Pierre Bayle und die "Nouvelles de la République des Lettres": (Erste populärwissenschaftliche Zeitschrift) 1684–1687 [Reprint 2020 ed.] 9783112358061, 9783112358054


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French Pages 148 [153] Year 1896

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Pierre Bayle und die "Nouvelles de la République des Lettres": (Erste populärwissenschaftliche Zeitschrift) 1684–1687 [Reprint 2020 ed.]
 9783112358061, 9783112358054

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fierre Bayle und die

Nouveííes

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ftépubligue

(1684 — 1687.)

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des

Retires"

NOUVELLES D E L A

REPUBLIQUE DES L

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S

.

M o i s de Mars 1 6 8 5 . Par le SicurB.... Profeflbur en Plulotbpliir & en Hiitoire à Rotterdam.

A Chez

A M S T E R D A M ,

H E N R Y

D E S B O R D E S ,

Kalver-Straat, pies le Dam.

dans le ' •

M.

DC.

LXXXV.

o^Vff Privilège des Etats deHoll. &

JJetif.

Pierre Bayle und

die

Nouvelles de la République des Lettres" (Erste populärwissenschaftliche Zeitschrift) 1 6 8 4 — 1 6 8 7

.

«*»

Von

Louis P. Betz Dr. phil.

Mit einem Facsimile des Titelblattes der Zeitschrift

ZÜRICH Albert Müllers 1896

Verlag

Aile

Rechte

vor beli a l t e n .

Druck von J. Schttbclitz in Zürich»

„Mag- man den französischen Philosophen des vorigen J a h r hunderts seichte A u f k l ä r e r e i vorwerfen so viel man will, man wird ihnen den R u h m nicht streitig- m a c h e n können, dass sie für die höchsten Güter der Menschheit, für persönliche. F r e i h e i t und humane E n t w i c k l u n g im V ö l k e r l e b e n mit K r a f t und B e g e i s t e r u n g eingetreten sind. W e n n man sie a b e r nennt, darf man B a y l e nicht vergessen."

ï'erd.

Lotheissen.

„ J e ne crois pas qu'il y ait, dans toute l'histoire de notre littérature, un exemple plus singulier de l'ingratitude ou de l'injustice de la postérité que celui de P i e r r e B a y l e . u

F.

„Tout est dans B a y l e , mais il faut l'en tirer."

Brunetin'e.

Sainte-fleure.

Einleitung. W i e die französische Akademie der vierzig Unsterblichen, so hat auch die Litterarhistorik ihre „histoire du 41° fauteuil". — W e n n diese aber einige der trefflichsten übersieht, so geschieht dies weniger aus kleinlicher Denkungsweise, als vielmehr, weil sie an jenem Krebsschaden leidet, den Rabelais in seinem „ G a r g a n t u a " mit den „Moutons de P a n u r g e " charakterisierte. Keinem jedoch beiden letzten

ist in der

litterarischen Tradition

J a h r h u n d e r t e grösseres Unrecht

der

widerfahren

als Pierre Bayle. W a s half es, dass Sainte-Beuve seine L a u f bahn als Kritiker mit

einem

enthusiastischen

Panegyrikus

auf Bayles Genie gleichsam eröffnete; was h a t t e es geholfen, dass Voltaire keine Gelegenheit verfehlte, seinen Meister zu preisen — sein eigener Name war es ja, der den des Vorgängers und Lehrers in Vergessenheit brachte. Seit Sainte-Beuve hat es vor allem Brunetiere versucht, Pierre Bayle zu seinem guten Rechte zu verhelfen, den Gebildeten seine hohe Bedeutung klar zu legen. Aber auch sein beredtes Wort wird es nicht hindern, dass der Verfasser des „Dictionnaire historique et critique" in französischen preisgekrönten L i t e r a t u r g e s c h i c h t e n von der Art Demogeots und Gerusez' — die zusammen ebensoviel Ausgaben erlebt wie ein Roman Zolas — nach wie vor mit wenigen,

nichtssagenden

Zeilen abgefertigt, dass der Schöpfer der modernen Zeitschrift,

Einleitung.

der Autor der „Nouvelles de la République des Lettres" überhaupt nicht erwähnt wird. Nicht ändern kann er es, dass auch fernerhin England als der alleinige Born des Aufklärungsgedankens und der Toleranzidee gilt. Wir sind weder so naiv, noch so eingebildet, uns irgendwelchen Illusionen hinzugeben, dass u n s ein Rütteln an diesem status quo gelingen könnte. Die litterarische Forschung ist sich aber Selbstzweck, und mit doppeltem Eifer geht der Litterat an die undankbaren Probleme, widmet er sich den Vergessenen, den Verschollenen — den Inhabern des „41" fauteuil". Als Ludwig Feuerbach vor einem halben Jahrhundert seine leidenschaftliche Studie über Pierre Bayle, „nach seinen für die Geschichte der Philosophie und Menschheit interessanten Momenten dargestellt", der Oeffentlichkeit übergab, warf er in einer Vorrede voll der bittersten Ironie unter anderem auch folgende Frage a u f : „ob Bayle — abgesehen von dem Interesse, das er als Antiquar und litterarischer Spezereihändler für den Gelehrten hat — auch ein Interesse für die Geschichte der Philosophie und Menschheit noch jetzt darbietet ?" — In einem Aufsatze suchte ich unlängst diese Frage auf das 50 Jahre ältere „Jetzt" auszudehnen und zu beantworten. *) Auch am Eingange einer wissenschaftlichen Schrift ist es gestattet, auf das Zeitgemässe, auf das aktuelle Interesse des behandelten Themas hinzudeuten. Ich möchte es sogar für die Pflicht des Fachmannes halten, den Geist der Jahrhunderte aneinanderzuketten, die Gegenwart in den Spiegel der Vergangenheit blicken zu lassen, das Heute an

*)

„Zeitgemässe

Betrachtungen

über den Aufklärer

und

Journalisten

Pierre Bayle" (Feuilleton der ,, Frankfurter Zeitung", 29. März ]89ü),

Einleitung. die Lehren

von Gestern zu mahnen

xi und Vergangenes

an

Gegenwärtigem zu messen. Gar manche Kulturschäden, gegen die Bayle einst unermüdlich in Pamphleten,

Flugschriften, Zeitungen und in

dem grossen Wörterbuche eiferte, sind heute ausgemerzt — oder doch wenigstens von der grossen Mehrzahl des Volkes durch Gesetz und Sitte beseitigt. Dennoch finden noch heute Missbräuche, gegen die Bayle vor zweihundert J a h r e n kämpfte, A n h ä n g e r und Verteidiger! Darin besteht ja die K l u f t zwischen Fortschritt auf physischem Gebiete und dem auf geistigem. Dort schreitet er langsamen, schweren Schrittes vorwärts, oft g e h e m m t durch Sonderinteressen der J a h r h u n d e r t e .

und die zähe Gewohnheit

Ist das Ziel aber erreicht und endlich der

Sieg erfochten — dann bleibt er auch gesichert für alle Zeiten. Nicht so die Eroberungen auf geistigem Gebiete, die immer wieder aufs neue errungen werden müssen. Verirrungen,

die man

längst

aus der W e l t

Vorurteile und verschwunden

glaubte, treten nach J a h r h u n d e r t e n plötzlich wieder auf und müssen von neuem

niedergedrückt

werden.

So

wucherten

noch vor kurzem infolge engherziger und furchtsamer Intoleranz Umsturzgelüste in einem Lande, das sich schon geistiger Toleranz rühmen konnte, als es noch himmelweit von der politischen entfernt war.

Die Siege der Gerechtigkeit

und

der V e r n u n f t sind bloss temporär und partiell; sie sind nie ganz ausgefochten. Möge sich dies Schriftchen auch ausserhalb des engen Kreises Litteraturbeflissener einige Freunde erwerben. Bayles „Nouvelles" redeten zu der ganzen gebildeten W e l t ; für diese versuchten auch wir ein Bild jener Zeitschrift zu entwerfen, die sich zum erstenmale an den gebildeten Leser An dieser?

richteten

wandte.

wir uns ganz besonders, als wir b e m ü h t

XII

Einleitung.

waren, aus dem Wesen und Wirken des ersten Aufklärers vor allem die Toleranzidee zu entwickeln. Denn das Werk Bayles lehrt uns nicht etwa charakterlose Duldsamkeit, die mit Geistesträgheit und Indifferenz Hand in Hand geht, und noch weniger die landläufige Toleranz, in der sich der grosse Voltaire zuweilen gefiel, der alle, die nicht nach seiner Façon tolerant sein wollten, gerne in die Bastille befördert hätte, sondern jene Toleranz, die sich mit festen Grundsätzen und innersten Ueberzeugungen vereinigen lässt, ja geradezu das Ergebnis derselben bildet, und für die Jules Lemaître das schöne Wort fand: „C'est la charité de l'intelligence." Z ü r i c h , November 1895.

I n h a l t .

Einleitung

Seite ix

Erster Abschnitt.

Geschichte der „Nouvelles". Erste Pläne und Gründung der „Nouvelles". — Anordnung und Beschaffenheit derselben. — Einteilung. — Sie werden die ersten populärwissenschaftlichen Monatshefte. — Quellen und Mitarbeiter. — Redaktionsplagen und Schwierigkeiten aller Art. — Schicksale der Zeitschrift und ihres Redakteurs Seite 1—25

Zweiter Abschnitt.

Darstellung des Inhalts. Erstes Kapitel. P. Bayle und seine „Nouvelles" über die Litteratur des In- und Auslandes.

Stellung zur Akademie und zu Louis XIV. — Bayle über Molière, Koniödiendichter und -Spieler. — Corneille und Racine. — Der Roman und seine Vertreter. — lieber Boileau und die Satiren. — Fontenelle und die „Nouvelles". — Kürzere Erwähnungen berühmter Zeitgenossen. — Der Autor der „Nouvelles" und die „Querelle des Anciens et des Modernes". — Die „Nouvelles" über die Litteratur des Auslandes. Seite 2 6 - 5 1 Zweites Kapitel. Die philosophische und theologische Kritik der „Nouvelles".

Bayles unparteiische und liberale Kritik. — Die „Nouvelles" als friedliche Kampfesarena von Leibniz und Kartesianern. — Bossuet und Claude. — Die Malebranche-Arnauld-Kontroverse. — Der Fall Christine von Schweden Seite 51—76

Inhalt.

MV

Dritter Abschnitt.

Charakteristik der Bayleschen Kritik; Art, Methode und Stil der „Nouvelles". Bayle als R e f e r o n t . — Seine Methode. — Die Toleranzidee i» Bayles Kritik. — Aesthetisches Urteil und E m p f i n d e n ist nicht Bayles Sache. W e i t e r e Merkmale d e r litterarischen Kritik Bayles. — U e b e r seine Geschmacksverirrungen. — Bayles Stil. — Bayle und die Kritik d e r Neuzei t Seite 77—99

Vierter Abschnitt.

Erfolg der „Nouvelles", ihre Macht und ihr Ende. Seite 100—113

F ü n f t e r Abschnitt.

Bedeutung und Einfluss der „Nouvelles" und ihres Autors. Seite 114—132

Anmerkungen. Diu französische Orthographie ist G. = Choix de la correspondance T. = Turrettini. (Lettres inédites Alle übrig-en Briefe befinden sich

genau nacli den citierte» Texten wiedergeg-obun. inédite de Pierre Bayle, publié par Emile Gigas. publiées par de Bude.) in den bekannten Bricfsaiumlungen Bayles.

Inhalt.

MV

Dritter Abschnitt.

Charakteristik der Bayleschen Kritik; Art, Methode und Stil der „Nouvelles". Bayle als R e f e r o n t . — Seine Methode. — Die Toleranzidee i» Bayles Kritik. — Aesthetisches Urteil und E m p f i n d e n ist nicht Bayles Sache. W e i t e r e Merkmale d e r litterarischen Kritik Bayles. — U e b e r seine Geschmacksverirrungen. — Bayles Stil. — Bayle und die Kritik d e r Neuzei t Seite 77—99

Vierter Abschnitt.

Erfolg der „Nouvelles", ihre Macht und ihr Ende. Seite 100—113

F ü n f t e r Abschnitt.

Bedeutung und Einfluss der „Nouvelles" und ihres Autors. Seite 114—132

Anmerkungen. Diu französische Orthographie ist G. = Choix de la correspondance T. = Turrettini. (Lettres inédites Alle übrig-en Briefe befinden sich

genau nacli den citierte» Texten wiedergeg-obun. inédite de Pierre Bayle, publié par Emile Gigas. publiées par de Bude.) in den bekannten Bricfsaiumlungen Bayles.

Citierte und zu Rat gezogene Werke. Basnage de Heauval, Eloge de M r Baylc. („Histoire des Ouvrages des Savants". D e z e m b e r 1706.) Des Maizeavx, L a vie de M r Baylc. Nouvelle édition. L a H a y e 1732. de Bavante, Tableau de la L i t t é r a t u r e française au X V I I I e siècle. 1809. Sainte-Beuve. Du génie critique et de Bayle. („Revue des d e u x Mondes", 1. D e z e m b e r 1835.) — J o u r n a l et Mémoires de Mathieu Marais. Nouv. Lundis. I X . 1867. — P o r t Royal. Toine Y. 5 e édition. 1891. Franck, Ad., R é f o r m a t e u r s et Publicistes. Leipzig 1851. — Dictionnaire dos sciences philosophiques. 1875. Weiss, Ch., Histoire des Réfugiés protestants de F r a n c e depuis la Révocation de l'édit de N a n t e s j u s q u ' à nos jours. 2 vol. 1853. Lenient, C., E t u d e sur Bayle. P a r i s 1855. Rigault, IL, Histoire do la querelle des Anciens et des Modernes. 1859. llatin, Histoire politique et littéraire do la P r e s s e en F r a n c e . 1860. Sayous, Histoire de la L i t t é r a t u r e française à l'étranger. 1861. Bouillier, F., Histoire de la philosophie cartésienne. 2 vol. 1867. Aubertin, Ch., L'esprit public au X V I I " siècle. P a r i s 1873. Deschamp, A r s è n e , L a Genèse du Scepticisme érudit chez Bayle. Liège 1878. Denis, J., Bayle et J u r i e u . Paris 1886. Nisard, Dés., Histoire de la L i t t é r a t u r e française. Tome IV. 13e éd. 1886. de Bitdé, L e t t r e s inédites adressées à J.-A. Turrettini. P a r i s 1887. Brunetière, F., L a critique littéraire au X V I I I 0 siècle. Evolution des G e n r e s dans l'Histoire de la L i t t é r a t u r e . Tome I. 1890. —

L a critique de Bayle. E t u d e s de la L i t t é r a t u r e française. V e série. 1893. Giyas, Emile,*) Choix de la Correspondance inédite de P i e r r e Baylc (1670—1706). P a r i s 1890. *)

Ueber

diese für

die

Litteratur-

und

Kulturgeschichte

ungemein

wichtige Publikation vergleiche „Revue critique", 22. D e z . 1890, pag. 472 ff.

xvi

Citierte und zu Hat gezogene W e r k e .

Houssaye, Arsene, L a Régence. (Galerie du X V I I I 0 siècle, vol. I.) 1890. Texte, Joseph, J e a n - J a c q u e s Rousseau et los origines du cosmopolitisme littéraire. 1895. Rosaci, Virgile, Histoire de la L i t t é r a t u r e française hors de F r a n c e . L a u s a n n e 1895. Janin,

Jules, Variétés littéraires.

Leipzig s. a.

Tennemann, Geschichte der Philosophie. Bd. X I . Leipzig 1819. D'Israeli, Curiosities of L i t t é r a t u r e . Vol. I I . 1835. Feuerbach, Ludwig, P i e r r e Bayle nach seinen f ü r die Geschichte der Philosophie und Menschheit interessantesten Momenten dargestellt und gewürdigt. A n s p a c h 1838. Kurz, H., Geschichte d e r deutschen L i t t e r a t u r . Leipzig 1857. Honegger, Kritische Geschichte der französischen Kultureinflüsse in den letzten J a h r h u n d e r t e n . Berlin 1875. Lotheissen, Ferd., Geschichte der französischen L i t t e r a t u r im X V I I . J a h r h u n d e r t . Bd. IV. W i e n 1884. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Die philosophischen Schriften von, herausgegeben von C. J . G e r h a r d t . Bd. I I I . 1887. Morf, H., Drei Vorposten der französischen A u f k l ä r u n g . („Nation" 1891, No. 41—42.) Hettner, H., Literaturgeschichte des X V I I I . J a h r h u n d e r t s . — Geschichte der französischen L i t e r a t u r im X V I I I . J a h r h u n d e r t . 5. Auflage, bes. von II. Morf. 1894.

Erster Abschnitt.

G-eschichte der

Nouvelles de la République des Lettres".

Anfangs Mai des J a h r e s 1 6 8 4 trat eine kleine Broschüre in Duodezformat, 104 Seiten zählend, von Amsterdam aus „

.

.

die Heise durch das gebddete Abendland an. Es war dies die erste N u m m e r einer vom März datierten Zeitschrift, die sich „Nomelles de la Bépublique des Lettres" nannte. W a s der a n o n y m e Autor mit diesem Unternehmen bezweckte, was er versprach, darüber belehrte den Leser ein erläuterndes Vorwort. Dass der Verfasser identisch war mit dem der geistreichen und geistesfreien Schrift gegen Kometen- und anderen Aberglauben und der scharf kritischen P a m p h l e t e gegen Maimbourgs Geschichte des Calvinismus, dass der Autor dieser journalistischen Neuheit Pierre Bnyle hiess, das wusste einstweilen ausser einigen Freunden des noch ziemlich u n b e k a n n t e n flüchtigen Hugenotten und seinem geschäftskundigen Verleger, Henry Desbordes in Amsterdam, noch niemand. Bevor wir der Genesis des hier zur T h a t gewordenen Gedankens im Leben Bayles nachgehen, möchten wir zur chronologischen Orientierung rasche Rück- und Umschau halten, einige berühmte Daten der französischen Litteraturi

Erele Pläne und

(irf

""'""? llcr

Jomcllcs".

2

Geschichte der „Nouvelles de la République des Lettres".

geschichte um das J a h r 1684 gruppieren und auf diese Weise dem Gründungsjahre der „Nouvelles" literarhistorisches Relief verleihen. Die beiden einflussreichsten Denker des Jahrhunderts, Pascal und Descartes, waren ihrem Vaterlande längst entrissen, der eine seit 22, der andere seit 35 Jahren, als ßayle, 36 Jahre alt, seine „Nouvelles" in Angriff nahm. Vor kaum mehr als einem Jahrzehnt war der Dichter-Schauspieler J . P. Poquelin, genannt Molière, gestorben und in einer kalten Februarnacht in ungeweihte Erde gebettet. Diese ausgenommen, weilten aber noch alle Träger jener grossen Namen, denen das XVII. Jahrhundert Frankreichs den Ehrentitel „le grand siècle" verdankt, unter den Lebenden. Den ältesten unter ihnen, Pierre Corneille, dessen Meisterwerke schon nahezu 50 Jahre alt waren, erlöste der Tod noch im selben Jahre von dem geistigen und physischen Elend eines qualvollen Alters. Auch sein Rivale und Nachfolger, Racine, obgleich erst 45 Jahre alt, hatte sich bereits überlebt und trieb mit seinem Freunde Boileau königliche Historiographie. Dagegen stand dieser auf der Höhe seines Ruhmes, obgleich auch er schon vor zehn Jahren, wenn nicht das Beste, so doch das Bedeutungsvollste seines Schaffens geleistet. Auch Bossuet, der sich dem sechzigsten Lebensjahre näherte, hatte mit seinem mächtigen Worte schon die Diktatur in Dingen des Denkens und der Religion errungen, wie jener auf dem Gebiete der Poesie, und zwei Jahre zuvor die Grundfesten der gallikanischen Kirche gelegt. Gilt es, jene Männer zu nennen, die nicht nur dem Zeitalter Ludwig XIV. den Stempel ihres Gedankens und dichterischen Schaffens aufdrückten und durch ihre Schriften die Geistesrevolution in bestimmte Bahnen lenkten, sondern auch über ihr Jahrhundert hinaus die Weltliteratur beeinflusst haben, so muss der Tradition zum Trotze endlich einmal die heilige Zahl der sieben Genannten durchbrochen und einem

Erste Pläne und Gründung der „Nouvelles".

3

achten Platz gemacht werden — dem litterarischen und philosophischen Antipoden des gewaltigen Bischofs von Meaux, Pierre Bayle. Ebenso wie das Cid-Jabr 1636 und das darauf folgende mit Descartes' „Discours de la Méthode", bedeuten 1684 mit den „Nouvelles" und 1697 mit dem „Dictionnaire historique et critique" Daten von bahnbrechender, welthistorischer Bedeutung. Und nun zur Entstehungsgeschichte von Bayles Monatsheften. Zunächst zur innern. Bayle war zum „Zeitungsschreiber", Tageskritiker, zum „Nouvelliste", wie er sich selbst n a n n t e , geboren. Seiner Liebhaberei zu litterarisch-kritischen Korrespondenzen, seiner Freude, Neues zu berichten, und zwar Wissenschaftliches ebenso wie alltäglichen Klatsch, in buntem Durcheinander über Theologie, Philosophie, Medizin, litterarischen und andern Cancan zu plaudern, machte er schon als j u n g e r Gelehrter in den Briefen an seine Freunde und Kollegen L u f t . J e n e Schreiben haben oft den U m f a n g ansehnlicher Broschüren. Die an seinen F r e u n d und Lehrer Vincent Minutoli gerichteten Briefe gleichen gelehrten Dissertationen in Tagebuchform, mit Selbsterlebtem und Anekdoten untermischt. Sie sind schon die Vorläufer der kritischen Berichte der „Nouvelles" und der geschwätzig gelehrten A n m e r k u n g e n seines Diktionärs und zeugen von einem angeborenen Mitteilungsbedürfnis. So schrieb er dem Genannten von Coppet aus (27. Februar 1673), wo er sich, wie auch später in Sedan, um die ihn drückende ländliche Einsamkeit erträglicher zu gestalten, ganz besonders seinen brieflichen Ergüssen currente calamo h i n g a b , u n t e r a n d e r e m : „. . . J e continue à solliciter votre curiosité en faveur de la mienne; car je vois bien que mon instabilité de nouvelles est une de ces maladies contre lesquelles tous les remèdes blanchissent. C'est une hydropisie toute p u r e ; plus on lui fournit et plus elle d e m a n d e : Crescit indulgens sibi dirus hydrops etc. J'en ai donc pour toute ma vie ..."

4

Geschichte der „Nouvelles de la République des Lettres".

— Modern a u s g e d r ü c k t : Bayle hatte eine Reporternatur, allerdings der besten, ehrlichsten und wahrheitsliebendsten Art. Daher erregen auch die Unzuverlässigkeit und Parteilichkeit französischer und anderer „Gazettes" seine Missbilligung. E r wird nicht müde, immer wieder von neuem gegen die Mängel der zeitgenössischen Presse zu wettern, ihre Voreingenommenheit und ihren engen Gesichtskreis, d. h. was wir heute Chauvinismus nennen, bloss zu legen. Keinem könne man glauben, klagt er, dem Deutschen und dem Holländer ebensowenig wie dem Franzosen und Spanier; den Deutschen aber, die er als „entêtés pour leur nation" bezeichnet, am wenigsten ! Dagegen hebt er lobend die unparteiische, wahrheitsgetreue Geschichtsschreibung der Römer hervor, die sich nicht scheute, in historischer Treue über Hannibals Siege zu berichten. „ J e le dis encore un coup : On ne sauroit assez blâmer l'institution de la gazette de la façon qu'on la compose présentement. C'est le fléau et l a . p e s t e de l'histoire . . . Que sont, je vous prie, les auteurs contemporains, sinon des rapsodeurs et des compilateurs de la gazette" (an Minutoli, September 1674, G. p. 27). Zweifelsohne ging schon der jugendliche Bayle mit dem Gedanken um, sich einem journalistischen Unternehmen zu widmen. Ihm fehlten nur Mittel und Gelegenheit. In Sedan oder Rouen als Privatlehrer und Professor liess sich keine Zeitung redigieren. Auch an dem vornehmsten, wissenschaftlichen Blatte, dem „ J o u r n a l des Savants übt er scharfe Kritik; unter anderem in einem Briefe an seinen Bruder (6. August 1675), in dem er das System der Zeitschrift Sallos t a d e l t , obgleich er im übrigen dies Unternehmen nicht minder hoch schätzt wie die Leipziger „Acta", sowie er denn überhaupt voller Bewunderung für die Erfindung des Zeitungswesens ist. Bisher nahm man an, dass Bayle lediglich durch den Verleger Desbordes zur U e b e r n a h m e eines kritischen Journals bewogen wurde. Dies ist nur zum Teil richtig. E n d e F e -

Erste Pläne und Gründung der „Nouvelles".

5

bruar 1684 erschien nämlich bei demselben Desbordes in Amsterdam der „Mercure savant du mois de janvier" von einem Sieur de Blegny, seines Zeichens weniger Litterat als u n t e r n e h m e n d e r Quacksalber. Dieser hatte schon zuvor in Paris eine Art populär-medizinischer Zeitschrift herausgegeben, die 1682 wegen schmähender Artikel vom Parlamente unterdrückt wurde. Als „Mercure s a v a n t " wollte nun Blegny mit einem Arzte, namens Gautier, 1684 das journalistische Unternehmen in Amsterdam fortsetzen. Auch in diesem Blatte führte die Heilkunde das grosse Wort. Abwechslungshalber wurden Gedichte, Musikstücke und politische Neuigkeiten gebracht und als Würze und Köder Verleumderei und Personenklatsch. Begreiflicherweise musste ein auf diese Weise redigiertes J o u r n a l bei der anständigen Gelehrtenwelt Anstoss erregen und ganz besonders Bayle anwidern und ihn von neuem an die Notwendigkeit einer würdigen, gemeinverständlichen und doch wissenschaftlich kompetenten Zeitschrift mahnen. Ged a n k e und Plan waren aber, wie gesagt, schon lange zur Reife gelangt. Holland, mit seinen vielen Buchhändlern und zahlreichen Gelehrten, vor allem aber mit seiner Denk- und Druckfreiheit, hatte ihm schon vor J a h r und T a g die Gründung einer litterarischen Zeitschrift nahegelegt. Eine Stelle aus einem von François Turrettini*) an Bayle gerichteten Brief beweist, dass sein Plan schon 1683 ganz bestimmte Formen angenommen h a t t e : „. . . J e ne doute pas que le dessein que vous avez, de donner au public, tous les mois, les nouvelles de la République des Lettres, ne soit aussi ex*) D i e Turrettini oder Turrettins waren eine berühmte Genfer Theologenfamilie. dieser

Von dem eine

Brief

genannten François Turrettini an B a y l e bekannt.

In regem

(1623—1687)

ist uns nur

Briefwechsel

stand

Bayle

jedoch mit dessen Sohne J e a n Alphonse (1671—1737), dem berühmtesten dieses Geschlechtes, dessen Korrespondenz de Bude herausgab (vergl. Anhang). F a m i l i e stammt aus Lucca, folgungen vertrieben.

Die

von wo sie im X V I . Jahrhundert religiöse Ver-

Der erste bekannte

Theologe dieses Namens ist der

in Zürich 1588 geborene und 1631 in Genf gestorbene Bénédict Turrettini.

6

G e s c h i c h t e d e r „ N o u v e l l e s d e la R é p u b l i q u e d e s L e t t r e s " .

trêmement goûté, surtout si vous prenez la peine d'y ajouter quelque chose du jugement que vous faites des pièces dont vous parlerez . . (30. Juni 1683, Gig.) Bayle hatte also schon den Titel der geplanten Zeitschrift gewählt, es sei denn, dass diese Stelle des Briefes des Genfer Theologen ihm die Idee dazu gegeben. — Im selben Jahre (1. September 1683) dankt Bayle seinem jüngsten Bruder für einen Auszug der Leipziger „Acta", die ihm in Rotterdam nicht zugänglich seien, wie sich denn überhaupt der Mangel eines ähnlichen Blattes sehr fühlbar mache. Und bei eben demselben erkundigte er sich einige Monate später (29. Januar 1684) angelegentlichst nach den Preisen der „Gazette". Immerhin hat das Schmierblatt des Pariser Arztes zur Folge, dass er nun an die Ausführung des längst gehegten Planes geht. „... J e vous dirai que le dessein du „Journal" que l'on m'inspira, et que je goûtai quand j'eus vu les deux tomes du „Mercure Savant" qui avoient paru en janvier et février, et qui avoient fort déplu quant à l'exécution, quoique le projet en eut été agréable, s'exécute depuis le mois de mars . . ."*) Neben dem Verleger Desbordes war es ganz besonders der damals noch mit Bayle befreundete Jurieu, der ihm eifrigst zuredete ; wie die* Zukunft zeigen sollte, bloss um sich ein stets gefügiges Organ für panegyrische Besprechungen seiner Schriften zu verschaffen. „. . . Ayant été excité par un grand Homme, dont les conseils me tiennent toujours de loi, à composer tous les mois une autre sorte de relations, je me suis embarqué dans cette entreprise." („Nouvelles de la République des Lettres"; Préface.) Bayle bereute es übrigens bitter, sich als williges Werkzeug des Ehrgeizes seines Freundes hergegeben zu haben. Die wenigen Dienste,

*) B a y l e

an Lenfant (8. August 1684). —

Lenfant (1661—1728)

war

als protestan tisch er Prediger zuerst in H e i d e l b e r g und dann in Berlin thätig. Er ist der Verfasser mehrerer namhafter kircliengeschichtlicher

Weike,

Erste Pläne und Gründung der „Nouvelles".

7

die Jurieu seinem Schützlinge leistete, musste dieser teuer bezahlen. Am 21. März macht sich Bayle an die Redaktionsarbeit und am 4. April 1684 trifft er mit Desbordes ein definitives Uebereinkommen, wonach er sich verpflichtete, jeden Monat eine N u m m e r der Zeitschrift zu liefern, die den Titel „Nouvelles de la République des Lettres" führen sollte. Das erste H e f t müsse vom März datiert werden. Da nun im Februar 1684 die letzte Nummer des „Mercure S a v a n t " erschien, so gab dies Zusammentreffen zu dem doppelten Missverständnisso Veranlassung, es seien die „Nouvelles" nur eine Fortsetzung des „Mercure" und von denselben L e u t e n redigiert. Gegen diese A n n a h m e protestiert Bayle zunächst in seinen P r i v a t briefen und dann auf der Rückseite des Titelblattes der Mainummer 1684 (III. Ausgabe). Diese erste Märznummer wurde erst gegen Mitte Mai herausgegeben*) und das Aprilheft erschien am 2. Juni. Indessen holte Bayle durch angestrengtes Arbeiten das Titeld a t u m ein. Schon von J u l i an konnte die Zeitschrift jeweilen in den ersten Tagen des folgenden Monats dem Buchhandel übergeben werden — was heute noch nicht von jedem F a c h blatte b e h a u p t e t werden k a n n . Verweile'n wir zunächst bei der erwähnten Einleitung, die auf dreizehn Seiten ein detailliertes P r o g r a m m der neuen Zeitschrift gibt und ein interessantes Dokument zur Geschichte der Journalistik bildet. Diese „Preface" beginnt mit einem Hinweis auf den Erfolg des „Journal des S a v a n t s " : A u c h die anderen Zweige der Wissenschaft sind seither dem Beispiele *) Es ist unrichtig, wenn Des Maizeaux und mit ihm alle Biographen Bayles behaupten, dass die „Nouvelles" am 2. Mai in den Buchhandel kamen. Denn am 9. Mai 1684 sehreibt Bayle an Lenfant, dass die „Nouvelles" wolil schon gedruckt seien, — „mais il ne se débite pas encore, Je vous en enverrai, dès que j'en aurai",

Anonl ig und

8

Geschichte der „Nouvelles de la République des Lettres".

Sallos gefolgt. Die Physiker, die Juristen und Mediziner besitzen ihre eigenen Organe, ebenso wie die Musiker, Politiker und Lebeleute. — „Enfin on a vu le premier dessein de M. Sallo exécuté presque partout en une infinité de manières." Dagegen nehme es ihn wunder, dass in der durch Handel und Kunst gleich blühenden Republik Holland, dem Lande der Druckfreiheit, wo Protestanten und Katholiken ungehindert lesen und schreiben können, was ihnen beliebt, jenes Pariser Journal noch keine Nachahmung gefunden habe. Bayle lässt es sich besonders angelegen sein, den Leser zu versichern, dass diese Blätter nicht zu einem „Bureau d'adresse de médisance" bestimmt seien, dass er es nicht darauf abgesehen habe, den guten Ruf und den ehrlichen Namen der Autoren zu brandmarken. In der Kritik werde er sich auf der Mittelstrasse halten, d. h. weder übertrieben loben noch allzustrenge urteilen. Er wolle es versuchen, jedem Werke ohne Vorurteil gegenüber zu stehen. Schiedsprüche zu fällen sei nicht seine Sache —, „car il faudroit avoir une vanité ridicule pour prétendre à une autorité si sublime". Wenn er beistimme oder widerspreche und tadle, so geschehe dies nur, um den betreffenden Autor zu seinem Heile und dem der Wissenschaft anzuspornen. Auch er, der Herausgeber, halte es mit Cicero, der nicht Sklave seiner Ansichten gewesen sei und deswegen auch nicht zürnte, wenn diese ;,maltraitiert" wurden. „. . . Les goûts sont différens, même parmi les grands Esprits, même parmi ceux qui passent pour les meilleurs Connoisseurs, qu'on ne doit ni s'étonner, ni se fâcher, de n'avoir pas l'approbation de tous les bons juges . . . " Bei der Besprechung der über Religion handelnden Bücher werde man sich ganz besonders bemühen, sich von unvernünftiger Parteilichkeit fern zu halten, um nicht aus der Rolle des vorurteilsfreien Referenten zu fallen. Auszüge und Citate sollen getreu wiedergegeben werden, mögen sie nun für oder gegen die protestantische Sache sprechen;

9 „II est bon qu'on sache cela, afin que Messieurs de l'Eglise Romaine ne s'allarment point de ce Journal."*)—• Ueberhaupt werde man sich so wenig wie möglich mit den „Livres de Controverse" beschäftigen und es an keiner Vorsicht fehlen lassen, damit die Zeitschrift keinen Anstoss errege und etwa verboten

werde.

Ohne

Rücksicht

auf ihre

religiösen

An-

sichten will er über berühmte Lebende und Todte berichten. „Les moins illustres de ce côté-là n'obtiendront pas moins de justice qu'un autre Sçavant. Il ne s'agit point ici de Religion: il s'agit de Science : on doit qui

divisent

seulement qualité

les hommes le point

d'homme

donc

mettre

en différentes

dans

lequel

illustre

dans

ils

bas tous les

factions,

et

se réunissent,

la République

termes

considérer qui

est

la En

des Lettres.

ce sens-là tous les Sçavans se doivent regarder comme frères ou comme d'aussi bonne maison les uns que les autres." Im Weiteren Herausgeber

des

wird

in

der Einleitung

„Journal des Savants",

dem dem

dermaligen Abbé

de la

Roque und besonders den Mitarbeitern der „Acta Eruditorum", hohe Anerkennung gezollt.

Die Leipziger

Gelehrtenzeitung

stellt Bayle in jeder Hinsicht so hoch, dass es ihn wie Anmassung dünkt, eine ähnliche Arbeit zu wagen. Eridlich sucht Bayle in ziemlich langstieliger Darlegung den

Beweis

zu führen,

dass auf journalistischem

immer noch Raum für Neues sei.

Gebiete

Am Schlüsse gesteht

er

übrigens selbst, dass die letzten Seiten bloss Lückenbüsserarbeit seien und zwar auf Wunsch

des Verlegers,

der ihn

gebeten, einige leer gebliebene Seiten zu füllen. * ) Mit

dem

fern zu bleiben, ernst.

Vorsätze, j e g l i c h e r

religiösen

Hetzerei

und durchaus freie Kritik zu üben,

und

Tendenzkritik

war es ihm entschieden

Sein Programm, dus er in Priv.itbriefen entwirft, lautet genau wie das

für das Publikum bestimmte.

So

10. April 1 6 8 4 unter anderm:

„A

schreibt la

er

place

an seinen jüngsten Hruder am

(du

„Mercure

Savant")

il

s'im-

primera un J o u r n a l des Sçavans (die „Nouvelles" nämlich) qui sera écrit a v e c beaucoup

de

ménagement,

qui

ne

parlera a v e c respect des Catholiques.

dira

rien

contre

les puissances,

et

qui

Assurez de c e l a tous les bons amis,"

10

G e s c h i c h t e d e r „ N o u v e l l e s d e la R é p u b l i q u e d e s L e t t r e s " .

Inwiefern nun Bayle Wort gehalten und den Versprechungen seines Programmes in allen Stücken nachgekommen ist, haben wir später zu untersuchen. Schon jetzt aber darf darauf hingewiesen werden, dass in dieser Vorrede Gesinnungen, Gedanken und Pläne zum Ausdruck kommen, die eine neue Zeit und neue Anschauungen verkünden, — dass diese Prosa Bayles gar seltsam absticht von der Sprache der Bossuet, Jurieu und Bouhours. Einteilung der ,.Nomellts.

Bevor wir aus dem Bayleschen Briefwechsel noch einiges p j ä n e u n ( j Absichten des Herausgebers hinzufügen wollen, möchten wir ein Wort über die äussere Einteilung der „Nouvelles" vorausschicken, die von der zweiten Nummer an das sehr charakteristische und wohlverdiente Motto : „Non fumum ex fulgure, sed ex fumo dare lucem" mit auf den W e g bekam. — In dem ersten und Hauptteile bringen die „Nouvelles" längere Auszüge (Articles) oder mehr oder weniger ausführliche Besprechungen; in dem zweiten (Catalogue de Livres nouveaux accompagné de quelques Remarques) meist kürzere Aufzeichnungen neuer Erscheinungen mit einigen kritischen Randglossen oder auch mit biographischen Notizen über den Autor. — Anfangs ging Bayle mit dem Gedanken um, die Zeitung in Briefen zu redigieren, sah aber bald ein, dass die Form für kurze, sachliche, möglichst unpersönliche Referate nicht geeignet sei. Auch aus dem Plane, den einzelnen Heften jeweilen eine Beilage folgen zu lassen — „un livret extraordinaire, qui sera un Recueil de diverses Pièces fugitives" — wurde nichts. Man hatte ihm nämlich den Vorwurf gemacht, Abhandlungen etc. zuweilen in extenso abzudrucken*) und deswegen benachrichtigte er seine Leser im *) Er blieb diesem ersten Proteste des litterarischen Eigentumsrechtes die Antwort nicht schuldig. Er äussert sich (April 1 6 8 5 , Art. IX.) hierüber folgendermassen : „Pourquoi serions-nous les seuls qui n'en userions pas nirsi? Car pour ne pas remonter jusqu'à Phocius, le plus illustre de toqs les

11 Maihefte 1686, dass diese Abdrücke fernerhin in einer besonderen Supplementnummer U n t e r k u n f t finden sollen. Es blieb aber, wie gesagt, bei dem Vorhaben. Immerhin dürfte Bayle der Erfinder dieser Neuerung des Zeitschriftwesens sein, die bekanntlich heute, besonders in Fachschriften, allgemein im Gebrauch ist. W a s die Art und Weise seiner Besprechungen

und die

1

BHVI« .limell« «ml™ die erstwi

Auswahl der Stoffe betrifft, so hat Bayle sein Verfahren so- popuiärmsmdMiii. wohl dem Publikum gegenüber in der Zeitschrift selbst geMonatshefte, rechtfertigt, als auch in Briefen gegen seine Freunde und Berater verteidigt, die Kritik an seiner Methode übten. Seine „Nouvelles" haben Zweck und Bestimmung, die grosse Leserzahl zu belehren, zum Unterschiede von den bereits bestehenden vier wissenschaftlichen Zeitschriften Deutschlands, F r a n k reichs, Englands und Italiens, die sich insgesamt nur an Fachgelehrte wandten. Bayle will nicht nur für eine kleine Geisteselite, sondern f ü r die Masse der Gebildeten schreiben. Für diesen durchaus neuen Standpunkt, dem die „Nouvelles" den enormen Erfolg und ihre hohe litterar- und kulturhistorische Bedeutung verdanken, plaidierte Bayle am eingehendsten in einem Briefe an Le Giere, der, wie wir noch sehen werden, eine ebenso scharfe wie kurzsichtige Kritik an der Redaktion der „Nouvelles" übte. Bayle argumentiert in diesem Schreiben (18. J u n i 1684), das zu den interessantesten Schriftstücken seiner reichen Korrespondenz g e h ö r t , wie f o l g t : „ . . . J ' a v o u e que la plupart des choses qu'on a censurées sont elles-mêmes dignes de censure ; et je suis même persuadé, que si tout le monde avoit le goût aussi bon que ceux que vous avez ouï parler, il faudroit réformer désormais l'ouvrage Faiseurs d'Extraits, qui nous a conservé

plusieurs petites Pièces toutes en-

tières, ne suit-on pas que le „Mercure Français", le „Mercure Galant" et les Journaux des Sçavans,

en quelque

pais qu'ils

Pièces d'emprunt rapportées en leur entier?"

se

fassent,

ont

beaucoup de

]2

Geschichte der „Nouvelles de la République dos Lettres".

sur leurs idées. — Mais, Monsieur, il faut savoir que plusieurs personnes, et sur tout de Paris, m'ont puissamment exhorté à ne point faire mon J o u r n a l uniquement pour les Sçavans. Ils m'ont dit qu'il faut tenir un milieu entre les Nouvelles de Gazettes, et les Nouvelles de pure Science; afin que les cavaliers et les Dames, et en général mille personnes qui lisent et qui ont de l'esprit sans être savans, se divertissent à la lecture de nos „NouvellesIls m'ont fait comprendre que par ce moien le débit sera grand partout, qu'il f a u t donc égaier un peu les choses, y mêler de petites particularitez, quelques petites railleries, des Nouvelles de Roman, et des Comédies et diversifier le plus qu'on pourra . . . " „. . . Pour les gens du monde et curieux, la circonstance qu'on a blâmé t o u c h a n t Monsieur Patin de P a d o u ë n'est, nullement inutile.*) J ' a v o u e avec vos Messieurs, qu'il importe fort peu de savoir si Monsieur Patin reviendra en F r a n c e : mais j e sai qu'il y . a milles personnes qui seront bien aises d'aprendre : 1° Que l'on permet à Monsieur Patin de revenir ; II" Qu'il a à Padouë les petites Dignitez dont j e parle, et j ' a c c o m p a g n e de quelques faits curieux, comme la Promotion d'une Fille au- Doctorat. Combien croyez-vous, Monsieur, qu'il y a des gens qui lisent ces bagatelles, avec plus de plaisir que l'Extrait du meilleur Livre. Ainsi ce n'est pas par imprudence que j'ai inséré ces choses, et celles qui regardent la comédie, à l'occasion d'Arlequin Procureur. C'est une affaire où il y a du dessein. Ces inutilitez et ces superfluitez à l'égard des gens tout-à-fait savans, et qui n'ont du goût que pour les choses grandes et solides, sont presque nécessaires à l'ouvrage que j'ai entrepris, à qui expressément j e n'ai donné qu'un Titre fort général, de peur d'épouvanter les gens du monde. L ' A u t e u r du

*) Gni Patin (1602 —1672), berühmter Arzt und Autor medizinischer Schriften. Obiges bezieht sich auf Art. I, April 1684: „Lettres choisies de fei; Monsieur Guy Patin, Docteur eii Médecine de lu Faculté de Paris, etc,"

Bayles „Nouvelles", die ersten populärwisenschaftl. Monatshefte.

13

„ J o u r n a l des S a v a n s " a i a n t su q u e sur son T i t r e p e r s o n n e n e vouloit m o r d r e à son o u v r a g e ,

qui

ne

se sentît

„savant",

a v e r t i t il y a d e u x ans, d a n s sa P r é f a c e , „ q u ' o n se t r o m p o i t si on croioit qu'il falloit ê t r e s a v a n t pour se divertir à son L i v r e , et qu'il y a v a i t mille choses de la c o m p é t e n c e monde".

Il a tort de dire cela;

trop grave;

car

et on m'a conseillé,

il

afin d'avoir

et de faire le profit du Libraire,

de t o u t le

se tient trop roide, et

de relâcher

bien des

Lecteurs,

un peu la corde .. ."

Den H e r r e n G e l e h r t e n w ä r e w o h l ein G e f a l l e n erwiesen, w e n n er seine Z e i t u n g k n a p p e r u n d

sachlicher

redigiere u n d

den

I n h a l t auf die H ä l f t e b e s c h r ä n k e ; d a n n w ü r d e sie a b e r a u c h t r o c k e n u n d „ d é n u é de mille p e t i t s a g r é m e n s , qui en r e n d r o n t la l e c t u r e a g r é a b l e a u x g e n s d u m o n d e " .

D a es ihm d a r a n

liege, die G e s a m t h e i t der Gebildeten zu fesseln, wolle er die D ü r r e der F a c h s c h r i f t e n v e r m e i d e n .

U n d schliesslich k l e i d e t

er seine Idee in ein h ü b s c h e s Bild : ein F r u c h t b a u m e gleichen.

Wäre

Buch

solle

ein solcher n u r mit F r ü c h t e n

beladen, so h ä t t e er ein hässlich-plumpes A u s s e h e n . ten ihn

einem

a b e r nicht n u r F r ü c h t e ,

Schmück-

sondern

auch Blätter und

B l ü t e n zugleich, wie beim O r a n g e n b a u m e ,

d a n n g e w ä h r e er

einen h ü b s c h e n A n b l i c k . — Die Q u i n t e s s e n z dieser A u s e i n a n d e r s e t z u n g i s t : P o p u l a r i s i e r u n g der W i s s e n s c h a f t e n m i t allen einem geistvollen L i t t e r a t e n zur V e r f ü g u n g s t e h e n d e n Mitteln. B a y l e h ä l t es mit Molière — er w e n d e t

sich

an

das

intelligente

P a r t e r r e , in seinen „ N o u v e l l e s " ebenso wie s p ä t e r in seinem grossen W ö r t e r b u c h e . * )

V o n den z a h l r e i c h e n Stellen in d e n

„ N o u v e l l e s " selbst, wo er sicli mit seinen L e s e r n ü b e r diesen P u n k t ausspricht, sei n u r f o l g e n d e e r w ä h n t . Humor

den R o m a n „ L e s D a m e s G a l a n t e s ,

*) Im Artikel

Poquelin des

„Dictionnaire

E r h a t m i t viel ou la

confidence

historique" heisst e s : „Son-

gent-ils bien, que, si j e m'étais réglé sur leurs idées

de perfection (der Ge-

lehrten nämlich), j'aurais fait un livre qui leur eût plu, à la vérité, mais qui eût

déplu

à cent

libraire? . . ."

autres, et

qu'on

eût

laissé pourir dans les magasins du

14

Geschichte der „Nouvelles de la République des Lettres".

réciproque" besprochen („Nouvelles", Dezember 1684, IV) und fährt fort: „Si on trouve étrange que nous parlions de cette espèce de Livres, qu'on se souvienne que vous n'écrivons pas uniquement pour les Savans. Nous n'avons point d'autre réponse à donner à ces Critiques, sinon que nous sommes bien aise que les gens qui n'ont point d'étude, trouvent ici quelque endroit qui puisse les amuser." Als ein erlaubtes und bewährtes Mittel, um das Interesse des gebildeten Laien wach zu halten, betrachtete Bayle Abschweifungen, gelegentliche Randglossen mehr oder weniger pikanter Art, kurz, allerlei unterhaltendes, sachliches und unsachliches Einschiebsel. Diese „écarts", mögen sie ihm auch vermöge seines encyklopädistischen Geistes und enormen Gedächtnisses leicht und natürlich aus der Feder geflossen sein, pflegte er aus System und mit Absicht. Sie bildeten den „truc" seines journalistischen Unternehmens, und zwar den erfolgreichen. Dass er damit nicht im Sinne seiner gelehrten Kollegen und Freunde handelte, ist begreiflich. So meint Jacques Lenfant: „Vos digressions sont agréables; mais permettez moi de vous dire que je les trouve un peu trop fréquentes." Dagegen geht Etienne Le Moyne, der gelehrte Theologe der Universität Leyden, ganz auf seine Idee ein: „Faites des écarts, tant qu'il vous plaira; et ces écarts, qu'on trouvera en des lieux où on ne les attendoit point, seront quelque fois bien plus agréables qu'une infinité de choses dites justement dans les règles et qu'on place sans beaucoup de fasson au lieu où il les faut mettre." (5. August 1684, G.) Schliesslich sei noch hervorgehoben, dass Bayle politische Tagesfragen und Ereignisse vermied. Die Politik sei Sache der Gazettes ; was einem „Mercure galant" zustehe, das passe ebensowenig für seine „Nouvelles" als für das „Journal des Savants".

B a y l e s „Nouvelles", die ersten populärwissenschaf'tl. Monatshefte.

15

Als Hülfsquellen für seine kritischen Artikel dienten ihm vor allem die „Philosophical transactions" und die Leipziger „ A c t a " . Die ersteren besonders f ü r seine Aufsätze über Naturwissenschaft, Mathematik, P h y s i k etc. Er hielt sich beide Zeitschriften und studierte sie eifrig. Ungleich grössere Hülfe zur Bewältigung der Riesenarbeit leisteten ihm die zahlreichen Mitteilungen seiner gelehrten F r e u n d e und Bek a n n t e n . Bayle h a t t e eine Menge Mitarbeiter, direkte und indirekte, d. h. solche die ihm fertige Artikel lieferten, die nie unterzeichnet waren und zwar auf seinen eigenen W u n s c h hin, und andere, die ihm in ihren Briefen wertvolle Beiträge zusandten, die oft wörtlich in die „Nouvelles" aufgenommen wurden. Bayle selbst war unermüdlich im Fragestellen und Erkundigungeinziehen. Mit peinlicher Sorgfalt und bewunderungswürdiger Geduld k ü m m e r t e er sich um das kleinste Detail, suchte er Belehrung bei besser unterrichteten Freunden. E r bittet sogar öffentlich um die Mitwirkung und Hülfe der Gelehrten, besonders in Dingen, die seinem Wissen ferner liegen.*) An L e n f a n t in Heidelberg schreibt er (9. Mai 1684): „Si les Savans de vos quartiers font quelque chose, je vous prie de ine l'apprendre, aussi-bien que ce qui s'imprimera a. Geneve . . . " und dieser verfehlt nicht, seinen Freund mit litterarischen Neuigkeiten und bibliographischen Notizen zu versehen. Zuweilen sind die Berichte desselben von zweifelh a f t e m wissenschaftlichen W e r t e und wenn wir den gelehrten Pastor mit salbungsvoll-theologischem E r n s t e — „d'un esprit qui tourmente une j e u n e fille en g r a t t a n t le bois de son lit" — erzählen hören, so wird man für den katholischen Aber-

*) „ . . . On espere aussi que les personnes, qui ont à cœur l'instruction, et 1h satisfaction publique des gens de Lettres, ne nous refuseront pas les secoure, et les Mémoires dont nous aurons besoin, pour perfectionner cet Ouvrage. On en prie sur tout les personnes de ce Pais-ci, qui auront une connoissance exacte des nouvelles machines qu'on y pourra inventer, et des raretez qu'on y apportera des Indes." „Nouvelles", Préface, Mars 1684.

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1 il,ir K iUir

16

Geschichte der „Nouvelles de la République des Lettres".

glauben jener Zeit einerseits und andernseits auch für die Geschmacklosigkeiten, die sich Bayle in den „Nouvelles" zu Schulden kommen liess, milder gestimmt werden. Bayles litterarischer Berichterstatter in England ist der Réfugié Daniel Larroque, wie es denn überhaupt die protestantischen Flüchtlinge sind, die die Vermittler und Vulgarisatoren der englischen Philosophie werden. Larroque gehört der geistig rührigen französischen Kolonie an, die während eines halben Jahrhunderts (1684—1730) ohne glänzende Leistungen, aber mit edler Hingabe zur Wissenschaft, ihrer alten Heimat die Ideen und Entdeckungen der Bacon, Locke und Newton zuführen. Larroque ist es, der Bayle mit englischen Gelehrten in Verbindung setzt, so besonders mit Dr. Thomas Smith von der Royal Society, ein Name, der in den „Nouvelles" ebenso wie in den späteren Werken Bayles eine grosse Rolle spielt. Bemerkenswert ist vor allem e i n Brief dieses englischen Korrespondenten, der sich im Juli 1686 (G.), nachdem er Bayle wie gewohnt auf eine Reihe neuer Erscheinungen auf dem englischen Büchermarkte hingewiesen, folgendermassen über Englands Superiorität in Dingen der Wissenschaft ausspricht: „ . . . J e regretteray toute ma vie le tems que j'ay passé hors d'Oxford. Si j'y avois esté depuis deux ans seulement, je sens bien qu'it y auroit de l'amendement en moy. Ce n'est pas à la vérité un lieu à faire fortune, ce qui m'est pourtant bien nécessaire, mais il est bien propre à devenir quelque chose. Plus je voy les Anglois et plus je les admire; généralement

parlant,

ils nous passent

en

tout."

Von hohem Interesse ist dies Bekenntnis, weil es über 50 Jahre vor den „Lettres philosophiques sur les Anglais" und über 60 Jahre vor dem „Esprit des Lois" niedergeschrieben wurde und weil wir in diesen Zeilen und ähnlichen Stellen der Larroqueschen Korrespondenz nicht nur die ersten Keime der Anglomanie der Aufklärungsepoche erkennen, sondern auch, aus der Feder des Theologen, ihr Merkmal : unkünstlerischen

17 Geschmack, der der Litteratur des klassischen Zeitalters nicht gerecht zu werden versteht. Der in London lebende Physiker Denis Papin, der berühmte Erfinder der Dampfmaschine, rechnet es sich zur Ehre an, zu Bayles Mitarbeitern zu zählen und schickt ihm Uebersetzungen seiner für die „Phil. Trans." bestimmten Schriften. Der 1685 in der Schweiz gestorbene bekannte Reisende und Altertumsforscher Jacques Spon sendet von Lyon aus interessante Berichte, die Bayle zum Teil wörtlich in den „N011velles" wiederbringt. Der Theologe Pierre Allix macht den Herausgeber der Nouvelles mit deutschen Autoren bekannt, unter anderen mit dem Historiker Joh. Christ. Wagenseil (1633—1705). Jacques Du Rondel und Malebranche schicken ihm Aufsätze mit der Bitte, ihnen das Anonymat zu gewähren. Sein eifrigster und wertvollster Mitarbeiter, sowohl durch briefliche Mitteilungen als auch durch selbständige Beiträge, wurde Le Clerc, der später als Leiter der „Bibliothkque universelle" in die Pussstapfen Bayles treten sollte und in dieser Zeitschrift ungleich mehr als sein Vorgänger der englischen Philosophie Aposteldienste leistete, so dass Voltaire diesen heute vergessenen Namen in den „Lettres anglaises" (VII) zusammen mit Locke, Clarke und Newton nannte („Les plus grands philosophes et les meilleures plumes de leur temps"). Zu den Unannehmlichkeiten und Drangsalen, die sich Bayle durch seine journalistische Thätigkeit zuzog, sind in erster Linie die ihn von nah und ferne überschwemmenden Vorschläge und Wünsche zu zählen. Jeder wollte ihm etwas am Zeug flicken; jeder hatte mit einer Bitte, mit gutem Rat, mit einem Anerbieten aufzuwarten. Die einen meinten, die „Nouvelles" müssten kürzer, die andern, sie sollten ausführlicher redigiert sein. Für diesen waren sie zu protestantisch, für jenen zu katholisch. Betrachten wir uns die Kritik seiner hervorragendsten Korrespondenten etwas näher. Sie gibt uns 2

Puilükli»iis]ilag(ii und Schwierigkeiten aller Art,

18

G e s c h i c h t e d e r „ N o u v e l l e s d e la R é p u b l i q u e d e s L e t t r e s " .

ein Bild der damals in seinen Gelehrtenkreisen massgebenden Ansichten, über die Bayles gesunder und praktischer Geist so hoch hinwegragte. Jean Rou, *) der in regem Briefwechsel mit Bayle stand, missfällt schon der Titel der Zeitschrift, den er preziös findet. Dagegen versöhnt ihn der Inhalt: „Du moins aimons le nom de l'enfant pour l'amour du parrain et père, et à cause de la beauté de l'enfant mesme." (6. Juni 1684, G.) Pierre Allix hat folgendes einzuwenden (27. Juli 1684): 1. Bayle spreche mit zu grosser Freiheit von königlichen Prinzen. 2. Er sei nicht unparteisch genug. 3. Er missbrauche Hollands Pressfreiheit durch unvorsichtige Bemerkungen. 4. Er sei allzu freigebig mit seinem Lob gegenüber Autoren, die es nicht verdienten u. s. w. Besonders warnt er ihn vor dem zweischneidigen Schwerte der Satire, und zwar mit dem gleichen Argumente, das Bayle selbst gegen Boileau a n f ü h r t : „Si on fait rire, on se fait haïr sûrement." Im übrigen aber stimmt Allix durchaus ein in das Lob, das die „Nouvelles" allerorts fanden. Am meisten hat Le Clerc an der Zeitschrift auszusetzen. Sein Brief vom 3. Juni 1684 enthält ein ganzes Sündenregister der „Nouvelles". Angeblich auf Verlangen des Verlegers Desbordes, teilt er Bayle mit (3 Juli 1684, G.), was man in Amsterdam von seinem Blatte sage. Man wünsche vor allem mehr Auszüge und weniger Kritik. Nicht sehr schmeichelhaft für Bayle, und die schwere Hand des Theologen verratend, von dem Boileau treffend sagte: „Trop de hauteur calviniste," bemerkt Le Clerc, man könne auch ohne sein (Bayles) kritisches Licht gute Bücher von schlechten unterscheiden. Man tadle ferner die böse Zunge des Autors und seine unverkenntliche Parteinahme für die protestantische Sache. Der Inhalt sei überhaupt auf die Hälfte

*)

1638—1711.

V e r f a s s e r von M e m o i r e n , d i e kürzlich d e r f r a n z ö s i s c h e

Diplomat W a d d i n g t o n v e r ö f f e n t l i c h t e .

Redaktionsptagen und Schwierigkeiten aller Art.

zu reduzieren u. s. w. Gerne hätten wir von Le Clerc erfahren, was denn eigentlich Lobenswertes an den „Nouvelles" übrig bleibt. — Er geht schliesslich zur Einzelkritik über und hier tritt seine pedantische Schulmeisterei erst recht an den Tag. — Aber schon einige Tage darauf hat sich das Blatt gewendet. Nachdem er Zeuge des eklatanten Erfolges der „Nouvelles" gewesen, bemüht er sich alsbald Wasser in seine kritische Medizin zu giessen. Er predigt jetzt Bayle im Namen ihrer Freundschaft Moral : „ . . . J e vous ay marqué, comme vous voyez, avec une grande franchise, ce que j'ay ouï dire de vos nouvelles, parceque je me persuade qu'on ne sauroit mieux témoigner l'estime que l'on fait d'une personne, qu'en supposant qu'il est parfaitement honnête homme, c'est à dire, selon moy, qu'il ne trouve pas mauvais qu'on luy dise librement ce que l'on ne goûte pas dans ses ouvrages . . . " (8. Juni 1684, G.) Die beherzigenswerten Lehren, über die sich Le Clerc hier noch des weitern ergeht, hätte er später, als er Bayles gehässigster Widersacher wurde, auch zum eigenen Hausgebrauche verwenden können. Um nun die unten folgenden Stellen aus späteren Briefen eben desselben Le Clerc, in denen just das Gegenteil von dem, was er in seinem Schreiben vom 3. Juni angeführt, gesagt wird, begreifen zu können, muss zweierlei vorausgeschickt werden: 1. die „Nouvelles", die inzwischen schon mehrere Auflagen erlebt hatten, waren eine Macht geworden; 2. dass ein von Le Clerc selbst verfasster Lobartikel über das Buch seines Schwiegervaters, Gregorio Leti (Teatro Brittanico), unverkürzt in den „Nouvelles" Aufnahme gefunden hatte ; und schliesslich können wir als Grund dieser merkwürdigen Sinnesänderung auch annehmen, Le Clerc habe wirklich eingesehen, dass er sich mit seiner vernichtenden Kritik gründlich blamiert. Er schreibt nämlich am 16. August 1684 (G.) unter anderm: „Vos nouvelles, Monsieur, sont si divertissant pour moy, que je ne manque jamais

20

G e s c h i c h t e der „ N o u v e l l e s de la R é p u b l i q u e d e s Lettres".

de les lire. . . . Les jugemens que vous faites des livres me paroit {!) fort équitable (!), et il est de certaines rencontres où je conçois bien qu'il est juste que vous vous ménagiez . . Und in dem Schreiben, April 1685 (G.), heisst es an einer Stelle : „Peu de gens ont le talent d'écrire d'une manière si nette et si aisée." — Kurz darauf schlägt er wieder einen andern Ton a n ; jetzt fordert er Bayle von neuem auf, den Lesern seine Kritik zu schenken und es mit Auszügen bewenden zu lassen. Warum die veränderte S p r a c h e ? — Bayle hatte sich inzwischen eine gelinde Kritik an einer Schrift Le Clercs erlaubt! — Man bedenke, dass dieser eine Autorität ersten Ranges, eine Art Brunetiere seiner Zeit war. Seine Launen also hatten schwerwiegende Folgen. Somit dürfte dieser kleine Seitenblick in die Werkstätte der hohen Kritik, die schon vor 200 Jahren zuweilen aus trüber Quelle floss, nicht ganz ohne Interesse sein. Wenn Bayle gelegentlich von der „rude corvée et du personnage insupportable de Nouvelliste de la République des Lettres" spricht, so spielt er damit nicht zum wenigsten auf alle die Widerwärtigkeiten an, die ihm Empfindlichkeit und Eitelkeit der Autoren bereiteten. Am meisten belästigte ihn der bereits erwähnte Schwiegervater Le Clercs, der litterarische Abenteurer Gregorio Leti. Gigas bezeichnet dessen Briefe sehr richtig als „protestations d'amitié intéressées, mélange d'adulation et de susceptibilité, dont le style rappelle le charlatan". (Introduction, p. XXV.) Als Bayle sich in der Besprechung seines „Ceremoniale historico" die witzige Bemerkung erlaubte, es verdiene der Autor dieses Buches den ersten Teil des Beinamens Bayards,*) verstieg sich der in seiner Ehre gekränkte Polygraph zu einer in köstlichem Maulheldenstil gehaltenen epistolaren Leistung. (Vergl. Gigas, 1. c.) Wie übrigens Bayle privatim von diesem Bücher*) Der bekanutermassen l a u t e t : „Chevalier sans peur et sans reproche."

Redaktionsplagen und Schwierigkeiten aller Art.

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fabrikanten dachte, den er seines Eidams wegen in den „Nouvelles" schonen musste, zeigt uns eine Mitteilung an Minutoli (18. Februar 1692) : „ . . . C'est un Rhapsodeur et une plume ,tara ficti pravique tenax quam nuncia veri', à l'instar de la Renommée." Eine andere Lektion erhält Bayle von einem Abbé de Ville, den er in der Julinummer 1686 (Art. VIII) mit einigen harmlos-ironischen Bemerkungen als den Autor einer anonymen Schrift bezeichnet. In der gepfefferten Antwort heisst er unter anderm: „Gardés des mesures d'honnesteté dans vos nouvelles, observés les règles de la charité chrétienne ; ne parlés que des ouvrages, laissés les personnes des auteurs anonymes en repos, et vous en serés beaucoup plus approuvé", etc. Zuweilen, besonders wenn der gekränkte Autor einer der „Unsterblichen" war, musste sich Bayle dazu bequemen, seine Kritik, oder auch nur ein achtlos entschlüpftes Wort wieder in denselben „Nouvelles" öffentlich zu widerrufen. So hatte er in den „Nouvelles" vom 1. Juli 1684 über die Aufnahme Baileaus in die Akademie referiert und bemerkt, dass Monsieur de la Chambre die Rede des Satirikers beantwortete „par un autre Discours qu'il lût à son ordinaire". Dieser Ausdruck erregte Missfallen, so dass Bayle, dem alles an der guten Laune der hohen Gesellschaft lag, in der nächsten Nummer aHerunterthänigst deprezierte und das verhängnisvolle Wort in der zweiten Ausgabe ganz weg liess. — Kurz, der Herausgeber der „Nouvelles" hatte seine liebe Not, die „gros bonnets" der sogenannten „République des Lettres" möglichst unrepublikanisch zu behandeln. Musste er einmal der Wahrheit dis Recht geben und tadelnde Kritik üben, so beeilte er sich, den Autor auf brieflichem Wege zu beschwichtigen. Unzufrieden und enttäuscht waren von vorneherein die streitbaren Calvinisten, die von den „Nouvelles" Schutz und Kampf für die Sache der Protestanten erwartet hatten. Von ihnen musste Bayle, sowohl bei seinem journalistischen Wirken

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Geschichte der „Nouvelles de la République des Lettres".

als auch im späteren Leben, am meisten Unbill erfahren. Allein ihn trafen die Mühen und Plagen seines schwierigen Berufes nicht unvorbereitet. Gleich zu Anfang hatte ihm einer seiner wohlgesinntesten Freunde, Etienne Le Moyne,*) die Schwierigkeiten des Zeitungsunternehmens in wenig verlockenden Farben geschildert (30. März 1684, G.): „...S'ériger en Arbitre souverain du destin de tous les ouvrages, c'est soutenir un terrible caractère, et je ne croy pas, qu'un homme se peut mettre long tems sur ce pied là sans se voir bien tost sur les bras une infinité d'ennemis. . . . Il faut se charger de la lecture de tous les livres, il faut parler de toute sorte de matières; il faut les aprofondir et en parler toujours fort juste . . . enfin il faut feindre qu'on sçait tout, qu'on est capable de tout, etc. et cette feinte, à mon avis, est plus difficile à bien soutenir que ne le seroit l'acquisition même des Arts et de toutes les Disciplines." Bayle selbst war nicht blind für die Klippen, an denen sein journalistischer Versuch scheitern konnte. Er sieht die hindernden Umstände, gegen die er zu kämpfen haben wird, klar vor Augen. Haag und Amsterdam wären günstigere Städte für die Herausgabe einer Zeitung. Er selbst ist im Ungewissen, ob dieselbe in Frankreich geduldet werde. Er sieht voraus, dass er weder den Theologen noch den Mächten mundgerecht schreiben könne. Er weiss indessen seine eigenen Befürchtungen zu beschwichtigen. Kommt die Zeitung nicht bei hellem Tage auf geradem Wege nach Frankreich, sagt er sich, so wird sie erst recht auf krummem Wege dorthin gelangen. Gesichert für den Absatz seien jedenfalls Holland, England und Deutschland. Und da er sich von jeglichem *) Derselbe Le Moyne, der ihm den Kat gibt, er solle sich lieber um ein Professorat an einer guten Universität bewerben und das Zeitungsschreiben denen überlassen, die nichts Gescheiteres zu thun wissen, ist nach dem Erscheinen der „Nouvelles" des Lobes voll, sowohl für die Kritik als auch für den belebten Stil — „la manière de dire les choses",

Schicksale clor Zeitschrift und ihres Redaktours.

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Parteihader fern halten und bloss als Historiker referieren werde, so hoffe er auch mit seinen Kollegen auszukommen. Seine Befürchtungen sollten sich verwirklichen, nicht aber seine Hoffnungen. Am Vorabende der A u f h e b u n g des „Edit de Nantes" hätte die unparteiische Haltung und rein sachliche Kritik des unabhängigen Journalisten schon genügt, um im katholischen Lager Anstoss zu erregen; es bedurfte hiezu gar nicht der kaum verhehlten Sympathie Bayles für die verfolgte Religion. Anfangs schien zwar alles gut zu gehen. Doch schon gegen Ende des Jahres 1684 setzte man der Zeitung in Frankreich Hindernisse in den W e g . Bereits im Oktober will sich in Bordeaux und Montauban niemand mit dem Verkauf der „Nouvelles" befassen. Typisch für die Zeitverhältnisse ist das Ersuchen des grossen Amsterdamer Buchhändlers Wetstein, Sprosse eines alten Basler Geschlechtes, in den „Nouvelles" nicht als Bezugsquelle verschiedener dort besprochener Werke genannt zu werden. Seinen Kollegen von heute wäre hiermit ein schlechter Dienst erwiesen ! Der Briefwechsel mit dem flüchtigen Redakteur war mit den grössten Schwierigkeiten verbunden. Seine eigenen Brüder können nur auf Umwegen mit ihm korrespondieren. J a , es verbreitet sich das Gerücht, dass man versuche, des gefährlichen Zeitungsschreibers habhaft zu werden. Daher W a r n u n g von allen Seiten. „Vous tournés un peu trop les choses en controverses et en disputes lorsque l'occasion s'en présente." (Janisson an Bayle 1684.) Es zieme zwar einem Protestanten, zu protestieren, aber er solle der Zeitung zuliebe und seiner eigenen Sicherheit wegen Mass halten und vorsichtiger schreiben. Allein, wenn sich in den „Nouvelles" im Tone eine Aenderung wahrnehmen liess, so trug diese eher den entgegengesetzten Charakter, denn Kritik und Sprache wurden kühner. So kam es, dass die Zeitschrift in den ersten Wochen des Jahres 1685

der Zeit"j""rcs

Schicksale sc

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G e s c h i c h t e der „ N o u v e l l e s de la Répuplique d e s Lettres".

in Frankreich verboten wurde, und zwar hatten die Intriguen des Abbé de la Roque, der sein „Journal des Savants" durch den Erfolg der „Nouvelles" ernstlich gefährdet sah, diesen Schritt der Regierung beschleunigt. Während de la Roque in einem Briefe vom 15. Dezember 1684, den die königliche Bibliothek von Kopenhagen aufbewahrt, Bayle alle mögliehen schmeichelhaften Liebenswürdigkeiten schreibt, stellt er in seinem „Journal des Savants" einen Bericht der „Nouvelles" vom Dezember 1684 über die Pariser „Académie des Médailles" als unwahr hin, obgleich er es selbst war, der diesen Bericht verfasst und Janisson mitgeteilt, der ihn seinerseits an Bayle weitergehen liess. Janisson, der Bayle als litterarischer Berichterstatter aus der Hauptstadt wesentliche Dienste geleistet, musste bald den brieflichen Verkehr mit dem Herausgeber der „Nouvelles" als zu gefährlich abbrechen. „. . . Un coup de plume de Versailles nous fait beaucoup plus de mal, que tous les écrits de Hollande ne sçauroient faitfe du bien." (Gigas, Introduction, XI.) Bedeutende und hochstehende Männer, wie der Generalprokurator Talon, Montausier, Pelisson u. a. *) setzten zwar ihren ganzen Einfluss zu Gunsten Bayles ein, aber es gelang ihnen nicht, Louvois zur Billigung der „Nouvelles" zu bewegen. Von dieser konnte natürlich erst recht keine Rede mehr sein, als Bayle die Aufhebung des „Edit de Nantes" mit der energischen Flugschrift „Ce que c'est que la France toute catholique sous Louis le Grand" beantwortete. Für die mutige Sprache des Journalisten und Pamphletisten mussten seine in der Heimat zurückgebliebenen nächsten Blutsverwandten büssen, sein alter Vater und ganz besonders sein Bruder Jacob. Schon Ende 1684 sah er sich gezwungen, eine *) Am 25. März 1685 schreibt Malebranche an Bayle: „J'ai ouï dire que quelques personnes travailloient, afin que vos journaux vinssent ici librement; j e souhaite que cela réussise, afin d'en pouvoir profiter plus promptement."

Schicksale der Zeitschrift und ihres Redakteurs.

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tadelnde Kritik eines Werkes des Prévôt de Montauban, M. de Bret, in den „Nouvelles" rasch wieder gut zu machen, damit sich dieser edle Herr nicht an dem greisen Vater räche. Zum Glück befreite der Tod den alten Mann im März 1685 von den Verfolgungen, denen er sicherlich nicht entgangen wäre. Bald darauf erfuhr Bayle, dass sein Bruder Jacob, wie einst der Vater, Prediger in Carlat, der stets an seinen Studien und Arbeiten den regsten Anteil genommen, am 11. Juni 1685 verhaftet und nach Pamiers ins Gefängnis geschleppt worden war. So rächte man sich an dem Autor der „Nouvelles". Dass er die Verhaftung verschuldet, bestätigt Janisson (10. August 1685). Bayle verfasste Bittschrift auf Bittschrift, wandte sich an alle seine einflussreichen Freunde, und diese setzten endlich auch durch, dass der König die Freilassung unterzeichnete. Am 22. November traf der Befreiungsbefehl in Bordeaux ein — 10 Tage zu spät, denn schon am 12. war Jacob Bayle den Leiden der Kerkerhaft erlegen. Da Pierres Lieblingsbruder schon Ende 1684 in der Blüte seiner Jahre gestorben war, stand er jetzt allein da. Frankreich hatte keine Geiseln mehr, die es für das freie Wort des Flüchtlings züchtigen konnte. Bayle aber verbiss Zorn und Kummer und arbeitete rüstig an seiner Zeitung weiter.

Zweiter Abschnitt.

Darstellung des Inhalts.

Erstes

Kapitel.

P. Bayle und seine „Nouvelles" über die Litteratur des In- und Auslandes. Indem wir hiermit die Geschichte des Werdens und des Kampfes der „Nouvelles" unterbrechen, wenden wir uns in diesem Abschnitte dem I n h a l t e der Zeitschrift zu. Unsere Aufgabe wird es nun zunächst sein, an Hand der vier Jahrgänge der „Nouvelles", mit Hinzuziehung der Bayleschen Korrespondenz und auch gelegentlicher Benutzung seiner übrigen Werke, die Stellung Bayles und seiner Zeitschrift zur einheimischen und fremden Litteratur darzustellen. Obgleich wir uns in dem nächsten Abschnitte noch eingehend mit Bayles Aesthetik beschäftigen werden, möchten wir schon jetzt, um ihn in seiner Haupteigentümlichkeit von vorneherein zu charakterisieren, einiges über sein Verhalten zur Poesie im allgemeinen vorausschicken. Und da sei denn gleich kein Hehl daraus gemacht, dass Bayle weit entfernt ist, den Dichtern — den „pousseurs de beaux sentiments", wie er sie nennt — die erste Stelle unter den Sterblichen" einzuräumen. Für ihn hat das Wort „poete" keinen Zauberklang. Dichter sind in seinen Augen Leute, die bald ver-

Die „Nouvelles' 1 über die Litteratur des In- und Auslandes.

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nünftige, bald unvernünftige Dinge in gute oder schlechte Verse bringen — und zwar mit Vorliebe unvernünftige, unverständige und ganz besonders unnütze. Er hätte jedes Wort des kühnen Satzes unterschrieben, der den grossen englischen Historiker, H. Th. Buckle, zum Autor hat: „Literature, in itself, is but a trifling matter; and is merely valuable as being the armory in which the weapons of the human mind are laid up, and from which, when required, they can be quickly drawn." (Hist. of Engl. Civilis. I, p. 248.) — In einer seiner ausführlichen Besprechungen der „Jugemens des Sçavans sur les principaux Ouvrages des Auteurs" von Baillet („Nouvelles", Dezember 1686, Art. VI), eines Werkes, das viel Staub aufwarf, führt Bayle einige Stellen an, die gegen die Nützlichkeit der Poesie gerichtet sind, um diese dann als „reflexions fort Chrétiennes sur l'abus qu'on fait de la poësie" zu bezeichnen. Obgleich er auch hier, wie fast durchwegs in den „Nouvelles", das eigene Urteil hinter seinen beliebten: „On dit, il semble, beaucoup soutiennent", etc. versteckt, so verrät doch eine Aeusserung, wie die folgende, seine innerste Ueberzeugung: „Effectivement c'est une chose qui ne se comprend pas, que parmi des Créatures qui se glorifient d'être raisonnables, comme de leur caractère de distinction, il y ait un métier public dont les principales proprietez sont de nous repaître de fables et de mensonges." Schon in seinen „Pensées diverses" spricht er von den „désordres causés par les poètes chrétiens", auf die Dichter der Epoche Heinrich II. anspielend, und im § IV derselben Schrift (De l'autorité des Poètes) urteilt er in der einseitigsten Weise über Dichtung und Dichter. Ihm geht eben jedes Verständnis für poetische Phantasiegebilde ab; er betrachtet sie lediglich als gemeingefährliche Poetenlaunen. Sie verwirren seinen supervernünftigen Sinn ; seinem leidenschaftslosen, nüchternen Naturell liegen sie fern. Wenn er den Menschen an und für sich schon als „le morceau le plus difficile à digérer qui se présente à tous les sys-

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Darstellung des Inhalts.

tèmes" bezeichnet (Dictionnaire historique, article Pyrrhon), so machen ihm die Dichter, die er an einer anderen Stelle in seiner derb pittoresken Art mit den Katzen vergleicht, „qui ne font jamais mieux la guerre aus rats que lors qu'ils sont bien nourris et engraissez" — noch viel mehr zu schaffen. Stellung air Akademie und zu Louis XIV.

Der Akademie und ihren Verhandlungen widmet Bavle .



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seine regste Aufmerksamkeit. Er verfehlt keine Gelegenheit, seine Leser mit den neuesten Begebenheiten in der hohen Gesellschaft der vierzig Unsterblichen bekannt zu machen. Die Berichte in den „Nouvelles" geben ein anschauliches, keineswegs erbauliches Bild von den sich dort abspielenden Intriguen, an denen die Akademie von damals ebenso reich gewesen zu sein scheint, wie die heutige. So erfahren wir von den Schwierigkeiten, die die Aufnahme von Thomas Corneille verursachte, dem beinahe der zwölfjährige Bastard Duc de Maine vorgezogen worden wäre, und von der kleinen Verschwörung gegen den allzu fleissigen Abbé Furetière. Als die ersten Probehefte des „Dictionnaire universel" erscheinen, bedauert auch Bayle, dass der Abbé dieses Werk, dem er sonst seine Anerkennung nicht versagt, ohne Sanktion der Akademie unternommen habe. Aber Bayle behandelt die Unsterblichen nicht nur mit der grössten Hochachtung, sondern er gibt sich auch in den „Nouvelles" zu Schmeicheleien her, die dem waschechtesten Klassiker zur Ehre gereicht hätten. Es wäre indessen ebenso ungerecht wie unhistorisch, dies Verhalten Bayles als charakterlos zu bezeichnen. Er kannte die Macht der Akademie und er glaubte auch wirklich an die Berechtigung derselben. An ihrer Anerkennung und an ihrem Wohlwollen war ihm Alles gelegen. Von den Verdiensten der Ménage, Bouhours und Vaugelas für die Macht, Vervollkommnung und Verbreitung der französischen Sprache redend, schreibt er („Nouvelles", Mai 1685, VIII) : „On seroit ingrat si l'on ne confessoit pas que l'honneur, qui revient de

Die „Nouvelles" über die Litteratur des In- und Auslandes.

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tout cela a cette Langue est dû à l'Academie Françoise (die beiden letzten Wörter in dreifacher Grösse gedruckt!) l'un des plus beaux ornemens qui soient en France." — W i r erwähnen hier nur noch eines „gehorsamen Dieners" vor der Akademie und ihrem hohen Schutzherrn, weil er besonders bezeichnend ist. Bayle bringt nämlich die seichte und nichtssagende Rede, mit der der Abbé de la Chambre La Fontaine empfing. Nachdem der Abbé ganz kurz von dem neuen Mitgliede gesprochen und bekannt, dass er dessen Fabeln gar nicht gelesen — solche Liebenswürdigkeiten sind auch heute bei ähnlichen Gelegenheiten nicht selten —, artet die Rede in eine widerwärtige Lobeshymne auf Ludwig XIV. aus, die Kern und vier Fünftel des Ganzen bildet. Und d i e s e s Gehaltes wegen hält es Bayle für seine Pflicht, den Lesern der „Nouvelles" die Rede nicht vorzuenthalten. Die Aprilnummer 1684 zeigt uns Bayles Stellung zum Itylo über Moliwc, Lustspiel und speciell zum Molièreschen. Der „Arlequin Koinofc*J|cr Ull(1 Procureur", der von den „comédiens italiens" im Hôtel de Bourgogne mit grossem Erfolge aufgeführt wurde, bildet die Veranlassung. Der Redacteur der „Nouvelles" urteilt nach dem moralischen, erzieherischen Werte. „Quantité de personnes disent fort sérieusement à Paris, que Molière a plus corrigé de défauts à la Cour, et à la Ville, lui seul, que tous les Prédicateurs ensemble, et je croi qu'on ne se trompe pas, pourvû qu'on ne parle que de certaines qualitez qui né sont pas tant un crime, qu'un faux goût, ou qu'un sot entêtement, comme vous diriez l'humeur des Prudes des Précieuses, de ceux qui outrent les modes . . . etc." Gegen das Laster, meint er, vermöge das Lustspiel nichts; hier sei es machtlos, womit er dem Jesuiten Bouhours beistimmt. Ja, in manchen Fällen sei die Komödie geradezu sittenverderbend, besonders durch das ewige Lächerlichmachen der von verliebten Kindern betrogenen Eltern. Einen gewal-

Darstellung des Inhalts.

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tigen Respekt hatte Bayle vor der vernichtenden Macht der Komik Molières. Auf Boileau anspielend, der bekanntlich Molière wenigstens zu dessen Lebzeiten schonte, hält er es für den gescheitesten „Staatsstreich", den ein Satiriker thun könne, sich nicht mit einem Stärkeren einzulassen: „C'est plutôt fureur que courage que d'attaquer un comédien de la force de Molière, et la partie est toujours malfaitte, quand il la faut soutenir contre un homme qui vous peut mettre en comédie, la plus mortelle sausse qui soit . . . Molière en particulier

avoit

la raillerie

si forte,

que

c'étoit

comme

lin coup

de

foudre d'effet: quand un homme en avoit été frappé, on osait plus s'approcher de luy, et on le fuyoit „tanquam de celo tactum et fulguritum hominem''. Il perdoit même une bonne partie de son esprit, comme on le croyoit anciennement de ceux qui avoient été frappez de la foudre, ¿ T C I ^ Q Ô ^ T O I . Tout cela est arrivé à l'abbé Cotin, car non seulement la comédie des femmes sçavantes aliéna de luy ses amis, mais aussi luy troubla le jugement." (An Minutoli, 29. Oktober 1674.) Von dem Dichter Molière, von der dramatischen Bedeutung seiner Meisterwerke erfahren wir nichts. Gelegentlich macht sich Bayle anheischig, in denselben hundert Beispiele von Barbarismen zu finden. An einer anderen Stelle meint er, dass der grosse Mime die köstlichen Darstellungen der Ehezwiste („les désordres des mauvais ménages et les chagrins des maris jaloux") wohl in seinem eigenen Hause studiert habe.*) Wie niedrig die sociale Stellung des Schauspielers in jenen Tagen war, wie sehr man zur Zeit Molières den Komö*) Einige bemerkenswerte Betrachtungen über Molière und das zeitgenössische Lustspiel finden sich im 22. Briefe der „Nouvelles lettres critiques sur l'histoire des Calvinistes". D e m Vorwurfe, dass das Lustspiel die Dinge übertreibe, entgegnet Bayle, dass die Dichter immerhin den Kern, den Grundcharakter der geschilderten Personen (die Portraits) der Zeitgeschichte entnehmen. Dem alten J u n g g e s e l l e n müssen wir es zu gute halten, wenn er behauptet, dass die Komik überhaupt dem wirklichen L e b e n nie so nahe komme, als wenn sie sich die Ehe und ihre Lächerlichkeiten zum Vorwurfe nehme.

Die „Nouvelles" über die Litteratur des In- und Auslandes.

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dianten verachtete, zeigt gerade das Verhalten des doch sonst so toleranten und freisinnigen Bayle. In diesem Punkte berührt sich der skeptische Aufklärer und protestantische Pfarrerssohn mit dem Bischof Bossuet, dem Jesuiten Bouhours und dem Jansenisten Arnauld — hierin ist er ganz Kind seiner Zeit. Nur berühren uns die harten Auslässe gegen die Schauspieler und die „faiseurs de comédies" bei Bayle peinlicher, weil sie in schreiendem Widerspruche zu seiner Geistesrichtung stehen. *) Um wieviel moderner und aufgeklärter erscheint uns in dieser Beziehung der längst vergessene Chappuzeau, der in seinem Werke „Recherches sur les Theatres en France" mit wohlwollendem Verständniss von dem Schauspieler und seinem Berufe spricht, als Voltaires Vorläufer, der unter anderm folgendes von dem genannten Werke zu sagen weiss: „II faut bien avoir la manie de faire des Panégyriques pour s'aviser de faire celuy des Comédiens, et je ne pense pas que ces messieurs ayent jamais espéré qu'un Autheur feroit imprimer un jour leur éloge . . . On peut dire des louanges de Chappuzeau ce qu'on disoit des amours de Voiture, qu'elles s'étendent depuis le sceptre jusqu'à la houlette." (Bayle an Basnage, 17. November 1674, G.)**) *) Nicht nur Schauspieler, sondern auch Dichter wurden bis ins XVllI. Jahrhundert hinein von allen Klassen der Gesellschaft über die Achsel angesehen. Man Hess sich von ihnen unterhalten, im Grunde aber verachtete man sie und ihren Stand. „Poète, mauvais métier qui fait mourir de faim son maître ou le fait pendre." So Mathieu Marais, Bayles glühender Verehrer, der im Juli 1722 in seinem „Journal et Mémoires" die Geschichte von dem durchgeprügelten Arouet „à présent Voltaire" erzählt, wobei er ganz auf dem Standpunkte de Moutausiers steht und nicht bedauern würde: Quand de ces médisants l'engeance toute entière Irait, la tête en bas, rimer dans la rivière. **) Samuel Chappuzeau (1625—1701), in Genf geboren. Ward ein fahrender Litterat und Komödiendichter, dann Lehrer des Prinzen v. Oranien (Wilhelm II.). Lebte seit 1672 in Deutschland und schrieb ein Buch über den bairischen Hof, worauf sich obige Bemerkung Bayles bezieht. Starb in Zell arm und erblindet. (Zu vergleichen „Zeitschrift des historischen Vereins für N i e d e r s a c h s e n 1 8 8 0 , pag. 261 ff.)

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Darstellung dos Inhalts.

Das Schauspiel selbst ist in Bayles Augen lediglich eine Belustigung für die Masse, für den ungebildeten Haufen, und deswegen befürwortet er auch, dass der Dichter sich nach dem Geschmacke des Volkes richte, oder, wie er sich in seiner derben Weise ausdrückt : „On doit considérer la Comédie comme un repas donné au peuple, l'importance est donc que les viandes paroissent bonnes aux conviez, et non pas qu'elles aient été aprétées selon les réglés de l'art de cuisine . . (Continuation des Pensées diverses.) Com* ond Ratine.

Auch zur Geschichte und Kritik der Tragödie und ihrer beiden grossen Vertreter lieferte die Zeitschrift Bayles nur spärliches Material. Dass ihr Redacteur, obgleich er sich in früheren Jahren wiederholt in Paris aufhielt und längere Zeit in dem Geburtsorte Corneilles, Rouen, lebte, nie den Fuss in ein Theater gesetzt, um einige Stunden seiner Studien dem vulgären Vergnügen des Lust- oder Schauspiels zu opfern, brauchen wir wohl kaum ausdrücklich zu erwähnen. Wir wagen sogar die Behauptung, dass Bayle sich nie die Mühe genommen, ein Drama ganz zu lesen. So stammt denn auch der Aufsatz „Eloge de Monsieur Corneille" in der JanuarNummer 1685 (Art. X) nicht aus seiner Feder. Er habe ihn aus Paris erhalten und so trefflich gefunden, dass er nichts daran geändert. Er meint nur, man hätte den verstorbenen Dichter noch mehr loben können, als dies der Autor gethan. In diesem Artikel nun wird die Epoche, in der die Tragödien Horace, Cinna, Polyeucte, Pompée und Rodogune geschaffen wurden, als die ruhmreichste des französischen Theaters bezeichnet, das mit diesen Dramen die Kunst der alten Griechen weit überflügelt habe. Als Meisterstück Corneilles müsse Rodogune oder Cinna angesehen werden. Das Publikum gebe dem letzteren den Vorzug. Wie es kam, dass Corneille die Gunst desselben verlor, wird wie folgt erklärt: „II se trouva un homme qui soûtenu de beaucoup de mérite, et d'un parti

D i e „Nouvelles" über die Littcratur des In- und Auslandes.

considérable

qu'il

s'êtoit

fait

à la Cour,

et parmi

les

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femmes,

prétendit être son Rival. Il étudioit avec soin, et avec un grand succès, le goût que l'on avoit alors pour la tendresse, au lieu que M. Corneille dédaignoit d'avoir cette condescendance pour le Public, et ne vouloit point sortir de sa noblesse ordinaire ni de la grandeur Romaine." So weit dies nicht uninteressante Stück zeitgenössischer Tageskritik. In dem „angeblichen" Rivalen, dem Dichter der „tendresse", hält es nicht schwer, Racine zu erkennen. Diesen Kommentar f ü g t auch Bayle hinzu, und zwar für diejenigen Leser „qui ont besoin qu'on parle des choses avec la dernière clareté!" — Die Verdächtigung, es werde der Autor der „ P h è d r e " vom Hofe unterstützt, wollten Racines Freunde nicht auf ihm sitzen lassen. Im März 1685 (IV) erscheint der Protest eines Pariser Abonnenten, wo es unter andertn heisst : „Celui qui vous a envoyé l'Eloge de feu M. Corneille, n'a pas été tout-à-fait bien informé sur le chapitre de M. Racine. Ses Ouvrages se soûtenant d'eux-mêmes a u t a n t qu'ils se soutiennent, il n'a pas eu besoin de cabale pour attirer la foule à la. représentation de ses Tragedies, etc., etc." Ob Bayle zu den A n h ä n g e r n des älteren oder jüngeren Tragöden zählte, darüber hat er uns nichts berichtet. Wir glauben, dass ihm im Grunde beide ziemlich gleichgültig waren. Bezeichnend für seinen Theaterenthusiasmus ist eine Stelle eines Schreibens an Minutoli (28. Mai 1675) aus Paris selbst, wo es heisst: „L'Iphigénie de M. Coras se joue enfin par la troupe de Molière, après que celle de M. Racine s'est fait assez admirer dans l'Hôtel de Bourgogne. " Hier m a g es wohl am Platze sein, eine der merkwürdigsten und zugleich für die Art der Bayleschen Kritik charakteristischsten Betrachtungen zu streifen, die unser Autor dem b e k a n n t e n C i d s t r e i t e in den „Continuation des Pensées diverses" 1704 widmet, also rund 70 J a h r e nach dem E n t stehen der berühmten litterarischen F e h d e . Es ist dort von 3

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Darstellung des Inhalts.

der Legitimität der Volksgunst, von der Berühmtheit, wie sie dem Dichter durch die Menge zu teil wird, die Rede. Bayle will seine diesbezüglichen Ansichten an dem Cidfalle demonstrieren. Wer hat recht, Richelieu, der den Cid durch die Akademie verurteilen lässt, oder das Publikum, das dem Cid zujubelt ? Seiner Gewohnheit gemäss gibt Bayle beiden recht oder unrecht, wie man es drehen will, dem Volke, das dem Cid seit zwei Menschenaltern seine Gunst bewahrt, und dem Kardinal, der als feiner Kenner dessen Fehler erkannt hatte. Corneille selbst vergleicht er mit jenen Helden, die gleich hervorragend an Tugend und Laster waren: „Le Cid pourroit bien avoir ce caractere, mais ses beautez étant sensibles à tout le monde, et ses défauts ne se découvrant qu'à un homme du métier, ou qu'aux lecteurs qui les cherchent avec un esprit critique, il a remporté l'aprobation du Public. Ce qu'il y avait de brillant cachoit les imperfections, et l'on étoit si ébloui ou si enchanté de ses charmes qu'on ne pouvoit pas même soupçonner qu'il lui manquât quelque chose." Mit George de Scudéri, dem Autor der „Observations sur le Cid", ist Bayle über die pflichtvergessene Tochter des Don Gomès entrüstet. Er nennt sie „personnage abominable et à lapider". Die dramatische Behandlung einer so sträflichen Leidenschaft stehe einem christlichen Dichter schlecht an. Einem heidnischen Dichter des Altertums wäre ein Ausweg geblieben, indem er ganz einfach diese „ungeheuerliche Liebe" durch die Göttin Venus hätte einflössen lassen. Bayle weiss aber trotzdem den Erfolg des Stückes sehr wohl zu erklären ; er findet ihn sogar selbstverständlich, — aber immer mit dem Refrain : aller Erfolg beweise gar nichts, so lange eben die Akademie anderer Meinung sei. Schliesslich wagt er immerhin eine positive Behauptung: auf e i n e m Gebiete der Dichtkunst gebe denn doch die Zustimmung der Gesamtheit den Ausschlag, nämlich auf dem dramatischen, und zwar weil eben das Theater nach der Meinung Bayles nicht für die Geisteselite, sondern für

Die „Nouvolles" über die L i t e r a t u r des In- und Auslandes.

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den Volkshaufen bestimmt ist. „Car puisque le but que l'on s'y propose est de divertir le peuple, ou tout au plus de l'instruire par le moïen du plaisir, il faut tâcher d'y contenter tout le monde; mais si cela est impossible, il vaut mieux ne faire des mécontens que parmi le peu de personnes qui savent les règles . . . " Der Roman, d. h. der historische, der den wissbegierigen Leser über die Geschichte der Gegenwart oder der Vergangenheit belehrt, vermochte dagegen unserem Autor einiges Interesse abzugewinnen. Wir wissen wenigstens, dass Bayle einige Romane gelesen, oder wohl genauer, durchgeblättert hat. So findet er an Madame de Lafayettes „Princesse de Cleves" Gefallen. „Quand je trouve un Roman comme la „Princesse de Clëves" et le „Prince de Condé", ou quelque nouvelle historique comme „Don Carlos", etc. . . . je les lis avec plaisir." (An seinen ältesten Bruder, 21. J a n u a r 1679.) Nicht minder interessieren ihn jedoch „Les amours du roi de Tamaran par le sieur de Brémont". Weil ihm aber nur an dem historischen Gehalte gelegen ist — Charakteristik, spannende Schilderung, psychologische Entwicklung und dergleichen sind ihm unbekannte Dinge —, so verdammt er die „faiseurs de Romans et Auteurs de petites Pieces de Galanterie", die sich dichterische Freiheiten an historischen Stoffen erlauben. In diesem Falle sei es vorzuziehen, wenn sich die Romanschriftsteller ganz auf ihre eigenen Phantasiegebilde beschränkten und die Geschichte, statt sie zu „vergiften", den Historikern überliessen. Selbst den Sultan der Türken dürfe man nicht zu dichterischen Zwecken gebrauchen. „Quelques Turcs que soient les gens, il faut respecter le caractere de Monarque." („Nouvelles", Oktober 1684, VIII.) Wünsche man durchaus ein geschichtliches Thema, so wären deren j a genug im grauen Altertum und seiner Mythologie zu finden. Näher stehen wir Bayle, wenn er verlangt, dass der Roman

Der Roman und seine

lertrctcr.

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Darstellung dos Inhalts.

das getreue Abbild der Natur, frei von Konvenienz und preziösem unnatürlichem Wesen sein solle. Er hofft, dass die „bergers" und „bergères", trotz der Erfolge des Marquis d'Urfé, für immer aus dem Romane gebannt seien. Diese gehörten in das Gebiet der Lyrik. Inzwischen habe sich das Theater ihrer bemächtigt, d. h. die O p e r . Wie sehr diese Sing- und Tanzschauspiele damals beliebt waren, bestätigt auch Bayle, indem er sie „la maladie à la mode" nennt. („Nouvelles", September 1686, I.) — Zu den Romanen, die seine Ansprüche befriedigen, zählt er „Ariane". „Les Héroïnes y ressemblent fort aux autres femmes, et tout y est assez bien à la portée du siècle." Verfasser desselben ist der Günstling Richelieus, Desmarets de Saint-Sorlin ; der Stoff ist der Geschichte Neros entnommen und geschrieben wurde der Roman 1631 und zwar ganz nach dem Muster der Gombervilleschen Schöpfungen; d. h. entweder hat Bayle die „Ariane" nur sehr flüchtig gelesen oder er nahm es mit der historischen Treue sowohl als auch mit natürlicher, ungezierter Schilderung nicht besonders genau. In sympathischer Weise äussert er sich über Mademoiselle de Scudéri, der er nachrühmt, ihre trefflichen Romane „Cyrus" und „Clélie" ihrem Bruder zugeschrieben zu haben, in der Besprechung der „Conversations nouvelles sur divers sujets", 1684, 2 vol. („Nouvelles", Oktober 1684, Art. IX): „. . . On dit une autre chose de la même Demoiselle, qui est encore plus surprenante, c'est qu'ayant écrit tant de choses de l'amour, et ayant tourné de tous les cotez imaginables cette passion dangereuse (I), elle ne l'a jamais sentie . . . " In der Märznummer 1686 (V) bringt er eine Kopie des italienischen Dokumentes, in welchem die paduanische Akademie der Ricovrati die französische Schriftstellerin zu ihrem Mitgliede ernennt und fügt noch hinzu, dass ein Roman der Scudéri sogar ins Arabische übertragen worden sei. Ueberraschend ist es, in dem trockenen

Junggesellen

Die „Noiiyellcs" über die Littoratur des In- und Auslandes.

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und Stubengelehrten einen „féministe", einen Verteidiger der Frauenrechte zu finden, der gelegentlich eine Lanze für die „femmes savantes" bricht. So stellt er unter anderem in einem Artikel über den berühmten Blaustrumpf jener Zeit, Mademoiselle Schurmann, folgende Betrachtungen an, für deren Ausgrabung uns die Geistesamazonen und ihre Ritter gewiss Dank wissen werden. („Nouvelles", Juni 1684, Art. VI.) „Le monde prend . . . occasion . . . d'insulter toutes les femmes qui s'attachent à l'étude; et la moindre chose dont on leur fait peur, c'est de dire qu'elles en perdront l'esprit. La vérité est qu'on ne parle ainsi, que parce qu'on les aime mieux attachées à la bagatelle, et parce qu'on est bien aise de mortifier celles qui se distinguent par cet autre endroit." — Bemerkenswert ist schliesslich noch, was er von den Romanen mit socialer und religiöser Tendenz sagt, deren enormen Erfolg er wiederholt konstatiert. Zu diesen gehört z. B. der Roman L'amante convertie", in dessen Heldin Mademoiselle de la Valière porträtiert ist und der zahlreiche Auflagen erlebte. „Je ne pense pas que les Comédies de Molière, ni les Satyres de Monsieur Despreaux, aillent jamais si loin. E t après cela on se plaint que l'homme aime mieux lire les Ouvrages de raillerie, que les Ouvrages pieux." („Nouvelles", September 1684, IV.) Und in einer jener Wendungen, von denen der .Franzose sagt: „C'est du Montaigne tout pur", wundert sich Bayle, dass trotz des grossen Absatzes frommer Bücher die Welt fortfahre, immer schlechter zu werden. Ueber Boileaus Aufnahme in die Akademie referierend, l'eber Boileau und die S tire bringt Bayle einen Auszug der kurzen Ansprache des Sati" ' rikers. Es ist vom Widerstande die Rede, den die Kandidatur desselben von Seiten jener Unsterblichen gefunden, die von seinem Spotte zu leiden hatten. Nur der hohe Wunsch des Monarchen konnte die Bedenken beseitigen. Bayle bezeichnet die Rede als „digne de son esprit et de sa réputation", fügt

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Darstellung des Inhalts.

aber maliziös hinzu, dass selbst die Feinde Boileaus weiter nichts daran auszusetzen hatten, als dass sie nichts Aussergewöhnliches gewesen sei („Nouvelles", Juli 1684, Art. VIII). Das satirische Genre ist nämlich unserem Kritiker von Grund auf unsympathisch. Er spricht ihm jede heilsame Wirkung ab, hält es nicht nur für unnütz, sondern auch für schädlich, und zwar weil die Satire stets Unfrieden stifte. Man lache wohl momentan; sobald aber das boshafte Vergnügen verrauscht sei, finde man, dass dem verspotteten Dichter nicht der geringste Schaden zugefügt wurde. So ständen z. B. Benserade und La Fontaine nach der gegen die Akademie gerichteten Satire „Factum" ebenso hochgeachtet da wie zuvor. („Nouvelles", Juni 1686, Art. IX.) Der verletzenden Satire stellt er „la bonne critique" gegenüber. Bayle ist allerdings vorsichtig genug, in den „Nouvelles" nicht direkt auf Boileau hinzudeuten. In seinen Briefen dagegen gebraucht er nicht dieselbe Rücksicht. So schreibt er an Minutoli (29. Oktober 1674) als Boileaus Satiren erschienen : „ J e ferai seulement une réflexion qui a sans doutte été déjà faite et qui sera bonne en tout tems. C'est que les satyriques sont de véritables boutefeux et des perturbateurs du repos public, en effet ils allument la guerre dans tous les coins du Parnasse et donnent naissance à cent libelles diffamatoires . . . une injure décochée par un poète n'est pas un moindre crime à luy, qu'à un soldat d'avoir frappé de l'épée . . . " * ) *) Einen ganz anderen Ton schlägt Bayle allerdings später an, als er erfährt, dass sich Boileau gegenüber dem gemeinsamen Freunde und Verehrer Marais lobend über den „Dictionnaire historique" geäussert. „. . . C'est un bien si grand, c'est une gloire si relevée, que je n'avois garde de l'espérer. Il y a longtemps que j'applique à ce grand homme un Eloge plus étendu que celui que Phèdre donne à Esope „naris emunctae, natura numquam verba cui potuit dare". Il me semble aussi que l'industrie la plus artificieuse des auteurs ne le peut tromper. A plus forte raison, ai-je dû voir que j e ne surprendrai pas son suffrage, en compilant bonnement., à l'Allemande (!), et sans me gêner beaucoup snr le choix, une grande quantité de choses . . (An Marais, 2. Oktober 1698.)

Die „Nouvolles"

über

die Litteratur des In- und Auslandes.

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Bayles Zeitschrift Hess Fontenelle um so weniger unbeachtet, als zwei seiner grosses Aufsehen erregenden Schriften ins J a h r 1686 fielen, von denen die eine sogar in den „Nouvelles" selbst erschien.*) Der Redacteur der „Nouvelles" hütet sich indessen, seinen Lesern die Augen über den innersten Kern, die satirische Grundidee, das oppositionelle Element der Werke des freigeistigen Neffen Corneilles zu öffnen. Er überlässt es diesen selbst, den religiös indifferenten Aufklärungsgedanken in dem galanten und eleganten Gewände der preziösen Prosa und dem fremdländischen Milieu zu entdecken. — Die Mai-Nummer 1686 eröffnet eine ausführliche Inhaltsangabe der „Entretiens sur la pluralité des mondes", die gerade in Amsterdam erschienen waren. Bayle leitet dieselbe in sehr charakteristischer Weise ein. Der Umstand, dass das Buch, in dem natürlich viel von Astronomie die Rede ist, in Form eines Gespräches zwischen dein Autor und einer schönen Marquise — und zwar im Halbdunkel der einbrechenden Nacht — verfasst ist, gibt dem nicht immer geschmackssicheren Kritiker willkommene Gelegenheit, einige Witze über Geometrie- und Astronomie-beflissene Damen zu machen und beispielsweise von einer sternkundigen zu erzählen, die von ihrem Manne ins Kloster gesteckt wurde, weil es ihm verleidet war, mit anzusehen, wie seine Ehehälfte ganze Nächte lang den Mond lorgnierte, um dort Menschen zu entdecken. Echt Bayle ist der beigefügte Witz : „II y a d'autres maris qui seraient bien-aises que leurs femmes ne passassent leur temps qu'avec les étoiles!" Sein Urteil fasst er in folgende Worte zusammen: „C'est un résultat de mille pensées diverses, où l'on trouve des plaisanteries galantes, *) Nämlich die satirische Allegorie „Relation de l'île de Bornéo" in der Januar-Nummer (Art. X) der „Nouvelles" und im gleichen Jahre die bedeutenderen „Entretiens sur la pluralité des mondes", in denen er das kartesianische System und die Lehre von der Mehrheit der Welten in geistreicher und gemeinverständlicher Weise darstellte.

Fontcnellc mul die v

""

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Darstellung des Inhalts.

des railleries fines, des moralitez profondes et enjouées, un essor d'imagination aussi vaste et aussi libre qu'on ne puisse voir, une grande vivacité; tout cela soûtenu d'un fond de Physique et d'Astronomie qui débrouille bien des choses, dans le système de M. Descartes. Il est certain que tout en riant on nous fournit ici plusieurs grandes vûes" . . . Bayle wagt es natürlich nicht, sich über die geradezu antireligiösen Thesen dieser Schrift, über die dort dargestellte Relativität der menschlichen Existenz, die ja dem kirchlichen Glauben diametral entgegengesetzt ist, indem sie dem von Gott geschaffenen Erdenbewohner die Alleinherrschaft im Weltall raubt, des Näheren auszusprechen. Aber wenigstens e i n e Seite der Fontenelleschen Idee unternimmt er, mit einem raschen Hinweis zu streifen. Nachdem er sich über die Nichtigkeit unserer Kenntnisse ergangen, die nicht einmal über die Bewohner des eigenen Erdteils Auskunft zu geben vermögen und dabei doch Mond und andere Gestirne zu erforschen streben, fährt er fort: „II y aura des gens qui trouveront une grandeur déréglée d'imagination dans ces idées, et dans quelques autres semblables, mais ce seront des personnes qui ne se remplissent guerres de la notion vaste et immense de l'infini, et qui bornent trop la Providence." In einer Zeitschrift des XVII. Jahrhunderts darf eine solche Sprache immerhin befremden und zweifelsohne hat sie Katholiken nicht minder wie Calvinisten missfallen. Die „Nouvelles" vom Januar 1686 gehört mit zu den interessantesten Nummern der Bayleschen Monatshefte, zu jenen, die am meisten Aufsehen erregten. Dort bringt nämlich Bayle einen angeblich aus Batavia geschriebenen Originalbrief mit folgender Ueberschrift :*) „Extrait d'une Lettre écrite

*) U e b e r Inhalt und B e d e u t u n g dieser Schrift zu vergleichen Hermann Hettner, „Geschichte der französischen Litteratur im X V I I I . Jahrhundert", F ü n f t e , von H. Morf besorgte Auflage, 1895,

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de Batavia dans les Indes Orientales, le 27 Novembre 1684, contenu dans une Lettre de M. de Fontenelle, reçue à Rotterdam par M. Bânage." Unser Autor enthält sich nicht nur jeglichen Kommentars zu der findigen Allegorie und Deutung der Fiktion und Anagramme (wie Mréo für Rom und Eénegu für Genf), sondern er bestärkt noch den Leser in dem Glauben, es handle sich hier wirklich um einen Reisebericht aus dem fernen Indien durch ein einleitendes Vorwort, wo es unter anderem heisst : „ . . . il faut entendre non seulement ce qui se rapporte aux choses inanimées, aux plantes et aux bêtes, mais aussi ce qui se rapporte à l'homme soit pour la constitution du corps soit pour le goût de l'esprit. C'est sous cette dernière vue que nous pourrons adopter l'Extrait d'une Lettre écrite de Batavia touchant une guerre civile qui s'est élevée dans l'Isle de Bornéo." — In einem Nachsatze spricht Bayle noch kurz von dem Autor, „digne neveu de Monsieur Corneille: . . . Il s'est d'abord attaché à la Poesie, et a composé plusieurs Pièces d'un goût délicat. On en a inséré plusieurs dans le „Mercure Galant". . . . Il semble présentement regarder comme audessous de lui (!) ce qui s'appelle productions de „bel esprit" . . ." Dieselbe vorsichtige Zurückhaltung bewahrt Bayle in dem ausführlichen Referate über Fontenelles 1687 in Rotterdam erschienene „Histoire des Oracles".*) („Nouvelles", Februar 1687, Art. IV.) Nur am Schlüsse lässt er sich zu einer Reflexion verleiten, die auf das Verfängliche der Schrift aufmerksam machen konnte: „ J e doute que tous les Lecteurs accordent à M. de F., que les Oracles auraient été entièrement abolis, quand même le Paganisme se fût maintenu. On lui soûtiendra peut-être qu'ils n'auroient fait que se décrier auprès des honnêtes gens, comme il est arrivé dans notre siecle aux pelerinages, et à quelques autres petites et meniies dévotions." *) Vergl. den Aufsatz über Fontenelle von H, Moif in der (No. 41, 1891).

„Nation"

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Darstellung des Inhalts.

Kürzcrc Emluiimgcii Nur flüchtig wird in der Dezembernummer 1686 über d a s W e r k eiues in MtgZsl England in der Verbannung lebenden „bei Esprit": „Conversation du Maréchal d'Hocquincourt avec le père Canaye" referiert. G e n a n n t ist der Autor Saint-Evremont nicht, dessen Schriften zusammen mit denen Bayles und Fontenelles trefflich als „die Meilensteine an dem bald breiten, geraden, bald schmalen und gewundenen Pfade religiöser Toleranz, der von der Zeit Richelieus in das Jahrhundert Ludwigs XV. führt",*) bezeichnet worden sind. Aber auch hier lässt Bayle keine Silbe über den bitter-satirischen Kern dieses kleinen Meisterwerkes skeptischen Indifferentismus verlauten, sondern er begnügt sich mit der nichtssagenden Bemerkung, dass man schwerlich von den „Maximes de Religion" erbaut sein würde, die der Autor dem „Maréchal" in den Mund lege. Mit unverhohlener Sympathie, wie wir dies bei dem Redacteur der „Nouvelles" nicht gewohnt sind, spricht Bayle von La Fontaine (April 1684, VII). Wahrscheinlich hat er den lebenslustigen Fabeldichter in Paris gekannt, denn einer seiner Pariser Freunde berichtet ihm von seiner „bonne amie", der Madame de la Sablière, die ja bekanntlich La Fontaines geistreiche Gönnerin war. In dem erwähnten Artikel wird wiederum von dem Widerstande der Unsterblichen erzählt, die sich dagegen wehrten, den Autor so „schamloser" Geschichten in die Akademie aufzunehmen, in der sich so viele würdige und bischöfliche (mitres) Männer befänden. In einem Ausfall gegen die „Anciens", auf den wir später zurückkommen werden, schreibt sich Bayle Lafontaine zuliebe in eine solche Wärme des Ausdrucks hinein, dass er selbst darob erschrickt, sofort den alten Bayle wieder aufsetzt, indem er die Leser versichert, er sei weit davon entfernt, behaupten zu *) H. Morf, Drei Vorposten der französischen Aufklärung, ^Nation41 1891 (No. 41).

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wollen, dass nichts an den „Contes" auszusetzen wäre. Er bemerke auch ausdrücklich — besonders da er nur allzuhäufig unter missverstandener Kritik zu leiden habe —, dass er nicht von einem g e l e h r t e n Buch rede, wenn er geistreich sage und u m g e k e h r t , und somit bedeute das L o b , das er den „Contes" gespendet, keineswegs, dass er dies Buch als „livre de dévotions" empfehle. Der Besprechung einer neuen und vermehrten Ausgabe der „Pensées" von Pascal („Nouvelles", Dezember 1684, II) -— die chronologische Reihenfolge veranlasst uns zu solchen Sprüngen — entnehmen wir einige Stellen, aus denen wir unschwer die hohe Verehrung des Skeptikers für denjenigen, der durch A r t und Ursache des Zweifels sein geistiger Antipode war, herauslesen können. „Cent volumes de Sermons ne valent pas cette Vie-là, et sont beaucoup moins capables de désarmer les impies. L'humilité, et la dévotion extraordinaire de M. Pascal mortifient plus les libertins que si on lâchoit sur eux une douzaine de Missionnaires . . . C'est assurément un beau spectacle, que de voir M. Pascal régler sa vie par la maxime „qu'il faut renoncer à tout plaisir, et que la maladie étant l'état naturel des Chrétiens, etc. . . . On fait bien de publier l'exemple d'une si grande v e r t u ; on en a besoin pour empêcher la prescription de l'esprit du monde contre l'esprit de l'Evangile." A u c h einige Betrachtungen über seine berühmte Zeitgenossin Madame de Sévigné, die mit ihrem gesunden Menschenv e r s t ä n d e , dem eine gewisse Toleranz und Geistesfreiheit nicht fremd waren, manchen Zug mit Bayle gemein hat, so z. B. den mangelhaften ästhetischen Sinn, — mögen hier Platz finden. Bayle k e n n t ihre launigen Bemerkungen über den Kometen von 1681, den sie „la plus belle queue qu'il est possible de voir" nennt, und hat sie in seinen „Pensées diverses" gelegentlich verwertet. (Oeuvres div. III, p. 267.) Ihre handschriftlich überall verbreiteten Briefe sagen ihm mehr zu als

44 die ihres boshaften V e t t e r s de R a b u t i n . N a c h ihrem Tode schreibt er an einen X (4. Dezember 1698): „Cette D a m e avoit bien da sens et de l'esprit. L e bruit a couru que Monsieur Menage l'a aimée g a l a m m e n t . Elle mérite une place parmi les F e m m e s illustres de notre Siècle." Der Autor der ^rrV'Lil et des Modernes".

Mit dem langen,

zähen u n d Wechsel vollen Streite

der

» ^ d e w s " und der „Modernes", wie er im L a u f e des X V I I . J a h r h u n d e r t s zum Bewusstsein u n d deutlichen A u s d r u c k gek o m m e n ist — denn in W i r k l i c h k e i t schlummert er als Lebensund Entwicklungsprinzip in der L i t t e r a t u r aller Zeiten und L ä n d e r —, dringt der kritische Geist, der nach W e r t u n d Beschaffenheit eines W e r k e s frägt, in die grosse Masse der Gebildeten. V o n n u n an sind es nicht m e h r bloss Gelehrte u n d Dichter, die sich in litterarischen Dingen eine Meinung bilden, sondern a u c h die Laien, sei es in den eleganten Salons der oberen Z e h n t a u s e n d , sei es in den bescheideneren Kreisen des Bürgerstandes. Hierin liegt die kulturhistorische Bedeut u n g j e n e s Zusammenprallens der alten u n d neuen Dichtung, j e n e r folgenreichen Bewegung, deren E n t s t e h u n g man bis zu Tassonis „Pensieri diversi" z u r ü c k f ü h r e n k a n n . Dort k o m m t die erste der vielen darauf folgenden Homer-Blasphemieen vor, indem Tassoni es w a g t , Tassos Befreites J e r u s a l e m über die Gesänge der Ilias zu stellen. *) In F r a n k r e i c h eröffnet Desmarets de Saint-Sorlin die litterarische F e h d e g e g e n das klassische A l t e r t u m u n d seine Verteidiger. Seine erste Streitschrift erscheint 1673 zusammen mit dem Drama Clovis. Im

*) Cf. H. Rigault, Histoire de la querelle des Anciens et, des Modernes, Paris 1859, und F. Brunetière, Evolution de la critique, 4 e leçon, 1894. — Demnach begänne mit Tassoni d a s , was Wetz (Shakespeare vom Standpunkte der vergleichenden Litteraturgeschichte, Worms 1890, pag. 32 ff.) unter vergleichender Litteraturgeschichte verstanden haben will, und nicht erst mit Perrault, denn bei jenem finden wir das durch Vergleichung erlangte ßewusstsein von der Verschiedenheit antiker und moderner Dichtung.

Die „Nouvellcs" über die Littcratur des In- und Auslandes.

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klassischen Lager erwidert Boileau, der im dritten Gesang der „Art poétique" die poetische V e r w e r t u n g der christlichen Religion und der biblischen Geschichte verpönt, und zwar just als Milton dem englischen Volke sein „Paradise lost" geschenkt. Das Erbe der Desmaretsschen Theorieen treten die drei Brüder Perrault an. Charles Perrault wird die Seele des „parti moderne". In dem Zeiträume von 1683, da P. Charpentier sein zweibändiges W e r k „De l'excellence de la langue française" schrieb, bis 1688, da Charles Perraults erste „Parallèles des anciens et des modernes" erschienen, wimmelt es von P a m p h l e t e n , satirischen Gedichten, P r o g r a m m e n und Einleitungen, die sich mit dieser Streitfrage beschäftigen. — Die Hochflut dieser litterarischen B e w e g u n g fällt mit dem Erscheinen der „Nouvelles" zusammen, und somit glaubten wir jene umsomehr rasch skizzieren zu dürfen, da die Dokumente, die uns die Zeitschrift hiezu liefert, zu den wenigen litterarisch bedeutsamen derselben gehören. Auch bei dieser Gelegenheit tragen wir kein Bedenken, Bayles Briefe aus früherer und späterer Zeit zur Vervollständigung unserer Darstellung hinzuzuziehen. So zeigt uns bereits ein Schreiben vorn September 1674 an Minutoli, dass Bayle schon zu Beginn der Kontroverse die bei seiner Geistes- und Geschmacksrichtung einzig mögliche Stellung eingenommen. Es heisst dort nämlich, nachdem er über die schon früher besprochene Zuverlässigkeit der römischen Historiker verhandelt : „Au reste, Mr., ce que j ' a y dit à la louange de la sincérité Romaine, ne doit pas vous faire penser que je me dédis de mes anciennes maximes, et que je suis un Transfuge qui me range parmi les loueurs éternels de l'antiquité— In den „Nouvelles" vermeidet er es anfangs vorsichtig, offen Partei gegen die „Anciens" zu ergreifen. W e n n er zuweilen seiner freien Ueberzeugung die Zügel schiessen lässt, so versteht er gleich mit einer geschickten W e n d u n g die rebellische Feder zurückzuhalten und auf die breite Strasse der skeptischen Kritik zu

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Darstellung des Inhalts.

lenken. Schon im August desselben Jahres aber bekennt der Autor der „Nouvelles" Farbe, und zwar in dem ersten der beiden sehr eingehenden Artikel über das citierte Werk von Charpentier. Wie sehr ihn diese brennende litterarische Frage interessiert, beweist die Thatsache, dass er derselben in zwei aufeinanderfolgenden Nummern Aufsätze widmet, deren Länge in gar keinem Verhältnis zur allgemeinen Oekonomie der Beiträge steht. Andererseits wusste er natürlich, dass er seinen Lesern mit den Referaten über eine so aktuelle, alle Gebildeten beschäftigende Kontroverse eine willkommene Lektüre bot. Hier treibt er nicht mehr sein skeptisch-ironisches Spiel mit den Alten und Jungen. Seine Sympathieen sind nun unverkennbar auf der Seite derer, die für die Vollkommenheit der französischen Sprache, für ihre Gleichberechtigung neben der lateinischen einstehen, ein Kampf, der eine der verschiedenen Phasen des grossen Dichterkrieges bildet. Bayle nimmt nach einer andern Richtung hin — der Streit war ein so vielverzweigter und komplizierter, dass man schliesslich ganz von den ursprünglichen Fragen abkam — noch entschiedenere Stellung gegen die „Anciens". In der Aprilnummer 1685 (V.) bespricht er die in Amsterdam bei seinem eigenen Verleger erschienenen „Contes et Nouvelles en vers" *) seines Lieblingsdichters La Fontaine, und da zeigt er sich gleich zu Beginn in auffallendster Weise aggressiv: „Avec la permission de ceux qui mettent l'antiquité si audessus de notre siècle, nous dirons ici franchement, qu'en ce genre de compositions, ni les Grecs, ni les Romains n'ont rien produit, qui soit de la force des Contes de M. de la Fontaine, et je ne sai comment nous ferions, pour modérer les transports et les extases de Messieurs les Humanistes, s'ils avoient à commenter un ancien Auteur, qui eût déployé autant de *) Die Zürcher Stadtbibliothek illustrierten (taille-douce) Ausgabe,

besitzt ein Exemplar

dieser

seltenen

Die „Nouvelles" über die Litteratur des In- und Auslandes.

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finesse d'esprit, a u t a n t de beautez naturelles, a u t a n t de charmes vifs et piquans, que l'on en trouve en ce Livreci, etc. . . . " Es ist demnach durchaus unrichtig, wenn behauptet wurde, es sei Bayle auch in der „Anciens et Modernes"-Frage nicht aus seinem skeptischen Indifferentismus herausgetreten. Er war im Gegenteil von A n f a n g an ein entschiedener und überzeugter Moderner — ohne sich natürlich, wie die Radikalen dieser und der anderen Partei, lächerlicher Uebertreibungen und beschränkter Exklusivität schuldig zu machen. In den „Nouvelles" ebenso wie in seinen späteren W e r k e n verhält sich Bayle kühl gegen den von Boileau vertretenen Klassicismus. Mit Fontenelle, der ebenso unpoetisch veranlagt war wie unser Autor, glaubt er an keinen absoluten Schönheitsmasstab, und mit St-Evremond verlangt er für die neue Zeit eine neue Kunst. Wiederholt spricht er in seiner Zeitschrift die Ansicht aus, das A und Z derselben, das grosse Geheimnis des Erfolges, sei, zu gefallen ; könne man dies nicht m i t den klassischen Regeln erreichen, so versuche man es o h n e dieselben, und richte sich einfach nach dem Geschmacke der Zeit. Erst in den neunziger J a h r e n trat Bayle in direkten brieflichen Verkehr mit Charles Perrault. Den interessantesten Aufschluss über die engen geistigen Beziehungen dieser beiden so verschiedenen und einflussreichen Vertreter der Oppositionslitteratur gibt uns ein Brief von Dubos (10. F e bruar 1696, G.), der Bayle eine Stelle eines an ihn selbst gerichteten Schreibens von Perrault citiert: „Faites, je vous prie, mes baisemains à Mr. Bayle quand vous lui escriré, et aseuré le, qu'il n'i a que la seule crainte de lui estre importun au milieu des travaux; qu'il a entrepris, qui m'empêche de lui escrire, aiant une extrême vénération pour son mérite et une extrême reconoisance des choses obligeantes qu'il a bien voulu escrire en ma faveur. Je voudrois bien que lui et moy pussions

48 vivre, assez pour voir mourir le pêdantisme, nostre enemi commun. Ne croié pas par là, que je demande à vivre encore bien long temps; non, je suis corne aseuré que lors le reste d'une certaine génération, dont les plus jeunes ne le sont guère, sera éteint, il ne s'élèvera plus de nouveaux pédants; car je ne vois point de jeunes gens qui ne les aient en horreur, ou s'il en germe encore quelqu'un pour conserver l'espèce, ils ne seront pas moins rares que ces animaux que l'on monstre à la foire." — An Bayle selbst schreibt Perrault einige Monate später unter anderem (3. A u g u s t 1694, G.): „. . . Faites moy la grâce, monsieur, d'estre bien persuadé, que parmi le nombre infini de personnes qui vous estiment, il n'y en a peut estre point qui vous honore plus que moy et qui s'est plus pénétré de votre mérite." — Und nicht minder vorteilhaft spricht Bayle von dem Märchendichter: „C'est une personne, que j'honore d'une façon distinguée," heisst es in einem Brief an Dubos (3. J a n u a r 1697). Aber, wie gesagt, Bayle bleibt, trotz seiner ausgesprochenen Sympathieen für die Sache der Modernen, auch hier der mässige, klar sehende und tolerante Kritiker. E r vergisst nie, was wir dem Altertum zu verdanken haben. W ä h r e n d er seinem J a h r h u n d e r t das Zeugnis ausstellt, den Menschen, wenn nicht besser, so doch höflicher und nach aussen hin anständiger, im Vergleich zu der Zügellosigkeit vergangener Zeiten, gemacht zu haben, so mahnt er auch an die Vorzüge des Altertums. So schreibt er den Dichtern desselben eine bisher unerreichte, tiefe Kenntnis der L i e b e zu, wobei er sehr bezeichnend für seinen S t a n d p u n k t bemerkt : „ . . . J a m a i s ils ne se sont t a n t approchez des Philosophes, que quand ils ont traité de cette matière." („Nouvelles", September 1686, Art. I.) Die ,Nouvclk's" iiber Ueber die fremdländische Geisteswelt, Uber die Litteratur die Lillcratnr des Auslandes. der germanischen Völker vor Allem, geben uns die „Nou

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velles" so g u t wie gar keine Auskunft. Dies ist ihre schwächste Seite; hierin sind sie das getreue Spiegelbild des klassischen Zeitalters der französischen Litteratur, die sich j a bekanntlich ganz gegen die „littérature du nord" abschloss. Und dennoch bedeuten die spärlichen Berichte, die uns die Zeitschrift Bayles wenigstens ü b e r D e u t s c h l a n d s wissenschaftliche L e i s t u n g e n geben, einen anerkennenswerten Portschritt gegenüber den gleichzeitigen unverständigen Aeusserungen, in denen sich der Jesuitenpater Dominique Bouhours gefiel. Fast ein halbes J a h r h u n d e r t bevor es die „Bibliothèque Germ a n i q u e " endlich unternahm, Prankreich sach- und vernunftsgemäss mit dem litterarischen Leben Deutschlands b e k a n n t zu machen, weist Bayle in seiner Revue rühmend auf die Ergebnisse deutscher Wissenschaft hin. Leipzig ist in seinen A u g e n ein deutsches Athen. Die deutsche Sprache allerdings glaubt er zu ehren, indem er sie wegen der vielen chemischen A b h a n d l u n g e n , die der deutsche Büchermarkt lieferte, die Sprache der — Chemie nennt. Dabei will es uns bedünken, dass j e n e doch alle in lateinischer Sprache verfasst waren ! Ueber den 13. J a h r g a n g der „Miscellanea curiosa" referierend, lobt Bayle Deutschlands Erfolge auf den Gebieten der Medizin und Naturwissenschaft: „Monsieur Morhosius qui fait esperer un Ouvrage sur les services que les Allemands ont rendus a u x Sciences, ne manquera point de matiere, car il est certain qu'ils se sont fort signalez dans la République des Lettres, non seulement par leur assiduité infatigable au travail, comme personne ne leur dispute, mais aussi par leurs inventions, et par leur génie. L e s Sciences qui sont présentement le plus à la mode, leur sont extrêmement redevables" etc. . . . Wiederholt r ü h m t er des Deutschen Geduld und Arbeitskraft. „ . . . pourveu que tout se fasse avec poids et mesure, pourveu que la méthode et la cérémonie soient bien observées," eine Betrachtung, die jedenfalls nicht ganz aus der L u f t gegriffen ist! — Natürlich fehlt es in den „Nouvelles" nicht an Ein4

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Darstellung des Inhalts.

fällen à la Bouhours, und man darf wohl lächeln, wenn ein Franzose, und hiesse er Bayle, die Deutschen als „les plus grands Exagérateurs du monde" bezeichnet. Wenn sich aber Bayle gelegentlich geringschätzig über ihre kriegerische Tüchtigkeit äussert, so dürfen wir nicht vergessen, dass damals Gustav Adolphs Kriegsthaten, trotz Brandenburgs jungem Ruhme, noch in aller Munde waren. H. Thomas Buckle behauptet irgendwo in seinem bereits erwähnten Geschichtswerke, dass am Ende des XVII. Jahrhunderts kaum fünf Männer des litterarischen und wissenschaftlichen Frankreich der e n g l i s c h e n Sprache mächtig waren, und Montesquieu erzählt („Notes sur l'Angleterre", Oeuvres compl., 1839, Bd. II, pag. 484), dass die Prediger in seiner Jugendzeit nicht mehr von England wussten als ein sechsjähriges Kind. Der letztere Fall trifft allerdings nicht ganz auf Bayle zu ; dagegen gehörte er nicht zu jenen fünf Ausnahmen. Von englischen Abhandlungen sprechend, schreibt er an Rou (9. Februar 1686) : „ . . . comme elles sont en Anglais, je n'ai pu les lire."*) Von der englischen Dichtkunst, mit der es doch damals besser bestellt war als mit der deutschen, keine Zeile in den vier Jahrgängen der „Nouvelles". Bayle hebt zwar Englands Kenntnisse des Griechischen hervor, spricht aber wegwerfend von seinen „idées obstruses" und der Vorliebe für das Abstrakte. (!.) Er hasst Milton, dem er vorwirft, sich an den „parricide Cromwell" verkauft zu haben, besonders aber, weil er den „grossen" Saumaise in einem Pamphlete lächerlich gemacht : „ce grand Saumaise . . . percé jusqu'au vif de se voir tourné en ridicule p a r u n si petit

Auteur."

(!)

*) Der Verfasser der „Nouvelles" erfüllt demnach nicht die Bedingungen, die sein Schüler Voltaire an einen Journalisten stellte ; denn ein solcher müsse mindestens des Englischen und Italienischen mächtig sein, „car il y a beaucoup d'ouvrage de génie dans ces langues. . . . Ce sont, j e crois, les deux langues de l'Europe les plus nécessaires à un français..." (Conseil à un Journaliste.)

Die „Nouvelles" über die Litteratur des In- und Auslandes.

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Verständigere Pflege fand die Litteratur des Auslandes in der Fortsetzung der „Nouvelles", der „Histoire des ouvrages des savants" (1687—1709) unter der Leitung von Basnage do Beauval, der mit Bayle und Le Clerc das Triumvirat des werdenden internationalen Journalismus bildet. Er allein von ihnen ist schöngeistig angelegt und hat Sinn für die Litteratur seiner eigenen Heimat und der fremden Länder, besonders Englands. Er bringt inhaltreiche Studien über Hobbes, Locke etc. ebenso wie über Miltons letzte dichterische Werke, von denen er mit Wärme spricht. Aber auch Deutschland lässt er nicht unbeachtet, „l'Allemagne, féconde en grands hommes, l'inventrice de tant d'arts nécessaires à la vie". (Januar 1700.)

Zweites

Kapitel.

Die philosophische und theologische Kritik der „Nouvelles". Da der philosophisch-theologische Teil der „Nouvelles" inhaltlich und quantitativ dominiert, so müssten sich eigentlich unsere diesbezüglichen Untersuchungen verhältnisgemäss mit demselben [beschäftigen. Aus zwei Gründen geschieht dies indessen nicht. Erstens beabsichtigen wir weder eine philosophische noch eine theologische Dissertation über Bayles Zeitschrift zu verfassen, deren Aufgabe es wäre, über Namen und Bücher zu verhandeln, die nichts mit der allgemeinen Literaturgeschichte zu thun haben. Zweitens ist es gerade dieser Inhalt, insofern er besonderes Interesse bot, der bisher fast ausschliesslich in den Bayle gewidmeten Studien berücksichtigt wurde, und zwar nicht nur von Philosophen und Theologen (Tennemann, Feuerbach, Arsène Deschamps, J . Denis), sondern auch von Litterarhistorikern (Lenient, Sainte-Beuve und Brunetiere*). *) Ob letzterer sieb die Mühe genommen, die „Nouvelles" zu prüfen;

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Darstellung des Inhalts.

Dagegen werden wir nicht vergessen, dass die kulturelle Bedeutung der „Nouvelles" gerade von dem philosophischen Inhalte ausgeht, dass Bayles Einfluss als Journalist und Aufklärer in diesem wurzelt und daher wenigstens einige Hauptzüge und -Themata und die Eigenart seiner philosophischen Kritik möglichst eingehend und klar darzustellen suchen. Vorerst noch ein Wort über die N a t u r w i s s e n s c h a f t e n . Was uns die „Nouvelles" über diese berichten, ist durchaus nicht dazu angethan, die antinaturwissenschaftliche Harmonie des „grand siècle" zu stören. Nach Bayles eigenen Bekenntnissen sind wir anzunehmen berechtigt, dass seinen Referaten über Bücher der Medizin, Mathematik, Physik etc., in Folianten und in Duodezformat, das stille Bibliothekengrab zu gönnen ist. Indem wir nun unserer Besprechung der philosophischen Kritik einige Erörterungen allgemeiner Art vorausschicken, glauben wir diese nicht besser als mit dem berühmten SelbstEr- und Bekenntnis Bayles einleiten zu können. „. . . Plus j'étudie la Philosophie, plus j ' y trouve d'incertitude: la différence entre les Sectes ne va qu'à quelque probabilité de plus ou du moins, il n'y en a point encore qui ait frappé au but .. .je suis un Philosophe

sans entêtement,

et qui r e g a r d e Aristote,

Epicure, Descartes comme des inventeurs de conjectures que l'on suit ou que l'on quitte selon que l'on veut chercher plûtôt un tel qu'un tel amusement à l'esprit . . . " So schreibt Bayle am 29. Mai 1681 an seinen Bruder; und als „Philosophe sans entêtement", „plein d'incertitude", den die verschiedenen Systeme, die Kontroversen und Disputationen „amüsieren", lernen wir den Herausgeber der „Nouvelles" kennen, der auch als Verfasser des „Dictionnaire historique" der gleiche bleiben wird. Weniger die Folge dieser gemässigten Philosophie des Zweifels oder Resultat der Ueberlegung Bayles, als vielmehr ist aus seiner Studie nicht ersichtlich. Faguet nennt die Zeitschrift nicht einmal in seinem glänzenden Aufsatz über Bayle.

Die philosophische und theologische Kritik der „Nouvelles".

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s e i n e m i n n e r s t e n W e s e n als s e l t e n e G a b e a n g e b o r e n , i s t d i e u n i v e r s e l l e T o l e r a n z . Mit dieser verbindet unser Autor eine grosse Vorliebe für die Kontroverse, allein nicht etwa als aktiv Beteiligter, sondern bald als ernster und aufmerksamer, bald als maliziöser und humorvoller Zuschauer. Indifferent, wie man oft behauptet hat, zeigt er sich hier nie. Dies ist er, wie wir gesehen haben, zumeist in litterarischen Dingen, die seinem Geschmacke und Verständnisse ferner stehen. Einen entschiedenen Genuss bedeutet es aber für den Verfasser der „Nouvelles", die Geister auf seinem ureigenen Gebiete aufeinanderprallen zu sehen. J e mehr Schwierigkeiten sich einstellen, desto lieber ist es ihm; er ist der erste, dieselben zu nähren, aufzudecken und zu beweisen. Und weil die Kontroversen anderer ihm sowohl wirkliches Vergnügen bereiten, und quasi die einzige Lebensfreude der stillen Stubengelehrtenexistenz sind, als auch willkommenes Material zur journalistischen Verwertung liefern, liegt ihm nichts ferner, als für Einverständnis und Eintracht unter den streitenden Philosophen zu wirken. Ihm ist das bekannte Sprüchwort: „Duobus litigantibus tertius gaudet" wie auf den Leib geschrieben. Die Freude an Widersprüchen, das skeptische Wohlbehagen beim Aufdecken der Blossen und Inkonsequenzen philosophischer Systeme und kirchlicher Dogmen, die Genugthuung, wenn es ihm gelungen, mit den Waffen der blossen Vernunft — an die er selbst nicht glaubt — die Gelehrten mit ihren scharfsinnigen Problemen und Hypothesen in die Enge zu treiben, an den heiligsten Dingen zu rütteln, all dies äussert sich bei Bayle nicht etwa in rechthaberischer, hämischer Weise, im Kanzel- oder Kathederton, sondern in bescheidenem, leicht ironischem Gewände. Man sucht in den „Nouvelles" — und nur auf diese bezieht sich das Gesagte, denn in seinen Pamphleten musste er natürlich eine andere Sprache führen — umsonst nach einem verletzenden Worte des Spottes, nach persiflierenden Ausdrücken der ,,blague" oder nach den cy-

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Darstellung des Inhalts.

nischen „bravades" der „Libertins". Und gerade dieser weisen Zurückhaltung wegen war sein aufgeklärtes Blatt so erfolgreich, gerade deswegen wurde es jeglicher Intoleranz, der protestantischen wie der katholischen, so gefährlich. ,,Le doute de Bayle n'a rien d'une opinion dogmatique et impérieuse.

On dirait

plutôt

l'humeur

pacifique

d'un

homme

de

bien, qui veut tout au plus humilier les opinions superbes du récit de leurs contradictions, et apaiser les esprits par l'histoire des excès où l'on tombe en abondant trop dans son sens."*) Um die angeborene Toleranz einerseits und den gesunden Menschenverstand anderseits in dem angedeuteten Sinne verwerten zu können, lieferte ihm nun gerade die kirchliche Gelehrsamkeit das sicherste Mittel, nämlich die scholastische Dialektik. Diese hatte es einst vermocht, den jungen Jesuitenzögling von dem Glauben seiner Väter abtrünnig zu machen. Bayle wollte sich aber auch d a n n nicht mehr von ihr trennen, als er dem alleinseligmachenden Glauben schon längst den Rücken gekehrt. Die Schliche und Kniffe der scharfen und gewandten Logik der Scholastik verwandte er jetzt für seine eigenen Zwecke, wie er dies seinem Bruder (6. Mai 1677) ziemlich unverblümt eingesteht : „ . . . il n'est rien de plus redoutable qu'un habile homme qui est bon Logicien, il vous renverse les Livres les plus solides, et à moins que d'être bon Logicien il est impossible de lui tenir tête." — Noch deutlicher drückt er sich in einem Briefe an Basnage (5. Mai 1675) aus. Er erzählt dort von jener Zeit, da er noch als Katholik mit Philosophen zu diskutieren pflegte, die ihn dem Aristoteles entreissen und für Descartes gewinnen wollten: „ J e venais frais émolu d'une école où on m'avait bien enseigné la chicanerie scolastique, et je puis dire sans vanité que je m'en acquittais pas mal." Der K a r t e s i a n i s m u s ,

den

er „une hypothese

in-

*) Dés. Nisard, Histoire de la Littérature française, tome IV, pag. 44,

Dio philosophische und theologische Kritik der „Nouvelles".

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génieuse" nennt, diente ihm vor allem als polemisches Werkzeug, wenigstens in seiner Eigenschaft als Kritiker, d. h. als Autor der „Nouvelles" und des „Dictionnaire historique". Denn in seinem „Systeme de philosophie", Frucht der kurzen akademischen Lehrthätigkeit in Sedan, tritt er uns als gesinnungsechter Anhänger Descartes' entgegen, der durchaus noch religiös-dogmatisch denkt. Dieselben Satzungen wird er aber andernorts bekämpfen oder doch kompromittieren. In ihm leben zwei Menschen — worin er sich übrigens nicht sonderlich von den meisten denkenden Sterblichen unterscheidet — : der gelehrte Professor, der sich dem Einflüsse des dogmatischen Unterrichtes nicht zu entziehen vermag — und der unabhängige, aufgeklärte, skeptische Tageskritiker. Der letztere gewinnt die Oberhand, als Bayle das Katheder verlassen muss. Die innern Widersprüche, die ja gerade den reichsten Naturen innewohnen — die oft lebende Widersprüche sind, hat er nie überwunden, oder wohl besser: nie überwinden wollen. Wenn wir Zeit und Milieu in Betracht ziehen, so fällt Baylos unparteiische uns in den kritischen Referaten Bayles philosophischen Inhalts "" 1 vor allem der tolerante und unparteiische Geist derselben auf. Der Autor der „Nouvelles" ist weder Katholik noch Protestant, weder „libertin" noch Atheist, das letztere am allerwenigsten. Mit klarem, ruhigem Urteil legt er beschränkten Eigendünkel, fanatische Parteisucht, blinden Religionshass bloss — mag er sie im katholischen oder protestantischen Lager finden. Die Verleumdungen Mainbourgs und seiner Gesinnungsgenossen (gegen Luther und Calvin) verpönt er ebenso wie die geschmacklosen Angriffe Jurieus und die Satiren d'Aubignés. Er hat den Mut der historischen Ueberzeugung und nennt Gregor VII. einen grossen Mann, „digne de figurer à côté des Alexandres et des Césars". Er hat Sinn für das geschichtlich Grosse und vermag das imposante Machtvolle, die hohe kulturelle Bedeutung des Papsttums zu

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D a r s t e l l u n g des Inhalts.

bewundern, als eine Erscheinung, wie er sich ausdrückt, „die im Lauf der J a h r h u n d e r t e nicht mehr wiederkehren wird". Mit richtigem Blick erkennt er, dass freie Forschung und religiöse Duldung nicht Gaben der Reformation sind, dass der Menschheit diese beiden Errungenschaften von ganz anderer Seite zugeführt wurden. Er war Zeuge der krassesten Unduldsamkeit der Protestanten, wenn ihnen auch in seinen Tagen die Macht fehlte, die Servets aufs Schaffot zu bringen. E r sah, wie seine Religionsgefährten denselben Schutz für ihre Dogmen begehrten wie die Katholiken, dass sie Verletzungen ihrer Lehren genau wie diese als Verbrechen betrachteten,*) dass sie es sich ebensowenig nehmen Hessen, andere Ansichten zu unterdrücken, wie jene, die der Aufhebung des Edit de Nantes zujubelten. Und darum wendet sich Bayle gegen jegliche Form des Absoluten in Religion und Philosophie. Kein Dogma, sei es theologischer oder rationalistischer Art, kann sich seiner Herrschaft über Bayles Denkweise rühmen. Voltaire erklärt die Anekdote, es habe dieser einmal auf die Frage des Kardinal de Polignac, ob er dem anglikanischen, lutherischen oder calvinistischen Glaubensbekenntnisse angehöre, erwidert: „ J e suis Protestant, car je proteste contre toutes les religions", für erfunden. Das Wortspiel ist gerade nicht sehr geistreich; es passt aber seinem Gehalte nach auf den Herausgeber der „Nouvelles"; noch besser jedoch der schöne epigrammatische Spruch Schillers: W e l c h e Keligion ich b e k e n n e ?

K e i n e von allen,

D i e D u mir nennst. — Und w a r u m k e i n e ? — A u s Religion. —

*) Wir erinnern daran, das» noch im XVII. Jahrhundert in Strassburg, nicht minder wie in Zürich und Genf, schwere Strafen gegen Vergehen, wie Anhören der heiligen Messe, Aufhängen religiöser Bilder und ähnliche „päpstliche Greuel" verhängt wurden. Belege für die Unduldsamkeit der Protestanten sind in den Schriften des Strafreclitslehrers Carpzov zu finden, der — 18,000 Todesurteile unterschrieb,

Die philosophische und theologische Kritik der „Nouvelles".

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Diesen vorurteilsfreien Prinzipien heisst es nicht zuwiderhandeln, wenn sich Bayle in seinen ,.Nouvelles" gelegentlich scharf gegen die Verfolgungen der Protestanten ausspricht, j a zuweilen ein ungewohnt leidenschaftliches Wort fallen lässt (z. B. Mai 1686, Art. IV). Die Entrüstung, die ihm in solchen Fällen die Feder führt, ist eine rein menschliche; man braucht hier gar nicht die Stimme des mitbetroffenen verfolgten Glaubensgenossen zu vernehmen. Einige Seiten weiter referiert derselbe Bayle über ein Buch, in dem Katholiken und Protestanten in einen Topf geworfen und beide als „idolâtres" bezeichnet werden, ohne den geringsten Protest dagegen zu erheben. Und ist es etwa protestantisch gedacht, wenn er die dichterische Behandlung der Jungfrau Maria geschmacklos galanter Poeten als Profanation rügt: „Quelle pitié que les compliments que Chapelain lui fait obtenir de Dieu"? („Nouvelles", Dezember 1686, Art. VI.) — In einer interessanten Besprechung der „Lettres sur les derniers troubles d'Angleterre" („Nouvelles", Oktober 1685, Art. II) hebt er hervor, dass der Verfasser des Werkes, von dem er zu Beginne sagt: „il y a très-peu d'Auteurs qui égalent celui-ci, soit pour la force des raisonnemens, soit pour la maniéré majestueuse de s'exprimer", so ziemlich allen Sekten des Christentums den Prozess mache „sur ce qu'elles prétendent chacune que les points qu'on lui conteste sont de la dernière évidence". Und schliesslich lobt er den Autor, der günstiger über die Katholiken urteile als man dies bei den Reformierten gewohnt sei. Den Grundgedanken des Buches fasst Bayle in folgende Worte zusammen : „qu'on pourroit réûnir les 2 Religions, pourvû seulement qu'elles pûssent consentir à une mutuelle tolerance de leurs erreurs réelles ou prétendues". Ein charakteristisches kleines Meisterstück ist beispielsweise sein kritisches Referat über die „Réponse aux Plaintes des Protestans contre les moïens que l'on employe en France pour les réunir à l'Eglise, etc," von Brueys in Montpellier

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Darstellung des Inhalts.

(„Nouvelles", Juli 1686, Art. I). Scheinbar auf die Ideen des Autors eingehend, weiss er mit einer unerwarteten Wendung, leicht ironisierend, zu den entgegengesetzten Resultaten hinüberzulenken. Gleich die Einleitung des Artikels illustriert aufs trefflichste Bayles ebenso schlagfertige wie humorvolle Kritik. „Comme M. Brueys avoüe dans son Epitre Dédicatoire, que pour réfuter les Plaintes des Protestans, il ne faut que porter les yeux sur les merveilles du regne de Louis XIV, il semble qu'il s'est donné de la peine bien mal à propos en composant cet Ecrit; car si c'est une démonstration morale et très-convaincante que de dire, „On se plaint de Louis le Grand, donc on est injuste", à quoi bon faire des Livres pour justifier ce qu'il a fait." Im übrigen, meint Bayle, wird es dem Autor ein Leichtes sein, auch hierauf zu antworten, sintemalen er Advokat sei. Dass es keine kleine Aufgabe war, den zahlreichen grossen und kleinen theologischen Schriftstellern nicht vor den Kopf zu stossen, lässt sich bei der bekannten Duldsamkeit der christlichen Streiter leicht denken. Die unparteiische Haltung Bayles hatte nicht selten zur Folge, dass er zwischen Stuhl und Bänke geriet. Im allgemeinen aber beweisen seine Korrespondenz und der Erfolg der „Nouvelles", dass es dem journalistischen Takt Bayles gelang, die schwierige Aufgabe zu bewältigen. Er gehörte eben auch nicht zu denen, die Wahrheitsliebe mit Rücksichtslosigkeit verwechselten, und das wurde ihm von den redlich denkenden Zeitgenossen hoch angerechnet. Die „Rwinfa" als

Nachdem wir vorübergehend Bayles Stellung zu Descartes berührt, soll uns jetzt kurz eine Leibnizsche Kontroverse 0 ton Miliz iinil ' Karies»™. beschäftigen, die sich in den Spalten der „Nouvelles" abspielte. In den „Acta Erud. Lips." hatte Leibniz 1686 (März) mit dem Aufsatze „Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii", in dem er unter anderem nachwies, dass nicht die Quantität

Dio philosophische u n d theologische Kritik der „Nouvelles".

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der B e w e g u n g , wohl aber die Quantität der K r a f t in der Natur unverändert erhalten bleibe, seine Angriffe gegen die Kartesianer eröffnet, die insgesamt in den ,.Nouvelles" ausgefochten wurden. In der Septembernummer 1686 (Art. II) brachte Bayle zunächst die französische Uebertragung jenes Artikels, und zwar mit vollem Autornamen, und zugleich eine Erwiderung von Abbé Catelan, betitelt: „Courte remarque de M. l'abbé D. C. où l'on montre à Mr. J . G. Leibnits le paralogisme contenu dans l'objection precedente." Hiermit war die Veranlassung zu einem brieflichen Verkehr zwischen Leibniz und Bayle gegeben, den der erstere mit einem (undatierten) Schreiben begann, dessen liebenswürdigen Ton wir mit folgender Stelle belegen : „Ce qui me plait le plus dans la réponse de M. l'abbé C. que vous avés insérée dans vos „Nouvelles" instructives du Sept, passé, c'est qu'elle me donne l'occasion de faire quelque connoissance avec une personne de votre mérite." Diesem Briefe, der, wie weiter unten ersichtlich, vom 9. Januar zu datieren ist,*) fügt Leibniz eine Antwort auf den Artikel des Abbé bei, mit der ausdrücklichen Bitte jedoch, dieselbe in den „Nouvelles" bloss mit „ L " zu unterzeichnen. Bayle konnte diesem Wunsche um so bereitwilliger nachkommen, als seine Leser durch den ersten Artikel bereits über die Bedeutung des „ L " unterrichtet waren. Er brachte daher die Ewiderung des deutschen Philosophen im III. Artikel der Februarnummer 1687 unter folgendem Titel : „Répliqué de M. L. à l'abbé D. C. continue dans une lettre ecrite à l'Auteur de ces Nouvelles le 9 Janv. 1687, touchant ce qu'a dit M. Descartes que Dieu conserve toujours dans la nature la meme quantité de mouvement." Hier begnügt sich Leibniz nicht nur mit einer Widerlegung der Erwiderung des Abbé, sondern er zieht auch Malebranche in den Streit, indem er sich gegen *) Cf. „Die philosophischen Schriften von 6 . W. Leibniss", herausgegeben von C. J. Gerhardt, 1887, Bd. III, pag. 23. — D e r Herausgeber hätte, aus obigem hervorgeht, den Brief genauer datieren können.

wie

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Darstellung dos Inhalts.

die im sechsten Buche der „Recherches de la vérité" enthaltene kartesianische Auffassung der Bewegung der Körper richtet. Im Juni 1687 (Art. I) erschien nun eine abermalige Entgegnung des Abbé, die sich besonders durch langweilige Weitschweifigkeit auszeichnet. Ob Leibniz, als der klügere, diesem das letzte Wort gönnte, oder ob das bald darauf erfolgte Eingehen der „Nouvelles" ihm die Möglichkeit einer erneuerten Gegenreplik nahm, wissen wir nicht. Jedenfalls trat ein Stillstand im brieflichen Verkehr zwischen Bayle und Leibniz ein. Erst nach dem Erscheinen des „Dictionnaire historique" nähern sich Skeptiker und Optimist wieder, und zwar zunächst durch Vermittlung des Tochterblattes der „Nouvelles", der uns bereits bekannten, von Basnage de Beauval redigierten „Histoire des ouvrages des Savants". Eine neue Pause tritt ein, bis sie 1702, als die zweite Ausgabe des „Dictionnaire historique" erschienen war, wieder direkt mit einander zu korrespondieren beginnen. Merkwürdigerweise ist in diesen Briefen, die einige wichtige Dokumente hinsichtlich der Leibnizschen Dynamik und Metaphysik enthalten, nie von Religion die Rede. Dagegen zeigen uns dieselben, wie hoch Leibniz von dem kritischen Scharfsinne des Autors der „Nouvelles" und des „Dictionnaire historique" dachte. Ihm war der tolerante französische Gelehrte durchaus sympathisch, wenn er auch — nach dessen Tod — in der „Theodicee" den Skepticismus bekämpft und sich gegen die antireligiösen Ausfälle Bayles wendet. Ihre Polemik trug stets den Charakter humorvoller Courtoisie, — weil sie eben beide grosse Geister waren ; und bekannt ist ja, wie Leibniz sein klassisches Werk mit jenem heiter-ironischen Bilde einleitet, das uns Bayle in himmlischer Verklärung im Besitze jener Wahrheit zeigt, an die der Skeptiker hienieden nicht zu glauben vermochte. Bevor wir uns mit der berühmten „Malebranche-Arnauld"Çontroverse beschäftigen — dem ,,clou" der „Nouvelles", um

Die philosophische und theologische Kritik der „Nouvelles".

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uns in französischem Theaterargot auszudrücken —, wollen wir noch untersuchen, wie sich Bayle in seiner Zeitschrift zu den beiden Hauptkämpen der streitenden Konfessionen verhält. Seine Urteile werden uns einen neuen Beweis der freigeistigen Unparteilichkeit des Kritikers liefern. Ueber B o s s u e t äussert sich Bayle in der Besprechung eines der zahlreichen, unbedeutenden und machtlosen, gegen den Kirchenfürsten geschleuderten Pamphlete, wie folgt („Nouvelles", April 1684, Art. IV): „II est certain qu'il tourne les choses d'une maniéré fort délicate ; qu'il évite fort adroitement les endroits scabreux, et que l'air honnête, la modestie, et l'art de paroître ingénu, qui regnent dans ses ouvrages, peuvent rendre beaucoup de service à la cause qu'il soûtient." — Er sieht in Bossuet „une grande réputation par ses Ouvrages de Controverse" und mit leisem Anfluge ironischer Geringschätzung spricht er von der Schar der protestantischen Theologen, die mit dieser imposanten Gestalt des XVII. Jahrhunderts herumdisputiert. Einem derselben, der den „Adler von Meaux" beschwört, zur Religion der Wahrheit zurückzukehren, erwidert er nicht ohne Spott : „Cela signifie en stile de Ministre qu'on exhorte ce Prélat à se faire bon Protestant. Il n'en sera rien; c'est de quoi sans être prophete on peut être très-assuré!" — Als 1687 J e a n C l a u d e starb, die Seele des französischen Protestantismus, der gefährlichste Widersacher Bossuets, der einzige, der im stände war, sich mit den Bossuet, Arnauld und Nicole zu messen, widmete Bayle diesem bedeutenden Manne einen von wahrhafter Trauer und aufrichtiger Bewunderung getragenen Nekrolog („Nouvelles", Nov. 1687, Art. IV, „Les Oeuvres posthumes de M. Claude"): „Je ne sais si l'on vit plus de délicatesse avec plus de force, plus d'abondance avec plus de choix, plus de pénétration avec plus de justesse, plus de vivacité d'esprit avec plus de solidité de jugement, un ton plus aisé avec une méthode plus exacte, plus d'élévation dans les pensées et plus de noblesse dans le langage,

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Darstellung des Inhalts.

plus de beautés douces et modestes avec plus de grandeur et de m a j e s t é . . . " — Es kann siciï hier natürlich nur um eine skizzenhafte

Die HalcbnuiclicArnauld-Koiiireime.

£) ars ^ e jj un g ¿ e r Malebranche-Arnauld-Kontroverse, dieses so interessanten und charakteristischen Theologenstreites des XVII. Jahrhunderts, handeln, über den wir ja die erschöpfendsten Studien besitzen. Wir führen unten in genauer Reihenfolge eine Liste der hier in Betracht kommenden Artikel der „Nouvelles" an.*) Sainte-Beuve, der der Kontroverse hundert Seiten seines „Port Royal" (Bd. V. 348 bis 442) gewidmet hat, und im allgemeinen eher mit dem Jansenisten sympathisiert, sieht in Bayle lediglich den skeptischen, amüsierten Zuschauer, und in dessen Hinneigung zu Malebranche eine blosse Laune. Es soll unsere Hauptaufgabe sein, das Unrichtige dieser Auffassung nachzuweisen. In der Apriluummer des ersten Jahrganges erfahren die Leser der „Nouvelles" zum ersten Male von dem Ideenkampfe, an den sich zwei berühmte Namen anknüpfen, indem dort Bayle die Schrift Malebranches, „Réponse de l'auteur de la „Recherche de la vérité" au livre de M. Arnaud, des vrayes et des fausses Idées", besprach. Als echter Schüler Montaignes und Vertreter der Renaissance-Idee, nimmt er offen Partei für die Malbranchesche These, „que tout plaisir est un bien et rend actuellement heureux celui qui le goûte", die Arnauld heftig angegriffen hatte. Dieser Artikel veranlasste Malebranche, sich in einem schmeichelhaften Schreiben an den unerwarteten Bundesgenossen zu wenden (9. Juli 1684). Zwischen den letzten Zeilen lässt sich übrigens leicht ein gewisses Unbehagen, in *) 1. 2. 3. 4. 5.

April Art. II September „ II November „ XI März „ IV Mai „ III

1684. 1684. 1684. 1685. 1685.

6. August Art. III 1685. 7. Dezember „ 1 1685. 8. Réponse de l'Auteur des „Nouv". etc. Oeuvr. div., „Nouvelles", Dez. 1885. 9. April Art. III 1686.

Die philosophische und theologische Kritik der „Nouvelles".

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dem Autor der „Pensées diverses écrites à l'occasion de la comète" einen so warmen Verteidiger gefunden zu haben, herauslesen. Es scheint, als hätte Malebranche das unbestimmte Gefühl gehabt, als sei die Parteinahme des Redakteurs der „Nouvelles" nicht „pour le bon motif". — Nachdem er ihm im weiteren einige Gedächtnisfehler nachgewiesen, meint er selbst: „. . . il vaut mieux avoir bon sens qu'une mémoire toute remplie de meubles inutiles". Dagegen kann er ihm einen Vorwurf nicht ersparen, nämlich den allzu offenkundiger Sympathie für die protestantische Sache. Aber er gesteht, dass es schwer hält, sich von jeglicher Parteilichkeit frei zu halten. „C'est, M., un grand mal que le schisme qui divise l'Eglise et anime les Chrétiens les uns contre les autres. J e prie Dieu, qu'il ait pitié de son Eglise en Jés. Chr. notre Seigneur." — Ueber die bald darauf erfolgte Erwiderung Arnaulds auf die erwähnte Verteidigung Malebranches *) schreibt dieser am 25. März Î685 äusserst geringschätzig an Bayle. Er findet sie ungemein schwach und behauptet, sein Gegner lege ihm geradezu Dummheiten in den Mund. „Tout son livre me paroît un galimatias perpetuel." Dennoch, meint er, müsse er wieder antworten. Bayle selbst begnügt sich mit einem kurzen Referate über den zweiten Angriff Arnaulds, indem er mit einer witzigen Wendung „à la Bayle" der Kritik aus dem Wege geht: , , . . . On pourroit faire des réponses très-solides à M. Arnauld, si le monde étoit assez fort pour les digerer, mais il en est à peu près aujourd'hui de ces matières, comme du temps où *) Da der Titel des Pamphletes sozusagen die ganze Geschichte der Kontroverse resümiert, so wird er natürlich mit dein Vorrücken derselben immer länger. So betitelt Arnauld die oben erwähnte Schrift: „Dissertation de M. Arnauld, Docteur en Sorbonne, sur la manière dont Dieu a fait les fréquens miracles de l'ancienne loi par le Ministère des Anges. Pour de réponse aux nouvelles pensées de l'Auteur du Traité de la Nature et de la Grâce dans un éclaircissement qui a pour titre, les miracles fréquens de l'ancienne loi, ne marquent nullement que Dieu agisse souvent par des volontéz particulières." —

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Darstellung des Inhalts.

nôtre Seigneur Jesus Christ disoit aux Apôtres, j'ay encore beaucoup de choses à vous dire, mais vous 11e les pouvez porter m a i n t e n a n t . . . " — lin Mai desselben Jahres bringt Bayle einen lobenden Artikel über die zweite Antwort Malebranches, die 1685 in Rotterdam unter dein Titel „Trois Lettres de l'auteur de la Recherche de la vérité, touchant la Défense de M. Arnauld contre la Réponse au Livre des vrayes et Fausses Idées" erschienen war. Er schliesst mit den Worten : „Les réponses . . . sont vives, et serrées, et frappent toujours au but." — Als dann der erste Band der längst annoncierten „Réflexions Philosophiques et Théologiques sur le nouveau Système de la nature et de la grâce — Livre I touchant l'ordre de la nature" Arnaulds in Köln im Druck erscheint, in dem der Kampf mit den Malebranchesehen Ideen von neuem anhebt, beeilt sich Bayle, seine Leser auch hierüber in eingehendster Weise zu unterrichten, und zwar dies Mal nur mit vereinzelten, gegen den Autor gerichteten Randglossen. Immerhin wirft er diesem in seiner Polemik gegen Malebranches Doktrin von dem Sinnesgenusse unloyales, kritisches Verfahren vor. „Ceux qui auront tant soit peu compris la doctrine du P. Malebranche sur ce point, s'étonneront sans doute qu'on lui en fasse des affaires, et s'ils ne se souviennent pas du serment de bonne foi que M. Arnauld vient de prêter dans la préface de ce dernier livre, ils croiront qu'il a fait des chicanes à son adversaire afin de le rendre suspect du côté de la morale . . ." Geschickter kann man nicht den rhetorischen Kniff des Shakespeareschen Antonius auf die Kritik übertragen I — Von nun an überfliessen die Briefe Malebranches von Dankesbezeugungen. Der katholische Priester gesteht offen, dass er den „Nouvelles" den Erfolg seiner Schriften verdanke, und so müsse ihm Bayle mindestens einmal im Jahre gestatten, seiner Erkenntlichkeit Worte zu leihen (28. Januar 1686). Er teilt ihm mit, dass sich Arnauld über ihn (Bayle) beklage;

Die philosophische uud theologische Kritik der „Nouvelles".

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darüber solle er sich aber hinwegsetzen, denn erstens könne ihn dies nicht beleidigen und dann müsse Arnauld doch zur Einsicht kommen, dass die „Nouvelles" ihn genügend geschont hätten ! Ueberhaupt gewinnt man aus dieser Korrespondenz den Eindruck, dass der sanfte, wahrhaft fromme Malebranche Arnauld gegenüber sehr gereizt, ja gehässig sein konnte. Inzwischen hat sich Malebranche wieder zur Gegenwehr gerüstet und dem Verleger Léers ein Pamphlet gegen Arnauld übersandt, das indessen in der Schublade liegen blieb. Er bittet ßayle, sich für ihn bei Léers zu verwenden, was jener auch mit Erfolg thut. Hierauf überschüttet ihn Malebranche mit überschwenglichen Dankesworten (15. März 1686, G.). „ . . . J e vous assure, Monsieur, que je suis tout pénétré de sentimens de reconnoissance et que je ne puis vous exprimer ce que je sens en moi même, quand je pense à ce que vous avez bien voulu faire pour un homme, qui ne peut jamais vous être bon à rien. Sans vous M. Léers m'auroit, je croi, remué bien loin. Mais que vous ayez voulu prendre la peine de revoir les feuilles de l'impression de ma réponse, travail dégoûtant s'il en fut jamais, c'est au plus ce que j'aurois dû espérer, non seulement d'un bon ami, mais d'un homme qui auroit rien eu à faire. J e sçai par vos ouvrages et par vos emplois, que votre tems vous est extrêmement précieux, non seulement à vous, Monsieur, mais à tous ceux qui sçavent profiter de vos travaux, et vous l'avez employé à mettre au jour une réponse qui ne méritoit peut être pas plus de voir le jour que les réflexions de mon adversaire. J e vous proteste, que c'est ce que j'ai peine à comprendre, et que je ne l'oublierai jamais . . ." Und der interessante Brief schliesst, nach einigen Mitteilungen über die verwickelte Polemik, mit den Worten : „Continuez, Monsieur, d'aimer une personne qui ne peut vous être bon à rien, mais qui vous honore extrêmement et qui est aussi sensible à l'amitié que les plus passionnés amis." — Hätte Sainte-Beuve diese 5

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Darstellung des Inhalts.

Freundschaftsbeteuerungen, die nicht vom ersten besten herrühren und die den protestantischen Flüchtling nicht minder ehren als den katholischen Geistlichen, gelesen, würde er wohl einen anderen Begriff von den Beziehungen dieser beiden Männer bekommen haben. Durch die oben erwähnte Kritik der „Réflexions philosophiques, etc." wurde nun Bayle als dritter in die Polemik hineingezogen. Gegen ihn richtete jetzt nämlich Arnauld die kleine Schrift „Avis à l'auteur des Nouvelles de la République des Lettres", worin er seinen Standpunkt verteidigt, von neuem die Lehrsätze Malebranches angreift und Bayles Kritik zu widerlegen sucht. Der Herausgeber der „Nouvelles" scheut sich nicht, seine Leser in massvollster Weise mit dem Inhalt dieser neuen Blüte der bald zwei Jahre alten Kontroverse bekannt zu machen, indem er ihnen verspricht, die Weihnachtsferien zum Entwürfe einer würdigen Entgegnung zu benützen („Nouvelles", Dezember 1685, Art. I). Im Februar 1686 löst er mit der Broschüre „Réponse de l'Auteur des Nouvelles de la République des Lettres à l'Avis qui lui a été donné sur ce qu'il a dit en faveur du P. Malebranche touchant le plaisir des sens, etc., etc."*) sein Versprechen. Hierauf, noch im selben Jahre, wiederum eine Streitschrift von Seiten Arnaulds, mit immer längerem Titel. Dieser musste der überarbeitete, schon schwer leidende Bayle einstweilen die Antwort schuldig bleiben. Vielleicht war er auch der Hin- und Herdisputiererei überdrüssig geworden. Es heisst dagegen das polemische Genie Bayles gründlich verkennen, wenn Sainte-Beuve meint : „Le prudent Bayle ne jugea pas à propos de s'engager plus avant dans la légion romaine à triple ligne des arguments d'Arnauld . . .« (Port-Royal, livre 6, pag. 282).

*) In die Duodezausgabe der „Nouvelles" wurde diese Schrift nicht aufgenommen. In den „Oeuvres diverses" ist sie der Dezembernummer der „Nouvelles" beigegeben.

Die philosophische und theologische Kritik der „Nouvelles".

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Wenn wir nun die Rolle, die Bayle in diesem lang hingestreckten Streite spielte, und seine Motive, die ihn zur ausgesprochenen Parteinahme bewogen, näher prüfen, so muss zunächst zugegeben werden, dass es als das Werk Bayles und der „Nouvelles" zu betrachten ist, wenn aus den beiden anfänglich noch befreundeten Gelehrten zuerst Polemiker und dann erklärte Feinde wurden. Aus dem Geplänkel, in dem sie sich noch als „notre ami" anreden, wird erbitterter Kampf. Bayle selbst macht kein Hehl aus dem Genüsse, den ihm die Kontroverse dieser beiden gescheiten Köpfe bereitet. Er gesteht, dass es jammerschade gewesen wäre, wenn sich zwei so grosse Philosophen schon nach dem ersten Scharmützel beruhigt hätten I Wir gehen noch weiter und nehmen an, dass er das Feuer nicht bloss zu seinem Privatvergnügen schürte, sondern auch im Interesse der „Nouvelles", für die natürlich die Sensationspolemik eine enorme Reklame bedeutete. Dass man Bayle schon damals in die Karten sah, beweist folgende Stelle eines Briefes von F. Bernier (April 1686, G.): „L'on commence fort à crier contre le Malbranchisme. J e ne sçais, comment vous racommoderez tout cela; cependant il y en a qui disent à l'égard des deux tenans, que c'est la pèle qui se inocque du fregon.*) L'on dit que c'est vous qui est (!) cause de ces grands et longs combats, et que vous avez animé les Dogues qui ne faisoient que se regarder de travers." Selbst mit in den Streit hineingezogen zu werden, mochte wohl Bayle nicht vorausgesehen haben, denn sonst hätte er sich bei seiner Abneigung gegen theologische Kontroversen vorsichtiger benommen. Wiederholt lässt er durchblicken, wie gründlich unsympathisch ihm diese sind und wie gering er

*) Fregon = fourgon pelle se moque du fourgon Leroux de Lincy, II, 120.

(Ofenkrücke), cf. „ R o m a n i a X X I I I , 456; la = Ein Esel schimpft den andern Langohr, cf.

68

Darstellung des Inhalts.

von der grossen Mehrzahl derselben denkt.

„C'est un abus

de s'imaginer qu'une controverse de Religion, qui est évidente à quelques personnes, le doit être aussi à d'autres qui ont, ou moins d'esprit pour en connoître le fort, ou plus d'esprit pour en connoître le faible" („Nouvelles", Oktober 1685, Art. II). Als er dies schrieb, konnte er allerdings nicht ahnen, dass er einst,

durch heftige Angriffe

gezwungen, .seine

besten

Kräfte gerade in diesen nutzlosen theologischen Pamphleten vergeuden sollte. Wenn indessen sämtliche Litterarhistoriker

Bayle

bloss

als skeptischen, selbstsüchtigen und unaufrichtigen Zuschauer des Malebranche-Arnauld-Streites hinstellen, so haben sie hier entschieden die Geistesrichtung und die Briefe des Kritikers ausser acht gelassen.

Denn gerade in den letzteren tritt uns

die aufrichtigste Bewunderung sowohl für Malebranches Person als auch Schriften entgegen.

Sein „Traité de la nature

et de la g r â c e " bezeichnet er als das W e r k eines Genies, als eine der schönsten Schöpfungen

des menschlichen

Geistes.

Schon 1678 (28. August) schreibt er seinem Bruder: „C'est un grand homme, d'un profond jugement

et d'une

pénétration

extraordinaire." Und entspricht es nicht seinem weiten, toleranten Geiste, illustriert es diesen nicht in schönster Weise, wenn er, dieser „Trappist der libertins", der einsame, keinerlei Lebensfreuden

trachtende,

unermüdliche

nach

Arbeiter,

wenn Bayle, jener Mann mit den makellosen Sitten, der so ganz im Sinne Arnaulds lebte, sich zum Verteidiger der These Malebranches über die erlaubten Sinnesgenüsse aufwirft? Gibt man uns dies zu, so sind wir unsererseits gerne bereit, auch Sainte-Beuves S a t z e : „Les idéalistes comme Malebranche font les affaires des sceptiques comme B a y l e " (1. c. 282) nicht alle Berechtigung abzusprechen. Der Fall ic v. Schwellen.

Man denke sich das ungeheure Aufsehen, den Skandal, w e n n e s j n u n s e r e n Tagen — da die Ansicht, dass Königinnen

Die philosophische und theologische Kritik der „Nouvelles".

69

und Gelehrte ungefähr aas dem gleichen Stoffe sind, eine ziemlich verbreitete ist — etwa der deutschen Kaiserin Witwe einfallen sollte, sich in den Spalten der „Revue des deux Mondes" mit Brunetière in eine fortgesetzte persönliche Kontroverse einzulassen ! Alle Welt würde davon sprechen, und die fleischfarbene Zeitschrift könnte mit dem Absätze des „Petit Journal" rivalisieren. Und nun versetze man sich in die Zeiten des „roi soleil". Damals gab es nur e i n e Zeitschrift jener Art, mit der die heutige Leserwelt hundertfach beglückt ist ; es gab auch nur e i n e n grossen Bayle, von dem wir heute so viele kleine besitzen, und nur e i n e Königin, die seit dreissig Jahren das Weltgespräch bildete, Christine von Schweden, deren WTissensdr#,nge ein Descartes zum Opfer fiel — die hochbegabte, überspannte katholische Tochter Gustav Adolphs in Rom. Kann man sich eine grössere Reklame für die kleinen holländischen, in stiller Gelehrtenbehausung verfassten Duodezbändchen vorstellen, als die Proteste und Auseinandersetzungen dieses thronmüden FrauenOriginals? Brunetière, der seine Franzosen kennt, that die geistreiche Aeusserung, es sei die Vergessenheit, in die Bayle so ungerechter Weise geraten, dem Umstände zuzuschreiben, dass seinem Leben nichts Romanähnliches anhafte, dass keine Frauengeschichte seinen Namen der Nachwelt überliefert habe. Und doch hat auch Bayle einen Roman erlebt, und zwar mit einer Königin, freilich einen Roman nach seiner Façon. Statt dass diese den verkannten Gelehrten mit einem Kuss oder etwas ähnlichem für alle Zeiten berühmt gemacht, wie dies einst Schottlands Königin für Alain Chartier that, den um dieser bloss im Schlafe zu teil gewordenen Auszeichnung willen noch heute jedes französische Kind kennt, stritt sich Christine mit dem Herausgeber der „Nouvelles" in Briefen herum. Und da sich diese Frauengeschichte Bayles nur in einer gelehrten Zeitschrift abspielte, hat sie seinem Namen nichts genützt, die französische Literaturgeschichte, Brunetière mit inbegriffen, schweigt darüber,

70

Darstellung des Inhalts.

Die Zeitungsepisode mit Christine von Schweden geht auf eine der Digressionen zurück, in denen sich die Kritik Bayles oft und gerne gefiel. Die in der Aprilnummer 1686 (Art. VI) veröffentlichte Besprechung einer Predigt Jurieus veranlasste Bayle, des ungewöhnlich freimütigen Schreibens eines Katholiken aus Pau zu erwähnen, in dem mit grosser Offenheit das proselytische Treiben der Religionsgenossen getadelt wird. An einen ähnlichen Fall erinnernd, berichtet dann Bayle von einem Briefe, den das Gerücht der Königin Christine zuschreibe. Dort werde noch viel strengere Kritik an der Bekehrungswut der Katholiken geübt : „II y a bien des Protestans qui n'osent croire qu'une Reine qui fait profession de la Catholicité, ait écrit une telle Lettre." Diesen Brief nun bringen die „Nouvelles" vom Mai unter dem Titel „Réponse de Sa Majesté Sérénissime la Reine Christine de Suède, à la Lettre de Monsieur le Chevalier de Terlon". Voraus geht ein Referat über die Schrift „Les plaintes des Protestans cruellement opprimez dans le Royaume de France, Cologne 1686". In jenem Schreiben drückt Christine ihre Zweifel über das Gelingen der Bekehrungsversuche aus, indem sie vor allem nicht an die Aufrichtigkeit der Abtrünnigen glaubt. Scharf tritt sie gegen die Dragonaden auf. „Les gens de guerre sont d'étranges Apôtres ; je les crois plus propres à tuer, violer et voler, qu'à persuader . . . J'ay pitié des gens qu'on abandonne à leur discrétion: je plains tant de Familles ruinées, tant d'honnêtes gens réduits à l'aumône; et je ne puis regarder ce qui se passe aujourd'hui en France, sans en avoir compassion. Je plains ces malheureux d'être nez dans l'erreur, mais il me semble, qu'ils en sont plus dignes de pitié, que de haine . . . " Und in derselben mutigen Sprache schliesst dieser von den edelsten Gefühlen getragene Brief, der manche bedenkliche That der Königin rehabilitieren dürfte. *) „L'intérêt *) In F. W. Bain (Christina, queen of Sweden, London 1890) hat auch Christine einen warmen Verteidiger gefunden.

Die philosophische und theologische Kritik der „Nouvelles".

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de l'Eglise Romaine m'est sans doute aussi cher que ma vie; mais c'est ce même intérêt qui me fait voir avec douleur ce qui se passe, et je vous avouë aussi que j'aime assez la France pour plaindre la désolation d'un si beau Royaume." Im Junihefte bespricht hierauf Bayle eine eben erschienene Geschichte Schwedens, kommt auf die Abdankung der Tochter Gustav Adolfs zu reden und bemerkt dann wieder vom Thema abschweifend: „On nous confirme de jour en jour ce que nous avons touché dans le dernier mois, art. IV, que Christine est le véritable Auteur de la Lettre qu'on lui attribuë, contre les persécutions de France. C'est un reste de Protestantisme." „C'est un reste de Protestantisme!" Hier haben wir den Skeptiker wie er leibt und lebt! Das ist alles, was er von dem schönen Briefe der Königin, die doch für dieselbe Sache eintritt, für die auch er streitet und leidet, zu sagen weiss. Dass aus diesem Schreiben ein warmes Herz spricht, das den Jammer von Hunderttausenden mitempfindet, vermag Bayle nicht herauszufühlen. Wir begreifen daher, dass es Christine kränken musste, in einer für Toleranz und Geistesfreiheit einstehenden Zeitschrift so wenig wohlwollendes Verständnis zu finden. Zunächst liess sie einen ihrer Günstlinge gegen Bayle vorgehen, der sich „Serviteur de la princesse" nennt und an den Herausgeber der „Nouvelles" einen ebenso langen wie ungeschickten und verletzenden Protest richtet. Unter anderm •wird dort Bayle vorgeworfen, er habe nicht mit der einem gekrönten Haupte gebührenden Hochachtung von Christine gesprochen. Ganz besonders aber fühle sich diese durch die Worte „reste de protestantisme" verletzt. Gegen diese und andere Vorwürfe verteidigt sich Bayle in seinen „Réflexions de l'Auteur de ces Nouvelles sur une Lettre qui lui a été écrite touchant ce qu'il a dit de la Reine de Suède" in dem IX. Artikel der Augustnummer. Aus diesem bemerkenswerten Schreiben, in dem er die Anschuldigungen des Advokaten der Königin Punkt für Punkt widerlegt, greifen wir nur jene

72

Darstellung dos Inhalts.

Stelle heraus, wo Bayle seine Aeusserung über das „Ueberbleibsel des Protestantismus" nicht nur verteidigt, sondern auch aufrecht hält. Interessant sind diese Zeilen besonders deswegen, weil sich hier der Autor der „Nouvelles" mit einer Entschiedenheit gegen die römische Kirche richtet, die mit seiner sonstigen Haltung in dieser Zeitschrift gar nicht im Einklänge steht. „. . . Si la Reine de Suède desapprouve la conduite des Convertisseurs de France, c'est en vertu des principes de Religion qu'elle avoit appris avant son voiage de Rome, et non pas à cause des nouvelles instructions qu'on lui a données en ce païs-là. Ce n'est point à Rome qu'on peut apprendre à blâmer les persécutions. Il est même vrai que l'esprit général du Catholicisme est d'exterminer les Sectes, car non seulement on a fait à Rome des réjouissances publiques pour ce que s'est fait en France; non seulement le Pape en a fait l'éloge en plein Consistoire et par des Brefs, mais aussi tous les Catholiques de l'Europe y ont donné leur approbation du moins par leur silence. Comment est-ce que la Reine de Suède auroit les maximes qu'elle a si elle ne les avoit apportées de son pais." Wenn, so fährt Bayle fort, der Autor des Rügebriefes behaupte, die Königin sei nicht katholisch nach französischer Manier, sondern nach der Roms, d. h. im Sinne der heiligen Peter und Paul, so verstehe er, Bayle, gerade unter dem letzteren „restes de Protestantisme". — Hier spricht nicht der Verfasser der „Nouvelles" und des „Dictionnaire historique", sondern der ehemalige Calvinist. Das Argument ist sehr einfach: Weil die Königin Mitleid empfindet für das Elend und für die Leiden unglücklicher Franzosen, hat sie eben den Protestantismus noch nicht ganz abgestreift. Hat denn Bayle vergessen, dass Christine nicht nur Schülerin von Saumaise, sondern auch von Descartes war? Kehren wir den Spiess um und rufen wir dem A u f k l ä r e r zu: C'est un reste de protestantisme ! Der „Serviteur de la princesse", der siçh mit dieser Er-

Die philosophische und theologische Kritik der „Nouvelles".

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klärung nicht zufrieden gab, riet nun Bayle, sich direkt an die Königin zu wenden, worauf denn dieser am 14. November 1686 folgendes Schreiben an die beleidigte Fürstin richtet: A Rotterd. ce 14 de Novemb. 1686. Madame, J e ne prendrais pas la hardiesse d'écrire aujourd'hui à Votre Majesté, si une Personne qui a l'honneur d'être à son service, ne m'eût conseillé de le faire, et de lui envoier une Copie d'une de ses Lettres, qui m'est tombée entre les mains. J'ai cru, Madame, qu'un conseil comme celui-là justifieroit ma t é m é r i t é ; et que je devois profiter de cette occasion de témoigner à la plus illustre Reine du monde, mon trèsprofond respect. J e ne sai pas le nom de celui, qui me procure ce glorieux avantage. Il n'a trouvé à propos de se faire connoitre à moi, que par le Titre d'„un des Serviteurs de Votre Majesté" ; et il faut lui r e n d r e ce témoignage, qu'il répond par son zèle pour vos intérêts à la qualité qu'il se donne. C'est de lui que j'ai apris qu'il y avoit certaines choses dans les „Nouvelles de la République des Lettres", qui ne paroissoient pas conformes au respect que tout le monde doit à „Votre Majesté", non seulement à cause de ses qualitez heroïques et extraordinaires, mais aussi à cause du rang sublime où Dieu l'a fait naître. Comme j'étois innocent, je fus saisi d'une surprise que je ne saurois exprimer, et en même tems d'une douleur accablante, lors que je vis qu'on interprétoit mes paroles d'une manière si opposée à mes véritables intentions, et à tout ce que le sens-commun doit inspirer à toute personne raisonnable. Car, Madame, y a-t-il u n homme, qui ait tant, soit peu de lumière et de raison, qui ne sache la Gloire presqu'infinie qui environne „Votre Majesté" et les hommages respectueux que toute la Terre lui doit; et quand on est capable d'oublier son devoir à cet égard, quelle honte ne d o i t - o n pas se faire à soi-même ? J e puis protester a „Votre Majesté" que depuis que je sais lire, j e sais qu'elle est l'admiration de tout l'Univers pour Elle, et qu'il n'y a point d'homme de L e t t r e s qui soit plus p é n é t r é et plus rempli des justes éloges que les Savans lui ont donné. Ainsi je n'avois garde de rien dire, ni de rien penser que je crusse contraire à ce qui est du à une si grande Reine. Ma douleur f u t donc très-grande, quand j e sus que des personnes, qui ont l'honneur d'être au service de „Votre Majesté" me trouvoient coupable. J'ai a u s s i - t o t travaillé à ma justification ; et j'apprens, Madame, qu'à peu de chose près, „Votre Majesté" s'est déclarée pour mon Apologie. C'est ma plus grande con-

74

Darstellung des Inhalts.

solation; et j e suis très-assuré qu'il ne me sera pas plus difficile de faire voir en tout mon innocence, quand il plaira à „Votre Majesté" de me faire savoir ses ordres. L a seconde Lettre que j'ai reçue sur ce sujet, me marque une chose que „Votre Majesté" veut que j e rende publique. C'est qu'elle renonça à la Eeligion de sa naissance, „dès qu'elle eut l'âge de raison". Si „Votre Majesté" me l'ordonne, j e publierai encore ce nouvel Eclaircissement; mais j'ai cru, que puis que j e me donnois l'honneur, par le conseil d'un de vos Ministres, d'envoier à „Votre Majesté" la copie d'une Lettre et en même tems de lui rendre mes hommages les plus humbles, j e devois attendre ce qu'il lui plaira de me faire commander. J e supplie très humblement „Votre Majesté" de me pardonner tout ce qui me peut être échapé, qui a donné sujet de mal juger de mes intentions; et j e lui proteste le plus sincerement du monde, que ma plus forte passion est de témoigner à toute la terre l'admiration, la vénération, et la soumission profonde, avec lesquelles je suis, etc., etc.

Nicht minder interessant ist die einen Monat später erfolgte Antwort der Fürstin. Beide Briefe gehören mit zu den merkwürdigsten kulturhistorischen Dokumenten der Zeitschrift. Wir glauben es daher verantworten zu können, wenn wir dieselben „in extenso" aus dem Staube der Bibliothek hervorholen. A Rome ce 14 de Décembre 1686. Monsieur Bayle, J'ai reçu vos excuses; et j'ai bien voulu vous témoigner par la presente que j'en suis satisfaite. J e sai bon gré au zèle de celui qui vous a donné occasion de m'écrire; car j e suis ravie de vous connoitre. Vous temoignez tant de respect et d'affection pour moi, que j e vous pardonne de bon cœur. E t sachez que rien ne m'avoit choquée que ce „Reste de Protestantisme" dont vous m'accusiez. C'est sur ce sujet que j'ai beaucoup de délicatesse ; parce qu'on ne peut m'en soupçonner, sans offenser ma Gloire et m'outrager sensiblement. Même vous feriez bien d'instruire le Public de votre erreur et de votre repentir. C'est ce qui vous reste à faire pour mériter que j e sois entièrement satisfaite de vous. Pour la „Lettre" que vous m'avez envoiée, elle est de moi sans doute; et puis que vous dites qu'elle est imprimée, vous me ferez plaisir de m'en envoier des Exemplaires. Comme j e ne crains rien en France, j e ne crains aussi rien à Rome, Mon bien, mon sang, et ma vie même,

Die philosophische und theologische Kritik der „Nouvelles".

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sont devouez au service de l'Eglise; mais je ne flatte personne, et ne dirai jamais que la vérité. J e suis obligée à ceux qui ont voulu publier ma „Lettre" ; car je ne déguise pas mes sentimens. Ils sont grâces à Dieu, trop nobles, et trop dignes, pour être desavouez. Toutefois it n'est pas vrai que cette „Lettre" soit écrite à aucun de mes Ministres. Comme j'ai des envieux et des ennemis, j'ai aussi des amis et des serviteurs par tout; et j'en ai peut-être en France, malgré la cour, autant qu'en lieu du monde. Voilà la pure vérité; c'est surquoi vous pouvez vous régler. Mais vous n'en serez pas quitte à si bon marché que vous le croiez. J e veux vous imposer une pénitence ; qui est, qu'à l'avenir vous preniez le soin de m'envoier des Livres de tout ce qu'il y aura de curieux en Latin, en François, en Espagnol, ou en Italien et en quelque matiere et science que ce soit; pourvu qu'ils soient dignes d'être vus. J e n'en excepte pas même les „Romans", ni les „Satyres"; et sur tout, s'il y a des „ouvrages de Chymie", je vous prie de m'en faire part au plutôt. N'oubliez pas aussi de m'envoier votre „Journal". J e fournirai à la dépense que vous ferez. Il suffit que vous m'en envoyiez le Compte. Ce sera me rendre le plus agréable et important service que je puisse recevoir. Dieu vous prospéré. Christine Alexandre. Die

Bayle

auferlegte

Busse,

„ N o u v e l l e s " z u senden, sollte

nicht

der

Fürstin

lange

fortan

dauern,

D e z e m b e r 1687 war es mit seiner Z e i t s c h r i f t zu E n d e . h o h e n W u n s c h e , das V e r g e h e n dort w i e d e r g u t w o er es b e g a n g e n h a t t e , k a m

zu

die

denn im Ihrem machen,

er in e i n e m E x t r a b l a t t e der

ersten N u m m e r des J a h r e s 1687 b e r e i t w i l l i g s t n a c h , — leider in w e n i g w ü r d i g e r W e i s e ;

es sei denn,

dass in d e m m a s s l o s

ü b e r s c h w ä n g l i c h e n L o b ein S t ü c k Ironie s t e c k t . du Rondel,

f a s s t e es d e m W o r t l a u t e

s c h e i n t a u c h andere,

nach

auf,

w i e a u s d e s s e n Brief v o m

1687 (G.) aus Maestricht h e r v o r g e h t ,

Sein Freund, und

wie

es

19. F e b r u a r

d e n wir a l s E p i l o g der

„ A f f a i r e " Christine n o c h f o l g e n lassen.*)

*) Es sei hier noch erwähnt, dass Christine schon in mannigfache Berührung mit französischen Gelehrten und Dichtem gekommen war. So spielte sie unter anderem auch in dein Tartuffe-Streite gelegentlich eine Rolle.

76

Darstellung des Inhalts.

„J'oubliois de vous féliciter sur vostre espèce de réconciliation avec la grande Christine. Si je n'eusse pas esté travaillé d'une fluxion sur la gencive, je ne sçai si je n'aurois point grimpé sur le Parnasse, pour vous témoigner la joye de voir qu'elle aurois entendue vos paroles du mois d'Aoust 1686 de la manière qu'il faut. J ' a y oui dire autrefois à Mr. Des Préaux, que quoy que Christine entendît nostre Langue, elle n'en sçavoit pas pourtant les finesses à tel poinct, qu'il ne luy échapast plusieurs choses. C'est là sans doute la cause de sa petite béveue. Mais, au fonds, il y a de quoy estre surpris de voir une Lettre si bien faite que celle que vous avez publiée et ne sçavoir point entièrement la valeur des termes. — Vos Ennemis n'auront ils rien (dit?) à Amsterdam touchant les Louanges de Christine? Il a fallu que je les aye deffendues contre les maladroits d ' i c i . .

Dritter Abschnitt.

Charakteristik der Bayleschen Kritik; Art, Methode und Stil der „Nouvelles".

Freude am kritischen Handwerk, die deutlich aus seinen Werken und Briefen spricht, lebhaftes Interesse für alles, was die Menschen, ihr Thun und Denken angeht, und dies untermischt mit einer behaglichen Neugier für jegliches Neue, woher es auch komme und welcher Natur es sei; dann eine riesige Arbeitsfähigkeit, ein rascher Blick für die Aktualität, Hang zu mehr oder weniger geschmackvollen Pikanterieen, dabei ein unabhängiger, toleranter, zur Opposition geneigter Geist, und, last not least, ein erstaunliches Gedächtnis — alle diese Anlagen und Neigungen machten aus Bayle den geborenen Journalisten und „Nouvelliste à toute outrance". Bevor wir die Charakteristik seiner journalistischen Tageskritik näher untersuchen, möchten wir noch Bayles litterarische Erscheinung in der allgemeinen Geistesströmung seiner Epoche spiegeln. Und da tritt uns denn gleich das Werk Bayles im schärfsten Gegensatze zum herrschenden Zeitgeiste entgegen. Ueberall, in den schönen Wissenschaften ebenso wie in der Philosophie und Theologie, begegnen wir dem auch im Staatswesen vertretenen Autoritätsprincipe, dem dogmatischen Geiste, als herrschende „opinion générale". Hier sind

78

Charakteristik der Baylcschen Kritik etc.

es die Jurieu, Le Clerc, Claude und Bossuet, dort die Richelieu und Boileau. Allerorts an massgebender Stelle intolerante, einseitige, steife Orthodoxie des Glaubens und des Geschmackes, politische, religiöse und ästhetische Tyrannei. An Ketzern fehlte és zwar nicht; die Opposition treibt auf jedem Gebiete Keime. Aber sie wagt sich nicht ans Tageslicht, höchstens verkleidet. Zumeist ist sie nicht ernst gemeint oder fliesst aus trüber Quelle. Der grosse Geschmacks- und Glaubensketzer, der Mann der Opposition „par excellence" ist der Autor der „Nouvelles". Deutlich sticht seine litterarische Figur, wie sie sich uns in der Zeitschrift darstellt, ab von dem uniformen „grand siècle" mit seiner feierlichen Dichtkunst und Prosa der Konvenienz. Nicht nach den Regeln der Pariser Akademie oder nach dem Taktstock tonangebender Salons schreibt und urteilt Bayle, sondern nach seinem eigenen Gutdünken, gleichgültig gegen alle klassische Formeln und Satzungen. „J'ai parlé selon mes lumières", schreibt er an Fabrice (18. Januar 1685). Er gibt seine Ansicht nicht als die bessere und richtigere, sondern als die seinige. Mögen andere nach Belieben darüber urteilen. Bayle steht nicht nur in einer Zeit litterarischen, politischen und religiösen Absolutismus' als durchaus unabhängiger und vom geistigen Milieu unberührter Schriftsteller abseits, sondern seine von Grund aus unkünstlerische Natur isoliert ihn auch in einer Epoche der höchsten und schönsten Entfaltung französischer Poesie. B»jle »Is MraiL

Indem wir uns nun der Einzeluntersuchung zuwenden, hätten wir zunächst die Rolle des Referenten Bayle zu charakterisieren. Er selbst setzt uns auseinander, wie er diese auffasste. » . . . Lorsqu'il s'agit de rendre compte d'un Livre, j'y aporte toute l'attention dont je suis capable et si je me relâche, ce n'est qu'à l'égard des choses que j'ajoutte quelquefois de mon chef en passant. J'avoue qu'alors je puis

B a y l e als R e f e r e n t .

79

tomber dans une espece de sécurité trop relâchée, soit parce que j e ne fais pas assez de cas de ce qui vient de mon fond, pour croire que le Public s'attache à le distinguer des autres choses, qu'il cherche principalement dans mes Nouvelles, et dont je ne suis que le Rapporteur*) In diesen Recensionen aber verstand er es, den Kern dickleibiger Bücher in kurzen und klaren Umrissen wiederzugeben und den gebildeten Leser d u r c h die geistvoll-kritische F ä r b u n g seiner Berichte zu fesseln. W a s seinen Referaten an stilvoller Ausarbeitung und künstlerischem Geschmacke abging, das ersetzten die knappen, lichtvollen Inhaltsangaben derselben, die heute noch als mustergültig angesehen werden können, damals aber etwas Neues bedeuteten. Allein nicht immer b e g n ü g t e sich Bayle mit dem Amte fajle» des „rapporteur". Nicht selten fällt er aus der Rolle, entweder unbewusst oder mit der bestimmten Absicht, dem Autor mehr oder minder scharf auf den Leib zu rücken. Bei diesen kritischen Digressionen hat man häufig von einer Methode Bayles gesprochen. Nun liegt aber die Eigentümlichkeit seiner Kritik gerade darin, dass er gar keine h a t , was er uns übrigens selbst bestätigt: „ J e ne sais, ce que c'est de méditer régulièrement sur une chose ; j e prends le change fort aisém e n t ; j e m'écarte très souvent de mon sujet; je saute dans les lieux dont on auroit bien de la peine à deviner les chemins, et je suis fort propre à faire perdre patience à qui veut de la méthode et de la régularité partout." (Pensées diverses, etc., § 1.) Sein fortwährendes Abschweifen, seine Vorliebe für Randglossen, sein H a n g „de prendre le c h a n g e fort aisément", sind nicht System, sondern natürliche Folgen seines beweg-

*) Reponse de l'Auteur des Nouvelles de la République des Lettres, etc. (Jene an Arnauld gerichtete Broschüre, die erst in den „Oeuvres diverses" in die „Nouvelles" aufgenommen wurde). I, pag. iii.

Methode,

80

Charakteristik der Bayloschen Kritik.

liehen Geistes und grossen Gedächtnisses, welches letztere ihm stöts eine Fülle von Material lieferte. Er vermag sich nicht mit einem Gegenstande zu beschäftigen, ohne dass ihm sofort eine Masse anderer Dinge, die mehr oder weniger mit dem Thema im Zusammenhang stehen, einfallen. Dabei liebt Bayle das Detail, dessen Bedeutung er oft überschätzt. Diese ihm ureigene Planlosigkeit, die Manier „de parler à bâtons rompus", wurde nun noch durch den Lieblingsautor seiner Jugend befördert und befestigt. „Cela vient, sans doute, d'un fort mauvais Principe; et je trouve de jour en jour, que je ne donne pas mal dans le défaut de Montaigne; qui est de savoir quelquefois ce que je dis, mais non jamais ce que jé vais dire. Le mal est, qu'il y a ici plus que Montaigne ; c'està-dire, cent autres imperfections, qui rendent insupportable ce que le savoir et le bel esprit de Montaigne fait excuser fort facilement."*) (An Minutoli, 31. J a n u a r 1673.) Bayles einzige Methode bestand darin, keiner litterarischen Schule, keiner Religion, keinem Sektenglauben anzugehören, keinen Denker oder Dichter zum Propheten zu erheben, es mit keinerlei Clique oder Claque zu halten, d. h. mit andern Worten, seinen skeptisch-kritischen Geist unbeeinflusst und unbeschränkt, ohne System und ohne Ordnung schalten und walten zu lassen. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass er sich nicht gelegentlich kritischer Kniffe bediente, auf die er ja in seiner Eigenschaft als flüchtiger Protestant und verantwortlicher Redakteur angewiesen war. Er verstand es sogar recht g u t , den Leser durch plötzliches Abschweifen irrezuführen und zu täuschen, durch geschickte, nicht ganz ehrliche Wiedergabe des Inhaltes die Argumente des Autors zu schwächen oder zu entstellen. Sätze so aus dem Zusammen*) Diese Eigenart des liayleschen Stils liât auch Leibniz hervorgehoben : „11 passait aisément du blanc au noir, non pas dans une mauvaise intention ou contre sa conscience, mais parce qu'il 11'avait e n o r e rien de bien arrêté dans son esprit sur la question dont il s'agissait." (Essais de Tliéodicée.)

Bayïos Methode.

81

hang zu reissen, dass der Sinn eines Werkes dadurch verdreht wurde, und was dergleichen Finten noch mehr sind, die sich seit Bayles Zeiten natürlich als ganz erheblich vervollkommnungsfähig erwiesen haben. Methode liegt dagegen in seiner Gewohnheit, sich hinter die Ansicht anderer zu stecken, ein Werk mit einem anderen zu widerlegen, eine herrschende Meinung mit einer antiquierten, vergessenen zu bekämpfen, und dies nicht selten bloss aus pvrrhonistischer Laune. In den „Nouvelles" tritt zwar Bayles Liebhaberei, das positive Wissen sowohl als auch transcendentale Satzungen systematisch in die Enge zu treiben, weniger an den Tag als im „Dictionnaire historique". Wenn er sich in seiner Zeitschrift in Kontroversen einlässt, so hängt dies nicht allein mit seinen skeptischen Neigungen, seiner Freude, der kritischen Feder die Zügel schiessen zu lassen, zusammen, sondern ganz besonders auch mit der damals grassierenden philosophischen und theologischen Disputationsepidemie. Für Methode und Kritik der „Nouvelles" gilt vor allem, was Gibbon von Bayles schriftstellerischer Thätigkeit im allgemeinen sagt: „II y a porté un esprit de lumière, de justesse et de modération, joint a des agrémens qui sont assez rares dans ce genre."*) Auch über den „Nouvelles", gerade wie über allen anderen Schriften Bayles, schwebt als „Leitmotiv" universelle Toleranz. In jeder Nummer kommt diese in irgend einer Form zum Ausdruck, und zwar in den Artikeln verschiedenster Art. In den Referaten der langweiligsten Folianten finden sich wahre Perlen von Aphorismen, die sein „ceterum censeo" illustrieren. Einige davon verdienten es, in den Spruchschatz der französischen Sprache aufgenommen zu werden, so z. B. *) Miscellaneous Works, vol. III, pag. Ü29. 6

Die Tutomdw lii e5 Kr lli

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82

C h a r a k t e r i s t i k d e r Baylesclien K r i t i k etc.

die folgenden W o r t e : „Que chacun se fasse justice, et considéré qu'il n'est pas tout le monde" („Nouvelles", August 1684, Avert.). Die Besprechung eines nicht sehr glaubwürdigen Reisewerkes, das voller Lob für die Toleranz des Kaisers von China ist (!), der sogar Jesuiten mit Liebenswürdigkeit überhäuft haben soll, beschliesst er mit der Reflexion: „ J e ne sçai pourquoi les Chrétiens font si peu de reflexion sur l'esprit de tolerance qui regne dans ces Rois Payens, que nous traitons h a u t e m e n t de barbares et de féroces" („Nouvelles", Februar 1685, Art. X). — Ein letztes Beispiel: Bayle citiert den Philosophen Themistius, der dem Kaiser Valens vorhielt: „qu'il persécutoit sans sujet des gens de bien; que ce n'étoit pas un crime que de croire et que de penser autrement que lui . . ." und f ü g t dann die Bemerkung bei: „C'est dommage que d'aussi belles pensées ayent été dites par un P a y e n et qu'il ait été nécessaire que les Chretiens apprissent d'un Idolâtre cette importante leçon." („Nouvelles", November 1684, Art. I.) W e r über die an Kunst und Litteratur so reiche Epoche g r o s s e n L u d w i g A u s k u n f t sucht, wer sich über ästhenicht Bajlcs Siehe. . tisches Empfinden und Vorstellungen vom Schönen in der Dichtkunst und in der Natur zur Zeit Racines unterrichten will, der lasse die „Nouvelles" unaufgeschlagen, denn von all dem steht in Bayles Zeitschrift nichts geschrieben. Ihr Autor hat nicht die leiseste Spur von Schönheitssinn. Bayle ist der T y p u s des rationalistischen Verstandeskritikers. Ihm geht das, was man hundert J a h r e später „instinct sublime, le sentiment" nannte, vollständig ab. W e n n wir überhaupt von einer Aesthetik dieses Aufklärers reden können, so liegt diese in dem b e k a n n t e n Ausspruche Boileaus — und zwar in dessen engster Bedeutung — „rien est beau que par la vérité", d. h. in der rationalistischen A n s c h a u u n g Descartes'. Die Kritik Bayles geht vom Utilitarismus aus und operiert Atstkisehes Urteil und Empfinden ist

¿

e s

A e s t l i e t i s c h e s U r t e i l und E m p f i n d e n i s t n i c h t B a y l e s ¡Sache.

lediglich mit der V e r n u n f t . Augen

B e d e u t e n d ist d e m n a c h in seinen

eine S c h ö p f u n g , w e n n

Menschen

nützlich

83

zu sein

sie ihm v e r n ü n f t i g u n d

scheint.

dem

Die „ s c h ö n e n W i s s e n -

s c h a f t e n " aber, d a r ü b e r k a n n kein Z w e i f e l h e r r s c h e n , h ä l t er weder f ü r das eine n o c h „viandes c r e u s e s " .

für das a n d e r e ;

sie sind f ü r ihn

N u r was von der G e s c h i c h t e , von R u h m

und E h r e eines V o l k e s oder einer Religion, w a s von D o g m e n , Politik u n d der Moral h a n d l e , interessiere u n d fessle den Gebildeten, m e i n t Lettres

er.

remplissent

„Tous leurs

ne f a u t les considérer

les autres

Livres,

sujets

dont

sont inutiles

les gens

au Public,

de

et il

que c o m m e v i a n d e s creuses en elles-

mêmes, mais qui c o n t e n t e n t

n é a n m o i n s la curiosité de

plu-

sieurs L e c t e u r s selon la diversité des g o û t s . " (An Des Maizeaux, 8. F e b r u a r 1704.) Vorstellungen,

Der G e s c h m a c k , j e n e S u m m e von d u n k l e n

die wohl m i t der Zeit u n d d e m Milieu w e c h -

seln, ü b e r d e n e n j e d o c h ewig g ü l t i g e ideale Begriffe s c h w e b e n , jene Verbindung Vernunft",

der „ W o l l u s t

war dem

der

Sinne n a c h R e g e l n

Empfindungsvermögen

unseres

der

Autors

total f r e m d . M a n g e l h a f t e K e n n t n i s v o n D i c h t e r w e r k e n , grosse U n b e l e s e n h e i t in s c h ö n g e i s t i g e r L i t t e r a t u r u n d Isolierung v o m Centrum, von d e m dieselbe a u s g i n g , v o l l e n d e t e n die u n ä s t h e tische E r z i e h u n g sein eigenes innert. eines

wir

an

W o r t : „C'est, un r e s t e de P r o t e s t a n t i s m e "

seines Geistes.

Auch

hier w e r d e n

er-

Seine ä s t h e t i s c h e S i n n e s r i c h t u n g g l e i c h t d e m I n n e r n „temple

Kunstlosigkeit.

protestant"

— kahle,

weisse

Wände,

„II f a u t de l ' â m e pour avoir du gout,,"

kalte sagt

V a u v e n a r g u e s — u n d j e n e Seele w o h n t e n i c h t in d e m s k e p tischen R i t t e r der Toleranz, dessen V e r n u n f t s n a t u r a u c h von Liebe u n d L e i d e n s c h a f t v e r s c h o n t blieb. Dieselbe s k e p t i s c h e D e n k u n g s w e i s e , die er in Dingen der Religion u n d P h i l o s o p h i e a n den T a g legte, zeigte er k o n s e quent in seiner S t e l l u n g zur a b s o l u t e n S c h ö n h e i t e n d u n g in K u n s t

und

Litteratur.

Jedes

Volk,

und Volljedes

Land

uud j e d e Zeit h a b e das R e c h t , sich das S c h ö n h e i t s i d e a l n a c h

84

Charakteristik der Bayleschen Kritik etc.

Belieben zu bilden. Schönheit sei nur ein Spiel unserer Einbildung, die beständig wechsle, da sie von Zeit- und Ortsverhältnissen bedingt werde. Gerne möchten wir annehmen, dass diese Haltung das Resultat einer naturphilosophischen Kritik ist. Da ihm aber jedes Verständnis für den ästhetischen und kulturellen Wert der zeitgenössischen Dichtkunst abging, so war er auch nicht im stände, sich auf historischem Wege eine so moderne Anschauung anzueignen. Ein gutes Buch zu schreiben, hält er für kein Kunststück. Poesie, Phantasie und künstlerische Formvollendung in ein Werk zu legen, überlässt er den „pousseurs de beaux sentiments". Während Bayle das Streben und Schaffen der Philosophen als ein menschenwürdiges und hochwichtiges, wennschon vergebliches Ringen nach der Wahrheit darstellt, denkt er gering von litterarischen Bestrebungen. Dabei ist er gescheit genug, seinem litterarischen Urteile keine Bedeutung zuzuschreiben. Er kennt seine schwache Seite und fühlt wohl, wo es ihm fehlt. „Je ne faisais point le critique, et je m'étais mis sur un pied d'honnêteté. Aussi, je ne voyais dans les livres que ce qui pouvoit l e s f a i r e v a l o i r : leurs

défauts

m'échappoient(Oeuvres

div. IV,

chap. 19, Réflexions sur un imprimé, etc.) Daher das Schwanken, die Zurückhaltung und Vorsicht, wenn er sich über Dichter auszusprechen hatte, jene Behutsamkeit, die er auch später im „Dictionnaire historique" bewahren wird und die deutlich absticht von dem sicheren, ironisch-skeptischen Spiele seiner Kritik, wenn es sich um Philosophie handelt. So heisst es z. B. im Artikel Poquelin seines Wörterbuches unter anderem: „Plusieurs

personnes

assurent

q u e ses c o m é d i e s s u r p a s s e n t

ou

égalent tout ce que l'ancienne Grèce ou l'ancienne Rome ont de plus beau en ce genre." Ob Molière ü b e r Aristophanes zu stellen sei, darüber vermöge er schon deswegen nicht zu entscheiden, weil er die Thorheiten der Athener nicht so genau kenne, wie die der Marquis in Versailles und der Bourgeois in Paris! Eine ungeschickte Bemerkung über einige

A e s t h e t i s c h e s Urteil und E m p f i n d e n ist nicht B a y l e s Sache.

85

sprachliche Freiheiten des Komödiendichters m a c h t er aber gleich durch folgenden Passus wieder g u t : „Prenez bien garde qu'on ne blâme ici que l'excès de sa liberté, car, au fond, l'on ne nie pas qu'il ne s'en servit d'une manière très-heureuse et qui a été utile à notre langue." Im übrigen wurde Bayles Geschmacksinkompetenz schon durch einige im zweiten Abschnitte a n g e f ü h r t e Beispiele zur Genüge dargelegt. Sie wird vielleicht am augenscheinlichsten durch sein Geständnis illustriert, es habe ihm die Vorrede zu Racines „Iphigenie" denselben Genuss bereitet, wie die Tragödie selbst. Das klassische X V I I . J a h r h u n d e r t hatte bekanntlich wenig wahren Sinn für die Natur und ihre Schönheiten ; Bayle indessen gar keinen, nicht einmal für die N a t u r der Konvenienz. Woher sollte auch ein Gelehrter, der während vierzig J a h r e n täglich vierzehn Stunden in der Studierstube arbeitete, L u s t und Liebe für W a l d und Feld hernehmen. Coppets ländliche Reize Hessen ihn k a l t ; das Landleben in Sedan wird ihm unerträglich. Eine grosse Buchhandlung ist ihm die liebste L a n d s c h a f t ; die Wälder und Berge seiner W a h l sind bücherbeladene Regalien. Herz und Sinn erfreuend wirkt für unseren Autor der Anblick langer Reihen wohlbeleibter Folianten in Schweinsleder; nach dem erfrischenden Dufte blühender Auen sehnt er sich ebensowenig wie nacl* den Zauberklängen der Poesie. Wir haben mit der Kehrseite der Kritik Bayles begonnen. Mere Merkmale der Neben den angedeuteten Schwächen hat sie indessen einige llttan^™s lintlk bemerkenswerte Vorzüge aufzuweisen, die sich besonders in den „Nouvelles" geltend machten. Sie war nämlich eminent unpersönlich und durchaus unabhängig. Das Ich, das selbst demjenigen gelegentlich ein Schnippchen schlug, der das „moi haïssable" den Dichtern auszutreiben suchte, wie einst Pascal dem religiösen Menschen, kam nie in Konflikt mit geiner kritischen Thätigkeit. Bayle hat kein litterarisches Ich.

86

Charakteristik der B a y l e s c h e n Kritik etc.

Und weil er weder litterarische Prinzipien noch Vorurteile kennt und weil ihm keine bestimmte Geschmacksrichtung O eigen ist, vermag er sich eben in alle Ich hineinzudenken und mit Leichtigkeit die Stelle zu wechseln. Damit hängt auch seine Vorliebe für das Anonymat zusammen, indem es ihm ein Mittel an die Hand gab, seinen universellen, für Alles empfänglichen Geist nicht in e i n e Persönlichkeit pferchen zu müssen. Vielseitigkeit und unparteiisches Urteil entsprangen dieser indifferenten Ichlosigkeit. „Véritable républicain en littérature" hat man Bayle treffend genannt und damit zugleich, wenn auch unbewusst, auf seine allzu republikanische Behandlung der Litteratur hingedeutet. Vor allem ist es das Neue, das Bayle interessiert. Es ist dies ein geradezu modern journalistischer Zug des Autors der „Nouvelles". Ihm genügt, dass ein Buch neu sei; erst in zweiter Linie kommt der Wert desselben in Betracht. An seinen Bruder schreibt er einmal, auf jüngst erschienene W e r k e Bezug nehmend: „Ce qui me détermine à vous faire mention est uniquement qu'ils sont nouveaux, ou que je les ai lus, ou que j'en ai ouï parler." — Ohne Wahl u n d System liest und bespricht er jedes neue Buch, das ihm unter die Hände fällt. Daher die encyklopädische Buntscheckigkeit der „Nouvelles". Mit demselben gewissenhaften Ernste referiert er über galante Schriften und Uber Folianten philosophischen und theologischen Inhaltes. Nicht allen passte diese republikanische Haltung der „Nouvelles". „On y a seulement remarqué qu'il a mis en rang d'oignon quelque méchante petite pièce de Théâtre qui n'est pas de la gravité et de la sériosité de son Journal. J e crois que désormais il fera bien de n'y rapporter que des livres dignes de la connoissance des gens de lettres. Il faut laisser le reste pour le Mercure Galant." (Brief von Isaac Claude, 9. Juli 1684, G.) Auch von anderer Seite musste er ähnliche Vorwürfe hören. W a r u m er sich denn mit „petits livrets, qu'il n'est pas nécessaire qu'on sache

W e i t e r e Merkmale der litterariselien Kritik B a y l e s .

87

qu'ils sont au monde" beschäftige. (Brief von L e Moyne, 5. A u g u s t 1684, G.) Allein in seinen Augen gibt es gar keine ganz nutzlosen Bücher, die nicht der Mühe lohnten, gelesen und besprochen zu werden. Selbst von den „petits livrets", von dem Unbedeutendsten könne man etwas lernen. Mit Unrecht wurde dagegen dem Autor der „Nouvelles" damals und noch heute vorgeworfen, dass er in seinem L o b e keinen Unterschied zu machen wisse. Seine K r i t i k , wenn auch seltener die litterarische, weiss zu nuancieren. E r m a c h t übrigens seine Leser ausdrücklich darauf aufmerksam, dass sein Lob stets ein relatives sei, d. h. er könne auf der einen Seite irgend ein Andachtsbuch als vorzüglich anempfehlen und auf der nächsten im gleichen Sinne von einer Grabrede Fléchiers oder Bourdaloues reden. Anderseits t h u t man besser, nicht sonderlich zu erstaunen, wenn es Bayle passiert, einen Ferrier als „bon poète français" zu bezeichnen. Wie oft irrten nicht Boileau, Voltaire und Rousseau und gar die Kritiker von Beruf, die L a Harpe und Sainte-Beuve? W i e manchen Namen unserer Zeitgenossen preisen Lemaîtres „Contemporains", die in 200 J a h r e n vergessen und verschollen sein werden ! Einigermassen überrascht ist man, wenn der skeptische Bayle allen Ernstes versichert, dass er an eine Vorherbestimm u n g der Bücher glaubt, an den Schicksalsstern eines jeden Werkes. Als ein Kuriosum von Prädestination erzählt er, dass Rabelais' Kommentar des Hippokrates, den er schön und „ouvrage sérieux et docte" n e n n t , den Verleger (Gryphius) ruiniert, des gleichen Autors Geschichte von P a n t a g r u e l aber, die Bayle wegwerfend als „livre plaisant" bezeichnet, ihn zum reichen Manne gemacht habe. Der Herausgeber der „Nouvelles" will damit zugleich andeuten, dass auf die öffentliche Meinung, auf den Beifall der Menge kein Verlass sei. Ueberhaupt pflegt er seinen Lesern gegenüber kein Blatt vor den Mund zu nehmen und diesen gelegentlich Lektionen zu

88

Charakteristik der Bayleschen Kritik etc.

erteilen, die keine moderne Zeitschrift wagen würde. „II faut avouer, que la plûpart des Lecteurs sont d'étranges gens ; on a beau les avertir de raille choses, on a beau leur recommander ceci ou cela avec de tres-humbles prieres, ils n'en suivent pas moins leur humeur et leur coûtume. On a fait des Historiettes sur les précautions inutiles des meres et des maris. J e m'étonne qu'on n'en fasse pas sur celles de M" les Auteurs . . ." („Nouvelles", Juli 1685, Art. VIII.) Bloss vereinzelt und verschwommen macht sich in Bayles literarischer Kritik der historische Blick geltend. Aber immerhin lassen sich Spuren jener analytischen Kritik, d. h. der Methode, nach dem Milieu und den Zeitverhältnissen zu forschen, die durch Taine und Emile Hennequin in unseren Tagen zu einer besonderen Wissenschaft erhoben wurde, in den Schriften unseres Autors entdecken, während bekanntlich Boileau ebenso wie die „Modernes" dieser historischen Anschauungsweise völlig fremd blieben. Nachdem wir schon im vorhergehenden Abschnitte Gelegenheit gehabt, auf diese bemerkenswerte Erscheinung hinzuweisen, möchten wir hier noch das Gesagte mit einigen Beispielen belegen. Das erste und auffallendste liefert uns allerdings die Zeitschrift Bayles nicht, dagegen eine Stelle der „Critique générale", die jener vorausging. Es nimmt dort Bayle Clément Marot gegen den Jesuiten Maimbourg in Schutz, indem er dessen Vorwurf, es seien Marots Psalmenübersetzungen burlesk, wie folgt widerlegt: „II ne faut pas juger de cette version sur le pied de la Poësie d'aujourd'hui. Il faut voir si elle n'est point grave et sérieuse, pour le temps auquel elle fut composée, et je soutiens que les connoisseurs démentiront en cela Mr Maimbourg. Pour l'air burlesque, s'il y en a, ce n'est point la faute de Marot, c'est plûtôt la faute de notre siècle, qui, contre l'usage de la bonne Antiquité . . . s'est abandonné avec une telle fureur à ce stile-là, qu'on ouï crier dans Paris , ; la Passion de notre Seigneur Jésus-Christ en vers

89 burlesques". ornemens,

Ce stile Burlesque

des mots

et

s'étant chargé, entre

des phrases

autres

qui étoient à la

mode

sous François I et longtemps après, a été cause que les P o ë sies composées en ce temps-là, ont acquis quelque conformité avec

les Poësies Burlesques . . ."

Auch

in den

„Nouvelles"

l e n k t er die Aufmerksamkeit seiner L e s e r auf die Beziehungen zwischen

Zeit

und L i t t e r a t u r

hin.

In einem R e f e r a t e

über

die Idyllenübersetzungen von Longepierre b e m e r k t er, n a c h dem

er

auf

zwischen

den Unterschied

den

hingewiesen,

Schäfergestalten

W i r k l i c h k e i t bestand

von

und

jeher

denen

der

(„Nouvelles", S e p t e m b e r 1686, A r t . I ) :

„Quoi qu'il en soit, nous siècles ont assez

der

der Idyllen

voyons par là l'influence

fortuitement

que les

les uns sur les autres;

car à

cause qu'il est arrivé que les Poësies de T h e o c r i t e ont plû à Virgile, vos

et que l'Occident

Poèts

siecles,

imitent

bien

s'est

encore

mis en goût

aujourd'hui

de

ceux

littérature,

des

premiers

qu'il y ait de la différence, c o m m e la nuit au

j o u r , entre c e temps-là et le nôtre." Mag der französische Klassicismus des X V I I . J a h r h u n d e r t s ideengeschichtlich 0

als

Stillstand

oder

gar

e

als

ein

Rückfall

g e g e n ü b e r dem individualistischen und nationalen X V I . J a h r hundert

aufgefasst werden, so zeigen gerade die Mängel der

Bayleschen

Schreibweise, wie gross die

kulturgeschichtliche

B e d e u t u n g dieser vermeintlich retrograden E p o c h e nicht für F r a n k r e i c h völker war.

allein, sondern

auch für die übrigen

nur

Kultur-

Denn den menschlichen G e s c h m a c k läutern und

ausbilden, ist nicht nur eine litterarische, sondern nicht minder eine sittliche T h a t . B a y l e hat sich dem geschmacksreinigenden Einflüsse

seiner Zeit,

gezwungen,

entzogen.

zum Teil Und

durch

äussere

Verhältnisse

daher ist der erste grosse Auf-

klärer des X V I I I . J a h r h u n d e r t s in Dingen des G e s c h m a c k e s noch ein Kind

des X V I . J a h r h u n d e r t s .

übrigens

bewusst.

wohl

Mit

E r war sich

dessen

dieser Selbsterkenntnis

hängt

M*r Venningen.

90

Charakteristik clor B a y l e s c h c n Kritik etc.

sein fortwährendes Verlangen, sich in Paris niederzulassen, zusammen. Er fühlte, dass er sich nur dort den litterarischweltmännischen Schliff des Wortes und des Empfindens aneignen könne. „ J e conseille une autre chose à vos j e u n e s étudians; c'est de mêler le plus qu'ils pourront la science du monde avec celle du College et des Livres, car cette science du monde donne à celle des livres un grand relief" — so ratet er einem Vater. U m sich von Bayles Geschmacksunsicherheit zu überzeugen, g e n ü g t es, die erste beste N u m m e r der „Nouvelles" aufzuschlagen. Das einzige Citat aus dem zweibändigen W e r k e „Conversations nouvelles sur divers sujets" der M"" Scudéri, das er im Oktoberheft 1684 bespricht, l a u t e t : „Pasquier fit des vers sur cette fameuse P u c e qu'il avoit viie sur la gorge de la fille, et qui fut célébrée par les plus grands hommes de ce siecle en Grec, en Latin, en Italien et en Français, etc. . . , u (Es handelt sich hier um Catherine des Roches, eine berühmte „précieuse" aus Poitiers.) — Mit einer ans Cynische grenzenden Ungeniertheit spricht er von den heikelsten medizinischen Dingen (Oktober 1685, Art. VI). Auf einen Artikel über die „Remarques sur l'avertissement pastoral" folgt ein mit Pikanterieen gespickter Aufsatz : „Des œufs des femmes" und dergleichen mehr. Bayle wird später im Artikel „Barbe, femme de l'empereur Sigismond" seines Dictionnaire historique die „Satire des femmes" als Boileaus Meisterstück bezeichnen. Dies Urteil ist typisch für die klobige Geschmacksrichtung unseres Autors. Man hat behauptet, dass seine misogynische Veranlagung seiner Kritik zu g u t e kam. Wir möchten gerade das Gegenteil behaupten, nämlich dass ihm der bildende Einfluss der F r a u — der Mutter oder Schwester, der Geliebten oder der Gattin —, dass ihm j e n e sittliche Verfeinerung, wie sie nur von dem Verkehr mit Frauen ausgeht, mangelte, und dass diesem Mangel Bayles Derbheiten und litterarische J u n g -

lieber Bayles Geschmacksverirrungen.

91

gesellenmanieren zuzuschreiben sind, besonders da, wo sie in cynisches B e h a g e n , resp. in Obscönitäten ausarten. Indessen muss billigerweise hervorgehoben werden, dass Bayle in den „Nouvelles" eigentlich nie obscön wird. Ungeziemender Schlüpfrigkeiten zur W u r z u n g der L e k t ü r e bedient er sich hier nicht. J a , er eifert sogar wiederholt gegen die Poeten, die es darauf abgesehen haben, die Sinne des Lesers zu kitzeln, wobei er es besonders auf .die Satiriker, Boileau in erster Linie, abgesehen hat. W e n n er zuweilen denselben Ton a n s c h l ä g t , in dem sich heute noch ländliche Kollegen Abrahams a S a n t a Clara gefallen, damit d^s biedere Bauernvolk hübsch zuhört und nicht einschläft, so t h u t er dies aus natürlicher Ungeschliffenheit, zum Teil wohl auch, um sich dem niederen Geschmacke der Mehrzahl seiner Leser anzubequemen, von dem er gerade keine hohe Meinung hat. Wenigstens gibt er M"° Le F è v r e recht, die folgende Einteilung der Leserwelt trifft („Nouvelles", März 1686, Art. I) : „Les premiers ont le goût fort bon, les seconds l'ont médiocre, les troisièmes l'ont mauvais, et sont beaucoup plus nombreux que les deux autres." W e n n daher Voltaire, der in dieser Beziehung ganz andere Dinge auf dem Gewissen hatte, im „Almanach des Muses" von. 1773 den Quatrain auf seinen Meister dichtete : „Ecrivain très-libre, et Casuiste très-sévère, Le matin rigoriste, et le soir libertin, L'écrivain, qui d'Ephèse excusa la Mattrone, Renchérit tantôt sur Pétrone, Et tantôt sur Saint Augustin" —

so h a t er Bayle entschieden in ein falsches Licht gestellt und seinen Teil dazu beigetragen, die Fabel von dem „obscönen" Bayle zu verbreiten, die Jesuiten, „faute de mieux", erfunden hatten. Die geschwätzige Art Bayles, von schlüpfrigen Dingen zu reden, wurde nicht nur von seinen Feinden übertrieben

92

Charakteristik der B a y l e s c h e n Kritik etc.

und ausgenützt, sondern veranlasste auch wohlmeinende Freunde, die ja wussten, dass sie gar nicht im Einklang mit seinem ernsten und arbeitsamen Leben stand, ihn wiederholt zu warnen. So schreibt ihm einmal Gédéon Huet, im Jahre 1696 (G.): „ . . . j e voudrais encore que vous vous abstinssiez d'un certain air qui est répandu dans tout ce que vous dites, toutes les fois qu'il y a occasion de parler de galanterie et de cocuage. J'ai peur que cela fasse mal juger de votre cœur; et je suis assuré que tous ceux qui ne vous connoîtront pas, vous croiront tout autre que vous n'êtes."*) — Hören wir zunächst, wie Bayle selbst sich über den Stil äussert. In einem Aufsatze über das Buch „Le génie de la Langue française" von dem Jesuiten Mourgues („Nouvelles", Mai 1685, Art. VIII) schreibt er: „On peut parler François sans parler en Grammairien, et tout le monde a intérêt à ne pas laisser établir les règles tyranniques de quelques auteurs, qui ne sauroient souffrir une construction de mots, qu'on pourrait entendre en deux diverses maniérés, si l'on vouloit chicaner. Il est néanmoins loüable de proposer les réglés des *) Bayle hat sich in seinem „Dictionnaire historique et critique" energisch, aber nicht gerade geschickt gegen die Anklage, er huldige obscönen Anspielungen, verteidigt. Dieser Artikel ist unlängst, separat herausgegeben worden unter dem T i t e l : „Sur les Obscénités. Remarques par P. Bayle, publiées pour la première fois séparément." (Bruxelles, Gay et Douée 1879.) Unnötig zu bemerken, dass dieser Publikation unlautere Buchhändlerspekulation zu Grunde liegt. Durchaus frei von maliziösen Motiven ist unsere Genugt u u n g , in einem Z ü r c h e r einen Verteidiger der Bayleschen Obscönilät entdeckt zu haben, und zwar im ..Journal de L e c t u r e " 1775, wo es in dem M. M.** ( = J . H . Meister, Mitarbeiter der Zeitschrift) unterzeichneten Artikel Montaigne unter anderem heisst: „On reproche à Montaigne ses obscénités. On a fait le même reproche à Bayle, à beaucoup d'autres philosophes. Sans vouloir justifier une licence dont les bonnes mœurs peuvent être blessées, faut-il s'étonner si, en raisonnant hardiment sur les vices et sur les penchans de la nature humaine, ils ont cru pouvoir se permettre les détails les plus délicats sur une passion, qui a tant d'influence sur l'économie de notre être, qui forme 1» société et qui en modifie contipiielleinent tQus [es intérêts d i v e r s ? " . , ,

93 plus g r a n d s Maîtres, etc. e t c

" N a c h d e m er pro d o m o plädiert,

b r i n g t er gleich wieder die „ a l t e r a p a r s " u n d weiss schliesslich j e n e n A u t o r e n der „règles t y r a n n i q u e s " , d. h. den V a u g e l a s , B o u h o u r s u n d Ménage, u n d alles m ö g l i c h e G u t e n a c h z u s a g e n . W i e sehr

er sich

seiner

ungleichen

und

willkürlichen

S c h r e i b w e i s e bewusst w a r , lehren uns z a h l r e i c h e Briefstellen, v o n d e n e n hier nur eine citiert s e i :

„ Q u a n d on a 27 ans il

f a u t ê t r e sage et de corps et d'esprit ; l'imagination, la p l u m e , la pensée, le r a i s o n n e m e n t ,

t o u t doit etre d a n s la régularité.

On n e p a r d o n n e les é g a r m e n s que mon stile

qu'à

et ma composition

la j e u n e s s e .

sont

tout

à fait

Je

cannois

irréy

altères,

j e n ' i g n o r e pas qu'il seroit t e m s q u e j'écrivisse selon les règles, e t n é a n t moins j e p e r s é v è r e d a n s m e s m a u v a i s e s h a b i t u d e s . " (An B a s n a g e , 17. N o v e m b e r 1674, G.) — I m G r u n d e a b e r b e t r a c h t e t e er die F o r m , d. h. den Stil, als N e b e n s a c h e .

Wohlgeformte,

glatte Rede

sei S a c h e

der

„orateurs, d é c l a m a t e u r s u n d professeurs de r h é t o r i q u e " , d. h. d e r j e n i g e n , die das Herz u n d die S i n n e des M e n s c h e n zu bewegen,

n i c h t aber den V e r s t a n d zu b e l e u c h t e n s u c h e n , u n d

das l e t z t e r e sei eben doch die H a u p t s a c h e .

Man braucht nur

die S u m m e seiner d r e i s s i g j ä h r i g e n schriftstellerischen T h ä t i g keit zu b e d e n k e n ,

die

starken

Poliobände

seiner

„Oeuvres

diverses" u n d des „ D i c t i o n n a i r e historique", um zu b e g r e i f e n , dass wir in B a y l e keinen s o r g f ä l t i g u n d l a n g s a m stilisierenden A u t o r s u c h e n d ü r f e n . W o h e r die Zeit n e h m e n , u m d i e T a u s e n d e v o n Seiten auszufeilen ? N a c h J o u r n a l i s t e n a r t m u s s t e er der F e d e r f r e i e n u n d r a s c h e n L a u f lassen. ein

fliessendes,

Dabei kam dennoch

klares u n d belebtes, bilderreiches

Französisch

zu s t ä n d e . Z u w e i l e n v e r r a t e n l a n g h i n g e z o g e n e Sätze, m a n g e l h a f t e W a h l der A u s d r ü c k e , S c h n i t z e r sowohl i n h a l t l i c h e r als auch

g r a m m a t i k a l i s c h e r A r t , die h a s t i g e

o f t v e r f ä l l t er in die s o g e n a n n t e

Arbeit.

„quequemanie".

selbst wissen wir, dass er sich nie die M ü h e

Besonders Von ihm

nahm,

Probe-

b o g e n d u r c h z u s e h e n ; d a h e r m a n c h e I r r t ü m e r , wie im I. A r t i k e l

94

Charakteristik der Bayleschen Kritik ctc.

der Aprilnummer 1685, wo Solon als Gesetzgeber von Lacedämon a u f t r i t t ! Im grossen und ganzen erinnern seine Artikel, mit dem jovialen, familiären Ton, der ebenso sehr von der stilistischen Steifheit der protestantischen Schriften als von der pomphaften Grandezza des französischen Klassicismus absticht, lebhaft an moderne litterarische Plaudereien, an die heutige Kritik „en robe de chambre" eines Sarcey. Zuweilen artet sie, wie es auch bei dem Genannten vorkommt, in Trivialität aus. Wir stossen nicht selten auf Provinzialismen; indessen dürften sich gerade in den „Nouvelles" keine W e n dungen seines Heimatdialektes mehr finden. Er klagt aber in seinen Briefen, welche Mühe es ihn gekostet, sich davon zu befreien. Dagegen wimmelt es von veralteten Ausdrücken. E r schreibt noch mit Montaigne: bailler, ruer, etc. Ueberhaupt hat sich Bayle auch stilistisch an den Autor der „Essais" a n g e l e h n t ; oder besser: bei beiden ist der lebhafte, natürliche Stil die Folge eines unabhängigen Geistes. Und dennoch besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen der Schreibweise des Meisters und der des Schülers. J e n e r s u c h t die Provinzialismen, er ziert und bereichert damit seine S p r a c h e ; Bayle dagegen greift in der Hast der Arbeit nach dem ersten besten Worte, das ihm die Umgangssprache eingibt. Total verschieden — um dies noch nebenbei zu bemerken — ist ihre Kritik, wie dies Sainte-Beuve sinnreich dargelegt hat. W ä h r e n d nämlich Montaigne lediglich um seine eigenen Gedanken und die kunstvolle Gestaltung derselben besorgt ist, k o m m t es bei Bayle vor allem auf den Inhalt und den Geist des Werkes an, das er gerade bespricht. Er selbst will nicht h e r v o r t r e t e n ; sein Stil bleibt ebenso unpersönlich wie sein Urteil es zu sein sucht. Man wird vielleicht in Verbindung mit Bayles Französisch den Ausdruck „français réfugié" erwartet haben. Allein sein Stil hat nichts gemein mit jenem Französisch, das als P r o d u k t des Einflusses der protestantischen Bibelforschung und

95 P o l e m i k (mit dem Hauptsitze in (¿renf) und der holländischen und

westschweizerischen

Spracheigenheiten

und

der

V e r b a n n u n g vom heimatlichen Boden entstandenen dung der S p r a c h e und S i t t e n zu b e t r a c h t e n ist. hat sich B a y l e ebensowenig holländischen

durch

Entfrem-

Denn einmal

sprachlich von dem Genfer und

Protestantismus

beeinflussen

lassen, wie

theo-

logisch ; anderseits war j e n e r Zweig, der sich vorn S p r a c h b a u m der Heimat losgelöst, noch nicht morsch und verwelkt. W e n n der alte R a c i n e 1691 seinen in Holland weilenden Sohn

vor

dem Stile der „Gazettes de Hollande" w a r n t * )

auf

eine

Anzahl

Wörter

aufmerksam

solle, so h a t t e er nicht

macht,

und ihn

die

die „Nouvelles",

er

vermeiden

sondern

Zeitungen

wie den „Mercure historique et politique" im A u g e . Von den gerügten

Ausdrücken

Zeitschrift.

Voltaire,

findet der

in

sich

kein

einziger

dem

„Siècle

de

(Art. Saurin) auf das verdorbene Französisch tischen

Theologen

velles" nicht Stils seines

mit

hinweist, ein,

den

deswegen

nachzuweisen

Schreibweise

suchten,

durch

Bayles

Louis

XIV"

der

protestan-

Autor

der „Nou-

für die Mängel

„divin B a y l e " blind zu sein.

F ä r b u n g der B a y l e s c h e n dies

schliesst

ohne

in

des

Die antiklassische

erklärt sich, die

Geistes-

wie und

wir Ge-

s c h m a c k s r i c h t u n g B a y l e s , durch seine g a n z e litterarische E r ziehung

und

das

eingehende

Studium

heisst j e n e verkennen, wenn man und geistiger

Entfremdung

„du

Montaignes,

sie als F o l g e milieu

et

und

es

sprachlicher

du cœur

de

la

F r a n c e " bezeichnet, wie dies der Genfer S a y o u s und S a i n t e B e u v e gethan. W e r die „Nouvelles" B a y l e s durchblättert, wird den E i n druck gewinnen, dass hier rascher

Feder

ein

seines A m t e s

gewandter

Schriftsteller

als T a g e s k r i t i k e r

waltet.

mit So

dachte a u c h Voltaire, der in seinen „Conseils à un J o u r n a l i s t e "

*) pag. 2 0 3 .

L e t t r e s de K a c i n e à son fils. O e u v r e s , édition Petitot,, 1 8 2 9 , tome V ,

96 schrieb: „Quant au style d'un journaliste Bayle est peut être le premier modèle, s'il vous en faut un . . . Cependant dans son style toujours clair et naturel, il y a trop de négligence, trop d'oubli des bienséances, trop d'incorrection. Il est diffus: il fait à la vérité conversation avec son lecteur, comme Montaigne, et en cela il charme tout le monde; mais il s'abandonne à une mollesse de style, et aux expressions triviales d'une conversation trop simple ; et en cela il rebute souvent l'homme de goût." Am Schlüsse dieses Abschnittes dürfte es angebracht sein, die Stellungnahme einiger der bedeutendsten französischen Kritiker der Neuzeit zu ihrem grossen Vorgänger kurz zu skizzieren und im Anschluss hieran die F r a g e zu beantworten : In welche Kategorie der französischen Kritik können wir den Verfasser der „Nouvelles" einreihen ? Bayle und die Kritik der K e i m t .

Im J a h r e 1828 hatte der Freund und Mitkämpfer Victor Hugos, Sainte-Beuve, mit seiner Geschichte der französischen Litteratur im X V I . J a h r h u n d e r t die romantische Schule an ein vergessenes und verschmähtes Zeitalter französischen Dichtens erinnert und der vaterländischen Poesie hiermit ein neues und reiches Feld einheimischer Inspiration eröffnet. Sieben J a h r e darauf, 1835, erscheint kurz nach Lamennais' „Paroles d'un c r o y a n t " und zugleich mit Lacordaires „Conférences" in der j u n g e n „Revue des deux Mondes" sein Aufsatz „Du Génie critique et de Bayle". Sainte-Beuve hatte gerade die Dreissiger überschritten. Die beiden erwähnten Arbeiten sind die A u s g a n g s p u n k t e der langen und wirkungsreichen Thätigkeit des Literarhistorikers. Aus den angeführten Daten geht einmal h e r v o r , dass S a i n t e - B e u v e dem ersten Meister der französischen Kritik sympathisch gegenüberstehen musste, und dann, dass die Studie über den Verfasser der „Nouvelles" zum guten Teil als Mittel zum Zweck, d. h. als ein willkommener Ausfall der antiklassischen Ro-

97 mantik zu betrachten ist. Aus dem ganzen Artikel spricht das innere Behagen Sainte-Beuves, von einem Zeitgenossen Boileaus sprechen zu können, dessen Vorzüge gerade darin liegen, seiner litteiarischen Epoche so wenig geglichen zu haben, und dessen Eigenart so sehr an das X V I . J a h r h u n d e r t erinnerte. Er geht sogar so weit, den Kritiker Bayle über den Philosophen zu stellen, indem er ihn als die „Incarnation du génie critique" bezeichnet — „dans sa pureté et son plein, dans son empressement discursif, dans sa curiosité affamée, dans sa sagacité pénétrante, dans sa versabilité perpétuelle et son appropriation à chaque chose". Hierzu kommt — und es wäre eine dankenswerte Aufgabe, dies des Näheren auszuführen — dass Sainte-Beuve und Bayle durchaus geistesverwandte Naturen sind. Beide ziehen, nach A r t der Renaissance-Gelehrten, mehr das Einzelne, die Eigentümlichkeiten an als das Allgemeine; beiden ist eine nicht zu stillende wissenschaftliche Neugierde, ein unermüdlich forschender und bekritelnder Geist gemeinsam ; sie besitzen beide ein staunenswertes Gedächtnis, enormen Pleiss und ausserordentliche W a h r heitsliebe, und beiden fehlt der weltmännische, vornehm geartete Geschmack, der T a k t . Beiden ist der Vorwurf gemacht worden, sich in Klatschereien, in verfänglichen Auseinandersetzungen zu gefallen, wobei wissenschaftliche Forschung bloss Vorwand, Junggesellenlaune und Witz Triebfeder waren. Durch bewunderungswürdige Arbeitsfähigkeit, durch ihre Vielseitigkeit und durch ihren die Zeit dominierenden und bekämpfenden Geist, sind sie beide schöpferische K r a f t n a t u r e n , litterarische Individualitäten ersten Ranges in der Entwicklungsgeschichte der französischen Litteratur. Diese Parallele in Umrissen m a g eine Stelle der erwähnten Studie SainteBeuves beschliessen (Portraits littéraires, I, pag. 885), die den kritischen Geist Bayles in knappen Zügen aufs trefflichste charakterisiert: „Cette critique modeste de B a y l e , qui est républicaine de Hollande, qui va à pied, qui s'excuse de ses 7

08

Charakteristik der Baylesclien K r i t i k etc.

défauts auprès du public sur ce qu'elle a peine à se procurer les livres, qui prie les auteurs de s'empresser un peu de faire venir les exemplaires, ou du moins les curieux „de les prêter pour quelques jours", cette critique n'est-elle pas en effet (si surtout on la compare à la nôtre et à son éclat que j e ne veux pas lui contester) comme ces millionnaires solides, rivaux et vainqueurs du grand roi, et si simples au port et dans leur comptoir?" Grundverschieden in jeder Hinsicht von ist der redegewandte Akademiker des

Klassicismus,

Ferd.

unserem Autor

und kritische „Champion"

Brunetiere.

In

seiner

Evolutions-

geschichte der französischen Kritik („L'évolution des Genres", Bd. I, pag. 141 ff.) glaubt er nicht näher auf Bayle eingehen zu müssen.

Er ist sogar geneigt, ihm auch in einer allge-

meinen Geschichte der Kritik keinen Platz für den Autor

einzuräumen,

des „Dictionnaire historique"

da

und der „Nou-

velles" die schöne Litteratur überhaupt nicht existiere, worin Brunetiere, wie wir gesehen haben, entschieden zu weit geht. A b e r gerade darum

begreifen wir nicht, dass er Bayle nur

als Philosophen und nicht als Kritiker des X V I I I . Jahrhunderts gelten lassen will.

Uns dünkt im Gegenteil, dass er mit seiner

Indifferenz für die Dichtkunst, mit seinen antiklassischen Allüren recht gut zur französischen Aufklärungsperiode passt. die Frage, ob Bayle eher verneinen,

ein grosser Mann

gewesen,

Auch

möchte

er

obgleich er ihm einige Zeilen weiter unten

einen enormen Einfluss zugestehen muss.

Dies läuft jedoch

seiner Methode, die Bedeutung einer litterarischen Erscheinung an dem Einflüsse abzumessen, ist schliesslich, die Schuld

direkt entgegen.

Unrichtig

wenn er Rousseau und den Encyklopädisten

zuschreibt,

dass Bayle

um seinen

berechtigten

Nachruhm gekommen, denn dafür ist doch einzig und allein Voltaire verantwortlich zu machen. — Später

hat

aber der

Diktator der „ R e v u e des deux Mondes" das Versäumte nachgeholt

und

der

Kritik

Studien gewidmet. —

Bayles

eine

seiner

scharfsinnigsten

B a y l e und dio Kritik der N e u z e i t .

99

Die Frage endlich, zu welcher Gattung der Kritik die Baylesche, so wie sie sich uns in den „Nouvelles" offenbart, gehört, ist leichter gestellt als beantwortet. Ganz passt eben Bayle in keine Gruppe; am nächsten steht er aber der moralischen Kritik eines Ed. Scherer, die ein Kunstwerk von sociologischen Gesichtspunkten aus betrachtet, dasselbe, je nachdem es bestimmten Moralgesetzen entspricht, für nützlich und gesund oder nicht ansieht. Allerdings würde in dieser Rubrik die litterarische Renaissance- und die Toleranzidee Bayles keinen Platz finden. Auch wenn wir die Kritiker schlechtweg in dogmatische und persönliche einteilen, können wir Bayle nicht ohne Wenn und Aber zu den letzteren zählen. Brunetifere weiss sich hier zu helfen und trifft eine andere Einteilung. Er unterscheidet ihrem Vorgehen nach erstens eine ästhetisierende, vergleichende, nach Quellen forschende und sich nach bestimmten Theorieen richtende, und zweitens eine rasche, vielseitige, aktuelle „au jour le jour"-Kritik. Der Vater und Meister dieser letzteren sei Pierre Bayle.

Vierter Abschnitt.

Erfolg der „Nouvelles", ihre Macht und ihr Ende.

Am Schlüsse des ersten Abschnittes erfahren wir noch von den schweren Schicksalsschlägen, die den Herausgeber der „Nouvelles" im zweiten Jahre seiner journalistischen Thätigkeit heimsuchten. Wir sahen, wie ihm Vater und Lieblingsbruder kurz hintereinander starben, wie Jacob Bayle Ende 1685 im Kerker des Schlosses Trompette bei Bordeaux — „cachot puant et infect" wie Des Maizeaux erzählt — das freie Wort seines Bruders mit dem Leben büsste. Zuvor aber war noch ein anderes, grösseres, unermessliches Unglück nicht nur über Bayle und den Protestantismus, sondern über ganz Prankreich hereingebrochen: die im Oktober 1685 erfolgte Aufhebung des Ediktes von Nantes. Es spricht für den Gleichmut und die Selbstbeherrschung und zugleich für die hohe Auffassung, die Bayle von einer wissenschaftlichen und unparteiischen Zeitschrift hatte, wenn wir in den „Nouvelles" keine Spur von dem Kummer und dem Aerger des schwergeprüften Redakteurs entdecken. Die Hiobsbotschaften aber, die Schlag auf Schlag den einsamen Gelehrten in Rotterdam trafen, begannen nichtsdestoweniger schon damals die Gesundheit des überarbeiteten Mannes zu untergraben und

Der Erfolg.

101

den Keim jener Krankheit zu legen, unter der er bald zusammenbrechen sollte. Seinem Gram und Zorn über die Schmach, die Frankreich auf sich und auf die Menschheit geladen, machte Bayle bekanntlich im März 1686 in der heftigen Flugschrift Luft „Ce que c'est la France toute catholique sous Louis le Grand", über die er in den „Nouvelles" vom März 1686 (III) mit der grössten Unverfrorenheit referiert und zwar mit folgender einleitender Finte: „Ce petit ouvrage est composé de 3 Lettres qu'un Missionnaire nouvellement revenu de Londres, à données à un Imprimeur de S. Omer, etc., etc." Mit keiner Silbe verrät er hier seine Autorschaft. Am Schlüsse annonciert er das baldige Erscheinen des Pamphletes „Contrains-Ies d'entrer", das er dann in der Augustnummer 1686 mit dem gleichen Kniffe bespricht. Diese Recensionen sind, im Gegensatz zu den behandelten Schriften, sachlich und ohne Schärfe verfasst. Wie überall in den „Nouvelles", spricht hier der massvolle, nach bestem Können unparteiische Journalist. Dafür war aber auch der Erfolg ein über alles Erwarten grosser. Anerkennung und Lob, ja enthusiastische Beglückwünschung, wurden Bayle von nah und fern, von hoch und niedrig in reichstem Masse zu teil und mochten so wohl den streitbaren Gelehrten für manche innere und äussere Drangsal entschädigen. Privatgelehrte, Theologen und Philosophen beeilten sich, dem Herausgeber der „Nouvelles" den Ausdruck ihrer Ehrerbietung und Hochachtung zu Füssen zu legen. Einstimmig erklärte sogar die französische Akademie die Zeitschrift des protestantischen Flüchtlings als ein nützliches und wertvolles Unternehmen, worüber uns ein Schreiben de Benserades vom 18. Mai 1685 berichtet, das wir hier als interessantes litterarisches Dokument unverkürzt folgen lassen. „Je me suis acquitté, M., de l'ordre que vous m'avez donné de rendre et de présenter à l'Académie le beau Présent que vous lui faites.

1>h Lothar), „New-Yorkor Staatszeitung", „Modern Language Notes", „Ermitage", „Zeitschrift f. franz. Spr. u. Litteratur" (J. Sarrazin), „St. Galler-Blätter", „Internationale Litteraturberichte", „Litterarisches Centraiblatt" etc. etc.