von Bergson, hätten ihre Theorien in den Fachjournalen mittels Magazinen allgemeinen Interesses auf die öffentliche Meinung gewirkt und letztlich auf die Literatur selbst (Vial, 2009 [1986], S. 120). Es sei Henri Bergson und mit ihm seine Rezeption von Maine de Biran, Schopenhauer und von Hartmann gewesen, durch die die Philosophie des Unbewussten nach Frankreich gebracht worden sei, Bergson sei eine der Hauptverbindungen zwischen Philosophie und Literatur (ebd., S. 104). Der Autor verweist in seinem Kapitel über das Unbewusste 361 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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in der Psychoanalyse auch auf die Besonderheit der zunächst zögerlichen Aufnahme der Psychoanalyse in Frankreich, referiert die Kritik Janets an Freud sowie Freuds Neigung, Janets mögliche Einflüsse auf die Psychoanalyse abzustreiten, erwähnt auch Freuds spärliche Bergson-Rezeption. Im speziellen literaturwissenschaftlichen Teil seines Buches erkundet Vial Einflüsse Bergsons, Charcots, Freuds und Janets bei Marcel Proust. Obwohl nicht belegt sei, dass Proust Freuds Ideen zum Unbewussten kannte, könne man zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen Proust und Freud erkennen (ebd., S. 177): »Prousts Werk stellt die vollständigste Verwendung von Themen des Unbewussten dar, die bis dahin in der Literatur erschien. Er vermied das metaphysische Unbewusste, das keinen Platz in einer psychologischen Konstruktion hat. Innerhalb dieser Begrenzung, haben fast alle Ideen von Bergson, von Hartmann, und Schopenhauer, und viele der Entdeckungen von Freud und Janet einigen Widerhall in seinem Werk« (ebd., S. 178).
Hector Pérez-Rincón (2008) stützt sich auf die Monografie von Edward Bizub (2006)25, wenn er auf janetianische Quellen bei Proust hinweist. Janet zitiere zwar selten Proust (z. B. Janet, 1926/1928, II, S. 222; Janet, 1929, Conférence XXIII, 11. März 1929). Bizub gehe ausführlicher auf Janets erste Fallberichte ( Janet, 2005) und Arbeiten seines Bruder Jules Janet ein, des Weiteren beschreibe er die Wirkung von Paul Sollier (1861– 1933), 1905/06 Arzt von Proust (1861–1933). Dieser sei ebenfalls Schüler von Charcot gewesen (vgl. Walusinski, 2014), aber anders als Janet hinsichtlich der traumatischen Hysterie neurobiologisch orientiert, seine Behandlung habe dennoch in einer Art intensiver Körperpsychotherapie bestanden (vgl. Evans, 1991, S. 94–98). Solliers Ideen zu unwillkürlichen emotionalen Gedächtnisphänomenen seien, so Bizub, von Proust übernommen worden.26 Michael R. Finn bezeichnet Janet in seinem Buch Figures of the Pre-Freudian Unconscious. From Flaubert to Proust (2017) als einflussreichen »Eckpfeiler« einer szientistisch motivierten Beschränkung 25 [»Proust und das geteilte Ich. Die Recherche, ein Schmelztiegel der experimentellen Psychologie 1874–1914«]. Liegt nicht in deutscher Übersetzung vor. 26 Mögliche Janet’sche Einflüsse werden in dem Symposiumsband der deutschen MarcelProust-Gesellschaft Prousts Recherche und die Medizin (Föcking, 2014) allerdings nicht erwähnt.
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des Begriffs des Unbewussten auf krankhafte Vorgänge, als Vertreter einer normativen Alltagsrealität (ebd., S. 188f.). Manfred Dierks (1999) hat die implizite Bedeutung der Janet’schen Psychologie, das heißt hier des Psychasthenie-Konzepts auf das Werk von Thomas Mann (und vermutlich auch auf Heinrich Mann, Robert Musil und Arthur Schnitzler) und seine Verwandtschaft mit der Selbstpsychologie von Heinz Kohut hervorgehoben: Janet sei neben Freud und Jung der »dritte Psychologe der Moderne«. »Hysterie« in der modernen Literatur und Filmkultur ist Thema des Buches Das verknotete Subjekt (1998) von Elisabeth Bronfen. In einem Kapitel (S. 495–519) über Janet und Madeleine resümiert sie: »In seiner Schlussbemerkung veranschaulicht Janet überzeugend, daß diese eigenartige Interaktion von Arzt und Patientin durch Ebenbürtigkeit charakterisiert war« (Bronfen, 1998, S. 519). Valentin Mandelkow (1999) beschäftigt sich in seiner literaturgeschichtlichen Studie über den »Ennui« (Langeweile) in der französischen Literatur und Literaturkritik auch mit dessen Beziehung zum Begriff der Handlungshemmung bei der Depression. Aufgrund einer kurzen Bemerkung von Wolf Lepenies in dessen Buch Melancholie und Gesellschaft (1969, S. 207) zu Janets Ausführungen über die »Handlungsfurcht« (»la peur d’action«; Janet, 1920a) greift er Janets Ansicht zur literarischen Produktion als Kompensation der Langeweile (Mandelkow, 1999, S. 50) auf und vergleicht sie mit anderen Autoren seiner Zeit. In der Analyse der Untätigkeit durch Janet changiert Handlungshemmung zwischen Psychopathologie und Attentismus (z. B. ebd., S. 296f.). Dies könnte bereits auf Janets spätere Ausführungen über die Psychologie der Mystiker verweisen. Sandra Janßen (2013) behandelt sowohl die deutsch- als auch die französischsprachige psychologisch-psychiatrische Ideengeschichte (ausführlich zu Janet) zum Thema Einbildungskraft bzw. Imagination (Halluzination, Träume, traumatische Reminiszenzen, Depersonalisation) von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis ca. 1930, um vor diesem Hintergrund Erzählungen von Gustave Flaubert, Anton Tschechov und Robert Musil zu analysieren. Bereits an anderer Stelle hat sie die autobiografisch motivierten Rönne-Novellen aus dem »Gehirne«-Zyklus von Gottfried Benn (1886– 1956) untersucht ( Janßen, 2010). Benn sei bei der Lektüre von »modernen psychologischen Arbeiten, zum Teil sehr merkwürdigen, namentlich der französischen Schule« (Benn, zit. nach Janßen, 2010, S. 259f.) auch auf den Begriff der »Psychasthenie« gestoßen. Janßen schildert den »Paradig363 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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menwechsel« von der damals etablierten Neurasthenie- zur PsychasthenieKonzeption, den Janet vollzogen hat, indem er Störungen des Realitätsbezugs und der Selbstbezüglichkeit als Hauptaspekte Letzterer herausgestellt habe. Diese habe Benn in den besagten Novellen thematisiert. Eine Reihe weiterer Studien zur Literatur und Kulturgeschichte der Moderne zeigen eine nicht unbedeutende Janet-Rezeption bzw. -Wirkung auf. Im Buch The Theater of Trauma: American Modernist Drama and the psychological struggle for the American Mind, 1900–1930 von Michael Cotsell (2005) steht Janets Dissoziationskonzept im Mittelpunkt. Er nennt eine Reihe von Autoren, die von Janet direkt oder indirekt (via William James) beeinflusst seien: T. S. Eliot, Gertrude Stein, Hugo von Hofmannsthal, unter anderem in erster Linie den Dramatiker Eugene O’Neill. Murray McArthur (2010) bespricht die Hinweise auf Janet-Lektüren in Poemen von T. S. Eliot (z. B. Hysteria, Mr. Apollinax von 1915). Jamie Callison (2017) geht am ausführlichsten auf die Einflüsse der Psychologie von Janet, William James und Frederick W. H. Myers (1843–1901) bei T. S. Eliot ein. George M. Johnson (2019) sieht Johann Friedrich Herbart, Janet, Bergson und Myers als bisher zu wenig beachtete Repräsentanten der »vor-freud’schen« dynamischen Psychologie und Psychotherapie in dem Sammelwerk Excavating Modernity. Physical, temporal and psychological strata in literature, 1900–1930. Dabei verweist er auf Janet-Kenntnisse modernistischer Autoren wie zum Beispiel Virginia Woolf oder May Sinclair. Ausführlicher behandelt er Myers’ Einfluss, als sich Ende des 19. Jahrhunderts viele britische Schriftsteller von der »Psychical Research« (Parapsychologie) faszinieren ließen. In dem Sammelwerk zur »Archäologie des Unbewussten« aus italienischer Perspektive bespricht Sara Boezio (2020) das 1899 erschienene, weitverbreitete Buch Die Träume (I sogni), des italienischen Arztes und Experimentalpsychologen Sante de Sanctis (1862–1935) das von Freud zwar negativ, hingegen von Claparède, Ribot und anderen positiv rezensiert wurde. De Sanctis sehe Träume als Mittel zur Erforschung der individuellen Psyche. Zudem möchte er, anders als Wundt, auch das gesamte Bewusstseinskontinuum zum Gegenstand der psychologischen Forschung machen. Die Autorin schreibt folglich über die Verbindung von de Sanctis »oneiroidem Bewusstsein« zu Janets »Unterbewussten« (in L’automatisme psychologique) und de Sanctis Verhältnis zum »Unbewussten« in der Psychoanalyse. Der Begriff der Dissoziation wurde vermutlich aufgrund der Lektüre von Janets Studien von dem symbolistischen Schriftsteller und Theoretiker 364 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Rémy de Gourmont (1858–1915) um 1900 aufgegriffen und ausgebaut: »Die Arbeit der Dissoziation zielt genau darauf ab, die Wahrheit von all ihren zerbrechlichen Teilen zu befreien, um die reine, eine, und daher unangreifbare Idee zu erhalten.«27 Nach Michelle Bolduc (2020) will sie die Macht beseitigen, die überlieferte Vorstellungen wie Gemeinplätze über reine Ideen haben. In der Nouvelle Rhétorique – Traité de l’argumentation von Chaim Perelman und Lucie Olbrechts-Tyteca werde diese Idee für eine Argumentationstechnik aufgegriffen (Perelman & Olbrechts-Tyteca, 1969, S. 411–459). Die Dissoziation ziele darauf ab, die begrifflichen Vorstellungen, auf denen eine Argumentation aufbaut, aufzubrechen. Auf drei Schriftsteller, die mit Janet zu tun hatten, soll hier kurz hingewiesen werden: Raymond Roussel (1877–1933) war und ist immer wieder Thema von Autoren verschiedener Fachgebiete. Nie fehlt darin der Hinweis, dass er Patient von Pierre Janet gewesen ist (vgl. Garrabé, 2008; Luauté, 2018; Foucault, 1989 [1963]; Ford, 2000). Natalie Sarraute (1900–1999) war 1922 bei Janet in psychotherapeutischer Behandlung (vgl. Jefferson, 2020, S. 67–76). In ihrem Buch Tropismen (Sarraute, 1959 [1939]) porträtiert sie in einem Kapitel (S. 36–38) Janet, ohne seinen Namen zu nennen. Der 1928 erschienene Roman Nadja von André Breton (1896–1966) enthält eine heftige antipsychiatrische Polemik des Ich-Erzählers gegen die Psychiatrie und die Psychiater, die ihren Höhepunkt in folgenden Sätzen hat: »Ich weiß: wäre ich verrückt, würde ich einen Moment des Abklingens meines Deliriums nutzen, um kaltblütig irgendeinen, der mir unter die Finger gerät, vorzugsweise den Arzt, umzubringen. Auf diese Weise käme ich, wie die Tobsüchtigen, wenigstens in den Genuss einer Einzelzelle. Man würde mich vielleicht in Ruhe lassen.« (Breton, 2002 [1928], S. 121).
Im Oktober 1929 wurde in der Sitzung der Société médico-psychologique über diese Passage diskutiert, der Berichterstatter hielt das für einen Aufruf zum Mord (an Psychiatern) und forderte die Société auf, dagegen vorzu27 »Le travail de la dissociation tend précisement à dégager la vérité de toute sa partie fragile pour obtenir l’idée pure, une, et par conséquent inattaquable« (zit. nach Bolduc, 2020, S. 415).
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gehen (abgedruckt in Breton, 1968 [1962], S. 53f.). Janet bemerkte dazu lediglich, die Werke der Surrealisten seien überwiegend Bekenntnisse von Besessenen und Zweiflern. Breton lehnte Janets reduzierte Konzeption des Automatismus als psychopathologische Manifestation ab, wohingegen er, wie auch der für die Einführung der Technik des automatischen Schreibens maßgebliche Parapsychologe F. W. H. Myers (Myers, 1889) der Idee eines schöpferischen Potenzials des Automatismus anhing (vgl. Shamdasani, 1993; Bergengruen, 2009; Bacopoulos-Viau, 2012 ; 2019).
Pathopsychologie28 Janets pathopsychologische Studien stehen in der französischen Tradition der deskriptiven Psychopathologie seit Jean Étienne Esquirol (1772–1840) und seinem Schüler Jules Baillarger (1809–1890), der 1842 die Société médico-psychologique begründete (Pichot, 1996, S. 17–35, 86–89). Diese psychiatrische Schule hat sich aufgrund der von Charcot und seinen Mitarbeitern aus neurologischer Perspektive durchgeführten Untersuchungen hysterischer Symptomatik zur modernen Neuropsychiatrie weiterentwickelt (Bogousslavsky & Moulin, 2011; Evans, 1991), eine Entwicklung, an der Pierre Janet entscheidend mitgewirkt hat (Bogousslavsky, 2011; Walusinski & Bogousslavsky, 2020). Diese französische Psychopathologie wurde von der deutschsprachigen Psychiatrie beachtet und geschätzt (z. B. Jaspers, 1913a, S. 332). Denn auch deren Einteilungen und Typologien, die seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Psychiatrie vorgenommen wurden, wie diejenige von Janets Zeitgenossen Emil Kraepelin (1856–1926) zwischen manisch-depressiven Psychosen und Dementia Praecox, die bald darauf durch Eugen Bleulers (1857–1939) Schizophrenie-Begriff mit seinen Subtypen ersetzt wurde, basieren auf solchen klinischen Untersuchungen. Seine Bedeutung für die Psychiatrie heben Klaus Conrad (1954) oder Leston Havens (1966) hervor: Man vergleicht ihn mit Eugen Bleuler, der 28 »Pathopsychologie« ist ein Analogon zur Pathophysiologie in der experimentellen Medizin von Claude Bernard (1813–1878), wonach Krankheiten Experimente der Natur seien, deren Studium Erkenntnisse über das gesunde bzw. normale Funktionieren hervorbringen können, da es eine grundsätzliche Kontinuität zwischen dem Normalen und dem Pathologischen gebe. Janet übernimmt diese Methodologie von Paul Janet und Théodule Ribot (vgl. Vincenti, 2020, S. 1017f.).
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wie Janet nach Konzepten für ein psychologisches Verständnis psychischer Erkrankungen gesucht habe, Bleuler für die Psychosen, Janet für die Neurosen. In den USA ging bereits William James in den Bostoner Lowell Lectures von 1896 über »exceptional mental states«, unter anderem Träume, hypnotische Trance, Automatismus, Hysterie, Multiple Persönlichkeit, ausführlich auf Janets Untersuchungen zu diesen Phänomenen ein (vgl. Taylor, 1984). Hysterie, Dissoziation, Trauma
Janets philosophische Dissertation L’automatisme psychologique (1889a), sein erstes Hauptwerk, wurde erst 2022 ins Englische übersetzt.29 Inhaltlich gehören dazu auch seine Kasuistiken, insbesondere über Léonie und Lucie, die schon vor seiner Dissertation publiziert bzw. zum Teil bei der Société de Psychologie Physiologique vorgetragen wurden (vgl. Janet, 2005). In einem Beitrag zum Kontext und zur Entwicklung des AutomatismusBegriffs bzw. des Reflexparadigmas in der Physiologie und seiner Anwendung in der Psychologie bei F. W. H. Myers und Pierre Janet und dessen Einfluss auf die »dynamische Psychiatrie« stellt Adam Crabtree (2003), einer der Übersetzer des L’automatisme psychologique, fest, dass im Gegensatz zu Janets restriktivem Begriff des Unterbewussten, das er lediglich als Manifestation von Psychopathologie sah (vgl. Janet, 2013 [1910]), die »normalpsychologische« Auffassung unterbewusster Phänomene von Myers mehr Anhänger bei Fachkollegen fand.30 Crabtree beschreibt auch ausführlich in seinem Buch From Mesmer to Freud. Magnetic sleep and the roots of psychological healing (1993, S. 307–326) Janets Hypnosetherapie29 Seit 2013 gibt es eine italienische Übersetzung (L’Automatismo Psicologico. Milano: Raffaelo Cortina). Tatsächlich wurde in Italien bereits in den 1980er Jahren mit der Übersetzung dieses Buches sowie anderer wichtiger Veröffentlichungen von Janet begonnen: La medicina psicologica, Übers. v. P. Lombardo & F. Ortu. Roma: Il Pensiero Scientifico, 1994; La passione sonnambulica e altri scritti, Übers. v. N. Lalli & R. D’Angelo. Liguori, Mo.: Liguori Publ., 1996; Trauma, coscienza, personalità. Scritti clinici, Übers. v. F. Ortu & G. Craparo. Milano: Raffaello Cortina, 2016; Le nevrosi, Übers. v. F. Ortu & G. Craparo. Milano: Raffaello Cortina, 2022. 30 Zum Beispiel bei Max Dessoir (1867–1947; Dessoir, 1896), Alfred Binet (1857–1911), Boris Sidis (1867–1923), Théodore Flournoy (1854–1921), Morton Prince (1854–1929) (vgl. Hantke, 1999) und William James (1842–1910).
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ansatz auf der Basis der Konzepte Dissoziation und Unterbewusstsein. Die Anregung für die Übertragung des »physiologischen« AutomatismusKonzepts in die Psychopathologie habe Pierre Janet durch seinen Onkel Paul Janet (1823–1899) erhalten (vgl. Puig-Verges & Schweitzer, 2008). Dieser habe Pierre Janet auch zu den Hypnose-Experimenten im Fall Lucie ( Janet, 1886d; 1887, dt. Janet, 2013) angeregt, bei dem Janet zum ersten Mal eine Dissoziation aufgezeigt habe (LeBlanc, 2001). Jacqueline Carroys und Régine Plas’ (Carroy & Plas, 2000a; 2000b) skeptische Ausführungen zur Genese des Dissoziationsbegriffs bei Janet, laufen darauf hinaus, dass es sich dabei nur um einen Hilfsbegriff handeln könnte, der die Idee der Einheit des Ichbewusstseins gegenüber einer Vorstellung des Unbewussten aufrechterhalten sollte. Der philosophische bzw. epistemologische Hintergrund der Dissertation sowie Funktion und Bedeutung von Janets Konzeption des Unterbewussten werden von Laurent Fedi (2007a) dargestellt. Noch bekannter in internationalen Fachkreisen wurde zunächst seine medizinische Dissertation Contributions à l’étude des accidents mentaux chez les hystériques (1893a), die zusammen mit dem ersten Teil Les stigmates mentaux (1893b) als zweiter Teil L’état mental des hystériques (1894a) veröffentlicht wurde.31 Die einzige deutsche Übersetzung eines Buches von Janet war und blieb nur der erste Teil seines Hysteriebuches mit dem Titel Der Geisteszustand der Hysterischen (Die psychischen Stigmata) ( Janet, 1894b), angefertigt von Max Kahane (1866–1923), einem frühen Sympathisanten und allgemeinärztlichen Kollegen Freuds und ab 1902 Teilnehmer seiner »Mittwochsgesellschaft«, der sich aber einige Jahre später von Freud zurückzog.32 1911 erschien eine erweiterte französische Auflage, L’état mental des hystériques ( Janet, 1911), in einem Band, mit einem bereits als Handbuchartikel ( Janet, 1898a) vorliegenden Kapitel »Le traitement psychologique de l’hystérie«. 1907 kamen Janets Harvard-Vorlesungen »The major symptoms of hysteria« (zweite Auflage 1920) heraus. Seine Hysterie-Konzeption wurde von namhaften deutsch31 Unter Stigmata versteht Janet die notwendigen Symptome der Hysterie (Anästhesien, Amnesien, Aboulie, Bewegungsstörungen und Persönlichkeitsänderungen), unter akzidentellen Symptomen (accidents) verschiedene, nicht nur bei Hysterien vorkommende Symptome (z. B. fixe Ideen, Tics, Ekstasen, emotionale Ausbrüche). 32 Die englische Übersetzung The mental state of the hystericals (1901) wurde in einem Band veröffentlicht.
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sprachigen Nervenärzten wie zum Beispiel Otto Binswanger (1852–1929; Binswanger, 1904), Willy Hellpach (1877–1955; Hellpach, 1904), Leopold Loewenfeld (1847–1923; Loewenfeld, 1913) rezipiert, Kraepelins und Janets Hysterie-Auffassungen wurden verglichen (Frankhauser, 1918). Mark S. Micale gibt einen Überblick zur Historiografie der diagnostischen Kategorie »Hysterie« (Micale, 1989) und zu ihrem »Verschwinden« (Micale, 1993). Der Dissoziationsbegriff Janets ist in die experimentelle kognitive Psychologie von Ernest Hilgard bereits ab 1973 (Hilgard, 1973; 1986; Crabtree, 2007) eingeführt worden, was die konzeptuelle Entwicklung des Begriffs befördert hat.33 Hinzuweisen ist auf die Untersuchung von Andrea Scalabrini und Mitarbeitern (2020), in der sie Janets Definition von Dissoziation (unterbrochene Integration auf der psychologischen Ebene) mit spezifischen neuronalen Mechanismen (gestörte intero-exterozeptive Integration) in Verbindung bringen; des Weiteren auf einen Beitrag von Paul Hanel (2013), der sich für die Bedeutung der Dissoziation für die moderne Tagtraumforschung interessiert, oder auf die Untersuchungen von Sarah Demmrich (2013; 2017) zu Dissoziation und Depersonalisation bei religiösen Ritualen und Musik. Auch und gerade die Psychopathologie dissoziativer Störungen setzt einen Begriff von Bewusstsein voraus, der in der gegenwärtigen Psychopathologie nicht definiert ist. Ouwersloot, Derksen und Glas (2020) schlagen daher im Rückgriff auf William James und die phänomenologische Psychologie Sartres mit ihrer Bewusstseinsdefinition (»Consciousness is the total of a human person’s experience consisting of thinking, feeling, perceiving, remembering, fantasizing, dreaming, etc., that is internally represented and where she can communicate about«, S. 5) einen transdiagnostischen begrifflichen Rahmen vor, der sowohl den »first person«- als auch den »third person«-Forschungsansatz umfasse: Sie unterscheiden nach Sartre vier Bewusstseinskonzepte: Zustände, Funktionen, Qualitäten und Struktur des Bewusstseins; für den Aspekt der Bewusstseinsqualitäten (eingeengt, erweitert, klar, fokussiert, oder getrübt) verweisen sie auf Janets Konzept »tension psychologique« bzw. Janets hierarchisch gegliedertes Selbstregulationsmodell, das er seit 1903 in Les obessions et la psychasthénie und dann ausführlich in den beiden Bänden De l’angoisse à 33 Zur Diskussion in der Psychoanalyse vgl. Wöller (2021), siehe den Abschnitt »Psychoanalyse«.
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l’extase (1926/1928) als »psychologie de la conduite« (Zusammenfassung s. Janet, 2013 [1938]) entwickelt hat. Als Adjektiv (»dissoziativ«) erscheint der Terminus schließlich ab 1995 im DSM-IV und im aktuellen DSM-5 (dt. APA, 2015) im Kapitel »Trauma- und belastungsbezogene Störungen« (S. 362–396) und »dissoziative Störungen« (S. 397–419; Ellert R. S. Nijenhuis’ »Epilog« befasst sich mit den Problemen der Kategorisierung der dissoziativen Symptomatik im DSM. Den Wandel der Sichtweisen auf die Traumastörungen in der Psychiatrie durch das Dissoziationskonzept und die Schwierigkeiten einer angemessenen Diagnostik diskutieren Gerhard Heim und Karl-Ernst Bühler (2013). Bei den einschlägigen Untersuchungen zur Dissoziation spielten die Hypnose und damit die Frage der Natur der posthypnotischen Suggestion eine große Rolle (mit Bezug auf Janet siehe z. B. Young, 1931; LeBlanc, 2004). Besonderes Interesse zog die alte Idee einer Spaltung der Persönlichkeit bzw. das Doppel-Ich (Dessoir, 1896), die multiple Persönlichkeit auf sich. Im Buch des Wissenschaftstheoretikers Ian Hacking Rewriting the soul. Multiple personality and the sciences of memory (dt. Hacking, 1996) werden zwar vergleichsweise ausführlich Janets Dissoziationstheorie und seine Ideen zur Traumatherapie angeführt, es enthält aber eine Reihe von Irrtümern betreffend Janets Ideen, die von Onno van der Hart (1996) korrigiert werden. Auf die Frage der Existenz multipler Persönlichkeit geht Edward Brown (2003) in einer Analyse der Schriften Janets zu diesem Thema ein. Eine Übersicht über den Stand der Konzeptualisierung der strukturellen Dissoziation geben Andrew Moskowitz und Onno van der Hart (2020). Die Traumatherapie sensu Janet wurde durch diese neue Janet-Rezeption gefördert (z. B. van der Hart & Horst, 1989; van der Kolk & van der Hart, 1989; s. a. das Leitthema »Dissoziative Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeitsstörung) der Zeitschrift Hypnose und Kognition 1995, Band 12; Fiedler, 2008; Landa & Gimenez, 2009; Heim & Bühler, 2013) – siehe die Beiträge von Russell Meares und Cécile Barral (8. u. 9. Kapitel,) über einen vom Gesamtwerk Janets inspirierten Behandlungsansatz für Borderline-Persönlichkeitsstörungen, von Kathy Steele und Onno van der Hart über den hypnotherapeutischen Ansatz (11. Kapitel), von Onno van der Hart, Paul Brown und Bessel van der Kolk über Janets Traumakonzept (12. Kapitel) sowie von Pat Ogden über den körpertherapeutischen Ansatz (14. Kapitel 14). Für die kognitive Verhaltenstherapie, die 370 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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sich bisher nur sehr vereinzelt auf Janet bezieht, haben Gerhard Heim und Karl-Ernst Bühler (13. Kapitel) die Kompatibiltät Janet’scher Ideen mit einer multimodalen Psychotherapie dissoziativer Störungen untersucht und das Janet’sche Konzept der »fixen Ideen« als Ergebnis einer misslungenen Anpassung nach Trauma und seine Anwendbarkeit in der kognitiven Verhaltenstherapie beschrieben (Heim & Bühler, 2006). Auf Janet als Vorläufer der »imagery rescripting«-Technik in der kognitiven Verhaltenstherapie von Traumastörungen, die Janet im Fall Marie angewandt hat (s. L’automatisme psychologique, Janet, 1889a, S. 435–443 bzw. die deutsche Übersetzung des hier interessierenden Kapitels »Les Possessions«, Janet, 2018 [1889a]) weisen Emily Holmes, Arnoud Arntz und Mervin R. Smucker (2007) hin. Die Bücher von Onno van der Hart, Ellert Nijenhuis und Kathy Steele zur strukturellen Dissoziation bei chronischer Traumatisierung (dt. 2008) und Diagnostik der somatoformen Dissoziation (Nijenhuis, 2006) sind ebenso wie Bessel van der Kolks The body keeps the score (dt. 2015) ins Deutsche übersetzt worden. Hingewiesen sei hier auf einige deutschsprachige Autoren der Traumatherapie (Huber, 2007; Hantke & Görges, 2012; Rießbeck, 2013a; 2013b), die sich auch auf Janets Dissoziationstheorie und Traumakonzept beziehen sowie auf die Relevanz seiner genauen Beobachtungen bei der Beurteilung körperlicher, vormals als hysterische Symptome bezeichneter Phänomene in der Neurologie und zu ihrer interkulturellen Isomorphie (Kütemeyer, 2006; Kütemeyer & Masuhr, 2013; Kütemeyer, 2013). Eine kritische Studie zum Janet’schen Traumaansatz wurde von Ruth Leys (1994) verfasst. Psychasthenie, Zwang, Depersonalisation
Für die Psychoneurosen etablierte sich für einige Jahrzehnte Janets Dichotomie zwischen Hysterie und Psychasthenie, wobei Letztere als nosologische »scrap-basket category« zu weiteren Differenzierungen führte, »but this simple two-fold classification once made has continued to influence psychiatric thought to a marked degree« (MacKinnon, 1944, S. 16f.) und wurde bald »the new giant of neuropathology« (vgl. Berrios, 1989, S. 291). Vorläufer des Psychasthenie-Konzepts war das der Neurasthenie (G. M. Beard, 1839–1883, s. Shamdasani, 2001; Fischer-Homberger, 2010). In der franzöisschen Psychiatrie gehörte seine Untersuchung Les obsessions et la psychasthénie ( Janet, 1903) auf der Grundlage von über 371 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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230 Fallstudien lange zum Kanon, mehr als die inzwischen für die heutige Psychotraumatologie bedeutsam gewordene Dissoziationstheorie seiner bereits genannten früheren Studien. Es wurde sogar eine Skala zur Messung der Schwere der Psychasthenie entwickelt (Deniker & Ganry, 1992). Das Lehrbuch von Otto Dornblüth über die Psychoneurosen (1911) referiert im dritten Abschnitt (S. 299–372) unter der Überschrift »Psychasthenie« Kenntnisse und Beiträge (nicht nur Janets) zur Psychopathologie der Zwangserkrankungen: Zwangsvorstellungen, Zwangshandlungen, Tics, Triebhandlungen und »Verkehrungen des Geschlechtstriebes«. In Janets zweibändigen Werk34 werden nicht nur Zwänge, sondern auch Panik, Phobien, Tic-Störungen, Hypochondrie und Depressionen analysiert. Seit seinem Erscheinen wurde es von deutschsprachigen Autoren rezipiert (z. B. Oesterreich, 1906; Friedmann, 1905; 1920; Schilder, 1914; Binder, 1936; de Boor, 1949). In den USA hat Roger Pitman eine Übersicht der Studie veröffentlicht (Pitman, 1984) und deren Relevanz für die heutige Neuropsychiatrie der Zwangsstörungen hervorgehoben (Pitman, 1987). Auch Janets Beobachtungen und Überlegungen zu Essstörungen wurden vereinzelt rezipiert (z. B. Habermas, 1994, S. 61–75, S. 89–106; Vandereycken et al., 1992, S. 214–223), insbesondere der Fall Nadja aus Les obsessions et la psychasthénie (Pope et al., 1985). Verbunden mit dem Psychasthenie-Konzept ist bei Janet auch der Begriff der Depersonalisation35. Das Gefühl der Depersonalisation sei eine Art innerer Wahrnehmung der Störung der Realitätsfunktion. Es sei eine Form des Gefühls der Fremdheit, des Unvollständigen, des Irrealen, das sich an die Persönlichkeit knüpfe, anstatt an die Dinge draußen geknüpft zu werden (s. Janet, 1903, S. 315f., 549f.). Der Rostocker Psychiater Karl Haug diskutiert in seiner Monografie Die Störungen des Persönlichkeitsbewußtseins und verwandte Entfremdungserlebnisse. Eine klinische und psychologische Studie (1936) unter anderem die Arbeiten des Psychoanalytikers und Psychiaters Paul Schilder (1880–1940) und von Janet. Uwe Wolfradt (2006) gibt einen historischen Überblick und beschreibt die neuartige Depersonalisationstheorie von Pierre Janet (s. a. Weber & Wolfradt, 2016). Dabei sei auch auf das Werk des frühen Rezipienten von Janets Pathosy34 Der zweite Band enthält die Kasuistiken und wurde zusammen mit Fulgence Raymond (1844–1919), dem Nachfolger Charcots als Chef der Salpetrière veröffentlicht. 35 Depersonalisation und Derealisation werden heute im DSM-5 den »Dissoziativen Störungen« zugeordnet (APA, 2015, S. 413–418).
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chologie des Ich-Erlebens, Traugott Konstantin Oesterreich (1880–1949), hingewiesen (Wolfradt, 2010). 1909 fasste Janet seine pathopsychologischen Studien zur Hysterie und zur Psychasthenie in dem Buch Les Névroses ( Janet, 1909) in der Art eines Lehrbuches zusammen (s. a. Benhima, 2009). Das umfangreichste systematische Werk zu Janets Neurosenlehre hat der Basler Neurologe Leonhard Schwartz (1885–1948; Schwartz, 1951; Wolfradt, 2017; Serina, 2020b) verfasst: Die Neurosen und die dynamische Psychologie von Pierre Janet36. Es enthält eine posthum erschienene Einleitung von Pierre Janet (S. 19–25). Bereits die Psychasthenie-Theorie enthält eine Reihe von Begriffen (fonction du réel, présentification, abaissement du niveau mental, sentiment d’incomplétude, le sentiment du vide, peur de l’action etc.), die auch in die spätere Janet’sche »Theorie der Tendenzen« (Meyerson, 1947; dt. 2013) bzw. die »Psychologie de la conduite« (Bailey, 1928; Janet, 2013 [1938], s. a. Schwartz, 1938) eingehen, als Janet begonnen hatte, eine dynamische Psychologie, ein hierarchisch aufgebautes frühes »Selbstregulationsmodell« zu konstruieren, das er dann in seinen Vorlesungen am Collège de France (vgl. Janet, 2004) entwickelt und 1920 an der Universität London in drei Vorträgen vorstellte ( Janet, 1920b), am ausführlichsten in De l’angoisse à l’extase (1926/1928). An der HarvardUniversität griff der Wirtschaftpsychologe Elton Mayo (1880–1949) in einer Monografie (Mayo, 1948) den handlungspsychologischen Ansatz aus dem Psychasthenie-Buch auf (»the adaptive moment«, S. 102–110), aber erst seit der »kognitiven Wende« in der Psychologie und Psychotherapie wurden Begriffe eingeführt, die mit manchen aus Janets Psychologie kompatibel sind, ohne dass dieser dabei zitiert würde: Aufmerksamkeit, situative Anforderungen, automatische vs. kontrollierte Verarbeitung, Effort, Ressourcenverteilung.37 36 Im Original deutsch; seit 1955 gibt es eine französische Übersetzung: Les névroses et la psychologie dynamique de Pierre Janet. Paris: Presses Universitaires de France. 37 Siehe zum Beispiel den Beitrag von Nobelpreisträger Herbert A. Simon (1916–2001; Simon, 1994) für das 41. Nebraska Symposium on Motivation »Integrative views of motivation, cognition, and emotion« (Spaulding, 1994), oder die Kapitel im Sammelband Psychology of Action (Gollwitzer & Bargh, 1996) oder im Handbook of Self-Regulation. Research, Theory, and Applications (Vohs & Baumeister, 2016). Auch im Modell »PersönlichkeitsSystem-Interaktionen« von Julius Kuhl (2001) für die willentliche Handlungssteuerung würde man Affinitäten mit Janets Ideen entdecken. Zum grundlegenden Begriff »l’effort volontaire« bei Janet und seinen psychologischen Zeitgenossen siehe Seignan (2013).
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Psychotherapie
Janet war Hypnoseforscher und Hypnotherapeut (Gauld, 1991; Peter, 1991). Später erweiterte er sein psychotherapeutisches Repertoire, da Hypnose nicht bei jeder Patientin anwendbar war. In seinen beiden Büchern zur Psychotherapie38 (das dreibändige Les médications psychologiques Janet, 1919, dessen Zusammenfassung La médecine psychologique, 1923, beide wurden ins Englische übersetzt, 1924; 1925) präsentierte er nicht nur einen historischen Überblick über die psychotherapeutischen Verfahren und ihre Vorläufer (Teil 1), sondern teilte die Verfahren nach Wirkprinzipien ein. In Teil 2 – »Nutzung des Automatismus des Patienten« – finden sich Hypnose und Suggestion, in Teil 3 – »Psychologische Ökonomien« – geht es um Ruhe und Isolation, außerdem um Verfahren zur »Auflösung traumatischer Erinnerungen«, wozu er Psychoanalyse und seine traumatherapeutischen Methoden zählt, in Teil 4 werden Psychoedukation, Aktivierungs- und Lerntherapie sowie »psychophysiologische« Behandlungen (auch psychotrope Medikationen) besprochen. Es liegen zeitgenössische Rezensionen (z. B. Lalande, 1920, S. 416–420; Jones, 1925; Schwartz, 1924; Cason, 1926) und spätere Einführungen in seine Psychotherapie vor (z. B. Girard, 1973; Bühler & Heim, 2001; Saillot, 2010; Fischer-Homberger, 2021, S. 57–97), seine Ideen wurden Referenzen für eine lernpsychologisch orientierte Psychotherapie (Guthrie, 1938), für eine Art Synthese von Janet mit der Psychoanalyse (Brown, 1934), für eklektische Therapie (Hart, 1986), für kognitive Verhaltenstherapie (Heim & Bühler, 2003; Heim, 2006b; Fiedler, 2010; Heim, 2017b), für kognitive Interventionen (Bühler, 2010; 2013), für Achtsamkeitstherapie (van Quekelberghe, 2010), für integrative Therapie (Petzold, 2007) und für Körpertherapie (Boadella, 1997a; 1997b; Ogden, 14. Kapitel). Für die kognitive Verhaltenstherapie der Zwangsstörungen, Ängste und Depressionen sei vor allem auf Nicolas Hoffmanns Buch Zwänge und Depressionen. Pierre Janet und die Verhaltenstherapie (1998) und die Arbeiten von 38 Bereits 1907/08 war »L’analyse psychologique et la critique des méthodes de psychothérapie« Thema seiner Vorlesungen am Collège de France (s. Janet, 2004). 1896 hielt er auf dem 3. Internationalen Kongress für Psychologie in München einen für seine Psychotherapie grundlegenden Aufsatz »L’influence somnambulique et le besoin de direction« über die therapeutische Beziehung (vgl. Janet, 1897), in einem umfangreichen Handbuch-Artikel diskutierte er Therapiemethoden für hysterische Patienten (Janet, 1898a).
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Willi Ecker hingewiesen (z. B. Ecker et al., 2010; Ecker & Gönner, 2017), die das Janet’sche »sentiment d’incomplétude« aktualisierten, differenzierten und in die Verhaltenstherapie einführten. Psychosen
Für Janets Arbeiten zu Psychosen, besonders aus den 1920er und -30er Jahren (z. B. Janet, 1921; 1927a; 1927b; 1932a; 1932b; 1932c; 1936b; 1937b; 1938; 1945) sind zuerst seine Forschungen zur Hysterie (»dissociation«) und Psychasthenie (»abaissement du niveau mental«) bedeutsam, da sie vermutlich Bleulers psychologische Schizophrenie-Theorie (1911) beeinflussten (Moskowitz, 2006; Moskowitz & Heim, 2011; 2013; 2019; Scharfetter, 2011), und auch C. G. Jungs Über die Psychologie der Dementia Praecox ( Jung, 1907). Bleuler prägte den Terminus »Lockerung der Assoziationen« als Grund- und Primärsymptom der Schizophrenie und brachte diesen in einem späteren Aufsatz in die Nähe von Janets »Reduktion der psychischen Spannung« bzw. »Absenkung des psychischen Niveaus« (Bleuler, 1918). In Frankreich setzte sich für eine gewisse Zeit der Terminus Dissoziation als Synonym für die schizophrene Spaltung durch. Möglicherweise geht dies auf die psychiatrische Schule von Bordeaux (Emmanuel Régis, Angelo Hesnard) zurück, die die Psychoanalyse mit Janets Pathopsychologie verbinden wollte (s. a. Bottero, 2001; Kronfeld, 1930). Janet selbst hatte Einwände, weil er die Dissoziation auf die traumatischen Hysterien beschränkt sehen wollte, und führte stattdessen den Begriff der »discordance« bei Schizophrenie ein, der auf seinen Kollegen Philippe Chaslin (1857–1923; Chaslin, 1999 [1912]; Haustgen, 2012) zurückgeht ( Janet, 1927b). Der polnisch-französische Psychiater Eugène Minkowski übersetzte in seinem Buch über die Schizophrenie (1927) »Spaltung« mit »desagrégation« und stellte anders als Bleuler den »Verlust des vitalen Kontakts mit der Wirklichkeit« in den Mittelpunkt seines SchizophrenieKonzepts, unübersehbar mit Janets »Verlust der Realitätsfunktion« aus Les obsessions et la psychasthénie verwandt (Parnas & Bovet, 1991). Janets Sichtweisen auf Halluzination und Wahn stellt Henri Ey (1950) dar, ausführlich geht Jean Paulus (1941, S. 161–187) auf Janets Überlegungen zur auditiven Halluzination im Kontext seiner späteren Studien zur paranoiden Symptomatik ein. Diese werden von Eugène Minkowski (1960) kritisch besprochen. Bisher haben diese Arbeiten trotz ihres mut375 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Gerhard Heim
maßlichen wissenschaftlichen Wertes noch keine nennenswerte Resonanz gefunden (s. Andrew Moskowitz, Gerhard Heim, Isabelle Saillot & Vanessa Beavan im 10. Kapitel; Heim & Moskowitz, 2013).
Psychologie39 Parapsychologie
Am Ende des 19. Jahrhunderts stieß die Parapsychologie, die »métapsychique« auf großes Interesse, besonders bei szientistisch orientierten Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen (vgl. Bauer, 2010). Die Geburt der experimentellen Psychologie hätte ohne deren Interesse an der Erforschung des Übersinnlichen kaum stattfinden können, meint Régine Plas (2000). Mit seinen Untersuchungen zur Mentalsuggestion bzw. Telepathie am Medium Léonie (vgl. Kopell, 1968; Janet, 1986a [1985]; 1886c; deutsche Übersetzung s. Janet, 2018 [1885a]; engl. Übersetzung s. Janet, 1968 [1886c]) war Janet ganz auf der Höhe der Zeit. Zu diesem spannenden Kapitel in Janets Gelehrtenleben gibt es eine Reihe von Untersuchungen, die sich auch mit Janets Rückzug aus diesem Forschungsbereich und zu seinem Konflikt mit Charles Richet (1850–1935) beschäftigen. Hingewiesen sei auf die Beiträge von Pascal Le Maléfan (1993), Régine Plas (2000, S. 87–145), Sofie Lachapelle (2005), Frédéric Carbonel (2008), Ann Taves (2014) und besonders auf die Studie zur Haltung Janets (1885–1889 als Pionier der métapsychiques, 1890–1899 als reumütiger Psychologe, schließlich 1900–1947 als »Grenzschützer« der Psychologie) von Renaud Evrard, Erika Annabelle Pratt und Etzel Cardena (2018). Bedeutung und Beziehung von Janets Bewusstseinsmodell und dem seines lange Zeit ebenfalls aus dem Blickfeld geratenen Zeitgenossen und Parapsychologen Frederick W. H. Myers (1843–1901) zur kognitiven Psychologie und Neuroscience werden in einem dem Werk Myers gewidmeten Sammelwerk, Irreducible Mind (Kelly et al., 2007), behandelt. Deutschsprachige parapsychologische Forscher rezipierten ausführlich Pierre Janets psychopathologische Schriften und nicht nur seine Experi39 Es gibt ein (nicht übersetztes) schwedisches Buch mit dem Titel Pierre Janets Psykologi (Elmgren, 1953).
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mente mit Léonie; genannt seien hier von Max Dessoir (1867–1947) Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer Betrachtung, das, 1917 erstmals erschienen, seither immer wieder neu aufgelegt wurde (Dessoir, 1931), von Emil Mattiesen (1875–1939) Der jenseitige Mensch. Eine Einführung in die Metapsychologie der mystischen Erfahrung (1987 [1925]) und von Fanny Moser (1872–1953) Der Okkultismus. Täuschungen und Tatsachen (1935). Der Ordinarius für Psychologie und Grenzgebiete der Psychologie an der Universität Freiburg/Breisgau Hans Bender (1907– 1991), der mithilfe einer Stiftung von Fanny Moser das heute für diesen Bereich einzigartige Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg begründete, hat 1928/29 am Collège de France Janets Vorlesungen über die Persönlichkeitsentwicklung gehört und schrieb seine experimentalpsychologische (philosophische) Dissertation mit dem Titel Psychische Automatismen (1936) über automatisches Buchstabieren bei Erich Rothacker (1881–1965) (vgl. Bauer, 2006). Religion, Mystik, Glauben, Gefühle
Seit seiner Jugendzeit spielte die Auseinandersetzung mit der Religion für Janet eine wichtige Rolle ( Janet, 2013 [1946]; vgl. Fischer-Homberger & Heim, 2021). Im Verlauf seiner beruflichen Karriere hatte er es mit Besessenheit und Exorzismus (Fall »Achille«, vgl. Guillemain, 2011; Saillot, 2014; Innamorati et al., 2019), mit religiöser Ekstase (Fall »Madeleine«, vgl. Fischer-Homberger, 2021, S. 57–131), mit religiösem Zweifel und Zwangssymptomatik religiösen Inhalts ( Janet, 1903) zu tun. In seinen Vorlesungen am Collège de France 1907 über Psychotherapie ( Janet, 2004 [1903]) kritisierte er die »Seelsorge« durch Theologen, in einer weiteren Vorlesungsreihe (1921–1922) stellte er eine Religionspsychologie auf der Basis seiner Psychologie der Tendenzen vor, die von dem amerikanischen protestantischen Theologieprofessor Walter M. Horton (1924) zusammengefasst wurde. Seine Studie über Madeleine ( Janet, 1926/1928), die aus heutiger Sicht wahrscheinlich als Patientin mit bipolarer Störung diagnostiziert werden würde (Westphal & Laxenaire, 2000) provozierte theologische Stellungnahmen (vgl. zusammenfassend Gumpper, 2013, S. 845–857). Der bekannte Neuropsychiater und bekennende Katholik Jean Lhermitte (1877–1959) sah in seinem Buch Echte und falsche Mystiker (1953) in Madeleine keine 377 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
Gerhard Heim
echte Mystikerin.40 Hinzuweisen ist auf Jacques Maîtres maßgebliche Studie (1993) Une inconnue célèbre. La Madeleine Lebouc de Janet (1993). John R. Haule nennt Madeleine »a schizophrenic saint, but a saint nonetheless« (Haule, 1984b, S. 79). Renaud van Quekelberghe (2006) vergleicht Madeleine (Pauline Lair Lamotte, 1853–1918) mit der bekannteren Mystikerin Thérèse von Lisieux (Marie-Francoise Thérèse Martin, 1873–1897). Catherine Clément porträtiert Madeleine und Janet in einem Essay über religiöse Ekstase und Mystik (Clément & Kakar, 1992). Hingewiesen sei auf wichtige Beiträge, die Janets religionspsychologische Ideen im Zusammenhang mit William James (Die Vielfalt religiöser Erfahrungen von 1902) und Frederic W. H. Myers (Human Personality and its survival of bodily death von 1903) bzw. im Kontext des religionspsychologischen Werkes von Henri Delacroix (1873–1937) diskutieren (vgl. Taves, 2003; Iagher, 2020). Tiago Pires Marques (2010) stellt den Kontext religionspsychologischer und -psychopathologischer Forschungen im ausgehenden 19. Jahrhundert vor und verweist nicht nur auf Janets Madeleine-Buch, sondern auch auf dessen Arbeiten zum Glauben und zur Mystik. Janets Betonung der Affektivität und sozialen Dynamik von Glaubensüberzeugungen lasse Ähnlichkeiten zu den Auffassungen des französischen Theologen, Soziologen und Religionshistorikers Michel de Certeau (1925–1986) erkennen. Stéphane Gumpper und Florent Serina (2021, S. 72–81) verweisen auf die große Wendung im Denken Janets, beeinflusst durch Henri Bergsons Die beiden Quellen der Moral und der Religion, erschienen 1932, die in seinen Studien zum Glauben und zur Mystik ( Janet, 1936/1937, dt. Janet 2013, S. 7–122; vgl. Heim, 2010) zum Ausdruck komme. Janet musste seine Psychologie auch gegen den im 19. Jahrhundert als Reaktion auf den Modernismus aufgekommenen Neuthomismus abgrenzen, der sich besonders der Psychologie als Wissenschaft annahm (Kugelmann, 2011). Mit seiner Rezension eines grundlegenden Buches zur modernen Psychologie von Kardinal Desiré Mercier, dem nachmaligen Primas von Belgien ( Janet, 1899), gelang dem Agnostiker Janet eine freundliche Abgrenzung, denn Janets Arbeiten wurden von einschlägigen katholischen Autoren der Psychologie weiter zitiert (z. B. Vaissière, 1926 [1912]). 40 Zum Problemkreis Wunder oder Krankheit, Stigmatisierung und religiöse Ekstase im Fall von Louise Lateau (1850–1883) vgl. Lachapelle (2004), Fischer-Homberger (2021, S. 107f., 86f.).
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Später erweiterte Janet den Glaubensbegriff auf Bereiche außerhalb der Religion ( Janet, 2021a). Joseph Fusswerk-Fursay, der Janets Psychologie des Glaubens schon zuvor rezipiert hat (1975), berichtete (1984) auf einer Sitzung der Société Médico-Psychologique über ein unveröffentlichtes letztes Manuskript über den Glauben. Ein Teil (über die Mystik) des als Buches geplanten Textes wurde 1936/37 bereits in der Revue de Métaphysique et Morale veröffentlicht (dt. Janet, 2013), erst vor Kurzem wurde dann das unvollendete Manuskript veröffentlicht ( Janet, 2021a),41 zusammen mit anderen seiner Beiträge zum Thema Glauben.42 Ganz allgemein spielt in Janets »Hierarchie der Tendenzen«, Kernstück seiner Psychologie de la conduite (2013 [1938]) das »mittlere« Niveau mit der Unterscheidung von naiven, unmittelbarem Glaubensund reflektierten Glaubensakten eine zentrale Rolle. Seine Psychologie wird von ihm ausführlich auf über 1.200 Seiten in seinem fünften Opus magnum (nach L’automatisme psychologique, 1889a, L’état mental des hystériques, 1894a, Les obsessions et la psychasthénie, 1903, Les médications psychologiques, 1919), dem zweibändigen De l’angoisse à l’extase ( Janet, 1926/1928) dargestellt. Neben der erwähnten Kasuistik der Madeleine (v. a. 1. Teil) besteht es aus weiteren fünf Teilen, darunter über die Glaubensfunktion (les croyances), und grundlegende Gefühle (les sentiments). Das Buch wurde bei Erscheinen oft rezensiert, wird hingegen heute abgesehen von dem Teil über Madeleine offenbar wenig rezipiert. 41 Es enthält nur die beiden Teile »Les croyances religieuses« (S. 119–333) und »Les croyances philosophiques« (S. 334–413). 42 Das Manuskript basiert auf den letzten Vorlesungen Janets über den Glauben (1932– 1934). Er wollte es bis zu seinem Tod im Februar 1947 zu einem Buch erweitern, es blieb aber unvollendet. Sein Nachlass wurde von seinen Nachkommen verkauft, verstreut oder vernichtet. Das Originalmanuskript blieb aber in der Familie und wurde dem Psychologen und Janet-Experten Claude M. Prévost in den 1970er Jahren gezeigt, der aber von einer Herausgabe abriet, während der Stenograf von Janets Vorlesungen, Miron Epstein, dafür war. Der schließlich mit einer Expertise beauftragte Religionswissenschaftler Joseph Fusswerk-Fursay riet 1984 ebenfalls von einer Veröffentlichung ab. Verschiedene Überlegungen zu einer Edition wurden angestellt, aber nicht umgesetzt, zumal es dann noch einen Rechtsstreit gab zwischen der Société Pierre Janet und Janets Enkel Étienne Pichon, der das Originalmanuskript und andere Hinterlassenschaften Janets besaß. Erst nach dessen Tod konnte Janets Enkelin Noelle Janet darüber verfügen und im Juni 2013 alles zusammen mit dem Manuskript dem Fonds Pierre Janet bei den Archives de Collège de France übergeben (vgl. Rey & Chatellier, 2013; Gumpper & Serina, 2021, »Genèse et éclipses d’un tapuscrit«, S. 101–113).
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Gerhard Heim
Es gibt aber eine zusammenfassende Vorlesung zu den darin behandelten Themen (»L’amour et la haine«, Janet, 1932d), die kürzlich in Frankreich in Auszügen als Taschenbuch unter dem Titel La haine et l’amour erschienen ist ( Janet, 2019). Nur ein Psychologe, der Schweizer Ernst Boesch (1916–2014), hat »L’Angoisse« ( Janet, 1926/1928) als Grundlage seiner Handlungstheorie (Boesch, 1980) entdeckt und in seinem Buch Zwischen Angst und Triumph (Boesch, 1975) die Gefühlstheorie von Janet dargestellt, außer der von Schwartz (1951) vermutlich die einzige ausführlichere deutschsprachige Darstellung der Janet’schen Psychologie bis ca. 2000. Gedächtnis, Persönlichkeit, Handlung, Sprache und Denken
Für die Vorlesungen des Jahrgangs 1927/28 ( Janet, 1928) über die »Entwicklung des Gedächtnisses und des Begriffs der Zeit« fanden deutsche Leser von Der Nervenarzt eine ausführliche Besprechung von Eugène Minkowski (1930). Obwohl gerade diese Mitschrift als ein besonderer und wichtiger Beitrag Janets gelten kann (Prévost, 1973b; Voutsinas; 1989; Laurens & Kozakai, 2003), gibt es dazu eher wenig Sekundärliteratur, er fand aber Erwähnung bei Autoren, die sich wie Minkowski, Erwin Straus oder Viktor von Gebsattel mit der »Psychopathologie der Zeit« beschäftigen (Israeli, 1932; Übersicht vgl. Fryxell, 2019). Der britische Psychologe Frederic C. Bartlett behandelt das Werk in seinem berühmten Buch Remembering im Kapitel über das soziale Gedächtnis (»social recall«) zusammen mit Maurice Halbwachs’ Studien (Bartlett, 1967 [1932], S. 293–300). Der Bezug zu Halbwachs (1877–1945; Wetzel, 2009; dt. Halbwachs, 1985 [1925]) dürfte für eine Rezeption des Werkes wahrscheinlich besonders relevant sein (Gierl, 2005). Ein Schlüsselbegriff seiner Gedächtniskonzeption ist »le récit« (Erzählung), die Vergegenwärtigung abwesender, das heißt vergangener Ereignisse typischerweise in einem Gespräch mit einem Anderen. Von Halbwachs gibt es hierzu eine kritische Rezension von 1942, die erst 1999 veröffentlicht wurde (Halbwachs, 1999 [1942]). Bruce M. Ross (1991) geht in seinem Buch über das autobiografische Gedächtnis auf wenigen Seiten im Zusammenhang mit Autoren wie James M. Baldwin (1861–1934) und Jean Piaget (1896–1980) auf das narrative Konzept Janets ein (S. 147–149), das heute in der narrativen Verhaltenstherapie 380 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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bzw. Expositionstherapie (z. B. Neuner et al., 2013), wenn auch ungenannt, eine Rolle spielt.43 Janet orientierte sich im Lauf der Jahre am amerikanischen Pragmatismus (William James, Charles Sanders Peirce, Josiah Royce, John Dewey), der von der französischen Philosophie und vor allem von Henri Bergson positiv aufgenommen wurde (vgl. Bergson, 1948 [1911]; Fabiani, 2010, S. 192f.) und wie Janet das Handeln in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellt. Diesem Interesse entsprach auch seine zunehmend sozialpsychologische Ausrichtung (Laurens, 2006). Relevant sind hier für ihn die »Interpsychologie«, die Theorie der Nachahmung von Gabriel Tarde (1843–1904; dt. Tarde, 2009 [1890]) und die Kollektivpsychologie von Charles Blondel (1876–1939; dt. Blondel, 1948 [1928]). Diese Sichtweise bestimmt auch seine Analyse der paranoiden Persönlichkeitsstörungen (z. B. Janet, 1937b). Über seine spätere Vorlesungsreihe zur Entwicklung der Persönlichkeit ( Janet, 1929; Lombardo & Foschi, 2003) wurde in Deutschland eine Dissertation bei Erich Rothacker verfasst (Rothacker, 1952 [1938]; Kerris, 1938). Janets Studien zur Entwicklung des Denkens und zur Sprachentwicklung (1935a; 1936a)44 kennzeichnet eine konstruktivistische Perspektive, die in mancher Hinsicht in der Entwicklungspsychologie von Jean Piaget fortgeführt wurde (Piaget, 1960; Meili-Dworetzki, 1984; Amann-Gainotti, 1992; Fedi, 2007b). Die Kulturpsychologin Tania Zittoun (2008) schlägt die Anwendung der »ganzheitlich« bzw. holistisch verstandenen »psychologie de la conduite« (Denken, Gefühle, Handeln) zur Analyse komplexer Alltagserfahrungen vor und zieht dabei in erster Linie Janets umfassende Studie über Gefühle und Glauben ( Janet, 1926/1928, Vol. 2) und seine späten Werke zum Symbolgebrauch ( Janet, 1935a; 1936a) heran. Jan Valsiner und René van der Veer (2000) stellen Janets Psychologie in eine Reihe mit pragmatistischen und konstruktivistischen Denkern und Forschern wie James Mark Baldwin, George Herbert Mead sowie Jean Piaget und Lew Vygotsky (s. a. van der Veer, 1988). Van der Veer 43 Michel de Certeau (1988 [1980], S. 215) zitiert Janet mit der Formulierung »Die Erzählung hat die Menschheit geschaffen« (»Ce qui a créé l’humanité, c’est la narration«, Janet, 1928, S. 261) als Motto eines Kapitels in seinem Buch über das Alltagsleben. 44 Esther Fischer-Homberger bezieht sich im Kapitel »Porträt und Fallgeschichte – Relationalität und Geschichtsschreibung« ihres Janet-Buches (2021, S. 99–131) auch auf diese beiden letzten Bücher Janets.
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(2006) sieht in Janets soziogenetischer, konstruktivistischer Theorie des menschlichen Geistes einen bedeutsamen Beitrag für die heutige Psychologie, warnt aber vor der verzerrenden Perspektive der sogenannten vergleichenden Psychologie (Ontogenese = Phylogenese) mit ihren Verzweigungen in die biologische und kulturelle Anthropologie sowie Psychopathologie, wie sie im 19. Jahrhundert aufgrund des Einflusses von Herbert Spencers dominanter darwinistischer Philosophie (vgl. Wolfradt, 2013) weitverbreitet war, einer biologistisch geprägten Denkweise, der auch Janet anhing, die aber schon William James kritisch kommentiert habe45 (van der Veer, 2006). Edmundo Balsemâo Pires (2019) erörtert grundlegende Merkmale des Begriffs des Virtuellen und exemplifiziert dies am Beispiel der Janet’schen frühen Hysteriestudien im Zusammenhang mit dessen späteren Arbeiten zur Persönlichkeit, zum Gedächtnis und zum Handeln.
Psychoanalyse Sigmund Freud
Vergleiche zwischen Sigmund Freud (1856–1939) und Janet46 werden immer wieder und unter verschiedenen Gesichtspunkten angestellt: zuletzt von Aleida Assmann (2021) zum unterschiedlichen Rezeptionsschicksal und seinen Gründen, zur Rivalität von Freud und Janet von Gabriele Cassullo (siehe 3. Kapitel; Viguier, 2004), oder von Esther Fischer-Homberger 45 »There are great sources of error in the comparative method. The interpretation of ›psychoses‹ of animals, savages, and infants is necessarily wild work, in which the personal equation of the investigator has things very much its own way« (James, 1890, zit. nach van der Veer, 2006, S. 228). In Henri Bergsons Brief an Janet (22.5.1936; vgl. Janet, 2013, S. 323f.) nach seiner Lektüre von L’intelligence avant le langage (Janet, 1936a) klingt dieser Vorbehalt gegen solche Vergleiche an. 46 Eine »Begegnung« besonderer Art zwischen den berühmten Zeitgenossen Freud und Janet fand 1925 in dem Buch L’obsédé: Drame de la libido des rechtsextremen Publizisten André Gaucher statt, einem für rechte politische Kreise geschriebenen Pamphlet gegen den ebenfalls rechtsextremen Politiker und Schriftsteller Léon Daudet, nachdem sich dessen Sohn Philippe suizidiert hat. Der Autor korrespondierte deshalb mit Freud und Janet, deren Antwortbriefe (zwei sehr kurze von Freud und Janet, ein etwas längerer zweiter von Freud) abgedruckt wurden (de Mijolla, 2010, S. 324–328; Wacjman, 2020).
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(2021, S. 167–250), die die Kritik Janets an der Psychoanalyse auf dem Londoner Kongress 2013, die Replik von Ernest Jones (1879–1958)47 und deren Folgen analysiert sowie Freud und Janets Auffassungen zu Geld und Beziehung in der Psychotherapie vergleicht. Céline Surprénant (2018; s. a. ihr Vorwort in Janet, 2021b) erkennt in Janets Kritik, die mehr von Übertreibungen der Psychoanalyse spreche als von Plagiierung, eine aufgeschlossene Einstellung, aufgrund derer sich »gemäß seiner transformistischen Geschichtsauffassung [die Psychoanalyse] nur graduell von seinen Arbeiten unterscheidet« (Surprénant, 2018, S. 28).48 Lucien Oulahbib (2009; 2020) stellt Janets Psychologie des Unterbewussten und der Neurosen gegen die Freud’sche Theorie, da jene heute relevanter sei: »Gewiss, Freud hat zwar mehr Erfolg als Janet gehabt […], der heute jedoch deutlich zurückgegangen ist, und zwar viel mehr dank der Durchbrüche der kognitiven, motivationalen und differentiellen Psychologie als durch die Polemiken, die durch das Erscheinen des Schwarzbuchs der Psychoanalyse [2005] oder durch das Werk von Michel Onfray angefacht wurden«49 (Oulahbib, 2020, S. 1037).
Janet stelle in den Mittelpunkt der Pathogenese von Neurosen die Hilflosigkeit bzw. die Furcht zu handeln und damit die Wechselwirkung zwischen Handlung – Anstrengung (effort) – Persönlichkeit, die auf verschiedene Weise zustande kommen könne. Janets Modell sei multikausal und verstehe die Neurose als Entwicklungsstörung, die die Handlungsfähigkeit 47 Der durch die Janet’sche Kritik und Polemik enttäuschte Ernest Jones hielt von Janets Arbeit im Grunde sehr viel, später half er bei der Übersetzung von Janets Psychotherapiebuch ins Englische mit, das er auch rezensierte (Jones, 1925; vgl. Gumpper & Serina, 2013, S. 614, Anm. 112). 48 Esther Fischer-Homberger behandelt Janets Geschichtsauffassung im Kapitel »Pierre Janet beobachtet die Geschichte« ihres Janet-Buches (2021, S. 29–56). 49 »Certes, Freud eut plus de succès que Janet, particulièrement avec la vogue du surréalisme et son engouement pour l’écriture automatique, puis du freudo-marxisme, et ensuite du développement personnel – jusqu’à refluer cependant considérablement aujourd’hui bien plus grâce aux percées des psychologies cognitives, motivationnelles, différentielles [17, 22] que par les polémiques attisées par la parution du Livre noir de la psychanalyse (2005) ou récemment par l’ouvrage de Michel Onfray.« Das Schwarzbuch der Psychoanalyse liegt nur auf Französisch vor: Borch-Jacobsen et al. (2005).
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der Person einschränke, und nicht spezifisch psychosexuell wie in Freuds Theorie des Ödipuskomplexes. Wolfgang Wöller (2020) beschreibt die Abkehr Freuds von der anfangs von ihm und Breuer in Übereinstimmung mit Janet vertretenen (traumatischen) Dissoziations- bzw. bei Freud und Breuer »Hypnoid«-Theorie der Hysterie.50 Freud habe ab 1895 zunächst eine Verführungstheorie (aufgrund sexuellen Missbrauchs in der Kindheit) vertreten, dann aber ab 1906 die (aktive) Verdrängung (infantiler Sexualphantasien) gegen die Janet’sche (passive) Dissoziation (als Traumafolge) gestellt (Wöller, 2020, S. 16–24). Der Autor erzählt in dieser Monografie auch die unangenehm berührende Geschichte der »Exkommunikation« Sándor Ferenczis (1873–1933), der an der Dissoziationstheorie und Bedeutung realer Traumatisierungen festgehalten und so den heutigen Brückenschlag der Psychoanalyse zur Janet’schen Traumatheorie ermöglicht habe (ebd., S. 25–30). Aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Sicht bedauert Peter Fiedler (2006), dass Freud und seine Epigonen die von Janet entwickelte Traumatheorie nicht als gleichwertige Perspektive neben der strukturtheoretischen Begründung psychischer Störungen akzeptiert haben. Héctor Pérez-Rincón verweist auf Janets und Freuds Erfahrungen in der Salpetrière bei Charcot: »During their time at La Salpetrière, they simultaneously developed a form of strict psychopatholgical work along the lines traced by Charcot when he concluded at the end of his life that hysteria was a purely psychological disease […]« (Pérez-Rincón, 2011, S. 120).51 Dieser gemeinsame Beginn veranlasst Fragen dazu, welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen beiden Psychologien bestehen, aber auch dazu, inwiefern (der frühe) Janet (den frühen) Freud beeinflusst hat bzw. ob dies außer Acht gelassen wird. Relevant sind hier Arbeiten von Malcolm 50 Sandra Janßen (2009) beschreibt für die Entstehung des Konzepts des Unbewussten bei Freud, wie dieser vom Reflexparadigma der Psychologie seiner Zeit abweicht, dem er zunächst wie Janet und andere folgt. Bereits 1926 vergleicht der britische Psychiater Bernard Hart (1879–1966; Hart, 1926) Janets Konzeptionen der Dissoziation und des Unterbewussten mit Freuds Theorie. Der Beitrag – es ist eine Tagungsrede – wurde in der Zeitschrift von vier Psychiatern, darunter drei renommierten Psychoanalytikern (Ernest Jones, Thomas W. Mitchell, Edward Glover) diskutiert. 1999 erschien in der Ausgabe der Évolution psychiatrique mit dem Thema »La dissociation hystérique […]« ein Vergleich von Texten Freuds und Janets (Thoret et al., 1999). 51 Allerdings sei Freud lediglich vier Monate, von Oktober 1885 bis Februar 1886, bei Charcot gewesen.
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Nachwort zur deutschen Ausgabe
Macmillan (1990; 1997), Mechthilde Kütemeyer (1998; 2006; 2013) und Michael Fitzgerald (2017).52 Aufschlussreich ist bereits Karl Jaspers’ kritisches Verhältnis zur Psychoanalyse (vgl. Bormuth, 2006): In der ersten Auflage seiner Allgemeinen Psychopathologie ( Jaspers, 1913a) im dritten Kapitel über »Die verständlichen Zusammenhänge« diskutiert Jaspers das Thema »Abspaltung seelischer Zusammenhänge« (S. 174–180) und sieht sowohl in Janets als auch in Breuers und Freuds Hysterieforschungen ein gelungenes Beispiel, das Verstehen, zumindest als »ein ›Als-ob-verstehen‹ außerbewusster Zusammenhänge« und das Erklären in der Psychopathologie zu verbinden ( Jaspers, 1913b, S. 170).53 Die Psychoanalyse sei aber in erster Linie eine verstehende Psychologie, weshalb er deren szientistische Ansprüche, Kausalerklärungen in der Psychopathologie zu geben, zurückweist (ebd., S. 169f.; vgl. Bormuth, 2006, S. 20).54 Er fügt hinzu: »[V]or allem wegen des außerordentlich interessanten Inhaltes dieser Lehren, kann kein Psychopathologe umhin, Stellung zu nehmen. Leider ist es zurzeit so, daß die Mehrzahl entweder Freudianer oder Freudverächter sind« ( Jaspers, 1913a, S. 168f.; Hervorhebung i. O.). Mit Blick auf die Psychopathologie der Neurosen bevorzugt Jaspers die französische Psychiatrie (vgl. Bormuth, S. 25), deren »glänzendster Förderer […] Janet« ( Jaspers, 1913a, S. 332) sei, was – auch in späteren Auflagen seiner Allgemeinen Psychologie – in relativ häufigen Zitierungen Janets zum Ausdruck kommt. Der Vergleich der theoretischen Konzeptionen (Dissoziation, Kraft, fixe Ideen vs. Konflikt, Libido, Unbewusstes) ist vermutlich aussichtsreicher als Prioritäts- oder gar Plagiatsfragen zu debattieren. Vergleiche dieser Art bemühen sich eher um ein differenziertes Bild Janets und dessen Verhältnis zu Freud bzw. zur Psychoanalyse, aber häufiger wurde und wird Janet von vielen Psychoanalytikern ignoriert. Eine Ausnahme ist Thomas Köhler, der 52 Hingewiesen sei auf die Monografie von Abdelmajid Mansouri (2011), der Janets erste beiden Bücher (L’automatisme psychologique und L’état mental des hystériques) mit psychoanalytischer Brille liest. Diese Texte seien vor der Freud’schen Theorie der Verdrängung und des Unbewussten verfasst worden. 53 Jaspers unterscheidet für das »Unbewusste« das »Unbemerkte«, das bewusstseinsfähig und Gegenstand verstehenden Psychologie sei, vom »Außerbewussten«, das in die erklärende Psychologie gehöre. Der Determinismus der (»unbegrenzten«) Kausalität treffe nicht für das (niemals grenzenlose) Verstehen zu (vgl. Scheidt, 1986, S. 63f.). 54 Bolton (2004) weist für eine Überwindung der Jasper’schen Dichotomie auf die Relevanz des kognitiven Paradigmas seit den 1960er Jahren hin.
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in seinem Buch Abwege der Psychoanalyse-Kritik. Zur Unwissenschaftlichkeit der Anti-Freud-Literatur im Abschnitt »Prioritätsfragen« auf Janet eingeht (Köhler, 1989, S. 115–118), jedoch anders als Henri F. Ellenberger (1973 [1970]) keinen Grund für eine Aufwertung Janets im Vergleich zu Freud sieht. Auch Thomas Barth (2013) stellt hauptsächlich verschiedene Bemerkungen Freuds zu Janet zusammen, um einen parallelen Ideenverlauf nachzuweisen, und kommt in seinem Buch Wer Freud Ideen gab zu dem konservativen Schluss: »Freuds Funde waren in historischer und inhaltlicher Hinsicht unabhängig von Janet und griffen noch dazu über die Janets weit hinaus. Janets Erkenntisse trafen ein ganzes Stück weit mit jenen Breuers zusammen, jedoch wurden Breuers Befunde früher gemacht und später veröffentlicht als die Janets« (Barth, 2013, S. 75).
Hingegen geht Alfred Lorenzer in einem Aufsatz über Janet, der im deutschsprachigen psychoanalytischen Schrifttum der Nachkriegszeit singulär sein dürfte, auf Janets »Entdeckung des Unbewussten«55 anhand seiner frühen Kasuistiken ein und sieht in »Janets Redeweise von der Dissoziation als Krankheitsgrund eine fast prophetische Vorwegnahme der triebfeindlichen Kohutschen Theorie der Fragmentierung des Selbst« (Lorenzer, 1984, S. 111) 56, wobei er selbst anders als Janet oder Heinz Kohut Stellung »gegen eine Tiefenpsychologie auf rein traumatologischer Basis« (ebd., S. 112) bezieht. Günter Gödde (2006; 1994) stellt die Hysterie-Auffassungen der beiden Charcot-Erben gegenüber und diskutiert Fragen zur unterschiedlichen Klientel, der Diagnostik, den Therapieansätzen und zum (unfruchtbaren) Prioritätsstreit. Den grundlegenden Unterschied zwischen Freuds Konfliktmodell der Psyche und Janets Synthesemodell thematisiert Jules Bemporad (1989). Peter Shoenberg, der den Unterschied zwischen Janet und Freud als »metamorphosis from symptom as stigma to symptom 55 Janet sprach bekanntlich vom »Unterbewussten« (subconscience) (vgl. Ey, 1967 [1963], S. 269f.; Bühler & Heim, 2009). 56 Paul Federn (1871–1950) zieht für seine Ich-Psychologie 1927 in seinem Vortrag über Narzissmus und Ich-Psychologie Janet heran (Federn, 1978, S. 40–58). Mit seinem italienischen Kollegen und Psychoanalytiker Edoardo Weiss (1889–1970) entwickelt er die Ego-State-Theorie (vgl. Watkins & Watkins, 2003 [1997]), die sich offenbar mit Janets Denken und kognitiven Therapien vereinbaren lässt (Rießbeck, 2013a; 2013b; 2019).
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as communication« (Shoenberg, 1975, S. 512) beschreibt, illustriert dies mittels zweier Kasuistiken. Bereits in den 1940er Jahren hat der Psychologe David Rapaport an der amerikanischen Menninger-Klinik versucht, Verdrängung und Dissoziation im Fall von multiplen Persönlichkeiten zu vereinbaren (Rapaport, 1977 [1942], S. 252–260). Diese seien Verhaltensund Erinnerungsmuster, die um unterschiedliche und dissoziierte Systeme von Affekten, Empfindungen und Einstellungen herum angeordnet sind. Die Dissoziation werde zu einem Vorgang, der sich nur graduell von der Verdrängung unterscheide. Bei der Dissoziation würden nicht »die Erinnerungen, die zu einer einzigen unannehmbaren Strebung gehören, vergessen, wie bei der Verdrängung […], sondern eine Reihe von zusammenhängenden Strebungen, die ausreichen, um den Anschein einer ›persönlichen Identität‹ zu erwecken, wird für die eigentliche Persönlichkeit unannehmbar; demgemäß werden ganze Erinnerungssysteme unerreichbar« (ebd., S. 260). In ihrer Monografie über den Einfluss Freuds auf die amerikanische Psychologie schreiben David Shakow und David Rapaport: »If we try to make a balance sheet of Janet and Prince in relation to Freud, we find that they did have priority over Freud in certain respects. But they cannot be said to have influenced Freud in a specific way, because the essential part of his discoveries lies in precisely the place where he went beyond them« (Shakow & Rapaport, 1964, S. 105).
In kognitionspsychologischer Hinsicht unterscheidet John Nemiah (1984) das Konfliktmodell Freuds vom Defizitmodell Janets, Cambell Perry und Jean-Roch Laurence (1984) vergleichen Janets Dissoziationsmodell mit Freuds beiden Formulierungen des Unbewussten (erste Topik um 1900, zweite Topik ab 1920). 1999 und 2000 erschienen zwei Ausgaben der Évolution psychiatrique – Heft 64(4) und 65(1) – mit Studien zum Thema Dissoziation, darunter der Beitrag von Thoret, Giraud und Ducerf (1999) über die Beziehung der Begriffe Dissoziation ( Janet) und Verdrängung (Freud). Karl Ernst Bühler und Gerhard Heim explizieren den restriktiven Begriff des Unterbewussten bei Janet und dessen Zusammenhänge mit der kognitiven Psychologie (Bühler & Heim, 2009). Gabriele Cassullo (siehe 5. Kapitel) zeigt, welche wichtige Rolle das Janet’sche Dissoziationskonzept in den Arbeiten zur Objektbeziehungstheorie (Sándor Ferenczi, Ronald Fairbairn) spielt. Clara Mucci, Giuseppe Craparo und Vittorio Lingiardi (siehe 6. Kapitel) gehen ausführlich auf die Begriffe der 387 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:46:21.
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Dissoziation, Spaltung/Fragmentierung, Verdrängung, des Unbewussten (willkürlich Verdrängtes und dissoziiertes, implizites Gedächtnis) ein und zeichnen die Wiederentdeckung des Janet’schen Ansatzes in der psychoanalytischen Traumaforschung nach. Giovanni Liotti und Marianna Liotti (siehe 7. Kapitel) führen psycho- und neurobiologische Befunde und Konzepte der Psychotraumatologie an, um die Stichhaltigkeit von Janets Kritik an Freuds Abwehrtheorie zu belegen. Von der Psychoanalyse kommend, resümiert Elizabeth Howell: »In the final analysis, Janet’s theory of trauma and dissociation may be much more applicable than Freud’s theory of repression […]« (Howell, 2005, S. 64). Hatten die genannten Beiträge den »frühen« Janet und »frühen« Freud und somit Hysterie, Dissoziation, Un(ter)bewusstes im Auge, veröffentlichte Henri-Jean Barraud bereits 1971 eine systematisch-vergleichende Studie Freud et Janet. Claude M. Prévost plädiert angesichts der zunehmenden Dominanz der Psychoanalyse in Frankreich in den 1970er Jahren in zwei Büchern (1973a; 1973b) für eine intensivere Beschäftigung mit Pierre Janet in der klinischen Psychologie und Philosophie und erkennt einen Einfluss Janet’scher Ideen auf die damaligen »Meisterdenker« Jacques Lacan und Michel Foucault. Der Historiker John F. Laffey (1983) hält einige Jahre vor Alain Ehrenbergs Das erschöpfte Selbst (2004 [1998])57 Janet mit seinem »psychoökonomischen« Ansatz im Vergleich zu Freud für den zeitgemäßeren Theoretiker. Bereits Percival Bailey, Direktor des Illinois State Psychopathic Institute in Chicago, der in den 1920er Jahren Janets Psychologie propagiert hat (Bailey, 1928) widerspricht ausführlich der verbreiteten Ansicht, dass die Psychoanalyse die Psychiatrie in den vergangenen 50 Jahren revolutioniert habe (1956a), und bricht in seinem Essay über die beiden Protagonisten (1956b) eine Lanze für Janet, indem er gegen eine Reihe von Vorurteilen argumentiert ( Janet ein Feind Freuds, Janet als Vorläufer Freuds, Janet überholt, Janet beschreibe, erkläre nicht). Noch zu Lebzeiten Janets bezeichnete der Medizinhistoriker Abraham Roback die Beziehung der beiden als »a complementary (although not complimentary) relationship« (Roback, 1936, S. 132). Janet habe beschrieben und erklärt, Freud interpretiert. Janet habe nach Ursachen, Freud nach Motiven gesucht. Janet sei ein universeller (»catholic«) Gelehrter, der, bevor er an die Wissenschaft herangehe, sich einen Überblick über das 57 Zu einer sich daraus ergebenden im Sinne Janets soziogenetischen Auffassung von Depression siehe Petersen (2009).
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gesamte Gebiet verschaffen müsse. Freud hingegen sei ein Erkunder (»prospector«), intuitiv und selbstgenügsam bei seinen Schlussfolgerungen. In Historiografien der Psychoanalyse (und Freud-Biografien)58 kommt Janet, wenn überhaupt, nur am Rande vor (z. B. Zaretsky, 2006). Als jüngstes Beispiel sei die Freud-Biografie von Peter-Andrè Alt genannt, in der der Autor zwar mehrfach kurz auf Unterschiede zwischen Janet und Freud hinsichtlich der Rolle der Sexualität und des Unbewussten (vs. Unterbewussten) eingeht, auch dass in Frankreich »Janet […] permanent gegen die Psychoanalyse polemisierte« (Alt, 2016, S. 738), aber im Abschnitt über Jungs Trennung von Freud (ebd., S. 556f.) zum Beispiel versäumt, Jungs Brückenschlag zu Janet auf dem Londoner Kongress 1913 (s. u.) zu erwähnen. Die Psychoanalyse wurde in Frankreich erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg durch einzelne Autoren bekannt gemacht59 und in der kulturellen Welt mit Begeisterung aufgenommen, war aber auch in Frankreich in den frühen 1920er Jahren Gegenstand von Kritik und Polemik der Fachwelt (vgl. Carroy et al., 2006, S. 168–173). Die nur im Original vorliegenden französischen Monografien von Elisabeth Roudinesco (1994 [1982]), Annick Ohayon (2006) und Alain de Mijolla (2010) sowie das ursprünglich auf Englisch erschienene Buch über die Geschichte der dynamischen Psychiatrie mit dem für die Wiederentdeckung Janets maßgeblichen umfangreichen Kapitel von Henri F. Ellenberger (1973 [1970]) beschäftigen sich ausführlicher mit Janets Verhältnis zur Psychoanalyse. Besonders aufschlussreich ist Jan Goldsteins (2013) Diskussion der Frage, warum es die Psychoanalyse in Frankreich so schwer hatte: Janet sei ein Repräsentant des für die französische intellektuelle Elite des 19. Jahrhunderts typischen Denkstils gewesen. Praktisch relevant war dieser auf58 Vgl. Compagnon & Surprénant (2018): Freud au Collège de France, 1885–2016. Das als Open Edition veröffentliche Buch enthält Beiträge eines Kolloquiums über die Rezeption Freuds und der Psychoanalyse durch eine Reihe von Professoren des Collège de France (Alfred Maury, Pierre Janet, Henri Bergson, Paul Valéry, Marcel Mauss, Émile Benveniste, Maurice Merlau-Ponty, Jean-Pierre Vernant, Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault). 59 Freud schrieb 1914: »Von den europäischen Ländern hat bisher Frankreich sich am unempfänglichsten für die Psychoanalyse erwiesen […]. In Paris selbst scheint noch die Überzeugung zu herrschen, der auf dem Londoner Kongreß 1913 Janet so beredten Ausdruck gab, daß alles was gut an der Psychoanalyse sei, mit geringen Abänderungen die Janetschen Ansichten wiederholt, alles darüber hinaus sei von Übel« (Freud, 1914, S. 74).
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grund des staatlich verordneten Curriculums für den Philosophieunterricht an Gymnasien (Lycées), das seit 1832 (mit etwa zehnjähriger Unterbrechung während des zweiten Kaiserreichs ab 1852) der damals subjektiven, introspektiven Psychologie der dominierenden philosophischen Richtung des »eklektischen Spiritualismus« zwecks Bildung und Pflege eines postrevolutionären Ichs (Moi, später Personnalité) einen vorrangigen Platz eingeräumt habe. Eine wichtige Veränderung habe der Lehrplan ab 1880 durch die Einführung der objektiven, experimentellen, positivistischen Psychologie und der pathologischen Psychologie erfahren. Bei dieser Revision sei ein führender spiritualistischer Philosoph federführend gewesen, Pierres Onkel Paul Janet (1823–1899).60 Der Herausforderung, die Idee der Einheit des Ich gegenüber Phänomenen wie Schlaf und Traum, Somnambulismus, Halluzination und Wahn zu bewahren, habe sich Pierre Janet in seiner philosophischen Dissertation L’automatisme psychologique gestellt und sei mit der Abfassung des Manuels de Baccalauréat von 1894 (vgl. Janet, 1904) und nach Revision des Curriculums (und nachfolgender Auflagen) betraut worden.61 Er sei sowohl positivistischer Psychologe als auch französischer Philosoph gewesen.62 Die pathologische Psychologie sei, wie eine Umfrage 60 Paul Janet leitete mit seinem bis 1912 weitverbreiteten Lehrbuch Traité élémentaire de philosophie à l’usage des classes (1879) und seiner ausführlichen Darstellung der Hirnforschung den »scientific turn in psychology instruction« ein, weshalb »the late 19th century French intellectual culture was not torn by an opposition between positivism and Cousinian spiritualism, but surpassed this divide by mobilizing Republican synthesis« (vgl. McGrath, 2014, S. 19). 61 Auch in der siebten Auflage des Manuel du Baccalauréat Philosophie (Janet 1946a; unveränderte Version von 1925) werden im Zweiten Teil, »Éléments de psychologie pathologique« (S. 109–161), Freud bzw. Psychoanalyse nicht erwähnt. Das Unbewusste (L’Inconscient, S. 145f.) wird neuropsychologisch definiert, Beispiel sind Dämmerzustände bei Epilepsie, in den folgenden Abschnitten unterscheidet er das Unterbewusste (Le subconscient, S. 146), die mediale Trance (La mediumnité, S. 146), die unterbewussten Ideen (Les idées subconscientes. S. 147), in § 4 geht es um die Teilung der Persönlichkeit (S. 153–160). 62 Wie Jean-Louis Fabiani in seinem Buch über das soziale Leben der Ideen der französischen Philosophie (1880–1980) schreibt, habe Janets Psychologie die neue Psychologie mit der tradierten Philosophie in Einklang gebracht und dieser damit den Zugang zu den Humanwissenschaften ermöglicht (Fabiani, 2010, S. 53). Ausführlich ist das Kapitel über Janet in John Brooks’ Buch über die akademische Philosophie in Frankreich und die Humanwissenschaften im 19. Jahrhundert (Brooks, 1998, S. 163–193); zur Doppelqualifikation Janets als Médecin-philosophe vgl. Fischer-Homberger & Heim (2021, S. 133–165) sowie Heim (2006).
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1907 (von Alfred Binet durchgeführt) ergeben habe, auf großes Interesse gestoßen. Auf diese Weise seien seine mit der damaligen Philosophie konformen Ideen verankert und die Aufnahme der Freud’schen Ideen zum Unbewussten und der Rolle des Ichs behindert bzw. verzögert worden. Dabei sei Janet nicht feindselig gegen die Psychoanalyse vorgegangen, denn »Janet’s position remained fundamentally the same and […] the everchanging Freudian position happened to be more congruent with that position in 189363 than it would later become« (Goldstein, 2013, S. 74). Goldstein beschreibt den Unterschied zwischen den Modellen: Für Janet (»konservativ«) war Bewusstsein die entscheidende Funktion in der Herausbildung des Ich, für Freud (»revolutionär«) umgekehrt das Unbewusste. Von Elisabeth Roudinesco erfährt man, dass die »klinische Psychologie, die auf Automatismus, Unterbewusstsein, Assoziationalismus und Defizit beruht«, aber immerhin »[d]urch Ribot, Janet und Binet […] fortschrittlich und frei von jedem Rassendeterminismus« sei (Roudinesco, 1994 [1986], S. 158), den Einzug der Psychoanalyse in Frankreich erschwert habe.64 Denn als die französische Psychologie mit ihrem pathopsychologischen Ansatz durch Ribot, Janet und Binet zwischen 1895 und 1914 einen 63 Gemeint sind Janets und Freuds Hysteriestudien der 1880er und 1890er Jahre. Eine nie mehr erreichte »Nähe« zwischen ihren Positionen bestand in den Archives de Neurologie (Band 26, S. 1–29; Janet, 1893c) und in der unmittelbar nachfolgend auf S. 29–43 (Freud, 1893) veröffentlichten Arbeit zur hysterischen Lähmung. 64 Diesem Befund zustimmend, meint Richard Keller (1997), indem er sich auf Michel Foucaults Analysen des ärztlichen Blicks in Geburt der Klinik (1963) bezieht, dass Janet die Machtposition des französischen medizinischen Establishments bezüglich der traditionellen Arzt-Patienten-Rolle durch die Psychoanalyse bedroht gesehen habe. Aufgrund von Janets Londoner Vortrag von 1913, und nicht nur wegen des Ersten Weltkrieges, sei die Psychoanalyse in der französischen Medizin mindestens sieben Jahre marginalisiert worden und letztlich erst aufgrund des Lacan’schen Ansatzes in den 1950er Jahren akzeptiert worden. Jean-Baptiste Fages beschreibt die Besonderheiten der »französischen Ausrichtungen« (Fages, 1981, S. 196–228), insbesondere die Rolle der Psychiatrie Mitte der 1920er Jahre, als an der Klinik St. Anne in Paris die Gruppe und Zeitschrift L’Évolution psychiatrique gegründet wurde. Diese Gründung ist verbunden mit Angelo Hesnard, René Laforgue und Édouard Pichon und hatte als Ziel, der Psychiatrie mit Psychoanalyse und Phänomenologie eine neue Grundlage zu geben. Seit der Rezeption der Psychoanalyse durch katholisch-philosophische (neothomistische) Kreise habe sich aber die stereotype Meinung gehalten, man müsse zwischen der problematischen Lehre und der vielversprechenden Behandlungsmethode unterscheiden (vgl. Carroy et al., 2006, S. 169–173).
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gewaltigen Aufschwung genommen habe, habe dies für die Psychoanalyse wie ein Filter gewirkt (ebd., S. 165f.). In ihrer ausführlichen Darstellung von Janets Auftritt auf dem Medizinkongress in London 1913 und seiner Folgen zeichnet sie (ebd., S. 187–208) dann ein etwas despektierliches Porträt Janets, was zu dem ironischen, oft polemischen Stil passt, in dem ihr Buch auch sonst geschrieben ist, und übt vernichtende Generalkritik an seiner Lehre: »Strenggenommen hat das Werk Janets keine ›Theorie‹ zum Inhalt; daher der formlose, verschwommene Charakter seiner Lehre […]« (ebd., S. 196), an anderer Stelle schreibt sie: »Sein Werk ist eine Rumpelkammer, sein Platz nirgendwo« (ebd., S. 216). Annick Ohayons Buch Psychologie und Psychoanalyse in Frankreich (2006) trägt den Untertitel Die unmögliche Begegnung (1919–1969), was auf die fehlende intellektuelle Auseinandersetzung zwischen Psychologie und Psychoanalyse verweisen soll. Aber als psychotherapeutisches Verfahren wurde sie gleichwohl von vielen Ärzten praktiziert. Die Zäsur 1969 solle, schreibt die Autorin im Nachwort, sowohl auf die Notwendigkeit eines angemessenen Abstands der Historikerin zur behandelten Epoche verweisen, zugleich aber auch darauf, dass seit Ende der 1960er Jahre, auch unter den Angriffen renommierter Autoren wie Georges Canguilhem, Michel Foucault und Jacques Lacan auf die Psychologie, sich diese aus den intellektuellen Debatten ausgeschlossen finde, während die Psychoanalyse bis mindestens Anfang der 2000er Jahre einen dauerhaften Einfluss in den Humanwissenschaften ausgeübt habe (Ohayon, 2006, S. 426).65 Im Buch findet sich eine Reihe von Beispielen über den Umgang Janets mit der Psychoanalyse, die keineswegs auf dessen feindselige Einstellung schließen lassen. Die ersten Artikel über die Psychoanalyse seien ab 1909 im von Janet und Georges Dumas begründeten Journal de psychologie normale et pathologique erschienen (ebd., S. 87f.), nach seiner Kritik an der Psychoanalyse (Londoner Kongress 1913) habe Janet noch im Juni 1914, also kurz vor Ausbruch des Weltkrieges, die Psychoanalyse auf einer Jahressitzung der Société de Psychothérapie, de Hypnologie et de Psychologie in Paris gegen (auch chauvinistisch motivierte) Polemik in Schutz genommen und den Wert der psychoanalytischen Arbeiten über Neurosen, die Psychologie des Kindes und der Sexualität hervorgehoben (ebd., S. 90; vgl. Janet, 65 Umgekehrt habe die Psychoanalyse, so aus amerikanischer Sicht (Hoffman, 2010), den Anschluss an die akademische Psychiatrie und Psychologie verloren.
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1915).66 Sein Mitarbeiter Ignace Meyerson (1888–1983), Schriftführer des interdisziplinären Journal de Psychologie normale et pathologique und Mitbegründer der historischen Psychologie67 habe Freuds Traumdeutung ins Französische übersetzt (erschienen 1926 unter dem Titel La science des rêves; vgl. Ohayon, 2006, S. 85).68 Ein interessantes Detail: Im Februar 1923 habe Janet auf einer Sitzung der Société de Psychiatrie de Paris bei einer Diskussion über den Begriff der Verdrängung gesagt: »Der Ausgangspunkt des Freudismus ist Freuds Aufenthalt in der Salpêtrière und die Wiedergabe unserer Gespräche aus dieser Zeit« (ebd., S. 92)69, was die weiterhin offene Frage aufkommen lässt, ob sich die beiden Männer im Winter 1885/86 nicht doch persönlich begegnet sind. In jenen Jahren habe man versucht – wie die sich psychoanalytisch verstehenden Ärzte Angelo Hesnard und Édouard Pichon – die Psychoanalyse und Janets Psychologie miteinander zu vereinbaren, eine Psychoanalyse à la française zu kreieren (z. B. Baudouin, 1922, S. 23–104). Claude Prévost schreibt: »Janet folgte damals seinem Schwiegersohn Édouard Pichon zu den Treffen der Gruppe Évolution Psychiatrique und der Société Psychanalytique de Paris sowie zu den Psychoanalyse-Kongressen. Man studiert gemeinsam Fälle […]. Zu beiderseitigem Vorteil« (Prévost, 1973a, S. 52).70 Hinzu sei gekommen, dass man auch in Frankreich Ende der 1920er Jahre die angewandte Psychologie nach dem Vorbild des englischen »Pelmanismus«71 popularisieren und kommerzialisieren wollte. In der Zeitschrift La psychologie et la vie des sozial-katholisch orientierten Institut Pelman 66 1931 schrieb Janet ein ausführliches Vorwort zur neuen französischen Übersetzung des Buches von Richard von Krafft-Ebing (1840–1902) Psychopathia Sexualis in der Bearbeitung der 17. Auflage von Albert Moll (1862–1939), eines damals bekannten Hypnosearztes, wobei Janet Molls Verdienste im Gebiet der Sexualpathologie hervorhob. 67 Zum Journal de Psychologie und zur Wiederentdeckung der historischen Psychologie Ignace Meyersons vgl. Kühne (2001), Parot (2000) und Pléh (2019). 68 Zu den Besonderheiten dieser Edition siehe de Mijolla (2010, S. 347f., 760f.). 69 »Le point de départ du freudisme c’est le séjour de Freud à la Salpêtrière et la reproduction de nos conversations à cette époque« (zit. in Séance de la Société de psychiatrie de Paris du 15 février 1923, Journal de psychologie normale et pathologique, 1923, S. 589). 70 »Janet suit son gendre aux réunions du groupe de l’Évolution Psychiatrique, de la Société Psychanalytique de Paris, ainsi qu’aux Congrès de Psychanalyse. On étudie des cas en commun […] Le bénéfice est partagé […]«. 71 Ein um 1900 in England begründetes kommerzielles System »zur wissenschaftlichen Erziehung des Geistes und zur Gedächtniskultur« (vgl. Ohayon, 2006, S. 148–160).
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sei Janet genauso gefeiert worden wie Bergson und Freud (ebd., S. 150). Janet war 1929 zwar Präsident des ersten Kongresses für angewandte Psychologie an der Sorbonne, organisiert von diesem Institut, aber seine wissenschaftlichen Kollegen (Henri Piéron, Henri Wallon, Georges Dumas, Ignace Meyerson und Charles Blondel) seien aus dem Komitee wieder ausgetreten, da ihnen Niveau und Zielrichtung wissenschaftlich und politisch problematisch erschienen (ebd., S. 151). Andere bekannte Kollegen hätten teilgenommen: Jean Piaget, Eugène Minkowski, auch die Psychoanalytiker René Laforgue, René Allendy und Édouard Pichon. Erst 1938 im Band VIII (La vie mentale) der Encyclopédie française72 seien maßgebliche französische Psychoanalytiker (Daniel Lagache, Jacques Lacan, Paul Schiff, Pichon) neben repräsentativen akademischen Psychologen, Philosophen und Medizinern (z. B. Janet, Dumas, Wallon, Piéron, Paul Guillaume, Henri Delacroix, Blondel, Minkowski, Jean Lhermitte) vertreten gewesen (ebd., S. 197ff.).73 Von 1946 bis 1959 erschien die Zeitschrift Psyché. Revue Internationale de Psychoanalyse et des Sciences de L’homme, in der namhafte Psychoanalytiker, Psychologen, Soziologen und Psychiater schrieben und auch der letzte Artikel von Janet (1946a) vor seinem Tod erschienen ist (S. 323–335). Diese Zeitschrift sei aber von vielen akademischen Psychologen weitgehend ignoriert oder abgelehnt worden. Im November 1947, in seiner Antrittsvorlesung (am Lehrstuhl für Psychologie générale) an der Sorbonne mit dem Titel L’unité de la psychologie definierte der médecinphilosophe, Psychiater und Psychoanalytiker Daniel Lagache (1903–1972) mit Bezug auf Janet, ohne ihn zu nennen: »la psychologie est la science de la conduite« (Lagache, 1988) [1949], S. 52). Diese Rede, ein ökumenisches Manifest zur Synthese von Natur- und Humanwissenschaften ist 1949 als Buch erschienen und enthielt das Programm der französischen Psychologie der Nachkriegszeit. Lagache wies darin der experimentellen Psychologie, der klinischen Psychologie und der »ultra-klinischen« Psychoanalyse einen integralen Platz in der von Philosophie und Medizin un72 Koordinator war der Historiker Lucien Febvre, Herausgeber des Bandes VIII der Psychologe Henri Wallon. 73 1937 wurde Janet Vorsitzender einer neu gegründeten, nur zwei Jahre bestehenden interdisziplinären Société de psychologie collective (Vizevorsitz: George Bataille; Mitglieder: René Allendy, Paul Schiff, Daniel Lagache, Michel Leiris, Adrien Borel, John Leuba). Zu Hinweisen auf eine Janet-Rezeption durch George Bataille (1897–1962) vgl. Gumpper & Serina (2021, S. 57–62).
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abhängig gewordenen akademischen Psychologie zu, indem er sich für die Zusammenführung von Erklären und Verstehen einsetzte, was aber nicht gelungen ist (ebd. S. 281f.).74 Alain de Mijolla (2010) hat eine zweibändige Chronologie der Psychoanalyse in Frankreich verfasst. Beim Thema Janet – Freud bezieht sich de Mijolla auch auf Ellenberger (1973 [1970]) und Ohayon (2006). Zur Sprache kommen Berührungspunkte zwischen Janet und Freud, ab 1893 (de Mijolla, 2010, S. 44–47): »Die Geschichte ihrer Beziehungen ist die zweier Forscher, die in derselben Epoche im gleichen Gebiet der Psychopathologie geforscht haben« (ebd., S. 59)75. Beim Amsterdamer Internationalen Psychiatriekongress im September 1907, auf dem Janets Hysterietheorie noch den Vorrang hatte (ebd., S. 100–104), seien offenbar bereits Ressentiments entstanden (ebd., S. 165f.), auch – wie C. G. Jung am 4. September 1907 an Freud schrieb – wegen der Geringschätzung durch Janet, der seine Studien als das Original betrachtete, deren Ergebnisse Breuer und Freud bestätigt hätten (vgl. Serina, 2021, S. 36–40). In den folgenden Jahren sei, trotz ihrer Erfolge bei der Verbreitung ihrer Ideen über die frankophone Schweiz (s. Baudouin, 1922), der Unmut Freuds und seiner Schüler gewachsen, unter anderem wegen der Versuche französischer Psychiater, die Psychoanalyse mit Janets Ideen zu vereinbaren (de Mijolla, 2010, S. 143f.), natürlich auch wegen der in der französischen Szene verbreiteten Meinung »das Génie latin vertrage überhaupt nicht die Denkungsart der Psychoanalyse« (Freud, 1925d [1924], S. 88; Hervorhebung i. O.), auf die Freud in seiner Selbstdarstellung sarkastisch antwortet: »Wer das hört, muss natürlich glauben, das Génie teutonique habe die Psychoanalyse gleich nach ihrer Geburt als sein liebstes Kind ans Herz gedrückt« (ebd.; Hervorhebung i. O.). Janets Referat auf dem Londoner Medizinkongress 1913 habe dann zum Eklat (ebd., S. 143–146) geführt.76 Daran habe auch Janets kurze positive Beurteilung der Psychoanalyse im Jahre 1914 nichts mehr geändert (ebd., S. 152f.)77. Diese gebremste und gefilterte Rezeption der Psychoanalyse in 74 Zu Kontext und Wirkung von Lagaches Schrift vgl. Schmidgen (1998). 75 »L’histoire de leurs relations est celle de deux chercheurs qui ont exploré à la même domaine de la psychopathologie.« 76 Siehe dazu ausführlich Esther Fischer-Hombergers Analyse »As a result, one can say that Janet ist squashed« (Fischer-Homberger, 2021, S. 167–228). 77 Janet (1915), deutsche Übersetzung in Wolfradt, Fiedler & Heim (1917, S. 122–123); ausführlich zitiert bei Ohayon (2006, S. 53f ).
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Psychiatrie und Psychologie habe Freud in seiner Selbstdarstellung (1925d [1924], S. 40f.) auch auf den Einfluss Janets zurückgeführt. Es sei immer wieder zu vergeblichen Versuchen gekommen, Janet und Freud bzw. die Psychoanalyse zu »versöhnen«: So habe Janet im Januar 1933 an einer Psychoanalytikertagung in der Klinik St. Anne teilgenommen (de Mijolla, 2010, S. 580–582), auf der unter anderem von einigen Teilnehmern seine Auffassung zum Zwang mit Freuds verglichen und diskutiert wurde. 1938 veröffentlichte Robert Desoille sein Konzept einer eklektischen Wachtraumtherapie (rêve eveillée dirigé), in dem er Ideen von Janet, Freud und Coué verbunden hat. 1936 kam Roland Dalbiez’ zweibändiges Buch La méthode psychanalytique et la doctrine freudienne heraus, das Aufsehen erregte, weil es die Freud’sche Theorie verwarf, die therapeutische Methode aber hoch bewertete. Édouard Pichon verfasste im gleichen Jahr für die Revue française de psychanalyse eine lange positive Rezension, aus der de Mijolla zitiert: »Und warum diese Skotomisierung der Lust an der Spannung, der Lust an der Erregung, die Janet sehr gut gesehen hat? […]. Mir scheint, dass Herr Freud, so wie er seinen Materialismus rettet, indem er ständig leere biologische Betrachtungen in sein geniales Werk einwirft, die ihm nichts hinzufügen, er auch dazu gedrängt wird, seine Irreligiosität zu retten, indem er alle Fenster verschließt, die auf ein moralisches Ziel hinauslaufen könnten. […]. Oh, ein wunderbares Beispiel für das Menschliche eines genialen Mannes!« (de Mijolla, 2010, S. 683).78
1937 habe Janet Freud in Wien aufsuchen wollen, aber Freud habe eine Begegnung abgelehnt. Édouard Pichon schrieb im Juni 1939 darüber an Henri Ey: »Es ist wahr, dass eine Synthese zwischen dem Janetismus und dem Freudianismus notwendig ist; aber Sie wissen, was für dumme persönliche Missver78 »Et pourquoi cette scotomisation du plaisir de tension, du plaisir d’excitation, que Janet, lui, a très bien vu? […] Ce qu’il me parait, c’est que M. Freud, de même qu’il sauve son matérialisme en jetant sans cesse dans sa géniale œuvre des considerations biologiques vides, sans appui aucun, qui n’y ajoutent rien, est de même foncièrement poussé à sauver son irreligiosité en bouchant toutes les fenêtres qui risqueraient de donner sur une finalité morale. […] Oh! Splendide exemple de l’humaine condition d’un homme de génie!«.
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ständnisse zwischen zwei Männern die Verbindung der Lehren verhindert haben: so viele bedauerliche Auswirkungen hat die menschliche Kleinlichkeit! Mein Schwiegervater hatte Freuds Lehren heftig angegriffen, aber täglich widerspricht er mit seiner naiven Verve auch Leuten, die seine Freunde sind und bleiben. Freud, verbittert über die Barrieren, die im deutschsprachigen Raum gegen ihn verbreitet wurden, und weil er die Atmosphäre der französischen Diskussionen nicht verstand, nahm daran Anstoß. Als mein Schwiegervater kurz vor dem Anschluss Österreichs an den Hitlerstaat nach Wien reiste, meinte er sehr freundlich, dass er Freud, dem dortigen Meister der Psychopathologie, einen Besuch schuldig sei; die Prinzessin79 ließ jedoch verlauten, dass Freud ihn nicht empfangen würde; als Pierre Janet zu ihm nach Hause kam, war er, wie er sagte, nicht anwesend. Es bedurfte einiger Diplomatie, um meinen naiven und gutmütigen Schwiegervater davon zu überzeugen, dass es sich hierbei nicht um einen Zufall handelte, sondern um Absicht, die Tür zu schließen. Ich finde nicht, dass diese Geste am Abend ihres Lebens sehr zur Ehre von Sigismond, dem mährischen Juden, gereicht« (Pichon, zit. nach de Mijolla, 2010, S. 694).80
Carl Gustav Jung
C.G. Jung (1875–1961) hat seit seiner Dissertation 1902 bei Eugen Bleuler über die »Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene« 79 Marie Bonaparte. 80 »Il est bien vrai que la necessité d’une synthèse entre le janetisme et le freudisme s’impose. […], mais vous savez ce que sont de sots malentendus personnels qui ont empêché l’alliance de doctrines: tant les mesquineries humaines ont d’effets déplorables! Mon beau-père avait attaqué violemment les doctrines de Freud; mais journellement il contredit aussi, avec sa verve naive, des gens qui sont et restent ses amis. Freud, aigri par les barrières diffusés contre lui en pays de langue allemand, ne comprenant pas l’atmosphère des discussions à la francaise, s’est formalisé. Quand, peu de temps avant l’annexion de l’Autriche à l’État hitlérien, mon beau-père est allé à Vienne, il a jugé très gentiment qu’il devait une visite Freud, le maître de la psychopathologie de l’endroit; or la princesse a fait savoir que Freud ne le recevrait pas; quand Pierre Janet est allé chez lui, il était, a-t-on dit, absent, et il nous a fallu de la diplomatie pour que mon beau-père, toujours naivement bon, n’apprît point qu’il s’agissait là, non pas d’un hasard mais d’une volonté de fermeture de porte. Je ne trouve pas qu’au soir de leur vie, ce geste soit très à l’honneur de Sigismond le Judéo-morave.«
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und danach in seinen Texten zur Dementia Praecox bzw. Schizophrenie zwischen 1907 und 1959 mehrfach wieder Janet hervorgehoben, insbesondere L’automatisme psychologique und Les obsessions et la psychasthénie ( Jung, 1966; 1968; vgl. Caterina Vezzoli, 4. Kapitel). Im Wintersemester 1902/03 hat er in Paris Janets Vorlesungsreihe »Les émotions et les oscillations du niveau mental« ( Janet, 2004, S. 37–40) am Collège de France gehört. Auf dem Amsterdamer Kongress 1907 hebt er in seinem Vortrag hervor: »Die theoretischen Voraussetzungen für die Denkarbeit der Freud’schen Forschung liegen vor Allem in den Erkenntnissen der Janet’schen Experimente. Von der Thatsache der psychischen Dissociation und des unbewussten seelischen Automatismus geht die erste Breuer-Freud’sche Formulirung des Hysterieproblems aus. Eine weitere Voraussetzung ist die unter Andern von Binswanger so nachdrücklich hervorgehobene aetiologische Bedeutung des Affectes« ( Jung, 1908, S. 273).
Im Folgenden referiert er eher zustimmend Freuds Theorie einer Verdrängung infantiler (mehr oder weniger perverser) sexueller Phantasien, was zur Relativierung der Rolle des Traumas in der Pathogenese der Hysterien führt. Nur einige Monate vorher hat Jung Janet in Paris besucht und ihn in einem Brief an Sigmund Freud als »nur eine Intelligenz, aber keine Persönlichkeit, ein flacher Causeur und der Typus des mediokren Bourgeois« (28.6.1907, 33J, vgl. Freud & Jung, 1974, S. 74) beschrieben. In der Ätiologie der Hysterie vertrat er aber dann doch in den folgenden Jahren eher Janets Ansicht über eine nur akzessorische Rolle der Sexualität. So sagte er auf dem Londoner Medizinkongress 1913: »Therefore I propose to liberate the psychoanalytic theory from the purely sexual standpoint. In place of it I should like to introduce an energetic view-point into the psychology of neurosis« ( Jung, 1913, S. 68)81; Hervorhebung i. O.) und fährt fort: »I 81 Beim Thema psychischer Energie bzw. Kraft weist Shamdasani (2003, S. 204–206) auf eine Verbindung zwischen Jung, William James, und Janet hin. In seinem populärwissenschaftlichen Essay »The energies of man« über Energiereserven (»second wind«) plädiere James für eine vage Definition einer solchen Energie (»Just how to conceive the inner work physiologically is as yet impossible, but psychologically we all know what the word means«; James, 1914, S. 12). Genauso habe sich Janet in seiner Psychasthenie-Konzeption nur für die Manifestationen des Energiedefizits (Ermüdung, Mattigkeit, Trägheit, Lustlosigkeit), nicht für die Natur der Kraft (force) interessiert (Shamdasani, 2003, S. 205)
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cannot forbear to mention that this view comes very near to Janet’s hypothesis of the substitution of the ›parties supérieures‹ of a function by its ›parties inférieures‹« (ebd., S. 69). Er resümiert: »The psychological trouble in neurosis, and neurosis itself, can be considered as an act of adaptation that has failed. This formulation might reconcile certain views of Janet’s with Freud’s view that a neurosis is – under a certain aspect – an attempt at self-cure; a view which can be and has been applied to many diseases« (ebd., S. 70f.).
Bekanntlich trennten sich ab 1913 die Wege von Freud und Jung, auch Bleuler (1912) distanzierte sich von Freud. John R. Haule sah einen bedeutsamen Einfluss von Les obsessions et la psychasthénie auf Jungs Archetypenlehre wegen des Schlüsselbegriffs der »fonction du réel« und – obwohl Jung spätere Schriften von Janet nicht mehr zitiert – der dann von Janet in den folgenden 30 Jahren auf dieser Grundlage ausgearbeiteten späteren genetischen Psychologie. Haule erläutert diese für die jungianische Leserschaft mit Jung’scher Terminologie und demonstriert anhand von drei Fällen ihre Anwendbarkeit (Haule, 1983). Jungs Versuch, das beste von Freud und Janet zu verbinden, sei aber wegen der unüberwindlichen Gegnerschaft Freuds zu Janet nicht gelungen, sondern habe zum Bruch Jungs mit Freud geführt (Haule, 1984a). Sonu Shamdasani stellt sich dem verbreiteten »Freudocentric reading« (Shamdasani, 1998, S. 116) von Jung entgegen. So spiele in Jungs Analytischer Psychologie neben Bleuler und Freud die frankophone Psychopathologie (besonders Janet und der Genfer Théodore Flournoy) eine wesentliche Rolle. Jungs vorausschauende und scharfsinnige Kritik an Freud sei wegen dieser reduzierten Lesart auch an zahlreichen Jungianern vorbeigegangen (ebd., S. 124). Paula Monahan beschreibt Janets Einflüsse (Dissoziation, Abaissement du niveau mental) auf Jung, ihre Konvergenzen (Idées fixes – Komplexe, Synthèse – Individuation, Trauma – Ätiologie) und Divergenzen (normale vs. pathologische Dissoziation, Ich/Selbst-Entwicklung) und zeigt damit »how a knowledge of Janet und seine Psychotherapie darauf ausgerichtet, wie James schreibt, »to discover to […] [the psychasthenics] more usual and useful ways of throwing their stores of vital energy into gear« (James, 1914, S. 24). S. a. Fischer-Homberger (2021, S. 37–41, 233–250), Laffey (1983).
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can provide a lens for deeper insight into Jung’s own thought« (Monahan, 2009, S. 46). Das kürzlich erschienene Buch von Florent Serina, C. G. Jung en France, auf Archivrecherchen basierend, geht auch auf Wirkungen Janet’scher Ideen in Jungs Analytischer Psychologie ein (Serina, 2021, S. 36–40, S. 45–50). Janet und Jung seien 1936 zusammengetroffen (Psychiatriekongress in Basel; Dreihundertjahrfeier in Harvard, auf der beiden die Ehrendoktorwürde verliehen wurde82, s. Janet, 1937a; Jung, 1937). Zum 70. Geburtstag Jungs 1945 habe Janet für die Jubiläumsausgabe der Schweizer Zeitschrift für Psychologie einen Beitrag »La croyance délirante« ( Janet, 1945) geschrieben und im September 1946 traf Janet Jung noch persönlich auf dem Züricher Kongress für angewandte Psychologie ( Janet, 1946a). Alfred Adler und Wilhelm Stekel
Diese beiden zeitweiligen österreichischen Anhänger Freuds, von denen Adler (1870–1937) wohl von Janet besonders geschätzt wurde (Serina, 2021, S. 50), bezogen sich auf Janets Psychasthenie-Studien ( Janet, 1903): Adlers Selbstwertpathologie (»Minderwertigkeitsgefühl«) entspricht Janets »Sentiment d’incomplétitude« (Adler, 1912, S. 3; Freschl, 1914; s. a. Brachfeld, 2002 [1945]; Rattner, 1983). Stekel (1868–1940) zitiert Janet in seinen Studien zu neurotischen Störungen häufig, namentlich in den seit 1908 auf zehn Bände angelegten Störungen des Trieb- und Affektlebens (Die parapathischen Erkrankungen) für Psychotherapie praktizierende Ärzte (Stekel, 1912–1928), darunter »Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung«, »Impulshandlungen (Wandertrieb, Dipsomanie, Kleptomanie, Pyromanie und verwandte Zustände«, »Zwang und Zweifel«) (s. dazu Ellenberger, 1973 [1970], S. 801–805).83 82 Zusammen mit Edgar D. Adrian (Nobelpreis 1932), James B. Collip, Jean Piaget, Rudolf Carnap, Abbott L. Lowell, Bronislaw Malinowski. 83 Gumpper & Serina (2021, S. 626, Anm. 302) berichten, dass sich Stekel im März 1938 brieflich an Janet gewandt habe, um nach dem Anschluss aus Österreich mithilfe einer Einladung zu einem Vortrag nach Paris zu kommen und ins Exil nach London zu gehen. Janet habe den Brief sogleich mit der Bitte an Henri Piéron weitergeleitet, das Nötige zu veranlassen.
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Jacques Lacan
Daniel Lagaches psychiatrischer und psychoanalytischer Kollege Jacques Lacan (1901–1981)84 bezog sich explizit auch auf Janet in seiner Dissertation von 1932 über die paranoische Psychose und ihre Beziehungen zur Persönlichkeit (Lacan, 2002 [1932]) sowie in seinen beiden Texten über die Psychologie und Pathologie der Familie in der Enzyklopädie von 1938 (vgl. Ohayon, 2006, S. 208–211). Er hatte vermutlich persönliche Begegnungen mit Janet, da er während der deutschen Besatzung als Arzt an der Klinik St. Anne war, wo auch Janet hospitierte. Auch kannte er Janets Schwiegersohn Édouard Pichon (1890–1940), dessen sprachtheoretische Arbeiten er für seine Konzeption des Unbewussten herangezogen hat (s. a. Roudinesco, 1994 [1986], S. 280–289). Lacan hat bekanntlich einen großen Einfluss auf die französische Psychoanalyse in der Nachkriegszeit ausgeübt. Stéphane Gumpper und Florent Serina (2021) haben herausgefunden, dass Janet 1935 eine positive Bewertung der Dissertation Lacans (2002 [1932]) als Mitglied des Institut de France geschrieben hat, sodass dieser einen Preis der Académie des sciences morales et politiques erhalten habe (Gumpper & Serina, 2021, S. 67). In seinem Aufsatz »Réalisation et interprétation« ( Janet, 1935b) gehe Janet, der sich damals zunehmend mit Wahnkrankheiten beschäftigte, auch auf die Kritik Lacans an seiner unvollständigen Analyse des Verfolgungswahns ein ( Janet, 1932a). Lacan habe sich im Lauf der Jahre, vor allem in seinen Seminaren ab 1951 des Öfteren kritisch auf Janet bezogen: zum Beispiel im Séminaire XV »L’acte psychanalytique« von 1967–1968 habe er darauf beharrt: »Das Subjekt, das befiehlt. Pierre Janet hat eine ganze Psychologie allein darum herum aufgebaut. Das bedeutet überhaupt nicht, dass er fehlgeleitet war, im Gegenteil, es passt gut in die Linie. Es ist einfach nur rudimentär und erlaubt es nicht, viel zu verstehen, denn […] da gibt es wirklich Meister […] und diejenigen, die mit dem ›Machen‹ zu tun haben« (Lacan, 1967–1968, zit. nach Gumpper & Serina, 2021, S. 71).85 84 S. dazu Gumpper & Serina (2021, S. 62–72). 85 »Le sujet qui commande. Pierre Janet a fait toute une psychologie rien qu’autour de ça. Ça ne veut pas dire du tout qu’il était mal orienté, au contraire, ça vient bien dans la ligne. Simplement, c’est rudimentaire et ça ne permet pas de comprendre grand-chose parce que […] là il y a vraiment des maîtres […] et ceux qui ont affaire avec le ›faire‹.«
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Gumpper und Serina kommentieren: Man müsse bedenken, dass Lacan sein Denken in Opposition zu zahlreichen Autoren entwickelt habe (de Clérambault, Bergson, Charles Blondel, Lucien Lévy-Bruhl, Piaget, Janet, Jung, Jones und im Zuge seiner späteren Lehrtätigkeit sogar Freud), die in unterschiedlichem Maße seine Überlegungen befruchtet hätten; aber deren Theorien er nur selten verschont habe (Gumpper & Serina, 2021, S. 71). Fazit
Warum konnte Janet angesichts seines Prestiges und der starken Präsenz eines Teils seiner Ideen zu seinen Lebzeiten dann in den Jahrzehnten nach seiner Emeritierung (1934) und seinem Tod (1947) als veraltet und so gut wie vergessen gesehen werden, und warum interessiert man sich jetzt wieder für ihn? Eine vorsichtige Antwort sei versucht: Janets Psychologie war weniger als die Psychoanalyse mit psychotherapeutischen oder kulturellen Diskursen verbunden (in Frankreich mit der Ausnahme von ein paar Jahren im Zusammenhang mit den Untersuchungen am Medium Léonie ab Mitte der 1880er Jahre und um 1930 bei den Bemühungen um eine angewandte Psychologie). Denn sie behandelte keine spektakulären oder provozierenden Themen wie die Sexualität des Kindes, die Libidotheorie oder die Macht des Unbewussten. Hinzu kommt, dass Janet anders als Freud keine »Schule«86 gründen musste, um sich und seine Psychologie zu etablieren, denn er war während seiner gesamten Laufbahn durchgängig als médecinphilosophe Mitglied der akademischen Elite. Mit Ausnahme seiner Präsenz in den Lehrplänen war er als Professor am Collège de France mit eher 86 An der von Abraham Roback (1936) so bezeichneten »Dissociation school« beteiligten sich eine Reihe von Kollegen, die sich ab ca. 1900 wie Morton Prince, Boris Sidis, William McDougall unter anderem für Janets Dissoziationskonzept als Psychopathologie- und Hypnoseforscher interessierten (vgl. Hilgard, 1986, S. 5–10), ohne dass hier eine mit der »Freud’schen Schule« vergleichbare Institutionalisierung stattgefunden hat, sieht man von der Gründung des Journal of Abnormal Psychology 1906 durch Prince ab, dessen erste Ausgabe mit einem Artikel von Janet eröffnet wurde, in dem es aber nicht um Dissoziation geht (Janet, 1906/1907). Zudem sahen – anders als Janet – seine Kollegen im Unterbewussten und der Dissoziation keine apriori pathologischen, sondern zum Bereich des Normalen gehörende Phänomene.
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wenig institutionellen Verpflichtungen und als psychotherapeutischer Arzt in Privatpraxis im Grunde ein Solitär. Die Psychoanalyse, die von ihren Anhängern unabhängig von Freud stetig weiterentwickelt wurde, aber auch die Forschungsaktivitäten der akademischen Psychologie, später auch der Psychiatrie schoben seine Werke peu à peu, wenn auch nicht gänzlich, ins Archiv. Symptomatisch ist, dass seine große Privatbibliothek nicht zusammengehalten wurde, sondern verschwunden ist.87 Die ihm zugeschriebene Rolle eines Rivalen von Freud wird ihm, so gesehen, nicht wirklich gerecht (vgl. Surprenant, 2018; vgl. Assmann, 2021, S. 18; Fischer-Homberger, 2021, S. 55f., 167f.), obwohl es offensichtlich zutrifft, dass er die Psychoanalyse nicht als ebenbürtige Wissenschaft akzeptierte. Gesellschaftliche Veränderungen und Krisen ermöglichten seit den 1980er Jahren Bestrebungen hin zu einer evidenzbasierten und schließlich holistisch-integrativ orientierten Psychotherapie und Psychiatrie, die über eine reduktionistische Verhaltenstherapie ebenso hinausgehen wie über eine sich nur intern validierende Psychoanalyse oder eine sich in erster Linie mit der Neurobiologie bescheidenden Psychiatrie. Diese Entwicklungen lenkten den Blick insbesondere verstärkt auf die Realität traumatischer Erkrankungen und ließen den wissenschaftlichen und praktischen Wert der Konzepte Janets wieder erkennen.
87 Mehrere tausend Bände habe Janets Bibliothek umfasst, darunter Bücher über Magnetismus und Psychiatrie aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Leonhard Schwartz sollte die Bibliothek erben, er starb aber bereits 1948. 1949 wurde sie wohl von Janets Töchtern an mehrere Buchhändler verkauft. Serina und Gumpper fanden über das Internet mehrere hundert Bücher mit dem Exlibris von Janet. Ein Teil der Bücher wurde aus der Bibliothek eines Krankenhauses im Großraum Paris gestohlen und weiterverkauft, einige fanden sich dann in einer Sammlung für eine Auktion des Neurologen Julien Bogousslavsky, bei anderen stellten sich die Exlibris als gefälscht heraus. Es seien wohl nur 60 Bücher aus Janets Bibliothek identifiziert worden (vgl. Serina & Gumpper, 2021, S. 571–605).
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Gerhard Heim
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Die HerausgeberInnen und AutorInnen
Cécile Barral, PhD, ist Psychotherapeutin in privater Praxis in Sydney und Newcastle, NSW, Australien. Sie absolvierte die Conversational-Model-Ausbildung 1996 in der ANZAP (Australia and New Zealand Association of Psychotherapy) und schätzt sich glücklich, dem Team der Conversational-Model-Therapeuten anzugehören, die an Russell Meares’ Weiterentwicklung seines Denkens unmittelbar teilhaben dürfen. Sie hat auf ANZAPTagungen zahlreiche Vorträge gehalten und ist Mitglied der ANZAP-Fakultät. Sie war drei Jahre lang Ausbildungsleiterin des dreijährigen Ausbildungskurses der ANZAP. Sie wurde in Deutschland geboren, hat französische Eltern und absolvierte den Großteil ihrer Ausbildung in Frankreich. Eine Ausbildung in somatischer Psychotherapie erfolgte am Londoner Boyesen Institut. Anschließend emigrierte sie nach Australien, wo sie zuerst die Selbstpsychologie und dann das Conversational Model entdeckte. Sie ist froh darüber, Janet im Original lesen zu können, und hat einige seiner Schriften übersetzt, dies umso lieber, als Janet bedeutenden Einfluss auf Russell Meares und seine Entwicklung des Conversational Model ausgeübt hat. Vanessa Beavan, PhD, ist klinische Psychologin und hat sich seit 2006 auf Psychosen spezialisiert. Seit 2012 lehrt sie klinische Psychologie am Australian College of Applied Psychology, Sydney. Sie hat ihr Master’s Degree in Clinical Psychology an der Université de Bordeaux II, Frankreich, erworben und an der Auckland University, Neuseeland, promoviert. Sie gehörte dem Vorstand des Hearing Voices Network sowie dem Vorstand der International Society for Psychological and Social Approaches to Psychosis in Neuseeland und Australien an und hat sowohl Zeitschriftenartikel als auch Buchbeiträge über Psychosen mit Stimmenhören, Trauma und Genesung als besonderem Schwerpunkt veröffentlicht. Paul Brown, MD, ist Pierre-Janet-Forscher. Er hat in London Medizin und Psychiatrie studiert und die Ausbildung 1972 bzw. 1978 abgeschlossen. In den 1980er Jahren zog er nach Jerusalem, wo er sich auf Psychotherapie, insbesondere Kurzzeitpsychotherapie, konzentrierte. Nach Melbourne kehrte er Ende der 1980er Jahre zurück. Seine beruflichen Interessen gelten der Diagnostik mit Schwerpunkt Posttraumatische Belastungsstörung und seit 2000 den Themen Stress, Suizid und Gewalt. Pierre Janet, über dessen Werk er mehrere Beiträge verfasst hat, ist eine Inspirationsquelle für seine klinische Praxis.
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Die HerausgeberInnen und AutorInnen Karl-Ernst Bühler, Dr. med., Dipl.-Psych., ist Professor für Psychotherapie und Psychosomatik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie sowie Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er hat zahlreiche Beiträge in internationalen und nationalen Fachzeitschriften für Psychotherapie, Psychosomatik, Klinische Psychiatrie und Psychiatrie veröffentlicht. Seine Hauptinteressen sind philosophische Psychologie und philosophische Psychotherapie sowie die empirische Forschung über die psychischen Ursachen und die Behandlung depressiver und existenzieller Krisen. Gabriele Cassullo, PhD, arbeitet als klinischer Psychologe und Psychotherapeut in Turin, Italien. Er hat in Humanwissenschaften promoviert und ist außerordentlicher Professor für Psychologie an der Turiner Universität. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel über die Geschichte, Theorie und Technik der Psychoanalyse veröffentlicht. Zusammen mit Aleksandar Dimitrijevic und Jay Frankel hat er 2018 den Reader Ferenczi’s Influence on Contemporary Psychoanalytic Traditions herausgegeben. Giuseppe Craparo, PhD, ist Psychologe, Psychoanalytiker, Associate Professor of Clinical Psychology und Deputy Director, MSC Course in Clinal Psychology (Kore Universität Enne, Italien). Er ist Direktor des Psychoanalytischen Instituts (IPP), Palermo, und Mitglied der folgenden Fachgesellschaften: American Psychological Association, Italian Psychological Association, Italian Society of Psychological Assessment, Association of Psychoanalytic Studies, International Federation of Psychoanalytic Societies. Er ist Verfasser zahlreicher Schriften über Psychoanalyse, Psychopathologie, Trauma und Dissoziation, zum Beispiel: Trauma e psicopatologia. Un approccio evolutivo-relazionale (gemeinsam herausgegeben mit Vincenzo Caretti; 2008); Memorie traumatiche e mentalizzazione (gemeinsam herausgegeben mit Vincenzo Caretti und Adriano Schimmenti; 2013); Il disturbo post-traumatico da stress (2013); Inconsci, coscienza e desiderio. L’incertezza in psicoanalisi (2015); Elogio dell’incertezza. Saggi psicoanalitici (2016); Pierre Janet. Trauma, coscienza, personalità (gemeinsam herausgegeben mit Francesca Ort und Raffaello Cortina; 2016); Unrepressed Unconscious, Implicit Memory, and Clinical Work (gemeinsam herausgegeben mit Clara Mucci; 2017); L’enactment nella relazione terapeutica. Caratteristiche e funzioni (2017) und Inconscio non rimosso. Riflessioni per una nuova prassi clinica (2018). Barbara Friedman, MA, LMFT, ist Wissenschaftlerin und Psychotherapeutin in privater Praxis in Los Angeles, USA, und spezialisiert auf die Behandlung chronischer Traumatisierung und Dissoziation. Angeregt durch das Werk Pierre Janets verfasste sie 1989 zusammen mit Onno van der Hart A Reader’s Guide to Pierre Janet. Nach 20-jähriger herausfordernder Arbeit mit schwierigen Fällen begann sie 2007, Prinzipien der Neuroplastizität und der Comprehensive Energy Psychology mit den klassischen und neuentwickelten Techniken der Traumabehandlung zu verbinden. Gerhard Heim, Dr. rer. soc., Dipl.-Psych., ist Psychotherapeut (kognitive Verhaltenstherapie) in Berlin und praktiziert seit 1992. Geboren in München, studierte er Psychologie und Philosophie an der Universität Konstanz, verfasste seine psychologische Dissertation über Aufmerksamkeit, Lateralität und Psychopathologie bei schizophrenen Patienten und war als klinischer Psychologie in psychiatrischen Einrichtungen in Weinsberg und
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Die HerausgeberInnen und AutorInnen Berlin tätig. Zu seinen Forschungsinteressen zählen unter anderem Psychopathologie, Geschichte der Psychotherapie und Klinische Psychologie. Er ist Vorsitzender der Pierre Janet Gesellschaft (gegründet 2001; www.pierre-janet.de). Publiziert hat er über Psychopathologie, Geschichte der Psychologie und Themen im Zusammenhang mit Pierre Janets Beiträgen zur Psychiatrie, Psychotherapie und Klinischen Psychologie. Er ist Herausgeber von Janet-Übersetzungen, zum Beispiel Die Psychologie des Glaubens und die Mystik nebst anderen Schriften (2013), und von Bänden mit Beiträgen der Deutschen Pierre-Janet-Symposien (Trauma, Dissoziation, Persönlichkeit, 2006; Psychotherapie: Vom Automatismus zur Selbstkontrolle, 2010; Dissoziation und Kultur, 2013; Schlüsselthemen der Psychotherapie, 2017) und (mit Moritz Wedell) Herausgeber des Buches von Esther Fischer-Homberger Pierre Janet und die Psychotherapie an der Schwelle zur Moderne (2021). Vittorio Lingiardi, MD, ist Psychiater und Psychoanalytiker. Er ist Ordentlicher Professor für Dynamische Psychologie und war von 2006 bis 2013 Direktor des Clinical Psychology Specialization Program der Abteilung Dynamische und Klinische Psychologie im Fachbereich für Medizin und Psychologie der Universität La Sapienza, Rom. Zu seinen Forschungsinteressen zählen Diagnostik und Behandlung von Persönlichkeitsstörungen, Verlaufs-Ergebnis-Forschung in Psychoanalyse und Psychotherapie sowie Gender-Identität und sexuelle Orientierung. Er hat in Italien zahlreiche Bücher und in internationalen Fachzeitschriften Artikel veröffentlicht, zum Beispiel in American Journal of Psychiatry, Archives of Sexual Behavior, Contemporary Psychoanalysis, Journal of Personality Assessment, Journal of Personality Disorders, International Journal of Psychoanalysis, Psychoanalytic Dialogues, Psychoanalytic Inquiry, Psychoanalytic Psychology, Psychotherapy sowie World Psychiatry. Von der American Psychoanalytic Association wurde er mit dem Ralph Roughton Paper Award ausgezeichnet. Zusammen mit Nancy McWilliams bildete er das Steering Committee der neuen Ausgabe des Psychodynamics Diagnostic Manual (PDM-2, 2017). Giovanni Liotti, MD, war Psychiater und Psychotherapeut, Gründungsmitglied und ehemaliger Präsident der Italienischen Vereinigung für Verhaltens- und Kognitive Therapien (SITCC) sowie Gründer und ehemaliger Präsident der Roman Association for Reasearch on the Psychopathology of the Attachment System. Er hat an mehreren italienischen Postgraduate-Schulen für Psychotherapie gelehrt. Sein Interesse an den klinischen Anwendungen der Bindungstheorie, dem er zuerst in seinem gemeinsam mit V. F. Guidano verfassten Buch (Cognitive Processes and Emotional Disorders, 1983) nachging, konzentrierte sich in den vergangenen 30 Jahren auf die Verbindungen zwischen Trauma, Dissoziation und Bindungsdesorganisation, ein Thema, dem er mehrere Zeitschriftenartikel, Bücher und Buchkapitel widmete. Er wurde mit dem Pierre Janet Writing Award (The International Society for the Study of Trauma and Dissociation, 2005) und mit dem International Mind and Brain Award (Universität Turin, 2006) ausgezeichnet. Marianna Liotti, MA, ist Doktorandin an der Universität La Sapienza, Rom. Sie hat an der Operative Unit for Eating Disorders of Santa Maria della Pietà, Rom, hospitiert und an der Universität La Sapienza einen Master-Degree mit einer Abschlussarbeit über den Einfluss von Bindungsdesorganisation, komplexem Trauma und Dissoziation auf autonome Funktionen, speziell auf die kardiovaskuläre Aktivität, erworben. Sie hat zwei Bücher
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Die HerausgeberInnen und AutorInnen aus dem Englischen ins Italienische übersetzt, nämlich E. Ginots The Neuropsychology of the Unconscious und J. Fishers Healing the Fragmented Selves of Trauma Survivors. Sie übersetzt Cognitive Processes and Emotional Disorders von V. F. Guidano und G. Liotti. Russell Meares, MD, ist Prof. em. für Psychiatrie an der Sydney University, Australien. Er absolvierte seine Facharztausbildung am Maudsley Hospital und am Bethlem Royal Hospital, wo er eine nun schon langjährige Freundschaft mit seinem Mentor Robert Hobson schloss. Gemeinsam haben sie ein Therapieverfahren entwickelt, das Hobson als Conversational Model bezeichnet hat. Ihre Bemühungen, eine wissenschaftlich fundierte therapeutische Methode zu entwickeln, gehen zurück auf Beobachtungen im klinischen Sektor, auf Untersuchungen von Mutter-Kind-Interaktionen sowie auf die Neurophysiologie und seit einigen Jahren auch auf die Linguistik. Über eigene einschlägige Beobachtungen hat Meares mehrere Artikel veröffentlicht. Einige dieser Studien waren der Überprüfung der Effektivität des Models in der Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung gewidmet. Das Conversational Model wurde ursprünglich für die Behandlung therapieresistenter Patienten entwickelt, für die Hobson eine Station im Bethlem Royal Hospital aufgebaut hatte. Die Anwendungsmöglichkeiten sind aber auch grundsätzlicher Art. Das Modell wurde in mehreren Büchern beschrieben, angefangen mit der vorläufigen Untersuchung The Pursuit of Intimacy (1977). Seinen Weiterentwicklungen widmen sich die Bücher The Metaphor of Play (1992, 1993, 2005), Intimacy and Alienation (2000), A Dissociation Model of Borderline Personality Disorder (2012), und A Poet’s Voice in the Making of Mind (2016). Ergänzt wurden diese Veröffentlichungen durch Hobsons Forms of Feeling (1985) und das Handbuch Borderline Personality Disorder and the Conversational Model (2012). Andrew Moskowitz, PhD, ist Professor für Psychologie am Touro College Berlin und Präsident der European Society for Trauma and Dissociation. Er hat 20 Jahre lang an verschiedenen Universitäten in Neuseeland, dem Vereinigten Königreich und in Dänemark gelehrt und zahlreiche Werke über die Beziehung zwischen Trauma und Dissoziation, Psychose und Schizophrenie unter historischem, theoretischem, empirischem und klinischem Blickwinkel veröffentlicht. Er ist Erstherausgeber des einflussreichen Buches Psychosis, Trauma and Dissociation (2008; 2. Aufl. 2019) und hat Workshops in vielen europäischen Ländern sowie in Nordamerika geleitet, die dem Verständnis der Psychose und der Schizophrenie unter der Trauma- und Dissoziationsperspektive gewidmet waren. Prof. Moskowitz ist auch Mitherausgeber der neuen Fachzeitschrift European Journal of Trauma and Dissociation. Clara Mucci, PhD, ist Ordentliche Professorin für Klinische Psychologie an der Universität von Chieti, Italien, an der sie mehrere Jahre lang als Ordentliche Professorin für Englische Literatur tätig war. Sie ist Psychoanalytikerin, Mitglied der SIPP (Italienische Gesellschaft für psychoanalytische Psychotherapie) und Lehr- und Supervisionsanalytikerin der SIPeP-SF (Itanlienische Gesellschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie – Sandor Ferenczi). Sie hat mehrere Bücher über Shakespeare, psychoanalytische Theorie und Literatur, Trauma und Persönlichkeitsstörungen verfasst, zum Beispiel: Liminal Personae (1995), Tempeste. Narrazioni di esilio in Shakespeare e Karen Blixen (1998), Il teatro delle streghe. Il femminile come costruzione culturale al tempo di Shakespeare (2001), A memoria di donna. Psicoanalisi e Narrazione da Freud a Karen Blixen (2004), Il dolore estremo. Il trauma da Freud alla Shoah (2008), I corpi di Elisabetta. Sessualità, potere e poetica della cultura al tempo di Shakespeare
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Die HerausgeberInnen und AutorInnen (2009), Beyond Individual and Collective Trauma: Intergenerational Transmission, Psychoanalytic Treatment and the Dynamics of Forgiveness (2013), Trauma e perdono. Una prospettiva psicoanalitica intergenerazionale (2014) und Borderline Bodies: Affect Regulation Therapy for Personality Disorders (2018). Zusammen mit Giuseppe Craparo hat sie Unrepressed Unconscious, Implicit Memory and Clinical Work (2016) herausgegeben. Sie ist für die Auswertung des Erwachsenen-Bindungs-Interviews (AAI) zertifiziert (unter Leitung von Mary Main und Erik Hesse sowie Dino Dazzi und Deborah Jacobvitz) und für die Auswertung des Reflective Functioning (unter Leitung von Howard Steele). Sie hält Vorträge auf internationalen Veranstaltungen und ist Visiting Scholar der New School for Social Research, New York. Ellert R. S. Nijenhuis, PhD, ist Psychologe, Psychotherapeut und Forscher. Er beschäftigt sich seit mehr als drei Jahrzehnten mit der Diagnose und Behandlung schwer traumatisierter Patienten, ist in der Lehre sehr aktiv und verfasste zahlreiche Bücher und Artikel über traumainduzierte Dissoziation und dissoziative Störungen. Er hat die biopsychologische Erforschung komplexer dissoziativer Störungen angeregt und ist nach wie vor daran beteiligt. Nijenhuis ist beratend an der Privatklinik Littenheid, Schweiz, tätig und arbeitet mit mehreren europäischen Universitäten zusammen. Zu seinen theoretischen, wissenschaftlichen und klinischen Publikationen zählt das Buch Somatoform Dissociation (2004). Gemeinsam mit Onno van der Hart und Kathy Steele verfasste er The Haunted Self: Structural Dissociation and the Treatment of Chronic Traumatization (2006; dt.: Das verfolgte Selbst, 2008). Die ersten beiden Bände der geplanten Trilogie The Trinity of Trauma: Ignorance, Fragility, and Control erschienen 2015. Der dritte Band, Enactive Trauma Treatment, wurde 2017 veröffentlicht. Die International Society for the Study of Trauma and Dissociation hat ihm mehrere Auszeichnungen einschließlich des Lifetime Achievement Award verliehen. Pat Ogden, PhD, ist eine Pionierin der somatischen Psychologie, Gründerin und Ausbildungsleiterin des Sensorimotor Psychotherapy Institute, Colorado, USA, einer international anerkannten Ausbildungseinrichtung, die auf somatisch-kognitive Behandlungsverfahren für posttramatische Belastungsstörungen und Bindungsstörungen spezialisiert ist. An ihrem Institut lehren 19 zertifizierte Dozenten, die die – mehr als 400 Stunden umfassende – Sensorimotor-Psychotherapy-Ausbildungen für Angehörige der psychischen Gesundheitsversorgung in den USA, in Kanada, Europa und Australien durchführen. Sie hat das Hakomi Institute, ehemals Fakultät der Naropa University (1985–2005), mitgegründet und ist weltweit als Klinikerin, Beraterin und Vortragende gefragt. Dr. Ogden ist die Erstautorin zweier bahnbrechender Bücher über somatische Psychologie, Trauma and the Body: A Sensorimotor Approach to Psychotherapy (dt.: Trauma und Körper, 2009) und Sensorimotor Psychotherapy: Interventions for Trauma and Attachment (2015), beide erschienen in der Norton Series on Interpersonal Neurobiology. Zurzeit arbeitet sie gemeinsam mit Kollegen an einem dritten Buch, Sensorimotor Psychotherapy for Children, Adolescents and Families. Ihre Interessen sind neben der mit Kollegen vorangetriebenen Entwicklung von Ausbildungsprogrammen in Sensorimotor Psychotherapy für Kinder, Heranwachsende und Familien Kultur und Diversität, Paartherapie, schwierige Klienten, Embedded Relational Mindfulness (ERM), das relationale Wesen von Scham, Präsenz und Bewusstsein sowie die philosophisch-spirituellen Prinzipien der Sensorimotor Psychotherapy.
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Die HerausgeberInnen und AutorInnen Francesca Ortu, PhD, ist Ordentliche Professorin für Dynamische Psychologie im Fachbereich Psychologie der Universität La Sapienza, Rom. Ihre Forschungsarbeit konzentriert sich insbesondere auf die Evaluierung psychodynamischer Psychotherapien und die Untersuchung früher Beziehungen im Kontext der Bindungstheorie. Sie hat sich mit den Ursprüngen der Psychoanalyse, vor allem mit der Erforschung der Hypnose sowie mit den frühen Freud’schen Hysterie-Theorien, beschäftigt und deren Berührungspunkten mit den Theorien der französischen Schule, speziell Pierre Janets, sowie den Divergenzen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Sie hat eine Reihe von Analysen der Janet’schen Theorie und ihrer klinischen Bedeutsamkeit verfasst. Sie ist Herausgeberin der italienischen Übersetzung von La médicine psychologique (1994) und L’Automatisme Psychologique (2013). Zusammen mit Giuseppe Craparo hat sie Pierre Janet. Trauma, coscienza, personalità (2016) herausgegeben. Isabelle Saillot, Dr., ist leitende Herausgeberin der Janetian Studies und leitende Mitherausgeberin der Zeitschrift Dogma. Nach dem Erwerb des Master-Degrees in Physik (Université Paris-7) promovierte sie am Pariser Muséum National d’Histoire Naturelle in Psycho-Anthropologie. 2004 gründete sie das Institut Pierre Janet, das sie acht Jahre lang als Direktorin leitete, und wurde dann Koordinatorin des Réseau Janet, Paris. Sie teilt ihre Zeit zwischen der Physik, die sie lehrt und über die sie schreibt, und der Erforschung von Pierre Janets Werk und seiner Relevanz für die heutige Psychologie. Dr. Saillot arbeitet mit der European Society for Trauma and Dissociation (ESTD) zusammen, der sie als Gründungsmitglied und ehemalige französische Repräsentantin angehört. Sie kooperiert darüber hinaus mit den meisten französischen und anderen Organisationen, die sich der Erforschung des Janet’schen Werks widmen, zum Beispiel dem Centre Pierre Janet, Université de Lorraine, Metz, und der Pierre Janet Gesellschaft, Berlin. Seit 2009 ist sie Vorstandsmitglied der Société Française de Psychologie (1901 von Janet gegründet). Sie leitet Konferenzen über Janet, verfasst Buchkapitel und hat mehrere Artikel in Fachzeitschriften, zum Beispiel in Psychologie Française und im European Journal of Trauma and Dissociation veröffentlicht. Kathy Steele, MN, CS, ist Psychotherapeutin und hat mehr als drei Jahrzehnte in Atlanta, Georgia, USA, in privater Praxis gearbeitet. Sie hat sich spezialisiert auf komplexe Traumata, Dissoziation und Bindungsschwierigkeiten und die Herausforderungen schwieriger Therapien. Sie lehrt an der Emory University und ist Fellow sowie ehemalige Präsidentin der International Society for the Study of Trauma and Dissociation (ISSTD). Steele lehrt international und ist als Beraterin für Einzel-, Gruppen- und Traumatherapien tätig. Sie hat mehrere Auszeichnungen für ihre klinischen Veröffentlichungen erhalten, unter anderem den Lifetime Achievement Award der ISSTD. Sie hat zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften und Buchkapitel veröffentlicht und ist Mitverfasserin von drei Büchern, nämlich The Haunted Self (2006; dt.: Das verfolgte Selbst, 2008), Coping with Trauma-related Dissociation (2011; dt.: Traumabedingte Dissoziation bewältigen, 2013) sowie Treating Trauma-Related Dissociation: A Practical, Integrative Approach (2017; dt.: Die Behandlung traumabasierter Dissoziation, 2017). Onno van der Hart, PhD, ist Psychologe und war als Psychotherapeut in privater Praxis tätig. Er ist Prof. em. für Psychopathology of Chronic Traumatization im Fachbereich Clinical and Health Psychology der Utrecht University, Niederlande. Er forscht über Pierre Janet und hält Vorträge in nationalem und internationalem Rahmen über traumainduzierte
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Die HerausgeberInnen und AutorInnen Dissoziation, dissoziative Störungen und phasenorientierte Behandlung chronischer Traumatisierung. Er war Präsident der International Society for Traumatic Stress Studies und hat zahlreiche Auszeichnungen für sein Werk erhalten. Zusammen mit Ellert Nijenhuis und Kathy Steele verfasste er The Haunted Self: Structural Dissociation and the Treatment of Chronic Traumatization (2006; dt.: Das verfolgte Selbst, 2008), mit Suzette Boon und Kathy Steele Coping with Trauma-Related Dissociation: Skills Training for Patients and Therapists (2011; dt.: Traumabedingte Dissoziation bewältigen, 2013) und mit Kathy Steele und Suzette Boon Treating Trauma-Related Dissociation: A Practical, Integrative Approach (2017; dt.: Die Behandlung traumabasierter Dissoziation, 2017). Bessel A. van der Kolk, MD, ist Kliniker, Forscher und Dozent auf dem Gebiet posttraumatische Belastungsstörungen. In seiner Arbeit führt er entwicklungspsychologische, neurobiologische, psychodynamische und interpersonale Aspekte der Behandlung von Traumata und ihrer Auswirkungen zusammen. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern hat er zahlreiche Bücher und Beiträge über die Beeinflussung der Entwicklung durch traumatische Erfahrungen verfasst, unter anderem über dissoziative Probleme, Borderline-Persönlichkeit und Selbstverstümmelung, kognitive Entwicklung, Gedächtnis und Psychobiologie des Traumas. Über so diverse Themen wie Neuroimaging, Selbstverletzung, Gedächtnis, Neurofeedback, Entwicklungstraumata, Yoga, Theater und EMDR hat er mehr als 150 wissenschaftliche Artikel in Fachzeitschriften veröffentlicht. Er ist Gründer und Ärztlicher Direktor des Trauma Center in Brookline, Massachusetts, USA, war Präsident der International Society for Traumatic Stress Studies und ist Professor für Psychiatrie an der Boston University Medical School. Er ist Verfasser des New-York-Times-Science-Bestsellers The Body Keeps the Score: Brain, Mind, and Body in the Treatment of Trauma (2014; dt.: Verkörperter Schrecken, 2015). Caterina Vezzoli, PhD, ist Psychologin, Psychotherapeutin, jungianische Analytikerin in privater Praxis, Lehranalytikerin am Zürcher C. G. Jung-Institut und am Centro Italiano Psicologia Analitica (CIPA), Italien. Sie ist Mitglied der International Assciation for Analytical Psychology (IAAP) und der Associazione di Psicoterapia Psicoanalitica di Gruppo (APG), Vizepräsidentin der Philemon Foundation, aktives Mitglied der Art and Psyche International Group und arbeitet als Analytikerin in Italien und im Ausland. Sie ist als Supervisorin in Tunesien tätig und ist Kontaktperson für die im Aufbau begriffene Malteser-Gruppe. Forschungs- und Ausbildungsaktivitäten im Zusammenhang mit Assoziationstest, analytischer Psychologie, Träumen, Neurowissenschaft und Synchronizität. Sie hat in italienischen und internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht, Buchkapitel verfasst und ist Mitherausgeberin von Jung Today (2009). Auf dem Gebiet der Gender Studies und der Frauenmystik hat sie über die Rolle der Frau in der Geschichte publiziert sowie über die Blüte der Frauenmystik im 12. bis 14. Jahrhundert und der damit einhergehenden Revolution. In Verbindung mit ihrem Interesse an Synchronizität gilt ihre Aufmerksamkeit insbesondere der klinischen Praxis sowie der Übertragung und Gegenübertragung. Von ihrem seit ihrer frühen psychiatrischen Ausbildung fortdauernden Interesse an der Disziplin zeugt unter anderem ein von ihr verfasstes Kapitel in dem Lehrbuch Manuale di Psichiatria e Psicologia Clinica (2017).
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Psychosozial-Verlag Esther Fischer-Homberger
Pierre Janet und die Psychotherapie an der Schwelle zur Moderne
2021 · 294 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-3013-9
»Mit einem Wort: die Psychotherapie ist eine Anwendung der psychologischen Wissenschaft zur Behandlung von Krankheiten.« Pierre Janet
Pierre Janets Werk ist noch heute relevant, es enthält grundlegende Einsichten und Erkenntnisse für die moderne Psychotherapie. An der Schwelle zur Moderne war Janet eine zentrale Figur für die junge Psychologie und Psychotherapie. Er dachte dialogisch und relational, therapierte methodisch beweglich und explorativ, immer auf die individuelle Patientin, den individuellen Patienten bezogen. Esther Fischer-Homberger setzt die zentralen Themen der Janet’schen Arbeit ins Licht: die Reflexion und Dekonstruktion der eigenen intellektuellen und therapeutischen Praxis, die Rolle von Geld und Beziehung in der Psychotherapie, die Bedeutung des Narrativs in der Fallgeschichtsschreibung, die Psychologie des Glaubens und die kritische Außensicht auf die Psychoanalyse. Die Autorin macht in ihren Studien die Aktualität von Janets Ansichten deutlich. Eingeleitet wird der Band von Aleida Assmann, der Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2018. Sie leuchtet den erinnerungspolitischen Zusammenhang zwischen Janets offenem und beweglichem Werk und den orthodoxen Anstrengungen Sigmund Freuds aus.
Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de
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Psychosozial-Verlag Frank Grohmann
Die Eigenart der Psychoanalyse
Auseinandersetzungen mit Freuds Wissenschaft vom Unbewussten
»Die Psychoanalyse [ist] ein Verfahren sui generis, etwas Neues und Eigenartiges, was nur mit Hilfe neuer Einsichten – oder wenn man will, Annahmen – begriffen werden kann.« Sigmund Freud
2020 · 328 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-3001-6
Sigmund Freud hat die von ihm erfundene Psychoanalyse als »Verfahren sui generis« bezeichnet. Was macht die »eigene Art« dieser Methode aus? Und hat die Wissenschaft vom Unbewussten ihren Entdecker überlebt? Oder ist sie mit jenem »Schlag ins Wasser« untergegangen, als den ein von der Ausrichtung der psychoanalytischen Bewegung zunehmend enttäuschter Freud einmal seinen vergeblichen Kampf für die sogenannte Laienanalyse bezeichnet hat? Welche Stellung in der Gesellschaft konnte und kann die Psychoanalyse für sich reklamieren? Diesen und anderen Fragen geht Frank Grohmann in seinen Aufsätzen nach. Unter anderem entlang der Lektüre von Freuds Korrespondenz macht er deutlich, dass die Psychoanalyse nur in ihrer igenart begriffen werden kann.
Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de
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Psychosozial-Verlag Gregorio Kohon
Von der Natur der Psychoanalyse
Ihr paradoxer Charakter und die Frage der Forschung
2021 · 171 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2991-1
»Gregorio Kohons Buch ist eine leidenschaftliche, anregende und überzeugende Verteidigung der besonderen Natur des psychoanalytischen Unterfangens.«
Das Besondere der psychoanalytischen Begegnung entzieht sich der Festlegung auf wissenschaftliche Begriffe. Dass sie sich stattdessen eigenständig im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst bewegt und die komplexe menschliche Subjektivität im Ringen mit Kultur und Gesellschaft ernst nimmt, zeigt Gregorio ohon fundiert und raxisnah. Dabei treten die Widersprüche von Psychoanalyse und evidenzbasierter Medizin offen zutage: issenschaftliche orderungen nach objektiv messbarem, ergebnisorientiertem und e zientem rfolg bringen Psychoanalytiker*innen in die Gefahr, sich herrschenden gesellschaftlichen deologien anzu assen. Dagegen stellt der Autor die Wahrhaftigkeit einer Psychoanalyse, die Selbstreflexion magination und ntuition betont und sorgf ltigen inzelfallstudien besonderes ewicht erleiht. ohons Rückbesinnung auf ihre Natur vertieft aktuelle Diskussionen in Gesundheitswesen, Forschung und Politik damit auf rofunde eise.
Priscilla Roth, Lehranalytikerin und Fellow of the British Psychoanalytical Society
Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de
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